Covid-19 ff.: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2022, Heft 03/04 [1 ed.] 9783666800368, 9783205211389, 9783525407714, 9783525800362


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Covid-19 ff.: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2022, Heft 03/04 [1 ed.]
 9783666800368, 9783205211389, 9783525407714, 9783525800362

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INDES Vandenhoeck & Ruprecht

Heft 3/4 | 2022 | ISSN 2191-995X

ZEIT SCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

COVID-19 FF. Interview mit Malte Thießen

»Wir selbst sind die Pandemie«  Christoph Butterwegge Corona als sozialer und politischer Spaltpilz  Biao Xiang Antisoziale Macht im Shanghai-Lockdown  Christina Nover Quarantäne & Quartett Viola Köster Überall Masken!

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EDITORIAL Ξ  Volker Best / Katharina Rahlf

»ARD, ZDF, C&A …«, so begann Rapper Smudo von den Fantastischen Vier 1999 den Song »MfG (mit freundlichen Grüßen)«, in dessen Strophen assoziativ Abkürzung an Abkürzung gereiht wurde. Im Refrain hieß es: »Die Welt liegt uns zu Füßen / denn wir steh’n drauf« – eine unbeschwerte Zeit, der russische Präsident hieß noch Boris Jelzin, in New York erhoben sich die Twin Towers und die deutsche Techno-Combo Scooter veröffentlichte »Fuck the Millennium«. 21 Jahre später sendeten ARD und ZDF quasi rund um die Uhr Sondersendungen zu den neuesten Inzidenzzahlen. C&A war geschlossen, wie die meisten nicht lebensnotwendigen Geschäfte. Lockdown. Freundliche Grüße gingen meist über Videokonferenzen raus, Smudo investierte in eine App zur Nachverfolgung von Infektionsketten, und Scooter veröffentlichte »FCK 2020«. Die Abkürzungen der Stunde waren Sars-CoV-2, später dann B.1.1.7, B.1.617.2 und B.1.1.529, a.k.a. Alpha, Delta und Omikron, und AHA , später dann AHA+A+L, R-Wert, PCR , 2G, 2G+, 3G … Corona war früher kaum jemandes Bier, nun war es unser aller Bier. Und wir tranken reichlich im Lockdown, schalteten um von ARD und ZDF auf Netflix für ein wenig Eskapismus und von C&A auf Amazon für alles nicht Lebensnotwendige. Irgendwann hinterfragte niemand mehr, warum noch AHA gesagt wurde, obwohl die improvisierten »Alltagsmasken« aus Stoff längst professionellen FFP2-Exemplaren weichen mussten. M wie »Maske« statt A wie »Alltag«,

wir stellen um, lösen und können HALMA spielen – mit maximal einem weiteren Haushalt, versteht sich. Manche hinterfragten hingegen bald alles, dachten quer und kreuz und sich um den gesunden Menschenverstand in dieser Pandemie, die mit COVID-19 ff. (noch so eine Abkürzung) trefflich auf den Begriff zu bringen ist – denn wie viel da noch folgt, scheint unabsehbar. Kurz nach Ausbruch der Pandemie hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im April 2020 bekundet: »Die Welt wird eine andere sein« – und damit die Post-Corona-Ära gemeint. Keine zwei Jahre später, im Februar 2022, wählte Bundeskanzler Olaf Scholz ganz ähnliche Worte, als er prognostizierte: »Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor« – rekurrierte damit aber auf Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine. Zwei Zeitenwenden innerhalb von 24 Monaten – wenig überraschend, dass sich ein gewisser Pandemie-Überdruss, eine Coronakrisenmüdigkeit breitgemacht haben.

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Auch wir haderten mit dem Thema – hatten wir doch den Bonner Neustart von INDES just mit einem Zeitenwende-Heft eingeläutet. Jetzt gewisser­maßen einen Schritt zurückgehen und wieder mit Inzidenzen, Infektionen und Immunitäten hantieren, nachdem sich doch die Zeitläufte längst ein weiteres Mal dramatisch geändert hatten? Vermutlich werden auch manche Leser:innen sich fragen: Wissen wir nicht längst genug über Corona? Wir meinen indes: Aus politik- und sozialwissenschaftlicher Perspektive bleiben durchaus noch interessante Fragen. Wie steht es nach zwei Jahren Pandemie um den Zustand von Gesellschaft und Demokratie? Wo hat sich Steinmeiers Ahnung nachhaltiger Veränderungen bereits bewahrheitet, haben sich vielleicht sogar einige positive Nebeneffekte eingestellt bei all dem Übel? Und wo war das »neue Normal« allzu schnell wieder wie das alte, war das wirklich Neue so schnell verzogen wie der flugzeugfreie blaue Himmel des ersten Lockdowns? Was lässt sich vielleicht trotzdem aus der Pandemie für die Zukunft lernen? Zudem ahnten wir während der Planung des Heftes in den Sommermonaten, als etliche Sonnenstunden die Menschen ins (Viren-)Freie trieben, dass der nächste Herbst, der nächste Winter bestimmt kommen. Und tatsächlich, pünktlich zum kühlen Regenwetter ließen nicht nur Coronaviren, sondern vor allem auch Erkältungskrankheiten und Grippe – mal wieder – Verkehrs-, Bildungs- und natürlich Gesundheitswesen unter hohen Ausfallquoten ächzen. Der Winter 2022/23 verspricht angesichts steigender Energiepreise, drohender Gasknappheit und Einsparmaßnahmen eine besonders paradoxe Situation: Einerseits gilt es Abstand zu halten und sich möglichst wenigen Infektionsrisiken auszusetzen, andererseits heißt es angesichts unbeheizter Räume zusammenzurücken. Gründe genug jedenfalls, ein Heft über die Corona-Pandemie zu machen. Neben Analysen zu unterschiedlichen gesellschaftlich relevanten E ­ ffekten von COVID -19, etwa der steigenden sozialen Ungleichheit, dem Befinden von Kindern und Jugendlichen, sichtbar werdendem Antisemitismus oder neuen Formen von Wissenschaftskommunikation, widmen sich die Beiträge auch »abseitigeren« Sujets, etwa dem Maskenspiel im Theater, der »Normalisierung« des Preppens oder dem Gesellschaftsspieleboom (nein, nicht HALMA). Außerdem führten wir Gespräche über die Auswirkungen auf die Arbeitswelt sowie über die historischen Vorläufer von Corona und die Frage, wie Menschen in ähnlichen Situationen handelten und was der Blick in die Geschichte lehrt. Denn, so präzedenzlos uns die Situation auch erscheinen mag, natürlich ist dies nicht die erste Pandemie – und es wird auch nicht die letzte sein.

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EDITORIAL

Um möglichst viele verschiedene Blickwinkel zu eröffnen, präsentieren wir erstmals ein neues Format: die Interviewcollage. Zehn Vertreter:innen unterschiedlicher Fachrichtungen beantworten – bewusst knapp – die drei gleichen Fragen nach den relevantesten und überraschendsten Erkenntnissen der Pandemie, nach Leerstellen und Desideraten sowie etwaigen positiven Effekten – jeweils aus Perspektive ihrer Disziplin. Dieses Panorama illustriert einmal mehr, dass der Blick über den disziplinären Tellerrand so manche übersehene Facette zutage fördern kann. »Vorbei« ist Corona also keineswegs, und wird es vielleicht auch nie sein. Derzeit vermengt sich die virale Krise zudem mit anderen, ebenfalls existenziellen Krisen – und wir werden sehen, ob die Welt von diesen (um im Pandemieduktus zu bleiben) Wellen überrollt wird oder ob sich so etwas wie eine Krisenfestigkeit gebildet hat, die auch andere Krisen zu bewältigen hilft. Auch musikalisch – um einigermaßen holprig den Bogen zum Anfang zu schlagen – hat die Pandemie jedenfalls schon Wirkung gezeitigt: Entstanden ist die – wohl erste? – Hymne auf einen Virologen. »Guten Tag, sie kennen sicher alle meinen Namen. Sie erkennen mich an meinen schönen Haaren«, so dichtete die Punkrockband ZSK (noch eine Abkürzung) über Christian Drosten, der dank abgeklärtem Erklärengagement geradewegs zum Krisenhelden avancierte. Wie sich die Pandemie in Kunst und Kultur niederschlägt, wo – so eine Binsenweisheit – Krisen oftmals die Inspiration zu großen Werken liefern, auch das wäre sicherlich ein erkenntnisreiches Thema. Erst in einigen Jahren allerdings, noch sind wir zu sehr »mittendrin«. Einstweilen hoffen wir, dass das vorliegende Heft einige Facetten bereithält, welche die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der Covid-Pandemie zu verstehen und einzuordnen helfen und vielleicht auch Lehrreiches für den Umgang mit gegenwärtigen und zukünftigen Krisen bereithalten.

EDITORIAL

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INHALT 1 EDITORIAL

Ξ Volker Best / Katharina Rahlf



>> INTERVIEW

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»Wir selbst sind die Pandemie« Pandemien, ihre gesellschaftlichen Auswirkungen und Impfskepsis früher und heute Ξ Gespräch mit Malte Thießen



>> ANALYSE 30 Pandemischer Konstitutionalismus Aporien von Freiheit, Solidarität und Schutz des Lebens Ξ Roland Lhotta

38 Corona als sozialer und politischer Spaltpilz Polarisierung in Zeiten der COVID-19-Pandemie Ξ Christoph Butterwegge

47 Zwischen Medienlogik und Politikberatung Linguistische Beobachtungen zur Wissenschafts- und Expertenkommunikation in der COVID-19-Pandemie Ξ Lisa Rhein / Nina Janich

56 Die deutsche Demokratie im neuen Krisenzeitalter (II) Corona-Pandemie, Klimawandel, Ukrainekrieg Ξ Frank Decker



>> INTERVIEW 65 »Unser Wohlstands­modell steht auf tönernen Füßen« Auswirkungen der Pandemie auf die Arbeitswelt Ξ Interview mit Berthold Vogel



>> ANALYSE 74 Wissenschaft in der Krise Prekäre Arbeitsbedingungen in Corona-Zeiten Ξ Amrei Bahr / Kristin Eichhorn / Sebastian Kubon

81 Kinder und Schulen zuerst Die Auswirkungen von Corona und weiteren Krisen auf Heranwachsende Ξ Dieter Dohmen

94 Verschwörungsmythen und Selbstviktimisierung Antisemitische Vorfälle im Kontext der Corona-Pandemie Ξ Bianca Loy / Daniel Poensgen

102 Von der Illusion einer singulären Freiheit Die AfD im Krisenmoment der COVID-19-Pandemie Ξ Paula Tuschling

>> INTERVIEWCOLLAGE 111 Perspektiven auf Corona (I): Was überrascht hat 4



>> ANALYSE 117 Klipp und unklar Merkels merkwürdige Ent-Schuldigung zur Osterruhe Ξ Volker Best

127 Was wäre, wenn …? Preppen in der Mitte der Gesellschaft Ξ Julian Genner

135 Pandemische ­Selbstüberwachung Zwischen sozialer Singularisierung und technisierter Sozialität Ξ Dennis Krämer / Joschka Haltaufderheide

>> INTERVIEWCOLLAGE 143 Perspektiven auf Corona (II): Was gefehlt hat >> ANALYSE 148 Die COVID-19-Pandemie als Bewährung für die EU Ξ Philipp Ther

160 Auf der Suche nach dem Wellenbrecher Die Pandemie in Portugal Ξ Tilo Wagner

167 Antisoziale Macht Absurditäten des COVID-19-Lockdowns in Shanghai Ξ Biao Xiang

>> INTERVIEWCOLLAGE 178 Perspektiven auf Corona (III): Was gut war >> ANALYSE 182 Kritik des pandemischen Körpers Eine biopolitische Perspektive Ξ Edgar Hirschmann

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Überall Masken! Die subversive Macht des Theaterspiels und die Krise der Repräsentation Ξ Viola Köster

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Quarantäne & Quartett Die Pandemie als Booster für Gesellschaftsspiele Ξ Christina Nover

PERSPEKTIVEN

>> ANALYSE 211 The Silent Sound of Loneliness Warum Einsamkeit politisch ist Ξ Anna-Lena Wilde-Krell



>> KOMMENTAR 217 Gestärkte Demokratie durch Rechtskompetenz Ein Plädoyer für juristische Breitenbildung Ξ Andreas Gran

Inhalt

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SCHWERPUNKT: ZEITENWENDE

INTERVIEW

»WIR SELBST SIND DIE PANDEMIE« PANDEMIEN, IHRE GESELLSCHAFTLICHEN ­AUSWIRKUNGEN UND IMPFSKEPSIS FRÜHER UND HEUTE Ξ  Gespräch mit Malte Thießen

In Ihrem Buch Auf Abstand, das im September 2021 erschien, haben Sie die Frage aufgeworfen, ob die Corona-Pandemie eine Zeitenwende markiert. Kurz darauf haben wir mit dem russischen Angriff auf die Ukraine laut Bundeskanzler Scholz eine zweite Zeitenwende erlebt. Wie oft und in wie kurzen Abständen kann die Welt eine andere werden? Wie verhalten sich diese beiden Zeitenwenden zueinander? Wir haben in der Corona-Pandemie wie auch beim Überfall auf die ­Ukraine gelernt, dass Zeitenwenden immer Kinder ihrer Zeit sind. Vor dem gegenwärtigen Horizont sind Krisen oder Problemlagen, insbesondere wenn sie als neue Bedrohung, als das Unvorstellbare empfunden werden, schnell als Zeitenwende markiert. Ebenso schnell merken wir aber auch, dass die Halbwertszeit von Zeitenwenden überschaubar ist. Schon in der Pandemie war ein großes Problem, dass der Fokus 2020 fast nur auf Corona lag und andere – ebenfalls höchst relevante – Notlagen kaum mehr Erwähnung fanden. Und das scheint mir auch der Fall zu sein mit Blick auf den Krieg in der Ukraine. Andere Themen wie der Klimawandel geraten angesichts dessen in den Hintergrund. Festzustellen, wie klein also unser Aufmerksamkeitsfenster ist, das ist, wie ich finde, ein sehr interessanter, aber auch erschreckender Lerneffekt. In Ihrem Buch zeichnen Sie ein tendenziell positives Bild vom gesellschaftlichen Umgang mit der Pandemie. Die Stimmung sei insgesamt von Solidarität getragen, weniger von Egoismen. Sehen Sie das immer noch so? Von einer Erfolgsgeschichte der Corona-Pandemie zu sprechen, wirkt natürlich wie eine Provokation. Das tue ich auch nicht. Aus heutiger Sicht gibt

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es viele Schattenseiten, die uns allen bewusst sind. Aber tatsächlich gibt es auch sehr positive Erfahrungen. Jenseits der Proteste von Coronaleugnern und Fake News entwickelte sich ein wachsendes Bewusstsein für die Verletzlichkeit der Welt und die Verletzlichkeit von Mitmenschen, vor allem für die Risikogruppen. In historischer Perspektive ist Corona in dieser Hinsicht tatsächlich so etwas wie eine Zeitenwende, weil Risikogruppen zum ersten Mal ganz oben auf die Agenda gesetzt worden sind. Nehmen wir zum Beispiel den Umgang mit der Hongkong-Grippe 1969/70 in der Bundesrepublik: Das Virus hat ganz ähnlich wie Corona überwiegend Tote unter den Alten und den Vorerkrankten gefordert. Das hat damals aber niemanden interessiert, obwohl allein in Westdeutschland rund 50.000 Menschen starben. Einen Bewusstseinswandel oder einen Wandel der Risikowahrnehmung können wir auch daran feststellen, dass wir die Eindämmungsmaßnahmen zum Schutz der Risikogruppen auf Kosten der Wirtschaft getroffen haben. Beim Seuchenkampf geht es letztlich immer um die Abwägung zwischen Gesundheit und Wirtschaft – und historisch hatte stets die Wirtschaft Priorität. Während der Spanischen Grippe 1918/19 wussten die Briten ganz genau, dass sie bestimmte Häfen dichtmachen und Eisenbahnlinien eindämmen hätten müssen, aber es wurde ganz bewusst darauf verzichtet, weil der ökonomische Schaden zu groß gewesen wäre. Beim Impfen waren ökonomische Erwägungen immer schon eingeschrieben, hier stehen sie nicht im Widerspruch zu gesundheitlichen Erwägungen. Bei der Pockenimpfung lautete die Begründung bis ins zwanzigste Jahrhundert stets: Wir erhalten Arbeitskraft, Wirtschaftskraft und Wehrhaftigkeit. Unter anderem in der Weimarer Republik war das ein starkes Argument, die Impfpflicht beizubehalten, in der NS-­Diktatur dann erst recht, weil man sich davon einen wichtigen Standortvorteil im Weltringen versprach. Bei Scharlach oder Masern wurde in den 1970er und 1980er Jahren sehr offen kommuniziert, dass es darum ging, die Mütter am Arbeitsplatz zu halten. Auch bei der Grippeschutzimpfung geht es unter anderem darum, dem Ausfall von Arbeitskräften vorzubeugen. In der Corona-Pandemie hingegen waren ökonomische Erwägungen nicht vorrangig: Wir haben solidarisches Verhalten zum Schutz derer eingefordert, die früher als Kollateralschaden liegen gelassen wurden, und darin sehe ich – wenn man das Wort überhaupt bemühen möchte – einen Fortschritt. Wobei ich nicht sicher bin, ob wir zum Höhepunkt der Bankenkrise genauso gehandelt hätten. Wir hatten 2020 wirtschaftlich gesehen die idealen Voraussetzungen, um diese weitreichenden Maßnahmen zu treffen. Wenn wir aber darüber sprechen, wer im Fokus stand, müssen wir auch darüber sprechen, wer vergessen wurde. Auch dafür steht die Corona-Pandemie:

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COVID-19 ff. — Interview

für die Ignoranz gegenüber den Sorgen ärmerer Menschen, gegenüber Familien und Kindern, die auf der Agenda nicht so weit oben standen, wodurch die soziale Ungleichheit befördert wurde. Wenn schon das Bewusstsein für die Verletzlichkeit der Mitmenschen offensichtlich an Grenzen stößt: Wie steht es dann um die Wahrnehmung globaler Verletzlichkeit? Zunächst herrschte die Vorstellung: Die ganze Welt ist bedroht, also müssen wir auch weltweit handeln. Anfang 2021, als der Impfstoff entwickelt wurde, gab es schnell große globale Initiativen, die sich für eine globale Auslieferung eingesetzt haben. Gar nicht unbedingt ausschließlich aus Solidarität gespeist – da kann auch reiner nationaler Egoismus hineinspielen: Denn je weniger Menschen geimpft sind, desto schneller mutiert das Virus und desto schneller erwischt es auch uns. Man ist einfach besser geschützt, wenn die ganze Welt geschützt ist. Aber sogar diese Vorstellung ist schon im Laufe des Jahres 2021 zerbröckelt. Das ist für mich eine große Enttäuschung in der Corona-Pandemie: Was man früher tatsächlich hinbekommen hat, nämlich weltweite Impfprogramme durchzuziehen – auch mitten im Kalten Krieg, wo sich die Gegner an einen Tisch setzten –, das ist heutzutage nicht mehr möglich. Globalität ist nicht mehr in dem Maße als weltweite Verletzlichkeit Thema, sondern eher als Bedrohung. Zu Beginn war die Akzeptanz für die Einschränkungen relativ hoch. Erkennen Sie bestimmte Wendepunkte, an denen das gesellschaftliche Klima von Akzeptanz und Unterstützung zu Ablehnung, zumindest Gleichgültigkeit und Genervtheit kippte? Es gibt mehrere Kipppunkte. Solidarität war relativ prägend bis zum Sommer 2021. Dass bis dahin die große Mehrheit die Eindämmungsmaßnahmen unterstützt hat, war angesichts der weitreichenden Maßnahmen erstaunlich. Aber das änderte sich im Laufe des Jahres 2021, insbesondere ab Ende 2021, und zwar, wie ich meine, aus zwei Gründen. Zum einen hat die Enttäuschung über den Impfstoff die Zustimmungswerte fallen lassen und massive Kritik hervorgebracht. Impfstoffe gelten als Wunderwaffe, ein Piks und ich bin geschützt auf alle Ewigkeit. Das deckt sich insofern mit unseren Alltagserfahrungen, als Infektionskrankheiten dank ­hoher Impfquoten heute bis auf seltene Ausnahmen keine Rolle mehr spielen. Vor diesem Hintergrund ist der Impfstoff gegen Corona auch vollkommen zu Recht von Beginn an als Allzweckwaffe für ein Ende der Pandemie kommuniziert worden. Vieles war indes noch offen. Wie lange wirkt die Impfung? Gespräch mit Malte Thießen – »Wir selbst sind die Pandemie«

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Wie geht es mit den Mutationen weiter? Und vor allem: Ist man als geimpfte Person noch ansteckend? Diese Warnungen spielten 2020, gerade angesichts der Eindämmungsmaßnahmen, keine große Rolle, sodass in der öffentlichen Kommunikation das Bild kursierte: Wenn der Impfstoff kommt, ist die Pandemie vorbei.  Das spiegelt einerseits den Wunderglauben an einen Impfstoff wider, andererseits die Notwendigkeit, einen Zielhorizont zu geben, um die Menschen zu trösten und zum Durchhalten zu animieren. Anfang 2021 war diese Kommunikation noch unproblematisch. Der Impfstoff war da, und mit dem massenhaften Einsatz gingen die Todesfälle zurück. Die Zahl der Erkrankten sank weniger stark, aber man hatte das Gefühl, die Impfungen wirken. Dann aber ging es mit den Mutationen los und Nachbesserungen wurden nötig. Man musste einen zweiten und dritten Impftermin anberaumen, neue Impfstoffe mussten entwickelt werden und man war trotz Impfung sogar noch ansteckend. Das heißt, die großen Hoffnungen wurden enttäuscht und wir merkten, dass Immunität kein absoluter, sondern immer nur ein relativer Schutz ist. Vor diesem Hintergrund sind die Proteste der Impfgegner, die es auch schon 2020 gab, nochmal extrem befeuert worden.  Zum anderen hat ein Prozess der Gewöhnung eingesetzt. Das ist ein ganz normaler und völlig menschlicher Prozess. Wir gewöhnen uns an Bedrohungen, wenn sie eine Weile unter uns sind, wenn wir sie uns im Alltag angeeignet haben. Die Abstumpfung in der Pandemie setzte schon früh ein. Bereits 2021 spielten die furchtbar hohen Inzidenzen und Todeszahlen keine große Rolle mehr im Vergleich zum Vorjahr, als wir mit deutlich niedrigeren Fallzahlen schon die Zeitenwende wähnten. Das führte auch dazu, dass die Frage der Verhältnismäßigkeit umso vehementer artikuliert wurde. Hätten Sie mit Ihrem Wissen über die Pandemiegeschichte und die Wirksamkeit von Impfungen gedacht, dass Ende 2022 immer noch kein Ende der CoronaPandemie in Sicht sein würde? Dass wir heute hier sitzen, ist der Beweis dafür, dass die Prognosefähigkeit von Historikern sehr begrenzt ist. Im Mai 2020, als ich mein Buch angefangen habe, war ich ziemlich sicher, dass ich spätestens Ende 2020 eine Bilanz ziehen und die wichtigsten Linien skizzieren könne. Ich habe eine Geschichte des Impfens geschrieben und war begeistert, als die Impfstoffentwicklung so schnell startete. Auch ich dachte, wenn der Impfstoff da ist, dann ist die Pandemie vorbei. Wenn ich damals gefragt wurde, bestand für mich die Alternative zwischen zwei Modellen. Das eine, erhoffte, ist das Pockenmodell, das heißt, der Impfstoff wirkt so gut, dass wir Corona ausrotten können. Das andere ist das

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Influenzamodell: jährlich ein neuer Impfstoff, angepasst an die neuen Mutationen, und Konzentration vorwiegend auf Risikogruppen, der Rest bekommt davon nicht mehr so viel mit. Aber ich hätte nicht gedacht, dass wir heute, zweieinhalb Jahre später, immer noch so hohe Inzidenzen und Todeszahlen haben würden. Und ich hätte auch nicht erwartet, dass wir darin kein großes Problem sehen würden. Jahrzehntelang haben staatliche Stellen sich auf eine Pandemie vorbereitet. Dann kam sie und es war, als würde man bei null anfangen. Das ging so weit, dass die Frage aufgeworfen wurde, ob Masken überhaupt schützen, obwohl diese in entsprechenden Plänen längst als wichtiges Mittel festgehalten waren. Wie kann man das erklären? Das ist in der Tat erstaunlich. Die landläufige Meinung zu Beginn von ­Corona war: Oh Gott, eine Pandemie, das ist etwas ganz Neues. Wenn man sich mit der Seuchengeschichte beschäftigt, stellt man aber fest: Seitdem es Pandemien gibt, treffen Gesellschaften Vorsorge und entwickeln Konzepte. In der Bundesrepublik lagen seit Jahrzehnten Pandemie-Notfallpläne vor, weil man immer wieder mit Pandemien konfrontiert war. Deshalb ist es so erstaunlich, dass im März 2020, trotz des vorhandenen Wissens, erst einmal eine – in Jens Spahns Worten – »aufmerksame Gelassenheit« propagiert wurde. Es gibt aber auch Erklärungen dafür: Gerade in Westeuropa hat man Seuchen oder Seuchenträger schon immer schnell mit Stereotypen des Fremden behaftet. Auch die Corona-Pandemie galt zu Beginn noch nicht als weltweite Bedrohung, sondern als chinesisches Problem, verursacht durch den uns fremden Verzehr von Fledermäusen. Dass chinesisch aussehende Menschen in Deutschland als Seuchenträger angefeindet wurden, spiegelt die Vorstellung, man könne die Seuche an etwas Äußerem festmachen, an etwas scheinbar Fremden. Dieses Othering ist ein Riesenproblem, zuerst natürlich für die, die ausgegrenzt, zum Teil gewalttätig bedroht wurden. Aber es zeitigt auch Folgen für die ganze Gesellschaft. Wenn wir die Pandemie als Problem der anderen sehen, dann sind wir blind für die Probleme, die wir selbst sind: für uns als Ansteckungsherd. Die effektive Eindämmung des ersten Ausbruchs bei Webasto in München hat unseren Eindruck bestätigt, bei uns sei ein massiver Ausbruch nicht möglich. Hinzu kommt ein Lerneffekt aus der Schweinegrippe. Die Schweinegrippe war 2009 ein sehr angstbesetztes Thema. Damals dachte man, jetzt kommt die Pandemie und sie trifft uns. Auch Vergleiche zur Spanischen Grippe wurden damals schon gezogen. Die WHO wurde aktiv. Impfstoffe wurden entwickelt und die Bundesländer kauften dreißig bis vierzig Millionen Dosen. Und Gespräch mit Malte Thießen – »Wir selbst sind die Pandemie«

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dann entpuppte sich die Schweinegrippe-Pandemie als relativ harmlos und verebbte. Der Eindruck, die Bundesländer seien der Panikmache der Medien aufgesessen und einem blinden Aktionismus anheimgefallen, ist vielleicht bei manchen noch präsent geblieben, sodass man bei Corona erst einmal abwarten wollte. Und man kann noch weiter zurückgehen. Die erste SARS-Pandemie 2002/2003 konnte relativ gut eindämmt werden, ohne dass man in Deutschland tatsächlich aktiv werden musste. Vielleicht waren wir also auch deshalb nicht genug gewarnt, weil wir in der Vergangenheit so viel Glück hatten. Wie erklären Sie sich, dass das Othering im Kontext von Corona und chinesischen Tiermärkten so gut funktioniert, obwohl wir doch vor der eigenen Haustür – Stichwort Schweinezucht und antibiotikaresistente Keime – ganz ähnliche Probleme haben? Ich würde das ganz simpel erklären mit der menschlichen Vorstellung: Was mir vertraut ist, ist keine Bedrohung. In psychologischen Erhebungen hat man feststellen können, dass die Bereitschaft, eine Maske zu tragen, etwa auf Geburtstagsfeiern, wo man die Gäste kennt, sehr viel geringer ist als bei Veranstaltungen, wo man die Menschen nicht kennt. Wir sortieren unsere Vorstellung von bedrohlich und nicht bedrohlich danach, was wir mögen, schätzen, kennen. Das erklärt auch, warum wir am Anfang nicht erkannt haben, dass wir selbst die Pandemie sind. Dabei haben Produktionsprozesse in China und bestimmte Wertschöpfungsketten, die die Ausbreitung von Pandemien erleichtern, mit unserem Lebensstil zu tun, der also für die weltweite Verletzlichkeit mitverantwortlich ist. Aber diese Erkenntnis ist natürlich unangenehm und liegt deshalb nicht auf der Hand.   Anfangs hat die Arbeit in den Gesundheitsämtern noch gut geklappt, später immer weniger. Warum eigentlich haben öffentliche Institutionen ein so schlechtes Langzeitgedächtnis? 2015 zum Beispiel, als viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, waren viele Prozesse völlig unklar, obwohl bereits in den 1990er Jahren schon einmal sehr viele Flüchtlinge aufgenommen wurden, damals aus Jugoslawien. Es gab Zuständigkeiten, Abläufe, Infrastrukturen, die aber entweder nicht erhalten oder nicht weitergegeben wurden. Warum sind Institutionen nicht lernfähiger? Während der ersten Corona-Welle klappte zwar einiges, aber das sprichwörtliche Fax im Gesundheitsamt ist schon damals zum Symbol geworden für die Trägheit insbesondere im öffentlichen Gesundheitsdienst, für die mangelnde Reaktions- und Präventionsfähigkeit. Auch da müssen wir wieder zurückblicken. Der öffentliche Gesundheitsdienst hatte bis in die 1970er Jahre einen sehr hohen Stand. Seitdem ist er aber mit seinen Grundkonzepten

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von Daseinsvorsorge, Aufklärung, Präventions- und Impfprogrammen sukzessive zurückgefahren worden. Gesundheit ist neu interpretiert worden, der Blick wurde stärker auf die Krankenkassen und auf die individuelle Vorsorge statt Gesundheit als öffentliches Gut gelegt, was Hand in Hand mit der Individualisierung von Lebensstilen ging. Das präventive Selbst als Leitfigur hat in den letzten Jahrzehnten enorm an Bedeutung gewonnen. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens ab den 1980er und 1990er Jahren hat den Abbau des öffentlichen Gesundheitswesens noch einmal verstärkt. Insofern hat mich positiv überrascht, wie schnell plötzlich überall die Impfzentren standen. Aber langfristig sind Ad-hoc-Institutionen natürlich keine Lösung, weil sie kein Erfahrungswissen aufbauen. Und die Man- und Woman-Power in den Gesundheitsämtern reicht nicht aus, um Erfahrungswissen so weiterzutragen, dass man auf alle Situationen vorbereitet ist. Das haben wir jetzt zu spüren bekommen. Obwohl Pläne auf den Tischen lagen, fehlte es an Erfahrungen, an Strukturen und Konzepten, die genutzt werden konnten. In den vergangenen Sommern schien die Pandemie uns nicht mehr zu beschäftigen und im Herbst traten jeweils dieselben Probleme auf wie im Vorjahr. Warum kommt man aus dieser Spirale kurzfristigen Denkens und Handelns nicht raus? Ist demokratische Politik oder sind wir Menschen schlichtweg nicht für die Langstrecke gemacht? Das Problem ist nicht, dass Menschen so sind – ich kann das sehr gut nachvollziehen –, sondern dass man das in der politischen Kommunikation nicht anders vermitteln kann. Wenn man sich in Regierungen, Ministerien, Behörden und der Wissenschaft nicht über mittel- und langfristige Ziele verständigt und nicht in die Öffentlichkeit getragen wird, dass wir über den Tag hinausdenken müssen, dann entstehen diese Probleme immer wieder. Stattdessen hat man sich im Sommer 2020 lieber als Weltmeister gefeiert: Wir sind am besten davongekommen, haben toll zusammengehalten und Ähnliches. Natürlich laufen am RKI und anderswo schon die Planungen für die Herbstwelle an. Aber da, wo es kommuniziert wird, wird es nicht gehört. Das Problem haben wir ja auch beim Klimawandel. Eine solche Lebensaufgabe der Menschheit braucht eine viel langfristigere Kommunikationsstrategie. Mit der Botschaft, dass bestimmte Dinge Folgen haben, die wir noch nicht fassen können, die aber mittel- und langfristig auf uns zurückfallen, kann man jedoch nicht gut Stimmung machen. Natürlich spielen hier auch politische Zwänge und Wahlzyklen eine Rolle. Doch wenn man nicht in einen Modus der transparenten Kommunikation hineinfindet, wird man immer wieder auf die alten Probleme zurückfallen. Gespräch mit Malte Thießen – »Wir selbst sind die Pandemie«

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Sie schreiben in dem Zusammenhang auch vom »Präventionsparadox«. In der Tat haben die Eindämmungsmaßnahmen im ersten Jahr der Pandemie unterm Strich funktioniert, sofern sie funktionieren konnten angesichts des begrenzten Wissens, das man damals hatte. Somit hat sich die erste Welle als nicht so schlimm erwiesen, wie sie hätte sein können. Das ist aber genau, was uns in der öffentlichen Kommunikation auf die Füße fällt, weil dann gesagt wird: Was macht ihr eigentlich für eine Panik? War doch gar nicht so schlimm. Das ist das Präventionsparadoxon: Je besser Vorsorge hilft, desto mehr wird sie infrage gestellt, denn umso weniger treten die Effekte ein, gegen die man Vorsorge trifft. Vorsorge ist in historischer Perspektive immer auch ein Versprechen auf eine Kontrolle von Zukunft, auf Gefahrenabwehr oder Risikominderung. Man möchte zwar den Benefit haben, ist deshalb aber noch längst nicht bereit, langfristig Nachteile in Kauf zu nehmen. Vorsorgemaßnahmen wie den Lockdown halten wir vielleicht zwei oder drei Monate durch. Solche Reaktionsmaßnahmen zur Gefahrenabwehr sind also nicht langlebig. Es gibt jedoch auch andere Vorsorgemaßnahmen, die mittlerweile so in den Alltag übergegangen sind, dass wir sie gar nicht mehr bemerken. Das Händewaschen als Vorsorgemaßnahme ist beispielsweise eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Ebenso wenig hinterfragt werden dauerhafte Vorsorgemaßnahmen wie die meisten Impfungen. Obwohl wir mittlerweile Krankheiten wie Diphtherie oder Polio überhaupt nicht mehr kennen, lassen wir uns gegen diese Krankheiten impfen, einfach weil das in Form von U-Untersuchungen veralltäglicht ist. Hier sind die Impfgegnerinnen und Impfgegner in der deutlichen Minderheit, weil das zu unserem Lebensstil dazugehört.  Sie bezeichnen Seuchen als »Geburtshelferinnen« moderner Gesellschaften. ­Warum? Seuchen waren schon immer eine Herausforderung, die weit über Gesundheitsfragen hinausging. In der Antike war die Seuche ein Test auf Gottesgläubigkeit, oder galt als Gottes Wille, der da geschieht, seine Strafe oder Läuterung. Das heißt, die Seuche war immer sinnhaft. So ließ sich etwa erklären, warum die Pest jene traf und die anderen nicht. Auch, wie man sich dagegen schützen kann. Neu an der Moderne ist, dass der Staat anfängt, die Seuche zu regieren, mit Eindämmungs-, Hygiene- und Sanitätsmaßnahmen, durch die Trockenlegung von Sümpfen und Ähnlichem. Der moderne Staat erkennt die Seuche als große Chance, seine Leistungsfähigkeit zu beweisen, insbesondere ab dem frühen 19. Jahrhundert mit der Einführung erster Impfprogramme.

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Die Pockenimpfung ist das Paradebeispiel, weil sie sehr effektiv wirkt. Gerade angesichts der Schrecken der Pocken ist sie ein Segen der Menschheit. Und sie lässt sich systematisch planmäßig einsetzen, um – in der damaligen Vorstellung – die Gesellschaft selbst zu verbessern. Das ist der Grund, warum staatliche Akteure die Pockenimpfung schnell zu einem ihrer Hauptwerkzeuge von Gesundheits- und Sozialpolitik machten, lange bevor es die entsprechenden Ministerien dafür gab. Man hatte das Gefühl hatte, mit Gesundheit zugleich die Gesellschaft gestalten und die Zukunft beherrschen zu können. Der Staat definierte über Vorsorgeprogramme im Seuchenkampf seine Werkzeuge moderner Sozial- und Gesundheitspolitik – und letztlich auch sich selbst als fürsorgenden und vorsorgenden Staat. An den schwarzen Balken der auf null fallenden Pockentoten ließ sich ablesen: Seht her, wir kümmern uns um euch. Wir haben das Naturgesetz der Welle gebrochen, wir beherrschen die Natur und die Zukunft. Einerseits. Andererseits sind neue Pandemien damit immer auch eine Bedrohung für die Legitimität des Staates, weil man stets aufs Neue testen muss, was funktioniert. In einem ähnlichen Zusammenhang lässt sich die Lust am Vergleich in der Corona-Pandemie sehen. Von Anfang an gab es Rankings, erst nur für Europa, dann für die ganze Welt: Wie hoch sind die Inzidenzen? Wo gibt es wie viele Tote? Die Aussagekraft solcher Rankings ist allerdings sehr begrenzt, weil oft ganz unterschiedliche Dinge gemessen werden, sodass man die Daten gar nicht vergleichen kann. Das haben Expertinnen und Experten von Beginn an gesagt. Trotzdem gibt es diese Lust am Vergleich, weil man meint, damit die Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Staaten oder auch Bundesländer bestimmen und sich damit profilieren zu können. Kommen wir zur Geschichte der Impfskepsis. Es ist ja kein neues Phänomen, was wir gerade erleben. Welche Vorläufer hat die heutige Impfgegnerschaft? Impfkritik und Impfgegnerschaft sind so alt wie das Impfen selbst – ­tatsächlich auch von den Dimensionen her. Wir sehen heute diese starke Bewegung von Querdenkern, Corona-Leugnern und Impfgegnern bis hin zur AfD, die Impfgegnerschaft in politische Währung ummünzt, und fragen uns, wie so etwas im 21. Jahrhundert möglich ist. Vor diesem Hintergrund ist vielleicht die Beobachtung ganz beruhigend, dass es schon mal schlimmer war. Gerade die Pockenimpfung, die verhältnismäßig schwere Nebenwirkungen hat, war schon im 19. Jahrhundert sehr unbeliebt und stand insbesondere in Deutschland durch die Einführung der Impfpflicht stark in der Kritik, was dazu führte, dass sich die Impfgegnerschaft massiv organisierte. Ein Kollege, Karl-Heinz Leven, schätzt, dass Anfang des 20. Jahrhunderts allein in Gespräch mit Malte Thießen – »Wir selbst sind die Pandemie«

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Deutschland rund 300.000 Impfgegner in Vereinen organisiert waren, die Zeitungen und Flugblätter herausgaben – die damaligen Neuen Medien –, die Tagungen organisierten, auf die Straße gingen. Und die Impfgegner waren auch damals schon international vernetzt. Die Hintergründe der Impfkritik waren stets sehr vielfältig. Beim Impfen geht es nie nur um den Piks für den Einzelnen, sondern immer um die Grundsätze der Gesellschaft, um das Verhältnis des einzelnen Menschen zur Allgemeinheit. Was muss der Einzelne leisten, damit die anderen geschützt sind? Wie solidarisch kann oder muss man sein? Impfen ist immer auch ein solidarischer Akt, weil man indirekt auch diejenigen impft, die sich nicht impfen lassen können oder die trotz Impfungen besonders bedroht sind. Es geht um das Verhältnis des Staatsbürgers, der Staatsbürgerin zum Staat. Wer darf über die Körper bestimmen? Der Staat, der die Impfpflicht anordnet oder dazu aufruft, sich impfen zu lassen? Und hat der Einzelne die Entscheidungsmacht über den eigenen Körper – oder den Körper des Kindes? Das ist eine besonders emotionale Entscheidung. Auch deshalb ist das Impfen so emotional aufgeladen. Ist Impfkritik letztlich auch Modernekritik? Die Vorstellung, dass das Impfen eine moderne künstliche Maßnahme ist, die den Menschen verbessern soll, ist für viele ganz attraktiv. Im 19. Jahrhundert entspricht das dem Fortschrittsglauben. Andere empfinden gerade das als Bedrohung. Sie glauben an ihre traditionellen Lebensweisen, an ihre angestammten Werte, an eine »natürliche« Lebensweise. Auch das ist übrigens sehr modern. Das, was wir heute zum Teil in alternativen Milieus sehen, gibt es auch schon im 19. und 20. Jahrhundert: die Lebensreform, die ganz bewusst das Impfen als das Teufelszeug schlechthin erkennt. Am Impfen kann man all das festmachen, was die böse Moderne ausmacht. Der Staat, der von oben etwas aufdrückt, was gegen die Natur ist, etwas potenziell Bedrohliches. Dagegen wehrten sich die Lebensreformer mit alternativen Konzepten: Sonne, Luft, Bewegung, eine natürliche Lebensweise als Alternative zum Impfen. Und diese Lebensreformbewegung ist insofern interessant, als sie ein ganz breites Spektrum abbildete. Da gab es die Rechten, die Völkischen, die auch schon damals sehr antisemitisch argumentierten. Es gab aber auch Gruppen aus dem eher linken Milieu, die zum Teil aus der Arbeiterbewegung kamen und die Lebensreform als eine Form der Selbstermächtigung sahen, des Kampfes gegen die Verstädterung, gegen die Indus­ triearbeit, die uns alle krank macht. Die Impfgegnerinnen und Impfgegner aus dem alternativen, eher linksgrünen Milieu sind insofern kein neues Phänomen.

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Ist Impfkritik von links oder aus dem grün-alternativen Milieu legitimer als Impfkritik von rechts? Mir persönlich ist natürlich links-grüne Impfkritik sympathischer als die rechte, aber das ist kein Kriterium. Von links wie von rechts wird der Einklang mit der Natur sehr starkgemacht. Survival of the Fittest ist sozusagen ein Grundprinzip der Impfkritik. In eher linken, reformorientierten Gruppen wird die Selbstoptimierung mit Bezug auf die Autonomie des Subjekts gedacht und im rechten Spektrum stärker sozial-utilitaristisch, etwa mit Blick auf die Volksgemeinschaft. Impfen ist demnach Quatsch, weil es uns entweder alle vergiftet oder auch diejenigen rettet, die nicht zur Volksgemeinschaft dazugehören. Hier wird also eher kollektivistisch argumentiert und es geht weniger um die Bestimmung über den eigenen Körper. Die Studie How Green Were the Nazis? ist eine spannende Untersuchung, die zeigt, dass gerade Naturheilkunde in der NSDAP ein riesiges Sammelbecken gefunden hat. Was sich tatsächlich bei den Rechten stärker findet als bei den Linken, sind antisemitische Verschwörungstheorien. Allerdings muss man auch diesbezüglich für die Linke feststellen, dass dort Verschwörungstheorien ebenfalls en vogue sind. Der demokratische Widerstand gegen die Impfungen, der sich schon im April 2020 formiert hat, entsprang antikapitalistischen Initiativen aus Berlin. Er sieht sich in der Tradition einer Staats- und Kapitalismuskritik, die sich gerade an Gesundheitsskandalen und an Pharmaunternehmen aufhängt – denn Letztere vereinen alle Bösartigkeiten, die man sich vorstellen kann: große, multinationale Unternehmen, fernab von der Lebenswirklichkeit, die Kasse mit Gesundheit machen. Dass es Pharmaskandale und Vertuschung wie bei Contergan gab, unterfüttert dieses Bild und befeuert dadurch bis heute Verschwörungstheorien. Die ganze Welt ist voll von Verschwörungstheorien. Auch wir glauben an entsprechende Vorstellungen, die uns die Welt einfacher machen, weil wir nur so funktionieren können. Der Mensch muss unheimlich schnell unheimlich viele Dinge verarbeiten. Gerade bei neuen Phänomenen, die Angst machen, greift man auf das zurück, was man schon kennt, um es passgenau in seinen Erfahrungsschatz zu integrieren und ein Gefühl der Kontrolle zu gewinnen. Trotz aller Probleme unseres heutigen Gesundheitssystems ist nicht zu leugnen, dass es in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte bei der Behandlung von Krankheiten und auch im Umgang mit Kranken gab. Ist das links-grün-alternative Milieu mit der teils vehementen Ablehnung von Schulmedizin womöglich in den 1970er Jahren steckengeblieben, als die Zustände im Gesundheitssektor Gespräch mit Malte Thießen – »Wir selbst sind die Pandemie«

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teils noch wesentlich erschreckender waren, man denke beispielsweise an die Behandlungspraktiken psychischer Krankheiten? In dem gerade erschienenen Sammelband Ende der Anstalten haben wir uns die Geschichte der Protestbewegung gegen psychiatrische und andere Anstalten angeschaut. Die Bewegung kam fast immer von links, dann langsam auch aus den Institutionen selbst heraus, die die Mündigkeit des Subjekts und die Inklusion der Gesellschaft stark gemacht haben. Das war eine lange Geschichte voller Rückschläge, aber mit insgesamt enormen Erfolgen. Heute wird in der Tat ganz anders mit den entsprechenden Krankheiten umgegangen, ambulanter, mit mehr Freiheiten als noch vor vierzig Jahren. Ich bin nicht ganz sicher, woran sich die Kritik heute vor allem festmacht. Meiner Wahrnehmung nach wurde gerade zu Beginn der Pandemie nicht nur laut Beifall geklatscht für die Pflegekräfte und die Krankenhäuser, sondern es wurden auch geradezu revolutionäre Forderungen gestellt, und zwar nicht nur bei der LINKEN oder den Grünen. Da wurde mitunter ein kompletter Umbau des Gesundheitswesens gefordert und dessen Ökonomisierung kritisiert, also, dass alles vermeintlich nur noch Marktinteressen gehorche. Insgesamt ist unser Lebensstandard, sind unsere Möglichkeiten, Gesundheit und Alter leben zu können, aber einen Quantensprung entfernt von den 1960er, 1970er, 1980er Jahren. Die wesentliche Frage ist, was wir bereit sind, dafür zu zahlen. Es ist letztlich eine Frage von Prioritäten. Und es ist eine Grundsatzfrage, die Corona neu aufgeworfen hat. Haben Sie aus dem historischen Rückblick eine Idee, wie man an diese links-­ alternativen Impfkritikerkreise herankommt? Dass man angesichts des medizinischen Fortschritts Impfkritiker wird, ist ja fast schon folgerichtig. Die Impfungen sind eben wirksam und das führt dazu, dass man meint, sich darauf ausruhen zu können. Schon in den 1980er und 1990er Jahren wurde festgestellt, dass sich die Masern-Brutstätten in Berlin eben nicht in den sozial schwachen Quartieren befanden, wo man die gefährlichen Seuchenherde vermutete. Stattdessen fand man sie in den Vierteln des gutbetuchten Bürgertums, politisch im eher linken Spektrum. Da war und ist die Impfkritik groß, auch weil man sich das leisten kann. Der solidarische Aspekt des Impfens wurde in den 1960er, 1970er, 1980er Jahren rauf und runter beschworen, zum Teil auch überbeschworen. Da wurde dann auch gerne mal die Volksgemeinschaft bemüht. Und es wurde sozialer Druck aufgebaut, was natürlich auch nicht richtig ist. Aber dass wir Impfen immer als solidarisches Projekt verstehen und so kommunizieren, war früher selbstverständlicher. Das ist aber etwas, was im eher linken Spektrum vielleicht noch besser verfangen könnte.

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Können Sie noch erläutern, was es heißt, sich Impfkritik leisten zu können? Zum einen sind Impfungen Opfer ihrer eigenen Erfolge. Gerade, weil die Impfungen so gut funktionieren, spielen die Bedrohungen keine Rolle mehr, gegen die wir uns impfen lassen. Und deshalb kann man es sich auch leisten, sich nicht impfen zu lassen. Zum anderen haben sich in der Corona-Pandemie Menschen mit höherem Einkommen anders verhalten als Menschen mit niedrigem Einkommen, dieses Studienergebnis lag schon 2020 vor. Das hat unter anderem damit zu tun, dass man das Gefühl hatte, die Pandemie besser kontrollieren zu können, was ja ein Stück weit auch stimmt. Wenn man in einer Dreizimmerwohnung ohne Balkon mit drei Kindern lebt, ist Isolation schwieriger durchzuziehen als im Einfamilienhaus im Grünen. Und man fährt mit dem Auto natürlich sicherer zur Arbeit als in einer vollen U-Bahn. Das sind Faktoren, die diese Illusion der Beherrschbarkeit der Pandemie erklären. Die höhere Selbstwirksamkeitserwartung, die mit überdurchschnittlichen finanziellen Möglichkeiten einhergeht, hat also tatsächlich zu unsolidarischerem Verhalten geführt. War das neu an Corona oder kennt man das schon aus vorherigen Pandemien?  Die Vorstellung, dass man sich gewissermaßen mit Geld freikaufen kann oder mit seinem Lebensstil privilegiert ist, bestimmte Dinge zu tun, die andere nicht können, das ist tatsächlich relativ typisch. Es gab schon bei den Pestzügen in der frühen Neuzeit Berichte, dass die wohlhabenden Bürger auf ihre Landsitze flohen und die Quarantänemaßnahmen nicht befolgten. Auch bei der Hongkong-Grippe 1969/70 gab es die klassischen Schilderungen von Prominenten, die in ihr Feriendomizil entschwanden. Sie argumentieren gegen eine Impfpflicht. Warum? Eine Impfpflicht ist dann sinnvoll, wenn eine Impfung effektiv vor Ansteckung schützt. Wenn sie also nicht nur den Eigenschutz, sondern auch den solidarischen Aspekt mit sich bringt, dann kann man über eine Impfpflicht diskutieren. Und angesichts der Corona-Impfstoffe, die leider nicht vor Ansteckung schützen, ist das meiner Wahrnehmung nach vom Tisch.  In historischer Perspektive haben wir in Deutschland Erfahrungen sowohl mit der Impfpflicht als auch mit freiwilligen Impfungen. Und die Pflicht­ impfungen haben eine schlechtere Bilanz als die freiwilligen. Etwa bei der Pockenimpfung, der einzigen Pflichtimpfung, die wir kennen. Alle anderen Impfungen in der Bundesrepublik und auch schon in der NS-Zeit wurden als freiwillige Impfungen eingeführt. Und der Direktvergleich zeigt, dass die freiwilligen Impfungen tatsächlich höhere Impfquoten mit sich bringen. Gespräch mit Malte Thießen – »Wir selbst sind die Pandemie«

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Zunächst aus dem ganz banalen Grund, dass Freiwilligkeit dazu führt, dass man die Impfung anders begründen, anders einführen, anders vermitteln muss. Man muss Überzeugungsarbeit leisten. Und man muss niedrigschwellige Angebote schaffen. Man muss auch über Nebenwirkungen aufklären und vermitteln, warum sie im Verhältnis zum Erfolg keine große Rolle spielen. Das ist, zumindest im 20. Jahrhundert, ein Erfolgsmodell. Vor allem aber bringt die Impfpflicht extreme Nebenwirkungen mit sich, weil sie erstens die Impfkritik schürt und zweitens die Impfpflicht nicht mit einem Impfzwang gleichzusetzen ist. Es gibt keine sicheren Zahlen, aber grosso modo kann man sagen, dass bei der Pockenimpfung pro Jahr Zehntausende Impfverweigerer der Impfung fernblieben und allerhöchstens dreißig Zwangsimpfungen pro Jahr durchgeführt wurden, meistens deutlich weniger. Der Großteil der Impfgegner kam mit einer Geldstrafe davon oder saß eben zwei, drei Tage im Gefängnis ab. Das heißt, Sanktionen waren ein stumpfes Schwert, sie erhöhten die Impfquote nicht. Und in der Corona-Pandemie waren Zwangsimpfungen von vornherein vom Tisch. Ein weiteres Problem ist, dass die Impfpflicht versteckte Infektionsherde schafft. Als in der Corona-Pandemie die Impfpflicht-Debatte hochkochte, begann das Fälschungswesen für Impfzertifikate zu florieren. Auch 1874 bemerkten das die Medizinalbehörden, als plötzlich die Pocken wiederkamen, obwohl doch laut Register alle geimpft waren. Alles in allem denke ich also, dass Druck, gerade bei so existenziellen Fragen, die den Körper betreffen, Gegendruck erhöht, Umwege eröffnet und viel zu hohe Nebenwirkungen mit sich bringt, als dass sich das lohnen würde. Diese unglaublichen Ressourcen, die in die Impfpflicht gesteckt wurden, wären meiner Ansicht nach sinnvoller investiert worden in niedrigschwellige Angebote, in gute Aufklärung, in Vermittlungsangebote und in Beratungs­ gespräche, um Menschen, die Angst haben, die Chance zu geben, sich darüber auszutauschen. Das hat einen viel größeren positiven Effekt. Könnte eine Impfpflicht für viele Menschen, die tendenziell zu einer Immunisierung neigen, nicht aber auch eine Erleichterung sein, weil sie ihr Verhalten gegenüber einer impfkritischen Peer Group dann mit äußerem Zwang legitimieren könnten? In Einzelfällen funktioniert das mit Sicherheit. Die Impfpflicht kann eine goldene Brücke sein für diejenigen, die sich in Impfgegnerkreisen bewegen, aber selbst der Impfung gar nicht ganz abgeneigt sind. Mit einer Impfpflicht können sie darauf verweisen, dass sie ja müssen. In historischer Perspektive ist es aber so, dass die Impfpflicht vor allem diejenigen mobilisiert, die gar nicht unbedingt gegen das Impfen sind, die

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aber den staatlichen Eingriff als übergriffig empfinden. Auch das ist eine Folge der sechziger, siebziger, achtziger Jahre, auch des Projektes von links, die Selbstbestimmung des Subjekts im Umgang mit dem eigenen Körper zu propagieren. Daher sind es mehr Menschen, die man mit einer Impfpflicht vom Impfen entfernt, als die wenigen, die man mit der goldenen Brücke aus dem impfskeptischen oder -kritischen Spektrum an die Nadel holt. Auch wenn man auf Freiwilligkeit setzt, kann man das ja in unterschiedlicher Weise tun. Waren Kampagnen wie die zur Polio-Impfung – Kinderlähmung ist grausam, Schluckimpfung ist süß – effektiver als die heutigen Impfkampagnen, die eher nüchtern informieren oder auf »Impfangebote« setzen? Die Polio-Impfkampagne der 1960er und 1970er Jahre war tatsächlich ein Erfolgsmodell. Noch heute kennt jeder Zweite diesen Spruch, weil er so massiv propagiert worden ist, unter anderem mit Schockvideos im Fernsehen. Das war etwas vollkommen Neues, aber es war extrem effektiv. Da sah man dann einsame Kinder mit verkrüppelten Beinen und Krücken über einen Krankenhausflur laufen. Präsenter könnte das Bedrohungsgefühl kaum sein und das motiviert natürlich unheimlich. Es war aber damals schon extrem umstritten, weil gefragt wurde: Dürfen wir mit Angst Gesundheitspolitik machen? Ist das nicht eine Überwältigung? Letztlich entschied man sich, von den Schockbildern Abstand zu nehmen, weil man das Gefühl hatte, es passt nicht mehr zu einem Verständnis von Staatsbürgerinnen und -bürgern, die aus freien Stücken ihren Anteil an Gesellschaft leisten und vor allen Dingen auch selbstbestimmt für den eigenen Schutz sorgen sollen. Die neuen Appelle hatten zwar nicht mehr diese starke emotionale Wirkung, aber man machte auch etwas, was sehr effektiv ist: Man sorgte für eine Veralltäglichung des Impfens. Das Impfen war bis in die 1970er Jahre eine Massenveranstaltung, und zwar im wörtlichen Sinne. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wurde für Impfungen gegen Pocken und Diphtherie ein Durchschnittssatz von vierzig bis sechzig Impfungen pro Stunde angesetzt. Da wurde ein Termin festgelegt, an dem eine Turnhalle oder eine Kneipe geöffnet wurde, und dann kam der Impfarzt und impfte die Kinder durch. Da hatten Eltern zurecht das Gefühl, dass ihr Sicherheitsinteresse nicht berücksichtigt und der Gesundheitszustand des Kindes nicht richtig geprüft wurde. Das sorgte dafür – bei der Polio-Impfung ging das los –, dass man merkte: Wir müssen nicht den Menschen zur Impfung bringen, sondern die Impfung zum Menschen. Wir müssen niedrigschwellige Angebote schaffen, die Impfung im Alltag anders verorten – bequemer. Termine muss man auch selbst machen können. Gespräch mit Malte Thießen – »Wir selbst sind die Pandemie«

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In den 1970er Jahren wurde das Impfen in der Bundesrepublik also neu organisiert, an die Krankenkassen ausgelagert und damit zu den Kinder- und Hausärzten gebracht – was auch mit dem Abbau des öffentlichen Gesundheitsdienstes zu tun hat. Was heute trivial klingt, war aber eigentlich die Revolution der Impfgeschichte, weil das Impfen seitdem wie selbstverständlich dazugehört. Vor allem aber, weil man Zeit gewinnt und dadurch auch ein Vertrauensverhältnis zum Arzt, der die Impfung durchführt. Ebendiese Veralltäglichung halte ich für das effektivste Mittel, um eine hohe Impfquote zu erzielen. Sie sagten, die Impfung müsse zu den Menschen kommen. In Göttingen etwa wurden Impfungen eine Zeit lang vor allem in Universitätsgebäuden »angeboten«, was natürlich eine enorme Hürde ist für Menschen, die mit der Universität nichts zu tun haben. Als Best-Practice-Beispiel haben Sie Bremen angeführt, wo die Impfquote schon relativ früh sehr hoch war. Was wurde in Bremen anders gemacht als in anderen Städten? »Die Impfung zu den Menschen bringen« war ein Slogan in den Gesundheitsbehörden der 1960er und 1970er Jahre. Da wurde das Aufsuchende, das Niedrigschwellige und auch das Multikulturelle starkgemacht, weil man plötzlich erkannt hat, dass man sonst hunderttausend, wenn nicht gar Millionen Kinder der damaligen Gastarbeiter gar nicht erreichen würde. Die fingen also an, die Broschüren zu übersetzen. Das klingt erstmal trivial, aber das war als Umdenken in der Vermittlungsarbeit tatsächlich essenziell. In der Corona-Pandemie gab es zu Beginn eine Aufklärungsbroschüre gegen Corona vom Bundesgesundheitsministerium, die in etliche Sprachen, auch in leichte Sprache übersetzt wurde. Alle anderen Kampagnen waren, meiner Wahrnehmung nach, aber lange Zeit ziemlich hochschwellig. Die Universitätsaula als Impfzentrum ist ein Paradebeispiel dafür, wie das Impfen am Anfang in vielen Bundesländern und Kreisen kommuniziert wurde, nämlich erstens: Die Informationen stehen doch auf der Webseite des RKI oder des Bundesgesundheitsministeriums oder der Landesgesundheitsministerien. Und zweitens: Wir haben doch Impfzentren, dann ist doch alles gut. Und genau diese Vorstellung hatte man in Bremen tatsächlich nicht. Man ist in die Communities gegangen, hat zum Teil auch mit Akteurinnen und Akteuren vor Ort zusammengearbeitet für die Vermittlungsarbeit. Und man hat gesagt, dass das Impfzentrum an sich nicht ausreicht, sondern dass das Impfen mobil sein muss. Vor allem hat man das Impfen an Orte gebunden, die im Alltag normal sind. Wir haben es ja belächelt: Gib’ mir eine Impfung

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und eine Bratwurst dazu. Aber es geht darum, dass das Impfen aus dem Akademischen, aus dem Bürokratischen, aus dem Medizinischen rauskommt ins Alltägliche, in eine Lebenswelt, mit der ich vertraut bin. Es gab auch bei früheren Impfprogrammen diese Versuche – immer sehr erfolgreich. Es ist mühselig, aufwendig, teuer, aber ich glaube, das ist es wert, wenn es darum geht, das Impfen als hohes Gut überall an den Mann und an die Frau zu bringen und dabei den solidarischen Aspekt stark zu machen, anstatt auf Druck zu setzen. Sie haben Seuchen »die sozialsten aller Krankheiten« genannt. Sind Seuchen wirklich, wie es oftmals heißt, die »großen Gleichmacher« im Sinne von »Vor dem Tod sind alle gleich«? Die Zahlen zeichnen ein anderes Bild, das ein großes soziale Gefälle erkennen lässt. Wo verlaufen die tiefsten Gräben? Und war das bei vorangegangenen Pandemien anders? Das ist für mich die erschreckendste Erkenntnis der Corona-Pandemie, dass Corona die große Ungleichmacherin ist. Und zwar nicht deshalb erschreckend, weil das ein neues Phänomen wäre, sondern weil es so uralt ist. Diese Vorstellung von der Seuche als großer Gleichmacherin – vom König bis zum Bettler – gab es schon immer. Totentanz-Darstellungen etwa suggerieren dieses Bild bereits in der frühen Neuzeit und im Mittelalter. Und doch ist schon damals, spätestens aber im 19. Jahrhundert mit der aufkommenden Sozial­medizin, klar, dass Epidemien im Gegenteil extreme Ungleichmacherinnen sind. Die Ärmsten werden zuerst und am schwersten getroffen und sie haben auch noch am schwersten an den Nachwirkungen zu knabbern. Dieses Phänomen hat man im 19. Jahrhundert bereits bei der Cholera und bei der Tuberkulose beobachtet; auch, dass das ganz stark mit Wohn- und Arbeitsverhältnissen, mit der Lebenssituation zu tun hat. Und auch noch in der Bundesrepublik wird immer wieder anprangert, dass vor Krankheit und Gesundheit, Leben und Tod die Menschen überhaupt nicht gleich sind, wie die moderne Demokratie ja nun eigentlich verspricht. Dass Angela Merkel und Lothar Wieler diese Vorstellung auch in der ­Corona-Pandemie beschworen und von Corona als ausgesprochen demokratisch gesprochen haben, entsprang meiner Ansicht nach weder Böswilligkeit noch Naivität. Die vermeintliche Gleichheit vor der Seuche dient vielmehr als Argument, um weitgehende Maßnahmen durchzusetzen. Wer meint, im selben Boot zu sitzen, zieht auch leichter am selben Strang. Empirisch wurde ganz früh in der Pandemie nachgewiesen, dass ärmere Menschen stärker betroffen werden – nicht nur von der Krankheit selbst, sondern auch von den Eindämmungsmaßnahmen. Die Lockdowns sind vor Gespräch mit Malte Thießen – »Wir selbst sind die Pandemie«

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allem für diejenigen ein Problem, die in Berufen mit niedrigen Einkommen arbeiten, die an der Kasse sitzen, die in Pflegeberufen arbeiten, die also auf Menschenkontakt angewiesen sind, während viele Berufe mit hohem Sozialprestige und hohem Verdienst eher die Möglichkeit haben, im Homeoffice zu bleiben oder sich entsprechend zu sichern. Dieser Faktor für soziale Ungleichheit ist von den Eindämmungsmaßnahmen noch verstärkt worden, weil man keine Kompensationen eingerichtet hat. Man hätte dann zum Beispiel den öffentlichen Nahverkehr hochfahren müssen, um Abstand in der Bahn zu ermöglichen. Und man hätte viel früher die technische Ausstattung bereitstellen müssen, die es für Distanzunterricht braucht. Die Solidaritätsappelle waren, meiner Meinung nach, ausgesprochen unsolidarisch, weil sie von allen das gleiche Verhalten verlangt haben, ohne die ganz unterschiedlichen Voraussetzungen für dieses Verhalten zu berücksichtigen. Am Anfang der Pandemie mag dies noch nachvollziehbar gewesen sein, aber dass dem Problem auch 2021 immer noch nicht strukturell begegnet wurde, halte ich für ein Armutszeugnis, gerade für ein reiches Land wie Deutschland. Dass die Eindämmungsmaßnahmen soziale Ungleichheiten noch verstärkt haben, hat letztlich auch ihre Akzeptanz verringert. Es heißt ja auch, dass Familien mit Kindern zu den großen Verliererinnen der Pandemie gehören. Hätte der Distanzunterricht nicht auch eine Chance sein können, etablierte Unterrichtsformen grundsätzlich zu überdenken? Warum wurde darüber so wenig gesprochen? Man hat viele Entwicklungen auf Corona als Ursache bezogen: die leeren Innenstädte oder eben die Schulen, die nicht funktionieren oder Ähnliches. Aber letztlich ist Corona natürlich nur ein Verstärker von Phänomenen, die uns schon länger belasten und ein Problem sind. Und gerade die Individualisierung im Unterricht – eine Forderung, die ja schon seit Jahrzehnten erhoben wird –, das heißt individuelle Lehr-Lernmethoden, entsprechende Differenzierung, also all das, was ja in der Corona-Pandemie eine große Chance gewesen wäre, hat nicht funktioniert. Und zwar nicht, weil Corona da war, sondern weil das deutsche Schulsystem darauf nicht ausgelegt ist. Es gibt tolle Konzepte, die von Pädagogen, von Didaktikerinnen schon seit Jahrzehnten aufgestellt werden, aber sie kosten eben Geld, sie setzen einen entsprechenden Schlüssel von Lehrkräften in Schulen voraus und auch eine entsprechende Ausstattung. Und die gibt es in Deutschland nicht. Deshalb kaschiert dieses Mantra, nur im Klassenverband lernen zu können, auch ein Stück weit strukturelle Probleme. Corona hat das nur offengelegt und verstärkt, aber nicht verursacht.

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Studien haben gezeigt (so etwa Karl Haller in der Zeitenwende-Ausgabe von ­I NDES), dass gerade die Älteren, bei denen man befürchtet hatte, dass sie besonders unter dem Lockdown leiden würden, erstaunlich gut damit zurechtkamen. Spielt da auch die Lebenserfahrung, die Krisenerprobtheit, gewissermaßen eine Altersweisheit, eine Rolle? Ich habe mich in einem Projekt mit den Nachwirkungen des Luftkriegs auf ältere Generationen beschäftigt. Und es gibt Alltagspraktiken, die bei den Generationen, die den Krieg erlebt haben oder als Kriegskinder mit den unmittelbaren Nachwirkungen konfrontiert waren, verinnerlicht sind. Das sind all die Dinge, die man bei Oma und Opa jahrzehntelang belächelt hat: dass man am Tisch aufessen muss; dass man Vorräte anlegt, um autark zu sein; dass die Kleidungsstücke im Schrank so liegen, dass man sie mit einem Ruck herausnehmen und flüchten kann. Diese Praktiken sind selbstverständlicher für eine Generation, die bitterste Entbehrungen erlebt hat. Das zeigt sich auch in einem politischen Generationswechsel. In den 1960er und 1970er Jahren waren Entbehrungen im politischen Diskurs viel wirkmächtiger und selbstverständlicher. Die wurden gar nicht thematisiert, weil das Grundwerte des Zusammenlebens waren. So doof es ist, dass wir heute weniger resilient sind, so froh können wir sein, dass wir diese Erfahrungen, die uns diese Resilienz vermittelt hätten, nicht machen mussten. Ist der Eindruck falsch, dass in der Pandemie eine recht idyllische Vorstellung vom anzustrebenden »Normalzustand« vorherrschte? Dabei waren doch etwa die Grenzen des Wachstums schon vorher viel diskutiert worden. Wurde hier eine Chance vertan? Vielleicht. Ich will gar nicht immer nur die Grünen glorifizieren, aber es wird ja momentan viel an Habeck festgemacht, wie er im Zuge des Ukrainekriegs Einschränkungen kommuniziert. Er lädt sie mit einer anderen Per­ spektive auf, kommuniziert Auswirkungen unseres Lebensstils und benennt eben auch die Ambivalenzen und Dilemmata, die man nicht auflösen kann. Diese Krisenkommunikation ist vielleicht eine Reaktion genau auf die Entbehrungserfahrungen in der Pandemie. Ich habe aber das Gefühl – und da bin ich wahrscheinlich einer der wenigen, die das noch so sehen –, dass die Krisenkommunikation, gerade 2020, erstaunlich fortschrittlich, liberal und transparent war. Man hat die Maßnahmen intensiv diskutiert und immer wieder vermittelt, wie schwer einem das selbst fällt. Angela Merkel hat beispielsweise sehr stark auch persönlich argumentiert, ähnlich wie Habeck heute. Dieser Politikstil hat gewirkt. Man hat die negativen Auswirkungen der Maßnahmen von Beginn an antizipiert. Und Gespräch mit Malte Thießen – »Wir selbst sind die Pandemie«

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das war eine sehr selbstreflektierte und auch im positiven Sinne zerknirschte Debatte darüber, was eine Regierung darf und wie Demokratie legitimiert ist. Früher, mit dem Reichsseuchengesetz oder dem Bundesseuchengesetz, wären ganz andere Maßnahmen möglich gewesen, aber auch 2020 hätte man ganz anders vorgehen können, wenn man gewollt hätte. Auch den Infektionsschutz hätte man rigider auslegen können, und meiner Wahrnehmung nach ist das von Regierungsseite relativ kritisch kommuniziert worden. Nach zweieinhalb Jahren ist natürlich auch unter einigen Politikerinnen und Politikern eine Abstumpfung festzustellen. Dass man irgendwann müde ist zu argumentieren, kann ich also nachvollziehen. Warum wurden keine radikaleren Stimmen laut, die beispielsweise die Vorzüge einer Beibehaltung der Mobilitätsbeschränkungen lautstark betonten? Gleiches gilt für den Vorweihnachtslockdown. Angesichts der häufigen Kritik an einer Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes hätte diese erzwungene Ruhe ja auch Befürworter:innen finden können. Was 2020/21 durchaus diskutiert wurde, auch angesichts des ausgedünnten Flugverkehrs, ist ein Wandel des Lebensstils – die Corona-Pandemie als ein Moment der reflexiven Globalisierung. Dass wir mit unserem Lebensstil die Globalisierung sind – was auch immer das ist – und dass die großen Probleme wie Klimawandel und Ausbeutung mit uns zu tun haben, das ist zwar schon vor Corona viel diskutiert worden; durch das Herunterfahren von Konsum und Tourismus wurde das Thema 2020/21 aber nochmal präsenter. Und wer weiß, ob es nicht tatsächlich in der Folgewirkung auch ein Umdenken bewirkt, ob nicht etwa Urlaub im Inland auch langfristig attraktiver sein wird. Und was ganz sicher zurückbleibt und auch jetzt schon intensiver diskutiert wird, ist das Reduzieren von Geschäftsreisen durch den Umzug ins Digitale. Die leeren Innenstädte hingegen als etwas Positives zu vermitteln, ist schwer; und das vielleicht zu Recht, weil es ein Ungleichgewicht gibt. Viele Gewerbe­treibende, Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmer haben, trotz der Ausgleichszahlungen, besonders schwer unter der Pandemie gelitten. Wenn Geschäfte vor Ort als direkt sichtbare Folge der Pandemie und des Lockdowns schließen müssen, dann betrifft die unmittelbare Lebenswelt. Da wirkte ­Corona wie ein Brandbeschleuniger, was Ungleichheit und innenstädtische Verödung betrifft. Aber auf lange Sicht bin ich nicht sicher, ob Corona nicht doch zu einem Lebensstilwandel führt, zumindest in einigen Bereichen. Für vieles, was bereits vorher im Schwange war, war die Pandemie ein wichtiger Schub, um bestimmte Konzepte tatsächlich durchzusetzen oder zumindest intensiver darüber nachzudenken.

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Hat sich der deutsche Föderalismus aus Ihrer Sicht in der Corona-Krise bewährt? Der deutsche Föderalismus ist der Lieblingsboxsack, gegen den man in allen Krisen haut: Das ist alles so behäbig und alle arbeiten gegeneinander. Tatsächlich glaube ich, dass Pandemiebekämpfung, unabhängig vom Föderalismus, effektiver ist, wenn sie regional gedacht wird, als wenn sie national, geschweige denn global organisiert wird. Es ist nicht sinnvoll, das ganze Land dichtzumachen, wenn nur einzelne Kreise Inzidenzen von beispielsweise über fünfzig haben – eine Schwelle, über die wir heute lachen. Auch wenn die entsprechenden Pläne, die 2020 eingeführt wurden und bestimmte Eindämmungsmaßnahmen in Abhängigkeit von der lokalen Inzidenz vorsahen, nie konsequent umgesetzt wurden, halte ich eine föderale Struktur mit nationalen Rahmenbedingungen eigentlich für funktional, weil sie auf bestimmte Gegebenheiten vor Ort schneller und besser reagieren kann als zentralistisch organisierte Staaten. Wir denken Pandemie immer als globales Phänomen, das am besten nur die WHO regeln soll. Aber natürlich ist die Pandemie, so weltweit sie auch um sich greift, von Ort zu Ort extrem unterschiedlich. Und diese Unterschiedlichkeit in den Blick zu bekommen und verhältnismäßig zu reagieren, ist in regionalen und Landesstrukturen nicht nur einfacher und effektiver, sondern führt wahrscheinlich auch zu mehr Rückhalt. Ein Problem, das sich schon 2020 ankündigte, war der Bundestagswahlkampf 2021, der seinen Schatten vorauswarf, sodass Landesgesundheitspolitik auch zum Wahlkampfschlager verkommen ist. Hier zeigt sich wieder das Profilierungsbedürfnis, das Gesundheitspolitik mit sich bringt. Einerseits hört man oft den Ruf nach Experten (der in der Politikwissenschaft durchaus skeptisch gesehen wird), doch als dann die Virolog:innen auf den Plan traten, hieß es: »Hilfe, wir werden von Virologen regiert!«. Was sagt das über die Erwartungen an Politik? In meinem Buch habe ich geschrieben, dass die Wissensgesellschaft in der Corona-Pandemie erwachsen geworden ist. Ich fand es 2020 erstaunlich, welchen Stellenwert Wissenschaft hatte und mit welcher Ernsthaftigkeit man sich mit Wissenschaft auseinandergesetzt hat. Dass man auch auf Titelseiten von Tageszeitungen plötzlich über Peer-Review-Verfahren und über die Vorläufigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse philosophierte, hat mich umgehauen. Zwar wird Corona deshalb in der öffentlichen Wahrnehmung auch als Geburtsstunde von Fake News und Wissenschaftsleugnung gesehen – das gab es natürlich auch. Aber grosso modo war das Wissen von Expertinnen und Experten tatsächlich enorm präsent, und zwar gerade in diesem Widerstreit und gar nicht im Sinne absoluter Wahrheiten. Natürlich gab es auch diese Gespräch mit Malte Thießen – »Wir selbst sind die Pandemie«

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Inszenierungen vom Duell Drosten gegen Streeck, Heldendarstellungen von Drosten als Obi-Wan Kenobi oder Gandalf und dergleichen. Das erinnert dann an Robert Koch und die Heldenverehrung, die es im 19. Jahrhundert schon gab. Aber insgesamt war das doch eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung mit Wissenschaft und ihren Grenzen. Ein Problem war allerdings, dass einige Politikerinnen und Politiker Wissenschaft als Feigenblatt genutzt haben und Expertinnen und Experten vorgeschoben haben für vermeintlich unmissverständliche, unumstößliche Wahrheiten, die politische Richtlinien vorgeben würden. Das suggerierte, dass die Wissenschaft uns diktatorisch den Lebensstil vorschreibt. Politikerinnen und Politiker müssen aber keine Experten für medizinische Fragen sein. Sie müssen vermitteln können, den Ausgleich von Interessen und eine Diskussion über diese Interessen voranbringen. Und das haben manche Politiker und Politikerinnen – angesichts der Notlage vielleicht auch verständlicherweise – nicht mehr gemacht, gerade Ende 2020, Anfang 2021, als es besonders hochkochte. Da wurde zum Teil die Wissenschaft vorgeschoben, um Politik zu legitimieren oder sich hinter vermeintlichen Handlungszwängen zu verstecken. Und das hat dieses Schreckbild von der Herrschaft der Virologen aufgebaut – das ist natürlich ein Riesenproblem. Es gab aber aus der Wissenschaft selbst ganz klare Botschaften an die Politik, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eben keine politischen Entscheidungen vorgeben können. Das ist ein Ansatzpunkt, um das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie zu stärken und sie als das Beste zu erkennen, was wir haben, um solche Krisen zu managen. Weil wir über Pro und Contra ringen und über Auswirkungen für unterschiedliche Interessengruppen. Im Laufe der Zeit schienen die Maßnahmen eine größere Aufmerksamkeit zu erhalten als die Krankheit selbst. Sie sprechen von einer »Seuche um die Seuche«. Wie ist das zu erklären? Hat das auch mit der Angst vor existenziellen Erfahrungen, vor der Begegnung mit Krankheit und Tod zu tun? Es ist tatsächlich erstaunlich, dass im Angesicht der Pandemie der Pandemietod in der öffentlichen Debatte eine so geringe Rolle gespielt hat. Man kann das besonders eindrücklich beobachten an dem ersten Versuch, Corona in die Erinnerungskultur zu überführen. Im März 2021 hat Bundespräsident Steinmeier zum Gedenktag für die Corona-Toten am 18. April eingeladen. Die Kirchen und viele andere Träger machten mit, doch in der Öffentlichkeit wurde dieses Gedenken kaum wahrgenommen. Das hat mich erstaunt, weil ich eigentlich gedacht hätte, dass es ein großes Bedürfnis gibt, das Leid in

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COVID-19 ff. — Interview

den Mittelpunkt zu stellen. Mit Sicherheit hat auch eine Rolle gespielt, dass der Gedenktag zu einem Zeitpunkt stattfand, an dem die Pandemie noch längst nicht vorbei war. Bei der Planung des Gedenktages hatte man wahrscheinlich gehofft, Bilanz ziehen und zurückblicken zu können. Aber wichtiger ist, glaube ich, dass die Auseinandersetzung mit dem Tod in der Gesellschaft schwierig ist. Die Kirchen, die den Umgang mit Tod in die Gesellschaft tragen, spielen eben keine große Rolle mehr. Der Krankheitstod und der Tod überhaupt hat aber heute auch nicht mehr die Selbstverständlichkeit, die er mal hatte, weil wir in einem reichen Land mit hohem Gesundheitsstandard leben. Das ist in der Pandemie, vielleicht auch gerade angesichts des Massentodes, tatsächlich besonders deutlich geworden ist. Und natürlich ist dieses Leben in ständiger Angst vor dem Tod auch nicht besonders angenehm. Auch daher ist das Bedürfnis erst einmal nachvollziehbar, nicht jeden Tag mit der Todesgefahr im Kopf auf die Straße zu gehen. Ein Indikator dafür, dass der Corona-Tod, trotz aller Bedrohungsgefühle, relativ weit weg schien, ist auch die Bildsprache der Pandemie, die Leid und Tod, wenn überhaupt, nur geradezu stereotyp in diesen Intensivzimmern abgebildet hat. Schilderungen von der Isolation, von dem einsamen Sterben gab es zwar, aber sie haben in der Öffentlichkeit kein großes Aufsehen erregt und mit der Pandemiewahrnehmung erschreckend wenig zu tun gehabt. Es ist eine Pandemie eigentlich ohne Tote, obwohl wir so erschreckend hohe Todeszahlen haben. Wenn man fragt, wie viele Tote eigentlich auf Kosten des Virus gehen, können erstaunlich wenige Menschen auch nur die Dimensionen abschätzen. Das deutet genau darauf hin, dass wir den Umgang mit dem Tod verlernt haben. Das Interview führten Volker Best und Katharina Rahlf

Prof. Dr. Malte Thießen leitet das Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster und lehrt als apl. Professor Neuere und Neueste Geschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Er forscht zur Geschichte der Gesundheit, zum »Dritten Reich«, zur Geschichte der Digitalisierung und zur europäischen Erinnerungskultur.

Gespräch mit Malte Thießen – »Wir selbst sind die Pandemie«

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ANALYSE

PANDEMISCHER KONSTITUTIONALISMUS APORIEN VON FREIHEIT, SOLIDARITÄT UND SCHUTZ DES LEBENS Ξ  Roland Lhotta

»Am Leben hängen die Leute mehr als an allem andren. Eigentlich lustig, wenn man sich überlegt, was für schöne Sachen es gibt auf der Welt.« 

(Romain Gary, Du hast das Leben vor dir, 2017, S. 50)

»Das Leben ist der Güter höchstes nicht, Der Übel größtes aber ist die Schuld.«  (Friedrich Schiller, Die Braut von Messina, Vierter Aufzug, letzter Auftritt) Der Schutz des menschlichen Lebens ist ideengeschichtlich eine der wesentlichen Begründungen für die Existenz des modernen Staates. Das Referenzmodell hierfür ist bis heute der Leviathan von Thomas Hobbes. Seine kühlweltliche kontraktualistische Begründung eines »body politick« mitsamt einer absoluten Macht (die in der Hand eines Herrschers oder der Gesellschaft liegt) basiert auf der vernünftigen und aus Subjektsicht zweckrationalen Entscheidung, sich um des Schutzes von Leib und Leben willen im gegenseitigen Einvernehmen einer Herrschaft zu unterwerfen, die so machtvoll ist, dass sie die Wolfsnatur des Menschen in die Schranken weist. Der Preis dafür ist allerdings beachtlich, denn gegen die Allmacht der qua Vertrag etablierten Herrschaft gibt es kein Remedium und schon gar keine Abwehrrechte. Negative Freiheit, eine vom Staat zu respektierende und zu schützende Sphäre des Individuums, sowie eine rechtlich garantierte Teilhabe aller Bürger an der staatlichen Willensbildung und an den Leistungen des Staates – dies sind Güter, die erst der liberale Rechts- und Verfassungsstaat beziehungsweise der soziale Rechtsstaat und die Demokratie sukzessive zu verankern vermochten. Hobbes’ Staat hingegen ist eine Zweckgemeinschaft mit Zwangsgewalt. Wegen der latenten Gefahr eines Rückfalls seiner Bürger in die Atavismen

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ihrer Wolfsnatur ist er auch keine Solidargemeinschaft, sondern eine zweckrationale Freiheitsbeschränkungsanstalt auf Gegenseitigkeit. »I JUST WANT TO LIVE WHILE I’M ALIVE« 1 Die Radikalität, mit der der Schutz des Lebens bei Hobbes als Zweck des Staates in Erscheinung tritt, vermag indes auch heute noch zu beeindrucken – zumal unter den Bedingungen einer für viele Menschen lebensbedrohlichen oder als lebensbedrohlich empfundenen Pandemie. Muss es nicht gerade jetzt das vornehmste Ziel des Staates sein, das Leben seiner Bürger zu schützen, what­ ever it takes?2 Ist es nicht recht und billig, dafür (zumindest temporär) Freiheitsbeschränkungen durchzusetzen, und realisiert der Staat damit nicht das ursprünglichste Ziel aller Bürger und ihrer Vergemeinschaftung? Anders gefragt: Setzt der Staat mit vorrangigem Lebens- und Gesundheitsschutz nicht den kollektiv-existenziellen und in der Verfassung (intergenerational) perpetuierten Willen aller Bürger durch und darf er nicht gerade deswegen auch (asymme­ trische) Solidarleistungen aller Bürger (Freiheitsverzicht und -einschränkung) erzwingen? Aber was ist hierbei im modernen Verfassungsstaat das richtige Maß? Welche Freiheitsbeschränkungen sind unter welchen Umständen und nach welchen Kriterien noch verhältnismäßig und welche nicht – zumal dann, wenn die Verfassung kein Notstands- oder Ausnahmerecht beinhaltet? Wie weit reicht die Schutzpflicht des Staates für Leben und Gesundheit seiner Bürger? Oder darf der demokratische Rechtsstaat auch Politiken verfolgen, »mit denen er vermeidbare Infektions- und Todeszahlen in Kauf nimmt«, beziehungsweise hat der demokratische Verfassungsstaat bei der Pandemiebekämpfung überhaupt das Recht, »Politiken zu wählen, mit denen er die vermeidbare Steigerung 1 

Bon Jovi, »It’s my life« aus dem Album »Crush« (2000).

