Sozialdemokratie: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2018, Heft 03 [1 ed.] 9783666800269, 9783525301920, 9783647301921, 9783525800263


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German Pages [156] Year 2019

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Sozialdemokratie: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2018, Heft 03 [1 ed.]
 9783666800269, 9783525301920, 9783647301921, 9783525800263

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INDES Vandenhoeck & Ruprecht

Heft 3 | 2018 | ISSN 2191-995X

ZEIT SCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

Sozialdemokratie Klaus Detterbeck  Die Labour Party

unter Jeremy Corbyn  Kristina Meyer  Die Sozialdemokratie in Anbetracht des Rechtspopulismus Thomas Nowotny  Die notwendige Sozial­ demokratie  Thomas Greven  Linke Perspektiven in den USA  Christoph Butterwegge  Aufstehen

DetaillieRte, DiffeRenzieRte unD eRstmalige DaRstellung DeR DDR-KultuRgeschichte

Gerd Dietrich

Kulturgeschichte der DDR 2018. 2.494 Seiten, mit 11 Abb., gebunden in drei Bänden € 120,00 D ISBN 978-3-525-30192-0 eBook 99,99 D ISBN 978-3-647-30192-1

Die Kulturgeschichte der DDR wurde von Gegensätzen geprägt. Vor dem Hintergrund ihrer antifaschistischen bzw. sozialistischen Ideologie entstand im Spannungsfeld traditioneller Konzepte und revolutionärer Aktivismen ein weites kulturelles Feld, das unter östlichem wie westlichem Einfluss stand. In dem dreibändigen Werk, das den Kulturgeschichten der Bundesrepublik ein Pendant für die DDR zur Seite stellt, analysiert der Autor die charakteristischen Entwicklungen der Alltags- und Populär-, der politischen sowie hohen Kultur. Er erörtert die kulturelle Substanz der ostdeutschen Gesellschaft und zeichnet ein Bild des widerständigen Potentials ihrer Kultur zwischen Tradition, Innovation und Repression.

EDITORIAL ΞΞ Jens Gmeiner / Matthias Micus

Für einen Parteienforscher, so lautete schon vor Jahren ein Bonmot am Institut für Demokratieforschung, ist die Beschäftigung mit der Sozialdemokratie eine Jobgarantie. Denn in Krisenzeiten sucht die Öffentlichkeit nach Erklärungen, erschallt der Ruf nach wissenschaftlicher Expertise – und Krise ist bei der Sozialdemokratie immer. Insofern geht dem Analytiker des Sozialdemokratischen die Arbeit nie aus. Einerseits. Andererseits wiederholt sich vieles, weisen die Krisen von gestern und heute zahlreiche Ähnlichkeiten mit jenen von vor- und vorvorgestern auf. Ständig originelle, bisher unbekannte Deutungen zu ersinnen, fällt angesichts dessen nicht leicht. Das gelangweilte Schulterzucken ist die Kehrseite der Omnipräsenz. Und auch die Ankündigung des Schwerpunktes der vorliegenden Ausgabe der INDES mag bei manchem für Augenrollen und Verwunderung gesorgt haben – zu vorhersagbar das Geschriebene, zu oft gelesen, zu oft schon formuliert und diskutiert. Doch soll in diesem Heft eben nicht die in der Tat schon ermüdend oft beschworene Krise der Sozialdemokratie im Mittelpunkt stehen. Im Gegenteil wollen wir auf ihre Perspektiven und Möglichkeiten, ihre gesellschaftlichen Ressourcen und Interpretationsangebote, ja ihre Notwendigkeit verweisen – sowohl mit Blick auf die Vergangenheit als auch die Zukunft. Die Sozialdemokratie jedenfalls, so pathetisch das klingen mag, ist mehr als eine Partei – sie ist eine Vorstellung, Ideologie, Gesellschaftsform, politische Richtung, ist Wunsch und Anspruch zugleich. In ihr manifestiert sich die Hoffnung auf eine sozial gerechtere Gesellschaft und der Wille, sie herbeizuführen. Den Zielen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit haben Generationen an Aktivisten ihre gesamte Kraft und Zeit geopfert; das richtige Leben im falschen führen zu können, bauten sie ein dichtes gegenkulturelles Vereinsnetz auf. Auch Verfolgung und Zuchthaus, selbst Todesdrohungen konnten die überzeugungsstarken Anhängerkerne nicht von ihrem Glauben abbringen – ja in diesen Phasen zeigte die Bewegung ihr heroisches Gesicht. Mithin: Wie kaum eine andere politische Richtung brachte die Sozialdemokratie Idealismus hervor. Ihr historisches Wirken überragt – und ist Pfund und Last zugleich. Denn ihre einst fundamentalistischen Antriebskräfte haben sich im Zeitverlauf reformistisch erschöpft. Von der geschichtsteleologischen Ankunfts-

INDES, 2018–3, S. 1–3, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2191–995X

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gewissheit der kommunistischen Idealgesellschaft ist das tastende Suchen nach der »guten Gesellschaft« geblieben. Wenn überhaupt, denn die Erfolge sozialdemokratischer Politik haben einen Teil der Sozialdemokraten, und ihren aktiven zumal, mit den bestehenden Verhältnissen versöhnt. Sie haben sie entfremdet von jenen, die den Aufstieg nicht schafften, und an die

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EDITORIAL

Stelle grundstürzender Diesseitsutopien eine beflissene Gegenwartszufriedenheit gesetzt. Unter einem anderen Blickwinkel hat der bedeutende liberale Soziolo­ge Ralf Dahrendorf schon zu Anfang der 1980er Jahre ganz ähnlich die Normalisierung des Sozialdemokratischen mit seinem kommenden Ende assoziiert. Indem ihre Forderungen auch von den politischen Konkurrenten übernommen worden seien, habe die Sozialdemokratie, so Dahrendorf, ihren Daseinszweck erfüllt. Ihrer Ideale enteignet, ihrer Mission beraubt, ihrer Anhänger entfremdet, erscheint die Sozialdemokratie heute verstaubt, ja überflüssig. Indes mehren sich seit längerem schon die Anzeichen, dass durchaus Bedarf nach sozialdemokratischer Politik besteht, dass sich ihre Kernanliegen nicht erledigt haben, sondern in der Bevölkerung auf breite, in Umfragen von Mehrheiten geäußerte Zustimmung stoßen – dass aber die Sozialdemokratie selbst mit ihrer Politik im 21. Jahrhundert diese majoritären gesellschaftlichen Erwartungen enttäuscht hat. Dieser Deutung zufolge hat nicht die Verallgemeinerung ihrer Prinzipien die spezifisch sozialdemokratischen Parteien überflüssig gemacht, sondern die fahrlässige Abkehr von den eigenen Idealen eine moralische Leerstelle und politische Repräsentationslücke entstehen lassen – und den gesellschaftlichen Wurzelgrund der Sozialdemokratie ausgetrocknet. Man sieht schon: Ganz ohne Krise wird auch dieses Heft zur Sozialdemokratie nicht auskommen. Aber im Mittelpunkt stehen doch andere Fragen: Wie muss sich die Sozialdemokratie heute und perspektivisch positionieren? Welchen Bedarf gibt es im 21. Jahrhundert an sozialdemokratischen Inhalten? Was kann die Sozialdemokratie aus ihrer eigenen Geschichte lernen und in die eigene Zukunft mitnehmen? Und nicht zuletzt: Wie sehen die bündnispolitische Perspektiven der Sozialdemokratie jenseits der Großen Koalition aus? Ist die linke Sammlungsbewegung ein Ort sozialdemokratischer Revitalisierung? Diesen und weiteren Fragen will die vorliegende ­Indes nachgehen. Wie stets, mit einem breiten Spek­trum an Texten und Deutungen. Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre.

EDITORIAL

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INHALT

1 Editorial ΞΞJens Gmeiner / Matthias Micus

>> INTERVIEW



7  »Menschen dürfen nicht Objekte von

Entscheidungen sein«

Ein Gespräch mit Bernd Faulenbach über Traditionen, Krisen und Perspektiven der Sozialdemokratie

>> ANALYSE 20 Wehret den Anfängen

Von der notwendigen Selbstreflexion der Sozialdemokratie in Anbetracht des Rechtspopulismus ΞΞKristina Meyer

29 Die notwendige ­Sozial­demokratie

Warum Ralf Dahrendorf irrte und was es heute braucht ΞΞThomas Nowotny

45 Was die SPD braucht

Wie linker Realismus und Idealismus zusammengehen ΞΞNils Heisterhagen

49 »Erfolgreich« regierende Sozialdemokraten

Politische Aufstiegswege, Richtungs- und Kompetenzprofile ΞΞDetlef Lehnert

59 Licht am Ende des Tunnels?

Reformpotentiale der SPD durch die jüngste Beitrittswelle ΞΞMartin Grund / Pauline Höhlich / Hannes Keune

70  Kern-Axiome sozial­demokratischer

W ­ irtschaftspolitik

Eine historische Herleitung ΞΞNikolaus Kowall

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INDES, 2018–3, S. 4–5, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2191–995X

79 Auf zu neuen Ufern?

Die Labour Party unter Jeremy Corbyn ΞΞKlaus Detterbeck

89 Linke Perspektiven in den USA

Die Suche nach einem neuen sozial­demokratischen Projekt ΞΞThomas Greven

98 Auf eine Nebenrolle reduziert Die Parti socialiste in Frankreich ΞΞTeresa Nentwig

108 Die soziale Bewegung als Zielbild

Parteireformen und Gesellschafts­wandel im Gleichschritt? ΞΞFelix Butzlaff

SAMMLUNGSBEWEGUNG >> ANALYSE 118 Warum Aufstehen? Zur Zukunft linker Politik ΞΞBernd Stegemann

124 Teil der Lösung oder Teil des Problems? Die Hürden der linken Sammlungsbewegung ΞΞRobert Pausch

130 »Aufstehen«

Gegen die gesellschaftliche Spaltung und den Rechtsruck ΞΞChristoph Butterwegge

135 Linke Sammlungs­bewegung? Im Prinzip: Ja! – Aber so?! ΞΞHorst Heimann

146 Relaunch

Warum die gesellschaftliche Linke einen Neuanfang braucht ΞΞBenjamin-Immanuel Hoff

Inhalt

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SCHWERPUNKT: SOZIALDEMOKRATIE

INTERVIEW

»MENSCHEN DÜRFEN NICHT OBJEKTE VON ENTSCHEIDUNGEN SEIN« ΞΞ Ein Gespräch mit Bernd Faulenbach über Traditionen, Krisen und Perspektiven der Sozialdemokratie

Die goldene Zeit der Volksparteien scheint generell vorbei zu sein. Wieso aber geht es der Sozialdemokratie in Deutschland so viel schlechter als der Christdemokratie? Wenn man die CDU als Kontrast heranzieht, muss man berücksichtigen, dass sie die Kanzlerin gestellt hat, die zwar auch Probleme im eigenen Lager hatte, aber im Hinblick auf die Medien erhebliche Vorteile genoss. Die Sozialdemokratie in Europa, mit ihren spezifischen Ausformungen in den einzelnen Ländern, ist in eine recht umfassende Krise geraten. Ein Grund dafür ist das Dilemma, aus dem heraus alle sozialdemokratischen oder sozialistischen Parteien handeln. Sie sind in aller Regel reformistisch und gehen schrittweise vor. Dabei glauben sie meist nicht, ihren großen Zielen hinreichend nähergekommen zu sein, sind also mit ihrer Arbeit immer wieder unzufrieden. Zudem fällt es ihnen schwer, das, was sie erreicht haben – und das ist in der Regel eine ganze Menge – auch klar zu benennen. Das liegt nicht zuletzt an dem Anspruch, Emanzipation vorantreiben, etwas Größeres erreichen zu wollen. Natürlich bleibt man hinter diesen Zielen stets zurück. Ein weiteres Problem der Sozialdemokratie, in Deutschland wie Europa, besteht meines Erachtens darin, dass sie sich ihrer Mission unsicher geworden ist, die sie lange glaubte, zu haben. Dieses Denken in größeren Zusammenhängen und Zielen ist meines Erachtens in die Krise gekommen. Das hängt auch mit dem Verlust eines sozialdemokratischen Bewusstseins zusammen, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen dachte. Wo die Leute kein Gestern sehen, sehen sie auch kein Morgen mehr, sondern nur noch das Heute und das kurzfristige Handeln. Sozialdemokratisches Handeln ist aber eigentlich Handeln in Perspektive, das, solange es in die

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richtige Richtung weist, auch Rückschritte aushält. Dass ebendieses Denken in die Krise geraten ist, fand seinen Ausdruck nicht zuletzt in dem Beschluss der SPD, die Historische Kommission, und damit ein wesentliches Merkmal ihrer Identität, sich als eine langfristig agierende Emanzipationsbewegung zu begreifen, aufzugeben. Wenn der Kern sozialdemokratischer Unzufriedenheit die unzureichende Umsetzung ihrer größeren Ziele ist, Sie aber zugleich sagen, dass diese Ziele verloren gegangen sind, ist dann das heutige Problem der Sozialdemokraten, dass sie zu zufrieden sind? Das würde ich so nicht sagen. Die Gegenwart kritisch zu betrachten sowie der Wille, eine neue Gesellschaft der Freien und Gleichen gestalten zu wollen, ist durchaus tief verankert bei vielen Sozialdemokraten. Daran gemessen ist das, was erreicht wird, immer zu wenig. Zugleich ist aber auch die Fähigkeit geringer geworden, dieses Ziel durch gestaltende Politik schrittweise zu realisieren, also nicht nur auf bestimmte Herausforderungen zu reagieren. Das verbindet im Grunde genommen beide Momente. Das Ziel ist nicht mehr hinreichend deutlich und zugleich ist man unzufrieden damit, nicht weitergekommen zu sein. Die deutsche Sozialdemokratie hat in ihrer mehr als 150 Jahre umfassenden Geschichte zahlreiche dramatische Situationen erlebt, in denen die Parteiexistenz bedroht war. Relativiert dies das aktuelle Krisengerede – oder erscheint der heutige Zustand der Partei vor der Projektionsfläche vergangener Krisen sogar noch prekärer? Krisen wie die Verfolgung unter dem Sozialistengesetz oder die unter dem Nationalsozialismus haben die Partei praktisch infrage gestellt und ihre Fortexistenz unmittelbar bedroht. Die gegenwärtige Krise ist, wenn nicht existenzieller, doch zumindest besonderer Art, denn sie ist nicht ausschließlich von außen herbeigeführt. Eine äußerliche Veränderung besteht in einem gewandelten Parteiensystem mit der Linkspartei und auch den Grünen, die sich zuteilen als links verstehen. Das, was bei der Sozialdemokratie zuhause war, hat sich zum Teil aufgefächert. Auch in der Weimarer Zeit, als es eine relativ starke kommunistische Partei und noch einige Splittergruppen gab, lag die SPD bei manchen Wahlen – sieht man einmal von der Wahl zur Nationalver-

sammlung ab – nicht weit über zwanzig Prozent. Wenn weitere Linksparteien da sind, sinkt der Stimmanteil ziemlich zwangsläufig, so wie es gegenwärtig der Fall ist. Dazu kommen nun die Rechtspopulisten, die als Bewegung aufgetaucht sind und vom sozialdemokratischen Potenzial einiges wegnehmen.

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Sozialdemokratie — Interview

Dennoch sollten Sozialdemokratie und Öffentlichkeit kein zwangsläufiges weiteres Abstiegsszenario in den Vordergrund stellen. Es gibt so etwas wie self-fulfilling prophecies. Interessant ist ein wiederkehrendes SPD-Bashing, das ich seit Jahren feststelle. In Interviews wurde Merkel oftmals mit großem Respekt begegnet, wohingegen die Art, wie man mit Gabriel umging und ihm Fragen stellte, ein bisschen rotzig erschien. Die Frage ist, woraus diese Schadenfreude an der SPD resultierte. Sicherlich spielten unerfüllte Erwartungen an die Sozialdemokratie eine Rolle. Manche glaubten auch, sich über den moralischen Anspruch sozialdemokratischer Politik ärgern zu müssen. Vor diesem Hintergrund war natürlich jeder erkennbare Fehler etwas, was an einem bestimmten Bild kratzte. Sie haben von langfristigen Zielen gesprochen, von der Idee des Sozialdemokratischen. Was, würden Sie sagen, ist im historischen Längsschnitt das charakteristisch Sozialdemokratische? Ich glaube, dass es bei der Sozialdemokratie eine Identität im Wandel gibt. Wenn sie sich nicht verändert und den Gegebenheiten angepasst hätte, würde es sie auch nicht mehr geben. Dennoch gibt es Grundideen und -werte, die vom 19. Jahrhundert bis heute Bestand haben: dass Menschen weder Objekte von ökonomischen Prozessen noch Objekte von politischer Herrschaft sein sollen. Man will Menschen zu freien Subjekten machen, die über ihre Politik und Ökonomie mitbestimmen, um soziale Verhältnisse zu gestalten. Das ist der Grundimpuls, der sich auch mit dem Wunsch, eine friedliche Welt zu schaffen, verbindet. Die Sozialdemokratie war im Grunde genommen die erste richtige Demokratiebewegung. Sie hat das allgemeine Wahlrecht realisiert und als erste Partei schon im Kaiserreich das Frauenwahlrecht gefordert. Sie hat das parlamentarische System institutionalisiert und auch in Weimar versucht, Demokratie zu realisieren, und zwar nicht nur im staatlichen Bereich, sondern auch im Hinblick auf Wirtschaft und Verteilungsfragen, in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften. Dinge nicht einfach hinzunehmen, sondern durch gemeinsames Handeln zu gestalten – das ist genuin sozialdemokratisch. Insofern ist sie nicht nur Demokratiebewegung, sondern schon immer auch ökonomisch-soziale Reformbewegung, die zeitweilig glaubte, in der Abschaffung des Privateigentums die Schlüsselfrage gefunden zu haben, nicht zuletzt aber die Entwicklung dadurch prägte, dass sie den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme vorantrieb. Am Fortschritt orientiert, hat sie diesen immer wieder neu definiert. So ist beispielsweise die ökologische Frage Teil dieses Konzeptes geworden. Gespräch mit Bernd Faulenbach

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Und schließlich ist sie außenpolitisch eine Partei des internationalen Ausgleichs. Sie hat früh für Schiedsgerichte plädiert, für einen Völkerbund, für die Europäische Föderation und für eine Entspannungspolitik im Ost-WestKonflikt. Der aufkommende Populismus und Nationalismus in Deutschland und Europa kann einer Sozialdemokratie nicht gleichgültig sein. In Zeiten, in denen wir vielerorts in einen Nationalismus zurückfallen, muss eine Politik gemeinsamer Interessen, ein multilateraler Ansatz verfolgt werden. Diese verschiedenen Komponenten des historisch fundierten sozialdemokratischen Profils müssen zu einem Gesamtkonzept zusammengefügt werden, das nicht bloß die Summe vieler Einzelforderungen ist, sondern Gesellschaft umfassend zu gestalten versucht. Den Ideen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, die in modifizierter Form als Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität wiederaufgetaucht sind, ist im letzten Wahlkampf unzureichend Rechnung getragen worden. Natürlich gibt es Nachholbedarf in Gerechtigkeits- und Gleichheitsfragen, doch der umfassendste Begriff ist der der Freiheit. Gleichheit ist ein Mittel, Freiheit für die große Mehrheit zu erringen. Dafür brauchen wir wiederum gesellschaftliche Solidarität mit den Schwächeren und Sozialsysteme, die ein Absinken größerer Bevölkerungsgruppen verhindern. Diese Begriffstrias kann man sehr logisch zusammenfügen, doch wie Brandt sagte: Der höchste Begriff neben dem Frieden ist doch zweifellos der der Freiheit, einer umfassend gedachten Freiheit. Das würde ich sagen, macht Sozialdemokratie im Kern aus. Auf krachende Niederlagen reagieren Parteien oft mit Reformprozessen. Unser Eindruck ist: Seit dreißig Jahren wird von den sich avantgardistisch gebenden Reformern stets dasselbe gefordert, nämlich Öffnung, Quoten, Basispartizipation. Können solche Reformen die Revitalisierung der Sozialdemokratie bewirken? Ich bin im Hinblick auf die Wirksamkeit derartiger Reformen eher skeptisch. Bei den Reformen, die Peter Glotz damals angesetzt hat, gab es durchaus gute Ansätze, wie die Gründung des Kulturforums im Jahr 1983. Dahinter steckte die Vorstellung, kulturelle Hegemonie anzustreben und alle, die sich der Aufklärung im weitesten Sinne verpflichtet fühlten, mit der SPD in Verbindung zu bringen. In diesen Kontext gehört auch die Gründung der Historischen Kommission. »Wir dürfen unsere Geschichte nicht verschlammen lassen«, sagte Glotz plakativ. Sie sollte Mittel sein, sich der eigenen Identität zu vergewissern, ebenso wie Ressource in der öffentlichen Auseinandersetzung. Das waren konstruktive Ideen. Ich würde sagen, dass man die Kommunikationsstrukturen anschauen und auch verbessern muss. Zum Teil besteht eine gewisse Abgehobenheit

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Sozialdemokratie — Interview

des politischen Betriebes in Berlin, ein fehlender Bezug zur Bevölkerungsmehrheit, die an manchen Berliner Fragen nur bedingt interessiert ist. Die Kommunikation muss zweifellos verbessert, die Ansprechbarkeit erhöht und aufkommende Fragen auch beantwortet werden. Zudem muss man die Möglichkeiten, die das Internet bietet, stärker nutzen, sich auch neuen Kommunikations- und Diskussionsformen öffnen, um der ständig vorherrschenden Aufregung und Entrüstung etwas Rationales entgegenzusetzen. In erster Linie aber muss die Partei ihr Profil schärfen, nicht zuletzt im Hinblick auf die Zivilisierung des Kapitalismus. Und die Partei braucht eine mutigere Führung, die Trends der Gesellschaft aufgreift, die anschlussfähig ist an das, was die Menschen gerade denken oder als Problem definieren. Es gilt, die kulturellen Faktoren stärker zu nutzen. Bedeutsan ist, wie sich die Verhältnisse in den Köpfen der Menschen spiegeln. Maßnahmen zählen nicht als solche, sondern müssen erläutert und mit Sinn versehen werden. Dies gilt auch für Ostdeutschland. Wichtiger als Organisationsreformen sind diese Fragen der Programmatik, der Strategie und der realistischen Analyse der gegebenen Verhältnisse. Basispartizipation kann nicht heißen, auf die Erarbeitung durchdachter Politikkonzepte zu verzichten, mit denen die Basis sich auseinandersetzen kann. Führung und Parteiapparat sind gefragt, Diskussionen anzuregen, die zu relevanten Ergebnissen führen können. Wie würden Sie – im historischen Rückblick und Verlauf – die Position der SPD zur Europäischen Einigung beschreiben? Welche Akzente müsste die Partei diesbezüglich heute setzen? Die Europafrage ist schon sehr alt in der Sozialdemokratie. Von deutschfranzösischer Freundschaft haben die französischen Sozialisten und die deutschen Sozialdemokraten schon vor dem Ersten Weltkrieg gesprochen. Im Heidelberger Programm von 1925 stehen – wenn auch etwas unvermittelt – die Vereinigten Staaten von Europa als Ziel der Sozialdemokratie. Man wollte die nationalen Gegensätze durch Formen der Zusammenarbeit überwinden. Im Exil haben Sozialdemokraten viel über Europa gehandelt. Ein Teil der sozialdemokratischen außenpolitischen Ziele, richtete sich auf den Aufbau einer Europäischen Föderation. In der Nachkriegszeit kamen sie damit aufgrund der deutschen Teilung nicht zum Zuge. Schumacher wollte Europapolitik nur unter nationalem Vorbehalt machen. Vor Europa stand die deutsche Vereinigung. Doch es gab einige Sozialdemokraten, wie Carlo Schmid, die den europäischen Prozess positiv begleiten wollten. Auch Brandt war jemand, der sehr europäisch dachte, nicht nur ökonomisch, sondern auch Gespräch mit Bernd Faulenbach

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sozial. Mit einer Arbeitsschutzgesetzgebung versuchte man später, eine soziale Charta zu entwickeln. Einiges ist in dem Zusammenhang auf Betreiben der sozialdemokratischen Parteien in Europa auch geschehen. Dieser Prozess ist von der Sozialdemokratie mitgetragen worden, doch war er zu ausschließlich ökonomisch dimensioniert und wurde zunehmend neoliberal geprägt, mit der Tendenz, dass er dadurch auf alle möglichen Bereiche ausgegriffen hat. Alles sollte dem Markt unterworfen werden, auch Bildung, Fernsehen und Rundfunk. Diese Marktdominanz hat der europäischen Idee mit Sicherheit geschadet. Aus meiner Sicht liegt die gegenwärtige Aufgabe der Sozialdemokratie darin, eine europäische Ordnungspolitik zu machen und die Einhegung des Kapitalismus in Europa voranzutreiben, nicht in detailistischen Versuchen, Marktfragen zu klären. Es ist beunruhigend, zu sehen, dass Brüssel in vielen Ländern als eine Institution aufgefasst wird, die sie fremdbestimmt. Man muss ein Europa schaffen, in dem man koordiniert und bestimmte Rahmen setzt, auch außenpolitisch, und gegebenenfalls auch verteidigungspolitisch zusammenarbeitet. Zugleich muss es bestimmte Freiräume geben, um das wachsende Gefühl von Fremdbestimmung zu mindern, denn dies ist ein ernstzunehmendes Problem. In manchen Bereichen, wie dem Sicherheitsbereich, vor allem im Kampf gegen Terrorismus und Bandenkriminalität, ist gemeinsames Handeln ebenso notwendig wie im Verteidigungsbereich und in Grundfragen des gemeinsamen Marktes und der Finanzpolitik. Für ein solches Europa muss das Europäische Parlament ein wirkliches Parlament werden, mit einer Zusammensetzung entsprechend der Bevölkerungszahlen. Dort gibt es aktuell eine erhebliche Verzerrung. Stimme ist nicht gleich Stimme. Und es braucht Initiativrecht. Dass das Europäische Parlament keine Gesetzesinitiativen starten kann, ist geradezu vorsintflutlich. Gegengewichte eines zu starken Zentralismus kann man anderweitig schaffen. Das muss nicht anhand der Blockade des Parlaments passieren, sondern kann über den Europäischen Rat und dortige Mindestanteile der Zustimmung geregelt werden, die notwendig sind, um bestimmte Gesetze gültig werden zu lassen. Doch das Parlament muss als solches arbeiten können. Die wahre Gestaltung Europas ist aus meiner Sicht durchaus auch eine intellektuelle Herausforderung. Mir scheint z. B. der Begriff Vereinigte Staaten von Europa als realistisches Ziel in einem überschaubaren Zeitraum eher missverständlich zu sein, denn man muss mit Blick auf die Frage eines europäischen Geschichtsbewusstseins bedenken: Europa hat eine lange Geschichte.

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Sozialdemokratie — Interview

Und so haben die europäischen Länder alle ihre eigenen Geschichten und erzählen sie entsprechend. Sie wollen ein Stück weit eigenständig bleiben. Insofern gilt es einerseits, eine europäische, politische Kultur zu entwickeln. Andererseits werden die unterschiedlichen Kulturen nicht völlig verschwinden, jedenfalls nicht in überschaubarer Zeit. Dieses Europa wird ein vielfältiges Europa bleiben müssen, wenn sich die Leute nicht fremdregiert fühlen wollen. Es muss Bereiche geben, in denen die kulturelle und historische Unterschiedlichkeit zum Ausdruck kommt. Das sind Fragen, die man offener diskutieren sollte. Steht der von Ihnen skizzierte Staatenbund, angesiedelt zwischen lose verkoppelter Anarchie und Bundesstaat, mit vielen Freiräumen für die einzelnen Staaten aufgrund unterschiedlicher Vergangenheiten und kultureller Prägungen, nicht im Widerspruch zu einer – von Ihnen auch geforderten – Stärkung des europäischen Parlaments? Ich würde den Begriff des Staatenverbundes (Begriff der BVG-Rechtsprechung) auf absehbare Zeit für tragfähig halten. Einiges geht in Richtung eines Bundesstaates, obgleich es rein rechtlich immer noch die Einzelstaaten sind, die in vieler Beziehung das letzte Entscheidungsrecht haben. Doch man kann die Außen-, Verteidigungs- oder innere Sicherheitspolitik stärker vergemeinschaften, was ich für notwendig halte. Andererseits gibt es insbesondere den kulturellen Bereich, auch den der Bildung, wo man etwa Schulabschlüsse und Universitätsabschlüsse abstimmen, ansonsten jedoch Freiräume bewahren muss, um kreativ zu bleiben. Man kann Bereiche als europäisch deklarieren, in denen wir eine europäische Rahmengesetzgebung für sinnvoll halten, in denen jedoch nationale und regionale Gestaltungsräume bleiben. In bestimmten Bereichen sollte die Europäische Union und auch das Parlament in besonderer Weise handeln können, in anderen würde ich eine gewisse Kompetenz der Einzelstaaten erhalten, vielleicht sogar an diese zurückgeben. Kommen wir zu einem anderen Kern des Sozialdemokratischen – der Arbeiterschaft. Sind die neuen Unterschichten unwiderruflich an die politische Rechte verloren? Oder kann und soll die SPD sie zurückgewinnen? Die Sozialdemokratie sollte durchaus versuchen, Teile der neuen Unterschichten zurückzugewinnen, wenngleich dies nur in einem längeren Prozess möglich sein wird. Folgende Punkte wären in dem Zusammenhang wichtig: Die Sozialdemokratie muss sich dafür einsetzen, dass das untere Drittel der Gesellschaft nicht weiter von der Wohlstandsentwicklung abgekoppelt wird. Gespräch mit Bernd Faulenbach

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Ich halte es für denkbar, den Mindestlohn weiter anzuheben, ohne dass die Wirtschaft nachhaltig erschüttert wird. Finanz- und Einkommensverhältnisse müssen so geregelt sein, dass auch die unteren Schichten profitieren können. Außerdem muss im Bereich des Wohnungsbaus etwas passieren, ebenso wie in der Rentenfrage, gerade für diejenigen, die keine nennenswerte Betriebsrente haben oder nicht in der Lage sind, eine zusätzliche Rente anzusparen. Es müssen Regelungen geschaffen werden, die sicherstellen, dass auch diese Menschen später einmal eine Mindestrente und damit eine gewisse Sicherheit haben. Bestimmte sozialpolitische Dinge, die gerade im unteren Drittel eine Rolle spielen, sind bedeutsam. In diesem Zusammenhang von Relevanz ist das Bemühen von Hubertus Heil, die Langzeitarbeitslosen – die zum Teil in diesem Segment liegen – mit einem aufwändigen Projekt in Arbeit zu bringen. Wenn es funktioniert wie gedacht, ist das ein Signal in diese Richtung. Ein weiterer Aspekt ist die Globalisierung, die nicht bloß nachzuvollziehen ist, sondern auch gestaltet und eingehegt werden will. Dies kann man, sofern erfolgreich über einige Jahre umgesetzt, auch dem unteren Drittel der Bevölkerung darstellen und die Gründe einzelner Maßnahmen erläutern. Dazu gehören auch Sicherheitsfragen, die man im Hinblick auf die Sorgen der Bevölkerung vor Überfremdung, aber auch vor Einbrüchen und solchen Dingen, ernster nehmen muss. Zuletzt muss man auch der Frage der Kultur Beachtung schenken. In der Unterschicht ist die Kenntnis von Fremdsprachen im Allgemeinen nicht verbreitet, was selbst im Alltag zu Problemen führt, die sich bei einem hohen Anteil von Ausländern verschärfen. Im Umfeld der Universität, wo möglicherweise Menschen aus zwanzig Nationen zusammenkommen, mag vieles – auf der Basis von Englisch – funktionieren. Doch wenn es, etwa in Schulen, eine oder zwei Minderheiten gibt, die womöglich die Hälfte der Schülerinnen und Schüler ausmachen, entstehen Probleme, die man ernst nehmen muss. Die Mehrheitsgesellschaft kann erwarten, dass auch ihre Kultur ein Stück weit respektiert wird, ohne als fremdenfeindlich denunziert zu werden, wenn sie diese verteidigt. Natürlich ist ein Teil der Leute in dieser Frage verbohrt und sieht die Ursache aller Probleme in der Migration. Diese Menschen sind nur schwer zurückzuholen, doch durch ein Maßnahmenbündel glaube ich, auch diese Gruppe auflockern zu können. Man muss nicht in allen Punkten identische Positionen haben, doch man muss voneinander wissen, die Legitimität der Anliegen des Anderen erkennen und das Gemeinsame zu akzentuieren versuchen. Das ist möglich, braucht jedoch Zeit. Problematisch ist, dass ein Teil des Proletariats sehr vereinzelt

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Sozialdemokratie — Interview

ist – wenn man zum Beispiel an die hohe Zahl alleinerziehender Frauen denkt. Man müsste in diesem Bereich den Versuch machen, Solidar- oder auch Kommunikationsstrukturen zu entwickeln, die helfen, dieses neue Proletariat wieder in die Gesellschaft zurückzuführen. Zahlreiche Autoren sagen, von der Arbeiterkultur ist nur noch die Armut geblieben. Armut führt jedoch zu Rückzug, Abgrenzung und Feindseligkeit anstelle von Solidarität und Engagement. Wie können Solidarstrukturen aufgebaut und damit Toleranz und Offenheit gefördert werden? In den Stadtteilen funktioniert manches durchaus. Ganztagsschulen helfen beispielsweise alleinerziehenden Müttern. Wenn die sozialen Strukturen intakt sind, ist einiges möglich. Die sozialen Umfelder können dort vieles bewirken. Die Leute müssen eine Anlaufstelle haben sowie das Gefühl, ihre Situation bewältigen zu können. Das muss systematisch von kommunaler Seite angegangen werden. Einerseits müssen wir die Alleinerziehenden finanziell besserstellen, dann aber ihnen mit sozialen Strukturen helfen, was auch Beratung einschließen muss. Bedeutsam ist vor allem praktische Nachbarschaftshilfe zu entwickeln, möglichst mit den Schulen als Zentrum für die Kinder. Auch Kindergärten sind hierfür geeignet. Gilt mittlerweile auch für die Sozialdemokratie das Schmidt-Diktum, wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, oder braucht die Sozialdemokratie eine neue Vision für das 21. Jahrhundert? Wenn ja, wie muss diese aussehen? Zunächst: Schmidt hat bestritten, diesen Ausspruch jemals getätigt zu haben. Den Begriff der Vision halte ich für anspruchsvoll und vage zugleich. Gewiss braucht die Sozialdemokratie größere Ziele, an denen sie die Politik ausrichtet und die so etwas wie ein Zukunftsbild formen. Da sind einmal bestimmte Gemeinschaftsaufgaben, die als Ziel unstrittig sein müssen, wie Infrastruktur-, Energie-, Klima- oder Bildungspolitik; hier kommt es auf die Ausgestaltung an. Daneben gibt es das größere Ziel der Zivilisierung des Kapitalismus. Menschen dürfen nicht reine Objekte von Entscheidungen sein. Wir können den Kapitalismus meiner Ansicht nach nicht vollkommen überwinden. Ohne Marktmechanismen kann man sich Gesellschaft schwer vorstellen, doch Kapitalismus kann gezähmt werden. Außerdem gehört zu dem Bild, das Sozialdemokraten von der Zukunft haben, eine Gesellschaft, in der es gute Arbeit gibt. Menschen brauchen sinnvolle Tätigkeiten und es gibt viele Aufgaben, die in dieser Gesellschaft, Gespräch mit Bernd Faulenbach

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insbesondere im Sozialen, aber auch im Umweltbereich und in vielen weiteren Bereichen, zu machen sind. Zu guter und sinnvoller Arbeit als einem Zukunftsbild der Sozialdemokratie gehört auch ein System sozialer Sicherheit, nicht in dem Sinne, dass der Einzelne keine Verantwortung trägt, doch Menschen dürfen nicht ins Bodenlose fallen. Dazu kommt, wie schon gesagt, ein Europabild, das die Gemeinsamkeiten pflegt, aber die Legitimität nationaler Kulturen nicht per se infrage stellt, bei allen Versuchen, so etwas wie eine europäische, politische Kultur zu entwickeln. Nicht zuletzt sind Anforderungen an die digitalisierte Welt zu formulieren, in der es eine Eigengewichtigkeit von Bildung und Kultur geben muss. Wir brauchen eine ernsthafte Diskussion darüber, was Bildung heute eigentlich meint. Worin soll sie, jenseits von Markt und Utilitarismus, bestehen? Alle diese Dinge, zu denen noch einige Komplexe wie die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen gehören, machen, um nicht Vision zu sagen, ein Leitbild aus, wie man Gesellschaft entwickeln will. Klassenpartei, Volkspartei, Quotenpartei – so haben Peter Lösche und Franz Walter in den 1990er Jahren plakativ die Entwicklung der SPD zusammengefasst. Was für eine Partei sollte die SPD heute zu sein anstreben? Das Buch war damals ein Versuch, in der SPD Diskussionen anzuregen. Wohl am ehesten könnte ich mit dem Begriff der Volkspartei arbeiten, der sich schließlich mit dem Anspruch verbindet, ein Gesamtkonzept zu entwickeln. Ein besonderes Maß an sozialer Verantwortlichkeit gehört zu den Genen der Sozialdemokratie. Die breiten arbeitenden Bevölkerungsschichten und Teile des aufgeklärten Bürgertums möchte man nach wie vor zusammenbringen und ich glaube, dass das vielerorts auch möglich ist. Ein Teil des aufgeklärten Bürgertums möchte gesellschaftlichen Zusammenhalt erreichen und verortet sich in der Sozial­demokratie. Im weitesten Sinne benachteiligte Gruppen tendieren ebenfalls zur Sozialdemokratie, dennoch ist die SPD mehr als ein Bündnis von Minderheiten. Dort ist man weitergegangen, auch im Erscheinungsbild. Es war längst überfällig, dass man etwa Homosexuelle in dieser Gesellschaft ernstnahm, die Legitimität ihrer Lebensweise anerkannte. Dennoch war zum Beispiel die Ehe für alle aus Sicht des Großteils der arbeitenden Bevölkerung nicht der große Fortschritt der letzten Legislaturperiode. Hinter den durchaus legitimen Minderheitenthemen dürfen die Fragen der großen Mehrheit der Bevölkerung, sozialer und kultureller Natur, nicht zurückbleiben.

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Sozialdemokratie — Interview

Im Zeichen der Zähmung des Kapitalismus sind jedenfalls sowohl die arbeitende Bevölkerung als auch bürgerliche Schichten für die SPD zu gewinnen. Für die breiten arbeitenden Schichten, so sehr sie enthomogenisiert sind, muss die Sozialdemokratie der wichtigste Adressat sein; allerdings kann sie nicht mehr die alte Arbeiterpartei sein. Arbeitgeber und viele kleine Selbstständige sind mindestens so stark gefährdet, ins Proletariat abzusinken wie Teile der Arbeitnehmerschaft. Viele kleine Existenzen haben früher ihren Ort in der Sozialdemokratie gefunden. Wer eine abgehobene Mittelstandsideologie vertritt, ist wohl nicht in der Sozialdemokratie zuhause, doch es gibt viele aufgeklärte Leute, die in ihren Kleinbetrieben beispielsweise mit Formen von Gewinnbeteiligung experimentiert haben – was aktuell etwas aus der Mode gekommen ist. Dennoch bin ich optimistisch, dass man Teile des öffentlichen Dienstes und auch kleinere Selbstständige dauerhaft an die SPD binden kann. Die Einführung der Quote war meines Erachtens Mittel, um die Emanzipation der Frauen und Gleichberechtigung innerhalb der Partei zu bewirken. Die Quote selbst sehe ich eher als begrenztes Instrument denn als demokratischen Mechanismus an, schließlich können Quoten die Demokratie einschränken. Brandt sagte, die SPD müsse das mittlere und untere Drittel miteinander verbinden. Ist die Volkspartei heute, im Kontext gesellschaftlicher Individualisierung, Pluralisierung und Fragmentierung überhaupt noch möglich? Insbesondere auf der programmatischen Ebene sollte man versuchen, gemeinsame Themen zu entwickeln. Sichere Rente ist zum Beispiel ein Interesse aller, wenn auch für manche dringlicher als für andere. Ebenso die Wohnungsfrage. Natürlich bleibt ein besonderes Verhältnis zu den arbeitenden Schichten. Auch das Verhältnis der SPD zu den Gewerkschaften hat sich inzwischen wieder erheblich verbessert. Diese haben immer noch eine bedeutsame Rolle, auch wenn sie nicht mehr so stark sind wie in den 70er-Jahren. Die Arbeitnehmerorganisationen haben eine natürliche Nähe zur Sozialdemokratie. Es ist nicht leicht, die enthomogenisierte Arbeitnehmerschaft zu gewinnen, doch über bestimmte sozialpolitische Fragen ergeben sich nach wie vor Möglichkeiten. Zugleich gibt es in der Gesellschaft extreme Formen von Ungleichheit, die man nicht ohne Weiteres hinnehmen kann. Das gilt auch für Teile des Bürgertums. Außenpolitisch braucht man ein Ziel wie ein aufgeklärtes Modell von Europa, das dann inszeniert wird. Ich denke, für das Ziel, sich für die internationale Ordnung einzusetzen anstatt dem Nationalismus oder Trumpismus das Wort zu reden, lassen sich Menschen gewinnen. Es lässt sich sogar ein Gespräch mit Bernd Faulenbach

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deutscher Auftrag formulieren für eine Politik, in der die Zusammenarbeit zwischen den Nationen und die vernünftige Konfliktregelung durch multilaterale Organisationen bewusst gefördert werden. Dazukommen muss ein überzeugendes Personaltableau. Zur Zeit der Wahl Brandts hat man noch Kandidaten aufgestellt, die breite gesellschaftliche Gruppen repräsentierten. Es gibt vielfältige Möglichkeiten, ein Personaltableau aufzustellen, das über einen einzigen Kanzlerkandidaten hinausgeht, der schließlich allein als Identifikationsmittel nicht ausreicht. Der SPD mangelte es bei den letzten Wahlen an Professionalität und Vorbereitung. Eigentlich liegt auf der Hand, dass nicht weitergemacht werden kann wie bisher. Stellt die Wagenknecht-Lafontainsche Sammlungsbewegung eine Chance oder im Gegenteil eine Gefahr für die Sozialdemokratie im Speziellen, die linken Parteien im Allgemeinen dar? Ich teile die Hoffnungen, die damit bei einigen Leuten verbunden sind, nicht. Die Sammlungsbewegung scheint mir ein Versuch zu sein, die Probleme der Linken zu lösen, jedoch sehe ich die Gefahr, dass eine weitere linke Gruppierung entsteht. Dafür spricht die historische Erfahrung mit jenen Gruppen, die vorhandene Parteien überlagern oder zusammenbringen wollten, wie etwa der Internationale Sozialistische Kampfbund in der Weimarer Zeit und anschließend bestimmte Exilgruppen. Sie wurden alle mit großem Anspruch gegründet und schließlich zu gesonderten Gruppen, jenseits des Gegensatzes von Sozialdemokraten und Kommunisten. Mit Aufstehen könnte also eine neue Gruppierung entstehen, die die Linkspartei ebenso stören wird wie die Sozialdemokratische Partei, die ich auch aufgrund der Personalstruktur und der Galions­figuren, nur für bedingt zukunftsfähig halte. Wagenknecht und Lafontaine gehörten zu denjenigen, die ausgesprochen negativ auf die SPD fixiert waren. Ich traue ihnen die Offenheit nicht zu, die man braucht, um eine Bewegung zu initiieren, die die bisherigen Strukturen überformt und vielleicht auf die Dauer ersetzt. Dafür müssten sie die Eigengewichtigkeit der anderen anerkennen und auch sehen, dass die SPD eine Partei mit mehreren, sehr verschiedenen Flügeln ist. Und sie müssten mit der SPD wie sie ist und nicht mit einer, wie man sie gerne hätte, zusammenarbeiten. Teile der Grünen, die eher zur Mitte tendieren, sind ohnehin nicht zu gewinnen. Das Ganze ist meines Erachtens ein Versuch, der nicht gelingen kann.

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Sozialdemokratie — Interview

Odo Marquard, nicht gerade ein sozialdemokratischer Fahrensmann, hat einmal einen Essayband herausgebracht mit dem Titel »Zukunft braucht Herkunft«. Braucht es für die Zukunft der Sozialdemokratie mehr Tradition? Aus meiner Sicht muss die Sozialdemokratie gerade in der heutigen Situation sich durch Rückbesinnung auf die Geschichte ihrer Identität vergewissern. Ich glaube, dass die sozialdemokratischen Werte und auch bestimmte Traditionen heute noch tragfähig sind, doch müsse sie vor dem Hintergrund neuer Gegebenheiten neu interpretiert werden. Eine genuine Frage der Sozialdemokratie war, wie gesagt, die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus und dessen Einhegung. Weitere Impulse sind, Demokratie zu fördern, soziale Sicherheit auszubauen, den Bildungsbegriff weiterzuentwickeln. Auch, die europäische Linie intelligent fortzuführen, ist tief in der sozialdemokratischen Tradition verwurzelt, wenngleich es der Partei in den letzten Jahrzehnten nicht ausreichend gelungen ist, die Wählerschaft in diesem Thema mitzunehmen. Im Kern sind diese wesentlichen Gedanken alle in der sozialdemokratischen Tradition enthalten. Die dahinterstehenden Werte müssen allerdings benannt werden, die gegenwärtige Situation muss analysiert und die Konzepte auf die gegenwärtige Situation bezogen werden. Vor der Folie der Leitbilder, die ich genannt habe, ist meines Erachtens in der Tat eine neue Zukunft möglich. Das Interview führten Matthias Micus und Alexander Deycke.

Prof. Dr. Bernd Faulenbach, geb. 1943, ist Historiker an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Von 1989 bis zu ihrer Auflösung im Juli 2018 war er Vorsitzender der ­Historischen Kommission beim SPD-Parteivorstand.

Gespräch mit Bernd Faulenbach

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ANALYSE

WEHRET DEN ANFÄNGEN VON DER NOTWENDIGEN SELBSTREFLEXION DER SOZIALDEMOKRATIE IN ANBETRACHT DES RECHTSPOPULISMUS ΞΞ Kristina Meyer

Im Januar 2016 riefen drei Essener SPD-Ortsvereine unter dem Motto »Genug ist genug – Integration hat Grenzen. Der Norden ist voll« zu einem »Lichtermarsch« auf. Ihr Anliegen: Mehr als zwei Drittel der in Essen untergebrachten Flüchtlinge seien in nördlichen Stadtteilen angesiedelt worden – ausgerechnet dort, wo der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund mit vierzig Prozent ohnehin bereits sehr hoch liege, ebenso wie die Zahl von Menschen in prekären sozialen Verhältnissen. Die Jusos riefen zum Boykott der Veranstaltung auf, Ministerpräsidentin Hannelore Kraft erklärte, solche Aktionen schadeten dem Ansehen ihrer Partei, die für eine offene und vielfältige Gesellschaft eintrete. André Stinka, Generalsekretär der SPD in Nordrhein-Westfalen, sagte den Marsch nach einem Treffen mit den drei Ortsvereinen ab: Es sei »eine vollkommen falsche Botschaft« an die Bevölkerung gesendet worden, außerdem habe man befürchtet, dass AfD und NPD den Marsch als »Plattform« nutzen würden.1 Vier Monate später beendete der 46-jährige Essener Bergmann Guido Reil, einer der Befürworter des Protestlaufs, nach 26 Jahren seine Mitgliedschaft in der SPD und trat der AfD bei. Die SPD habe den »Kontakt zu normalen Menschen, zum praktischen Leben« verloren, erklärte Reil: In den Führungsriegen der Partei würden nur noch Akademiker akzeptiert. Er selbst bezeichnet sich als »national denkenden, sozialen Demokraten«, als einen, »der dagegenhält und auf Distanz zum Establishment bleibt«.2 Der »Überläufer« Reil ist kein Einzelfall. Aus vielen Ecken der Republik, vor allem aber aus dem Stammland der Sozialdemokratie an Rhein und Ruhr,

1  Reiner Burger, Flüchtlingspolitik und SPD. Bloß keine falschen Signale senden, in: Frankfurter ­Allgemeine Zeitung, 24.01.2016.

ist von Parteiübertritten und Wählerwanderungen langjähriger SPD-Anhänger zur AfD zu hören. Die vorgebrachten Beweggründe gleichen sich: Ängste würden von der Partei nicht ernst genommen, Einwände gegen die

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INDES, 2018–3, S. 20–28, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2191–995X

2  Daniel Godeck u. Horand Knaup, Stachel im Fleisch, in: Der Spiegel, 18.03.2017.

kommunale Flüchtlingspolitik automatisch abgeblockt und moralisierend in die »rechte Ecke« gestellt, und ohnehin vertrete die SPD längst nicht mehr die Interessen der »kleinen Leute«. Warum kehren Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die jahrzehntelang in der SPD aktiv waren, ihr plötzlich den 3  So eine Studie des Leipziger Soziologen Holger Lengfeld; vgl. Martin Machowecz im Interview mit Holger Lengfeld, »Keine ›kleinen Leute‹«, in: Die Zeit, 22.06.2017. 4  Godeck u. Knaup; Leila Al-Serori u. Hannah Beitzer, Wählerwanderung. Neue Heimat rechts, in: Süddeutsche Zeitung, 28.09.2016. 5  Liane Bednarz, Bei AfD-Hardlinertreffen zeigt sich, wie radikal die Partei wirklich ist, in: Huffington Post, 07.08.2018, URL: https://www.huffingtonpost. de/entry/bei-afd-hardliner-treffen-zeigt-sich-wie-radikal-diepartei-bereits-ist_de_5b66ac86e4b0b15abaa40703 [eingesehen am 12.11.2018]. 6  Albrecht von Lucke, Volksparteien im Visier. Der Angriff der AfD, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 4/2016, S. 5–8, hier S. 6. 7  Thomas Meyer, Kommunitaristen, Kosmopoliten und die »verlorene Arbeiterklasse«, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, H. 3/2017, S. 37–41, hier S. 40; vgl. auch Marc Saxer, Utopie, Technokratie, Kampf, in: Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte, H. 11/2013, S. 51–56, hier S. 52 f. 8  So Alexander Gauland in einer Rede beim Kyffhäusertreffen 2017.

Rücken und unterstützen stattdessen eine Partei, in der völkisch-nationalistisches Gedankengut, ein exklusives Verständnis gesellschaftlicher Solidarität und revisionistische Geschichtsbilder vertreten werden? Wie reagiert die SPD bislang auf diese Abwanderungsbewegung – und könnte ein Blick zurück in die Parteigeschichte für den Umgang mit der AfD womöglich lehrreich sein? »KÜMMERERPARTEI« STATT »KLEINPARTEI«: WECHSELMOTIVE Für die Krise der Volkspartei SPD bedeutet der Aufstieg der AfD eine weitere Verschärfung. Obgleich die AfD keineswegs nur »Abgehängte« anzieht und ihre Mitglieder gebildeter und wohlhabender sind als häufig angenommen,3 wirbt sie aus der SPD-Anhängerschaft vor allem die mit Abstiegsängsten konfrontierten Arbeiter und einfachen Angestellten ab.4 Von einer einst neoliberalen Anti-Euro-Partei hat sich die AfD längst zu einer rechtspopulistischen Bewegung entwickelt, die über das Thema »soziale Gerechtigkeit« zunehmend auch traditionell linke Wähler zu erreichen versucht. Auch wenn die Konzepte der AfD zur Renten- und Steuerpolitik keinerlei Orientierung an den Nöten der »kleinen Leute« erkennen lassen, arbeitet die Partei an ihrem Image als neue Kümmererpartei. Beim »Kyffhäusertreffen« des neurechten Flügels seiner Partei im Sommer 2018 erklärte Björn Höcke, die AfD werde den Linken mit der »sozialen Frage« bald »das Kronjuwel abjagen«.5 Derweil befindet sich die SPD auf dem Weg zur »Kleinpartei«, und dies nicht nur im Osten der Republik: Nach dramatischen Verlusten bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg 2016, wo sich das Wahlergebnis jeweils halbierte und die Sozialdemokraten hinter den Rechtspopulisten landeten, sprach Albrecht von Lucke mit Blick auf die AfD von einer »Überlebensfrage« für die SPD – »nämlich als Volkspartei«.6 Ihre jahrzehnte­ lang wirksamen »Bindekräfte« seien vielerorts verloren gegangen, so Thomas Meyer, Chefredakteur der Neuen Gesellschaft, und »auf verquere Weise von den Rechtspopulisten ersetzt worden«. Den »Identitäts-Kommunitaristen« der AfD gelinge nicht nur das Abwerben vormaliger SPD-Wähler, sondern »allmählich auch deren kulturelle Einbindung in neu entstehende Milieus«.7

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So Björn Höcke während einer Rede in Dresden im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Dresdner Gespräche«, welche von der Jungen Alternative (JA) organisiert wurde.

Wer nach langjähriger Verbundenheit mit der SPD nun die AfD unterstützt, der tut dies vermutlich nicht, weil er die »Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen«8 endlich gewürdigt sehen will oder die Legitimität eines »Denkmals der Schande«9 hinterfragt. Wähler mit solchen Kristina Meyer  —  Wehret den Anfängen

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Enttabuisierungs- und Relativierungsbedürfnissen strömen der AfD wohl eher von den Erben der »Stahlhelmfraktion« am rechten Rand der Unionsparteien zu. Unter den Anhängern der SPD sind es vor allem die seit der Agenda 2010 Enttäuschten, deren Groll nun in der »Flüchtlingskrise« einen Katalysator und Kristallisationspunkt gefunden hat und in aktiven Protest umgeschlagen ist. Hinzu gesellen sich weitere Motive für den Wechsel: Begeisterung für die rebellische Anti-Mainstream-Pose der AfD, Gefallen an einem kollektiven Outsider-Gefühl, aber auch schlichte Karrierechancen in einer neuen Partei, die mit jedem weiteren Einzug in Parlamente von der Kommunal- bis zur Bundesebene viele neue Posten und Pöstchen zu besetzen hat.10 Völkisch-nationalistische Stimmen, die nach dem Ende der Ära Lucke und dem Abgang von Frauke Petry in der AfD immer lauter geworden sind und inzwischen weit über den rechtsnationalen Flügel um Björn Höcke und André Poggenburg hinausschallen, werden von SPD-Renegaten zwar meist nicht gutgeheißen, aber kleingeredet. ANGSTDISKURSE UND IHRE VERSCHIEBUNGEN Betrachtet man die Reaktionen prominenter Sozialdemokraten und parteinaher Fachleute auf den Aufstieg der AfD seit 2013/14, so bestimmt die Formel »Gelassenheit, Widerspruch und Wachsamkeit«11 den Tonfall. Gefordert wird stets eine Differenzierung zwischen dem Umgang mit der Parteiorganisation und dem mit ihrer Anhängerschaft – vor allem mit Blick auf die Frage nach den Motiven der AfD-Wähler sowie den Bedingungen ihrer Rückeroberung. Bei etwa der Hälfte von ihnen handelt es sich nach Erkenntnissen der Wahlforschung um »Unbelehrbare« und »Überzeugte«, bei der anderen

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Vgl. Godeck u. Knaup.

Hälfte um »Protestwähler«, die umzustimmen möglich sei.12 Fixpunkt des sozialdemokratischen Diskurses über diese AfD-Protestwähler ist der Begriff der Angst: Für viele Menschen sei die »Angst vor Verschlechterung […] zentrales Lebensgefühl« geworden, so Sigmar Gabriel Anfang 2016, und die Flüchtlingssituation habe den damit verbundenen »Vertrauensverlust in das demokratische System« verstärkt. Statt darauf ausschließlich mit Abweisung zu reagieren, solle sich die SPD »mit den Motiven dieser wachsenden Entfremdung auseinandersetzen«. Gefragt seien daher eine »Dialogoffensive und politische Angebote der SPD an diejenigen, die nicht rechtsradikal sind, sich aber dennoch abgewandt haben von unserer Demokratie und die sich in den politischen und wirtschaftlichen Elitendialogen längst nicht mehr wiederfinden.«13 Zugleich müsse unmissverständlich klargemacht werden, dass die von der AfD betriebene »national-chauvinistische Perversion des Solidaritätsgedankens, nämlich: Solidarität nur unter Deutschen und Ausschluss

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Sozialdemokratie — Analyse

11  Thomas Oppermann, Fremde Federn, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.02.2018; Vgl. auch Jasper von Altenbockum, Wer hat Angst vorm Dämon AfD?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.05.2016. 12  Vgl, z. B. Hans-Joachim Schabedoth, Die Zuspitzung muss jetzt beginnen, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, H. 7–8/2016, S. 74 ff., hier S. 75 f. 13  Sigmar Gabriel, Deutschlands Zukunft schreiben, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, H. 1–2/2016, S. 63–66, hier S. 64.

aller anderen« von den wahren Ursachen sozialer Probleme ablenke und nichts zu deren Lösung beitrage.14 Die nicht nur von Gabriel kritisch beäugte Diskursverschiebung »vom Sozioökonomischen weg und hin zum Soziokulturellen«15 findet auch Widerhall in der SPD: Wolfgang Thierse forderte mehrfach, gerade die kulturell begründeten Ängste der Menschen ernst zu nehmen, denn diese seien das Hauptmotiv für eine Wahlentscheidung zugunsten der AfD: »Das Gefühl breitet sich aus, fremd zu werden im eigenen Land.«16 Da diesen »Entheimatungsbefürchtungen« vieler Deutscher nicht mit »Beschimpfungen« und »Gesprächsverweigerung« beizukommen sei,17 solle die SPD »damit aufhören, kulturelle Identitätsfragen« und Debatten über den Heimatbegriff »arrogant abzuwehren«.18 Noch weiter vor wagte sich im Sommer 2016 Michael Bröning, Mitarbeiter der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung und Autor des Bu14  »Der Wut eine Stimme geben«, SPIEGEL-Gespräch SPD-Chef Sigmar Gabriel, in: Der Spiegel, 14.05.2016. 15  René Cuperus, Keine internationale Solidarität ohne nationale Solidarität. Wie soll die Sozialdemokratie auf die AfD reagieren? Eine Replik, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, H. 3/2017, S. 49–55, hier S. 52; vgl. auch Thomas Meyer, Ein neues sozialdemokratisches Jahrhundert, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, H. 7–8/2016, S. 4–8. 16  Wolfgang Thierse, Leitkultur? Kulturelles Selbstbewusstsein!, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, H. 11/2017, S. 30–34, hier S. 31. 17  Wolfgang ­Thierse, Zwischen Ängsten und Ressentiments, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, H. 3/2015, S. 12 ff., hier S. 12. 18  Thierse, Leitkultur? Kulturelles Selbstbewusstsein!, S. 31. 19  Michael Bröning, Wie man Rechtspopulismus (nicht) bekämpft, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, H. 6/2016, S. 56–61, hier S. 57.

ches Lob der Nation. Warum wir den Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten überlassen dürfen. Anstatt die »Sorgen und Nöte« der Menschen »als Problem fehlgeleiteten politischen Bewusstseins zu brandmarken«, müsse die SPD ihnen eine »Synthese aus sozialdemokratischer Wirtschafts- und Sozialpolitik mit partiell auch konservativeren Normen im identitären Bereich« bieten und sich darauf besinnen, dass die »gemäßigte Linke […] immer auch den Interessen der Arbeiterklasse im nationalen Rahmen verpflichtet gewesen« sei. Die in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik erfolgreich praktizierte »Strategie der gesellschaftlichen Ächtung« gegenüber Parteien am rechten Rand, den sogenannten Cordon sanitaire, hält Bröning mit Blick auf die AfD außerdem für deplatziert, weil das »Ursachen, Motive und Charakter« des gegenwärtigen Rechtspopulismus außer Acht lasse. Bei der AfD, die allzu vorschnell mit Neofaschisten gleichgesetzt werde, handelt es sich nach Auffassung Brönings um eine »vielschichtige«, »demokratisch aufgestellte« Partei – »trotz partieller Querverbindungen ins rechtsextremistische Milieu«.19 DEMASKIERUNG STATT DETHEMATISIERUNG »Vielschichtig« ist die AfD allein mit Blick auf ihre wachsende Wählerschaft, wohl kaum aber hinsichtlich ihrer Programmatik und Propaganda. Ob Sozial- und Wirtschaftspolitik, Außen- und Sicherheitspolitik, Familien- und Erziehungspolitik oder Kultur- und Geschichtspolitik: Fluchtpunkt ist stets ein völkisch-nationalistischer Begriff von Zugehörigkeit und Solidarität, ein kulturelles und territoriales Abgrenzungsstreben, eine antimoderne Fixierung auf traditionelle Lebensmodelle sowie ein um die Schimäre vom »Schuldkomplex« kreisendes relativistisch-apologetisches Geschichtsbild. Die Kernbotschaften der Wählerwerbung kreisen dabei fast ausschließlich um das Kristina Meyer  —  Wehret den Anfängen

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Thema »Überfremdung«, das zur zentralen Ursache einer vermeintlichen »Identitätskrise« Deutschlands hochstilisiert wird, bis hin zur wahnhaften Rede von einer bevorstehenden »Umvolkung«. Durchaus berechtigte Ängste vor sozialem Abstieg werden konsequent auf dieses eine Thema hin zugespitzt, ethnisch-kulturell aufgeladen und weiter geschürt, flankiert von einer gebetsmühlenartigen Klage über den »Meinungs-Mainstream«, die »Merkel’sche Kanzlerdiktatur« und die Suggestion einer »Notwehrsituation« des »deutschen Volkes«. Dabei liegt es mitnichten im Interesse der AfD, Ängste oder gar Ressentiments gegen »andere« abzubauen, sondern sie im Sinne ihrer auf »kulturelle Schließung« zielenden Identitäts- und Abschottungspolitik weiter zu befeuern.20 Was Michael Bröning vor zwei Jahren zu »partiellen Querverbindungen« trivialisierte, offenbart sich inzwischen als systematische Vernetzung von Teilen der Partei sowohl mit der »Neuen Rechten« und der »Identitären Bewegung« als auch mit altbundesrepublikanischen Nationalkonservativen – und diese Vernetzung ist nicht etwa ein sektiererisches Randphänomen, sondern dringt immer weiter in den »Mainstream« der Partei vor.21 Falls sich die AfD fortan verstärkt an Götz Kubitschek orientiert, dem »geistigen Anführer« der Neuen Rechten und Stichwortgeber des »Flügels«, wird die Sehnsucht nach einer Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltung mit dem Ziel einer völkisch-nationalen Revolution bald auch in die politische Alltagskommunikation eintröpfeln – etwa wenn die AfD beginnt, mit ihrer jüngst gegründeten Desiderius-Erasmus-Stiftung historisch-politische »Aufklärungsarbeit« zu betreiben. Wenn, wie jüngst im Kontext der rechtsradikalen Ausschreitungen in Chemnitz, aus den Reihen der AfD Stimmen laut werden, die Selbstjustiz gegen vermeintliche »Messermigranten« zur »Bürgerpflicht« erklären oder bereits eine »Revolution« herbeireden, bei der irgendwann »die Funkhäuser sowie die Presseverlage gestürmt und die Mitarbeiter auf die Straße gezerrt« werden,22 dann lässt sich kaum mehr von einer »demokratisch aufgestellten« Partei reden, sondern viel eher von einer fortschreitenden Radikalisierung und einer Annäherung an die offen verfassungsfeindliche Neonazi-Szene, ihre Sprache und ihre Aktionsformen. Ralf Melzer, ebenfalls Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung, forderte in seiner scharfen Replik auf Bröning daher zu Recht eine »Demaskierung« der AfD, ihrer ausschließlich mit Ängsten operierenden Strategie und auch ihrer »vielfältigen Querverbindungen mit dem neurechten Lager«. Auf Brönings Kritik, die Artikulation von »Alltagsängsten« werde von den etablierten Parteien vorschnell und fahrlässig als »rechtsextreme Hetze« herabgewürdigt oder bloßgestellt, erwiderte Melzer, es seien nicht deren Ängste – »ob

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Sozialdemokratie — Analyse

20  Vgl. Holger Lengfeld u. Clara Dilger, Kulturelle und ökonomische Bedrohung. Eine Analyse der Ursachen der Parteiidentifikation mit der »Alternative für Deutschland« mit dem Sozio-ökonomischen Panel 2016, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 47 (2018), H. 3, online veröffentlicht am 11.08.2018, URL: https:// doi.org/10.1515/zfsoz-2018–1012 [eingesehen am 12.11.2018]. 21  Vgl. Volker Weiß, Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017, S. 26. 22  Vgl. Tweet des AfD-Bundestagsabgeordnete Michael Frohnmeyer, 27.08.2018; Facebook-Seite der AfD-Fraktion Hochtaunuskreis, 29.08.2018.

begründet oder herbeifantasiert« –, die »›faschistoid‹ oder ›Ausdruck von Menschenfeindlichkeit‹ seien, sondern bestimmte Reaktionen darauf«, nämlich »Wut und Hass« sowie »Abwertung anderer«. Verständnis sei daher vollkommen fehl am Platz – ebenso wie eine Aneignung von Themen oder gar Parolen, die von der AfD gezielt gesetzt würden, um konstruierte Ängste weiter zu schüren.23 Noch deutlicher positionierte sich Jürgen Habermas, als er im Herbst 2016 eine schlichte »Dethematisierung« des Rechtspopulismus forderte: Den Urfehler der etablierten Parteien im Umgang mit der AfD sieht er in der Anerkennung der von ihr definierten Front »›Wir‹ gegen das System« und damit auch der Legitimität ihrer Themensetzung. Statt um die »besorgten Bürger« »herumzutanzen«, sollten die demokratischen Parteien sie »kurz und trocken als das abtun, was sie sind – der Saatboden für einen neuen Faschismus.«24 Gleichzeitig sei die Bereitschaft gefragt, »innenpolitisch eine ganz andere Frontlinie« aufzumachen und sich wieder auf die Kernfrage zu besinnen: wie »gegenüber den zerstörerischen Kräften einer entfesselten kapitalistischen Globalisierung« wieder »politische Handlungsmacht« zurückerlangt werden könne. Auch wenn ihm darin gerade mit Blick auf die krisengeschüttelte SPD sicher beizupflichten ist, so erscheint eine »Dethematisierung« der AfD spätestens seit dem Einzug von 94 Abgeordneten in den Deutschen Bundestag nicht nur impraktikabel, sondern mit Blick auf die Wiedergewinnung ihrer Wählerinnen und Wähler geradezu fahrlässig. Dennoch spricht Habermas das zentrale Dilemma an: Es muss gelingen, die angstschürenden Strategien und Parolen der AfD zu entlarven, ohne das für ihre Wähler offenbar so reizvolle Außenseiter-Image der Partei noch weiter zu befördern – und dabei gleichzeitig zielführende Strategien und Angebote zur Beseitigung sozialer Ungleichheit und Verunsicherung zu liefern. BLICK ZURÜCK NACH VORN »Wehret den Anfängen«, der vielzitierte Warnspruch der antifaschistischen Bewegung, hat sich durch jahrzehntelanges Wiederholen in der Formelspra23  Ralf Melzer, Demaskieren statt berücksichtigen!, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, H. 7–8/2016, S. 77–82, hier S. 79 ff. 24  Jürgen Habermas, Für eine demokratische Polarisierung. Wie man dem Rechtspopulismus den Boden entzieht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 11/2016, S. 35–42, hier S. 38 f.

che einer ritualisierten Erinnerungskultur zu einer ahistorischen Phrase abgeschliffen. Genau jetzt täte die SPD aber gut daran, diese Formel zu neuem Leben zu erwecken und sowohl mit Inhalten als auch mit konkretem Handeln zu füllen. Die aktuell zu beobachtende Radikalisierung der AfD erinnert ebenso wie ihre wachsenden Wahlerfolge an die Spätphase der Weimarer Republik, in der allzu viele politische Akteure – auch in der Sozialdemokratie – das Gefahrenpotenzial der NSDAP auf fatale Weise unterschätzten und Chancen ungenutzt ließen, ihr rechtzeitig – nämlich weit vor der Kristina Meyer  —  Wehret den Anfängen

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Außerkraftsetzung von Demokratie und Rechtsstaat – entgegenzutreten. So reflexhaft dieser Vergleich oft zurückgewiesen und als Gleichsetzung missverstanden wird: Er lohnt, und dies nicht zuletzt mit Blick auf die SPD und ihre damals wie heute schwindenden Bindungskräfte im Zeichen eines spürbaren Rechtsrucks. Auch ist ein Vergleich der AfD mit der NS-Bewegung um einiges ergiebiger als ihr Vergleich mit der NPD, der es anders als einst der NSDAP und heute der AfD nie gelungen ist, in die Mitte der deutschen Gesellschaft vorzudringen. Zwischen 1928 und 1932 sanken die Reichstagswahlergebnisse der SPD von 29,8 auf 20,4 Prozent, während die der NSDAP im gleichen Zeitraum von 2,6 auf 33,1 Prozent stiegen, mit einem kurzzeitigen Rückgang zwischen März und November 1932. Dass die Nationalsozialisten bei den Novemberwahlen ein schlechteres Ergebnis erzielten als acht Monate zuvor, verstärkte bei der SPD die fatale Fehleinschätzung, ihre bereits verloren gegangenen Wähler würden die vermeintlich antikapitalistischen Antworten des Nationalsozialismus auf die »soziale Frage« über kurz oder lang als Schimäre erkennen und zu ihr zurückkehren. Spätestens seit 1930 war die NSDAP jedoch auf dem besten Weg, sich zu einer Catch-all-Party mit milieuübergreifendem Mobilisierungspotenzial zu entwickeln. Die national- und sozialpolitischen Verheißungen der NS-»Volksgemeinschafts«-Ideologie stießen in der Folge der Weltwirtschaftskrise vor allem bei den abstiegsbedrohten Mittelschichten und im Kleinbürgertum auf wachsenden Zuspruch – aber auch in Teilen der Arbeiterschaft. Die Aussicht auf eine Wiedererlangung »nationaler Größe« und auf eine Beseitigung der »Schmach von Versailles« kam Bedürfnissen entgegen, die damals auch weit in das sozialdemokratische Milieu hineinreichten. Es war die Synthese von nationaler und sozialer Frage, die die NSDAP zu einer, wie der amerikanische Historiker Thomas Childers es formulierte, »Volkspartei des Protests« werden ließ. Dass die vermeintlich sozialegalitären Verheißungen des nationalsozialistischen Projekts auf einer radikal antidemokratischen, völkisch-rassistischen und antisemitischen Weltanschauung fußten, hielt auch manch langjährigen SPD-Wähler nicht davon ab, seinem Protest gegen das »Weimarer System« im Zeichen wachsender Arbeitslosigkeit und sozialer Verelendung durch ein Kreuz für die NSDAP Ausdruck zu verleihen. »Die chemisch geglückte Verbindung zwischen Rassenressentiment und dem Ressentiment der sozialen Lage, zwischen ökonomischen Einzelinteressen und elementaren Haßgefühlen verschiedener Art«, so der damals jüngste SPD-Reichstagsabgeordnete Carlo Mierendorff 1930, »bildet die Mischung, die dem Nationalsozialismus von heute seine Durchschlagskraft und hohen Explosionsgrad verleiht.«25 Mierendorff zählte mit Julius Leber und Theodor

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Sozialdemokratie — Analyse

25  Carl Mierendorff, Gesicht und Charakter der nationalsozialistischen Bewegung, in: DG 7/1, 1930, S. 494, zit. bei Stefan Vogt, Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie. Die sozialdemokratische Junge Rechte 1918–1945, Bonn 2006, S. 344.

Haubach in der späten Weimarer Republik zu einer Gruppierung innerhalb der SPD, die das Gefahrenpotenzial des Nationalsozialismus zwar deutlicher erkannte als die Mehrheit ihrer Partei, darauf aber mit einer fragwürdigen Strategie reagierte: Die »militanten Sozialisten« setzten in den frühen dreißiger Jahren, als sich die politische Auseinandersetzung in immer brachialer werdenden Gewaltausbrüchen auf die Straßen verlegte, ganz bewusst auf eine Imitation nationalsozialistischer Propagandatechniken und Mobilisierungsstrategien. Im Verbund mit dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold versuchten sie, den Schlägertrupps der SA – aber auch den gewaltbereiten Kommunisten – eine sozialdemokratische Aktionsformation entgegenzusetzen. In Reaktion auf die wachsenden Erfolge der NSDAP forderten die »militanten Sozialisten« eine stärkere Berücksichtigung emotionaler und irrationaler Faktoren sowie des »nationalen Gedankens« in der Wahlkampfstrategie der SPD.26 Dieser Aneignungsprozess in Form und Inhalt, so unmissverständlich er auch das Ziel verfolgte, die NSDAP zu bekämpfen und die SPD zu stärken, blieb letztlich ebenso erfolglos wie der »Legalitätskurs« der SPD-Mehrheit, die bis zur Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes im März 1933 an der Hoffnung festhielt, dass die Kanzlerschaft Hitlers nur eine Episode bleiben würde.27 Lernen kann die SPD heute daraus, dass weder ein Einschwenken auf Populismus und Nationalismus noch ein abwartender Immobilismus im Kampf gegen Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus hilft. LEHREN AUS DER GESCHICHTE Man muss nicht mit dem worst case scenario einer erneuten Aushebelung zentraler Institutionen der Demokratie und des Rechtsstaates kalkulieren, um die Produktivität eines Vergleichs der Jahre 1930 bis 1932 mit den Entwicklungen der Gegenwart vor Augen zu führen. Es reicht, sich die Fernsehbilder aus Chemnitz anzusehen, wo gewaltbereite Hardliner der NeonaziSzene mit »besorgten Bürgern« aus dem Umfeld von Pegida und AfD zu einer Masse verschmolzen. Nicht nur an solchen lokalen Ausschreitungen lässt sich derzeit beobachten, wie »Anfänge« funktionieren: Mit jeder neuen demagogischen Begriffsschöpfung der AfD, mit der über die sozialen Medien antidemokratische und rassistische Hetze verbreitet wird, werden Sag26  Vgl. Dieter Groh u. Peter Brandt, ›Vaterlandslose Gesellen‹. Sozialdemokratie und Nation 1860–1990, München 1992, S. 197 f. u. S. 204; Vogt, S. 121, S. 323 u. S. 332. 27  Vgl. Vogt, S. 355.

barkeitsregeln verschoben und in der Konsequenz auch Hemmschwellen zur Gewalt und ihrer Akzeptanz herabgesetzt. Eine Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz, wie sie SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil in Reaktion auf die Vorfälle in Chemnitz gefordert hat, ist längst überfällig. Um Wählerinnen und Wähler der AfD zurückzugewinnen, muss seine Partei aber vor allem in den Kommunen und bei der Kristina Meyer  —  Wehret den Anfängen

27

Basis ansetzen – und zwar nicht mit einer Politik, die das Angstnarrativ einer durch »Überfremdung« verursachten sozialen Verelendung repliziert, sondern diesem Bedrohungsgefühl die Grundlage und die Argumente entzieht. Gefragt sind konkrete politische Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen abstiegsbedrohter Menschen, eine bürgernahe und partizipative politische Kommunikation, aber auch die kompromisslose Entlarvung und Bekämpfung der rassistischen und auf Entsolidarisierung zielenden Welterklärungsmuster der Rechtspopulisten und ihrer fortschreitenden Radikalisierung.28 Es muss klar gesagt werden: Wer sich für die AfD gewinnen lässt, verhilft ihr zu mehr Macht und nimmt damit die Zerstörung der zentralen Grundwerte Freiheit, Gleichheit und Solidarität in Kauf, für die die SPD seit mehr als 150 Jahren steht. Damit der Appell zur Bewahrung dieser Grundwerte im politischen Alltag keine inhaltsleere und ahistorische Formel bleibt, sollte die SPD sich selbst, ihre Anhänger und erst recht die verloren gegangenen Wählerinnen und Wähler daran erinnern, wie und unter welchen Bedingungen sich vor fast neunzig Jahren Entwicklungen Bahn brachen, die erst zur Zerstörung der Demokratie und dann zum Zivilisationsbruch führten. Dass eine kleine Minderheit von Menschen aus der Arbeiterbewegung dagegen mutig Widerstand leistete, muss dabei ebenso in Erinnerung gerufen werden wie die Tatsache, dass sich viele andere von der rassistischen Volksgemeinschaftsideologie der Nationalsozialisten begeistern ließen und die katastrophalen Folgen einer Entsolidarisierung mit jüdischen Nachbarn und vielen anderen in Kauf nahmen. Je lebensnäher diese Geschichte vor Ort greifbar gemacht wird – ob in Essen, Chemnitz oder anderswo –, desto eher wird sie vielleicht auch bei enttäuschten SPD-Anhängern einen Reflexionsprozess darüber in Gang setzen, was sie mit einer Stimme für die AfD aufs Spiel setzen. Zugleich sollte die SPD ihren »geschichts- wie gegenwartsvergessenen Beschluss«29 revidieren, mit dem sie im Sommer 2018 die Abschaffung ihrer 1982 gegründeten Historischen Kommission beim Parteivorstand angekündigt hat.30

Dr. Kristina Meyer, geb. 1978, ist Wissenschaftliche Geschäftsführerin des »Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts«. Für ihr Buch »Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945-1990« wurde sie mit dem Willy-Brandt-Preis für Zeitgeschichte 2015 ausgezeichnet.

28

Sozialdemokratie — Analyse

28  Vgl. Georg Spoo, Wie weiter gegen rechts?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 12/2017, S. 67–76. 29  Christina Morina, Keine Zukunft ohne Geschichte. Offener Brief an den SPD-Parteivorstand, URL: https://docs.google. com/forms/d/e/1FAIpQLSc7oDBUSq-QhhEd_-y7yr0MYhwyGkRToVfNHC7A3n7VxcvSHw/ viewform [eingesehen am 31.08.2018]. 30  Vgl. auch Jürgen Kocka, Mit ihr zog einmal die neue Zeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.08.2018.

DIE NOTWENDIGE ­SOZIAL­DEMOKRATIE WARUM RALF DAHRENDORF IRRTE UND WAS ES HEUTE BRAUCHT ΞΞ Thomas Nowotny

Schon in der Vergangenheit wurde der Sozialdemokratie regelmäßig der unabwendbare Niedergang prophezeit. Heute mangelt es nicht an ähnlichen Vorhersagen. Im Gegenteil: Sie werden zahlreicher. Muss man sie diesmal ernster nehmen? Die untenstehende Grafik würde das nahelegen. Sie verweist auf einen jähen Abstieg der europäischen Sozialdemokratie. Im Vergleich zum Jahre 2000 hat sie im Jahre 2015 in Europa etwa dreißig Prozent ihrer Wähler verloren.

Wahlergebnisse der europäischen Sozialdemokratie 1950–2015 im Vergleich zu ihrem Wählerstand 1970 = 100

INDES, 2018–3, S. 29–44, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2191–995X

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Warum waren frühere Untergangsdiagnosen falsch – und weshalb scheinen sie nunmehr zuzutreffen? DAHRENDORFS IRRTUM Eine dieser früheren Diagnosen ist die oft zitierte von Ralf Dahrendorf (»Die Chancen der Krise«, 1983). Dahrendorf meinte schon damals, alle großen europäischen Parteien würden längst jene Ziele anstreben und gutheißen, die in ihrer Summe und in ihrem Zusammenhang ursprünglich sozialdemokratische gewesen seien: nämlich die Ziele von Wirtschaftswachstum, Gleichheit, Arbeit, Vernunft, Staat und Internationalismus. In diesem Sinne wären auch alle anderen großen Parteien »sozialdemokratisch« geworden. Die Sozialdemokratie hätte nicht länger etwas Spezifisches entgegenzusetzen, durch das sie sich von den konkurrierenden politischen Kräften und Parteien unterscheiden und absetzen könnte. So hätte die Sozialdemokratie bereits zu dieser Zeit (also schon um das Jahr 1983) ihre politischen Möglichkeiten erschöpft und ihren Daseinszweck erfüllt. Die tatsächliche Entwicklung hat diese Vorhersage zunächst widerlegt. Offensichtlich unzutreffend war vor allem die Vorhersage vom unmittelbar bevorstehenden Abstieg der Sozialdemokratie. Das Jahr 1983 beschied der sozialdemokratischen Parteienfamilie keineswegs den Anfang vom Ende. Wenn man die Entwicklung anhand der in den darauffolgenden zwanzig Jahre erzielten Wahlerfolge misst, dann war die Sozialdemokratie in diesen zwei Dekaden stattdessen erfolgreicher als je zuvor. Aber war dieser Erfolg ein bloß scheinbarer? Hatte die Sozialdemokratie in dieser Zeit bloß Wähler gewonnen, aber verloren an dem, was langfristig wesentlicher ist, nämlich an programmatischer und ideologischer Substanz, an Gestaltungswillen und Gestaltungskraft? Die Zeit der siebziger und achtziger Jahre war ja weitgehend die einer sozialdemokratischen ideologischen und programmatischen Hegemonie gewesen. Ab diesem Zeitpunkt aber verschob sich die programmatische und ideologische Prägekraft ganz allmählich in die gegenteilige Richtung. Symptomatisch dafür waren der Wahlsieg Margaret Thatchers im Vereinigten Königreich und in den USA die Präsidentschaft von Ronald Reagan. Seitdem wurde die Forderung nach »weniger Staat und mehr privat« ebenso selbstverständlich wie die Privatisierung von bisher durch den Staat erbrachten Leistungen. In der Wirtschaft wurden die engen Interessen des Finanzkapitals und der Aktienbesitzer vorrangig. In der Europäischen Union gab man mit dem Binnenmarkt-Projekt dem Wirtschaftlichen ebenfalls Vorrang vor dem Politischen, während Bemühungen um eine soziale, um eine

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Sozialdemokratie — Analyse

sicherheits- und außenpolitische Dimension der Union mit wenig Nachdruck verfolgt wurden und schließlich ziemlich wirkungslos blieben. Die Sozialdemokratie hat sich dem nicht entgegengestellt. Sie hat sich dem vielmehr dadurch angepasst, dass sie mit Tony Blair, Gerhard Schröder und dem österreichischen sozialdemokratischen Bundeskanzler Viktor Klima (und in den USA mit den Demokraten unter Bill Clinton) ebenfalls nach »rechts« gerückt ist und sich dabei von einer linken Partei zu einer konturlosen Partei der politischen Mitte1 gewandelt hat, getrieben vom Bestreben um Zustimmung möglichst breiter, weit über ihre einstigen Stammwähler hinauslangender Wählerschichten. Dieser Rechtsruck verdeutlicht sich exemplarisch im Unterschied zwischen dem Programm der österreichischen Sozialdemokratie aus dem Jahre 1978 und dem ihm folgenden aus dem Jahre 1998. Das Programm aus dem Jahre 1978 fordert noch eine »Änderung der wirtschaftlichen Eigentums- und Entscheidungsverhältnisse«. Im Programm des Jahres 1998 vermisst man ähnlich weitreichende Forderungen. Um von Konservativen nicht der »Gleichmacherei« und der »Leistungsfeindlichkeit« geziehen zu werden, verzichtete man in diesem Programm auf die ausdrückliche Forderung nach mehr effektiver Gleichheit in allen Lebensbereichen. Man beließ es im Programm des Jahres 1998 vielmehr beim harmlosen Verlangen nach »mehr Chancengleichheit«, obwohl bloße Chancengleichheit eine echte Gleichheit etwa der Einkommen und Vermögen kaum erwirken kann. Das Motiv für dieses Abrücken von traditionell sozialdemokratischen 1 

Symptomatisch für diesen Rechtsruck ist auch die vom damaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) geäußerte Charakterisierung der traditionsreichen deutschen Sozialdemokratie als Partei der »Neuen Mitte«. Charles Clarke, einst Unterrichtsminister unter Tony Blair, kritisiert diesen Abschied von den sozialdemokratischen Grundwerten und die Hinwendung zu Beliebigkeit mit den folgenden Worten: »(diese Wendung) führt lediglich zu dem nicht unberechtigten Vorwurf, dass wir den Vorschlägen der Konservativen und der rechtsgerichteten (Boulevard-)Medien einfach und in der Absicht folgen, die Differenzen zwischen ihnen und uns möglichst gering zu halten und ihnen so keine Angriffsfläche zu bieten«.

Forderungen war offensichtlich der Wunsch, den schwindenden Rückhalt der Partei unter ihren traditionellen Wählerschichten, und vornehmlich in der einst zahlenstarken Gruppe der Industriearbeiter, durch Zugewinne bei anderen Wählergruppen zu kompensieren, wobei man davon ausging, dass diese anderen Gruppen weit weniger »links« wären als die ursprüngliche Kerngruppe der Industriearbeiter. Diese ursprüngliche Kerngruppe ist kleiner geworden. Das einerseits deshalb, weil sich der Anteil der industriellen Wertschöpfung an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung verringert hat; zum anderen deshalb, weil sich die Produktivität der Industriearbeit permanent steigert und auch bei gleichbleibender industrieller Wertschöpfung laufend weniger Arbeitskräfte benötigt werden. Die Wählergruppe der Industriearbeiter ist aber nicht bloß geschrumpft. Sie wurde auch konservativer und dabei empfänglicher für rechtspopulistische, nationalistische, fremdenfeindliche Agitation. Bei den letzten österreichischen Nationalratswahlen des Jahres 2017 votierten 58 Prozent der Thomas Nowotny  —  Die notwendige ­S ozial­d emokratie

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Arbeiter für die bis weit in den rechtsextremen Rand hineinragende Freiheitliche Partei (FPÖ). Hingegen stimmten bloß 19 Prozent der Arbeiter für die österreichische Sozialdemokratie. Aber schon früher, schon in den achtziger Jahren, hatte bei Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich die Mehrheit der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter Margaret Thatcher unterstützt, obwohl sich diese als rabiate Gegnerin der Gewerkschaften profiliert und auf deren konsequente Entmachtung gedrängt hatte. Der Rechtsruck, also die Aufgabe ihrer »kantigeren« traditionellen programmatischen Forderungen, ein zunehmend inhaltsloses Haschen nach maximalem Zuspruch – all das hat der Sozialdemokratie jedenfalls nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Die notorische Trägheit und Langsamkeit eines tiefgreifenden gesellschaftlichen, politischen und institutionellen Wandels hat ihren Abstieg zunächst für einige Zeit überlagert und hinausgezögert. Wenn auch mit einiger Verspätung, ist es – gemessen an den Wahlergebnissen – nunmehr tatsächlich zu diesem Abstieg gekommen. Anders als um das Jahr 1983 scheinen die Vorhersagen Dahrendorfs mittlerweile zuzutreffen. Die Ursache ist allerdings nicht die von Dahrendorf vermutete. Die Sozialdemokratie war eben nicht so erfolgreich, dass am Ende alle anderen großen politischen Parteien ihre Zielvorstellungen geteilt haben, womit die sozialdemokratischen Errungenschaften unverrückbar durch einen gesamtgesellschaftlichen Konsens abgesichert waren. Ganz im Gegenteil: Nicht bloß die übrigen politischen Parteien haben sich teilweise oder gänzlich von den miteinander verknüpften Zielen Wachstum, Gleichheit, Arbeit, Vernunft, Staat, Internationalismus verabschiedet. Auch die Sozialdemokratie selbst hat viele dieser ihrer traditionellen Ziele aufgegeben. Ihr politischer Abstieg scheint konträr zu Dahrendorfs Analyse mit eben diesem Versagen verknüpft. IMPLIKATIONEN DES SOZIALDEMOKRATISCHEN RECHTSRUCKS Arbeit: Es gibt mehr Arbeitswillige als frei werdende Arbeitsplätze2. Seit 1970 erhöht sich die Arbeitslosigkeit selbst im einstigen Musterland Österreich. Sie wächst auch dort unaufhörlich – und das unabhängig von der jeweiligen wirtschaftlichen oder politischen Konjunktur. Das Problem ist aber nicht bloß das quantitative einer zunehmenden Zahl von Arbeitslosen3. Es ändert sich auch die Qualität der immer noch angebotenen Arbeitsplätze. Nachfrage besteht weiterhin nach gering bezahlter, prekärer Arbeit. Die gute Mitte geht dagegen verloren. In den Fabriken ersetzen Roboter qualifizierte Fachhabeiter. In den Spitälern übernimmt die in Computern gespeicherte »künstliche Intelligenz« die Interpretation der Röntgenbilder und Elektrokardiogramme. Computer und Roboter können

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Sozialdemokratie — Analyse

2  In jüngster Zeit hat sich in vielen der OECD Staaten die Arbeitslosigkeit nicht weiter erhöht. Das ist aber nicht bloß Folge einer recht kräftig und wahrscheinlich nur kurzfristig anspringenden Konjunktur; sondern das ist im hohen Maße auch Folge davon, dass, wie etwa in den USA, viele der Arbeitssuchenden diese Suche aufgegeben haben und aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sind. Darüber hinaus sind die relativ guten Zahlen der Arbeitsmarkt – Statistik auch dadurch bedingt, dass in dieser Statistik bloße und zumeist unfreiwillige Teilzeitarbeit im gleichen Ausmaß berücksichtigt wird wie Vollzeit – Arbeit, so dass ein Teilzeitarbeiter oder Arbeiterin nicht als »zur Hälfte arbeitslos« verrechnet wird. 3  Es gibt unterschiedliche Schätzungen über die Zahl der Arbeitsplätze die in Zukunft wegfallen werden. Die meisten der einschlägigen Untersuchungen kommen jedenfalls zu dem Schluss, dass in Folge der technisch/wirtschaftlichen Entwicklung wesentlich mehr Arbeitsplätze vernichtet als neu geschaffen werden

Arbeitslosigkeit in Österreich 1950–2015 Gemessen nach den traditionellen – strengeren – österreichischen Para­metern und nicht nach den in der OECD/EU gültigen

9 8 7 6 5 4 3 2 1 50

55

60

65

70

75

80

85

90

95

00

05

10

Quelle: Statistik Austria

Ärzte und Facharbeiter ersetzen, nicht allerdings die Arbeit jener schlecht bezahlten Hilfskräfte im Dienstleistungswesen, die Häuser und Büros reinigen oder den bettlägerigen Patienten die Bettpfannen unterschieben und ihnen das Essen füttern. Gleichheit: Seit etwa 1975 wächst in den OECD Staaten die Ungleichheit in der Verteilung der Einkommen. Zuvor waren während der ersten dreißig »Nachkriegsjahre« diese Unterschiede geringer geworden. In einigen Staaten, die wie Deutschland und Österreich durch staatliche Intervention kräftig 4  So sind die beunruhigenden, Demokratie gefährdenden politischen Entwicklungen in den USA sicher auch Folge dieser wachsenden Ungleichheit. Gemessen am »Gini-Koeffizient« ist die Einkommensungleichheit in den USA heute schon ebenso ausgeprägt, wie in den notorisch ungleichen Staaten Lateinamerikas.

umverteilen, sind infolge dieser Umverteilung die Einkommensunterschiede auch heute noch kleiner als anderswo. Aber dennoch sind selbst Deutschland und Österreich voll erfasst vom Trend der sich vertiefenden Kluft zwischen hohen und niedrigen Einkommen. Mit den bisherigen Werkzeugen einer staatlichen Umverteilung lässt sich selbst in »sozialen Staaten« wie Deutschland und Österreich das Anwachsen von Ungleichheit nicht verhindern. Das hat nicht bloß wirtschaftliche und soziale Folgen, sondern auch politische4.

Thomas Nowotny  —  Die notwendige ­S ozial­d emokratie

33

Entwicklung der Einkommens-Ungleichheit 1975–2015 (gemessen mit dem »Gini-Koeffizient«)

Quelle: OECD; Schaubild aus dem »Standard«

Wachstum und Wirtschaft: In der langdauernden »sozialdemokratischen Ära« hat man dem Staat wie selbstverständlich die Aufgabe zugedacht, in die Wirtschaft einzugreifen, ihr Wachstum zu fördern und durch eine »Feinsteuerung« für deren gleichmäßigen, krisenfreien Verlauf zu sorgen. In den letzten Jahrzehnten wurde diese einstige Selbstverständlichkeit weniger selbstverständlich. Die Politik wurde zunehmend von der Vorstellung bestimmt, dass staatliche Eingriffe die Wirtschaft nur behindern und die Selbstheilungskräfte des »freien Marktes« schwächen. Solche Vorstellungen motivierten eine breitflächige »Deregulierung«. Sie hat sich nicht bewährt. Die 2008 einsetzende Finanz- und Wirtschaftskrise mit ihren noch immer andauernden negativen Folgen hat das augenscheinlich gemacht. In der Krise hat sich gezeigt, dass in der Wirtschaft nicht bloß selbstheilende Kräfte am Werke sind, sondern auch selbstzerstörerische; und dass diese selbstzerstörerischen Kräfte neutralisiert werden müssten. Dazu wurden auch Maßnahmen in einigen Bereichen – wie dem Bereich der Bankenaufsicht – gesetzt. Das elementare Kernproblem, das grundsätzlich Selbstzerstörerische in der jetzigen wirtschaftlichen Anordnung, wurde damit aber nicht entsorgt. Das Grundproblem liegt vielmehr in der zunehmenden Dominanz des Finanzkapitals. Dieses schwächt die reale Wirtschaft und laugt sie aus. Gewinne

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Sozialdemokratie — Analyse

aus steigender Produktivität setzen sich nicht in einen der realen Wirtschaft förderlichen zusätzlichen Konsum oder in konjunkturbelebende zusätzliche Investitionen um. Die Ersparnisse und Gewinne wandeln sich stattdessen zu unproduktivem Finanzkapital. In den unvermeidlich folgenden Krisen wird das angehäufte Finanzkapital dann ersatzlos vernichtet5. Zwischen 1999 und 2014 betrugen die deutschen Investitionen in Finanzprodukte – vornehmlich in US Finanzprodukte – nicht weniger als 1.788 5  Wofür sich das Finanzkapital dann an der realen Wirtschaft schadlos hält. Die Finanzkrise wurde durch US Banken ausgelöst, welche mit Hypotheken spekuliert hatten, die von vielen der Hausbesitzer dann nicht bedient werden konnten. Die Banken haben solche Hypotheken aber wegen dieser Nicht-Bedienung nicht einfach abgeschrieben, sondern sie haben die betreffende Häuser gepfändet und ersteigert. 9 Millionen US Bürger habe so ihre Häuser verloren. Die Politik – und auch jene des liberalen Präsidenten Barak Obama – ist diesen Bürgern nicht zur Seite gestanden und hat sie nicht vor den Forderungen der Banken geschützt.

Milliarden Euro. Infolge der Krise hat sich der Wert dieser Finanzprodukte auf 1.020 Milliarden Euro verringert. 768 Milliarden Euro haben sich damit in Luft aufgelöst. Das ist ungefähr ein Viertel des gesamten deutschen Bruttoinlandsproduktes. Das war ein ungeheurer Raub an jetzigem und künftigem Wohlstand. Politisch wurde dieser Raubzug trotzdem nicht sanktioniert. Im Grund bleibt es bei jenem Zustand, der auch vor der Finanz- und Wirtschaftskrise bestanden hat. In den USA wurden noch 1970 Ersparnisse und Gewinne hauptsächlich für Investitionen (dunkelgraues Feld in der untenstehenden Grafik) oder für Konsum (schwarzes Feld) verwendet. 2008, zu Beginn der von den USA ausgehenden Finanzkrise, wurde jedoch doppelt so viel in den Ankauf von reinen Finanzprodukten (hellgraues Feld) investiert, wie in die Summe von Investitionen und Konsum.

Verwendung der Ersparnisse und Gewinne in den US (1970–2015)

Thomas Nowotny  —  Die notwendige ­S ozial­d emokratie

35

Der ausbeuterischen, zersetzenden Herrschaft des Finanzkapitals wird auch heute und nach der großen Finanz- und Wirtschaftskrise nichts Wirksames entgegengesetzt. Die jetzige Sozialdemokratie scheint zu diesem grundsätzlichen Widerstand nicht befähigt. Noch weniger sind dies jene anderen politischen Parteien, welche in der Sicht Dahrendorfs die programmatischen Ziele der Sozialdemokratie zu ihren eigenen gemacht haben. So muss man davon ausgehen, dass sich die Herrschaft des Finanzkapitals weiter festigen wird6. In der realen Wirtschaft werden dabei Unternehmen und Konsumenten fortgesetzt zu Schaden kommen. Staat: Die Modernisierung wird vorangetrieben durch eine immer breitere und intensivere gesellschaftliche Arbeitsteilung. Sie zwingt Menschen in immer enger werdende gegenseitige Abhängigkeit. Eine solche Abhängigkeit ist nur erträglich, wenn sie vorhersehbar und stabil ist; wenn sie von den Betroffenen gestaltet werden kann und sich diese Gestaltung in einem von allen akzeptierten Regelwerk niederschlägt. Nur als legitim anerkannte, gemeinsame Einrichtungen können dieses Regelwerk verwalten und allseits verpflichtend machen. Im Laufe der menschlichen Entwicklung haben solche Einrichtungen für den Zusammenhalt in immer größeren Gruppen gesorgt – zuletzt und am wirksamsten in modernen Staaten In einer landwirtschaftlichen Subsistenzwirtschaft, in der von den bäuerlichen Familienbetrieben nur wenig zugekauft und auch nur wenig verkauft wird, ist der Bedarf an staatlichen, die Abhängigkeit dieser Familienbetriebe sichernden Einrichtungen noch gering. Je weiter jedoch der wirtschaftliche und gesellschaftliche Fortschritt voranschreitet, je dichter dadurch die gegenseitige Abhängigkeit wird, umso umfassender werden die Aufgaben, welche zweckmäßigerweise vom Staat wahrgenommen werden. Der wirtschaftlichen Entwicklung entspricht also die politische einer Ausweitung staatlicher Tätigkeit. Das Politische und das Wirtschaftliche sind dabei keine Gegner. Sie sind aufeinander angewiesene Partner. Eine hoch entwickelte Wirtschaft kann es nämlich nur dort geben, wo es eine tragfähige, gut ausgebaute Infrastruktur gibt; wo Eigentumsrechte geschützt und Verträge rechtlich durchgesetzt werden können; wo Menschen und Unternehmen ausreichend vor Kriminalität geschützt sind; wo die Bevölkerung in einem umfassenden Schulsystem gut ausgebildet wird und sich auch immer wieder weiterbilden kann; wo der innere und auch der soziale Friede verlässlich gesichert ist; wo es ein funktionierendes, allen Bürgern zugängliches Gesundheitssystem gibt; wo Universitäten, Forschung und Entwicklung staatlich gefördert werden und die Städte wohnlich und menschengerecht sind.7

36

Sozialdemokratie — Analyse

6  Stephan Schulmeister (Der Weg zur Prosperität 2018) sieht in der Wende hin zur Dominanz des Finanzkapitals eine Veränderung der bis 1975 geltende »Spielanordnung«. Bis dahin war diese bestimmt durch das Bündnis zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern. An Stelle dieses Bündnisses trat aber dann ein Bündnis zwischen Unternehmern und dem Finanzkapital. Die Arbeitnehmer waren in dieser neuen »Spielanordnung« nicht länger mitbestimmend. 7  In Europa ist in den skandinavischen Staaten der Anteil des Staates am BIP am höchsten. Wahrscheinlich sind diese Staaten gerade deshalb auch die in Europa wirtschaftlich am erfolgreichsten. Es sind das auch jene Staaten, in denen sich die Bürger im Vergleich zu Bürgern anderer Staaten »am glücklichsten« fühlen.

Diese umfassenden Leistungen des Staates müssen finanziert werden. Will man eine ausgeglichene Entwicklung des Gemeinwesens sicherstellen, so wird man für diese Leistungen laufend mehr staatliche Gelder bereitstellen müssen. Durch lange Zeit ist das in Europa auch geschehen. Der Anteil des Staates am gesamten Inlandsprodukt ist stetig größer geworden. Das war auch im Sinne der Sozialdemokratie. Für sie war der demokratische Staat lange das bestgeeignete Werkzeug für sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt. Aber auch hier gab es dann ab etwa 2000 einen jähen Bruch dieses Trends. Der Anteil des Staates hat sich seitdem wieder verringert.

Steuern in % des BIP

Land

1975

1980

2000

2006

OECD Durchschnitt

29,4

33,8

36,1

35,9

Österreich

36,7

39,6

42,6

41,7

Deutschland

34,3

34,8

37,2

35,6

Dänemark

38,4

46,5

49,4

49,1

Schweden

41,3

52,5

51,8

49,1

Vereinigtes Königreich UK

35,2

36,1

37,1

37,1

USA

25,6

27,3

29,9

28,0

Quelle: OECD

Nicht nur konservative oder wirtschaftsliberale Parteien haben auf diese Trendwende hingearbeitet. Abweichend von ihrer Tradition hat auch die Sozialdemokratie diese Wende mitvollzogen. In Österreich etwa hat sie die letzte auch von ihr betriebene Steuersenkung mit dem Motto begrüßt, dass Bürgern damit »mehr Geld im Börsel bleibt«. Sie hat also den privaten Konsum gegenüber dringlich anstehenden öffentlichen Investitionen (etwa im Bereich Gesundheit, Infrastruktur, Bildung und Forschung) bevorzugt. Sie hat sich damit den Konservativen und deren Forderung nach »Mehr privat und weniger Staat« angeschlossen. ENTSTAATLICHUNG, ENTDEMOKRATISIERUNG UND DER AUFSTIEG DES POPULISMUS Repräsentative Demokratie und rationaler politischer Diskurs: Noch vor rund dreißig Jahren war man davon überzeugt, dass eine auf Rationalität Thomas Nowotny  —  Die notwendige ­S ozial­d emokratie

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aufbauende liberal-demokratische Ordnung dauerhaft und durch einen quer durch die Gesellschaft gehenden Konsens abgesichert sei. Diese demokratische Ordnung wäre durch ihre offenkundigen Vorzüge allen anderen gesellschaftlich-politischen Anordnungen so klar überlegen, dass sie sich – sofern nicht durch Gewalt verhindert – gleichsam natürlich zu einer schließlich weltweiten Ordnung ausbreiten würde. Dieser Optimismus ist inzwischen verflogen. Demokratie auf dem Rückzug. Nach Jahren raschen Fortschritts kommt es zu einer Gegenbewegung (Grün = Frei; Gelb = teil – frei; Blau = nicht frei)

In den Entwicklungs- und Schwellenländern war die Demokratie schon immer schwach verwurzelt. Der Erfolg des »chinesischen Models«8 eines illiberal-autoritären Staatskapitalismus hat ihren Rückhalt in diesen Ländern zusätzlich geschwächt. Tiefgreifender wird die Überzeugung von der Überlegenheit demokratischer Ordnung allerdings durch die Entwicklungen in den reichsten Staaten erschüttert. Diese sind ja sozusagen die Speerspitze jener Modernisierung, die, mit unterschiedlicher Verzögerung, schlussendlich alle Staaten und Gesellschaften der Welt erfassen sollte. Bröckelt die Demokratie selbst in diesen reichen Staaten, verliert sie auch hier an Ansehen und

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Sozialdemokratie — Analyse

8  Vor allem hat China gegen das konkurrierende Models des demokratisch regierten Indiens obsiegt.

Substanz – so weist das auch jenen Staaten die Richtung, die den reichsten Staaten auf dem Pfad der Modernisierung nachfolgen. Besonders folgenschwer ist dabei die Erosion der Demokratie in den USA. Den anderen Staaten waren sie Vorbild. Als »gutartiger Hegemon« hatten sie ab 1945 die Nachkriegs-Weltordnung abgestützt9. Aus der positiven Funktion, aus dem positiven Leitbild wurde nunmehr aber ein der Demokratie abträgliches. Die schleichende Entdemokratisierung ist allerdings nicht auf die USA beschränkt. Sie erfasst nunmehr auch Europa. Und das, obwohl die Union ihre Mitgliedstaaten zu Demokratie in Liberalität verpflichtet. Die fest im Sattel sitzenden Regierungen Polens und Ungarns fühlen sich durch diese Verpflichtung nicht länger gebunden. Das EU-Gründungsmitglied Italien droht sich diesen Staaten anzuschließen. Schließlich dokumentiert das Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union im Zuge des »Brexit«, in welchem Ausmaß sich auch in Europa die Politik von ihren rationalen Grundlagen abgehoben hat. Gemeinsame Ursache dieser schrittweisen Aushöhlung von Demokratie 9  Unter US Präsident Donald Trump ist dieses Abrücken von liberaler Demokratie so offenkundig geworden, dass einige Beobachter nicht zögern von einem schon »prä-faschistischen Zustand« zu sprechen. Aber diese Entwicklung hat sich schon über längere Zeit aufgebaut: mit der schrittweisen Schwächung der »check and balances«; mit der Dominanz der Exekutive über Legislative und Justiz; mit dem korrumpierenden Einfluss von politischen Geldgebern; und nicht zuletzt und vorzüglich, mit dem Abrücken von jener Rationalität, die demokratischen Regieren Voraussetzung ist. Konservative US Politiker können Nutzen daraus ziehen, wenn sie die Realität von Klimawandel oder biologischer Evolution in Zweifel ziehen. 10  Untrügliche Merkmal aller potential oder tatsächlich anti-demokratischen Parteien: sie plädieren für Volksentscheide, sie berufen sich auf den »wahren Willen des Volkes«; sie delegitimieren all jene Einrichtungen, die sich wie Parlamente oder die Qualitätspresse (»Systemparteien, Lügenpresse«) zwischen sie und die Bürger stellen.

ist deren Wandel von einer repräsentativen hin zu einer de facto plebiszitären. Wahlen haben nicht länger die Funktion, eine politische Elite damit zu beauftragen, für einen festgelegten Zeitabschnitt die Verwaltung des Staates nach bestem Gewissen wahrzunehmen. Es ist vielmehr umgekehrt. Die den Staat verwaltenden Politiker nutzen ihre Position in der Verwaltung in einem nie enden wollenden Kampf um das Wohlwollen und die Zustimmung der Bürger.10 Statt den politischen Diskurs zu bestimmen, folgen die Politiker an der Spitze des Staates den dumpfen und schwankenden Stimmungen der Bürger. Sie orientieren sich dabei an den fast wöchentlichen Meinungsumfragen und an den Massenmedien, welche diese schwankende öffentliche Meinung entweder schaffen oder verstärken. Sie unterwerfen sich damit einem tagtäglichen Plebiszit, wobei sie danach trachten, dieses Plebiszit zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Am leichtesten lässt sich das von Politikern erhoffte Wohlwollen der Bürger und Wähler dadurch erwirken, dass man bei ihnen Misstrauen und Ängste anfacht, sodass sie unter den Schutzschirm der sie manipulierenden Politiker flüchten. Angst ist eine starke Emotion. Sie überlagert andere Emotionen wie Solidarität. Vor allem behindert oder überlagert sie rationales Denken. Daher kultivieren vor allem rechtsradikale, nationalistische und populistische Parteien das Bild vom Angst einflößenden Feind; von unkontrollierter Einwanderung potentieller Terroristen und Krimineller; von einer übelwollenden, parasitären und fernen Bürokratie und der Bedrohung der Identität durch etwas völlig Fremdes. Thomas Nowotny  —  Die notwendige ­S ozial­d emokratie

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Logisches Opfer dieser Strategie sind alle und ist alles, das den Einflussund Wirkungsbereich dieser Antidemokraten schmälern könnte. Das sind nicht nur jene staatlichen und politischen Einrichtungen, die sich – wie etwa Parlamente, qualifizierte Berufsbeamte oder Qualitätsmedien – zwischen sie und das »wahre« Volk schieben könnten. Es sind das auch jene internationalen Einrichtungen Organisationen und Regelwerke, die ihre politische Willkür in der Verwaltung des Staates und in der Manipulation der Wähler begrenzen. An sich wäre die Ausdehnung des Wirkungsbereiches dieser internationalen Einrichtungen die notwendige Folge einer immer stärker werdenden internationalen Vernetzung von Wirtschaft und Gesellschaft. Im Sinne wachsender Wohlfahrt und eines zunehmend friedlichen Neben- und Miteinanders, haben progressive Parteien, und dabei vornehmlich die sozialdemokratischen, diese Internationalisierung der Politik einst unterstützt und vorangetrieben. Dahrendorf hielt diese Abgabe von Souveränität an übergeordnete internationale Einrichtungen für selbstverständlich und nicht umkehrbar. Sie ist es nicht länger. Der Trend hat sich verkehrt. Statt stärker zu werden, mindern sich die Gestaltungskraft, die Legitimität und das Durchsetzungsvermögen selbst so zentraler internationaler Einrichtungen wie der Vereinten Nationen11, der Welthandelsorganisation und sogar der Europäischen Union. Unter dem Ansturm von Populismus und engstirnigem, egoistischem Nationalismus wanken die Säulen der bisherigen Weltordnung. Erfolgreich mit einer solchen auf Angst, Misstrauen und Nationalismus gestützten Strategie waren die potentiell oder faktisch antidemokratischen Parteien deswegen, weil die Menschen für Ängste zunehmend anfällig wurden. Die Bande menschlicher Nähe und gelebter, erlebter Solidarität, die ihnen einst Halt gaben, haben sich gelockert. Das Selbstwertgefühl wird heute weniger durch die vermittels Arbeit geschaffenen Gemeinsamkeiten bestimmt, als vielmehr durch jenen Platz, der einem auf der durch kompetitiven Konsum geschaffenen »Hackordnung« zugewiesen wird. Es gibt kaum noch jene »Agora«, jenen Ort, auf dem die unterschiedlichsten Menschen zusammentreffen und sich miteinander austauschen. Man lebt zunehmend in seiner eigenen kleinen Zelle; oder bestenfalls in einer Zelle, die man mit einer kleinen Zahl von Gleichgesinnten teilt. Isoliert, ohne dauerhafte und feste gesellschaftliche Anbindung, von Unsicherheit geplagt, sind die Menschen den Ängsten hilflos ausgeliefert. Furcht vor der Zukunft setzt sich an die Stelle von Selbstsicherheit und Gestaltungswillen. All das fügt sich zu einem Schrumpfen des Bodens, auf dem die Demokratie einst ruhte. Die Sozialdemokratie ist davon mehr betroffen als andere politische Parteien.

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Sozialdemokratie — Analyse

11  Das lässt sich leicht durch ein Gedankenexperiment verifizieren: Wäre es möglich, auch heute noch, so wie im Jahre 1948, in den Vereinten Nationen zu einem Konsens zur »Universal Declaration on Human Rights« zu kommen; oder zu einem Konsens zur verpflichtenden Intervention bei besonders schweren und massenhaften Verletzungen von Menschenrechten (»resposibility to protect – R2P«)? Könnte man heute noch die Welthandelsorganisation WTO stärken und den Prozess der Liberalisierung des Welthandels fortführen? All das ist heute ganz offensichtlich nicht länger möglich.

Seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist man zunehmend von jenem Leitbild einer allumfassenden »guten Gesellschaft«12 abgerückt, wie es vor allem die Sozialdemokratie projiziert und zum Teil auch verwirklicht hatte. Entgegen den Vorhersagen Dahrendorfs war das bis dahin Erreichte keineswegs für alle Zeiten abgesichert. Statt der Festigung der Erfolge kam es zu einem Rückschritt. Üble Folgen hat das gerade in Bereichen, die sowohl für den Zusammenhalt der Gesellschaft wie auch für die Sozialdemokratie wesentlich sind. Arbeitsplätze gehen verloren oder werden prekär; die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen steigert sich; Solidarität und Gemeinschaftlichkeit verkümmern; in der Rückwendung zum Nationalen bleibt der Internationalismus auf der Strecke. Zum Niedergang der Sozialdemokratie ist es also nicht deshalb gekommen, weil sie für immer all das, was sie sich gewünscht hatte, auch tatsächlich durchsetzen konnte. Ihr Niedergang war vielmehr begleitet von einem stetigen Abrücken von diesen Zielen. VORSCHLÄGE FÜR EINEN NEUEN SOZIALDEMOKRATISMUS Die Politik war einst von miteinander konkurrierenden Visionen darüber bestimmt, was eine wünschenswerte Zukunft wäre. An die Stelle dieser Konkurrenz tritt nunmehr ein um beliebige Inhalte von »Professionisten« gemanagter Kampf um die bloße Erringung und den bloßen Erhalt von Macht. Dieser Kampf ist ein Nullsummenspiel. Des einen Gewinn geht zu Lasten des anderen. Das polarisiert in einander immer feindlichere Lager. Kompromiss wird zum Verrat. Verständlicherweise entfremden sich die Bürger einer so verstandenen und praktizierten Politik. Meinungsumfragen zeigen, dass man Politikern zutiefst misstraut. Die Entfremdung von Politik findet ihren Ausdruck nicht zuletzt in einer sinkenden Wahlbeteiligung. Alternativ versuchen einige, ihre politischen Vorstellungen und Ideale über die unterschiedlichsten Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) durchzusetzen. Die Summe der Stimmen dieser Nicht-Regierungsorganisationen fügt sich allerdings nicht zu einem in sich zusammenhängenden, logischen Ganzen. Deshalb und auch wegen ihrer unzureichenden Verankerung in einem repräsentativen Teil der Bevölkerung können diese Organisation die politischen Parteien nicht ersetzen. Nicht nur die Sozialdemokratie, die Demokratie selbst ist damit in eine Krise geschlittert. Diese Krise kann nur überwunden werden, wenn es ge12  Linke, »tier mondistische« Gruppen versuchen eine Neudefinition dieses Leitbildes unter dem Motto von »Buen vivir«.

lingt, Menschen das Vertrauen in die politische Gestaltbarkeit von Gesellschaft und Wirtschaft zurückzugeben. Überzeugen kann solches Bemühen nur, wenn die vorgestellten Projekte an der Lebenswirklichkeit ansetzen. Thomas Nowotny  —  Die notwendige ­S ozial­d emokratie

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Die Sozialdemokratie muss sich dazu wieder zu ihren einstigen Zielen bekennen, für sie kämpfen und bereits aufgegebenes Terrain erneut besetzen. Das alleine wird allerdings nicht ausreichen. Die Welt und die Lebenswirklichkeit der Menschen haben sich inzwischen so sehr verändert, dass diese weiterhin gültigen, traditionellen Ziele durch neue ergänzt werden müssen. Warum aber sollte die Sozialdemokratie dazu befähigt sein? Oft scheint sie an Neuem ja nicht sonderlich interessiert und vielmehr verstrickt in die eigene Vergangenheit13. An einem Aufbruch zu solchen Zukunftsufern hindert sie offensichtlich auch der Zwang, zwei Wählergruppen gerecht zu werden, welche in ihrer Selbsteinschätzung und Grundstimmung auseinanderdriften. Das sind einerseits die gehobenen städtischen Mittelschichten; und das ist andererseits ihre einstige Stammwählerschaft von nunmehr enttäuschten und verbitterten Arbeitern. Aber ist das Wesen, ist die Seele einer Partei tatsächlich nur von den handgreiflichen Interessen, von der zahlenmäßigen Stärke und den Vorlieben jener bestimmt, die dieser Partei üblicherweise ihre Stimme geben? Oder gewinnt eine politische Partei eine unverkennbare Eigenheit, und damit eine unersetzliche politische Funktion, durch etwas Grundsätzlicheres; durch etwas, das langlebiger ist und daher den Wandel in den Gruppen überdauert, die traditionell einer Partei zugeordnet werden? Was wäre in diesem Sinne die Seele, das innerste Wesen der Sozialdemokratie? Sie ist die Erbin der Aufklärung. Sie steht daher für Rationalität, für gesellschaftliche Liberalität und Demokratie. Ebenfalls im Sinne der Aufklärung stützt sie ihre politische Funktion auf die Überzeugung, dass Fortschritt möglich ist, dass dieser aber kein mechanisch-automatischer ist, sondern dass er politisch vorangetrieben und abgesichert werden muss. Von liberalen Parteien unterscheidet sie dabei die Einsicht in die Unerlässlichkeit von tatsächlich erlebter Solidarität. Die Sozialdemokratie steht zudem für ein positives Menschen- und Gesellschaftsbild. Damit unterscheidet sie sich von konservativen Parteien, in deren Weltsicht gesellschaftlicher Zusammenhalt nur durch Zwänge unterschiedlichster Art gesichert werden kann. Vor allen anderen großen Parteien sollte diese ihre Grundhaltung die Sozialdemokratie befähigen, sich den negativen gesellschaftlichen Entwicklungen entgegenzustellen, Gestaltungsfreude zu wecken und das Leitbild einer besseren Zukunft vorzustellen und politisch umzusetzen. Im Lichte der Widrigkeiten, mit denen die europäische Sozialdemokratie zurzeit zu kämpfen hat, scheint diese Behauptung kühn und wirklichkeitsfremd. Ob sie es tatsächlich ist, lässt sich jedoch mit den folgenden ­GedankenExperimenten überprüfen:

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Sozialdemokratie — Analyse

13  Das manifestiert sich am Festhalten an altmodischen Formen der Organisation und Kommunikation, die nicht länger zeitgemäß sind und die den ihnen zugedachten Zweck daher auch nicht entsprechen.

a) Infolge weiterhin steigender Produktivität gehen in der Wirtschaft mehr Arbeitsplätze verloren als neue geschaffen werden. Das wird man durch eine allmähliche, aber letztlich massive Verkürzung der Arbeitszeit kompensieren müssen. Die dann immer noch nachgefragte Arbeit würde durch eine solche Verkürzung der Arbeitszeit so breit verteilt, dass alle Arbeitssuchenden auch tatsächlich Arbeit finden und sich so durch sinnstiftende Arbeit an der Gesellschaft beteiligen können. Welcher Partei darf man zutrauen, sich für eine derart radikale Verkürzung der Arbeitszeit einzusetzen? b) Gesellschaften neigen nicht von sich aus und gleichsam natürlich zu immer größerer Gleichheit. So man sich dem nicht energisch entgegensetzt, neigen sie vielmehr zu »Oligarchisierung«14. Eine kleine Zahl von Reichen und Mächtigen herrscht dann über den breiten Rest der übrigen Bevölkerung. Die nunmehr ansteigende Ungleichheit in der Verteilung von Vermögen und Einkommen zeigt, dass diese Gefahr akut ist. Welche Partei wäre am ehesten bereit, diese Entwicklung durch eine drastische Erhöhung der Einkommenssteuer-Spitzensätze, durch hohe Vermögens- und Erbschafts14  Der amerikanisch/österreichische Autor und Professor an der US Stanford University Walter Scheidel beweist an Hand von weit in die Vergangenheit reichenden Studien, dass der Trend zu Oligarchisierung und wachsender Ungleichheit schließlich immer nur durch Katastrophen, wie Kriege, Seuchen, staatlichen Zusammenbruch oder Hyperinflation gebrochen werden konnte Man sollte den Bruch des jetzigen Trends zu mehr Ungleichheit wohl besser nicht von dem Eintreten ähnlicher Katastrophen abhängig machen. 15  Selbstverständlich sind dem Anstieg des Staatsanteils am Inlandsprodukt dort Grenzen gesetzt, wo das Funktionieren der Wirtschaft dadurch schwer geschädigt würde. Aber dieser Punkt ist noch lange nicht erreicht. Auch ein mehr als 50 prozentiger Staatsanteil muss nicht notwendiger Weise zum Absturz der Wirtschaft führen. Die hohen Steuersätze in Kriegszeiten, und die Wirtschaftsgeschichte der skandinavischen Staaten stellen dafür den Beweis.

steuern zumindest etwas abzubremsen? c) Wenn Roboter und künstliche Intelligenz menschliche Arbeit ersetzen, so hat das zur Folge, dass jene, welche die Roboter und den Einsatz von künstlicher Intelligenz finanzieren, sich auch einen stets größeren Teil vom »wirtschaftlichen Kuchen« abschneiden. Das macht sowohl wirtschaftliche wie auch politische Krisen unausweichlich. Um diese zu verhindern, müsste sich die durch den Staat repräsentierte Allgemeinheit am Eigentum über Roboter und künstliche Intelligenz beteiligen. Welche Partei könnte es wagen, die zur Zeit tabuisierte Frage nach der Vergesellschaftung von Kapital erneut aufzuwerfen? d) Der gesellschaftliche Zusammenhalt und die auch für das Gedeihen der Wirtschaft unerlässlichen Rahmbedingungen können nur durch einen Staat gesichert werden, der seine sich zwangsweise weitenden Aufgaben auch tatsächlich wahrnimmt; der dazu über ausreichende finanzielle Mittel verfügt; und dessen Anteil am Bruttoinlandsprodukt daher künftig wieder größer wird.15 Welche Partei wäre noch am ehesten in der Lage und bereit, den jetzt gängigen Leitsatz von »Weniger Staat und mehr privat« in das Gegenteilige »Mehr Staat und weniger privat« umzukehren? e) Die dichter werdende Vernetzung von Gesellschaften, von Wirtschaften und Staaten, verlangt nach einer über staatliche Grenzen hinausreichenden Zusammenarbeit. Es muss Regeln geben, welche diese Zusammenarbeit absichern, und überstaatliche Einrichtungen, die solche Regeln durchThomas Nowotny  —  Die notwendige ­S ozial­d emokratie

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setzen. Die Handlungsfreiheit, die Souveränität von Staaten wird dadurch notwendigerweise begrenzt. Doch ist diese Einengung von Souveränität der Preis und die Voraussetzung für das friedliche Neben- und Miteinander unterschiedlicher Gesellschaften und Staaten. Eine Minderung staatlicher Souveränität ist allerdings nicht sehr populär. Welchen Parteien könnte man es noch am ehesten zutrauen, entgegen dem nun vorherrschenden Zeitgeist eines neuen Nationalismus einen solchen Souveränitätsverzicht einzufordern und im Gegenzug die internationalen Einrichtungen zu stärken? f) All das hat zur Voraussetzung, dass Gesellschaften und Staaten als solche, also als Kollektiv, in der Lage sind, zur Absicherung ihrer Existenz und ihrer Wohlfahrt wirksam zu handeln. Das können sie nur auf der Grundlage von gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Solidarität. Diese Voraussetzung wird zerstört, wo sich das Prinzip der Konkurrenz, des Wettstreites von jeder mit jedem an die Stelle von Gemeinschaftlichkeit setzt, wo öffentlicher Raum vernichtet wird und sich eine alle Einzelgruppen überschreitende Kommunikation ausdünnt. Welche Partei würde es sich zum Programm und wichtigsten Ziel machen, die Gemeinschaftlichkeit wieder auszuweiten, dabei die öffentlichen Medien stärken und sich der Parzellierung und privaten Aneignung von all dem entgegenstellen, das bislang öffentlich und allen zugänglich war? Kurzum: Weder konservative noch wirtschaftsliberale Parteien sind in der Lage, auf diese Weise die Tore in eine bessere Zukunft zu öffnen. Das wäre die Aufgabe und zugleich die Chance der Sozialdemokratie.

Dr. Thomas Nowotny, geb. 1937, Dozent für Politikwissenschaft, ehemaliger Diplomat, war einst Sekretär des österreichischen, sozialdemokratischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky und wirkt in der reformerischen »Sektion 8« der Wiener Sozialdemokraten mit.

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WAS DIE SPD BRAUCHT WIE LINKER REALISMUS UND IDEALISMUS ZUSAMMENGEHEN ΞΞ Nils Heisterhagen

Am Ende des Kommunistischen Manifests von Karl Marx und Friedrich Engels stehen diese Zeilen: »Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«1 Der Proletarier, der Arbeiter, er wurde hier als das »Subjekt der Veränderung« identifiziert. Er sollte sich gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung erheben und damit die Veränderung bewirken. Darauf beruht der Marxismus. Der Marxismus konnte sehr klar angeben, wer das Subjekt der Veränderung ist und woher die Kraft der Veränderung kommt. Nämlich von der Macht der Arbeiterbewegung, die erst auf der Straße und dann im Parlament ihre Rechte und eine substanzielle Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse einforderte. Der parteipolitische Arm dieser Bewegung war einst die SPD. Die Zeiten haben sich jedoch geändert. Nicht nur blieb die Revolution aus, weil die Sozialdemokratie durch Reformen das Leben der Arbeiter wesentlich verbesserte. Leider hat sich die SPD zuletzt auch von ihrer Aufgabe verabschiedet, der politische Arm derer zu sein, die nach substanzieller – sozio-ökonomischer – Verbesserung ihres Lebens trachten. Vielmehr hat die SPD im Zuge ihrer Politik der »Neuen Mitte« und des »Dritten Weges« einer Liberalisierung der Ökonomie und der Gesellschaft 1  Karl Marx u. Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Stuttgart 2017, S. 84. 2  Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band I. Der Zauber Platons, Tübingen 2003.

mit einem doppelten anything goes das Wort geredet und damit auch die Idee einer »politischen Bewegung« und eines historischen Ziels von Geschichte für beendet erklärt. Man wollte fortan postideologisch und rein pragmatisch sein. Oder, in Anlehnung an Karl Popper2: Platons Traum aufgeben und stattdessen die Stückwerktechnologie des »Piecemeal Engineering«, bei gleichzeitiger Akzeptanz des »Endes der Geschichte«3 durch den Sieg des Liberalismus, zum zentralen politischen Handlungsmotiv erklären. Kurz: Es

3  Francis Fukuyama, The End of history and the last man, London 1992.

gab Reformen, aber diese zielten erstens auf mehr Liberalisierung in jeder Hinsicht. Und zweitens mündete dieses Politikverständnis zuletzt in einer

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Art politischer Verwaltungsphilosophie, die keine Person besser verkörpert als Angela Merkel. Politische Leidenschaft schien man hingegen zuletzt nur noch für liberale Gesellschaftspolitik zu entwickeln (»Ehe für alle« etc.) – alle anderen Felder wurden ansonsten gemütlich administriert. Die großen Konflikte zwischen Arbeit und Kapital hatte man zuvor durch das »Ende der Geschichte« für obsolet erklärt. Von Rudi Dutschkes Postulat »Geschichte ist machbar«4 aber blieb kaum mehr etwas übrig. Stattdessen entwickelte sich in der SPD eine neoliberalpostmoderne Teleologie, die davon ausgeht, dass, fast von unsichtbarer Hand, alles seinen richtigen Weg nähme. Und so verlor die SPD nicht nur tendenziell das Bewusstsein, dass es ein Subjekt der Veränderung braucht, um voranzukommen, sondern sie verlor sogar das Bewusstsein dafür, dass Geschichte etwas ist, was man herbeiführen kann und muss, wenn sie in die richtige Richtung gehen soll. »Schaut dem Liberalismus beim Siegen zu« – so ließe sich dieses neue Bewusstsein beschreiben, welches die Politik der linken Mitte in den 1990er und 2000er Jahren langsam erzeugte. Und weil die SPD in diesem Bewusstsein bis heute gefangen ist, haben sich jene vielen Wähler von ihr entfremdet, die sich wünsch(t)en, dass die SPD die Tatkraft und das Bewusstsein ausstrahlt, mit Mitteln des Staates aktiv dafür zu arbeiten, dass nicht nur ihr Leben besser, sondern das gute Leben für alle Realität wird. Das Singen des Arbeiterliedes »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« auf SPD-Partei­ tagen verkommt auch deshalb nur noch zur Solidaritätsfolklore, weil viele Funktionäre längst das Bewusstsein dafür verloren, was das überhaupt bedeutet und impliziert. Sie sind zu Spiegelstrich-Akrobaten geworden, die als linker Flügel der CDU im Grunde nur noch darum kämpfen, der CDU-Rechten sozialpolitische Kleinmaßnahmen abzutrotzen. Sie sind diese Akrobaten aber auch deshalb geworden, weil sie, nochmals, »historisches Streben« weitgehend aufgegeben haben. Zur Verteidigung der SPD-Funktionäre: Es fällt in der Tat nicht leicht, ein neues »Subjekt der Veränderung« zu identifizieren, auf welches die Sozial­ demokratie bauen könnte, um sich ihrerseits aus der Gefangenschaft des reinen Pragmatismus zu befreien. Denn der Facharbeiter beispielsweise ist wohl weniger ein Utopist, als ein »Retrotopist«. Zygmunt Baumans »Retrotopia«-Analyse5 heranziehend könnte man sagen, dass der Facharbeiter eher eine Welt zu verlieren, als eine Welt zu gewinnen hat. Denn heute hat er meist (noch) eine ökonomisch sichere Existenz. Aber durch den Aufstieg Chinas und Südkoreas, durch Digitalisierung und Mobilitätswende wird es zu einem harten Umbruch und großen Unsicherheiten in der deutschen Industrie kommen – allen voran in der deutschen Autoindustrie. Sicherheit aber

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4  Rudi Dutschke, Geschichte ist machbar: Texte über das herrschende Falsche und die Radikalität des Friedens, Berlin 2018. 5  Zygmunt Bauman, Retrotopia, Berlin 2017.

ist das primäre Credo des Facharbeiters heute. Er will absichern. Und das im Nationalstaat. Dadurch ist er zwar noch nicht »konservativ«, aber eben auch nicht mehr eindeutig »progressiv«. Mit einer übertriebenen links-libertären Progressivität – etwa als einseitigem Fokus postmoderner Gesellschaftspolitik – und einer rein auf Werte konzentrierten Politik wird man diesen Facharbeiter daher elektoral eher verlieren, an die AfD etwa oder an die CDU. Die sozialstrukturelle Zusammensetzung der AfD-Wählerschaft zeigt dies bereits eindrücklich: Laut einer Analyse von infratest dimap hat die AfD bei der Bundestagswahl insbesondere bei den Arbeitern (21 Prozent) und Arbeitslosen (auch 21 Prozent) gepunktet.6 Bei der Bundestagswahl wählten zudem 15 Prozent aller Gewerkschaftsmitglieder die AfD.7 Das ist die Wiederholung der französischen Wählerwanderung von links nach rechts, die etwa Didier Eribon so vortrefflich beschrieben hat.8 Was die SPD daher bräuchte, wäre eine auf »politische Ökonomie« und ökonomische Interessen fokussierte Politik, die zunächst einmal sicherheitsorientiert, aber zugleich progressiv ist. Progressiv kann diese sozialdemokratische Sicherheitspolitik etwa dadurch sein, dass man die Bezugsdauer des Arbeitslosengeld I deutlich erweitert oder eine neue staatszentrierte Agenda für die Industrie 4.0 entwirft – um nur einige Beispiele zu nennen. Nun ist etwa eine Maßnahme wie die Erweiterung der Bezugsdauer des Arbeits­ losengeld I auch für einen linken Pragmatiker schnell zu befürworten. Aber allein dadurch wird die SPD gerade nicht wieder zu einer Partei, die den großen Wurf und große Ziele im Blick hat. Eine sozialdemokratische Sicherheitspolitik müsste die SPD vielmehr zunächst stabilisieren – denn nicht nur der Facharbeiter wäre mit so einer Politik zu erreichen –, um dann, nach einer Phase der Stabilisierung, mit neu gewonnener Stärke, wieder eine Vision für das 21. Jahrhundert entwerfen zu können. Kurz: Was die SPD braucht, ist ein linker Realismus, der einen linken Idealismus bereits in sich trägt. 6  Vgl. Infratest Dimap, Bundestagswahl. Ergebnisse und Schnellanalysen auf Basis der Kurzfassung des Infratest-dimap-Berichts für die SPD, 24.9.2017 7  Siehe hierzu DGB, Bundestagswahl 2017. So haben GewerkschafterInnen gewählt, 25.09.2017, URL: http://www.dgb. de/themen/++co++1aca2e9ea209–11e7–99c0–525400e5a74a [eingesehen am 12.11.2017]. 8  Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, Berlin 2016.

Verstrickt sie sich aber weiter in moralische Diskurse darüber, wofür die Linke stehen sollte und warum die Rechtspopulisten unwählbar sind, so wird sie auch zukünftig Wähler verlieren, die zurzeit realistische Antworten auf die großen Fragen der kommenden ökonomischen Umbrüche erwarten. Viele Wähler haben für die Feinheiten der identitätspolitischen Streitigkeiten, die politische Funktionäre meist von Mitte-Links mit der CSU und der AfD führen, wenig Verständnis. Es ist schließlich nicht so, dass gerade in Deutschland Minderheitenrechte akut gefährdet sind oder die »Ehe für alle« wieder gekippt zu werden droht. Die intensiv geführte Werte- und Weltbild-Debatte scheint deshalb vor allem etwas zu sein, was größtenteils den Diskurs zwischen den Funktionären bestimmt und weniger Verständnis beim Nils Heisterhagen  —  Was die SPD braucht

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durchschnittlichen – eher unpolitischen – »Wähler« findet. Ob die unpolitische Haltung der Mehrheit selbst problematisch ist, muss hier nicht beantwortet werden. Zumindest aber soll die Vermutung geäußert werden, dass die meisten Wähler jenseits von AfD und Grünen ihre politische Stimme bei einer Wahl nicht danach abgeben, für welches Weltbild sie sich entscheiden wollen und müssen. Der »Weltbild-Diskurs« interessiert viele Bürger schlicht und einfach nicht. Ihre Sorgen, Nöte und Probleme liegen woanders und sind zumeist sehr real. Sie liegen nicht in einer normativen Debatte, nicht im Diskurs. Nein: Ihre Probleme liegen ihnen vor den Füßen, oder, klassisch mit Marx: Nicht im Kopf spuken ihnen die Probleme herum, nein, sie liegen vor ihnen und sollen aus dem Weg. Deshalb muss die politische Linke, will sie wieder an Stärke gewinnen, aus dem »Weltbild-Diskurs« ausbrechen. Solange sie primär(!) eine Wertedebatte führt und sprichwörtlich über jedes Stöckchen springt, welches die AfD oder die CSU ihr hinwirft, und demnach vor allem zum Kommentator der Entgleisungen von rechts wird, solange wird sie keine Mehrheitsfähigkeit erlangen können. Zwar ist ihr Einsatz für »Werte« vor dem Hintergrund rechtsextremer Tendenzen bei der AfD weder falsch noch unangebracht. Doch von der Linken werden Konzepte und Reformeifer, ja, der realpolitische Kampf für eine bessere Welt erwartet. Und diese bessere Welt kann man nicht einfach herbeireden. Sprache allein rettet die Welt schließlich nicht. Man muss für das »gute Leben« aller Gesellschaftsschichten vielmehr etwas tun – Gesetze auf den Weg bringen, Allianzen schmieden, Konflikte eingehen. Geschichte ist machbar. Nur wer das versteht, wird auch aktiv werden und nur der wird auch mit linker Politik Erfolg haben können. Und am Ende erweist sich grundsätzlich jeder Mensch als Subjekt der Veränderung, wenn er denn nur ein Bewusstsein dafür hat, wie in einer realen Welt Fortschritt möglich ist. Dieser muss nämlich erkämpft werden. Wenn es der Linken gelingt, dieses Bewusstsein wieder zu erschaffen, dann hat sie den ersten Schritt in die richtige Richtung getan.

Dr. Nils Heisterhagen, geb. 1988, ist Sozial­ demokrat und Autor von »Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen«, welches gerade im Dietz-Verlag erschienen ist.

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»ERFOLGREICH« REGIERENDE SOZIALDEMOKRATEN POLITISCHE AUFSTIEGSWEGE, RICHTUNGS- UND KOMPETENZPROFILE ΞΞ Detlef Lehnert

Auf der Suche nach erfolgreich regierenden Sozialdemokraten kann zeithistorisch das Dreigestirn Willy Brandt/Bruno Kreisky/Olof Palme vor dem geistigen Auge erscheinen. Für die Altersgruppe der über 60-Jährigen (also eine Mehrheit der SPD-Mitglieder Stand Ende 20161) gilt das sogar in eigener Erinnerung. Kreisky regierte als Bundeskanzler das katholische, außerhalb von Wien strukturell und mental (was heute politisch durchschlägt) tendenziell am ehesten mit Bayern vergleichbare Österreich von 1970 bis 1983; er gewann sogar dreimal hintereinander (1971, 1975, 1979) eine außergewöhnlich stabile absolute Stimmenmehrheit zwischen 50,04 Prozent und 51,03 Prozent für die SPÖ. Diese hieß übrigens damals – seit der antifaschistischen Widerstandszeit und bis 1991 – Sozialistische Partei Österreichs, womit bereits vorab klargestellt sei: Sozialdemokratie wird hier im Sinne einer Grundorientierung verstanden und nicht allein nach Parteinamen zugeordnet. Brandts Kanzlerzeit (1969–1974) fiel zwar, nachdem er als früherer Berliner Regierender Bürgermeister (1957–1966) und bundesrepublikanischer Außenminister (1966–1969) auch professionell gut vorbereitet war, kürzer aus – und war bis hin zum nur knapp gescheiterten Sturzversuch durch das konstruktive Misstrauensvotum der konservativen Opposition 1972 auch weitaus prekärer. Doch wurden diese viereinhalb Jahre, in einem gegenüber dem jeweils kleinen sowie neutralen Österreich und Schweden international stärker eingebundenen Land, vom politischen Akteur selbst wie für sein Publikum nicht nur besonders intensiv erlebt, sogar bis hin zum Friedensnobelpreis für Brandt im Jahr 1971. Darüber hinaus folgte auch die Kanzler1  54,3 Prozent entfielen per 31.12.2016 auf die Altersgruppen ab 61 Jahre, vgl. Oskar Niedermayer, Parteimitglieder in Deutschland: Version 2017 NEU, Berlin 2017, S. 21, URL: http:// www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/ forschung/systeme/empsoz/schriften/Arbeitshefte/P-PMIT17-NEU. pdf [eingesehen am 12.11.2018].

schaft von Helmut Schmidt (1974–1982), der zuvor schon das einflussreiche Amt des Bundesfinanzministers innehatte und als früherer Verteidigungsminister außenpolitisch ebenso vorbereitet war, mit fast identischem Enddatum wie die parallel verlaufende Ära Kreisky. Brandt hatte in vier Kanzlerkandidaturen die SPD von den 31,8 Prozent seines (mehr den »Parteiapparat« verkörpernden) Vorgängers Erich Ollenhauer im Jahr 1957 auf 45,8 Prozent der Zweitstimmen (sogar 48,9 Prozent der Erststimmen) bei der Bundestagswahl

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1972 vorangebracht. Schmidt konnte das hohe Niveau von 1969 mit knapp 43 Prozent auch 1976 und 1980 gegen den massiven Ansturm der CDU/CSU behaupten und wurde auch 1982 nicht vom Wahlvolk, sondern aufgrund des Koalitionswechsels der FDP abgelöst. Zur politischen Erfolgsbilanz von Brandt und Schmidt gehört auch die Außen- und Langzeitwirkung: Brandt erlebte als Präsident der Sozialistischen Internationale (SI), von 1976 bis zu seinem Todesjahr 1992, fast so etwas wie eine zweite informelle Regierungsperiode. Felipe González, sein ihm eng verbundener Vizepräsident der SI (seit 1978), amtierte von 1982 bis 1996 als spanischer Ministerpräsident mit erheblichen Verdiensten um die demokratische Erneuerung eines bis 1975 von der Franco-Diktatur unterdrückten Landes. Ein anderer, von 1972 bis 1981 amtierender Vizepräsident der SI, François Mitterrand, gehörte zwar, gebürtig im Jahr 1916, zur Generationsmitte zwischen Brandt (Jg. 1913) und Schmidt (Jg. 1918). Er trat jedoch als französischer Präsident von 1981 bis 1995, somit parallel zum eine volle Generation jüngeren González (Jg. 1942), hinsichtlich der Amtsperiode ebenfalls die Nachfolge der Ära Brandt/Schmidt bzw. Kreisky an. Ebenso wie bei Brandt überstieg der innere und äußere Nachruhm des erst 2015 verstorbenen Altkanzlers Schmidt (was es zu Lebzeiten eines deutschen Ex-Regierungschefs seit dem Konservativen Bismarck zum Ende des 19. Jahrhunderts so noch nicht gegeben hatte) die unzweifelhafte Respektabilität während der Regierungszeit. Diese wurde auch vom finalen Scheitern 1982 durch das konstruktive Misstrauensvotum nicht wesentlich beeinträchtigt, durchaus im Unterschied zum jeweils zu späten Abschied von Adenauer, Kohl und inzwischen wohl ebenso Merkel (jeweils CDU). Auch Olof Palme brachte es, wie Kreisky, auf insgesamt über zehn Regie­ rungsjahre als schwedischer Ministerpräsident (1969–1976, 1982–1986). Zwar konnte er anders als seine vor allem im Heimatland legendären Vorgänger Per Albin Hansson (1932–1946) und Tage Erlander (1946–1969) – 1940 = 53,8 Prozent bzw. 1968 = 50,1 Prozent – keine absoluten Mehrheiten erzielen und stand Minderheitskabinetten vor, die recht zuverlässig von Linkssozialisten toleriert wurden. Doch in der Unterbrechungszeit seiner beiden Ministerpräsidentschaften entstand zur Einhegung des Ost-West-Konflikts unter wesentlicher Beteiligung von Vertretern der blockfreien Staaten der »Palme-Bericht« einer »Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit«, mit einem Vorwort des Brandt-Vertrauten Egon Bahr zur deutschsprachigen Ausgabe (Berlin 1982). Nahezu parallel erschien unter Teilnahme auch Palmes ein mit dem Namen des Ex-Kanzlers Brandt verbundener Bericht der »Nord-Süd-Kommission« zu Fragen der Entwicklungszusammen-

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arbeit und einer neuen Weltwirtschaftsordnung.2 Kreiskys von Brandt und Palme teilweise flankiertes besonderes Engagement für eine tragfähige Lösung im Nahost-Konflikt erstreckte sich hingegen über dessen Kanzlerjahre.3 »Erfolgreiche« sozialdemokratische Regierungszeit als Leitfrage dieses Beitrags ist freilich jeweils primär eine zeitgeschichtliche Außensicht, denn Palme wurde im Amt ermordet und Kreisky schied altersbedingt gesundheitlich noch stärker beeinträchtigt aus, als dies auch für die sich bald regenerierenden Brandt und Schmidt jeweils galt. Der schwedische Regierungschef Hansson starb gar 1946 im Amt, so wie vor ihm sein dänisches Pendant Thorvald Stauning, der nach kurzem Auftakt 1924–1926 dann von 1929 bis 1942 mit seiner Politik gegen die Weltwirtschaftskrise, mit dem Sozialstaatsaufbau und der zuletzt schwierigen Selbstbehauptung gegenüber NS-Deutschland eine historisch prägende Figur wurde. ERFOLGSTRIO BRANDT, KREISKY UND PALME Das Regierungschef-Trio Brandt/Kreisky/Palme verdient einen nicht an der Oberfläche von Amts- und Wahldaten verharrenden zweiten Blick, weil von ihnen ein aufschlussreicher Briefwechsel, ergänzt um zwei dokumentierte Gesprächsrunden, aus den Jahren 1972 bis 1975 überliefert ist.4 Wenig überraschend war die Selbstkennzeichnung der Sozialdemokraten im Brief von Kreisky (2.5.1972) an die beiden anderen Regierungschefs, »daß sie von einem bemerkenswerten Mut zur Verantwortung erfüllt sind«. Angesichts eines häufig missverstandenen Pragmatismus nicht gleichermaßen selbstverständlich war Kreiskys eigene Rückversicherung »in einem weit aus­holenden 2  Willy Brandt (Hg.), Das Überleben sichern. Bericht der Nord-Süd-Kommission. Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer, Köln 1982.

grand design« für die »Grundsätze sozialdemokratischer Regierungstätigkeit«. Ebenso galt dies hinsichtlich der Zielsetzung, dass tagespolitisch unvermeidliche »Taktik dem, was Max Weber ›Gesinnungsethik‹ nennt, sichtbar untergeordnet bleibt« (S. 30). Insofern sollte »die Arbeit regierender Sozialdemokraten die Orientierung an den Grundwerten des demokratischen Sozialismus

3  Oliver Rathkolb, Brandt, Kreisky and Palme as Policy Entrepreneurs. Social ­Democratic Networks in Europe’s Policy Towards the Middle East, in: Wolfram Kaiser u. a. (Hg.), Transnational Networks in Regional Integration. Governing Europe 1945–83, Hampshire 2010, S. 152–175. 4  Willy Brandt u. a., Briefe und Gespräche, Frankfurt a. M. 1975; daraus Seitenzahlen im Text dieses Abschnitts

deutlich zutage treten lassen« (S. 31). Kaum noch erinnert wird heute Kreiskys frühzeitiger Hinweis, dass wachsender »Umweltverschleiß … auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen« erfolge und nun (1972) »die Zeit für radikale Lösungen gekommen« sei (S. 36). Auch Palme (10.5.1973) leitete aus dem »größeren Verschleiß von Mensch und Natur« außer mehr »Arbeitsschutz« in erweitertem Verständnis die »Notwendigkeit« ab, »unsere Umwelt zu schützen und mit den empfindlichen Naturschätzen hauszuhalten« (S. 67). Brandt stimmte im Antwortbrief (17.9.1972) auf Kreisky über den gemeinsamen »Mut zur Verantwortung« hinaus auch »der Auffassung zu, daß sich Detlef Lehnert  —  »Erfolgreich« regierende Sozialdemokraten

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die anzuwendende Taktik sichtbar dem unterzuordnen hat, was Max Weber ›Gesinnungsethik‹ nennt« (S. 39). In politischer und publizistischer Verwendung wird Webers Begriffspaar fast immer einseitig verantwortungsethisch und kaum mit dem Fazit zitiert: Es seien »Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den ›Beruf zur Politik‹ haben kann«5. Gerade deshalb ist dieses Profil von – insoweit wirklich im Vollsinne zur Politik berufenen – Regierungschefs erwähnenswert. Mit Recht erinnerte Brandt in der ökologischen Replik auf Kreisky an seine bereits im Wahlkampf 1961 erhobene und damals noch dumpf bespöttelte Forderung, »der Himmel über der Ruhr müsse wieder blau werden« (S. 47). Kreisky begründete zudem in einem weiteren Brief (8.5.1973), auf die »Wirtschaftskrise« der 1930er Jahre geschichtsbewusst zurückblickend, wie »beide sozialdemokratischen Perspektiven, die reformistische wie die revolutionäre, in eine Sackgasse geführt haben« und auch weiterhin die »Unterscheidung zwischen systemverändernden und systembewahrenden Reformen« eine für die »Sozialdemokratie adäquate Perspektive« bleibe; es schlage in systemverändernder Wirkung von Reformen an einem bestimmten Punkt »die Quantität in Qualität um« (S. 57 f.). Da Kreisky »die Zukunft nicht für krisenfrei« hielt, vielmehr prognostizierte, dass »gewisse Gruppen von Beschäftigten einfach durch den technologischen Entwicklungsprozeß beschäftigungslos werden« und eine »neue Art struktureller Arbeitslosigkeit« bereits »voraussichtlich Ende der siebziger Jahre virulent werden« könne (S. 61 f.), hielt er hinsichtlich von Problemlösungen auch eine »neue Blüte der Gesellschaftswissenschaften« (S. 59 f. u. 64) für erforderlich und förderungswürdig. Solchen »Optimismus« teilte Brandt (10.7.1973) jedenfalls »bei der Neubestimmung der Politik« nicht ganz (S. 77), stimmte aber dem Definitionsversuch Kreiskys zu, auch wenn er die systemverändernden Reformen eher »strukturverändernde« nennen wollte (S. 79). Wichtig erschien ihm auch die europäische Weiterentwicklung zu einer »Sozialunion« (S. 82). Für Palme (29.4.1974) war dabei eine sozialdemokratische »Alternative zu privatem Kapitalismus und bürokratischem Staatskapitalismus stalinistischer Art« vordringlich (S. 110). Kreisky erinnerte in einem diesbezüglich letzten Brief (15.4.1975) daran, dass »neue Programme« in den beteiligten Ländern rasch aufeinander gefolgt waren: »Wien im Mai 1958, Godesberg im November 1959, Stockholm 1960«; doch er wollte den Stand der Grundsatzdebatten nicht auf den jener Zeitspanne verengen: »Diese Distanzierung von allem Weltanschaulichen und dieses sich Reduzieren auf eine politische Gesinnungsgemeinschaft scheinen

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Sozialdemokratie — Analyse

5  Max Weber, Politik als Beruf, in: Ders., Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1971, S. 505–560, hier S. 559.

mir jedoch in der Zwischenzeit obsolet geworden zu sein« (S. 132). Nicht zufällig hatte Kreisky (selbst Agnostiker jüdischer Herkunft) in einem früheren Brief (2.5.1972) sich positiv auf den katholischen Befreiungstheologen Dom Helder Camara bezogen (S. 38). In abschließender Dreierrunde (25.5.1975) diagnostizierte Palme – bevor der geschichtskundige Kreisky den Gewerkschafter Fritz Tarnow vom Leipziger Parteitag der SPD 1931 mit dem »Arzt am Krankenbett des Kapitalismus« zitierte (S. 139) – »eine Krise des kapitalistischen Systems« mit der Gefahr »einer Art faschistoider Entwicklung«, begünstigt durch öffentliche »Meinungsmacher«, die stets hektisch wie »ein Spatzenschwarm zum nächsten Telegraphenmast« fliegen, weshalb es »dem einzelnen kaum noch möglich ist, sich ein klares Bild zu verschaffen« (S. 136 f.). Kreisky insistierte auf der historischen Einsicht, dass »Arbeitslosigkeit« zur »Katastrophe« führen könne und daher unbedingt ein Gegensteuern erfolgen müsse: »Die Frage, wieviel Haushaltsdefizite sich ein Staat politisch leisten kann, ist keine wirtschaftliche, sondern eine Frage der politischen Beurteilung« (S. 143). SOZIALDEMOKRATISCHE ERFOLGSWEGE UND ERFOLGSPROFILE Mit letztgenannter Positionierung Kreiskys ist ein Stichwort gegeben, warum es insgesamt nicht richtig wäre, den zweiten insoweit »erfolgreichen« SPÖ-Langzeitkanzler (1986–1997) Franz Vranitzky kontrastierend zu Kreisky zu sehen. Noch 2011 äußerte Vranitzky (nachdem die SPD im Mai/Juni 2009 in der Großen Koalition die entsprechende deutsche Verfassungsänderung mitgetragen hatte) in einem Interview seine Überzeugung: »Die Schuldenbremse im Verfassungsrang ist abstrus. Was bedeutet das? Ich, Regierung, gehe zu dir, Parlament, und bitte dich: Verordne mir eine Schuldenbremse, weil allein schaff’ ich’s nicht!«6 Neben solchem Einwand der Abdankung eines demokratischen Mehrheitsprinzips − und damit von Wirtschafts- und Finanzpolitik zugunsten einer Verfassungsfixierung − ist es insoweit wohl geradezu eine Ewigkeitsgarantie für die deutsche konservativ-wirtschaftsliberale Hegemonie, dass diese gegen diesbezügliche Änderungswünsche immer nur eine Sperrminorität von einem Drittel im Bundestag oder Bundesrat benötigt. Zwar verabschiedete sich die SPÖ der Ära Vranitzky in drei wesentlichen 6  Christian Böhmer im Interview mit Franz Vranitzky, »Schuldenbremse ist abstrus«, in: kurier.at, 05.12.2011, URL: https://kurier.at/politik/inland/­ vranitzky-schuldenbremseist-abstrus/749.872 [eingesehen am 05.8.2018].

Punkten von einem österreichischen Sonderweg (gegenüber der Bundesrepublik auch der Ära Brandt/Schmidt): bezüglich der nun massiv krisenbetroffenen verstaatlichten Industrie und des EU-Beitritts Anfang 1995 (mit Schweden und Finnland) sowie hinsichtlich der größten historischen Schwachstelle Kreiskys. Während dieser mit einer nicht etwa (wie vorübergehend 1983 bis 1986) teilliberalisierten FPÖ 1970 Tolerierungsabsprachen getroffen hatte, Detlef Lehnert  —  »Erfolgreich« regierende Sozialdemokraten

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was angesichts der 1971 erlangten absoluten Mehrheit rasch vergessen war, darüber hinaus aber eine kritische Haltung in der Geschichtspolitik gerade wegen seiner exponierten Rolle als Widerstandspolitiker jüdischer Herkunft scheute, beendete Vranitzky 1991 den Mythos von Österreich als primär nur Opfer Hitlers durch ein offizielles Schuldbekenntnis. In grundlegenden Sozialstaatsfragen wie dem öffentlichen und genossenschaftlichen Wohnungsbau (musterhaft seit dem »Roten Wien« der 1920erJahre), dem heute 55 Prozent und nicht 45 Prozent wie in Deutschland betragenden Spitzensteuersatz und dem höheren Rentenniveau ist die SPÖ auch nach Vranitzky nicht den Weg von »New Labour« und der »Agenda 2010« gegangen, sondern hat in solchen Kernpunkten einen sozialdemokratischen

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Sozialdemokratie — Analyse

Kurs in schwierigem Umfeld gehalten. Nicht nur ganz eindeutig der (in Österreich volksgewählte) Bundespräsident Heinz Fischer (2004−2016) als damals noch junger SPÖ-Fraktionschef (seit 1975), sondern teilweise sogar auch sein Nachfolger Alexander Van der Bellen (damals SPÖ-Mitglied, bevor er in den 1990er Jahren zu den Grünen wechselte) können als politische Erben der Ära Kreisky gelten. Allerdings hatte Kreisky zweifellos bessere Startbedingungen für nachhaltigen und viel beachteten Erfolg als seine Gesprächspartner Brandt und Palme. Eine zweieinhalb Jahrzehnte andauernde Epoche von konservativen Bundeskanzlern, zuletzt seit 1966 gar mit absoluter Mandatsmehrheit, mit einer SPÖ-Alleinregierung spektakulär abzulösen, begründete seinen innenpolitischen Mythos. Nach immer noch knapp 48 Prozent bei seinem fünften Antreten als Spitzenkandidat 1983 war er zuletzt nicht wirklich gescheitert, sondern verabschiedete sich im 73. Lebensjahr auch krankheitsbedingt. Mit stets zwischen gut 42 Prozent und knapp 45 Prozent Stimmenanteil hatte sich die SPÖ freilich bereits in den 1950er und 1960er Jahren stets in der Nähe zur möglichen Kanzlerschaft befunden, war dabei 1953 und 1959 sogar die stimmen-, aber nicht mandatsstärkste Partei geworden (wegen einer die kinderreicheren Landgebiete begünstigenden Sitzzuteilung). Das war bei der SPD bei weitem anders. Sie arbeitete sich nur mühsam von knapp 29 Prozent (1953) bis auf gut 39 Prozent (1965) voran, um nach der Großen Koalition (seit Ende 1966) dann in der Bundestagswahl 1969 vom Scheitern der NPD an der 5-Prozent-Hürde und der Koalitionsbereitschaft der FDP zu profitieren. Man könnte historisch noch weiter zurückgreifen: Die SDAP – die Vorläuferin der SPÖ – hatte auch schon im November 1930 ohne krisenbedingte Verluste nach links oder rechts über 41 Prozent erzielt, als die SPD zwei Monate zuvor mit Stimmenabfluss in beide Richtungen unter 25 Prozent zurückgefallen war. Der Sozialdemokrat Karl Renner stand 1918 wie 1945 symbolträchtig an der Staatsspitze zweier österreichischer Republikgründungen,7 während die Nachfolger von Ebert und Scheidemann (SPD) 1919 dann 1949 7  Richard Saage, Der erste Präsident. Karl Renner – eine politische Biografie, Wien 2016. 8  Da sein politischer Weg im Vergleich zu dem Brandts und auch Kreiskys hierzulande weniger bekannt ist, als Gesamtüberblick: Henrik Berggren, Olof Palme. Vor uns liegen wunderbare Tage. Die Biographie, München 2011.

in einem deutschen Teilstaat Theodor Heuss (FDP) und Konrad Adenauer (CDU) im Sinne einer liberal-konservativen Gründungshegemonie hießen. Zwar dominierte in Schweden die SAP mit Regierungschefs von 1932 bis 1976 schon zuvor eindeutiger als in Österreich. Aber Palme hatte seinen politischen Weg unter dem Langzeitvorgänger Erlander gemacht, vom jungen Sekretär 1953 bis zuletzt (seit 1967) zu dessen Bildungsminister.8 Wie ohne das tragische Ende der Ermordung 1986 die Gesamtbilanz Palmes hätte aussehen können, muss offen bleiben. Für ein volles Jahrzehnt Ministerpräsidentschaft in landestypischer Form der Minderheitsregierung reichte es Detlef Lehnert  —  »Erfolgreich« regierende Sozialdemokraten

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wegen der langen SAP-Hegemonie auch noch bei einem Nachfolger (Göran Persson 1996−2006). Ein Rekordhalter als sozialdemokratischer Regierungschef mit insgesamt 16 Jahren in Norwegen ist übrigens der hierzulande kaum bekannte Einar Gerhardsen (1945−1951, 1955−1965), der aber dem Quisling-Regime der NS-Besatzungszeit nachfolgte. Die in den 1920er Jahren linkssozialistische, dann allmählich nach schwedischem Muster sozialdemokratische Arbeiterpartei Norwegens erzielte 1945 bis 1957 viermal hintereinander die absolute Mandatsmehrheit bei Stimmenanteilen, die von 41,0 Prozent auf 48,3 Prozent anwuchsen. Als einziger weiterer norwegischer »Staatsminister« (wie die Amtsbezeichnung lautet) und zugleich überhaupt einzige Frau als sozialdemokratische Regierungschefin erreichte Gro Harlem Brundtland insgesamt zehn Jahre (1981, 1986−1989 und 1990−1996). Sie lässt sich auch deshalb gewissermaßen als norwegische Erbin Palmes einstufen, da in der Nachfolge der Brandt-Kommission ein »Brundtland-Bericht« mit dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung jene Stichworte breiter in der internationalen Debatte verankerte.9 TONY BLAIR UND GERHARD SCHRÖDER ALS »ERFOLGREICH« REGIERENDE SOZIALDEMOKRATEN? Nicht allein aus Umfangsgründen bleibt diese knappe Übersicht auf Nord-, Mittel- und Westeuropa begrenzt. Hinsichtlich der Vergleichbarkeit mit Südund insbesondere Osteuropa überwiegen die Zweifel und fehlen ohnehin ähnlich prägende Beispiele. Im Falle des von 1997 bis 2007 amtierenden britischen Premiers Tony Blair wird man die spezifische Labour-Parteien­ familie zugleich außereuropäisch (zumindest Australien und Neuseeland einbeziehend10) betrachten müssen. Dies könnte jedoch gerade in historischer Parallelität mit der Herausbildung der skandinavischen Wohlfahrtsstaaten, von denen in der Exilzeit auch Brandt und Kreisky wichtige Impulse empfingen, zu der schwierigen Definitionsfrage hinführen, ob dann nicht auch US-Präsident Franklin D. Roosevelt (1933−1945) mit seinem New Deal

9  Volker Hauff (Hg.), Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven 1987.

nach späterem Verständnis ein jedenfalls sehr erfolgreich regierender Quasi-­ Sozial­demokrat gewesen ist. Ein US-Spitzensteuersatz bis achtzig Prozent schon in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg (der zu Erhöhungen bis über neunzig Prozent führte) nahm schwedische Verhältnisse bereits vorweg, so dass gesellschaftspolitische »­Atlantic Crossings«11 wohl in beiden Richtungen stattgefunden haben. Während aber der Erfolg Roosevelts sich auch in der Langfristperspektive der Nachwirkungen und des Nachruhms (der nicht alle Maßstäbe von 2018

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10  Vgl. die Länderbeiträge in Felix Butzlaff u. a. (Hg.), Genossen in der Krise? Europas Sozialdemokratie auf dem Prüfstand, Göttingen 2011, S. 151–189. 11  Daniel T. Rodgers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge/Mass. 1998.

an die 1930er Jahre anlegen kann) bemisst, gilt insbesondere seit dem politischen Debakel seiner Gefolgschaft zu George W. Bush im völkerrechtswidrigen und mit »Fake News« angebahnten Irak-Krieg das Gegenteil für Blair.12 Darin unterscheidet sich die kürzere Regierungszeit Gerhard Schröders (1998−2005) von jener Blairs, weshalb die Parallelisierung der beiden zuweilen etwas kurz greift (u. a. wegen des mit beiden Namen verbundenen Papiers der Berater Bodo Hombach und Peter Mandelson von 1999). Doch ohne das − sich als ebenso sachgerecht wie populär erweisende − Nein zum Irak-Krieg im Wahlkampf 2002 wäre die Kanzlerschaft Schröders wohl nach einer Amtsperiode beendet gewesen. Sie hinterließ im (bis in die Gegenwart) folgenreichen Bruch mit dem damaligen Parteichef und Finanzminister Oskar Lafontaine 1999 (was Brandt und Schmidt in jeweils größerer Selbstdisziplin trotz erheblicher Spannungen zu vermeiden wussten13) sowie in Inhalt und Umsetzung der »Agenda 2010« seit 2003 zu viele Erblasten, als dass überwiegend von erfolgreicher sozialdemokratischer Regierungszeit gesprochen werden könnte. Viel mehr als das recht schnell vergessene, in manchem »neoliberal« getönte Hombach/Mandelson-Papier, wurde der Wirtschafts- und Arbeitsminister Clement (2002−2005), der 2008 aus der SPD austrat und seither in FDP-Nähe wohl die ihm gemäße politische Heimat gefunden hat, zu einem Symbol der inneren Erosion, die weder im Kern sozialdemokratisch im Sinne von Brandt/Kreisky/Palme noch letztendlich politisch erfolgreich war. Dennoch verschaffte sich der zweifellos hochtalentierte Wahlkämpfer Schröder 2005 mit den aus heutiger Sicht geradezu traumhaften 34,2 Prozent für die SPD (neben 8,7 Prozent PDS und 8,1 Prozent Grünen, nahezu identisch mit Linken/Grünen 2017) einen den vorausgegangenen Niedergang in Landtag12 

Auch dies ist ein markanter Unterschied zu »Sozialdemokraten des Typus Brandt/Kreisky/ Palme« als nicht allzu weit zurückgreifender Traditionsbezug neben zu deren Zeiten fehlender Marktgläubigkeit; Danny Michelsen u. Franz Walter, Beyond New Labour?, in: Butzlaff u. a. (Hg.), S. 129–150. 13  Willy Brandt – Helmut Schmidt. Partner und Rivalen. Der Briefwechsel (1958–1992), hgg. und eingel. von Meik ­Woyke, Bonn 2015; Gunter Hofmann, Willy Brandt und Helmut Schmidt. Geschichte einer schwierigen Freundschaft, München 2012.

wahlen überstrahlenden Abgang. UNTERSCHIEDE UND GEMEINSAMKEITEN »ERFOLGREICHER« SOZIALDEMOKRATISCHER REGIERUNGSPERIODEN Wenn über Länder- und Epochengrenzen sowie personenbezogene Unterschiede hinweg Gemeinsamkeiten der »erfolgreichen« Regierungsperioden von sozialdemokratischen Führungspersönlichkeiten aufgespürt werden sollen, kristallisiert sich zunächst die Bedeutung eines Impulses des Neubeginns heraus. Brandt und Kreisky folgten jahrzehntelangen konservativ-christ­ demokratischen Kanzlerschaften, und auch davor hatte es nur jeweils für wenige Jahre sozialdemokratische Regierungschefs auf zentralstaatlicher Ebene gegeben. Das war über die Großstädte hinaus auf Landesebene schon in den 1920er Jahren anders (seit dem »Roten Wien« und dem preußischen Detlef Lehnert  —  »Erfolgreich« regierende Sozialdemokraten

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Ministerpräsidenten Otto Braun). Doch wäre dieses ein im synchronen und diachronen Vergleich hier nicht einmal stichwortartig befriedigend zu behandelndes Thema. Vom Glanz des Neuanfangs profitierten auch jeweils die lange Ära Gonzalez im davor jüngst erst demokratischen Spanien und diejenige Mitterrands in Frankreich nach Jahrzehnten der Präsidentschaften aus dem bürgerlichen Lager. In Schweden lag der Ursprungsimpuls bereits in der Ära Hansson, wo das später überschätzte Stichwort »Volksheim« durch das zukunftsorientiertere Konzept »Wohlfahrtspolitik« überlagert war,14 während in Dänemark Stauning mit dem fortwirkenden Nimbus der Antikrisen- und Wohlfahrtspolitik seit den 1930er Jahren verbunden blieb. Das gilt auch in einem Nachholprozess, um die Befreiung vom Quisling-Regime ergänzt, für den Norweger Gerhardsen und seine bereits als solche Neuland bedeutende Erbin Brundtland. Als zweiter, nicht minder wichtiger Faktor tritt jedenfalls seit den 1970er Jahren die Internationalität hervor. Diese wurde nicht allein vom grenzüberschreitend vernetzten Regierungschef-Trio Brandt/Kreisky/Palme verkörpert, sondern auch von den erwähnten, weit über das eigene Land hinaus wahrgenommenen Funktionen von Brundtland, Gonzalez und − bei aller traditionellen Nationalbindung und der Besonderheit des französischen Präsidialsystems − Mitterrand. Die Abweichung von der sonst hier zur Vorsortierung eingesetzten Zehnjahresspanne der Gesamtzeit im höchsten Regierungsamt, die für die sozusagen interne Kabinettsübergabe von Brandt auf Schmidt zugestanden wird, rechtfertigt sich zugleich aus dem hervorstechenden internationalen Rang beider. Je auf eigene Art waren Brandt als »Kanzler des internationalen Erfahrungshintergrunds«15 und Schmidt als durchaus respektvoll (wenngleich zuweilen ironisch) »Weltökonom« titulierter, jüngst gar zum »Weltkanzler«

14  Nils Edling, The primacy of welfare politics. Notes on the language of the Swedish Social Democrats and their adversaries in the 1930s, in: Heidi Haggrén u. a. (Hg.), Multi-­layered Historicity of the Present. Approaches to social science history, Helsinki 2013, S. 125–150. 15  Einhart Lorenz, Willy Brandt (1913–1992): Der SPD-Vorsitzende und Kanzler des internationalen Erfahrungshintergrunds, in: Peter Brandt u. Detlef Lehnert, Sozialdemokratische Regierungschefs in Deutschland und Österreich 1918–1983, Berlin 2017, S. 209–245 (mit einschlägigen Literaturhinweisen).

überakzentuierter Nachfolger16 außer nationale immer zugleich europäische Politiker, die sich genuin für andere Kontinente – nicht allein Nordamerika – interessierten.

Prof. Dr. Detlef Lehnert, geb. 1955, ist Professor für Politikwissenschaft und Historiker in Berlin.