2  Vgl. Thorsten Kingreen, Whatever it Takes? Der demokratische Rechtsstaat in Zeiten von Corona, in: Verfassungsblog, 20.03.2020, tiny.one/indes223a1. 3  Jürgen Habermas, Corona und der Schutz des Lebens. Zur Grundrechtsdebatte in der pandemischen Ausnahmesituation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 9/2021, S. 65–78, hier S. 65 und S. 69. 4  Mike & The Mechanics, »Word of Mouth« aus dem Album »Word of Mouth« (1991).

von Infektionszahlen und damit der wahrscheinlichen Anzahl von Sterbefällen stillschweigend in Kauf nimmt«?3 Das sind Fragen, deren allgemeinverbind­liche Beantwortung durch politische Maßnahmen in einem hochkomplexen und dynamischen Pandemiegeschehen den liberalen Verfassungsstaat und seine Demokratie vor kaum »richtig« zu lösende Probleme stellt. Dies wiegt umso schwerer, als dabei Verfassungsgüter und -werte von grundlegender Bedeutung für das Gemeinwesen in den Waagschalen liegen und ihre Gewichtung ohne gesichertes Wissen und verlässliche Prognostik heikel ist. »YOU DON’T BELIEVE THE INFORMATION, YOU DON’T BELIEVE IT WHEN IT’S DENIED«4 In der Frühphase der Pandemie führte der allseits verkündete Primat der Wissenschaft in Gestalt von Virologie und Epidemiologie zu einer »Politik der Alternativlosigkeit«, in der Roland Lhotta  —  Pandemischer Konstitutionalismus

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»kein grundsätzlicher Dissens in Bezug auf das übergeordnete Handlungsziel der Politik entstand, nämlich eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern und auf diese Weise ethisch heikle Fragen der Priorisierung medizinischer Hilfsmaßnahmen zu vermeiden.«5 Das änderte sich mit Fortdauer der Pandemie und der zunehmenden Einbeziehung auch anderer als nur medizinischer Expertise. Dadurch nahm das Wissen immens zu, wurde aber auch immer unübersichtlicher, komplexer, widersprüchlicher und somit als Entscheidungsgrundlage funktional prekär. Daraus resultierten Versuche der Komplexitätsreduktion, die aber meist in der Fokussierung auf bestimmte Maßnahmen mündete – auch dann, wenn Evidenz diese nicht mehr zu stützen vermochte. Die Politik zeigte zunehmend »schmerzhafte Einfallslosigkeit«6 gepaart mit kaum erträglichen Einlassungen, die Lernunwilligkeit oder -fähigkeit mit Überraschungsfloskeln sowie Entschlossenheitsprätentionen kaschierte7 und in immer grotesker werdenden Runden der Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin ihren ­regelmäßigen Höhepunkt fand. Klare und konsentierte Zielvorgaben verwandelten sich zusehends in Glaubensfragen,8 wodurch verschärfte Wertkonflikte aufbrachen. In einem politischen System, in dem politische Konflikte sehr oft in einem verfassungsrechtlichen »Framing« ausgefochten werden, ist es dann verlockend, in der Verfassung sowie insbesondere in den Grundrechten nach

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COVID-19 ff. — Analyse

5  Alexander Bogner, Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet, Stuttgart 2021, S. 21. 6  Alexander Blankenagel, Did Constitution Matter? Von der Entkopplung von Gefahr und Gefahrenabwehr, der Erosion von Grundrechten und Verhältnismäßigkeit und der Hinnahme staatlicher Inkonsistenz in Corona-Zeiten, in: Juristen­Zeitung, H. 14/2021, S. 702–710, hier S. 709. 7  Vgl. Samira El Ouassil, Berechnende dynamische Ignoranz, in: Der Spiegel, 18.11.2021, tiny.one/indes223a2. 8  Vgl. Simon Hegelich, ­ videnzbasiertes Regieren: E Von klaren Zielvorgaben in der Corona-Politik zur Glaubensfrage, in: Martin Florack u. a. (Hg.), Coronakratie. Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten, Frankfurt a. M. & New York 2021, S. 295–310.

einer Werteordnung zu suchen, die eine Wegweisung geben könnte. Darüber sollte aber Folgendes nicht vergessen werden: »Die Entscheidung über den einzuschlagenden Weg in der Pandemie obliegt den politischen Institutionen, sie kann nicht unmittelbar aus den Grundrechten deduziert werden.«9 Ansonsten würde sich die Verfassung in ein zu erfüllendes Pflichtprogramm verwandeln und zu einem (normativen) »Projekt« der Werterealisierung werden, in dem bestimmte Werte gegenüber anderen eine Priorität genießen, die sich aus einer (willkürlich bestimmten) Hyper-Normativität ableitet. Dies befördert die Etablierung eines Typus von Konstitutionalismus,10 der die Grundrechte funktional in Dienst nimmt oder einschränkt, um ein vorgebliches Verfassungsziel realisieren – und dabei die klassisch freiheitssichernde Funktion der Verfassung zurückdrängt.11 9  Anna Katharina Mangold, Relationale Freiheit. Grundrechte in der Pandemie, in: Staat und Gesellschaft in der Pandemie. Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 80, Berlin & Boston 2021, S. 7–36, hier S. 9.

»WHEN YOU’RE ENDANGERED EVERYTHING COMES UNTIED«12 In seinem Beitrag Corona und der Schutz des Lebens hat Jürgen Habermas einen so beachtlichen wie problematischen Versuch der Wegweisung für die aus seiner Sicht qua Verfassung gebotene Zielausrichtung staatlicher Pandemiepolitik gemacht. Letzthin geht es ihm darum, eine Art pandemisches

10  Vgl. Martin Loughlin, Against Constitutionalism, ­Cambridge u. a. 2022. Das Problem ist allerdings nicht neu, wenn man einen Blick auf die Debatten zu den Grundrechtstheorien wirft – hierzu unübertroffen Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zu Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, S. 221–352. 11  Vgl. Hans Michael Heinig u. a., Why Constitution Matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, in: Juristen­Zeitung, H. 18/2020, S. 861–872. 12  IQ, »For another Lifetime« aus dem Album »Resistance« (2019). 13 

Untermaßverbot zu konstruieren, bei dem der Staat (als primär handlungsfähiger Akteur) qua Verfassung gehalten sei, jeden vermeidbaren (!) Verlust menschlichen Lebens zu verhindern, wofür er asymmetrische (lies: ungleiche) Freiheitsbeschränkungen durchsetzen dürfe und müsse.13 Die aporetische Erzwingung von Solidarmaßnahmen durch den Staat – vor allem in Form von Freiheitsbeschränkungen – wird als auf einer Reziprozitätserwartung basierender Akt kollektiver Selbstbestimmung interpretiert. Dieser beruhe auf der »fortwirkenden Verbindung«, die ein (fiktiver) konstitutioneller Gründungsakt als »Akt der ursprünglichen demokratischen Vergemeinschaftung« für jede neue Generation erzeuge. Jede dieser Generationen – also auch die heutige – gebe, indem sie das Recht zur Auswanderung ausschlage, »implizit ihre Zustimmung zur Verfassung« und verpflichte sich damit auch, »unter jeweils veränderten historischen Bedingungen den normativen Gehalt der geltenden Verfassungsprinzipien angemessen auszuschöpfen.«14 Das Ergebnis dieses Erschließungsprozesses führt in der Lesart von Habermas allerdings zu einer Überbetonung von »aspirational values«15 in der Verfassung, konkret: dem Schutz von Leben und Gesundheit, der als kollektives Projekt à tout prix in

Habermas, Corona und der Schutz des Lebens.

die Verfassung hineingelesen wird, um ihn sodann (zumal in einer kollektiven Notlage und Gefahrensituation) als ursprüngliche politisch-existenzielle

14  15 

Ebd., S. 76.

Loughlin, S. 176.

Grundentscheidung wieder aus der Verfassung herauszulesen und politisch (!) gegen das Recht, vor allem in Gestalt von Freiheitsrechten, durchzusetzen. Roland Lhotta  —  Pandemischer Konstitutionalismus

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Habermas’ Ausgangspunkt hierfür ist die aus seiner Sicht unklare Zielbestimmung der Pandemiemaßnahmen. Die »richtige« Zielbestimmung ist mitnichten nur ein rechtsphilosophisches Problem, denn politisch definierte Ziele werden mittelbar und unmittelbar in rechtlich normierte und letztlich mit Zwang bewehrte Maßnahmen übersetzt, die verfassungskonform sein müssen. Um den aus seiner Sicht verfassungsimmanenten Zielkorridor für die Pandemiemaßnahmen näher zu bestimmen, nimmt Habermas eine »ethische Imprägnierung«16 des ursprünglichen Telos eines Verfassungsstaates vor. Dies geschieht über eine besondere Akzentuierung der Menschenwürde und ihrer Ausstrahlungswirkung auf Rechte und Pflichten sowohl des Staates als auch seiner Bürger. Besonders deutlich wird dies bei der von Habermas gesetzten »Schwelle« der Vermeidbarkeit. Diese würde prima facie nur Sinn machen, wenn belastbares Wissen und Evidenz darüber vorliegen, welche Maßnahmen in welchem Umfang und in welcher Kombination tatsächlich zu einer (quantifizierbaren?) Vermeidung von Infektionen, Todesfällen und Überlastung des Gesundheitssystems führen. Genau dazu gibt es allerdings immer noch kaum gesichertes Wissen,17 und es gilt nach wie vor: »Der weitere Verlauf der Pandemie kann nicht verlässlich beurteilt werden.«18 Vermeidbarkeit ist bei Habermas jedoch anders konnotiert – als verfassungsimmanenter Imperativ des Lebens- und Gesundheitsschutzes, der zu einer Entkopplung von Politik und Recht führe und im Krisenfall auch führen müsse: »In der Pandemie ist es der Vorrang des staatlichen Gesundheitsschutzes, der zum Nachdenken über das Verhältnis von Politik und Recht nötigt. Während das Recht das Medium zur Gewährleistung subjektiver Freiheiten ist, ist die Politik das Mittel der kollektiven Zielverwirklichung, das in der Ausnahmesituation Vorrang beansprucht.«19 »FRANTIC ACTIONS OF INSANITY, IMPULSIVE LACED PROFANITY«20 Diese Argumentation hat weitreichende Folgen: Die verfassungsrechtlich stets im Einzelfall und damit auch immer wieder neu abzuwägende Angemessenheit und Erforderlichkeit von Freiheitsbeschränkungen, das heißt ihre Verhältnismäßigkeit und damit auch die hier gebotene Güterabwägung werden über den Catch all-Imperativ einer nicht näher definierten »Vermeidung« der vorrangigen Schutzpflicht des Staates untergeordnet, die als (übrigens bei Hobbes beginnende) »vernunftrechtliche Sublimierung des Sinns politischer Vergemeinschaftung« daherkommt und diesen Sinn vor allem über den »handfesten Schutz der physischen Unversehrtheit des Menschen

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COVID-19 ff. — Analyse

16  Jürgen Habermas, Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat, in: Ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1999, S. 237–276, hier S. 252 ff. 17  Vgl. Bundesgesundheitsministerium (Hg.), Evaluation der Rechtsgrundlagen und Maßnahmen der Pandemiepolitik. Bericht des Sachverständigenausschusses nach § 5 Abs. 9 IFSG, 30.06.2022, tiny.one/indes223a4. 18  Bundesverfassungsgericht, Beschluss des Ersten Senats vom 27. April 2022–1 BvR 2649/21 – Impfnachweis (COVID-19), tiny. one/indes223a5, Rz. 240; vgl. auch Sebastian Alexander Müller u. a., MODUS-Covid-Bericht vom 09.08.2022, tiny.one/indes223a6. 19  Habermas, Corona und der Schutz des Lebens, S. 76. 20  Dream Theater, »Constant Motion« aus dem Album »Systematic Chaos« (2007).

als Basis der Menschenwürde der Person« realisiert.21 Das Resultat ist eine Verabsolutierung der Werte Leben und Gesundheit22 von Verfassung wegen. Nun kann aber der Schutz von Leben und Gesundheit nach vorherrschender Auffassung der Verfassungsrechtslehre durchaus mit anderen Grund- und vor allem Freiheitsrechten in Konkurrenz oder Konflikt geraten. Dabei muss der Schutz von Leben und Gesundheit nicht immer zwingend Vorrang genießen, wenn es dadurch zu unverhältnismäßigen Eingriffen in andere Grundrechte kommt. Betroffen sind hier sowohl Freiheitsrechte mit Eingriffsvorbehalt als auch Freiheitsrechte, die nur verfassungsimmanenten Schranken unterliegen. Dies gilt auch, wenn – wie in der Pandemie mehrfach geschehen – flächen­ deckende und asymmetrische Freiheitsbeschränkungen wie in der »Bundesnotbremse« verhängt werden und dabei erst einmal nach der Devise »viel hilft viel« verfahren wird. Je ausgeprägter die Eingriffstiefe und deren Dauer, desto strenger muss dann nämlich die Verhältnismäßigkeitsprüfung ausfallen, denn: »Die Streubreite der Maßnahmen reagiert auf Wissensprobleme: Ungefährliche Personen können nicht zielsicher von virusübertragenden Personen unterschieden werden, weil es nicht erkennbar Infizierte gibt. […] Der Übergang von infektionsschutzrechtlichen Gefahrenabwehrmaßnahmen zur Risikoprävention birgt die spezifische grundrechtliche Problematik, dass die Ausschaltung jeden Risikos auch das Ende jeder Freiheit wäre. Offensichtlich gäbe es die wenigsten Ansteckungen, wenn alle zu Hause blieben und gar keinen Kontakt mehr mit anderen Menschen hätten. Deswegen ist es unerlässlich, in der Verhältnismäßigkeitsprüfung jedenfalls eine letzte Grenze zu etablieren, damit nicht ein perfektionistischer Lebens- und Gesundheitsschutz alle Freiheit beendet.«23 Nicht spezifizierte »Vermeidung« von Infektionen, Erkrankungen und Todesfäl21  Habermas, Corona und der Schutz des Lebens, S. 78. 22  Vgl. Blankenagel, Did Constitution Matter?, S. 706. 23  Mangold, ­Relationale Freiheit, S. 18 f. 24  The Flower Kings, »Northern Lights« aus dem Album »Islands« (2020). 25  Helmut Willke, Dystopia. Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2002, S. 202.

len verschiebt diese letzte Grenze unter den Bedingungen von Unwissen aber in einen Bereich, in dem Freiheitsgarantien des Rechts enden, weil sie politisch im Gewand einer prätendierten Selbstbestimmung des Souveräns und der Ausführung seiner konstitutionellen Grundentscheidung überspielt werden. Dabei sind Unwissen und Kontingenz argumentativ erstaunlich ergiebige Ressourcen. »YOU DON’T HAVE A PLAN FOR WHAT COMES NEXT«24 Eigentlich sollte man annehmen, dass gerade aus der Kontingenz des Wissens in der Pandemie eine »Wissenspflicht der Politik«25 resultiert und damit eine Verantwortung für den Gesetz- und Verordnungsgeber, alles zu tun, um Voraussetzungen dafür zu schaffen, stets auf der Basis der bestmöglichen Informationen und Daten entscheiden zu können. Dann nämlich käme Roland Lhotta  —  Pandemischer Konstitutionalismus

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der zeitlichen Begrenzung von Maßnahmen auch eine bedeutsame Funktion bei der Einhegung der Freiheitsbeschränkungen zu – weil ein »dynamischer Grundrechtsschutz«26 durch fortlaufende Konkretisierung auf Basis aktueller Erkenntnisse in einer komplex-dynamischen Pandemie gewährleistet und ein über die Zeit mögliches »Hineinwachsen in die Verfassungswidrigkeit«27 bestimmter Maßnahmen verhindert würden. Hier lohnt der nochmalige Blick in den Bericht der Expertenkommission zur Evaluation der Pandemiemaßnahmen, weil er zumindest eine Erkenntnis immer wieder sehr klar hervorhebt: Dass es von Anfang an bis heute einen flagranten Mangel an systematisch und synchronisiert erhobenen Daten aller Art gebe, was eine konsistente und wissensbasierte Pandemiepolitik massiv erschwere.28 »Vermeidung« unter den Vorzeichen von strukturell und systemisch bedingtem Unwissen konnte somit aber nie eine wirklich evidenz­basierte Handlungsmaxime sein, sondern nur ein dilatorisch-ethischer Imperativ, der in die Verfassung hinein- und wieder herausgelesen und von Politikern nach Leibeskräften instrumentalisiert wurde. Natürlich ist es so, dass »die wissenschaftlichen Grundlagen der Pandemiebekämpfung ein von großer Unsicherheit und Dynamik gekennzeichnetes Feld darstellen, in dem die Risikoprognosen in der Rechtsetzung und Rechtsanwendung unumgänglich sind. Aus diesem Grund gestehen die Gerichte im Hinblick auf die wissenschaftliche Einschätzung vor allem der Geeignetheit und Erforderlichkeit von Corona-Maßnahmen der Legislative und der Exekutive einen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu.«29 Unter den Auspizien der unspezifizierten »Vermeidung« gepaart mit Unwissen kann genau dies aber bedenkliche Folgen haben. Dies wurde in den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten Bundesnotbremse sowie zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht augenfällig.30 Wie in einem Mantra wird auf den kontingent-dynamischen Verlauf der Pandemie und die Komplexität und Interdependenz des Pandemiegeschehens und der dafür relevanten Faktoren verwiesen, um daraus rekurrent einen sehr weiten Ermessensspielraum von Legislative und Exekutive abzuleiten. Grotesk ist dann allerdings die mehrfach vorgetragene und logisch inkonsistente Argumentation, es fehle einerseits an Wissen, während andererseits alle Maßnahmen, die dann ja wohl ohne valides Wissen verhängt wurden, Teil eines »Gesamtkonzepts« seien, das man durch Aufhebung einzelner Maßnahmen in seiner Wirkung schädigen würde. Unwissen wird damit zur argumentativen Ressource für undifferenzierte Grundrechtseingriffe. Im Zusammenspiel mit der Betonung des überragenden Gemeinwohlrangs von Lebens- und

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COVID-19 ff. — Analyse

26  Bundesverfassungsgericht, Impfnachweis (COVID-19), Rz. 140. 27  Ebd., Rz. 236. 28  Vgl. Bundesgesundheitsministerium, Bericht des Sachverständigenausschusses, Kap. 3 und 4 sowie den Kommentar von Thomas Holl, Politik ohne Daten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.07.2022, tiny.one/ indes223a7. 29  Jens Kersten & Stephan Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2. Aufl., München 2021, S. 72. 30  Bundesverfassungsgericht, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 – 1 BvR 781/21 u. a. – Bundesnotbremse I (Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen), ­ tiny.one/indes223a8; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021–1 BvR 971/21 u. a. – Bundesnotbremse II (Schulschließungen), tiny. one/indes223a9, sowie BVerfG, Impfnachweis (COVID-19).

31  Vgl. nur BVerfG, Impfnachweis (COVID-19), Rz. 155. 32  Habermas, Corona und der Schutz des Lebens, S. 65 f. 33  Kyrill-A. Schwarz, In dubio pro imperio? Zum Beschluss des BVerfG vom 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 u. a. – Bundesnotbremse 1, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht-Beilage 2022, S. 3–6 sowie Christoph Degenhart, Entscheidung unter Unsicherheit – die Pandemiebeschlüsse des BVerfG, in: Neue Juristische Wochenschrift, H. 3/2022, S. 123–127. 34  Oliver Lepsius, Einstweiliger Grundrechtsschutz nach Maßgabe des Gesetzes. Eine Analyse des Beschlusses des BVerfG vom 5.5.2021 zum Ausgangsverbot der »Bundesnotbremse«, in: Der Staat, H. 4/2021, S. 609–651. 35  Depeche Mode, »Get the Balance right« (nur als Single 1983 und später auf dem Album »The Singles 81–85« 1985). 36  Vgl. Bundesverfassungsgericht, Bundesnotbremse II, Rz. 177 ff. 37  Vgl. ebd., Rz. 186 und 191.

Gesundheitsschutz resultiert daraus stets die Verfassungsmäßigkeit der temporär (sic!) verhängten Maßnahmen und der daraus folgenden Freiheitsbeschränkungen.31 Das Gericht macht sich damit den von Habermas insinuierten »prima facie bestehenden Vorrang des staatlichen Gesundheitsschutzes in der Pandemie« zu eigen und erfüllt seine Hoffnung auf »Grundsatzurteile des Bundesverfassungsgerichts mit einer entsprechenden prinzipiellen Rechtfertigung dieses Tenors«.32 Das Resultat ist eine Einladung zur Fortführung eines undifferenzierten Staatspaternalismus im Gewand einer Politik, die ein existenzielles Supergrundrecht gegen das Recht in Gestalt von subjektiven Freiheits- und Abwehrrechten durchsetzt.33 Verhältnismäßigkeitsprüfung und Individualrechtsschutz geraten dabei in eine Schieflage und der Eilrechtsschutz wird zur nahezu wirkungslosen Farce.34 »GET THE BALANCE RIGHT«35 Um dies klarzustellen: Niemand kann etwas dagegen haben, Leben und Gesundheit der Bürger so gut wie möglich zu schützen. Aber die gute Absicht kann sich in einem demokratischen Rechtsstaat nicht der latenten »Wissenspflicht« auf eine so kümmerliche Weise entziehen, wie dies hierzulande teilweise praktiziert wurde und wird. Die Logik, dass sich der Ermessensspielraum des Gesetz- und Verordnungsgebers bei der Realisierung der kon­ stitutionellen Grundentscheidung »Lebensschutz« scheinbar proportional zum Grad seiner Unwissenheit erweitert, macht fortgesetztes Unwissen zum Passepartout für im Einzelfall unverhältnismäßige oder gar sinnfreie Grundrechtseinschränkungen. Das pandemische Untermaßgebot, an dem Habermas gelegen ist, gewinnt meiner Ansicht sowohl rechtsstaatlich als auch demokratisch nichts, wenn man es als ursprünglich existenzielle Grundentscheidung politisch gegen subjektive Freiheitsrechte in Stellung bringt. Dies führt zu rational und mit den Mitteln des Rechts nicht lösbaren Wertekonflikten – und deshalb zur (temporären) Substitution des Rechts durch die Politik. Sehr wohl ließe sich ein rechtsstaatlich angemessenes Untermaßverbot aber aus der Verpflichtung des Gesetzgebers ableiten, seine Prognosen und Entscheidungen stets auf dem aktuell möglichen wissenschaftlichen Stand zu treffen und dabei auch mildere Regelungsmöglichkeiten, Schwere und Betroffenheit sowie soziale Folgen zu berücksichtigen.36 Dazu gehört dann auch die Ver-

Prof. Dr. Roland ­Lhotta, geb. 1962, Fakultät WiSo, ­Helmut-Schmidt-Universität/ UniBW Hamburg, mit einem ­Faible für mediterranes Essen, gute Weine, Musik, Gitarren, ­Literatur sowie Politik & Recht.

pflichtung des Staates, vorsorglich mit entsprechender Infrastruktur (Digitalisierung) und Forschung für eine künftig niedrigere Eingriffsintensität zu sorgen.37 Dies würde die freiheitssichernde Funktion der Verfassung sowie rechtsstaatliche Rationalität wieder stärken und einen »pandemischen Kon­ stitutionalismus« in die Schranken weisen. Roland Lhotta  —  Pandemischer Konstitutionalismus

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CORONA ALS SOZIALER UND POLITISCHER SPALTPILZ POLARISIERUNG IN ZEITEN DER COVID-19-PANDEMIE Ξ  Christoph Butterwegge

Als das neue Coronavirus SARS-CoV-2 die Bundesrepublik, ihr Gesundheitswesen und ihren Sozialstaat traf, wurde die sozioökonomische Ungleichheit nicht bloß deutlicher sichtbar, die Interessengegensätze zwischen einzelnen Bevölkerungsschichten haben im Verlauf der Pandemie vielmehr auch schärfere Konturen bekommen. Schon vor der COVID-19-Pandemie war die sozioökonomische Spaltung in Deutschland weit stärker ausgeprägt, als es das überkommene Selbstverständnis einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (Helmut Schelsky) oder das regierungsoffiziöse Leitmotiv der »Sozialen Marktwirtschaft« hätten vermuten lassen.1 Seit 2020 haben sich die Lebens-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Menschen jedoch noch weiter auseinanderentwickelt, wozu neben der Pandemie auch die durch den Ukrainekrieg noch verstärkte Inflation und die Energiepreisexplosion maßgeblich beitragen. Polarisierend hat die COVID -19-Pandemie auf mehreren Ebenen gewirkt: • Auf der gesundheitlichen Ebene unterschieden sich die Infektionsrisiken einzelner Bevölkerungsschichten erheblich voneinander, wodurch sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertiefte, weil die Finanzschwächsten auch zu den Immunschwächsten gehörten, während sich die Finanzstärksten am besten zu schützen vermochten. • Auf der ökonomischen Ebene sorgten die Unterbrechungen der Lieferketten einerseits und die staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen andererseits für eine Krise mit einzelnen Gewinnern und zahlreichen Verlierer:innen. • Auf der sozialen Ebene wiesen die Finanzhilfen, »Rettungsschirme« und Förderprogramme des Staates zur Sicherung von Arbeitsplätzen beziehungsweise Unternehmen eine Schieflage auf, die eher privilegierten Bevölkerungsgruppen nützte. • Auf der sozialräumlichen Ebene hat sich die residenzielle Segregation in Form einer zunehmenden Spaltung der Städte verstärkt, weil Abschottung als Mittel der Wahl galt, um sich vor einer Infektion zu schützen, und die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten, eher Besserverdienenden offenstand.

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1  Vgl. hierzu Christoph Butterwegge, Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, Weinheim & Basel 2020.

• Auf der politischen Ebene fand weniger eine Links-rechts-Konfrontation statt, wie man sie hätte erwarten können; vielmehr tat sich ein ausgesprochen schroffer Oben-unten-Gegensatz zwischen Regierenden und Teilen der Bevölkerung auf. VERSCHÄRFUNG DER GESUNDHEITLICHEN UNGLEICHHEIT: ARME SIND IMMUNSCHWÄCHER ALS REICHE Weil sich Gesundheitszustand, Arbeits- und Lebensbedingungen sowie Einkommens-, Vermögens- und Wohnverhältnisse der Menschen zum Teil erheblich voneinander unterscheiden, waren auch die Infektionsrisiken sehr ungleich auf die einzelnen Berufsgruppen, Klassen und Schichten der Bevölkerung verteilt. Treffend konstatiert die Hamburger Sozialwissenschaftlerin Cornelia Springer, dass SARS-CoV-2 zwar nicht zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe oder sozialer Herkunft differenziert, wohl aber die systemimmanenten Ungleichwertigkeiten und die Ungleichverteilung von Privilegien durch bestimmte Hygiene- und Schutzmaßnahmen zusätzlich verstärkt werden.2 Ungerecht war folglich nicht das Virus, sondern die Klassengesellschaft, auf deren Mitglieder es traf.3 Nur wegen der bestehenden Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen unterstützt SARSCoV-2 den Trend zur sozioökonomischen Polarisierung. Die schwere wirtschaftliche Verwerfungen erzeugende Pandemie ließ das Kardinalproblem der Bundesrepublik, die wachsende Ungleichheit, nicht bloß deutlicher ins öffentliche Bewusstsein treten, sondern wirkte auch als Katalysator des sozialen Polarisierungsprozesses. Die verschiedenen Klassen und Schichten bewegten sich in entgegengesetzte Richtungen, was dem gesellschaftlichen Zusammenhalt schadete. 2  Vgl. Cornelia Springer, ­Zivilgesellschaft in der Verantwortung. Drei Spannungsfelder von Solidarität in der Krise, in: Michael Volkmer & Karin Werner (Hg.), Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft, Bielefeld 2020, S. 167–175, hier S. 168. 3  Vgl. hierzu Christoph Butterwegge, Ungleichheit in der Klassengesellschaft, Köln 2021. 4  Malte Thießen, Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie, Frankfurt a. M. & New York 2021, S. 116.

Selbstständige, Freiberufler:innen, Beamte und Angestellte höherer Gehaltsstufen, die als Fach- oder Führungskräfte häufig einer Bürotätigkeit am Schreibtisch nachgingen, konnten verhältnismäßig leicht ins Homeoffice wechseln und hatten gegenüber in der Produktion beschäftigten Arbeiter:innen den Vorteil eines geringen Infektionsrisikos. Der Medizinhistoriker Malte Thießen geht sogar noch einen Schritt weiter und bringt das Homeoffice der einen Berufsgruppe mit einem erhöhten Infektionsrisiko der anderen in Verbindung: »Denn das Arbeiten von zu Hause aus setzt ja eine entsprechende Logistik – von Brief- und Paketbot:innen bis zum Lieferservice – voraus, die wiederum vor allem Menschen in niedrigbezahlten Dienstleistungsberufen zu mehr Kontakten zwingt.«4 Christoph Butterwegge  —  Corona als sozialer und politischer Spaltpilz

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Vor einem Virus sind nur auf den ersten Blick alle Menschen gleich. Zwar traf die Pandemie alle Bewohner:innen der Bundesrepublik, aber keineswegs alle gleichermaßen. Je nach Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnissen und Gesundheitszustand waren sie vielmehr ganz unterschiedlich betroffen. Das Infektionsrisiko von Arbeitslosen, sozial Abgehängten und Armen war deutlich höher als das von Reichen. »Corona war eine Art Transformationsriemen, der soziale Ungleichheit in ungleiche Infektionsrisiken übersetzte und soziale Ungleichheit so noch verstärkte.«5 Sozial bedingte Vorerkrankungen wie Adipositas (Fettleibigkeit), Angina pectoris (Brustenge), Asthma bronchiale oder Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), katastrophale Arbeitsbedingungen sowie beengte und h ­ ygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse erhöhen das Risiko für eine Infektion mit dem Virus bzw. für einen schweren COVID-19-Verlauf. Hauptleidtragende, weil überwiegend einkommens- und immunschwach, waren Wohnungs- und Obdachlose, Migrant:innen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige, Suchtkranke, Sexarbeiter:innen, Erwerbslose, Geringverdienende, Bezieher:innen von Kleinstrenten und Transferleistungen (Hartz IV, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie Asylbewerberleistungen) sowie die Bewohner:innen von Gemeinschaftsunterkünften, etwa Strafgefangene, Geflüchtete, (süd-)osteuropäische Werkvertragsarbeiter:innen der Subunternehmen deutscher Großschlachtereien beziehungsweise Fleischfabriken und Saisonarbeiter:innen. PANDEMIE, ÖKONOMIE UND REZESSION: ARME ALS KRISEN­ VERLIERER:INNEN – REICHE ALS KRISENGEWINNLER Während reiche und hyperreiche Haushalte aufgrund hoher Wertzuwächse von Aktien, Luxusimmobilien, Edelmetallen (vor allem Gold) und teuren Kunstwerken ihr Vermögen vor der COVID-19-Pandemie enorm gesteigert hatten, gehörten Ärmere einmal mehr zu den Verlierer:innen der ökonomischen Entwicklung. Die durch das Coronavirus ausgelöste Unterbrechung von Lieferketten und die Zerstörung von Vertriebsstrukturen, der Verlust von Absatzmärkten sowie die behördlich verordnete Schließung von Geschäften, Gaststätten, Hotels, Diskotheken, Clubs, Kinos, Theatern und anderen Kultureinrichtungen nach dem Infektionsschutzgesetz hatten erhebliche finanzielle Einbußen für die dort Tätigen, aber auch zahlreiche Konkurse und Entlassungen zur Folge. Am härtesten traf es kontaktintensive Dienstleistungsbranchen, in denen viele Geringverdiener:innen arbeiten: Genannt seien Beschäftigte in Frisier- und Fußpflegesalons sowie Fitnessstudios. Wenngleich in der Öffentlichkeit oft so getan wurde, als hätte sich die Coronakrise nur unwesentlich auf dem Arbeitsmarkt niedergeschlagen, ist

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5  Ebd., S. 117.

zu konstatieren, dass es infolge zahlreicher Betriebsschließungen und Geschäftsaufgaben immerhin eine halbe Million mehr Arbeitslose als vor der Pandemie gab und etwa die gleiche Zahl an Minijobs weggefallen ist. Vor allem manifestierte sich der Konjunkturrückgang in einer Verfestigung der Arbeitslosigkeit. Während der Pandemie stieg die Zahl der Langzeitarbeitslosen erstmals seit dem Jahr 2016 wieder auf über eine Million, was sowohl mit massiven Einkommensverlusten als auch psychosozialen Problemen der Betroffenen und ihrer Angehörigen einherging. Die Hamburger Soziologin Katharina Manderscheid unterschied in einem Beitrag zur Mobilität von Viren, Gütern und Menschen drei Bruchlinien, nämlich zwischen drei Beschäftigtengruppen: erstens den relativ privilegierten Personen, die ihre Tätigkeit durch eine Verlagerung zur virtuellen Mobilität fortsetzen konnten, zweitens denjenigen Menschen, deren »systemrelevante« 6  Vgl. Katharina Manderscheid, Über die unerwünschte Mobilität von Viren und unterbrochene Mobilitäten von Gütern und Menschen, in: Volkmer & Werner, S. 101–110, hier S. 106 ff.

Tätigkeit ihre physische Mobilität erforderte, und drittens den stärker benachteiligten Personen, deren Tätigkeit (vorübergehend) verzichtbar war – Kurzarbeiter:innen und Arbeitslosen.6 Demnach wären die coronabedingten Ungleichheitseffekte in der Erwerbsarbeit als Gleichzeitigkeit einer Verlagerung Christoph Butterwegge  —  Corona als sozialer und politischer Spaltpilz

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von Arbeitsaktivitäten in den virtuellen Raum bei physischer Immobilität – der Tätigkeit im Homeoffice –, einer erzwungenen physischen Mobilität zur Aufrechterhaltung der materiellen und immateriellen Versorgungsströme sowie einer erzwungenen Stillstellung von Aktivitäten und Mobilitäten zu begreifen. In den ersten beiden Pandemiejahren verzeichneten die Arbeitnehmer:innen einen Reallohnverlust, der sich 2020 auf 1,1 Prozent und 2021 auf 0,1 Prozent belief. Kurzarbeit für knapp sechs Millionen Beschäftigte blieb auf dem Gipfelpunkt des ersten Lockdowns im April 2020 ebenso wenig aus wie die Geschäftsaufgabe und Pleite meist kleinerer oder mittelständischer Firmen mit zahlreichen Arbeitsplatzverlusten. Viele kleine Einzelhändler:innen verloren 2020/21 wegen der Schließung ihrer Läden und ausbleibender Kundschaft ihre Existenzgrundlage. Ganz entscheidend war der Wirtschaftszweig, in dem ein Unternehmer tätig oder ein Finanzinvestor engagiert war: Es machte einen großen Unterschied, ob man beispielsweise einen Baumarkt oder einen Messebaubetrieb, einen Friseursalon oder einen Fahrradladen, ein Kino oder ein Autokino besaß. Während Gastronomie, Touristik und Luftfahrtindustrie starke Einbußen verzeichneten, erzielten Großkonzerne krisenresistenter Branchen in der Coronakrise sogar Extraprofite, wobei Lebensmitteldiscounter, Drogeriemärkte, Versandhandel, Lieferdienste, Digitalwirtschaft und Pharmaindustrie hervorstachen. Die sozioökonomische Polarisierungsdynamik der Pandemie machte vor den Vermögenden nicht halt. Zu den Hauptprofiteuren des pandemie­ bedingten Krisendesasters gehörten einige der rentabelsten Unternehmen mit den reichsten Eigentümern. Unter dem Druck der Coronakrise kauften mehr F ­ amilien bei Lebensmitteldiscountern ein, um Haushaltsgeld zu sparen, wodurch die ohnehin zu den vermögendsten Deutschen gehörenden Besitzer von Ladenketten wie Aldi Nord und Aldi Süd noch reicher geworden sind. Dieter Schwarz, Eigentümer von Lidl und Kaufland, hat sein Privatvermögen, das die Welt am Sonntag vom 20.09.2020 auf 41,8 Milliarden Euro taxierte, in der Coronakrise laut dem US-amerikanischen Wirtschaftsmagazin Forbes um 7,5 Milliarden US-Dollar gesteigert. »LEISTUNG« STATT BEDARF ALS VERGABEKRITERIUM DER ­S TAATLICHEN FINANZHILFEN UND FÖRDERPROGRAMME Bund, Länder und Gemeinden haben in der Coronakrise nach kurzem Zögern fast über Nacht riesige Summen für direkte Finanzhilfen, Ausfallbürgschaften und Kredite mobilisiert. Letztere kamen in erster Linie großen Unternehmen zugute, während Kleinunternehmer:innen überwiegend mit einmaligen

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Zuschüssen unterstützt wurden, die ihre laufenden Betriebskosten decken sollten, aber nicht zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts verwendet werden durften. Soloselbstständige und Kleinunternehmer:innen, die Sofort-, Überbrückungs-, Notfall- oder Neustarthilfe beantragten, hatten große bürokratische Hürden zu überwinden. Teilweise war zur Antragstellung ein Steuerberater oder eine Steuerberaterin erforderlich, was Geld kostete – ohne dass feststand, ob die Mittel tatsächlich bewilligt werden würden. Generell basierten die Staatshilfen auf dem Grundsatz, dass die Ansprüche des privaten Kapitals nicht angetastet werden dürfen: »Es gab fast keine Bemühungen, eine faire Verteilung der Pandemie-Lasten zwischen denen mit Ansprüchen auf Kapitaleinkommen und der produzierenden Wirtschaft sowie der Bevölkerung herbeizuführen.«7 Während auch kapitalkräftige Unternehmen von der Bereitschaft des Staates zu einer hohen Neuverschuldung profitierten, mussten sich Finanzschwache im Vergleich mit den großzügigen Fördermaßnahmen für die Wirtschaft arg bescheiden. Die neoliberale Ideologie, nach der Unternehmer in einer Marktwirtschaft per se als »Leistungsträger« gelten, spiegelte sich auch in der staatlichen Subventionspraxis wider. Thomas Sablowski hob den Klassencharakter der staatlichen Finanzhilfen hervor, weil die meisten von ihnen das Ziel einer Stabilisierung der Liquidität bzw. einer Wiederherstellung der Profitabilität von Unternehmen verfolgt und fast ausnahmslos das (Groß-)Kapital begünstigt hätten: »Die Ausweitung der Kurzarbeit entlastet die Unternehmen von den Lohnzahlungen; die umfangreichen Kredite der KfW und die staatlichen Bürgschaften mildern die krisenbedingte Kreditklemme und senken die Refinanzierungskosten; die zahlreichen Steuererleichterungen verschaffen den Unternehmen größere finanzielle Spielräume; die staatlichen Investitionen sowie die Ausweitung der staatlichen Forschungsförderung entlasten die Unternehmen davon, selbst die 7  Norbert Häring, Endspiel des Kapitalismus. Wie die Konzerne die Macht übernahmen und wie wir sie zurückholen, Köln 2021, S. 24. 8  Thomas Sablowski, Klassenkämpfe in der Corona-Krise. Die Auseinandersetzung um die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung, in: Dieter F. Bertz (Hg.), Die Welt nach Corona. Von den Risiken des Kapitalismus, den Nebenwirkungen des Ausnahmezustands und der kommenden Gesellschaft, Berlin 2021, S. 241–270, hier S. 262.

notwendigen Kosten für Investitionen zu tragen, um im Weltmarkt auch längerfristig konkurrenzfähig zu bleiben.«8 Für die Zeit vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2020 wurde der Mehrwertsteuersatz von 19 auf 16 und der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von 7 auf 5 Prozent gesenkt, um durch eine Entlastung der privaten Haushalte und der Wirtschaft den Konsum in der Coronakrise anzuregen. Sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite zeigte sich eine verteilungspolitische Schieflage dieser Maßnahme: Je umsatzstärker und deshalb in aller Regel auch größer und kapitalkräftiger ein Unternehmen war, umso stärker profitierte es von der temporären Mehrwertsteuersenkung, besonders natürlich Christoph Butterwegge  —  Corona als sozialer und politischer Spaltpilz

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dann, wenn diese gar nicht an die Kundschaft weitergegeben wurde. Geringverdiener:innen und Transferleistungsbezieher:innen hatten relativ wenig von der Mehrwertsteuersenkung, weil sie im Unterschied zu finanziell bessergestellten Familien kaum teure Anschaffungen getätigt oder hochpreisige Konsumgüter erworben haben dürften. WOHNUNGLEICHHEIT ALS ERGEBNIS DER SICH VERTIEFENDEN KLUFT ZWISCHEN ARM UND REICH Wenn eine Gesellschaft immer mehr auseinanderdriftet, schlägt sich die wachsende Ungleichheit beziehungsweise die vertiefte Spaltung zwischen Arm und Reich auch im Stadtbild nieder. Abgehängte Viertel und Luxusquartiere finden sich mittlerweile in allen deutschen Großstädten, denn Wohnungsnot und »Mietenwahn« breiteten sich zuletzt aus. Nach den Immobilienpreisen stiegen keineswegs nur in bevorzugten Stadtlagen auch die Mieten für Normal- und Geringverdiener:innen. Längst müssen viele Haushalte einen Großteil ihres Einkommens für Mietzahlungen aufwenden, was ihnen nur einen geringen Spielraum für Anschaffungen und andere notwendige Ausgaben lässt. Mieter:innen wurden gewissermaßen enteignet, weil sie in dieser Phase extrem niedriger Hypothekenzinsen keine adäquaten Einkommenszuwächse verzeichneten. »Wenn Miet- und Bodenpreise (trotz billigen Geldes) steigen, wird das Einkommen lohnabhängiger Mieterinnen und Mieter in Kapital- und Bodenvermögen transferiert. Das heißt, dass sich die Enteignung der Mieter insofern verschärft, als eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet.«9 Erwarben früher kleine Privateigentümer:innen die meisten Wohnungen, um jahrzehntelang Mieteinnahmen zu haben, so wird heute ein Markt von Immobilienkonzernen und Finanzinvestoren dominiert. Caren Lay, mieten-, bauund wohnungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, macht das Finanzkapital für die aktuelle Mietenkrise verantwortlich, weil es – von den politischen Entscheidungsträger:innen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene dazu ermuntert – mit Wohnraum spekuliert: »Im Zuge einer neoliberalen Wende wurde das Wohnen zunehmend dem Markt überlassen. Der Staat hat die Investitionen in sozialen und bezahlbaren Wohnungsbau heruntergefahren und ein bewährtes Grundprinzip über Bord geworfen: dass nämlich ein wesentlicher Teil der Wohnungen gemeinnützig bewirtschaftet werden soll, also zum Wohle der Allgemeinheit.«10

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9  Ernst Hubeli, Die neue Krise der Städte. Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert, Zürich 2020, S. 100. 10  Caren Lay, Wohnopoly. Wie die Immobilienspekulation das Land spaltet und was wir dagegen tun können, Frankfurt a. M. 2022, S. 16.

Die von dem Kölner Ökonomen Werner Schönig infolge der COVID-19-Pandemie beobachtete Schließung der soziokulturellen Milieus war daher auch mit einer stärkeren residenziellen Segregation verbunden: »Ausgehend von der empirischen Beobachtung, dass bereits in den letzten Jahren die zunehmende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen zu einer verstärkten sozialen Segregation geführt hat, wird diese zunehmende Segregation durch die Corona-Krise tendenziell verstärkt, was dann zu einer weiteren Abschottung der Milieus führen wird.«11 Zwar wurden im Frühjahr 2020 für den kurzen Zeitraum vom 1. April bis zum 30. Juni 2020 Räumungsklagen und Zwangsräumungen ausgesetzt, sofern die Mietrückstände pandemiebedingt entstanden waren. Verlängert wurde das sogenannte Mietmoratorium im Unterschied zu den meisten anderen Ausnahmeregelungen, etwa Lockerungen des Insolvenzrechts, von CDU, CSU und SPD anschließend jedoch nicht. Die vor allem einkommens-

schwache Haushalte stark belastenden Mieterhöhungen, aber auch Stromund Gassperren bei Zahlungsrückständen, blieben ohnehin weiter erlaubt. »QUERDENKEN«, VERSCHWÖRUNGSMYTHEN UND DIE RADIKALISIERUNG DER BÜRGERLICHEN MITTE Unter den außerparlamentarischen Aktivitäten gegen das Pandemiemanagement der politisch Verantwortlichen sind vor allem die »Hygienedemos« in Berlin und die von dem Stuttgarter Betriebswirt und IT-Unternehmer Michael Ballweg gegründete »Querdenken«-Initiative zu nennen. Weil die Anhänger:innen von »Querdenken« ein Grundmisstrauen gegenüber den verantwort11  Werner Schönig, Der städtische Sozialraum als Krisenregion – Glokalisierung und lokale Demokratie am Beispiel der Corona-Pandemie, in: Werner Bruns & Volker Ronge (Hg.), Die Irritation der Gesellschaft durch den Lockdown, Weinheim & Basel 2022, S. 109–122, hier S. 112. 12  Johannes Pantenburg u. a., Wissensparallelwelten der »Querdenker«, in: Sven Reichardt (Hg.), Die Misstrauensgemeinschaft der »Querdenker«. Die CoronaProteste aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive, Frankfurt a. M. & New York 2021, S. 29–66, hier S. 29.

lichen Politiker:innen, etablierten Medien und Wissenschaftler:innen, aber keine einheitliche Ideologie oder Weltanschauung verband, sehen Kultur- und Sozialwissenschaftler:innen der Universität Konstanz darin eine »Misstrauensgemeinschaft« aus Impfskeptiker:innen, Kritiker:innen der »Schulmedizin«, Anhänger:innen von Naturheilverfahren und Mitgliedern esoterischer Zirkel. Johannes Pantenburg, Sven Reichardt und Benedikt Sepp attestieren diesem Kollektiv einen »dezidiert opponierenden Charakter«, der sich auf ein vornehmlich über »alternative« Internetmedien verbreitetes »heterogenes Gegenwissen« stütze: »Es ist stets gegen dominante Wissensbestände in Politik, Wissenschaft oder Gesellschaft gerichtet und wird somit politisch gegen entsprechende Institutionen, Persönlichkeiten und Maßnahmen mobilisiert.«12 Betrachtet man ihr ausgesprochen dubioses Führungspersonal, hatten »Querdenker:innen« nicht immer hehre Motive, wenn sie Stimmung gegen Christoph Butterwegge  —  Corona als sozialer und politischer Spaltpilz

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»die da oben« und sogar gegen deren parlamentarisch-demokratisch getroffene Mehrheitsentscheidungen machten. Sie griffen indes die verständlichen Besorgnisse vieler Menschen in Deutschland auf, wenn sie zu Protestaktionen aufriefen. Unter den Sympathisant:innen von »Querdenken« befanden sich nicht bloß verbohrte Ideolog:innen und Querulant:innen, sondern auch zahlreiche Menschen, die unter dem ökonomischen und sozialen Krisen­debakel litten. Leicht wurde verkannt, dass die von Bund und Ländern ergriffenen Infektionsschutzmaßnahmen zur Verschlechterung der sozialen Lage unterprivilegierter Personengruppen geführt haben.13 Für den Journalisten Matthias Meisner war die Beteiligung »normaler« Bürger:innen an den Protesten gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, zu denen auch rechtsextreme Gruppierungen mobilisierten, ein untrügliches Indiz dafür, dass sich die bürgerliche Mitte infolge der Corona­ krise radikalisiert hatte, und eine Bedrohung der Demokratie.14 Während sich die Omikron-Virusvariante gegen Ende 2021/Anfang 2022 ausbreitete, fanden montags in zahlreichen Orten der Bundesrepublik unter dem Decknamen eines »Spaziergangs« größtenteils unangemeldete Demonstrationen gegen die staatlichen Eindämmungsmaßnahmen statt. Wegen massiver Ausschreitungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei erregten sie große Medienaufmerksamkeit. Nicht bloß der Arm-reich-Gegensatz wurde im pandemischen Krisen­ modus hautnah erfahrbar, sondern auch der Oben-unten-Kontrast trat für alle Bürger:innen ohne wirtschaftliche Entscheidungsmacht und politischen Einfluss deutlicher zutage.15 In dieser Situation fühlten sich negativ Betroffene von antisemitischen Verschwörungsmythen entlastet, die ihnen vermittelten, dass nicht sie, sondern andere, nämlich die Machenschaften dunkler Kräfte aus Hochfinanz oder Judentum, schuld an ihrer Unfähigkeit seien, Einfluss auf die Geschehnisse zu nehmen. Verschwörungsgläubigen geht es eher um eine Selbstentlastung von Verantwortung als um die Reduktion der Komplexität von sozioökonomischen Zusammenhängen, wie man ihnen oft unterstellt, denn antisemitische Narrative vereinfachen diese gar nicht, sondern verdunkeln sie nur.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona veröffentlicht.

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13  Vgl. Katharina Müller, Vulnerabilität und Ungleichheit in der COVID-19-Pandemie. Perspektiven auf Alter, Geschlecht, sozialen Status und Ethnizität, Weinheim & Basel 2022, S. 76. 14  Vgl. Matthias Meisner, Corona-Proteste: Die Radikalisierung der bürgerlichen Mitte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 3/2022, S. 9–12, hier S. 9 15  Vgl. hierzu Christoph Butterwegge, Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona, Weinheim & Basel 2022, S. 130 ff.

ZWISCHEN MEDIENLOGIK UND POLITIKBERATUNG LINGUISTISCHE BEOBACHTUNGEN ZUR WISSENSCHAFTS- UND EXPERTENKOMMUNIKATION IN DER COVID-19-PANDEMIE Ξ  Lisa Rhein / Nina Janich

»Ich lasse mich beraten, das hab’ ich ja auch öffentlich, ich bin da sehr transparent auch, wie ich mich beraten lasse, und ich glaube, viele der Virologen […] haben Medienberater, aber […] damals in der Zeit von Heinsberg, ich war komplett überfordert, wie man mit den Medien in dieser Art umgeht.« 

(Hendrik Streeck bei Markus Lanz, 23.03.2021)

Mit Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland im Februar/März 2020 verstärkt sich schlagartig die Medienpräsenz von Wissenschaftler:innen, was in der Folge auch zu intensiven Diskussionen über Kriterien einer »guten« Wissenschaftskommunikation und Wissensvermittlung führt. Im Spannungsfeld zwischen den Domänen Wissenschaft, Medien und Politik sehen sich Wissenschaftler:innen mit Diskurslogiken konfrontiert, die sie aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit nicht gewohnt sind beziehungsweise die für ihre Tätigkeit auch nicht angemessen sind. So sind Wissenschaftler:innen in ihrer Forschung ein weniger kurzfristiges Veröffentlichungstempo bei gleichzeitig höherer Recherchetiefe gewohnt. Unterhaltungseffekte spielen dabei eine ähnlich marginale Rolle wie die Rahmenbedingungen politischer Entscheidungsfindung. Dies führt zu intra- oder interpersonalen Konflikten, die sich unter anderem in Grenzziehungspraktiken sowie Medien- und Politikkritik niederschlagen.1 Das verbreitete Unbehagen von Wissenschaftler:innen im politisch-medialen Diskurs hat zu einer verstärkten Selbstreflexion ihrer Rolle in den Medien geführt. Einzelne Wissenschaftler:innen schränken ihre Medienpräsenz als Reaktion auf den medialen Umgang mit ihrer Person konsequent wieder ein, wie zum Beispiel Christian Drosten, der sich schon im 1  Vgl. Sina Lautenschläger & Lisa Rhein, Der geordnete Rückzug. Sprachliche Grenzziehungen von Virolog:innen in Polit-Talkshows, in: Zeitschrift für Angewandte Linguistik, H. 76 (2022), S. 64–92.

März 2020 wie folgt äußerte: »Beide Seiten sagen, die Politik trifft die Entscheidungen und nicht die Wissenschaft. Das sagt sowohl die Politik wie auch die Wissenschaft. Dennoch wird weiterhin immer weiter dieses Bild des entscheidungstreffenden Wissenschaftlers

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in den Medien produziert. Wir sind hier langsam an einem Punkt, wo dann demnächst auch die Wissenschaft in geordneter Weise den Rückzug antreten muss, wenn das nicht aufhört.« 

(Drosten im NDR-Podcast, 30.03.2020)

Drostens Rückzug in Form einer gezielten Medienauswahl und -limitierung zeigt sich vor allem darin, dass er schon seit Mitte April 2020 nicht mehr für Talkshows zur Verfügung steht. Seinen Podcast mit Sandra Ciesek betrieb er aber noch bis zum 29. März 2022 weiter, bevor er sich aus Zeitmangel daraus zurückzog. Auch Melanie Brinkmann macht deutlich, dass sie sich von ihrer – nichtsdestoweniger bislang noch nicht aufgegebenen – Medien­ präsenz eigentlich verabschieden möchte: »Ich hoffe ernsthaft, dass ich auch nicht recht hab’ [mit dem Fortdauern der Pandemie, LR/NJ], weil ich absolut nicht mehr nächstes Jahr in Talkshows sitzen möchte. Wirklich nicht. Es reicht dann.« 

(Brinkmann bei Markus Lanz, 01.04.2021)

Trotz ähnlicher Äußerungen von Unbehagen2 sind unter anderem auch Alexander Kekulé, Hendrik Streeck oder Michael Meyer-Hermann weiterhin öffentlich wissensvermittelnd aktiv und nehmen teilweise sogar professionelle Medienberatung in Anspruch (wie etwa das Eingangszitat Streecks zeigt). Dabei haben Erhebungen im Rahmen unseres Projekts zur Wissenschaftskommunikation in der COVID-19-Pandemie3 gezeigt, dass nicht sämtliche von uns im Projekt fokussierten Wissenschaftler:innen in allen Medienformaten gleichermaßen präsent sind: So ist Marylyn Addo beispielsweise in Radio- und TV-Interviews und Pressekonferenzen, aber nicht als Gast in PolitTalkshows zu finden, wohingegen Hendrik Streeck, Melanie Brinkmann und Alexander Kekulé in allen Formaten vertreten sind. Gleichzeitig sind bzw. waren Wissenschaftler:innen wie Christian Drosten und Hendrik Streeck politikberatend4 tätig, und Karl Lauterbach nimmt als Mediziner und Politiker eine ungewöhnliche Doppelrolle ein (hierzu unten mehr). Neben diesen Rollen als Expert:innen und Politikberater:innen treten Wissenschaftler:innen schließlich auch als »normale« Bürger:innen massenmedial in Erscheinung, wenn sie sich als Teil der Gesamtbevölkerung persönlich betroffen von den Corona-Maßnahmen zeigen. Somit stellt sich die Frage: Warum bleibt es bei der kontinuierlichen und hohen Medienpräsenz dieser Wissenschaftler:innen – indes doch weder die mediale Diskurslogik noch die erwarteten politischen Entscheidungshilfen

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2  Nina Janich u. a., Zwischen Unbehagen und Notwendigkeit: Wie Wissenschaftler:innen sich (nicht) nicht positionieren, in: Mark Dang-Anh (Hg.), Politisches Positionieren. Sprachliche und soziale Praktiken, Heidelberg (im Erscheinen). 3  2020–2022 fördert die Klaus Tschira Stiftung das von Nina Janich und Kersten Sven Roth initiierte und geleitete Projekt Zwischen Elfenbeinturm und rauer See – zum prekären Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik und seiner Mediatisierung am Beispiel der »Corona-Krise«. Wir danken der Stiftung für die Förderung, die diesen Beitrag ermöglicht hat. 4  Vgl. hierzu Dorothee Jahaj & Lisa Rhein, Beraten und prognostizieren. Unsicheres Wissen in der Politikberatung, in: Fachsprache. Journal of Professional and Scientific Communication, H. 1–2/2023. Themenheft »Science Communication under the Condition of Uncertainty and Ignorance«, hg. v. Nina Janich & Niklas Simon (angenommen).

und Positionierungen zum wissenschaftlichen Selbstverständnis passen; indes doch alle Genannten explizit ihr Unbehagen äußern und auf ihrer sehr spezifischen epistemischen Rolle, als Wissenschaftler:in über den Stand des wissenschaftlichen Wissens zu informieren, bestehen; indes öffentliche Wahrnehmung und wissenschaftsinterne Kritik doch zeigen, dass diese Medienpräsenz auch durchaus ambivalent wahrgenommen wird? Hauptgrund scheint – so klingt es in verschiedenen Redebeiträgen an – der Gedanke einer generellen Verpflichtung von Wissenschaft zur Wissenschaftskommunikation, das heißt zu Forschungsbericht, Wissensvermittlung und Aufklärung zu sein. Diese third mission-Haltung verbinden die von uns untersuchten Wissenschaftler:innen allerdings auch mit der Forderung 5  Vgl. Lisa Rhein & Sina Lautenschläger, Wissenschaftskommunikation im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Medien. Zur Aushandlung von Gesprächsnormen in Pressekonferenzen und Polit-Talkshows, in: Fachsprache. Journal of Professional and Scientific Communication, H. 1–2/2022, S. 20–39. 6  Das Korpus umfasst sechs Pressekonferenzen des Science Media Centers Deutschland in Köln, 100 Folgen verschiedener (Polit-)Talkshows, 311 PodcastFolgen, 20.070 online publizierte Zeitungsartikel aus regionalen und überregionalen Zeitungen sowie 51 TV-Interviews. Der Fokus lag auf den konstant massenmedial präsenten Wissenschaftler:innen Marylyn Addo, Melanie Brinkmann, Sandra Ciesek, Christian Drosten, Alexander Kekulé, Karl Lauterbach, Michael Meyer-Hermann, Hendrik Streeck und Lothar H. Wieler. 7  Aus Platzgründen veranschaulichen wir die Praktiken stets nur an ein oder zwei Beispielen; ausführlichere Ergebnisse finden sich in unseren zitierten Originalstudien. 8  Vgl. z. B. Wissenschaft im Dialog, Leitlinien zur guten Wissenschafts-PR, 2016, tiny.one/ indes223c3; Dies., Siggener Kreis, tiny.one/indes223c2; vgl. hierzu auch Rhein & Lautenschläger, Wissenschaftskommunikation.

nach einer expliziteren Begründungskultur in öffentlichen Debatten (zum Beispiel, dass Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie erklärt und begründet werden sollen).5 Welche Erkenntnisse fördern nun linguistische Analysen darüber zutage, wie ausgewählte Wissenschaftler:innen im Kontext des »Corona-Diskurses« im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und den unterschiedlichen Logiken der drei Domänen Wissenschaft, Politik und Medien sprachlich agieren? »ES IST MÖGLICH. VIELLEICHT IST ES AUCH NICHT SO. FAKT IST ABER …« Aus der linguistischen Analyse eines bewusst heterogenen Medienkorpus in Form verschiedener Fallstudien (Februar 2020 bis April 2021)6 ergeben sich knapp zusammengefasst folgende Befunde zu den zentralen und formatübergreifend wiederkehrenden diskursiven Praktiken der sich äußernden Wissenschaftler:innen:7 a) Generelle Bemühungen um eine »gute« Wissenschaftskommunikation: Die medial präsenten Wissenschaftler:innen versuchen, an den Standards einer »guten« Wissenschaftskommunikation festzuhalten (hierzu gibt es verschiedentliche Empfehlungen von Universitäten, Akademien oder auch von der politisch/stiftungsgeförderten Initiative Wissenschaft im Dialog 8). Dazu gehören unter anderem Evidenzorientierung, Sachlichkeit, Ehrlichkeit sowie der Verzicht auf Dramatisierung ebenso wie auf das Schüren falscher Hoffnungen. Dies lässt sich prägnant an einem Redebeitrag von Lothar H. Wieler zeigen, der vom Nachrichtenmoderator Claus Kleber nach dem möglichen Eintreten einer Triage-Situation in Deutschland gefragt wird:

Lisa Rhein / Nina Janich  —  Zwischen Medienlogik und Politikberatung

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»Also wir setzen alles daran, das zu tun [eine Triage-Situation zu vermeiden; L.R./N.J.]. Ich kann das nicht versprechen. Wir wissen das nicht. Aber wir wissen, dass wir ein sehr leistungsstarkes Gesundheitssystem haben.«  

(Wieler im heute journal, 12.03.2020)

Wielers Antwort verweist offen auf bestehende Wissenslücken; sie ist aber auch ein Versuch, das Positive in der aktuellen Situation (intensives Forschungsbemühen und leistungsstarkes Gesundheitssystem) deutlich zu machen, ohne dabei übertriebene Hoffnungen zu wecken. b) Thematisierung von Nichtwissen und fragiler Evidenz zwecks Transparenz: Vor allem zu Beginn der Pandemie waren Wissenschaft und Gesellschaft damit konfrontiert, dass noch viel zu wenig über das Virus und die Ansteckungswege bekannt war. In TV-Interviews befragten die Moderator:innen stellvertretend für die Gesellschaft Wissenschaftler:innen nach ihrem Wissensstand und vor allem neuesten Erkenntnissen. Dadurch wurde unter anderem der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, schlagartig zu einer öffentlichen Figur, die Politik, Medien und damit auch die Öffentlichkeit regelmäßig (in seinem Fall: wöchentlich) über aktuelle Entwicklungen und Erkenntnisse zum Coronavirus informierte. Angesichts des hohen Erwartungs- und Handlungsdrucks, der zu einer schnell getakteten Berichterstattung führte (in Drostens Corona-Podcast beispielsweise erschienen anfangs täglich Beiträge!), gehörte dazu zwangsläufig auch, auf aktuell bestehendes (Noch-)Nichtwissen und unsicheres Wissen hinzuweisen. Auf die Frage von Claus Kleber, ob der Herbst 2020 eine »kritische Welle« an Infektionen nach Deutschland bringe, antwortet Wieler: »Das sind Prognosen, die man wirklich nicht machen kann. Das sind alles Spekulationen. Es ist möglich. Vielleicht ist es auch nicht so. Fakt ist aber, dass viele Millionen Menschen infiziert werden.« 

(Wieler im heute journal, 12.03.2020)

Ähnlich reagiert Hendrik Streeck auf die Frage von Sandra Maischberger, ob man nach einer durchgemachten Infektion immun sei: »Ja, wir können ja das nur so lange überblicken, solange wir das neue Coronavirus haben. Daher können wir das nicht vorhersagen, ob sie immun sind. Das werden wir in zwei, drei Jahren vielleicht wissen.«  

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(Streeck bei Maischberger am 26.08.2020) COVID-19 ff. — Analyse

Beide Beispiele illustrieren, dass Wissenslücken und Unsicherheiten in den medialen und politischen Kontexten vor allem dann von den Wissenschaftler:innen transparent gemacht werden, wenn die Journalist:innen von ihnen Prognosen fordern.9 c) Verdeutlichung von Wissensstand und (Grenzen der) Expertise zwecks Stärkung der Glaubwürdigkeit: Um in öffentlich und medial geführten Diskursen als Wissenschaftler:in glaubwürdig zu bleiben, erscheint es nötig, die eigene Expertise zu begründen sowie den eigenen Wissensstand zu konkretisieren. Nach seiner Einschätzung zur zukünftigen Verfügbarkeit von Impfstoffen gefragt, antwortet Christian Drosten zunächst mit einer Einschränkung seines Kenntnisstandes und verweist auf seine fehlende Expertise auf dem Gebiet der Impfstoffforschung: »Ja, also ich […] will da jetzt nicht von einzelnen Produkten sprechen. Dazu kenne ich mich dazu auch gar nicht genug aus. Ich bin […] kein Impfstoffforscher in dem Sinne. Ich hab’ da vielleicht eher so ein bisschen breite allgemeine Kenntnis.« 

(Drosten bei Maybrit Illner, 19.03.2020)

d) Erklärung diskursiver Rollen (Verortung und Grenzziehung) zwecks Integritätssicherung: In den analysierten Interaktionen thematisieren die Wissenschaftler:innen immer wieder ihre eigenen gerade aktualisierten diskursiven Rollen, um den jeweiligen Geltungsanspruch der damit verbundenen Aussagen zu verdeutlichen. Verortungs- und Positionierungspraktiken finden 9  Vgl. zu Prognosen als Herausforderung in der Wissenschaftskommunikation: Nina Janich, »Warum braucht die Welt Wissenschaft?« Wissenschaftskommunikation im Klimawandeldiskurs zwischen Diagnose und Prognose, in: Janja Polajnar (Hg.), Diskursive Dynamiken. Themenheft Deutsche Sprache H. 3/2022, S. 214–233. Außerdem Jahaj & Rhein. 10 

Vgl. dazu Janich u. a.

11  Vgl. hierzu ausführlich Lautenschläger & Rhein, Zwischen den Welten? Karl Lauterbachs Rolle(n) in der Pandemie, in: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur, H. 1/2022, S. 58–82.

sich zudem häufig in Situationen, in denen Wissenschaftler:innen ihr Unbehagen in Bezug auf offensichtlich unangemessene Erwartungshaltungen ausdrücken, die ihre Integrität als Wissenschaftler:innen gefährden – wenn nämlich zum Beispiel von ihnen gefordert wird, über richtiges/falsches politisches Handeln zu entscheiden.10 In besonderer Weise betrifft dies Karl Lauterbach in seiner Doppelrolle als Mediziner und Politiker, der seine Äußerungen zur Vermeidung von Missverständnissen und damit zur Integritätswahrung sowohl disziplinär (Virologie vs. Epidemiologie, Beispiel 1) als auch in Hinblick auf seine Domänenzugehörigkeit (Wissenschaft vs. Politik, Beispiel 2) zu verorten hat:11 Beispiel 1: Lauterbach: Also zunächst einmal, dieses Coronavirus hat mit den Coronaviren, die wir jetzt endemisch haben, sehr wenig zu tun. Streeck: Das, das stimmt nicht aber, also virologisch Lisa Rhein / Nina Janich  —  Zwischen Medienlogik und Politikberatung

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Lauterbach: Virologisch, also ich sage, ich spreche jetzt als Epidemiologe, als Unterhaus-Arzt, was die Konsequenzen angeht. […] Und ich bin da wirklich, tatsächlich auch, also da gehe ich als Epidemiologe ran, der mit den langfristigen Konsequenzen sich besonders beschäftigt […]. Das wird bei uns Epidemiologen, hat jetzt nichts mit Virologie oder so, wirft das die Frage auf, ist das so?

(Markus Lanz, 01.07.2020)

Beispiel 2: Yogeshwar: Weil Herr Lauterbach sagt, diese Entscheidung hätte er anders getroffen, hätten Sie sie anders getroffen als Wissenschaftler oder als Politiker? Sie sind ja immer in dieser Doppelfunktion. Wenn Sie der Gesundheitsminister gewesen wären, hätten Sie gesagt, die von der Bundesregierung bestellten Wissenschaftler empfehlen mir auszusetzen, aber ich weiß es besser und wir impfen weiter. Hätten Sie das getan? Lauterbach: Das ist eine sehr wichtige Frage. Die ehrliche Antwort ist: wahrscheinlich ja. Es wäre natürlich die Frage gewesen, ob ich mich dann durch hätte setzen können. Ich habe, offen gesagt, diesen also Zusammenhang auch mit Helge Braun besprochen, und man kann es sehr unterschiedlich sehen. Plasberg: Noch mal zur Klarstellung, Sie hätten auch als Gesundheitsminister so entschieden, wie Sie jetzt als Wissenschaftler gesprochen haben? Lauterbach: Ja ja. Das ist das ist, genau das das ist ja der springende Punkt. Also als Wissenschaftler kann ich das leicht sagen. Aber die Frage ist ja, ob ich als Gesundheitsminister bereit gewesen wäre hier, wenn ich mich hätte durchsetzen können. Das ist ja ganz klar. Das ist ja nichts, was Jens Spahn alleine […].

(hart aber fair, 15.03.2021)

Grenzziehungspraktiken12 wie in den Beispielen 1 und 2 finden sich bei allen befragten Wissenschaftler:innen als Reaktion auf provokante Moderator:innenfragen, wenn diese darauf abzielen, den Wissenschaftler:innen politische Statements und Bewertungen abzuringen, die ihre Kompetenzen überschreiten. Wie bei Karl Lauterbach führt dies nicht nur dazu, dass Rollen und Rollenerwartungen generell thematisiert und verhandelt werden, sondern in diesem Zusammenhang auch zu einer expliziteren Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen, die im Mediengeschehen schnell unterzugehen droht (wenn zum Beispiel pauschal von »Corona-­Experten« die Rede ist). So reagiert beispielsweise auch Hendrik Streeck abwehrend auf eine solche Frage mit Verweis auf sein wissenschaftliches Selbstverständnis (Fakten) wie auch auf seine disziplinäre Zugehörigkeit (Virologe):

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COVID-19 ff. — Analyse

12  Vgl. hierzu ausführlich Lautenschläger & Rhein, Der geordnete Rückzug, und Rhein & Lautenschläger, Wissenschaftskommunikation; zur Multimodalität von Grenzziehungspraktiken vgl. dies., Expertise und Grenzziehung multimodal. Selbst- und Fremdpositionierung von Virolog:innen in Polit-Talkshows, in: Susanne Kabatnik u. a. (Hg.), Pragmatik multimodal, Tübingen (eingereicht).

»Ich bin ja Virologe, und ich schaue mir die Fakten dabei an. […] Die Fragen, die Sie gestellt haben, sind eigentlich Fragen an einen Soziologen, einen Psychologen.« 

(Streeck bei hart aber fair, 23.03.2020)

DISKURSIVE PRAKTIKEN UND WISSENSCHAFTSVERTRAUEN Die vorgestellten diskursiven Praktiken interpretieren wir vor dem Hintergrund empirischer Erkenntnisse zum Wissenschaftsvertrauen in der Gesellschaft. Dem Psychologen Rainer Bromme zufolge fördern die Wahrnehmung von Expertise (in der Sache), Integrität (als Wissenschaftler:in) und Wohlwollen (gegenüber der Gesellschaft) ein sogenanntes »epistemisches« Vertrauen, das heißt ein grundsätzliches Vertrauen in die allgemeine Problemlösekompetenz von Wissenschaft.13 Die dargelegten Diskurspraktiken lassen sich gut auf diese drei Faktoren für Wissenschaftsvertrauen beziehen: • Expertise kann diskursiv nicht nur durch die klare Verdeutlichung von disziplinären Zuständigkeiten und die Konkretisierung des eigenen Spezialwissens, sondern auch durch Hinweise auf die Vorläufigkeit bzw. Begrenztheit des wissenschaftlichen Wissens vermittelt werden. • Integrität wird demonstriert, indem an wissenschaftlichen Begründungs­ logiken festgehalten wird und damit sowohl Interessensfreiheit demonstriert als auch die wissenschaftlich-epistemische von der politisch-legitimatorischen Rolle explizit unterschieden wird. • Wohlwollen wird diskursiv vermittelt, indem gesellschaftlich geteilte Werte und Interessen betont werden und auf politische Entscheidungen zum Wohle der Menschen gedrängt wird. Wie aus den zitierten Beispielen bereits deutlich geworden sein sollte,14 ist das Unbehagen der Wissenschaftler:innen besonders groß, wenn sie nach politischen Bewertungen, Prognosen, persönlichen Meinungen, kurz: nach Inhalten gefragt werden, die über ihren jeweiligen wissenschaftlichen und 13  Rainer Bromme, Informiertes Vertrauen. Eine psychologische Perspektive auf Vertrauen in Wissenschaft, in: Michael Jungert u. a. (Hg.), Wissenschaftsreflexion. Interdisziplinäre Perspektiven zwischen Philosophie und Praxis, Paderborn 2022, S. 105–134. 14  An anderer Stelle noch ausführlicher gezeigt, vgl. Janich u. a.

disziplinären Kompetenz- und Expertisebereich hinausgehen. Ein Grund hierfür dürfte sein, dass sie in solchen Situationen mehr oder weniger bewusst zumindest ihre wissenschaftliche Integrität und Expertise gefährdet sehen. Ein weiterer Grund könnte in der Unerfahrenheit mit der massenmedialen und/oder politischen Diskurspraxis liegen. Das Eingangszitat von Hendrik Streeck illustriert, wie ein entsprechendes Eingeständnis als Selbstschutz verwendet wird, während die folgende Äußerung von Alexander Kekulé zeigt, welche unterschiedlichen Zuständigkeiten unterstellt werden: Lisa Rhein / Nina Janich  —  Zwischen Medienlogik und Politikberatung

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»[I]ch bin ganz glücklich, dass ich kein Politiker bin, der Verantwortung tragen muss, der natürlich auch zum Beispiel die wirtschaftlichen Aspekte mitberücksichtigen muss.«

(Kekulé bei Unter den Linden, 02.03.2020)

Dem Selbstschutz könnte zuzuschreiben sein, dass Wissenschaftler:innen in der Corona-Wissenschaftskommunikation – wie in vielen der obigen Beispielen sichtbar – regelmäßig auf Metakommunikation zurückgreifen, um ihre Rolle zu verdeutlichen und sich gegen eine »fremde« Diskurspraxis zu verwahren: »[D]a haben Sie meine Rolle noch nicht verstanden. Ich bin Virologe.«  

(Streeck bei Markus Lanz, 28.05.2020)

Unsere Analysen haben allerdings auch gezeigt, dass es den Wissenschaftler:innen trotz allen Unbehagens doch auch um die Frage der politischen Wirksamkeit ihrer Erkenntnisse geht. Dies zeigt sich unter anderem in Klagen über inhaltliche Verkürzungen wissenschaftlicher Aussagen und Erkenntnisse (z. B. »[I]ch werde ständig verkürzt und halte das jetzt einfach aus«, Drosten bei Maybrit Illner, 12.03.2020), politische Unentschiedenheit (z. B. »[D]eshalb ist ja diese Wischi-Waschi-Strategie, die wir grad fahren, einfach nicht richtig«, Brinkmann bei Maischberger. Die Woche, 19.12.2020) oder gar politische Untätigkeit (z. B. »Es war eindeutig kommuniziert […] und es wurde nicht reagiert«, Brinkmann bei Markus Lanz, 01.04.2021). ANREGUNGEN FÜR EINE KÜNFTIGE WISSENSCHAFTSKOMMUNIKATION Was bedeuten diese Schlaglichter auf unsere analytischen Befunde für eine künftige Wissenschaftskommunikation in ähnlich herausfordernden gesellschaftspolitischen Situationen und Krisen? Das Spannungsfeld zwischen den Domänen Wissenschaft, Politik und Medien und ihren jeweils geltenden Logiken bzw. Bedürfnissen wird auch zukünftig bestehen, sodass es für Wissenschaftler:innen eine Herausforderung bleiben wird, in diesem zu navigieren. Wichtig bleibt es daher, die unterschiedlichen Diskurspraxen, Diskursrollen und Erwartungshaltungen explizit und auf einer Metaebene, das heißt mit eigenem Recht, anzusprechen und zu reflektieren, denn sie zeigen »das Dilemma zwischen einem insbesondere epistemischen Autoritätsanspruch der Wissenschaftler:innen und einer damit nur schwer zu vereinbarenden, aus öffentlicher Sicht aber erwarteten legitimatorischen Praxis gegenüber (erfolgten oder notwendigen) politischen Entscheidungen.«15

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COVID-19 ff. — Analyse

15 

Janich u. a.

Insbesondere in Polit-Talkshows bestätigt sich zudem der von Alexander Bogner postulierte aktuelle Trend zur »Epistemisierung des Politischen«16, das heißt die Tendenz, eigentlich politische Probleme zunehmend als Wissensprobleme wahrzunehmen und anzugehen. In diesem Fall also: wenn Wissenschaftler:innen versuchen, in medial vermittelten und politisch gerahmten Diskursen wissenschaftlich geprägte Diskursroutinen durchzusetzen, indem sie beispielsweise Kritik an fehlenden Zielformulierungen äußern und sachliche, wenn nicht gar evidenzbasierte Begründungspraktiken fordern. Inwieweit eine solche Begründungskultur in krisenhaften Situationen politisch sinnvoll oder auch politisch gewünscht ist, bleibt abzuwarten. In jedem Fall bedient sie aber die Forderung nach mehr Transparenz und Klarheit der Wissenschaftskommunikation. Ob normative Positionen, sich als Wissenschaftler:in in Politik und Medien strikt auf wissenschaftseigene Praktiken des Beschreibens, Analysierens und Interpretierens zu beschränken, durchzuhalten sind, erscheint fraglich – insbesondere in einer krisengeprägten Zeit, in der von wissenschaftlicher Seite mit computergestützten Modellierungs- und Simulationsmethoden zunehmend auf Erwartungen an eine wissenschaftliche Prognosekompetenz reagiert wird. Wissenschaftler:innen ihrerseits bedürfen aber sicherlich auch einer viel ausgeprägteren Schulung in einer an Öffentlichkeit, Medien und Politik gerichteten Wissenschaftskommunikation, als dies bislang der Fall ist. Professionelle Medienberatung, rhetorische Grundkenntnisse und eine selbstkritisch-reflexive Auseinandersetzung mit Wissenschaftssprache und Popularisierungstechniken müssten mindestens Teil solcher Schulungen bereits im Studium, spätestens in den Qualifikationsphasen (Promotion, Habi16  Alexander Bogner, Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet, Stuttgart 2021.

litation) aller Fächer sein, um Wissenschaftler:innen besser darauf vorzubereiten, welchen mediatisierten und politisierten Kommunikationssituationen sie sich in der Öffentlichkeit zu stellen haben.

Dr. Lisa Rhein  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Germanistik – ­ Angewandte Linguistik an der Technischen Universität Darmstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wissenschaftskommunikation, Kommunikation von Nichtwissen und Unsicherheit, Selbstdarstellung sowie Kommunikation in epistemischen Krisen. Prof. Dr. Nina Janich ist Professorin für Germanistik – Angewandte Linguistik an der Technischen Universität Darmstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im ­Bereich Wissens- und Wissenschaftskommunikation, Werbelinguistik, Text- und ­Diskurslinguistik sowie Sprachkritik/Sprachkulturforschung. Sie ist unter anderem Mitglied der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften (acatech) und war zwanzig Jahre lang Mitglied (und zehn Jahre lang Sprecherin) in der sprachkritischen Jury »Unwort des Jahres«.

Lisa Rhein / Nina Janich  —  Zwischen Medienlogik und Politikberatung

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DIE DEUTSCHE DEMOKRATIE IM NEUEN KRISENZEITALTER (II) CORONA-PANDEMIE, KLIMAWANDEL, UKRAINEKRIEG Ξ  Frank Decker

Der in Heft 1–2/2022 erschienene erste Teil dieses Beitrages hat die Nachkriegszeit bis einschließlich der 1980er Jahre als »Ära der demokratischen Stabilität in Deutschland« charakterisiert, die durch den Dreiklang von gelungener in­ stitutioneller Neugründung, Herausbildung einer reifen politischen Kultur und wirtschaftlicher Prosperität bestimmt gewesen sei. Von den 1990er Jahren an sind diese Stabilitätseigenschaften unter wachsenden Druck geraten, wobei die Bundesrepublik – nimmt man etwa die Stärke systemoppositioneller Parteien als Gradmesser – diesem Druck bis zu Beginn der 2010er Jahre besser standhielt als andere vergleichbare Länder. Mit den außenpolitischen Aggressionen des Putin-Regimes in Russland, der anschwellenden Flüchtlingsbewegung aus dem Nahen Osten und Teilen Afrikas sowie der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten sollten sich die internationalen Krisentendenzen in den folgenden Jahren nochmals deutlich verschärfen. Dadurch erhöhten sich die Fliehkräfte nicht nur innerhalb der Europäischen Union. Auch die stabilitätsverwöhnte Bundesrepublik sah sich nun immer stärkeren politischen Verwerfungen ausgesetzt, die in der dauerhaften Etablierung einer rechtspopulistischen und EU-feind­lichen Partei kulminierten. DIE CORONA-PANDEMIE Vor diesem Hintergrund traf die demokratische Staatengemeinschaft ein weiteres, völlig unerwartetes Krisenereignis 2020 unvorbereitet und zur Unzeit: die Corona-Pandemie.1 Das Coronavirus, das sich von seinem Ursprungsort im chinesischen Wuhan ab Januar 2020 rasch über die ganze Welt verbreitete, stellte eine zwar unsichtbare, aber doch manifeste Gefahr dar. Indem sie Gesundheit und Leben der Menschen konkret bedrohte, ließ sich die Seuche weder individuell noch gesellschaftlich-politisch verdrängen. Die klassische Staatsaufgabe der unmittelbaren Gefahrenabwehr wurde dadurch wieder in Erinnerung gerufen. Dass es vergleichbare Pandemien – etwa die sogenannte Hongkong-Grippe im Winter 1969/70 – schon früher gegeben und die letzte schwere Grippewelle im Winter 2017/18 rund 25.000 Opfer gekostet hatte, war im kollektiven Gedächtnis der Deutschen kaum präsent.2

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1  Vgl. Martin Florack, u. a. (Hg.), Coronakratie. Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten, Frankfurt a. M. 2021. 2  Vgl. Christoph Butterwegge, Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona, Weinheim & Basel 2022, S. 25 f.