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Sozialdemokratie — Analyse

16  Kristina Spohr, ­Helmut Schmidt. Der ­Weltkanzler, Darmstadt 2016.

LICHT AM ENDE DES TUNNELS? REFORMPOTENTIALE DER SPD DURCH DIE JÜNGSTE BEITRITTSWELLE ΞΞ Martin Grund / Pauline Höhlich / Hannes Keune

Nach der verlorenen Bundestagswahl und dem Rücktritt von Martin Schulz wollte die SPD im April 2018 mit der Wahl von Andrea Nahles zur Parteivorsitzenden einen grundlegenden Erneuerungsprozess einleiten. Wieder einmal. Denn Reformdiskussionen führt die Sozialdemokratie – wie andere Parteien aus anderen politischen Lagern im Übrigen auch – mit Vorliebe im Anschluss an verheerende Wahlniederlagen. Und an solchen bestand für die Partei zuletzt bekanntlich kein Mangel. DAS NEUE IM GEWOHNTEN Aber nicht nur der Zeitpunkt der Veränderungsoffensive, auch ihre Anknüpfungspunkte und Schwerpunktsetzungen folgen auffallend deutlich den gewohnten Mustern vorangegangener Wandlungsinitiativen. Wie üblich setzen die Reformer an der Organisation an, den Strukturen der Willensbildung und Entscheidungsfindung. Die Lösung der bestehenden Probleme wird insbesondere in einer Modifikation der innerparteilichen Arbeitsweisen und Beteiligungsformen gesucht. Beides ist nicht unproblematisch, dies gilt ganz grundsätzlich und zeitübergreifend. Die Organisationsreformdiskussion müsste einerseits viel bescheidener, gleichzeitig aber erheblich selbstbewusster geführt und begründet werden. Zum einen ist die Stärkung der Organisation eine generelle Notwendigkeit, auch diesseits von Stimmenverlusten, weshalb sie nicht bloß als pawlowscher Reflex auf zyklische Zustimmungskrisen daherkommen darf. Auf die Funktionen von Kollektivorganisationen können moderne Gesellschaften generell nicht verzichten, dies gilt – scheinbar paradox – umso mehr in Zeiten rapiden Wandels, in denen die bestehenden Organisationsstrukturen regelmäßig als Relikte vergangener Zeiten erscheinen. Doch ist gerade dann der Einzelne auf die entlastende Wirkung von Institutionen und Organisationen angewiesen, auf dauerhafte Strukturen, die Unsicherheiten reduzieren und Entscheidungszwänge abbauen. Zum anderen aber müssen Heilserwartungen gedämpft werden. Die Reformen der Vergangenheit – und auch jetzt deutet wieder einiges darauf

INDES, 2018–3, S. 59–69, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2191–995X

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hin – zielten allesamt gleichsam technisch relativ einseitig und beinahe ausschließlich auf Verfahren und Prozeduren. Beitrittsschwellen sollten abgesenkt, Beteiligungsinstrumente ausgebaut und Informationswege auf den technisch neuesten Stand gebracht werden. Die Parteiorganisation aber darf nicht Selbstzweck sein, sie muss vielmehr und zuvorderst die politischen Ziele spiegeln und deren Erreichung dienlich sein. Anders gesagt: Zunächst muss das programmatische Fundament gegossen werden, dessen Profil und Zuschnitt geben sodann die organisatorische Form vor. Wenn sich die aktuelle Reformdiskussion dennoch von ihren Vorläufern in den – sagen wir – Jahren 1982, 2001 und 2009 unterscheidet, so im Hinblick auf ihre Rahmenbedingungen, auf die generelle Situation der SPD. Die Krise der Sozialdemokratie wird allgemein nicht mehr nur als kurzweilige Phase oder vorübergehendes Momentum eingestuft, sondern als anhaltender, zunehmend katastrophischer, vielleicht gar existenzgefährdender Niedergang. Die Verwurzelung in der Gesellschaft, die Umfragewerte, die ganze die Identität der SPD profilierende Volksparteilichkeit – all das befindet sich aktuell auf einem Tiefststand.1 Als Begründung für die sozialdemokratische Malaise wird üblicherweise die strukturelle Verengung der SPD im Zuge ihrer Transformation zu einer Partei der neuen Mitte genannt.2 Hinzu kommt ein fortgesetzter »Vergreisungsprozess«3, ein fortgesetzter Anstieg des Durchschnittsalters, der seine Brisanz aus dem fast völligen Fehlen ganzer Jahrgangskohorten der seit den 1970er Jahren Geborenen in den Mitgliedsreihen gewinnt.4 RÄTSELHAFTE EUPHORIE Umso erklärungsbedürftiger wirkt der sozialdemokratische Höhenflug in den Anfangsmonaten des Jahres 2017. Wenige Wochen zuvor, zum Jahreswechsel, waren die Sozialdemokraten noch ohne größere Hoffnung für die Bundestagswahl gewesen. Dann erklärte der seinerzeitige Parteivorsitzende, Sigmar Gabriel, so eigenmächtig wie selbst für den engsten Kreis der Parteiführung unerwartet seinen Verzicht auf die Kanzlerkandidatur, der mit seinem Rücktritt vom Amt des SPD-Vorsitzenden einherging. Zeitgleich trat Martin Schulz aus dem europapolitischen Hintergrund auf die Vorderbühne der bundesdeutschen Politik. Mit diesem Wechsel von Gabriel zu Schulz schien die über Jahre hinweg apathisch dem Abgrund entgegentaumelnde »alte Tante« SPD einen Verjüngungstrank verabreicht bekommen zu haben. Ende Januar 2017 verband sich mit den Sozialdemokraten in der öffentlichen Debatte so plötzlich wie unerwartet wieder das Versprechen eines Aufbruches und die Aussicht auf

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Sozialdemokratie — Analyse

1  Vgl. dazu auch Franz Walter, Die SPD. Biographie einer Partei von Ferdinand Lassalle bis Andrea Nahles, Reinsbek bei Hamburg, 2018, S. 276 ff. 2  Franz Walter, Die SPD. Biographie einer Partei, Hamburg 2015, S. 281. 3  Ebd., S. 282. 4  Wenngleich aus Sicht der empirischen Partizipationsforschung eingewandt wird, dass die Unterrepräsentation junger Menschen in Parteien keinesfalls eine besorgniserregende Anomalie sein muss, vgl. Markus Klein, Wie sind die Parteien gesellschaftlich verwurzelt?, in: Tim Spier u. a. (Hg.), Parteimitglieder in Deutschland, Wiesbaden 2011, S. 39–59, hier S. 44 ff.

einen politischen Neuanfang, sie wirkten jugendlich, energiegeladen, unverbraucht. Die resignierte Stimmung wich zunächst der Hoffnung und alsbald einer ungehemmten Euphorie. An die Stelle des Teufelskreises von Wahlniederlagen, innerparteilicher Ratlosigkeit und stetig weiter sinkenden Zustimmungsquoten trat eine Aufwärtsspirale – mit steigenden Umfragewerten, welche den Optimismus der Funktionäre und Mitglieder beflügelten, der sich in staunenden Medienporträts über die Vitalität der SPD niederschlug, was zu einem weiteren Wachstum der sozialdemokratischen Anteile in den demoskopischen Erhebungen führte. Erstmals seit langem überstieg die SPD in den Meinungsumfragen zwischen Januar und März folglich wieder die Dreißig-Prozent-Marke.5 Die Befragungsinstitute stellten in diesen Wochen fest, dass eine Wechselstimmung zugunsten der Sozialdemokratie bestand, Schulz selbst erreichte weit höhere Beliebtheitswerte als seine Kontrahentin, die Bundeskanzlerin Angela Merkel.6 Und sogar auf der Ebene der Mitgliedschaft konnte der kontinuierliche Rückgang seit der Wiedervereinigung nun umgekehrt werden.7 Nachdem es bereits im Zuge der Wahl Donald Trumps zu einigen hundert Beitritten gekommen war, traten der SPD zwischen Januar und März 2017 nahezu 10.000 Menschen bei.8 Die Öffentlichkeit konstatierte wahlweise einen Schulz-Hype bzw. Schulz-Effekt, die Optimismusgläubigen unter den Sozialdemokraten trau5  Renate Köcher, Auf der Achterbahn, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.06.2017

ten sich bereits, vom Kanzleramt zu träumen. Aber auch der skepsisgeneigte Teil der SPD-Mitgliedschaft sah in Schulz einen Wählermagneten, dessen Bindewirkung, so hoffte man, bis zur Bundestagswahl anhalten werde.

6  Ebd. 7  Am Ende des Jahres 2017 hatte die SPD ein Positivsaldo von 10.448 Mitgliedern im Vergleich zum Vorjahr 2016 und kommt somit auf eine Gesamtmitgliederzahl von 443.152 (dpa 2018). 8  Robert Kiesel, Mehr als 10.000 Neumitglieder seit Schulz-Nominierung, in: Vorwärts, 02.02.2017, URL: https://www.vorwaerts.de/artikel/ spd-mehr-10000-neumitglieder-seit-schulz-nominierung, [eingesehen am 15.09.2018]. 9  Oskar Niedermayer, Die Bundestagswahl 2017: ein schwarzer Tag für die Volksparteien, in: GWP, H. 4/2017, S. 465–470.

Es kam bekanntlich anders: Was mit den verlorenen Landtagswahlen im Saarland, in NRW und in Schleswig-Holstein begann, setzte sich bei der Bundestagswahl im Herbst 2017 fort. Zu diesem Zeitpunkt war die Euphorie freilich längst schon wieder verflogen. Und dennoch stellte das Wahlergebnis auch für die leidgeprüften Sozialdemokraten einen Schock dar: Die SPD verlor gegenüber dem Jahr 2013 noch einmal 5,2 Prozentpunkte und erreichte mit 20,5 Prozent das schlechteste Wahlergebnis in ihrer bundesdeutschen Geschichte.9 WAR WAS? Ist der Schulz-Hype also folgenlos verpufft? Sind die Winter- und Frühjahrsmonate des Jahres 2017 ein Traum, aus dem die SPD jäh aufgewacht ist und mit dem sich nur noch unwirklich anmutende Erinnerungen verbinden? Oder zeitigt diese Episode unterhalb der Oberfläche politischer Zustimmungen und Wahlabsichten längerfristige Effekte, mit denen die SPD auch heute noch und in Zukunft rechnen muss – oder kann? Martin Grund / Pauline Höhlich / Hannes Keune  —  Licht am Ende des Tunnels?

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Dass Eintrittswellen Parteien nachhaltig verändern können, zeigt ein Blick auf die 1970er Jahre im Allgemeinen und die damalige Sozialdemokratie im Besonderen. Nach Jahren der insbesondere von Herbert Wehner vorangetriebenen Annäherung der SPD an die CDU, mit der die sozialdemokratische Regierungsfähigkeit demonstriert und die Partei aus dem politikgestalterischen Abseits der ewigen Opposition herausgeholt werden sollte, vollzog sich seit Ende der 1960er Jahre – und beschleunigt durch den von den 68ern postulierten »Marsch durch die Institutionen« – binnen eines Jahrzehntes ein tiefgreifender Wandel der SPD-Mitgliedschaft. Ende der 1970er Jahre waren zwei Drittel der Mitglieder in den vorangegangenen zehn Jahren der SPD beigetreten, nur ein Drittel war schon in der Kurt Schumacher- oder Erich Ollenhauer-SPD dabei gewesen. Dieser Wandel drückte sich nun nicht bloß im veränderten Profil der Mitgliedschaft aus, er implizierte vielmehr auch eine tiefgreifende inhaltliche, habituelle und kulturelle Metamorphose der SPD. Mit einem Mal war es vorbei mit der traditionellen Disziplin der sozialdemokratischen Anhänger, dergleichen Tugenden wurden nun verlacht, in die Parteiversammlungen zog der Geist des Antiautoritären ein. In den Reihen der SPD ging es nun eine Zeitlang turbulent zu, die Jungen rebellierten gegen die Altvorderen, Bürgerkinder gegen Arbeiter, linke Kapitalismustheoretiker gegen rechte Politikpragmatiker. Neben vielen innerparteilichen Problemen, die aus unversöhnlich geführtem Streit, wechselseitig genährtem Misstrauen und binnenfixiertem Kampf resultierten, schuf der so bewirkte Generationswechsel und Kulturwandel der SPD die Grundlagen für die Wahlerfolge ihrer Kandidaten seit den 1980er Jahren auf der Landes- und 1998 schließlich auch auf der Bundesebene. Eine Arbeiterpartei allerdings ist die SPD im Prinzip – und jedenfalls im Bereich der Mitgliedschaft – seit diesen 1970er Jahren schon nicht mehr. Wohl war sie zunächst noch auch die Partei der Arbeiter. Vor allem aber wurde sie nun, bereits in den 1970er Jahren, durch die Umwälzung der Mitgliedschaft infolge des Beitrittsbooms, zur Partei der neuen Mittelschichten – nicht zuletzt der Lehrer und anderer Staatsbediensteter.10 Insofern liegt die Frage nahe, wer in den Anfangsmonaten 2017 in die SPD eingetreten ist – und mit welchen Motiven dieser Beitritt begründet wird.

Spielte der Schulz-Effekt eine Rolle? Welchen Milieus und Schichten entspringen die Neumitglieder, was für politische Absichten hegen sie? Diese Fragen sind noch unter einem weiteren Aspekt interessant. Helfen sie doch in gewissem Maße dabei, den Rahmen des ausgerufenen Erneuerungsprozesses abzustecken11. Im Zuge eines Projekts am Göttinger Institut

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10  Vgl. Walter, 2015, S. 178. 11  Dabei zeigt etwa der Blick auf Großbritannien und die Labour Party unter Jeremy Corbyn, wie sehr ein Mitgliederboom eine Partei verändern kann.

für Demokratieforschung haben wir mit 25 ab Herbst 2016 eingetretenen Neumitgliedern leitfadengestützte Interviews geführt. Die folgenden Abschnitte stellen erste und vorläufige Ergebnisse unserer Auswertungen dar. DIE ROLLE VON MARTIN SCHULZ FÜR DEN MITGLIEDERANSTIEG Unserem Material zufolge kann ein Schulz-Hype weder eindeutig bestätigt noch widerlegt werden. Zunächst einmal äußerten nur sehr wenige der Interviewten, dass Martin Schulz tatsächlich eine wesentliche Rolle bei ihrem Parteibeitritt spielte. Teils konnte bei diesen Neumitgliedern Schulz als Person bei öffentlichen Wahlkampfauftritten durch Redetalent und Inhalt überzeugen, teils wurde er als »Hoffnungsträger« wahrgenommen und der Rückzug Gabriels sowie Schulz’ Kür zum Kanzlerkandidaten als »ein Aufbruchssignal« empfunden. Bei diesen Leuten schien die Person Schulz, aber vor allem die durch ihn neu entfachte Begeisterung, der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, gewesen zu sein. Denn auch bei den Gesprächspartnern, die sich selbst zu der Bedeutung der Personalie Schulz bekannten, keimte die Idee des Parteieintritts bzw. der Wunsch parteipolitischen Engagements bereits vor dessen Aufstieg zum Kanzlerkandidaten. Einige Befragte hatten lange vor ihrem Martin Grund / Pauline Höhlich / Hannes Keune  —  Licht am Ende des Tunnels?

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Eintritt durch den familiären Kontext eine sozialdemokratische Prägung erfahren, andere thematisierten Sorgen um den europäischen bzw. demokratischen Zusammenhalt. Jedenfalls: Mit individuell jeweils spezifischer Relevanz haben der Brexit, die Wahl des amerikanischen Präsidenten Donald Trumps, die Erstarkung der AfD und anderer rechtspopulistischer Entwicklungen in Europa ebenso wie auch die Krise der Sozialdemokratie das innere Bedürfnis oder auch ein Pflichtbewusstsein bestärkt, ein Zeichen zu setzen, individuell aktiv zu werden und ihrer vermeintlichen bürgerlichen Pflicht nachzukommen. Den größeren Teil unserer befragten Neumitglieder stellen diejenigen dar, die bei sich selbst einen Schulz-Effekt verneinten, manche sogar in dezidierter Weise. Für die einen scheint die Wirkung von Schulz in Bezug auf den eigenen Parteibeitritt mehr oder weniger unerheblich gewesen zu sein. Andere gestanden diese, ihre Bedeutung zugleich relativierend, ein und wieder andere grenzten sich klar davon ab. Nun ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass wir die Interviews nicht in der Hochphase des Schulz-Hypes geführt haben, sondern erst dann, als der sozialdemokratische Frühling schon wieder geendet hatte. Dementsprechend stellt sich die Frage, ob Schulz für das eine oder andere Neumitglied nicht vielleicht im Moment des Beitrittes doch von größerer Relevanz gewesen war, als sie es sich retrospektiv selbst eingestanden. Die hin und wieder ambivalenten Argumentationen mancher Befragten scheinen ein Indiz hierfür zu sein. So wurde bisweilen ein Schulz-Effekt erst abgestritten, dann wiederum eingeworfen, dass Schulz der richtige Mann respektive ein guter Kandidat sei, dies aber nicht das primäre Beitrittsmotiv gewesen sei und ohnehin der eigene Eintrittswille bereits vorher bestanden habe. Bei anderen Befragten war zudem von der Hoffnung die Rede, dass sich mit Schulz nun etwas bewegen würde. Unsere Ergebnisse deuten insofern daraufhin, dass viele Neumitglieder eine Neuausrichtung der SPD herbeisehnten. Schulz schien diese geradezu zu verkörpern – und hat diese Interviewten wohl genau deswegen enttäuscht. Nichtsdestotrotz sprach die überwiegende Mehrheit der von uns Interviewten positiv bis neutral über Schulz. Einige der Neumitglieder äußerten immer noch ihre Erleichterung über Sigmar Gabriels Rückzug und stuften diesem gegenüber Schulz als den deutlich beliebteren und kompetenteren Kandidaten ein. Ein Grund für die positive Bewertung: Schulz wurde von den befragten Neumitgliedern als bundespolitischer Outsider wahrgenommen, der – obschon er ab 1999 Mitglied des SPD-Parteivorstandes war – keine Verantwortung für die Regierungspraxis in der Vergangenheit trüge. Gleichermaßen wurde hin und wieder auf die bemerkenswerte Biographie von Schulz und dessen kom-

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munale Verwurzelung verwiesen und mit der ursprünglichen Klientel der SPD in Beziehung gesetzt. Ebenso finden sich häufig Bezüge zu Schulz als Europapolitiker bzw. »ausgewiesener europapolitischer Kenner«. Als EU-Präsident habe er gute Arbeit geleistet, er verfüge über eine umfangreiche außenpolitische Expertise – auch sei er in dieser Hinsicht kompetenter als Angela Merkel. Dennoch: Der Wirbel um Schulz, die an seine Person geknüpften Hoffnungen und die daraus hervorgehende Begeisterung waren den Ergebnissen unserer Befragung zufolge, wenn überhaupt, nur eins von mehreren Motiven und Anreizen, in die SPD einzutreten. KORREKTIV VON LINKS? INHALTLICHE UND STRUKTURELLE NEUAUSRICHTUNG DER PARTEI? Ein weiteres relevantes Beitrittsmotiv ist bei den von uns interviewten Personen das Bedürfnis, den politischen Kurs der Partei beeinflussen zu wollen und eine inhaltliche Neuausrichtung der Partei anzustoßen. Die Befragten gaben häufig an, große Schnittmengen mit den »eigentlichen« Zielen der Partei zu haben, diese würden aber nicht konsequent genug verfolgt. Die SPD solle sich daher künftig mehr für Gerechtigkeit und gegen soziale Ungleichheit einsetzen, nachdrücklicher die Armut bekämpfen, für eine stärkere Umverteilung plädieren, ein besseres Rentensystem und eine Bürgerversicherung einführen, sich für die Erhöhung des Mindestlohns stark machen und die Abschaffung der Lohnunterschiede zwischen Mann und Frau bei gleicher Arbeit forcieren. Auch die Forderung einer Spitzensteuersatzerhöhung wurde mehrfach genannt. Die Erneuerung der Partei wurde ebenfalls von vielen befürwortet. Auffällig ist, dass konkrete Reformmaßnahmen kaum benannt wurden oder werden konnten und insgesamt die Erneuerungsvorstellungen in die Richtung einer Renaissance der guten, alten bundesrepublikanischen SPD weisen. Innovative, wenngleich auch nicht mehr wirklich neue Forderungen wurden noch am ehesten mit Blick auf die innerparteilichen Willensbildungsprozesse geäußert, insbesondere von den jüngeren Interviewten. Regelrechter Standard ist bei diesen die Kritik an der Ortsgebundenheit der Parteigremien. Wer ein öffentliches Amt oder einen Posten innerhalb der Partei erreichen möchte, müsse sich in den Strukturen vor Ort bewegen und auskennen, das aber sei nicht mehr zeitgemäß und widerspreche den heutigen – also ihren – Lebensrealitäten. ENGAGIERTE NEUMITGLIEDER Insgesamt zeigt sich bei den Interviewten ein hohes Maß an eigenem Engagement, nahezu alle Personen gaben an, Veranstaltungen auf Unterbezirks- oder Martin Grund / Pauline Höhlich / Hannes Keune  —  Licht am Ende des Tunnels?

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Ortsvereinsebene zu besuchen oder bereits in die politische Arbeit des Ortsvereins eingebunden zu sein. Einige der Interviewten sind sogar schon nach wenigen Monaten in Ämter auf der Ortsvereinsebene gewählt worden. Bei den Befragten handelt es sich somit vielfach nicht um bloß symbolische Bekenntnismitglieder. Das in Anbetracht des Erstarkens der AfD und einer wahrgenommenen Schieflage der bundesrepublikanischen Demokratie artikulierte: »Wenn nicht jetzt, wann dann«, übersetzt sich offensichtlich auch in aktive Parteiarbeit. Insbesondere in der Ü-55-Kohorte besteht offenkundig ein diffuses Gefühl, zu lange untätig gewesen zu sein. Hier fällt der Eintritt in altersbedingte Teilzeitarbeit oder die Rente zusammen mit einer Sorge um die liebgewonnenen Selbstverständlichkeiten der stabilen demokratischen Ordnung der vergangenen Jahrzehnte, deren derzeitige Wandelungen vor allem aus der Perspektive des Verfalls betrachtet werden. Auffällig ist zudem, dass vor allem bei den älteren Personen unter den Neumitgliedern dem Parteibeitritt vielfach ein breites zivilgesellschaftliches Engagement vorausgegangen ist. Viele von ihnen gaben an, sich in Sportoder diversen anderen Vereinen zu engagieren und dies zum Teil bereits seit mehreren Jahrzehnten. Dass das zivilgesellschaftliche Engagement für einige Befragte eine wichtige Rolle bei der Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts spielt, wird auch durch die eben beschriebenen Verlustängste um die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung deutlich. Und: Wenngleich die Überalterung von Parteien in der Öffentlichkeit als Problem verhandelt wird, stechen in unserem Sample gerade die Älteren als kämpferisch und besonders motiviert hervor. FLEISCH VOM FLEISCHE DER SPD Ein weiteres zentrales Ergebnis ist, dass die Neumitglieder fast sämtlich schon eindeutige Bezüge zur und ausgeprägte Sympathien für die Sozialdemokratie aufwiesen, als der Schulz-Hype die öffentliche Debatte zu elektrisieren begann. Bei den älteren Gesprächspartnern unseres Samples überwiegt — ob Facharbeiter oder Akademiker — eine klassische sozialdemokratische politische Sozialisierung in den 1970er und 1980er Jahren. Teilweise sind die Interviewten seit Jahrzehnten gewerkschaftlich engagiert. Immer wieder wurde Willy Brandt als prägende Figur benannt, der überhaupt als die Personifizierung einer orientierungssicheren, konturenscharfen, begeisterungsfähigen SPD galt, die negative Kontrastfolie stellten Protagonisten der politischen Rechten wie Franz-Josef Strauß dar. Der nostalgische Blick zurück, die Idealisierung Brandts ebenso wie die Dämonisierung Strauß’ markiert die Bedeutung äußerer Gegnerschaften für den politischen

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Bekenntniswillen. Hier zeigt sich die Wichtigkeit glaubwürdiger politischer Antagonismen jenseits des bloß taktischen, auf kurzfristige Sympathiezugewinne abzielenden Zwistes für die innere Bindungskraft von Parteien. Die Brandt-SPD ist noch ganz handfest als Sozialstaatspartei des gesellschaftlichen Ausgleichs, die Strauß-Union als dezidiert konservatives Gegenbild erfahren worden. Nahezu alle Vertreter dieser Generationen können handfeste politische Konflikte mit klaren, unverändert lebendigen Feindbestimmungen nennen, durch die sie politisch aktiviert wurden — so etwa die Studentenproteste der 68er, gewerkschaftliche Auseinandersetzungen in den 1970er Jahren oder die Demonstrationen gegen Krieg und Aufrüstung in den 1980er Jahren. Bei den jüngeren Neumitgliedern gibt es andere sozialisatorische Fixpunkte. Aber auch hier kann festgehalten werden, dass sie mehrheitlich nicht neu für die Sozialdemokratie gewonnen wurden. Ob alt, ob jung — Hinweise auf eine Mobilisierung in parteifremden Milieus, die sich dann gar in einen Parteibeitritt ummünzte, lassen sich zumindest in diesem Sample nicht finden. Die Versuche der Selbsterklärung der politischen Sozialisation durch die jüngeren Interviewten muten allerdings wesentlich steriler, geradezu abgeklärt an. Kann eine Gesprächspartnerin noch auf die Wechselstimmung zum Ende der Kohl-Ära verweisen, wird ansonsten auf das linksliberale und sozialdemokratische Elternhaus oder Milieu verwiesen, dem man entspringt. Hier wählt man die SPD aus familiärer Konvention, ein wirkliches politisches Aha-Erlebnis mitsamt einer in den Tiefenschichten der eigenen Identität fest verwurzelten Entscheidung zugunsten der gegenwärtigen SPD findet sich hingegen nicht. SOZIALDEMOKRATISCHER KONSERVATISMUS IN STÜRMISCHEN ZEITEN Nahezu alle Interviewten geben an, dass aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen eine große Rolle für den Beitritt in die SPD und das damit einhergehende politische Engagement gespielt haben. Im Prinzip eint die Interviewten über generationelle sowie Milieu- und Schichtgrenzen hinweg das Gefühl, dass der ehedem so stabile, sozialstaatlich verfasste demokratische Kapitalismus keine Selbstverständlichkeit mehr darstellt. Zunehmende soziale Ungleichheit, die Krise Europas und vor allem der Aufstieg der politischen Rechten werden als Fanal wahrgenommen, sich endlich für die Demokratie und die kriselnde Sozialdemokratie zu engagieren — wobei letztere ganz offensichtlich mit den Wohlfahrtsjahrzehnten der Nachkriegszeit assoziiert wird. Grundsätzlich erhoffen sich alle Interviewten eine Sozialdemokratie, die als linke Volkspartei den gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherstellt, Martin Grund / Pauline Höhlich / Hannes Keune  —  Licht am Ende des Tunnels?

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wobei durchaus diffus bleibt, was unter links verstanden wird und wie links die Sozialdemokraten zu sein haben. So sind die Neumitglieder der sozialdemokratischen Regierungspolitik der letzten Jahre gegenüber zwar durchaus kritisch eingestellt. Offen angegriffen werden die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze aber interessanterweise lediglich von wenigen Personen. Ansonsten obsiegt auch unseren Interviews zufolge jenes Lavieren, jene sozialdemokratische Ratlosigkeit, die der deutschen Sozialdemokratie von den Politikdeutern allgemein attestiert wird.12 Wütend wird die zunehmende soziale Polarisierung verdammt, fast einstimmig auch wünschen sich die befragten Neumitglieder eine linkere SPD – aber mit den Hartz IV- und Agenda-­ Reformen will man mehrheitlich auch nicht brechen. Kurzum: Kaum eines der sozialdemokratischen Neumitglieder ist in der Lage, eine Vision eines sozialdemokratischen Fortschritts- und Reformprojekts auch nur schemenhaft zu skizzieren. Vielmehr werden jene parolenhaften Schlagwörter vorgetragen, wie sie auch die vergangenen sozialdemokratischen Wahlkämpfe auszeichneten: Man ist für soziale Gerechtigkeit, für Europa, in jedem Fall gegen die Rechten — was das nun aber heißt, wird kaum beantwortet. So lässt sich der Parteibeitritt vermutlich am ehesten aus einer Melange erklären. Gerade die Älteren assoziieren die SPD immer noch mit ihrer glorreichen Vergangenheit, insbesondere den Brandt-Jahren, die aktuelle Politik der Partei scheint als Eintrittsmotiv demgegenüber zweitrangig gewesen zu sein – zweitrangig nicht nur gegenüber den Heldenjahren der Partei, sondern desgleichen gegenüber der beängstigenden demokratischen Gegenwart. Die als stürmisch wahrgenommenen Zeiten machen Angst, der Beitritt ist insofern vor allem auch ein Bekenntnis gegen die aktuellen gesellschaftlichen Großtendenzen. »Schlimmeres verhindern«, so könnte man das dem Wortsinn nach konservative Zentralmotiv der Neusozialdemokraten auf den Begriff bringen. FAZIT Wie lässt sich das Profil der in der Untersuchung befragten Neumitglieder bündig zusammenfassen? Zwar gilt Martin Schulz manchem Neumitglied als authentische, ehrliche Haut – wenngleich ihm kaum jene volkstribunenhafte Aura attestiert wird, die etwa die Anhänger Jeremy Corbyns ihrem Hoffnungsträger zuschreiben. Vor allem aber dürfte die objektive politische Lage die Interviewten geradezu dazu genötigt haben, sich in der Sozial­demokratie zu engagieren. Schulz mag hier und da aber zumindest als Symbol eines authentischen sozialdemokratischen Aufbruchs zurück in die sozialpartnerschaftliche Vergangenheit gegolten haben.

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12  Vgl. Walter, 2018, S. 320 f.

Indes: Die in der Studie interviewten Gesprächsteilnehmer wünschen sich eine stärkere politische Polarisierung, die Rückkehr des Antagonismus einer linken und einer rechten Volkspartei. Kongruent hierzu ist auch die Sehnsucht nach authentischen sozialdemokratischen Politikern, die den negativen Kontrastfolien konformistischer Parteitechnokraten gegenübergestellt werden. Zumindest in diesem Sample herrscht eine gewisse Sehnsucht nach charismatischen »Typen« — sowohl auf der bundespolitischen als auch auf der innersozialdemokratischen Ebene. Und: Die hier interviewten Neumitglieder wollen sich in die Partei einbringen und tun dies in großem Maß bereits. Das verspricht, zumindest in einem gewissen Rahmen, eine Wiederbelebung der Arbeit in den lokalen Basisstrukturen der Partei — sofern diese ihre neuen Mitglieder nicht enttäuschen und verprellen. Dann könnten die Neumitglieder neue Impulse in die Partei hereingeben und dadurch die Zielvorstellungen und Politikpräferenzen der gesamten Partei verschieben.13 Der evidente Wunsch der Befragten, die SPD solle weiter nach links rücken, sollte von der Parteispitze nicht unerhört bleiben. Wenn der angeschobene Erneuerungsprozess Früchte tragen soll, muss die Basis berücksichtigt werden. Zurzeit führt die SPD eine »Impulsreihe« in Berlin, diverse Kongresse und 13  Gleichwohl wird der Anteil an Rentnern und somit ihr »Stimmgewicht« in den nächsten Jahren deutlich überrepräsentiert bleiben. Auch wenn im Zuge des »Schulzhypes« vorwiegend junge Menschen der Partei beitraten, werden die Neueintritte bei über einer halben Million Mitgliedern kein entscheidendes Gegengewicht darstellen. Vgl. Walter, 2018, S. 346.

regionale Veranstaltungen zur Zukunft der Sozialdemokratie durch, ähnlich den »Zukunftswerkstätten«, die Sigmar Gabriel auf dem Parteitag in Dresden im November 2009 ins Leben rief. Die damals entstandenen Papiere über Freiheit, Bürgerbeteiligung und Demokratie jedoch wurden in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Die Partei muss aufpassen, dass ihr dieser Fehler nicht erneut passiert. Nur dann könnte sie die Neueingetretenen durch den Reformprozess und die Chance, sich zu beteiligen, dauerhaft binden. Martin Grund, geb. 1990, studiert im Masterstudiengang »­Globale Politik: Strukturen und Grenzen« und arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung, insbesondere zu Parteien.

Pauline Höhlich, geb. 1992, studiert Soziologie im Master und arbeitet als studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demo­kratie­forschung überwiegend in der ­Parteien-, Populismus- und Protestforschung. Im Rahmen ihres Studiums beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit gleichstellungs­ politischen Themen und Geschlechterrollen. Hannes Keune, geb. 1991, war studentische Hilfskraft am ­Göttinger Institut für Demokratieforschung.

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KERN-AXIOME SOZIAL­ DEMOKRATISCHER ­WIRTSCHAFTSPOLITIK EINE HISTORISCHE HERLEITUNG ΞΞ Nikolaus Kowall

Was ist der Kern sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik? Auf diese simple Frage zeitlose Antworten zu finden, ist keineswegs trivial. Für eine Annäherung kann es sinnvoll sein, die sehr unterschiedlichen historischen Antworten zunächst kursorisch zu vergleichen, sodann Erfolg und Misserfolg verschiedener wirtschaftspolitischer Ansätze zu kontrastieren, um hierauf aufbauend eine – ohne normative Vorstellungen nicht auskommende – Bewertung des Vergangenen vorzunehmen, aus der sich schließlich Ableitungen für die Gegenwart ergeben können. SOZIALDEMOKRATISCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK IM SPIEGEL DER ZEIT Die ersten sozialdemokratischen Programme1 orientieren sich noch stark an den Ideen der Gründungsfigur Ferdinand Lassalle. Der Staat wird als positives Werkzeug betrachtet, über das Demokratie und Genossenschaftswesen etabliert werden sollen. Die Vision ist ein via Staatskredit geförderter Genossenschaftssozialismus. Konkrete Forderungen sind selbstverwaltete Krankenkassen, progressive statt indirekter Steuern und der Normalarbeitstag. Die Wirtschaftspolitik hat für Vollbeschäftigung zu sorgen.2 Der Marxismus wiederum zieht erst 1891, unter dem Eindruck der Sozialistengesetze, in die Programmatik der SPD ein. Im Erfurter Programm ist

1  Vgl. SDAP, Das Eisenacher Programm, 1869. URL: https:// www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1869/eisenach.htm; SAP, Das Gothaer Programm, 1875. URL: https://www. marxists.org/deutsch/geschichte/ deutsch/spd/1875/gotha.htm [beide eingesehen am 25.08.2018].

der Staat ein Instrument der herrschenden Klasse, der Lassallesche Etatismus wird hingegen zurückgewiesen. Das Privateigentum an Produktionsmitteln sei mittlerweile unvereinbar mit der Entwicklung der Produktivkräfte, die sozialen Gegensätze würden immer krasser und es brauche eine Umwandlung in eine sozialistische Produktion. Um diesen »naturnotwendigen« Prozess zu vollziehen, müsse das Proletariat die politische Macht übernehmen.3 Gegen diese »Orthodoxie« zieht Eduard Bernstein im Rahmen des »Revisionismusstreits« um 1900 ins Felde. Ihm gemäß können staatliche Eingriffe, und die Beteiligung der Arbeiterschaft auf allen Ebenen der staatlichen Verwaltung, das soziale Gefüge zivilisieren.4

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INDES, 2018–3, S. 70–78, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2191–995X

2  Vgl. ebd. 3  Vgl. SPD, Das Erfurter Programm, 1891. URL: »Das Erfurter Programm« https://www. marxists.org/deutsch/geschichte/ deutsch/spd/1891/erfurt.htm [eingesehen am 25.08.2018] 4  Vgl. Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Berlin, 1899/1975.

Die beiden Programme der Weimarer Republik5 orientieren sich wiederum stark am marxistischen SPD-Vordenker der 1920er-Jahre, Rudolf Hilferding. 5  SPD, Das Görlitzer Programm, 1921. URL: https://www.marxists. org/deutsch/geschichte/deutsch/ spd/1921/goerlitz.htm; SPD, Das Heidelberger Programm, 1925. URL https://www.marxists.org/ deutsch/geschichte/deutsch/ spd/1925/heidelberg.htm [beide eingesehen am 25.08.2018]. 6  Vgl. ebd. 7  Vgl. Rudolf Hilferding, In Krisennot, in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Politik. Zweiter Band, 1931; Fritz Naphtali, Neuer Angelpunkt der aktiven Konjunkturpolitik oder Fehlleitung von Energien? in: Die Arbeit, Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und Wirtschaftskunde, Heft 7, 1931; Michael Schneider Michael, Zwischen ›Arbeitsbeschaffung‹ und ›Umbau der Wirtschaft‹. Die Konzeption der deutschen Sozialdemokratie zur Überweindung der Wirtschaftskrise (1930–1933), in: Fondazione Giangiacomo Feltrinelli, Annali 1983/84. Milano: Feltrinelli Editore; Werner Abelshauser, Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder. Deutschlands wirtschaftliche Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg und die Folgen für die Nachkriegszeit, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 47 (1999), H. 4, S. 503–532. 8  Vgl. SPD, Das Godesberger Programm, 1959. URL: http:// library.fes.de/pdf-files/bibliothek/retro-scans/fa-57721.pdf [eingesehen am 25. August 2018]. 9  Vgl. SPÖ Zentralsekretariat, Das neue Programm der SPÖ, Wien 1978. 10  Vgl. SPD, Das Berliner Programm, 1989. URL: http:// library.fes.de/pdf-files/bibliothek/ retro-scans/fa90–00398.pdf [eingesehen am 25.08.2018].

Der mittlerweile oligopolistisch organisierte Kapitalismus bereitet einer demokratisch-sozialistischen Verwaltung im Rahmen der »Wirtschaftsdemokratie« bereits den Boden. Ziele sind die Verstaatlichung von Boden, Bodenschätzen und Energieversorgung, die Verwendung des Rätesystems zur Mitbestimmung in der Wirtschaft und der Ausbau öffentlicher Betriebe sowie die Förderung von Genossenschaften.6 Eine vom Deutschen Gewerkschaftsbund vorgeschlagene »aktive Beschäftigungspolitik« keynesianischen Zuschnitts wird vom SPD-Establishment mehrheitlich abgelehnt.7 Mit dem Godesberger Programm von 1959 schneidet die SPD dann etliche Zöpfe der Vergangenheit ab. Godesberg bejaht die freie Marktwirtschaft mit Wettbewerb und Staatseingriffen. Das Programm bekennt sich zum Primat der Politik und setzt viel Vertrauen in die Wirksamkeit staatlicher Regulierung, die Daseinsvorsorge hat der Staat direkt zu organisieren. Das Privateigentum soll zwar geschützt werden, Eigentumskonzentration wird jedoch als Bedrohung für die freiheitliche Demokratie erkannt. Zudem soll der wachsende Wohlstand gerecht verteilt werden.8 Während der Epoche sozialdemokratischer Hegemonie in den 1970er Jahren verfasst die SPD kein neues Programm. Allerdings kann das Programm der österreichischen Sozialdemokratie Aufschluss über wirtschaftspolitische Vorstellungen dieser Zeit geben. Vor allem, weil sich das von dem damaligen deutschen Wirtschaftsminister Karl Schiller 1967 im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerte magische Viereck (Wachstum, Vollbeschäftigung, Preisstabilität, Außenhandelsgleichgewicht) auch im Programm der SPÖ wiederfindet. Die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen dieser »Globalsteuerung« werden dort noch um eine gerechte Einkommensverteilung ergänzt. Der Markt habe keinen Wert an sich, sondern sei ein Organisationsprinzip, das gewisse gesellschaftliche Aufgaben erfüllen kann.9 Das »postmaterielle« Berliner Programm der SPD von 1989 betont, dass der Staat fähig sein müsse, gesellschaftliche Ziele durchzusetzen. Der Markt wird positiv gesehen, er könne aber weder Vollbeschäftigung noch Verteilungsgerechtigkeit oder Ressourcennachhaltigkeit herstellen. Das Programm enthält ein Bekenntnis zum sozialökologischen Umbau der Gesellschaft, es gehe um eine qualitative Entwicklung und um Lebensqualität, nicht um quantitatives Wachstum.10 Einen Paradigmenwechsel Richtung Marktliberalismus bringt schließlich der SPD-Parteitag von Hannover 1997, was sich programmatisch im Leitantrag »Innovationen für Deutschland« niederschlägt. Allerdings ist ein trennklarer Nikolaus Kowall  —  Kern-Axiome sozial­d emokratischer ­W irtschaftspolitik

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Schnitt offenbar politisch nicht durchsetzbar, weshalb sich im Antrag »alte« sowie »neue« Ideen, oftmals in direktem Widerspruch zueinander, finden. So funktioniere die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit einerseits nicht über einen Wettlauf der Kostensenkung; andererseits möchte man jedoch Spitzenprodukte zu wettbewerbsfähigen Preisen für den globalen Wettbewerb erzeugen. Zum einen will man ein Paket gegen Sozial-Dumping und Scheinselbstständigkeit schnüren (»Die SPD wird dem Missbrauch der geringfügigen Beschäftigung entschieden entgegentreten.«); zum anderen möchte man allerdings flexiblere, kürzere und differenziertere Arbeitszeiten, die neue Selbstständigkeit fördern sowie eine neue Aufgeschlossenheit zu individuellem Mut und Risiko.11 In Anbetracht dieser Entwicklung stellt sich erneut die Frage: Was also ist »echte« sozialdemokratische Wirtschaftspolitik? Die Forcierung des Genossenschaftswesens durch den Staat? Die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel? Die Wirtschaftsdemokratie? Die demokratische Regulierung der Marktwirtschaft? Eine keynesianische Politik der Vollbeschäftigung? Ein sozialökologischer Umbau? Das Forcieren von Eigenverantwortung? Die Annäherung an diese Frage erfolgt in einem zweiten Schritt durch eine Bewertung der verschiedenen sozialdemokratischen Wirtschaftspolitiken. ERFOLG UND MISSERFOLG SOZIALDEMOKRATISCHER WIRTSCHAFTSPOLITIKANSÄTZE Die staatsfreundliche und durch Lasalle geprägte Programmatik der frühen Sozialdemokratie hat erst im 20. Jahrhundert starken Widerhall gefunden – von der Steuer- bis zur Vollbeschäftigungspolitik. Es gab jedoch schon in der Gründungsphase der Sozialdemokratie zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, um das Genossenschaftswesen zu forcieren. Vor allem Konsumgenossenschaften konnten sich teilweise bis heute halten.12 Produktionsgenossenschaften waren hingegen weniger erfolgreich, ihr Schicksal folgte oftmals dem von Franz Oppenheimer 1896 formulierten »Transformationsgesetz«. Entweder die Genossenschaften verwandelten sich in kapitalistische Unternehmen, oder sie verschwanden ganz vom Markt.13 Ob das Genossenschaftswesen im digitalen Zeitalter bei entsprechender staatlicher Regulierung neben privatem und öffentlichem Sektor in manchen Branchen reüssieren könnte, ist eine offene Frage. Es könnte sich für sozialdemokratische Wirtschaftspolitik durchaus lohnen, diese neu aufzuwerfen. Die Machtergreifung des Proletariats und der Aufbau einer »sozialistischen Produktion«, wie im Erfurter Programm angedacht, wurde während des 20. Jahrhunderts in vielen Ländern in Form einer zentralen Planwirtschaft real umgesetzt. Die Diskussion darüber hat ganze Generationen beschäftigt,

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11  Vgl. SPD, Leitantrag – ­Innovationen für Deutschland, 1997. URL: http://library.fes. de/cgi-bin/populo/spde.pl?t_ tiff=x&modus=&f_PPN=027197 [eingesehen am 25.08.2018]. 12  In Österreich existierte bis 1995 die Genossenschaft »Konsum«, deren Wurzeln bis in die Mitte des 19. Jh. zurückreichen. In der Schweiz gib es bis heute die Mitte des 19. Jh. gegründete Coop Genossenschaft, sie gehört zu den größten Handelsunternehmen des Landes. 13  Vgl. Bernstein

14  Vgl. ebd. Die Bernstein’sche Kritik an der Ideologie des »marxistischen Zentrums« der Partei der 1890er Jahre bot für die Sozialdemokratie des 20. Jh. programmatisch mehr Anknüpfungspunkte als die marxistische Orthodoxie selbst. 15  Vgl. SPD Hamburg, Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik. Hilferding auf dem Parteitag zu Kiel, Mai 1927 in: Sozialdemokratische Partei Hamburg, Schulungs- u. Bildungsabteilung, 1972 16  Abelshauser; Ursula Büttner, Politische Alternativen zum Brüningschen Deflationskurs, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 37, 1989, Heft 2;; Claus-Christian W. Szejnmann, Nazi Economic Thought and Rhetoric During the Weimar Republic: Capitalism and its Discontents, in: Politics, Religion & Ideology, Vol. 14, Nr. 3:. 355–376, 2013. 17  Im gleichen Zeitraum entstand allerdings das »rote Wien«, eines der utopischsten Projekte der Moderne. Nüchtern betrachtet handelte es sich dabei um eine Ausweitung des öffentlichen Sektors auf kommunaler Ebene unter Beibehaltung der kapitalistischen Produktivität. Das rote Wien war, ungeachtet des prononcierten (austromarxistischen) Verbalradikalismus, ein Hybrid aus privat- und gemeinwirtschaftlichen Vorstellungen. 18  Vgl. Manfred ­Rexin, Zum 70. Todestag von Eduard Bernstein, 2002. URL: https:// www.spd.berlin/partei/unseregeschichte/personen/a-k/bernstein-eduard/manfred-rexinzum-70 todestag-von-eduardbernstein/ [eingesehen am 25.08.2018]. 19  Auch das rote Wien der 1920er Jahre ist im Prinzip eine Vorwegnahme konkreter sozialdemokratischer Reformpolitik.

die entsprechende Literatur füllt Bibliotheken. Unter dem Strich kann diese Spielart als gescheitert betrachtet werden. Das Modell wurde auch niemals unter demokratischen Bedingungen und folglich niemals von SozialdemokratInnen zur Durchsetzung gebracht. Wichtig ist, sich zu vergegenwärtigen, dass zwischen dem Verbalradikalismus der offiziellen Parteidoktrin der SPD um 1900 und dem realpolitischen Handeln oft eine Lücke klaffte. In Gewerkschaften, Kommunen und Ländern verfolgten viele SozialdemokratInnen erfolgreich eine sehr konkrete Reformpolitik.14 Die Idee der Wirtschaftsdemokratie Hilferdings war ein demokratischer und gewaltfreier Übergang vom freien Wettbewerb zur sozialistischen Lenkung.15 Das Konzept erwies sich spätestens während der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre als wenig praktikabel. Die anwendungsfreundlichere »keynesianische« Antwort, die von den Gewerkschaften eingefordert wurde, heftete sich letztlich die NSDAP auf die Fahnen.16 Konzeptionell mündet auch die Wirtschaftsdemokratie in die Sackgasse der Planwirtschaft. Die Umsetzung derselben ist so ein fundamentaler Eingriff, dass sie ohne »Diktatur des Proletariats« nicht zu realisieren ist. Insofern war die gedachte Gleichzeitigkeit von Planwirtschaft und Demokratie der zentrale Widerspruch des Modells der Wirtschaftsdemokratie.17 Die Idee einer Demokratisierung der Wirtschaft wurde nach 1945 jedoch neu interpretiert und war maßgebend für die Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung in den 1970er Jahren. Das Godesberger Programm von 1959, das für den SPD-Staatsrechtler Carlo Schmid den Sieg Bernsteins auf ganzer Linie repräsentierte,18 war das erste Programm, dessen Wirtschaftspolitik sich im Rahmen einer Demokratie als weitgehend operationalisierbar erwies. Die Erkenntnis aus Godesberg, dass Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft untrennbar miteinander verbunden sind, teilen fast alle DemokratInnen in Europa. Aus dem Programm ergeben sich darüber hinaus jedoch zwei zeitlose Botschaften, die spezifisch sozialdemokratisch sind. Sie könnten als KernAxiome sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik gelten: erstens die demokratisch gesteuerte Gestaltung der Gesellschaft auf Basis des Funktionsprinzips der Marktwirtschaft. Die Gesellschaft bestimmt demokratisch wohin die Reise geht, die Operationalisierung erfolgt jedoch durch einen regulierten Markt. Die zweite Botschaft ist die soziale Marktwirtschaft als Hybrid aus Markt und Demokratie. Dort, wo der Markt nicht funktional ist, kann die Demokratie ihn durch andere Formen ersetzen (z. B. durch eine öffentliche Daseinsvorsorge).19 Die Kern-Axiome können nur zur Geltung kommen, wenn das Primat der Politik verwirklicht ist. Nikolaus Kowall  —  Kern-Axiome sozial­d emokratischer ­W irtschaftspolitik

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Wie im Programm der SPÖ von 1978 festgehalten, war auch während der Epoche sozialdemokratischer Hegemonie klar, dass der Markt ein Funktionsprinzip ist, das nützlich sein kann, um gesellschaftliche Ziele zu erreichen.20 Die konkreten damaligen Ziele Wachstum und Vollbeschäftigung, die im Jahr 2018 etwas angestaubt wirken mögen, sind nicht zeitlos, sondern austauschbar und erweiterbar. Hingegen hat das allgemeine Prinzip, die Marktwirtschaft instrumentell zur Erreichung demokratisch definierter Ziele zu nutzen, aus sozialdemokratischer Perspektive womöglich universelle Gültigkeit. Das war auch jener SPD-Generation völlig klar, die das Berliner Programm von 1989 zu verantworten hatte. Dieses Programm ist eine mit Godesberg konsistente Weiterentwicklung unter Berücksichtigung der ökologischen, postmateriellen und feministischen Diskussionen der 1970er und 1980er Jahre. Während in Godesberg noch von Elend und Not die Rede war, galt die materielle Frage 1989 bereits als gelöst. Nun ging es um eine Erweiterung um ökologische und postmaterielle Ziele. Das Programm wurde genau zu jenem Zeitpunkt veröffentlicht, als der neoliberale Zeitgeist begann, sich auch in der Sozialdemokratie bemerkbar zu machen. Das Berliner Programm war schon bei Erscheinung historisch und ist quasi das letzte Dokument »alten« sozialdemokratischen Gestaltungswillens. Die 1997 in Hannover formulierte Programmatik ist eine offene Zur-

20  Vgl. SPÖ Zentralsekretariat 1978.

schaustellung von Widersprüchlichkeit, Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit – eine Synthese aus Gerhard Schröder (Spitzenkandidat) und Oskar Lafontaine (Parteichef). Die Richtungsentscheidung war jedoch schon getroffen, die alten sozialdemokratischen Phrasen nur noch Makulatur. In der Regierungszeit zwischen 1998 und 2005 folgten Steuersenkungen, Finanzmarktderegulierung, Riesterrente und schließlich Hartz IV. Als letztes sozialdemokratisches Ziel verblieb die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Wie stark Hartz IV für den Rückgang der Arbeitslosigkeit verantwortlich war, ist wissenschaftlich umstritten.21 Einen gewissen Impact räumen aber auch viele Hartz-Kritiker ein.22

21  Vgl. Michael Krause u. Harald Uhlig, Transitions in the German labor market. Structure and crisis, in: Journal of Monetary Economics, Jg. 59 (2002) H. 1, S. 64–79; Sabine Klinger u. a., Makroökonomische Perspektive auf die Hartz-Reformen. Die Vorteile überwiegen, in: IAB-Kurzbericht, 11/2013; Andrey Launov u. Klaus Wälde, Folgen der Hartz-Reformen für die Beschäftigung, in: Wirtschaftsdienst, Jg. 94 (2014), H. 2, S. 112–117.

Jedenfalls wurde von der SPD im Rahmen der Agenda 2010 eine neoliberale Rezeptur zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Kauf genommen. Der größte Niedriglohnsektor Europas, eine Polarisierung der Einkommensverteilung sowie ein sprunghafter Anstieg der Armutsquote waren die Folge.23 Was in der Politik faktisch immer gilt, hat auch für die Agenda 2010 Gültigkeit: Der Zweck heiligt die Mittel nicht. Selbst wenn es einen substantiellen, »neoliberalen« Beitrag zur Reduktion der Arbeitslosigkeit gegeben haben sollte, hat dieser zu viele andere sozialdemokratische Ziele konterkariert, um als erfolgreich eingestuft werden zu können.

74

Sozialdemokratie — Analyse

22  Vgl. Tom Krebs, Mythos Hartz IV, in: makronom, 11.06.2018, URL: https://makronom.de/arbeitsmarkt-analyseauswirkungen-reform-mythoshartz-iv-26821 [­eingesehen am 25.08.2018]. 23  Vgl. Nils Heisterhagen, Linker Realismus, oder wo es brodelt, riecht und stinkt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.11.2017.

LEHREN FÜR DIE GEGENWART Die hier vorgenommene historische Tour d’horizon ist schemenhaft und simplifiziert. Doch vermutlich ist die Antwort auf die Frage nach der richtigen sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik auch weniger kompliziert als gedacht. Die Empfehlung lautet, historisch Erfolgreiches zum Maßstab zu erheben, zu aktualisieren und auf die Gegenwart anzuwenden. Besonders die Kern-Axiome von Godesberg – demokratische Steuerung des Marktes sowie der Hybrid aus Demokratie und Markt – dürfen wohl als zeitlos gelten. Es ist auch kein Zufall, dass das Godesberger Programm dreißig Jahre lang gültig war, bis es vom Berliner Programm zeitgemäß aktualisiert wurde. Insgesamt kann die Periode zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Mauerfall als wirkmächtigste Epoche sozialdemokratischer Ideen und erfolgreichste Phase sozialdemokratischer Regierungspolitik erachtet werden. Vereinfacht gesagt, hat der Neoliberalismus den Diskurs über sozialen Fortschritt nach dem Mauerfall dreißig Jahre lang eingefroren. Noch gravierender, der Fokus war plötzlich auf Ziele gerichtet, die aus sozialdemokratischer Perspektive zweitrangig, irrelevant oder falsch sind: Budgetdisziplin, Preisstabilität, Liberalisierung, Privatisierung, Einkommensspreizung, Wettbewerbsfähigkeit. SozialdemokratInnen waren Jahrzehnte damit beschäftigt, das neue Paradigma in der Opposition abzuwehren24 oder in der Regierung abzumildern.25 Mancherorts waren sie sogar aktiv daran beteiligt, marktliberaler Politik zum Durchbruch zu verhelfen. Die progressive Gestaltung der Gesellschaft im Sinne eines sozialen Fortschritts war eine Generation lang kaum Thema. Um erfolgreiche sozialdemokratische Programmatik im Bereich der Wirtschaftspolitik zu identifizieren, kann, stark zugespitzt, das Gros des ideologischen Fundaments vor Godesberg als ideengeschichtlicher Reifungspro24  Z. B. Opposition der SPÖ gegen die ÖVP-FPÖ Regierung in Österreich 2000–2007 und die Opposition der französischen Sozialisten gegen die konservativen Regierungen 2002–2012. 25  Z. B. das Modell der »Flexicurity«, das in Dänemark und den Niederlanden in den 1990er Jahren unter sozialdemokratischer Führung etabliert wurde, oder der »Sozialliberalismus« unter Tony Blair 1997–2007, vgl. Nikolaus Kowall, Wachstum und Verteilung unter New Labour 1997–2007, in: Wirtschaft und Gesellschaft, Jg. 35 (2009), H. 4, S. 551–577.

zess und das Gros nach dem Berliner Programm als historische Verirrung betrachtet werden. Im Prinzip muss man für eine zeitgemäße Wirtschaftspolitik dort anknüpfen, wo ein aktiver Gestaltungswille zuletzt sichtbar war, nämlich beim Berliner Programm von 1989. GRUNDRISSE ZEITGENÖSSISCHER WIRTSCHAFTSPOLITIK Das Berliner Programm von 1989 basiert auf den Kern-Axiomen von Godesberg, erweitert dieses aber um Zieldiskussionen, die heute noch sehr aktuell wirken: Wo sind die ökologischen Grenzen des Wachstums? Wie kann der Ressourcenverbrauch nachhaltig gestaltet werden? Welche sinnstiftenden Tätigkeiten kann ein Mensch ausüben in einer Welt, in der das Überleben durch Erwerbsarbeit nicht mehr im Vordergrund steht? Wie kann in einer Nikolaus Kowall  —  Kern-Axiome sozial­d emokratischer ­W irtschaftspolitik

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solchen Welt ein neues Geschlechterverständnis zwischen Frauen und Männern entstehen? Wie soll das Zusammenspiel von Erwerbsarbeit, gesellschaftlichem Engagement, Familie und Freizeit in einer postmateriellen Zukunft beschaffen sein? Das sind genau jene Fragen, die man heute, wo die Automatisierung in die Digitalisierung übergeht, die Auswirkungen des Klimawandels für alle sichtbar werden und die Endlichkeit ökologischer Ressourcen in Anbetracht des Aufstiegs der Schwellenländer evident wird, stellen sollte. Es ist an diesem Punkt nicht möglich, ein vollständiges Maßnahmenpaket zur Adressierung aller genannten Fragestellungen zu entwickeln. Daher wird exemplarisch eine strategisch relevante Maßnahme beschrieben, die mehreren zentralen Zielsetzungen parallel dienlich ist, nämlich die schrittweise Reduktion der allgemeinen Arbeitszeit. Am radikalsten würde eine postmaterielle Arbeitszeitverkürzung wirken. Dabei würden die realen Einkommen konstant gesetzt und der gesamte Zuwachs der Produktivität in Form von mehr Freizeit konsumiert. Würden die Einkommen im Jahr 2018 »eingefroren«, würde dies bei einem durchschnittlichen jährlichen Produktivitätswachstum von 1,5 Prozent eine kontinuierliche Halbierung der Arbeitszeit innerhalb von 46 Jahren bedeuten. Die parallel steigende Ressourceneffizienz würde zu einem rückläufigen Ressourcenverbrauch führen. Es gäbe mehr Freiraum für gesellschaftliches Engagement und individuelle Entfaltung, die außermarktliche Reproduktionsarbeit könnte zwischen den Geschlechtern gerechter verteilt werden und insgesamt dürfte die Lebensqualität steigen. Durch die nicht weiterwachsende Warenmenge würde

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Sozialdemokratie — Analyse

die Maßnahme überdies stark dekommodifizierend wirken. Dies würde, gekoppelt mit Maßnahmen zur Verbesserung der personellen Einkommensverteilung, helfen, den Statuswettbewerb über Konsum zu verringern. Das Konzept impliziert eine rückläufige Bedeutung der Erwerbsarbeit sowie ein tendenziell stagnierendes Konsumniveau für die Mittel- und Oberschichten bei wachsender Freizeit. Das ist starker Tobak für die Gewerkschaftsbewegung sowie für die traditionelle Sozialdemokratie. Eine Alternative zur postmateriellen Arbeitszeitverkürzung wäre eine traditionelle Arbeitszeitverkürzung. Das bedeutet beispielsweise eine Reduktion der Arbeitszeit auf dreißig Stunden bei vollem Lohnausgleich, also höheren realen Stundenlöhnen. Die Einkommen wachsen unberührt davon um den jährlichen Produktivitätszuwachs. Dabei handelt es sich um eine umverteilende Maßnahme zwischen Kapital und Arbeit, sprich einer Verschiebung innerhalb der funktionellen Einkommensverteilung. Davon würden auch die Mittel- und Oberschichten der Lohneinkommensbezieher profitieren. Eine Dämpfung des privaten Konsumwachstums, des damit verbundenen Ressourcenverbrauchs sowie des »Konsumismus« als Lifestyle ist jedoch nicht möglich, wenn die reale Lohnsumme jährlich ent26  Selbstverständlich sind Hybrid-Lösungen zwischen beiden Modellen denkbar. Überdies sollte Arbeitszeitverkürzung nicht nur als Verkürzung der wöchentlichen Regelarbeitszeit, sondern auch in Form von Bildungszeiten, in Österreich erfolgreich als Bildungskarenz eingeführt, in Deutschland als Bildungskonto gefordert, ­Sabbaticals oder Teilzeitphasen mit Lohnausgleich gedacht werden.

sprechend der Produktivitätsentwicklung, wie im keynesianischen Fordismus, wächst.26 Es gibt keinen Konsens, ob die Arbeitszeitverkürzung primär eine postmaterielle oder eine traditionelle Maßnahme sein soll. Es geht auch gar nicht um die 1:1-Umsetzung einer puren Variante, wichtiger wäre ein lebendiger Diskurs genau entlang dieser Fragestellungen. Ein solcher findet derzeit aber eher außerhalb als innerhalb Nikolaus Kowall  —  Kern-Axiome sozial­d emokratischer ­W irtschaftspolitik

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der Sozialdemokratie statt. Erst wenn man weiß, was man möchte, werden die politischen Hindernisse auf dem Weg dorthin vollends sichtbar werden. Schließlich wird es nicht einfach, zumal in Zeiten des globalen Freihandels, ökologische und soziale Ziele zu realisieren. Doch ohne politische Regulierung dieses Freihandels wird sich ein nachhaltiger Ressourcenverbrauch oder eine Dekommodifizierung der Gesellschaft nicht durchsetzen lassen. Es wird auch nicht einfach, in Zeiten der innereuropäischen Standortkonkurrenz die Arbeitszeit zu verkürzen und die Lebensqualität zu forcieren. Doch ohne das Herstellen des Primats der Politik auf europäischer Ebene wird sich die »Zähmung des Kapitalismus«, wie sie im 20. Jahrhundert auf nationaler Ebene gelungen ist, auf europäischer Ebne nicht durchsetzen lassen. Zur Verwirklichung der genannten Ziele müssten also erhebliche politische Voraussetzungen erst geschaffen werden: Die politische Regulierung des Freihandels, das Stopfen von Steuerschlupflöchern, die Entschleunigung der Globalisierung Europas, die effektive Bändigung der Finanzmärkte und die Herstellung einer europäischen Sozialunion gehören zu den wichtigsten Maßnahmen. Vieles davon findet sich bereits in dieser oder jener sozialdemokratischen Programmatik – meist isoliert und kontextbefreit – wieder. Entscheidend ist jedoch, all diese Maßnahmen als integrierte Instrumente zur Erreichung von Zielen zu begreifen und nicht als Ziel an sich. Aus dem Schließen von Steuerschlupflöchern oder der Regulierung des Freihandels ergeben sich keine unmittelbaren Konsequenzen für die Lebensrealitäten der BürgerInnen. Man muss das Pferd programmatisch wieder von vorne aufzäumen und aufzeigen, was originäre Ziele beziehungsweise notwendige Ins­tru­men­te zu deren Erreichung sind und welche Hindernisse dafür aus dem Weg geräumt werden müssen. Aus der Verkürzung der Arbeitszeit und der Entschleunigung des Statuswettbewerbs ergeben sich positive Bilder für die eigene Lebensrealität. Das sind die Bausteine für ein sozialdemokratisches wirtschaftspolitisches Narrativ im 21. Jahrhundert.

Dr. Nikolaus Kowall, geb. 1982, ist Vertretungs­professor für International Economics an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Davor leitete er die Geschäftsstelle des Forschungsinstituts für gesellschaftliche Weiter­entwicklung (FGW) in Düsseldorf. Er hat mit Unterstützung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung im Bereich Außenhandel an der Wirtschaftsuniversität Wien promoviert. Von 2007 bis 2014 leitete Kowall ehrenamtlich den Think Tank Sektion 8, eine Plattform die sich innerhalb der Österreichischen Sozialdemokratie für eine stärkere inhaltliche Fundierung und Akzentuierung politischer Diskussionen einsetzt.

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Sozialdemokratie — Analyse

AUF ZU NEUEN UFERN? DIE LABOUR PARTY UNTER JEREMY CORBYN ΞΞ Klaus Detterbeck Es ist eine höchst unwahrscheinliche Geschichte. Ein altlinker Hinterbänkler im Rentenalter, der seit mehr als dreißig Jahren im britischen Unterhaus sitzt, elektrisiert die Jugend des Landes, führt der schwächelnden Partei viele neue Mitglieder zu und mutiert so zum Hoffnungsträger einer darbenden europäischen Sozialdemokratie. Jeremy Corbyn (geb. 1949) wurde 2015 entgegen aller Erwartungen zum neuen Parteichef der Labour Party gewählt, verteidigte diese Position 2016 dank der Unterstützung der Parteibasis gegen die Abwahlversuche seiner eigenen Fraktion und erreichte, wiederum zur allgemeinen Überraschung, bei der vorgezogenen Unterhauswahl 2017 mit seiner Partei völlig unerwartete vierzig Prozent und stahl damit der konservativen Regierung unter Theresa May die sicher geglaubte absolute Mehrheit. Wir reden von einem Labour-Chef, der Verstaatlichungen und radikale soziale Umverteilungen fordert, der sich gegen das britische Atomwaffenprogramm stellt, der nie warm geworden ist mit der EU, dem Nähe zur palästinensischen Hamas oder der kurdischen PKK nachgesagt wird und der sehr kritisch zu Israel und den USA steht. Was steckt hinter seinem Erfolg, was bedeutet er für die Entwicklung der traditionsreichen Arbeiterpartei Großbritanniens und was lehrt er uns über die Chancen der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert? Mit diesen Fragen will ich mich in diesem Beitrag beschäftigen. Ich gliedere meine Argumente dabei entlang von vier Thesen. THESE 1: E RST DIE INNERPARTEILICHE DEMOKRATISIERUNG HAT CORBYN MÖGLICH GEMACHT Wie viele andere Parteien in westlichen Demokratien hat die Labour Party in den letzten Jahren eine Öffnung ihrer personellen Führungswahlen vollzogen. Für die Wahl ihres Parteiführers (party leader), der die Fraktion in Westminster führt und nach einem Wahlsieg Premierminister wird, hatte Labour seit 1983 ein dreigliedriges Wahlkollegium (electoral college) eingerichtet, bei dem der Fraktion, den Wahlkreisverbänden und den angeschlossenen Organisationen (primär: Gewerkschaften) jeweils ein Drittel der Stimmen zukam. Dieses System kam in die Kritik, nachdem sich 2010 Ed Miliband dank der Stimmen der Gewerkschaften äußerst knapp gegen seinen populären, zudem in Fraktion und Parteibasis beliebteren Bruder David Miliband durchgesetzt

INDES, 2018–3, S. 79–88, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2191–995X

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hatte. Der neue Parteiführer brachte eine Parteireform auf den Weg, die 2014 beschlossen wurde.1 Mit der Parteireform 2014 wurde eine offene Vorwahl eingeführt, bei der jedem/r Wahlberechtigten individuell eine Stimme zukommt. Dabei werden drei Kategorien von Wahlberechtigten unterschieden: a) Parteimitglieder (fully paid-up members); b) der Partei angeschlossene Unterstützer (affiliated supporters), womit Personen gemeint sind, die einer der Partei angeschlossenen Organisation, etwa einer Gewerkschaft, angehören und die sich für die Wahl kostenlos registriert haben; c) bei der Partei registrierte Unterstützer (registered supporters), die nicht Mitglieder der Partei sind, sich aber schriftlich zu den Werten Labours bekennen und für ihre Wahlteilnahme einen bestimmten Beitrag (zunächst £ 3,–, seit August 2016 £ 25,–) bezahlen. Gegenüber dem bisherigen System bedeutete diese Reform potentiell eine enorme Stärkung der Parteibasis mit ihren Hunderttausenden von individuellen Entscheidungen. Waren diese noch »von oben« zu kontrollieren? Die Fraktion war bei der Wahl quantitativ marginal geworden, behielt aber ihre traditionelle Rolle als Schleusenwächter, da weiterhin nur Abgeordnete Parteichef werden konnten, die von mindestens 15 Prozent der MPs nominiert worden waren. Nach der verlorenen Unterhauswahl 2015 trat Miliband zurück und das neue Verfahren kam erstmals zur Anwendung. Vier Kandidaten traten an, die genügend Nominierungen in der Fraktion auf sich vereinen konnten. Corbyn nahm diese Hürde knapp (15,5 Prozent), dies letztlich nur, weil moderate Abgeordnete die Parteilinke nicht verprellen und alle Flügel in die Debatte einbinden wollten. Gleichwohl rechnete niemand in der Partei mit seinem Sieg. Auch erste Umfragen im Juni 2015 sahen Corbyn bei rund

1  Peter Dorey und Andrew Denham, »The longest suicide in history«: The Labour Party leadership election of 2015, in: British Politics, Jg. 11 (2016), H. 3, S. 259–282; Meg Russell, Corbyn as an organizational phenomenon. A response to Steve Richards, in: The Political Quarterly, Jg. 87 (2016), H. 1, S. 20–22.

Tabelle 1: Wahl zum Parteivorsitzenden 2015

Kandidat

Stimmen

In Prozent

insgesamt

Stimmen der

Stimmen der

Mitglieder

»affiliated

»registered

supporters«

supporters«

Jeremy Corbyn

251,417

59,5 %

121,751

41,217

88,449

Andy Burnham

80,462

19,0 %

55,698

18,604

6,160

Yvette Cooper

71,928

17,0 %

54,470

9,043

8,415

Liz Kendall

18,857

4,5 %

13,601

2,682

2,574

Quelle: Dorey u. Denham, Labour Party leadership, S. 274.

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Stimmen der

Sozialdemokratie — Analyse

15 Prozent, bei der Abstimmung im September 2015 gewann er hingegen fast sechzig Prozent der abgegebenen Stimmen. Tabelle 1 zeigt das Ergebnis der offenen Vorwahl 2015. Bei der Verteilung der Stimmen ist auffällig, dass Corbyns Anteil bei den »registered supporters« mit fast 84 Prozent überdurchschnittlich hoch war. Es war also gelungen, massiv Unterstützung für seine Wahl jenseits der Mitgliedschaft zu mobilisieren. Entgegen der Annahme, dass radikale Positionen sich vor allem unter den ideologisch gefärbten Parteimitgliedern finden, waren es gerade die Nicht-Mitglieder, die den Linksausleger wählten. Allerdings lag Corbyn auch bei den Mitgliedern der Partei selbst deutlich vor seinen Konkurrenten und erreichte dort 49,6 Prozent der Stimmen. Dabei war er besonders beliebt bei neuen Parteimitgliedern, die erst nach der Wahlniederlage 2015 beigetreten waren, teils schon in Reaktion auf seine Kandidatur. Auffallend war zudem ein Altersunterschied. Über 65 Prozent der Wähler unter vierzig Jahren stimmten für Corbyn, während sein Anteil bei den über 60jährigen »nur« noch 51 Prozent betrug.2 Drei Erklärungen scheinen das Phänomen Corbyn einzufangen. Erstens: Er startete 2015 als der Anti-Establishment-Kandidat nach einer enttäuschenden Wahlniederlage Labours. Er wurde gegenüber seinen Mitbewerbern als authentischer wahrgenommen, stärker politischen Prinzipien verpflichtet als strategischen Machtkalkülen. In seiner langen Zeit als Abgeordneter war Corbyn, der nie irgendwelche Sprünge auf der parlamentarischen Karriereleiter gemacht hatte, vor allem als Rebell gegen die von Tony Blair und Gordon Brown geführten Regierungen aufgefallen. Wurde er zuvor als »token Leftie« belächelt, galten plötzlich seine kapitalismuskritischen und staatsinterventionistischen Positionen als Bausteine einer neuen politischen Ausrichtung der Labour Party. Die Parallelen zu Bernie Sanders in den USA, Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien sind nicht zu übersehen. In diesem 2  Dorey u. Denham, Labour Party leadership, S. 275. 3  Dorey und Denham, Labour Party leadership, S. 277; Andrew Crines, Reforming Labour: The leadership of Jeremy Corbyn, in: Political Insight, Jg. 6 (2015), H. 3, S. 4–7; Uwe Jun, The Labour ­Party in Transition: From Miliband to Corbyn, in: Klaus Detterbeck u. Klaus Stolz (Hg.), The End of Duopoly? The Transformation of the British Party System, Augsburg 2018, S. 113–132.

Sinne war Corbyns Aufstieg Teil einer größeren linkspopulistischen Welle, die sich im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise der »Great Recession« in den USA und Europa aufbaute.3 Zweitens versprach Corbyns ideologische Rigidität eine klare Alternative zur konservativen Regierung. Viele Labour-Mitglieder und Unterstützer, oftmals mit akademischem Hintergrund im öffentlichen Dienst tätig, lehnen eine neoliberale Austeritätspolitik, Kürzungen im Sozialetat und Verschärfungen im Einwanderungsrecht entschieden ab. Diese Teile der Parteibasis wünschen sich eine klare Abkehr von der aus ihrer Sicht mit Blairs’ New ­L abour-Strategie verbundenen opportunistischen Anpassung an die Tories. Im Mai 2015 ergab eine Umfrage, dass neun von zehn Labour-Mitgliedern Klaus Detterbeck  —  Auf zu neuen Ufern?

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sich mehr Umverteilung von Wohlstand wünschten und zu starke Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben beklagten. In diesem Sinne kam »Jezza« zum richtigen Moment, um genau das zu sagen, was diese Mitglieder schon seit Jahren hören wollten.4 Drittens erkannten Corbyn und sein Team schnell, welche Möglichkeiten der neue Wahlmodus bot, gerade in der Mobilisierung von parteiexternen Unterstützern. Eine wohl orchestrierte Kommunikationsstrategie, die sowohl die Nutzung sozialer Medien, den Aufbau einer digitalen Datenbank zur Aktivierung potentieller Unterstützer sowie emotional aufgeladene öffentliche Versammlungen beinhaltete, brachte Abertausende dazu, sich entweder als Mitglieder der Partei anzuschließen oder die paar Pfund zu zahlen, um bei der Führungswahl Labours für Corbyn zu stimmen. Wenn auch die medialen Gerüchte um eine Infiltration von rechts (tatsächlich gab es eine Twitter-­ Kampagne »#ToriesForCorbyn«) oder links wohl nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, so verkennen sie doch, dass mit der Kampagne die Mobilisierung vieler, gerade junger, Menschen gelang, die nicht oder nicht mehr für eine parteipolitische Beteiligung erreichbar schienen. In diesem Sinne gewann Corbyn, weil er digitale Chancen ebenso nutzen konnte wie die Offenheit der Vorwahl.5 Aus der Kampagne zur Wahl Corbyns entwickelte sich die politische Bewegung »Momentum«, die seit Oktober 2015 als affiliated organisation der Labour Party registriert ist. Momentum, das sowohl über lokale Gruppen (mit derzeit etwa 35,000 Mitgliedern insgesamt) wie auch eine nationale Führungsebene verfügt, sieht sich als Teil der »Corbyn coalition«. Erklärtes Ziel ist es, mit digitalen wie physischen Aktivitäten vor Ort die partizipatorische Dynamik eines sozialen Netzwerkes in die Parteiarbeit einzubinden. Die Labour Party soll somit zum Experimentierfeld und zum Motor eines gesellschaftlichen Wandels gemacht werden, der Macht in die solidarischen Hände des Volkes zurückgibt.6 Momentum und die mit ihr verbundenen Teile der Parteibasis gelten als wichtige Faktoren bei der Stabilisierung des Führungsanspruches Corbyns. Dies zeigte sich im Sommer 2016, als sich die Fraktion gegen Corbyn stellte, unter anderem wegen seiner unentschlossenen Haltung während des BrexitReferendums. 75 Prozent der Labour MPs unterstützten seine Abwahl. Bei der anschließenden Führungswahl setzte sich der Parteichef jedoch klar mit 61,8 Prozent gegen seinen Herausforderer Owen Smith (38,2 Prozent) durch. Dabei gewann Corbyn, wie schon 2015, bei allen drei Wählergruppen. Zuwächse waren vor allen bei den Mitgliedern zu erkennen, wo er nun 59 Prozent der Stimmen bekam. Viele der früheren supporter waren mittlerweile in

82

Sozialdemokratie — Analyse

4  Tim Bale u. a., Minority views? Labour members have been longing for someone like Corbyn before he was even on the ballot paper, in LSE blogs, 14.03.2016, URL: http://blogs.lse. ac.uk/politicsandpolicy/54068–2/ [eingesehen am 12.11.2018]. 5  James Stafford, The Corbyn experiment, in: Dissent, Jg. 63 (2016), H. 1, S. 69–76. 6  Adam Klug u. a., Momentum: a new kind of politics, in: ­Renewal, Jg. 24 (2016), H. 2, S. 36–44; Jun, S. 120–122; Sarah Pickard, How Momentum got Britain’s youth interested in politics, in: LSE blogs, 05.12.2017, URL: http://blogs.lse.ac.uk/politicsandpolicy/how-momentumgot-young-people-interestedin-formal-politics [eingesehen am 12.11.2018].

die Partei eingetreten.7 Gerade die Wiederwahl Corbyns 2016 zeigt, wie stark sich die Labour Party mittlerweile verändert hat. Ein linker Außenseiter fest an der Spitze der Partei – ohne den Modus der (offenen) Urwahl wäre dies nicht denkbar gewesen. THESE 2: D IE REVITALISIERUNG DER PARTEI BASIERT AUF DER VISION EINER GERECHTEREN GESELLSCHAFT Die Entwicklung der Mitgliederzahlen zeugt von einer Revitalisierung der Labour Party. Angesichts der, allen Reformbemühungen zum Trotz, generellen Ermüdung von Parteimitgliedschaften im internationalen Vergleich ist dies besonders bemerkenswert. Waren zwischen 2010 und 2014 knapp 200.000 Menschen als individuelle Mitglieder eingeschrieben, stieg diese Zahl 2015, mit der Parteiführung Corbyns, auf 338.000 an. Am Ende des Jahres 2016 war ein erneuter Anstieg auf 544.000 Mitglieder festzustellen, ein Stand, der auch zu Beginn des Jahres 2018 in etwa gehalten werden konnte (552.000). Hinzu kommen dann noch die eingeschriebenen Mitglieder einer der Partei angeschlossenen Organisation und die registrierten Unterstützer, die an den Führungswahlen teilnehmen können.8 Schaubild 1: Entwicklung der Mitgliederzahlen der Labour Party, 1998–2018

7  Peter Dorey u. Andrew Denham, Entirely as expected? What the voting data tells us about Corbyn’s re-election, in: LSE blogs, 26.09.2016, URL: http://eprints.lse.ac.uk/71796 [eingesehen am 12.11.2018] 8  Lukas Audickas u. a., Membership of UK political parties, in: House of Commons Library, Briefing Paper, Nr. SN05125, 03.09.2018, URL: https://researchbriefings. parliament.uk/ResearchBriefing/ Summary/SN05125#fullreport [eingesehen am 12.11.2018].

Quelle: Audickas u. a., S. 10.

Umfragen zeigen, dass viele dieser neuen Mitglieder wegen Corbyn eingetreten sind. Sie sehen zwar, dass er für die Einheit der Partei wie für den Wahlerfolg eher ein Problem darstellt, aber sie schätzen seine Geradlinigkeit und seine Verbundenheit mit den »ordinary people«. Sein permanentes Plädoyer für mehr soziale Gerechtigkeit, höhere Sozialausgaben und progressive Besteuerung wird als Empathie mit den Schwächeren der Gesellschaft gesehen, Klaus Detterbeck  —  Auf zu neuen Ufern?

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gerade auch von der linken Intelligenz aus der Mittelschicht. Die Corbynistas wollen das Volk (»the overwhelming majority«) für eine linke Reformpolitik zurückgewinnen, auch wenn dies mehr als eine Wahlperiode dauern mag. Dieser Appell an das Volk ist dabei keineswegs identisch mit den rechten Parolen von einer homogenen Volksgemeinschaft. Er steht vielmehr in der Tradition des Klassendenkens (class politics), welches die Geschichte der Labour Party geprägt hat.9 Diese Vision einer gerechteren Gesellschaft geht aber über das Arbeitermilieu hinaus; sie spricht die (akademische) Jugend an, die von hohen Studiengebühren, explodierenden Mieten und prekären Beschäftigungsverhältnissen betroffen ist; sie spricht linksliberale Kreise an, die sich nicht mit steigender sozialer Ungleichheit, wachsenden Ressentiments gegenüber Migranten und einer Abkehr von Europa abfinden wollen und die im Corbyn-Lager kulturelle Offenheit und kosmopolitische Orientierung in Zeiten von UKIP und Brexit finden. Postmaterialisten wiederum schätzen den hohen Stellenwert von partizipativer Politik, direkter Aktion und lokaler Zivilgesellschaft, der vor allem über die Bewegungslogik von Momentum vermittelt wird. In dieser Mischung aus sozio-ökonomischen, kulturellen und post-materialistischen Themen hat Corbyn die Revitalisierung der Partei durch das Versprechen einer neuen Vision für eine gerechte Gesellschaft ermöglicht.10 Seine Rhetorik lebt vom idealistischen Bild einer progressiven Partei, die, von gesellschaftlichen Kräften getragen, den Wandel befördert. Vieles dabei ist vage und unklar geblieben, mehr abstrakte Beschwörung von generellen Werten der Menschlichkeit und Gerechtigkeit als konkrete Handlungsvorschläge für einzelne Politikfelder. Aber die Botschaft ist dennoch angekommen. THESE 3: DER AUFSCHWUNG LABOURS BEI DER WAHL 2017 IST EINE FOLGE DER ERSCHÜTTERUNG DES BRITISCHEN PARTEIENSYSTEMS DURCH DEN BREXIT Die durch das Brexit-Referendum im Juni 2016 hervorgerufene Polarisierung in der britischen Gesellschaft hat auch die vorgezogene Wahl des britischen Parlamentes im Juni 2017 geprägt. Für beide Abstimmungen gilt, dass Alter und Bildungsstand die entscheidenden Faktoren des Wählerverhaltens darstellten, stärker noch als soziale Klasse, die traditionelle Säule des britischen Zwei-Parteien-Systems.11 Es gibt hier ein Paradoxon: Bei keiner Wahl seit 1970 gab es eine höhere Konzentration der Stimmen auf die beiden Hauptparteien, Labour und Conservatives, als 2017. Das Duopol erreichte zusammen 82,3 Prozent der Stimmen, während UKIP fast ausradiert wurde und auch die anderen kleineren Parteien, etwa die Liberal

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Sozialdemokratie — Analyse

9  Tim Bale, »The Corbyn problem« and the future of Labour, in: Political Insight, Jg. 7 (2016), H. 3, S. 4–7. 10  Ben Jackson, Labour’s ideology: towards common ground, in: Renewal, Jg. 23 (2015), H. 4, S. 5–10; Crines, S. 6–7; Stafford, S. 73–76. 11  Christopher Prosser, The strange death of multi-party Britain: the UK General Election of 2017, in: West European Politics, Jg. 41 (2017), H. 5, S. 1226–1236.

Democrats, die Scottish National Party (SNP) oder die Green Party, relativ schwach abschnitten. Tabelle 2: Ergebnis der Unterhauswahl 2017 im Vergleich zu 2015, in Prozent

Partei

Veränderung

Stimmen­

Stimmen­

anteil 2017

anteil 2015

Conservative Party

42,3

36,8

+ 5,5

Labour Party

40,0

30,4

+ 9,6

Liberal Democrats

7,4

7,9

– 0,5

Scottish National Party

3,0

4,7

–1,7

UKIP

1,8

12,6

–10,8

Green Party

1,6

3,8

– 2,2

Andere Parteien

3,9

3,8

– 0,1

Quelle: Prosser, S. 1232.

Der Rückgang an Fragmentierung des Parteiensystems bei der Wahl 2017 erklärt sich dadurch, dass das Wahlverhalten von einer alles dominierenden Frage bestimmt wurde, die sich auf die beiden Hauptparteien konzentrierte: Welchen Kurs sollte die zukünftige Regierung fahren in den Austrittsverhandlungen mit der EU? Die Konservativen unter Premierministerin May standen für einen harten Bruch, mit dem das Verlassen des Binnenmarktes in Kauf genommen wurde, zum Zweck einer Begrenzung der Arbeitsmigration ins Königreich. Sie konnten damit weite Teile des »Leave«-Lagers, die im Referendum für einen Austritt gestimmt hatten, für sich gewinnen. Neben konservativen Wählern umfasste dieses große Teile der bisherigen Unterstützer der UKIP ebenso auch Anhänger anderer Parteien aus den unteren Einkommens- und Bildungsschichten, die traditionell die soziale Basis der Labour Party bilden.12 Schwieriger gestaltete sich die Lage für das »Remain«-Lager und für jene Wähler, die zwar den Austritt aus der EU befürworteten, aber bereit waren, für den Verbleib im Binnenmarkt europäische Regelungen, etwa 12  Prosser, S. 1234; John Curtice, What do voters want from Brexit?, in: NatCen Social Research, Analysis Paper No. 9 (2016), URL: https://whatukthinks.org/eu/wp-content/uploads/2016/11/Analysis-paper-9What-do-voters-want-from-Brexit. pdf [eingesehen am 12.11.2018]

die Arbeitsfreizügigkeit, weiterhin zu akzeptieren (»soft Brexit«). Ihre politischen Positionen wurden am klarsten von den Liberal Democrats oder Grünen repräsentiert, die aber aufgrund des britischen Mehrheitswahlsystems auf nur wenige Sitze hoffen konnten. So wanderten viele pro-europäische Wähler zur Labour Party, auch wenn deren Position zum Brexit weiterhin ambivalent blieb. Corbyn konnte aber im Wahlkampf 2017 Hoffnungen Klaus Detterbeck  —  Auf zu neuen Ufern?

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auf einen »soft Brexit« und ein weltoffeneres Großbritannien unter einer Labour-­Regierung wecken.13 Dies machte sich in erster Linie beim »Youthquake« bemerkbar. Die Wahlbeteiligung der jungen Wähler zwischen 18 und 24 Jahren stieg um rund zwanzig Prozent gegenüber den letzten Wahlen. In dieser Altersgruppe stimmten 62 Prozent für Labour, aber nur 27 Prozent für die Konservativen. Im Vergleich zur Wahl 2015 vergrößerte sich der Abstand zwischen den beiden Parteien bei den Jungwählern von 14 Prozent zugunsten Labours auf 35 Prozent. Bei der Wahl 2010 lagen beide Parteien, wie auch die Liberal Democrats, bei den Jungwählern noch bei rund dreißig Prozent. Besonders stark schnitt Labour dabei bei den jungen Frauen (73 Prozent), bei jungen Wählern mit niedrigem Einkommen (siebzig Prozent) und bei jungen Studierenden (64 Prozent) ab. Die Forderungen nach einem besseren Brexit-Deal, nach einem Ende der Austeritätspolitik und einem besseren Gesundheitssystem sowie einer Abschaffung bzw. Reduzierung der Studiengebühren standen bei den Jungwählern ganz oben auf der Themenliste.14 Schaubild 2: Der »Youthquake« bei der Wahl 2017

Quelle: Sloam u. a., S. 5.

Die Jungwähler konnten von der Labour Party in starkem Umfang mobilisiert werden. Die Attraktivität Labours und ihres Spitzenkandidaten Corbyn, dessen Auftritt auf dem Glastonbury Rock Festival im Juni 2017 mit Sprech­chören gefeiert wurde, ergab sich aus der schon oben angesprochenen Mischung aus Anti-Austeritätspolitik und kultureller Offenheit, die sich an den Themen

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Sozialdemokratie — Analyse

13  Jonathan Mellon u. a., Brexit or Corbyn? Campaign and inter-election vote switching in the 2017 UK General Election, in: Parliamentary Affairs, 21.11.2017, URL: https:// papers.ssrn.com/sol3/papers. cfm?abstract_id=3073203 [eingesehen am 12.11.2018]. 14  James Sloam u. a., »Youthquake«: How and Why Young People Reshaped the Political Landscape in 2017, in: Political Insight, Jg. 9 (2018), H. 1, S. 4–8.

Europa und Immigration festmachte. Hinzu kam eine gelungene digitale Medienkampagne, die die junge Zielgruppe mit hoher Effektivität erreichte.15 Im Wahlkampf selbst war der Brexit nur unterschwellig präsent, die Innenpolitik, etwa das Gesundheitswesen, Steuern und öffentliche Ausgaben, wurde von den Parteien sehr viel stärker thematisiert. Zudem wurde die Frage nach dem besseren Kandidaten für das Amt des Premiers in den Vordergrund gerückt – und erwies sich unerwartet als Bumerang für Theresa May. Dennoch schieden sich an der Haltung zum Brexit die Geister: Wer jung, besser gebildet und kulturell liberal war – eine Umschreibung des »Remain«-Lagers –, unterstützte Labour; ältere Wähler, mit geringerer Bildung und kulturell konservativ –, allesamt Charakteristika des »Leave«-Lagers – stimmten für die Tories. Auch wenn der erste Blick es zu zeigen scheint, so steht die Wahl 2017 nicht für eine stabile Rückkehr zum alten Zwei-Parteien-System. Dieses war fest verankert im class cleavage und wurde getragen von hoher Identifikation mit einer der beiden Hauptparteien. Nun haben wir es mit einer volatilen Wählerschaft zu tun, die sich vor allem nach kurzfristigen Faktoren, den Themen und Kandidaten der Wahl, entscheidet. 2017 war mit der Ausnahmesituation der Brexit-Verhandlungen eine solche Wahl. Somit sind weitere Erschütterungen denkbar und ein weiterhin rasanter Wandel des Parteiensystems nicht auszuschließen. THESE 4: D ER WEG IN DIE REGIERUNG BLEIBT FÜR LABOUR WEIT – ES SEI DENN, DIE TORIES SCHEITERN AM BREXIT Der unerwartete Aufschwung Labours bei der Wahl 2017 hat die parteiinternen Kritiker Corbyns stiller gemacht. Die Skepsis in der eigenen Fraktion ist jedoch stark. Der harte Streit, den Labour seit geraumer Zeit darüber führt, wie man Kritik an Israels Regierungspolitik üben kann, ohne sich den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen zu müssen, ist ein Beispiel dafür, wie 15  Andrew Chadwick, Corbyn, Labour, digital media, and the 2017 UK election, in: Einar Thorsen u. a. (Hg.), UK election analysis 2017, Bournemouth, S. 89. 16  Björn Finke, Aufwind im Flügelstreit, in: Süddeutsche Zeitung, 22.08.2018. 17  Sam Coates, Tories take four-point poll lead over Labour, in: The Times, 09.08.2018; vgl. Jun, S. 123.

stark sich linker und moderater Flügel der Partei gegenseitig misstrauen.16 In Umfragen wurde Theresa May (36 Prozent) im Sommer 2018, trotz all ihrer Schwierigkeiten um die Brexit-Verhandlungen, von den britischen Bürgern weiterhin als bessere Regierungschefin angesehen als Jeremy Corbyn (22 Prozent). Weniger deutlich sind hingegen die Werte für die Parteien. Hier lagen die Tories bei derselben YouGov-Umfrage mit 39 Prozent nur vier Punkte vor der Labour Party.17 Strukturell bleibt für Labour allerdings ein Problem bestehen. Die Wahl 2017 hat den Konservativen einen Vorsprung von 98 Sitzen gegenüber Labour verschafft. Der notwendige swing für eine Mehrheit müsste daher rund Klaus Detterbeck  —  Auf zu neuen Ufern?

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fünfzig Wahlkreise umfassen. Die Wahlgeographie verrät, dass solche Wahlkreise in Schottland, etwa in Konkurrenz zur SNP, durchaus mit einer linksliberalen und kosmopolitischen Agenda gewonnen werden könnten. In England und Wales sieht dies schwieriger aus. Hier geht es um den Kampf um die ältere Wählerschaft in den früheren Arbeitergebieten und den Vorstädten. Themen wie innere Sicherheit und wirtschaftliche Stabilität sind für diese Wählergruppen von zentraler Bedeutung. Pointiert gesagt: »The litmus test will be the reaction of retired working-class homeowners in the Midlands – not the Glastonbury festival crowd.«18 Vielleicht ist der Weg an die Macht aber einfacher zu haben. Die Schwäche des Gegners mag es richten. Momentan scheint sich auch die konservative Regierung darauf einzurichten, dass die Verhandlungen mit der EU ohne Ergebnis bleiben, wenn Großbritannien im März 2019 die Union verlässt. Ein solcher no deal-Brexit würde gesellschaftlich wie wirtschaftlich eine Zäsur darstellen. Schwer vorstellbar, dass dies nicht auch ein politisches Erdbeben auslösen würde. Aber spätestens an diesem Punkt wird auch der optimistischste Sozialdemokrat ins Grübeln kommen. Kommt Labour (nur) dann ins Amt, wenn Großbritannien vor einem historischen Scherbenhaufen steht?

PD Dr. Klaus Detterbeck, geb. 1966, ist Politik­wissen­ schaftler an der Universität Göttingen. Seine ­zentralen Forschungsthemen sind Parteien, Föderalismus und die europäische Integration. Zu seinen aktuellen ­Publikationen zählt das Handbook of Territorial Politcs (Cheltenham: Edward Elgar, 2018), welches er gemeinsam mit Eve Hepburn herausgegeben hat.

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Sozialdemokratie — Analyse

18  Andrew Harrop, Where next for Labour?, in: The Political Quarterly, Jg. 88 (2017), H. 3, S. 395–399, hier S. 397.

LINKE PERSPEKTIVEN IN DEN USA DIE SUCHE NACH EINEM NEUEN SOZIAL­ DEMOKRATISCHEN PROJEKT ΞΞ Thomas Greven

Im Vorfeld der US-Kongresswahlen am 6. November 2018 werden innerhalb der Linken des amerikanischen politischen Spektrums – in einem Teil der Demokratischen Partei und einer unüberschaubaren Zahl von kleineren Parteien und Gruppierungen, von denen derzeit die Democratic Socialists of America (DSA) eine gewisse Prominenz erreicht haben – vor allem zwei Debatten geführt: Erstens verbindet sich die Hoffnung auf eine »blaue Welle«, d. h. Mehrheiten der Demokraten im Repräsentantenhaus und, weniger wahrscheinlich, im Senat, mit der Frage, ob es wichtiger ist, sicherzustellen, dass es für Präsident Donald Trump ein Gegengewicht gibt – pragmatische Politik zugunsten von checks and balances –, oder ob es vielmehr grundsätzlich darauf ankommt, progressive Kandidaten zu unterstützen, auch um den Preis verlorener Sitze. Die erste Runde dieser Auseinandersetzung – die »insurgency« gegen das Demokratische Establishment1 bei den Vorwahlen – ist gelaufen und hat ein gemischtes Ergebnis gezeitigt. Ob in der Hauptwahl die Sorge des Democratic National Committee (DNC), dass gewinnbare Sitze verloren gehen, weil entweder die aufgestellten Kandidaten zu links sind oder Stimmen an Kandidaten von linken Drittparteien gehen und so den Demokratischen Kandidaten deshalb »fehlen«, wird sich zeigen, vor allem in den von Trump gewonnenen Industriestaaten des Mittleren Westens. Die Chancen der Demokraten stehen grundsätzlich gut, da die Wahl wohl trotz vordergründig guter Wirtschaftslage zu einem Referendum gegen den unbeliebten Trump avancieren wird. Eine zweite Debatte, mit der ersten eng verbunden, betrifft die Frage, welchen Stellenwert die sogenannte Identitätspolitik gegenüber universalistischen Forderungen haben soll. Die Komplexität dieser Frage wird offensichtlich, wenn man einerseits die innerhalb der Demokratischen Partei ungelöste Debatte über die Ursachen der Niederlage der Präsidentschaftswahl 2016 betrachtet und andererseits den Enthusiasmus angesichts der vielen 1 

Vgl. The New York Times, 6.9.2018.

Vorwahlkandidaten, die nicht der im Kongress überrepräsentierten Gruppe der weißen Männer angehören (z. B. Alexandria Ocasio-Cortez in Queens

INDES, 2018–3, S. 89–97, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2191–995X

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und die Muslimas Ilhan Omar, Minnesota, und Rashida Tlaib, Michigan). Ein Vorwurf an Hillary Clinton war, dass sie gegenüber der stärker univer-

2  Mark Lilla, The Once and Future Liberal. After Identity Politics:, New York 2017.

salistischen Botschaft ihres Kontrahenten Bernie Sanders, unabhängiger Senator aus Vermont, zu sehr die Interessen verschiedener gesellschaftlicher Minderheiten-Gruppen betont hätte.2 Hintergrund dieser Debatte ist die seit Jahren prognostizierte »emerging Democratic Majority« als Folge der demographischen Entwicklung in den USA, welche mittelfristig zu einer »majority-­ minority society« führen wird, also einer Gesellschaft, in der die Summe der (nicht-weißen) Minderheiten größer ist als die Gruppe der bisher dominanten Weißen.3 Politikstrategisch geht es für die Demokraten darum, wie viel Mühe man sich noch mit der »weißen Arbeiterklasse« geben soll. Gemeint sind Weiße ohne College-Abschluss und insbesondere diejenigen unter ihnen, die sich angesichts eigener sozio-ökonomischer und kultureller Probleme vernachlässigt fühlen und wenig Verständnis für Politik zugunsten anderer Gruppen aufbringen.4 Diese Debatte ist dabei nur zum Teil evidenzbasiert – die Republikanische Politik schadet auch jener »weißen Arbeiterklasse« – und spiegelt vor allem die zunehmende ethnische Tribalisierung der amerikanischen Politik, die ihre Wurzeln in Sklaverei, Segregation, Anti-Katholizismus (heute: Islamophobie) und Nativismus hat. Bernie Sanders stand 2016 unter anderem für den Versuch, diese Wähler über eine stärker universalistische Politik für die Demokratische Partei zu gewinnen. Obwohl es Sanders gelang, Clintons Positionen in seine Richtung zu verändern, wählten viele von ihnen am Ende Trump. Auch gerade deshalb schwelt die Debatte in der Partei weiter. Der Enthusiasmus, den Bernie Sanders, ein weißer Mann, ausgelöst

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Sozialdemokratie — Analyse

3  John B. Judis u. Ruy Teixeira, The Emerging Democratic Majority, New York 2002; Briahna Gray (Fetishizing »Identity Politics« Could Cost the Democrats in 2020, in: The Intercept, 18.6.2018) spricht von einer Debatte zwischen »team economic justice« und »team demographic destiny«. 4  Joan Williams, White Working Class. Overcoming Class Cluelessness in America, Boston 2017.

hat, führte im Zuge der Vorwahlen nicht nur zu einer größeren Akzeptanz für seine (universalistischen) sozialpolitischen Vorschläge (z. B. Medicare for all, s. u.), sondern auch zu mehr weiblichen und nicht-weißen Kandidaten. Diese Entwicklung wird zu Recht begrüßt, aber dort, wo sie gefeiert wird, weil diese Kandidaten in »majority-minority districts« weiße Männer besiegten, zeigt sich, dass die USA unter einer fundamentalen Krise der Repräsentation leiden, auch auf der universalistisch orientierten Linken. Es stellt sich dabei die Frage: Wer darf für wen sprechen?5 Bevor wir diese Debatten in der Demokratischen Partei und der amerikanischen Linken, ihre politischen Projekte sowie Wählergruppen und Bündnispartner näher beleuchten, ist es ratsam, sich zu vergegenwärtigen, wie unwahrscheinlich das derzeitige »Sozialismus-Revival« in den USA ist.6 Die klassische Frage der Amerikanistik war nicht ohne Grund »Warum gibt es in den USA keinen Sozialismus?«. Mit diesem »American exceptionalism« ist die Tatsache gemeint, dass sich unter den im 19. Jahrhundert industrialisierten Ländern nur in den USA keine (wirkmächtige) klassenbasierte Partei oder Arbeiterbewegung entwickelte. Republikaner und Demokraten gelten manchen Beobachtern schlicht als die Flügel einer einzigen kapitalismusbejahenden, wirtschaftsfreundlichen Partei, wobei immerhin festgestellt wer5  Die Debatte zwischen empirischer und substantieller Repräsentation schwelt auch in der Populärkultur und an den Universitäten. 6  Im August 2018 zeigte eine Gallup-Umfrage, dass erstmals mehr Demokraten Sozialismus als Kapitalismus positiv bewerteten. Politico Magazine, What Would a Socialist America Look Like?, 03.09.2018, URL: https://www.politico.com/ magazine/­story/2018/09/03/ what-would-a-socialist-­ america-look-like-219626 [eingesehen am 27.11.2018]. 7  Matthew Stanley, »We are not Denmark«: Hillary Clinton and Liberal American Exceptionalism, in: Common Dreams, 26.2.2016, URL: https://www.commondreams. org/views/2016/02/26/we-arenot-denmark-hillary-clinton-andliberal-american-exceptionalism [eingesehen am 27.11.2018].

den kann, dass seit dem 20. Jahrhundert Demokratische Regierungszeiten zu größerer ökonomischer Gleichheit geführt haben. Gewerkschaften werden als exklusive Interessengruppen für ihre Mitglieder wahrgenommen, auch von denen, die ihnen beitreten möchten. Die Forschung hat verschiedene Antworten für die marginale Rolle von Sozialismus und klassenbasierten Bewegungen in den USA gefunden, von der »Frontier«, der Westausdehnung, als Möglichkeit individuellen Aufstiegs und ihrer Rolle als »Sicherheitsventil« für die sozialen Konflikte in den Städten des Ostens über die Hürden, welche Sklaverei, Segregation, Nativismus und Antikatholizismus für die Einigung der Arbeiterklasse bedeuteten, bis hin zur Rolle staatlicher und unternehmerischer Repression. Die Andersartigkeit Amerikas wird nicht zuletzt immer wieder ideologisch begründet und gefeiert, als individualistischer, liberaler »American Creed«. Als Bernie Sanders, auf dessen Kandidatur das heutige »Sozialismus-Revival« zurückgeht, in einer Debatte das dänische Gesundheitssystem als Vorbild für die USA bezeichnete (um für sein Konzept eines »Demokratischen Sozialismus« zu werben und das Gespenst des sowjetischen Staatssozialismus zu verjagen), wurde er von Hillary Clinton sofort ideologisch zurechtgerückt: »We are not Denmark. We are the United States of America«.7 Jenseits irgendeines Arguments kann die Ideologie des Amerikanismus stets mit Applaus rechnen. Thomas Greven  —  Linke Perspektiven in den USA

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DIE DEMOKRATEN UND DIE LINKE Angesichts der marginalen Rolle des Sozialismus in den USA kann es kaum überraschen, dass auch die selbsternannte »Party of the People« sich meist deutlich gegenüber der politischen Linken abgegrenzt hat. Die kurze »sozialdemokratische« Periode der US-Geschichte vom New Deal der 1930er Jahre bis zur Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre zeigt die ganze Komplexität der amerikanischen politischen Konstellation. Präsident Franklin Delano Roosevelt (»FDR«) wählte für seine Politik experimenteller Eingriffe in die Wirtschaft und wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der »Great Depression« die Bezeichnung »liberalism« – was bis heute deutsche Journalisten verwirrt, die Politiker der Demokraten als »Liberale« bezeichnen. Die Abgrenzung gegenüber der Linken war FDR wichtiger als eine inhaltlich korrekte Bezeichnung, auch weil er für die Durchsetzung seiner Politik auf die konservativen, segregationistischen Südstaaten-­Demokraten angewiesen war. Diese ließen, anders als die Republikaner, zu, dass die New Dealer – unter ihnen viele Sozialisten – den Kapitalismus vor sich selbst retteten, verhinderten allerdings erfolgreich, dass sich der fordistisch-­ keynesianische Wohlfahrtsstaat im ganzen Land etablierte: der Süden, die Landwirtschaft und viele Dienstleistungen blieben zunächst gewerkschaftsfrei und sozial unreguliert.8 Die »conservative coalition« von Republikanern und Südstaaten-Demokraten begann zudem schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg, zentrale Errungenschaften des New Deals zu bekämpfen, um insbesondere die Macht der Gewerkschaften zu beschneiden. Mit der Bürgerrechtsbewegung und der späten Entscheidung der Demokraten, diese zu unterstützen, kam es zum Ende der Parteienkonstellation des New Deal: Ab den 1960er Jahren gewannen die Republikaner im Süden der USA und wurden Zug um Zug zur Interessenvertretung der weißen, insbesondere protestantischen Amerikaner. Die Demokraten, ohnehin schon die Partei der Einwanderer (insbesondere der katholischen), wurden nun auch zur Interessenvertretung der Afro-Amerikaner. In den 1980er Jahren versuchte der Bürgerrechtsaktivist Jesse Jackson Jr. zweimal, mit einer linken »Rainbow Coalition« Demokratischer Präsidentschaftskandidat zu werden. Doch es war dafür bereits zu spät. Unter dem Eindruck Republikanischer Wahlerfolge und der Krise von Wirtschaft und Wohlfahrtsstaat bewegten sich die Demokraten nach rechts beziehungsweise aus Sicht des von Südstaaten-Demokraten wie Bill Clinton geführten Democratic Leadership Council (DLC) in die Mitte.9 Für diese neue Ausrichtung passt nun merkwürdigerweise die Bezeichnung »neoliberal«, welche die DLC für sich selber wählte und welche

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Sozialdemokratie — Analyse

8  John Nichols, The S Word: A Short History of an American Tradition … Socialism, London 2011. 9  Thomas Ferguson u. Joel Rogers, Right Turn. The Decline of the Democrats and the Future of American Politics, New York 1986.

auch die entsprechenden Entwicklungen in der europäischen Sozialdemokratie kennzeichnen.10 »All politics is local«, sagte Tip O’Neill, legendärer Sprecher des Repräsentantenhauses, einmal: Politische Auseinandersetzungen werden lokal entschieden. Die Neoliberalen in der Demokratischen Partei haben insbesondere die Präsidentschaftswahlen dominiert, aber es hat stets auch andere Strömungen in der Partei gegeben. Linke Demokraten können oft in urbanen Kontexten reüssieren, in Universitätsstädten, aber immer wieder hat es auch linke Politiker gegeben, denen es auch in eher moderaten Wahlkreisen oder Staaten gelingt, Mehrheiten zu organisieren – so ist Bernie Sanders als Unabhängiger im Agrarstaat Vermont ein gutes Beispiel. Der von ihm gegründete »Progressive Caucus« ist die größte Vereinigung linker Parlamentarier im US-Kongress. In den Auseinandersetzungen um die Kandidatur von Bernie Sanders und um den Vorsitz des DNC nach der verlorenen Wahl stellten sich die meisten Abgeordneten der Demokraten auf die Seite Hillary Clintons beziehungsweise auf die des von ihr unterstützten Tom Perez, sehr zur Enttäuschung der linken Basis der Partei, welche den von Sanders unterstützten Keith Ellison bevorzugte, auch um symbolisch eine neue Richtung einzuschlagen. Überraschend ist diese Positionierung kaum: Bernie Sanders ist als unabhängiger Senator zwar Teil der Demokratischen Fraktion, verfügt aber nicht über Jahrzehnte lang aufgebaute Netzwerke im ganzen Land in einer Partei, der er nicht angehört.11 In den Vorwahlen 2018 hält die Auseinandersetzung zwischen linken Demokraten, nun teilweise von den DSA unterstützt, und den Establishment-Kandidaten, wahlweise als »corporate Democrats«, »Wall Street Democrats« oder »centrists« attackiert, weiterhin an. Jenseits politischer Präferenzen sorgte das DNC sich um die Wählbarkeit von Kandidaten im November, bekämpfte aber die Herausforderer nur in Einzelfällen. Die Entscheidungen sollten lokal getroffen werden und fielen am Ende gemischt aus. Einige prominente Amtsinhaber wie Joseph Crowley aus Queens wurden entthront, die meisten jedoch wurden nominiert. Auch in Wahlkreisen, wo keine Amtsinhaber antraten, hielt sich der Erfolg der linken Herausforderer in Grenzen, insbesondere in moderaten Wahlkreisen. 10  Lance Selfa, The Democrats. A Critical History, Chicago 2008. 11 

Heather Gautney, Crashing the Party. From the Bernie ­Sanders Campaign to a Progressive Movement, London 2018.

GEWERKSCHAFTEN UND DIE GESELLSCHAFTLICHEN KRÄFTEVERHÄLTNISSE Eine Ursache für den begrenzten Erfolg linker Herausforderer innerhalb der Demokratischen Partei ist die vergleichsweise konservative Ausrichtung der meisten amerikanischen Gewerkschaften, die mit ihrem an betrieblichen Thomas Greven  —  Linke Perspektiven in den USA

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Tarifverträgen orientierten »business unionism« ein eingeschränktes, auf ihre Mitglieder bezogenes Solidaritätsverständnis pflegen. Insgesamt haben die Gewerkschaften aufgrund unternehmerischer und politischer Angriffe, dem sogenannten »union-busting«, deutlich an Macht verloren, aber innerhalb der Demokratischen Partei bleiben sie wichtig, insbesondere die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes.12 Sie unterstützen die Demokraten mit Geld und Aktivisten und sind immer noch ein wichtiger Wählerblock, zumal in den Vorwahlen. Gleichwohl hat die Demokratische Partei die Gewerkschaften immer wieder schwer enttäuscht: Die Industriegewerkschaften hadern mit der Freihandelspolitik, und immer wieder scheitert eine Reform des Arbeitsrechts. Zuletzt hat es Barack Obama vorgezogen, sein politisches Kapital für eine Gesundheitsreform einzusetzen, die den Gewerkschaften eher schadet, statt ihnen die Organisierung neuer Mitglieder erleichtert, was mittelfristig zu einer Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse führen kann. Umso erstaunlicher ist es, dass die meisten Gewerkschaften immer wieder auf moderate Demokraten setzen – angesichts der wirtschaftsfreundlichen amerikanischen Politikgeschichte zieht hier immer wieder das Argument der Wählbarkeit. 2016 hieß es: »Bernie can’t win«. Es reicht aber nicht, vor allem die Führungen für die wahlpolitische Ausrichtung der Gewerkschaften verantwortlich zu machen. Zwar weist Bernie Sanders zu Recht darauf hin, dass er mehr Wahlempfehlungen bekommen konnte, wo Urabstimmungen durchgeführt wurden, während die Gewerkschaftspräsidenten sich meist für Hillary Clinton entschieden. Oft genug aber sind die Führungen und Funktionäre progressiver als die Mitglieder der Gewerkschaften; nicht wenige Mitglieder unterstützen die Republikaner. Angesichts der Tatsache, dass die politische Betätigung der Gewerkschaften ohnehin umstritten ist, sollen diese Mitglieder nicht vor den Kopf gestoßen werden. Ausgewiesen linke Gewerkschaften wie die winzige United Electrical Workers (UE) sind die Ausnahme und stehen oft genug mit der Demokratischen Partei auf Kriegsfuß. Wiederum steht das Spannungsverhältnis zwischen universalistischer Interessen- und gruppenbezogener Identitätspolitik im Zentrum der Kontroversen und erschwert die politische Organisation der abhängig Beschäftigten und ihrer Familien. Dabei geht es nicht einfach um den Rassismus der »weißen Arbeiterklasse«, wie auf der multikulturellen Linken oft vereinfacht dargestellt, sondern um komplexe sozio-ökonomische und kulturelle Problemkonstellationen, die bei allen Gruppen – und eben auch

12  Entscheidungen des Supreme Court und der Regierung Trump haben die Gewerkschaften weiter geschwächt Vgl. Thomas Greven, Konflikt zwischen Basis und Überbau, in: Gegenblende. Das DGB-Debattenportal, 23.08.2018, URL: http://gegenblende.dgb. de/artikel/++co++7d920016a6ad-11e8-aae3–52540088cada [eingesehen am 23.08.2018].

bei den Weißen – zu einem wütenden Gefühl der Vernachlässigung geführt haben. Im Ergebnis setzt auch die Linke nur zum Teil auf die Gewerkschaften bei der Verschiebung der Kräfteverhältnisse.13

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Sozialdemokratie — Analyse

13  Barry Eidlin, Labor and the Class Idea in the United States and Canada, Cambridge 2018.

WAS WILL DER »DEMOKRATISCHE SOZIALISMUS«? Im Wahlkampf 2016 hat Bernie Sanders seine Vision eines »Demokratischen Sozialismus« in die Tradition von FDRs »New Deal liberalism« gestellt und auf 14  Die DSA entstand, über Umwege wie dem Democratic Socialist Organizing Committee von Michael Harrington aus der Socialist Party von Eugene Debs, wie auch die Social Democrats USA, eine heute fast nicht mehr existente antikommunistische Splittergruppe und die kleine Socialist Party USA. Heute hat DSA ungefähr 50.000 Mitglieder, von denen die Hälfte seit November 2016 beigetreten sind, darunter viele Millennials.

Vorbilder in europäischen, sozialdemokratischen Ländern verwiesen. Gehen

15  Gautney: Our Revolution »doesn’t want to crash the Democratic Party and foment chaos, it wants to rebuild it and expand its reach«. Insgesamt scheinen wenige Aktivisten des Demokratischen Sozialismus das Verlangen zu spüren, eine neue kommunistische Partei zu gründen (Jodi Dean u. Crowds and ­Party, London 2016) oder horizontale »Assemblies« zu organisieren (Michael Hardt u. Antonio Negri, Assembly, New York 2017), wie es linken Vordenkern vorschwebt. Der Fokus liegt auf Wahlen.