Kritiker der Coronamaßnahmen nutzten den Vergleich mit der »normalen« Influenza später, um die Gefährlichkeit des neuen Virus zu relativieren, obwohl diese durch die statistischen Daten klar belegt wurde. Nicht nur, dass die Übersterblichkeit stieg – die Pandemie forderte allein in Deutschland von März 2020 bis Oktober 2022 etwa 150.000 Tote. Sie brachte auf dem Höhepunkt der zweiten und dritten Infektionswelle zudem die Intensivstationen der Krankenhäuser an ihre Belastungsgrenzen. Hinzu kommen die Spätfolgen (Long Covid), deren langfristige Auswirkungen auf das Gesundheitssystem noch gar nicht absehbar sind. Mit der Pandemie geriet die Demokratie 2020 für zwei Jahre in einen Ausnahmezustand.3 Die Wirtschaft verzeichnete einen fast ebenso großen Einbruch wie nach der Finanzkrise, während die Bevölkerung massive Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte hinnehmen musste. In der Krise schlug die sprichwörtliche Stunde der Exekutive. Die Politik war gefordert, ihren Primat gegenüber Wirtschaft und Gesellschaft wiederherzustellen und durchzusetzen. Die Menschen reagierten darauf zunächst mit steigenden Vertrauensund Zustimmungswerten, die erst im weiteren Verlauf der Krise bröckelten. Die Bekämpfung der Pandemie brachte den Verfassungs- und Rechtsstaat an seine Grenzen. Befürchtungen, der Staat werde die Krise nutzen, um seine Machtbefugnisse dauerhaft auszuweiten, bewahrheiteten sich nicht. Die Gerichte wiesen die von den Regierungen in Bund und Ländern getroffenen Schutzmaßnahmen in vielen Fällen als unverhältnismäßig zurück und belegten damit, dass die Gewaltenteilung funktionierte.4 Die Flexibilität und Handlungsfähigkeit, die der bundesdeutsche Staat im Angesicht dieser für ihn neuen Situation demonstrierte, hatte er bereits früher bewiesen – etwa bei der Wiedervereinigung. In der Pandemie waren diese Eigenschaften umso bemerkenswerter, als Corona die politischen Abläufe unmittelbar tangierte. Um die Hygiene- und Abstandsregelungen einhalten zu können, wurden die Verfahrensregeln in den Parlamenten angepasst und Präsenzsitzungen durch Videokonferenzen ersetzt. Dasselbe galt für Parteitage und Mitgliederversammlungen. Bei den Wahlen bewährte sich die Möglichkeit der Briefwahl. Trotz des häufig beklagten Rückstandes Deutschlands bei der Digitalisierung sorgte die Rückzugsmöglichkeit ins Homeoffice dafür, dass Staat, Verwaltung und Justiz ihre Arbeitsfähigkeit 3  Vgl. Udo Di Fabio, Coronabilanz. Lehrstunde der Demokratie, München 2021.

in ähnlicher Weise aufrechterhalten konnten wie der größte Teil der Wirt-

4  Vgl. Jens Kersten & Stephan Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, München 2020.

hätte man die digitale Modernisierung in der Vergangenheit stärker voran-

schaft. Im Bildungsbereich traf das auch auf die Universitäten zu, weniger auf die Schulen: Dort wäre deutlich mehr Kompensation möglich gewesen, getrieben. Dass die monatelangen Schul- und Kitaschließungen gerade für Frank Decker  —  Die deutsche Demokratie im neuen Krisenzeitalter (II)

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die ohnehin benachteiligten bildungsfernen Schichten erhebliche Langzeitschäden nach sich ziehen werden, hält die Bildungsforschung schon heute für gewiss. Blickt man auf die wirtschaftlichen Folgen, profitierte die Bundesrepublik bei der Krisenbewältigung erneut von Elementen ihres Sozialmodells wie dem Kurzarbeitergeld. Gleichzeitig sorgte die bis dahin betriebene Politik der »Schwarzen Null« in Verbindung mit dem niedrigen Zinsniveau dafür, dass durch die Außerkraftsetzung der Schuldenbremse jetzt erhebliche zusätzliche Mittel mobilisiert werden konnten, um den notleidenden Branchen unter die Arme zu greifen oder – wie bei der Lufthansa – Unternehmensanteile zu übernehmen. Die befürchtete Insolvenzwelle blieb aus. Auch die Europäische Union trug zur schnellen wirtschaftlichen Erholung bei, indem sie einen 750 Milliarden starken Corona-Aufbaufonds auflegte, von dem vor allem die von der Pandemie besonders betroffenen südeuropäischen Länder profitieren sollten. Für dessen Finanzierung stimmte die Bundesregierung erstmals einer gemeinschaftlichen Schuldenaufnahme zu.5 Die zu Beginn der Pandemie von einzelnen Mitgliedstaaten reflexhaft verhängten Grenzschließungen wurden rasch zurückgenommen, nachdem sich ihre verheerenden wirtschaftlichen Wirkungen gezeigt hatten. Als Glückfall erwies sich die Einigung von Kommission und Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame EU-Strategie für die Beschaffung und Verteilung von Impfstoffen. Die Bundesrepublik konnte wiederum mit Stolz darauf verweisen, dass das effektivste und am weitesten verbreitete Vakzin von der Mainzer Firma Biontech entwickelt worden war. Es kam ab Ende Dezember 2020 weltweit zum Einsatz und trug maßgeblich dazu bei, die Folgen der Pandemie einzudämmen. Die deutsche Innenpolitik wurde von März 2020 bis zur Bundestagswahl 2021 fast vollständig von Corona in Beschlag genommen.6 Auf den Höhepunkten der insgesamt vier Wellen gab es in den Medien kaum ein anderes Thema. Parteipolitisch handelte es sich um eine hochgradig relevante (saliente) Sachfrage, nicht aber um ein sogenanntes Positionsissue, bei dem klar unterscheidbare ideologische und inhaltliche Standpunkte bestanden hätten. Zwischen Union, SPD sowie den oppositionellen Grünen und sogar der ­LINKEN herrschte über die Notwendigkeit der Schutzmaßnahmen ein weitgehender Konsens. Die Gegenposition wurde von der AfD eingenommen, die sich zum Anwalt der Freiheitsrechte aufschwang und die Coronapolitik für ihren rechtspopulistischen Anti-Establishment-Diskurs vereinnahmte. Eine mittlere Linie verfolgte die FDP. Sie drang seit der zweiten Welle der Pandemie verstärkt auf eine Aufhebung der Beschränkungen und setzte nach

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COVID-19 ff. — Analyse

5  Vgl. Jürgen Habermas, 30 Jahre danach: Die zweite Chance. Merkels europapolitische Kehrtwende und der innerdeutsche Vereinigungsprozess, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 9/2020, S. 41–56. 6  Vgl. Frank Decker, Parteienlandschaft in Zeiten von Corona. Ein Ausblick auf die Bundestagswahl 2021, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik, H. 4/2020, S. 483–492.

ihrem Regierungseintritt im Oktober 2021 durch, dass die von der Bundesregierung im März 2020 erklärte »epidemische Lage von nationaler Tragweite« zum 24. November 2021 auslief. Ansonsten zog sich der Konflikt zwischen den Befürwortern von Lockerungen und den Verfechtern strenger Schutzmaßnahmen quer durch die Parteien. Überlagert wurde er vom beginnenden Bundestagswahlkampf sowie von föderalen Streitigkeiten. Der Kampf gegen Corona rückte den Deutschen ein bis dahin eher unmerkliches Funktionsprinzip ihres Staates zum ersten Mal richtig ins Bewusstsein – nämlich die Zuständigkeit der Länder für die Durchführung der Bundesgesetze. Der Ruf nach möglichst einheitlichen, bundesweiten Regelungen fand in der Rede vom föderalen »Flickenteppich« und der Kritik am vielstimmigen Chor der Ministerpräsidentenkonferenz Ausdruck. Dass der Föderalismus auch Vorteile barg, indem er an das jeweilige Infektionsgeschehen angepasste Maßnahmen ermöglichte und eine Konkurrenz um die besten Lösungen in Gang setzte, ließ sich indes nur schwer vermitteln – genauso wie die Tatsache, dass die Bundesrepublik im Vergleich zu vielen anderen europäischen und westlichen Staaten insgesamt recht gut durch die Pandemie gekommen war. Als die Bundesregierung den am 23. März 2021 beschlossenen verschärften Oster-Lockdown mit einer öffentlichen Entschuldigung von Bundeskanzlerin Angela Merkel schon am Folgetag wieder zurücknehmen musste, zeugte das nicht allein von schlechter Krisenkommunikation, sondern auch von missglücktem Krisenmanagement. Die Fehler am Anfang der Pandemie fielen demgegenüber weniger ins Gewicht, weil sie primär der Unkenntnis über das Virus geschuldet waren – sieht man von den erst später aufgedeckten dubiosen Maskengeschäften einiger Abgeordneter einmal ab. Die Kritik an der Regierung war insofern wohlfeil, als die politischen Akteure es schon ab der zweiten Welle mit einer zunehmend pandemiemüden und in Teilen renitenten Bevölkerung zu tun hatten. Deren Speerspitze – die Coronaleugner und selbst ernannten »Querdenker«7 – bildeten trotz ihrer Lautstärke zwar nur eine Minderheit. Diese ragte aber über das rechtspopulistische und rechtsextreme Lager hinaus auch in solche anthroposophischen oder christlich-evangelikalen Milieus hinein, die eine generelle Skepsis gegenüber wissenschafts- und fakten­basierter Politik hegen und insbesondere der »Schulmedizin« ablehnend begegnen. Die vergleichsweise hohe Quote der Impfverweigerer gerade 7  Vgl. Sven Reichardt, Die Misstrauensgemeinschaft der »Querdenker«. Die CoronaProteste aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive, Frankfurt a. M. 2021.

in Ost- und in Süddeutschland ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Vor allem deshalb mussten die Regierungen in Bund und Ländern die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen länger als nötig aufrechterhalten, um eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Frank Decker  —  Die deutsche Demokratie im neuen Krisenzeitalter (II)

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Corona war und ist mehr als ein kurzfristiges Thema der Gefahrenabwehr, das mit der Überwindung der Pandemie wieder verschwunden sein wird. Die Ursachen des vermehrten Auftretens von Zoonosen sind ja menschengemacht und betreffen nicht nur den fernöstlichen Raum – sie liegen in der Zurückdrängung der Biotope von Tieren und Pflanzen. Insofern wirft die Seuche die Frage nach einer besseren Vorsorge auf. Um für vergleichbare Situationen in Zukunft gewappnet zu sein, muss das Gesundheitssystem anders aufgestellt und ein Mindestmaß an nationaler und europäischer Autarkie bei der Versorgung mit relevanten medizinischen Schutzgütern gewährleistet werden. In beiden Aspekten trifft sich die Pandemie mit einer in ihrer Tragweite noch ungleich wichtigeren Zukunftsaufgabe: der Bekämpfung des Klimawandels. JAHRHUNDERTAUFGABE KLIMASCHUTZ Im Unterschied zu Corona handelt es sich hier um keine »akute«, sondern um eine zeitlich versetzt auftretende, »schleichende« Katastrophe, deren Folgen – so drastisch sie von der Wissenschaft ausgemalt wurden – uns lange Zeit eher abstrakt vorkamen. Mit der Häufung extremer Wetterereignisse – sommerliche Hitzewellen, Gewitterstürme und Starkregen – hat sich das inzwischen geändert. Die Flutkatastrophe an Ahr und Erft im Juli 2021 hatte in der Bundesrepublik sogar unmittelbar wahlentscheidende Bedeutung. Ihre diskursive Verknüpfung mit dem Klimathema schadete vor allem den Unionsparteien, denen für das Versagen der Politik in diesem Bereich die Hauptschuld gegeben wurde. Angetrieben durch die weltweiten »Fridays for Future«-Proteste8, drängte der Klimaschutz seit 2019 auch in Deutschland mit Macht auf die politische Agenda. Die von der Großen Koalition beschlossenen Reduktionsziele wurden nach dem Klimaschutzurteil des Bundesverfassungsgerichts im April 2021 nochmals verschärft. Sie sehen eine Rückführung der Treibhausemissionen bis zum Jahr 2030 um 65 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 als Zwischenziel bis zur Klimaneutralität vor. Diese wird für 2045 angestrebt. Kritische Stimmen bezweifeln, dass die im Klimaschutzgesetz verankerten strategischen Maßnahmen für die einzelnen Handlungsfelder ausreichen, um das im Pariser Abkommen 2015 fixierte globale Reduktionsziel von 1,5 Grad einzuhalten. Eine solche Reduktion wird als notwendig angesehen, um das Risiko einer unkontrollierbaren Kettenreaktion zu minimieren, die bei der 8  Vgl. David Fopp u. a., ­Gemeinsam für die Zukunft – ­Fridays For Future und Scientists For Future. Vom Stockholmer Schulstreik zur weltweiten Klimabewegung, Bielefeld 2021.

Überschreitung von Kippelementen im Klimasystem ansonsten drohe. Reichte es bei Corona aus, einen Impfstoff zu entwickeln und in der Zwischenzeit die Ausbreitung der Seuche durch eine Minderung der Ansteckungsmöglichkeiten zu bremsen, so erfordert die Klimaneutralität eine umfassende Frank Decker  —  Die deutsche Demokratie im neuen Krisenzeitalter (II)

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Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Der limitierende Faktor ist dabei die Zeit. So wie die für die Transformation notwendigen Technologien erst entwickelt werden müssen, lassen sich die politischen Prozesse ihrer Um- und Durchsetzung nicht beliebig steuern und beschleunigen. Weil die Transformation alle zentralen Bereiche des individuellen und gesellschaftlichen Lebens betrifft – Wohnen, Mobilität, Ernährung –, ruft sie massive Gegenkräfte auf den Plan. Dies gilt zumal, als ein Teil der Gesellschaft – angefeuert vom Rechtspopulismus – die Bekämpfung des Klimawandels generell für übertrieben hält und dessen menschengemachte Ursachen bestreitet.9 Der Erfolg der Klimaschutzpolitik wird vor allem davon abhängen, ob es der Politik gelingt, die mit ihr einhergehenden sozialen Verteilungs­w irkungen zu bewältigen. Diese betreffen zum einen die sektorbezogenen Umwälzungen innerhalb der Wirtschaft. Die Umstellung auf Elektroantrieb in der Autoindustrie und der Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energieträger lassen Geschäftsmodelle und Arbeitsplätze in manchen Bereichen verschwinden und in anderen neu entstehen. Um Akzeptanz zu finden, muss ein solcher Strukturwandel durch Ausgleichsmaßnahmen politisch begleitet werden. Zum anderen stellt sich die Frage, wer die höheren Kosten tragen soll, die ein ökologisch nachhaltigeres Wirtschaften zumindest mittelfristig verursacht. Wenn Fernreisen, Autofahren und Fleischkonsum zu einem Privileg des besserverdienenden Teils der Gesellschaft zu werden drohen, birgt das erheblichen sozialen Sprengstoff. Die Debatte um die »Entlastungspakete« zur Abfederung Energiepreise infolge des Ukrainekriegs hat gezeigt, dass die politischen Akteure in der Bundesrepublik darauf konzeptionell und strategisch bislang wenig vorbereitet sind. DER RUSSISCHE ÜBERFALL AUF DIE UKRAINE Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sich der Veränderungsdruck nochmals dramatisch erhöht. Er legte nicht nur die deutsche Außenpolitik in Trümmer, die sich über Putins revanchistische Absichten nach der Krim-­ Annexion 2014 weiter hatte täuschen lassen, sondern auch den Glauben, man könne autokratische Mächte wie Russland oder China ohne Weiteres in die eigenen Wirtschaftsinteressen einspannen. Die fatale Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen, in die sich die Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg begeben hatte – symbolisiert durch die gegen den Widerstand der mittelosteuropäischen Staaten vorangetriebene Ostseepipeline Nord Stream II –, rächte sich nun bitter. Anders als die Sowjetunion zu kommunistischen Zeiten scheute sich Putin nicht, die Gaslieferungen und den Gaspreis als Druckmittel gegen die USA und die Europäische Union einzusetzen, um auf die vom

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9  Vgl. Bernd Sommer u. a., Rechtspopulismus vs. Klimaschutz? Positionen, Einstellungen, Erklärungsansätze, München 2022.

Westen als Antwort auf den Überfall beschlossenen Maßnahmen zu reagieren. Diese sahen eine breitestmögliche Unterstützung Kiews unterhalb der Schwelle eines eigenen Kriegseintritts (insbesondere durch Waffenlieferungen), ein Paket von weitreichenden Wirtschaftssanktionen, eine Stärkung der NATO-Truppen an der Ostflanke sowie eine sukzessive Beendigung der Kohle-, Öl- und Gaslieferungen aus Russland vor. Putins Bruch mit der nach dem Ende des Kalten Krieges entstandenen internationalen und europäischen Friedensordnung10 veranlasste die Bundesregierung zu einer 180-Grad-Wende ihrer Außen- und Verteidigungspolitik. In seiner Rede vor dem Bundestag sprach Kanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 – drei Tage nach dem russischen Überfall – von einer »Zeitenwende«11 und verband dies mit der Ankündigung eines hundert Milliarden schweren Aufrüstungsprogramms der Bundeswehr, für das unter Umgehung der Schuldenbremse ein »Sondervermögen« eingerichtet werden soll. Auf nennenswerten Widerstand der Opposition (mit Ausnahme der AfD und der LINKEN) und der Öffentlichkeit traf er dabei nicht. Weil mit dem militärischen Patt in der Ostukraine die Aussicht auf ein schnelles Ende des Krieges schwand, mehrten sich zwar die Stimmen, die auf eine Verständigung mit Putin und Abkehr von der Kriegslogik drängten. Sie gewannen allerdings keinen bestimmenden Einfluss auf die Regierung, deren Kurs sich in weitgehendem Einvernehmen mit den europäischen und transatlantischen Partnern bewegte. Gravierender waren und sind die innenpolitischen Rückwirkungen des Krieges in der Energiefrage. Um den Ausstieg aus der Kohle und Atomkraft gleichzeitig bewältigen zu können, hatte die deutsche Politik fest darauf vertraut, dass ihr beim Übergang in das nachfossile Zeitalter das Gas als Brückentechnologie dienen würde. Knapp die Hälfte der Wohnungen werden hierzulande mit Gas beheizt. Gas ist außerdem ein wichtiger Grundstoff für die chemische Industrie, wo es unter anderem bei der Ammoniakherstellung oder zur Gewinnung von Wasserstoff eingesetzt wird. Um die russischen Lieferungen auszugleichen, muss die Bundesregierung jetzt nicht nur teureres Flüssiggas aus anderen Ländern importieren, sondern als Ersatz auch verstärkt auf die klimaschädlichere Kohle zurückgreifen. Gleichzeitig wächst der Druck, den Umstieg in ein strombasiertes System der Energieversorgung und 10  Vgl. Herfried Münkler, Die europäische Nachkriegsordnung – ein Nachruf, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 28–29/2022, S. 4–9. 11  Olaf Scholz, Nach der Zeitenwende, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.07.2022.

den dazu notwendigen Ausbau der erneuerbaren Energien rascher voranzutreiben – obwohl elementare Voraussetzungen dafür fehlen (etwa genügend Fachkräfte zum Einbau von Wärmepumpen). Am brisantesten jedoch dürften die sozialen Folgen der Wohlstandsverluste sein. Die stark gestiegenen Energiepreise haben die Inflation 2022 auf den höchsten Wert seit den 1970er Jahren getrieben. Gleichzeitig wachsen Frank Decker  —  Die deutsche Demokratie im neuen Krisenzeitalter (II)

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die Sorgen vor einer Rezession. Beides trifft vor allem die Menschen, die Sozialleistungen empfangen oder niedrige Einkommen beziehen. Sie hatten bereits in den letzten Jahren unter stark steigenden Wohnkosten zu leiden. Wie gut ist die Bundesrepublik für die ihr jetzt womöglich bevorstehenden harten Verteilungsauseinandersetzungen gerüstet? Blickt man auf die Entwicklung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der in den vergangenen Jahrzehnten eher ab- als zugenommen hat, besteht Grund zur Skepsis. Auch die früher viel gerühmten partnerschaftlichen Elemente des deutschen Sozialmodells sind in ihrer Wirkung verblasst und für eine diesen Namen verdienende solidarische Kraftanstrengung nur noch begrenzt anschlussfähig. Sucht man nach historischen Analogien, bietet sich als Negativszenario zunächst die Hyperinflation von 1923 an, die die erste deutsche Demokratie bereits nahe an den Abgrund gebracht hatte, bevor die Ende der 1920er Jahre beginnende Weltwirtschaftskrise ihr Schicksal endgültig besiegelte. Das positive Szenario würde eher auf die 1970er Jahre blicken, als die ebenfalls durch den Energiepreisanstieg verursachten Stagflationstendenzen ohne größere gesellschaftliche Verwerfungen bald überwunden wurden. Beide Analogien greifen zu kurz. So wie der Vergleich mit Weimar das über Jahrzehnte aufgebaute demokratische Beharrungsvermögen der zweiten deutschen Republik unterschätzt, so beachtet der Vergleich mit den 1970er Jahren zu wenig die Dimension der Regierbarkeitsprobleme, mit denen es die politischen Akteure und demokratischen Institutionen heute und in Zukunft zu tun haben. Ob und mit welchem Erfolg die Bundesrepublik dieser Probleme Herr werden kann, wird die Geschichte zeigen.

Prof. Dr. Frank Decker, geb. 1964, ist Professor für Politische Systeme am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und seit 2022 Herausgeber der INDES. Letzte Buchveröffentlichung: Baustellen der Demokratie. Von Stuttgart 21 bis zur Corona-Krise, Bonn 2022.

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INTERVIEW

»UNSER WOHLSTANDS­MODELL STEHT AUF TÖNERNEN FÜSSEN« AUSWIRKUNGEN DER PANDEMIE AUF DIE ARBEITSWELT Ξ  Interview mit Berthold Vogel

Ganz grundsätzlich interessiert uns natürlich: Wie hat die Pandemie die Arbeitswelt verändert? Die Veränderungen sind vielfältig und vielleicht auch weniger eindeutig als man vermuten könnte. Wir können nicht sagen, dass sich Covid nur negativ ausgewirkt hätte. So haben öffentliche Berufe und Orte, zum Beispiel die Gesundheitsversorgung, die kommunale Verwaltung oder auch die Schulen mehr Aufmerksamkeit erhalten. Wer hatte in den vergangenen Jahren beispielsweise Gesundheitsämter im Blick? Rasch war klar, dass wir öffentliche Güter oder Leistungen der Daseinsvorsorge zu lange stiefmütterlich behandelt haben. Auch die Themen Solidarität und Zusammenhalt wurden aktualisiert. Die Pandemie verdeutlichte, dass wir gesellschaftlich mit Singularität und Selbstsorge nicht weiterkommen. Wir sind aufeinander angewiesen. Das eigene Verhalten hat Bedeutung für andere – und das Verhalten anderer ist bedeutsam für einen selbst. Dennoch: Es haben sich in der Corona-Zeit auch soziale Abstände und Spaltungen zwischen Branchen und Berufen vertieft. Covid wirkte wie ein Ungleichheitsbeschleuniger. Die Belastungen in der Arbeit waren sehr ungleich verteilt, nicht jeder und jede konnte sich ins Homeoffice zurückziehen. Soziale und produktionsbezogene Berufe trugen ein erheblich höheres gesundheitliches Risiko. Und es zeigte sich auch, dass wir uns als Gesellschaft, aber auch konkret im Arbeitsleben damit schwertun, Solidarität lange auszuhalten. Kurzum, für die Arbeitswelt hatte die Pandemie ambivalente, tendenziell ungleichheitsverstärkende, in jedem Fall konfliktreiche Effekte.

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Es gibt ja sehr unterschiedliche Einschätzungen dazu, ob die Produktivität höher ist, wenn »in Präsenz« oder »im Homeoffice« gearbeitet wird. Wie beurteilen Sie das aufgrund Ihrer Forschungen? Das Vorurteil aus der präpandemischen Zeit sagt: Homeoffice ist Kontrollentzug, lenkt ab und ist notwendigerweise unproduktiv. Aktuelle Forschungen zeigen: Dem ist keineswegs so. Zu Hause zu arbeiten kann sogar produktivitätsförderlich sein. Pendelzeiten entfallen, die Konzentration ist ausgeprägter, die Arbeit selbstbestimmter. Dennoch ist auch klar, ausschließlich Home­office können sich nur die Allerwenigsten vorstellen, denn Arbeit hat immer auch eine soziale Beziehungsseite und ist eben nicht nur berufliche Tätigkeit. Es gibt ja auch die schöne Studie von Arlie Hochschild »Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur die Arbeit wartet«. Dieser Titel bringt die Realität des Arbeitslebens mit einem Augenzwinkern gut auf den Punkt. Der klassische Büroalltag war von »Meetings« strukturiert – obwohl deren Sinn oftmals umstritten ist, sie häufig zum Selbstzweck angesetzt scheinen. Hat Home­ office da etwas zum Positiven verändert – oder trifft man sich jetzt eben genauso oft (und genauso oft überflüssigerweise) per Zoom? Zum Positiven hat sich wohl verändert, dass man sich per Zoom schneller, effizienter und auch über größere Distanzen hin verabreden kann. Manch unnötige Dienstreise kann eingespart werden, das wirkt ja auch stressreduzierend – und sehr viele berichten, dass die Meetings auch strukturierter und effizienter geworden sind. »Zoomen« ist daher eine neue soziale Praxis, die Zukunft hat. Das ändert indes nichts daran, dass jedweder Beruf auch vom persönlichen Austausch lebt. Das passiert in der Kaffeeküche, beim zufälligen Gespräch im Treppenhaus und auch vor oder nach dem Ende eines persönlichen Meetings. Zoom ist ein Zeitgewinn, aber der Wunsch nach Präsenz bleibt bestehen. Auch im Büro ist man nicht in jeder Sekunde produktiv, und auch hier sind die tatsächlichen Kontrollmöglichkeiten der Produktivität durch den Arbeitgeber begrenzt, aber er kann sich eher einer Kontrollillusion hingeben. Kommt es also bei flexiblem Arbeiten mehr denn je auf Vertrauen des Arbeitgebers in seine Arbeitnehmer an? Im Zeitalter der digitalen Techniken kann man ja nicht davon ausgehen, dass man zu Hause am Computer unbeobachtet bliebe. Das Kontrollpotenzial ist riesig und wird und muss arbeitsrechtlich eingehegt werden. Das ist eine Zukunftsaufgabe. Aber genauso richtig ist die Formulierung der »Kontroll­ illusion«. Arbeitgeber sollten auch in einer Präsenzkultur nicht glauben, alles kontrollieren zu können. Es gibt in der arbeits- und organisationssoziologischen Literatur den schönen Begriff des »Unterlebens«, also der Tatsache, dass die

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Regelunterworfenen seit jeher kreative Wege gefunden haben, diese Regeln auszulegen, ihnen partiell auszuweichen oder sich einen eigenen Reim darauf zu machen. Die Digitalisierung schränkt diese Möglichkeiten ein, aber sie wird sie nicht aufheben. Daher bleibt auch in digitalen und pandemischen Zeiten das Thema Vertrauen ganz zentral. Eine gute Arbeitsatmosphäre entsteht immer und nur durch Vertrauen. Misstrauen senkt Arbeitserfolg und Produktivität. Gibt es Erkenntnisse darüber, wer sich mehr und wer sich weniger Homeoffice wünscht? Gibt es da Unterschiede zwischen den Generationen, Geschlechtern, Statusgruppen, Branchenzugehörigkeiten? Sind es möglicherweise auch bestimmte »Typen« von Arbeitnehmer:innen, beispielsweise Introvertierte, denen Home­ office zugutekommt? Wer mag Homeoffice – tendenziell eher Ältere, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die seit vielen Jahren ein Pendlerdasein haben und schon immer auf mehr Homeoffice hofften, sicher auch Akademiker und gut Qualifizierte! Der Bedarf und der Wunsch sind daher ungleich verteilt. Und wir dürfen ja nicht übersehen, dass im weit überwiegenden Teil der Arbeitswelt Homeoffice ohnehin kein Thema ist – nicht für Handwerker, nicht für Produktionsfachkräfte, nicht für den Einzelhandel, nicht für soziale Dienstleistungen. Insofern denke ich, dass es eher eine Frage der Branche und der konkreten beruflichen Anforderungen ist, ob Homeoffice eine Präferenz bekommt, weniger eine Typ- oder Charakterfrage. Wer im Homeoffice arbeitet, spart Zeit für den Anfahrtsweg, kann sich seine Arbeit flexibler selbst einteilen, kann kreative Pausen mit Hausarbeiten füllen, ist leichter ansprechbar für Kinder, Großeltern etc. Erleichtert also der Wandel der Arbeitswelt im Zug der Corona-Pandemie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie? Das bleibt abzuwarten. Zunächst hat ja die Pandemie eher dafür gesorgt, dass sich geschlechtsspezifische Verteilungen von Haus- und Erwerbsarbeit verfestigen. Von mehr Familienfreundlichkeit war eher selten die Rede. Wenn alles von zu Hause aus geschieht oder geschehen muss, dann macht es die Sache ja nicht besser. Mein Eindruck ist eher, dass die Aufhebung der Trennung von Arbeitsort und Lebenszusammenhang erheblich stress- und belastungssteigernd wirkt. Und dann – um nochmal mit Hochschild zu sprechen – wartet zu Hause die »ganze Arbeit« und jeder Freiraum geht verloren. Denn Arbeit im Betrieb, in der Firma, im Büro ist eben nicht nur Entfremdung! Das analoge Arbeitsleben ist in Deutschland hochgradig verrechtlicht, Arbeitsund Schutzrechte spielen eine große Rolle. Wie kann das Homeoffice gegen die Interview mit Berthold Vogel – »Unser Wohlstands­m odell steht auf tönernen Füßen«

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Entgrenzung der Arbeitszeit, gegen Ausbeutung und Arbeitsverdichtung geschützt werden? Was ist dafür nötig? Eine große Aufgabe für das Arbeitsrecht. Nicht einfach zu lösen, aber wohl notwendig. Es ist richtig, die Grundlage des Arbeitsrechts ist der Betrieb, diese Perspektive muss sich wohl – Pandemie hin oder her – ändern. Und sie wird sich ändern! Viel ist die Rede davon, dass sich durch die Corona-Pandemie die soziale Spaltung der Gesellschaft weiter vertiefe: Die sozial Schwächeren werden eher krank, erkranken häufiger schwer, können sich schlechter isolieren, leiden stärker unter Schulschließungen etc. – und haben weniger Möglichkeiten, von zu Hause zu arbeiten. Ist aber das Arbeiten im Homeoffice tatsächlich ein Privileg? Nun ja, es sind ja nicht nur die Arbeitsbedingungen, die Gesundheitsrisiken in einer Pandemie erhöhen, sondern auch die Lebensbedingungen. Wie wohne ich, wieviel Wohnraum steht mir zur Verfügung, über welches soziale Umfeld verfüge ich, kann ich auf eine gute Infrastruktur zurückgreifen? Und wir sehen eben auch, dass prekäre Beschäftigungsbedingungen in der Regel mit ungünstigen Wohnbedingungen korrespondieren. Homeoffice oder der Zwang, zu Hause zu bleiben, ist dann ein Risiko eigener Qualität. Insofern stimmt die Formel, wer ins Home­office konnte, der oder die konnte sich besser vor gesundheitlichen Risiken schützen, eben auch nicht pauschal und allerorten. Die Gesellschaft ist ungleich und die Pandemie hat diese Ungleichheit unverstellt sichtbar gemacht und markant verstärkt. Ausgiebig wurde bereits beklagt, dass es gerade die als »systemrelevant« eingestuften Berufe sind, die paradoxerweise besonders schlecht bezahlt sind und deren Wertschätzung sich häufig auf rein symbolische Handlungen wie Klatschen vom Balkon beschränkt. Auch nach zweieinhalb Jahren Pandemie sind beispielsweise die Pflegetätigkeiten im Gesundheitssektor noch eklatant unterbesetzt und -bezahlt. Wird sich Ihrer Ansicht nach daran noch etwas ändern? Und wenn Corona hier schon keinen Wandel gebracht hat – was könnte es dann? Dass es keinen Wandel gegeben hätte und nur geklatscht worden wäre, das stimmt ja nicht so ganz. Gerade im Gesundheits- und Pflegesektor ist etwas in Bewegung gekommen, mit Blick auf Entlohnung und Arbeitsbedingungen. Das ist immer noch nicht ausreichend, aber es ist auch nicht nichts. Und der Fachkräftemangel, der ja auch demografisch bedingt ist, wird den Druck weiter hochhalten. Der echte Pflegenotstand steht ja noch bevor, wenn die Babyboomer in das entsprechende Alter kommen.

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Wie verträgt sich der Wandel der Arbeitswelt mit dem allgemein beklagten Nachholbedarf Deutschlands in puncto Digitalisierung? Hat sich der Digitalisierungsschub, auch mit Blick auf den Einsatz Künstlicher Intelligenz, während der Pandemie beschleunigt? Selbstverständlich gab es einen Schub für digitale Tools, auch privat, aber sicher vor allem in der Arbeitswelt. Die Pandemie hat Dinge selbstverständlich gemacht, die vorher nur zögerlich voran gingen. Das geht vom Bezahlen mit Karte bis zu den schon angesprochenen Zoom-Meetings. Aber die anfängliche Euphorie derjenigen, die die Digitalisierung für die Lösung aller Probleme halten, kühlte dann doch rasch ab. Und technologisch beziehungsweise mit Blick auf Künstliche Intelligenz erleben wir ohnehin rasante Veränderungen, die ganz unabhängig von der Pandemie stattfinden. Hier gilt es gerade in der Arbeitswelt achtsam zu sein und auf Aspekte der Humanisierung hinzuweisen. Digitalisierung ist gestaltbar! Betriebe sind nicht nur Orte bisweilen harter, ermüdender Arbeit, sondern auch Räume der Gemeinschaft, des Austausches, des Knüpfens von Freundschaften, von Geselligkeit. Geht da durch eine Verlagerung hin zu virtuellen Konferenzen und Kontaktformen unwiderruflich ein wichtiger Faktor für die Lebenszufriedenheit verloren? Wie kann Teambuilding unter den Vorzeichen einer verbreiteten Homeoffice-Kultur noch gelingen? Am Anfang der Pandemie wurde ja behauptet, Covid sei der Durchbruch für die allseitige Digitalisierung der Arbeitswelt. Doch weit gefehlt. Sichtbar wurden in der Pandemie vor allem die Grenzen der Digitalisierung. Weder kann Digitalisierung lebensnotwendige Dienstleistung ersetzen, noch das, was Arbeiten, Kooperation, Kollegialität ausmacht. Digitalisierung ist ein gutes Hilfsmittel, aber keine Lösung für die sozialen Herausforderungen der Arbeitswelt. Ein schönes Beispiel sind ja auch die Schulen und Universitäten. Ist digitales Lernen wirklich wünschbar? Doch wohl eher nicht! Lernen, Bildung, Persönlichkeitsentwicklung brauchen Nähe und persönliche Beziehungen, aber keine Tablets und Whiteboards. Ich bin auch skeptisch, ob wir tatsächlich auf eine »Homeoffice-Kultur« zusteuern. Homeoffice wird künftig eine größere Rolle spielen, es wird auch selbstverständlicher und legitimer sein, keine Frage, aber es ist nicht die Zukunft der Arbeitswelt. Die Gewerkschaften waren traditionell besonders stark in Zeiten und Branchen, in denen viele Beschäftigte auf engem Raum zusammenarbeiteten, die Stichworte lauten: Großbetrieb, Produktionshalle, Massenfertigung. Das setzt unmittelbare Interview mit Berthold Vogel – »Unser Wohlstands­m odell steht auf tönernen Füßen«

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Begegnung und direkten Kontakt voraus. Sind die Gewerkschaften auf eine Verlagerung des Arbeitslebens in den digitalen Raum vorbereitet? Für die Gewerkschaften ist das keine einfache Situation, denn ihre Stärke bezogen sie stets aus der Betrieblichkeit der Erwerbsarbeit. Das wandelt sich und hierauf müssen sie reagieren. Das tun sie auch, darauf sind sie je nach Branche und Sparte auch mehr oder weniger vorbereitet, aber es macht die Sache nicht leichter. Dennoch: Neue Kommunikationsformate für gewerkschaftliche Themen und vor allem eine erhöhte Präsenz vor Ort, im Lebensumfeld der Menschen, sind erfolgversprechende Strategien. Aber klar, das Brett, das hier zu bohren ist, ist sehr dick. Haben die Pandemieerfahrungen ganz existenziell das Verständnis von Arbeit ins Wanken gebracht bzw. mit anderen Worten: Hat sich der Stellenwert von Berufs­tätigkeit verändert, sind andere Dinge angesichts dieser Krise wichtiger geworden? Ich denke nicht. Der Stellenwert von Beruf und Erwerbsarbeit wurde durch die Pandemie nicht grundsätzlich infrage gestellt. Eher wurde die Frage aufgeworfen, welcher Art muss Arbeit sein und welche gesellschaftlichen Bedarfe nach welcher Arbeit haben wir. Doch auf diese Herausforderung zu reagieren, ist ohnehin überfällig. Insofern hat die Pandemie die Dringlichkeit der Fragestellung eher unterstrichen und einmal mehr die Bedeutsamkeit von gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten hervorgehoben. Immer wieder ist die Rede von der »Great Resignation«. Inwiefern ist seit der Pandemie tatsächlich eine höhere Kündigungsbereitschaft seitens der Arbeitnehmer zu beobachten, und wenn ja, was steckt dahinter? In den angelsächsischen Ländern ist oder war das wohl so. Hierzulande eher weniger. Bei dem akuten Fach- und Arbeitskräftemangel, den wir aktuell erleben, handelt es sich eher um die Kumulation von mehreren Faktoren. Die demografische Entwicklung spielt eine wichtige Rolle, aber auch betrieblicherseits die Ausbildungsmüdigkeit der vergangenen Jahre und schließlich die fehlende Attraktivität der Arbeit in bestimmten Branchen. Hat die geteilte Erfahrung des Leidens an den Einschränkungen des Alltags in der Pandemie zu einer neuen Offenheit in Fragen der psychischen Gesundheit im Arbeitsleben geführt? Das ist eine sehr gute Frage, die wir vor allen Dingen im Kontext von Long Covid diskutieren müssen. Es wäre ein großer Fortschritt, wenn wir hier eine neue Debatte zu Fragen der psychischen Gesundheit anstoßen könnten.

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Niedersachsen ist hier sehr aktiv. Früh haben verschiedene Ministerien, insbesondere das Wissenschaftsministerium in Hannover, die Thematik Long Covid aufgegriffen, als medizinische und soziale Frage. Insofern wird hier forschungsseitig im Rahmen der Pandemie eine Tür aufgestoßen, um zu besseren Erkenntnissen zu kommen, und um die Gesellschaft, Arbeitgeber, Gewerkschaften für dieses Thema zu sensibilisieren. Ich selbst bin hier für die Soziologie aktiv beteiligt und erlebe eine produktive Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen aus der Medizin, aus der Versorgung und aus der Politik. Während der Pandemie scheinen die meisten verstanden zu haben, dass es auch für den Arbeitgeber wenig Sinn ergibt, wenn man sich im Sinne einer Kultur des Präsentismus auch krank an den Arbeitsplatz schleppt. Wird diese Erfahrung auch nach der Pandemie zu weniger »working when sick« führen? Das könnte man vermuten, auch hoffen. Aber ich bin skeptisch. Wir sehen schon jetzt in aktuellen Umfragen, dass zehn Prozent derjenigen, die sich selbst Corona-positiv testen, dennoch zur Arbeit gehen. Aus Druck, aber auch weil sie es sich zumuten wollen. Und ich denke, wir haben während der ganzen Pandemie immer wieder eine hohe Dunkelziffer bei denjenigen gehabt, die noch krank wieder zur Arbeit kamen, im Handwerk, wenn der Chef Druck macht, Kunden meckern, die Baustelle fertig werden muss – und der Verdienstausfall soll ja auch klein gehalten werden. Welche Auswirkungen haben hybride Arbeitsweisen auf die allgemeine Organisation der Arbeit? Großraumbüros scheinen mittlerweile »out« zu sein: erstens wegen der Ansteckungsgefahr, zweitens aktuell wegen ihrer (bislang höchstens atmosphärisch bemängelten) Kälte. Was vermuten Sie, welche Formen und Ästhetiken des (Zusammen-)Arbeitens werden populär werden? Und könnte Homeoffice auch zu einer (Re-)Vitalisierung von Quartieren führen, da nun Viertel (wieder) zunehmend gemischt genutzt werden und die vormalige Trennung zwischen Arbeits- und Wohngegend verwischt – und damit sogar der fortschreitenden Verödung der Innenstädte etwas entgegensetzen? Der Fragekomplex Arbeitsorganisation und Arbeitsorte ist hoch interessant. Erwerbsarbeit und Betrieb sind ja auch soziale Orte, Kreuzungspunkte, an denen Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit verschiedenen beruflichen Qualifikationen zusammenkommen. Hier treffen Milieus, Statusgruppen und soziale Klassen aufeinander. Was passiert nun, wenn Arbeitsorte ihre Zentralität verlieren oder Arbeit immer öfter nicht mehr an gemeinsam geteilten Orten stattfindet? Gefährdet das den Zusammenhalt der Gesellschaft? Interview mit Berthold Vogel – »Unser Wohlstands­m odell steht auf tönernen Füßen«

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Eröffnet es neue Freiheitsräume? Wahrscheinlich beides; und daher kommt es in Zukunft noch sehr viel mehr als in der Vergangenheit darauf an, wie und wo Arbeit organisiert und gestaltet wird. Architektonische Fragen spielen eine Rolle, der Städtebau und die Infrastrukturen kommen ins Spiel, die Gleichwertigkeit von Stadt und Land wird Thema. Und möglicherweise erleben wir ohnehin zurzeit eine Aufwertung des Lokalen. Die unmittelbaren Lebensbezüge, die sozialen Nahumfelder der Arbeit werden wichtiger. Die Pandemie hat hier einen Anstoß gegeben, aber insgesamt erkennen wir einen Trend, Arbeit nicht mehr nur global, sondern auch lokal zu denken. Das korrespondiert dann auch wieder mit Fragen der Energiewende und des klimagerechten Wirtschaftens. Regionale Wirtschaftskreisläufe werden aufgewertet, soziale Innovationen vor Ort sind attraktiv, Bürgerenergie­ systeme denken die Energiewende aus der Kommune und nicht nur top-down. Insgesamt müssen wir Erwerbsarbeit und Lebenswirklichkeiten in Familie, Nachbarschaft und Region stärker aufeinander beziehen. Die strikte Trennung von Arbeit und Leben entspricht nicht mehr den Erwartungen insbesondere der jüngeren Generation. Diese Veränderungen werden die Zukunft der Arbeit mindestens ebenso stark beeinflussen wie beispielsweise der technologische Wandel durch die Digitalisierung. Welche Jobs fallen in einer neuen postpandemischen Arbeitswelt weg oder werden weniger benötigt? Was für neue Jobprofile entstehen dafür oder sind unter diesen Bedingungen stärker nachgefragt? Das ist schwer zu prognostizieren. Die Pandemie spielt hier möglicherweise auch nicht die entscheidende Rolle, wichtiger sind wohl Dekarbonisierung, klimagerechtes Wirtschaften und die generelle Frage nach der industriellen Zukunft. Die Pandemie hat unterstrichen, wie wichtig Gesundheitsberufe sind, wie wichtig aber auch eine gute kommunale Verwaltung ist, die Krisen aus dem lokalen Raum heraus zu managen fähig ist. Der ausbleibende Pendelverkehr des ersten Lockdowns schuf eindrückliche Bilder morgendlicher leerer Straßen. Warum wurden diese klimaschonenden Effekte offenbar so wenig von beispielsweise der grünen Partei genutzt und als wünschenswerter Dauerzustand postuliert? Andererseits verbraucht massenhaftes virtuelles Arbeiten viel Strom. Erleichtert oder erschwert der Wandel der Arbeitswelt die Energiewende? Und was wäre Ihrer Ansicht nach zu tun? Bruno Latour, der kürzlich verstorbene französische Soziologe, sprach zu Beginn der Pandemie davon, dass Covid die Generalprobe für unsere Bewältigungsfähigkeit des Klimawandels sei. Ist diese Generalprobe geglückt?

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Man darf seine Zweifel haben, denn im Prinzip drängt alles zur Rückkehr in eine vermeintliche neue Normalität, die sich möglichst wenig von der alten unterscheiden soll. Die Pandemie war am Anfang eine radikale Erfahrung und Sie haben recht, das Produktive, das diese radikale Erfahrung auch enthält, wurde politisch nicht thematisiert. Der Klimawandel wird uns noch viel mehr Veränderung zumuten, daher wurde hier eine erste Chance verpasst. Aber dennoch: Die Grunderfahrung, dass unsere Lebens- und Arbeitsweise sowie unser Wohlstandsmodell auf tönernen Füßen stehen, verwundbar ist, haben wir nun kollektiv gemacht. Wir müssen jetzt die Konsequenzen ziehen und in ein Zeitalter der Resilienz kommen. Erwarten Sie, dass der coronabedingte Wandel der Arbeitswelt von Dauer ist? Oder werden wir nach dem Ende der Pandemie die Wiederherstellung der Arbeitsweisen aus der Zeit vor der Pandemie erleben? Corona hat die Arbeitswelt verändert, verändert sie immer noch und es wird keine Rückkehr in eine Zeit davor geben. Arbeits- und Gesundheitsschutz müssen konsequent weiterentwickelt werden, das Arbeitsrecht bedarf neuer Justierung, wenn das Zuhause ein relevanter Erwerbsarbeitsort wird. Über das Pendeln und über Dienstreisen denken wir heute in anderer Weise als zuvor. Zoomen ist eine neue Kommunikationsrealität. Und wir haben mit der Frage nach der Systemrelevanz einen neuen und nachhaltigen Blick auf den gesellschaftlichen Wert bestimmter Branchen, Berufe, Tätigkeiten geworfen. Auch diese Fragen nach Wert und Wertschätzung bleiben präsent. Corona stellt nicht alles auf den Kopf, aber es ist auch mehr als eine kurze Unterbrechung des Alltags der Arbeitswelt. Hinzu kommt, dass wir heute noch gar nicht abschätzen können, was Long Covid in sozialer und in arbeitsgesellschaftlicher Hinsicht bedeutet. Und wie werden wir darauf reagieren, wenn ein bestimmter Prozentsatz an Erwerbstätigen nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr erwerbsfähig ist? Vielleicht steckt in dieser Entwicklung mehr disruptive Kraft, als wir aktuell annehmen. Das Interview führten Volker Best, Matthias Micus und Katharina Rahlf.

Prof. Dr. Berthold Vogel ist Soziologe und Geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) an der GeorgAugust-Universität. Er forscht aktuell zu den Folgen der Pandemie für die Arbeitswelt, zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und sozialen Innovationen.

Interview mit Berthold Vogel – »Unser Wohlstands­m odell steht auf tönernen Füßen«

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ANALYSE

WISSENSCHAFT IN DER KRISE PREKÄRE ARBEITSBEDINGUNGEN IN CORONA-ZEITEN Ξ  Amrei Bahr / Kristin Eichhorn / Sebastian Kubon Selten hat Wissenschaft in der öffentlichen Wahrnehmung so viel Aufmerksamkeit erhalten wie in der Corona-Pandemie: Urplötzlich waren insbesondere virologische und epidemiologische Erkenntnisse gefragt und in aller Munde. Dies hatte einerseits eine Zunahme von Angriffen aus einem wissenschaftsfeindlichen Milieu zur Folge, andererseits erhielt eine breite Öffentlichkeit so zumindest einen ersten Eindruck vom wissenschaftlichen Erkenntnisprozess einiger Disziplinen. Zum Wissen über wissenschaftliche Arbeitsweisen gehört indes auch eine gewisse Kenntnis der Rahmenbedingungen, innerhalb derer in Deutschland geforscht (und gelehrt) wird – diese waren gemeinhin ähnlich unbekannt wie das konkrete methodische Vorgehen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen.  Was sich in den Diskussionen um virologische Forschung punktuell erahnen ließ, aber nicht im Zentrum der Debatte stand: Wissenschaft ist in Deutschland inzwischen größtenteils projektorientiert. Das heißt, dass verschiedene Institutionen – die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und andere öffentliche oder private Geldgeber – für einen kurzen Zeitraum Mittel zur Erforschung bestimmter Fragestellungen zur Verfügung stellen. So war die Wissenschaftslandschaft 2020/21 etwa von einer ganzen Reihe von Programmen zur Erforschung der Pandemie und ihrer Folgen geprägt, von denen einige inzwischen wohl schon wieder ausgelaufen sind.1 Jetzt muss man wieder sparen – bis die nächste Krise kommt, für die die Wissenschaft schnell Antworten bereitstellen soll. Aber ist das wirklich ein zielführender Ansatz zum Umgang mit Krisen? DER AUFBAU WISSENSCHAFTLICHER EXPERTISE ZUR ­ RISENBEWÄLTIGUNG BRAUCHT ZEIT K Solange Forschung vor allem kurzfristig und zeitlich begrenzt gefördert wird, bleibt es schwierig, angemessen auf Krisen zu reagieren: In vielen Feldern ist

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1  Unlängst hat das BMBF seine Förderrichtlinien geändert und die Finanzierung zahlreicher Projekte eingestellt, deren Fortsetzung mündlich bereits zugesichert war. Dies hat für viel Wirbel in der Wissenschaft gesorgt. Vgl. z. B. Jan-Martin Wiarda, Einfach nicht hinzunehmen, in: Blog von Jan-Martin Wiarda, 26.07.2022, https://tiny.one/indes223w1; Ders., Gekürzte Projektförderung: BMBF reagiert auf IntransparenzVorwürfe, in: Blog von Jan-Martin Wiarda, 27.07.2022.

es praktisch unmöglich, innerhalb von drei Jahren hochspezialisierte und am besten gleichzeitig anwendungsorientierte »Ergebnisse« vorzulegen. Denn in einem derart kurzen Zeitraum ist seriöse Forschung zu vielen Themen gar nicht durchführbar. Wenn für ein Forschungsprojekt tragfähige Formen der Umsetzung gefunden sind, läuft die Finanzierung häufig schon wieder aus und die Projektleiter:innen müssen ihre Energie statt in die Forschung in neue Anträge investieren. Scheitern diese Bemühungen, kommen viele der angestrebten Erkenntnisse gar nicht zustande, werden Ergebnisse mitunter nicht veröffentlicht oder bleiben qualitativ weit hinter dem zurück, was mit mehr Zeit möglich gewesen wäre. Das investierte Geld ist wegen der Kurzfristigkeit und Kurzsichtigkeit seiner Anlage letztlich also umsonst ausgegeben worden – und auch für die Bewältigung von Krisen ist damit wenig gewonnen. Es ist aber nicht nur die kurzfristige Finanzierung von Forschungsprojekten, die die Krisenfestigkeit der deutschen Wissenschaft essenziell gefährdet. Wissenschaftliche Arbeit findet in Deutschland häufig unter Bedingungen statt, die wesentliche Schutzmechanismen des deutschen und europäischen Arbeitsrechts außer Kraft setzen. Der überwiegende Teil des wissenschaftlichen Amrei Bahr / Kristin Eichhorn / Sebastian Kubon  —  Wissenschaft in der Krise

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Personals ist befristet angestellt: Nach aktuellen Zahlen gilt das für 92 Prozent aller Wissenschaftler:innen unter 45 Jahren ohne Professur.2 Man kann aufgrund der Kettenbefristungen als Wissenschaftler:in in Deutschland bis etwa Mitte vierzig kaum mehr als zwei bis drei Jahre im Voraus planen (wenn man überhaupt so einen langen Vertrag hat), wird für die »Karriere« immer wieder umziehen oder hunderte Kilometer zum Arbeitsplatz pendeln und sehr viel unbezahlte Mehrarbeit leisten: Im Schnitt arbeiten nichtpromovierte Wissenschaftler:innen in der Woche 13 Stunden mehr, als in ihrem Arbeitsvertrag steht; Promovierte kommen auf zehn Stunden Mehrarbeit pro Woche.3 Wenn befristete Verträge einfach auslaufen und es keiner Kündigung bedarf, um Personal »loszuwerden«, wird die gesamte Vertragsdauer zur Probezeit. Damit entsteht ein enormes Machtgefälle zwischen Arbeitgeber:in (der Institution und ihrer Verwaltung oder den individuellen Vorgesetzten) einerseits und angestellten Wissenschaftler:innen andererseits. Grundlagen des Arbeitnehmerschutzes werden damit praktisch ausgehebelt: Bestehende Rechte werden aus Angst, die eigene Karriere zu gefährden, äußerst selten eingefordert oder gar juristisch durchgesetzt. Somit stellt sich die wissenschaftliche Laufbahn für viele Wissenschaftler:innen als jahrelange berufliche Krise voller Unsicherheiten und Abhängigkeiten dar. WISSENSCHAFTSZEITVERTRAGSGESETZ UND PROJEKTFÖRMIGE FINANZIERUNG STÜRZEN WISSENSCHAFTLICHE ARBEIT IN DIE KRISE Eine Ursache für die krisenhafte Situation in der deutschen Wissenschaft ist das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ( WissZeitVG), ein ausschließlich in der Wissenschaft geltendes Sonderbefristungsrecht, das seit 2007 die Befristungspraxis in der Wissenschaft regelt – gegenwärtig in der Novellierung von 2016.4 Zur Qualifizierung können Wissenschaftler:innen maximal sechs Jahre vor und sechs Jahre nach der Promotion befristet werden (inkl. verschiedener Ausnahmeregelungen, auf die allerdings häufig kein Anspruch besteht, sodass Wissenschaftler:innen regelmäßig der Willkür ihrer Institutionen ausgesetzt sind). Unter den schwammigen Begriff »Qualifizierung« wird jedoch nicht nur die Arbeit an der Promotion und der Habilitation gefasst, sondern jede Tätigkeit, mit der »eine wissenschaftliche […] Kompetenz gefördert wird, die in irgendeiner Form zu einer beruflichen Karriere auch außerhalb der Hochschule befähigt«, wie kürzlich das Bundesarbeitsgericht festgestellt hat.5 Was woanders als Erwerb von Berufserfahrung gilt, wird in der Wissenschaft als Qualifizierung gerahmt – mit dem Zweck, Wissenschaftler:innen umfänglich befristen zu können. Zwar ist eine Entfristung rechtlich jederzeit möglich,

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2  Vgl. Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs: Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021, https://tiny.one/indes223w2, S. 29. 3  Vgl. ebd., S. 123. 4  Vgl. zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz und seiner Geschichte Friedrun Domke, Das Befristungsrecht des wissenschaftlichen Personals an deutschen Hochschulen zwischen wissenschaftlicher Dynamik und sozialer Sicherheit. Eine Untersuchung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, Diss. Jur. Köln 2019, Baden-Baden 2020. 5  Vgl. BAG, Urteil vom 02.02.2022-7 AZR 573/20, https://tiny.one/indes223w3.

jedoch erfolgt sie nur in Ausnahmefällen. Wer es also nicht innerhalb von zwölf Jahren auf eine Professur schafft, fliegt meist aus dem System, das damit zugleich die Fähigkeiten, Erfahrungen und Kenntnisse der betreffenden Person einbüßt – und damit auch einen beachtlichen Teil seiner Kompetenz zur inner- wie außerakademischen Krisenbewältigung. Die Verwaltungen scheuen nichts so sehr wie ein »Einklagerisiko« – in der Folge stehen immer wieder zahlreiche aus Steuermitteln hochqualifizierte Wissenschaftler:innen im vierten und fünften Lebensjahrzehnt vor der Herausforderung, als Quer­ einsteiger:innen in einer anderen Branche Fuß zu fassen. Das ist einerseits 6  Vgl. Felix Grigat, Universitäten zu 50 Prozent aus Projektund Drittmitteln finanziert, in: Forschung und Lehre, 05.04.2018, https://tiny.one/indes223w4. 7  Vgl. Esther Ostmeier & Isabell M. Welpe, Innovation in Forschung und Lehre. Was hemmt, was fördert? – Ergebnisse einer Umfrage unter Professoren und Professorinnen, in: Forschung & Lehre, H. 9/2021, S. 730–732. 8  Vgl. Ariane Leendertz, Wissenschaftler auf Zeit. Die Durchsetzung der Personalpolitik der Befristung in der Max-PlanckGesellschaft seit den 1970erJahren, MPIfG Discussion Paper, H. 15/2020, S. 1–35, https://tiny. one/indes223w5. 9  Vgl. Sebastian Kubon, Frist first: Über die Entstehung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes und die Begriffe Innovation, Fluktuation und Qualifikation als ideologische Grundlagen und Dogmen, in: Amrei Bahr u. a. (Hg.), #95vsWissZeitVG. Prekäre Arbeit in der deutschen Wissenschaft, Marburg 2021, S. 12–32. 10  Auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat jüngst in einem Kurzgutachten festgehalten, dass er einen kausalen Zusammenhang zwischen Innovationen im Hochschulsystem und Befristungspraktiken nicht entdecken könne, vgl. Amory Burchard, Dauerstellen an der Uni, in: Tagesspiegel, 23.09.2022, https://tiny.one/indes223w6.

Steuermittelverschwendung und zeugt andererseits von der besonderen Verantwortungslosigkeit des Staates gegenüber seinen Wissenschaftler:innen. Lange wird man sich ein solches Vorgehen auch nicht mehr leisten können, denn eine innerwissenschaftliche Besetzungskrise zeichnet sich bereits ab: Unter den gegenwärtigen Bedingungen vermelden einige Disziplinen schon jetzt Probleme, Personal zu finden. Da all das in eklatantem Widerspruch zum übrigen Arbeitsrecht steht, verliert Wissenschaft als Beruf gegenüber anderen Branchen beständig an Attraktivität. Ursächlich für die hohen Befristungszahlen ist zudem die in den letzten Jahren vorgenommene Verschiebung der Finanzierung von Grund- zu Drittmitteln, die an manchen Hochschulen mittlerweile fast fünfzig Prozent der Gesamtsumme ausmachen.6 Das führt zur oben beschriebenen Kurzfrist-­ Finanzierung von Forschung. Kettenbefristungen wirken sich auch negativ auf andere Aktivitäten von Wissenschaftler:innen aus, darunter Lehre, Wissenschaftskommunikation und Transfer. Neuere Studien haben ergeben, dass in den MINT-Fächern diese kurzfristigen Finanzierungen massive Auswirkungen auf die Personalsituation und die Kontinuität der Arbeitsgruppen haben, sodass hier Innovation und die Erforschung längerfristiger Phänomene behindert werden.7 Selbst die außeruniversitären Forschungseinrichten wie die Max-PlanckGesellschaft befristen allerdings ausgiebig, obgleich diese Einrichtungen viel weniger auf Drittmittel angewiesen sind als die Hochschulen – die Finanzierung ist somit nicht der einzige Faktor.8 Die fest angestellte Spitze befristet umfänglich, weil es ihr durch das WissZeitVG ermöglicht wird – und rechtfertigt die Befristungen mit der durch nichts belegten Behauptung, dass Fluktuation Innovation befördere:9 Es gibt keine Hinweise auf einen kausalen Zusammenhang zwischen Innovation und Befristungspraxis.10 Auch in der Professor:innenschaft scheint es mitunter als Vorteil angesehen zu werden, abhängige Mitarbeiter:innen zu haben, die um den nächsten Vertrag bangen müssen. Denn dies stärkt die ohnehin übermächtige Position der entfristeten Amrei Bahr / Kristin Eichhorn / Sebastian Kubon  —  Wissenschaft in der Krise

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Ebene und begünstigt so nicht selten Machtmissbrauch – eine weitere Krise innerhalb der Wissenschaft, die dringend der Bewältigung bedarf. #ICHBINHANNA: EIN KIND DER PANDEMIE Diese unhaltbaren Zustände sind innerhalb der Wissenschaft schon seit Jahren bekannt, wurden aber selten offen thematisiert. Der Grund: die bestehenden Abhängigkeiten. Man hatte Sorge, es sich mit den Vorgesetzten zu verderben und dafür entsprechend abgestraft zu werden. Man könnte die nächste Vertragsverlängerung aufs Spiel setzen oder den erfolgreichen Abschluss der eigenen Promotion, denn Vorgesetzte und Promotionsbetreuer:innen sind in Deutschland in der Regel identisch. An dieser Zurückhaltung hat sich in der Pandemie jedoch einiges geändert. Via Twitter ist ein intensiver Austausch über die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft entstanden. Bereits im Oktober 2020 fanden wir – Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon – uns über Twitter zusammen, um in Anlehnung an den Reformationstag 95 Thesen gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz zu sammeln.11 Und am 10. Juni 2021 wurde #IchBinHanna geboren. Die Aktion geht zurück auf ein inzwischen gelöschtes Video des BMBF aus dem Jahr 2018, das anhand einer fiktiven Doktorandin namens Hanna das Wissenschaftszeitvertragsgesetz erklärte – beziehungsweise anpries, hieß es doch im Video, die Befristung verhindere, »dass eine Generation alle Stellen verstopft«, und »Fluktuation« fördere die »Innovationskraft«.12 Mit dem Hashtag #IchBinHanna konnten sich tausende Wissenschaftler:innen identifizieren und stellten der Trickfigur Hanna Beispiele aus dem realen Leben entgegen. Was heißt es wirklich, sich über Jahrzehnte von Vertrag zu Vertrag hangeln zu müssen? Es produziert eine überaus belastende, krisenhafte Situation, die der im Video propagierten Chancengleichheit Hohn spricht. Wer in der Wissenschaft Karriere machen will, muss es sich leisten können. Finanzielle Rücklagen oder Unterstützung durch die Familie sind nötig, um Phasen der Arbeitslosigkeit überbrücken und das Risiko geringer Rentenzahlungen aufgrund von jahrelanger Teilzeitarbeit auffangen zu können. Diese Familie sollte dann aber ihrerseits keine Ansprüche an die Zeit des Wissenschaftlers oder der Wissenschaftlerin stellen, denn wer sich um Kinder oder pflegebedürftige Angehörige kümmern muss, fällt unweigerlich gegenüber der Konkurrenz zurück, die in dieser Zeit schon das nächste Paper schreibt und damit ihre Chancen auf eine Professur verbessert. Menschen mit Behinderungen können nicht ständig umziehen; Personen mit ausländischem Pass sehen sich zusätzlichen Hürden gegenüber, wenn ihr Aufenthaltsstatus vom Verlängerungsvertrag abhängt, den sie erst am ersten Arbeitstag erhalten (wenn nicht sogar erst danach) usw.

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11  Die Thesen liegen mittlerweile ebenfalls gedruckt vor, zusammen mit Erfahrungsberichten und drei Essays: Amrei Bahr u. a. (Hg.), #95vsWissZeitVG. Prekäre Arbeit in der deutschen Wissenschaft, Marburg 2021. Online finden sich die Thesen zudem weiterhin unter https://95vswisszeitvg.wordpress.com. 12 

https://tiny.one/indes223w7.

WISSENSCHAFTLICHES ARBEITEN IN DER PANDEMIE: EIN SPIEGEL MANGELNDER CHANCENGERECHTIGKEIT Bestehende Unterschiede im Hinblick auf Chancengerechtigkeit sind in der Corona-Pandemie besonders deutlich geworden: Es gab die wenigen, die angesichts ausgefallener Meetings endlich einmal Zeit hatten, sich in Ruhe ihrer Forschung zu widmen; aber die große Masse sah sich Schwierigkeiten gegenüber, die zu den bereits bestehenden noch hinzutraten: Die Umstellung auf digitale Lehre erforderte Mehrarbeit (gleichzeitig ohne Wert für die Karriere), während zu Hause Kinder zu betreuen waren. In kleinen Wohnungen, wie sie für befristete Teilzeitangestellte typisch sind, ließen sich kaum zwei Videokonferenzen gleichzeitig durchführen. Labore und Bibliotheken waren geschlossen: verschmerzbar für Personen mit unbefristetem Vertrag, existenzbedrohend für diejenigen, deren Arbeitsvertrag vom Fortschritt ihrer Qualifikationsarbeit abhing. Es dürfte diese Gemengelage gewesen sein, die – zusammen mit der verstärkten Umstellung auf digitale Kommunikation – dafür sorgte, dass im Juni 2021 die Zeit für einen öffentlichen Aufschrei reif war. Wurden bei der Aktion #95vsWissZeitVG im Herbst 2020 noch mehr die Strukturen beschrieben, die für Wissenschaftler:innen und die Wissenschaft selbst schädlich sind, bekam bei #IchBinHanna das höchstqualifizierte wissenschaftliche Prekariat nun ein Gesicht mit einer persönlichen Geschichte, was die Problematik und die strukturelle Perspektivlosigkeit unmittelbar verständlich machte. Auf einmal wurden die Geschichten nicht mehr anonym, sondern mit Klar­namen gepostet. Durch die enorme Beteiligung verließ #IchBinHanna schnell den 13  Siehe den Pressespiegel auf https://ichbinhanna.wordpress.com. 14  Vgl. Jörn Sommer u. a., Evaluation des novellierten Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, Hannover 2022, https:// tiny.one/indes223w8. Vgl. auch die parallel erschienene alternative Evaluation von Mathias Kuhnt u. a., Arbeiten unter dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Eine Evaluation von Befristungsrecht und -realität an deutschen Universitäten, 2022, https://tiny.one/indes223w9. 15  Amrei Bahr u. a., Ein Gesetz, das sich ehrlich macht, in: Blog von Jan-Martin Wiarda, 06.07.2022, https://tiny. one/indes223w10.

Resonanzraum Twitter; auch die klassischen Medien entdeckten nun das Thema prekäre Arbeit in der Wissenschaft und berichten darüber seither so viel wie nie zuvor.13 MASSNAHMEN FÜR EINE KRISENFESTE WISSENSCHAFT Inzwischen ist die offizielle Evaluation des WissZeitVG erschienen14 und eine Reform des Gesetzes angekündigt. Der konkrete Änderungsbedarf liegt auf der Hand und wir haben ihn an anderer Stelle bereits ausführlich dargelegt:15 Es braucht Mindeststandards für die Promotion, die eine Erstvertragslänge von mindestens vier Jahren bei Hundert-Prozent-Stellen in allen Fachbereichen vorsehen. Vor allem aber muss die Postdoc-Befristung aus dem WissZeitVG gestrichen werden, damit das unbefristete Anstellungsverhältnis für Postdocs endlich wieder zur Regel wird, statt wie derzeit die Ausnahme zu sein. Um eine nachhaltige Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft zu erreichen, darf sich die Politik indes nicht auf das WissZeitVG Amrei Bahr / Kristin Eichhorn / Sebastian Kubon  —  Wissenschaft in der Krise

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beschränken. Die gesamte Personalstruktur muss überdacht und Hierarchien müssen abgebaut werden. Hierzu ist die Etablierung echter Departmentstrukturen (anstelle der bislang nur formalen Abschaffung der Lehrstühle) notwendig, die die Arbeitslast gerechter als bisher auf das vorhandene Personal verteilen und ohne systematisch eingepreiste unbezahlte Überstunden auskommen. Damit einhergehen muss auch eine personelle Spezialisierung auf verschiedene Bereiche, etwa Wissenschaftskommunikation und Transfer, sodass nicht jede:r alles ein bisschen macht, sondern eine echte Professionalisierung stattfindet. Hier kann die Personalentwicklung ansetzen, die gegenwärtig an Wissenschaftseinrichtungen noch in den Kinderschuhen steckt. Sie gelingt aber nur auf festen Stellen, wenn Wissenschaftler:innen nicht mehr als leicht ersetzbares Verbrauchsmaterial behandelt, sondern in ihren jeweiligen Stärken gefördert werden. Es muss zudem eine Abkehr von der ­Fetischisierung der »anwendungsorientierten« Projektforschung stattfinden. Forschungsfinanzierung muss wieder stärker über die Grundfinanzierung der Hochschulen erfolgen statt über kompetitive Verfahren mit verschwindend geringen Bewilligungsquoten. Nur so kann Nachhaltigkeit in Forschung und Lehre gesichert bzw. überhaupt erst wieder hergestellt werden.16 Die gegenwärtige deutsche Wissenschaftslandschaft ist alles andere als krisenfest. Dies hat die Corona-Pandemie mehr als deutlich gezeigt und es wird auch vor dem Hintergrund neuer Krisen immer wieder sichtbar. ­#IchBinHanna bietet die Chance für eine grundsätzliche Umkehr. So, wie es bislang war, wird es nicht weitergehen. Will man den Zusammenbruch des Wissenschaftssystems verhindern, ist jetzt die Zeit zum Handeln.

Dr. Amrei Bahr  ist Juniorprofessorin für ­Philosophie der Technik und Information an der Universität Stuttgart. Mit #IchBinHanna engagiert sie sich für ein zukunftsfähiges deutsches Wissenschaftssystem, das prekäre Arbeitsbedingungen, Ressourcenverschwendung und Fehlanreize hinter sich lässt. PD Dr. Kristin Eichhorn vertritt zur Zeit eine Professur für Neuere deutsche Literatur an der Universität Stuttgart und ist zusammen mit Amrei Bahr und Sebastian Kubon Mitiniatorin von #ichBinHanna.

Dr. Sebastian Kubon  wurde mit einer Arbeit über die spätmittelalterliche Außenpolitik Preußens promoviert. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Public ­History und Food History. Nach #IchBinHanna erfolgte der Wechsel in die Politik. Er arbeitet mittlerweile als persönlicher Referent für Wissenschaftspolitik.

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16  Vgl. zu diesen Fragen Alexander Mayer, Universitäten im Wettbewerb. Deutschland von den 1980er Jahren bis zur Exzellenzinitiative, Diss. Univ. München, Stuttgart 2019; Ariane Leendertz, Wettbewerbsorientierung und Flexibilisierung in der Wissenschaft. Eine gegenwartsgeschichtliche Perspektive, in: Merkur, H. 9/2021, S. 43–54.

KINDER UND SCHULEN ZUERST DIE AUSWIRKUNGEN VON CORONA UND WEITEREN KRISEN AUF HERANWACHSENDE Ξ  Dieter Dohmen

Die seit gut zweieinhalb Jahren herrschende Corona-Pandemie hat die psychische, die gesundheitliche und die Lernsituation von Kindern und Jugendlichen erheblich beeinträchtigt: Kitas und Schulen waren wiederholt über längere Zeiträume »geschlossen«, das heißt, es gab kein Präsenzangebot und die Schüler:innen sollten stattdessen soweit möglich am Distanz- oder virtuellen Unterricht teilnehmen. Kita-Kinder blieben zu Hause bei ihren Eltern oder anderen Betreuungspersonen. Diese pandemiebedingten Vorgaben und Regelungen wurden in einem lernenden Prozess wiederholt angepasst. Ununterbrochen wurde diskutiert, ob man Schulen offenhalten beziehungsweise wann man sie wieder öffnen könne. Aber auch bei grundsätzlich offenen Schulen bedeuteten Infektionen, dass einzelne Schüler:innen, ganze Klassen oder auch gesamte Schulen temporär zu Hause bleiben mussten und somit ein mehr oder minder großer Teil der Schüler:innen nicht oder nur eingeschränkt am Präsenzunterricht teilnehmen konnte. Im Kita-Bereich war die Situation insofern anders, als es hier keinen strukturierten Unterricht gibt, sondern individuelle Lernangebote, wobei (leider oft) die Betreuung im Vordergrund steht. Gleichwohl verpassten die Kinder auch hier Lerngelegenheiten, die sie möglicherweise in der Familie nicht oder nur eingeschränkt haben. Verbindet man die Situation von Kindern und Jugendlichen mit den wichtigen – oder gar: zentralen – Aspekten von Teilhabe- und Bildungschancen, stellen sich folgende systemische Fragen: Wie geht es Kindern und Jugend­ lichen nach über zwei Jahren Pandemie? Wie ist die Schule digital aufgestellt? 1 

Die folgenden Ausführungen basieren großteils auf der Zusammenfassung der Herausgeber zum Sammelband Dieter Dohmen & Klaus Hurrelmann (Hg.), Generation Corona? Wie Jugendliche durch die Pandemie benachteiligt werden, Weinheim 2021, S. 276–297.

Wie »digital« sind die Lehrkräfte? Wie sehen die digitalen Rahmenbedingungen zu Hause aus? Über welche digitalen Kompetenzen verfügen Eltern und Geschwister? Aber auch: Befinden sich die Eltern im Homeoffice oder nicht? Und in welchem Umfang können sie beim Lernen helfen?1 Dabei liegt es aus heutiger Perspektive nahe, den Blick zu weiten und über die unmittelbaren Effekte der Schließung von Kitas und Schulen während der Pandemie

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hinaus auch den Ukrainekrieg mit seinen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche in Deutschland zu betrachten. KINDER UND JUGENDLICHE IN KRISENZEITEN »Jugend im Dauerkrisenmodus« titelte die Trendstudie: Jugend in Deutschland im Sommer 2022. Damit spielt die Studie darauf an, dass in einem Moment, 2

da die Corona-Pandemie noch nicht überwunden war, junge Menschen bereits mit der nächsten Herausforderung konfrontiert waren: dem Einmarsch

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2  Vgl. Simon Schnetzer & Klaus Hurrelmann, Trendstudie: Jugend in Deutschland. Jugend im Dauerkrisen-Modus – Klima, Krieg, Corona, Memmingen 2022.

Russlands in die Ukraine. Der Klimawandel erfüllt zwar weiterhin mehr als die Hälfte (55 Prozent) der jungen Generation mit Sorge, der Krieg ist mit 68 Prozent allerdings deutlich in den Vordergrund gerückt. Konkret befürchten die jungen Menschen, dass Energie- und Rohstoffpreise steigen werden (71 Prozent), ebenso wie die Inflationsrate (65 Prozent). Auch die Aussicht eines Lebens in Angst vor einem Krieg belastet viele von ihnen (42 Prozent), ebenso eine mögliche Ausweitung des Krieges auf Deutsch3  Vgl. ebd.

land (28 Prozent).3 Dieter Dohmen  —  Kinder und Schulen zuerst

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Zudem sind junge Menschen mehrheitlich der Ansicht, dass sich ihre Lebenssituation durch die Pandemie verschlechtert hat: Insbesondere die »psychische Gesundheit« (46 Prozent) sowie das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren (42 Prozent), stehen dabei im Vordergrund und werden sogar wieder häufiger erwähnt als im Winter 2021/22.4 Einen weiter- und tiefergehenden Einblick in die Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen durch die Pandemie liefert die längsschnittlich angelegte und bisher in drei Wellen durchgeführte COPSY-Studie (COVID-19 und Psychologie) des Universitätsklinikums Ep-

pendorf,5 die in Gegenüberstellung mit der BELLA-Studie6 einen Vergleich mit der Situation vor der Pandemie ermöglicht. War vor der Pandemie jedes sechste bis siebte Kind psychisch belastet, betraf dies im Frühjahr 2020 bereits jedes dritte bis vierte Kind. Im Ergebnis war bei fast jedem zweiten Kind die Lebensqualität gemindert, bei knapp jedem dritten lag eine psychische Auffälligkeit vor beziehungsweise zeigten sich Angstsymptome. Statt bei jedem zehnten Kind wurden nun bei jedem siebten depressive Symptome identifiziert. Mit der Pandemie und insbesondere deren Dauer stiegen die psychischen Belastungen somit deutlich an. Zudem haben sich der Medien- und Süßigkeitenkonsum deutlich erhöht – und der Anteil von Kindern und Jugendlichen, die mindestens dreimal pro Woche körperlich aktiv sind, ist von drei Viertel auf weniger als die Hälfte gesunken.7 DIE MANGELNDE DIGITALE AUSSTATTUNG VON KITAS UND SCHULEN Mehrere und zum Teil sich wiederholende Befragungen haben übereinstimmend bestätigt, dass Gymnasien technisch deutlich besser ausgestattet sind als andere Schulformen. So gaben beispielsweise in der Lehrer:innenbefragung der Robert-Bosch-Stiftung im Herbst 2021 knapp drei Viertel der Lehrkräfte an Gymnasien, aber weniger als die Hälfte an Haupt-, Real- oder Gesamtschulen und nicht einmal 40 Prozent an Grundschulen an, dass ihre Schule gut oder sehr gut mit digitalen Medien ausgestattet sei und über die technischen Voraussetzungen verfüge, die derzeitigen Herausforderungen zu bewältigen.8 Auf Basis des Schulbarometers vom Herbst 2020 konnte belegt werden, dass sich die beschriebenen Werte bis zum Dezember 2020 zwar insgesamt etwas erhöht, aber strukturell nicht grundlegend verändert hatten.9 Ergänzend zeigt das Schulbarometer vom Herbst 2021, dass es nach über anderthalb Jahren Pandemie zwar weitere Fortschritte gab, der Durchbruch aber immer noch fern lag.

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4  Vgl. ebd. 5  Vgl. Ulrike Ravens-Sieberer u. a., Psychische Gesundheit und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen während der ­C OVID-19-Pandemie, in: Dohmen & Hurrelmann, S. 248–260. 6  Vgl. Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, BELLAStudie, tiny.one/indes223e0. 7 

Vgl. Ravens-Sieberer u. a.

8  Robert-Bosch-Stiftung, Das Deutsche Schulbarometer Spezial: Zweite Folgebefragung. Ergebnisse einer Befragung von Lehrerinnen und Lehrern an allgemeinbildenden Schulen, Stuttgart 2021, https://deutschesschulportal.de/deutsches-schulbarometer/. Dieser Befund wird aus Perspektive der Lehrkräfte grundsätzlich bestätigt von Werner Klein, Wie gehen deutsche Schulen mit der Corona-Krise um? Ergebnisse des deutschen Schulbarometers, in: Dohmen & Hurrelmann, S. 80–94; Nele McElvany u. a., Unterricht während der Corona-Pandemie, in: ebd., S. 64–79; aus Elternper­ spektive von Ludger Wößmann u. a., Wie haben die Schulkinder die Zeit der Schulschließungen verbracht? in: ebd., S. 127–148. 9 

Vgl. Klein.

Wie an etlichen anderen Stellen auch, ist zudem die Lage an Schulen mit einem höheren Anteil von Transferempfänger:innen unter den Eltern ungünstiger als an Schulen mit einem geringeren Anteil (28 Prozent gut bis sehr gut vorbereitet vs. 60 Prozent). Differenziert nach Ländern schneiden Bayern (72 Prozent [eher] gut) und Baden-Württemberg (60 Prozent) deutlich besser ab als Nordrhein-Westfalen (53 Prozent), wobei der nordrhein-westfälische Wert immer noch leicht über dem Durchschnitt aller Länder liegt, im Unterschied zu den ostdeutschen Ländern (37 Prozent). Generell gilt: So unbestreitbar die Fortschritte in den vergangenen zweieinhalb Jahren sind, so offen liegen die fortbestehenden Defizite zutage. Zum einen bekunden immer noch lediglich 46 Prozent der Lehrkräfte an Gymnasien und ein Drittel an den anderen Schulen, dass ihre Schule über einen ausreichend leistungsfähigen Internetzugang verfüge. Über drei Viertel aller Schulen haben keine Laptops oder Tablets für (fast) alle Schüler:innen, bei Grund- und Förderschulen sind es über 80 Prozent. Hybrider Wechsel- und umfänglicher Distanzunterricht sind unter diesen Voraussetzungen nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. DIE BEGRENZTEN DIGITALEN KOMPETENZEN VIELER LEHRKRÄFTE Neben der weiterhin unzureichenden technischen Ausstattung der meisten Schulen spielen auch die digitalen Kompetenzen der Lehrkräfte eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, Distanz- und insbesondere digitalen Unterricht umzusetzen. In der Lehrkräftebefragung für die Robert-Bosch-Stiftung im Frühjahr 202010 berichteten 11 Prozent der Lehrkräfte an Grundschulen, 14 Prozent an Haupt-, Real- oder Gesamtschulen sowie 22 Prozent an Gymnasien, dass fast alle Lehrer:innen mindestens einmal pro Woche digitale Medien gemeinsam mit den Schüler:innen eingesetzt hätten. Auf der anderen Seite gaben 49 Prozent der Lehrer:innen an Grundschulen an, dass dies weniger als ein Viertel tue, ein Viertel an Haupt-, Real- oder Gesamtschulen und 16 Prozent an Gymnasien. Das heißt, an allen Schulformen war auch im Herbst 2020 noch ein beträchtlicher Teil der Lehrkräfte fast ausschließlich analog unterwegs. Kann man das an den Grundschulen 10 

11 

Soweit ersichtlich, ist diese Frage nicht Teil der Umfrage im Herbst 2021 gewesen.

Flipped classroom bedeutet, dass Schüler:innen sich den neuen Unterrichts- und Lernstoff zu Hause aneignen und diesen dann im Unterricht mit der Lehrkraft besprechen und vertiefen.

noch mit dem Alter der Schüler:innen erklären, gilt dies für Haupt-, Realoder Gesamtschulen und insbesondere Gymnasien deutlich weniger beziehungsweise gar nicht. Auffallend ist ferner, dass im Frühjahr 2020 Aufgabenblätter das zentrale Unterrichtsformat waren und sechs von sieben Lehrkräften sie nutzten, gefolgt von Erklärvideos (einschließlich flipped classroom 11) (40 Prozent). Nur jede sechste Lehrkraft nutzte Präsentationen, jede siebte Videokonferenzen, Dieter Dohmen  —  Kinder und Schulen zuerst

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jeweils weniger als 5 Prozent digitale Lernplattformen, Lernsoftware oder Lern-Apps – bei vergleichsweise geringen Unterschieden zwischen den Schulformen. Auch wenn offenkundig viele Lehrkräfte mehrere Formate einsetzten, ist davon auszugehen, dass die Schüler:innen in vielen Fällen sich selbst überlassen blieben. Für diese These spricht auch der hohe Anteil an Lehrkräften, der mit weniger als der Hälfte der Schüler:innen in Kontakt steht. GUT DURCH DIE PANDEMIE KOMMEN – EINE FRAGE DER RISIKOLAGE(N) Viele Eltern haben während des Lockdowns ihre gemeinsamen Aktivitäten mit ihren Kindern verstärkt, sei es im Rahmen der Tagesorganisation oder bei zahlreichen (indirekten) lernbezogenen Aktivitäten (draußen spielen, vorlesen und/oder basteln etc.). Deutlich wird aber auch, dass es daneben einen – wenn auch geringen – Teil von Eltern gibt, die den Umfang dieser Aktivitäten verringert haben. Letzteres kann auch mit dem höheren Aufwand zur Organisation von Familie und Beruf zu tun haben. Analysen zeigen, dass der Zugewinn an gemeinsamer Zeit mit den Eltern für etliche Kinder positive Effekte zeitigte.12 Sie genossen es, mehr Zeit als sonst mit Mutter und/oder Vater zu verbringen und waren entsprechend entspannter. 70 Prozent der Eltern ohne Risikolagen berichten denn auch, dass ihre Kinder insgesamt gut oder sehr gut durch den Lockdown gekommen seien. Bei Familien mit einer (finanziellen oder bildungsbezogenen) Risikolage waren es dagegen nur noch 55 Prozent; bei denjenigen mit zwei Risikolagen sogar nur gut 40 Prozent. Erwartungsgemäß werden Art und Umfang der Aktivitäten der Kinder von sozio-ökonomischen Faktoren beeinflusst: So verbrachten Kinder aus Familien ohne beziehungsweise mit wenigen Risikolagen weniger Zeit am Bildschirm bzw. nutzten das Smartphone seltener. Auch spielten sie häufiger draußen, schauten häufiger in Bücher, bastelten mehr und »hingen weniger ab«.13 Aufgrund des Lockdowns mit Kita- und Schulschließungen wurden die Eltern aber nicht nur stärker in die Pflicht genommen, die Kinder zu betreuen, vielmehr mussten sie diese vor allem auch beim Lernen unterstützen. Das galt für Eltern mit Kindern im Kita-Alter noch viel stärker als bei Eltern von Kindern im Grundschul- und Sekundarschulalter. Hierbei führen neben der Frage, ob die Familien Sozialleistungen beziehen, auch die folgenden familiären Einflussfaktoren zu ungünstigen Voraussetzungen für die Schüler:innen: alleinerziehende Mütter oder Väter, Migrationshintergrund, bildungsferne Eltern und Mehrkindfamilien und Sozialleistungsbezug.14 Diese Gruppen sind bereits unter normalen Umständen mit

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12  Vgl. Alexandra Langmeyer u. a., Kind sein in Zeiten von Corona, in: Dohmen & Hurrelmann, S. 38–52; Ravens-Sieberer u. a. 13  Vgl. Langmeyer u. a.; Wößmann u. a. 14  Vgl. Wido Geis-Thöne, Das häusliche Umfeld deter­ miniert den Problemdruck im Lockdown, in: Dohmen & Hurrelmann, S. 20–37.

erheblichen Herausforderungen konfrontiert, den Alltag zu bewerkstelligen und/oder ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen. Alleinstehende sind stärker auf außerhäusliche Betreuungsangebote angewiesen und müssen den Alltag meist allein bewältigen; umgekehrt nehmen die Kinder darauf Rücksicht und greifen bisweilen weniger auf den alleinerziehenden Elternteil als Unterstützungsressource zurück. Ein größerer Teil der Eltern mit Migrationshintergrund wiederum hat selbst ein geringeres Bildungsniveau und/oder spricht die deutsche Sprache nicht oder nur eingeschränkt. Letzteres betrifft jedes achte Kind unter zwölf Jahren – hier fallen die Eltern als Lernunterstützung für ihre Kinder weitgehend aus. Bei kleineren Kindern beeinträchtigt der zeitweise ausgesetzte Kita- oder Schulbesuch auch den Spracherwerb vor der Einschulung. WENN UNGÜNSTIGE RAHMENBEDINGUNGEN AUF MANGELNDE UNTERSTÜTZUNG TREFFEN Auch die Faktoren Mehrkindfamilien und Sozialleistungsbezug interagieren stark mit den vorher erwähnten Einflussfaktoren und verstärken diese meist noch.15 So haben beispielsweise 37 Prozent der Zwölfjährigen, deren Mütter keine abgeschlossene Berufsausbildung haben, kein eigenes Zimmer, während es ansonsten nur 12 Prozent sind. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung haben zwei Drittel der Kinder in Familien, die in Armut leben, nicht ausreichend Platz in der Wohnung und ein Viertel keinen Computer mit Internetanschluss.16 In diesen Fällen treffen also Rahmenbedingungen, die das Lernen erschwe­ ren (kein eigenes Zimmer, gegebenenfalls kein eigener Schreibtisch), und Eltern, die mangels eigener Bildung beim Lernen für die Schule kaum helfen können, zusammen. Wenn dann auch noch fehlende oder geringe eigene Sprachkompetenzen hinzukommen, werden sowohl das fundamental wichtige Erlernen der deutschen Sprache als auch die Kommunikation mit Kita 15 

Vgl. ebd.

16  Bertelsmann-Stiftung, Materielle Unterversorgung von Kindern, 2020, https://tiny.one/ indes223e5. 17  Vgl. Geis-Thöne; Christina Anger & Axel Plünnecke, Homeschooling, Digitalisierung und Bildungsungerechtigkeit, in: Dohmen & Hurrelmann, S. 165–186; Mathias Huebener u. a., Individuelle und institutionelle Einflussfaktoren auf Bildungsungleichheiten, in: ebd., S. 165–186.

oder Schule nahezu unmöglich. Die Kinder und Jugendlichen, die unter diesen Umständen leben, bilden die Gruppe, die auch von den Kita- und Schulschließungen überproportional stark betroffen war. Insbesondere Kinder von Sozialleistungsempfänger:innen verfügen zudem in deutlich geringerem Umfang über die erforderliche digitale Ausstattung für ein Homeschooling.17 Konkret hatten 2017/18 nur rund drei Viertel der 12- beziehungsweise 14-jährigen Jugendlichen aus diesen Haushalten Zugang zu einem Computer, gegenüber rund 90 Prozent der Jugendlichen in anderen Familien. In vielen Fällen ist dabei zudem davon auszugehen, dass es sich oft nicht um ein »eigenes« Gerät handelt, sondern dass sich mehrere Familienmitglieder ein Gerät teilen. Dieter Dohmen  —  Kinder und Schulen zuerst

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Die besonderen Herausforderungen ungünstiger familiärer Voraussetzungen potenzieren sich schließlich noch durch die ungleichen Verhältnisse an den Schulen, worauf auch die aktuelle Umfrage der Robert-Bosch-Stiftung (2021) hinweist: Sowohl bezogen auf die fehlende technische Ausstattung zu Hause (dies geben 81 Prozent der Schulen an, bei denen mehr als 50 Prozent der Eltern Sozialtransfers beziehen, vs. 70 Prozent bei einem Anteil von unter 25 Prozent) als auch auf die fehlende technische Ausstattung der Schule (69 Prozent vs. 52 Prozent) gilt somit, dass Schulen mit einer sozio-ökonomisch günstigeren Schülerstruktur besser dastehen als Schulen mit ungünstigerer Sozialstruktur. Dies setzt sich fort bei der Verfügbarkeit guter digitaler Lerninhalte (59 Prozent vs. 51 Prozent) oder der Bereitschaft der Lehrkräfte, digitale Lernformate im Unterricht einzusetzen (41 Prozent vs. 30 Prozent).18 So lässt sich erklären, dass es erhebliche Gruppen unter den Jugendlichen gibt, die das Internet noch nie für ihre Ausbildung oder Schule genutzt haben. Dies betrifft bis zu 20 Prozent der Jugendlichen aus den unteren Schichten; ein weiteres Viertel benutzt das Internet höchstens einmal pro Woche für diesen Zweck. Wenig überraschend sind Hauptschüler:innen (insgesamt 28 Prozent) und Realschüler:innen (23 Prozent) hier überrepräsentiert. DIE DIGITALEN KOMPETENZEN VON ELTERN UND SCHÜLER:INNEN Es genügt jedenfalls nicht, einen Computer oder ein Smartphone zu haben, sondern es kommt auch darauf an, diese Geräte entsprechend nutzen zu können. Wiederholt wurde dabei die »digitale Readiness« Deutschlands in internationalen Studien kritisch bewertet: So liegt Deutschland in einem EU-weiten Vergleich an letzter Stelle.19 Auch wenn diese Platzierung nicht unbedingt auf die unmittelbare digitale Leistungsfähigkeit und die Fähigkeit, das Internet zu nutzen, zurückzuführen ist, sondern auf eine Reihe von institutionellen und politischen Rahmenfaktoren, ist dies ein erstaunliches Ergebnis. Hinsichtlich der digitalen Kompetenzen von Eltern liegen bisher keine empirischen Informationen vor. Allerdings lassen sich gewisse Rückschlüsse aus einer PIAAC-Studie ziehen: Demnach verfügten lediglich 36 Prozent der Erwachsenen im Jahr 2012 über eine mittlere oder hohe digitale Kompetenz.20 Dieser Wert liegt zwar über dem Durchschnitt der beteiligten OECD-Länder, und selbst die Top-Nationen Schweden, Finnland und die Niederlande verzeichneten nur Werte von bis zu 44 Prozent. Allerdings legt dieses Ergebnis nahe, dass auch große Teile der Elternschaft nur begrenzte digitale Kompetenzen besitzen.

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18 

Vgl. Robert-Bosch-Stiftung.

19  Vgl. Miroslav Beblavy u. a., Index of Readiness for Digital Lifelong Learning. Changing How Europeans Upgrade Their Skills, Centre for European Policy Studies, 2019, https://tiny.one/ indes223e2. 20  Vgl. Beatrice Rammstedt, Grundlegende Kompetenzen Erwachsener im internationalen Vergleich. Ergebnisse von PIAAC 2012, Münster 2013.

Bezüglich der Schüler:innen hat eine ICILS-Studie ergeben, dass rund ein Drittel allenfalls rudimentäre digitale Kompetenzen hat und nur einfache Aufgaben ausführen kann. Wenig überraschend ist der positive Zusammenhang zwischen digitaler Kompetenz und sozialem Status.21 Zu diesen Ergebnissen passen auch die Einschätzungen von Lehrkräften und Schüler:innen während der Corona-Pandemie, die zu beträchtlichen Teilen berichten, dass sowohl die technische Ausstattung der Schüler:innen als auch deren digitale Kompetenzen häufig (sehr) begrenzt seien. SOZIALE UNTERSCHIEDE VERSTÄRKEN SICH Alle vorliegenden Studien, einschließlich des im Oktober 2022 erschienenen IQB-Bildungstrends,22 verweisen darauf, dass der Distanzunterricht die bereits bestehende soziale Spaltung in der Schülerschaft verstärkt:23 Auf der einen Seite stehen die Schüler:innen, die aus bildungsnahen, sozio-ökonomisch privilegierten und einkommensstärkeren Haushalten kommen, die bessere räumliche und digitale Voraussetzungen haben, deren Eltern ihnen im Zweifel beim Lernen helfen können und die oft auch motiviert sind, dies zu tun. Diese Kinder und Jugendlichen sind tendenziell eher lerninteressiert und finden an den Schulen eher stärkere Unterstützung, auch in Zeiten der Corona-Pandemie. Dies gilt insbesondere, wenn sie (bereits) ein Gymnasium oder eine andere Schule besuchen, die zum Abitur führt. Auf der anderen Seite stehen die Schüler:innen aus bildungsfernen und unterprivilegierten Familien, die häufiger mit (mehreren) Geschwistern, in beengten räumlichen Verhältnissen und mit einer schlechteren digitalen In21  Vgl. Julia Gerich u. a., Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Mädchen und Jungen im zweiten internationalen Vergleich, in: Birgit Eickelmann u. a. (Hg.), ICILS 2018 #Deutschland. Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im zweiten internationalen Vergleich und Kompetenzen im Bereich Computational Thinking, Münster 2019, S. 271–300. 22  Petra Stanat u. a. (Hg.), IQB-Bildungstrend 2021: Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich, Münster 2022. 23  Vgl. Dohmen & Hurrelmann.

frastruktur leben. Haben die Eltern, vor allem die Mütter, zudem selbst nur einen niedrigen Schulabschluss und sprechen kein oder kaum Deutsch, dann ist die Lernunterstützung ausgesprochen schwierig. Die vorliegenden Studien zeigen deutlich, dass die schulische Unterstützung dieser Kinder und Jugendlichen in der Pandemiezeit an anderen Schulen als den Gymnasien im Schnitt deutlich weniger intensiv war und eher old-fashioned. Auch die digitalen Voraussetzungen der Schule und/oder der Lehrkräfte waren meist deutlich ungünstiger. Es ist daher stark davon auszugehen, dass es durch die Corona-Pandemie aus unterschiedlichen Gründen zu einer Verstärkung der ohnehin bereits bestehenden sozialen Segregation im Bildungssystem gekommen sein dürfte. Besonders problematisch ist dabei die Situation an Grund- und Förderschulen, die einerseits aufgrund des Alters der Schüler:innen und deren zwangsläufig begrenzter digitaler Ausstattung und Kompetenzen und andererseits aufgrund deutlich schlechterer Ausstattung der Schulen und möglicherweise Dieter Dohmen  —  Kinder und Schulen zuerst

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auch digitaler Kompetenzen der Lehrkräfte äußerst schwierige Ausgangs­ voraussetzungen für Distanzunterricht haben. Sie haben zudem auch stärker mit Personalmangel sowie Lehrkräften zu tun, die kein Lehramtsstudium für die Primarschulen, sondern für weiterführende Schulen, oft das Gymnasium, absolviert und somit das »Handwerk des Unterrichtens« an Grundschulen nicht unmittelbar gelernt haben. Hinzu kommen bisweilen überproportional hohe Anteile an Quer- und Seiteneinsteiger:innen, die zudem meist ohne einschlägige Vorqualifizierung an die Grundschulen kommen und oft ins kalte Wasser geworfen werden. NACHWEISBARE LERNRÜCKSTÄNDE IM LOCKDOWN … Was den empirischen Nachweis von »konkreten« Lernrückständen angeht, ist die Sach- beziehungsweise Datenlage etwas diffiziler, allerdings gibt es recht deutliche Tendenzen: In einer Art Meta-Studie fand man sowohl Untersuchungen, die die erwarteten Lernrückstände in Mathematik, Lesen oder Naturwissenschaften im Vergleich zu früheren Kohorten auswiesen, als auch Studien, die positive Lerneffekte des digitalen Lernens in Mathematik zeigten.24 Mit Blick auf die Studien, die positive Effekte auswiesen, wird darauf hingewiesen, dass es sich »interessanterweise um Studien handele, die Software zum Online-Lernen« untersucht haben, was dazu geführt haben könne, dass es sich um Schüler:innen gehandelt haben könne, die damit bereits vertraut gewesen sein könnten.25 Auch zwei weitere Studien hätten positive Effekte in Lesen und Mathematik beziehungsweise Lesen identifiziert, bei denen jedoch aufgrund des Zeitpunkts die Möglichkeit zu spezifischen Aufholprogrammen in den Ferien bestanden haben (könnte). Zumindest in der dabei erwähnten Studie von Depping u. a., die sich auf Hamburg bezieht, wird auf diesen Aspekt explizit hingewiesen, was den

24  Vgl. Svenja Hammerstein u. a., Effects of COVID-19-Related School Closures on Student Achievement – A Systematic Review, in: Frontiers in Psychology, 2021, https://tiny.one/indes223e3.

Schluss nahelegen könnte, dass Aufholprogramme eine geeignete Möglichkeit sein könnten, entstandene Lernrückstände (weitgehend) zu schließen.

25  Vgl. ebd.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Hammerstein unter anderem

26  Florentine Anders, Lernstandserhebung in Hamburg. Bundesweit einmalige Daten zeigen Lernverluste durch Corona, 13.09.2021, https://tiny.one/ indes223e4. Ergänzend weist sie darauf hin, dass die Unterschiede im Bereich Mathematik gering seien. In diesem Jahr wurden etwas mehr Punkte erreicht als in den beiden letzten Jahren, wobei der Wert im vergangenen Jahr am niedrigsten war. Allerdings wachse die Gruppe der lernschwachen Kinder um fünf Prozentpunkte.

zu dem Schluss kommen, dass es eine klare Evidenz für negative Effekte der C ­ orona-bedingten Schulschließungen gebe. Dieser Befund wird in einer aktuelleren Studie zu Hamburg ansatzweise bestätigt: Demnach erreichen die Schüler:innen beim Leseverständnis etwas schwächere Werte als vor zwei Jahren. Allerdings ist der Unterschied von 455 zu 473 Punkten nach Einschätzung von Martina Diedrich, der Leiterin des Hamburger Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung, »pädagogisch eigentlich nicht bedeutsam, aber er kann auf eine Tendenz hinweisen, die wir im Auge behalten sollten.«26

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COVID-19 ff. — Analyse

Mit Blick auf die Interpretation der Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2021 – der bisher wohl einzigen bundesweiten bzw. länderübergreifenden Studie, die es prinzipiell ermöglicht, die Lernleistungen von Kindern vor und in einer späteren Phase der Pandemie zu analysieren – ist zudem darauf hinzuweisen, dass der ausgewiesene dramatische Rückgang der Schülerleistungen in der 4. Klasse27 gegenüber 2016 nicht allein auf die Schulschließungen beziehungsweise die Umstellung von Präsenz- auf Distanzunterricht zurückzuführen ist. Vielmehr waren die Leistungen bereits zwischen 2011 und 2016 rückläufig; zudem hat sich die Schülerschaft so verändert, etwa durch den (deutlich) gestiegenen Anteil von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte beziehungsweise Migrationshintergrund, dass mit einem weiteren Absinken des Leistungsniveaus zu rechnen war. Wie groß der pandemiebedingte Leistungsrückgang war, lässt sich derzeit somit nicht abschließend bestimmen.  … DIE WOHL ZU VERHINDERN GEWESEN WÄREN Trotz aller Herausforderungen, die die Corona-Pandemie für das Lernen von Kindern und Jugendlichen bedeutet, erscheint es zweifelhaft, ob pauschale Aussagen wie »Distanzunterricht ist wie Ferien«, die auch im Kontext wissenschaftlicher Studien gemacht werden, die Sachlage treffen. Wenn in weiten Teilen kaum oder nur eingeschränkt halbwegs regulärer Unterricht stattfand, dann ist eher erstaunlich, dass die sogenannten Lernrückstände so gering sind. Mit anderen Worten: Nicht der Distanzunterricht ist das Problem, sondern eher die Tatsache, dass die Umstände kaum regulären Unterricht zugelassen haben – aus den im vorliegenden Kapitel beschriebenen Gründen. Die Schüler:innen sind somit vor allem »Opfer« der Rahmenbedingungen, aufgrund derer die – teilweise unvermeidbaren – Folgen der Pandemie für das Lerngeschehen kaum aufzufangen waren. Eine in den meisten Schulen auch weiterhin unzureichende Infrastruktur und technische Ausstattung sowie zu großen Teilen digital nicht beziehungsweise nur mäßig kompetente Lehrkräfte sind eine ungenügende Voraussetzung für digitalen Unterricht in der Breite. Diese Defizite können zwar möglicherweise diejenigen Schüler:innen kompensieren, die technisch sehr gut ausgestattet, digital kompetent und lernmotiviert sind und vielleicht auch noch von den Eltern unterstützt werden können. Für diejenigen jedoch, die nicht oder nur eingeschränkt über die erforderliche technische Ausstattung verfügen, die weniger digital kompetent sind und gegebenenfalls eher wenig lernmotiviert, ist dies kaum zu bewältigen. Wäre schnell und entschlossen gehandelt worden, hätte vieles aufgefan27  Vgl. Stanat u. a.

gen und kompensiert werden können: Ansatzpunkte waren zum Beispiel Dieter Dohmen  —  Kinder und Schulen zuerst

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eine kurzfristige deutliche Aufstockung des Digitalpakts, die Reduktion der Anforderungen an Anträge, Bewilligungen und Ausschreibungsvorschriften wie auch die gezielte Öffnung der Kitas und Schulen für Kinder aus benachteiligten Familien. Die obenstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass das Schulsystem auch nach mittlerweile über zwei Jahren noch weit davon entfernt ist. Politik und Schulverwaltung müssen zunächst die Voraussetzungen schaffen. DER ÜBERGANG SCHULE – AUSBILDUNG IN PANDEMIEZEITEN Die deutlichsten und kurz- wie langfristig problematischsten Auswirkungen der Corona-Pandemie zeigen sich allerdings bundesweit wie auch in den einzelnen Ländern am Übergang von der Schule in Ausbildung: Bundesweit ist die Zahl der dualen Ausbildungsplätze um rund 46.000, das heißt um knapp 10 Prozent, zurückgegangen, die Zahl der schulischen Ausbildungsverträge um fast 14.000 (– 6,3 Prozent). Im Jahr 2021 hat sich Lage zwar stabilisiert, allerdings ist die Zahl der Ausbildungsverträge weit vom präpandemischen Niveau entfernt. Dieser Rückgang an Ausbildungschancen hat insbesondere die Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Haupt- beziehungsweise Realschul­ abschluss getroffen. Im Bundesdurchschnitt gingen die Übergangsquoten bei Ersteren im dualen System von 69 Prozent auf 66 Prozent beziehungsweise im Schulberufssystem von 11 Prozent auf 9 Prozent, bei Letzteren von 52 Prozent auf 48 Prozent beziehungsweise von 37 Prozent auf 33 Prozent zurück. Ob beziehungsweise in welchem Umfang sich im Jahr 2021 wieder höhere Übergangsquoten in Abhängigkeit vom Schulabschluss zeigen, lässt sich derzeit noch nicht feststellen, da die Daten zu den Schulabschlüssen der Neuverträge noch nicht vorliegen. Damit haben sich die Übergangschancen im Corona-Jahr 2020 in eine schulische Ausbildung besonders stark verschlechtert; und zwar sowohl hinsichtlich der absoluten Zahlen als auch hinsichtlich der Übergangsquoten. Bei Studienberechtigten und – erstaunlicherweise – Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss sind die Effekte vergleichsweise gering. Trotz Stabilisierung im dualen System beziehungsweise eines Anstiegs im schulischen Bereich im Jahr 2021 sind die Ausbildungschancen weiterhin deutlich schlechter als in Vorpandemiezeiten. Von diesen Entwicklungen sind insbesondere Kinder und Jugendliche aus sogenannten bildungsfernen und/oder sozial schwachen Familien betroffen. Dies gilt unabhängig vom Migrationshintergrund; allerdings ist festzuhalten, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte auch dann eher

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ungünstige Bildungschancen haben, wenn sie aus einer bildungsnahen Familie stammen. Diesen Zusammenhang hat die FiBS-Studie Kein Anschluss trotz Abschluss?! Benachteiligte Jugendliche am Übergang in Ausbildung herausgearbeitet.28 Sie zeigt eindrücklich, dass die Übergangschancen in schulische oder duale Ausbildung von Jugendlichen, die nicht mindestens einen mittleren beziehungsweise Realschulabschluss erworben haben, ausgesprochen ungünstig sind. Rechnerisch gehen zwei Drittel der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss und zuletzt sogar mehr als ein ganzer Abgängerjahrgang an Jugendlichen ohne Schulabschluss in das Übergangssystem über. Auch wenn ein Teil von ihnen dadurch einen höheren Schulabschluss erhält und anschließend eine Ausbildung aufnimmt, sind damit höhere Kosten verbunden; zudem dürfte die deutliche Mehrheit von ihnen wiederholt in das Übergangssystem einmünden und/oder das Heer der arbeitslosen Jugendlichen verstärken. Auch wenn die Jugendarbeitslosenstatistik etwas anderes suggeriert, ist fast ein Viertel der Jugendlichen, die höchsten einen Hauptschulabschluss haben, faktisch arbeitslos – ein großer Teil von ihnen wird statistisch indes nicht erfasst, weil sie in irgendeiner Maßnahme sind und damit formal nicht arbeitslos. Ein weiterer Teil dürfte faktisch in keiner Statistik erfasst werden, da sie weder im Bildungssystem noch arbeitslos sind; es steht zu vermuten, dass dieser Anteil steigt. Soweit ersichtlich liegen jedoch keine statistischen Daten zu dieser Gruppe vor. Der erfolgreiche Übergang und Abschluss einer beruflichen Ausbildung ist aber die zentrale Voraussetzung für einen erfolgreichen Start in das Be28  Vgl. Dieter Dohmen u. a., Kein Anschluss trotz Abschluss?! Benachteiligte Jugendliche am Übergang in Ausbildung: Werden sie zur »Generation Corona«?, FiBS-Forum, Berlin 2021, tiny.one/indes223e6.

rufsleben. Junge Menschen und Erwachsene mit einer beruflichen Qualifikation werden deutlich seltener arbeitslos als Gering- und Unqualifizierte. Will man das Bild von einer »Generation Corona« bemühen, dann betrifft es eben diese Jugendlichen: junge Menschen, die aufgrund der Pandemie keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, den sie sonst erhalten hätten.

Dr. Dieter Dohmen  ist Gründer & Direktor des FiBS ­Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie. Zudem ist er Geschäftsführender Gesellschafter des FiBS Research Institute on Lifelong Learning (gegründet 2020) sowie der FiBS ElternHotline gGmbH.

Dieter Dohmen  —  Kinder und Schulen zuerst

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VERSCHWÖRUNGSMYTHEN UND SELBSTVIKTIMISIERUNG ANTISEMITISCHE VORFÄLLE IM KONTEXT DER CORONA-PANDEMIE Ξ  Bianca Loy / Daniel Poensgen

Im Frühjahr 2020 schoss die Zahl der bestätigten Corona-Infektionen in Deutschland in die Höhe, die ersten – und in ihrer Wirkung durchaus dramatischen – staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wurden beschlossen. Für viele Menschen war und ist dies Grund für zahlreiche Ängste – um die eigene Gesundheit, um das Wohlergehen von Freund:innen und Familienmitgliedern, häufig auch um die eigene wirtschaftliche Existenz. Für Jüdinnen:Juden kam eine weitere Sorge hinzu: Würde die Pandemie und die mit ihr verbundene Krise auch zu einem weiteren Anstieg von Antisemitismus führen? Dass mit der Pandemie auch der Antisemitismus in Deutschland sichtbarer hervortreten würde, dafür sprechen Schilderungen von antisemitischen Vorfällen, die den Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) oder eine der regionalen RIAS-Melde­ stellen erreichten. So berichtete eine Frau von einem Gespräch mit einem Taxifahrer im November 2021 in Berlin. Die Frau wollte mit ihrer Tochter zu einer jüdischen Schule gefahren werden. Der Taxifahrer begann während der Fahrt, Verschwörungsmythen zur Corona-Pandemie zu erzählen. Die Frau widersprach dem Fahrer daraufhin und machte deutlich, dass sie hierzu eine andere Auffassung habe. Der Taxifahrer entgegnete: »Hätte ich mir ja denken können, wenn es zu dieser Adresse geht – ist ja auch was Kulturelles, ob man der WHO glaubt, hinter der auch nur die Pharmaindustrie steckt, das ganz große Geld.« Die Frau intervenierte nochmals vehement und beendete das Gespräch. Ein weiteres Beispiel: Im Mai 2021 warteten zwei Frauen an einer Ampel in Leipzig, als sich ein Mann sehr dicht neben sie stellte. Eine der Frauen bat ihn darum, aufgrund der Pandemie doch etwas Abstand zu halten. Der Mann wurde daraufhin aggressiv, schrie die Frau an; auch als sich beide Frauen entfernten, schimpfte er ihnen noch hinterher. Als er aus der Entfernung schließlich bemerkte, dass die beiden Frauen Masken aufsetzten, wurde er noch wütender: Er rief, wir würden in einer Zweiklassengesellschaft leben

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und wiederholte mehrere Male, dass er jetzt »der neue Jude« sei. Erst als sich die Frauen weiter entfernten, hörte er auf. Beide Vorfälle sind durchaus typisch für die Entwicklung des Antisemitismus in Zeiten der Pandemie: Sie bot vielen auf der einen Seite Anlass, antisemitische Verschwörungsmythen zu äußern, auf der anderen aber auch, sich selbst als Jüdinnen:Juden »von heute« zu inszenieren. DOKUMENTATION ANTISEMITISCHER VORFÄLLE IN DER PANDEMIE RIAS hat ein bundesweites Meldenetzwerk für antisemitische Vorfälle er-

richtet – Betroffene und Zeug:innen antisemitischer Vorfälle können diese hier melden, erhalten Unterstützung und fachlichen Rat. Die Vorfälle werden systematisch erfasst und die erhobenen Daten regelmäßig statistisch ausgewertet. Ausgehend von der Arbeit von RIAS Berlin besteht mit der Gründung des Bundesverbands RIAS im Jahr 2018 für Betroffene und Zeug:innen aus dem gesamten Bundesgebiet die Möglichkeit, antisemitische Vorfälle zu melden. Diese werden dann mit Hilfe eines dafür entwickelten Kategoriensystems dokumentiert und so in ihrer Gesamtheit erst sichtbar gemacht. Damit verbindet RIAS zwei Perspektiven auf Antisemitismus: den Fokus auf antisemitische Handlungen, aber auch die Wahrnehmung dieser Handlungen durch Betroffene. Die Corona-Pandemie und die staatlichen Maßnahmen zu deren Eindämmung wirkten in verschiedener Hinsicht auf die Arbeit von RIAS.1 So waren der Aufbau und die Pflege des Melde- und Unterstützungsnetzwerks als eine zentrale Säule der Arbeit unmittelbar von den Kontaktbeschränkungen betroffen. Damit war es für die Mitarbeiter:innen von RIAS auch schwieriger, Kontakt mit jüdischen Gemeinden, Institutionen und anderen für die Communities wichtigen Orten zu halten. Es ist davon auszugehen, dass RIAS dadurch weniger Vorfälle bekannt wurden. Gleichzeitig wurden einige typische »Tatorte« antisemitischer Vorfälle mit Beginn der Pandemie unwichtiger, wie ein Blick auf die statistischen Aus1  Wenn im Folgenden allgemein von der Arbeit von RIAS die Rede ist, sind die Arbeitsweisen und Qualitätsstandards gemeint, die in der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) des Bundesverbands RIAS entwickelt werden. Vgl. tiny.one/indes223f1. 2  Vgl. Bundesverband RIAS e. V., Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2021, tiny.one/ indes223f2, S. 29.

wertungen von RIAS zeigt.2 Indem beispielsweise der ÖPNV weniger genutzt wurde, Demonstrationen nicht stattfanden und Begegnungen allgemein reduziert wurden, schwanden auch potenzielle Anlässe für antisemitisches Handeln. Doch gab es auch gegenläufige Entwicklungen: Online-Vorfälle spielten für das Vorfallgeschehen insgesamt eine größere Rolle. So nahmen antisemitische Anfeindungen auf Social Media zu. Trafen sich beispielsweise jüdische Gemeinden online, kam es in einigen Fällen zu antisemitischen Störungen in Form von Zoom-Bombings. Obwohl sich vieles ins Internet verlagerte, wurden von Beginn an auch Vorfälle bekannt, in denen Jüdinnen:Juden Bianca Loy / Daniel Poensgen  —  Verschwörungsmythen und Selbstviktimisierung

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beispielsweise auf der Straße bedroht und mit antisemitischen Aussagen konfrontiert wurden. Immer wieder war hierbei die Corona-­Pandemie unmittelbarer Gegenstand der Vorfälle. Die Corona-Pandemie wirkte sich direkt auch auf die Erfassungspraxis von RIAS aus, die an die veränderte Situation angepasst wurde. Das neue Bewusstsein für Verschwörungsmythen und deren Verbreitung führten dazu, dass ein Verfahren zur Unterscheidung entwickelt werden musste, welche verschwörungsmythologischen Stereotype einen antisemitischen Vorfall darstellen und welche nicht. Denn gerade das Beispiel des Verschwörungsmythos

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QAnon zeigte, dass antisemitische Verschwörungsmythen zum Teil auch ohne die Nennung konkreter, jüdischer Verschwörer:innen auskommen – zumindest auf den ersten Blick.3 DIE PERSPEKTIVE VON BETROFFENEN Die Pandemie und der damit verbundene Eindruck, antisemitische Verschwörungsmythen würden in Deutschland an Bedeutung gewinnen, waren aber auch Anlass, eigene Erkenntnisse zu hinterfragen. Dazu zählte auch die Betroffenenperspektive auf jene Verschwörungsmythen: Von 2017 bis 2020 führte RIAS über 150 Interviews mit Vertreter:innen jüdischer Gemeinden aus acht

Bundesländern. In etwa einem Drittel der Interviews schilderten die Befragten, dass sie in ihrem Alltag modernen Antisemitismus beobachten – genauer: Vorstellungen von jüdischer Macht wie beispielsweise antisemitische Verschwörungsmythen. An diesen Schilderungen zeigte sich, dass antisemitische Verschwörungsmythen nicht ausschließlich in rechtsextremen oder verschwörungsideologischen (Online-)Zirkeln geäußert werden, sondern auch in ganz alltäglichen Situationen an Jüdinnen:Juden herangetragen werden. Eine Person aus Baden-Württemberg berichtete, eine Freundin habe ihrem Kind erzählt, »die Rothschilds« würden die Welt beherrschen – das stünde doch überall.4 Häufig werden Jüdinnen:Juden mit allgemeinen Vorstellungen über eine vermeintliche politische oder ökonomische Machtposition von Jüdinnen:Juden konfrontiert. So schilderte eine Interviewte aus Bayern, ihr Vater habe mit dem örtlichen Apotheker über einen kürzlich in Ruhestand gegangenen Steuerberater gesprochen. Am Ende des Gesprächs fragte der Apotheker, warum er überhaupt einen Steuerberater bräuchte, als Jude müsste er doch ohnehin keine Steuern zahlen. Für Jüdinnen:Juden sind solche Situationen Teil einer alltagsprägenden Erfahrung mit Antisemitismus: Sie sind in unterschiedlichen Kontexten immer wieder mit antisemitischen Äußerungen und Handlungen konfrontiert, so dass sie alltäglich gezwungen sind, zwischen einem öffentlichen Bekenntnis zu ihren vielfältigen jüdischen Identitäten und der Sicherstellung ihrer 3  Vgl. American Jewish Committee/Bundesverband RIAS, Antisemitische Verschwörungsmythen in Zeiten der Coronapandemie, 2021, S. 11 ff., tiny.one/indes223f4. 4  Bundesverband RIAS, Pro­ blembeschreibung: Antisemitismus in Baden-Württemberg, Berlin 2021, tiny.one/indes223f5.

physischen und psychischen Unversehrtheit abzuwägen. Vor diesem Hintergrund wundert es kaum, dass Jüdinnen:Juden auch im Frühjahr 2020 mit einer Zunahme von Antisemitismus rechneten. In einer kleinen Befragung interviewte RIAS im Frühjahr 2020 13 Jüdinnen:Juden, die allesamt von Antisemitismus im Zusammenhang mit Corona berichteten – insbesondere in den sozialen Medien. Eine Person erzählte, dass sie mit der Behauptung konfrontiert wurde, Israelis würden von ihnen benötigtes medizinisches Material von anderen Ländern nach Israel umleiten. Viele Befragte Bianca Loy / Daniel Poensgen  —  Verschwörungsmythen und Selbstviktimisierung

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gaben jedoch an, diese Entwicklung sei für sie keineswegs unerwartet gekommen. So erklärte eine Befragte: »Ich finde das gruselig, gleichzeitig wundert es mich nicht. […] Als jüdische Person wusste ich bereits von Anfang an, dass Corona antisemitische Verschwörungsmythen mit sich bringen wird.«5 ALLTAGSPRÄGENDER BIS GEWALTFÖRMIGER ANTISEMITISMUS RIAS dokumentierte für die Jahre 2020 und 2021 1358 antisemitische Vor-

fälle, die einen Bezug zur Corona-Pandemie aufweisen, das heißt die Pandemie entweder als Gegenstand haben oder nur aufgrund der Pandemie zustande kamen. Das sind knapp dreißig Prozent aller in diesem Zeitraum erfassten antisemitischen Vorfälle. Bei der Dokumentation der Vorfälle weist RIAS mehrere Kategorien aus, von denen die Art des Vorfalls, die jeweiligen

antisemitischen Erscheinungsformen sowie der politisch-weltanschauliche Hintergrund in den Blick genommen werden. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass antisemitische Vorfälle mit Bezug zur Corona-Pandemie in sämtlichen Vorfallsarten, allen antisemitischen Erscheinungsformen und allen politisch-weltanschaulichen Spektren dokumentiert wurden. Die antisemitische Deutung der Pandemie und der staatlichen Maßnahmen dagegen war und ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Bei der Erfassung der Art des Vorfalls machten mit fast neunzig Prozent jene Vorfälle den überwiegenden Anteil aus, die RIAS als verletzendes Verhalten dokumentiert. Hierunter fallen zum Beispiel Schmierereien, Beleidigungen und andere Bemerkungen wie jene im November 2021 in Düsseldorf, als drei Männer beim Einsteigen in einen Bus davon sprachen, dass Juden vergast werden sollten und schuld an Corona seien. Unter verletzendem Verhalten werden auch Versammlungen und Demon­ strationen mit antisemitischen Ausdrucksformen erfasst. Allein in den Jahren 2020 und 2021 hat RIAS bundesweit 578 Versammlungen mit Bezug zur ­Corona-Pandemie dokumentiert, bei denen es zu antisemitischen Äußerungen im Aufruf, in Redebeiträgen, auf Transparenten oder in gerufenen Parolen kam. Zu keinem anderen Anlass hat RIAS seit ihrer Gründung ein in Hinblick auf Ausmaß und Dauer vergleichbares Versammlungsgeschehen dokumentiert. Neben eher alltäglichen Fällen wie Beleidigungen und verletzenden Kommentaren wurde die Corona-Pandemie aber auch immer wieder als Anlass genutzt, um Antisemitismus gewaltvoll zu äußern. So wurden neben einzelnen antisemitischen Angriffen auch zwei Fälle extremer Gewalt bekannt, in denen moderner Antisemitismus, zu dem RIAS etwa antisemitische Verschwörungsmythen zählt, eine Rolle spielte: Im September 2021 wurde in Idar-Oberstein der Mitarbeiter einer Tankstelle von einem Mann erschossen, nachdem er

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5  Vgl. American Jewish Committee/Bundesverband RIAS, Antisemitische Verschwörungsmythen, S. 14 ff.

diesen aufgefordert hatte, eine Maske zu tragen. Bei der polizeilichen Vernehmung begründete er seine Tat unter anderem mit einer Ersatzhandlung, da er nicht an den jüdischen Philanthropen George Soros herankomme. In Königs Wusterhausen ermordete im Dezember 2021 ein Mann seine Ehefrau und seine drei Kinder, bevor er sich selbst tötete. Nach Angaben des Bundesinnen­ ministeriums erwähnte er in seinem Abschiedsbrief als Tatmotiv unter anderem seinen Glauben an eine jüdische Weltverschwörung: Er sei überzeugt gewesen, dass mit den Impfungen gegen das Coronavirus eine neue Weltordnung unter jüdischer Herrschaft herbeigeführt werde. Diese Fälle extremer Gewalt zeigen auf besonders brutale Weise, welches Gewaltpotenzial antisemitischem Denken inhärent ist. Diese Tatsache und das Wissen über die Omnipräsenz antisemitischer Vorfälle begleitet den Alltag von Jüdinnen:Juden in Deutschland. VERSCHWÖRUNGSMYTHEN UND SELBSTVIKTIMISIERUNG Analysiert man antisemitische Vorfälle genauer, lassen sich auch unterschiedliche Formen des Antisemitismus festmachen. RIAS unterscheidet antisemitisches Othering, in dem Jüdinnen:Juden zu Fremden gemacht werden, von Post-Schoa-Antisemitismus, israelbezogenem Antisemitismus, modernem Antisemitismus und antijudaistischem Antisemitismus. Viele Vorfälle lassen sich mehren Erscheinungsformen zuordnen, etwa weil unterschiedliche Stereotype geäußert werden oder eine Äußerung Kriterien für verschiedene Erscheinungsformen erfüllt. Bei den 1358 Vorfällen kamen insbesondere Stereotype des Post-Schoa-Antisemitismus (in 1.016 Vorfällen) und des modernen Antisemitismus (in 587 Vorfällen) zur Anwendung. Dies verweist auf zwei typische antisemitische Äußerungsformen, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie von Bedeutung sind: Zum einen waren antisemitische Selbstviktimisierungen und Schoa-­ Relativierungen häufig erkennbare Muster in antisemitischen Vorfällen. Staatliche Maßnahmen gegen die Coronapandemie wurden mit der Verfolgung und Vernichtung von Jüdinnen:Juden gleichgesetzt, Gegner:innen der Maßnahmen inszenierten sich als ebenso verfolgt wie Jüdinnen:Juden während der Schoa. So trugen zahlreiche Demonstrierende gegen die Maßnahmen sogenannte Judensterne, auf denen häufig »ungeimpft« zu lesen war. In Karikaturen, die auf Flugblättern verteilt wurden, war beispielsweise das Tor zum KZ Auschwitz mit der veränderten Inschrift »Impfen macht frei« zu sehen. Mit derartigen Darstellungen werden die Schoa und der Nationalsozialismus verharmlost. Diese Relativierung ist nicht nur für Überlebende und ihre Nachkommen unerträglich und verletzend, sie geht zugleich mit Schuldabwehr und Aggressionen gegen Jüdinnen:Juden einher. Bianca Loy / Daniel Poensgen  —  Verschwörungsmythen und Selbstviktimisierung

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Zum anderen ist die Pandemie ein Anlass, um antisemitische Verschwörungsmythen zu aktualisieren und verstärkt zu äußern. Die Corona-Pandemie wird häufig als bloßer Vorwand begriffen, der unter anderem Zionist:innen, der Familie Rothschild oder auch George Soros zum Ausbau ihrer Herrschaft dienen soll. Jedoch hat RIAS auch eine Vielzahl von Verschwörungsmythen festgestellt, die ohne die explizite Nennung von Jüdinnen:Juden auskamen und die Verantwortung beispielsweise bei Bill Gates, Hillary Clinton oder einer »Neuen Weltordnung« ausmachten. Das Beispiel Berlin zeigt, dass sich der Antisemitismus mit Beginn der Pandemie durchaus veränderte. So ordnete RIAS Berlin beispielsweise im Jahr 2019 – vor der Pandemie – ein Viertel der dokumentierten Vorfälle unter anderem der Erscheinungsform des modernen Antisemitismus zu. Hierunter werden antisemitische Verschwörungsmythen, aber auch andere Vorstellungen von jüdischer Macht verstanden. Im Jahr 2020 stieg dieser Anteil auf 34,6 Prozent – mehr als jeder dritte Vorfall war im ersten Jahr der Pandemie insbesondere mit antisemitischen Verschwörungsmythen verbunden. Diese Beobachtungen sind nicht statisch: Antisemitismus ist eine dynamische Denkform, und so werden auch antisemitische Stereotype mit Bezug zur Corona-Pandemie verändert und angepasst. Im Jahr 2021 wurden bei Vorfällen mit Bezug zur Corona-Pandemie zuletzt wieder weniger antisemitische Verschwörungsmythen dokumentiert als noch im Vorjahr, und deren Anteil nahm im Laufe des Jahres ab.6 So wurden zwischen August und Dezember 2021 bundesweit nur 26 Prozent dieser Vorfälle dem modernen Antisemitismus zugeordnet, im Vorjahr waren es noch 64 Prozent der Vorfälle mit Pandemiebezug gewesen. Dafür stieg die Zahl der schoarelativierenden Selbstviktimisierungen. Doch auch hier gibt es Entwicklungen: So beobachtete RIAS seit November 2021 die Zunahme von Chiffren auf Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen: Anstelle von sogenannten Judensternen, womöglich als Reaktion auf die anhaltende Kritik an dieser antisemitischen Selbstinszenierung, trugen Demonstrierende vermehrt gelbe Armbinden. Auf diesen war unter anderem »ungeimpft« zu lesen – und auch sie sind der antisemitischen Markierungs- und Stigmatisierungspraxis der Nationalsozialisten nachempfunden. Antisemitismus scheint mithin ein konstitutives Element bestimmter Teile der Protestbewegung gegen die Coronamaßnahmen zu sein. VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIE UND RECHTSEXTREMISMUS RIAS klassifiziert auch den politisch-weltanschaulichen Hintergrund eines

Vorfalls oder der dafür Verantwortlichen. Eine Zuordnung erfolgt nur, wenn sie sich aus der Selbstbezeichnung ergibt oder sich aus den verwendeten

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6  Vgl. Bundesverband RIAS e. V., Antisemitische Vorfälle in Deutschland, S. 20 ff.

antisemitischen Stereotypen eindeutig ableiten lässt. Bei den Vorfällen im Kontext der Coronapandemie traf dies in 38 Prozent der Vorfälle nicht zu. Für Betroffene und Zeug:innen antisemitischer Vorfälle ist es also häufig nicht ersichtlich, aus welchem Spektrum diese kommen. Dies weist darauf hin, dass antisemitische Vorfälle kein gruppenspezifisches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen sind, was zum alltagsprägenden Charakter des Antisemitismus für Betroffene beiträgt. Was den politisch-weltanschaulichen Hintergrund von Vorfällen im Kontext der Corona-Pandemie betrifft, entfällt der Großteil mit knapp 44 Prozent auf das verschwörungsideologische Milieu. Als verschwörungsideologisch werden Gruppen oder Personen gefasst, bei denen die Verbreitung antisemitischer Verschwörungsmythen im Vordergrund des politischen Handelns steht und deren Weltbild allgemein durch den Glauben an Verschwörungsmythen strukturiert ist. Insbesondere in Bezug auf das Versammlungs­ geschehen zeigt sich hier zum Teil die Schwierigkeit, das Spektrum von dem des Rechtsextremismus – auf den ein Anteil von 16 Prozent entfällt – klar abzugrenzen. Da verschiedene Spektren dieselben Stereotype bedienen können, lässt die Erscheinungsform nicht automatisch auf den entsprechenden politisch-weltanschaulichen Hintergrund schließen. So finden sich die Stereotype des modernen, aber auch des Post-Schoa-­A ntisemitismus in beiden Milieus. ANTISEMITISMUS IN ZEITEN DER CORONA-PANDEMIE Die Corona-Pandemie war für viele Menschen Anlass, sich antisemitisch Bianca Loy studierte Soziologie und Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie in Göttingen und Berlin. Seit 2021 ist sie wissenschaftliche Referentin beim Bundesverband der Rechercheund Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) e. V.

zu äußern und entsprechend – im Einzelfall überaus gewalttätig – zu handeln. Dies betraf zunächst Verschwörungsmythen, die in einer empfundenen Krise wie der Pandemie scheinbar neue Legitimität erhielten. Für viele stellte die Corona-Pandemie jedoch auch eine Gelegenheit dar, die Schoa zu bagatellisieren und sich selbst als Opfer eines vermeintlichen Genozids zu inszenieren. Indes bleibt noch unklar, ob es sich hierbei wirklich um eine Veränderung in Qualität und Ausmaß von Antisemitismus in Deutschland handelt. Womöglich entstand im Zuge der Pandemie und der mit ihr verbundenen Krise eher eine Gelegenheitsstruktur, die Menschen motivierte, sich offen antisemitisch zu äußern und entsprechend

Daniel Poensgen studierte Verwaltungswissenschaften in Potsdam. Seit 2017 ist er wissenschaftlicher Referent beim Bundesverband der Rechercheund Infomationsstellen Antisemitismus (RIAS) e. V.

zu handeln. Somit haben die vergangenen Jahre ein besorgniserregendes Potenzial für antisemitische Gewalt in Deutschland aufgezeigt, das auch in Zukunft nur erfasst werden kann, wenn kontinuierlich der Blick auf antisemitische Handlungen und die Perspektiven der Betroffenen auf dieses Phänomen gerichtet wird. Bianca Loy / Daniel Poensgen  —  Verschwörungsmythen und Selbstviktimisierung

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VON DER ILLUSION EINER SINGULÄREN FREIHEIT DIE AFD IM KRISENMOMENT DER COVID-19-PANDEMIE Ξ  Paula Tuschling

Krisen bieten Gelegenheitsstrukturen für den Aufstieg und Erfolg populistischer Parteien. Im Zusammentreffen sozio-ökonomischer und sozio-kultureller Konflikte um die Verteilung von Ressourcen und Macht rücken nicht nur Fragen kultureller Identität, sondern auch des Vertrauens in die Regierung in den Vordergrund und bieten so einen »populistischen Moment« für He­ rausfordererparteien in demokratischen Systemen.1 Die COVID-19-Pandemie trifft damit als Krise und externer Schock auf eine global vernetzte Welt mit bereits geschwächten oder stagnierenden Demokratien und sich zunehmend etablierenden populistischen Parteien.2 Populismus wird hier politikwissenschaftlich verstanden als eine thincentred ideology3 – eine »dünne Ideologie« –, die Politik als Ausdruck eines »allgemeinen Volkswillens« rahmt und damit als Kernelement einen politischen Anti-Pluralismus vertritt. »Das Volk« wird dabei über antisemitische, verschwörungsideologische und weitere gruppenbezogen menschenfeindliche4 Ausschlussmechanismen konzipiert. Nicht dazu gehören demnach sowohl »die (korrupte) Elite« als auch »die (fremden) Anderen«, die »dem guten Volk« einerseits als antagonistisches und andererseits als dichotomes homogenes Kollektiv gegenüberstehen. Im Rahmen dieser dünnen Ideologie 5

bewegen sich die heutigen rechtspopulistischen Parteien, die in der inhaltlichen Ausgestaltung häufig Merkmale wie Nativismus und Autoritarismus teilen, aber in der Zusammensetzung eine interne Heterogenität aufweisen.6 Die rechtsradikalen ideologischen Merkmale können dabei bis in den Rechtsextremismus münden, weshalb die Parteien rechtspopulistisch und rechtsextrem zugleich sein können. Der parteipolitische Rechtspopulismus tritt in (westeuropäischen) Parteiensystemen wellenförmig in Erscheinung.7 Während die 1980er Jahre von einem elektoralen Durchbruch bei gleichzeitiger politischer Marginalisierung der rechtspopulistischen Parteien geprägt waren, führte eine weitere Welle zu Beginn der 2000er Jahre zu einer schrittweisen Normalisierung und einem Mainstreaming dieser Parteien und ihrer Positionen. Zum Zeitpunkt des

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1  Vgl. Ernesto Laclau, On populist reason, London 2005; Frank Decker, Populismus als Symptom und Folge einer Vertrauenskrise der heutigen Demokratien, in: Isabelle-Christine Panreck (Hg.), Populismus – Staat – Demokratie, Wiesbaden 2020, S. 97–110. 2  Vgl. Nazifa Alizada u. a., Democracy Report 2021. Auto­ cratization Turns Viral, Göteborg 2021; Pippa Norris & Ronald Inglehart, Cultural backlash. Trump, Brexit, and the rise of authoritarian-populism, New York 2018. 3  Vgl. Michael Freeden, Is Nationalism a Distinct Ideology?, in: Political Studies, H. 4/1998, S. 748–765. 4  Das Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit gruppiert anti-pluralistische, diskriminierende Einstellungen und Ideologien. Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände, Folge 1, Berlin 2003 u. Folge 6, Berlin 2016. 5  Vgl. Cas Mudde, The Populist Zeitgeist, in: Government and Opposition, H. 4/2004, S. 541–563. 6  Vgl. ders., The far right today, Cambridge 2019. 7  Vgl. Klaus von Beyme, Right-wing extremism in postwar Europe, in: West European Politics, H. 2/1988, S. 1–18.

Beginns der COVID-19-Pandemie im Winter 2019/2020 waren die rechtspopulistischen Parteien nicht mehr länger Außenseiter in den Parteiensystemen, sondern agierten vielfach als potenziell koalitionsfähig angesehene Oppositionsparteien oder in direkter Regierungsverantwortung. PANDEMIE UND POPULISMUS IN EUROPA Eine vergleichende Studie zu Beginn der Pandemie dokumentiert ein untereinander ähnliches Verhalten der rechtspopulistischen Parteien in Europa: Während sie als Teil der Regierung streng autoritäre Schutzmaßnahmen verabschieden, weichen sie in der Opposition nach kurzer Zeit von diesem Kurs ab und plädieren unter Verwendung populistischer Rhetorik für eine Freiwilligkeit der Maßnahmen und eine Rücknahme aller Regeln.8 Gleichzeitig befürworten alle rechtspopulistischen Parteien allgemeine Grenzschließungen und versuchen mithilfe nativistischer, euroskeptischer und teilweise verschwörungsideologischer Narrative die Pandemie mit Immigration und ethnischen Minderheiten zu verknüpfen. Auch eine Gesamtschau von 22 internationalen Länderstudien zeigt Ähnlichkeiten hinsichtlich der Reaktionsmuster populistischer Parteien auf die Pandemie: Alle berufen sich in ihrer Instrumentalisierung und ihren spalterischen Strategien auf »das Volk«, aber nur populistische Oppositionsparteien bemühen sich aktiv darum, den Krisenmoment aufrechtzuerhalten und in eine Dauerkrise umzuformulieren.9 In den 22 Fallstudien verliert ungefähr die Hälfte der populistischen Parteien (leicht) an Unterstützung, während die andere Hälfte elektoral stabil bleibt. Die meisten populistischen Parteien konnten die Pandemie bislang somit nicht zu ihrem 8  Vgl. Jakub Wondreys & Cas Mudde, European Far-Right Parties and COVID-19, in: Nationalities Papers, H. 1/2022, S. 86–103, hier S. 89. 9  Vgl. Nils Ringe u. a., Conclusion, in: Lucio Rennó & Nils Ringe, Populists and the Pandemic, London 2022, S. 273–292, hier S. 273 f. 10  Vgl. Anna-Sophie Heinze, Zum schwierigen Umgang mit der AfD in den Parlamenten, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, H. 1/2021, S. 133–150; Wolfgang Schroeder u. a., Die AfD in den Landtagen, in: Stephan Bröchler u. a. (Hg.), Kritik – ­Kontrolle – Alternative. Was leistet die parlamentarische Opposition?, Wiesbaden 2020, S. 247–273.

eigenen politischen Nutzen erschließen, mussten aber auch kaum größere elektorale Verluste hinnehmen. DIE AFD – LEUGNUNG EINER GEMEINSAM GETEILTEN REALITÄT IN DER KRISE? Ein wellenförmiges Auftreten des Populismus lässt sich wie in anderen europäischen Ländern auch in der Bunderepublik beobachten. Unter anderem aufgrund einer historisch bedingt strikten Ausgrenzung von Rechtsaußenparteien trat dieser allerdings meist nur in abgeschwächter Form beziehungsweise auf Landesebene in Erscheinung. Die Alternative für Deutschland (AfD) ist die erste auch im Bundestag repräsentierte rechtspopulistische Partei. Bislang bleibt sie allerdings politisch marginalisiert in einer Außenseiterposition im deutschen Parteiensystem, weshalb ihr zum Zeitpunkt der COVID-19-Pandemie ein anderes Repertoire an strategischen Handlungsoptionen zur Verfügung steht als vielen anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa.10 Paula Tuschling  —  Von der Illusion einer singulären Freiheit

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Eine Auswertung von Bundestagsdebattenbeiträgen zeigt, dass die AfD im Zeitraum von März bis Juni 2020 zunächst primär auf Gesundheitsschutz, nationale Solidarität und Grenzschließungen setzte − eine den anderen Parteien ähnelnde Position, wenn auch mit radikaleren Begründungen. Diese stieß allerdings schnell auf innerparteiliche Konflikte und Unzufriedenheit mit der Strategie. Die präferierten Maßnahmen in zwei Positionspapieren der AfD-Fraktion im April und Mai 2020 veranschaulichen die Hetero­genität der Positionen innerhalb der AfD zu Beginn der Pandemie.11 Ab dem Sommer 2020 veränderte die AfD deshalb ihre strategische Ausrichtung und konzentriert sich seither auf ein verstärktes Anti-Establishment-Framing, um die unterschiedlichen Positionen in einer populistischen Abwehrhaltung zu bündeln.12 Damit folgt die AfD dem typischen Verhaltensmuster populistischer Oppositionsparteien in der Pandemie. Dieser Positionswechsel diente auch dem Ziel, den außerparlamentarischen Protestteil und radikalen Flügel der Partei einzubeziehen. Die seit Frühjahr 2020 stattfindenden Demonstrationen gegen die Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie stellen für die AfD sowohl ein Risiko als auch ein Möglichkeitsfenster dar. Zum einen sind viele Demon­strierende der rechtsradikalen Wählerbasis der Partei zuzuordnen,13 zum anderen birgt die öffentliche Verknüpfung der AfD mit den Demon­strationen die Gefahr, moderatere Wählende zu verlieren. Dieses Dilemma löst die AfD bislang mit einer zweigleisigen Strategie: In Parlament und Parteiprogrammatik betont sie die Freiwilligkeit und individuelle Verantwortung bei der Einhaltung von Maßnahmen und der Entscheidung für eine Impfung,14 während sie außerparlamentarisch die Demonstrationen öffentlich unterstützt, mit der »Querdenken«-Bewegung kooperiert und teilweise auch deren protestpolitische Forderungen übernimmt.15 Die Gratwanderung ist dabei nur mäßig erfolgreich: Auf der einen Seite gelingt es der AfD kaum, die Protestgründe zu bündeln und politisch nutzbar zu machen; stattdessen wird sie in der Radikalität von der außerparlamentarischen Opposition gewissermaßen übertrumpft.16 Auf der anderen Seite führt die Verknüpfung radikal aktionistischer Positionen, die nun unter anderem von Grenzschließungen über Freiwilligkeit bei den Schutzmaßnahmen und einer sozialstaatschauvinistischen Verstärkung von Hilfszahlungen bis hin zu verschwörungsideologischer Leugnung der Pandemie reichen, zu logischen Inkonsistenzen, weshalb die AfD ihrer potenziellen Wählerschaft kein glaubwürdiges politisches Angebot unterbreiten kann. Der für den elektoralen Durchbruch und die Etablierung notwendige typische Sammlungscharakter von rechtspopulistischen Parteien steht der AfD

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11  Vgl. Marcel Lewandowsky u. a., Germany – The AfD in the COVID-19 Pandemic, in: Rennó & Ringe, S. 237–249, hier S. 240; Fedor Ruhose, Die AfD vor der Bundestagswahl 2021, Wiesbaden 2020, S. 19 f. 12  Vgl. Barbara Donovan, The Political Exploitation of Covid-19. The AfD as Challenger Party and the Impact on Parliament, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 4/2021, S. 824–843, hier S. 832 ff. 13  Vgl. Oliver Nachtwey u. a., Politische Soziologie der Corona-Proteste, Basel 2020, https://tinyurl.com/indes223g1. 14  Vgl. Lewandowsky u. a., S. 245. 15  Vgl. Anna-Sophie Heinze & Manès Weisskircher, How Political Parties Respond to Pariah Street Protest. The Case of Anti-Corona Mobilisation in Germany, in: German Politics, https://tinyurl.com/indes223g2. 16  Vgl. Oliver W. Lembcke, Germany – The AfD’s Staggering Between Reason and Resistance, in: Giuliano Bobba & Nicolas Hubé (Hg.), Populism and the Politicization of the COVID-19 Crisis in Europe, Cham 2021, S 73–86, hier S. 81.

bei der Entwicklung einer kohärenten Strategie im Krisenmoment der Pandemie als Hemmnis im Weg. DIVERGIERENDE GELEGENHEITSSTRUKTUREN DER KRISENMOMENTE Die »Flüchtlingskrise« 2015 beinhaltet im Kern eine externe, nach außen gerichtete Logik, indem sie direkte sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Konsequenzen für geflüchtete Menschen, aber kaum für die Einwanderungsgesellschaft bedeutet.17 Die COVID-19-Pandemie hingegen ist nicht nur eine weltweite exogene, außerhalb des politischen Systems entstandene Krise. Sie 17  Vgl. George J. Borjas, Immigration economics, Cambridge 2014; Giovanni Peri, Immigrants, Productivity, and Labor Markets, in: Journal of Economic Perspectives, H. 4/2016, S. 3–30. 18  Vgl. Hans-Martin von Gaudecker u. a., Labour supply in the early stages of COVID-19 pandemic, IZA Bonn 2020; Simon Mongey u. a., Which workers bear the burden of social distancing?, in: The Journal of Economic Inequality, H. 3/2021, S. 509–526. 19  Vgl. Moritz Schularick, Der entzauberte Staat: Was Deutschland aus der Pandemie lernen muss, München 2021.

verkörpert auch in interner Logik einen Ausnahmezustand mit realen sozioökonomischen Auswirkungen und eine Verschärfung von regionaler und sozialer Ungleichheit,18 die abzumildern auch Deutschland an die Grenzen seiner staatlichen Leistungsfähigkeit bringt.19 Während sich Immigration und europäische Integration so primär aus der Perspektive nationaler Identität thematisieren lassen, erfordert die Corona-Krise eine deutlich pragmatischere Auseinandersetzung mit ökonomischen Interessenlagen und bietet wie bereits die Finanz- und Eurokrise keine vergleichbare Bühne für soziokulturelle Identitätsfragen.20 DER LIBERTÄRE AUTORITARISMUS DER AFD Die Mobilisierungsfähigkeit des Populismus lebt von der glaubhaften Behauptung, eine (homogene) kollektive Identität wiederherzustellen, für die es, wie eingangs beschrieben, eine Kombination aus horizontaler Dichotomie

20  Vgl. Daniela Braun u. a., Responding to the crisis. Eurosceptic parties of the left and right and their changing position towards the European Union, in: European Journal of Political Research, H. 3/2019, S. 797–819.

und vertikalem Antagonismus der Nicht-Zugehörigkeit braucht. Bereits in

21  Vgl. Cas Mudde, Populist Radical Right Parties in Europe, Cambridge 2007.

feindlich ausgrenzen und die Schuld für die vermeintlich von ihr ausgehende

22  Vgl. Johannes Hillje, AfD-Kommunikation in der Coronakrise. Schlechte Zeiten für Feindbilder, Interview, in: Deutschlandfunk, 16.04.2020, https://tinyurl.com/indes223g3; Pola Lehmann & Lisa Zehnter, The Self-Proclaimed Defender of Freedom. The AfD and the Pandemic, in: Government and Opposition (im Erscheinen).

den 1980er Jahren waren die rechtspopulistischen Parteien am erfolgreichsten, die Nativismus, Autoritarismus und Populismus miteinander verknüpften.21 Ein Krisenmoment im Kontext von Immigration oder Flucht bietet hier die optimale Gelegenheitsstruktur: Eine externe Gruppe lässt sich fremdenexterne Bedrohung lässt sich »der unfähigen politischen Elite« anlasten, die den populistisch gefassten »allgemeinen Volkswillen« nicht umsetze. Im Kontext von Pandemien hingegen fehlt den rechtspopulistischen Parteien die dritte Instanz einer Gegengruppe von außen, ohne die keine gemeinsame Identitätsbildung auf Basis von Nativismus möglich ist. Die dennoch häufig von rechtspopulistischen Parteien versuchte Verknüpfung der Pandemie mit Immigration oder gesellschaftlichen Minderheiten konnte auch im Framing der AfD nicht die gleiche (mediale) Wirkung entfalten.22 Da die Corona-Krise in externer und interner Logik nicht nur »die Anderen« betrifft, Paula Tuschling  —  Von der Illusion einer singulären Freiheit

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verändert sich hier das (sichtbare) autoritäre Element: Strikte Sanktionen und Maßnahmen werden lediglich »nach außen« befürwortet, während in Form einer Entkopplung von (Rechts-)Staat und Gesellschaft die liberale Gemeinschaft abgelehnt und für sich selbst eine individuelle Freiheit und Eigenverantwortung eingefordert wird. In dem Moment, in dem nicht nur Regeln für »die Anderen«, sondern auch für sich selbst gefunden werden müssen, reicht die populistische Gegenpositionierung und Anti-­E stablishment-Rhetorik nicht aus für eine gemeinsame Identitätsbildung und Formulierung eines »einheitlichen Volkswillens« – auch nicht für die Behauptung eines solchen. Das mobilisierende Zusammenspiel von Anti-­Elitismus und Anti-Pluralismus scheitert hier an der nun verstärkt sichtbaren eigenen internen Heterogenität und dem Sammlungscharakter der rechtspopulistischen Partei. Da sich die AfD im Kontext der Corona-Krise nur bedingt auf nativistische und autoritäre Positionen stützen kann, folgt sie in ihrer Strategie dem typischen Krisenansatz23 populistischer Parteien und konzentriert sich seit dem Sommer 2020 verstärkt auf eine anti-elitäre Delegitimierung der Regierungsparteien und eine Umdeutung der Corona-Krise in eine dauerhafte Krise der Demokratie, um die populistische Selbstinszenierung als Stimme

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23  Vgl. Benjamin Moffitt, How to Perform Crisis. A Model for Understanding the Key Role of Crisis in Contemporary Populism, in: Government and Opposition, H. 2/2015, S. 189–217, hier S. 208.

und Verteidigerin »des Volkes« zu rechtfertigen.24 Die teils konspirativ grundierte Darstellung von Regierungshandeln in der Corona-Pandemie als autoritär und die Selbstpräsentation als anti-autoritäre Freiheitskämpfer scheitert allerdings an der Tatsache, dass mit der Betonung der singulären Freiheit eine Ausblendung vulnerabler Gruppen einhergeht, was die eigentlich autoritäre Haltung der AfD offenlegt. Neben der fehlenden Bereitschaft, Verantwortung zum Schutz älterer oder vorerkrankter Menschen zu übernehmen, zeigt sich diese auch in sozialdarwinistischen Forderungen im Kontext von Kindern und Jugendlichen in der Schule. In der Positionierung der AfD und anderer rechtspopulistischer Parteien in der Corona-Krise wird zusätzlich zum autoritären zunehmend auch der libertäre Charakter des gegenwärtigen Populismus sichtbar. Im Kontext von 24  Vgl. Lembcke; Lewandowsky u. a., S. 241. 25  Vgl. Carolin Amlinger & Oliver Nachtwey, Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Berlin 2022. 26  Vgl. Oskar ­Niedermayer, Corona als »Stunde der Regierungsparteien«? Die Folgen der Covid-19-Pandemie für das Parteiensystem, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 4/2021, S. 805–823; Michael Bayerlein & Anne Metten, The Impact of COVID-19 on the Support for the German AfD. Jumping the Populist Ship or Staying the Course?, in: Politische Vierteljahresschrift, H. 3/2022, S. 405–440. 27  Vgl. Kai Arzheimer & Carl C. Berning, How the AfD and their voters veered to the radical right, in: Electoral Studies, H. 4/2019; Nils D. Steiner & Claudia Landwehr, Populistische Demokratiekonzeptionen und die Wahl der AfD, in: Politische Vierteljahresschrift, H. 3/2018, S. 463–491. 28  Vgl. Michael A. Hansen & Jonathan Olsen, The AfD as Populist Issue Entrepreneur. Explaining the Party and its Voters in the 2021 German Federal Election, in: German Politics (im Erscheinen).

Immigration und Flucht überdeckt die Betonung nationaler Identitätsfragen in Form von Externalisierung und Abwehr »nach außen« die auch darüber hinausgehende allgemeine Ablehnung politischer Gleichheit. Im Kontext der Pandemie hingegen zeigt sich in der Erhebung einer singulären Freiheit über die Freiheit und politische Gleichheit aller Individuen in der liberalen Gemeinschaft der libertäre Autoritarismus25 um einiges deutlicher. VERTRAUEN DER KERNWÄHLERSCHAFT Dennoch stoßen das inhaltlich inkonsistente Angebot und die identitätsbildend ins Leere laufende Anti-Establishment-Rhetorik der AfD aus verschiedenen Gründen auf Resonanz und Nachfrage in der Wählerschaft. Während in der deutschen Bevölkerung zu Beginn der Pandemie eine in Krisenmomenten übliche Hinwendung zu den Regierungsparteien sowie dem öffentlichrechtlichen Rundfunk zu beobachten war und eine deutliche Mehrheit die Schutzmaßnahmen konstant befürwortet, zeigt sich die Unterstützungsbasis der AfD zwar gespalten, lehnt die Maßnahmen im Vergleich zu den Wählenden anderer Parteien aber überproportional stark ab.26 Die Wählerschaft der AfD weist darüber hinaus ein hohes Misstrauen in politische Institutionen sowie eine große politische Unzufriedenheit auf und zeigt sich stärker für pandemiebezogenes Verschwörungsdenken empfänglich als Wählende anderer Parteien. Hieraus resultiert eine erhöhte Nachfrage nach anti-elitären Narrativen und populistischen Demokratiekonzeptionen.27 Im Kontext dieser kumulierten Vertrauenskrise, die aus vorangegangenen Krisen entstanden ist und sich im Laufe der Zeit potenziert und verfestigt hat, konnte die AfD trotz ungünstiger Gelegenheitsstruktur auch während der Corona-Pandemie eine signifikante Kernwählerschaft halten.28 Diese generiert sich auch aus einem innerhalb der medialen Parteikanäle geschaffenen Paula Tuschling  —  Von der Illusion einer singulären Freiheit

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29  Johannes Hillje, Propaganda 4.0. Wie rechte Populisten unsere Demokratie angreifen, Bonn 2021, S. 110. 30  Vgl. Anne Küppers u. a., Corona-Skepsis und Rechtsextremismus – der Einfluss der ­Coronapandemie auf die politischen Einstellungen in Thüringen, in: Franz Zobel u. a. (Hg.), Thüringer Zustände 2021, S. 85–93. 31  Vgl. Daniel Mullis, AfD, ­Corona-Pandemie und (städtische) Geographien der Peripherisierung, PRIF Blog, 15.04.2021, tiny.one/ indes223 g3; Karl-Heinz Reuband, AfD-Affinitäten, Corona-­bezogene Einstellungen und Proteste gegen die Corona-Maßnahmen. Eine empirische Analyse auf Bundesländerebene, in: Zeitschrift für Parteienwissenschaften, H. 1/2022, S. 67–94.

Gemeinschaftsgefühl bzw. aus der Konstruktion eines »virtuellen Volkes«29. Im Vordergrund stehen dabei populistische und anti-elitäre Einstellungen, nativistische und ethnozentrische Haltungen bleiben aber in der Verknüpfung für den AfD-Wahlerfolg relevant.30 Daraus folgt eine weitere Ausdifferenzierung und Regionalisierung der AfD-Wählerschaft während der CoronaPandemie in Form einer bundesweiten Verfestigung in strukturschwachen Regionen (darunter auch in der städtischen Peripherie), weshalb sich die AfD bei einem Blick auf die Länderebene eher in ost- als in westdeutschen Bundesländern elektoral stabil zeigt.31 Die kumulative Verankerung führt auch dazu, dass sich die Kernwählerschaft der AfD kaum noch von anderen Parteien zurückgewinnen lässt.32 So hat auch die Corona-Pandemie weniger gesamtgesellschaftlich zu konvergierenden Spannungen geführt, sondern primär die affektive Polarisierung zwischen den Wählenden etablierter Parteien und der AfD-Wählerschaft verstärkt.33 Die verhältnismäßig geringe Polarisierung der öffentlichen Meinung liegt dabei unter anderem auch im grundlegend konsensualen Verhalten der etablierten Parteien während der Krise begründet.34

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32  Vgl. Marcel Lewandowsky & Aiko Wagner, Fighting for a Lost Cause? Availability of Populist Radical Right Voters for Established Parties. The Case of Germany, in: Representation (im Erscheinen). 33  Vgl. Sebastian Jungkunz, Political Polarization During the COVID-19 Pandemic, in: Frontiers in Political Science, 04.03.2021. Jungkunz unterscheidet zwischen ideologischer Polarisierung in Form eines Auseinandergehens politisch-inhaltlicher Ansichten und affektiver Polarisierung in Form eines identitätsbasierten Vergleichs soziokultureller In- und Out-Gruppen. 34  Vgl. Jay J. Van Bavel u. a., Using social and behavioural science to support COVID-19 pandemic response, in: Nature Human Behaviour, H. 5/2020, S. 460–471.

35  Vgl. Lewandowsky u. a., New Parties, Populism, and Parliamentary Polarization. Evidence from Plenary Debates in the German Bundestag, in: Michael Oswald (Hg.), The Palgrave Handbook of Populism, Cham 2022, S. 611–627. 36  Vgl. Lukas Hohendorf & Ulrich Sieberer, Parteienwettbewerb im Bundestag nach dem Einzug der AfD und während der Corona-Krise, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 2/2022, S. 261–286; Katja Demler, Im Schatten von Covid-19. Thematisierungsstrategien der Parteien in der Bundestagswahl 2021, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 2/2022, S. 287–303, hier S. 303. 37  Vgl. Donovan, S. 833; Reuband, S. 89; Marcel Lewandowsky & Anna-Sophie Heinze, Welchen Weg nehmen die »Rechten«? Zum Stand der konservativen, liberalen und rechtsradikalen Parteien in Deutschland, in: Knut Bergmann (Hg.), »Mehr Fortschritt wagen«?, Bielefeld 2022, S. 299–316.

AUSSENSEITERPOSITION IM PARTEIENWETTBEWERB Ähnlich wie innerhalb der Wählerschaft, findet im Parlament die Polarisierung primär in einem Auseinanderdriften der Positionen der etablierten Parteien einerseits und der anti-elitären Einzelposition populistischer Parteien andererseits statt.35 So zeigt sich im Bundestag während der Corona-Pandemie mit Ausnahme der AfD ein verstärkt konsensuales Abstimmungsverhalten zwischen Regierung und übrigen Oppositionsparteien, und auch bei der Bundestagswahl 2021 tritt die AfD in ihrer programmatischen Thematisierung der Pandemie mit deutlich von den restlichen Parteien abweichenden Schwerpunkten auf.36 Innerhalb des krisenbedingten Zusammenschlusses und parteiübergreifenden Konsenses entfaltet die Außenseiterposition und Anti-Establishment-Rhetorik ihre volle Wirkung und macht den typischen Krisenansatz populistischer Parteien so erfolgreich. Während die AfD im Kontext von Immigration und Flucht eine fundamentale Gegen- und Einzelposition im Parteiensystem einnimmt, wird ihr der Außenseiterstatus im Krisenmoment der Corona-Pandemie einerseits von der FDP und andererseits von anderen Kleinparteien des Rechtsaußen-Spektrums

im Zuge weiterer Radikalisierungsprozesse streitig gemacht.37 Die FDP vertrat Paula Tuschling  —  Von der Illusion einer singulären Freiheit

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zu Beginn der Pandemie eine dem parteiübergreifenden Konsens ähnliche, restriktive Position, entwickelte indes ab Oktober 2020 eine offenere, aber weiterhin sachlich-pragmatische Haltung mit einem Fokus auf die rechtliche Verhältnismäßigkeit der Schutzmaßnahmen.38 Damit nahm die FDP eine glaubwürdige Positionsverschiebung im Parteienwettbewerb vor, die zum eigenen liberal-rechtsstaatlichen Profil der Partei passt und sich weiterhin deutlich von der radikalen Gegenposition und Rhetorik der AfD unterscheidet. Wie an diesem Fallbeispiel deutlich wird, kann eine Strategie der Anpassung gegenüber rechtspopulistischen Parteien insbesondere in deren Etablierungsphase im Parteiensystem unter spezifischen Einflussfaktoren (kurzfristig) erfolgreich sein.39 Das Vertrauen der über Krisenphasen gefestigten Kernwählerschaft der AfD lässt sich mit dieser Strategie allerdings nicht zurückgewinnen. Darüber hinaus beinhaltet eine annähernde Positionsverschiebung immer auch die Gefahr einer weiteren Normalisierung der rechtspopulistischen Partei und eines Mainstreaming ihrer populistisch inszenierten Inhalte.40 Tendenziell entstehen langfristig mehr Verluste als Gewinne, da die rechtspopulistischen Parteien eher von einem weiteren Wählerzuwachs profitieren, als dass Wählende für das gemäßigte Parteienspektrum zurückgewonnen werden können.41 NORMATIVE IMPLIKATIONEN FÜR EINE GEGENSTRATEGIE In der Gesamtschau wird deutlich, dass es der AfD trotz parteiinterner Konflikte und einer inkonsistenten programmatischen Position bislang gelingt, sich auch innerhalb der veränderten Krisenlogik der neuen Gelegenheitsstruktur anzupassen und erneut zu einem issue entrepreneur zu entwickeln.42 Dies funktioniert, indem die Partei existierende Nischen im Parteiensystem

38  Vgl. Demler, S. 301; Hohendorf & Sieberer, S. 278.S. 278. Demler, Im Schatten von C ­ ovid-19: Thematisierungsstrategien der Parteien in der Bundestagswahl 2021, S. 301; Hohendorf; Sieberer, Parteienwettbewerb im Bundestag nach dem Einzug der AfD und während der CoronaKrise: eine Analyse namentlicher Abstimmungen, S. 278. 39  Vgl. Werner Krause u. a., Does accommodation work? Mainstream party strategies and the success of radical right parties, in: Political Science Research and Methods (im Erscheinen). 40  Im Kontext der Corona-Pandemie beispielsweise das Aufgreifen des populistischen Narrativs einer allgemeinen und dauerhaften Gefährdung der Grundrechte, das über eine Instrumentalisierung rechtsstaatlicher Prinzipien bei gleichzeitiger Ausblendung gesellschaftlich-politischer Kontextbedingungen funktioniert. Vgl. die AfD-Kampagne »Gemeinsam für das Grundgesetz« (https:// www.gemeinsam-fuer-das-grundgesetz.de). 41  Vgl. Krause u. a. 42  Vgl. Donovan, S. 828 ff.

besetzt und gleichzeitig immer wieder neue Themenfelder findet, die sie erschließen und für populistische, anti-elitäre Narrative nutzbar machen kann. Auch bei einer stagnierenden elektoralen Mobilisierungsfähigkeit bleibt die AfD in der Lage, auf den politischen Diskurs einzuwirken, ihre Kernwählerschaft zu halten und populistische, demokratieskeptische Einstellungen weiter in ihr zu verwurzeln und zu einem gemeinsamen Protestgefühl zu bündeln. Der Krisenmoment der Pandemie offenbart allerdings auch eine Schwachstelle und damit einen potenziellen Anknüpfungspunkt für eine Gegenstrategie im Umgang mit der AfD – und rechtspopulistischen Parteien im Allgemeinen: Offenzulegen, dass die Formierung einer homogenen, identitären Einheit und Position an der eigenen Heterogenität scheitert, könnte den Außenseiterstatus entkräften und vor Augen führen, dass die geforderte individuelle Freiheit letztlich erst als Produkt einer liberal-demokratischen Gemeinschaft existent wird.

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Paula Tuschling studierte Politikwissenschaft, Anglistik/Amerikanistik, Soziologie und Erziehungswissenschaften an den Universitäten Würzburg und Gießen. Sie ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn.

INTERVIEWCOLL AGE

PERSPEKTIVEN AUF CORONA (I) WELCHE ERKENNTNIS IST AUS PERSPEKTIVE IHRER ­DISZIPLIN DIE RELEVANTESTE; WAS HAT SIE AM ­MEISTEN ÜBERRASCHT?

Ξ  Jutta Allmendinger, Soziologie Was mich überrascht hat, war unsere Überraschung über die Folgen. Denn es war abzusehen, dass mit Homeschooling und Homeoffice Frauen in besonders starker Weise von der Pandemie betroffen sein würden. Es war auch abzusehen, dass sich die soziale Ungleichheit zwischen Kindern aus sozioökonomisch unterschiedlich aufgestellten Elternhäusern verstärken würde. Und es war abzusehen, dass wir mit den uns vorliegenden Daten keine sauberen Analysen würden erstellen können, welche Maßnahmen für wen, wann und wie wirken würden. Prof. Dr. h. c. Jutta Allmendinger, Ph.D., ist Präsidentin des Wissenschaftszen­trums Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Ξ  Anja Besand, Erziehungswissenschaften Aus Perspektive der politischen Bildung war es im Kontext der Pandemie interessant zu beobachten, wie sich die Einhaltung von Regeln (Masken tragen/keine Masken tragen) etabliert und auch wieder gelöst hat. Über die Einhaltung sozialer Regeln sprechen wir in der politischen Bildung nicht gerne – schließlich geht es uns um kritische Urteilskraft und nicht um politische Gehorsamkeit. Hier ergeben sich durchaus neue Fragestellungen, die in der Zukunft aufmerksamer in den Blick genommen werden müssen. Gleichzeitig geht es aber auch um Fragen der Partizipation in Krisenzeiten. Denn die Pandemie hat auf schockierende Weise sichtbar gemacht, wie instabil und fragil Partizipations- und Anhörungsrechte zum Beispiel von

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jungen Menschen sind – kaum wird es ein bisschen turbulent, geraten diese völlig aus dem Blick. Prof. Dr. Anja Besand ist seit 2009 Inhaberin der Professur für Didaktik der politischen Bildung an der Technischen Universität Dresden und seit 2020 Direktorin der John-Dewey-Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der schuli­schen wie außerschulischen Politischen Bildung.

Ξ  Thomas Grundmann, Philosophie Gerade in Krisensituationen wie der Corona-Pandemie dürfen politische Entscheidungen den Boden wissenschaftlicher Tatsachen nicht verlassen. Doch woran können Laien erkennen, was wissenschaftliche Tatsachen sind – zum Beispiel über die tatsächliche Sterblichkeit Infizierter oder bevorstehende Ansteckungswellen? Der beste verfügbare Indikator ist die qualifizierte Mehrheitsmeinung einschlägiger Spezialist:innen – die es auch zu Corona gab, trotz abweichender Einzelmeinungen. Wissenschaftliche Mehrheitsmeinungen sind aber für Laien nicht immer leicht zu erkennen, auch weil falsche Expert:innen sich bewusst in den Vordergrund drängen. Gleichzeitig versuchen Verschwörungstheoretiker:innen und sogar manche Politiker:innen, die ganze Aufmerksamkeit auf ihnen passende Mindermeinungen zu lenken. Die Medien betonen diese aus Sensationslust oder weil sie unparteilich sein wollen. Das Erkenntnisproblem kann meines Erachtens nur gelöst werden, indem Wissenschaften und Medien gemeinsam daran arbeiten, den wissenschaftlichen Konsens öffentlich deutlicher sichtbar zu machen. Prof. Dr. Thomas Grundmann ist Professor für Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Logik am Philosophischen Seminar der Universität zu Köln; derzeit arbeitet er an einem Buch über die Autorität der Experten.

Ξ  Anna Neumaier, Religionswissenschaft Ich würde noch nicht von Erkenntnissen sprechen, dazu sind wir noch zu sehr im Forschungsprozess. Aber um mal zu skizzieren, was in meinem Feld – der Forschung zu Religion und digitalen Medien – heraussticht: Viele Religionsgemeinschaften, darunter auch die großen Kirchen, haben sich jahrzehntelang schwergetan mit der Digitalisierung ihrer Formate, auch mit der Präsenz ihrer Themen, Personen und Organisationen in den sozialen Medien. Es gab wenige Leuchtturmprojekte, nur vereinzelt systematische Anstrengungen. Angesichts der Kontaktbeschränkungen kurz vor Ostern 2020 sind

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diese Religionsgemeinschaften gewissermaßen Hals über Kopf in eine maximale Auseinandersetzung mit Digitalität geschmissen worden. Es ist hochspannend zu beobachten, was sich da dann tat: in welchem Maße und in welchen Formen religiöse Inhalte digital gingen, welche Aushandlungen und Neubestimmungen dafür nötig waren und sind, wo Innovationen gewagt werden. Prof. Dr. Anna Neumaier ist Professorin für Religionswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Sie forscht und lehrt zu gegenwärtigen Transformationen von Religion und Religiosität in Deutschland, und insbesondere zu religiöser Kommunikation in digitalen Medien.

Ξ  Paul Nolte, Zeitgeschichte Aus historischer Perspektive wird man das erst später sicherer bestimmen können. Aber von heute aus: Bemerkenswert und auch überraschend ist das Ausmaß, in dem individuelle und kollektive »Gesundheit« ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken konnte. Auch: das Ausmaß, in dem freie Gesellschaften eine umfassende Zäsur in ihren Operationsweisen vollzogen haben; der Begriff »Lockdown« beschreibt das nur unzureichend. Das ist, außerhalb von Kriegszeiten (ja, dieser Vergleich erscheint mir sinnvoll!), historisch singulär, ebenso wie die Totalisierung der medialen Aufmerksamkeit: Über Monate hinweg betrafen mindestens sechs von zehn Meldungen in der tagesschauApp die Corona-Pandemie. Für die Spanische Grippe vor hundert Jahren galt das Gegenteil. Corona ist aus historisch-kulturwissenschaftlicher Sicht vor allem als Diskursphänomen spannend. Vielleicht passt das, unabhängig von dem Virus, zu einem allgemeinen Trend des frühen 21. Jahrhunderts. Die zunehmende Diskursivierung sozialer Konflikte prägt auch andere Arenen (Identitätspolitik, Antisemitismus und so fort). Prof. Dr. Paul Nolte lehrt Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. Er ist Hauptherausgeber von Geschichte und Gesellschaft.

Ξ  Henrique Ricardo Otten, Verwaltungswissenschaften Besonders relevant ist der große Nachholbedarf in puncto Digitalisierung und auch der entsprechenden Ausstattung in der öffentlichen Verwaltung; das ist freilich nicht neu, aber das Ausmaß zeigte sich doch überdeutlich. Erstaunlich war allerdings die Vielzahl der Abstimmungsprobleme in der Perspektiven auf Corona I – Was überrascht hat

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öffentlichen Kommunikation zwischen den verschiedenen Ebenen von Bund, Ländern und Kommunen. Dass die öffentliche Kommunikation staatlicher Akteure in Krisenzeiten konsistent gestaltet werden muss und hier speziell die Organisation öffentlicher Gesundheitskommunikation zu überprüfen ist, gehört zu den zentralen Einsichten, die sich aus der Perspektive der öffentlichen Verwaltung aus der Pandemie gewinnen lassen. Prof. Dr. Henrique Ricardo Otten ist Professor für Politikwissenschaft und Soziologie an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen (HSPV NRW) und Sprecher des Instituts für Personal und Management – Forschungszentrum für Verwaltungsforschung an der HSPV NRW.

Ξ  Sophie Schönberger, Rechtswissenschaften Am relevantesten für die Rechtswissenschaft war aus meiner Sicht die Intensität der Auseinandersetzung, mit der über sehr grundlegende Dinge gestritten wurde – sowohl im Hinblick auf die Freiheitseinschränkungen als auch mit Blick auf das institutionelle Setting, in dem sie vorgenommen wurden. Am Ende hat sich das verfassungsrechtliche System im Großen und Ganzen in der Krise bewährt, auch wenn man hier meiner Meinung nach noch einiges nachträglich aufarbeiten müsste – insbesondere die Fragen der Kompetenzverteilung zwischen Parlament und Exekutive einerseits und Bund sowie Ländern andererseits. Am meisten überrascht hat mich, wie groß die Unsicherheiten gerade im föderalen Gefüge zum Teil waren. Prof. Dr. Sophie Schönberger ist Inhaberin des Lehrstuhls Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf und Co-Direktorin des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF).

Ξ  Hans-Jörg Sigwart, Politische Theorie Aus demokratietheoretischer Perspektive hat die Corona-Pandemie Hinweise zu der Frage geliefert, unter welchen Bedingungen politische Strukturen und Prozesse auch unter dem Druck von fundamentalen Krisen- und Ausnahmesituationen weiterhin im Sinne demokratischer Standards funktionieren können beziehungsweise an welchen Stellen Demokratien im »Ausnahmezustand« anfällig sind. Neben dem Kräfteverhältnis zwischen Regierung und Parlament und dem politischen Umgang mit unterschiedlichen Formen des öffentlichen Protests hat sich meines Erachtens vor allem die Art und Weise, wie sich die öffentliche Debatte in einer solchen Krisensituation (und unter den

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Bedingungen digitalisierter öffentlicher Kommunikation) entwickelt, als zentrale Frage erwiesen. Das Ausmaß der teilweisen Verhärtung, Polarisierung und Polemisierung der öffentlichen Debatte war vielleicht nicht wirklich überraschend, aber sehr bemerkenswert und demokratietheoretisch bedenklich. Prof. Dr. Hans-Jörg Sigwart ist Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen University. Er forscht unter anderem zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, zur Theorie politischer Wissensformen und zur zeitgenössischen Demokratietheorie.

Ξ  Rolf van Dick, Sozialpsychologie In unseren eigenen Studien haben wir immer wieder gefunden, dass sich die große Mehrheit unserer Befragten in mehreren repräsentativen Stichproben an die Regeln gehalten und sich während der letzten zwei Jahre sehr bemüht hat, die Empfehlungen aus Wissenschaft und Politik umzusetzen. 85–90 Prozent gaben an, Abstände einzuhalten, Maske zu tragen usw. In der medialen Berichterstattung richtete sich der Fokus aber sehr häufig auf die zahlenmäßig eher kleinen Gruppen, die gegen die Coronaverordnungen protestiert oder Perspektiven auf Corona I – Was überrascht hat

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die die Regeln verletzt haben, so wie die Jugendlichen, die auf dem Frankfurter Opernplatz ausschweifend gefeiert haben. Weiterhin haben wir immer wieder gefunden, dass das Gefühl »dazuzugehören« und sich zu identifizieren, zum Beispiel mit der Familie, der Nachbarschaft oder mit seinem Land, zu einer besseren Einhaltung der Regeln führte und auch zu einer besseren Verarbeitung der schwierigen Situation, das heißt zu weniger Stress. Prof. Dr. Rolf van Dick ist Professor für Sozialpsychologie an der Goethe-Universität Frankfurt, wo er unter anderem auch als Vizepräsident tätig war. Er ist Fellow der International Association of Applied Psychology und beschäftigt sich mit Prozessen sozialer Identität in Organisationen.

Ξ  Elmar Wiesendahl, Parteienforschung Aus Parteienforschersicht bestätigte sich das Phänomen, dass Parteien bei politischen Entscheidungsnotständen als kollektive Politikformulierungs- und Entscheidungsakteure von den dominierenden Exekutivspitzen sowohl als außerparlamentarische als auch parlamentarische Mitspieler marginalisiert werden. Die Ausbootung der Parteien ging so weit, dass sie nicht einmal als Vermittlungs- und Mobilisierungsinstanzen von öffentlicher Unterstützung für die Umsetzung der Exekutiventscheidungen herangezogen wurden. Zu fragen ist, warum bei den mehrmaligen mühseligen Verhandlungen zwischen den Spitzen der Landesregierungen mit der Kanzlerin trotz der Aufgliederung nach A- und B-Ländern so gut wie keine auf gemeinsamer Parteizugehörigkeit fußende Lagerbildung entstand. Prof. Dr. Elmar Wiesendahl ist promovierter Soziologe und habilitierter Politikwissenschaftler. Er lehrte Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München und war bis Ende 2021 Mitgesellschafter und Geschäftsführer der Agentur für Politische Strategie (APOS) in Hamburg. Er forscht und publiziert vor allem über Parteien und politische Strategiefragen.

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ANALYSE

KLIPP UND UNKLAR MERKELS MERKWÜRDIGE ENT-SCHULDIGUNG ZUR OSTERRUHE Ξ  Volker Best

»Wir werden einander noch viel verzeihen müssen«, orakelte Jens Spahn als Gesundheitsminister zu Beginn der Corona-Pandemie. Nun hat er unter diesem Titel ein Buch zu seiner Sicht auf die Corona-Geschehnisse veröffentlicht.1 Spahns gegen spätere Kritik immunisierendes Vorab-Sorry, seine »demon­ strative Demut« gilt Robin Alexander als »kommunikatives Meisterstück«, das zu seinem zwischenzeitlichen Aufstieg in den Rankings der beliebtesten Politiker:innen beigetragen habe.2 Tatsächlich bot die Krise aufgrund ihrer Komplexität und Unvorhersehbarkeit bald überreichlich Gelegenheiten zur öffentlichen Abbitte für teils mehr, teils weniger vermeidbare Fehler: vor allem für Spahn, dessen Beliebtheitswerte im zweiten Pandemie-Jahr durch die Corona-Wellen leck schlugen; aber auch bereits für seinen Amtsnachfolger Karl Lauterbach. 1  Vgl. Jens Spahn, Wir werden einander viel verzeihen müssen, München 2022. 2  Vgl. Robin Alexander, Machtverfall. Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik. Ein Bericht, München 2021, S. 200 f. 3  Vgl. ebd., S. 340; Ursula Weidenfeld, Die Kanzlerin. Porträt einer Epoche, Berlin 2021, S. 277; Michael Schlieben, Angela Merkels Kalkül könnte aufgehen, in: Zeit Online, 24.03.2021; Ulrich Reitz, Demutsgeste einer Perfektionistin. Die Vertrauensfrage wäre für Merkel gefährlich geworden, in: Focus Online, 25.03.2021, tiny.one/indes223h0.