Betrachtet man die Ergebnisse einer Umfrage des Magazins Politico unter

16  Politico sprach unter anderem mit Matthew Bruenig, dem Gründer des People’s Policy Project; David Duhalde, dem Senior Electoral Manager von Our Revolution; Maria Svart, DSA-National Director. Nur wenige Gesprächspartner sprachen sich für die Kollektivierung der Produktionsmittel aus. 17  Meagan Day dokumentiert aktuelle Umfragen, die eine hohe Unterstützung zeigen: 70 Prozent Zustimmung für eine allgemeine Krankenversicherung; 85 Prozent unter Demokraten und 52 Prozent sogar unter Republikanern. Meagan Day, Medicare for All and Free College Tuition Are Wildly Popular Policies, in: Jacobin Magazine, 24.08.2018.

die aus Sanders’ Wahlkampforganisation hervorgegangene Our Revolution, Gruppen wie Justice Democrats oder die gerade unter jungen Amerikanern erfolgreichen Democratic Socialists of America, welche eine durchaus komplexe, teilweise sektiererische Vorgeschichte haben, darüber hinaus?14 Und wie halten sie es mit der Demokratischen Partei? Die DSA sind inzwischen wie die Justice Democrats weitgehend zu einer »pressure group« innerhalb der Partei geworden und auch Our Revolution will die Partei vor allem erneuern.15 Wer sind die Vordenker des »Demokratischen Sozialismus« in den USA? Werden Ideen entwickelt, die auch für Europa inspirierend sein könnten? Führungsfiguren der US-Linken und andere Aussagen, wird klar, dass aus europäischer Sicht der größte Teil der Forderungen, die im Zusammenhang mit dem derzeitigen »Demokratischen Sozialismus« erhoben werden, darauf ausgerichtet ist, in den USA einen sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat aufzubauen.16 Was in Europa seit Jahrzehnten gegen konservative und neoliberale Angriffe verteidigt werden muss, muss in den USA zum größten Teil erst noch aufgebaut werden – wobei auch dort zugleich der existierende rudimentäre Wohlfahrtsstaat unterminiert wird. Gleichwohl, auch wenn kaum Konzepte entwickelt werden, die für die europäische Linke und Sozialdemokratie inhaltlich von Interesse sind, so sind die amerikanischen Bemühungen doch keineswegs trivial: Unter den Bedingungen der Globalisierung können auch begrenzte sozialdemokratische Einhegungen des Kapitalismus nur bestehen, wenn sie grenzüberschreitend abgesichert werden können – weil sie stets Auswirkungen auf die Konkurrenzfähigkeit von Unternehmen und Staaten haben. Eine solche Absicherung kann über internationale Regelungen hergestellt werden – in Europa sind die diesbezüglichen Hoffnungen auf die EU bisher enttäuscht worden – oder über vergleichbare nationale Regeln. Insofern nützen bessere amerikanische Bedingungen mittelbar auch Europa, möglicherweise auch gegen den rechtspopulistischen Nationalismus und Autoritarismus. Die wichtigste Forderung der amerikanischen Linken ist eine gesetzliche Gesundheitsversorgung. »Medicare for all« könnte zum Lackmus-Test für Demokratische Präsidentschaftskandidaten 2020 werden.17 Medicare ist die staatliche Krankenversicherung für Rentner, die von Barack Obama nur leicht ausgebaut wurde, während der Fokus von Obamacare auf einem erleichterten Thomas Greven  —  Linke Perspektiven in den USA

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Zugang zu, und besseren Bedingungen bei, privat angebotenen Versicherungen lag. Angesichts der technischen und politischen Schwierigkeiten mit Obamacare soll nun ein Paradigmenwechsel herbeigeführt werden. Umfragen zeigen eine große und zunehmende Zustimmung für ein solches Programm. Andere sozialpolitische Forderungen, die immer wieder genannt werden und ebenfalls darauf ausgerichtet sind, einen Wohlfahrtsstaat europäischer Prägung zu etablieren, sind: ein Mindestlohn von 15 US-Dollar, kostenfreie College-Ausbildung, Mieterschutz, Mitbestimmung. Infrastrukturmaßnahmen sind auch in den USA eine gängige Forderung der Linken. Hier gibt es Kritik an der linken Nonchalance bezüglich der Staatsschulden, die allerdings glaubwürdiger wäre, wenn die angeblichen »deficit hawks« nicht per Steuersenkungen für Reiche das Haushaltsdefizit strukturell erhöht hätten. Eine ganze Reihe von Forderungen der amerikanischen Linken ist auf spezifische Probleme der USA bezogen. Eine Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse ist dort kaum denkbar, wenn der Einfluss des Geldes auf politische Prozesse wie Wahlen, Referenda, Ernennungen von Richtern und Gesetzgebung nicht beschränkt werden kann. Gegenüber den in den USA gängigen und legalen Wahlkampfausgaben nehmen sich die europäischen Bedingungen – selbst einschließlich mutmaßlich illegaler Finanzierung wie z. B. der AfD – wie »peanuts« aus. Wichtige Forderungen wie die nach Maßnahmen gegen Polizeibrutalität und rassistischen Praktiken im Justizsystem und im Strafvollzug haben in Europa (noch) nicht den gleichen Stellenwert. Dies gilt auch für die Kontrolle von Schusswaffen. Auch wenn Sanders programmatisch verkündet hat, »[t]o combat the rise of an international authoritarian axis, we need an international progressive movement that mobilizes behind a vision of shared prosperity, security and dignity, and that addresses the global inequality in wealth and political power«, sind doch wenige der vorgeschlagenen Maßnahmen international ausgerichtet. Auch zehn Jahre nach der Finanzkrise, die gemeinhin als ausgelassene Chance gesehen wird, den Bankensektor effektiv zu regulieren, beschränken sich die meisten Vorschläge auf eine neue Version des GlassSteagall-Act (der Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken). Maßnahmen zum Klimaschutz werden international gedacht, aber schon in der Handelspolitik finden sich auch auf der Linken viele protektionistische Vorschläge. Ungelöste Kontroversen finden sich auch in der Außenpolitik. Hillary Clinton war auch deshalb unbeliebt, weil sie als »Kriegstreiberin« gilt. Wie in Europa sorgt u. a. die Positionierung im Nahostkonflikt immer wieder für Streit – mit Rashida Tlaib wird nun vermutlich erstmals eine palästinensische Amerikanerin im Kongress sitzen.

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Sozialdemokratie — Analyse

Wenig überraschend ist es auch in den USA die Immigrationsdebatte, die innerhalb der Linken und der Gesellschaft zunehmend unversöhnliche Positionen produziert. Die Entscheidung der Trump-Regierung, an der Grenze Eltern und Kinder zu trennen, welche inzwischen von Gerichten kassiert wurde, hat der Forderung, die Behörde US Immigration and Customs Enforcement (ICE) abzuschaffen, Momentum verschafft. DSA-Aktivisten brachten die verantwortliche Ministerin mit Sprechchören dazu, ein Restaurant zu verlassen. Allerdings sind auch auf der Linken nicht alle zur Abschaffung von ICE, die als »Abschiebebehörde« kritisiert wird, bereit. Bernie Sanders und andere bevorzugen wohl eine Reform, was darauf hindeutet, dass sie das wahlpolitische Risiko der Immigrationsproblematik erkennen. DIE KONGRESS-WAHLEN 2018 Während DNC und Mainstream-Demokraten sich auf »persuadables«, überzeugbare Wähler vor allem unter den Angehörigen der weißen Arbeiterklasse in strategisch ausgewählten Wahlkreisen und Staaten, konzentrieren und die Erfolge der Linken herunterspielen, versuchen Bernie Sanders, Alexandria Ocasio-Cortez und ihre Organisationen, den linken Enthusiasmus überall im Land weiter anzufeuern, mit Blick nicht nur auf die Wahl, sondern auf die Entstehung einer progressiven Bewegung. Dies ist mutig, denn es ist selbstverständlich etwas anderes, in urbanen Wahlkreisen für »Medicare for all« zu werben, als in Gegenden, die von Trump und den Republikanern dominiert werden, wie z. B. in Kansas. Sie laufen aber Gefahr, den überraschend großen Zulauf vor allem von jungen Menschen und Minderheiten bei ihren Veranstaltungen mit der notwendigen Wahlbeteiligung im November zu verwechseln, wie es schon Sanders 2016 passiert ist. Bei Zwischenwahlen beteiligen sich erfahrungsgemäß nur wenig mehr als ein Drittel der Amerikaner und Junge und Minderheiten wählen seltener als weiße, ältere Bürger. Es wird also vor allem darauf ankommen, die Menschen dort zur Wahl zu mobilisieren, wo die Demokraten eine Chance haben.

PD Dr. Thomas Greven, geb. 1966, ist Privatdozent für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, wo er am John F. Kennedy-Institut für Nordamerika­ studien unterrichtet. Zudem ist er assoziiertes ­Mitglied des ­Institute for Development and Decent Work an der Universität Kassel und ­freiberuflicher Politikberater. Seine Forschungsinteressen sind u. a. amerikanische Politik und Außenpolitik, Gewerkschaftspolitik und industrielle Beziehungen, Globalisierung und Entwicklung, Rechtspopulismus, Comics und die Politik Afrikas. Thomas ­Greven lebt in Berlin und Dakar, Senegal.

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AUF EINE NEBENROLLE REDUZIERT DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH ΞΞ Teresa Nentwig

»Es gibt überhaupt keine Medien mehr, die nach uns fragen. Vorher befand sich vor dem Sitzungsraum des nationalen Büros jede Woche eine große Anzahl an Kameras. Heute ist es dort wie ausgestorben.«1 Mit diesen Worten fasste im Juni 2018 eine der Führungsfiguren der Parti socialiste (PS, ›Sozialistische Partei‹), François Kalfon, das mediale Desinteresse an seiner Partei zusammen. Kalfon bezog sich auf die Sitzungen des sogenannten Bureau national der PS, dem neben dem Parteivorsitzenden 72 weitere Mitglieder angehören und dem die Verwaltung sowie die Leitung der PS anvertraut sind. Bis im Frühjahr 2017 François Hollande als Staatspräsident abgewählt wurde, hatten die Sitzungen des nationalen Büros im Fokus der Öffentlichkeit gestanden. Doch ein Jahr später war die PS, die gemeinsam mit der bürgerlichen Rechten in den letzten Jahrzehnten die Großpartei in Frankreich gewesen war, mit dem genauen Gegenteil konfrontiert: Niemand interessierte sich mehr für sie. Wie kam es dazu? Und wie versucht die PS seitdem, ihre tiefe Krise hinter sich zu lassen? Kann ihr dies gelingen? Diesen Fragen möchte der vorliegende Beitrag nachgehen. DIE JAHRE 2012 BIS 2015 – ERST HIMMELHOCH JAUCHZEND, BALD ZU TODE BETRÜBT Im Juni 2012 befand sich die PS auf dem Zenit ihrer Macht. Aufgrund ihres Wahlsieges bei den Parlamentswahlen am 10. und 17. Juni 2012 stand die Partei zum ersten Mal seit 1958 in fast allen gewählten Körperschaften in der Verantwortung: Die Sozialisten stellten mit François Hollande den Staatspräsidenten, sie besaßen die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung und im Senat und regierten mit einer Ausnahme alle Regionen sowie den Großteil der Departements und Großstädte. Nur fünf Jahre später stand die PS vor einem Trümmerhaufen: Ihr Präsidentschaftskandidat Benoît Hamon war im ersten Wahlgang am 23. April 2017 lediglich auf 6,36 Prozent der Stimmen gekommen und hatte damit das schlechteste Ergebnis für einen sozialistischen Präsidentschaftskandidaten seit 1969 erreicht; statt 295 Abgeordnete im Jahr 2012 stellt die PS seit den Parlamentswahlen im Juni 2017

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INDES, 2018–3, S. 98–107, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2191–995X

1  Zit. nach Olivier Faye u. Astrid de Villaines, LR et le PS toujours dans le brouillard un an après la présidentielle, in: Le Monde, 19.06.2018. Bei dieser und allen weiteren Übersetzungen aus dem Französischen ins Deutsche handelt es sich um Übersetzungen durch die Verfasserin.

nur noch 31; die Macht in den Städten und Kommunen hatten die Sozialisten bereits bei den Kommunalwahlen im März 2014 weitgehend wieder verloren; auch die Europawahl im Mai 2014, die Senatswahl im September desselben Jahres, die Departementswahlen im März 2015 sowie die Regionalwahlen im Dezember 2015 endeten für die PS mit Niederlagen. Die Partei, sie lag im Frühsommer 2017 komplett am Boden. Die Ursachen für diesen schnellen Niedergang sind vielfältig. Zunächst kam es bei den Kommunalwahlen 2014, dem ersten Urnengang seit den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai und Juni 2012, zu einer Sanktionswahl: Die Wählerinnen und Wähler straften die Regierung ab. Insgesamt haben die Sozialisten auf diese Weise 151 Städte mit über 10.000 Einwohnern an die konservativen Parteien verloren (darunter 142 an die UMP, also an die Partei des früheren Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy) – ein »historischer Rekord«, so der Politikwissenschaftler Rémi Lefebvre.2 Auch zahlreiche Hochburgen, lange Zeit fester Bestandteil des städtischen Sozialismus, büßte die PS ein.3 Alles in allem wiederholte sich das, was bereits bei den Kommunalwahlen in den Jahren 1983 und 2001 stattgefunden hatte: Die regierende Linke erlitt eine Niederlage, die konservative Opposition feierte einen Sieg. Auch die Ergebnisse der Europawahl 2014 und der Departementswahlen 2015 lassen sich für die PS in erster Linie als Sanktionswahlen deuten: Die Wählerinnen und Wähler brachten ihre Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik zum Ausdruck, indem sie sich enthalten, andere Parteien gewählt oder einen falsch bzw. gar nicht ausgefüllten Stimmzettel abgegeben haben. Hinzu kam, dass die PS zuvor ein Bild der Zerstrittenheit abgegeben hatte, was beispielsweise bei den Verhandlungen um das sogenannte loi Macron (›Macron-Gesetz‹) zum Ausdruck gekommen war: Das Gesetz, mit dem der damalige Wirtschaftsminister Emmanuel Macron Teile der Wirtschaft deregulieren wollte, war beim linken Parteiflügel so umstritten, dass eine parlamentarische Mehrheit dafür nicht gegeben schien und Premierminister Manuel Valls daher im Februar 2015 auf den Notartikel der Verfassung zurückgriff, mit dem Gesetzentwürfe ohne Abstimmung im Parlament in Kraft treten können. Ende März 2015, unmittelbar nach den für seine Partei verlorenen De2  Rémi Lefebvre, »Dépassement« ou effacement du parti socialiste (2012–2017)?, in: Mouvements. Des idées et des luttes, H. 89 (2017), S. 12–21, hier S. 18.

partementswahlen, fand der Anführer des linken Flügels der PS, Emmanuel Maurel, deutliche Worte: »Das ist die dritte schwere Niederlage in Folge. Man darf sie nicht herunterspielen oder relativieren. Trotzdem lautet die Botschaft, die gesendet wird: ›Wir haben verloren, aber wir werden so weitermachen wie bisher.‹ Diese Beharrlichkeit, eine Politik weiterzuverfolgen, die keine

3  Vgl. Patrick Roger, Les enseignements-clés d’un scrutin historique, in: Le Monde, 01.04.2014.

Resultate hervorbringt und die nicht einmal in unserem eigenen Lager überzeugt, erscheint mir bestenfalls betrüblich, im Extremfall unverantwortlich. Teresa Nentwig  —  Auf eine Nebenrolle reduziert

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[…] Man muss jetzt hellsichtig und intelligent genug sein, die Politik zu ändern. Es ist vor allem notwendig, die Logik, in der sich die Regierung befindet, zu verlassen, eine Logik der Deregulierung, der Dereglementierung, die die Arbeitnehmer arm macht.«� Da der von Maurel und anderen geforderte Politikwechsel nicht stattfand, überrascht es kaum, dass Ende 2015 auch die Regionalwahlen für die PS verloren gingen. Zu der Vernachlässigung der sozialen Frage, die sich nun erneut im Wahlergebnis ausdrückte, kam als Ursache für die Niederlage hinzu, dass die PS fast alle Auseinandersetzungen mit der Regierung verloren hatte. Diese hatte wiederholt Projekte umgesetzt, die in der eigenen Partei mehrheitlich auf Ablehnung gestoßen waren. Die Ausgangslage der PS vor den zwei bedeutendsten Wahlgängen der Republik war demnach denkbar schlecht. Und so überrascht es nicht, dass sowohl die Präsidentschafts- als auch die Parlamentswahlen des Jahres 2017 krachend verloren gingen. DAS JAHR 2017 – ZWEI SCHIFFBRÜCHE HINTEREINANDER Der Historiker und Soziologe Marc Lazar deutet die beiden Wahldesaster in der Hauptsache als Konsequenz einer bisher nicht auflösbaren Diskrepanz: Mehr als jede andere Partei in Frankreich sei die PS mit dem Widerspruch zwischen einem Ideal der radikalen Transformation und der Realität der Machtausübung, die in der Anerkennung der Marktwirtschaft bestehe, konfrontiert gewesen. Die Sozialisten würden zwar längst kein revolutionäres Gedankengut mehr vertreten, aber die Idee eines Bruchs mit dem Kapitalismus sei bei ihnen noch immer sehr stark ausgeprägt, so Lazar. Jede Regierungsübernahme bedeute infolgedessen eine harte und schmerzhafte Konfrontation mit dem Freud’schen Realitätsprinzip auf der einen und dem Lustprinzip auf der anderen Seite.4 Dieses Spannungsverhältnis zieht sich in der Tat durch die gesamte Geschichte der PS, weshalb der Politikwissenschaftler Gérard Grunberg und der Historiker Alain Bergounioux bereits 1992 von den »langen Gewissensbissen der Macht«5 sprachen, die die Partei plagten: Es bestehe eine dauerhafte Spannung zwischen ihrer Integration in das politische System und der Weigerung, daraus programmatische Konsequenzen zu ziehen.6 Auch für die Jahre 2012 bis 2017 sah Grunberg diesen Grundkonflikt weiterhin »im Herzen des französischen Sozialismus«7 verankert. Eine andere Interpretation der beiden Wahlniederlagen von 2017 schlägt der Politikwissenschaftler Frédéric Sawicki vor, der ein ganzes Ursachenbündel ausmacht.8 Als Antwort auf Grunberg und Bergounioux betont er zunächst, weder Hollandes Präsidentschaftswahlprogramm von 2012 noch das Programm der PS von 2011 hätten radikale Reformen vorgeschlagen, die die

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4  Zit. nach Bastien Bonnefous u. a., Malgré la défaite, l’exécutif ne veut pas dévier de sa trajectoire, in: Le Monde, 31.03.2015. 5  Vgl. Catherine Vincent, Le PS miné par le pouvoir, in: Idées. Le Monde, 20.05.2017. 6  Alain Bergounioux u. Gérard Grunberg, Le long remords du pouvoir. Le Parti socialiste français 1905–1992, Paris 1992. 7  Auch: Gérard Grunberg u. Alain Bergounioux, Les socialistes français et le pouvoir. L’ambition et le remords, Paris 2007. 8  Gérard Grunberg, Parti socialiste: aux origines d’un désastre, in: Commentaire. Revue trimestrielle, Bd. 160 (2017/2018), S. 827–834, hier S. 832.

bestehenden ökonomischen und sozialen Strukturen infrage stellen würden. Dennoch sei eine Kluft zwischen den Worten und den Taten in der Europa-, Sozial- und Wirtschaftspolitik festzustellen gewesen. So seien zentrale Versprechen fallen gelassen und stattdessen Maßnahmen umgesetzt worden, die nicht Bestandteil des Präsidentschaftswahlprogrammes gewesen waren. Beispielsweise habe Hollande angekündigt, den Euro-Stabilitätspakt neu verhandeln zu wollen. Dazu kam es jedoch nicht. Als weitere wichtige Ursache für das Wahldebakel 2017 nennt Sawicki die zahlreichen Skandale, die die Präsidentschaft Hollandes gekennzeichnet und das Vertrauen in den Staatschef und seine Partei erschüttert hätten. Als entscheidend für die beiden Wahlniederlagen sieht der Politikwissenschaftler aber die Unfähigkeit Hollandes an, seine eigene Mehrheit zu disziplinieren. Der markanteste Ausdruck dieser Führungsschwäche waren die sogenannten frondeurs. Jene sozialistische Abgeordnete, die vom Beginn der Amtszeit Hollandes an gegen Gesetzentwürfe der eigenen Regierung stimmten oder sich enthielten, weil sie sie als Ausdruck einer sozialliberalen und damit für sie inakzeptablen Politik ansahen. Die fehlende Disziplin führt Sawicki auf falsche personelle Entscheidungen Hollandes zurück. So habe er mit Jean-Marc Ayrault zu Beginn seiner Amtszeit einen Premierminister ohne politisches Gewicht ausgewählt, Minister ernannt, die weder die Kräfteverhältnisse in der Partei noch diejenigen in der Parlamentsfraktion widergespiegelt hätten, und schließlich im April 2014, nach den verlorenen Kommunalwahlen, mit dem bisherigen Innenminister Manuel Valls nicht nur einen potenziellen Rivalen, sondern auch einen Gegner des linken Flügels der PS zum Premierminister gemacht: Schließlich galt Valls als Vertreter eines sozialliberalen Reformkurses par excellence. Eine weitere personelle Fehlentscheidung sieht Sawicki in der Auswahl des Parteivorsitzenden: Hollande habe 2012 mit Harlem Désir einen wenig anerkannten Politiker, der zudem über keinen Sitz in der Nationalversammlung verfügte, als neuen Chef der PS bestimmt. In ihrer Kombination hätten diese Fehlgriffe in der Folge zu einer Vervielfachung der Dissonanzen im Parlament beigetragen, so Sawicki weiter. Dass die PS und ihre Abgeordneten nicht in die Entscheidungen des Staatspräsidenten und der Regierung einbezogen wurden, war ein Novum: Bei ihren bisherigen Regierungserfahrungen während der V. Republik (1981–1986, 1988–1993 und 1997–2002) durften die PS und ihre Parlamentsfraktion an der Definition der Regierungspolitik mitwirken.9 Dass dies seit 2012 nicht mehr der Fall war, hatte die Konsequenz, dass die PS – obwohl eigentlich Regierungspartei – »die erste Oppositionspartei«10 wurde, wie es Grunberg auf den Punkt bringt.

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9  Vgl. Frédéric ­Sawicki, L’épreuve du pouvoir est-elle vouée à être fatale au Parti socialiste?, in: Pouvoirs. Revue française d’études constitutionnelles et politiques, Bd. 163 (2017), S. 27–41. 10 

Vgl. Lefebvre, S. 14.

Neben den genannten partei- und regierungsendogenen Gründen für die Wahlniederlagen der PS im Jahr 2017 spielten auch exogene Faktoren eine Rolle: Mit Emmanuel Macron und Jean-Luc Mélenchon und ihren jeweiligen Bewegungen – En Marche! (›Aufbruch!‹, ›Vorwärts!‹, ›In Bewegung!‹) einerseits und La France insoumise (›Das unbeugsame Frankreich‹) andererseits – erwuchsen den Sozialisten ernst zu nehmende Gegner.11 Schließlich steht die PS genau zwischen Macron, der sich als »weder links noch rechts«� positioniert, und Mélenchon als Repräsentant der linkspopulistischen Kräfte im französischen Parteiensystem. Anders ausgedrückt: Die PS, die die Linke von 1974 bis 2017 elektoral wie politisch dominieren konnte, hat ihre Vormachtstellung inzwischen verloren.� Auch gingen ihr mit der ebenfalls tiefen Krise der Grünen und der Kommunisten frühere Bündnispartner verloren. Und nicht zuletzt tut die generelle Schwäche der europäischen Sozialdemokratie ihr Übriges. DAS MANTRA DER ERNEUERUNG »Ich weiß nicht, ob die Einheit der PS einer Niederlage 2017 standhalten würde.«� Diese Zweifel äußerte im April 2015, nicht zu Unrecht, der bereits zitierte Politologe Grunberg. Zwar blieb eine echte Parteispaltung aus, doch verließen zahlreiche langjährige Führungsfiguren die PS, darunter sogar ihr Präsidentschaftskandidat von 2017, Benoît Hamon. Am 10. Mai 2017, wenige Tage nach dem zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen, bei dem sich Emmanuel Macron und Marine Le Pen gegenübergestanden hatten, kündigte Hamon an, dass er am 1. Juli 2017 »eine Bewegung« lancieren werde, um »eine erfinderische Linke wiederaufzubauen, die die politischen Etiketten hinter sich lässt«.� Die PS wolle er deswegen aber nicht verlassen. Doch schon bei der Vorstellung seiner neuen Bewegung namens Mouvement du 1er juillet (›Bewegung des 1. Juli‹) am 1. Juli 2017 holte Hamon dies nach; er erklärte seinen Austritt aus der PS. Nur wenige Tage zuvor hatte bereits Manuel Valls angekündigt, seine Mitgliedschaft in der PS aufzugeben. Damit verlor die Partei innerhalb weniger Tage Führungsfiguren ihres rechten und ihres linken Flügels. Zahlreiche Politiker und Mitglieder wechselten in der Folgezeit von der PS zu Hamons Bewegung, die inzwischen Génération.s heißt. Valls selbst, der im Januar 2017 die offenen Vorwahlen der PS zur Bestimmung ihres Präsidentschaftskandidaten gegen Hamon verloren hatte, sitzt nun für Macrons Partei La République En Marche! in der Nationalversammlung. Verglichen mit den vorangegangenen Wahlniederlagen gab es neben diesen neuen Entwicklungen aber auch Konstanten: So wurde sofort wieder 11 

Grunberg, S. 833.

der Ruf nach Erneuerung laut, dem Parteichef Jean-Christophe Cambadélis Teresa Nentwig  —  Auf eine Nebenrolle reduziert

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zumindest personell noch am Abend des zweiten Wahlganges der Parlamentswahlen nachkam: Er trat von seinem Amt zurück und kündigte die Einrichtung einer kollegialen Parteispitze an, die an der Neuausrichtung der PS arbeiten solle. Dies geschah auch: Die kollektive Parteiführung hat im Herbst 2017 mit dem sogenannten Feuille de route de la refondation du Parti socialiste (›Positionspapier zur Neubegründung der Sozialistischen Partei‹) einen Prozess angestoßen, der die PS auf inhaltlicher, strategischer und organisatorischer Ebene erneuern soll.12 Daraus ist inzwischen ein weiteres Feuille de route du Parti socialiste hervorgegangen, das für den Zeitraum vom Juni bis Dezember 2018 vier Etappen der Erneuerung vorsieht: Erstens möchte die PS zur Europawahl 2019 mit einem rundum neuen Programm antreten, welches u. a. in Zusammenarbeit mit den Bürgerinnen und Bürgern entwickelt werden soll. Zweitens hat die Partei einen Prozess in die Wege geleitet, mithilfe dessen sie ihr Handeln in der Regierung bilanzieren will. Mitte November 2018 sollen die Ergebnisse dieser Arbeit vorgestellt werden. Drittens sieht das Feuille de route eine Reform der Statuten vor, die die Parteiorganisation »effizienter, demokratischer und offener«13 machen soll. Für den 15. Dezember 2018 ist ein Parteitag geplant, bei dem über die neue Parteisatzung abgestimmt wird. Viertens schließlich möchte die PS mithilfe verschiedener Maßnahmen »den Kontakt mit und die Nähe zu den Bürgern und zu unseren Wählern wiederfinden«14. Alles in allem sind in dem Positionspapier Ideen zu finden, die auch nach den Niederlagen der Partei 2002 und 2007 vorgebracht und z. T. auch umgesetzt worden waren. Denn jedes Mal war die Diagnose dieselbe: Die Parteiorganisation sei den Mitgliedern und Sympathisanten gegenüber nicht ausreichend offen; die PS stehe in zu geringem Kontakt mit den »Unterschichten«, den sogenannten catégories populaires, und sie verschließe sich neuen Ideen. Doch gelang es mit den jeweils angestoßenen Reformen noch nie, etwa die Verbürgerlichung der Partei zu stoppen, die Beteiligung von Intellektuellen an parteiinternen Debatten zu erhöhen oder die Verbindungen zu den Gewerkschaften und den Vereinen zu reaktivieren. Ein Beispiel für das Scheitern ehrgeiziger Projekte ist das Ende 2008 geschaffene Internet-Forum Laboratoire des idées. Parteimitglieder sollten darüber mit Wissenschaftlern, Intellektuellen und Künstlern über eine Neuausrichtung der PS diskutieren. Aktivismus und Diskussionsfreudigkeit kamen jedoch nicht auf; das Lab, wie es genannt wurde, war rasch wieder Geschichte. Zehn Jahre später gehen die Sozialisten erneut davon aus, dass das »Wiederaufblühen der Sozialistischen Partei in erster Linie ein Wiederaufblühen der Ideen«15 sein werde. Die Parteiführung hat daher von neuem eine Internet-Plattform

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Sozialdemokratie — Analyse

12  Vgl. Rémi Lefebvre, Après la défaite. Analyse critique de la rénovation au Parti socialiste 2002–2007– 2017, Paris 2018, S. 20. 13  Zit. nach Nicolas Chapuis u. Matthieu Goar, Macron provoque ironie à gauche et curiosité à droite, in: Le Monde, 09.04.2016. 14  Vgl. ebd., S. 32; Gérard Grunberg, La gauche condamnée au second rôle pour longtemps, in: Le Monde, 04.04.2017. 15  Zit. nach Gérard Courtois, »La gauche n’a jamais été aussi faible et divisée«, in: Le Monde, 04.04.2015 (Interview mit Gérard Grunberg).

initiiert – sie trägt dieses Mal den Namen La Ruche Socialiste (›Sozialistischer Bienenstock‹) –, die als »Konvergenzpunkt«16 für programmatische Ideen und Debatten dienen soll. Aber ob die Beitrags- und Diskursintensität jetzt höher ist als 2008/2009? Auch Maßnahmen zur Steigerung der Mitgliederzahl blieben erfolglos, mehr noch: Die Zahl der Mitglieder sank sogar von 178.412 im Dezember 2010 auf 98.045 im September 2017. Dabei hatte im Dezember 2014 der damalige Parteivorsitzende Jean-Christophe Cambadélis noch als Ziel ausgegeben, 2017 die 500.000-Mitglieder-Marke knacken zu wollen. Neu ist allenfalls, dass die PS erstmals nicht mehr von rénovation, sondern von refondation (›Neubegründung‹) spricht: Das Wort rénovation hatte nach den verlorenen Parlamentswahlen 1993 sowie nach den Niederlagen bei den Präsidentschaftswahlen 1995, 2002 und 2007 als »identitätsstiftender Slogan«17 gedient, der eine heterogene Gruppe von Akteuren einen sollte. Doch nachdem dieses »magische Wort«18 im Zuge zahlreicher Instrumentalisierungen als entwertet galt und auch die Erneuerung von außen, etwa durch den Rückgriff auf offene Vorwahlen, gescheitert war, machte die PS semantisch einen Schnitt und spricht seitdem von der erforderlichen refondation – jedoch ohne diesen Begriff inhaltlich anders zu füllen.19 PARTI SOCIALISTE – QUO VADIS? 16  Zit. nach o. V., Hamon veut lancer son mouvement, in: Le Monde, 11.05.2017. 17  Vgl. Projet de feuille de route de la refondation du Parti socialiste. Adopté par le Bureau national du 4 septembre 2017 et soumis au vote des adhérents le 28 septembre, URL: https://www. parti-socialiste.paris/telechargement/feuille-de-route-de-larefondation-du-parti-socialiste/ [eingesehen am 17.08.2018].

Der Erneuerungsprozess ist angeschoben. Aber kann er die PS – wie schon mehrere Male – erneut aus dem tiefen Tal herausholen? Skepsis ist angebracht, denn die doppelte Niederlage 2017 hat erstmals die Existenz der Partei infrage gestellt,20 auch finanziell: Das schlechte Abschneiden bei den Parlamentswahlen bedeutete für die PS einen herben finanziellen Schlag, denn die öffentlichen Mittel, die Parteien in Frankreich erhalten, werden in Abhängigkeit der Stimmen- und der Abgeordnetenzahl berechnet. Infolgedessen werden der PS statt 25 Millionen Euro, die sie zwischen 2012 und 2017 pro Jahr an staatlichen Geldern bekommen hat, nur noch sieben Millionen Euro zugewiesen. Das Festhalten am historischen Parteisitz mitten im Pariser Zentrum,

18  Feuille de route du Parti socialiste, URL: http:// www.parti-socialiste.fr/feuillede-route-parti-socialiste/ [eingesehen am 17.08.2018]. 19 

Ebd.

20  Lancement de la plateforme collaborative la Ruche Socialiste, URL: http://www.parti-socialiste.fr/la-ruche-socialiste/ [eingesehen am 17.08.2018].

der vier Millionen Euro pro Jahr verschlungen hat, erwies sich infolgedessen als unmöglich; im Dezember 2017 verkaufte die PS das 3.000 m 2 große Gebäude an die französische Immobiliengruppe Apsys. Außerdem musste sich die Partei von mehr als der Hälfte ihrer rund hundert in der Parteizentrale tätigen Mitarbeiter trennen – eine traurige Premiere. Und noch etwas ist dieses Mal anders: Mit der hinter Staatspräsident Macron und der Regierung stehenden Partei La République En Marche! (LRM) und der Bewegung La France insoumise (LFI) von Jean-Luc Mélenchon gibt es zwei neue Akteure im Parteiensystem, die eine große Konkurrenz für die Teresa Nentwig  —  Auf eine Nebenrolle reduziert

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PS darstellen. Während LRM über 310 von 577 Sitzen in der Nationalversammlung verfügt, versucht Mélenchon, der einer Fraktion von 17 Abgeordneten vorsteht, eine große Volksbewegung aufzubauen, die die Alternative zur amtierenden Regierung sein will. Eine Allianz mit seiner früheren Partei, der PS, ist für ihn auf dem Weg dorthin ausgeschlossen. Die Folgen für die PS sind fatal: Hatte die Partei seit 1981 darauf setzen können, aufgrund des starken Rechts-Links-Cleavages bei Regierungswechseln automatisch an die Macht zu kommen, muss sie diese Hoffnung inzwischen begraben. Es bleibt der Hoffnungsschimmer, dass die PS, schon mehrfach für tot erklärt, diese Krisen noch immer überwinden konnte. 2009 etwa, in einem Interview mit der Wochenzeitung Journal du Dimanche, antwortete Frankreichs linker Starintellektueller Bernard-Henri Lévy auf die Frage, ob die PS »sterben« werde: »Nein. Sie ist schon gestorben.« Über diese Tatsache müsse gesprochen werden, ja man müsse die Sterbeurkunde ausstellen und »diesen bleiernen Mantel sprengen, der daran hindert, zu denken, sich etwas einfallen zu lassen, zu atmen und offensichtlich auch die Partei wiederaufzubauen«.21 Drei Jahre später, nach erfolgreichen Vorwahlen, zog die PS in Person François Hollandes in den Elysée-Palast ein und ihr gelang es, die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung zu erobern. Lefebvre spricht vor diesem Hintergrund auch von der »stets sehr starken Resilienz«22 der Parteiorganisation, die sich in den Krisen gezeigt habe. Auch die noch immer recht beachtliche lokale Verankerung der PS mag Hoffnungen auf einen Wiederauferstehungsmoment begründen. So stellen die Sozialisten auf kommunaler Ebene 75.000 Mandatsträger. Mit Blick auf die Kommunalwahlen im Jahr 2020 könnte dies ein großer Vorteil gegenüber LRM sein, denn die erst nach den Kommunalwahlen von 2014 gegründete Partei verfügt bislang nur über wenige lokale Mandatsträger, über keinen einzigen scheidenden Bürgermeister und damit noch über keine Netzwerke und Strukturen auf dieser Ebene.23 Doch um die vom derzeitigen Parteichef Olivier Faure anvisierte »Wiedergeburt«24 noch einmal zu schaffen, müssten die Sozialisten »ihre Fundamente, ihre Identität, ihre Strategie«25 neu begründen, wie es der bereits zitierte Historiker und Soziologe Marc Lazar im Mai 2017, kurz nach den verlorenen Präsidentschaftswahlen, ausdrückte. Vor allem aber verlange die derzeitige Krise eine Bestandsaufnahme der eigenen Machtausübung seit 1981. Doch diese Neuausrichtung und Bilanzierung 26

erfordern Zeit und können nur kollektiv und organisiert geschehen. Zwar haben die französischen Sozialisten diese große Aufgabe angegangen, aber die Zweifel am erfolgreichen Abschluss führen zu der Frage, ob sich die PS nicht doch überlebt habe. Diese Ansicht vertrat im März 2017, kurz vor den

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Sozialdemokratie — Analyse

21  Ebd. 22  Vgl. Daniela Kallinich u. Teresa Nentwig, Vom »ausgetrockneten Baum« zur Partei des neuen Staatspräsidenten? Die Parti socialiste in Frankreich, in: Felix Butzlaff u. a. (Hg.), Genossen in der Krise? Europas Sozialdemokratie auf dem Prüfstand, Göttingen 2011, S. 206–225, hier S. 214; Lefebvre, Après la défaite, S. 15. 23  Vgl. Alexandre Lemarié u. Manon Rescan, Les députés LRM découvrent la défaite et identifient leurs handicaps électoraux, in: Le Monde, 08.02.2018; Alexandre Lemarié, LRM, un colosse aux pieds d’argile, in: Le Monde, 15.05.2018; ders., LRM pose ses conditions pour les municipales, in: Le Monde, 22.09.2018. 24  Zit. nach Discours d’Olivier Faure, URL: https:// renaissance-socialiste.fr/ [eingesehen am 17.08.2018]. 25  Zit. nach Vincent. 26  Vgl. ebd.

Präsidentschaftswahlen, der sozialistische Stadtrat Marc Mossé, der hauptberuflich in einer Leitungsfunktion bei Microsoft arbeitet, in einem Beitrag für die Tageszeitung Le Monde. Unter der Überschrift »Die PS und die Parteien sind tot, es lebe die Linke außerhalb der Mauern!« sprach er angesichts der von Emmanuel Macron verkörperten Transformationen von einer »großen demokratischen Auswechslung«, die sich derzeit vollziehe. Mossé rief das fortschrittliche Lager innerhalb der PS dazu auf, davon zu profitieren, indem es sich vom Parteiapparat emanzipiere und etwas Neues, eine »Linke ›außerhalb der Mauern‹«, schaffe. Diese könne z. B. für die Garantie eines lebenslangen Zugangs zum Wissen eintreten, denn dieses sei »der Schlüssel des Erfolgs und der Integration in die digitale Gesellschaft«. Auch schlug Mossé die Vertiefung der Europäischen Union auf der Basis einer verstärkten deutsch-französischen Zusammenarbeit vor. Für die Preisgabe der alten Parteistrukturen spricht laut Mossé auch die Gefahr, die von Marine Le Pen ausgehe: »Gewiss: Marine Le Pen erzählt von der gestrigen Welt, aber sie beruhigt diejenigen Leute, die sich verloren fühlen, und auch deren Kinder. Daher müssen wir – angesichts der Kraft der Erzählung einer reaktionären Melancholie – eine neue französische Demokratie wagen, um auf die Unruhe des Jahrhunderts zu antworten.«27 Sein Appell mag inzwischen fast zwei Jahre alt sein, erscheint aus zwei Gründen dennoch aktueller denn je: Zum einen ist die Kritik der PS an der Politik des Staatspräsidenten und der Regierung relativ zögerlich und kaum hörbar; zu sehr wirkt die Partei noch immer vorwiegend mit sich selbst beschäftigt. Zum anderen hat der Erfolg von La République En Marche! und La France insoumise gezeigt, dass es nicht Parteien, sondern hoch personalisierte Bewegungen waren, die in Frankreich zuletzt das Parteiensystem von Grund auf verändert haben. Grunberg stellte daher bereits im Frühjahr 2017 27  Marc Mossé, Le PS et les partis sont morts, vive la gauche hors les murs!, in: Le Monde, 30.03.2017. 28  Grunberg, La gauche.

fest, dass »die Form der Partei als politischer Basisorganisation […] äußerst infrage gestellt«28 sei. Am Ende wird es wohl so sein, dass die französischen Sozialisten nicht aus der politischen Landschaft verschwinden werden. Aber vorerst müssen sie lernen, eine Nebenrolle zu spielen. Zumindest für eine gewisse, möglicherweise recht lange Zeit.

Dr. Teresa Nentwig, geb. 1982, hat Politik und Französisch in Göttingen und Genf studiert. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die gesellschaftliche und politische Entwicklung in Frankreich, die niedersächsische Landesgeschichte und -politik, das ­Thema Pädosexualität sowie politische Skandale. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung und habilitiert über den Sexualpädagogen Helmut Kentler.

Teresa Nentwig  —  Auf eine Nebenrolle reduziert

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DIE SOZIALE BEWEGUNG ALS ZIELBILD PARTEIREFORMEN UND GESELLSCHAFTS­ WANDEL IM GLEICHSCHRITT? ΞΞ Felix Butzlaff

Fast alle Parteifamilien haben über die vergangenen Jahrzehnte kontinuierlich an gemessenem Vertrauen der Bevölkerung eingebüßt, haben sukzessive Mitglieder und Wähler verloren. Als Transmissionsriemen für einen gesellschaftlichen Wandel ist das Format Partei in westlichen Gesellschaften auch deswegen kaum mehr plausibel. Spätestens seit den Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre jedenfalls spüren Parteien einen steigenden Druck, Erlebnisse bereitzustellen, die eher mit sozialen Bewegungen verbunden werden, um ihre Attraktivität und Legitimation zu sichern. Bewegungen gegenüber gelten Parteiorganisationen nicht nur als schwerfällig, bürokratisch und immobil, sondern als machtstrategische, hierarchische Formationen, die mittels Patronage und Bevormundung gesellschaftlichen Wandel geradezu erschweren und jede Initiative in ein Korsett von Ausgleichsmechanismen und Quoten pressen, bis am Schluss kaum ein gesellschaftlicher Wandlungsanspruch mehr übrig ist. Zudem müssen Parteien mit ihrem umfassenden programmatischen Anspruch zwangsläufig inhaltliche Kompromisse moderieren, während in Bewegungen Menschen durch ein engeres übergeordnetes Thema zusammengebracht werden und sich so einem zusammenschweißenden Kollektiv zugehörig fühlen. Es sind nicht umsonst genau die Parteien, die selbst nicht (mehr) Partei, sondern Bewegung sein wollen, welche zuletzt in Wahlen, in der öffentlichen Wahrnehmung oder bei den Vertrauenskennzahlen gegen den Trend eines Niedergangs hinzugewonnen haben. Gesellschaftliche Veränderung jedenfalls wird heutzutage anscheinend von Parteien nicht mehr erwartet, sondern mit dem Format Bewegung assoziiert. Ein Engagement in und als Bewegungen kommt dem modernen Verständnis von legitimer und wirkungsvoller Partizipation entgegen, da Bewegungen inhaltlich viel enger konzentriert auf ein Thema oder wenige Themen sind und ein flexibles und punktuelles Mitmachen erlauben. Bewegungen tragen in sich das Gefühl des Altruismus und Engagements für das Allgemeinwohl, welches Parteien nicht mehr im selben Maße zugetraut wird. Die

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Beispiele hierfür sind mannigfaltig: Von den Wahlkampagnen von Barack Obama, Bernie Sanders und Donald Trump über Jeremy Corbyns Labour und Emmanuel Macrons En Marche und die österreichische ÖVP unter Sebastian Kurz bis hin zu den aktuell erfolgreichen Rechtspopulisten, die allesamt mehr als Bewegung denn als Partei verstanden werden wollen. Während also über lange Zeit die stabile und möglichst weit ausfassende Organisation einer 1  Vgl. Erik Olin Wright, Envisioning real utopias, London 2010. 2  Vgl. Felix Butzlaff, Die neuen Bürgerproteste in Deutschland: Organisatoren – Erwartungen – Demokratiebilder, Bielefeld 2016; Sabine Saurugger, The social construction of the participatory turn: The emergence of a norm in the European Union, in: European Journal of Political Research, Jg. 49 (2010), H. 4, S. 471–495.

politischen und gesellschaftlichen Gegenmacht das Versprechen in sich trug, eine bessere Gesellschaft zu ermöglichen, andere Realitäten zu schaffen und vorwegzunehmen – etwa in sozialdemokratischen oder christlichen Milieus –, ist es heutzutage gerade die fluide, bewegliche, nicht bürokratische, sondern kleine und innovative ad hoc-Sammlung, die ein Aufbrechen gesellschaftlicher Strukturen möglich machen soll.1 Die soziologische Modernisierungstheorie hat diese grundlegenden Verschiebungen demokratischer Normen, der Bedeutung von Partizipation oder der Reproduktion individueller Identitäten in den westlichen Gesellschaften eingehend beobachtet und beschrieben. Gleichzeitig aber ist von der Par-

3  Vgl. Peter Mair, Ruling the void: The hollowing of Western democracy, London 2013.

teienforschung bis dato kaum ein Versuch unternommen worden, diese Dia-

4  Vgl. Zygmunt Bauman,­ Liquid Modernity, Cambridge 2012.

verändern bzw. reformiert werden, um sie aus der Perspektive ihrer Gesell-

5  Vgl. Japhy Wilson u. Erik Swyngedouw (Hg.), The Post-­Political and Its Discontents: Spaces of Depoliticisation, Spectres of Radical Politics, Edinburgh 2014. 6  Vgl. Ingolfur Blühdorn, The governance of unsustainability: Ecology and democracy after the post-democratic turn, in: Environmental Politics, Jg. 22 (2013), H. 1, S. 16–36.

gnosen sich wandelnder Gesellschaften fruchtbar zu machen für die Frage, warum und in welcher Form sich die Organisationsformate von Parteien schaften legitimer und attraktiver zu machen. Denn auf der einen Seite sind Parteien in den westlichen Gesellschaften mit immer weiter steigenden demokratischen Erwartungen an Einbindung und Beteiligung der BürgerInnen konfrontiert – Partizipation ist zur neuen öffentlichen Norm geworden.2 Auf der anderen Seite aber sind etablierte Institutionen und Formen der repräsentativen Demokratie immer stärker unter Druck geraten und beinhalten längst kein emanzipatorisches oder gar befreiendes Versprechen mehr, sondern haben an Vertrauen und Akzeptanz eingebüßt.3 Diese Ambivalenz gegenüber Facetten der Demokratie ist in der Modernisierungstheorie eingehend behandelt worden und hat Eingang gefunden in die theoretischen Konzepte der liquid identities 4, der Post-Politik 5 oder

7  Vgl. exemplarisch Anika Gauja, Party Reform: The Causes, Challenges, and Consequences of Organizational Change, Oxford 2017.

der Emanzipation zweiter Ordnung.6 Demgegenüber hat sich die Parteienforschung mehr dafür interessiert, inwiefern und wann Parteien auf interne oder externe Schocks reagieren, wenn sie Reformprojekte der eigenen Organisation angehen, um sich einer veränderten gesellschaftlichen Realität zu

8  Vgl. Ofer Kenig, Democratization of party leadership selection: Do wider selectorates produce more competitive contests?, in: Electoral Studies, Jg. 28 (2009), H. 2, S. 240–247.

stellen. Wer sich wie in welchen Machtkonstellationen durchsetzt, ist dabei stets die wichtigste Frageperspektive.7 Das grundlegende gesellschaftliche Umfeld wird dabei als ein möglicher Einflussfaktor genannt, der Parteien als adaptive Organisationen beeinflusse8, dessen Einflussgröße aber nur schwer Felix Butzlaff  —  Die soziale Bewegung als Zielbild

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genau zu beziffern sei. Da verschiedene gesellschaftliche Erwartungen und Hoffnungen nur schwer in ein politikwissenschaftliches Modell einzupassen sind, werden diese zwar als zentral und wichtig anerkannt, doch sind sie bis dato als eine Art Hintergrundrauschen nicht zum Kern analytischer Betrachtungen gemacht worden. Durch diese auf innerparteiliche Einflussfaktoren und Machtarchitekturen konzentrierte Perspektive wird allerdings systematisch unterschätzt, dass Parteireformen seit den 1990er Jahren in der Entwicklungsrichtung samt und sonders ähnlich verlaufen sind. Denn Parteien folgen in ihrer Struktur und deren Wandlung ihrer inneren Wahrnehmung und Verarbeitung sich verändernder Gesellschaften – und die soziologische Modernisierungstheorie hat genau dazu Perspektiven und Begriffe entwickelt, um diese Spezifika zu subsummieren. Die international vergleichende Literatur hat dabei herausarbeiten können, dass die Reformanstrengungen politischer Parteien, sich ein neues, mehr bewegungsförmiges Gesicht zu geben, keine Entwicklungen eines Landes sind oder einer Parteifamilie, sondern sich überall in der Tendenz und Richtung (nicht im Ausmaß!) verzeichnen lassen. Ob »Konvergenz«9, »Isomorphismus«10 oder ein »Jahrzehnt der Parteireformen«11– viele Diagnosen unterstreichen, dass und wie sehr sich Versuche von Parteien ähneln, die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verschiebungen in eine passgenauere Form von Parteiorganisation zu übersetzen. So sehr, dass die Reform selbst, also die organisatorische Bewegung im Vordergrund steht, nicht das Ziel – dass also das Aufbrechen alter Strukturen per se zu einem »legitimierenden Mythos«12 von Parteien geworden ist. Sie müssen sich also »bewegen«. MODERNISIERUNG UND GESELLSCHAFT Die Betrachtung gesellschaftlicher Ambivalenzen ist ein zentraler Pfeiler der

9  Vgl. William P. Cross u. Richard S. Katz, The Challenges of Intra-Party Democracy, in: Dies. (Hg.), The Challenges of Intra-Party Democracy, Oxford 2013, S. 1–10, hier S. 1. 10  Vgl. Florence Faucher, New forms of political participation. Changing demands or changing opportunities to participate in political parties?, in: Comparative European Politics, Jg. 13 (2015), H. 4, S. 405–429, hier S. 412. 11  Melanie Walter-Rogg, Parteireformen und ihre Wirkung auf die Mitgliederentwicklung, in: Ulrich von Alemann u. a. (Hg.), Parteien ohne Mitglieder?, Baden-Baden 2013, S. 247–269, hier S. 261. 12  Jonathan Hopkin, Bringing the Members Back in? Democratizing Candidate Selection in Britain and Spain, in: Party Politics, Jg. 7 (2001), H. 3, S. 343–361, hier S. 345.

Modernisierungstheorie. In der Kritik an Colin Crouchs Diagnose der Postdemokratie13 etwa ist von verschiedenen Seiten unterstrichen worden, dass es eben nicht – wie Crouch suggeriert hatte – eine neoliberale und bourgeoise

13  Vgl. Colin Crouch, Post-Democracy. Themes for the 21st Century, Cambridge 2004.

Bedrohung durch korrupte und autoritäre Eliten sei, welche sich der Demokratie bemächtigt hätten, sondern dass durch eine postdemokratische Wende14 demokratische Normen sowie die Bedeutung von Emanzipation und Befreiung selbst ambivalent geworden seien und in modernen westlichen Gesellschaften ebenso als Versprechen wie als Bürde empfunden würden, denen das Individuum gerecht zu werden habe. Beginnend bei Ronald Inglehart15, haben Soziologen herausgearbeitet, wie sich Prozesse der Identitätsbildung in post-industriellen Gesellschaften verschoben haben hin zu Themen der Selbstverwirklichung und Lebensqualität,

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Sozialdemokratie — Analyse

14  Vgl. Blühdorn, The governance of unsustainability; Ders., Post-Ecologist Governmentality: Post-Democracy, Post-Politics and the Politics of Unsustainability, in: Wilson u. Swyngedouw, S. 146–166. 15  Vgl. Ronald F. Inglehart, The silent revolution: Changing values and political styles among western publics, Princeton 1977.

was unter anderem auch dazu geführt hat, dass BürgerInnen Eliten stärker infrage stellen, ihre direkte und individuelle Beteiligung einfordern und selbstbewusst politisch urteilen.16 Darauf aufbauend haben andere diese Gedanken auf die Konstruktion individueller Identitäten ausgeweitet: dass diese einerseits immer weniger sozial vorbestimmt, sondern Gegenstand eigener Entscheidungen17, und andererseits immer weniger dauerhaft, sondern wandelbar und flexibel seien.18 Dies hat zwar auf der einen Seite zur Emanzipation des Individuums von der Bevormundung durch Tradition, Familie oder Milieu geführt, auf der anderen Seite aber neue Pflichten und Abhängigkeiten geschaffen, da die individuelle Identität nun immer wieder selbst konstruiert und verantwortet werden muss, wofür Menschen ganz unterschiedli16  Vgl. Ders., Modernization and Postmodernization: Cultural, Economic, and Political Change in 43 Societies, Princeton 1997. 17  Vgl. Anthony Giddens, Modernity and Self-identity: Self and Society in the Late Modern Age, Stanford 1991. 18  Vgl. Richard Sennett, The Corrosion of Character: The Personal Consequences of Work in the New Capitalism, New York 1999.

cher Ressourcen bedürfen. Diese Ambivalenz hat Zygmunt Bauman in seiner Beschreibung liquider Identitäten, die sich stets wandeln (müssen) und die dadurch jede Form kollektiven Handelns erschweren, zusammengefasst.19 Die »fragmentierten Subjekte«20 der zeitgenössischen Moderne verstehen das eigene Selbst viel ambivalenter und dynamischer: Man kann mehrmals im Leben Identität und normative Bezugspunkte neu formulieren, kann die soziale Bezugsgruppe, Hobbys, Stil und Wertverständnis wechseln oder aber nebeneinander Widersprüchliches ertragen – und ist eben nicht mehr sein Leben lang Teil eines Milieus, in dem die Identität wurzelt, sondern sucht sein eigenes Selbst immer wieder neu.21 Dies ist auch eine Loslösung vom traditionellen und stabilen Identitätsverständnis, nach welchem ein autonomes und aufgeklärtes Subjekt seine

19  Vgl. Bauman. 20  Vgl. Andreas Reckwitz, Subjekt, Bielefeld 2010, S. 125. 21  Vgl. Douglas Kellner, Popular Culture and the Construction of Postmodern Identities, in: Scott Lash (Hg.), In Modernity and Identity, Oxford 1992, S. 141–177; Kenneth J. Gergen, The Saturated Self: Dilemmas of Identity in Contemporary Life, New York 1995. 22  Vgl. Ulrich Beck u. a., Reflexive Modernization Politics, Tradition and Aesthetics in the Modern Social Order, Stanford 1994. 23  Vgl. Ingolfur Blühdorn, Simulative Demokratie: Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Berlin 2013.