Doch nicht nur der jeweilige Gesundheitsminister, auch andere Regierende im Bund und in den Ländern fühlten sich seit dem ersten Lockdown im März 2020 zu Entschuldigungen bemüßigt. Besonders heraus sticht hier die Abbitte Angela Merkels am 24. März 2021 für die zunächst unvermittelt angekündigte und nach heftiger Kritik mit ebendieser Erklärung der Bundeskanzlerin gerade einmal dreißig Stunden später ebenso unvermittelt zurückgenommene »Osterruhe«. Dieser Entschuldigung sind die nachfolgenden Überlegungen gewidmet. EINE HISTORISCHE ABBITTE? Bei aller ostentativen persönlichen Bescheidenheit ist politische Demut der damaligen Kanzlerin Sache eigentlich nicht. Frühere öffentliche Entschuldigungen für politisches Versagen sind den meisten politischen Beobachter:innen aus 16 Merkel-Jahren nicht erinnerlich.3 Noch kurz zuvor etwa hatte sie

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zur Brüssel überantworteten und dort nur schleppend vorankommenden Impfstoffbeschaffung erklärt, es sei »im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen«4. Auch nach der Bundestagswahl 2017, bei der ihre Union über acht Prozentpunkte verloren hatte und sich mit dem Einzug der AfD erstmals seit den 1950er Jahren im Bundestag mit einer Partei zu ihrer Rechten konfrontiert sah, beschied sie ihre parteiinternen Kritiker:innen nonchalant, sie sehe nicht, was man anders machen sollte. Und an der schiedlich-profitlichen Politik gegenüber Putins Russland während ihrer Amtszeit mag sie auch rückblickend nichts Falsches finden. Manche Beobachter:innen erinnern an die Rücknahme der De-facto-Beförderung des Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen infolge seiner Verharmlosung rechts­extremer Übergriffe und Verschwörungsgeraunes auf der Website der Behörde. Damals hatte Merkel allerdings nur ihr Bedauern darüber geäußert, die Stimmung im Land nicht richtig wahrgenommen zu haben, nicht explizit um Entschuldigung ersucht.5 Da auch Merkels Amtsvorgänger nicht dafür bekannt waren, »einen auf Mea Culpa« (Gerhard Schröder) zu machen, wurde Merkels Osterruhe-­Abbitte in den Medien gefeiert und als »historisch« bewertet. Karina Strübbe, die erst vor wenigen Jahren die erste deutschsprachige Monografie zum Thema politische Entschuldigungen vorgelegt hatte und daher von vielen Medien um eine Kommentierung gebeten wurde, beurteilte Merkels Verhalten gar als »mustergültig«, da sie Reue äußere, Verantwortung übernehme und um Verzeihung bitte. Der Umfang der Entschuldigung – vier Minuten – verleihe dieser eine besonders hohe Glaubwürdigkeit.6 Eine machttaktische Funktion vermochte Strübbe in Merkels Abbitte nicht zu erkennen. Auch Justus Duhnkrack sieht in der Osterruhe-Entschuldigung ein »Lehrbuchbeispiel« – »sofern man keine politisch-strategischen Hintergründe vermutet«.7 STRÜBBES TYPOLOGIE POLITISCHER ENTSCHULDIGUNGEN Doch verdient Merkels Entschuldigung derart viel Lorbeer? Um diese Frage zu beantworten, ist es erhellend, eine Einordnung von Merkels OsterruheEntschuldigung in Strübbes eigene Typologie politischer Entschuldigungen zu versuchen. Diese blendet die vielgestaltigen Gründe für eine politische Abbitte – vom verunglückten Tweet am Vorabend bis hin zu jahrzehntealtem historischen Unrecht – aus und konzentriert sich auf zwei strukturelle Kriterien: Wer entschuldigt sich? Und in wessen Namen wird Verantwortung übernommen? Mithin können sich individuelle oder kollektive Akteure entweder persönlich beziehungsweise gemeinschaftlich oder stellvertretend entschuldigen.

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COVID-19 ff. — Analyse

4  Zit. nach Alexander Kissler, Im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen? Merkels CoronaManagement als letzte Belastungsprobe und symptomatischer Schlussakkord ihrer Kanzlerschaft, in: Philip Plickert (Hg.), Merkel. Die kritische Bilanz von 16 Jahren Kanzlerschaft, München 2021, S. 95–108, hier S. 97. 5  Vgl. Stephan Lamby, Entscheidungstage. Hinter den Kulissen des Machtwechsels, München 2021, S. 135; Nico Fried & Henrike Rossbach, Gegen die Wand, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.03.2021; Nadja Aswad u. a., Merkel gibt Fehler zu, kippt Oster-Ruhetage. »Ich bitte um Verzeihung!«, in: Bild, 25.03.2021. 6  Vgl. Stefanie Banner, Warum Merkels Entschuldigung mustergültig ist, in: nordbayern.de, 25.03.2021, tiny.one/indes223h1; Angelika Slavik, »Die Wirkung einer guten Entschuldigung wird oft unterschätzt« (Interview mit Karina Strübbe), in: Süddeutsche Zeitung Online, 27.03.2021, tiny. one/indes223h2; Nina Koren, Von Canossa bis Bill Clinton. Nicht jedem ging das öffentliche »Sorry« leicht über die Lippen, in: Kleine Zeitung, 28.03.2021, tiny. one/indes223h3. 7  Justus Duhnkrack, Die Osterruhe in der Mediation, in: Zeitschrift für Konfliktmanagement, H. 6/2021, S. 240–244, hier S. 244.

Aus der Kombination der Merkmalsausprägungen beider Kriterien ergeben sich vier Typen, für die Strübbe folgende Beispiele anführt: • individuell-persönlich: Politiker entschuldigt sich für eigene unangemessene Äußerung • individuell-stellvertretend: Minister entschuldigt sich für Verfehlung eines Mitarbeiters • kollektiv-gemeinschaftlich: Partei entschuldigt sich für Spendenskandal • kollektiv-stellvertretend: Bundesregierung entschuldigt sich für NS-Verbrechen.8 Strübbes vierteilige Typologie ist so schlicht wie einleuchtend und sollte eine zweifelsfreie Zuordnung aller politischen Entschuldigungen ermöglichen. Dass das im Falle von Merkels Entschuldigung für den nicht tragfähigen Beschluss, mit nur anderthalb Wochen Vorlaufzeit das öffentliche, wirtschaftliche und private Leben von Gründonnerstag bis Ostermontag weitgehend herunterzufahren, nicht recht gelingen mag, scheint vielsagend hinsichtlich der Qualität der Abbitte und der eigentlichen Beweggründe hinter dieser. EINZIG UND ALLEIN QUA AMT? Zunächst lässt der Wortlaut auf eine persönliche Verantwortungsübernahme Merkels schließen. Die Kanzlerin betonte, dieser Fehler sei »einzig und allein« ihr Fehler. Dann setzte sie allerdings hinzu: »Denn am Ende trage ich für alles die letzte Verantwortung. Qua Amt ist das so […].«9 Letztere Formulierung lässt aufhorchen, weil Strübbe im Zuge der empirischen Analyse ihrer Typologie politischer Entschuldigungen noch einen fünften Typ hinzufügt, den sie zunächst Entschuldigung qua Amt nennt,10 bevor sie ihn schließlich in institutionelle Entschuldigung umtauft. Solche Entschuldigungen seien »immer zuerst in ihrer institutionellen Ausrichtung zu 8  Vgl. Karina Strübbe, Politische Entschuldigungen, Wiesbaden 2018, S. 164 ff. 9  Alle Zitate aus Merkels ­Entschuldigung – auch im Weiteren – nach o. V., Die Entschuldigung Merkels im Wortlaut, in: SZ Online, 24.03.2021, tiny.one/ indes223h4. 10  Vgl. Strübbe, Politische Entschuldigungen, S. 284 f. 11 

Ebd., S. 404.

verstehen«11, weshalb eine Differenzierung als individuell oder kollektiv auf der Akteursebene sekundär erscheine. Träger:innen bestimmter Rollen im Rahmen einer Institution übernähmen im Namen dieser Institution Verantwortung für aus den institutionellen Verfahrensabläufen unvermeidbar resultierende Widrigkeiten, so etwa das gerade den Vorsitz führende Mitglied des Bundestagspräsidiums für das Unterbrechen von Redner:innen im Bundestag durch Zwischenfragen anderer Abgeordneter. Im Unterschied zu den anderen vier Typen geht es hier also nicht um eine substanzielle, mit Reue verbundene Entschuldigung. Mit dieser Erweiterung erweist Strübbe der Kohärenz ihrer Typologie insofern keinen guten Dienst. Volker Best  —  Klipp und unklar

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Noch weniger überzeugend erscheint, dass sie in ihrer Interpretation der Osterruhe-Abbitte die Kanzlerin einfach beim Wort nimmt: »Merkel sagte in ihrer Rede, dass sie sich qua Amt entschuldigt. Sie hat die Entscheidung ja nicht alleine getroffen und die Ministerpräsidenten wiederholten die Entschuldigung auch.«12 Ob Strübbe damit tatsächlich auf ihren eigenen Typ der institutionellen Entschuldigung (qua Amt) abstellt, wird nicht ganz klar. Nachzuvollziehen wäre dies kaum, da es bei diesem ja gerade nicht um schwerwiegendes Fehlverhalten gehen soll, das zudem persönlich zuzurechnen wäre. Beides stellt Merkel aber mit Bezug auf die Osterruhe klar fest. Sie spricht mehrfach und mit ernster Miene von einem »Fehler«, der »zusätzliche Verunsicherung« ausgelöst habe und »auch als Fehler benannt werden und vor allem […] korrigiert werden« müsse, und sie reklamiert diesen »klipp und klar […] einzig und allein« als den ihren. STELLVERTRETEND FÜR DIE LANDESFÜRST:INNEN? Die Formulierung »qua Amt« könnte alternativ auch auf eine stellvertretende Verantwortungsübernahme hinweisen. Zu dieser schreibt Strübbe: »In einem solchen Fall entschuldigt sich der individuelle Sprecher für das Delikt eines anderen und übernimmt die Verantwortung. Dies ist insofern möglich, als dass etwa ein Minister als Chef seines Ministeriums Verantwortung für den Output seiner Behörde hat und sich insofern auch für Delikte entschuldigen kann (ggf. muss), für die er zwar nicht direkt die Schuld trägt, aber indirekt verantwortlich ist.«13 Tatsächlich scheint Merkel sich stellvertretend für die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) zu entschuldigen. Für diese informelle Institution trägt die Kanzlerin aber keine Verantwortung »qua Amt«. Im »Normalbetrieb« jedenfalls zieht die MPK die Bundeskanzlerin nur bei jedem zweiten ihrer Treffen

12 

Zit. nach Banner.

13 

Strübbe, S. 164.

Behnke beschreibt sie als einen um »rund das halbe Kabinett« erweiterten,

14  Nathalie Behnke, Deutschland – Föderales Krisenmanage­ ment und die Rolle der Minis­­­ter­präsidentenkonferenz, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.), Jahrbuch des Föderalismus 2021, Baden-Baden 2021, S. 39–52, hier S. 44.

»von der Kanzlerin orchestrierten Krisenstab«.16 Das Kanzleramt berief die

15 

Vgl. ebd.

und Ansagen gingen klar vom Bund aus, begleitet von einer auch medial

16 

Ebd., S. 47.

kommunizierten Erwartungshaltung, dass man sich auf die Bundesvorgaben

17  Vgl. ebd., S. 48.

hinzu, und auch dann nur zeitweilig. Vorsitz und Sitzungsleitung wechseln turnusmäßig zwischen den Länderregierungschef:innen14 und lagen damals beim Berliner Regierenden Bürgermeister Michael Müller. Zwar waren die »neuen Bund-Länder-Gespräche in der Pandemie«15 nicht nur deutlich enger getaktet als die sonst nur viermal pro Jahr stattfindende MPK. Nathalie

Sitzungen ein und bestimmte den Kreis der Teilnehmenden.17 »Vorgaben

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COVID-19 ff. — Analyse

jedenfalls einließ.«18 In der Fünferrunde, in der die Osterruhe ausgeheckt wurde, während das Gros der Ministerpräsident:innen stundenlang auf eine Fortführung der Sitzung wartete, gab es gar einen numerischen Bundesüberhang (mit Merkel, Vizekanzler Scholz und Kanzleramtsminister Braun einerseits, Müller und Söder andererseits).19 Indes ließ Merkel nie einen Zweifel aufkommen, dass die Bund-Länder-Treffen während der Pandemie auf Augenhöhe stattfanden; auch wurden Tagesordnungen und Beschlussvorlagen mit den jeweiligen Vorsitzländern der MPK abgestimmt, die die Treffen nach wie vor als »Sonderkonferenz der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder und Besprechung mit dem Bundeskanzler« oder ähnliches aus18 

Ebd.

19  Vgl. Alfred Weinzierl, »Kurzfristiges, reaktives Denken«, in: Der Spiegel, 30.11.2021. 20  Vgl. die entsprechenden Websites der jüngsten Vorsitzländer Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Berlin, tiny.one/indes223h5; tiny.one/ indes223h6;tiny.one/indes2221h7. 21  Vgl. Behnke, S. 48.

wiesen.20 Zudem sind die Beschlüsse rechtlich nicht bindend und werden von den Landesregierungen nach eigenem Ermessen umgesetzt.21 VERANTWORTUNG FÜR ALLES? Die Bundeskanzlerin bestimmt zwar laut Artikel 65 des Grundgesetzes »die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung«. Ihrer Richtlinienkompetenz sind aber schon im Bereich der Regierung die konkurrierenden Prinzipien der Ressorthoheit und kollegialen Verantwortung des Kabinetts zur Seite gestellt. Endgültig zum »Verfassungsmythos«22, der jeglicher Durchsetzungsmöglichkeit entbehrt,23 wird die Richtlinienkompetenz durch das

22  Stephan Bröchler, Regieren mit und ohne Richtlinienkompetenz – Handlungsspielräume des Bundeskanzlers in Deutschland und Österreich, in: Everhard Holtmann & Werner J. Patzelt (Hg.), Führen Regierungen tatsächlich? Zur Praxis gouvernementalen Handelns, Wiesbaden 2008, S. 99–114, hier S. 105.

Regieren in Koalitionen sowie die Bestimmung des Artikels 38, dass die Ab-

23  Vgl. Eberhard SchuettWetschky, Richtlinienkompetenz (hierarchische Führung) oder demokratische politische Führung?, in: Holtmann & Patzelt, S. 85–98, hier S. 89.

mit dem er leben könne – den er andernfalls also auch hätte ablehnen kön-

24  Zit. nach o. V., Habeck appelliert an Grünen-Fraktion, Scholz’ Machtwort zu akzeptieren, in: faz.net, 18.10.2022, tiny.one/ indes223h7. 25  Vgl. Claudia Koestler, »Ist das alles? Reaktionen auf des Kanzler Machtwort, in: Süddeutsche Zeitung Online, 18.10.2022, tiny.one/indes223h8.

geordneten allein ihrem Gewissen verpflichtet sind. Dass Merkels Nachfolger Olaf Scholz jüngst als erster Bundeskanzler die Richtlinienkompetenz explizit in Stellung brachte, um den Streit seiner Koalitionspartner in Sachen Streckbetrieb der drei verbliebenen Atomkraftwerke beizulegen, widerlegt diese Einordnung nicht, sondern untermauert diese sogar: So bezeichnete der zuständige Energieminister Robert Habeck Scholz’ Diktum als »Vorschlag«, nen – und mit dem der Kanzler »voll ins Risiko gegangen« sei – eben wegen der möglichen Nichtakzeptanz durch die Koalitionspartner. Er »werbe dann dafür, dass wir jetzt diesen Weg auch gehen«24 – was impliziert, dass die grünen Abgeordneten sich auch anders entscheiden könnten, wie Habecks parteiinterner Widersacher Jürgen Trittin prompt klarstellte.25 Schon im parlamentarischen System, wo sie zumindest formal an der Spitze der grundgesetzlichen Verantwortungsarchitektur steht, ist die persönliche Einflussnahme und Verantwortung der Kanzlerin also begrenzt. Einmal im Amt, hatte Merkel schnell verstanden, dass sie – insbesondere an der Spitze einer Großen Koalition – mit dem Versuch Schröder’scher BastaPolitik nur scheitern könne und sich auf ein dienstbeflissenes »Abarbeiten« Volker Best  —  Klipp und unklar

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der Koalitionsverträge beschränkt und ihre persönliche Zukunft nie an irgendein konkretes Projekt geknüpft. Nachdem sie als Oppositionsführerin im Wahlkampf 2005 noch die Verheißung zukünftigen »Durchregierens« ins Feld führte, musste sie wenig später zusehen, wie die Landesfürsten der eigenen Partei bereits in den Koalitionsverhandlungen die Gegenfinanzierung der geplanten Lohnnebenkostensenkung aushebelten26 und sie wenig später mit ihrem persönlich nächtelang mit der SPD zur allseitigen Gesichtswahrung ausbaldowerten Gesundheitsfonds auflaufen ließen.27 Selbst der folgenden Wunschkoalition mit der FDP stellten sich die Unions-Ministerpräsidenten beim Wachstumsbeschleunigungsgesetz in den Weg, bis ihnen die Zustimmung vergoldet wurde.28 Warum auf einmal also sollte sich die Kanzlerin für das Handeln der Länder verantwortlich wähnen, in denen die Union inzwischen nurmehr sieben Regierungschefs stellte? Wenn Merkel ihren Verantwortungsraum qua Amt ausgedehnt sah auf alles, was mit, gegen oder ohne ihr eigenes Zutun im Land passiert, sollte das auch die politische Bildung einschließen. Dann sollte sie nicht den Kinderglauben nähren, »Mutti« sei die Chefin von Deutschland und alle anderen ihre Untergebenen. Das ist ebenso anmaßend wie schlecht für die Demokratie. SELBSTERHÖHUNG DURCH SELBSTBEZICHTIGUNG Merkel schien bei ihrer vermeintlichen Entschuldigung im Namen der MPK wichtig zu sein, hier keine kollektive Abbitte vorzutragen. Nicht nur, dass kein mindestens pflichtschuldig nickender Michael Müller an ihrer Seite stand – Merkel schien auch erpicht, sich selbst als handelnde Akteurin zu präsentieren, die »den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten vorhin […] in einer kurzen Videokonferenz erläutert und darüber auch die Vorsitzenden der Fraktionen im Deutschen Bundestag informiert« hat, die für den unprakti29

kablen Osterruhe-Beschluss »notwendigen Verordnungen […] nicht auf den Weg zu bringen, sondern sie zu stoppen«. Im Kontrast zu ihren vorherigen Corona-Reden, die vom inkludierenden »wir« durchzogen waren, fällt der konsequente Gebrauch der ersten Person besonders stark auf.30 Viele Beobachter:innen interpretierten dies als »bemerkenswerte Geste der Demut« und »Zeichen der Größe« nach dem Muster »die eine opfert 31

sich für die anderen«32, fanden dies »tapfer« und »ehrlich«33, sahen darin einen Ausdruck von Führungsstärke und Reflexionsfähigkeit.34 Dabei war doch offenkundig, dass Merkel die Entscheidung zur Osterruhe nicht alleine gefällt hatte – und dass diese eine Notlösung gewesen war, nachdem die ­M inisterpräsident:innen sie mit ihren Vorschlägen zur Verschärfung der Corona-Maßnahmen im Angesicht einer anlaufenden neuen Pandemie-Welle

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COVID-19 ff. — Analyse

26  Vgl. Volker Best, Die Strategie der kommunizierten Ehrlichkeit im CDU/CSU-Bundestagswahlkampf 2005, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 3/2009, S. 579–602, hier S. 596 f. 27  Vgl. Ralph Bollmann, Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Zeit, München 2021, S. 313 f. 28  Vgl. Thomas Rixen, Hehre Ziele, wenig Zählbares. Die Steuer- und Fiskalpolitik der schwarz-gelben Regierung, 2009–13, in: Reimut Zohlnhöfer & Thomas Saalfeld, Politik im Schatten der Krise. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2009–2013, Wiesbaden 2015, S. 327–351, hier S. 338. 29  Alle Zitate nach o. V., Entschuldigung Merkels im Wortlaut. 30  Vgl. Constanze Spieß, »Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler« – Politische Kommunikation im Zeichen der Corona-Pandemie, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, H. 3/2021, S. 451–475, hier S. 468. 31  Wolfgang Kracht, Es ist ernst, in: Süddeutsche Zeitung, 27.03.2021. 32  Wolfgang Höbel, Auch nur ein Mensch. Merkel entschuldigt sich, in: Spiegel online, 24.03.2021, tiny.one/indes223h9. 33  Andre Fischer, Merkels Rückzieher war ehrlich, tapfer und auch nötig, in: nordbayern.de, 24.03.2021, tiny.one/indes223h10. 34  Vgl. Laura Schäfer, ­ Gefühle statt Teflon. Merkels Entschuldigung zeigt ihre Stärken und Schwächen zugleich, in: Focus Online, 24.03.2021, tiny.one/indes223h11.

hatten abblitzen lassen. Wollte Merkel unter diesen Vorzeichen mit ihrer Alleinschuldübernahme wirklich »ihren Länderkolleginnen und -kollegen jede Art der kalten Dusche und der finsteren Mitbeschämung ersparen«35? Gerade wenn Merkel, wie es so gerne heißt, politische Entwicklungen und ihre Reaktionen darauf vom Ende her zu denken pflegte, ist die Vermutung nicht abwegig, dass ihre Entschuldigung auch motiviert war durch den Versuch einer Selbsterhöhung durch Selbstbezichtigung. Jedenfalls zog das offenkundig überzogene Alleinschuldpostulat (vorhersehbare) Beistands-Posts 35  Höbel.

in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtag #SolidaritätmitMerkel nach

36  Vgl. Schlieben.

sich. In der anschließenden Bundestagssitzung wurde zwar auch gefordert,

37  Vgl. o. V., Es war richtig! Mehrheit der Deutschen begrüßt Merkels Entschuldigung, in: Focus Online, 25.03.2021, tiny.one/indes223h12.

die Bundeskanzlerin solle die Vertrauensfrage stellen, vor allem aber wurde ihr am laufenden Band »Respekt« gezollt.36 Und dem Meinungsforschungsinstitut Civey zufolge begrüßten 62 Prozent die Rücknahme der Osterruhe und sogar 82 Prozent Merkels Entschuldigung.37

Volker Best  —  Klipp und unklar

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WATSCHENFRAU & DEPPEN Dabei blieb Merkels Verantwortungsübernahme durch die nicht zutreffende Behauptung, als Kanzlerin sei sie nun mal vom Grundgesetz zur Watschenfrau »qua Amt« für alles Mögliche bestimmt (das eigentlich andere verbockt haben), »also auch […]« (aber nicht im Besonderen?!) »[…] für die am Montag getroffene Entscheidung zur sogenannten Osterruhe«, rein formalistisch. Insofern könnte man argumentieren, dass es sich bei Merkels Abbitte im Sinne von Aaron Lazare um eine »Pseudo-Entschuldigung« handelte, die sich in parasitärer Weise der Macht echter Entschuldigungen bedient und versucht, sich deren Vorteile zu sichern, ohne diese eigentlich verdient zu haben:38 »[E]s geht darum, einen Abtausch von symbolischer Reue gegen reale Folgen­ losigkeit vorzunehmen.«39 Jedenfalls ging das »meisterliche Manöver« der Kanzlerin, das Berthold Kohler für Oscar-würdig befand, voll auf: »Während die geläuterte Merkel sich wie Phönix aus der Asche des Osterruhebeschlusses erhob, mussten Laschet und Söder sich noch zerknirscht im Staub […] wälzen: Ja, wir waren auch dabei.«40 Dem damaligen hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier wird die Äußerung zugeschrieben, die Landeschef:innen hätten wie »Deppen« dagestanden. Insofern kann auch von einem In-die-Bresche-Werfen der Kanzlerin für die Union41 nicht die Rede sein, zumal Merkel Laschet sowie dessen Saar-Kollegen Tobias Hans einige Tage später noch explizit als Saboteure der bisherigen Corona-Absprachen an Anne Wills TV-Pranger stellte. Nicht nur die von der Union gestellten Landeschefs fühlten sich nach Merkels überzogenem »Einzig und allein«-Bekenntnis genötigt, ihre eigene Mitverantwortung einzuräumen42 – ohne freilich noch auf ähnliche öffentliche und mediale Lobeshymnen hierfür hoffen zu dürfen. Nur wenige SPDMinisterpräsident:innen wollten nicht zu Kreuze kriechen und betonten, für einen Abbruch der Nachtsitzung sowie zunächst eine sorgfältige Prüfung der Machbarkeit der Osterruhe plädiert zu haben.43 Letzten Endes hatten sie indes dennoch zugestimmt. Mit dem »neue[n] Stilmittel«44 ihres Mea Culpa setzte Merkel vermutlich »ganz bewusst ein Ausrufezeichen«45 hinter den Misserfolg der Ministerpräsident:innenkonferenz, um so den Bund wieder in die Vorhand zu bringen. Wenige Tage nach der Osterruhe-Entschuldigung drohte sie den in die Defensive geratenen Länderregierungschef:innen, den Infektionsschutz an

39  Angelika Hager u. a., Sorry! Warum es so schwierig ist, sich zu entschuldigen (vor allem für Politiker), in: profil, 29.08.2021. 40  Berthold Kohler, Merkels Passionsspiele, in: faz.net, 26.03.2021, tiny.one/indes223h13. 41  Vgl. Kracht. 42  O. V., »Großer Respekt« für Merkels Entschuldigung – und Forderungen nach der Vertrauens­frage, in: stern.de, 24.03.2021, tiny.one/inde223h14. 43  Vgl. Cindy Boden, »Das werde ich nicht tun«. Merkel nimmt Oster-Beschlüsse zurück – aber wischt in ARD Vertrauensfrage vom Tisch, in: Münchner Merkur Online, 24.03.2021, tiny. one/indes223h15; Jan Drebes & Kerstin Münstermann, Mission Scherbenhaufen, in: General-Anzeiger Online, 25.03.2021; o. V., Rekonstruktion des Wahnsinns. Nach Corona-Gipfel bricht Panik aus: »Ja sind die denn alle vom Affen gebissen«, in: Focus Online, 26.03.2021, tiny.one/indes221h16.

sich zu ziehen, zwei Wochen später erfolgte die Einigung auf eine Bundes-

44  Vgl. Schlieben.

notbremse, die dann weitere zwei Wochen später in Kraft trat. Ein ganzes

45  Malte Thießen, Auf Abstand. Eine Gesellschafts­ geschichte der Corona-Pandemie, Frankfurt a. M. 2021, S. 104.

Jahr lang war Merkel zuvor trotz vorhandener Gesetzgebungskompetenz in Art. 74 I Nr. 19 des Grundgesetzes vor einer Verantwortungsübernahme des

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38  Vgl. Aaron Lazare, On Apology, New York 2004, S. 8 f.

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Bundes und daraus möglicherweise resultierenden Konflikten mit den Ländern zurückgeschreckt.46 Vielleicht hätte Merkel sich eher dafür entschuldigen sollen, die Dinge derart lange laufen gelassen zu haben, obwohl das Format der MPK sich schon länger als dysfunktional erwiesen hatte, als für die gerade einmal dreißig Stunden währende »zusätzliche Verunsicherung« der Bürger:innen – »eine große Geste der Demut für eine merkwürdig kleine Sache«47. Was waren diese dreißig Stunden gegenüber der wochen- und monatelangen Verunsicherung durch das nur quälend langsam anlaufende Impfen und das sich verzögernde Schnelltesten? Diese sehr viel langwierigeren Ärgernisse gerieten durch Merkels demonstrative Selbstbezichtigung zu ihrem eigenen Vorteil vorläufig in Vergessenheit.48 BENANNTE, GEMEINTE, VERSCHWIEGENE Durch das Schlaglicht, das Merkels so merkwürdiges wie maßloses Mea Maxima Culpa auf die Länderfürst:innen warf, geriet der ursprüngliche Urheber des Osterruhe-Debakels fast gänzlich aus dem Blick: Kanzleramtsminister Helge Braun. Dieser hatte den Vorschlag der Osterruhe vorgebracht, als ihn die Kanzlerin zu vorgerückter Stunde und Verzweiflung fragte: »Helge, hast du noch eine Idee?«49 In Merkels Erklärung freilich wurde Braun – anders als die Ministerpräsident:innen – mit keinem Wort erwähnt, auch nicht indirekt. So eingeschränkt das Ermessen der Kanzlerin selbst bei der Ernennung der Minister:innen ihrer eigenen Partei ist, weil verschiedene Flügel, Landesverbände und Rival:innen (so nach der Bundestagswahl 2017 ihr parteiinterner Kritiker Jens Spahn) Berücksichtigung fordern – wenigstens bei einer Personalie redet ihr niemand hinein, nämlich bei der Auswahl ihres engsten 46  Vgl. Bollmann, S. 705 f. 47  Barbara Supp, Entschuldigung! Im zweiten Coronafrühling bittet Angela Merkel die Bürger um Verzeihung – Steht die ihr zu?, in: Der Spiegel, 30.11.2021. 48  Vgl. Luisa Hofmeister, Der falsche Modus, in: Die Welt, 25.03.2021; Melanie Amann, Danke für nichts. Die richtige Entschuldigung der Bundeskanzlerin fehlt noch, in: Der Spiegel, 27.03.2021; Bollmann, S. 699. 49  Vgl. Nico Fried u. a., Frohe Ostern, in: Süddeutsche Zeitung, 24.03.2021.

Mitarbeiters im eigenen Haus. Wenn die Kanzlerin für irgendetwas oder irgendwen nun wirklich »qua Amt« unmittelbar und vollständig verantwortlich gemacht werden kann, dann für ihn und sein Agieren. Hätte Merkel sich nicht derart überdimensioniert selbst in den Senkel gestellt und dadurch den Blick auf die kollektive Mitverantwortung der Länderfürst:innen gelenkt, hätte die mediale Berichterstattung wohl stärker auf Brauns Rolle als Oster(un)ruhestifter abgestellt (zumal die ursprüngliche Beschlussvorlage des Kanzleramts im Gegenteil noch Lockerungen über Ostern vorgesehen hatte). Dann hätte es für Merkel schwierig werden können, Brauns Verbleib im Kanzleramt zu begründen. An einem Wechsel auf diesem für sie essenziellen Posten ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl konnte sie, die nicht einmal auf Söders Impuls zwei Jahre zuvor eingegangen war, das Kabinett für die Volker Best  —  Klipp und unklar

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zweite Hälfte der Legislaturperiode aufzufrischen, aber keinerlei Interesse haben, noch dazu inmitten der Pandemie. So kam Braun davon mit einem verschwiemelten »Auch ich hatte meinen Anteil daran«.50 Da auch die zuständigen Ministerien noch in der MPK-Nacht zur Umsetzbarkeit einer Osterruhe befragt worden waren und zunächst positiv geantwortet hatten,51 hätte zudem Brauns Amtsvorgänger und Merkel-Intimus Peter Altmaier in den Fokus geraten können, der in seinem neuen Amt als Wirtschaftsminister auch in der Union ohnehin als Fehlbesetzung galt und dessen Ablösung durch Merkels alten Erzrivalen Friedrich Merz dessen zahlreiche Fans sehnlichst herbeiwünschten. DIE HOHE KUNST DER SELBSTEXKULPATION Karina Strübbe beschrieb ihre erste Reaktion auf Merkels Osterruhe-Abbitte als ein »Wow!«: »Man konnte meinen, Merkel habe ein, nicht unbedingt mein, Buch darüber gelesen, wie man sich entschuldigt.«52 Wenn, dann dürfte es sich dabei – eingedenk der kurzen Zeitspanne von der inneren Entscheidungsrevision bis zu deren Verkündigung – um ältere Lektüreerträge gehandelt haben. Auch Strübbe, selbst CDU-Mitglied, scheint ihre eigene Monografie allerdings nicht noch einmal eingehend zu Rate gezogen zu haben, bevor sie ihrer Parteifreundin das Siegel »mustergültig« ausstellte. Dieses hatte sie ihr übrigens auch schon beim Maaßen-Beförderungs-­ Bereuen nicht vorenthalten,53 obwohl sie in ihrem Buch den Ausdruck von Reue allein nicht als ausreichend für eine Entschuldigung erachtet.54 Eine Reflexion anhand ihrer eigenen Typologie hätte Strübbe deutlich machen müssen, dass Merkels Osterruhe-Entschuldigung alles andere als »klipp und klar« war, sondern die Verantwortungsübernahme zwischen »einzig und allein mein Fehler« einerseits und »letzte Verantwortung« für alles »qua Amt« andererseits gänzlich unklar und rein formalistisch blieb. Ihr Ent-Schuldigen55 hatte Merkel mit dieser Erklärung bereits selbst übernommen und die Schuld, indem sie diese scheinbar selbstlos auf sich nahm, elegant an die Landesfürst:innen weitergereicht. Konsequenterweise bat Merkel denn auch nicht um Entschuldigung, sondern um Verzeihung. Zweifelsohne handwerklich eine mustergültige Selbstexkulpation – demokratischen Lobpreis verdient diese aber nicht. Man kann sie Merkel höchstens verzeihen. Dr. habil. Volker Best, geb. 1981, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und seit 2022 Mitglied der Redaktionsleitung der INDES. Seine Interessenschwerpunkte sind Parteienund Koalitionsforschung sowie Demokratiereform.

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50  Zit. nach Boden. 51  Vgl. ebd. 52  Zit. nach Banner. 53  Vgl. Richard A. Fuchs, Merkels Sorry – ein Befreiungsschlag? Maaßen und die Folgen, in: Deutsche Welle, 24.09.2018, tiny.one/indes223h17. 54  Vgl. Strübbe, Politische Entschuldigungen, S. 177. 55  Vgl. Ludger Oeing-Hanhoff, Verzeihen, Ent-schuldigen, Wiedergutmachen. Philologischphilosophische Klärungsversuche, in: Giessener Universitätsblätter, H. 111, Gießen 1978, S. 68–80, tiny.one/indes223h18, hier S. 69 f.

WAS WÄRE, WENN …? PREPPEN IN DER MITTE DER GESELLSCHAFT Ξ  Julian Genner Die Rede von Krise führt in ihrem Schlepptau sowohl die Hoffnung als auch die Aufforderung mit sich, dass – da sie alle betrifft – alle dasselbe Maß an Einsicht zeigen und dieselben Schlussfolgerungen ziehen. Nun, die CoronaKrise hat diese Hoffnung gründlich zerschlagen. Während der Pandemie zeigte sich, dass Krisen uns eben nicht alle gleich betreffen und uns auch nicht zu identischen Wahrnehmungen zwingen. Eher machten es die zwischenzeitlich lauten Appelle an die »Solidarität« schwieriger, über Ungleichheiten zu sprechen und konstruktiv mit Dissens umzugehen. Wenn es etwas gibt, das uns alle in dieser Situation verbunden hat, dann ist das der Riss zwischen Erfahrung und Erwartung, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Gemeinhin nutzen wir unsere Erfahrungen, um einer Zukunft, die wir nie wirklich voraussehen können, Sinn zu verleihen. Ein normales Leben – was immer »normal« konkret bedeuten mag – zu führen, ist mit der Idee verbunden, dass die Zukunft bis zu einem gewissen Grad berechenbar ist.1 Der Begriff der Krise in seiner wörtlichen Bedeutung als Wendepunkt hingegen verweist auf einen Bruch in der Kontinuität zwischen Vergangenheit und Zukunft. Erscheint die Zukunft unberechenbar, prägen Unsicherheit und Ungewissheit die Wahrnehmung der Gegenwart.2 Die Frage, wie sich dieser zwischen Erfahrung und Erwartung klaffende Riss kitten ließe, wurde zum Dauerthema politischer, wissenschaftlicher, gesellschaftlicher Debatten – die mal mehr, mal weniger schrill geführt wurden. Und wer es sich leisten konnte, hielt sich gar nicht erst lange mit Debatten auf, sondern wählte einen praktischeren Ansatz, um die Zukunft ein Stück berechenbarer zu machen – und 1  Vgl. Rebecca Bryant & Daniel M. Knight, The Anthropology of the Future, Cambridge 2019. 2  Die Erfahrung, keine Zukunft zu haben, prägt die Lebensrealität von Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, vgl. Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M. 2010, S. 265 ff. 3  Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG (GE 3311/1-1).

räumte kurzerhand die Supermarktregale leer. KRISENVORSORGE ALS LEIDENSCHAFT: PREPPEN Mit den leeren Regalen rückten Menschen in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit, die sich mit umfangreichen Vorräten und der Aneignung von überlebenswichtigen Fähigkeiten für ebensolche Krisensituationen rüsten. Die Rede ist von Prepper:innen. Einige von ihnen begleite ich im Rahmen meines aktuellen Forschungsprojekts mit ethnografischen Methoden; das bedeutet konkret: Ich verbringe Zeit und führe Gespräche mit Menschen, deren Leidenschaft die Vorbereitung auf zukünftige Krisen ist.3 Wurde Preppen

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lange als Kuriosum belächelt, so berichten mir meine Forschungspartner:innen, dass sie mittlerweile in ihrem Bekanntenkreis vermehrt um Rat gefragt werden. Unter dem Eindruck von Corona-Pandemie, Hochwasserkatastrophe im Ahrtal und Ukrainekrieg hat der Themenkomplex Katastrophenschutz und Krisenvorsorge politisch, aber auch alltagsweltlich stetig an Bedeutung gewonnen. Empfehlungen für den Notvorrat finden Eingang in die mediale Berichterstattung.4 Gleichzeitig genießt Preppen einen zweifelhaften Ruf. Grund dafür sind verschiedene rechtsterroristische Gruppierungen, die ihre Krisenvorbereitungen zuletzt öffentlichkeitswirksam mit Plänen zur Machtergreifung verbanden.5 Die meisten meiner Forschungspartner:innen bestehen hingegen darauf, dass Preppen »unpolitisch« sei. Sie sehen ihre Leidenschaft durch die Assoziation mit Rechtsextremismus zu Unrecht verunglimpft. Empfiehlt denn nicht der Staat eine private Krisenvorsorge? Kommen Prepper:innen nicht einfach vorbildlich ihren bürgerlichen Pflichten nach? Haben nicht frühere Generationen ebenfalls eine umfassende Vorratshaltung betrieben und haben unsere Vorfahren nicht auch schon gepreppt – freilich ohne das so zu nennen? Aber wie kommt es dann, dass ausgerechnet im Umfeld von »Querdenken« Produkte rund um die Krisenvorsorge aggressiv beworben werden – etwa vom Schlagersänger Michael Wendler oder dem einstigen Gastronomie-Unternehmer Attila Hildmann?6 Und zeigen die leeren Regale sowie das nachhaltig gestiegene Interesse an Preppen und Krisenvorsorge nicht wiederum, dass dem Phänomen mit gängigen Stereotypen analytisch kaum beizukommen ist? Hat nicht die Hochwasserkatastrophe im Ahrtal vor Augen geführt, dass die Behörden im Krisenfall nur bedingt handlungsfähig sind? Wimmelt es in der Populärkultur nicht von Held:innen, die den Kampf ums Überleben feiern, vor laufender Kamera im Dschungel Maden essen (Bear Grylls), blutrünstige Zombies niedermetzeln (The Walking Dead) oder mit den Folgen eines Stromausfalls kämpfen (Blackout)? Um die Virulenz von Preppen in der deutschen Gegenwartsgesellschaft zu verorten, erscheint es sinnvoll, einen Umweg über die Geschichte des Phänomens zu nehmen. WARUM UNSERE »VORFAHREN« KEINE PREPPER WAREN »Meinen Großeltern waren auch schon Prepper, nur hat man das damals nicht so gesagt« – diesen Satz habe ich im Verlauf meiner Forschung in verschiedenen Variationen immer wieder gehört. Gefolgt von Geschichten über Omas, die den Herbst mit dem Einkochen von Obst und dem Einlegen von Gemüse verbrachten, bis hin zu Kindheiten in Haushalten, in denen nichts weggeworfen und alles repariert wurde (»Haben ist besser als brauchen.«). Es

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4  Bereits 2016 verabschiedete das Bundeskabinett eine neue Zivilschutzstrategie, die auch Empfehlungen für die private Krisenvorsorge enthält. 5  In Deutschland geht es konkret um drei Fälle: den im Juli 2022 verurteilten Ex-Soldat Franco A. und das dazugehörige Netzwerk (Gruppe Nordkreuz), die Gruppe S. und eine Gruppe namens Vereinte Patrioten. Letztere plante Anschläge auf das Stromnetz, die Entführung des Gesundheitsministers und die Wiederherstellung des Deutschen Reichs. Im Großen und Ganzen ähnelten sich die Pläne dieser Gruppen und beinhalteten die Herbeiführung bürgerkriegsähnlicher Zustände, um die Bundesregierung abzusetzen. 6  Vgl. o. V., Tausende Euros durch Panikmache: Nicht nur Michael Wendler verdient an Gaga-­ Produkten, in: Focus Online, 01.10.2021, tiny.one/indes223i1.

mag trivial erscheinen, daran zu erinnern, dass die Vorratshaltung früherer Generationen je nach Schichtzugehörigkeit integraler Teil der Alltagsbewältigung war. In Bezug auf Deutschland ist hier die Versorgungslage während der Weltkriege, der Weltwirtschaftskrise dazwischen und in der unmittelbaren Nachkriegszeit hervorzuheben. Preppen hingegen ist eher Symptom einer Überflussgesellschaft, in der – das nötige Kleingeld vorausgesetzt – alles rund um die Uhr verfügbar ist. Die gegenwärtige Fragilität der Lieferketten oder die leeren Regale während des ersten Lockdowns verweisen meines Erachtens weniger auf eine Knappheit an Waren als auf eine sprunghaft gestiegene Nachfrage – also darauf, dass sich viele nach wie vor vieles leisten können. Im Unterschied zur klassischen Vorratshaltung ist Preppen eine Freizeitaktivität, eine Lebensstilentscheidung. Oftmals steht keineswegs die Selbstversorgung aus dem Garten im Vordergrund. Was das Herz vieler meiner Forschungspartner:innen höherschlagen lässt, sind Ausrüstungsgegenstände und Technik. Der Austausch über die neuesten Anschaffungen und Eigenbauten, über die Vorzüge von bestimmten Messern, Taschenlampen, Kochern, Wasserfiltern, Solaranlagen, Zelten, Offroad-Fahrzeugen, Multitools, Powerbanks, Funkgeräten – die Liste ließe sich beliebig verlängern – nimmt viel Raum ein. Nicht ohne Selbstironie sprechen meine Forschungspartner:innen auch von »gear porn«. Die Verständigung über Ausrüstung wirkt zudem pazifizierend. Gerade in kontro­ versen Diskussionen in einschlägigen Social-Media-Kanälen – etwa über Coronamaßnahmen oder Russlandsanktionen – geht die Aufforderung, auf politische Debatten zu verzichten, mit dem Appell einher, sich auf den produktiven Austausch über Ausrüstung und konkrete Vorbereitungsmaßnahmen zu besinnen. Diese Vorkehrungen können sehr umfangreich ausfallen. Ich habe mit Menschen gesprochen, die Vorräte für über ein Jahr angelegt haben und sich rühmen, an alles gedacht zu haben. Andere haben ausgeklügelte Fluchtpläne (»bug out«) ersonnen und sich die dafür passende Ausrüstung besorgt, inklusive im Wald vergrabener Plastikfässer mit zusätzlichen Vorräten. Wieder andere wollen eine Krise in den eigenen vier Wänden aussitzen und investieren in eine autarke Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung. Nochmals andere üben die Kommunikation untereinander via Notfunk. Die Interessen und Geschmäcker sind verschieden, die finanziellen Mittel sind es ebenso. Preppen sei eigentlich, so sagte es mir mal jemand, eine Zusammensetzung verschiedener Hobbies, jede:r mache es ein bisschen anders. Im Unterschied zur Vorratshaltung der »Vorfahren« ist die Krisenvorsorge von Preppern nicht auf die Bewältigung des Lebensalltags, sondern eines Julian Genner  —  Was wäre, wenn …?

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außeralltäglichen Ereignisses ausgerichtet. Die Ansichten, wann welche Art von Krisenereignis eintreten wird, gehen auseinander. Eine gewisse Einigkeit hingegen scheint darin zu bestehen, wie diese Krise verlaufen wird: Ein Ereignis wird eine Kettenreaktion in Gang setzen, die schließlich zum Zusammenbruch von Versorgungsinfrastrukturen und der öffentlichen Ordnung führt. Die im Preppen gängigen Krisenszenarien artikulieren Misstrauen gegenüber der Fähigkeit des Staates, ein Katastrophenereignis abzuwenden oder effektiv zu bewältigen.7 Die Geschichte von Preppen als Lebensstil führt somit nicht zur Vorratshaltung früherer Generationen, sondern in die USA der ausgehenden 1960er Jahre. SURVIVALISM: ÜBERLEBEN ALS LEBENSSTIL Die Beschäftigung mit der Krisenvorsorge avancierte in den späten 1960er Jahren in den USA zum Lebensstil, im Verlauf der 1970er Jahre setzte sich dafür schließlich die Bezeichnung Survivalism durch. Als Gründervater und Namensgeber gilt heute Donald Eugene Sisco (1932–2021), besser bekannt unter seinem Pseudonym Kurt Saxon. Er war zunächst Mitglied in verschiedenen antikommunistischen, rechtsextremen politischen und religiösen Gruppierungen, etwa der John Birch Society oder der American Nazi Party. Gerade in rechtsextremen Kreisen grassierte die Furcht vor einer linken oder gar kommunistischen Revolution – etwa mit Blick auf die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, die erstarkende Bürgerrechtsbewegung, Hippietum und studentische Proteste. Ein starker Antikommunismus bildete den gemeinsamen Nenner eines heterogenen rechtsextremen Spektrums in den USA – und die Vorbereitung auf einen möglichen Gegenschlag im Falle einer

kommunistischen Revolution war Teil davon. Saxon selbst veröffentlichte verschiedene Handbücher zum Bau von Bomben und Waffen, die er später unter dem Titel The Poor Man’s James Bond veröffentlichte.8 In den nachfolgenden Publikationen Saxons verschiebt sich der Fokus allerdings. Die Praktiken des Vorbereitens lösen sich von umstürzlerischen Ambitionen und werden zum Selbstzweck. Die Krise erscheint nicht mehr als Gelegenheit für eine »bessere« Gesellschaft, sondern als Dauerzustand: »The quality of life is going down and the difficulty of maintaining a decent living standard is a greater worry to most Americans.«9 Im Verlauf der 1970er Jahre fiel die Idee umfangreicher Krisenvorbereitungen auf fruchtbaren Boden. Sie wurde zum Symbol der Eigenverantwortung in libertären Kreisen und ein positives Gegenbild zum Schreckensgespenst eines nanny state. Auch apokalyptisch orientierte Evangelikale trafen umfassende Vorbereitungen, um

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7  Es wäre falsch, Misstrauen mit Paranoia gleichzusetzen oder grundsätzlich negativ zu bewerten. Misstrauen ist integriert in Strukturen von Gewaltenteilung und Mechanismen zur wechselseitigen Kontrolle ein wesentliches Element von Demokratien, vgl. Florian Mühlfried, Misstrauen. Vom Wert eines Unwertes, Stuttgart 2019. 8  Vgl. Ann Larabee, The Wrong Hands. Popular Weapons Manuals and Their Historic Challenges to a Democratic Society, New York 2015, S. 66 ff. 9  Kurt Saxon, The Survivor Series, Bd. 1, Eureka 1976, S. 1.

die Zeit zwischen dem Beginn der Apokalypse und dem Jüngsten Gericht überbrücken zu können. Schließlich sei noch Don Stephens genannt, der über das Bauen mit Naturmaterialien, Energieeffizienz und Nachhaltigkeit schrieb. Dieser ökologisch orientierte Strang spielte für Survivalism als Massenphänomen in den 1980er Jahren indes schon keine Rolle mehr – letzterer fußte auf einem aggressiven Antikommunismus, unterlegt von einem christlich geprägten Nationalismus und gepaart mit der Sorge um den eigenen Wohlstand sowie der Angst vor einem nuklearen Konflikt. Die Attraktivität von Survivalism für breite Schichten entsprang der Verbindung einer pessimistischen, ja fatalistischen Sicht auf die Welt – nichts was wir tun, wird am Lauf der Dinge im Großen und Ganzen etwas ändern – mit einer optimistischen Ermächtigungsperspektive für das eigene Leben: Mit der richtigen Vorbereitung lässt sich im Kleinen ein gutes Leben führen.10 Bruce D. Clayton schrieb im Vorwort seines 1979 erschienenen Bestsellers Life after Doomsday. A Survivalist Guide to Nuclear War and Other Major Disasters, dass das Buch sich seiner Enttäuschung und Wut über Abrüstungsaktivist:innen verdanke, die sich geradezu masochistisch in ihren Ohnmachtsgefühlen suhlen würden.11 Survivalism bildete einen Gegenpol zu sozialen Bewegungen, die auf gesamtgesellschaftliche oder globale Veränderungen zielten, und speiste sich gleichzeitig aus einem Misstrauen gegenüber dem Staat, gute Lebensbedingungen für seine Bürger:innen zu gewährleisten. Mit der Entspannung des Kalten Krieges und der Erholung der amerikanischen Wirtschaft flaute das Interesse an Survivalism ab. Zusätzlich wurde der Begriff vermehrt mit Rechtsterrorismus in Verbindung gebracht, etwa mit der christlich-rassistischen Gruppe The Covenant, the Sword, and the Arm of the Lord, die 1985 durch das FBI zerschlagen wurde. In den 1990er Jahren ging 10 

Die umfassendste Ethnografie zum Survivalism der 1980er findet sich bei Richard G. Mitchell, Dancing at Armageddon. Survivalism and Chaos in Modern Times, Chicago 2002. 11  Vgl. Bruce D. Clayton, Life After Doomsday. A Survivalist Guide to Nuclear War and Other Major Disasters, Boulder 1980, S. ix ff. 12  Die wissenschaftliche Literatur übernimmt dieses Narrativ teilweise, vgl. Chad Huddleston, For Preppers, the Apocalypse Is Just Another Disaster, in: Sapiens, 14.03.2018, tiny.one/indes223i2.

Survivalism in der aufsteigenden Militia-Bewegung auf. Praktiken der Krisenvorsorge fanden auch Eingang in die apokalyptischen Teile der New-Age-Szene. PREPPEN IM NEUEN JAHRTAUSEND: ALTER WEIN IN NEUEN SCHLÄUCHEN? Während der Nachwehen der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 kam es zu einem Revival von Survivalism unter neuem Namen: Preppen. Begleitet wurde diese Umbenennung von folgendem Narrativ: Der Survivalism der 1980er Jahre sei mit seiner Obsession für die nukleare Bedrohung fehlgeleitet und insgesamt extremistisch geprägt gewesen, beim Preppen hingegen gehe es um die angemessene Vorbereitung normaler Bürger:innen auf realistische Katastrophen.12 Angesichts der Heterogenität und Popularität von Survivalism wirkt diese Erzählung wenig überzeugend. Julian Genner  —  Was wäre, wenn …?

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Gleichzeitig unterscheidet Preppen sich in spezifischen Facetten durchaus deutlich vom Survivalism. Das Szenario des Atomkriegs spielt keine Rolle mehr; im Verlauf der 2010er Jahre kristallisierte sich ein großflächiger Blackout als neues Leitszenario heraus. Der Survivalism-Boom blieb auf die USA beschränkt, Preppen dagegen wurde durch das Internet und Reality-TV-­

Sendungen wie Doomsday Preppers im globalen Norden populär.13 Wie bei Survivalism nährt die Sorge um den eigenen Wohlstand und Lebensstandard auch die Popularität von Preppen. Im Unterschied zu den USA fehlt in Deutschland die fundamentalistisch christlich angehauchte Grundierung – das gilt sowohl für Survivalism als auch für Preppen. Eine spezifische Einfärbung erhält der gegenwärtige Trend hierzulande durch die deutsche Geschichte. Vier politische Systeme brachen im 20. Jahrhundert zusammen. In Gesprächen mit meinen Forschungspartner:innen tauchen die damit einhergehenden Verwerfungen immer wieder auf, etwa die Überlebenskniffe des Großvaters während der Kriegsgefangenschaft oder die Flucht der Großmutter in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Kontinuitäten zwischen meinen Forschungspartner:innen und ihren »Vorfahren« sind daher weniger auf der Ebene der konkreten Vorratshaltung zu suchen, sondern lassen sich – abhängig von den Familiengeschichten und ihrer jeweiligen subjektiven Deutung – eher darin finden, dass die eigene Krisenvorsorge mit der Erinnerung an die Großeltern verknüpft wird. Im Grunde lässt sich das heutige Preppen in einer ähnlichen Konstellation verorten wie zuvor Survivalism. Im Vordergrund steht die Bewahrung des eigenen Wohlstands in als unsicher erlebten Zeiten. Preppen bildet damit einen Gegenpol zu Bewegungen, die die Welt im Großen und Ganzen verändern wollen. Energiewende, Gendern, die Migrationspolitik der späten Merkel-Jahre oder »political correctness«, all das sind Reizthemen und wiederkehrende Schimpfanlässe. Der Klimawandel hingegen ist als Krisenzenario kaum ein Thema. Vielmehr werden Maßnahmen gegen den Klimawandel in den einschlägigen Kanälen vor allem als Bedrohung der Versorgungssicherheit und des eigenen Wohlstands thematisiert und skandalisiert.

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Während der Corona-Pandemie wurde Preppen für breite Teile der Bevölkerung attraktiv, weil es gerade in der mit Ungewissheit durchsetzten frühen Phase der Pandemie eine individuelle Handlungs- und Selbstermächtigungsperspektive bot, die zunächst kaum Vorkenntnisse erforderte und sich mit einer bewährten Alltagstätigkeit verknüpfen ließ: dem Einkaufen. Gleichzeitig ist Preppen ambig. Dies lässt sich anhand des Ausdrucks »Tag X« gut zeigen. »Tag X« kann den plötzlichen Eintritt eines Krisenereignisses bezeichnen. Unter dem Schlagwort »#KärntenTagX« fand der Ausdruck

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13  Wie kein anderer verkörperte Rüdiger Nehberg das Faszinosum, das das Thema Überleben auch in der BRD ausübte. Im Unterschied zu den USA entstand daraus jedoch keine Szene, vgl. Philipp Schönthaler, Der dünne Pelz der Zivilisation, Berlin 2016. 14  Jüngst lässt sich auch eine Politisierung des Blackout-Szenarios beobachten. Die AfD Thüringen beispielsweise fordert in einer Broschüre: »Blackout vermeiden – Energiewende stoppen.« Die Opposition der Krisennarrative »Blackout« und »Klimakatastrophe« findet nun Eingang in die Bundespolitik, vgl. Steffen Kutzner, Blackout: Wie das Katastrophenszenario eines Stromausfalls für Panikmache und Profit genutzt wird, in: Correctiv, 19.8.2022, tiny.one/indes223i3.

aktuell beispielsweise Eingang in eine Blackout-Sensibilisierungskampagne im österreichischen Kärnten. »Tag X« kann aber auch jenen Tag meinen, an dem die Regierung oder die Eliten mit der endgültigen Unterjochung des »deutschen Volks« beginnen und an dem der bewaffnete Widerstand nicht mehr länger aufgeschoben werden kann. Franco A. und die Gruppe S. witterten in der Immigrationspolitik eine Verschwörung der »Eliten« gegen das »deutsche Volk«, für die Vereinten Patrioten wiederum war die Coronapolitik Treiberin ihrer Umsturz- und Machtergreifungspläne. Das der Auseinandersetzung mit Krisenvorsorge zugrunde liegende Misstrauen kann vielfältige Formen annehmen, von Zweifeln an der Handlungsfähigkeit des Staates im Krisenfall bis hin zu Verschwörungserzählungen, die Regierung führe Krisen absichtlich herbei – mittels »Plandemie« oder »Wetterwaffen«. »Querdenken« vermochte es daher teilweise auch, Prepper:innen für die eigenen Anliegen zu mobilisieren und stärker zu politisieren. Gleichzeitig brachte »Querdenken« auch Menschen zum Preppen, die damit zuvor noch nicht in Berührung gekommen waren. Der Verkauf von Produkten rund um das Thema Krisenvorsorge ist zudem lukrativ und schafft attraktive Verdienstmöglichkeiten. Der Kopp-Verlag, vor allem bekannt für verschwörungserzählerische Publikationen, führt in seinem Shop schon seit Jahren Prepping-Produkte, vom Kurbelradio bis hin zum fertig gepackten Fluchtrucksack. Vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte von Survivalism vermag die Attraktivität von Preppen für rechtsextreme Kreise kaum zu überraschen. Jedoch ist eine Gleichsetzung von Preppen mit Rechtsextremismus oder »Querdenken« irreführend. Viele Prepper:innen wollen damit nichts zu tun haben. Die Frage, welches Maß an Misstrauen angemessen und realistisch ist, bietet immer wieder Anlass zu kontroversen Diskussionen. Dabei fällt insbesondere online nicht selten auch der Vorwurf, jemand sei paranoid oder betreibe Panikmache. Prepper:innen, so formulierte es einer meiner Forschungspartner, seien »normale Bürger, die weiterdenken.« FREIHEIT DURCH EIGENTUM: PREPPEN IN DER MITTE DER GESELLSCHAFT Preppen ist nicht zuletzt für breite Teile der Gesellschaft attraktiv, weil es einen spielerischen Umgang mit einem Bruch in der Kontinuität erlaubt. Die Frage »Was wäre, wenn …?«, die meine Forschungspartner:innen umtreibt – und die dem Phänomen insgesamt zugrunde liegt –, ermöglicht es ihnen, einen Riss zwischen Erfahrung und Erwartung zu imaginieren. Beim Preppen geht es darum, diesen Bruch aus eigener Kraft kitten zu können: Das Notstromaggregat kompensiert den Ausfall der Stromversorgung, die Julian Genner  —  Was wäre, wenn …?

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Lebensmittelvorräte den geschlossenen Supermarkt; und weil man im Krisenfall nicht die Polizei rufen kann, muss man gegebenenfalls selbst für den eigenen Schutz sorgen können. Preppen stiftet Selbstermächtigung, indem es erlaubt, sich von fragil empfundenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unabhängig zu machen. Es ist daher besonders für die Mittelschicht attraktiv, die zur Verwirklichung ihrer Träume von materiellem und sozialem Aufstieg auf gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen angewiesen ist. Es gehört zur Illusion der Mittelschicht, dass sie ihren Wohlstand der eigenen harten Arbeit zu verdanken und ihn damit zu verdienen glaubt. Oder wie es ­Oskar Negt im Gespräch mit Alexander Kluge ausdrückt: »Jeder Mensch ist im Grunde seines Glückes eigener Schmied. Und wenn er verliert, hat er eben nicht richtig geschmiedet.«15 Diese – in Negts Worten – »ziemlich schlimme Theorie« findet ihren Ausdruck auch im Preppen. Angesichts verschlechterter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen – erst die Negativzinsen, aktuell die Inflation – richten sich die Anstrengungen der Mittelschicht nicht mehr auf den Aufstieg, sondern auf Besitzstandwahrung – Eigentum als Inbegriff von Freiheit und Schlüssel zur Zukunft. Preppen ist so gesehen auch eine Investition gegen den sozialen Abstieg, die das gängige Ideal von Leistungs­ gerechtigkeit lediglich auf die Spitze treibt: Wer vorsorgt, wird überleben. Und die anderen, nun, sie bilden eine Masse von bedeutungslosen Namenlosen, die als Zombies die postapokalyptische Welt in The Walking Dead oder als »plündernde Horden« die Krisenszenarien von Prepper:innen bevölkern. Sie symbolisieren jene, denen man unterstellt, nicht gut geschmiedet zu haben oder zu faul dafür gewesen zu sein; jene also, die in politischen Debatten zu Armut, Migration und Ungleichheit als bedrohliche Masse aus »Sozialschmarotzern« oder »Wirtschaftsflüchtlingen« erscheinen. Der Nimbus des Irrationalen, Gefährlichen und Außergewöhnlichen, der Preppen bisweilen angehängt wird, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Preppen – nimmt man die Vorstellungen der Mittelschicht zum Maßstab für Normalität – eine ziemlich normale Erscheinung in der Gegenwartsgesellschaft ist.

Dr. Julian Genner  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Freiburg und forscht ethnografisch zu Preppen.

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15  Alexander Kluge & Oskar Negt, Was heißt: »Fröhliches Scheitern in der Risikogesellschaft?«, in: Alexander Kluge, Kulturgeschichte im Gespräch, Künstlerdialoge (Film), 19.10.1998, tiny.one/indes223i4.

PANDEMISCHE ­SELBSTÜBERWACHUNG ZWISCHEN SOZIALER SINGULARISIERUNG UND TECHNISIERTER SOZIALITÄT Ξ  Dennis Krämer / Joschka Haltaufderheide

»Eine Krise ist jener ungewisse Zustand, in dem sich etwas entscheiden soll: Tod oder Leben – Ja oder Nein.«1 In der Situation der multiplen Krise hat Kurt Tucholskys existenzieller Sinnspruch etwas Befreiendes: die Vorstellung von einer singulären Krise, die es zu überwinden gilt und deren Auflösung mit der größten aller Segnungen honoriert wird: dem Leben. Gewiss lässt sich die aktuelle Lage nicht simplifizieren und nicht trennscharf kategorisieren. Dies liegt weniger in der generellen Unberechenbarkeit begründet, die Krisen als genuine Risikoereignisse auszeichnet, als vielmehr in ihrer pluralen Gleichzeitigkeit: Angesichts der gegenwärtig vorherrschenden pandemischen, klimatischen, wirtschaftlichen und geopolitischen He­ rausforderungen und ihrer gegenseitigen Intensivierung lässt sich nur schwer sagen, was alles von Krise betroffen und wie resilient eine Gesellschaft ist, um nach drei Jahren Leben mit Corona auch weiterhin massive Einschränkungen zu ertragen. Dies wird auch durch die soziologische Randnotiz nicht besser, dass in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften streng genommen jede Krise eine multiple Krise darstellt. So wie sich der expansionistische Angriffskrieg der Russischen Föderation seit Februar 2022 nicht auf den geografischen Außenbezirk Europas beschränken lässt, sondern die gesellschaftlichen Subsysteme vieler Länder lähmt, seien es Privathaushalte und Bäckerstuben, die Automobilindustrie oder Arzneimittelherstellung, hat die Corona-Krise gezeigt, dass SARS-CoV-2 nicht allein eine Herausforderung für das Gesundheitswesen darstellt, sondern zwischen Gesundheit, Wirtschaft, Industrie, Bildung, Sport usw. organische Beziehungen existieren: Ist das eine Organ befallen und fällt seine Funktionsfähigkeit womöglich aus, fallen irgendwann auch die anderen aus. Dieser Wechselbeziehung verdanken moderne Gesellschaften ihre enorme Produktivität und Spezialisierung. Sie macht sie zugleich aber auch anfällig für Systemstörungen und -ausfälle. 1  Kurt Tucholsky unter Pseudonym Ignaz Wrobel, Werke 1927, Deutsche Richter, S. 201.

Darüber hinaus handelt es sich bei Krisen immer auch um Ereignisse der ambivalenten Diskontinuität, die sich durch die Gleichzeitigkeit eines

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zerstörerischen und schöpferischen Moments auszeichnen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Corona-Krise auch als eine Phase der strukturellen Regression und Evolution beschreiben: • Der Aspekt der Regression findet einen prägnanten Ausdruck unter anderem in den massiven Einschränkungen der Freiheitsrechte: Seit dem Ausbruch von SARS-CoV-2 Ende 2019 werden Maßnahmen der sozialen Singularisierung – häusliche Isolation, Kontaktverbote, Abstandspflichten, Begrenzung der Versammlungsfreiheit usw. – epidemiologisch legitimiert und die freiheitlich-demokratische Grundordnung allein mit dem Infektionsschutzgesetz ausgehebelt. Analog vollzieht sich eine massive Verschärfung der sozialen Ungleichheit, die sich unter den Bedingungen des russischen Angriffskriegs vermutlich weiter vergrößern wird. Besonders Alleinerziehende, Geringqualifizierte und Menschen mit Migrationshintergrund sind gegenwärtig von Armut betroffen.2 Die Zahl der Menschen, die weltweit unter Hunger und extremer Armut leiden, steigt weiter an. Zugleich werden geschlechterparitätische Zielsetzungen dadurch blockiert, dass Frauen stärker von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit betroffen sind und durch krankheitsbedingte Kindergarten- und Schulschließungen in Care-Arbeit, traditionelle Familienrollen und damit auch in ökonomische und symbolische Abhängigkeitsverhältnisse (zurück-)gezwungen werden.3 • Die evolutionäre Dimension der Corona-Krise besteht darin, dass Gesellschaften in der Situation des Social Distancing dazu angehalten sind, ihre analogen Kommunikationsroutinen rapide zu reformieren, um ihr weiteres Funktionieren sicherzustellen. Angesichts der latenten Bedrohung der gegenseitigen Infektion ist für viele Menschen das vernetzte Arbeiten im computerisierten Homeoffice ebenso zur Normalität geworden wie die private Kontaktpflege via Videokonferenzen oder das Abhalten von Sport-, Sprach- oder Geburtsvorbereitungskursen als Online-Termine. Zugleich hat der viel bezeugte Digital Shift für zahlreiche netzpolitische Versäumnisse sensibilisiert, die es zum Beispiel in der Pandemie erschweren, infrastrukturell sowie personell weiterhin eine adäquate digitale Gesundheitsversorgung oder fortlaufende Schulbildung zu gewährleisten. TECHNOLOGIEN DER KRISE Unter dem Lärm eines pandemischen Alarmismus haben Regierungen weltweit nahezu unbemerkt ihr Überwachungsnetz ausgedehnt und den Einsatz vielfältiger digitaler Technologien zur Gesundheitskontrolle mit dem Argument der Infektionsprävention begründet. Ihren erklärten Einsatzzweck, die

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2  Vgl. Charlotte Fechter, Risiken für und durch Armut während der Corona-Pandemie, in: Sozialer Fortschritt, H. 2/2022, S. 613–636. 3  Vgl. Marlene Haupt & Viola Lind, Gleichstellung in der Krise, in: Sozialer Fortschritt, H. 5–6/2021, S. 267–291.

Unterbrechung von Infektionsketten, realisieren diese über Formen der vernetzten und automatisierten Überwachung des analogen Lebens, an die verschiedene Kontrollmaßnahmen wie Aus- und Einreisebeschränkungen oder Ausgangssperren anschließen. Welche konkreten Technologien eingesetzt werden, was diese in der Pandemiesituation als Bedrohung definieren, wie sie das analoge Leben in Daten abbilden und welche Kriterien sie dabei in puncto Privatheit, Transparenz und Datenschutz ansetzen, hängt wesentlich von der inneren und äußeren Verfassung eines Staates ab. So sind in den meisten westlichen Staaten personifizierte Check-ins via QR-Code, Apps zur digitalen Kontaktnachverfolgung, Thermografiekameras sowie Chatbots als Anlaufstellen bei Covidsymptomen geläufig.4 Weniger bekannt indes ist der Einsatz von Überwachungsdrohnen, die Ausgangsbeschränkungen kontrollieren, Körpertemperaturen messen oder soziale Interaktionen im öffentlichen Raum mittels akustischer Signale unterbrechen können, obschon diese nicht nur in südostasiatischen, sondern auch in Regionen europäischer Staaten wie Frankreich, Italien und Deutschland eingesetzt werden.5 APPS ZUR DIGITALEN KONTAKTNACHVERFOLGUNG Eine pandemiegeschichtliche Besonderheit bei diesen Technologien der Krise zeigt sich darin, dass sie zur Überwachung des Infektionsgeschehens keines externen Beobachters bedürfen, sondern die Beobachtung im Rahmen eines vernetzten Datenaustauschs an die Menschen delegieren, die sich mit diesen selbst beobachten und ihr Sozialverhalten disziplinieren. Keine der genannten Technologien bringt dieses Prinzip der pandemischen Selbstüberwachung so gut zum Ausdruck wie Apps zur digitalen Kontaktnachverfolgung. Bei diesen handelt es sich um Programme für Smartphones, die seit dem Ausbruch von SARS-CoV-2 weltweit von Regierungen eingesetzt werden und unter Namen wie »Corona-Warn-App« (Deutschland), »Care-19« ( USA) oder »Health Code« (China) firmieren. 4  Vgl. Dennis Krämer u. a. (Hg.), Technologien der Krise – Die Covid-19-Pandemie als Katalysator neuer Formen der Vernetzung, Bielefeld 2022. 5  Vgl. zum Beispiel Tim van Olphen, Wie die italienische Polizei den Corona-Lockdown durchsetzte, in: Spiegel Online, 14.07.2022, https://tiny.one/ indes223j1.

Um Menschen in Kontakt zu bringen, ohne sie in Kontakt zu bringen, kombiniert ihr Einsatz die globale Praxis der Smartphonenutzung mit den auf permanenter Selbstmitteilung beruhenden Kommunikationsroutinen sozialer Netzwerke. Hierzu liegen den Apps bestimmte, über Updates an die jeweiligen Gegebenheiten anpassbare Informationen aus Epidemiologie und Virologie wie Inkubationszeiten oder Infektionswege zugrunde. Auf dieser Grundlage werden algorithmisch Infektionswahrscheinlichkeiten berechnet und den Betroffenen verschiedene Anweisungen erteilt, beispielsweise sich Dennis Krämer / Joschka Haltaufderheide  —  Pandemische ­S elbstüberwachung

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testen zu lassen, Abstand zu anderen Menschen zu halten oder sich in Quarantäne zu begeben. Je nach Regierungsform und gesundheitspolitischem Kurs unterscheiden sich die verschiedenen Apps ganz wesentlich darin, welche Informationen aus der analogen Welt in Daten umgewandelt werden, ob diese Daten personalisiert oder anonymisiert gespeichert und welche Freiheitsbeschränkungen mit diesen begründet und gegebenenfalls kontrolliert werden. Im internationalen Vergleich zeichnen sich westliche Apps dabei durch eine vergleichsweise hohe Priorisierung von Anonymität, Privatsphäre und Datenschutz aus, was bisweilen zulasten der Infektionsprävention gehen mag. So verhindern zum Beispiel eine fehlende Standorterfassung und

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Personalisierung, Übertragungen bestimmten Interaktionen und Personen zuordnen und diese gezielt informieren zu können. Dagegen priorisieren eher autoritär regierte Staaten das Ziel der Infektionsvermeidung gegenüber Privatsphäre und Datenschutz. Die chinesische App »Health Code« etwa ­aggregiert zur Infektionskontrolle nicht nur personalisierte Begegnungs-, Standort- und Gesundheitsdaten der Menschen und vernetzt diese mit dem staatlichen Social Scoring-System6, sondern nutzt die Daten auch dazu, Zugänge zu Stadtbezirken, öffentlichen Einrichtungen oder Geschäften zu regulieren. In Singapur zeichnete sich ein plötzlicher Wandel in der Datenschutzpolitik ab, als die Regierung Anfang 2021 entschied, der Polizei gegen den Willen der Bevölkerung Zugriff auf die personalisierten Daten zu gewähren, die mit der dort eingesetzten App zur Kontaktverfolgung (»TraceTogether«) generiert wurden.7 GESCHICHTE DER KONTAKTNACHVERFOLGUNG Historisch betrachtet, verweist die digitale Infektionsprävention auf bekannte Eindämmungsstrategien, welche unter den Bedingungen der digitalen Spätmoderne auf entsprechende Technologien übertragen und mit diesen ausgeweitet werden. Wissenschaftshistoriker wie der französische Philosoph ­M ichel Foucault haben dargelegt, dass die Art und Weise, wie Menschen 6  Beim Social Scoring-System handelt es sich um ein von der Kommunistischen Partei eingesetztes Bewertungssystem, das das Verhalten von Privatpersonen und Unternehmen analysiert und erwünschtes Verhalten über Vergabe und Abzug von Punkten reguliert. Die Datengrundlage speist sich aus einer zunehmend lückenlosen Überwachung des privaten und öffentlichen Lebens mittels immer potenterer Technologien wie Gesichtserkennungskameras, Social Bots oder autonom kommunizierender Datenbanken. 7  Vgl. Ingo Dachwitz, Polizei in Singapur darf Daten der KontaktTracing-Anwendung nutzen, in: Netzpolitik.org, 05.01.2021, https://tiny.one/indes223j2. 8  Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976.

in der abendländischen Seuchengeschichte zur Infektionsvermeidung überwacht wurden, von verschiedenen Faktoren abhing: unter anderem dem medizinischen Gesundheitsverständnis einer Zeit, dem Wert, den man dem Leben beimaß, den architektonischen Überwachungsmöglichkeiten sowie rechtlichen Bestimmungen.8 Foucault unterscheidet drei grundlegende Modelle der abendländischen Infektionsprävention, die für ihn drei Paradigmen der politischen Überwachung repräsentieren. Demnach zeichnete sich der mittelalterliche Kampf gegen Lepra (»Lepra-Modell«) durch eine Praxis der Exklusion aus. Zur Unterbrechung von Übertragungen wurden Infizierte aus verschiedenen Kontexten ihrer sozialen Bindung ausgeschlossen: aus der Gesellschaft, aus den Städten, aus den Familien usw. Für sie wurden große »Siechenhäuser« eingerichtet, die sogenannten »Leprosorien«. Im neuzeitlichen Kampf gegen die Pest (»Pest-Modell«) wurde den Menschen hingegen ein Platz im Innen zugewiesen. Die sie umgebenden sozialen Räume wurden in Risikozonen parzelliert und Aufenthaltsorte, Bewegungen und Begegnungen akribisch protokolliert. Statt rigoros exkludiert zu werden, wurden die Menschen fortan zur Bewegungslosigkeit aufgefordert und zum Verharren an einem fixen Ort diszipliniert. Foucault dazu: Dennis Krämer / Joschka Haltaufderheide  —  Pandemische ­S elbstüberwachung

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»Wenn es wahr ist, dass die Ausschließungsrituale, mit denen man auf die Lepra antwortete, bis zu einem gewissen Grad das Modell für die große Einsperrung im 17. Jahrhundert abgegeben haben, so hat die Pest das Modell der Disziplinierungen herbeigerufen.«9 Im Kampf gegen die Pocken (»Pocken-Modell«) schließlich, so Foucault weiter, wurden die Menschen erstmals als eine statistische Größe behandelt. Hintergrund dieser Entwicklung bildet für ihn die Entstehung einer »modernen Regierungsrationalität«, die nicht mehr auf Exklusion oder Disziplinierung ausgerichtet ist, sondern auf die systematische Genese von Wissen über die Bevölkerung abzielt. Damit wurde es möglich, mittels numerischer Indikatoren, unter anderem Bevölkerungszählungen, Sterblichkeiten, Nachwirkungen oder kumulierter Übertragungen, Prognosen zu berechnen und so die Überwachung des Infektionsgeschehens auszudehnen und auf Vorhersagen zu stützen. Foucaults historische Dreiteilung weitergedacht, besteht die Besonderheit in der Corona-Pandemie hingegen darin, dass die latente Bedrohung, die in Viren, Körpern und Infektionen erkannt wird, im Rahmen eines kontinuierlichen wechselseitigen Informationsaustauschs abgewendet werden soll. Digitale Technologien treten hierbei als panoptische Beobachterinnen in Erscheinung, die das analoge Leben einer kontinuierlichen, aber kaum bemerkten Überwachung unterziehen. Exklusion und Segregation von Menschen verlaufen nicht nur entlang einer Dichotomie von innen/außen und gesund/krank, sondern erweitern sich zu einem vernetzten Krisenmanagement, welches die Bevölkerung als ein Datenkollektiv behandelt, das fortlaufend Wissen über sich selbst generiert und sich mit diesem Wissen selbst diszipliniert. CORONA-WARN-APP UND DIE ALGORITHMISIERUNG VON RISIKEN In Deutschland ist die vom Robert-Koch-Institut herausgegebene »CoronaWarn-App« die bekannteste App zur digitalen Kontaktnachverfolgung. Sie stellt das Ergebnis eines Gemeinschaftsprojekts der deutschen Regierung mit verschiedenen Unternehmen wie SAP und Deutsche Telekom dar und ist seit Juni 2020 im Einsatz. Ihr Gebrauch erfolgt freiwillig und setzt die Einwilligung der Nutzer voraus, die an verschiedenen Stellen – zum Beispiel beim Download der App, dem Teilen eines Positivtests oder für das Hochladen eines Impfzertifikats – ihre Zustimmung erteilen müssen. Zugleich sorgen verschiedene Konventionen, die sich im Laufe der Zeit etabliert haben, wie etwa das Vorzeigen des QR-Code an Eingangstüren von Gastronomien oder Geschäften, für einen informellen Nutzungszwang.

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Ebd., S. 254.

Die Hauptfunktion der App, die digitale Kontaktnachverfolgung, beruht auf einem algorithmischen Vorgang, der das soziale Leben in einem stillen Modus der Selbstüberwachung in Risikowerten abbildet. Technisch wird dies dadurch realisiert, dass mittels Smartphones, stellvertretend für dahinterstehende Nutzer, via Bluetooth kontinuierlich Abstände zu anderen Nutzern/ Smartphones gemessen, Begegnungen innerhalb eines bestimmten Radius als Kreuzungen von Signalen erfasst und diese Kreuzungen für einen bestimmten Zeitraum (angenommene Inkubationszeit) auf den Smartphones gespeichert werden. Hierzu tauschen Mobilgeräte Zufallscodes untereinander aus, welche kryptografisch aus dem Geräteschlüssel der jeweiligen Geräte generiert werden. Liegt ein Positivtest vor, können Nutzer ihr Testergebnis über die App teilen und an einen Server weiterleiten. Andere Mobilgeräte laden die auf dem Server hinterlegten codierten Informationen regelmäßig herunter und überprüfen diese auf zurückliegende Begegnungen mit positiv getesteten Personen. Kommt es zu einer Überschneidung mit einer positiv getesteten Person, wird ein individualisiertes Übertragungsrisiko errechnet. Hierzu werden drei Variablen ins Verhältnis gesetzt: durchschnittliche Distanz der Begegnung mit einer infizierten Person, Dauer der Begegnung sowie Anzahl der zurückliegenden Tage des Positivtests. Die Höhe der Werte »Distanz« und »Dauer« wird auf Grundlage von Intensitäten der sich kreuzenden Bluetooth-Signale bestimmt. Alle Ereignisse werden numerisch skaliert. Überschreitet ihre Summe einen bestimmten Schwellenwert, wird der Kontakt zwischen den Menschen algorithmisch als ein Risiko eingestuft. Vereinfacht: Je näher sich die Nutzer/Mobilgeräte kommen, je länger sich diese begegnen und je kürzer das positive Testergebnis einer Person zurückliegt, desto höher fällt der individuelle Risikowert aus.10 TECHNISIERTE SOZIALITÄT UND DIE ZUKUNFT VON TECHNOLOGIEN DER KRISE Das unabsehbare Ende der COVID-19-Pandemie und die Tatsache, dass die zu ihrer Eindämmung entwickelten Technologien inzwischen weltweit eingesetzt werden, lassen die Vermutung nicht abwegig erscheinen, dass die CoronaKrise die Initialzündung für den zukünftigen Einsatz neuer Technologien zur kollektiven (Gesundheits-)Überwachung geliefert hat. In der C ­ orona-Krise wurden und werden nicht nur die Potenziale abgerufen, die in Smartphones 10  Vgl. für Rechenbeispiele Github, How does the Corona-Warn-App identify an increased risk?, 2021, https:// tinyurl.com/indes223j4.

und Apps stecken, sondern erstmals auch jene Kapazitäten ­adressiert, die moderne Gesellschaften als vernetzte Gesellschaften auszeichnen. Vor diesem Hintergrund reicht es nicht aus, den Einsatz der hier genannten Technologien allein auf eine pandemische Situation zurückzuführen. Dennis Krämer / Joschka Haltaufderheide  —  Pandemische ­S elbstüberwachung

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Vielmehr zeigen ihre globale Verbreitung, Funktionsweise und die Art und Weise, wie sie das Leben der Menschen in einem stillen Modus der Selbstüberwachung regulieren, einen generellen Transformationsprozess an, der alle Bereiche des Soziallebens betrifft. Im Zentrum steht die Entstehung eines grundlegend anderen Bewusstseins, wie Menschen miteinander interagieren, wie sie konsumieren, Beziehungen finden, diese aufrechterhalten, Gefühle erzeugen und diese vermitteln,11 wie sie sich topographisch verorten und wie sie schließlich mit Krankheiten und Infektionen umgehen, diese wahrnehmbar und behandelbar machen. Angesichts dieses Paradigmenwechsels besteht das Besondere dann darin, dass die Bedrohung, die in Viren, Infektionen oder kranken Körpern erkannt wird, nicht bloß über Daten abgewendet werden soll, sondern die Prozesse der Verdatung zugleich ein gänzlich neues Interaktions- und Berührungsverständnis anzeigen. Es sind nicht mehr die miteinander interagierenden, sich nahekommenden und berührenden Körper, die Infektionen übertragen, sondern die im Rahmen einer permanenten Verdatung des Lebens als numerische Werte abgebildeten »Daten-Körper«, die durch ihre bloße Existenz immer neue Informationen über sich generieren. Der Technikphilosoph Ciano Aydin hat hierfür den Begriff der »technologischen Umweltlichkeit« geprägt.12 Gemeint sind damit Technologien, die trotz ihrer kontinuierlichen Aktivität in einem stillen Modus der Selbst- und Fremdüberwachung unsichtbar und schließlich über diese Unsichtbarkeit zu allgegenwärtigen Bestandteilen der menschlichen Umwelt werden. Es ist diese »aktive Passivität« der kontinuierlichen Selbstüberwachung, die die zukünftige Krisenpolitik, die sich in der Corona-Krise abzeichnet, wohl am besten beschreibt. Dennis Krämer ist Soziologe und aktuell Vertretungsprofessor an der Universität Göttingen. 2020 Nachwuchspreis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (»Soziologie des Körpers und Sports«) und Wissenschaftspreis des Deutschen Olympischen Sportbunds (3. Platz). Seit 2021 Stipendiat der Global Young Faculty. Buchpublikationen: Technologien der Krise – Die Covid-19-Pandemie als Katalysator neuer Formen der Vernetzung, 2022 (hg. mit J. Haltaufderheide/J. Vollmann); Intersexualität im Sport – Mediale und medizinische Körperpolitiken, 2020. Joschka Haltaufderheide ist Philosoph und Medizinethiker. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Medizinische Ethik mit Schwerpunkt Digitalisierung der ­Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Potsdam. Er forscht seit einigen Jahren zu ethischen Fragen neuer Bio- und Gesundheitstechnologien und – seit Beginn der COVID-19-Pandemie – insbesondere zu ethischen und technikphilosophischen Fragen der digitalen Pandemiebekämpfung.

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COVID-19 ff. — Analyse

11  Vgl. Gabriele Klein & Katha­ rina Liebsch, Ferne Körper. Berührungen im digitalen Alltag, Ditzingen 2022. 12  Vgl. Ciano Aydin u. a., Technological Environmentality: Conceptualizing Technology as a Mediating Milieu, in: Philosophy & Technology, 2019, S. 321–338.

INTERVIEWCOLL AGE

PERSPEKTIVEN AUF CORONA (II) WO SEHEN SIE LEERSTELLEN UND DESIDERATE; WORÜBER WURDE – UND WIRD – ZU WENIG GESPROCHEN?

Ξ  Jutta Allmendinger, Soziologie Anfangs tappten wir im Dunkeln, mussten viel lernen und entwickeln. Das haben wir einigermaßen gut gemacht, finde ich. Nun aber müssen wir endlich beherzt Probleme anpacken, die sich aus der Pandemie ergeben haben. Es gilt zu reparieren und zu heilen. Dazu gehören gezielte Hilfsprogramme für Kinder, die Wissenslücken haben oder aber mit großen psychischen Belastungen kämpfen. Desgleichen braucht es für Mütter, Ältere, alle vulnerablen Gruppen. Zeitgleich müssen wir auch nach vorne blicken, präventiv agieren. Das bedeutet: wissenschaftsbasierte Pandemiekonzepte entwickeln und diese offen und verständlich kommunizieren. Diese Vorbereitung auf die nächste Krise wird uns gelingen, wenn wir sie gemeinsam angehen, innerhalb einer interdisziplinär vernetzten Wissenschaft, im Austausch mit der Politik und unter Einbezug der Zivilgesellschaft.

Ξ  Anja Besand, Erziehungswissenschaften Man kann nicht behaupten, dass wir als Gesellschaft in den letzten Jahren zu wenig über Schule und Bildung gesprochen hätten; und doch war diese Diskussion merkwürdig blass und hat zu keinerlei Konsequenzen geführt. Wir haben zwar gesehen, wie wichtig Schule ist und welche Leistungen sie gesellschaftlich erbringt. Die Diskussion blieb aber vollkommen oberflächlich auf die Frage gerichtet, ob Schulen geöffnet oder geschlossen werden sollen. Das ist allerdings gar nicht die wichtigste Frage, sondern es muss darum gehen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Mitteln Bildungsinstitutionen ausgestattet werden müssen, damit sie krisenfest werden und junge Menschen auf dem Weg in eine nicht eben herausforderungslose Zukunft begleiten können.

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Ξ  Thomas Grundmann, Philosophie Liberale Parteien setzen in der Pandemie vorrangig darauf, dass sich die Bürger:innen eigenverantwortlich verhalten. Dieser Slogan wurde bislang zu wenig kritisch hinterfragt. Es ist eine der großen Errungenschaften liberaler Gesellschaften, ihren mündigen Bürger:innen zuzumuten, sich selbst um ihr eigenes Wohl zu kümmern. In der Pandemie geht es aber nicht mehr allein um das eigene Wohl (wie schütze ich mich vor Ansteckung?), sondern auch um das Wohl anderer (wie vermeide ich, andere anzustecken?). Diesen zweiten Aspekt zu unterschlagen hieße, die alleinige Verantwortung dem potenziellen Opfer in die Schuhe zu schieben. Medizinischen Laien fehlt häufig die Einsicht in richtige Maßnahmen, und der Einzelne hält sich nicht immer konsequent an seine eigenen Vorsätze. So erzielt man kein koordiniertes Verhalten von Gruppen. Auch beim Autofahren appellieren wir nicht an die Einsicht des Einzelnen. Klare Vorschriften unter Sanktionsandrohung sind angezeigt, wenn nicht nur das eigene, sondern auch das Wohl anderer auf dem Spiel steht und koordiniertes Verhalten erforderlich ist. Warum sollte nicht Gleiches auch für das Verhalten in der Pandemie gelten?

Ξ  Anna Neumaier, Religionswissenschaft Im Falle der Digitalisierung religiöser Angebote vor allem drei Dinge: Erstens ist noch geradezu gar nicht erforscht, wie diese digitalen Angebote – etwa Gottesdienste via Zoom – über die Klickzahlen hinaus überhaupt angenommen werden, also wie sie etwa im Großen und Ganzen die Religiosität, das Gemeinschaftsgefühl, die Gemeindebindung et cetera religiöser Menschen verändern. Die Rezeption ist mithin noch eine Blackbox. Zweitens ist es nun Zeit, auch systematische Fragen anzuschauen: Wie verändern sich religiöse Autorität und Hierarchie durch die Corona-induzierte Digitalisierung? Wie verändern sich Rituale? Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf Gemeinschaftlichkeit? Und drittens fängt innerhalb der Religionsgemeinschaften erst langsam die sehr mühsame Arbeit an, Erkenntnisse der Pandemie-Jahre auf ihr

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COVID-19 ff. — Interviewcollage

grundsätzliches Tun zu übertragen: Was kann man etwa aus dem Experiment Online-Gottesdienste auch für »herkömmliche« Gottesdienste lernen? Denn diese digitalen Alternativen werden ja nun nicht genauso über Nacht wieder verschwinden, wie sie gekommen sind.

Ξ  Paul Nolte, Zeitgeschichte Zu allem wurde etwas gesagt – zu wenig bisher vielleicht zum strukturellen Umbau der Gesellschaft und ihrer kulturellen Ordnungen durch Corona. Gewiss, es gibt in vieler Hinsicht die Rückkehr zum status quo ante, etwa im Reiseverhalten. Anderes wird bleiben, nicht nur der beschleunigte Übergang zum Online-Einkauf oder die Option auf digitale Lehre. Interessant scheint mir die »Vergesundheitlichung« der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, Perspektiven auf Corona II – Was gefehlt hat

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einschließlich eines politischen Systems des engen Monitorings von Gesundheit und Krankheit, das eng mit einem Selbst-Monitoring der Individuen korrespondiert. Das entspricht ziemlich genau dem, was wir seit einiger Zeit als »Neoliberalismus« beschreiben. Also: mehr Gespräch darüber, wie Corona sich in andere Strukturmerkmale der Gesellschaft einschmiegt!

Ξ  Henrique Ricardo Otten, Verwaltungswissenschaften Wenig gesprochen wurde lange Zeit über die Situation insbesondere mi­ grantischer Minderheiten und benachteiligter Quartiere; hier gibt es in vielen Feldern noch Desiderate, um Angebote öffentlicher Leistungen in Krisensituationen noch besser zielgruppengerecht gestalten zu können. Wenig bemerkt wurden die durch die Krisenbewältigung ausgelösten Entwicklungsschübe in der öffentlichen Verwaltung, zum Beispiel in der bereichsübergreifenden Abstimmung und Kommunikation nach außen. Die Pandemie hat – zumindest bezogen auf die öffentliche Verwaltung – ferner Innovationen vor allem im Bereich der technisch-medialen Mittel, weniger bei den sozialen Partizipationsformen und der Vernetzung mit der Zivilgesellschaft befördert. Die Chancen neuer Kooperationsarrangements gerade in Krisenzeiten sollten stärker als bisher in den Blick genommen werden.

Ξ  Sophie Schönberger, Rechtswissenschaften Ich denke, wir sollten noch viel mehr darüber nachdenken, welche Auswirkungen die erzwungene Isolation über einen so langen Zeitraum für das Zusammenleben in der Demokratie mittel- und langfristig haben wird. Demokratie lebt davon, dass man die anderen als grundsätzlich gleich akzeptiert und sie als gleichwertige Mitglieder der demokratischen Gemeinschaft erträgt. Dieses Aushalten der anderen erfordert es, sich selbst in gewisser Weise zurückzunehmen und zu relativieren – eine Fähigkeit, die eingeübt werden muss. Diese Übung geht verloren, wenn man den Kontakt mit anderen Menschen meiden muss. Damit steigt auch das Risiko, dass die Menschen immer weniger bereit sind, ihre Mitmenschen im demokratischen Sinne auszuhalten. Für die Demokratie kann das eine gefährliche Entwicklung darstellen.

Ξ  Hans-Jörg Sigwart, Politische Theorie Im Vergleich zu den zweifelsohne wichtigen Fragen der Effizienz, Angemessen- und Ausgewogenheit sowie der grundrechtsrelevanten Auswirkungen

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COVID-19 ff. — Interviewcollage

konkreter pandemiepolitischer Maßnahmen werden erstens die oben schon angesprochenen politischen Wirkungen von Corona auf öffentliche Meinungsbildungs- und kollektive Willensbildungsprozesse bisher zu wenig breit diskutiert. Zweitens scheint mir eine noch intensivere und detailliertere Auseinandersetzung mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit im Zusammenhang mit Corona, also etwa mit den Wirkungen von Pandemie und Pandemiepolitik auf sozio-ökonomische (Un-)Gleichheiten, Chancengerechtigkeit, aber auch auf die Verteilung gesellschaftlicher Macht, weiterhin ein Desiderat zu sein.

Ξ  Rolf van Dick, Sozialpsychologie Ich verstehe bis heute nicht, warum die Politik nicht in den Phasen mit relativ geringen Infektionen ganz kontrollierte Experimente gemacht hat und gezielt in unterschiedlichen Regionen, Städten oder Bundesländern manche Branchen offen gehalten und andere geschlossen hat, und das in Verbindung mit gleichzeitigem gutem Testregime (so wie es ja Tübingen gemacht hat, aber alle Einrichtungen gleichzeitig »offen« ließ) genutzt hätte, um heute zu wissen, wer unter welchen Bedingungen nun Infektionstreiber ist und wer nicht. Jetzt sind wir wieder in der gleichen Situation wie schon vor zwei Jahren, alle Einrichtungen (Schulen, Restaurants, Kinos, Kulturschaffende …) behaupten jeweils keine Infektionstreiber zu sein, die Politik reagiert ad hoc und versucht, niemandem weh zu tun, ohne aber verlässliche Daten zu haben.

Ξ  Elmar Wiesendahl, Parteienforschung Die Disziplin ließ erkennbar Chancen aus, sich perspektivisch aus Parteiensicht in den Prozess der Krisenbewältigung einzubringen und zu rekonstruieren. Der Grund: Sie verengt sich zu sehr auf Fragen des Parteienwettbewerbs und von Wahlkämpfen, vernachlässigt darüber aus der Systemperspektive den Einfluss von Parteien als Policy-Akteuren bei der parlamentarischen Willensbildung und der Regierungspraxis. Selbst die aus der Parteienperspektive so wichtige Frage, warum die AfD mit ihren Anbiederungsversuchen an die Protest- und Demonstrations­ aktivitäten von Corona- und Impfgegnern faktisch gescheitert ist, blieb unbeantwortet.

Perspektiven auf Corona II – Was gefehlt hat

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ANALYSE

DIE COVID-19-PANDEMIE ALS BEWÄHRUNG FÜR DIE EU Ξ  Philipp Ther

Möglicherweise wird man die Zeitgeschichte eines Tages in eine Ära vor und eine nach dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie unterteilen. Schier endlos fühlten sich die Lockdowns an, die Zeit verlangsamte sich. Angst prägte den Alltag, soziale Kontakte galten auf einmal als Gefahr statt als Bereicherung. Verglichen mit der Traumatisierung jener Menschen, die nahe Angehörige, ihren Arbeitsplatz oder ihre gesamte Existenz verloren haben, erscheinen abgesagte Empfänge, Konferenzen oder Geburtstagspartys wiederum als geringer Verlust. Die UNO und die WHO haben oft genug betont, dass derartige N ­ otlagen nur in einem gemeinsamen globalen Kraftakt bewältigt werden können. Dennoch ist COVID-19 zu einem Wettbewerb der politischen Systeme und Machtblöcke mutiert. Dieser Trend zeichnete sich schon während der ersten Phase der Pandemie im Frühjahr 2020 ab, als es um die Lieferung von einfachen Gesundheitsgütern wie Masken und Einweghandschuhen sowie um die ersten Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus ging. Auch die Entwicklung und der Vertrieb von Impfstoffen glich einem Wettrennen, bei dem Russland, China und der Westen gegeneinander antraten. Der globale Kraftakt stand demnach im Schatten eines hyperaktiven »Covid-­Nationalismus« und »Covid-Imperialismus«, also des Versuchs, über Gesundheitspolitik nationale Identität zu stiften und international an Macht zu gewinnen. Zu viele Staaten und zu viele ihrer Bürger denken nur an sich und nicht an das Gemeinwohl und die Weltgemeinschaft. Diese These mag moralisierend klingen, aber sie ist leider gut begründet, wenn man die Konkurrenz und Konflikte um COVID-19 mit der gemeinsamen Bekämpfung tödlicher Krankheiten vor einem halben Jahrhundert vergleicht. Zwar wurden die Impfstoffe heute viel schneller entwickelt als damals, doch nutzt dieser wissenschaftliche Fortschritt der Welt in der gegenwärtigen Konstellation nur sehr begrenzt.

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Das Virus greift daher weiter um sich, weshalb das Risiko hoch bleibt, dass sich immer neue Varianten bilden. Der weitere Verlauf der Pandemie ist daher heute ebenso wenig absehbar ist wie zu deren Beginn. Indes ist auch dies eine Erkenntnis, mit der im Frühjahr 2020 nicht zu rechnen war. Deshalb ist hier vorerst nur ein Rückblick auf gut zweieinhalb Jahre Pandemie möglich. EUROPAS UNEINIGER UMGANG MIT DER PANDEMIE Infolge der Pandemie kam es zu einer atemberaubenden »Entnetzung« der Welt. Historiker wie Tara Zarah sprechen inzwischen von einer De-Globalisierung und vergleichen die Gegenwart mit der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.1 Überall wurden im Februar und März 2020 Flughäfen geschlossen, Grenzen dicht gemacht und zehntausende Touristen und Expats nach Hause geflogen, als sei man nur im Herkunftsland vor den Viren sicher. Zwar wurden Abriegelung und Militarisierung der innereuropäischen Grenzen nach der ersten Welle der Pandemie wieder aufgehoben – aber sie sind damit in Zukunft keine Tabus mehr. Ländern wie Deutschland oder Österreich wurde in der Pandemie bewusst, wie stark sie vom Zustrom von Arbeitskräften abhängen, besonders in der Landwirtschaft und der Altenpflege. Den Rechtspopulisten und -nationalisten dienen Migranten dennoch weiterhin als Sündenböcke für alle möglichen sozialen Missstände. Was den Schutz der Bevölkerung betrifft, schnitten gerade die USA und Großbritannien, die beiden ältesten Demokratien der Welt relativ schlecht ab. In Westeuropa verzeichnete Großbritannien relativ zur Bevölkerungsgröße die meisten Todesopfer, trotz seines im Vergleich zu den USA besser ausgebauten öffentlichen Gesundheitswesens. Dies belegt einmal mehr das Versagen der rechtspopulistischen Governance und bestätigt die Faustregel, dass alles noch viel schlimmer kommt als erwartet, wenn Rechtspopulisten erst einmal an die Macht gelangen. Die Entwicklung in den neuen EU-Mitgliedsstaaten wiederum schien diese Regel im Frühjahr 2020 zunächst zu widerlegen. Dort regierten ebenfalls Rechtspopulisten, in Ungarn Viktor Orbán, in Polen die PiS unter Jarosław 1 

Die University of Chicago und die Universität Wien organisierten dazu im Winter 2020/21 statt einer traditionellen Konferenz eine Serie von Online-Meetings mit dem Titel »Deglobalization and Anti-­ Globalism in Central Europe«. Die Mitorganisatorin Tara Zahra wird außerdem bald ein Buch zu diesem Thema publizieren.

Kaczyński und in Tschechien Andrej Babiš, ein erfolgreicher Unternehmer und Multimilliardär, der den Wählern versprochen hatte, den Staat so gut zu managen wie seine Firmen. Diese drei Länder kamen relativ gut durch die erste COVID-19-Welle. Die vergleichsweise geringe Zahl an Infektion und Sterbefällen lässt sich jedoch – wie im Falle Deutschlands – letztlich auf eine Koinzidenz zurückführen: Die mittel- und osteuropäischen Länder konnten beobachten, welche Katastrophe sich im März 2020 in Italien ereignete, und daher rechtzeitig Gegenmaßnahmen erlassen. Philipp Ther  —  Die COVID-19-Pandemie als Bewährung für die EU

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Ein weiterer Vorteil der neuen EU-Mitgliedsstaaten bestand darin, dass sie zwar seit 1989 immer stärker in die europäische und die globale Wirtschaft integriert worden sind, aber weiterhin an deren Peripherie liegen (auf die starke tschechische Industrie trifft das allerdings nicht zu). Die direkten Kontakte nach China, in die USA und die Wirtschaftszentren Europas waren daher weniger intensiv, so dass weniger infizierte Geschäftsleute einreisten. Die radikalen Lockdowns im Frühjahr 2020 beruhten in diesen Ländern außerdem auf der Selbsterkenntnis, dass sie mit ihren schlecht ausgebauten Gesundheitssystemen (auch hier ist Tschechien eine Ausnahme) einer Ansteckungswelle noch weniger gewachsen wären als Italien und Spanien. Es mangelte sogar an Schutzausrüstung für Ärzte und Pflegepersonal, insofern war das strikte Vorgehen auch der Not geschuldet. Doch das wollten die ungarische und die polnische Regierung selbstverständlich nicht öffentlich eingestehen. Sie verbanden daher die Schließung der Grenzen mit der von der »Flüchtlingskrise« bekannten Hetze gegen Ausländer, Migranten und in Ungarn gegen den Multimilliardär und Philanthropen George Soros. Hier gab es Parallelen zu Trumps Rhetorik: Das Virus ist ein Fremder. Für gebildete Menschen war diese nationalistische Propaganda durchschaubar, doch in den Umfragen zeigte sich eine erstaunlich hohe Zustimmung für die Schließung der Grenzen und den »Schutz« der Gesellschaft vor vermeintlichen äußeren Bedrohungen. Blickt man über Europa hinaus, wird die Relevanz kultureller Einstellungen deutlich sichtbar. Ein Vorteil der ostasiatischen Demokratien lag in ihrer Affinität gegenüber digitaler Technik. Südkorea setzte bei der Bekämpfung der Pandemie ähnlich wie China auf Handy-Apps und konnte auf diese Weise die Kontakte Infizierter effektiver und schneller nachverfolgen. Obwohl die Bürger der alten EU-Staaten und der USA seit mittlerweile mindestens drei Generationen in Demokratien und Rechtsstaaten leben, vertrauten sie ihren Regierungen offenbar nur bedingt. Hier wurden COVID-19-Apps als Eingriff in die Privatsphäre oder Verletzung des Datenschutzes kritisiert und stießen auf begrenzte Akzeptanz. Auch in den nordeuropäischen Gesellschaften, die allgemein ein hohes Vertrauen in ihre Regierungen verzeichnen, konnten sich die Programme zur Nachverfolgung sozialer Kontakte nicht wirklich durchsetzen. Vor allem Schweden und die Niederlande – kurzum: das protestantisch geprägte Europa – setzten auf das Verantwortungsbewusstsein ihrer Bürger. Dies zeugt von einem hohen Top-down-Vertrauen der Regierung in ihre Bürger, die selbst, vor allem in Schweden, über das Ausmaß ihrer sozialen Kontakte und der eigenen Schutzmaßnahmen vor einer Infektion entscheiden

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sollten. Tatsächlich passten die Menschen ihr Verhalten an, was allerdings andere Ziele der schwedischen Corona-Politik konterkarierte. Die Sozial­ demokraten hatten darauf gehofft, man könne die Wirtschaft durch eine libertäre Linie vor einem Absturz bewahren. Doch letztlich fiel auch Schweden in eine schwere Rezession, weil die Bürger aus eigenem Antrieb ihre Kontakte reduzierten, weniger einkaufen gingen und viel Zeit zu Hause verbrachten. Die Idee einer Herdenimmunität, die einerseits auf epidemiologischen Berechnungen, andererseits auf einem ökonomisch-rationalen Denken beruhte, erwies sich wegen der Mutationen von COVID-19 ebenfalls als Illusion. Man stößt bei einem international vergleichenden Überblick über den Umgang mit der Pandemie also auf ältere Strukturen, Einstellungen und Verhaltensmuster, die kulturell und konfessionell geprägt sind. Innerhalb der EU schlagen sich nicht nur einzelne Länder sehr unterschiedlich durch die Krise, sondern auch bestimmte Regionen. In Italien beispielsweise verzeichnete das Veneto weniger Ansteckungen und Todesfälle als die benachbarte Lombardei. Das lag offenbar an den unterschiedlichen Gesundheitssystemen, die in Italien föderal organisiert sind. Die Lombardei setzte stärker auf Ärztezentren und die Versorgung in Krankenhäusern, die sich dann als Inkubationszentren erwiesen. Im Veneto hingegen existiert ein gut ausgebautes Netz aus Hausärzten, die schnell reagierten, Verdachtsfälle nicht mehr in die Praxen ließen, sondern zu Hause behandelten und dort isolierten. Etwas abstrakter formuliert: Das dezentrale System mit seinem Schwerpunkt auf lokale Ressourcen funktionierte besser. In dieselbe Richtung deuten die hohen Opferzahlen im stark zentralisierten Frankreich. In Spanien und Großbritannien spielten auch die Sparmaßnahmen nach der großen Krise von 2008/09 eine Rolle. Während in den USA die erste Welle der COVID-19-Infektionen mangels stringenter Gegenmaßnahmen fast nahtlos in die zweite Welle überging, wähnten sich die Rechtspopulisten und -nationalisten im östlichen Europa auf einem erfolgreichen Weg. Sie verwiesen auf die niedrigen Ansteckungszahlen im Frühjahr 2021 und präsentierten sich als erfolgreiche Staatenlenker. Hier sind die gleichen sich selbst verstärkenden Mechanismen der Regierungspropaganda zu beobachten, die bereits gegenüber Migranten und in anderen ideologisch besetzten Politikfeldern zum Einsatz kamen. Offenbar glaubten die regierenden Rechtspopulisten selbst an die Mär ihrer eigenen Erfolge und wurden dadurch leichtsinnig. Wegen des fehlenden Zeitabstand ist es verfrüht, jedenfalls für einen Historiker, die indirekten sozialen, wirtschaftlichen und europapolitischen Folgen der Pandemie genau zu bemessen; aber sie sind zweifellos gravierend Philipp Ther  —  Die COVID-19-Pandemie als Bewährung für die EU

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und setzen ein großes Fragezeichen hinter die viel beschworene Solidarität. Auch in sozialstaatlichen und repräsentativen Demokratien, die als politische Systeme und Gesellschaften stärker am Konsens orientiert sind, war das Wohl der Allgemeinheit, etwa durch das Tragen von Masken und später das Impfen, offenbar kein ausreichend überzeugendes Argument (wiederum im Unterschied zu den ostasiatischen Demokratien). Allerdings besteht eine wesentliche Legitimationsquelle der sozialen Demokratien und damit des »europäischen Modells« darin, dass sie solidarischer und nicht zuletzt deswegen stabiler seien als rein marktwirtschaftlich orientierte Länder. Der begrenzte Gemeinsinn könnte daher die Legimitation der sozialen Demokratien aushöhlen. DIE PANDEMIE ALS PROBLEM DER EUROPÄISCHEN UNION Die Weltwirtschaft erlebte durch die Pandemie im Frühjahr 2020 die schärfste Rezession sei dem Zweiten Weltkrieg, der wirtschaftliche Schock fuhr noch tiefer als während der globalen Finanzkrise.2 Wie Adam Tooze in seinem Buch über COVID-19 darstellt, reagierten die amerikanische Nationalbank und in ihrem Gefolge die weiteren Nationalbanken mit ähnlichen Werkzeugen wie 2008/09.3 Sie versorgten die Finanzmärkte mit Liquidität, stützten die staatlichen Budgets, nicht zuletzt mit dem Kauf von Staatsanleihen, verhinderten auf diese Weise eine erneute Finanzkrise und einen noch stärkeren Rückgang der Nachfrage. Gemessen an den Ausgangsbedingungen war das kein geringer Erfolg der radikal antizyklischen und somit in ihren Grundlagen keynesianischen Politik. Die Erholung der Wirtschaft, die Frage, welches Land wie aus der Krise kommt, sind weitere Elemente des globalen Systemwettbewerbs. In den USA und im Westen hat man die Rolle des Retters in der Not vor allem den Zentralbanken überlassen. Dieser Notfall-Monetarismus hat – wie zuvor in der globalen Finanzkrise – seinen Zweck zunächst erfüllt, stößt im dritten Jahr der Pandemie jedoch an seine Grenzen. Die zusätzliche Liquidität und die Politik der niedrigen, faktisch schon länger negativen Zinsen verursachte nach der globalen Finanzkrise eine sektorale Inflation, die sich vor allem in den explodierenden Immobilienpreisen und immer weiter steigenden Aktienkursen niedergeschlagen hat. Nun ist sie durch die Unterbrechung globaler Lieferketten, den Mangel an Chips und vielen anderen Produkten sowie steigende Energiepreise in eine allgemeine Inflation übergegangen. Der russische Angriff auf die Ukraine hat die Preise für Gas und Öl nochmals stark ansteigen lassen. Das dürfte Wladimir Putin durchaus einkalkuliert haben, denn hauptsächlich so kann er seinen Krieg finanzieren. Wie die

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2  Vgl. Adam Tooze, Shutdown. How Covid Shook the World’s Economy, London 2021. 3  Tooze charakerisiert die Rolle der FED als »a central bank to the world«. Vgl. Tooze, S. 122.

Inflation wieder unter Kontrolle gebracht werden kann, ohne das ohnehin schwache Wachstum abzuwürgen, ist eine offene Frage. Stark steigende Zinsen würden die hoch verschuldeten Euro-Länder im Süden Europas überfordern und damit möglicherweise die Existenz des Euro gefährden. Die EU hat auf die erste COVID-19-Welle mit einem »Recovery Plan« reagiert, der die Folgen der Pandemie für alle Mitglieder und vor allem besonders hart getroffene Länder wie Italien und Spanien abgemildert hat. Das Programm mit dem vagen Namen »Next Generation EU« ( NGEU) wurde 2020 mit dem beispiellosen Etat von 750 Millionen Euro ausgestattet. Erstmals in der Geschichte der EU fließen Hilfsgelder nicht nur als Kredite, sondern zum größeren Teil als direkte Zuschüsse an die nationalen Haushalte. Der Jurist und Europa-Experte Federico Fabbrini sieht darin »einen präzedenzlosen Sprung nach vorn« für die europäische Integration,4 vor allem verglichen mit der Politik während der Eurokrise von 2011 bis 2013, als es nur um Haushaltsdefizite, Schulden und die Absicherung der Banken gegangen sei. In der Tat war das NGEU-Programm Resultat eines Lernprozesses: Die Mitgliedsstaaten wollten

die Fehler der Eurokrise nicht wiederholen und setzten nun auf ein Ausgabenprogramm statt auf Austeritätspolitik. Außerdem darf die EU erstmals Schulden aufnehmen und erhält das Recht, eigene Steuern zu erheben. Das bestätigt auf den ersten Blick die alte Weisheit, dass in jeder Krise eine Chance liegt. Nur sind mit dem Recovery Plan auch die Erwartungen gewaltig gestiegen. Wird das Ausgabenprogramm so wirken wie erhofft und zu einem Aufschwung und vor allem zu einer Modernisierung der europäischen Wirtschaft führen, die in zukunftsträchtigen Bereichen wie der Digitalisierung hinter die USA und Ostasien zurückgefallen ist? Die Beantwortung dieser Frage liegt

nicht in den Händen der EU, sondern ist Sache der einzelnen Mitgliedsstaaten, die für die Umsetzung des Recovery Plans zuständig sind. Die EU mit ihren 35.000 Beamten könnte die einzelnen Programmpunkte auch gar nicht umsetzen, insofern ist diese Entscheidung für eine dezentrale Mittelvergabe richtig. Doch aufgrund des neoliberalen Dogmas eines »schlanken Staates« sind die dafür nötigen staatlichen Kapazitäten und Kompetenzen seit den 1990er Jahren immer weiter abgebaut worden. Selbst Mitgliedstaaten, die in der Außenwahrnehmung als gut verwaltet galten, hatten in den letzten Jahren massive Probleme, größere Projekte umzusetzen (in Deutschland stehen dafür Beispiele wie der neue Flughafen in Berlin, der viel diskutierte Investitionsstau bei Straßen und Brücken sowie zuletzt die mangelnde Einsatz­ 4  Vgl. Federico Fabbrini, Next Generation EU. Il futuro di Europa e Italia dopo la pandemia, Milano 2022, S. 81.

fähigkeit der Bundeswehr angesichts der russischen Aggression). Diese Defizite haben vielfältige Ursachen. Ein zentraler Grund ist die neoliberale Doktrin, der Staat möge sich aus der Wirtschaft zurückziehen und Philipp Ther  —  Die COVID-19-Pandemie als Bewährung für die EU

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nicht mehr als Unternehmer auftreten. Auch das Wettbewerbsrecht bei Ausschreibungen mit der Verpflichtung, den jeweils billigsten, aber nicht unbedingt zuverlässigsten Anbieter zu nehmen, hat schon manches Großprojekt verzögert. Der einseitige Fokus auf Geldpolitik mag zwar wie 2008/09 dabei helfen, einen Zusammenbruch des globalen Finanzsystems abzuwenden, kann aber für den viel zitierten »Wiederaufbau« nur einen Rahmen setzen. Bis die flüssigen Mittel bei den Firmen ankommen, dauert es lange. Zudem ist Europa hinsichtlich der Digitalisierung ein Flickenteppich; der oft geringe Entwicklungsstand – insbesondere in Deutschland – zeigte, dass es offenbar schwer ist, mit einer Politik des billigen Geldes eine nachhaltige Modernisierung anzustoßen. Die mühsame und fehleranfällige Kontaktverfolgung bei COVID-19 per E-Mail und manchmal auch per Telefon vermittelte einen Ein-

druck davon, wie groß die Herausforderung ist. Auch der Umbau zur Green Economy ist bislang weitgehend ein Postulat geblieben. Im Zuge der fast ein halbes Jahr andauernden Diskussionen bis zur endgültigen Ratifizierung des Recovery Plans kamen außerdem wieder die bekannten strukturelle Probleme der Union zum Vorschein. Viktor Orbán erpresste die anderen Mitgliedsstaaten so lange mit der Androhung eines Vetos, bis sie die Vorschriften zur Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit abschwächten und deren Anwendung bis auf die Zeit nach der nächsten ungarischen Parlamentswahl aufschoben. Für diesen Kompromiss war vor allem die deutsche Ratspräsidentschaft unter Angela Merkel verantwortlich, die damit der liberalen Demokratie im östlichen Europa einmal mehr einen schlechten Dienst erwies. Zusammen mit den milliardenschweren Investitionen deutscher Konzerne in Ungarn kam diese Politik einer Sabotage der Demokratie in Europa gleich. Die Konsolidierung des Orbán-Regimes hat die Funktionalität der EU bereits stark beeinträchtigt und bedeutet eine ganz grundsätzliche Herausforderung für sie, denn niemand weiß, wie ein Mischsystem liberaler Demokratien und autoritärer Systeme funktionieren soll. Zwei weitere Probleme des NGEU liegen in seiner zeitlichen Dimension. Der Plan wurde zu einem Zeitpunkt entworfen, als niemand damit rechnete, dass die Pandemie mehr als zwei Jahre dauern und immer neue Varianten des Virus auftauchen würden. Es ist daher unklar, ob die 750 Milliarden Euro ausreichen werden, um die europäische Wirtschaft wieder dauerhaft in Schwung zu bringen. Außerdem ist das Programm auf die Jahre 2021–2026 befristet, alle größeren Ausgaben müssen sogar schon bis Ende 2023 beschlossen sein.5 Wird die tiefe und durch den russischen Angriffskrieg nochmals verschärfte Wirtschaftskrise bis dahin vorbei sein? Inwieweit wirken

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5  Vgl. Fabbrini, S. 87.

europäische Ausgabenprogramme überhaupt, zumal wenn jeder einzelne Mitgliedsstaat am Ende weitgehend selbst entscheidet, wohin die Gelder fließen? Die EU-Kommission hatte bei der Genehmigung der jeweiligen nationalen Ausgabenpläne zwar das letzte Wort und nutzte dies zum Beispiel dazu, die ungarischen Pläne zunächst abzulehnen (Orbán wollte die Gelder unter anderem zur Privatisierung der Universitäten in Form von Stiftungen nutzen, in der dann Mitglieder und Anhänger der Fidesz das Sagen haben würden. Das ließ sich weder als Beitrag zur Digitalisierung noch als Bestandteil eines Green Deal verkaufen). Im Nachhinein hat Brüssel erfahrungsgemäß jedoch sehr begrenzten Einfluss darauf, was mit den Geldern wirklich geschieht. Einerseits ist das Subsidiaritätsprinzip beziehungsweise die Umsetzung durch die Mitgliedsstaaten sinnvoll, andererseits sind Projekte wie zum Beispiel der Umstieg auf alternative Energien vom Aufbau grenzüberschreitender Leitungen für Solarstrom von Süd nach Nord abhängig. Sollte die EU in ein paar Jahren ein weiteres Krisenprogramm beschließen wollen, stünde sie außerdem wegen des überholten Einstimmigkeitsprinzips bei wichtigen Beschlüssen vor demselben Problem wie 2020. Orbán ist zwar inzwischen aufgrund seiner Nähe zu Russland unter den Partnerstaaten der VysegrádGruppe (dem ostmitteleuropäischen Staatenbündnis Polens, Ungarns, Tschechiens und der Slowakei) isoliert, aber notfalls könnten ihm seine Freunde von der PiS doch wieder beispringen. Zugleich hat der Aufbauplan die Kluft zwischen den Erwartungen an die EU und ihren Möglichkeiten, selbst Maßnahmen zu ergreifen, nochmals vergrößert.6 Dieses Problem zeigte sich bereits während der ersten COVID19-Welle, als sich alle Augen nach Brüssel richteten, um die Prävention und die Verteilung von Gesundheitsgütern besser zu organisieren oder wenigstens zu koordinieren. Doch die EU hat kaum Kompetenzen in der Gesundheitspolitik und musste auch bei den Grenzschließungen und den innereuropäischen Exportverboten für medizinisches Material lange Zeit gute Miene zum bösen Spiel machen. Bei der systematischen Verletzung der Schengen-­ Verträge durch zahlreiche Mitgliedsstaaten, allen voran den Vysegrád-Staaten und Österreich, musste die EU-Kommission weitgehend tatenlos zusehen, weil Notfall-Paragrafen diese Maßnahmen erlaubten. Erst mit dem Recovery Plan und der gemeinsamen Bestellung der Impfstoffe gewann Brüssel die Initiative teilweise zurück. Das wiederum erhöhte jedoch das erwähnte Risiko überzogener Erwartungen in den Mitgliedsstaa6  Vgl. Kiran Klaus Patel, COVID-19 und die Europäische Union, in: Geschichte und Gesellschaft, H. 3/2020, S. 522–535.

ten. Außerdem braucht sich die EU-Kommission keine Hoffnungen zu machen, dass man ihr etwaige Erfolge dankt. Ein schlagendes Beispiel dafür war die Ankündigung der polnischen Regierung vom Mai 2022, nicht für Philipp Ther  —  Die COVID-19-Pandemie als Bewährung für die EU

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unverbrauchte Impfstoffe zu bezahlen, die von der EU-Kommission für alle Staaten zu einem relativ günstigen Preis bestellt worden waren. Erst hatte man hier nach der EU gerufen, denn Polen stellt selbst keine Impfstoffe her, dann war Brüssel erneut der Buhmann. Auf einer solchen Basis lässt sich schwer eine gemeinsame Politik betreiben. Beim Recovery Plan sind die Probleme nochmals anders gelagert. Er wurde wie erwähnt im Sommer 2020 entwickelt und im Herbst beschlossen – und war im Prinzip bereits durch die erneuten Lockdowns im Winterhalbjahr 2020/21 überholt. Letztere führten zu einem nochmaligen Einbruch der Wirtschaft, steigenden Staatsschulden, sozialen und auch generationellen Verwerfungen. Das Glück der EU könnte darin gelegen haben, dass die neuen Beschränkungen von den nationalstaatlichen Regierungen verhängt und somit die Unzulänglichkeiten des NGEU in den Hintergrund gedrängt wurden. In Italien, wo Mario Draghi sich als rationaler Manager eines Notstands zum zweiten Mal nach der Eurokrise große Verdienste erwarb, half der Recovery Plan den Unternehmen und den Bürgern zwar nachweislich7 – aber dort wurde das dann eher der eigenen Regierung als Brüssel angerechnet.

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Vgl. Fabbrini, S. 108–128.

Bei der Bestellung und Verteilung der Impfstoffe lief es weniger gut für die EU. Die EU-Kommission hatte zunächst stark auf das günstigere Präparat Astra Zeneca gesetzt, nicht zuletzt auf Drängen der ärmeren Mitgliedsstaaten. Die Impfung bekam jedoch aufgrund von Nebenwirkungen und einer geringeren Wirksamkeit als die beiden mRNA-Präparate schnell einen zweifelhaften Ruf. Außerdem war die EU-Kommission bei der Bestellung der Impfstoffe langsamer als die USA und das Vereinigte Königreich, was Trump und Johnson zu hämischen Kommentaren veranlasste. Gründe für die Verzögerung waren zähe Verhandlungen über die Haftung im Falle unerwarteter Nebenwirkungen und die erwähnte Sparsamkeit. Die Aversion gegen Risiken war insofern unlogisch, weil allen Beteiligten klar war, dass neuartige Impfstoffe zum Einsatz kamen. Hinreichend getestet waren sie jedoch und man konnte von einer großen Bereitschaft zur Impfung ausgehen. Wenn man kein Risiko eingeht, entstehen manchmal neue Nebenwirkungen, wie die langen Lockdowns im späten Winter und Frühjahr 2021 zeigten.8 Es wäre auch das politische Risiko wert gewesen, der Bevölkerung eine Impfung vorzuschreiben, als es ab Juni 2021 endlich genügend Impfstoff für alle gab. Zumindest für bestimmte Berufsgruppen, die besonders viel soziale Kontakte haben und die schutzbedürftige ältere Generation hätte das nahegelegen. Stattdessen sprachen die Regierungen von einem »Impfangebot«. Dieser Begriff passte gut ins neoliberale Zeitalter, erzeugte jedoch Beliebigkeit statt Verantwortungsbewusstsein. Ein Angebot kann man ablehnen, das liegt in der Natur des Begriffs und der Marktwirtschaft. Die Corona-Maßnahmen haben – angefangen bei den flächendeckenden Lockdowns bis zu den Impfkampagnen – viel Vertrauen gekostet, nicht nur unter Coronaleugnern und Impfgegnern, sondern auch unter dem (weit größeren) Teil der Bevölkerung, der sich stringentere Maßnahmen gewünscht hätte. Die Anliegen Letzterer fanden jedoch kaum Gehör, da in den Medien vor allem die Proteste gegen die Maßnahmen die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Ein anderes, auf Dauer ebenso brisantes Problem sind die erwähnten sozialen und ökonomischen Folgen der Pandemie. Die Lockdowns trafen vor allem kleine Firmen, Selbstständige sowie arbeits- und kontaktintensive Berufe, zum Beispiel in der Gastronomie, in denen das sogenannte Dienstleistungsproletariat tätig ist. Menschen mit einem geringen Einkommen waren 8  Diese Gegenüberstellung von risikoreichen und -armen Corona-Politiken beruht auf dem Buch von Peter Baldwin, Fighting the first wave. Why the Coronavirus was tackled so differently across the globe, Cambridge 2021.

weit häufiger vom raschen Anstieg der Arbeitslosigkeit betroffen als gut bezahlte und hoch qualifizierte Arbeitnehmer, die auf Homeoffice umstellen konnten. Letztere profitieren auch mehr von den staatlichen Stützungs- und Rettungsprogrammen für die großen Konzerne. Daher hat sich – wie in der globalen Finanzkrise von 2009 – die Umverteilung von unten nach oben Philipp Ther  —  Die COVID-19-Pandemie als Bewährung für die EU

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verstärkt. Durch die steigende Inflation hat sich das Problem nochmals verschärft, denn auch sie trifft Menschen mit einem geringen Einkommen weit stärker. Lässt sich diese Entwicklung korrigieren? Bedeutet die Rückkehr zum staatlichen Interventionismus die endgültige Abkehr vom neoliberalen Rückzug des Staates aus der Wirtschaft? Adam Tooze hat hier berechtigte Zweifel angemeldet. Für ihn wirkt das Erbe des Neoliberalismus durch die »Hyperglobalisierung, fragile und schwächer werdende Sozialstaaten, tiefe soziale und wirtschaftliche Ungleichheit und die überbordende Größe und den Einfluss der privaten Finanzwirtschaft« weiter.9 OMIKRON ALS GAMECHANGER Nach dem Abflauen der ersten COVID-19-Welle im Sommer 2020 und den Erfolgen bei den Impfkampagnen bis zum Sommer 2021 war immer wieder von der Zeit nach Covid die Rede. Auch der Recovery Fund der EU und die anlässlich der Pandemie viel bemühte Rhetorik des Krieges beruht semantisch auf dieser Prämisse: Irgendwann wird die Pandemie vorbei sein, was indirekt suggeriert, dass dann das Leben weitergehen könne wie zuvor. Nach mittlerweile fünf großen Ansteckungswellen und Dutzenden von Virus-­Varianten weiß man, dass es nur ein Leben mit Covid geben wird. Just als ein Großteil der Menschheit aufgrund der steigenden Impfungen und der zurückgehenden Zahl an Erkrankungen auf ein Abflauen der Pandemie zu hoffen begann, entwickelte sich die neue Variante Omikron. Aufgrund ihrer nochmals höheren Übertragbarkeit und der entsprechend raschen Verbreitung erzeugte Omikron Ende 2021 Panik und erneute Grenzschließungen. Allerdings stellte sich bald heraus, dass die Krankheitsverläufe weniger schwer sind als bei früher zirkulierenden Varianten des Virus. Daher gingen die Hospitalisierungen zurück, obwohl die Zahl der weltweiten Infektionen einen neuen Rekord erreichte. Den Omikron-Viren gelang es jedoch, den Immunschutz der gängigen Impfpräparate zu umgehen, die nun neu entwickelt oder angepasst werden müssen. Vor allem die traditionell hergestellten russischen und chinesischen Impfstoffe bieten offenbar nur einen geringen Schutz. Bei den mRNA-Präparaten liegt er höher, zumindest wenn die Impfung vor kurzer Zeit aufgefrischt wurde. Die milderen Verläufe hatten jedoch Nebenwirkungen auf die Debatten um COVID-19. Die Impfgegner fühlten sich einmal mehr bestätigt, dass die Erkrankung einer leichten Grippe gleiche und die Impfung eine unzumutbare Zwangsmaßnahme sei. Auch hier gibt es einen größeren Zusammenhang zur Ära der neoliberalen Transformation. Der Staat hat sich seit den 1980er Jahren nicht nur aus der Wirtschaft zurückgezogen, sondern auch die

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9  Im Original lautet das Zitat wie folgt: »The fiscal monetary synthesis […] overturned the nostrums of neoliberalism, notably with regard to the scale of government interventions, it was framed by neoliberalism’s legacies in the form of hyperglobalization, fragile and attenuated welfare states, profound social and economic inequality, and the overweening size and influence of private finance.«, Tooze, S. 132.

Gesundheitsvorsorge, die Ernährung, die Freizeitgestaltung und die Kindererziehung immer mehr den Kräften der Märkte und den einzelnen Bürgern überlassen. Man mag diese Selbstregulierung als Zugewinn an Freiheit empfinden, gleichwohl führte sie zu neuen Zwängen, einer Selbstoptimierung durch Sport, gesunde Ernährung und moralisch aufgeladene Formen des Konsums. Vor diesem Hintergrund wirkte es 2021 ungewohnt und anachronistisch, als der Staat plötzlich wieder eine Impfpflicht durchsetzen wollte wie zu Zeiten von Polio und Diphterie. Schließlich konterkarierte Omikron diese ultimative Maßnahme im Kampf gegen die Pandemie, die in einigen Ländern (darunter Österreich und Deutschland) wegen der erneuten COVID-19-Wellen mit der neuen Delta-Variante im Herbst und Winter 2021/22 im Prinzip schon beschlossen war. Eine allgemeine Impfpflicht ist schwer zu vermitteln, wenn der aktuell verfügbare Impfstoff nur noch bedingt wirksam ist. Um einen kollektiven Gesundheitsschutz zu erreichen, hätten die daran interessierten Regierungen schon im Sommer 2021 aktiv werden müssen, als sich abzeichnete, dass sich weniger Menschen als erwartet impfen lassen. Es ist wie erwähnt zu früh, eine (zeit-)historische Bilanz der COVID-19-Pandemie zu ziehen und deren politische und soziale Folgen abzuschätzen. Der Vertrauensverlust in die Regierungen betrifft nicht nur die EU, sondern auch die nationalstaatliche Ebene. Seit dem 24. Februar 2022 überlagert der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine viele Probleme, die mit der Pandemie zusammenhängen. Der Westen und die EU sind gegenüber dieser rein menschengemachten Herausforderung geschlossener aufgetreten, als Putin erwartet hatte. Doch der Krieg, den Russland letztlich auch gegen die EU und die NATO führt, wird möglicherweise noch länger dauern als die akute Phase der Pandemie. Er wird nicht nur an den militärischen Fronten entschieden, sondern auch auf wirtschaftlicher Ebene und an den Heimatfronten. Die EU muss also weiter zusammenhalten. Ob das in der Not besser gelingt als zuvor, wird sich in den kommenden Jahren zeigen.

Prof. Dr. Philipp Ther ist Professor für ­Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien. Seine Arbeitsgebiete umfassen Europäische Zeitgeschichte, Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Migrationsgeschichte und Musikgeschichte. 2019 wurde er mit dem Wittgenstein-Preis des österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) ausgezeichnet.

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AUF DER SUCHE NACH DEM WELLENBRECHER DIE PANDEMIE IN PORTUGAL Ξ  Tilo Wagner

Kriegs- und Krisenzeiten sind schon immer Nährboden für Heldendichtungen gewesen: von der Ilias über das Nibelungenlied bis hin zum portugiesischen Seefahrer-Epos Die Lusiaden. Der Reflex, eine Symbolfigur für den Kampf gegen einen äußeren Feind zu finden, lässt sich auch in den vermeintlich postheroischen Gesellschaften unserer Gegenwart nicht unterdrücken. Dazu tragen nicht zuletzt die Berichterstatter bei.1 Der portugiesischen Öffentlichkeit präsentierten sie während der COVID -19-Pandemie einen Helden, der auf den ersten Blick sogar äußerlich dem klassischen Vorbild zu entsprechen schien: ein hochgewachsener, scheinbar selbstloser Soldat mit kantigem Kinn und Uniform. Im Dezember 2021 wählten die Redaktionen der auflagenstärksten Wochenzeitung Expresso und der einflussreichen Zeitung Diário de Notícias sowie der Verband der ausländischen Presse in Portugal AIEP den Marineoffizier Henrique de Gouveia e Melo zur Persönlichkeit des Jahres. Dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausgerechnet ein Seefahrer noch einmal in die Heldendichtung der ewigen Seefahrernation Portugal aufgenommen werden sollte, hing jedoch weniger mit den maritimen Tugenden des Vizeadmirals zusammen als mit dem dortigen Verlauf der Pandemie. DER POPULÄRE IMPF-ADMIRAL Die Popularität von Gouveia e Melo fußt auf einer der weltweit erfolgreichsten Impfkampagnen gegen das Coronavirus SARS-CoV-2. Zwischen Ende Dezember 2020 und Anfang Oktober 2021 wurden 15,3 Millionen Impf­ dosen verspritzt. Portugal war das erste Land der Welt, das eine Impfquote von 85 Prozent erreichte.2 Nach anfänglichen Problemen bei der Impfkampagne hatte die portugiesischen Regierung Vizeadmiral Gouveia e Melo, der zuvor bereits die logistische Abwicklung der Impfstoffverteilung koordiniert hatte, Anfang Februar 2021 zum Leiter der Impf-Taskforce ernannt. Unterstützt durch ein Team von Marineoffizieren organisierte er den Aufbau großer Impfzentren, löste logistische Schwierigkeiten und setzte auf effiziente Kommunikationswege zu den Bürger:innen. Dank seiner allgegenwärtigen

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1  Vgl. Herfried Münkler, Heroische und Postheroische Gesellschaften, in: Merkur, H. 8–9/2007, S. 742–752. 2  Vgl. Joana Morais Fonseca u. a., Portugal atinge meta de 85 da população com a vacinação completa, https:// tiny.one/indes223l1.

Präsenz in den Impfzentren, immer in Tarnanzug und mit Maske, gewann er auch in den portugiesischen Medien an Prominenz. Dass die Portugies:innen mit dem Vizeadmiral ausgerechnet dem Militär in der Krise eine neue, sehr öffentlichkeitswirksame Rolle zuteilten, kommt nicht überraschend. Die portugiesische Demokratie erlebte ihre Geburtsstunde mit einem friedlichen Militärputsch im April 1974 – der sogenannten Nelken­ revolution. Bis zu den ersten freien Parlamentswahlen 1976 prägten führende Offiziere den Verlauf des Transitionsprozesses entscheidend mit. Der ehemalige Generalstabschef der portugiesischen Armee, António Ramalho Eanes, wurde zum ersten Staatspräsident der jungen Demokratie gewählt und blieb bis 1986 im Amt. Erst durch eine Verfassungsänderung im Jahr 1982 wurde der Einfluss der Militärs auf die demokratische Entscheidungsfindung beendet.3 Das hohe Ansehen der Institution hält sich bis heute. Laut einer vom portugiesischen Verteidigungsministerium in Auftrag gegebenen, unabhängigen Studie aus dem Jahr 2021 haben 73,4 Prozent der Portugies:innen sehr großes beziehungsweise vollstes Vertrauen in die Streitkräfte. Die effiziente Organisation der Impfkampagne durch den Marienoffizier Gouveia e Melo war dennoch nicht der alleinige Grund, warum sich so viele Portugies:innen überhaupt impfen ließen. Die Ursachen sind vielfältig. Allen voran fiel der Beginn der Impfkampagne in die schwerste Gesundheitskrise der jüngsten portugiesischen Geschichte: Ende Januar 2021 befand sich das Land auf dem Höhepunkt einer COVID-19-Infektionswelle. Portugal zählte täglich bis zu 300 Todesfälle unter den Infizierten. Das öffentliche Gesundheitssystem war stark überlastet. Ein Team aus Ärzten und Ärztinnen sowie Krankenpfleger:innen der Bundeswehr flog nach Lissabon, um in einem privaten Krankenhaus eine zusätzliche Intensivstation für die Behandlung schwer erkrankter Corona-Infizierter aufzubauen. Diese traumatische Erfahrung, so schreibt José Gil, einer der einflussreichsten zeitgenössischen portugiesischen Philosophen, verlange nach einer Symbiose des Kampfs gegen Corona und der Demokratie: »Zusammenfügen bedeutet hier, dass Gesundheit und Politik vereint werden, so dass die politische Motivation durch eine innere Berufung zu einer therapeutischen wird, und dass die Bürger in der Anwendung von Corona-Schutzmaßnahmen die Verwirklichung der Motivation ihres politischen Wesens sehen. Nur so wird es möglich sein, durch das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft 3  Vgl. Rui Ramos (Hg.), ­História de Portugal, Bd. VIII, Lissabon 2009, S. 95. 4  José Gil, A democracia e os mortos, in: Público, 31.01.2021.

Vertrauen zu schaffen.«4 Folgt man diesem Gedanken, erklärt sich die erfolgreiche Impfkampagne in Portugal auch als ein Akt bürgerlicher Partizipation im Kampf gegen die Pandemie. Tilo Wagner  —  Auf der Suche nach dem Wellenbrecher

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Das staatliche Gesundheitssystem (SNS) wird in Portugal als eine maßgebliche Errungenschaft der Demokratie verstanden. Die ältere Generation der Portugies:innen erinnert sich noch an die schlechte Gesundheitsversorgung zur Zeit des autoritären Regimes. In den 1960er Jahren war die Säuglingssterblichkeit in Portugal dreimal so hoch wie in Westdeutschland, mittlerweile ist sie so niedrig wie in kaum einem anderen Staat weltweit. Dieser Erfolg wird mit der Einführung eines für die Bürger tendenziell kostenfreien staatlichen Gesundheitssystems nach der Nelkenrevolution in Verbindung gebracht – und mit einer großen Akzeptanz des allgemeinen nationalen Impfprogramms. Insbesondere unter den Älteren gibt es in Portugal fast keine Impfkritiker:innen: Fast 99 Prozent der über 60-Jährigen haben sich gegen COVID-19 impfen lassen.

BREITER KONSENS ZU CORONA-MASSNAHMEN Große Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen und die Impfkampagne, die in Deutschland zu einer Spaltung der Gesellschaft beigetragen haben, gab es in Portugal nicht. Bis auf ein paar vereinzelte Aktionen von wenigen hunderten Demonstrant:innen war in der Öffentlichkeit kaum Protest wahrnehmbar. Den – wenigen, aber durchaus vorhandenen – Kritiker:innen der Corona-Maßnahmen gelang es nicht, genügend Unterstützung für ihr Anliegen hinter sich zu vereinen. Als zum Beispiel eine Reihe von Restaurantbesitzer:innen im Dezember 2021 vor dem portugiesischen Parlament in den Hungerstreik trat, um gegen die zeitweilige Zwangsschließung ihrer Gaststätten zu protestieren, zeitigte das wenig Wirkung. Und als ein Richter seinen Unmut über Maskenpflicht und Lockdowns öffentlich kundtat, wurde er kurzerhand vom Obersten Justizrat suspendiert. Sogar die Rechtspopulist:innen haben im Verlauf der Pandemie ihre anfängliche Skepsis gegenüber den Schutzmaßnahmen aufgegeben, weil sie offenbar fürchteten, sich damit gegen den breiten gesellschaftlichen Konsens zu positionieren. André Ventura, Chef der rechtspopulistischen Partei Chega und deren Spitzenkandidat bei den Parlamentswahlen im Januar 2022, musste in einer Wahldebatte zugeben, dass er sich doch impfen lassen werde, obwohl er fast ein Jahr lang das Gegenteil behauptet hatte. Das Streben nach Konsens und Stabilität in breiten Teilen der portu­ giesischen Gesellschaft spiegelte sich auch in den Ergebnissen der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wider, die während der Pandemie abgehalten wurden. Der liberal-konservative Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa ( PSD) setzte sich bei seiner Wiederwahl gegen sechs Gegenkandidaten durch und wurde bereits im ersten Wahlgang mit über sechzig Prozent der Stimmen

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im Amt bestätigt. Die sozialistische Regierung unter Premierminister António Costa wurde im Januar 2022 mit einer absoluten Mehrheit wiedergewählt – ein Ergebnis, das die Sozialisten in der 46-jährigen Geschichte der portugiesischen Demokratie bis dahin erst einmal erzielt hatten. Rebelo de Sousa und Costa, die zwei miteinander konkurrierenden Volksparteien angehören, haben im Verlauf der Pandemie ihre enge Kooperation zu Beweis gestellt. Zwischen dem 19. März 2020 und dem 30. April 2021 galt in Portugal 218 Tage lang der Ausnahmezustand. Die politischen Institutionen bemühten sich darum, die außergewöhnliche Situation durch ein in der Verfassung vorgeschriebenes Ritual zu legitimieren: Laut den Artikeln 19 und 138 darf der Staatspräsident den Ausnahmezustand nur nach Zustimmung des Parlaments und für einen Zeitraum von maximal zwei Wochen ausrufen.5 Staatspräsident Rebelo de Sousa lud die Parteien deshalb alle zwei Wochen zu Konsultationen ein, beschloss dann die Verabschiedung beziehungsweise Verlängerung des Ausnahmezustandes, und das Parlament stimmte nach einer Debatte diesem Präsidentendekret zu. Diese transparente und formal-verlässliche politische Entscheidungsfindung trug mit dazu bei, dass sich die Kritik an der Aussetzung fundamentaler Freiheiten und Grundrechte der Bürger in Grenzen hielt. Dennoch brachen auch in Portugal tieferliegende soziale und politische Konflikte auf. Die Rechtspopulist:innen instrumentalisierten den ersten Lockdown im März/April 2020, um ihren rassistischen Parolen Gehör zu verschaffen. Chega-Parteichef André Ventura etwa forderte im Parlament, Teile der Roma-Bevölkerung in spezifische »Schutzzonen« – sprich: Gettos – einzuschließen. Mit provokanten und revisionistischen Thesen versuchte Ventura seine Partei während der Pandemie stärker in den Fokus der politischen Debatten zu rücken. Diese Strategie scheint bei einem Teil der portugiesischen Wähler:innen aufgegangen zu sein. Die Chega-Partei konnte bei den Parlamentswahlen 2022 die Zahl ihrer Abgeordneten von einem auf elf erhöhen und wurde hinter den Sozialisten und der größten Oppositionspartei, der ­l iberal-konservativen PSD, zur drittstärksten Kraft im Parlament. WIRTSCHAFTLICHER ERFOLG, ABER SOZIALE VERWERFUNGEN Die sozialen Folgen der Pandemie sind bislang nur teilweise ablesbar, auch

5  Vgl. Constituição da ­República Portuguesa, Coimbra 1998, S. 12 u. S. 61.

weil Auswirkungen wie Inflation und Armut sich nicht direkt von den Kon-

6  Vgl. Bruno P. Carvalho u. a., Portugal, Balanço Social 2021, Nova SBE Economics for Policy Knowledge Center, Lisboa 2022.

und Ungleichheit kurz vor der Pandemie leicht rückläufig waren.6 Während

sequenzen des Ukrainekrieges trennen lassen. Ein im Januar 2022 veröffentlichter Sozialbericht über Portugal dokumentiert, dass Indikatoren zu Armut der Pandemie stieg die Armutsrisiko-Quote laut Eurostat jedoch wieder von Tilo Wagner  —  Auf der Suche nach dem Wellenbrecher

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16,2 Prozent (2020) auf 18,4 Prozent (2021) an.7 Dank großzügiger staatlicher Hilfen, zum Beispiel im Bereich der Kurzarbeit, konnte der Arbeitsmarkt die negativen Auswirkungen der Pandemie abfedern: Die Arbeitslosigkeit ist in Portugal nach einem zwischenzeitlich leichten Anstieg im Jahr 2020 nun weiter zurückgegangen. Im ersten Quartal 2022 lag sie bei 5,8 Prozent und damit so niedrig wie seit fast zwanzig Jahren nicht mehr. Großen Anteil an dieser Entwicklung hat der Tourismusboom nach dem Ende der pandemischen Notlage in Europa. In wirtschaftlicher Hinsicht könnte Portugal jedoch auch mittelfristig zu einem Gewinner der Corona-Krise werden. Der Industriestandort Portugal ist gerade bei europäischen Konzernen attraktiver geworden, weil die Pandemie gezeigt hat, dass die Lieferketten zwischen Asien und Europa in Ausnahmesituationen offenbar nicht immer verlässlich sind. In Portugal suchen die Unternehmen deshalb einen alternativen Produktions- oder Lieferstandort, der wegen der kürzeren Wege ein höheres Maß an Liefersicherheit garantieren soll. Die staatliche portugiesische Außenhandelsagentur AICEP erwartet für 2023 deshalb ein weiteres Rekordjahr im Bereich der Auslandsinvestitionen in Portugal.8 Ungeachtet dieser Entwicklungen versteckt sich hinter den ökonomischen Eckdaten eine Vielzahl ungelöster Konflikte. Portugal ist weiterhin eines der EU-Länder mit der größten sozialen Ungleichheit. Laut Eurostat stieg während der Pandemie der Indikator für die Ungleichheit der Einkommensverteilung so deutlich an wie in kaum einem anderen EU-Land.9 Insbesondere die gut ausgebildeten Arbeitnehmer:innen haben von der Flexibilisierung der Arbeit profitiert, zum Beispiel durch die Einführung von Homeoffice. Zu Beginn der Pandemie blieben über vierzig Prozent der Beschäftigten mit Hochschul­ abschluss zu Hause, während nur zwei Prozent der unqualifizierten Arbeitnehmer:innen von dieser Schutzmaßnahme Gebrauch machen konnten. Da die beiden großen Gewerkschaftsverbände – die kommunistisch beeinflusste CGTP und die gemäßigtere UGT – vor allem die Interessen langjährig Be-

schäftigter und Angestellter der öffentlichen Verwaltung vertreten, fehlt den Hilfskräften in Schlachthöfen, dem Reinigungspersonal oder den unqualifizierten Arbeiter:innen in der Baubranche der Einfluss auf die Politik. Hinzu kommt: Die sozial schwächeren Familien haben auch in Portugal am stärksten unter Schulschließungen und anderen Lockdown-Maßnahmen gelitten. Die Ökonomin Susana Peralta schlug deshalb vor, für diese Gruppe der Geringverdiener:innen die Sozialhilfen zu erhöhen. Das Geld solle, so ­Peralta, über eine Sondersteuer in die Staatskassen fließen, die von der »Home-­OfficeBourgeoise«10 getragen werden sollte, also von den Festangestellten vor allem im Dienstleistungssektor und in der öffentlichen Verwaltung, die in der

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7  Vgl. Eurostat, At-risk-ofpoverty rate by povert threshold, age and sex ­­­­­– EU-SILC and ECHP surveys, 11.11.2022, https://tiny.one/­indes223l2. 8  Vgl. Tilo Wagner, Portugal in Krisenzeiten. Ein Magnet für Investitionen, in: Deutschlandfunk, 21.09.2022, https://tiny.one/ indes223l3. 9  Vgl. Eurostat, Income quintile share ratio S80/S20 for disposable income by sex and age group – EU-SILC survey, 24.11.2022, https://tiny.one/­ indes223l4. 10  Vgl. Sónia Peres Pinto, Entrevista com Susana Peralta, in: Jornal i, 26.02.2021 https:// tinyurl.com/indes223l5.

Pandemie keinen Einkommensverlust zu beklagen hatten und relativ bequem von zu Hause arbeiten konnten. Diese Idee wurde in den Medien zwar kontrovers diskutiert, fand aber keinen Zuspruch der regierenden Sozialisten. Tiefe Spuren hat die Pandemie auch im Gesundheitssektor hinterlassen. Das staatliche Gesundheitssystem ist seit Jahren unterfinanziert, auch weil die sozialistische Regierung die Neuverschuldung Portugals weiter eindämmen will und Investitionen in den Gesundheitssektor immer wieder aufgeschoben hat. Viele Laufbahnen des medizinischen Personals sind eingefroren worden, Gehälter wurden nicht erhöht, Überstunden werden häufig nicht ausgezahlt. In den schwierigen Phasen der Pandemie hat das medizinische Personal am Rande der Belastbarkeit gearbeitet – und dennoch zunächst nicht protestiert oder gestreikt. Das hat sich nun geändert: Im Sommer 2022 mussten viele portugiesische Krankhäuser aus Personalmangel vorübergehend Bereiche wie die Not-Geburtshilfe oder Kindernotaufnahme schließen. Nach dem Tod einer Schwangeren in Lissabon ist die portugiesische Gesundheitsministerin Marta Temido Anfang September zurückgetreten – und damit ausgerechnet ein Kabinettsmitglied, dessen Popularität in der Pandemie deutlich angestiegen war. Ob die gegenwärtige Krise im Gesundheitssektor gelöst werden kann, bleibt Tilo Wagner  —  Auf der Suche nach dem Wellenbrecher

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fraglich. Die Regierung kann nun zumindest auf Geld aus Brüssel bauen: Aus dem portugiesischen Aufbau- und Resilienzplan sollen 1,38 Milliarden Euro in das Gesundheitswesen fließen. VERMINDERTE STABILITÄTSSEHNSUCHT, BLEIBENDE HELDENVEREHRUNG Der Höhepunkt der Pandemie scheint nun – jedenfalls vorübergehend – überschritten zu sein: Die Regierung hob Ende September die Isolationspflicht für Corona-Infizierte auf. Damit verliert offensichtlich auch der Wunsch nach politischer Stabilität, der zur Zeit der Pandemie in Portugal deutlich spürbar war, an Zugkraft. Die Sozialisten spüren nun den Gegenwind. Laut einer Umfrage Ende September 2022 bewerteten 49 Prozent der Befragten die Arbeit der Regierung als schlecht oder sehr schlecht; nur 42 Prozent haben ein positives Bild. Bei der Wiederwahl im Januar 2022 – auf dem Höhepunkt der Omikron-Welle – waren es noch 65 Prozent gewesen, die der Regierung ein positives Zeugnis ausstellten.11 Die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine (Inflation, steigende Energiepreise und Zinsen) spielen beim Popularitätsverlust der portugiesischen Regierung sicherlich eine Rolle. Beobachter:innen stellen aber auch fest, dass die Regierung um António Costa seit dem Gewinn der absoluten Mehrheit Defizite in der internen Kommunikation, in der Öffentlichkeitsarbeit und in der Zusammenarbeit mit dem Staatspräsidenten offenbart. Das politische Portugal kommt nach der Pandemie in unruhigere Gewässer, auch weil die Unterstützung der Rechtspopulisten weiter zunimmt und eine Zersplitterung der breiten politischen Mitte droht. Ein Mann scheint jedoch auch jetzt noch das große Vertrauen der Portugies:innen zu genießen: Henrique de Gouveia e Melo. Der ehemalige Chef der Impf-Task-Force ist zum Admiral und Chef der portugiesischen Marine ernannt worden. Gouveia e Melo bemüht sich, seinen Ruf einer überparteilichen, unabhängigen Persönlichkeit zu pflegen. Seine politischen Ambitionen hat er indes nie ganz von der Hand gewiesen. Warum auch: Der »Held« der Pandemie ist zur Zeit der aussichtsreichste Kandidat, um in drei Jahren Portugals neuer Staatspräsident zu werden.

Tilo Wagner studierte Geschichte, Volkswirtschaftslehre, Spanisch, Portugiesisch und Arabisch in Mainz, Madrid, Beirut und Berlin. Er arbeitet als freier Korrespondent für den Deutschlandfunk und andere deutschsprachige Medien in Portugal.

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11  Vgl. Eunice Lourenço & Sofia Miguel Rosa, Sondagem: Governo passou do céu ao inferno em seis meses, in: Expresso, 30.09.2022, https:// tinyurl.com/indes223l6.

ANTISOZIALE MACHT ABSURDITÄTEN DES COVID-19-LOCKDOWNS IN SHANGHAI Ξ  Biao Xiang

Absurd – dies ist eines der am häufigsten gebrauchten Attribute, mit denen die Bewohner von Shanghai das Leben während des zweimonatigen Lockdowns von April bis Juni 2022 beschreiben.1 Während dieser Zeit konnten Mitarbeitende der Gemeinde die Bevölkerung mitten in der Nacht dazu auffordern, einen PCR-Test zu machen. Einwohner:innen wurden ohne Vorwarnung in Quarantäneeinrichtungen gebracht, lediglich weil ihre Nachbar:innen infiziert waren. Ein Doktorand wurde für den Versuch, die Campus-Katze zu streicheln, von seiner Universität öffentlich getadelt – der Grund: Falls er von der Katze gebissen worden wäre, hätte er zur Behandlung ins Krankenhaus gemusst, was nicht nur die Mobilitätsbeschränkungen verletzt, sondern auch unnötigerweise medizinische Ressourcen beansprucht hätte. Die Regierung von Shanghai hat es nicht geschafft, rechtzeitig Nahrungsmittel an die isolierte Bevölkerung zu verteilen, jedoch gleichzeitig den etablierten Lieferservices den Betrieb untersagt und Einwohner:innen davon abgehalten, selbst Lebensmittelvorräte anzulegen. Den Hungrigen war nicht einmal erlaubt, sich zu ärgern: Kritische Äußerungen in den sozialen Medien wurden von den Behörden entfernt und von Netzines als »unpatriotisch« verunglimpft. Die Bürger:innen von S ­ hanghai konnten sich keinen Reim auf das machen, was ihnen widerfuhr; noch wussten sie, was als Nächstes passieren würde. »Die Absurdität nimmt kein Ende in Shanghai«, lautete der Post eines Bürgers, »es wird immer absurder.« Yu Lin, ein erfahrener Sozialarbeiter, war von seinem Versuch einer Rettungsaktion in Shanghai zunehmend desillusioniert. Yu hat seit 2008 mehrere unabhängige Rettungsmissionen in verschiedenen Katastrophengebieten ge1 

Die teilweise Abriegelung von Shanghai begann am 28. März 2022 und wurde am 5. April auf die gesamte Stadt ausgeweitet. Am 1. Juni wurde sie aufgehoben, einige Bezirke wurden kurz darauf wegen weiterer COVID-19-Ausbrüche jedoch erneut abgeriegelt. 2  Dies entspricht ungefähr 278 US-Dollar.

leitet, was unter anderem die Bereitstellung grundlegender Hilfsmaßnahmen in unterschiedlichen Städten, die während der Pandemie von Lockdowns betroffen waren, umfasste. Bereits im April 2022 erkannte sein Team die Vorzeichen einer Hungersnot in Shanghai. Zwar sicherten sie eine Spende an Instantnudeln von einer Fabrik vor Ort; da die Angestellten, die den Schlüssel zum Lagerhaus hatten, ihr Haus nicht verlassen durften, konnten sie damit aber nichts weiter anfangen. Schließlich mietete Yu für 2.000 Yuan2 ein Auto, um wenigstens gekaufte Nudeln zu den verzweifeltsten Haushalten zu

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schmuggeln. »Wenn Sie unsere engagiertesten Freiwilligen fragen, was sie über Shanghai denken«, sagt Yu, »ist alles, was sie wollen, nicht zu denken. Sie wollen das alles vergessen«. »Wir fühlten uns wie durch den Fleischwolf gedreht. All unsere Energie war ausgebrannt. In Wuhan hatten wir noch das Gefühl, irgendetwas zu erreichen. Die ersten beiden Wochen [in Wuhan] waren sehr beängstigend, weil man dort tausende Menschen sterben sah. Aber wir haben vor Ort ein System umgesetzt, um diejenigen ausfindig zu machen, die wirklich Hilfe benötigen – und wir konnten ihnen helfen. Wir haben effektive Maßnahmen ergriffen, um ernste Herausforderungen zu bewältigen. In Shanghai konnten wir überhaupt nichts tun. […] Das ist ein harter Rückschlag für unsere jungen Freiwilligen vor Ort, die geschlossene Arbeitskreisläufe brauchen [das heißt, sie müssen sehen, dass ihr Handeln Sinnvolles bewirkt]. Aber wir können eben nicht sehen, was wir erreicht haben. Wir können es ihnen nicht einmal emotional vergüten. Die Menschen in Shanghai waren so erschöpft, dass niemand auch nur ein bisschen positive Energie aus sich herauspressen konnte, um den Freiwilligen etwas Dankbarkeit entgegenzubringen.«3 Yus Vergleich von Shanghai mit Wuhan ist bezeichnend. Wie konnte Shanghai nach mehr als zwei Jahren Pandemieerfahrung ein solches Missmanagement betreiben? Shanghai unterscheidet sich von Wuhan in – mindestens – drei Aspekten, mit denen sich diese Absurditäten erklären lassen: 1. Während Wuhan gegen ein Virus vorgegangen ist, hat Shanghai eine Meinung bekämpft. Kritiker:innen halten die Zero-Case-Politik für nicht durchführbar oder für unnötig. Shanghai hat diese Politik jedoch um ihrer selbst willen verteidigt. Das verdeutlichen die angewandten Maßnahmen, die nicht nur extrem waren, sondern weder die Realität reflektierten noch rational nachvollziehbar waren. 2. Freiwillige und spontane Gemeindeorganisationen haben in Wuhan eine wichtige Rolle bei der Notfallunterstützung gespielt, auch weil ein erhebliches Machtvakuum bestand, da die Regierung selbst ratlos war. Shanghai hingegen schloss solche Machtlücken und verhinderte auf Basis größerer Regierungskapazitäten eine ähnlich spontane Agilität. Die Einwohner:innen konnten weder die Stadt verlassen noch sich selbst spontan helfen, egal, wie verzweifelt sie waren. 3. Schließlich hat Wuhan auf kommerzielle Akteure gesetzt, die während des Lockdowns Hilfe leisten sollten. Shanghai hingegen hat die großen

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3  Online-Gespräch mit Yu Lin am 24.08.2022. Ich danke Duan Zhipeng, der bei der Organisation der Sitzung geholfen hat.

Lieferunternehmen nicht zugelassen. Dies hat zu Chaos, Verwirrung und Misstrauen gegenüber der lokalen Regierung geführt. Der Lockdown in Shanghai wurde absurd, weil die Regierungsmacht dort »antisozial«4 wurde. Ich verwende den Begriff »antisozial«, um drei Sachverhalte auszudrücken. Erstens – wie auch die Literatur über Psychologie und soziale Arbeit bestätigt – verletzt antisoziales Verhalten die grundlegenden sozialen Normen. Individuelle antisoziale Verhaltensweisen, zum Beispiel Aggression, beeinträchtigen das mentale oder physische Wohlergehen anderer.5 Die antisoziale Macht der Regierung kann aufgrund ihrer schieren Wucht ein tiefes und weit verbreitetes psychisches Trauma verursachen. Zweitens vernachlässigt die antisoziale Macht die Selbstorganisationsfähigkeit der Gesellschaft oder blockiert diese aktiv. In Shanghai konnte man sehen, dass die Regierung spontane Selbsthilfe als ineffektiv, kontraproduktiv oder sogar bedrohlich betrachtet. Drittens kann antisoziale Macht die Gesellschaftsmitglieder selbst gegeneinander aufbringen. Dieser Bruch verlief zum Teil entlang unterschiedlicher Meinungen. Die Meinungskampagne spaltete die Öffentlichkeit in Befürworter:innen und Gegner:innen der Zero-Case-­Politik. Doch die Konflikte innerhalb der Bevölkerung wurden auch durch brutale Kontrollmaßnahmen ausgelöst, die zu Spannungen sowohl zwischen Bevölkerung und einfachen Beamt:innen als auch unter einigen Einwohner:innen führten, die sich gegenseitig zu beschuldigen begannen. Anders als die gängige autoritäre Macht, die die Gesellschaft von außen unterdrückt, stört antisoziale Macht die sozialen Beziehungen von innen he4  Die gängigen Wörterbücher empfehlen, das englische Wort antisocial mit unsozial bzw. asozial zu übersetzen. Während asozial wegen seiner pejorativen Bedeutung keine Übersetzungsoption ist, zielt unsozial lediglich auf die Abwesenheit des Sozialen. Daher wird im Folgenden das Wort antisozial verwendet, das vorwiegend in der Psychologie Verwendung findet und konkret eine Missachtung bzw. Verletzung des Sozialen ausdrückt [Anm. d. Übers.]. 5  Vgl. Kathleen Stassen Berger, The Developing Person Through Childhood and Adolescence, New York 2003. 6  Ich danke Tu Jiaying für ihre Unterstützung.

raus. Antisoziale Macht unterdrückt also nicht nur die Rechte Einzelner, sondern schädigt auch die individuelle Bereitschaft und Fähigkeit, füreinander zu sorgen und miteinander zu kommunizieren. Im Folgenden werde ich zeigen, wie sich antisoziale Macht manifestiert, indem ich die Erfahrungen aus Shanghai mit Wuhan vergleiche. Der Text basiert auf meinen täglichen Beobachtungen der chinesischen sozialen Medien vom späten März 2022 bis in die Gegenwart, darüber hinaus auf Gesprächen, die ich mit neun Einwohner:innen von Shanghai geführt habe, sowie auf zusätzlichen Recherchen.6 VOM KAMPF GEGEN EIN VIRUS ZUM KAMPF GEGEN EINE MEINUNG »In Wuhan haben die Menschen die Pandemie bekämpft, so gut sie konnten, da noch niemand etwas über das Virus wusste. In Shanghai wussten die Menschen viel über das Virus, doch unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Meinungen darüber.« Biao Xiang  —  Antisoziale Macht

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So interpretiert einer meiner Verwandten, ein Unternehmer, der mehr als zwanzig Jahre in Shanghai gelebt hat, die Schwierigkeiten, mit denen Shanghai konfrontiert war: »Unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Meinungen.« Anfangs war die Stadtverwaltung von Shanghai offenbar der Auffassung, dass die Omikron-Variante, die Anfang 2022 erstmalig auftrat, weniger tödlich, dafür aber infektiöser sei als die Varianten zuvor, weshalb eine harte Abriegelung unnötig und nicht durchführbar sei. Shanghai experimentierte mit einer sogenannten »präzisen Prävention«, die auf Kontaktverfolgung, häuslicher Selbstisolierung und lediglich begrenzten Mobilitätseinschränkungen beruhte. Die Zentralregierung hingegen lehnte diesen Ansatz ab und sendete Vize-Premierminister Sun Chunlan am 2. April 2022 nach Shanghai, um die Zero-Case-Politik durchzusetzen.7 Sun kritisierte die Regierung von Shanghai und rief zu »bottom-line thinking« und »extreme thinking« auf. Laut offiziellen Medienberichten meint »bottom-line thinking«, dass die von der Zentralregierung festgelegte rote Linie niemals überschritten werden dürfe, egal, um welchen Preis. »Extreme thinking« bedeutet, in Xi Jinpings eigenen Worten, »das schlimmstmögliche Szenario in Betracht zu ziehen und die beste Vorbereitung zu treffen.«8 Ein Artikel in den einflussreichen Shenzhen Special Zone News behauptete, dass der Streit um die Covid-Politik »im Wesentlichen ein Kampf zwischen politischen Systemen ist, [ein Kampf, der] auf der Stärke des Staates, der Regierungskapazität und sogar zwischen Zivilisationen beruht«.9 Die offiziellen Medien suggerierten, dass der Westen die Beschränkungen gelockert habe, da der »Kapitalismus« die Wirtschaft über das menschliche Leben stelle, wohingegen das »sozialistische« China die Zero-Case-Politik umsetzen müsse, um Leben um jeden Preis zu retten. Die Rhetorik der »Rettung von Leben« ist mehr als nur ein Vorwand; sie wird als ein bestimmendes Merkmal des chinesischen politischen Systems angesehen, unabhängig davon, wie unrealistisch und kontraproduktiv die konkreten Maßnahmen sind. Die Politik reduziert sich hier auf schwarz-weiße moralische Forderungen. Xi bekräftigte, die Zero-Case-Politik sei von der »politischen Natur der Partei« bestimmt.10 Die Covid-Kontrolle wandelte sich zu einer Kampagne der Kontrolle über Geist und Seele. »Kontrollieren Sie den Wunsch Ihrer Seele nach Freiheit!«, tönte es aus Drohnen, die durch die Wohngebiete flogen.11 Da der Lockdown darauf abzielen sollte, die Fallzahlen unabhängig von den sich ändernden Eigenschaften des Virus bei null zu halten, ergriff die Regierung extreme Maßnahmen. Einwohner:innen bestimmter Stadtteile mussten sich täglich einem PCR-Test unterziehen. Menschen in system­relevanten Berufen, beispielsweise Kurier:innen, mussten täglich einen PCR- und zwei

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7  Vgl. Xinhua Agency, Sun Chunlan betont, er werde so hart wie möglich kämpfen, um die Ausbreitung der Epidemie in kürzester Zeit einzudämmen, 02.04.2022, tiny.one/indes223m1. Um die Nachvollziehbarkeit der verwendeten Literatur zu verbessern, wurden die chinesischen Titel im gesamten Text auf Deutsch übersetzt [Anm. d. Übers.]. 8  Hu Jun, Warum Sun Chunlan bei der Problembetrachtung das »bottom line thinking« anwendet, Nachrichten der KPCh, in: cpc people, 28.12.2012, http://cpc.people. com.cn/pinglun/n/2012/1228/ c241220-20046095.html. 9  Shen Zhongwen, »Dynamischer Nullpunkt« ist der Weg zum Sieg im Kampf um die Prävention und Kontrolle von Epidemien, in: Shenzhen Special Zone News, 20.03.2022, tiny.one/indes223m2. 10  Rede von Xi Jinping auf der Sitzung des Ständigen Ausschusses am 05.05.2022, tiny.one/indes223m3. 11  Drohnen-Benachrichtigung [Video], 05.04.2022, tiny. one/indes223m4. Der zitierte Satz stammt ursprünglich von dem Psychiater Xie Bin, der im Februar 2020 im Rahmen der Anti-Covid-Kampagne der Regierung von Shanghai eine Rede hielt, tiny.one/indes223m5. Es ist unklar, wer die Drohne entsandt hat. Berichte in den sozialen Medien deuten darauf hin, dass sie von einer örtlichen Polizeistation geschickt worden sein könnte. Vgl. backchina, 07.04.2022, tiny.one/indes223m6.

Antigen-Tests vorweisen.12 Ohne negatives PCR-Testergebnis durften Patient:innen mit akuten Krankheiten kein Krankenhaus betreten; manche starben, während sie auf ihr Testergebnis warteten, einige begingen sogar Suizid, da sie ihre Schmerzen nicht mehr ertragen konnten. Dies ist absurd, wie es auch von einem Post in den sozialen Medien aufgegriffen wird: »Würde sich das Krankenhaus weigern, Notfälle zu behandeln, wenn [der Patient/ die Patientin] positiv ist?« Die Maßnahmen zielten darauf ab, jeden einzelnen positiven Fall unter 25 Millionen Menschen so früh wie möglich zu erkennen. Die Redewendung »eine Nadel im Heuhaufen suchen« bezeichnet dieses Vorgehen nur allzu treffend. Der Kampf gegen abweichende Meinungen ist für die Kommunistische Partei Chinas ( KPCh) nichts Neues; aber der Kampf um Meinungen im Zusammenhang mit Corona hatte besonders weitreichende soziale Auswirkungen, da die Covid-Politik das tägliche Leben aller Menschen direkt betrifft und nicht als isolierter politischer Vorfall behandelt werden kann. Anders als in Xinjiang oder Hong Kong konnten Kritiker:innen der Zero-Case-Politik nicht zum Schweigen gebracht werden. Die Bürger:innen kommentierten die Covid-Politik in den sozialen Medien immer dann, wenn sie über ihre Sorgen sprachen, über ihr Essen, ihre Gesundheit, ihre Arbeit, ihre familiären Beziehungen oder darüber, ob sie die kommende Nacht im Feldlazarett verbringen würden. Indes entbrannten hektische Online-Wettkämpfe zwischen Zensor:innen und Bürger:innen. So wurde beispielsweise am 22. April 2022 ein Videoclip mit dem Titel The Voice of April hochgeladen, eine Collage aus Bildern 12  Vgl. Luo Yi, Shanghai startet ab dem 22. April neun große Kampagnen, um so schnell wie möglich das Zero-CovidZiel zu erreichen, in: Yicai, 21.04.2022, tiny.one/indes223m7. 13  Beispielsweise abrufbar unter tiny.one/indes223m22. 14  Peng Ruiping, Heute Abend streiten die Shanghaier über ein Online-Video, in: China Digital Times, 23.04.2022, tiny.one/indes223m8. 15  DW China, Shanghai protestiert mit Topfschlagen gegen angebliche »ausländische Kräfte«. Peking verbringt den 1. Mai an Ort und Stelle, 29.04.2022, tiny.one/indes223m9.

und O-Tönen, die das Elend der Bewohner:innen während des Lockdowns demonstriert.13 Innerhalb eines halben Tages wurde es mehr als 100.000-mal angesehen. Die Behörden versuchten, das Video zu löschen und öffentliche Accounts zu sperren, die das Video weiterverbreiteten, während die InternetCommunity es so schnell wie möglich weiterleitete und erneut veröffentlichte, um das Video »am Leben« zu erhalten. Zahlreiche WeChat-Accounts wurden nach Veröffentlichen des Videos blockiert (oder bombed, wie es die chinesische Internet-Community nennt). Ein Artikel beschrieb dies als »verzweifelte Selbstmordstaffel« aus unzähligen WeChat-Konto­inhaber:innen: »Einige Accounts wurden aus diesem Grund blockiert, aber andere preschten nach vorn und teilten das Video wie Motten, die einer Flamme entgegenfliegen.«14 In dieser Atmosphäre gingen die Bürger:innen zunehmend emotional aufeinander los, alles auf Basis unterschiedlicher Einstellungen zur Corona-Politik. Diejenigen, die eine Zero-Case-Politik befürworteten, kritisierten diejenigen, die dagegen waren, als »von ausländischen Mächten angestiftet«15 oder Biao Xiang  —  Antisoziale Macht

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als Gerüchtemacher. Ein Beitrag in den sozialen Medien kommentiert das wie folgt: »Wenn es auch nur eine einzige Familie in Shanghai gibt, die genügend zu essen hat, und du sagst, deine Familie sei hungrig, wirst du als jemand angegangen, der Gerüchte verbreitet.« Zhang Weiwei, einer der bekanntesten öffentlichen Kommentatoren Chinas, prangerte alle Kritiker der Zero-CasePolitik als »geistige Amerikaner« an, die aus absoluter Unterwürfigkeit vor den Amerikanern »niederknien und [wie ein Hund ihre Füße] lecken«. Ein 16

Freund aus Kindertagen schrieb den Covid-Ausbruch in Shanghai einer USVerschwörung zu – »›andere aus Tausenden von Kilometern Entfernung zu vergiften‹, das haben die USA schon immer gemacht.«17 Politische Debatten sind moralistischen Anschuldigungen gewichen. LOKALE COMMUNITY: LETZTES MITTEL ZUR UNTERSTÜTZUNG ODER ERSTE KONTROLLINSTANZ? Eine effektive Mobilitätsbeschränkung muss mit einer Umverteilung der Mobilität einhergehen.18 Das heißt, neue Mobilitätskanäle müssen geöffnet werden, um das Nötigste auszuliefern und besondere Bedürfnisse zu erfüllen. Da die Einwohner:innen von Wuhan während des Lockdowns keine Lebensmittelgeschäfte aufsuchen konnten, verkauften Bäuerinnen und Bauern ihre Waren vor den Wohnanlagen. Da auch öffentliche Verkehrsmittel außer Betrieb waren, taten sich tausende Menschen zusammen und sprachen sich via App darüber ab, mit ihren privaten Autos nicht nur Essen zu liefern, sondern auch Patient:innen ins Krankenhaus zu fahren und medizinisches Personal zwischen Wohnung und Arbeitsplatz hin und her zu befördern.19 Als die internationalen Frachtflüge eingestellt wurden, organisierten Chines:innen, die sich im Ausland aufhielten, den Versand von Schutzausrüstung, insbesondere von Masken, nach Wuhan mithilfe der sogenannten Flesh Carrier-­ Methode. Mit den gesammelten Artikeln warteten sie am Flughafen und baten jede nach China einreisende Person, Pakete als persönliche Gepäckstücke aufzugeben und so nach China zu überführen. Gleichzeitig koordinierten sie nach Ankunft der Passagier:innen in China die Weiterleitung der Pakete nach Wuhan.20 Diese alternativen Mobilitätskanäle haben Wuhan unter Lockdownbedingungen am Leben gehalten. In Shanghai hingegen wurde jede spontane alternative Mobilität streng kontrolliert. Yu Lins Rettungsteam konnte keine lokalen Partner finden, weil »niemand seine Wohnung verlassen durfte«. Diese strikte Kontrolle war unter anderem durch das health code system 21 ermöglicht worden, das 2022 in ganz China eingeführt worden ist. Aber auch auf lokaler Ebene wurden die Mobilitätsbeschränkungen physisch umgesetzt. Die sogenannten

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16  Zhang Weiweis Kommentar über »geistige Amerikaner« unter tiny.one/indes223m23. 17  WeChat-Kommentar am 21.04.2022. Die Formulierung »andere aus Tausenden Kilometern Entfernung vergiften« – oder quanli toudu – hat sich während der Pandemie weit verbreitet und unterstellt ausländischen Regierungen die Verantwortung für die Verbreitung des Virus: Demnach bringen Ausländer und Chinesen, die aus Übersee oder anderen Orten nach China einreisen, potenziell das Virus mit. 18  Vgl. Biao Xiang, The emerging »mobility business«, Halle/ Saale 2021, tiny.one/indes223m11. 19  Vgl. Cao Yan, Der »Fährmann« in der Pandemie: Wir retten uns gegenseitig, in: The Paper, 17.02.2020, tiny.one/indes223m12. 20  Vgl. Biao Zeng, Rush to Help. Overseas Chinese and the Movement of Face Masks, Blog des Centre on Migration, Policy & Society, 13.04.2020, tiny.one/indes223m13. 21  Dieses Gesundheits­­­­code-System wurde in China eingeführt, um die Bewegungen und den Gesundheitszustand von Personen während der COVID-19-­ Pandemie zu verfolgen und zu melden. Auf Grundlage von Informationen, die von Einzelpersonen zur Verfügung gestellt werden (einschließlich Wohngegend, medizinischen Testaufzeichnungen, Reisegeschichten usw.), kann ein Gesundheits-QR-Code (jiankang ma) oder ein E-Travel-Code (xingcheng ma) generiert werden. Die Codes stehen für drei Risikostufen, die durch die Farben Rot, Gelb oder Grün gekennzeichnet sind. Die Menschen verwenden die Codes wie elektronische Reisepässe, um Zugang zu verschiedenen Orten zu erhalten.