Erfüllung und Bestimmung in der Verwirklichung einer einheitlichen, authentischen und widerspruchsfreien Persönlichkeit findet, mit der die eigene Identität in allen Lebensbereichen kohärent durchdekliniert wird. Diese Wandlung des Ideals vom eigenen Ich ist allerdings nicht zwangsläufig eine pathologische Abweichung von »gesunden« Identitätskonstruktionen, sondern mindestens ebenso ein Zeichen einer Emanzipation und Befreiung von als zu eng und bevormundend erfahrenen Milieus und Traditionen bzw. deren organisatorischen Entsprechungen. Langfristige Bindungen, konsistente Normen und stabile Zuordnungen werden also zunehmend als Hindernisse für eine fortschreitende Emanzipation des Individuums empfunden. Die Konzepte einer reflexiven Modernisierung22 bzw. einer Emanzipation zweiter Ordnung23 bringen genau das zum Ausdruck: dass diejenigen Werte, welche die Moderne bis dahin ausgemacht hatten – v. a. ein autonomes und kohärentes Subjekt –, nun selbst zum Gegenstand einer Befreiung und Emanzipation werden und sich damit das Grundverständnis dessen, was progressiv und emanzipativ ist, grundlegend wandelt. Felix Butzlaff  —  Die soziale Bewegung als Zielbild

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Gerade dies trifft eben auch Parteien und ihre gesellschaftliche Legitimation. Denn im gleichen Maße, wie für das Individuum Selbstbild und Wertvorstellungen flexibler, inkonsistenter und auch ambivalenter werden, gilt das auch für die organisatorischen Formate, welche lange Zeit die Sammlung gesellschaftlicher Interessen in westlichen Demokratien zur Aufgabe hatten. Dass Menschen sich ihr Leben lang einer politischen Partei zugehörig fühlen, ist in immer geringerem Umfang noch der Fall. Dass sie es akzeptieren, nur mit einem Teil des notwendigerweise ausgleichenden und kompromissorientierten Programms einverstanden zu sein, ebenso. Dass Parteien versuchen, auf diese neuen Beweglichkeiten organisatorisch wie programmatisch zu reagieren, und ihrerseits danach streben, flexibler und optionaler zu werden, ist ein elementarer Bestandteil ihrer Bewegungs-Werdung. Gleichzeitig aber sind heutige westliche Gesellschaften natürlich mitnichten unzusammenhängende Sammlungen hyperflexibler Subjekte ohne Sinn für Soziales, Tradition oder Transzendenz. Der beschriebene Wandel der Subjekte und ihrer Identitätsreproduktion zeitigt denn auch verschiedene Folgen, die für Parteien und deren Akzeptanz wichtig werden. Einerseits schaffen die Notwendigkeiten, seine eigene Subjektivität stets neu zu aktualisieren, für das Individuum Nöte und Bürden, da es hierfür nicht mehr umfassend auf stabile soziale Großzusammenhänge zurückgreifen kann, sondern auf persönliche Ressourcen angewiesen ist, die nicht jedem im gleichen Maße zur Verfügung stehen – soziale, bildungstechnische, finanzielle. Andererseits haben sich mit der Modernisierung zwar trennscharfe und eindeutige Zuordnungen und Unterschiede aufgelöst, was – siehe Identitäten – Menschen zu größerer Freiheit und Flexibilität befähigt; dies bedeutet aber nicht, dass Grenzen und Eindeutigkeiten ihre Notwendigkeit eingebüßt hätten. Im Gegenteil: Je mehr die fehlenden Gewissheiten einer Moderne dem Einzelnen auferlegen, Entscheidungen selbst und immer wieder neu zu treffen, umso wichtiger wird für diesen das Bilden und Aufstellen von »provisorisch-moralischen Grenzkonstruktionen«24, um nicht unter der Optionenvielfalt zusammenzubrechen. Alte soziale Grenzvorstellungen werden also durch neue ersetzt, welche allerdings nach anderen Prinzipien und oft ad hoc zusammengestellt werden. Parteien verarbeiten und reagieren auf diese sich wandelnden gesellschaftlichen Realitäten. Ihre Versuche, sich selbst eine neue organisatorische Verfasstheit zu geben, zeigen, in welcher Weise sie selbst wahrnehmen, wie sich die Forderungen ihrer eigenen Mitglieder, Wähler und Sympathisanten entwickelt haben. Die eingangs unterstrichene soziale Bewegung als Zielbild lässt sich dabei in vielerlei Hinsicht finden. Drei Bereiche können hier herausgehoben werden:

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Sozialdemokratie — Analyse

24  Ulrich Beck u. Christoph Lau, Theorie und Empirie reflexiver Modernisierung: Von der Notwendigkeit und den Schwierigkeiten, einen historischen Gesellschaftswandel innerhalb der Moderne zu beobachten und zu begreifen, in: Soziale Welt, Jg. 56 (2005), H. 2/3, S. 107–135, hier S. 114.

EINBINDUNG & OFFENHEIT Dass die Organisationen und Entscheidungsfindungsprozesse offener, transparenter und inklusiver werden sollen, ist das einigende Band aller Partei­ reform­anstrengungen.25 Vor allem Mitglieder und Sympathisanten werden dabei verstärkt in Entscheidungen und Meinungsbildung eingebunden.26 Mehr Partizipation außerhalb der etablierten und institutionalisierten Kanäle, so die Erwartung, soll Legitimität und Vertrauen stiften und Menschen ein Gefühl geben, direkten Einfluss auf die Entscheidungen einer Partei über Personal und Inhalt zu haben. Dies umfasst vor allem Voten, Referenden, Abstimmungen über Kandidaturen und Parteiführungen, aber auch die verstärkte Einbindung in die Inhalts- und Programmerstellung sowie die zunehmende Beteiligungsöffnung für Nichtmitglieder. Partizipation verändert sich dabei von einer empfundenen Bürgernorm hin zur weniger verpflichtend wahrgenommenen Option, bei der man sich in wechselnden Konstellationen beteiligen kann.27 Es ist dies auch das Angebot, dass Mitarbeit und Einbindung in Parteien keine umfassende Verpflichtung zur Beteiligung sind, sondern – was Zeit und Aufwand anbelangt – zu den Bedingungen des Einzelnen gestaltet werden können. 25  Vgl. Felix Butzlaff u. a., Im Spätsommer der Sozialdemokratie? In: Dies. (Hg.), Genossen in der Krise? Europas Sozialdemokratie auf dem Prüfstand, Göttingen 2011, S. 271–300.

INDIVIDUALISIERUNG VON PARTIZIPATION Damit verbunden ist zudem eine Individualisierung und Vereinzelung von Partizipation. Nicht mehr die soziale Gruppe, das Kollektiv oder die Arbeitsgemeinschaft, in der sich Menschen organisieren, bildet den Bezugspunkt für eine Partei, Prozesse offener zu gestalten, sondern das einzelne Mitglied

26  Vgl. Lars Bille, Democratizing a Democratic Procedure: Myth or Reality? Candidate Selection in Western European Parties, 1960–1990, in: Party Politics, Jg. 7 (2001), H. 3, S. 363–380.

Nichtmitgliederbefragungen direkt an Einzelne wenden bzw. diese zur Mit-

27  Vgl. Gauja, Party Reform.

und Parteiführung. Daran knüpft auch die Annahme an, dass das Ausschal-

oder der einzelne Sympathisant.28 Wenn sich Mitgliederabstimmungen oder arbeit und Eingabe ihrer Sichtweisen und Wünsche auffordern, dann verspricht das u. a. eine direkte Kommunikation zwischen Mitglied/Sympathisant ten traditioneller und vermeintlich überkommener Kollektivinstitutionen und

28  Vgl. Paul Pennings u. Reuven Y. Hazan, Democratizing Candidate Selection: Causes and Consequences, in: Party Politics, Jg. 7 (2001), H. 3, S. 267–275. 29  Vgl. Anika Gauja, The Individualisation of Party Politics: The Impact of Changing Internal Decision-Making Processes on Policy Development and Citizen Engagement, in: The British ­Journal of Politics and International Relations, Jg. 17 (2014), H. 1, S. 89–105.

Gruppen innerhalb von Parteien eine Befreiung und Emanzipation von als bevormundend empfundenen Strukturen bedeutet, da es ja nun – so das Versprechen – tatsächlich auf die Meinung und das Anliegen des Einzelnen ankommt, ohne dass Kompromiss- und Aushandlungsmechanismen diese verwässern. Diese Organisation von Partizipation allerdings schwächt die mittleren Organisationsebenen und Funktionäre von Parteien erheblich, welche bis dato die Hauptaufgabe der Kanalisierung und Bündelung von Interessen und die Vorbereitung eines Ausgleichs innerhalb der Organisationen übernommen hatten29 – und die der Bewegungswerdung von Parteien mitunter am stärksten skeptisch gegenüber stehen. Felix Butzlaff  —  Die soziale Bewegung als Zielbild

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ZENTRALISIERUNG Der dritte Bereich, in dem Parteien auf schwindende Mitgliederzahlen, Wählerverluste und wandelnde Ansprüche reagieren, lässt sich als zunehmende Zentralisierung und Professionalisierung bezeichnen. Dies ist zunächst einmal eine Folge der organisatorischen Zwänge, welche durch einen kontinuierlichen Mitgliederschwund in Großorganisationen verursacht werden. Wenn Ortsverbände kampagnen- und vernetzungsunfähig werden, weil Mitglieder fehlen oder aber immer älter werden, können organisatorische Routineaufgaben auf höheren Ebenen gebündelt und zusammengezogen werden, um arbeitsfähig zu bleiben. Auch empfinden viele Mitglieder gerade organisatorische Daueraufgaben oftmals als ermüdend und sind froh, wenn sie um diese erleichtert werden. Darüber hinaus erwächst diese Zentralisierung auch aus dem Postulat, einen möglichst direkten Kommunikationskanal zwischen dem einzelnen Mitglied und der Parteiführung zu etablieren, durch welchen Mitglieder und Sympathisanten das Gefühl bekommen, ganz unmittelbar das Ohr der Parteielite zu besitzen. Gleichzeitig aber ist diese Zentralisierung auch insofern eine direkte Folge der Individualisierung von Mitgliederpartizipation, weil eine Atomisierung und Vermehrung derjenigen, die mit entscheiden können, eben auch bedeutet, dass erheblich mehr an Entscheidungsgewalt bei der Zentralinstanz verbleibt, welche den Prozess steuert, Fragen auswählt und Entscheidungen vorbereitet. Die Organisation von innerparteilicher Gegenmacht jedenfalls wird durch diesen Bedeutungswandel von Partizipation enorm erschwert.30 Die Demokratisierung und Öffnung von Parteien erscheint vor dem Hintergrund der zunehmenden Zentralisierung der Organisationen insofern als paradox oder widersprüchlich, weil damit keineswegs automatisch eine Ermächtigung der Mitglieder verbunden sein muss. Richard Katz etwa spricht auch von der Demokratisierung von Parteien als einer »Elitenstrategie, um die Basis zu schwächen«.31 Zeitgleich aber ist diese Erfahrung der Inszenierung von Demokratisierung nichts genuin Neues, sondern stets auch Begleiterfahrung organisatorischen Wachstums von Parteien wie Bewegungen gewesen.32 Insgesamt also geht es bei Parteireformen, mit denen Parteien seit den 1990er Jahren auf Verluste an Mitgliedern, Wählern und Vertrauen reagieren, darum, die etablierten Prinzipien von Mediation, Kompensation, Delegation und Kompromiss als innerparteiliche Leitbilder abzuschwächen, weil diese als schwerfällig, überkommen und ineffizient gelten. Demgegenüber werden (flexible) Mitgliederbeteiligung, die Einbindung von Nichtmitgliedern und

30  Vgl. Faucher. 31  Richard S. Katz, The Problem of Candidate Selection and Models of Party Democracy, in: Party Politics, Jg. 7 (2001), H. 3, S. 277–296, hier S. 293.

Sympathisanten sowie eine zunehmende Zentralisierung und die Orientierung an Politik als Dienstleistung (mit den Mitgliedern als Politik-Konsumenten und Datenlieferanten) stärker akzentuiert.

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Sozialdemokratie — Analyse

32  Vgl. Thomas Leif, Die professionelle Bewegung: Friedensbewegung von innen, Bonn 1985.

DIE MODERNITÄT DER RECHTSPOPULISTEN Soweit spiegeln Parteien das Bild, das Diagnosen der Modernisierungstheorie von einem (westlichen) Gesellschaftswandel zeichnen. Sie betonen in ihrer organisatorischen Entwicklungsrichtung die flexible, unbeschränkte und optionale Teilhabe, was ein nicht langfristig bindendes Adhoc-Engagement ermöglichen soll. Zudem zeigen sie die Ambivalenz gegenüber demokratischen Normen, indem sie diese einerseits besonders unterstreichen und andererseits durch eine zunehmende Zentralisierung (und damit auch Depolitisierung) wieder einschränken. Dass es modernisierungstheoretisch einander scheinbar widersprechende Entwicklungen in westlichen Gesellschaften gibt – Optionenvielfalt, Flexibilität und fehlende Eindeutigkeiten einerseits, die damit einhergehende Notwendigkeit neuer Grenzziehungen andererseits –, wird von den Parteireformen der letzten Jahrzehnte aufgegriffen. Es ist bemerkenswert, dass Parteien oftmals trotz solcher Reformen nicht an Zuspruch gewinnen, sondern in der Tendenz weiter an Mitgliedern, Wählern und Akzeptanz verlieren. Dies mag damit zu tun haben, dass diese gesellschaftlichen Großtrends nicht uniform und in allen sozialen Gruppen gleichförmig verlaufen. Neue Partizipationsformen in Parteien zeigen dies sehr deutlich: Das soziale Profil derjenigen, die sich in offeneren und damit auch anspruchsvolleren Formaten einbringen ist noch enger als das der Parteimitglieder und führt keineswegs automatisch dazu, dass neue und breitere gesellschaftliche Gruppen den Weg in die Parteien finden. Darüber hinaus tun sich gerade große Parteien, die einen Selbstanspruch als Volkspartei ausgeprägt haben, mit der Etablierung neuer Grenzziehungen besonders schwer.33 Denn die immer weiter steigende Heterogenität nicht nur in ganzen Gesellschaften, sondern auch innerhalb von Parteien, verkompliziert den Ausgleich nach Innen und die Formulierung unhinterfragbarer Gewissheiten, hinter denen sich alle versammeln – auch, weil Mitglieder individualisiert und nicht als Teil einer Gruppe eingebunden werden. Durch dieses Verständnis der eigenen Mitglieder als Individuen aber rückt für Parteien nach innen wie außen die überzeugende Mobilisierung und auch die Formulierung kollektiver Probleme und Nöte in weite Ferne. Das einzelne Mitglied wird in seiner Beziehung zur Partei in der Tendenz vereinzelt und dadurch auch machtlos und unangebunden. Dies macht es zunehmend schwer, das Gefühl einer kollektiven Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit zu 33  Vgl. exemplarisch Matthias Micus, Patient Volkspartei? Über den Niedergang und deren Verkünder, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 0 (2011), H. 0, S. 144–151.

entwickeln, welches oftmals eine zentrale Motivation für Menschen ist, sich einer Organisation anzuschließen. Gerade soziale Bewegungen mit ihrer vielfach engeren Themenfokussierung haben es hier leichter, das Gefühl einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten zu schaffen. Gerade wenn Parteien also Felix Butzlaff  —  Die soziale Bewegung als Zielbild

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den Bedeutungswandel von Mitgliederpartizipation nicht mit einer starken Kollektiverzählung begleiten und ein Management von Grenzkonstruktionen ermöglichen, die verdeutlichen, dass, warum und wozu man dazugehört, geht jedwedes mobilisierende Moment rasch ganz verloren. Blickt man auf die zeitgenössische Konjunktur rechtspopulistischer Bewegungen, dann wird deutlich, dass sie genau dazu aber in der Lage sind: Sie formulieren das Versprechen, dass sich jedes Mitglied der Bewegung individuell und direkt von der Führung angesprochen fühlen kann, es flexibel und wechselnd eingebunden wird, der Einzelne aber gleichzeitig die vollkommen klare und unauflösliche Zugehörigkeit zu einem Kollektiv erfährt – zum Volk bzw. zur Nation. Hier verbinden sich die unterschiedlichen Anforderungen, Vertrauen zu stiften, auf eine höchst produktive Weise – und genau hier haben es sozialdemokratische und linke Parteien besonders schwer, eine absichernde provisorisch-moralische Grenze zu konstruieren, innerhalb derer sich Menschen versammeln. Gerade rechtspopulistische Bewegungen erscheinen daher als Vorbilder einer organisatorischen Parteimoderne.34 Fraglich bleibt, ob dieses Erfolgsrezept – neben allen weiteren Zutaten des Rechtspopulismus, die hier gar nicht in Abrede gestellt werden sollen – einer Verbindung von gefühlter Demokratisierung der Organisation und Flexibilität des Engagements einerseits sowie der Vermittlung unverbrüchlicher Grenzen und Fundamente andererseits von anderen Parteien wiederholt werden kann. Die Ermöglichung der Formulierung kollektiver Probleme sollte dabei ein Kernbestandteil sein, ohne aber durch eine zu offensichtliche Konzentration von Entscheidungsmacht das gewachsene Selbstbewusstsein der BürgerInnen zu brüskieren. Eine modernisierungstheoretische Perspektive darauf, wie kollektive Erfahrungen unter den Bedingungen zeitgenössischer Individualisierung überhaupt noch gemacht und wahrgenommen werden und inwiefern diese mit einem sich wandelnden Verständnis von Emanzipation und Progressivität vereinbar sind und handlungswirksam werden können, kann hier möglicherweise wichtige Fingerzeige geben.

Dr. Felix Butzlaff, geb. 1981, ist Universitätsassistent am Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN) an der Wirtschaftsuniversität Wien. Studium der Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Jura in Göttingen und Santiago de Chile. Er arbeitet zum Wandel von Demokratie, Beteiligung und Partizipation sowie zur Entwicklung von Parteien und sozialen Bewegungen. Seit 2011 Redaktionsmitglied bei INDES.

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Sozialdemokratie — Analyse

34  Vgl. Ingolfur Blühdorn u. Felix Butzlaff, Rethinking Populism: Peak democracy, liquid identity and the performance of sovereignty, in: European Journal of Social Theory, Februar 2018, S. 1–21. Open Access URL: http://journals.sagepub.com/doi/ pdf/10.1177/1368431017754057 [eingesehen am 12.11.2018].

SAMMLUNGSBEWEGUNG

ANALYSE

WARUM AUFSTEHEN? ZUR ZUKUNFT LINKER POLITIK ΞΞ Bernd Stegemann

Die Linken haben seit jeher ein großes Talent darin, sich untereinander zu streiten und dabei den eigentlichen Gegner aus den Augen zu verlieren. Als historisch folgenreichster Fehler gilt die Feindschaft zwischen KPD und SPD während der Weimarer Republik. Noch nach den Wahlen im November 1932 konnten beide Parteien deutlich mehr Stimmen auf sich vereinigen als die NSDAP, doch sie ließen die letzte Gelegenheit, Hitler zu verhindern, ungenutzt. Dass die erste und dritte Legislaturperiode der Ära Merkel von einer nicht genutzten Mehrheit von Rot-Rot-Grün profitierte, bis diese dann schließlich bei der letzten Bundestagswahl verloren ging, ist mit diesem Fehler natürlich nicht vergleichbar. Und doch gehört es in die Reihe sozialdemokratischer Versäumnisse, dass eine Koalition mit der CDU politisch opportuner galt als das Wagnis einer rot-rot-grünen Regierung. Dieser und viele andere Gründe sind oft und ausführlich beschrieben worden1. Die SPD vernimmt die Botschaft jedoch nicht und indes suchen sowohl Grüne als auch Teile der Linkspartei mit wechselndem Geschick ihr Glück in der Nische der Anerkennungspolitik. So steht das linke Lager heute vor einem dreifachen Problem. Erstens: Es pflegt weiterhin mit Hingabe seine internen Streitereien. Zweitens: In seinem Zentrum steht eine SPD, die sich von ihren neoliberalen Irrwegen nicht mehr zu erholen scheint. Und drittens sind die beiden kleineren linken Parteien auf dem Weg zu Milieuparteien, welche die großstädtische, akademische Wählerschaft umgarnen. Jeder Demoskop könnte hier vorrechnen, dass mit diesem Milieu niemals eine Mehrheit zu erreichen ist. Die Lage ist demnach verzweifelt und rätselhaft zugleich. Jeder ernsthafte Versuch, hieran etwas zu ändern, verdient allein deswegen eine konstruktive Befragung. Der Vorschlag der Sammlungsbewegung »Aufstehen« verfolgt unterschiedliche Strategien, um dem vorhandenen linken Bewusstsein in Deutschland wieder politische Mehrheiten zu verschaffen und

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INDES, 2018–3, S. 118–123, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2191–995X

1  Für den Überblick: Franz Walter, Vorwärts oder Abwärts. Zur Transformation der Sozialdemokratie, Berlin 2010. Für aktuelle Details: z. B. Markus Feldenkirchen, Die Schulz-Story, Berlin 2018.

damit zu zeigen, dass die aktuell knapp 40 Prozent, auf die Rot-Rot-Grün im Bundestag kommen, nicht der Realität entsprechen. Es scheint, so die These, eine Diskrepanz zwischen Selbstverständnis und Ausstrahlung der linken Parteien einerseits und den Hoffnungen der Menschen auf eine soziale Politik andererseits zu geben. Um diese Diskrepanz zu erforschen, könnte man in einer selbstkritischen Befragung untersuchen, wie einige der zentralen Begriffe linker Politik eine neue, ungewollte Bedeutung bekommen haben. Was hat z. B. internationale Solidarität in der Zeit des Nationalismus und Kolonialismus bedeutet und was bedeutet sie in Zeiten der kapitalistischen Globalisierung? Wenn Nationalstaaten den Klassenkampf des Proletariats entkräften wollen, indem sie Feindschaft zu anderen Nationen schüren, so ist die internationale Solidarität eine Waffe im Kampf gegen Ausbeutung. Wenn aber globale Konzerne den nationalen Arbeitsmarkt unter den Druck einer weltweiten Reservearmee setzen, indem sie die Sozialsysteme und Löhne der einzelnen Länder gegeneinander ausspielen, so muss die internationale Solidarität eine andere Antwort finden. Die könnte heute beispielsweise darin bestehen, in der EU eine einheitliche Sozialversicherung durchzusetzen und bis zu ihrem Eintreten die weitere Globalisierung des Kapitals einzuhegen. Wer auf die rasanten Veränderungen des Kapitalismus keine neuen Antworten findet, der zerstört die einst mächtigen Begriffe linker Politik und macht sie zu Gehilfen des postmodernen Ausbeutungsregimes. An drei der wichtigsten Begriffe ist diese Zerstörung leider schon vollzogen: Aus Freiheit wurde die permanente Flexibilität und Unsicherheit der Arbeitenden, aus Fortschritt wurde der Abbau der sozialen Absicherungen und die permanente Aufforderung zur Selbstoptimierung, und aus Solidarität wurde der leistungssteigernde Zwang der Teambildung. Alle diese einst emanzipatorischen Begriffe sind somit ins Gegenteil verkehrt worden. Eine nicht leistungsorientierte Solidarität basiert auf einer Vielzahl von Voraussetzungen, an deren Abschaffung die letzten zwanzig Jahre mit Nachdruck gearbeitet wurde. Fortschritt ist ebenso wie alle utopischen Hoffnungen zu einem Gebiet der Angst geworden. Zukunft wird nur noch als Bedrohung erlebt und selbst Optimisten haben keine mitreißenden Pläne mehr, sondern wenden zaghaft ein, dass es vielleicht nicht ganz so schlimm kommen wird. Die Drohungen des Klimawandels, der Migrationsströme, der ökonomischen Krisen und der politischen Radikalisierungen lassen, so das Mantra der wirtschaftsliberalen Kräfte, keinen Raum für eine Zukunftsplanung. Die gesellschaftlichen Debatten verlaufen stattdessen im Krisenmodus. Das jeweils neueste Unheil wird aufmerksamkeitssteigernd dramatisiert, was eine ungeduldige Erwartung schürt und die Politik somit unter Handlungsdruck setzt. Bernd Stegemann  —  Warum Aufstehen?

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Die paradoxe Forderung einer gereizten Öffentlichkeit lautet immer öfter: Wir trauen euch zwar nicht, aber trotzdem sollt ihr in einem magischen Akt die Lösung für alle Probleme liefern. Die Enttäuschungen sind vorprogrammiert und führen zu weiterer Politikverdrossenheit und gesellschaftlicher Erosion. Im Windschatten dieser selbstverstärkenden Politikverdrossenheit arbeiten die ökonomischen Kräfte weiter am Umbau der Eigentumsverhältnisse, bei dem die Gemeingüter privatisiert oder durch die schwarze Null ruiniert werden. Statt eine breite Diskussion über die politische Verantwortung für das Kommune zu beginnen, verheddern sich die Debatten in symbolischen Machtkämpfen und moralischen Empörungswellen.2 Die Basis für solidarisches Verhalten ist grundlegend erschüttert und in das dadurch entstandene Vakuum dringen zwei gegenteilige Kräfte ein: das rechte Ressentiment und der linke Moralismus. Eine der wesentlichen Ursachen für diesen Antagonismus kann in den unterschiedlichen Milieus der Globalisten und der Lokalisten3 gesehen werden. Während die einen durch akademische Bildung, großstädtisches Leben und flexible Berufe geprägt sind, verläuft das Leben der meisten Menschen noch immer in vorgezeichneten Bahnen, die wenig Spielraum für eigene Wünsche lassen und wo jede Veränderung mit dem Stigma der Bedrohung versehen ist. Die einen gehören damit zu den Gewinnern der neuen kapitalistischen Ökonomie und die anderen gelten als Problemfälle, die bereits arm sind oder gegen ihr Abrutschen ins Prekariat kämpfen. Diese entgegengesetzten Welten haben jeweils eine materielle und eine symbolische Komponente. So kann beispielsweise der akademische Globalist, der zum großstädtischen Prekariat gehört, deutlich weniger verdienen, als der festangestellte Lokalist. Dennoch begreift dieser sich als potentieller Gewinner, da er sich selbst in seiner Bildungskarriere verwirklichen konnte und die materiellen Zwänge als ein selbstgewähltes und vorübergehendes Problem empfindet. Der gut bezahlte Lokalist hingegen erlebt sein Lebensmodell als von zwei Seiten infrage gestellt. Der Arbeitsmarkt signalisiert ihm, dass er nur auf Zeit das Glück einer Arbeitsstelle hat und sie ihm jederzeit wieder weggenommen werden kann. Auf der symbolischen Ebene gelten seine Werte und Lebenserfahrungen als nicht mehr zeitgemäße, wenn nicht gar reaktionäre Einstellungen. Der Globalist sieht sich als Verkörperung der höchsten Entwicklung, während der Lokalist mit dem Gefühl

2  Im September 2018 jährte sich der Beginn der Weltfinanzkrise zum zehnten Mal. Doch die öffentliche Debatte war davon bestimmt, ob der Leiter des Verfassungsschutzes mit seinen Aussagen über die Vorfälle in Chemnitz recht hat oder nicht.

leben muss, zu einer bedrohten Spezies zu gehören. Der Riss zwischen beiden Lebensmodellen wird durch einige Faktoren vergrößert und in die Form eines tragischen Konfliktes gebracht. Der Globalist erhebt nicht nur den Anspruch, dass die Gegenwart ihm gehört, sondern er verwechselt seine politische Meinung mit absoluten Werten, denen nur von

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Sammlungsbewegung — Analyse

3  Diese Unterscheidung wird gerade vielfältig diskutiert und es werden dafür unterschiedliche Begriffe verwendet, die jedoch alle künstlich sind, da die Unterscheidung noch neu ist.

moralisch schlechten Menschen widersprochen werden kann. Dagegen steht der Lokalist, dessen Wohlstand ihm im Modus des »gerade noch« erscheint und dessen Werte außerhalb seines Milieus keine öffentlichen Fürsprecher mehr finden. Was unter dem Begriff Backlash 4 durch zahlreiche empirische Untersuchungen belegt ist, findet sich in einer klassisch dreigeschichteten Gesellschaft wieder. Die oberen zehn Prozent können sich weitestgehend von allen sozialen Sicherungen und staatlichen Leistungen freikaufen. Sie haben private Krankenversicherungen, schicken ihre Kinder auf Privatschulen und sind so gut ausgebildet und polyglott, dass sie auf dem globalen Arbeitsmarkt ihren Platz behaupten können. Das untere Drittel ist fast vollständig von den Sozialsystemen und einem funktionierenden Staat abhängig. Dazwischen steht die Mittelschicht, deren eine Hälfte vom Abstieg bedroht ist und deren andere Hälfte hofft, weiter aufsteigen zu können. Der politische Diskurs wird von den Werten und Argumenten der Mittelschicht bestimmt, weswegen die Spaltung der Gesellschaft sich hier in einem Auseinanderdriften der gefühlten Gewinner und befürchteten Verlierer zuspitzt. Die Verhärtungen, die beide Positionen annehmen, sind die Folge eines vielfachen Missverstehens. Je selbstbewusster und moralischer die Gewinnerseite den Status quo als alternativlos bezeichnet, desto regressiver und polternder beharrt die andere Seite darauf, dass das Ganze verändert werden müsse. In diesem Widerspruch findet sich das von Chantal Mouffe beschriebene Paradox der Demokratie wieder. Die Gewinner stellen ihre politische Meinung immer aggressiver als unhinterfragbare Verkörperung moralischer Werte dar, die sie alle unter dem Begriff des Liberalismus zusammenfassen. Jeder Angriff auf diesen Liberalismus wird darum als populistische Gefahr bekämpft. Die andere Seite sieht hingegen in der Demokratie die Chance, dass eine Mehrheit die Fehlentwicklungen korrigieren könnte, und vollzieht hierbei nur unvollkommen die Unterscheidung zwischen liberalen und neoliberalen Werten. Ein Wohlstands-Liberalismus, der wiederum selbst diese Unterscheidung ignoriert und sich als einen überparteilichen und absoluten Wert begreift, steht also einem wachsenden Unmut gegenüber, der die Demokratie zur Waffe gegen den Liberalismus umformen will. Auf der einen Seite des Konflikts steht der Neoliberalismus, dessen Ideo4  Cornelia Koppetsch, Aufstand der Etablierten? Rechtspopulismus und die gefährdete Mitte, in: Soziopolis, 12.4.2017. URL: https:// soziopolis.de/beobachten/kultur/ artikel/aufstand-der-etablierten/ [eingesehen am 19.09.2018]

logie der Eigentümerlogik und der freien Märkte zahlreiche Kollaborationen mit anderen kulturellen Befreiungsbewegungen eingegangen ist. Was Nancy Fraser mit dem Begriff des »progressiven Neoliberalismus« kritisiert, ist genau diese hegemoniale Formation, durch die persönliche Freiheiten zum Antrieb für ökonomische Interessen werden. Eine weit verbreitete Antwort auf die Frage, warum die linken Parteien seit den 1990er Jahren immer Bernd Stegemann  —  Warum Aufstehen?

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mehr die Klassenfrage verloren und sich stattdessen immer stärker auf die Anerkennungspolitik konzentriert hätten, lautet darum, dass sie gegenüber der globalen Entfesselung der Marktkräfte aller Gegenmittel beraubt wurden. Wenn durch Handelsabkommen den Nationalstaaten die Möglichkeit genommen wird, ihre Märkte gegen Lohndumping und Billigimporte zu schützen, bleiben einer Sozialpolitik eben nur noch die kulturalistischen Themen der Identitätspolitik.5 Auf der anderen Seite erwächst dieser alternativlosen Postpolitik immer mehr Widerstand. Wenn durch demokratische Wahlen an der grundsätzlichen Verfassung der Wirtschaftsordnung nichts mehr geändert werden kann, dann gerät der gesamte Komplex aus Anerkennungs- und Wirtschaftspolitik ins Visier der Wütenden. Dieser Konflikt spitzt sich derzeit immer weiter zu, da sich zwei Argumentationsweisen gegenüberstehen, die quer zueinander verlaufen. Die Seite des progressiven Neoliberalismus begründet die beiden Seiten der Freiheit mit der Behauptung des moralischen Werts einer fortschrittlichen Gesellschaft. Der blinde Fleck liegt darin, dass der Kampf gegen Diskriminierung alle kulturellen und ethnischen Faktoren zwar berücksichtigt, aber blind für die Diskriminierung durch Armut ist. So taugte es z. B. noch nie zu einem medialen Aufschrei, dass achtzig Prozent der Akademiker-Kinder studieren, aber nur zwanzig Prozent der Kinder von Nichtakademikern, oder dass die durchschnittliche Lebenserwartung im ärmeren Drittel um mehrere Jahre geringer ist als bei den Wohlhabenden.6 Der progressive Neoliberalismus hat eine politische Formation geschaffen, die sich moralisch unangreifbar wähnt und damit die realen ökonomischen Verwerfungen aus der öffentlichen Debatte verdrängt. Die Wut der rechten Regression speist sich darum aus mindestens drei Quellen: Es gibt verschiedene Ausprägungen des Nationalismus, es gibt ein konservatives Beharren auf dem Status quo und es gibt die Angst vor realen Problemen, die meistens ökonomische Ursachen haben. Nur wenn man die rechte Position ebenso

5  Diese Erklärung führt beispielsweise Wolfgang Streeck in seinen Texten aus.

differenziert begreift, wie es die linksliberale für sich beansprucht, kann auf deren Erstarken wirkungsvoll reagiert werden. Die Fokussierung auf den Kampf gegen den rassistisch-nationalistischen Anteil rechter Politik ist darum ein wichtiger, aber eben nicht der einzige Baustein. Mindestens ebenso zentral ist die Widerbelebung der verdrängten Klassenfrage. Wenn das linksliberale Milieu mit einer Selbstkritik beginnen würde, die den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Vorteilen und moralischer Haltung offenlegt, könnte es seinen Kampf gegen Rassismus um die zweite Hälfte der Gleichheit, nämlich die der ökonomischen Verhältnisse, erweitern. Genau diese Erweiterung des linken politischen Raumes wird mit der

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Sammlungsbewegung — Analyse

6  Pointiert bringt Walter Benn Michaels diesen Widerspruch für die US-amerikanische Gesellschaft auf den Punkt: »Die Essenz der Antwort ist eben, dass die Internationalisierung, die neue Mobilität von Kapital und Arbeit, einen Antirassismus hervorgebracht hat, der nicht dem Widerstand oder auch nur der Kritik am Kapital, sondern dessen Legitimierung dient.« Walter Benn Michaels, Jacobin: Die Anthologie, Berlin 2018, S. 28.

Sammlungsbewegung Aufstehen versucht. Dass dieser Weg reflexhaft vor allem von den Grünen und Teilen der Linkspartei als rassistisch-nationalistisch diffamiert wird, ist, wenn man einmal den Zusammenhang des progressiven Neoliberalismus verstanden hat, eine Bestätigung für dessen Analyse. So befindet sich eine linke Politik, welche die soziale Frage ins Zentrum stellen will, heute vor einer doppelten Herausforderung. Auf der einen Seite hat die neoliberale Ideologie inzwischen so viele Fakten geschaffen, dass selbst demokratisch gewählte linke Regierungen kaum Spielräume haben, um die Umverteilung von unten nach oben zu stoppen oder gar umzukehren. Zugleich wird diese unsoziale Ordnung durch unzählige Diskurse und mikrosoziale Wertungen bestätigt und verteidigt. Auf jede soziale Forderung wird reflexhaft mit einer Forderung gegen Diskriminierung geantwortet und dabei bewusst oder unbewusst ausgeblendet, dass Armut zu den stärksten Gründen für Ausgrenzung gehört. Auf jede Kritik an der EU oder der Globalisierung wird reflexhaft mit dem Vorwurf des Nationalismus gekontert und bei jedem Wunsch nach Solidarität wird davor gewarnt, die verflüssigte, multikulturelle Gesellschaft in den Faschismus treiben zu wollen. Öffentlich zu machen, dass die Verteidiger der postmodernen Gesellschaft darin die meisten Privilegien genießen, könnte ein erster Schritt aus der Doppelmoral sein.7 Politik, die die Verhältnisse ändern will und nicht nur die Verteilung von Anerkennung kostengünstig organisiert, steht im Augenblick mit ziemlich leeren Händen da. Um dieses zu verändern, braucht es sowohl große Anstrengungen in dem Bereich, den man früher mal den Überbau genannt hat, als auch realistische Projekte, durch die die ärmere Hälfte der Bevölkerung 7  Ausführlich hierzu vom Autor: Moral als Waffe, Berlin 2018.

spürbare Verbesserungen erfährt. Sollte beides nicht gelingen, spaltet sich die Gesellschaft immer weiter.

Dr. Bernd Stegemann, geb. 1967, ist Professor für ­Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« in Berlin und Dramaturg am Berliner Ensemble. Zahlreiche Publikationen zur Kunst des Theaters und Dramaturgie der öffentlichen Sprechens, zuletzt »Die Kritik des Theaters«, Berlin 2013, »Lob des Realismus«, Berlin 2015, »Das Gespenst des Populismus« Berlin 2017 und »Moral als Waffe«, Berlin 2018.

Bernd Stegemann  —  Warum Aufstehen?

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TEIL DER LÖSUNG ODER TEIL DES PROBLEMS? DIE HÜRDEN DER LINKEN SAMMLUNGSBEWEGUNG ΞΞ Robert Pausch

Die besondere Eigenschaft von Phantomen besteht ja eigentlich darin, dass sie nicht auftauchen. Ein Phantom bleibt im Verborgenen, im Unwirklichen und Ungefähren, sonst wäre es ja kein Phantom. Einige Monate schien das alles auch auf Sahra Wagenknechts Projekt einer »linken Sammlungsbewegung« zuzutreffen. Es gab ein paar dürre Worte in Interviews, hier und dort vage Andeutungen. Darüber hinaus wusste man, auch innerhalb der höchsten Linkspartei-Zirkel, bis hinein in Wagenknechts-Büro: nichts. Und dennoch wurde dieses Nichts mit den grellsten Scheinwerfern ausgeleuchtet. Eine Flut von Leitartikeln und großformatigen Essays beschäftigte sich mit dem Für und vor allen Dingen dem Wider eines Projekts, von dem man bis vor ein paar Wochen allenfalls die Umrisse erkennen konnte. Nun ist aus dem Phantom immerhin eine Internetplattform geworden, dazu gibt es einige Ortsgruppen, einen Gründungsaufruf und ein Partizipationstool, das ein bisschen an die mittelmäßig erfolgreiche Internetdemokratie der Piratenpartei erinnert. Das ist nun nicht mehr nichts, aber auch noch ein bisschen zu wenig, um zu prognostizieren, was nun aus alledem wird. Und weil etwas Prognosedemut allen Beobachtern derzeit ohnehin ganz gut steht, sollen hier stattdessen einige Fragen mit einigen Beobachtungen und Thesen verbunden werden. Erstens, was will diese Bewegung sein? Zweitens, wie passt sie zur Konfliktdynamik innerhalb der Linkspartei? Und drittens, wie zu den aktuellen Verschiebungen im Parteiensystem? BEWEGUNG, PARTEI ODER DISKURSPROJEKT? Dass Bewegungen nicht »gegründet« werden dürfen, schon gar nicht »von oben«, sondern dass sie »entstehen«, stand schon im vergangenen Winter auf der ewigen Liste der Lieblingsvorwürfe gegen Wagenknechts Projekt ganz weit oben. Man hörte diese Kritik insbesondere von jenen, die dabei zurückdachten an die Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre, bei denen man selbst noch mit dabei war, und die in der Tat nicht gegründet wurden, sondern wuchsen. Allein: Das Vorbild Wagenknechts sind nun weder Gorleben-Aktivisten noch Wackersdorf-Kämpfer, sondern – sie benennt

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INDES, 2018–3, S. 124–129, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2191–995X

es klar – die linken Politiker Jeremy Corbyn, Bernie Sanders und Jean-Luc Mélenchon, die in Großbritannien, den USA und Frankreich jeweils schlagkräftige linke Bewegungen um sich herum formten. Wohlgemerkt: formten. Am Anfang stand bei allen die Person, die mit einer gewissen charismatischen Aura dazu in der Lage war, Menschen zu begeistern und um die herum sich schließlich Unterstützergruppen bildeten, die sich schließlich zu einer Bewegung formierten. Dass also am Anfang eine Person mit gewisser Bekanntheit und einer Idee stehen kann und am Ende so etwas wie eine Bewegung, das zeigt sich gerade in vielen europäischen Ländern. Doch beginnen mit Wagenknechts Vorbildern bereits einige ihrer Probleme. Denn unter den Sammlungsbewegten gibt es keinen erkennbaren Plan, wie man sich zu etablierten Gruppen verhalten will, die über eine gewisse Organisationsmacht verfügen. Corbyn, Sanders und Mélenchon konnten sich bereits früh auf die Unterstützung wichtiger Gewerkschaften und bereits bestehender Bewegungen verlassen, diese Netzwerke sicherten ihnen Loyalitäten und halfen dabei, die eigenen Strukturen aufzubauen. Bei der Sammlungsbewegung von Wagenknecht gibt es solche Vernetzungen bislang nicht. Mit Ausnahme von ein paar lokalen Aktivisten nehmen die Gewerkschaften Abstand von dem Projekt. Und auch zu etablierten Protestformationen gibt es von Seiten der Sammlungsbewegung allenfalls informellen Kontakt. Unmittelbar schließt hier eine zweite Frage an, die für eine Bewegung nicht ganz unerheblich ist: Was will man eigentlich tun? Bislang ist sie schließlich vor allem ein Diskursprojekt, deren Substanz aus ein paar gelehrten Aufsätzen akademischer Aktivisten besteht. Eine Strategie allerdings ergibt sich daraus noch nicht. Will die Sammlungsbewegung lokale Konflikte für sich besetzen und politisieren? Will sie sich in Streiks und Mieterkämpfen engagieren und hier das Große im Kleinen suchen? Will sie Kundgebungen und Großdemonstrationen organisieren? Zentral, dezentral? Im Verbund oder in Konkurrenz zu anderen Protestformationen? Eine Antwort auf diese Fragen, die den Charakter einer Bewegung bestimmen, gibt es bislang noch nicht. In der Linkspartei argwöhnen nun einige, dass es Wagenknecht ohnehin nicht um eine Bewegung im eigentlichen Sinne gehe, sondern dass sie vielmehr die Vorbereitungen treffe, eine eigene Partei zu gründen. Ausschließen lässt sich das nicht, wenngleich sich Wagenknecht in ihrer Karriere bislang nicht als umsichtige Organisatorin hervorgetan hat. Im Gegenteil: Partei­ sitzungen verabscheut sie, Gremienarbeit ist ihr zuwider. Sie liest viel und redet lieber als sich darum zu kümmern, Kreisvorsitzende und Landtags­ abgeordnete auf ihre Seite zu bringen. Auch unter den weiteren Unterstützern der Sammlungsbewegung finden sich kaum erfahrene Maschinisten, die es Robert Pausch  —  Teil der Lösung oder Teil des Problems?

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für eine Parteigründung allerdings bräuchte. Die Gründung der Linkspartei im Jahr 2005 etwa wäre ohne organisationserfahrene Strategen nie möglich gewesen. Dennoch ist die Angst vor einer Abspaltung Wagenknechts in der Linkspartei groß, schließlich leugnen selbst ihre Gegner kaum, wie wichtig die Fraktionsvorsitzende für die Partei ist. Vor der Bundestagswahl, als zwischen Partei- und Fraktionsführung Streit um die Spitzenkandidaturen herrschte, gab der Parteivorstand um Katja Kipping und Bernd Riexinger eine Analyse zu den Popularitätswerten der Linken-Führung in Auftrag, die für beide so niederschmetternd war, dass sie rasch in einer Schublade verschwand. Wagenknecht ist das unbestrittene Gesicht der Linken, die in der Breite ihrer Führung freilich noch immer besser dastehen als viele andere Parteien: Katja Kipping repräsentiert ein urban-liberales Milieu, Bernd Riexinger hat noch immer eine gewisse Autorität unter Gewerkschaftern, gleiches gilt für Dietmar Bartsch in Ostdeutschland. Und mit Wagenknecht verfügt die Partei über eine eloquente und überaus wirksame Öffentlichkeitspolitikerin. KONFLIKTE UND ABSTOSSUNGSKRÄFTE DER LINKSPARTEI Dass es der Linkspartei jedoch immer weniger gelingt, die Binnenpluralität als Stärke zu nutzen, sondern dass die Differenz für die Partei vielmehr lähmend wirkt, erzählt viel über die vertrackte Situation, in der sich die Partei derzeit befindet. Denn natürlich geht es bei den aktuellen Konflikten in der Linkspartei auch um Eitelkeit, um Kränkungen, die sich aufsummieren, und Macht, die man nicht teilen möchte. Wichtiger als das sind aber die fundamental unterschiedlichen Vorstellungen davon, was eine politische Linke sein soll und wo ihr Ort in der Gesellschaft ist. Die Fronten sind häufig beschrieben worden: Katja Kipping will die Partei weiter für junge, gebildete Schichten öffnen, die seit rund zwei Jahren verstärkt die Linkspartei wählen. Eine Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung ergab jüngst, dass die Linke mittlerweile ihre stärksten Ergebnisse bei jener »kritischen Bildungselite« erzielt, eine Bertelsmann-Studie nach der Bundestagswahl zeigt überdies, dass sich die Mehrheit der Linken-Wähler zu den »Modernisierungsbefürwortern« zählt. Die ostdeutsche Heimat- und Protestpartei verwandelt sich immer rascher in eine Partei aufgeklärter Bürgerlichkeit. Doch so unzweifelhaft dieser Befund empirisch ist, so umstritten ist er politisch. Denn Sahra Wagenknecht erkennt gerade hierin eine Gefahr. Wenn es der Linkspartei nicht mehr gelinge, die unteren Schichten für sich zu gewinnen, habe sie ihren gesellschaftspolitischen Auftrag verfehlt, so lautet ihre Analyse.

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Sammlungsbewegung — Analyse

Die dazugehörige Auseinandersetzung verläuft dabei wesentlich entlang der gerechtigkeitsgeographischen Frage. Bedeutet internationale Solidarität, dass man sichere Fluchtwege organisiert, auf scharfe Grenzkontrollen verzichtet und auch bereit ist, seinen Wohlstand zu teilen? Oder folgt aus der Migration nicht insbesondere für die unteren Schichten vor allem Konkurrenz, die sich nur durch robuste nationalstaatliche Solidarität begrenzen lässt? Gewiss sind die Positionen nicht unvereinbar, doch statt die Differenzen einzuebnen, werden sie in der Linkspartei radikalisiert, jede Lösung wird zum Problem, aus jeder Chance entsteht bereits der nächste Konflikt. Und so mag in der Partei gerade niemand zu sagen, wie es weitergeht. Die Abstoßungskräfte wachsen – und die Sammlungsbewegung ist der Ausdruck einer zielsuchenden Nervosität, die weit über die deutsche Linkspartei hinausragt. Schließlich ist die politische Linke in fast allen europäischen Ländern in der Defensive. Vom Niedergang der etablierten Großorganisationen können linkssozialistische Kräfte jenseits Südeuropas kaum profitieren, nur selten gelingt es ihnen noch, gesellschaftliche Mehrheiten zu organisieren, von der Macht sind sie weit entfernt. DER HILFREICHE BLICK NACH FRANKREICH Die tiefgreifenden tektonischen Verschiebungen lassen sich derzeit womöglich am deutlichsten in Frankreich erkennen, ebenso wie die Probleme, vor denen die Linke damit steht. Ein aufschlussreiches Buch, in dem die Implosion des französischen Parteiensystems und der Aufstieg Macrons nachgezeichnet wird, erscheint in diesen Tagen in deutscher Übersetzung.1 Im Zentrum der Analyse steht dabei für die Autoren der Zerfall traditioneller Gesellschaftsallianzen, die über Jahrzehnte die politische Landschaft in Frankreich strukturierten: des rechten und linken Blockes. Es waren zwei gesellschaftliche Bündnisse, die jeweils sehr unterschiedliche Klasseninteressen und Milieus integrierten – vom Arbeiter zum Beamten auf der einen Seite, vom Landwirt zum Unternehmer auf der anderen. Doch seit den 1980er Jahren traten ihre Widersprüche immer deutlicher hervor, die sich insbesondere in Fragen der europäischen Integration am deutlichsten zeigten. Die bürgerlichen Wähler befürworteten eine vertiefte transnationale Kooperation und die damit verbundenen Reformen, die »einfachen Schichten« dagegen wandten sich früh gegen die EU, die ihnen vor allem als Bedrohung des französischen Sozial1 

Bruno Amable u. Stefano Palombarini, Von Mitterand zu Macron. Über den Kollaps des französischen Parteiensystems, Berlin 2018.

modells entgegentrat. Je länger dieser Konflikt währte, umso stärker lähmte er die beiden Lager. Emmanuel Macron gelang es, diese marode Ordnung zu zerschlagen, weil er die europäische Frage ins Zentrum stellte: für Europa oder dagegen. Entlang dieser Frage formte Macron schließlich seine Robert Pausch  —  Teil der Lösung oder Teil des Problems?

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Wählerallianz: den »bürgerlichen Block«. Für die oberen Schichten aus dem rechten und linken Lager wirkte Macrons neue Bewegung wie ein Magnet und weder die französischen Sozialisten noch die Konservativen waren in der Lage, dem Charme der neuen Eindeutigkeit etwas entgegenzusetzen. Allerdings entstand in dieser neusortierten Parteienlandschaft keineswegs ein gleicheres und gerechteres System der Repräsentation. Im Gegenteil: Überwunden geglaubte Klassenkonflikte treten wieder als tiefe Gräben hervor. Dabei gibt es zum bürgerlichen Block kein soziologisches Gegenüber. Die »einfachen Schichten«, schreiben Amable und Palombarini, seien vielmehr lebensweltlich zerklüftet, politisch apathisch und tief gespalten. Und so regiere in Frankreich eine gut organisierte und wahlfreudige Minderheit über eine uneinige Mehrheit. In Deutschland sollte man derzeit also aufmerksam auf Frankreich schauen. Denn die Konflikte, die in Frankreich das politische System durcheinandergewirbelt haben, sind auch hierzulande als untergründige Spannungen zu spüren. Dass auch in Deutschland die politischen Lager ihre Bindungskräfte verlieren, ist nicht erst seit gestern bekannt, doch hat sich die Entwicklung durch die diversen Beinahe-Brüche und Noch-einmal-Kompromisse der großen Koalition in diesem Jahr rasant beschleunigt. Union und SPD liegen in Umfragen zusammen derzeit deutlich unter fünfzig Prozent. Von ihrem Niedergang profitieren insbesondere die AfD auf der einen Seite, die Grünen auf der anderen, jene Pole eines Parteiensystems also, das sich – ähnlich wie das französische – zunehmend an Fragen der Illiberalität und Liberalität spaltet. Gewinnen können also die Parteien, die diese beiden Pole am klarsten besetzen, und im Übrigen in ihren Wählerstrukturen Macrons La République En Marche und dem Rassemblement National sehr ähnlich sind. Gewiss unterscheidet sich das französische Präsidialsystem vom deutschen Parteienstaat. Aber in beiden großen europäischen Ländern wachsen die Zentrifugalkräfte und die bestehenden Formationen scheinen immer weniger in der Lage, Konflikte zu integrieren. Für eine linke Sammlungsbewegung stellt sich, ob in Frankreich oder Deutschland, somit die zentrale Frage, wie man sich in dieser zunehmend unübersichtlichen Landschaft verortet. Wen man sammeln will, bedeutet auch: Welches Gesellschaftsbündnis strebt die Bewegung an? Amable und Palombarini skizzieren für die französische Linke zwei Optionen: Sie kann versuchen, den alten »linken Block« wiederzubeleben oder daran arbeiten, eine neue »souveränistische Allianz« der unteren Schichten zu formen. Sahra Wagenknecht und ihre Mitstreiter changieren zwischen diesen beiden Projekten. Mal sprechen sie von einer »neuen linken Volkspartei«, bei der grundsätzlich »alle« willkommen seien. Dann wieder verschärfen sie

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Sammlungsbewegung — Analyse

den Ton gegen eine »linksliberale Moral«, hinter der sich bloß die Besitzinteressen der Herrschenden verbergen. Amable und Palombarini weisen in ihrem Buch jedoch auch auf die Probleme einer solchen neuen souveränistischen Allianz hin. Sowohl Marine Le Pen als auch Jean-Luc Mélenchon versuchen sich in Frankreich jeweils mit anderen Akzenten an einem Bündnis, das nicht bloß »jenseits von links und rechts«, sondern vor allem in klarer Opposition zum bürgerlichen Block steht. Doch auch die unteren Schichten sind in den Werteinstellungen und ihren ökonomischen und kulturellen Präferenzen keineswegs homogen. Hinzu kommt: Wer wirklich auf eine Allianz der unteren Schichten zielt, der müsste wohl nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell ein entsprechendes Angebot unterbreiten. Aber auch eine dem Anspruch nach »neue linke Volkspartei« stünde vor den gleichen Problemen wie die hergebrachten Parteien: unterschiedlichen Wählermilieus, mit unterschiedlichen Erwartungen, deren Widersprüche immer schwerer ausgeglichen werden könnten – zumindest solang der migrationspolitisch-kulturelle Konflikt das Synonym für Politik bleibt. Es ist das Dilemma der Linken: Ihr altes Gesellschaftsbündnis ist verloren, ein neues aber nicht in Sicht, und auch die Sammlungsbewegung positioniert sich noch im Ungefähren. So bleibt für Sahra Wagenknecht und ihre Mitstreiter – zumindest kurzfristig – vor allem ein Ausweg: Ein ökonomisch zugespitztes Programm, durchaus auch radikaler als die Vorschläge der Linkspartei, das versucht, eine neue Konfliktdynamik zu erzeugen. Jeremy Corbyn ist in Großbritannien auch darum erfolgreich, weil er eine klare Positionierung zum zentralen Brexit-Thema stets vermied. Schließlich ist ihm bewusst, dass seine Wählerschaft sich exakt an dieser Frage trennt und dass sich sein fragiles Bündnis aus neuen und alten Linken nur aufrechterhalten lässt, wenn er stattdessen das einigende Thema kollektiver sozialer Sicherheit betont. Sollte dies allerdings zum Konzept für die Sammlungsbewegung werden, müssten Wagenknecht und ihre Mitstreiter ihre obsessive Beschäftigung mit dem urbanen Linksliberalismus herunterdimmen, sie bräuchten eine migrationspolitische Position, die ausreichend Spielraum zu beiden Seiten lässt und eine Strategie, wie sich Klassenkonflikte neu entfachen lassen – und nicht zuletzt ginge es irgendwann auch um die Frage der Wählbarkeit der Bewegung, die intern freilich bereits diskutiert wird. Was dann aus dem Robert Pausch, geb. 1991, ist Autor im Politik­ressort der ZEIT.

neuen Projekt wird, das lässt sich derzeit noch kaum vorhersagen. Doch wenn man es vorhersagen könnte, wäre es dann wirklich neu?

Robert Pausch  —  Teil der Lösung oder Teil des Problems?