Anwohnerausschüsse, an sich Selbstverwaltungsorganisationen der Anwohnerschaft, die jedoch streng von der Regierung kontrolliert werden, wurden zur Frontlinie der Kontrolle und des Konflikts. Manche Anwohnerausschüsse errichteten Metallkonstruktionen, um die Ausgänge der Wohnanlagen zu versperren – die Wohnung wurde zum Gefängnis. Andere klebten Papiersiegel an sämtliche Wohnungstüren, um die Bewohner:innen daran zu erinnern, dass sie ihre Türen nicht ohne Genehmigung öffnen durften. Mitarbeitende der Gemeinde drohten damit, jeden zu bestrafen, der die Regeln nicht einhielt. Ein Videoclip, der im Internet verbreitet wurde, zeigt, wie ein Mitarbeiter einem Paar droht, in dessen Nachbarschaft sich eine infizierte Person befand. Die Familie des Paares werde »für drei Generationen« bestraft, wenn sie sich weigerten, sich in eine Quarantäneeinrichtung zu begeben, auch bei eigenem negativen Testergebnis. Das Paar weigerte sich weiterhin und fügte hinzu: »Wir sind die letzte Generation, vielen Dank!«22 Die Brutalität und die Spannungen auf Gemeindeebene wurden zum Teil dadurch verursacht, dass die Zentralregierung während der Abriegelung viele Gemeindemitarbeitende aus anderen Teilen Chinas nach Shanghai schickte. Innerhalb von drei Tagen, vom 3. bis zum 5. April 2022, wurden 38.000 medizinische Arbeitskräfte aus 15 Provinzen entsandt, viele sollten auf Gemeindeebene tätig werden.23 Einige Gemeindemitarbeitende scheinen auch von der Polizei oder sogar von der Armee geschickt worden sein, wie Anwohner:innen aus erster Hand erfahren haben. Die von Kopf bis Fuß in weiße Schutzanzüge gehüllten Gemeindearbeitenden waren komplett unkenntlich und wurden als »Big Whites« bezeichnet. Die »Big Whites« sind seitdem als furchterregende Figuren bekannt, die Shanghai beherrschten. Zu den »Big Whites« gehören auch angeworbene Freiwillige, die bei der Organisation von PCR-Tests und der Essensausgabe halfen. In der Anfangsphase meldeten sich viele Einwohner:innen freiwillig, genau wie in Wuhan. Doch eine große Zahl von Freiwilligen aus der Region gab schon bald resi22  Video »Drei Generationen« und »Letzte Generation«, tiny.one/ indes223m14. Für den schriftlichen Bericht auf Chinesisch siehe vgl. tiny.one/indes223m15. 23  Vgl. Ye Binder & Wang Liwei, Mehr als 38.000 medizinische Mitarbeiter aus 15 Provinzen eilen nach Shanghai, in: People’s Daily, 05.04.2022, http:// zj.people.com.cn/n2/2022/0405/ c186327-35208619.html.

gniert auf. Ein Journalist, der mehr als zehn Jahre lang in Shanghai gelebt und gearbeitet hatte, meldete sich Anfang April als Freiwilliger und kündigte nach weniger als drei Wochen wieder: »Wir hatten das Gefühl, dass der Anwohnerausschuss uns wie Werkzeuge benutzte. Sie sagten uns, wir sollten dies und jenes tun. Aber wir wussten nicht, warum wir das alles tun sollten. Nach jeder Runde PCR-Tests mussten wir aufräumen. Jedes Mal haben wir bis 23 Uhr oder sogar noch länger gearbeitet. Eines Tages rief der Anwohnerausschuss um sechs Uhr morgens Freiwillige nach unten, um Biao Xiang  —  Antisoziale Macht

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eine weitere Testrunde zu organisieren. Wir hatten doch erst am Vortag eine gemacht! Dann traf das medizinische Team erst um 11.00 Uhr ein. Wir hatten bereits alle Bewohner gebeten, nach unten zu kommen und sich anzustellen. Die Leute wurden sehr ungeduldig und wütend. Einige schrien uns [Freiwillige] an. Mir reicht’s.«24 Einige Anwohnerausschüsse rekrutierten später externe Freiwillige, vermutlich von außerhalb Shanghais, die in der Regel 200 bis 300 Yuan pro Zwölf-Stunden-Schicht erhielten.25 Diese bezahlten Freiwilligen waren der Gemeinde völlig fremd und befolgten lediglich die Anweisungen der Gemeindemitarbeitenden. Dies führte zu einem radikalen Wandel der öffentlichen Wahrnehmung Freiwilliger; sie erhielten die Beinamen »Freiwillige der KPCh« und »Kader-Freiwillige«.

Xing Yan, ein Doktorand der Soziologie in Shanghai, erzählte mir: »Wenn man sich [anfangs] dem Freiwilligenteam anschloss, postete man das Foto in den sozialen Medien, war stolz und bekam viele Likes und Herzen. Aber wenn jetzt [im Juni 2022] jemand ein Foto von sich als Freiwilligem postet, wird man

24  Private Online-Konversation, 05.05.2022. Der Bericht von Lu deckt sich mit vielen Beiträgen zum Thema »Warum gibt es nicht genügend Freiwillige und warum melden sich die Einwohner nicht zur Beteiligung an?«, gepostet am 11.04.2022, tiny.one/indes223m16.

in den Kommentaren nur noch verhöhnt.« Doch Konflikte entzündeten sich nicht nur zwischen Anwohner:innen, Gemeindearbeitenden und Freiwilligen, sondern auch unter den Anwohner:innen selbst. Diejenigen, die PCR-Tests verweigerten oder es ablehnten, ihr Testergebnis zu veröffentlichen, wurden von ihren Nachbar:innen für ihr als »sittenwidrig« bezeichnetes Verhalten abgestraft. Mitunter wurden Lebensmittellieferungen an diese Familien blockiert.26 Anwohner:innen, die im öffentlichen Raum spazieren gingen, wurden in den WeChat-Gruppen der Nachbarschaft namentlich genannt und angeprangert. Seit Ende Mai war es in einigen Gegenden einem Familienmitglied erlaubt, für ein bis zwei Stunden pro Tag rauszugehen. Eine meiner Verwandten traute sich nicht, dieses Angebot wahrzunehmen, da sie befürchtete, in den Augen der Nachbarn zu einer Quasi-Kriminellen zu werden, sollte sie sich infizieren. Die gegenseitige Angst unter den Nachbarn wurde noch verstärkt durch die Kluft zwischen Befürworter:innen und Gegner:innen der Zero-Case-Politik, die auch die Kommunikation in der Gemeinschaft lähmte. Ein Bewohner Shanghais gab in seiner privaten WeChat-Gruppe bekannt: »Obwohl ich vor Wut [über die Kommentare der Nachbarn] fast durchgedreht wäre, musste ich extrem vorsichtig sein und erst nachlesen, was sie [die Nach-

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25  200 bis 300 chinesische Yuan entsprechen ungefähr 28–42 US-Dollar. Vgl. verschiedene chinesische Posts auf, tiny.one/indes223m17. Es gibt keine offiziellen Informationen über die Rekrutierungspläne der Gemeinden; jedoch lassen Zeitungsberichte darüber, wie skrupellose Arbeitsagenturen Freiwillige rekrutierten, indem sie Gebühren verlangten, sie aber nicht vermittelten, vermuten, dass diese Zahlen realistische Schätzungen sind. Vgl. Geng Xueqing, Was geschah mit 17 Anti-COVID-Sicherheitsleuten in Shanghai? Sie wurden von Rekrutierungsagenten getäuscht, verloren den Kontakt mit dem Anführer und verbrachten die Nacht unter Brücken und in Gängen, in: China Youth Daily, 01.05.2022, https://www.sohu. com/a/543041895_119038. 26  Vgl. Reuters, COVIDshaming pits neighbour against neighbour in locked-down Shanghai, 18.04.2022, tiny. one/indes223m18.

barn] denken, bevor ich irgendetwas sagte. Ich schwöre, dass ich von nun an in der Nachbarschaft kein einziges Wort mehr von mir geben werde.« Mitte August, lange nach dem Ende der Abriegelung, kursierte folgende Nachricht in den sozialen Medien: »Verteidigen Sie Ihren grünen Code zum Wohle Ihrer Nachbarn! Es hängt ganz von Ihren Nachbarn ab, wo Sie morgen Nacht schlafen werden. Jetzt wissen Sie, dass Ihre Nachbarn für Sie am allerwichtigsten sind. Hören Sie auf die Regierung. Machen Sie der Regierung und unseren Kindern keinen Ärger.«27 Als die erzwungene kollektive Haftung die spontane kollektive Solidarität ersetzte, verwandelten sich die solidarischen nachbarschaftlichen Beziehungen in gegenseitiges Misstrauen, gegenseitige Überwachung und schließlich Konfrontation. Auch wenn solche Spannungen nicht in allen Gemeinden auftraten, sind sie doch ein abschreckendes Zeichen dafür, wie stark das lebensweltliche soziale Gefüge beschädigt worden ist. WIRTSCHAFTSUNTERNEHMEN: VOM BEISTAND ZUR BEDROHUNG In scharfem Kontrast zu dem, was 2020 in Wuhan geschehen war, als die Regierung Liefer- und Taxiunternehmen aufgefordert hatte, Mobilitätsdienste anzubieten, um den ruhenden öffentlichen Nahverkehr zu kompensieren, verbot Shanghai großen Lieferunternehmen den Betrieb. Jingdong, ein führendes Logistik- und Lieferunternehmen mit 417 Millionen Nutzer:innen im Jahr 2020 und einem Jahresumsatz von 149 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021, durfte trotz wiederholter Bitten nicht in Shanghai tätig werden. Dies verursachte ein großes Chaos und trug dazu bei, dass viele Einwohner:innen unter Lebensmittelknappheit zu leiden hatten. Die Gründe für dieses Vorgehen der Regierung sind unklar. Es ist anzunehmen, dass die Entscheidung Teil einer größeren Kampagne der Zentralregierung war, die seit 2020 gegen Großunternehmen vorgeht. Im Jahr 2021 entfernte die chinesische Regierung die TaxiApp Didi (Chinas Uber) aus den App-Stores und deaktivierte mit der Begrün27  Der Post kursierte auf WeChat, darunter auch in einer WeChat-Gruppe, in der ich Mitglied bin. 28  Vgl. Raymond Zhong, China’s Crackdown on Didi Is a Reminder That Beijing Is in Charge, in: New York Times, 05.07.2021.

dung von Sicherheits- und Datenschutzbedenken die neue Anmeldefunktion für Smartphones in China.28 Gleichzeitig verhängte die Regierung finanzielle Sanktionen gegen andere große Plattformunternehmen, vor allem Alibaba und Tencent, und unterwarf sie wesentlich strengeren Vorschriften als zuvor. Diese Tech-Giganten waren aus Sicht der Regierung zu mächtig geworden. Während die großen Lieferfirmen außen vor gelassen wurden, beauftragten die lokalen Machthaber in Shanghai eine Vielzahl kleiner Unternehmen Biao Xiang  —  Antisoziale Macht

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mit der Auslieferung von Lebensmitteln. Die Produkte waren oft minderwertig, abgelaufen und von unbekannten Marken. Verärgert und verblüfft recherchierten die Bürger:innen von Shanghai im Internet und fanden heraus, dass einige Unternehmen keine Lizenz besaßen, andere keine Umsatzoder Steuerunterlagen vorweisen konnten und wieder andere keine Mitarbeiter:innen hatten. Es wird allgemein angenommen, dass Korruption der Hauptgrund dafür war, dass genau diese Unternehmen für diese Dienstleistungen ausgewählt wurden. Es wurde berichtet, dass von der Regierung ausgestellte spezielle Transportgenehmigungen ge- und verkauft wurden.29 Einige Anwohnerausschüsse verdienten Geld, indem sie lebenswichtige Güter, die von der Regierung für die Bevölkerung bestimmt waren, horteten und verkauften und sogar ihren Zugang zu Krankenwagen missbrauchten.30 Doch selbst Anwohner:innen, die sich in Einkaufsgemeinschaften zusammenschlossen, um die Versorgung mit Lebensmitteln zu sichern, wurden beschuldigt, sich an überhöhten Preisen zu bereichern.31 Dass sich die Korruption in Shanghai so weit und so schnell ausbreiten konnte, ist für viele schockierend. Wie es scheint, ist dies ein weiteres Anzeichen für den sozialen Zusammenbruch. FAZIT In der modernen Menschheitsgeschichte bestand das größte Problem bei der Katastrophenhilfe meist darin, dass die Regierungen zu spät und zu wenig handelten und die Gesellschaft auf sich allein gestellt war. In Shanghai haben wir das Gegenteil erlebt: Die Regierung handelte zu schnell und zu selbstbewusst. Es wurde nicht berücksichtigt, was die Menschen brauchen, denken und fühlen. Brutale Eingriffe untergruben die Fähigkeit der Bürger:innen zur Selbsthilfe, zur gegenseitigen Unterstützung und Kommunikation. Die Unruhen schufen zudem neue Spannungen innerhalb der Bevölkerung. Maßnahmen, die ursprünglich dem gesellschaftlichen Wohl dienen sollten, entpuppten sich als hochgradig antisozial. Dies ist die Quelle der eingangs geschilderten Absurdität. Diese antisoziale Macht stellt einen großen Bruch mit der chinesischen Tradition dar. Schon die kaiserliche Macht Chinas stützte sich auf einen lokal begrenzten »Macht-Kultur-Komplex« (power-culture nexus).32 Die sozialistische Revolution wurde ebenfalls tief in die lokalen Gesellschaften einzubetten versucht, um die fremden kommunistischen Ideale der chinesischen Bevölkerung vertraut erscheinen zu lassen.33 Antisoziale Macht ähnelt insofern der modernen bürokratischen Macht, als beide auf Technologie, den Staatsapparat und Infrastrukturen angewiesen sind. Aber im Fall der antisozialen

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COVID-19 ff. — Analyse

29  Vgl. Amt für öffentliche Sicherheit Shanghai, Polizei-­ Briefing: Die Polizei in Shanghai hat einen Fall aufgedeckt, bei dem gefälschte Fahrzeugausweise verkauft wurden, 16.04.2022, tiny.one/indes223m19; Gong Sha, Das Shanghaier Amt für Marktaufsicht und Verwaltung hat bis zum 30. April 2022 402 Fälle von Preisdelikten untersucht und 63 Fälle von Preisabsprachen bearbeitet, in: People’s Daily Online, 01.05.2022, http:// sh.people.com.cn/n2/2022/0501/ c134768-35250819.html. 30  Vgl. o. V., Anwohnerkomitee hortet und verkauft Krankenwagen, um Geld zu verdienen, in: rfa, 29.04.2022, tiny.one/indes223m20 31  Vgl. He Xinrong u. a., Ermittlungen gegen Shanghaier Gruppenleiter: Rettung der Menschen vor der Seuche oder »sich an der Epidemie bereichern«?, in: Xinhuanet, 22.04.2022, tiny.one/indes223m21. 32  Vgl. Prasenjit Duara, Culture, Power and the State. ­Rural North China, 1900–1942, Stanford 1988. 33  Vgl. Elizabeth J. Perry, Anyuan: Mining China’s Revolutionary Tradition, Berkeley u. a. 2012.

Macht sind die Technologien der Macht, insbesondere die Big-Data-Überwachung, so weit fortgeschritten, dass sie die Sozialität der Menschen auszuschalten drohen. Sozialität ist dabei viel grundlegender als »Gesellschaft«. Die Gesellschaft ist eine autonome Domäne zwischen Familie und Staat, während Sozialität die zwischenmenschlichen Interaktionen von Individuen auf Grundlage menschlichen Verstands meint. Antisoziale Macht muss auf der einen Seite durch sozialen Widerstand eingedämmt werden. Andererseits können technologische Maßnahmen wie zur Bekämpfung der Pandemie die Lage noch verschlimmern. Wir hätten die geschilderten Absurditäten in Shanghai nicht erlebt, wären die Probleme mit technischen Mitteln effektiv zu lösen gewesen. Letztlich deutet die Absurdität nicht nur auf unauflösbare Widersprüche und fehlende Flexibilität des Regierungssystems hin. Sie gibt auch einen Hinweis auf den mangelnden Rückhalt dieser Macht innerhalb der Bevölkerung. So beängstigend die antisoziale Macht in diesem Kontext auch erscheinen mag – aufgrund der fehlenden öffentlichen Unterstützung ist sie so stark letztlich doch nicht. Der Ausbruch der »White-Paper«-Proteste in China im November 2022 ist eine direkte Reaktion auf die antisoziale Macht. Auch wenn diese Bewegung von der Regierung rasch unterdrückt wurde, könnte sie eine gründliche öffentliche Reflexion auslösen und in der Folge Maßnahmen zum Wiederaufbau der Gesellschaft anstoßen. Aus dem Englischen übersetzt von Jacob Hirsch

Biao Xiang, PhD, ist Direktor des Max-PlanckInstituts für Sozialanthropologie in Halle und war zuvor Professor für Anthropologie an der Universität Oxford. Im Zusammenhang mit Migration hat er ein breites Spektrum von Themen untersucht, darunter die Beziehungen zwischen Staat und ­Gesellschaft, Arbeit, soziale Reproduktion und Mobilitätssteuerung. Sein Werk hat in China und darüber hinaus breite Diskussionen ausgelöst und wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

Biao Xiang  —  Antisoziale Macht

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INTERVIEWCOLL AGE

PERSPEKTIVEN AUF CORONA (III) KÖNNEN SIE DER PANDEMIE BEZIEHUNGSWEISE IHREN BEGLEITUMSTÄNDEN AUCH ­POSITIVES ABGEWINNEN?

Ξ  Jutta Allmendinger, Soziologie Probleme, die wir schon lange hatten, kamen auf den Tisch und wurden viel deutlicher konturiert, die mangelnde Digitalisierung beispielsweise. Schulen und Arbeitsstätten wurden außerdem stärker als soziale Räume des Miteinanders gesehen. Und: Wir bekamen deutlich vor Augen geführt, wie viel es noch gegen die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu tun gibt. Ich kann nur hoffen, dass all dies nicht wieder vergessen wird.

Ξ  Anja Besand, Erziehungswissenschaften Es wäre leicht zu sagen: Die Pandemie hat uns geholfen, gesellschaftliche Probleme besser zu erkennen. »Wie unter einem Brennglas« lautete die Formel, mit der dieser Zusammenhang zuweilen angesprochen wurde, als wäre die Pandemie so etwas wie eine Sehhilfe. Die ehrliche Antwort auf diese Frage lautet aber: NEIN! Die Pandemie kostet uns noch immer jeden Tag Menschenleben. Sie hat Normalisierungs- und Entsolidarisierungsprozesse in Gang gesetzt, die uns noch Jahre beschäftigen werden. Sie verstellt einer ganzen Generation von jungen Menschen nachhaltig Zugangswege. Sie ist als Sehhilfe vollkommen ungeeignet.

Ξ  Thomas Grundmann, Philosophie Um Missverständnissen klar vorzubeugen: Die Corona-Pandemie stellte für große Teile der Bevölkerung unbestritten eine soziale Katastrophe dar. Dennoch: Ich persönlich habe die Coronazeit gerade in Phasen des Lockdowns auch als eine Zeit der Konzentration auf das Wesentliche und als

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Rückzugsmöglichkeit aus dem Hamsterrad des wissenschaftlichen Alltags erlebt. Mehr noch: Die Pandemie hat zu einer radikalen Modernisierung und Flexibilisierung von Arbeits- und Kommunikationsformen geführt. Das ­Homeoffice, aber auch digitale Meetings oder Workshops waren nicht nur ein verzweifelter Ausweg aus der Krise, sondern sie haben auch nachhaltig neue Möglichkeiten eröffnet, die Arbeit und die wissenschaftliche Kommunikation umweltschonend und zugleich nahe an den individuellen Bedürfnissen der Arbeitnehmer:innen zu organisieren. Das Neue sollte dabei das Alte nicht komplett ersetzen, sondern als eine zusätzliche Option verstanden werden. So könnte die Pandemie am Ende auch eine Chance eröffnen.

Ξ  Anna Neumaier, Religionswissenschaft Aus der akademischen Perspektive auf mein Fachgebiet betrachtet war die Pandemie mit ihren Kontaktbeschränkungen und erzwungenen gesellschaftlichen Digitalisierungsschüben gewissermaßen ein großangelegtes Feld­ experiment, das vielen Forschenden in diesem Bereich einerseits erlaubt, vielversprechende Daten zu erheben, andererseits spannende Folgefragen in bestehenden Forschungsfeldern aufgeworfen hat. Allerdings verblasst dieser Gewinn für mich doch deutlich hinter einer (mit-)menschlichen Perspektive: Die Pandemie hat so viele Menschenleben gefordert und so viel Leid mit sich gebracht, dass ich mir wirklich wünschen würde, dass uns diese Chance verwehrt geblieben worden wäre.

Ξ  Paul Nolte, Zeitgeschichte Eigentlich nein – ohne Pandemie wäre besser. Dennoch drei Punkte: Erstens brachte Corona einen Schub für die gesellschaftliche Selbstreflexion, für das Nachdenken und die Ortsbestimmung zu den Präferenzen einer freien Gesellschaft, zum Verhältnis von Individuum, Gemeinschaft und Staat. Zweitens äußerte sich das in einem Schub für Verhaltensnormen des Respekts, der Achtsamkeit, der Solidarität. In der Warteschlange tritt man dem anderen nicht mehr buchstäblich auf die Füße. Drittens war die Pandemie ein ungeplanter Resilienztest – und liberale Gesellschaften haben ihn eher besser bestanden als autoritäre wie China. Wir können jetzt präziser bewerten, was in extremen Krisensituationen möglich, was nötig, aber auch: was weniger sinnvoll oder gar gefährlich ist, von der Staatsintervention bis zu den Grundrechten. Das könnte (leider) noch nützlich sein.

Perspektiven auf Corona III – Was gut war

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Ξ  Henrique Ricardo Otten, Verwaltungswissenschaften In der öffentlichen Verwaltung hat die Pandemie weniger grundsätzlich Neues zutage gefördert, sondern eher Anstöße gegeben, langsam begonnene Entwicklungen zu beschleunigen. Insbesondere die Tendenz zum Arbeiten im Homeoffice beziehungsweise zum mobilen Arbeiten wird sich nicht mehr ganz umkehren lassen, was mit größerer Wahlfreiheit für die Beschäftigten nicht nur, aber auch Vorteile mit sich bringt. Die Chance besteht, dass aus der Pandemie Folgerungen gezogen, insbesondere veraltete Prozesse neu strukturiert und die Digitalkompetenzen der öffentlichen Verwaltungen gestärkt werden. Positiv zu vermerken ist ferner, dass bei aller Kritik an den Abstimmungsproblemen in der staatlichen Gesundheitskommunikation die Kommunen in ihrer Rolle als glaubwürdige Ansprechpartnerinnen vor Ort teilweise gestärkt wurden.

Ξ  Sophie Schönberger, Rechtswissenschaften Nichts Fachliches, sondern eher etwas Arbeitsorganisatorisches: Die neue Selbstverständlichkeit der Kommunikation über Videokonferenz hat in vielen Bereichen Gespräche erleichtert und kann, richtig eingesetzt, auch viel Zeit sparen.

Ξ  Hans-Jörg Sigwart, Politische Theorie Die Pandemie hat nicht nur potenzielle Gefährdungen, sondern auch die große Bedeutung sowohl von good governance (im weiten Sinne des Begriffs) als auch des öffentlichen Streits über Politik für das gesellschaftliche Leben in komplexen modernen Gesellschaften aufgezeigt. Sie hat aber auch deutlich gemacht, dass und inwiefern beides jeweils von Voraussetzungen abhängt, die auch in etablierten Demokratien nicht einfach als selbstverständlich betrachtet werden können. Zudem hat angesichts der weitreichenden und oft hochkontroversen pandemiepolitischen Entscheidungen die grundsätzliche politische Frage, in welcher Art von Gesellschaft wir eigentlich leben wollen, neue Relevanz und Aktualität erhalten. Indem die Pandemie uns zwang, mit John Rawls gesprochen, »die Grenzen dessen, was wir gewöhnlich für praktisch-politisch möglich halten, auszudehnen«, hat sie auch Räume für neue Möglichkeiten und »realistische Utopien« geschaffen.

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COVID-19 ff. — Interviewcollage

Ξ  Rolf van Dick, Sozialpsychologie Wir haben gelernt, dass vieles, was vorher als unmöglich oder zu schwierig angesehen wurde, doch geht, vor allem im Bereich der Digitalisierung und der Arbeit außerhalb fester Bürostrukturen. Beides hat zu weniger Verkehr und positiven Effekten wie weniger Pendelzeit und Staus und besserer Luftqualität beigetragen und zu generell mehr Flexibilität in der Arbeitswelt geführt, die wir beibehalten sollten. Im Umgang miteinander hat uns die Krise gezeigt, wie wichtig der soziale Kontakt ist und dass es zwar zeitweise eine physische Distanz braucht, um sich nicht gegenseitig anzustecken, aber ein soziales Miteinander, um die Krise zu überstehen.

Ξ  Elmar Wiesendahl, Parteienforschung Die politischen Exekutivspitzen haben den politischen Bewährungs- und demokratischen Belastungstest der Krisenbewältigung ohne tiefere Blessuren bestanden. Sie hielten den bedrohlichen Entscheidungsungewissheiten mit Nervenstärke stand und gaben wenig Anlass für eine Verunsicherung der Bevölkerung. Breite Mehrheiten wünschten sich sogar noch rigorosere Maßnahmen der Pandemiebekämpfung. Aus der Parteienperspektive ergibt sich hieraus eine Lehre: Schlägt, wie im Falle der Corona-Pandemie, die Stunde der Exekutive, wird aus Parteipolitik Staatspolitik und aus selbstbewusstem Staatsbürgertum gefügige Gefolgschaft. Bei dieser Konstellation bleibt für politische Parteien sehr wenig Raum, um sich politisch einbringen und profilieren zu können. Was dies für die Parteiendemokratie besagt, eröffnet der Parteienforschung bislang nur mäßig aufgegriffene Untersuchungsperspektiven.

Perspektiven auf Corona III – Was gut war

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ANALYSE

KRITIK DES PANDEMISCHEN KÖRPERS EINE BIOPOLITISCHE PERSPEKTIVE Ξ  Edgar Hirschmann

Eine kritische Theorie der pandemischen Gesellschaft muss jenseits zweier Extrempositionen ansetzen: Weder gilt es die notwendigen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung populistisch abzutun, noch können wir ihre krisenhaften Auswirkungen ignorieren. Um die Eigendynamik der Krise zu begreifen, argumentiere ich für eine biopolitische Perspektive, die an unserem gefährdeten Körper und dessen sozialer Verstrickung ansetzt. Das schockartige Einbrechen des Virus in unsere Welt zum Jahreswechsel 2020 stellt auch unsere Denksysteme in Frage. Was also lehrt die Pandemie über Leerstellen, Grenzen oder kulturelle Besonderheiten der Sozialtheorie? Gerade Krisen als Zeiten gesteigerter Kontingenz und neuartiger Problem­ horizonte fordern zu ihrer Bewältigung auch die kritische Erweiterung unserer grundbegrifflichen Konzepte und unseres politischen Selbstverständnisses heraus. Ich werde meine an anderer Stelle ausführlicher vorgelegte Argumentation1 in Abgrenzung zu einem der zentralen Kommentare der Sozialtheorie verdichten und aktualisieren. Giorgio Agambens Fehldeutung der CoronaPandemie zeigt, weshalb für eine biopolitische Perspektive der Begriff des Körpers zentralgestellt werden sollte. Ich schlage die Viruszelle als zentrale Akteurin der Pandemie vor; sie deutet eine sprach- und sinnlose Logik der Interkorporalität auf der Schwelle von Natur/Kultur an. Anschließend argumentiere ich in einer Phänomenologie des Lockdowns dafür, dass sich die Unsichtbarkeit des Virus auf tragische Weise in den entleerten öffentlichen Räumen spiegelt und dass Social Distancing Prozesse sozialer Desintegration und Vereinsamung anstößt. Meine idealtypische und schlaglichtartige Interpretation führt verschiedene Aspekte der pandemischen Gesellschaft in der Diagnose einer biopolitischen Kolonialisierung zusammen.

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1  Vgl. Edgar Hirschmann, Von Viren, Masken und dem neuen politischen Körper. Skizzen einer politischen Theorie der pandemischen Gesellschaft, Wien 2021.

BIOPOLITIK IN DER KRISE Giorgio Agamben hat sich früh und deutlich zur Corona-Pandemie positioniert. Seine Kommentare sind politisch irreführend und nehmen verschwörungsmythologisches Denken vorweg. Sie sind ein Beispiel für einen theoretischen Dogmatismus, der sehr verschiedene Phänomene stets auf das eigene Modell zurückbiegen will und darin an Realitätsnähe verliert. Nach Agamben entsprechen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie einer »totalen Mobilmachung«. Er hielt die Pandemie anfangs für »erfunden«. Ärztinnen und Ärzte würden einen Gesundheits- und Wissenschaftskult verbreiten, er spricht von einer »Großen Transformation«, die sich über ein »lückenlos gleichgeschaltetes Mediensystem« vollziehe und den Boden der Verfassung 2  Vgl. Giorgio Agamben, An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik, Wien 2022. 3  Ders., Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002, S. 16. 4  Schmitts Konzept vom rechtlichen Ausnahmezustand geht davon aus, dass hinter dem Recht die Macht des Souveräns stehen muss, durch welche das Recht erst eingesetzt und geschützt wird. Das Notverordnungsrecht nach Art. 48 der Weimarer Verfassung, Erbstück und Überbleibsel aus der monarchischen Verfassung des Kaiserreichs, war zentral für die Aushebelung der Demokratie. Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 2015. 5  Agamben, Homo Sacer, S. 94. 6  Ebd., S. 37. 7  Vgl. als alternative biopolitische Modernitätsdiagnose Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. M. 1983, S. 138: »Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.«

aushebele. Agamben rückt die Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie durch dieses sprachliche Framing in den Kontext der nationalsozialistischen Diktatur, die vermeintlich strukturgleich einen »dauerhaften Notstand« ausgerufen habe.2 Diese Deutungen sind keinem politischen Kurzschluss geschuldet; Agamben interpretiert vielmehr immer wieder Krisen durch seine Theorie der souveränen Macht und des politischen Ausnahmezustands. Daher führt die Argumentation in die Herzkammer seines politischen Denkens. Agambens schillernde politiktheoretische These zur Biopolitik besagt, dass »die Produktion eines biopolitischen Körpers die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht ist«3. Der verborgene Mechanismus politischer Ordnung bestehe in der paradoxen Struktur der Souveränität, die Agamben mit Carl Schmitt aus dem Ausnahmezustand heraus denkt.4 Die Ordnung beruhe demnach auf einer fundamentalen Verbannung aus der Gemeinschaft; notwendig bringt sie als Biopolitik immer auch entrechtetes Leben hervor. Weil dieses Leben aber nicht offiziell außerhalb der Ordnung liegt, siedelt es sich auf einer »Schwelle der Ununterschiedenheit«5 an. Dieses so verbannte Leben ist straffrei tötbar und wird von Agamben mit der Figur des homo sacer umschrieben. Als zweite Grenzfigur auf der Schwelle der juridischen Ordnung tritt der Souverän auf, der selbst innerhalb wie außerhalb der Ordnung steht und von dem daher eine das Gesetz übersteigende Gewalt ausgeht: »Es gibt da eine Grenzfigur des Lebens, eine Schwelle, wo sich das Leben zugleich außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung befindet, und diese Schwelle ist der Ort der Souveränität.«6 In der Moderne werde dieses nackte Leben selbst zunehmend Gegenstand der Politik und breite sich strukturell aus, sodass nacktes Leben und Politik der Ausnahme immer mehr selbst zur Regel würden.7 Von dieser Logik her diagnostiziert Agamben dann im Konzentrationslager, in Flüchtlingscamps und in den Schutzmaßnahmen gegen das Virus jeweils eine biopolitische Entrechtung und Produktion nackten Edgar Hirschmann  —  Kritik des pandemischen Körpers

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Lebens.8 Dass westlich-liberale Demokratien den Ausnahmezustand nach dem Zweiten Weltkrieg selbst verregelt haben und sich in ihm weder eine überrechtliche Autorität noch ein dauerhafter Entzug von Grundrechten ganzer Bevölkerungen ankündigt, muss Agamben ebenso ausblenden wie den Niederschlag eines sukzessiven Ausbaus an Freiheitsgraden in den Rechtsordnungen moderner liberaler Gesellschaften.9 Die pandemische Gegenwart zeigt einem Brennglas ähnlich die Fehldeutungen einer der zentralen biopolitischen Sozialtheorien auf. Zielführender für meine Perspektive ist indes, dass Agambens Theorie­ modell zu stark von der diffizilen Geschichte unserer Körperlichkeit abstrahiert. Denn die pandemische Gesellschaft wird gerade nicht durch eine politisch erzwungene Ausweitung nackten Lebens strukturiert. Vielmehr handelt es sich um eine biopolitische Krise von unten, die uns aus der Verwundbarkeit unserer Körper heraus erreicht. Im Vokabular Agambens: Er unterschätzt die Eigendynamik und Komplexität der zoe, der nicht vom politischen Gesetz berührten Natur in uns, die jenseits der politischen Steuerung sensibel, zerstörbar, auf vielfältige Weise ansprechbar und eingebettet in eine komplizierte Mitwelt ist. Agamben kann die Logik der Pandemie nicht verstehen, weil er unsere Leiblichkeit auf eine Ontologie des Lebens zurückführt: »Auch der Begriff des ›Körpers‹ ist […] immer schon in ein Dispositiv eingefasst und sogar immer schon biopolitischer Körper und nacktes Leben, und nichts in diesem Körper […] scheint uns einen festen Boden und Halt gegen die Ansprüche der souveränen Macht zu gewähren.«10 Zwar halte ich die Bezeichnung des Ausnahmezustands für gerechtfertigt; westliche Gesellschaften hatten über das Wissen von wissenschaftlichen Expert:innen hinaus kaum lebendige Erfahrungen mit Pandemien. Aber diese Ausnahmeerfahrung ist eine des Risikos einer spezifischen und neuartigen Krankheit. Im pandemischen Moment müssen wir, wie Susan Sontag es treffend ausdrückt, anerkennen, dass wir zwei biopolitische Bürgerschaften besitzen und neben dem Reich des Gesunden auch seiner Nachtseite, dem Reich der Krankheit, angehören.11 DIE VIRUSZELLE ALS ZENTRALE AKTEURIN DER PANDEMIE Im Konzept der Viruszelle erschließt sich die zentrale Akteurin der Pandemie, die über unsichtbare Infektionsketten die menschlichen Gesellschaften schwächt, krank macht, ihnen mitunter den Tod bringt. Weil die Krise sich damit auf der durch jeden einzelnen Körper verlaufenden Grenze von Kultur/

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COVID-19 ff. — Analyse

8  Vgl. Agamben, Homo Sacer, S. 180. 9  Zur Ausweitung von Freiheitsrechten von liberalen, rein negativen Schutzrechten auf positive, politische Teilhaberechte sowie auf soziale Wohlfahrtsrechte vgl. Thomas H. Marshall, Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, Frankfurt a. M. 1992. In einem dem Meisterdenker Heidegger ähnlichen mythologischen Vokabular inszeniert sich Agamben als Hüter eines »brennenden Hauses des Seins«, das durch die Kraft der Poesie gerettet werden könne. Vgl. Giorgio Agamben, Die Zivilisation wird nicht mehr dieselbe gewesen sein. Was es bedeutet, Zeugnis von unserer maskierten Gegenwart abzulegen, in: Neue Zürcher Zeitung, 28.10.2020. 10  Agamben, Homo Sacer, S. 196. 11  Vgl. Susan Sontag, Illness as Metaphor & Aids and its Metaphors, London 2001.

Natur abspielt, haftet der Pandemie etwas Archaisches an, die uns mit Schattenseiten der Tiefenschichten unserer Zivilisationsleistungen konfrontiert. Denn dicht besiedelte urbane Zentren, in denen mangelnde Hygiene und Enge herrschen, sind oft die Brutzentren für Erreger und Krankheitsüberträger. Aus diesem Grund waren etwa bei der Eroberung Amerikas die Immunsysteme nomadisch lebender Native Americans schutzlos den europäischen Krankheitserregern ausgeliefert, die für einen Großteil der fünfzig Millionen Toten verantwortlich zeichnen.Noch um 1870 standen bis zu 65 Prozent aller Tode mit Infektionskrankheiten in Verbindung. Entsprechend griff die Bakteriologie auch auf ein politisches Vokabular zurück und sprach von diesen Krankheiten als den größten und zugleich unsichtbaren Feinden der Menschheit.12 Viren existieren am Rand des Lebens, sie können sich als Genschnipsel nicht selbst replizieren, kommen in der Umwelt frei vor und sind in großer Vielfalt ins eukaryotische Genom (Pilze, Pflanzen, Tiere) integriert. In der Mikrobiologie geht man heute davon aus, dass sich zelluläres Leben auch aus der Integration von Viren, der »dark matter of biosphere«13, gebildet hat. Erst wenn Viren die DNA einer Wirtszelle kapern, sprechen wir von einer aktiven Viruszelle. Ist dieses Wirtsverhältnis erreicht, können sich Viren nicht nur auf Kosten des Wirtes replizieren; sie verändern dann durch Mutationen auch 12  Zur Kolonialisierung Nordamerikas vgl. Jill Lepore, Diese Wahrheiten, München 2019, S. 42 ff. Für die Schattenseiten von Sesshaftigkeit und Viehzucht vgl. James C. Scott, Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten, Frankfurt a. M. 2020. Zur Bakteriologie vgl. Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt a. M. 2007, S. 25 f. 13  Forest Rowher, Consider something viral in your search, in: Nature Reviews Microbiology, H. 5/2011, S. 308 f. 14 

Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt a. M. 2019, S. 14.

15  Vgl. exemplarisch Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Schriften, 1886–1887, S. 205: »Das Phänomen des Leibes ist das reichere, deutlichere, fassbarere Phänomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas voranzustellen über seine letzte Bedeutung.«

den eigenen genetischen Bauplan. Wir werden in der Pandemie mit einer zu uns parallel verlaufenden Evolution konfrontiert, einer Existenzform, die sich plötzlich den menschlichen Organismus zum Wirt wählt. Um die destruktive Dynamik von Viren zu markieren, schlage ich vor, den zentralen Mechanismus der Pandemie mit Michel Serres’ Konzept des Parasitären zu deuten. Es bietet die Chance, Weltverhältnisse auf parasitäre Existenzformen hin abzuklopfen: »Das Verhältnis des einfachen, nicht umkehrbaren Pfeils, der nur eine Richtung und kein Zurück kennt, dieses Verhältnis tritt an die Stelle des Austauschs. […] Und so ist auch der Mensch des Menschen Wirt. Der Fluss strömt in eine Richtung, doch nie in die andere. Parasitär nenne ich eben dieses Halbleiterphänomen, dies Ventil, diesen einfachen Pfeil, diese Beziehung, die nur eine Richtung kennt.«14 Die gängigen Paradigmen der Sozialtheorie, die sich um Kommunikation, soziale Differenzierung, Macht oder Kultur aufbauen, blenden diese biopolitische Ebene eines mikrologischen, asubjektiven und materiellen Geschehens oft aus. Das klassische Denken über Politik und Soziales operiert kaum auf dieser mikrologischen Ebene, weil es sich als Erbe metaphysischen Denkens auf geistige Phänomene fokussiert. Einzig die Tradition Nietzsches rückt den Körper in den Mittelpunkt des politischen Geschehens.15 Gilles Deleuze hat Edgar Hirschmann  —  Kritik des pandemischen Körpers

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ein antimetaphysisches Denken entworfen, das virale Pandemien in den Blick bekommen kann; in ihm wuchert die Differenz auf kleinster materieller Ebene: »Unter bestimmten Bedingungen kann ein Virus sich mit Keimzellen verbinden und dann als Gen in den Zellen einer komplexen Spezies weitergegeben werden; mehr noch, es könnte auch fliehen, in die Zellen einer ganz anderen Spezies eindringen und ›genetische Informationen‹ mitbringen, die vom ersten Wirt stammen […].«16 Subjektivität spielt in der Pandemie eine untergeordnete Rolle, die entscheidende Dynamik verläuft entlang einer grundlegenden Interkorporalität, sie ist ohne Sinn und stumm. In der Pandemie steht die Grenze von Natur und Kultur in uns offen, die gewohnten und eingespielten Selbstverständlichkeiten körperlicher Begegnung und Nähe gelten schlagartig nicht mehr. Uns fehlt das, was Maurice Merleau-Ponty intercorporéité genannt hat. Ins Deutsche wurde der Begriff richtig als Zwischenleiblichkeit übertragen, denn das Konzept soll im emphatischen Sinne zur Beschreibung von affektiv miteinander verbundenen, belebten, sich spürenden Leibern dienen.17 Wie ich an einer Phänomenologie des Lockdowns veranschauliche, verlieren wir ebenjene geteilte Leiblichkeit in der pandemischen Gesellschaft. LEIBER IM LOCKDOWN Michel Foucault hat danach gefragt, wie sich Krankheiten und medizinisches Wissen mit Praktiken sozialen Ausschlusses und gesellschaftlicher Disziplinierung verbinden. Deren Effekte beschränken sich nicht auf Heilung und Genesung, sondern entfalten darüber hinaus ein wirkmächtiges Eigenleben sozialer Ordnung. Überwachen und Strafen denkt entlang des Körpers und findet hinter der genuin modernen Strafinstitution des Gefängnisses das Modell der Regierung einer von der Pest heimgesuchten Stadt. Das Gefängnis setzt demnach in paradigmatischer Form den genuin modernen Machttypus der Disziplinierung um, der einer »infinitesimalen Gewalt«18 gleich den menschlichen Körper immer feiner und detailreicher in Raum und Zeit beobachtet, kontrolliert, korrigiert. Dieses zuerst zur Bekämpfung der Pest entworfene Modell liest sich wie die Blaupause einer Phänomenologie des Lockdowns. Die politische Antwort auf die Pest bestand in einer lückenlosen Parzellierung des Raumes, die jedem Individuum einen isolierten Platz zuweist: »Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung.«19 Explizit erwähnt Foucault dabei die Quarantäne als zentrales Mittel,

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16  Gilles Deleuze & Felix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992, S. 21. 17  Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003. 18  Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M. 1994, S. 175. 19 

Ebd., S. 251.

durch räumliche Distanz zwischen den Individuen der Seuche entgegenzuwirken. Die Überwachung und Vereinzelung der Menschen ermöglicht eine Registrierung des Pathologischen und hindert die Krankheit an ihrer ungebremsten Verbreitung. Wenn die pandemische Gesellschaft mit Abstandsregeln, Schutzmasken, dem Herunterfahren öffentlicher Einrichtungen, der Reduktion geteilter Räume, eben mit einem weitgehenden Lockdown auf das Infektionsgeschehen reagiert, dann agieren wir im Modell der Pest. Foucault ermöglicht durch seine Mikrophysik der Macht einen feinsinnigen Blick auf die materiellen Strukturen der präventiven gesellschaftlichen Disziplinierung im Lockdown, die auf unseren organischen, natürlichen Körper verweisen und einander als potenziell gefährliche Objekte erscheinen lassen: »Objekt einer Information, niemals Subjekt einer Kommunikation«. Implizit kritisiert Foucault die »aufgezwungene Einsamkeit«20 dieser Machtform, er verschließt sich aber dem Versuch, normative Kriterien seiner Perspektive auszuweisen. Mehr noch: Ihm fehlt ein Sinn für die Widerständigkeit und die Vulnerabilität menschlicher Wesen. Zu sehr geht er davon aus, dass Disziplinierung reibungslos funktioniert, dabei bedroht das Leiden im Lockdown die physische wie psychische Gesundheit und Integrität vieler Personen. Und auch Foucaults Konzept der Macht ist normativ zu unterbestimmt, als dass es eine vergleichende Bewertung unterschiedlicher Machtformen ermöglichen könnte. Ich schlage vor, Foucaults Perspektive mit der Hannah Arendts zusammenzubringen. Auch Arendt sieht in der europäischen Moderne die horizontale Bindung zwischen den Menschen schwinden. Im Verlust einer gemeinsam erfahrenen Welt zieht sich das moderne Individuum in eine tendenziell schizophrene und abschottende Innerlichkeit zurück. Eingesperrt in die »Isolierzelle«21 der Subjektivität verlieren wir nach Arendt gerade den Sinn für die Vielschichtigkeit unserer selbst und der anderen, wir schlagen Wurzeln 20  Ebd., S. 257 f. 21  Hannah Arendt, Vita Activa oder vom tätigen Leben, München 2021, S. 86. 22  Vgl. dies., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 2019, S. 721 u. 746 f. 23  Vgl. Rahel Jaeggi, Welt und Person. Zum anthropologischen Hintergrund der Gesellschaftskritik Hannah Arendts, Berlin 1997.

in dieser Welt erst durch den Austausch und durch die Verbindung unterschiedlicher Perspektiven. Wo soziale Bindungskräfte abhandenkommen und das Leben an Sinn einbüßt, gedeiht die psychotische Einbildungskraft; dort schwindet Urteilskraft, unterwerfen Menschen alles Geschehen einer re­ dundanten Logik, die dem Individuum einen Rest an Halt und Würde sichern möchte.22 Wo die Erfahrung der Pluralität der Perspektiven auf eine geteilte Welt verschwindet, tendieren Menschen zum Realitätsverlust, drohen sie anfällig zu werden für Ideologie und unterkomplexes populistisches Denken, sie verlieren die Welt und schließlich ihr Selbst.23 Wir leben im Lockdown auch in einem Arendt-Moment, der ihr Konzept der öffentlichen, leiblich geteilten Begegnung aktualisiert. Edgar Hirschmann  —  Kritik des pandemischen Körpers

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Im Lockdown findet sich auf paradoxe Weise die von Elias Canetti beschriebene Berührungsfurcht kultiviert, wonach sich Menschen in gesteigerter Berührungsangst immer weiter in die Einsamkeit zurückziehen und es schwerfällt, Intimität herzustellen.24 Der horror vacui des Lockdowns, die Anwesenheit der Abwesenheit der anderen Menschen, trägt in die Gesellschaft ein Gefühl latenter Bedrohung hinein. Sie ist dem Umstand geschuldet, dass das Virus sich unsichtbar überträgt und wir in präventiven Maßnahmen versuchen, das Risiko einer Ansteckung zu minimieren. Weil unsere Sinne nicht ausreichen, um das Virus zu erkennen, strahlt der Lockdown Gefühle der Ohnmacht und Unheimlichkeit aus. Arendt hat das Gespenstische jener gesellschaftlichen Räume beschrieben, in denen die verbindende und integrierende Kraft symbolischen Austausches schwindet und der Mensch auf seinen Körper reduziert wird. In ihnen herrscht ein »Bann stagnierender Irrealität« und macht sich die bedrohliche »Zugehörigkeit zur Natur«25 bemerkbar. Für diese Gefühle der Entfremdung, der Ohnmacht und des Spukhaften ist neben der Unsichtbarkeit des Virus auch die aus den Fugen geratene Zeitlichkeit der pandemischen Gesellschaft verantwortlich, denn die Tiefenzeit der Infektion verläuft jenseits des für uns

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COVID-19 ff. — Analyse

24  Vgl. Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960. Canettis Anthropologie könnte auch für eine Analyse im Umgang mit dem Tod in der pandemischen Gesellschaft wertvoll sein. Als Verächter des Todes betont Canetti das Vermögen der Anverwandlung und des Einfühlens auch noch gegenüber den Toten, denen wir in einer Überlebensschuld verpflichtet sind. 25  Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 426 ff.

symbolisch Fassbaren. Nur ein bereits infizierter Körper symbolisiert Infektion und Übertragungs- bzw. Ansteckungspotenzial anhand wahrnehmbarer Symptome. Das zeitliche Erleben im Lockdown ist grau und in einer ebenso eingefrorenen wie verlorenen Zeit eingeschlossen, die in einer Wiederkehr des Nicht-Geschehens zunehmend verschwimmt. Die Zeit der pandemischen Gesellschaft franst aus, verläuft sich, verstreicht inhaltsleer, bis das Virus in sie hineinbricht. Sowohl Raum als auch Zeit weichen in der pandemischen Gesellschaft auf paranoide Weise von unserem Normalempfinden ab. So sehr die Lockdowns zur Bekämpfung der Krankheit nötig waren – wir sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie uns mit einer politischen Maßnahme konfrontieren, die mit Arendt als latente Gewalterfahrung einzuordnen ist. Politik begegnet uns hier als Zwangsmittel gegen eine bedrohliche Natur und nicht als Verbindung und Pluralität stiftende Macht.26 Das Paradox des Lockdowns lautet, dass er potenzielle Krankheit durch latente und kollektiv verteilte Gewalt bekämpfen muss. Im März 2021 befindet sich ein Drittel der Weltbevölkerung, das sind mehr als 2,5 Milliarden Menschen, im Lockdown. Die Weltbevölkerung antizipiert darin schlagartig, dass ihre normalen Formen des Austauschs von einer vordergründigen und unsichtbaren Struktur der gesunden Körperlichkeit ausgezeichnet waren. Die Ängste um die Sauberkeit und Reinheit des eigenen Körpers oder um die Fragilität leiblicher Grenzen sind Reaktionen auf eine verunsicherte Beziehung zwischen der sichtbaren Welt der pandemischen Disziplinargesellschaft einerseits und ihren biologischen Prozessen und unsichtbaren Gefahren andererseits. Mit Helmuth Plessner lässt sich an unsere exzentrische Positionalität und damit an unser fragiles Verhältnis des Körpers zur Umwelt erinnern. Plessner betont, dass wir immer auch grenzrealisierende Wesen sind, die vom Austausch mit ihrer Umwelt ebenso abhängen wie sie sich gegen diese abschirmen müssen.27 Diese Grenzziehungen des Körpers wiederholen sich in sozialer Stigmatisierung und Ausgrenzung, denn nicht alle Körper werden gleichermaßen als Bedrohung wahrgenommen. Mein Grundkonzept müsste entlang sozialer Diskriminierungsmuster ausdifferenziert werden. Anekdo26  Vgl. dies., Macht und Gewalt, München 1970. 27  Vgl. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1965. 28  Vgl. Javier Cáceres, »Als wären wir Viren auf zwei Beinen«, Interview mit José Gozalez, in: Süddeutsche Zeitung, 15.03.2020, https://tiny.one/indes223n1.

tisch dafür steht der Kommentar des Trainers des FC Wuhan, der sich zu Beginn der Pandemie im Trainingslager in Spanien aufhält. Er schildert, wie es sich anfühlt, als Viren auf zwei Beinen wahrgenommen zu werden, so als wäre das Team eines Tages in Kafkas Verwandlung aufgewacht.28 PANDEMIEN ALS BIOPOLITISCHE KOLONIALISIERUNG Ich will abschließend vorschlagen, die analysierten Phänomene im diagnostischen Begriff einer biopolitischen Kolonialisierung zu bündeln. Jürgen Edgar Hirschmann  —  Kritik des pandemischen Körpers

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Habermas hat den Begriff lebensweltlicher Kolonialisierung für das Eindringen systemischer Imperative der Ökonomisierung und Rationalisierung in die Lebenswelt reserviert. Ihm ging es dabei darum, auf die negativen Effekte sozialer Desintegration, des Sinnverlusts, der Zersetzung von kommunikativer Infrastruktur sowie auf die jeweils spezifischen Psychopathologien aufmerksam zu machen, die kapitalgetriebene Ökonomien und Rationalisierungsprozesse einfordern.29 Auch für die pandemische Gesellschaft gilt, dass die entsprechenden Krisensymptome von den Lebenswelten abgefangen werden sollen. In den privaten Verhältnissen schlagen sich die Krisensymptome schließlich als interpersonelle Zerwürfnisse und psychische Deformationen nieder. Der einsame Geist ist überreizt und aggressiv oder sieht übertriebene Gefahren, Angststörungen werden ausgeformt oder getriggert. Ängstliche Körper legen sich einen Schutzpanzer zu, sind schneller erschöpft, haben ein schwächeres Immunsystem und eine verkürzte Lebenserwartung.30 Nahbeziehungen können überlastet oder gar zur Gefahr werden: Die Gewalt gegen Frauen und Kinder ist weltweit stark angestiegen.31 Als Pathologie pandemischer Gesellschaft radikalisiert sich eine klassische Krisentendenz der Moderne: Entzweiung, Vereinzelung, Verlust der Bindungskräfte.32 Körperliches Leid, Lockdown und ökonomische Rezession hängen zusammen. Als Folge von Pandemiebekämpfung und daraus entstehenden Problemen in den Lieferketten steigt das Hungerleiden auf der Welt so stark wie seit Jahrzehnten nicht.33 Nach dieser Skizze scheint mir deutlich, dass es nicht genügt, wie prominent von Judith Butler oder jüngst Jule Govrin gefordert,34 aus einer fundamentalen Verwundbarkeit des Körpers heraus eine allgemeine Ethik der Fürsorge zu begründen. Der Körper ist politisch und konkret geformt. Die pandemische Logik, die Gefahr durch Corona, die sozialen Pathologien dieser Krise sind jeweils spezifisch. Daher gilt es, den Körper in der jeweiligen biopolitisch-weltlichen Drift zu verstehen. Eine transdisziplinäre Analytik muss die Gefahren für unsere Körper konkretisieren, die Immunologie über

29  Vgl. Jürgen Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984, S. 565 f. 30  Näher zur »Einsamkeitskrise« vgl. Noreena Hertz, Das Zeitalter der Einsamkeit. Über die Kraft der Verbindung in einer zerfaserten Welt, Hamburg 2021, S. 28–42. Hertz zeigt etwa, dass die Quarantänemaßnahmen in der SARS-Pandemie 2003 in Peking bei Betroffenen zu Symptomen Posttraumatischer Belastungsstörungen führten. 31  Vgl. UN Women, From Insights to Action. Gender Equality in the Wake of Covid-19, New York 2020, https://tiny.one/indes223n2. 32  Vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1988, S. 166. 33  Vgl. Food and Agriculture Organization of the United Nations, The States of Food Security and Nutrition in the World 2021. Transforming Food Systems for Food Security, Improved Nutrition and Affordable Health Diets for all, Rom 2021, https://tiny.one/indes223n3. 34  Vgl. Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a. M. 2005, S. 37; Jule Govrin, Politische Körper. Von Sorge und Solidarität, Berlin 2022.

Schutzmechanismen einer positiven Biopolitik informieren und die normative politische Theorie danach fragen, wie Leiblichkeit und Körperlichkeit in Konzepte der Zugehörigkeit und Identität, der Unterdrückung und Herrschaft hineinspielen, wie sich Gesundheit auf dem diffusen Grenzgebiet von Natur/ Kultur jeweils historisch und situativ konkretisiert. Lässt sich anhand des pandemischen Körpers sogar eine neue Form der Zugehörigkeit stiften? Eine kritische Theorie, die solche zentralen Phänomene der Gegenwart erfassen will, muss Kommunikation, soziale Kämpfe, ökonomische Dynamik und politische Ordnung von unseren miteinander verbundenen Körpern und Leibern her denken.

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Edgar Hirschmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der RWTH Aachen. Er promoviert zu Körperlichkeit in der Tradition der Kritischen Theorie und interessiert sich für alles, in dem Körper und Politisches zusammenkommen.

ÜBERALL MASKEN! DIE SUBVERSIVE MACHT DES THEATERSPIELS UND DIE KRISE DER REPRÄSENTATION Ξ  Viola Köster

»Wenn die Pest in einem Gemeinwesen herrscht, gerät die Ordnung aus den Fugen. […] Wichtig vor allem ist das Zugeständnis, daß das theatralische Spiel wie die Pest eine Raserei ist und daß es ansteckend wirkt.«1 Folgende Szene: Eine Zuschauerin stürmt nach der Vorstellung erbost aus dem Saal auf mich zu. Sie habe sich gar nicht konzentrieren können, überall Masken, auf der Bühne, vor der Bühne, hinter der Bühne vermutlich auch, sonst hätte sich das Theater den Coronamaßnahmen doch widersetzt, wie es denn sein könne, dass innerhalb weniger Wochen alle zu Repräsentant:innen der Regierungsmeinung geworden seien … Ich starre sie an und habe keine Antwort. Zu viele Begriffe auf einmal. Die muss ich erst einmal sortieren. Nicht, um Querdenker:innen ernster zu nehmen, als sie es verdienen, sondern um Begriffe, die in der öffentlichen Diskussion lange und immer wieder sowohl der theatralen als auch der politischen Sphäre zugeschrieben werden, genauer unter die Lupe zu nehmen, gerade, wenn ihnen dabei eine negative Konnotation anhängt. Vor allem meine ich die Begriffe Maske und Repräsentation. Die Maske lässt sich zunächst scheinbar dem theatralen und Repräsentation dem politischen Kontext zuordnen. Doch bei genauem Hinsehen liegen die Dinge etwas komplizierter, stammt der Begriff der Maske als das andere Gesicht bzw. das Andere als das Gesicht 2 doch ebenso aus der gesellschaftlichen Sphäre mit ihren Riten, Kulten und 1  Antonin Artaud, Das Theater und die Pest, Frankfurt a. M. 1964. 2  Vgl. zur Maske Richard Weihe, Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München 2004, S. 50 f. 3  Vgl. Thomas Meyer, Politik als Theater, Berlin 1998, S. 122; zur Inszenierung von Politik vgl. außerdem Paula Diehl & Gertrud Koch (Hg.), Inszenierung der Politik. Der Körper als Medium, Paderborn 2007.

Festen, während der Begriff der politischen Repräsentation neben Vertretung auch als »Darstellung des eigenen Amtes«3 beschrieben worden ist und somit der symbolischen Sphäre des Theaters anverwandt scheint. Hier geht es jedoch weniger um die Begriffs- oder Kulturgeschichte von Maske und Repräsentation als vielmehr um die Verquickung von Theater und politischer Realität und den Versuch, diese Gemengelage anhand des Gebrauchs beider Begriffe sichtbar zu machen. Genauer: Zum einen geht es um die Tradition der Angst vor den Masken, die während der Corona-Zeit erneuten Aufschwung bekommen zu haben scheint, und zum anderen um die Illusion authentischer Repräsentation im gesellschaftlichen sowie im politischen Feld.

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Den folgenden Betrachtungen liegt die These zugrunde, dass die unreflektierte Verbindung theatraler und politischer Mechanismen zur Verfolgung bestimmter Zwecke auf politischer Ebene einen Verlust an Glaubwürdigkeit nach sich ziehen kann. Zudem geht es mir auf der Ebene des Theaters um die Verteidigung der Freiheit des Schauspielens und des subversiven Potenzials der Maske gegen die Vereinnahmung für politische oder ökonomische Ziele. DAS THEATRUM MUNDI Der Gebrauch von Theatermetaphern zur Beschreibung gesellschaftlicher Realität hat eine lange Geschichte. Der Begriff Theatrum Mundi geht zurück auf das antike Griechenland, wo er sich kurz nach der Etablierung der Institution Theater herausbildete.4 Seitdem hat er eine ansehnliche Karriere hingelegt. Im frühen Christentum bezeichnete er zum einen die Erde als göttliches »Himmeltheater«, in dem Gott die Rolle des Regisseurs und VIP-Zuschauers Nummer eins einnahm, und zum anderen das eitle Treiben auf der Erde im Gegensatz zum unsterblichen, wahren Leben im Himmelreich Gottes. Die Inschrift über dem Eingang von Shakespeares Globe Theatre lautete übersetzt »Die ganze Welt spielt Theater«.5 Das sich an die Shakespeare’sche Zeit anschließende Barockzeitalter gilt als die theatrale Epoche in Europa, nicht zuletzt wegen der Machtinszenierungen und prunkvollen Feste in Versailles und an anderen Herrschaftssitzen.6 Im 20. Jahrhundert wiederum hatte der Begriff der Inszenierung von Wirklichkeit Konjunktur – nicht zuletzt durch theatrale Mittel und in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen wie der Unternehmens- und Personalführung, der Machtpräsentation von Politik und Politiker:innen in den Medien, der Selbstdarstellung im Alltag sowie der Darstellung bestimmter kultureller Praktiken.7 Und Erving Goffmans These, dass »wir alle Theater spielen«, indem wir in unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionen unterschiedliche Rollen annehmen, um in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen zu bestehen beziehungsweise um den Eindruck, den die anderen von uns in einer bestimmten Situation bekommen, unter Kontrolle zu bringen, wurde zum Ausgangspunkt eines Denkens in theatralen Kategorien sowie eines gesellschaftlichen Handelns nach Methoden des Rollenspiels.8 DIE MASKE ALS EINHEIT DES UNTERSCHIEDENEN9 Auch das Spiel mit den unterschiedlichsten Formen von Masken hat eine lange Tradition in vielen verschiedenen Kulturen der Welt. Seien es die Masken der antiken Tragödie, jene des Nô-Theaters in Japan, Balinesische Masken oder die Masken der venezianischen Commedia dell’Arte – immer handelt es sich

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4  Vgl. z. B. Björn Quiring, Theatrum Mundi. Die Metapher des Welttheaters von Shakespeare bis Beckett, Berlin 2013. 5  Ebd., S. 14 f. 6  Vgl. z. B. Joachim Fiebach, Inszenierte Wirklichkeit. Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen, Berlin 2007. 7  Vgl. z. B. Erika FischerLichte, Theatralität und Inszenierung, in: Dies. u. a. (Hg.), Inszenierung von Authentizität, Tübingen & Basel 2000. 8  Erving Goffman, Wir alle spielen Theater, München 1969. 9 

Vgl. Weihe, S. 47.

um Formen des expressiven Spiels, das seinen Reiz daraus entwickelt, dass der wohl persönlichste Teil des Körpers, das Gesicht, verdeckt wird und so ein neues Wesen, eine Mischung aus Maske und Spieler:in, Dargestelltem und Darstellenden entsteht. Im Laufe eines Theaterstückes können die Spieler:innen zudem völlig unterschiedliche Masken tragen und damit verschiedene Rollen an- und übernehmen. Die Masken versinnbildlichen die Vielgesichtigkeit eines jeden Menschen. Sie tragen nach außen, welche Facetten in einer Persönlichkeit stecken oder auch schlummern – nicht ohne Grund leitet sich das Wort Person vom lateinischen persona ab, was ursprünglich die Schauspielermaske bezeichnete.10 Indem die Maske das eine Gesicht, das wir alle besitzen, von seinem begrenzten Ausdrucksvermögen befreit, ermöglicht sie den Spieler:innen, verschiedenste Charaktere auszuprobieren. Als »Paradoxie der Einheit des Unterschiedenen« bzw. als »Zwei-Seiten-Form« schafft sie es, zugleich zu verbergen und zu ent-decken und zudem etwas Neues, drittes, nämlich die Figur entstehen zu lassen, die weder gleichzusetzen ist mit der Maske noch im Spieler selbst aufgeht.11 Nicht umsonst werden Masken auch in der Theaterpädagogik und in der Therapie verwendet, beispielsweise in der Arbeit mit psychisch kranken Menschen, Geflüchteten oder Gefängnisinsassen, wie es etwa Prof. Christian Bohdal von der Hochschule der Künste im Sozialen in Ottersberg praktiziert.12 Und das vor allem mit dem Zweck, andere, neue Seiten an sich selbst kennenzulernen, die die vielleicht von Vorurteilen, Traumata oder eingefahrenen Selbstbildern begrenzte Selbstwahrnehmung für andere, bisher unentdeckte Facetten der eigenen Person öffnen. Die alte (psychische) Ordnung wird damit infrage gestellt, um sie eventuell auch verlassen oder umstrukturieren zu können. Demnach bieten Masken ihren Träger:innen die Chance, sich durch sie zu schützen und zu zeigen, sich zu verstecken und über sich selbst hinauszuwachsen. THEATERFEINDLICHKEIT, SPIELVERBOT UND ANGST VOR DEN MASKEN 10 

Ebd., S. 27 f. u. S. 179 ff.

11  Ebd., S. 47; vgl. darüber hinaus auch Reinhard Olschanski, Maske und Person. Zur Wirklichkeit des Darstellens und Verhüllens, Göttingen 2001. 12  Vgl. Website von Christian Bohdal an der Hochschule für Künste im Sozialen Ottersberg, https://tiny.one/indes223o1.

Doch die Tradition des Maskenspiels und der verbreitete Gebrauch von Theatermetaphern bedeuten nicht, dass das Theater als kulturelle Praxis zu allen Zeiten gesellschaftlich anerkannt und geschätzt wurde, häufen sich in der Geschichte doch die Fälle von (Fest-)Spielverboten, Maskenverboten und sogar der Verfolgung von Schauspieler:innen – gerade in Zeiten totalitärer Herrschaft. Allen voran versuchten Kirchenoberhäupter das ausgelassene Treiben an Karneval, aber auch während anderer Volksfeste als sittenwidrig zu brandmarken. Jene Festivitäten »geißeln die Bürger, die sich mit bizarren Viola Köster  —  Überall Masken!

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Kostümen herausputzen und sich unter Masken verbergen; geduldet sind einzig ernsthafte Darstellungen.«13 Solche Veranstaltungen wurden von den Herrschenden in den allermeisten Fällen zwar geduldet, jedoch nur deshalb, weil sie zeitlich klar begrenzt blieben. Niccolò Machiavelli wird sogar mit dem Satz zitiert: »Zu bestimmten Zeiten des Jahres muß der Fürst dem Volk Feste und Spiele bieten.«14 Sinn und Zweck dieser öffentlichen Veranstaltungen bestand also vor allem darin, die Kritik an den Herrschenden und die scheinbar destruktive Energie des Volkes, die in den Rollenspielen und Perspektivverschiebungen der satirischen Darstellungen zum Vorschein kamen, im von oben vorgegebenen Rahmen zu kanalisieren und so besser kontrollieren und entschärfen zu können; gleichzeitig trachtete der Thron danach, sich mit den Festen und Spielen beliebt zu machen und möglichen Aufständen entgegenzuwirken.15 Mit der Ständeklausel wurde weitergehend dafür gesorgt, dass die gesellschaftliche Machtordnung auch auf der Bühne nicht infrage gestellt wurde, besagte diese Klausel doch, dass Adelige auch auf der Bühne die Geschichten Adeliger vorgeführt bekommen sollten. Das Volk hatte indes den Kämpfen und Komödien seinesgleichen zu folgen. Der Theatermann Johann-Christoph Gottsched propagierte im 18. Jahrhundert diesen Ideen entsprechend ein bildungsbürgerliches Theater, das die Figuren als Stellvertreter der Besser­ gestellten begriff, die die Menschen zu feineren Charakteren und sittsamerer Moral zu erziehen hätten, als es die Stehgreif-Komödianten des Volkstheaters mit ihrem deftigen Realismus leisten könnten. In einem symbolischen Akt ließ Gottsched zu diesem Zweck sogar den Possenreißer Hans Wurst von der deutschen Bühne verbannen.16 Wäre die Macht der Masken gering eingeschätzt worden, wären solcherlei Vorgaben und Vorgänge nicht nötig gewesen, um das Gemeinwesen im Sinne der Machthaber zu disziplinieren und abzusichern. Neben den Aspekten des Anstandes und der Angemessenheit des Guckerlebnisses spricht also einiges dafür, dass von der Bühne bzw. von den Masken eine Kraft zur Verände-

14 

Zit. nach ebd., S. 23.

rung und der Infragestellung der Realität, so wie sie sich zu einem bestimm-

15 

Vgl. Fiebach.

ten Zeitpunkt darstellt, ausgeht, die es nötig macht, eingedämmt zu werden, um unterhaltsam, aber nicht revolutionär zu werden. Auch heute noch lässt sich in autoritären Regimen wie beispielsweise in Ungarn und Russland beobachten, wie die Führung das, was in den Theatern produziert und aufgeführt wird, überwacht und im Zweifelsfall zensiert. Käme in Deutschland die AfD an die Macht, wäre mit ähnlichen Zuständen zu rechnen, wie gewisse Anfragen und Anträge der Partei in Stadträten, Parlamenten und Kulturausschüssen nahelegen.17

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13  Jacques Heers, Vom Mummenschanz zum Machttheater. Europäische Festkultur im Mittelalter, Frankfurt a. M. 1986, S. 297.

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16  Vgl. hierzu weiterführend Hugo Aust u. a., Volksstück. Vom Hanswurstspiel zum sozialen Drama der Gegenwart, München 1989. 17  Vgl. z. B. Peter Laudenbach & John Goetz, Druck von Rechts, in: Süddeutsche Zeitung, 27.08.2019, https:// tiny.one/indes223o2.

Viola Köster  —  Überall Masken!

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DER IRRGLAUBE AN EINE AUTHENTISCHE SELBSTDARSTELLUNG Eine andere Form theaterfeindlicher Einstellung lässt sich immer dort ausmachen, wo darauf gepocht wird, dass die Darstellung von öffentlichen Personen oder eben auch Bühnenfiguren im Theater authentisch zu sein habe.18 Auch hier offenbart sich eine Angst vor den Masken, ist mit authentisch doch gemeint, eine Darstellung habe echt im Vergleich zu unecht, wahr im Vergleich zu unwahr und ehrlich im Vergleich zu verlogen zu sein – wobei das Spielen auf der Seite der Lüge und des Scheins verortet und gegen das wahre Sein ausgespielt wird. Interessant dabei ist, dass bei dieser Forderung oft vergessen wird, dass eine authentische Selbstdarstellung auch bedeutet, dass die Person, die sich öffentlich darstellt, dadurch besser einzuschätzen, besser zu durchleuchten und damit auch staatlich besser zu kontrollieren ist, dass es sich bei dieser Forderung also um eine politisch brisante und nicht nur um eine ästhetische oder moralische Frage handelt. Im ersten Akt von Georg Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod, geschrieben 1835, wird die Ideologie der Authentizität bereits in folgendem Dialog als Wurzel des Staatsterrors gekennzeichnet: • LACROIX. Höre, Danton, ich komme von den Jakobinern. • DANTON. Was macht Robespierre? • LACROIX. Fingerte auf der Tribüne und sagte: die Tugend muß durch den Schrecken herrschen. Die Phrase machte mir Halsweh. • DANTON. Sie hobelt Bretter für die Guillotine. • LACROIX. Und Collot schrie wie besessen, man müsse die Masken abreißen. • DANTON. Da werden die Gesichter mitgehen. In eben diese Zeit des 18. Jahrhunderts fällt sodann auch die umgekehrte Idee, man könne den Charakter eines Menschen aus dessen Gesicht sowie aus seiner gesamten Physiognomie ablesen. Als Vater dieser pervertierten Form des Glaubens an ein wahres Sein, dass es den Menschen nur aus den Gesichtern herauszulesen gelte, gilt der reformierte Pfarrer, Philosoph und Schriftsteller Johann Casper Lavater, auf dessen Schrift Von der Physiognomik

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die Nationalsozialisten ihre Rassenideologie aufbauten. Aber auch

Friedrich Schiller, der den meisten heute eher als Aufrührer, Freiheitsphilosoph und Kritiker menschenunwürdiger Staatsführung gelten mag, schrieb seine medizinische Dissertation über die Frage, wie sich der Charakter eines Menschen aus seiner Körperform herauslesen lasse.

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18  Vgl. z. B. Bernd Stegemann, Kritik des Theaters, Berlin 2013 oder Fischer-Lichte u. a. 19  Vgl. Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Leipzig & Winterthur 1775.

Und auch heute noch hält sich das Diktum einer authentischen Selbstdarstellung, die es zu erlernen oder zu entdecken gelte, um erfolgreich im Beruf, beliebt im Netz oder auch angesehen bei den Wähler:innen zu sein. Ebenso lassen sich die Diskussionen um Vermummungsverbote bei Demonstrationen oder die Debatten um das Tragen von Kopftüchern als religiöse Symbole aus dieser Perspektive als Wunsch verstehen, den Mitbürger:innen in ein vermeintlich unverstelltes, unkaschiertes Gesicht schauen zu können, um den anderen mit einem Blick lesen, durchschauen und einordnen zu können.20 Im Theater bekam die Idee der Authentizität in den vergangenen Jahren durch Theaterformen Konjunktur, die Expert:innen des Alltags anstelle von Schauspieler:innen auf die Bühne holten, wie beispielsweise die Gruppe ­Rimini Protokoll 21, oder auch durch die Vorstellung, dass bestimmte Figuren nur von solchen Schauspieler:innen gespielt werden könnten, die eine 20  Vgl. zum Versammlungsgesetz NRW vom Dezember 2017 z. B. https://tiny.one/indes223o3; zur Diskussion darüber Felicitas von Boeselager, Warum das geplante Versammlungsgesetz in NRW so umstritten ist, in: Deutschlandfunk, 08.12.2022, https://tiny.one/indes223o4; zur Kopftuchdebatte in Deutschland z. B. Anna C. Korteweg & Gökce Yurdakul, Kopftuchdebatten in Europa. Konflikte um Zugehörigkeit in Nationalen Narrativen, Bielefeld 2016. 21  Die Gruppe Rimini Protokoll wurde bekannt durch Inszenierungen, in die sie sogenannte »Expert:innen des Alltags« einbezog, um bestimmte Probleme sichtbar zu machen, z. B. in Qualitätskontrolle von 2013, https://tiny.one/indes223o5. 22  Ein gutes Beispiel für das Richtigrücken des Diskurses um authentische Spielweisen ist das Act-Out-Manifest von 2021, das von über 185 queeren und homosexuellen Schauspieler:innen und Theatermenschen unterschrieben wurde, die fordern, alle Rollen spielen zu können, da sie Schauspieler:innen sind, und nicht nur solche, die ihrem sexuellen Selbstverständnis entsprechen. Vgl. https://act-out.org/.

ähnliche Biografie und Lebenserfahrungen gesammelt hätten wie die von ihnen Verkörperten. Beispielsweise wurden Inszenierungen kritisiert, in denen weiße Schauspieler:innen schwarze Figuren, europäische Schauspieler:innen asiatische Figuren oder auch männliche Schauspieler Frauenrollen spielten. Inzwischen wurde innerhalb dieses so genannten identitätspolitischen Diskurses jedoch festgestellt, dass es sich bei der ästhetischen Forderung nach authentischer Darstellung im Grunde vielmehr um die machtpolitische Forderung handelt, dass die Theaterensembles und -teams im Sinne einer diversen Gesellschaft auch divers besetzt werden sollten, um mit einer bisher weiter bestehenden weißen und männlichen Vorherrschaft zu brechen, Jobgerechtigkeit herzustellen und die Geschichten erzählen zu können, die eine plurale Gesellschaft beschäftigen und nicht nur einige wenige, die versuchen, an ihrer Vormachtstellung festzuhalten. Die ästhetische Debatte um authentische, also echte Darstellung, die man als theaterfeindlich bezeichnen könnte, wurde also von einer machtpolitischen Diskussion abgelöst. Aus einer theatralen Frage wurde eine politische Forderung, die dem Inhalt der Auseinandersetzung – nämlich Chancengerechtigkeit zu erreichen, Einkommen anzugleichen, Anerkennung und Sichtbarkeit von marginalisierten Gruppen zu erhöhen – deutlich angemessener ist als das Verharren bei der Frage nach Wahrheit vs. Unwahrheit. Dass bei dieser Diskursverschiebung auch theaterinterne Stimmen gegen den Irrglauben an die Möglichkeit einer wahren Selbstdarstellung erhoben wurden, ist eine erfreuliche Entwicklung.22 Dennoch zeigt sich durch die beschriebenen theaterfeindlichen Diskurse, dass die Angst vor den Masken Tradition und immer wieder Konjunktur hat. Viola Köster  —  Überall Masken!

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Diejenigen, die an der Macht waren und sind, fürchte(te)n den von der Undurchschaubarkeit der Gesichtsverdeckung provozierten Perspektivwechsel und den vom Rollenspiel verursachten Furor von Darsteller:innen und Zuschauer:innen. Dass die Verteidigung des wahren Gesichts in Zeiten von Instagram und Photoshop sich nun im Grunde aber endgültig als eine Farce selbst entlarvt hat, scheint der Angst vor den Masken keinen Abbruch zu tun. Vielleicht sogar ganz im Gegenteil. DIE ILLUSION AUTHENTISCHER REPRÄSENTATION Wenn die erboste Zuschauerin vom Anfang dieses Textes behauptet, dass Träger:innen der Coronamasken die Regierungsmeinung repräsentieren würden, meint sie damit indes etwas anderes, als dass diese den Kanzler, den Gesundheitsminister oder einen Regierungsberater des Robert-Koch-Instituts spielen würden, um die in Kraft gesetzten Maßnahmen oder auch den Entscheidungsfindungsprozess für oder gegen die Maskenpflicht anschaulich zu machen, zu reflektieren oder infrage zu stellen. Mit repräsentieren meint sie jedoch auch nicht, dass die Maskenträger:innen als »elektoral legitimierte Personen im öffentlichen Raum« fungierten, die die »Vertretung und Bündelung von Interessen« der Bürger:innen übernehmen würden, was einer engen 23

Definition von politischer Repräsentation in der repräsentativen Demokratie entspräche.24 Sie unterstellt vielmehr, dass die Träger:innen der Masken die Coronapolitik promoten wollten. Die Zuschauerin verortet Repräsentation also vielmehr – und vermutlich unbewusst – auf der symbolischen Ebene der Darstellung anstatt auf der Sach- bzw. instrumentellen Ebene.25 Sie betrachtet die Träger:innen der Coronamasken nicht als Vertreter:innen – im Sinne des »making present again« von Hanna F. Pitkin – einer bestimmten Interessensgemeinschaft, beispielsweise der gesundheitlich gefährdeten Personen, die das Maskentragen zum eigenen Schutz fordern, sondern vielmehr als Schaulaufende der Regierungsmacht, die durch das äußere Symbol der Maske ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Unterstützer:innen der Regierung ausstellen. Ebenso wie das, was wir anziehen, und die Art, wie wir uns kleiden, in der Gegenwart vielfach als Meinungsäußerung, als politisches Statement und präsentierte Identität eingesetzt wird und damit mehr bedeutet als pure Geschmackssache, ordnet die Zuschauerin die Träger:innen der Corona­masken als Anhänger:innen der sogenannten Mehrheitsgesellschaft ein. Damit jedoch, und das ist ein interessanter Twist, wird die beschriebene Zuschauerin selbst zu einer Repräsentantin – oder besser und um die Verwirrung über die Menge theatraler Begriffe komplett zu machen: zu einer Sozialfigur26 – der vielfach beschriebenen »Krise der Repräsentation«.27 Diese

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23  Maik Bohne u. a., Wieviel Ich im Wir? Wandel der Repräsentation in Deutschland, in: Das Progressive Zentrum (Hg.), Discussion Paper, Berlin 2017, S. 1. 24  Vgl. weiterführend z. B. Gerhard Göhler, Institution – Macht – Repräsentation. Wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken, Baden-Baden 1997; Paula Diehl & Felix Steilen, Politische Repräsentation und das Symbolische. Historische, politische und soziologische Perspektiven, Berlin 2015. 25  Vgl. z. B. Thomas Meyer, Die Theatralität der Politik in der Mediendemokratie, in: Aus Politik und ­Zeitgeschichte, H. 53/2003, S. 12–19. 26  Stefan Moebius & Markus Schroer, Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin 2010. 27  Vgl. z. B. Paula Diehl, Demokratische Repräsentation und ihre Krise, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 40–42/2016, S. 12–17.

Krise entstehe unter anderem durch einen Mangel an Vertrauen gegenüber den Repräsentant:innen, da die Repräsentierten sich mit ihren speziellen Interessen, Bedürfnissen, Lebensweisen oder Herkunftsgeschichten eben nicht ausreichend repräsentiert fühlten. Oft wird die Ursache hierfür in der zunehmenden Komplexität und Pluralisierung der gesellschaftlichen Realität gesucht, in der die begrenzte Anzahl von Parteien die Vielzahl der gesellschaftlichen Stimmen nicht mehr vertreten könne und darüber hinaus auch die Besetzung des Parlaments nicht die Pluralität der Gegenwarts­gesellschaft widerspiegele.28 Der lange Jahre anhaltende Trend zur Individualisierung sowie der Anspruch, als Ich im Wir zu erscheinen, anstatt in einen aufwendigen Prozess der Kompromissfindung, der Suche nach Gemeinsamkeiten und der gegenseitigen Unterstützung bei politischen Kämpfen um Anerkennung oder Arbeitsbedingungen einzusteigen, was die Bündelung von Interessen in einer deliberativen Demokratie erst möglich macht, hat zudem dazu geführt, dass Einzelne überhaupt nicht mehr repräsentiert werden wollen. In beiden Trends, im Sichnicht-repräsentiert-Fühlen und im Nicht-repräsentiert-werden-­Wollen, äußert sich die Krise der Repräsentation als Folge eines möglicherweise falsch verstandenen Verständnisses von politischer Repräsentation selbst.29 Wer meint, sie oder er müsse als authentisches Selbst mit der eigenen Identität im politischen System repräsentiert werden, kann nur enttäuscht wer28  Vgl. z. B. Bohne u. a., S. 4; Jessica Fortin-Rittberger & Corinna Kröber, Der neu gewählte Deutsche Bundestag. Ein Schritt in Richtung eines »repräsentativen« Parlaments?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 47–49/2021, S. 34–40; Markus Linden & Winfried Thaa (Hg.), Krise und Reform politischer Repräsentation, Baden-Baden 2011. 29  Vgl. Bohne u. a. 30  Vgl. hierzu auch Eva Menasses eindringlichen Appell an den Kompromiss: Gedankenspiele über den Kompromiss, Graz 2020. 31  Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a. M. 1974, S. 58. 32  Meyer, S. 85.

den. Dieser persönliche, ja psychologisch verständliche Anspruch ist politisch nicht einzulösen, bleibt komplexes gesellschaftliches Zusammenleben selbst in einer Idealvorstellung doch immer auf die Bündelung von Interessen und Kompromissfindung30 angewiesen. Die von Richard Sennett bereits 1974 angesprochene »Tyrannei der Intimität« verunmöglicht Gesellschaft, die auf ein öffentliches Verhalten angewiesen ist, das sich vom Versuch der Darstellung eigener Innerlichkeit unterscheidet: »So gelangen wir zu der Hypothese, daß Theatralität [man könnte auch sagen Repräsentation] in einem spezifischen, und zwar feindlichen Verhältnis zur Intimität steht und in einem nicht minder spezifischen, aber freundschaftlichen Verhältnis zu einem entfalteten öffentlichen Leben.«31 Das Problem für die politische Glaubwürdigkeit besteht daher auch nicht in der symbolischen Handlung der Politik an sich, sondern in der Unkenntlichmachung der politischen Strategie zugunsten der Behauptung der Authentizität, wenn eine »Handlungsepisode […] so gespielt [wird], als wäre sie die Realhandlung, und […] die Zeichen des Spiels [verwischt]«.32 Viola Köster  —  Überall Masken!

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KRISE DER REPRÄSENTATION ALS ENT-TÄUSCHUNG? Der Vertrauensverlust der Zuschauerin vom Anfang scheint weitergehend also daher zu rühren, dass sie den politischen Repräsentant:innen unterstellt, dass sich hinter dem von ihnen symbolisch und medial aufwendig und ausschweifend Kommunizierten (dem gegenseitigen Schutz vor dem Virus durch zum Beispiel das Tragen von Coronamasken) noch etwas anderes verbirgt. Sie scheint sich darüber zu beklagen, Teil eines größeren politischen Schauspiels zu sein, das sie nicht durchschauen kann, dessen Spielregeln sie nicht versteht und bei dem sie dennoch dazu gezwungen wird, mitzuspielen. »Politik als Theater treibt politische Urteilskraft und Teilhabebereitschaft bei denen aus, die sie nicht durchschauen.«33 Sie glaubt also nicht, was man ihr zu vermitteln versucht, und offenbart so eine Enttäuschung über die Diskrepanz zwischen öffentlicher Darstellung und der hinter verschlossenen Türen stattfindenden politischen Sachdiskussion. In einem Moment, in dem auf der Sachebene aufgrund der Neuheit des Coronavirus und der Notwendigkeit schnellen Handelns zu dessen Eindämmung besonders wenig kommuniziert werden kann und stattdessen immer das Gleiche wiederholt und symbolisch präsentiert wird, empfindet sie das Auseinanderfallen der Sachebene und der Symbolebene als besonders virulent. Damit reagiert sie auf das, was Thomas Meyer bereits 1998 als den »Zwang zur Scheinhandlung« beschrieben hat: »Da der Zwang zur Legitimation politischen Handelns oder eben auch NichtHandelns für den Nationalstaat in der Krise wächst, […], werden die politischen Akteure zum Beispiel stärker verführt, die offenkundigen Erfolgsdefizite durch medienwirksames Scheinhandeln zu verschleiern.«34 So gesehen könnte man sagen, dass der performative turn in der Politik dem Aufkommen der Querdenker:innenbewegung sowie dem Anstieg von Fake News und als Wahrheit verkündeter Halbinformationen den Grundstein gelegt hat. Denn wenn alles, was empfunden, gedacht und spekuliert werden kann, auch als Wahrheit, authentische Selbstdarstellung und persönliche Überzeugung kommuniziert, dargestellt und verbreitet werden kann, wie lässt sich dann noch unterscheiden, ob das, was gesagt und performt wird, tatsächlich der Wahrheit entspricht? Die Coronapolitik erscheint somit als Paradebeispiel für einen Trend, der lange vor der Pandemie eingesetzt hat. Der bereits zuvor beklagte Vertrauensverlust hat sich seit März 2020 noch einmal potenziert. Die Reaktion

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einzelner Menschen auf die nur scheinbar aufgehobene Grenze zwischen

33  Ebd., S. 127.

öffentlichem Auftreten und privater Überzeugung, zwischen public persona

34  Ebd., S. 65.

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und Privatmensch, wird damit nachvollziehbar, auch wenn die Schlussfolgerungen unverständlich bleiben und als verquer bezeichnet werden müssen. DAS SPIEL MIT DEN MASKEN Aber was hat das alles nun mit dem Maskenspiel als Bühnenkunst zu tun? Tatsächlich reichlich wenig. Dient das Maskenspiel auf der Bühne doch gerade nicht der Darstellung irgendeiner Wirklichkeit, sondern – im Gegenteil – ihrer Reflektion und Infragestellung. Theatermasken besaßen schon immer ein subversives Potenzial, das die herrschenden Meinungen ebenso wie die politische Ordnung durcheinanderbringen konnte. Die, die an der Macht sind, fürchten die Maskenspieler:innen. Denn Letztere lassen die falschen Spiele auffliegen, indem sie sie in einem fiktiven Szenario öffentlich zur Schau stellen. Die Masken auf der Bühne sind keine Masken der manifesten Machtstrukturen, ebenso wenig sichern sie den Machthabern ihre Position. Ihre Macht besteht im Gegenteil im Aufdecken von Machtstrukturen, indem sich die Darsteller:innen die sozialen Rollen aus der gesellschaftlichen Realität aneignen und mit ihnen spielen, als ob sie die wären, die sie darstellen. Niemals würde ein:e Maskenspieler:in der Annahme verfallen, sie:er sei das, was sie:er darstellt. Dies scheint eher ein Phänomen aus der gesellschaftlichen sowie politischen Wirklichkeit zu sein. Auf der Bühne besteht das Ziel gerade darin, jemanden oder auch etwas darzustellen, der:die:das man selbst nicht ist. Die:der Spieler:in versucht so glaubwürdig wie möglich als jemand anderes wahrgenommen zu werden als im realen Leben. Selbstverständlich greift jede:r Spieler:in dabei immer auf die eigenen Möglichkeiten, Erfahrungen, Erlebnisse und Charaktereigenschaften zurück, jedoch immer, um diese für die Figur neu zu verwenden. Dies setzt eine erhebliche Selbstreflexion voraus. Wer sich seiner eigenen Eigenschaften und Wirkungen nicht bewusst ist, wird diese auch nicht einsetzen können. Ähnlich wie ein Maler seine Farben oder ein Handwerker seine Werkzeuge kennen muss, um sie für seine neuen Kreationen zu benutzen, arbeitet die:der Schauspieler:in mit inneren Farben und Werkzeugen. Diese Reflexion und dieses Handwerk wird Politiker:innen sowie anderen Personen, die in der Öffentlichkeit agieren, zwar beizubringen versucht – nicht zuletzt durch professionelle Schauspieler:innen, die ebenfalls als Coaches arbeiten. Doch selbst dann, wenn die öffentlich auftretende Person über schauspielerisches Talent verfügt, lässt sich ihr öffentliches Handeln und Auftreten nicht als Spielen bezeichnen. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass die öffentliche Person mit ihrem scheinbaren Spiel einen Zweck in der gesellschaftlichen Wirklichkeit verfolgt, sie möchte etwas erreichen, eine Reform umsetzen, einen Gesetzestext verändern, Gelder Viola Köster  —  Überall Masken!

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umverteilen, die öffentliche Meinung im Sinne ihres Programms beeinflussen. Sie möchte die Realität gestalten und versucht dazu, ihre Wähler:innen, Kund:innen und Kolleg:innen etc. von ihren Vorschlägen zu überzeugen. Als Parteipolitiker:in wird man dabei versuchen, diejenigen zu repräsentieren, die den eigenen potenziellen Wählergruppen entsprechen. Das ist, wie oben beschrieben, die ursprüngliche Idee der Repräsentation in der repräsentativen Demokratie. Und dafür wenden die Politiker:innen ihr Spiel an. Sie tun nicht so, als ob sie jemand anderes wären, um ein Gedankenexperiment zu wagen oder die Realität aus einer unbekannten Perspektive betrachten zu können. Sie bleiben nicht auf der Ebene des bloßen Spiels als Spiel. Das Spiel wird in dieser politischen Sphäre der Repräsentation zu einem Mittel, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Und damit wird das Spiel von einer Handlung des als ob zu etwas anderem, nämlich zu einem Werkzeug des um zu. Denn das Spiel des als ob ist notwendig eine »freie Handlung […], die als ›nicht so gemeint‹ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird.«35 Die scheinbar oder angeblich um einen realen Zweck spielende Person spielt nicht. Sie performt bloß sich selbst. »ICH IST EIN ANDERER« Man könnte insgesamt nun also zu der These gelangen, dass immer dort, wo das Diktum von Authentizität und wahrer Selbstdarstellung vorherrschen und ihre Inszeniertheit aus dem Blick gerät, die Angst vor den Masken wächst. Das Schwinden des privaten Raums, die Überwachung und der Handel mit persönlichen Daten scheinen weniger zu stören als das Undurchschaubare, das Verhüllte und das Verborgene zum Schutz derer und ihrer Gegenüber, die sich maskieren. Das Nicht-Wissen verängstigt; das Offenlegen, so wird behauptet, beruhigt und schafft Vertrauen und Akzeptanz in eine durch die politischen Repräsentant:innen umgesetzten Ordnung. Doch das Vertrauen gegenüber den Repräsentant:innen sowie deren Akzeptanz, die auf einer scheinbar wahren Darstellung scheinbar authentisch auftretender und sprechender Personen beruhen, sitzen einem Missverständnis von politischer Repräsentation, zwischenmenschlicher Kommunikation und sogar menschlicher Identitätskonstruktion auf: Niemand wird jemals ein wahres Auftreten erreichen.

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35  Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg 1956.

Alle sind – in abgewandelter Form des Rimbaud’schen Satzes »je est un autre«36 – immer andere, jede Person hat mehrere Gesichter, performt unterschiedliche Rollen, je nach Kontext und je nach Zielsetzung. Selbst in der kuscheligsten, innigsten Gemeinschaft, in deren Einzelteile oder »Singularitäten« die Gesellschaft laut Reckwitz derzeit zerfallen ist, wird es niemals dazu kommen, dass alle Karten aller immer sichtbar auf dem Tisch liegen.37 Dies ist noch nicht einmal in einer Familie der Fall, geschweige denn in einer Paarbeziehung, der kleinsten vorstellbaren Gemeinschaft. Diese Erkenntnis wiederum, ob sie einen nun in Traurigkeit versetzt oder Humor und Lust entdecken lässt, ist die Basis des Theaters ebenso wie die eines gesellschaftlichen Zusammenlebens in einer Demokratie der Vielen. Es gilt, den anderen und sich selbst die Freiheit zuzugestehen, sich so weit hinter den eigenen zur Verfügung stehenden Masken zu verstecken, wie es die Spielvereinbarung 36  Das Zitat stammt aus einem Brief Rimbauds an Georges Izambard vom 13. Mai 1971 und bedeutet übersetzt etwa »Ich ist ein anderer«. Rimbaud meinte damit, dass es ihm beim Schreiben so vorkomme, als sei er selbst nur das Medium, durch das die Sprache hindurchfließe, als schrieben sich die Gedichte selbst und bloß durch ihn. 37  Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017.

erlaubt. Vor allem aber darf die Grenze zwischen Darstellung und Realität nicht verwischt, unkenntlich gemacht oder verschwiegen werden. Die auf der symbolischen politischen Ebene implizit vertretene Behauptung, die Darstellung einer politischen Person sei identisch mit dieser Person, sie entspreche ihrer Identität, ist fatal. Sie macht das ohnehin durch verschiedene Fehlentwicklungen und -entscheidungen beschädigte Vertrauen in politische Repräsentant:innen zunichte. Den Fake von der tatsächlichen Information, das Symbol von seinem Inhalt und die politische Repräsentanz von ihrem authentischem Selbst unterscheiden zu können, das ist es, was als Kompetenz erlernt werden und in das kollektive Bewusstsein der Gegenwart zurückkehren muss. Das Maskenspiel auf der Theaterbühne als offen-sichtliches Spiel mit den unterschiedlichen Gesichtern und Facetten einer Figur – und das ist die Pointe – steht allerdings viel mehr mit dem Virus selbst in Verbindung als mit irgendeiner Form von politischer Kommunikation und erst recht nicht mit den politischen Maßnahmen dagegen. Die Pandemie bringt die gewohnte Ordnung ins Wanken. Sie zerstört Ordnung; aber sie setzt weder eine Ordnung durch noch repräsentiert sie diese. Das kann weder Corona noch irgendein Maskenspiel der Welt. Das können nur die Menschen, die die Ordnung gemeinsam neu bestimmen und beispielsweise aufs Neue damit beginnen, sich eine kollektive Identität abseits von biografischen oder schein-

Viola Köster studierte Politikwissenschaften, bevor sie sich dem Theater zuwandte. Derzeit arbeitet sie als Dramaturgin am Schlosstheater Moers sowie als freie Regisseurin und Autorin.

bar authentischen Merkmalen zu geben. Die Masken als Schutzmasken hingegen sind keine Masken im eigentlichen Sinn. Wir sollten ihnen einen anderen Namen geben. Vielleicht den, der in Hamburg für die schützenden Stofffetzen bereits seit Pandemiebeginn existiert: Snutenpulli.

Viola Köster  —  Überall Masken!

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QUARANTÄNE & QUARTETT DIE PANDEMIE ALS BOOSTER FÜR GESELLSCHAFTSSPIELE Ξ  Christina Nover

Schon lange vor Corona gab es »Pandemie« – ein Brettspiel, bei dem die Spieler:innen gemeinsam versuchen, die weltweite Ausbreitung gleich mehrerer Seuchen zu stoppen. 2008 auf den Markt gekommen, wurde »­Pandemic« (so der bekanntere Original-Titel) 2009 zum Spiel des Jahres nominiert und hat seitdem viele Fans gefunden. Während man an einem Tisch über einer Weltkarte brütete und sich überlegte, wie man Infektionsketten am besten unterbrechen könnte, ahnte damals aber wohl noch niemand, dass rund zehn Jahre später aus Spaß bitterer Ernst werden würde. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sorgten dafür, dass viele Menschen in den eigenen vier Wänden festsaßen: keine Konzerte, kein Theater, kein Kino, kein Bowling, keine geselligen Abende in Kneipen, Restaurants und Clubs. Stattdessen Heimkino und Ausmisten nach Marie Kondo. Wahrscheinlich stieß so mancher Lockdown-Geplagte beim Aufräumen seines Zuhauses auf ein abgegriffenes Kartenspiel aus Kindheitstagen, das Erinnerungen wachwerden ließ. Warum nicht die bleierne Corona-Langeweile mit einem Spielchen vertreiben? Mal kurz ausbrechen aus dem Inzidenzen-Dschungel und die Karten neu mischen: Wenn man schon auf Kurzarbeit gesetzt wurde, dann doch wenigstens bei Monopoly richtig abkassieren. Das Heft in die Hand nehmen, einen kleinen Sieg erringen, in einer Zeit, in der viele zum Zuschauen, Aushalten und Stillsitzen verdammt waren. Spielen, das ist vor allem auch eines: Eskapismus. In eine andere Rolle schlüpfen, die eigenen Probleme vergessen. BRETTSPIELE ALS »AUSZEIT« VON DER REALITÄT »Spiele sind eine kleine Auszeit von der Realität«,1 erklärte Spielwissenschaftler Jens Junge während der vierten Corona-Welle. Junge ist Direktor des Instituts für Ludologie an der SRH Berlin University of Applied Sciences, wo man das Spielen in all seinen Facetten erforscht. Ein Ergebnis: Menschen spielen schon seit Jahrtausenden, sie wetteifern miteinander und fordern ihr Glück heraus. Junge bezeichnet Spiele gar als menschliches »Grundbedürfnis«2.

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1  Zitiert nach Carla Baum u. a., Nicht schon wieder!, in: Zeit online, 24.11.2021, https://tiny.one/indes223p1. 2  Ebd.

Bei den Vorreitern der ersten Brettspiele wurde der Spielplan einfach in den Sand gezeichnet, als Spielsteine nutzte man kleine Stöcke, Steine oder Muscheln. Irgendwann wurden die Spielmaterialen dann wertiger und die Regeln komplexer. Die Oberschicht im alten Ägypten etwa spielte ein Brettspiel namens Senet – im Grab von Tutanchamun wurden Sets des Spiels aus Elfenbein gefunden.3 Seitdem ist wahrlich viel Zeit vergangen und Gesellschaftsspiele sind mittlerweile für jedermann zugänglich. Und das ist gut so. Denn Spielen hat laut Junge positive Auswirkungen auf die Psyche, Spiele trainieren demnach die emotionale Stabilität4 – gerade in Krisenzeiten ist das viel wert. Durch das Spielen werde auch das Verlieren gelernt, wobei es immer die Möglichkeit gibt, neu anzufangen. Die künstlichen Herausforderungen, denen wir uns beim Spielen stellen, können uns mitunter auch helfen, mit der Realität besser klarzukommen. Und ein Erfolg auf dem Spielbrett sorgt für gute Laune im echten Leben. Christina Valentiner-Branth, Gründerin der Brettspielakademie, schrieb 2021 etwa: »Dem Gehirn ist es egal, ob Sie einen realen Erfolg erleben oder im Spiel einen Sieg erzielen: Das Gefühl ist identisch, nämlich gut.«5 Spielen sei hochemotionales Tun, geprägt durch Höhen und Tiefen. Aber wenn es gut läuft, so Valentiner-Branth, sind wir »die ganze Zeit im Flow.«6 Und wenn es 3  Vgl. Institut für Ludologie, Brettspiele, www.ludologie. de/spiele/brettspiele. 4  Vgl. Baum u. a.

mal nicht gut läuft, kann man immer noch Revanche fordern. Kein Wunder also, dass während Quarantäne und Lockdowns viele Menschen das Spielen (wieder) für sich entdeckten. Ulrich Brobeil vom Deutschen Verband der Spielwarenindustrie ( DVSI) erklärte zum Weltspieltag im

5  Christina Valentiner-Branth, Spielend durch die Krise, in: Humorcare e. V. (Hg.), Jahrbuch 2021, S. 49–55, hier S. 51.

YouGov-Umfrage im Auftrag des DVSI äußerten im vergangenen Jahr vierzig

6  Ebd., S. 53.

Fast ebenso viele gingen davon aus, dass sie Spielen auch in Zukunft einen

7 

Zitiert nach o. V., Drinnen und viel allein. Wie Corona das Spielen verändert hat, in: Redaktionsnetzwerk Deutschland, 25.05.2022, https:// tiny.one/indes223p2. 8  Vgl. ebd.

Mai 2022: »Spielen war während Corona Therapie.«7 In einer repräsentativen Prozent der Befragten, Spielen habe ihnen durch die Pandemiezeit geholfen. höheren Stellenwert zumessen werden.8 VERKAUF VON BRETTSPIELEN SCHOSS 2020 IN DIE HÖHE Nach Angaben des Verbunds der wichtigsten Spieleverlage im deutschsprachigen Raum hat sich der Spielemarkt im Corona-Jahr 2020 um 21 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesteigert; man sprach von der Pandemie gar als einem »Booster« für die Branche. 2021 konnte da zwar nicht mehr ganz mit-

9  Vgl. Spieleverlage e. V., Spiele bleiben »angesagt«, 10.02.2022, https://tiny.one/indes223p3.

halten – trotzdem gab es den Angaben des Verbunds zufolge noch einmal

10  Vgl. Spieleverlage e. V., Spiele + Puzzles: leichter Rückgang in der Krise, 05.10.2022, https://tiny.one/indes223p4.

pandemiejahrs 201910 – zumal vor der Weihnachtszeit, in der sich Spielwaren

ein kleines Umsatzplus.9 Und die Zahlen für das erste Halbjahr 2022 liegen zumindest immer noch ein ganzes Stück über denen des letzten Nicht­ traditionell besonders gut verkaufen. Christina Nover  —  Quarantäne & Quartett

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Dabei sind es aktuell keineswegs nur die Kinder, die sich am Spielen erfreuen, nein, gerade bei den Familien- und Erwachsenenspielen gab es den Auswertungen zufolge die größten Zuwächse in der Pandemie. Spitzenreiter waren Puzzles für Erwachsene – hier lag das Wachstum bei fünfzig Prozent. Die Hersteller hatten gar Probleme, der hohen Nachfrage gerecht zu werden. Als Folge waren die Kisten mit den vielen kleinen Teilen in Geschäften oftmals ausverkauft.11 Aufgrund der Kontaktbeschränkungen während der Pandemie waren Spiele, die man allein oder in kleinen Gruppen spielen kann, besonders beliebt. Die Spieleverlage haben darauf reagiert. In ihren aktuellen Programmen finden sich vermehrt Spiele, die diesen Bedarf befriedigen – beispielsweise Logikspiele oder DuellVarianten bestehender Spiele, bei denen sich Pärchen am Wohnzimmertisch miteinander messen können. Aber auch neue Spiele kommen mittlerweile oft mit Spezialregeln für das Ein- und Zweipersonenspiel daher. Klassiker wie Scrabble oder Uno finden zwar auch heute noch ihre Fans, aber wer sich auf dem Spielemarkt umschaut, merkt, dass die Zeiten von »Mensch-ärgere-dich-nicht« und Co. schon lange vorbei sind. Nicht nur wird das Spielmaterial mitunter immer aufwendiger, es herrscht auch eine andere Spielmentalität vor. Statt »Jeder gegen jeden« heißt es immer öfter »Alle für einen – einer für alle«. Kooperative Spiele sind der Spieletrend der vergangenen Jahre schlechthin. KOOPERATIVE SPIELE LIEGEN IM TREND Ein Beispiel dafür sind Escape-Spiele für zu Hause. Sie basieren auf der Idee von Escape-Rooms, in denen Teams gemeinsam Rätsel lösen, um sich den Weg hinaus zu erspielen. In der Corona-Zeit sah es für die Betreiber:innen solcher Räume schlecht aus – für das Brettspiel daheim gab es hingegen keine Beschränkungen. Und über eine mangelnde Auswahl musste sich auch niemand beschweren. Allein die Exit-Reihe von Kosmos zählt mittlerweile rund

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11  Vgl. Spieleverlage e. V., Spiele + Puzzle: Stark wachsende Nachfrage im Coronajahr 2020, 03.02.2021, https://tiny.one/indes223p5.

dreißig Spiele, die sich nach Angaben des Verlags weltweit schon 17 Millionen Mal verkauft haben. Auch Krimi- und Detektivspiele boomen, bei denen die Spieler:innen sich etwa als Ermittler:innen in fiktiven Mordfällen versuchen. Dafür wühlen sie sich durch das im Spiel enthaltene Material aus Fotos, Dokumenten und anderen Beweisen. Ein anderes Mal schlüpfen sie in fantastische Rollen und bezwingen gemeinsam Monster – Gegner ist dabei das Spiel selbst. Wer in der Brettspielwelt von heute akzeptiert werden will, braucht also Teamgeist. Der besondere Reiz kooperativer Spiele besteht darin, dass es eben nicht nur einen Sieger oder eine Siegerin gibt, sondern gleich eine ganze Gruppe – gerade wenn Spielen in der Krise für gute Laune sorgen soll, ein echter Pluspunkt. Schließlich belegen Studien, dass Erfolge unser Belohnungssystem ankurbeln.12 Und wer gemeinsam verliert, kommt damit ebenfalls besser klar. Geteiltes Leid ist halbes Leid – das gilt auch beim Spielen. Doch egal, ob kooperatives oder kompetitives Spiel – ein Gewinn sind immer die Interaktionen mit den Mitspieler:innen. Durchs Spielen kommt man sich näher, lernt sich besser kennen und verbringt Zeit zusammen. Diese Nähe ist etwas, das in unserer digitalisierten Gesellschaft mitunter ins Hintertreffen geraten ist. Die Corona-Pandemie hat die Isolation noch verschärft und manch einem bewusst gemacht, wie viel gemeinsame Zeit wert sein kann. Genau in diese Kerbe schlagen Partyspiele, die einen schönen Abend miteinander versprechen. Freche Fragen, die zum Diskutieren anregen, schräge Aufgaben, die zum Lachen bringen – gern in Verbindung mit etwas Alkohol, das kommt vor allem bei jungen Erwachsenen gut an. Schon vor der Pandemie erfreute sich diese Sparte großer Zuwächse, und während des Lockdowns schlug die Stunde all jener Spiele, die sich auch über Zoom oder andere ­Videokonferenzen spielen ließen. 12 

Vgl. Kurosch Yazdi u. a., Neurobiological Processes During the Cambridge Gambling Task, in: Behavioural Brain Research, H. 1/2918, S. 295–304. 13  Zitiert nach Anne Grünberg, Lego, Barbie und Puzzle. Spielzeug boomt in der Corona-Krise, in: Redaktionsnetzwerk Deutschland, 25.10.2020, https://tiny.one/indes223p6. 14  Vgl. Guido Heinecke, Brettspiele Online – Eine Alternative während der Krise, 18.03.2020, https://tiny.one/indes223p7.

Die Zugriffszahlen auf digitale Plattformen, auf denen sich Spieleabende im Internet simulieren lassen, schossen während des Lockdowns in die Höhe. Beim Anbieter Board Game Arena, nach eigenen Angaben mit viereinhalb Millionen Mitgliedern der größte digitale Spieltisch der Welt, beispielsweise hätten sich die Zugriffe innerhalb weniger Tage verzehnfacht. »Die Krise hat uns in eine neue Dimension katapultiert«, so Gründer Gregory Isabelli.13 Dabei seien ganz neue Zielgruppen erschlossen worden – wie Großmütter, die sich anmeldeten, um mit ihren Enkeln spielen zu können –, und etwa die Hälfte der Neunutzer sei auch geblieben. Zahlreiche Spieleverlage legten Online-Versionen ihrer beliebtesten Spiele auf oder veröffentlichten Anleitungen, wie man sie im Internet mit anderen spielen kann.14 Und wer bei Google nach Spielen suchte, die sich für Christina Nover  —  Quarantäne & Quartett

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Videokonferenzen eignen, wurde dank Empfehlungen verschiedener Medien schnell fündig. Für die Branche sicher ein praktischer Nebeneffekt der Online-Brettspielerei: Wer an einem Spiel Gefallen fand, überlegte sich vielleicht, ob er das Spiel nicht auch in der klassischen Variante kaufen sollte, um es nach dem Lockdown »in echt« zu spielen. SPIELE HAMSTERN AUF DER SPIELEMESSE Nachschub für alle Spielefans gab es auch in diesem Jahr wieder bei den Internationalen Spieletagen in Essen. Die weltgrößte Messe für Gesellschaftsspiele konnte nach einer etwas kleineren Ausgabe 2021 in diesem Jahr mit rund 980 Ausstellern aus 56 Nationen aufwarten. 147.000 Besucher:innen zählte der Friedhelm Merz Verlag als Veranstalter innerhalb von vier Tagen.15 Nicht ganz so viele wie vor Corona, doch das Organisationsteam zeigte sich im Nachgang zufrieden. Vor allem auch, weil die Besucher:innen sich trotz kriegsbedingter Inflation überraschend kauffreudig zeigten16 – wer weiß, vielleicht auch als Vorbereitung auf einen potenziellen neuen Lockdown. Ein Rekord war laut Veranstalter die Anzahl an Neuheiten, die von den Spieleverlagen auf der Messe präsentiert wurden. Mehr als 1.800 neue Spiele sollen es gewesen sein. Da fragt man sich durchaus: Wer soll das alles spielen? Hier zeigt sich der Optimismus der Spieleverlage, dass die Menschen auch ohne Corona-Maßnahmen dem Spielen treu bleiben werden. Sie bauen darauf, dass sich die Lust am Spielen festgesetzt hat in der Gesellschaft wie Masken in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Corona-Tests. Dass das Spiel­ virus mutiert ist: vom simplen Langeweilebrecher hin zur bevorzugten Abendgestaltungsvariante. Vielleicht erscheinen auch deshalb so viele Neuheiten: Man will die Leute bei der Stange halten, ihnen etwas bieten. CORONA-PANDEMIE ALS KEIMZELLE FÜR NEUE SPIELE Dazu gehören auch Spiele, die von der Pandemie inspiriert wurden. Bei dem Kartenspiel »Ich sehe was! Was siehst du?« etwa von Alter Zensus geht es darum, die Emotionen von Menschen richtig zu deuten. Die Schwierigkeit: Die Gesichter sind halb verdeckt von OP-Masken. Die Idee basiert darauf, dass die Maskenpflicht bei einigen Personengruppen, wie Autist:innen oder Demenzkranken, für Probleme gesorgt hat, weil es ihnen nun deutlich schwerer fiel, ihr Gegenüber einzuschätzen. Das Spiel trägt mit Tipps und Hinweisen dazu bei, die Mimik der anderen zu deuten, indem der Fokus auf die Veränderungen der Augenpartie gelenkt wird. Neben diesem Spiel mit eher pädagogischem Ansatz gibt es auch Spiele, bei denen das unterhaltende Element im Vordergrund steht, wie »Pandemie-Poker«,

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15  Vgl. Friedhelm Merz Verlag, Abschlussbericht SPIEL ’22. Neuheitenrekord lockt mehr Spiele­fans auf die SPIEL nach Essen, https://tiny.one/indes223p8. 16 

Vgl. ebd.

»Seuchen-Quartett« oder »Corona – mit Eifer ins Geschäft«. Bei Letzterem können die Spieler:innen fröhlich das Toilettenpapier hamstern, ohne Sorge haben zu müssen, dafür böse Blicke der Nachbarn zu ernten. Beim Kartenspiel »Lockdown« versprechen die Schweizer Erfinder, dass das Spiel genauso unberechenbar sei wie die Situation mit dem Corona-Virus. Zum Spiel »­Viral«, das es schon vor Corona gab und bei dem die Spieler:innen selbst in die Rolle von Viren schlüpfen, die sich taktisch geschickt in verschiedenen Organen festzusetzen suchen, erschien jüngst eine Erweiterung mit dem ­Titel »Zweite Welle«. Auch für das Spiel »Pandemic« sind mehrere Erweiterungen auf den Markt gekommen. Das Spiel hat definitiv von den Corona-Wellen profitiert. Ein Sprecher des Verlags Asmodee führt den Erfolg darauf zurück, dass »Pandemic« den Menschen eine positive Auseinandersetzung mit dem Thema ermöglicht habe. Während 2018 und 2019 noch jeweils niedrige fünfstellige Stückzahlen verkauft worden seien, hätten sich die Absatzzahlen 2020 verdoppelt und seien 2021 auf diesem hohen Niveau geblieben. SPIELEND LEICHT DURCH DEN NÄCHSTEN CORONA-WINTER? Trotz aller guten Verkaufszahlen darf indes nicht außer Acht gelassen werden, dass auch die Spielebranche in der Pandemie mit Problemen zu kämpfen hatte. Die massive Störung der Lieferketten bekamen auch die Spieleverlage zu spüren. Rohstoffmangel im Papiersektor, längere Produktionszeiten und vor allem Transportprobleme aufgrund fehlender Schiffs- und Hafenkapazitäten belasten derzeit noch immer das Geschäft.17 Und nun steht noch der Winter bevor – mit Energiepreissorgen und einer unklaren Pandemielage. Werden die Inzidenzen wieder steigen? Und wie wird die Politik reagieren? Genug »Expert:innen« für Seuchenbekämpfung 17  Vgl. Spieleverlage e. V., Spiele bleiben »angesagt«, 10.02.2022, https://tiny.one/ indes223p9.

dürfte es angesichts der guten Verkaufszahlen von »Pandemic« zumindest geben. Vielleicht sind wir ja dank vieler fleißiger Spieler:innen weltweit für eine potenzielle nächste Corona-Welle besser gerüstet als noch 2019.

Christina Nover ist Journalistin und passionierte Brettspielerin. Derzeit arbeitet sie als Multimedia-Reporterin für den Südwestdeutschen Rundfunk (SWR) und rezensiert unter anderem für SWR3 Gesellschaftsspiele.

Christina Nover  —  Quarantäne & Quartett

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PERSPEKTIVEN

ANALYSE

THE SILENT SOUND OF LONELINESS WARUM EINSAMKEIT POLITISCH IST Ξ  Anna-Lena Wilde-Krell

Cast Away – Kein Mensch könnte einsamer sein als Chuck Noland, gespielt von Tom Hanks, der nach einem Flugzeugabsturz als einziger Überlebender vier Jahre allein auf einer Südseeinsel verbringt. Um in der vollkommenen sozialen Isolation nicht verrückt zu werden, wird ein Volleyball, den er Wilson nennt, sein einziger Gesprächspartner, Begleiter und Freund. Doch auch fernab unbewohnter Südseeinseln ist Einsamkeit ein reales Problem vieler Menschen. In Deutschland fühlt sich jede:r Zehnte regelmäßig einsam. Während der Corona-Pandemie war es im Jahr 2020 gar jede:r Vierte.1 Auch wenn Einsamkeit als private Angelegenheit erscheinen mag, handelt es sich doch um eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. WAS IST EINSAMKEIT? 1  Vgl. Sonia Lippke u. a., Einsam(er) seit der Coronapandemie. Wer ist besonders betroffen? Psychologische Befunde aus Deutschland, in: Prävention und Gesundheitsförderung, H. 1/2021, S. 84–95, https://tiny.one/indes223q1. 2  Vgl. Daniel Perlman & Letitia Peplau, Theoretical Approaches to Loneliness, in: Dies. (Hg.), Loneliness: A Sourcebook of Current Theory, Research and Therapy, New York 1982, S. 123–134. 3  Vgl. Stephanie ­Cacioppo u. a., Loneliness, Clinical Import and Interventions, in: Perspectives on Psychological Science, H. 2/2015, S. 239 ff.

Einsamkeit ist die wahrgenommene Differenz zwischen den gewünschten und den tatsächlichen sozialen Beziehungen einer Person.2 Es handelt sich um ein subjektives Gefühl, einen Mangel an bedeutenden sozialen Kontakten. Einsamen Menschen fehlen Beziehungen wie eine Partnerschaft, enge Freund:innen oder die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Dabei geht es weniger um die Anzahl der sozialen Beziehungen, sondern vielmehr um deren Qualität. Drei Arten von Einsamkeit lassen sich unterscheiden: • Bei der emotionalen Einsamkeit fehlen den Betroffenen enge, intime soziale Bindungen wie etwa eine Partnerschaft. • Soziale Einsamkeit hingegen beschreibt den Mangel an Freundschaften und ähnlichen sozialen Beziehungen. • Bei der kollektiven Einsamkeit vermissen die Personen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Gesellschaft.3

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Einsamkeit ist indes nicht gleichzusetzen mit Alleinsein. Alleinsein kann ein gewählter Zustand sein und einer Person guttun. Einsamkeit hingegen ist immer ein negatives Gefühl. Auch ist Einsamkeit nicht gleichbedeutend mit sozialer Isolation. Soziale Isolation meint die quantifizierbare Abwesenheit sozialer Kontakte – und kann mit Einsamkeit einhergehen. Menschen können aber auch sozial isoliert sein, ohne sich einsam zu fühlen, und andersherum. WER IST BESONDERS BETROFFEN? Auch wenn Einsamkeit jede:n treffen kann, vereinsamen einige Menschen mit

keit einsam wie Menschen in der obersten Einkommensklasse (über 2000 €/

5  Allerdings sind in NRW Menschen in der niedrigsten Einkommensklasse etwas häufiger einsam als im Deutschlandvergleich. Vgl. Tobias Ebert u. a., Einsamkeit in Nordrhein-Westfalen – Zahlen, Ursachen und Folgen im bevölkerungsreichsten Land. Gutachten für die Enquetekommission IV »Einsamkeit« – Bekämpfung sozialer Isolation in Nordrhein-Westfalen und der daraus resultierenden physischen und psychischen Folgen auf die Gesundheit, Düsseldorf 2021, https://tiny. one/indes223q2, S. 12 f.

Monat).5 Neben einem höheren Einkommen bietet auch die Erwerbstätigkeit

6  Vgl. ebd., S. 23.

deutlich höherer Wahrscheinlichkeit als andere. Zunächst ist über die Lebensspanne ein u-förmiger Verlauf feststellbar: Junge sowie ältere Menschen sind häufiger von Einsamkeit betroffen als Personen mittleren Alters.4 Des Weiteren konnte in verschiedenen Studien gezeigt werden, dass die Wahrscheinlichkeit, einsam zu sein, durch einige soziodemografische Merkmale beeinflusst wird. Der stärkste Zusammenhang besteht zwischen Einsamkeit und einem niedrigen Einkommen. Im gesamtdeutschen Vergleich zeigt sich ein eindeutiger Befund: je höher das Einkommen, desto niedriger die Einsamkeitswahrscheinlichkeit. In Nordrhein-Westfalen etwa sind Menschen mit niedrigem Einkommen (unter 500 €/Monat) mit 3,5-mal so hoher Wahrscheinlich-

einen gewissen Schutz vor Einsamkeit,6 was sich unter anderem durch Sozialkontakte am Arbeitsplatz und die Einbindung in Strukturen erklären lässt. Ein zweiter starker Zusammenhang besteht zwischen Einsamkeit und dem Bildungsgrad. Menschen ohne beziehungsweise mit einem niedrigen Bildungsabschluss sind doppelt so oft von Einsamkeit betroffen wie Personen mit einem akademischen Zertifikat.7 Dass ein hoher Bildungsabschluss als Schutzfaktor gegen Einsamkeit fungieren kann, hängt möglicherweise damit zusammen, dass formal höher gebildete Personen über ein größeres Netzwerk an Sozialkontakten verfügen.8 Ein dritter deutlicher Zusammenhang zeigt sich zwischen Einsamkeit und direkter Migrationserfahrung.9 Jede vierte Person mit direkter Migrationserfahrung ist von Einsamkeit betroffen – damit ist die Wahrscheinlichkeit, einsam zu sein, bei dieser Gruppe 2,5-mal so hoch wie bei Menschen ohne Migrationserfahrung.10 Die Gründe sind mannigfaltig: Entwurzelung, mangelnde Integration, geringere Teilhabechancen, Diskriminierungserfahrungen, Sprachbarrieren, kulturelle oder strukturelle Hürden etc.11 Der Zusammenhang zwischen sozialstrukturellen sowie sozialen Faktoren und Einsamkeit zeigt sich auch beim Blick auf weitere Personengruppen:

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4  Vgl. Martin Pinquart & Silvia Sörensen, Influences on Loneliness in Older Adults: A Meta-Analysis, in: Basis and applied social psychology, H. 4/2001, S. 245–266, hier S. 258.

Perspektiven — Analyse

7 

Vgl. ebd.

8  Vgl. John T. Cacioppo & Louise C. Hawkley, Loneliness, in: Mark R. Leary & Rick H. Hoyle (Hg.), Handbook of Individual Differences in Social Behavior, New York 2009, S. 227–240, hier S. 230. 9  Die Person ist selbst ­immigriert. 10  Vgl. Cacioppo & Hawkley, S. 18. 11  Vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen, Bericht der Enquetekommission Einsamkeit. Bekämpfung sozialer Isolation in Nordrhein-Westfalen und der daraus resultierenden physischen und psychischen Folgen auf die Gesundheit, Düsseldorf 2021, https://tiny. one/indes223q3, S. 175.

Besonders vulnerabel für Einsamkeit sind beispielsweise Alleinerziehende, Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status, Erwerbslose, Menschen mit psychischen Erkrankungen, Hochaltrige, Menschen mit Behinderung, Menschen in Pflegeeinrichtungen und pflegende Angehörige mit schwieriger und/oder jahrelanger Pflegetätigkeit.12 FOLGEN VON EINSAMKEIT Dem Protagonisten in Cast Away gelingt es irgendwann, sein physisches Überleben auf der einsamen Insel zu organisieren. Die größte Herausforderung für ihn wird der Kampf gegen die Einsamkeit. Täglich müht er sich dagegen ab, nicht wahnsinnig zu werden. Tatsächlich ist inzwischen gut erforscht, dass Einsamkeit gravierende psychische und physische Folgen haben kann und sich negativ auf den allgemeinen Gesundheitszustand eines Menschen auswirkt. Die Effekte und Zusammenhänge sind vielfältig. Zum einen lässt sich bei einsamen Menschen eher gesundheitsschädliches Verhalten wie Rauchen und wenig Bewegung beobachten, auch Übergewicht tritt häufiger auf. Zum anderen kann Einsamkeit sich negativ auf den Schlaf auswirken, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ein hoher Blutdruck kommen öfter vor als bei anderen Personen gleichen Alters. Auch die Sterblichkeit kann bei einsamen Menschen erhöht sein. Chronische Einsamkeit kann sich auf den Körper ähnlich schädlich auswirken wie der Konsum von 15 Zigaretten am Tag, Alkoholmissbrauch oder starkes Übergewicht mit einem BMI von über 35. Einsamkeit kann zudem eine Depression auslösen oder verschlimmern; umgekehrt kann eine Depression Menschen in soziale Isolation führen und vereinsamen lassen. Die gesundheitlichen Folgen von Einsamkeit schlagen sich auch in Kosten für das Gesundheitssystem nieder. Eine US-amerikanische Studie berechnet für eine ältere einsame Person monatliche Mehrkosten von 134 US-Dollar im Vergleich zu einer älteren nicht einsamen Person. Wenngleich diese Daten nicht eins zu eins auf das deutsche Gesundheitssystem zu übertragen sind, lassen sie erahnen, was nicht behandelte Einsamkeit kosten kann. THEMENKONJUNKTUR DURCH CORONA Bislang war Einsamkeit ein Thema, das vor allem in der Psychologie und zunehmend auch in der Pädagogik untersucht wurde. Durch die Corona-Pandemie ist es allerdings jüngst auch in der Politik in den Fokus gerückt. In der Pandemie spitzte sich die Lage für einsame Menschen weiter zu, und auch bisher nicht Nichtbetroffene fühlten sich plötzlich einsam. Kontaktbeschrän12 

Vgl. ebd., S. 42.

kungen, Homeoffice-Pflicht, Abstandsregeln, Kita- und Schulschließungen Anna-Lena Wilde-Krell  —  The Silent Sound of Loneliness

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und weitere Maßnahmen dämmten zwar das Virus ein, sorgten aber gleichzeitig dafür, dass Sozialkontakte wegbrachen und viele Menschen vereinsamten. Vor allem während der Lockdowns litten viele Menschen an Einsamkeit. Besonders betroffen waren Frauen, Jüngere und Menschen mit direkter Mi­ grationserfahrung. Kinder und Jugendliche waren durch geschlossene Schulen, Kontaktbeschränkungen und den Ausfall von Freizeitangeboten längere Zeit von ihrer Peergroup abgeschnitten. Frauen leisteten beispielsweise einen Großteil der Kinderbetreuung und des Homeschoolings, während Kitas und Schulen geschlossen waren, und hatten zudem stärkere wirtschaftliche Einbußen zu verzeichnen als Männer. Für Menschen mit direkter Migrations­ erfahrung fielen wichtige Sozialkontakte weg, Angebote wie Sprachkurse fanden nicht statt, Integration wurde noch schwieriger als ohnehin. Es zeigt sich also, wie unmittelbar politische Entscheidungen und gesellschaftliche Strukturen das individuelle Gefühl von Einsamkeit prägen. Auch jenseits der Corona-Pandemie ist Einsamkeit ein dringliches Thema. Die Gründung eines Einsamkeitsministeriums in Großbritannien und zuletzt die Eröffnung des Zentrums für Einsamkeit in Berlin haben verdeutlicht, dass Einsamkeit zunehmend öffentlich diskutiert wird und auch ein Thema für die Politik geworden ist. MASSNAHMEN GEGEN EINSAMKEIT Ein weiteres Beispiel für die wachsende Aufmerksamkeit des politischen Betriebs gegenüber dem Thema war die Einrichtung der Enquetekommission Einsamkeit im nordrhein-westfälischen Landtag in der vergangenen Legislatur­periode. Im Abschlussbericht13, den Anhörungen und Gutachten werden verschiedene Handlungsansätze diskutiert, von denen einige an dieser Stelle skizziert werden sollen. Einsamkeit darf kein Stigma sein. Daher gilt es, breit und offen über Einsamkeit zu sprechen und zu informieren. Neben Kampagnen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt gehören dazu auch die Sensibilisierung und Qualifizierung von Fachkräften in Kindertagesstätten, Schulen, Unternehmen und im Gesundheitssektor. Hausärzt:innen sind vielfach die ersten Ansprechpersonen von Einsamen, daher sollten hier Informationen zu wohnortnahen und zielgruppenspezifischen Angeboten gegen Einsamkeit hinterlegt sein, etwa in Form einer »Landkarte«. Vorhandene Angebote sollten zudem sichtbarer und stärker miteinander vernetzt werden.14 Zudem müssen die Angebote allen Menschen offenstehen. Bisher konzentrieren sie sich vielfach auf ältere Personen. Angebote für junge Erwachsene

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Perspektiven — Analyse

13  Vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen, S. 190 ff. 14  Vgl. Janosch Schobin u. a., Gesellschaftlicher Wandel und Einsamkeit. Gutachten für die Enquete-Kommission »Einsamkeit – Bekämpfung sozialer Isolation in Nordrhein-Westfalen und der daraus resultierenden Folgen für die physische und psychische Gesundheit« des Landtags des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2021, https:// tiny.one/indes223q4, S. 17.

sind aber ebenso gefragt wie für Menschen mit Migrationserfahrung oder für Kinder und Jugendliche. Wichtig sind in diesem Kontext Brückenangebote, die bereits vereinsamte Menschen niedrigschwellig wieder an soziale Kontakte heranführen und dabei auch Sprachbarrieren überwinden. Beispielhaft für ein Brückenprojekt ist der Verein Silbernetz e. V. zu nennen. Er bietet niedrigschwellige Angebote für vereinsamte Senior:innen, etwa eine Telefonhotline für vertrauliche Gespräche, die Vermittlung von persönlichen Kontakten für regelmäßige Telefonate und die Vermittlung an andere Angebote der Altenhilfe. Auch müssen die Angebote Menschen erreichen, die bisher aus dem wohlfahrtsstaatlichen und sozialen Angebotsnetz herausfallen, wie beispielsweise junge Erwachsene, die aus einer Wohngruppe ausziehen, oder Haftentlassene.15 Um Einsamkeitsrisiken zu minimieren und Einsamkeitsprävention zu betreiben, muss soziale Teilhabe gestärkt werden, etwa durch die konsequente Umsetzung des Bundesteilhabekonzepts, Unterstützung von Alleinerziehenden, den Ausbau und die Stärkung von Schulsozialarbeit und Familienzentren an Kindertagesstätten und Schulen sowie durch intensivierte Maßnahmen gegen Schulabbruch. Da Menschen mit niedrigen Einkommen besonders häufig von Einsamkeit betroffen sind, gewinnen Armutsprävention und -bekämpfung sowie die einsamkeitssensible Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik, etwa durch die vermehrte Vernetzung von psychologischen Beratungsstellen mit Jobcentern, an Bedeutung. Veränderungen im Gesundheitswesen wie der Aufbau von sozialpsychiatrischen Gesundheitszentren oder ausreichende Therapieangebote sind ebenso wichtig wie Maßnahmen vor Ort, beispielsweise quartierszentrierte Wohlfahrtspflege oder der Erhalt und Aufbau von Treffpunkten wie Markt- und Bolzplätzen. Einsamkeitspolitik muss im Regierungshandeln verankert werden. Last, but not least bedarf es weiterer Grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung zu Einsamkeit, insbesondere auch aus interdisziplinären Perspektiven. DIE POLITIKWISSENSCHAFTLICHE DIMENSION Vielfach richtet sich der wissenschaftliche Fokus in Bezug auf Einsamkeit auf gesundheitspolitische Aspekte. Einsamkeit wirkt sich aber auch auf die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen aus. Chronisch einsame Menschen ziehen sich stärker zurück, beteiligen sich seltener an gesellschaftlichen Aktivitäten und erleben eine geringere Selbstwirksamkeit. So verstärkt sich ein Negativtrend. Bei Einsamkeit ist, wie gezeigt, das Gefühl fehlender qualitativ 15 

Vgl. ebd., S. 14.

hochwertiger sozialer Beziehungen essenziell. Anna-Lena Wilde-Krell  —  The Silent Sound of Loneliness

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Auch hinsichtlich politischer Partizipation spielen soziale Beziehungen eine wichtige Rolle. Kontakte zu Freund:innen, Kolleg:innen, in der Nachbaroder Partnerschaft sind ebenfalls wichtige Erklärungsfaktoren für die politische Partizipation von Menschen.16 Dies zeigt auch das Standardmodell zur Erklärung politischer Partizipation von Verba und Nie. Angesichts geringer politischer Beteiligung einer Mehrheit der Bevölkerung fragen sie, weshalb sich Menschen politisch nicht beteiligen, und kommen zu der Antwort: »[…] because they can’t, because they don’t want to, or because nobody asked.«17 Politische Partizipation ist demnach maßgeblich von drei Faktoren abhängig: den Ressourcen einer Person, den Fähigkeiten und dem persönlichen Netzwerk. Wenn sich Einsamkeit auf politische Partizipation auswirkt, kann dies in einer Demokratie gravierende Folgen haben, vor allem angesichts der – ohnehin sozial ungleich verteilten – geringeren Wahlbeteiligung von Bevölkerungsgruppen, die zugleich besonders vulnerabel für Einsamkeit sind. Wahlen sind zunehmend sozial selektiv; das heißt, unter ressourcenstarken Bürger:innen fällt die Wahlbeteiligung sehr hoch aus, während ressourcenschwache Bürger:innen mit formal niedrigen Bildungsabschlüssen und geringen Einkommen den Wahlurnen häufig fernbleiben.18 Erste Ergebnisse deuten auf einen Zusammenhang zwischen Einsamkeit und einer niedrigen Wahlnorm19 sowie einer niedrigen Wahlbeteiligung hin. Dieser Einfluss von Einsamkeit auf politische Partizipation wird in der Wissenschaft bislang jedoch meist ignoriert.20 Beim Blick auf die vulnerablen Gruppen, die Zusammenhänge zwischen sozialstrukturellen Faktoren und Einsamkeit und die weitreichenden Folgen von Einsamkeit wird deutlich, wie mannigfaltig und bedeutsam die politikwissenschaftlichen Fragestellungen sind: Welche Auswirkungen hat Einsamkeit auf die Gesellschaft, soziale Teilhabe und die Demokratie? Wie handeln die politischen Akteur:innen? Welche Themen und Schwerpunkte werden gesetzt? Wie kann Arbeitsmarktpolitik einsamkeitssensibel gestaltet werden? Wie kann präventive Einsamkeitspolitik aussehen? Welchen Einfluss haben Quartiersarbeit und Wohnraumpolitik auf Einsamkeit? Bisher sind diese Fragen insbesondere im deutschsprachigen Raum kaum aufgegriffen worden. Für Chuck Noland endete seine Auseinandersetzung mit Einsamkeit nach vier Jahren durch seine Flucht von der Insel. In der Politikwissenschaft steht die Auseinandersetzung mit Einsamkeit erst am Anfang. Anna-Lena Wilde-Krell ist Politik- und Verwaltungswissenschaftlerin und arbeitet als Referentin in der SPD-Fraktion im Landtag Nordrhein-Westfalen. Sie war Referentin in der Enquete-Kommission »Einsamkeit« im Landtag NRW und hat als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bonn unter anderem zu den Themen Partizipation, Wohlfahrtsstaat sowie Frauen & Politik gelehrt.

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Perspektiven — Analyse

16  David Lazer u. a., The Coevolution of Networks and Political Attitudes, in: Southern Illinois University Carbondale Working Papers, H. 5/2009, https://tiny.one/indes223q5. 17  Henry E. Brady u. a., Beyond SES: A Ressource Model of Political Participation, in: American Political Science Review, H. 89/1995, S. 271–294. 18  Vgl. Armin Schäfer, Der Verlust der politischen Gleichheit, Frankfurt a. M. & New York 2015. 19  Wahlnorm beschreibt die innere Überzeugung, dass es in einer Demokratie gewissermaßen eine Bürgerpflicht ist, wählen zu gehen. 20  Vgl. Alexander Langenkamp, Lonely Hearts, Empty Booths? The Relationship between Loneliness, Reported Voting Behavior and Voting as Civic Duty, in: Social Science Quarterly, H. 4/2021, S. 1239–1254.

KOMMENTAR

GESTÄRKTE DEMOKRATIE DURCH RECHTSKOMPETENZ EIN PLÄDOYER FÜR JURISTISCHE BREITENBILDUNG Ξ  Andreas Gran

Rechtliche, politische und gesellschaftliche Aspekte sind untrennbar miteinander verwoben. Da die Wirtschaft zentraler Gesellschaftsbestandteil ist, gilt das auch dort. Während die Politik der Gesellschaft und damit der Wirtschaft nutzen sollte, ist das Recht eine unverzichtbare Säule jeglichen Zusammenlebens. Die Gemeinsamkeit dieser Sphären liegt also in der Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens. Umso besorgniserregender ist es, wenn sich zwischen diesen wichtigen Bereichen eine Kluft auftut. Nachstehend geht es um das Problem, dass die in der Politik geschaffenen Rechtsvorgaben Bürger:innen in der freien Marktwirtschaft oft nicht erreichen. Zunächst aber sollen die hier verwendeten Begriffe »Gesellschaft«, »Politik«, »Wirtschaft« und »Recht« skizziert werden. BEGRIFFLICHES Gesellschaft Gesellschaft als Begriff für Struktur und Funktionsweise des Zusammenlebens ist Gegenstand soziologischer Betrachtungen. Hierbei geht es weniger um die Möglichkeit der externen Beeinflussung durch politische Maßnahmen als vielmehr um ein Verständnis der Interaktionen menschlichen Zusammenlebens. Demzufolge sind soziologische Überlegungen auch grundsätzlich eher an der Gestaltung des Zusammenlebens durch die Teilnehmer:innen der Gesellschaft selbst orientiert. Dabei zeigt sich deutlich die primäre He­ 1  Vgl. Theodor Ebert, Kants kategorischer Imperativ und die Kriterien gebotener, verbotener und freigestellter Handlungen, in: Kant-Studien: Philosophische Zeitschrift der Kant-Gesellschaft, H. 1–4/1976, S. 570–583.

rausforderung von Gesellschaft: Wie lassen sich individuellen Freiheitsrechte mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben vereinbar machen? Zur Beantwortung dieser Frage können philosophische Überlegungen aufschlussreich sein.1 Im Kern entsteht ein Problem, sobald die allgemeine Handlungsfreiheit des einen diejenige des anderen tangiert. Beispielsweise erscheint in der

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Praxis die als zu laut empfundene Musik des Nachbarn als Dilemma zweier kollidierender Freiheiten. Hier bietet Toleranz für das Verhalten anderer eine wichtige Grundlage, wobei sie aber bei jedem nur bis zu einer spezifischen Schwelle reichen wird und typischerweise spätestens bei der körperlichen Unversehrtheit endet. Daher wäre es sinnvoll, gesellschaftliche Entwicklungen und Interaktionen durch die Bekanntmachung rechtlicher Vorgaben zu begleiten und nachvollziehbarer zu machen, was bislang wegen geringer juristischer Breitenbildung allerdings kaum gelingt. Wirtschaft Die Wirtschaft ist wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft. Der Austausch von Waren und Leistungen ist existenziell für Solidargemeinschaften. Wirtschaft umfasst hierbei betriebswirtschaftlich die individuellen Unternehmensabläufe sowie volkswirtschaftlich Marktabläufe. Beide sind miteinander verbunden, denn Managemententscheidungen erfordern ein Verständnis sowohl

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Perspektiven — Kommentar

der Märkte als auch interner Betriebsstrukturen. Das Zusammenleben von Individuen in einer Gesellschaft bedarf pragmatisch des Austauschs von Gütern und Leistungen, weshalb wirtschaftliches Verständnis innerhalb der Gesellschaft unerlässlich ist; zugleich müssen aber auch hier stets die rechtlichen Rahmenbedingungen bedacht werden. Historisch entstanden die Betriebswissenschaften nach den Rechtswissenschaften. Beide Fakultäten sind relativ eng verbunden. Auch hier wäre es sinnvoll, das Wirtschaftsleben durch eine weit gefächerte Erziehung in rechtlichen Angelegenheiten zu erleichtern. Natürlich wird bereits Rechtsbildung betrieben – aber diese sollte deutlich früher und breiter ansetzen.2 Politik Politik erhebt den Anspruch, das Gemeinwesen – also das gesellschaftliche Zusammenleben – zu regeln; durch Gesetze und darauf basierende Eingriffe staatlicher Organe. Als Extremposition bestreiten intellektuelle Vertreter von Anarchismus, aber auch des Libertarismus jegliche Legitimation einer staatlichen Obrigkeit. Auch bei Liberalen findet sich eine kritische Haltung zur hierarchischen Regelung des Gemeinwesens. Sie lehnen zwar die staatliche Obrigkeit nicht per se ab, haben aber größeres Vertrauen in eine Selbst­regelung des Gemeinwesens als Vertreter:innen konservativer oder sozialistischer Politik. Jedenfalls vereint derartige freiheitliche Anschauungen die berechtigte gemeinsame Sorge vor willkürlicher Machtausübung, auch durch die Rechtsordnung. Recht Recht ist ebenfalls ein abstrakter Terminus. Es ist im Wesentlichen ein quasi »naturgegebenes« Faktum jeglicher Gesellschaft und Wirtschaftsgemeinschaft, die durch Politik beeinflusst werden. Rechtstheoretisch wird dabei unterschieden zwischen dem sogenannten Rechtspositivismus und dem sogenannten Rechtsnaturalismus. Der Rechtspositivismus beschreibt insbesondere das normierte, kodifizierte – das heißt in Form von Gesetzen und Verordnungen niedergeschriebene – Regelwerk als Recht, während der Rechtsnaturalismus im Recht eine der Natur entspringende Quelle menschlicher Werte sieht, die es zu erkennen gilt, ohne dass es notwendigerweise der Niederschrift und Durchsetzbarkeit bedarf. In der Tat vermögen Menschen intuitiv über Recht 2  Vgl. Andreas Gran, Mehr Rechtsverständnis für eine risikofreiere Wirtschafts­ gemeinschaft, in: Zeitschrift für Verbraucher- und Privatinsolvenz­ recht, H. 8/2022, S. 296 ff.

und Gerechtigkeit zu urteilen – das sogenannte Judiz. Auch ohne Kenntnis der strafrechtlichen Vorgaben werden in unserer Gesellschaft ein Diebstahl oder eine grundlose Körperverletzung wohl weitestgehend als »Unrecht« empfunden. Auch ohne Kenntnisse von vertragsrechtlichen Strukturen scheint Andreas Gran  —  Gestärkte Demokratie durch Rechtskompetenz

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zudem in der Allgemeinheit das Rechtsempfinden zu bestehen, wonach andere nicht ohne eigenes Zutun durch einen Vertrag verpflichtet werden können. In gewissem Umfang kann also darauf vertraut werden, dass Menschen durch Veranlagung und Sozialisation eine soziales Gewissen hinsichtlich der rechtlichen Gegebenheiten ausbilden. Gleichwohl sind logische Strukturen und das Antizipieren von Rechtsfolgen oft zu komplex, um allein auf das Judiz zu vertrauen. Im Ergebnis besteht daher ein Bedarf an niedergeschriebenem Recht, da dies zweifelsohne Rechtssicherheit begünstigen kann. SCHAFFUNG VON RECHT FÜR GESELLSCHAFT UND WIRTSCHAFT DURCH POLITIK In unserer Demokratie wird Recht auf politisch-institutionellem Weg niedergeschrieben und durchsetzbar gemacht. Hierbei besteht bekanntlich der Grundsatz der Gewaltenteilung, wobei das Recht durch die Legislative geschaffen, von der Exekutive umgesetzt und von der Judikative kontrolliert wird. Recht wird in Deutschland durch die demokratischen Institutionen – insbesondere Bundestag und Bundesrat – als Ausdruck der politischen Mehrheitsverhältnisse geschaffen. Es ist also zunächst Ergebnis der politischen Meinungsbildung, insbesondere parlamentarischer Abstimmungen. Hierbei spielt die sogenannte Rechtspolitik eine wichtige Rolle, wodurch Recht normiert und kodifiziert sowie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird: derzeit durch ca. 3.000 Verordnungen und ca. 2.000 Gesetze,3 ergänzt durch zahlreiche weitere Normenwerke auf Landesebene und im EU-Raum. Herausstechend ist die Menge wirtschaftsregulierender Vorgaben. Nicht ohne Grund sind unter den Politiker:innen über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg Jurist:innen in besonders großer Zahl vertreten.4 Die Herausforderung der Rechtskodifizierung besteht drin, Gesetze so zu formulieren, dass einzelne künftige Lebenssachverhalte durch verallgemeinernde, abstrakte Formulierungen antizipiert und geregelt werden können, ohne dass großer Auslegungsspielraum verbleibt.5 Daraus ergibt sich ein mittlerweile für juristische Laien schwer verständlicher Sprachgebrauch. Die für das juristische Fachvokabular so typische Verwendung generalisierender Begriffe resultiert letztlich aus Unsicherheiten bei der Gesetzgebung. Die Legislative muss stets entscheiden, ob ein Gesetz allgemein, aber mit dem Risiko der Auslegungsfähigkeit, oder konkret, jedoch mit dem Risiko von Auslassungen und Unverständlichkeit, formuliert wird. Geradezu unverzichtbar ist es also, die abstrakten Strukturen und Prinzipien der Rechtsordnung der breiten Öffentlichkeit so nahezubringen, dass zumindest die Grundstrukturen verstanden werden. Dabei kann es erforderlich

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Perspektiven — Kommentar

3  Vgl. o. V., Wie viel Recht in Deutschland gilt, in: Legal Tribune Online, 23.12.2022, https://tiny.one/indes223r1. 4  Vgl. Corinna Budras, Viele Juristen, weniger Unternehmer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.10.2021. 5  Vgl. allgemein Dieter Grimm & Werner Maihofer (Hg.), Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, Wiesbaden 1988.

werden, Inhalte vereinfachend zu vermitteln, anstatt mit abstrahierendem Juristensprech zu überfordern. Durch Rechtsvereinfachung und eine praxisnahe Didaktik kann der verbreiteten Kritik am und Vorurteilen gegenüber Recht (»trocken«, »zwei Juristen – drei Meinungen«) begegnet werden. BEISPIEL FÜR DAS DILEMMA BEI DER RECHTSSETZUNG Seit Ausbruch der Corona-Pandemie sind Gesellschaft, Wirtschaft. Politik und Recht enorm gefordert im Umgang mit dieser Krise.6 Die Pandemie liefert ein gutes Beispiel für die erforderliche Harmonisierung der genannten gesellschaftlichen Bereiche und deren Auswirkungen auf Vertragsbindungen.7 Hinsichtlich der Prävention von Corona-Infektionen hätte (theoretisch) grundsätzlich eine einzige Norm genügen können, etwa mit dem Inhalt: »Es besteht die Pflicht, die Ausbreitung der Corona-Infektion in angemessener Weise zu verhindern.« Bei Rechtstreitigkeiten allerdings hätte die auslegungsbedürftige Klausel »in angemessener Weise« unterschiedliche Gerichtsentscheidungen begünstigt. Konkretisierungen wiederum, etwa Abstandsregelungen, führen regelmäßig dazu, dass die exakte Grenzziehung kritisiert wird. Allerdings dürfte es praktisch unmöglich sein, die Abstandsregelungen beispielsweise auch noch in einer Matrix mit Witterungs- und Raumverhältnissen zu spezifizieren. Der Gesetz- beziehungsweise Verordnungsgeber musste sich also auch hier stets zwischen Verallgemeinerbarkeit und Präzision entscheiden – mit den geschilderten Risiken der Auslegungsfähigkeit und unvollständigen Erfassung sämtlicher Einzelfälle. Bekanntermaßen stellten die verabschiedeten Maßnahmen – quasi zwangsläufig – sämtliche Wirtschaftsbeteiligten vor erhebliche Herausforderungen und aus den unbestreitbar wichtigen Bemühungen um den solidarischen Schutz der Gesundheit folgte eine Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten und Insolvenzen. Eine nicht unerhebliche Ursache des Problems dürften die mangelnde Verständlichkeit und ungenügende Vermittlung von Rechtsvorgaben gewesen sein. Ohne das politische Vorgehen im Detail bewerten zu wollen, zeigt sich doch anhand der Pandemie, wie wichtig es ist, dass staatlich geschaffenes Recht in Wirtschaft und Gesellschaft auch »ankommt«. 6  Vgl. Josef Lindner, Zum Umgang mit Pandemien, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, H. 5/2022, S. 159–161. 7  Vgl. Daniel Effer-Uhe & Alicia Mohnert (Hg.), Vertragsrecht in der Coronakrise. Online-­Tagung im April 2020, Baden-Baden 2020.

DAS BÜRGERLICHE GESETZBUCH ALS WESENTLICHE ­R ECHTSGRUNDLAGE UNSERER GESELLSCHAFT Was die Eingriffsrechte des Staates betrifft, sind neben dem Grundgesetz diverse Verwaltungsnormen und für die Wirtschaft sogenannte Compliance-­ Regeln relevant. Fundamental für das Zusammenleben der Menschen ist allerdings das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch ( BGB). Seit mehr als 120 Jahren Andreas Gran  —  Gestärkte Demokratie durch Rechtskompetenz

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hat es ganz unterschiedliche Zeitabschnitte der deutschen Geschichte in weiten Teilen unverändert »überstanden«. Dem BGB liegt der Grundsatz der Privat­autonomie zugrunde, wonach der Staat den Bürger:innen grundsätzlich die Freiheit gewährt, ihre Rechtsbeziehungen autonom zu gestalten, indem frei entschieden werden kann, wie und mit wem Vertragsbeziehungen begründet werden. Es umfasst viele logische und hilfreiche Normen, beispielsweise die Möglichkeiten, sich beim Vertragsschluss durch Dritte vertreten zu lassen oder sich von Verträgen zu lösen. Ein Schwachpunkt der mehr als 2.000 Paragrafen sind jedoch sogenannte Generalklauseln, also Formulierungen, die eine Auslegung zulassen, wie etwa die Möglichkeit, Verträge nach »Treu und Glauben« unter Beachtung der »guten Sitten« zu schließen, was im Nationalsozialismus in schockierender Weise ausgenutzt wurde.8 Gleichwohl kann die Grundstruktur des BGB als wesentliche Gesetzesbasis weitgehend als gelungen erachtet werden, denn viele Standardprobleme bei vertraglicher Bindung untereinander sind dort logistisch erfasst und zum Zweck der Rechtssicherheit präzise vorgegeben. Allerdings ist in der Praxis zu beobachten, dass es oft an grundlegenden Kenntnissen fehlt. Beispielsweise ist vielen Menschen nicht klar, wie schnell eine vertragliche Bindung eingegangen wird, denn dazu bedarf es keineswegs per se der Schriftform. Auch haftungsrechtliche Grundlagen sind oft unbekannt. Ein weiteres Beispiel für alltägliches Streitpotenzial: Es besteht – entgegen verbreiteter Ansicht – vertragsrechtlich kein Anspruch darauf, dass ausgepreiste Ware zu dem angegebenen Preis auch verkauft wird. Erfahrungen zeigen, dass bereits einige Tage Beschäftigung mit den elementaren Regelungen des BGB genügen, um zahlreiche Missverständnisse zu vermeiden und das gesellschaftliche und wirtschaftliche Miteinander signifikant zu erleichtern. VERMITTLUNG VON RECHT Das Recht – seien es die Grundlagen des BGB oder speziellere Normen – wird der Bevölkerung auf verschiedenen Wegen nähergebracht. Durchweg ist die Effizienz dieser juristischen Bildung aber kritisch zu hinterfragen. Im Einzelnen: Bildungseinrichtungen Ein Schulfach »Recht« gibt es längst nicht überall, aber in wirtschaftliche, ethische, politische und gesellschaftliche Fächer fließen rechtliche Aspekte ein. Die Lehrenden sind allerdings in aller Regel selbst keine Jurist:innen. Des Weiteren existieren Situationen, bei denen das Verstehen von Recht zwingend

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Perspektiven — Kommentar

8  Vgl. Ingo Müller, Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit der deutschen Justiz, Berlin 2020.

vorausgesetzt wird, etwa beim Erlangen eines Führerscheins; insofern könnte man auch Fahrschulen zu Institutionen der Rechtsbildung hinzuzählen. Auf dem späteren Bildungsweg ist insbesondere eine stärkere Vernetzung der Fakultäten anzuregen. Zum Studium der Rechtswissenschaft hat der Wissenschaftsrat mit seiner Stellungnahme Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen 9 innovative Anregungen geliefert. Ebenso wie die Förderung von Studierenden der Betriebswirtschaft10 durch Jurist:innen eine wichtige Unterstützung bei der Vorbereitung auf Tätigkeiten in der Wirtschaft ist, können Rechtsvorlesungen angesichts der gemeinsamen Ziels der Wertevermittlung auch anderen Studierenden, etwa der Pädagogik und der Erziehungswissenschaft, von Nutzen sein. Im Sinne des Studium generale wäre es zudem anzuraten, die verwandten Fakultäten Sozial-, Politik- und Rechtswissenschaften stärker zu vernetzen. Voraussetzung dafür ist, dass die Rechtsbildung die Wahrnehmung als zu theoretisch ablegt und mit weitaus mehr Praxisbezug ansprechender vermittelt wird.11 Rechtsanwaltschaft Idealerweise sollten mündige Bürger:innen die wichtigsten rechtlichen Vorgaben für die Gestaltung des privaten und wirtschaftlichen Lebens kennen. Dabei steht es ihnen frei, sich juristisch selbst zu schulen oder Rechtsrat – gegen Honorar – einzuholen. Letztgenannte Aufgabe, die rechtliche Beratung, übernimmt die Rechtsanwaltschaft als sogenanntes Organ der Rechtspflege im Sinne der Bundesrechtsanwaltsordnung ( BRAO).12 Ohne Rechtsschutzver9  Vgl. Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen, Drucksache 2558–12, Hamburg 2012. 10  Vgl. Hans-Jürgen Albers u. a., Wirtschaft – Recht – ­Beruf. Wirtschaftskunde für berufliche Schulen, Haan 2020. 11  Vgl. Andreas Gran, Nutzen der Rechtskenntnis bei Wertevermittlung, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, H. 6/2022, S. 194–198 ff. 12  Vgl. Matthias Kilian, Der Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege – eine Spurensuche, in: Anwaltsblatt, H. 12/2019, S. 662–676.

sicherung allerdings ist das Einholen von Anwaltsrat im Alltag aus pragmatischer Sicht oft zu aufwändig bzw. zu teuer. Demzufolge sind Rechtskenntnisse bzw. das (Nicht-)Verfügen über rechtliche Beratung zugleich Ausdruck sozialer Ungleichheiten. Rechtsberatungsstellen oder ehrenamtliche Unterstützung können hier helfen. Zudem werden Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in aller Regel nicht pädagogisch ausgebildet. Der Schwerpunkt liegt also in der individuellen Interessenvertretung und es ist grundsätzlich nicht Aufgabe der Rechtsanwaltschaft, eigene Rechtskenntnisse quasi als Multiplikator:innen in die Bevölkerung zu tragen. Staatliche und mediale Informationen Auf politischer Ebene zeichnen sich Bemühungen ab, den Bürger:innen Recht besser zu vermitteln. Dies ist begrüßenswert, aber es bedarf weiterer Anstrengungen. Die staatlichen Informationsquellen könnten ihr Engagement durch Informationsschriften usw. noch ausbauen. Andreas Gran  —  Gestärkte Demokratie durch Rechtskompetenz

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Als hilfreich in puncto Rechtsbildung erweisen sich auch die Medien, sofern rechtliche Aspekte zutreffend und in gebotener Form verständlich vermittelt werden, seien es Gesetzesentwicklungen oder Urteilsberichte. Wichtig ist hierbei, dass eine skeptische Grundhaltung oder gar Verunsicherung nicht undifferenziert gefördert wird, denn naturgemäß sind rechtliche Probleme oft zu abstrakt und komplex, um sie plakativ zu pointieren. Die Effektivität der Vermittlung von Recht durch die Medien leidet darunter, dass rechtliche Aspekte oft nicht genügend Unterhaltungswert haben, um das Interesse der Leser:innen zu wecken. Kreative Formen der Vermittlung, wie etwa Anwaltsserien, bieten der Bevölkerung zumindest einen ersten Zugang zum Recht. Autodidaktische Bildung Auf gesellschaftlicher Ebene darf aber nicht auf externe Unterstützung vertraut werden, denn es ist auch Teil einer autonomen Lebensgestaltung, sich über die Rechtsgesellschaft kundig zu machen. Folglich ist dies auch ein Appell, den Aufwand der Beschäftigung mit rechtlichen Grundlagen nicht zu scheuen, um das eigene Leben besser gestalten zu können. Die Möglichkeit, ärztlichen Rat einzuholen, macht schließlich auch eine eigenverantwortliche Lebensweise nicht obsolet. Da Rechtskenntnisse über das Internet weitaus leichter erlangt werden können, als es früher der Fall war, bieten sich hier neue, leicht zugängliche Bildungsmöglichkeiten für Autodidakt:innen. Wirtschaft Wirtschaftsunternehmen profitieren davon, intern Schulungen zu rechtlichen Bereichen anzubieten, wie es beispielsweise bei Arbeitssicherheit und Datenschutz teilweise bereits obligatorisch ist. Indes ist es ebenfalls zielführend, in der Arbeitswelt vorhandene rechtliche Kenntnisse anzureichern und aufzufrischen, um unternehmerische Maßnahmen dahingehend abzuwägen. Wer Teil der Gesellschaft ist, hat – ungeachtet der Anforderungen an Politik, mehr Rechtsbildung zu betreiben – auch eine »Holschuld«, was Rechtskenntnisse betrifft, zumindest in zumutbarem Umfang. MISSSTÄNDE UNZULÄNGLICHER BREITENBILDUNG Sämtliche skizzierten Wege zum Erlernen von Recht sind jedoch noch längst nicht effizient genug, weshalb sich folgende Missstände ergeben: • Unzulängliche Rechtsbildung begünstigt autoritäre Strukturen aufgrund des (vermeintlichen) Bedarfs staatlicher Eingriffe infolge sozialer Konflikte, die wiederum auf unzulänglichen Rechtskenntnissen basieren. Hier wird

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typischerweise das Argument angeführt, demnach Eingriffe der Obrigkeit geboten seien, um chaotischen Entwicklungen in der Gesellschaft entgegenzuwirken, welche die Menschen nicht selbstregulierend unter Kontrolle hätten. Insbesondere mit Blick auf Herrschaftsformen anderer Länder und der deutschen Geschichte ist dies signifikant. Diesem regulierenden Anspruch autoritärer Herrschaftsformen wäre wirksamer zu begegnen, wenn gesellschaftliche und wirtschaftliche Abläufe dank Rechtskenntnissen autonom besser funktionierten und in der öffentlichen Wahrnehmung keine oder zumindest weniger herrschaftliche Eingriffe erforderten. • Weil die meisten Verbraucher:innen nicht hinreichend geschult sind, um ihr eigenes Verhalten juristisch zu bewerten und Rechtsfolgen zu antizipieren, sind unter anderem beim Verbraucherschutz staatliche Eingriffe in die Wirtschaft vonnöten. Eine umfassendere Rechtsbildung der Verbraucher:innen könnte hier Abhilfe schaffen. Erweiterte Rechtskenntnisse würden auch den Wirtschaftsunternehmen ermöglichen, kritisierte Probleme eigenverantwortlich zu lösen, beispielsweise durch einen selbstauferlegten Verhaltenskodex. Das Ideal der sogenannten Privatautonomie, also der grundsätzlich frei von staatlicher Einflussnahme bestehenden Vertragsfreiheit, kann bei Unkenntnis des BGB kaum gelingen. • Fehlendes Vertrauen in die Demokratie ist ebenfalls eine Konsequenz unzulänglicher Rechtsbildung, da es oft am Verständnis der rechtlichen Auswirkungen von Wahlentscheidungen fehlt. Würde den Wähler:innen besser vermittelt, in welchem Zusammenhang die Stimmabgabe mit der Rechtsordnung steht, könnte die Transparenz demokratischer Abläufe und damit auch das Politikvertrauen steigen. • Eingeschränkte Rechtsbildung erschwert aufgrund des Unverständnisses für Rechtsordnungen anderer Länder überdies eine weltoffene Internationalisierung13 und steht einer interkulturellen Verständigung im Weg. Wenn Rechtskenntnisse eigene und fremde Rechtsordnungen vergleichbarer machen würden, ließen sich auch zahlreiche Missverständnisse vermeiden. • Auch die Beeinträchtigung der Lebensqualität durch Unsicherheit hinsichtlich rechtlicher Auswirkungen – sei es beim Schließen einer Ehe, bei Erbschaften oder bei Vertragsbindung und Haftungsrisiken –, verbunden mit Ängsten vor Rechtskonflikten, ist Folge unzulänglicher Rechtsbildung. Umfangreichere Rechtskenntnisse würden hier für mehr Sicherheit sorgen 13  Vgl. Marian Spode, Für ein weltoffenes Deutschland, in: deutsche jugend, H. 6/2019, S. 249–256.

und Sorgen mindern. • Wegen ihrer geringen Rechtsbildung können viele Menschen Rechtsfolgen nicht antizipieren und führen aus Unkenntnis oft vermeidbare Andreas Gran  —  Gestärkte Demokratie durch Rechtskompetenz

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Rechtstreitigkeiten. Eine Folge ist die aktuelle Überlastung der Gerichte. Wer hingegen befähigt ist, die Rechtslage einzuschätzen, wird sich eher gütlich einigen. ANREGUNGEN Die aktuellen Bestrebungen, der breiten Gesellschaft Rechtskenntnisse in angemessener Weise zu vermitteln, sind nicht ausreichend. Zu deutlich treten Missverständnisse rechtlicher Grundstrukturen im Alltag hervor und erschweren eine konfliktfreie Solidarität der Menschen. Durch praxisnahe Pädagogik und empathische Erziehung kann dem entgegengewirkt werden. Konkret wäre Nachstehendes hilfreich: • Für Pädagog:innen und Erziehende ist eine frühere und breitere Vermittlung rechtlicher Grundlagen samt entsprechender eigener Kompetenzentwicklung anzuraten, unter anderem durch entsprechende Lehrplanergänzungen. • Angehörige der Rechtsanwaltschaft sollten als Lehrende stärker in die Unterstützung von Bürger:innen und Wirtschaftsbeteiligten beim Verstehen von Recht eingebunden werden. • Staatliche Bildungseinrichtungen sollten stärker gefördert werden, um etwa über die kostenlose Verbreitung juristischer Informationsmaterialien dem staatlichen Fürsorgeauftrag besser nachkommen zu können. • Journalistisch ansprechende, anschaulich gestaltete sachliche Berichte zu juristischen Themen in den Medien würden die gesellschaftliche Diskussion über rechtliche Belange fördern. • In Wirtschaftsunternehmen sollte eine intensivere Verknüpfung wirtschaftlicher Entscheidungen mit juristischen Belangen – unter anderem durch Mitarbeiterschulungen – stattfinden, was der konfliktfreien Selbstregulierung zugutekäme. • Schließlich gilt es, das autonome Bewusstsein der Bürger:innen für die Bedeutung rechtlicher Belange im Alltag und in der Wirtschaft zu stärken, unter anderem durch den Besuch öffentlicher Gerichtsverhandlungen und Autodidaktik. Ebenfalls ist die öffentliche Debatte über den Einfluss von Recht zu intensivieren. • Last, but not least bedarf es schlichtweg der Vereinfachung des kodifizierten Rechts – sowohl hinsichtlich der inhaltlichen Komplexität als auch der sprachlichen Umständlichkeit. Wenn, wie dieses Plädoyer fordert, das Rechtsverständnis der Bevölkerung verbessert werden soll, gilt es auch, die Verständlichkeit des Rechts zu verbessern.

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Prof. Dr. Andreas Gran ist Hochschullehrer in Frankfurt a. M. und Berlin sowie Rechtsanwalt. Er veröffentlicht zu rechtlichen Themen mit gesellschaftlichem, politischem und insbesondere wirtschaftlichem Bezug. Sein persönliches Anliegen ist die Überwindung von Konflikten und Intoleranz durch Bildung.

INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT Herausgeber: Prof. Dr. Frank Decker Redaktionsleitung: Katharina Rahlf (V. i. S. d. P.), Dr. Volker Best Redaktion: Jacob Hirsch, Dr. Matthias Micus, Tom Pflicke, Luisa Rolfes Praktikant der Redaktion: Till Schröter Konzeption dieser Ausgabe: Dr. Volker Best, Katharina Rahlf Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie Universität Bonn Lennéstr. 27, 53113 Bonn [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. Die Zeitschrift erscheint viermal jährlich. Es gilt die gesetzliche Kündigungsfrist für Zeitschriften-Abonnements. Die Kündigung ist schriftlich zu richten an: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Leserservice, Teichäcker 2, D-72127 Kusterdingen, E-Mail: [email protected]. Unsere allgemeinen Geschäftsbedingungen, Preise sowie weitere Informationen finden Sie unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com. Verlag: BRILL Deutschland GmbH, Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. ISBN 978-3-666-80036-8 ISSN 2191-995X © 2022 by Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-BoschBreite 10, 37079 Göttingen, Germany, an imprint of the Brill-Group (Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Germany; Brill Österreich GmbH, Vienna, Austria) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic.  www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ursula Bitzegeio Dr. Felix Butzlaff Dr. Sandra Fischer Prof. Sigmar Gabriel Prof. Dr. Alexander Gallus Hasnain Kazim Prof. Dr. Christine Krüger Dr. Astrid Kuhn Prof. Dr. Torben Lütjen Dr. Julia Reuschenbach Prof. Dr. Jürgen Rüttgers Prof. Dr. Ulrich Schlie Prof. Dr. Grit Straßenberger Prof. Dr. Berthold Vogel Ulrike Winkelmann

BILDNACHWEISE Porträt Christoph Butterwegge: Wolfgang Schmidt Porträt Frank Decker: Barbara Frommann, Uni Bonn Porträt Nina Janich: Annette Mück, Klaus Tschira Stiftung Porträt Paula Tuschling: Lisa Bössen Porträt Tilo Wagner: João Basílo Bebilderung Die Illustrationen dieser Ausgabe sind allesamt mit Coronabezug entfremdete Klassiker, ausgewählt von der Redaktion und manipuliert von Karl Rollwagen (www.karlrollwagen.com). Cover, S. 123: Jan Vermeer, Junge Dame mit Perlenhalsband S. 6: Jan Vermeer, Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge S. 32: Carl Spitzweg, Der arme Poet S. 41: Gustav Klimt, Der Kuss S. 60: Leonardo da Vinci, Mona Lisa S. 75: Samuel van Hoogstraten, Augenbetrüger-Stillleben S. 82 f.: Leonardo da Vinci, Das Abendmahl S. 96: Edgar Degas, Der Absinth S. 106, 108 f.: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Goethe in der Campagna S. 115: Pierre-Auguste Renoir, Mädchen mit Strohhut S. 138: Leonardo da Vinci, Johannes der Täufer S. 144 f.: Salvador Dali, Der Schlaf S. 156: Georges Seurat, Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte S. 165: Katsushika Hokusai, Die große Welle vor Kanagawa S. 181: Jan Vermeer, Dame mit Dienstmagd und Brief S. 188: James McNeill Whistler, Porträt der Mutter des Künstlers S. 195: Edvard Munch, Der Schrei S. 206 f.: Vincent van Gogh, Caféterrasse am Abend S. 210: Grant Wood, American Gothic S. 218: Leonardo da Vinci, Salvator mundi

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Anton Pelinka Der politische Aufstieg der Frauen Am Beispiel von Eleanor Roosevelt, Indira Gandhi und Margaret Thatcher

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Die Klimakrise läuft allen Verleugnungen und aller Ignoranz zum Trotz auf eine ökologische, ökonomische und soziale Katastrophe zu. Bestandsaufnahmen aus Klimaforschung, Geografie, Psychologie, Psychoanalyse und Medizin stellen die Frage, welche Folgen dies für die Gesundheit der Menschen schon hat und zunehmend haben wird. Besonderes Interesse gilt dabei den wachsenden Ängsten, ihren Ursachen und ihren Konsequenzen für Einzelne, für das gesellschaftliche Zusammenleben und für die Generationenverhältnisse. Die Beiträge machen deutlich: Auch im Hinblick auf die Auswirkungen der Klimakrise auf Leib und Seele und ihre Bewältigung wird sich erweisen, ob die Menschheit ausreichend Intelligenz und Entschlusskraft aufbringen kann, um ihren Fortbestand zu sichern.

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