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»AUFSTEHEN« GEGEN DIE GESELLSCHAFTLICHE SPALTUNG UND DEN RECHTSRUCK ΞΞ Christoph Butterwegge

Am 4. September 2018 wurde die überparteiliche Sammlungsbewegung namens »Aufstehen« in Berlin offiziell gegründet, nachdem ihre beiden Hauptinitiatoren Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht die Webseite der Initiative einen Monat zuvor freigeschaltet und Zehntausende daraufhin ihre Bereitschaft zur Mitarbeit signalisiert hatten. Hier sollen die gesellschaftlichen, sozialökonomischen und politischen Rahmenbedingungen des in der (Medien-)Öffentlichkeit heftig umstrittenen Projekts analysiert werden. Dafür sind (Krisen-)Prozesse auf drei Untersuchungsebenen von größter Bedeutung, weshalb sozioökonomische Veränderungen seit der Jahrtausendwende, Umbrüche des politischen bzw. Parteiensystem und Entwicklungstendenzen der politischen Kultur im Mittelpunkt stehen. Anschließend werden programmatische Ansatzpunkte für eine solche Bewegung skizziert und deren Erfolgsaussichten diskutiert. SOZIALE POLARISIERUNG, FRAGMENTIERUNG DES PARTEIEN­ SYSTEMS UND POLITISCHE RECHTSENTWICKLUNG Seit geraumer Zeit wächst die soziale Ungleichheit – in Deutschland ebenso wie fast überall auf der Welt. Mittlerweile ist die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich das Kardinalproblem der Bundesrepublik. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben während ihrer gemeinsamen Regierungszeit durch die »Agenda«-Reformen zur sozialen Polarisierung beigetragen; die SPD hat sie in der Großen Koalition mit der Union zementiert. Die soziale

und sozialräumliche Spaltung zieht auch eine politische Spaltung der Gesellschaft nach sich: Zumindest ganz Reiche sind auch politisch einflussreich, wohingegen sich Arme ohnmächtig fühlen und ihre Interessen parlamentarisch nicht mehr vertreten sehen. Sie nehmen zudem kaum noch an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen teil: Mancherorts ist die Wahlbeteiligung in den Villenvierteln um vierzig Prozentpunkte höher als in abgehängten Quartieren. Wie das Beispiel der gestiegenen Wahlabstinenz zeigt, führt die soziale Polarisierung in letzter Konsequenz zur Entpolitisierung und damit auch zu einer Krise der repräsentativen Demokratie, die im

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INDES, 2018–3, S. 130–134, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2191–995X

Kern getroffen wird, wenn sich nicht mehr alle Bevölkerungsschichten am politischen Leben beteiligen. Aufgrund der globalen Finanzkrise 2008/09 ist das Aufstiegsversprechen »Wer sich anstrengt, fleißig ist und etwas leistet, wird mit lebenslangem Wohlstand belohnt« der Abstiegsangst vieler Mittelschichtangehöriger gewichen, die fürchten müssen, trotz guter beruflicher Qualifikation und harter Arbeit ihren sozialen Status zu verlieren. Da die soziale Aufstiegsmobilität nachgelassen hat, saugen rechtspopulistische Parteien wie die Alternative für Deutschland (AfD) und offen rassistische Gruppierungen wie die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« ( PEGIDA) Honig aus der zunehmenden Verteilungsschieflage, die ihre demagogische Propaganda als Ergebnis der Machenschaften einer korrupten Elite und einer Welle der Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme (»Flüchtlingskrise«) deutet. Arbeitsmigranten, Geflüchtete und Muslime werden damit zu Sündenböcken für die Zunahme der sozialen Ungleichheit gemacht. Ein wesentlicher Grund für die Erfolge ultrarechter Gruppierungen liegt im Fehlen eines überzeugenden Alternativkonzepts der Linken und einer mächtigen Gegenbewegung. Seit die AfD in das Europaparlament, in sämtliche Landtage und den Bundestag eingezogen ist, hat sich Deutschland tiefgreifend verändert. Sein parlamentarisches Regierungs- und Parteiensystem, jahrzehntelang ein wahrer Hort der Stabilität, franst am Rand aus und scheint ebenso beschädigt worden zu sein wie die politische Kultur und das soziale Klima. SAMMLUNG ODER ZERSPLITTERUNG DER LINKEN? Die gegenwärtige Sinnkrise und Formschwäche der Linken kann auch mit strategischen Fehlorientierungen angesichts der vermehrten Fluchtmigration im Jahr 2015 zusammenhängen. Innerhalb der LINKEN wirkt die Forderung nach »offenen Grenzen«, so richtig sie grundsätzlich ist, als politischer Spaltpilz. Ein typischer Vorwurf der Kritiker/innen lautet, dass Multikulturalität, Diversität und Identitätspolitik die Partei von einer konsequenten Vertretung der Interessen deutscher Arbeiter/innen, Prekarisierter und Transferleistungsbezieher/innen abgehalten und sie deshalb trotz der Krisenhaftigkeit des Finanzmarktkapitalismus keine Stimmengewinne zu verzeichnen habe. Über den Flüchtlingen, heißt es polemisch zugespitzt, hätten das liberale Bürgertum, die urbanen Milieus der »Globalisierungsgewinner« und die linken Intellektuellen die »eigenen« Armen vergessen. Nur auf der Erscheinungsebene, die Rechtspopulisten beim Kernthema »Fluchtmigration« zum Ausgangspunkt ihrer Argumentation, Agitation und Propaganda machen, stehen sich arme Einheimische und »illegale Christoph Butterwegge — »Aufstehen«

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Einwanderer« als Konkurrenten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie um staatliche Leistungen gegenüber. Wenn man jedoch »hinter die Kulissen« schaut, tritt der grundlegende Interessengegensatz zwischen armen Einheimischen und Geflüchteten einerseits sowie Kapitaleigentümern, ihren Verbänden und Lobbyisten andererseits zutage. Da die Abstiegsbetroffenen oder -bedrohten den systemisch bedingten Zusammenhang zwischen eigenen Problemen und dem Flüchtlingselend aber schwer zu erkennen vermögen, kann eine »linkspopuläre« Formation eine Schlüsselfunktion als politische Auffangstation für verunsicherte Anhänger/innen und enttäuschte Wähler/ innen der Linken erfüllen, die sonst womöglich den Schalmeienklängen der AfD-Propaganda erliegen würden. Man sollte die Befürworter/innen einer »linkspopulären« Politik nicht an den Pranger stellen bzw. in die Nähe des Rechtspopulismus rücken, weil das eine Verharmlosung der AfD bedeuten würde, aber auch, weil ihr Argument

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Sammlungsbewegung — Analyse

ernstgenommen werden muss, dass Staatsgrenzen in entwickelten Industrie­ ländern nicht zuletzt der Fortexistenz des Sozialstaates dienen, der durch »ungeregelte Massenmigration« gefährdet wäre. Wer offene Grenzen für alle fordert, wie die große Mehrheit der LINKEN und der Bündnisgrünen, steht denjenigen, die offene Grenzen aufgrund ihrer »linkspopulären« Position nur für politisch Verfolgte akzeptieren, sehr viel näher als denjenigen, die keinen Flüchtling mehr aufnehmen, die im Land befindlichen »illegalen Einwanderer« abschieben und möglichst alle Staaten der Welt zu sicheren Herkunftsländern erklären möchten. Vielleicht ist, wer am Asylgrundrecht festhält, aber die Forderung nach offenen Grenzen für alle – mithin auch Menschen, die sich vom Wohnsitz in einem ökonomisch höher entwickelten Land »nur« ein besseres Leben erhoffen – als illusionär oder vorerst unerfüllbar verwirft, nicht »rechts«, sondern angesichts der gegenwärtigen Macht- und Mehrheitsverhältnisse sogar realistischer. RISIKEN, CHANCEN UND FUNKTIONEN Eine progressive Bewegung darf nicht zu einer Schwächung der Linken beitragen, muss ihr vielmehr bisher Desorientierte und Unorganisierte zuführen und auf diese Weise neuen Schwung verleihen. Aufstehen orientiert sich an zwei ausländischen Vorbildern, dem zur Unterstützung Jeremy Corbyns im Kampf um die Labour-Spitze gegründeten »People’s Momentum« und Jean-Luc Mélenchons »La France insoumise« (Unbeugsames Frankreich), ist jedoch weder auf die Sozialdemokratie als Partei orientiert, noch gleicht das deutsche Wahlsystem dem französischen. Sie wendet sich nicht bloß an Mitglieder der LINKEN, der SPD und der Bündnisgrünen, sondern auch an parteipolitisch Ungebundene sowie nicht zuletzt prominente Unterstützer/ innen im Bereich von Medien, Wissenschaft und Kultur. Die größte Gefahr, der Aufstehen in nächster Zukunft ausgesetzt ist, sind linkssektiererische Anwandlungen und Ausgrenzungsbemühungen. Nötig ist daher ein programmatischer Minimalkonsens, der keine potenziellen Mitstreiter/innen abschreckt, aber auch nicht so inhaltsleer ist, dass keine Lust auf verstärktes Engagement geweckt wird. Eine progressive Bewegung darf nicht im eigenen Saft schmoren, sollte niemanden ausschließen, der ihre Ziele unterstützt, und muss drei Kernaufgaben erfüllen: 1. Die soziale Spaltung und die Armen als deren Hauptbetroffene müssen ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt, Lösungen des Problems der wachsenden Ungleichheit im Sinne einer Agenda der Solidarität gefunden und die drei Referenzparteien (SPD, Bündnisgrüne und Christoph Butterwegge — »Aufstehen«

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LINKE) immer wieder mit ihren hehren programmatischen Ansprüchen konfrontiert werden, was die Vertretung der Interessen von Niedriglöhner(inne)n, prekär Beschäftigten, Altersrentner(inne)n und Transferleistungsbezieher(inne)n betrifft. Statt die Armen gegen die noch Ärmeren auszuspielen, sollte die Linke beide Personengruppen im Ringen um mehr Rechte, soziale Besserstellungen und gesellschaftlichen Fortschritt verbindende Forderungen aufstellen. Das bietet sich auch im Sinne der internationalen Solidarität und einer gemeinsamen Frontstellung im Kampf um Arbeitsplätze, höhere (Mindest-)Löhne, bezahlbare Wohnungen und existenzsichernde Transferleistungen an. 2. Bewegungsarmut macht Menschen krank und Gesellschaften unfähig, neuen Herausforderungen zu begegnen. Eine außerparlamentarische Opposition gegen die Große Koalition hat etwas Faszinierendes, auch wenn kein »neues ’68« vor der Tür steht. Damit der Druck auf die Regierenden nicht wie zuletzt primär von rechten Aufmärschen ausgeht, muss eine progressive Bewegung auf der Straße präsent sein, systematisch Aufklärung im Hinblick auf Rassismus und Antisemitismus, völkischen und Standortnationalismus, Sozialdarwinismus, Biologismus und Sexismus leisten sowie Staat und Verwaltung, Bildungsinstitutionen und Medien im Sinne eines zeitgemäßen Antifaschismus zu beeinflussen suchen. 3. Die Alternativen heißen »Rüstungs- oder Sozialstaat?«, weil letzterer bei massiver Aufrüstung erfahrungsgemäß als »Sparschwein der Nation« dient. Wenn die Union als führende Regierungspartei den Rüstungshaushalt der gültigen NATO-Zielprojektion von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprechend – Donald Trump fordert bereits 4 Prozent – bis zum Jahr 2024 verdoppelt, wird das zulasten des Sozialstaates gehen. Auch jeder weiteren Militärintervention der Bundeswehr muss sich eine progressive Bewegung entgegenstellen, ganz egal, ob sie im Rahmen der NATO oder einer »Koalition der Willigen« unter Führung der USA erfolgt.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge, geb. 1951, lehrte von 1998 bis 2016 an der Universität zu Köln. Zuletzt erschienen seine Bücher »Armut«, 3. Aufl. Köln 2018; »Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?«, 3. Aufl. Weinheim/Basel 2018; »Krise und Zukunft des Sozialstaates«, 6. Aufl. Wiesbaden 2018; »Auf dem Weg in eine andere Republik? – Neoliberalismus, Standort­ nationalismus und Rechtspopulismus«, Weinheim/Basel 2018; »Rechtspopulisten im Parlament. Provokation, ­Agitation und Propaganda der AfD«, Frankfurt am Main 2018; »Grundeinkommen kontrovers. Plädoyers für und gegen ein neues Sozialmodell«, Weinheim/Basel 2018.

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Sammlungsbewegung — Analyse

LINKE SAMMLUNGS­ BEWEGUNG? IM PRINZIP: JA! – ABER SO?! ΞΞ Horst Heimann

Im Prinzip können alle, die sich politisch links von den Unionsparteien einordnen, dem von Sahra Wagenknecht u. a. im Spiegel formulierten Ziel der linken Sammlungsbewegung »#aufstehen« zustimmen: »Unser Ziel sind natürlich andere politische Mehrheiten und eine neue Regierung mit sozialer Agenda.«1 Konkret bedeutet das eine Mehrheit für SPD, Grüne und LINKE im Bundestag und eine Regierungskoalition dieser drei Parteien. DILEMMATA DER PLURALEN LINKEN Eine Mehrheit freilich, die sie bisher entweder nicht organisiert bekommen oder aber nicht für eine soziale Agenda genutzt haben. Während die drei Parteien unfähig und unwillig waren, die bis September 2017 im Bundestag bestehende Mehrheit in eine Koalitionsregierung »mit sozialer Agenda« zu verwandeln, scheiterte ironischerweise die zwischen 1998 und 2005 bestehende rot-grüne Mehrheit mit der Hartz-Gesetzgebung an einer »sozialen Agenda«.2 Zwar wurde Rot-Rot-Grün nach Bildung der Großen Koalition 2005 und auch während Schwarz-Gelb (2009–2013) für Linke zu einem Hoffnungsschimmer, doch als Sahra Wagenknecht und ihre Unterstützer ihr Projekt im Spiegel vorstellten, urteilte die Redaktion des Wochenmagazins nüchtern-realistisch: »Rot-Rot-Grün […] ist im 14. Jahr der Regierung Merkel endgültig 1 

Nicola Abé, Linker Zeitgeist, in: Der Spiegel, 04.08.2018.

2  In der Nachwahlbefragung zur Bundestagswahl 2009 gaben 67 Prozent der Befragten an, die SPD habe »ihre sozialdemokratischen Ziele aufgegeben«, vgl. http://wahl.tagesschau.de/ wahlen/2009–09–27-BT-DE/umfrage-aussagen.shtml [eingesehen am 26.09.2018]. Sie folge also eher einer »asozialen Agenda«.

zum Phantom geworden.«3 Die aktuellen Diskussionen drehen sich darum, ob diese Sammlungsbewegung dazu beiträgt, Rot-Rot-Grün von einem Phantom wieder zu einer Hoffnung zu machen – oder ob sie eher dessen Totengräber zu werden droht. Kein Phantom dagegen ist der Politikwechsel nach rechts. Wenn das auch von vielen Linken erhoffte »Ende der Ära Merkel« endlich eintritt, könnten alsbald Leute wie Friedrich Merz und Jens Spahn die »Richtlinien der Politik bestimmen«. Eine reale Chance für einen Politikwechsel nach links müsste die plurale Linke erst in einem Erneuerungsprozess mühsam herstellen. Daran wollen

3  Nicola Abé u. a., ­Aufstehen für Sahra, in: Der Spiegel, 04.08.2018.

die Unterstützer Wagenknechts aus den drei linken Parteien aktiv mitwirken. Politiker der SPD (Marco Bülow), der Grünen (Antje Vollmer) und der Linken

INDES, 2018–3, S. 135–145, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2191–995X

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(Sevin Dagdelen) beklagen in ihrem Gastkommentar in der gleichen Ausgabe des Spiegel »die larmoyante Grundhaltung« der linken Parteien und hoffen, mit der linken Sammlungsbewegung »einen Raum für eine wirklich offene Debatte zu schaffen darüber, wie das Gegenkonzept zum herrschenden Politikmodell der vergangenen dreißig Jahre aussehen könnte.«4 Dafür bedarf es einer unabdingbaren Voraussetzung: Alle drei Parteien müssen glaubwürdig mit der neoliberalen Politik brechen und den Wählern eine nach links gerückte Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik anbieten. Diese Voraussetzung erfüllen die Politiker dieser drei Parteien insoweit, als sie z. B. fordern, »der Staat (müsse) wieder zum Instrument der öffentlichen Daseinsvorsorge und des Schutzes für die Schwachen und die Globalisierungsverlierer werden«, sowie angesichts eines neuen Kalten Krieges »außenpolitisch die Rückkehr zur Friedens- und Entspannungspolitik«5 betreiben. Sahra Wagenknecht begründet mit guten Argumenten, dass eine Bewegung für eine »soziale Agenda« durchaus mehrheitsfähig wäre: »Eine Mehrheit will mehr sozialen Ausgleich, höheren Mindestlohn, armutsfeste Renten, eine Vermögenssteuer für Superreiche, keine Aufrüstung.«6 Zutreffend ist auch ihre Feststellung, dass sich diese Mehrheitsmeinung »politisch nicht abbildet«. Denn: »Gerade Ärmere vertrauen den Parteien des linken Lagers nicht mehr.«7 Kann die »linke Sammlungsbewegung« also dazu beitragen, dass die drei Parteien nach links rücken und verlorenes Vertrauen zurückgewinnen, sodass sich die linke Mehrheitsmeinung des Volkes wieder in linken Mehrheiten der Volksvertreter abbildet? Gegenwärtig ist die spektakuläre Aufmerksamkeit für die linke Sammlungsbewegung in allen Medien, auch den eher rechten, sehr viel größer als die Bereitschaft einer ausreichenden Zahl von Politikern dieser drei Parteien, aktiv in ihr mitzuarbeiten. Grund dafür sind gravierende Meinungsverschiedenheiten vor allem mit Sahra Wagenknecht, da diese bisher kaum als faire Streiterin für eine rot-rot-grüne Kooperation und Koalition aufgefallen ist. Das dokumentiert sehr anschaulich ein Bericht über ein Treffen von »prominenten Vertretern von SPD, Linken und Grünen«, die »über die Möglichkeit einer zukünftigen Koalition« sprachen.8 Zur Veranstaltung »Hoffnung Mitte-Links« eingeladen hatte Stefan Liebich von der Linken, auch die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock und der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert nahmen teil. Dieser nannte folgende Formulierung von Wagenknecht

4  Ebd. 5  Ebd. 6  Ebd. 7 

Ebd.

»gefährlich« und »perfide«: »Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz sind das Wohlfühl-Label, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren und ihren Nutznießern ein gutes Gewissen zu bereiten.«

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Sammlungsbewegung — Analyse

8  Markus Decker, Linkes Bündnis angestrebt, in: Frankfurter Rundschau, 05.07.2018, S. 5.

Kühnert befürchtet zu Recht, dass Wagenknecht mit dieser Haltung »noch mehr Spaltung in der Gesellschaft« provoziere. Dem möchte ich noch zuspitzend hinzufügen: Wer »Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz«, also unverzichtbare linke Werte, so perfide diffamiert, hat eine rote Linie überschritten und ist für Linke nicht mehr bündnisfähig. Im Interview mit dem Spiegel vom 4.8.2018 verkündete Wagenknecht zudem eine AfD-Lügenparole als linke Wahrheit: »Die Regierung Merkel hat die Flüchtlingskrise so gemanagt, dass sie vor allem zulasten der Ärmeren ging.« Gegen diese Behauptung müssen alle Linken das Argument unterstützen, mit dem linke CDU-Politiker Merkel gegen die Parolen ­Seehofers und der AfD verteidigen: Wegen der Flüchtlinge ist noch keine einzige Sozialleistung gekürzt worden. DAS GEFÄHRLICHE GEREDE VOM KOMMUNITARISMUS Wagenknechts Agitation gegen die »grenzenlose Willkommenskultur« und gegen Merkels Flüchtlingspolitik, auch ihre medienwirksame organisatorische Initiative #aufstehen sind nur die Spitze eines Eisbergs und eher harmlos. Die eigentliche Bedrohung für die plurale Linke ist eine neue Wissenschaftsmode, die neben der alten gesellschaftlichen Konfliktlinie »links versus rechts« eine neue entdeckt hat, nämlich »Kommunitarismus versus Kosmopolitismus«. Pointiert gesagt: »kosmopolitisch weltoffen« (laut Wagenknecht die Profiteure der wachsenden Ungleichheit, die bösen Eliten) versus »kommunitaristisch«, orientiert an überschaubaren homogenen Gruppen (das gute Volk). Diese wissenschaftliche Mode wird im Zusammenhang mit der Sammlungsbewegung parteipolitisch instrumentalisiert. Mit dem Buch »Linkspopulär – Vorwärts handeln, statt rückwärts denken« von Andreas Nölke, der am »Gründungsmanifest« für #aufstehen mitarbeitete, stach am 18.1.2018 das Rettungsschiff des Kommunitarismus in See, mit dem Auftrag, die in Seenot geratene SPD vor dem Untergang zu retten. Die Quintessenz seines Buches ist enthalten in seinem Beitrag in der Onlinezeitschrift »IPG – Internationale Politik und Gesellschaft«, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegeben wird: Nur ein »Kurswechsel zu einer linkspopulären Position«, heißt es da, könne den Abstieg der SPD stoppen und zu ihrem Wiederaufstieg führen. Da seine Aussagen zur Sozial-, Wirt9  Andreas Nölke, Die linkspopuläre Option, in: IPG-Journal, 30.01.2018, URL: https:// www.ipg-journal.de/rubriken/ soziale-demokratie/artikel/ die-linkspopulaere-option-2562/ [eingesehen am 26.09.2018].

schafts- und Finanzpolitik eindeutig links vom Mainstream der SPD liegen, wirkt sein Angebot tatsächlich »linkspopulär« und für Linke attraktiv.9 Die zweite Dimension seiner Vorschläge für die Rückgewinnung verlorener Wähler allerdings stimmt überein mit den »linkspopulären« Argumenten von Wagenknecht und den »rechtspopulären« Argumenten von Seehofer und Horst Heimann  —  Linke Sammlungs­b ewegung?

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Orban gegen Merkels Flüchtlingspolitik: Um verlorene Wähler zurückzugewinnen, müsse die SPD demnach »nicht nur sozioökonomisch eine konsequente Politik für die unteren fünfzig bis sechzig Prozent der Bevölkerung machen, sondern auch jenen Menschen entgegenkommen, die Vorbehalte gegenüber einer ungebremsten Globalisierung hegen. Große Teile der Bevölkerung […] sorgen sich ja um die langfristige Schwächung des Sozialstaats durch Migration und eine supranational-liberalisierende EU.«10 Diesen Sorgen der Bevölkerung müsste die SPD in der Tat »entgegenkommen«, und zwar indem sie mit Fakten und Argumenten diese Menschen überzeugt, dass nicht durch Migration, sondern durch neoliberale Politik der Sozialstaat weiter geschwächt wird. Doch Nölke empfiehlt der SPD, diese Menschen in ihrem Irrtum zu bestärken und ihnen zu versprechen, gegen die Flüchtlinge mehr zu tun als Merkel und mit dem Kampf gegen Flüchtlinge die Schwächung des Sozialstaats zu verhindern. Diese Argumentation für einen Kurswechsel der »kosmopolitisch ausgerichteten SPD« zu einer »linkspopulären Position« ist keineswegs neu, sondern seit Beginn der Großen Koalition gut bekannt. Im Beitrag für die IPG fasst Nölke seine Argumentation zusammen: »Kommunitaristisch orientierte Menschen legen Wert auf den Schutz von Demokratie und sozialer Sicherheit auf nationaler Ebene, sie stehen offenen Grenzen […] und einer weiteren Stärkung der supranationalen Elemente der EU skeptisch gegenüber.« Woraufhin er argumentiert, das »kosmopolitisch-linke Spektrum« sei durch die drei linken Parteien »dicht besetzt«. Und da es keine »linke kommunitaristische Partei« gibt, entstehe für viele Linke ein Dilemma: »Alle Wähler, denen eine eher kommunitaristische Ausrichtung wichtig ist, müssen bisher die AfD wählen, auch wenn sie deren chauvinistische und mitunter rassistische Ausrichtung ablehnen«11. Nölke fordert: Alle linken Parteien müssen auf dem Gebiet der internationalen Politik und vor allem der Flüchtlingspolitik sehr weit nach rechts rücken, um die AfD zurückzudrängen. Von der AfD allerdings könnte die SPD durch ein »kommunitaristisches« Angebot auch deshalb keine Wähler zurückgewinnen, weil fast hundert Prozent der Wähler, denen Nölke »entgegenkommen« möchte, das Wort »Kommunitarismus« noch nie gehört haben. Seine »Kommunitarismus-Argumentation« zielt mithin gar nicht auf die verlorenen Wähler, sondern auf die viel gescholtenen Hochschulabsolventen im Funktionärskörper, die in einer intellektuellen Wüste den »Kommunitarismus« für eine Oase halten und mit dieser Waffe aufgerüstet die »linkspopuläre Wende« der SPD durchsetzen möchten. In der Tradition kommunitaristischer Liberalismuskritik argumentiert auch Nils Heisterhagen in seinem Buch »Die liberale Illusion – Warum wir einen

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Sammlungsbewegung — Analyse

10 

Ebd.

11 

Ebd.

linken Realismus brauchen.«12 Nur ignoriert er hierbei die Theoriegeschichte der SPD: Schon Bernstein hatte die Entartung des Liberalismus zur Rechtfertigungsideologie für die ökonomisch herrschende Klasse kritisiert, aber den progressiv-linken Kern des geistig-politischen Liberalismus in der Tradition der Aufklärung erneuert und als bereicherndes Element in die Theorie des Demokratischen Sozialismus integriert. Heisterhagen dagegen verwirft – schon mit dem Titel »Die liberale Illusion« – die ursprünglich linke und progressive Idee des Liberalismus insgesamt und distanziert sich von den Werten der westlichen liberal-pluralistischen Gesellschaft, wenn er zustimmend die Kritik an einer »nicht zu hinterfragenden Sakrosanktsprechung einer pluralistischen, multikulturellen, liberalen Zuwanderungsgesellschaft und des Projekts der Diversity«13 zitiert. Seine Alternative für die von ihm abgelehnte »pluralistische, multikulturelle liberale Zuwanderungsgesellschaft« nennt er »republikanischen Universalismus« bzw. »kommunitaristischen Universalismus«.14 Dabei hofft er auf Hilfe von »Sahra Wagenknecht, die unentwegt für einen realistischen Kurs in der Einwanderungspolitik warb.«15 Doch die SPD würde keine Wähler zurückgewinnen, wenn sie sich der breiten »Volksfront von ganz links bis ganz nach rechts« anschließen würde. Auch eine Distanzierung vom inkriminierten »Kosmopolitismus« würde der SPD keine verlorenen Wähler zurückbringen, aber ganz sicher viele Wähler und Mitglieder veranlassen, sich endgültig von der nach rechts schwenkenden SPD zu verabschieden. Die unterschiedlichen Meinungen zur Europa- und Flüchtlingspolitik markieren die entscheidende normative Trennlinie zwischen einem linken Lager in der Tradition der Aufklärung – und einem offensiven rechten Lager, das mit dieser Tradition gebrochen hat und die progressiven Entwicklungstendenzen in eine regressive Richtung umlenkt. Wenn #aufstehen sich diesem regressiven Lager anschließt, ist die rote Linie überschritten. Nur wenn der versprochene demokratische Diskussionsprozess zu dem Ergebnis führt, dass sich das endgültige Programm eindeutig gegen Renationalisierung, gegen 12  Nils Heisterhagen, Die liberale Illusion – Warum wir einen linken Realismus brauchen, Bonn 2018.

nationale Abschottung und für humane Flüchtlingspolitik ausspricht, kann die Sammlungsbewegung die plurale Linke zusammenführen und stärken. Ein Beitrag für eine klärende Diskussion in diese Richtung hätte die Wortmeldung des linken Sozialdemokraten Peter Brandt sein können. Wie Nölke

13 

Ebd, S. 273.

14 

Ebd, S. 273.

15 

Ebd, S. 22.

und Heisterhagen hat auch er in der IPG einen Beitrag (»Wir brauchen eine linke Ökumene – Plädoyer für eine Sammlungsbewegung links der Mitte«, vom 8.8.2018) publiziert. Seine Forderungen einer sozial-, wirtschafts- und sozialpolitischen Linkswende stimmen nicht nur überein mit den Positionen Horst Heimann  —  Linke Sammlungs­b ewegung?

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der anderen Protagonisten der Sammlungsbewegung, sondern auch – von ihm jedoch unerwähnt – mit vielen Diskussionsbeiträgen und Beschlüssen innerhalb der SPD. Jedoch: Seine enttäuschenden Ausführungen zu »Kosmopolitismus«, Flüchtlingsfrage, Rechtspopulismus, europäischer Integration und Aufwertung der Nation tragen leider nicht dazu bei, die Widersprüche und inakzeptablen Aussagen im bisherigen politischen Angebot zu korrigieren, sondern zementieren diese eher. So übernimmt er unkritisch die politisch instrumentalisierte wissenschaftliche Modethese von den »neuen gesellschaftlichen Konfliktlinien«, vor allem zwischen »gut ausgebildeten und mobilen ›Kosmopoliten‹ mit überdurchschnittlichem Einkommen« einerseits und »Kommunitaristen«, den Multikulturalismus ablehnenden »Verlierern der Globalisierung« andererseits.16 RECHTS OBEN VS. LINKS UNTEN? Dieses Konzept führt jedoch dazu, die soziale Realität und das Verhalten der Menschen eindeutig falsch zu interpretieren, um bestimmte politische Ziele als linke Politik zu rechtfertigen. Eindeutig falsch beispielsweise sind die Behauptungen, »Kosmopoliten« seien die Oberklasse, rechts und verfügten über »überdurchschnittliches Einkommen«, die »Kommunitaristen« dagegen wären »die Verlierer der Globalisierung« mit den niedrigen Einkommen und zugleich die Linken, zu denen natürlich vor allem die kommunitaristischen Protagonisten der linken Sammlungsbewegung gehörten. Aus welchen sozialen Schichten kommen die Initiatoren und Protagonisten von #aufstehen? Und welcher normativ-ethische Wertekanon wird in ihren Schriften und Aktionen erkennbar? Darüber informiert Adam Soboczynski in der Zeit vom 9.8.2018 in seinem Artikel »Das rote Sommermärchen. Um Sahra Wagenknecht und ihre Sammlungsbewegung ›Aufstehen‹ hat sich ein Zirkel von Intellektuellen und Künstlern formiert«, wonach die Protagonisten sozialstrukturell zu den »gut ausgebildeten und mobilen ›Kosmopoliten‹ mit überdurchschnittlichem Einkommen« gehören. Aber in der Dimension der persönlichen politischen Ideen und Werte ordnen sie sich ein bei den »Kommunitaristen«, die »Multikulturalismus ablehnen«, also in jene Wertegemeinschaft, die sie kategorisch den unteren Schichten unterstellen. Sie widerlegen also selbst – ohne es zu merken – die Hauptthese ihres wissenschaftlichen Glaubens, wonach die objektive soziale Lage die subjektiven Wertorientierungen determiniere. Wie sehen sie – objektiv zu den »mobilen ›Kosmopoliten‹ mit überdurchschnittlichem Einkommen« gehörend – ihr Verhältnis zur sozialen Mehrheit mit geringerem Einkommen, zu den unteren fünfzig bis sechzig Prozent der

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Sammlungsbewegung — Analyse

16 

Ebd., S. 7.

Bevölkerung? Auch darüber gibt der Artikel von Soboczynski Auskunft, der auf der Grundlage von Gesprächen mit Bernd Stegemann, Dramaturg am Berliner Ensemble und Co-Initiator von #aufstehen, entstanden ist. Die große Mehrheit der Bevölkerung spiele eine zentrale Rolle in der Argumentation der Elite von #aufstehen gegen Merkels Flüchtlingspolitik. Diese Mehrheit unterhalb der Oberschicht sei Opfer von Merkels liberaler Flüchtlingspolitik und #aufstehen solidarisch mit dieser Mehrheit im Kampf gegen diese Flüchtlingspolitik. Laut Stegemann ist »die Sammlungsbewegung mit einem Artikel von ihm im Feuilleton der ZEIT geboren worden«, der – im Frühjahr 2016 erschienen – einer der wenigen gewesen sei, »die die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin von linker Seite aus« angegriffen habe. Seine Solidaritätserklärungen mit den unteren Schichten der deutschen Bevölkerung haben durchaus anklagenden Charakter: »Wenn man als Akademiker in einer Eigentumswohnung lebt, ist es sehr gratismutig, eine Willkommenskultur zu fordern und die Nase über diejenigen zu rümpfen, die gegen ein Flüchtlingsheim protestieren, das in ihrem Wohnghetto gebaut wird.« Unerwähnt lässt Stegemann, dass es aus Villenvierteln prozentual mehr Menschen gab, die gegen Flüchtlingsheime protestierten. LINKE EINHEIT DURCH KRITIK AN NEOLIBERALISMUS UND GRENZÖFFNUNG? Um die umworbenen Linken zu locken, verbinden die Protagonisten von #aufstehen ihren Kampf gegen Merkels Flüchtlingspolitik mit radikal antikapitalistischen Argumenten und Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit. Mit der neoliberalen und rechtspopulistischen Behauptung, die Flüchtlinge seien schuld am Abbau des Sozialstaats, sind die Akteure der linken Sammlungsbewegung allerdings zu weit nach rechts gegangen. Wer angesichts der erschütternden Bilder vom Mittelmeer zynisch faselt, die »Seenotrettung ist ganz bestimmt nicht die entscheidende Zukunftsfrage«17, interessiert sich nicht für das, was für Zehntausende von Menschen über Leben oder Tod entscheidet und stellt sich damit auf die Seite der orbanisierten europäischen Regierungen. Auf der Grundlage dieses programmatischen Angebots kann die Sammlungsbewegung die gespaltene Linke nur noch weiter spalten und schwächen und ein »linkspopuläres« Programm, mit dem Nölke den Wiederaufstieg der SPD einleiten möchte, würde die Partei gar gänzlich überflüssig machen. 17  Zit. nach Adam ­Soboczynski, Das rote Sommermärchen, in: Die Zeit, 09.08.2018.

Denn ein Programm mit einem Teil links vom aktuellen Mainstream der SPD und einem zweiten Teil weit rechts von Merkels CDU würden gerade Horst Heimann  —  Linke Sammlungs­b ewegung?

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die unteren fünfzig bis sechzig Prozent der Bevölkerung für unglaubwürdig und unzumutbar halten. Muss dies das letzte Wort sein, oder gibt es in der Sammlungsbewegung Tendenzen und Personen, die die selbstzerstörerischen Widersprüche in den bisherigen Aussagen korrigieren möchten und damit Erfolg haben könnten? Peter Brandt etwa widerspricht bei der Frage nach dem Zusammenhang zwischen den Wahlerfolgen der Rechtspopulisten und der Flüchtlingsfrage der kommunitaristischen Erklärung, dass die Ausländer selbst die Ursache für zunehmende Fremdenfeindlichkeit seien. Darin artikuliere sich »nicht zuletzt eine simple Fremdenfeindlichkeit, die […] bekämpft werden muss.«18 Seiner Kritik an der neoliberalen Politik der EU ist zuzustimmen, aber er übersieht, dass seine »anti-kosmopolitischen« Mitstreiter nicht nur die verfehlte neoliberale Politik ablehnen, sondern die Integration überhaupt (etwa Nölke und die linke Initiative für den Austritt aus dem Euro), und zwar im Interesse einer kommunitaristischen Renationalisierung. Brandt ist sicher kein Befürworter der globalen Renationalisierung, aber sein emphatisches Lob für die Nation trägt nicht dazu bei, dem globalen Vormarsch des Rechtspopulismus erfolgreich entgegenzuwirken und die vergessene Tradition des linken Internationalismus zu revitalisieren: »Die Nation ist für die Mehrheit der Menschen überall auf der Welt weiterhin die primäre Bewusstseins-, Gefühls- und Kommunikationsgemeinschaft.«19 Zu hinterfragen ist auch sein internationalistischer Optimismus, dass diese Nationszentriertheit »nicht im Gegensatz stehen muss zu einem immer engeren europäischen Verbund.«20 In jedem Fall sollte man Brandts Forderung nach einer besseren linken Diskurskultur folgen: »Veränderung des […] Umgangs unterschiedlicher Parteien, Fraktionen und geistiger Strömungen untereinander […]. Differenzen nicht verwischend, aber offen, tolerant und kameradschaftlich in der Form. Ein solcher neuer, Diffamierungen und Rechthaberei hinter sich lassender Stil« wäre wichtig für die Diskussion über Politikbereiche, »wo konträre Sichtweisen bestehen«.21 TOTALITÄRE IDENTITÄTSPOLITIK Nicht nur beim Kommunitarismus, sondern auch bei der »Identitätspoli-

18  Peter Brandt, Wir brauchen eine linke Ökumene, in: IPG-Journal, URL: https://www. ipg-journal.de/rubriken/soziale-demokratie/artikel/wir-brauchen-eine-linke-oekumene-2910/ [eingesehen am 26.09.2018].

tik« können klamme Linke und Liberale Kredite aufnehmen, um ihre Abwehrkämpfe gegen den Rechtspopulismus intellektuell zu bewältigen. Die schon in ihrem Onlinejournal IPG mehrmals auf den solventen multinationalen Kreditgeber Kommunitarismus hinweisende Friedrich-Ebert-Stiftung wirbt auch für »Identitätspolitik«: Andrés Velasco, Ökonomieprofessor an

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19 

Ebd.

20  Ebd. 21  Ebd.

US-Eliteuniversitäten und von 2006–2010 Finanzminister in Chile, erwähnt in seinem Beitrag »Identitätsfindung«22 vom 21.8.2018 die rechten Tendenzen in der »Identitätspolitik«, die insgesamt sehr unterschiedlich sein können. Quasi als Brücke zum Kommunitarismus verweist er auf das Thema Flüchtlinge und fragt, ob »die enorme Gegenreaktion gegen die Einwanderung […] nicht die Geltendmachung einer Identität gegenüber anderen« sei. Diese Frage deutet eine zwiespältige Haltung an: Die »Geltendmachung einer Identität gegenüber anderen« ist natürlich positiv zu bewerten. Aber die Bezeichnung »enorme Gegenreaktion« ist ein wertfreier wissenschaftlicher Begriff u. a. für das Anzünden von Flüchtlingsheimen, Beleidigung, Verprügeln, Verletzen und Ermorden und im Mittelmeer ertrinken lassen von Flüchtlingen. Man kann annehmen, dass der Befürworter einer »Identitätspolitik« diese Folgen einer schlechten »Identitätspolitik« nicht für gut hält. Aber ähnlich wie Kommunitaristen ihren Anti-Kosmopolitismus begründen, sieht auch Velasco die Ursache für diese Entwicklung in der Globalisierung: »Je stärker die Wirtschaftsglobalisierung, desto stärker wird die Politik überall auf der Welt durch sehr lokale Identitäten bestimmt.«23 In vielen Beispielen erwähnt Velasco »die Gefahr, dass Identitäten zum eigenen politischen Nutzen manipuliert werden können, und genau das tun die Populisten.«24 Er erkennt also, dass »Identitätspolitik« eine Waffe ist, die den Rechtspopulisten im Kampf gegen die liberale Demokratie nutzt. Doch statt diese Waffe zu ächten, glaubt er, auch Demokraten könnten diese Waffe erfolgreich gegen Rechtspopulisten nutzen: »Nicht alle Formen der Identitätspolitik sind schädlich.« Angesichts des wachsenden »Misstrauens gegenüber Politikern sollte man sich freuen, wenn sich ein Wähler mit einem Kandidaten identifiziert.«25 Das muss man allerdings hinterfragen. Reicht es nicht aus, wenn Wähler Politikern vertrauen, wenn sie sie gut finden, vielleicht sogar verehren und bewundern? Müssen sich in einer Demokratie Wähler mit ihren gewählten 22  Andrés Velasco, Identitätsfindung, in: IPG-Journal, 21.08.2018 URL: https:// www.ipg-journal.de/rubriken/ soziale-demokratie/artikel/ identitaetsfindung-2925/ [eingesehen am 26.09.2018].

Repräsentanten identifizieren? So wie sich viele Deutsche mit ihrem Führer Adolf Hitler identifiziert haben, so dass es nur eine Identität gab: »Ein Volk, ein Reich, ein Führer!« Und auch Stalinisten identifizierten sich mit Stalin, Maoisten mit Mao, Dschihadisten mit Bin Laden. Die bisher übliche Identifizierung mit Politikern passt gut in ein totalitär-antidemokratisches Konzept, aber kaum in eine offene Gesellschaft mit einer liberalen Demokratie.

23  Ebd. 24  Ebd. 25  Ebd.

Velasco glaubt, der Begriff »Identität« könne sogar zur Abwehr des Rechtspopulismus dienen, wenn er entsprechend uminterpretiert wird im Sinne einer »liberalen Identitätspolitik«. Dabei gehe es darum, »eine gemeinsame Identität um freiheitliche Werte herum aufzubauen«, wodurch »das breiter Horst Heimann  —  Linke Sammlungs­b ewegung?

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ausgerichtete Wir « sogar Wahlerfolge bringe in einer »offenen Gesellschaft« mit »Pluralismus«.26 Was er hier beschreibt, ist im Prinzip die pluralistische Gesellschaftstheorie, vor allem von Ernst Fraenkel ausgearbeitet, in der es neben der pluralen Vielfalt auch einen »nichtkontroversen Sektor« gibt, also die für alle »identischen« demokratischen und rechtsstaatlichen Spielregeln. Außerhalb dieses für alle identischen »nichtkontroversen Sektors« darf alles kontrovers, »divers« sein. Der kommunitaristische Begriff von »Identität« dagegen lehnt »Diversity« ab, in einer homogenen Community muss alles identisch sein, darf nichts kontrovers oder »multikulti« sein. GEGEN DIE EROSION BEWÄHRTER LINKER IDEEN Aus den vorangehenden Analysen folgt: Für die Zukunftsperspektiven einer intellektuell-politischen Linken in Deutschland ist die parteipolitisch-organisatorische Sammlungsbewegung #aufstehen eine viel geringere Gefahr als die von den meisten kaum bemerkte wissenschaftlichpolitische Community der »Kommunitaristen«. Diese Behauptung sei hier

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26  Ebd.

wenigstens mit einigen provisorischen, keineswegs provozierenden Hypothesen begründet: 1. #aufstehen wird linke Parteien, vor allem auch die SPD, bei Wahlen noch einige Prozente kosten. Aber die weniger medienwirksame und daher unterschätzte wissenschaftliche Mode »Kommunitarismus« gefährdet ernsthaft das Überleben einer intellektuell-politischen Linken. 2. Die theoretisch konstruierte neue Konfliktlinie Kommunitarismus versus Kosmopolitismus überlagert nicht nur die traditionelle Trennlinie links versus rechts, sondern enthält die Tendenz, alles, was zu einer linken Ideen- und Wertegemeinschaft im Sinne Willy Brandts gehört, zu eliminieren. Denn erstmals ist eine ganz linke Bewegung angetreten, um die traditionell linken Ideen und Werte einer internationalen Solidarität mit Hilfe des neuen Schimpfwortes Kosmopolitismus zu rechten Werten umzudeuten und die traditionell rechten Werte des Kommunitarismus als die neuen Ideen und Werte der Linken zu propagieren. Linke Solidarität und Kosmopolitismus jedoch gehören zu den unverzichtbaren linken Werten. 3. Die medial kaum auffallende Offensive der Kommunitaristen könnte erfolgreich werden, weil rein pragmatische linke Politiker und Intellektuelle diese gefährliche Tendenz gar nicht zu erkennen vermögen, nicht zuletzt, weil der Links-Kommunitarismus eingehüllt ist in linken Antikapitalismus. 4. Die Erosion bewährter linker Ideen, Werte und Visionen macht empfänglich für die Angebote esoterischer Sekten. Das wäre nur zu ändern, wenn kritische linke Intellektuelle die erst verfemte, dann vergessene reformsozialistische Theorie in der Tradition des Revisionisten Eduard Bernstein wiederbelebten, um sie in eine notwendige Grundsatz- und Richtungsdiskussion zur Erneuerung demokratisch-sozialistischer Theorie und Programmatik einzubringen. In einem solchen Diskussionsprozess könnte auch die gespaltene Linke wieder zu einer mehrheitsfähigen Alternative links von der Union werden.

Dr. Horst Heimann, geb. 1933, Studium Otto-Suhr-­Institut Berlin, Sciences Po., Paris. ­Publikationen zu: Demokratischer Sozialismus, Neue Linke, Revisionismus, Neoliberalismus. Mitbegründer der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus und der Zeitschrift perspektiven ds.

Horst Heimann  —  Linke Sammlungs­b ewegung?

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RELAUNCH WARUM DIE GESELLSCHAFTLICHE LINKE EINEN NEUANFANG BRAUCHT ΞΞ Benjamin-Immanuel Hoff

Im August des Jahres gründete sich nach vielen Ankündigungen die Organisation »Aufstehen«. Überlagert wurde der öffentliche Start von den Ereignissen in Chemnitz – dem Tötungsdelikt, der Instrumentalisierung des Opfers seitens der AfD, weiterer rechtsextremer Organisationen sowie Hooligans und dem Zweifel an der Authentizität von Filmdokumenten einer rassistisch motivierten Hetzjagd sowohl durch den inzwischen als Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz entlassenen Hans-Georg Maaßen als auch den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer. Initiatoren sind insbesondere die linke Fraktionsvorsitzende im Bundestag Sahra Wagenknecht und der ehemalige Vorsitzende sowohl der SPD als auch der Linkspartei, Oskar Lafontaine. Vorgestellt wurde Aufstehen in der Bundespressekonferenz neben Wagenknecht durch den früheren grünen Parteivorsitzenden und Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Vollmer, sowie die SPD-Oberbürgermeisterin von Flensburg, Simone Lange. Obwohl die Ereignisse in Chemnitz symptomatisch für die Verrohung des öffentlichen Diskurses bis hin zu dessen Gewaltförmigkeit stehen, hielt sich Aufstehen mit wahrnehmbaren Erklärungen zu den Chemnitzer Ereignissen im Verhältnis zu anderen Organisationen aus dem progressiven Spek­ trum auffallend lange zurück. Dies ist ebenso fatal wie wenig überraschend. Schließlich entspannt sich innerhalb der Linkspartei seit der Flüchtlings­ zuwanderung der Jahre 2015/2016 eine heftige Kontroverse um die Bewertung der zeitweiligen Aussetzung von Dublin II als auch der Ausrichtung einer linken Flüchtlingspolitik. Auf dem diesjährigen Bundesparteitag der Linken führte dies zu einer spontan angesetzten Grundsatzdebatte, zu der sich mehr als hundert der rund 500 Delegierten zu Wort meldeten und in der mit Sahra Wagenknecht heftig ins Gericht gegangen wurde. Wagenknechts Kritiker argumentierten, dass neben ihrer Haltung, aber auch in der von Lafontaine, zur Flüchtlingspolitik in der Linkspartei wenig erkennbar ist, was eine gesellschaftliche linke Sammlungsbewegung auszeichnen könnte. So werden zwar vermeintliche verlorene Wähler aus vermeintlich klassisch materialistischen Arbeitermilieus

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INDES, 2018–3, S. 146–149, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018, ISSN 2191–995X

gegen vermeintlich identitätsorientierte, städtische, postmaterialistische Milieus in Stellung gebracht. Lafontaines rhetorische Figur derjenigen »am unteren Ende der Einkommensskala«, die sich wegen menschenrechtsorientierter Flüchtlingspolitik von der Linkspartei abgewendet hätten, stellt aber eine unzulässige Vereinfachung dar. Denn wie in allen gesellschaftlichen Schichten bestimmt auch am unteren Ende der Einkommensskala der Habitus, verstanden als die Summe der inneren und äußeren Haltung eines Menschen, die sich in der »Ethik der alltäglichen Lebensführung« abbildet, das praktische Handeln. Gruppen mit ähnlichem Habitus und ähnlicher Alltagskultur bilden Milieus. Von denen wiederum sind politische Lager zu scheiden, die das Feld der ideologischen und politischen Abgrenzungen darstellen und einer eigenen Logik folgen. Eine einheitliche Identität der verschiedenen – und eben nicht dem einen Arbeitnehmermilieu – ist eine Fiktion, da ihre Orientierung gesamtgesellschaftlichen Ordnungsbildern entspricht. Also den klassischen konservativen, liberalen, sozialdemokratischen, rechtspopulistischen, aber auch postmaterialistischen Vorstellungen, nach denen die Gesellschaft geordnet sein soll. Wohin sich Aufstehen angesichts dieser Kontroverse, aber auch der Dominanz der Flüchtlingspolitik im gesellschaftlichen Diskurs entwickeln wird, ist derzeit nicht ausgemacht. Im Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen führt die Flüchtlingspolitik die Liste der von den Befragten als am wichtigsten erachteten Themen zwischen Oktober 2017 und September 2018 mit durchschnittlich 49,5 Prozent an. Die Themen Rente oder soziale Gerechtigkeit folgen hingegen mit einem Abstand von wenigstens zwanzig Prozentpunkten auf den nachgeordneten Rängen. Gleichzeitig formulierte im Juli 2018 eine Mehrheit von 56 Prozent der im DeutschlandTrend von Infratest dimap Befragten, dass in der aktuellen politischen Auseinandersetzung das Thema Asyl und Flüchtlinge zu viel Raum einnehmen würde. Darunter waren je zwei Drittel der Anhänger von SPD, Linken und Grünen, aber selbst 41 Prozent AfD-Anhänger teilten diese Sichtweise. Gefragt, ob die Unterschiede zwischen Arm und Reich ein gesellschaftliches Problem seien, stimmten dieser Umfrage zu Folge jedoch 83 Prozent aller Befragten zu. Es wäre deshalb sicherlich wünschenswert, wenn Aufstehen die Kraft entfalten würde, die notwendigen Fragen der sozialen Gerechtigkeit und daraus folgender Umverteilung zurück in das Zentrum der politischen Debatte zu bringen. Oder dazu beizutragen, den mitunter pathologischen Umgang von SPD, Grünen und Linkspartei konstruktiv im Sinne gemeinsamer Politik zu kanalisieren. Danach sieht es jedoch nicht aus. Insbesondere weil die derzeit in der Öffentlichkeit handelnden Akteure von Aufstehen nur wenig für Benjamin-Immanuel Hoff — Relaunch

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Integration und Kooperation stehen. Sie sind vielmehr Ursache rot-rot-grünen Unvermögens als Teil der Lösung. Dabei ist ein Umsteuern notwendig und die Zeit seit langem reif dafür. In einem bereits 1928 erschienenen Beitrag in »Le Réveil Communiste«, arbeitete Karl Korsch unterschiedliche Strömungen in der sozialistischen Bewegung heraus. Dabei formulierte er die Annahme, dass für eine dieser Strömungen »bis zum Jahr 1914 selbst die ›Spaltung‹ in ›Bolschewiki‹ und ›Menschewiki‹ in Wahrheit lediglich eine extreme Verschärfung des Fraktionskampfes innerhalb einer einheitlichen [sozialdemokratischen] Partei sei.« Diesem Gedanken haftet etwas Bestechendes an. Umso mehr, wenn wir ihn um einhundert Jahre verlängern. Die Annahme würde dann so lauten: Das pathologische Verhältnis, nicht nur zwischen SPD und der Partei DIE LINKE, sondern der gesellschaftlichen Linken zur Sozialdemokratie insgesamt, wird auch davon bestimmt, dass es sich um den bis heute nicht beendeten Kampf innerhalb einer »gesellschaftlichen sozialdemokratischen Partei« handelt, in der das tatsächliche Parteibuch nichts über die Mitgliedschaft in ihr aussagt. Die historische Aufgabe einer Sammlungsbewegung der pluralen Linken würde angesichts dessen darin bestehen, eine progressive politische Erzählung dieser gesellschaftlichen sozialdemokratischen Partei zu entwickeln. Begriffe wie Sicherheit – als den legitimen Wunsch nach Sicherheit vor den großen Risiken des Lebens, seien sie nun Krieg, Gewalt, Armut oder Diskriminierung – und Heimat, als ebenso legitimen Wunsch nach einem Leben in verlässlichen familiären, sozialen, ökonomischen und institutionellen Arrangements, dürfen dabei nicht gemieden und tabuisiert werden. Im Gegenteil: Sie müssen kognitiv und affektiv auf eine Weise besetzt werden, die um Zustimmung für eine progressive Politik wirbt. Genauso wenig kann ernsthaft eine Politik der offenen Grenzen für diejenigen, die aus ihrer Heimat fliehen, proklamiert werden, ohne zugleich einen positiven Begriff von Heimat zu haben. Heimat ohne Deutschtümelei zu denken – darin haben Menschen mit Migrationshintergrund der Linken etwas voraus. Vielleicht ist dies ein Grund dafür, dass moderne Konservative in der migrantischen Community anschlussfähiger sind als Mitte-Links. All dies bedeutet, die Tanzfläche des Rechtspopulismus zu verlassen, auf der inzwischen die CSU nach der Musik der AfD tanzt, statt zu glauben, man könne die gleiche Melodie noch besser von links spielen. Schließlich steht progressive Politik in einem unauflösbaren Konflikt zu Ausgrenzung und Ressentiments. Diese werden zwar durch die AfD belebt, gefüttert und von Konservativen aus CDU und CSU im gesellschaftlichen Diskurs dramatisch enthemmt. Progressive Politik aber setzt diesem Diskurs praktische Vorstellungen von Solidarität und Integration entgegen.

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Sammlungsbewegung — Analyse

Dass es ein gesellschaftliches Bedürfnis danach gibt, hat Martin Schulz für wenige Wochen gezeigt, als er ein Fenster öffnete, das die Partei jedoch zu schnell wieder schloss. Es ist übrigens ein Bedürfnis, das weder DIE LINKE noch Grüne oder andere bislang zu decken in der Lage waren – und noch immer sind. Jenseits der SPD lassen sich eben – anders als manche, wie Jakob Augstein in seiner Wochenzeitung Freitag annehmen – nicht so einfach »für die linken, sozialen, liberalen Inhalte neue Gefäße finden«1. Denn Parteien und Sammlungsbewegungen entstehen nicht im luftleeren Raum. Sie sind erfolgreich als Resultate eines sich artikulieren wollenden Bedürfnisses und wenn Spontanität mit organisatorischer Erfahrung vereint wird. Fehlt beides, bleibt nicht mehr und nicht weniger, als die Arbeit an der Identifizierung und gestaltungspolitischen Umsetzung sozial-ökologischer und grundrechtsliberaler Reformpolitik – in parteipolitischen und gesellschaftlichen Mitte-Links-Bündnissen. Das klingt unsexy und anstrengend – und ist es auch. Es bedeutet vor allem, Widersprüche aufzulösen. Anders formuliert, man kann nicht sehnsüchtig auf den US-Amerikaner Bernie Sanders oder den Briten Jeremy Corbyn verweisen und andererseits zum x-ten Mal das Totenglöckchen der SPD klingeln. Sanders arbeitet als parteiloser demokratischer Sozialist im Vorstand der Demokratischen Partei. Corbyn will die Labour-Party stark machen und in die nächste Regierung führen. Man kann schon heute vorhersehen, wie auf die Begeisterung für Sanders und Corbyn die übliche Enttäuschung gefolgt wäre oder folgen wird. 1  Jakob Augstein, Im Zweifel ohne, in: der Freitag, 18.01.2018.

Der Umgang in der politischen Linken mit dem Griechen Alexis Tsipras und Syriza oder der portugiesischen Linksregierung, die in konkreten Auseinandersetzungen Reformismus realpolitisch zu buchstabieren hatten, zeigt es anschaulich. Doch auch radikaler Reformismus trägt den Reformismus in sich. In diesem Sinne braucht nicht allein die SPD, sondern die gesellschaftliche Linke einen Relaunch – vor allem im Umgang miteinander und in der Fähigkeit, Mehrheiten zurückzugewinnen. Dass zwei Drittel der Bevölkerung meinen, dass es ungerecht sei, wie die Gesellschaft mit den Schwachen um-

Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff, geb. 1976, Studium der Sozialwissenschaften; Honorar­ professur an der Alice-­SalomonHochschule ­Berlin; Fellow am Sussex Centre for the Study of Corruption; Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses (1995– 2006), Staatssekretär im Senat von Berlin (2006–2011) und seit 2014 Chef der Staatskanzlei des Freistaates Thüringen.

geht und rund sechzig Prozent, welchen Lohn man für seine Arbeit bekommt, kann und muss dafür sicherlich Ausgangspunkt sein. Dass aber 59 Prozent der Meinung sind, dass es eher gerecht sei, wie man abgesichert ist, wenn man arbeitslos wird und 46 Prozent, wie der Staat sich um Hartz IV-Empfänger kümmert, zeigt freilich auch die Widersprüche innerhalb der »Klasse an sich« und die Herausforderung für die gesellschaftliche sozialdemokratische Partei, als linke Sammlungsbewegung ob nun mit oder ohne Aufstehen.

Benjamin-Immanuel Hoff — Relaunch

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INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT Herausgegeben durch das Institut für Demokratieforschung der Georg-August-Universität Göttingen. Redaktion: Dr. Felix Butzlaff, Alexander Deycke, Dr. Lars Geiges, Jens Gmeiner, Julia Bleckmann, Jöran Klatt, Danny Michelsen, Dr. Robert Lorenz, Dr. Torben Lütjen, Luisa Rolfes. Konzeption dieser Ausgabe: Matthias Micus. Redaktionsleitung: Dr. Matthias Micus (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Michael Lühmann, Marika Przybilla-Voß. Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. INDES erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 71,– D / € 73,– A / SFr 88,90; ermäßigter Preis für Studierende/Auszubildende (gegen Bescheinigung, befristet auf drei Jahre) € 41,80 D / € 43,– A; Einzelheftpreis € 20,– D / € 20,60 A. Inst.-Preis € 133,– D / € 136,80 A. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen. Anzeigenverkauf: Anja Kütemeyer E-Mail: [email protected] (für Bestellungen und Abonnementverwaltung) oder [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. ISBN 978-3-666-80026-9 ISSN 2191-995X © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen

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