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German Pages 589 [594] Year 2017
Universitäre Gelehrtenkultur vom 13.–16. Jahrhundert Ein interdisziplinäres Quellen- und Methodenhandbuch
Herausgegeben von Jan-Hendryk de Boer, Marian Füssel und Maximilian Schuh Geschichte Franz Steiner Verlag
Jan-Hendryk de Boer / Marian Füssel / Maximilian Schuh (Hg.) Universitäre Gelehrtenkultur vom 13.–16. Jahrhundert
Universitäre Gelehrtenkultur vom 13.–16. Jahrhundert Ein interdisziplinäres Quellen- und Methodenhandbuch Herausgegeben von Jan-Hendryk de Boer, Marian Füssel und Maximilian Schuh
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Umschlagabbildung: Lehrplan der Artistenfakultät der Universität Ingolstadt, 1478, München, Universitätsarchiv, O-I-2, fol. 3r © Universitätsarchiv Ludwig-MaximiliansUniversität München, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Satz: DTP + Text Eva Burri, Stuttgart Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11309-0 (Print) ISBN 978-3-515-11313-7 (E-Book)
INHALT Vorwort .................................................................................................................. 9 Jan-Hendryk de Boer / Marian Füssel / Maximilian Schuh Einleitung ..............................................................................................................11 Verwaltung Martin Kintzinger / Frank Rexroth / Jana Madlen Schütte Verwaltung ............................................................................................................ 19 Basisartikel „Verwaltung“ Jana Madlen Schütte Akten: Rektorats-, Senats- und Fakultätsakten ..................................................39 Antonia Landois Briefe, Gelehrtenkorrespondenz ........................................................................ 51 Martin Wagendorfer Bücherverzeichnisse ......................................................................................... 67 Thomas Woelki / Tobias Daniels Consilia ............................................................................................................83 Antonia Landois Finanz- und Vermögensverwaltung ...................................................................95 Maximilian Schuh Matrikeln ........................................................................................................ 103 Jana Madlen Schütte Nationenbücher ...............................................................................................119 Frank Rexroth Privilegien ....................................................................................................... 129 Bruno Boute / Tobias Daniels Rotuli und Suppliken...................................................................................... 139 Martin Kintzinger Statuten ...........................................................................................................153
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Inhalt
Lehren und Lernen Jan-Hendryk de Boer / Martin Kintzinger / Jana Madlen Schütte / Thomas Woelki Lehren und Lernen.............................................................................................. 177 Basisartikel „Lehren und Lernen“ Jan-Hendryk de Boer Disputation, quaestio disputata ........................................................................ 221 Maximilian Schuh Kolleghefte, Vorlesungsmitschriften ................................................................ 255 Jan-Hendryk de Boer Kommentar .................................................................................................... 265 Sita Steckel Theologische Lehrwerke .................................................................................. 319 Marcel Bubert / Jan-Hendryk de Boer Studienführer .................................................................................................. 337 Jan-Hendryk de Boer Zensur und Lehrverurteilungen ...................................................................... 357 Repräsentation Marian Füssel Repräsentation .................................................................................................... 389 Basisartikel „Repräsentation“ Wolfgang Eric Wagner Alltagsgegenstände ..........................................................................................405 Marian Füssel / Stefanie Rüther Bilder .............................................................................................................. 419 Wolfgang Eric Wagner Gebäude ......................................................................................................... 431 Wolfgang Eric Wagner Grabmäler ....................................................................................................... 451 Marian Füssel Insignien .........................................................................................................475
Inhalt
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Susana Zapke Musik ............................................................................................................. 491 Hannah Skoda Literarische Texte und Darstellungen ............................................................... 511 Frank Rexroth Universitätsgeschichtsschreibung..................................................................... 529 Sita Steckel Universitätspredigten ...................................................................................... 539 Albert Schirrmeister Universitätsreden ............................................................................................ 559 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ............................................................579
Vorwort Der vorliegende Band wurde durch die Mitglieder des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Wissenschaftlichen Netzwerkes „Institutionen, Praktiken und Positionen der Gelehrtenkultur vom 13.–16. Jahrhundert“ erarbeitet. Dafür, dass der Ertrag der gemeinsamen Arbeit nun in Buchform vorgelegt werden kann, bedanken sich die Herausgeber bei den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich als Mitglieder seit der Konstitution des Netzwerks im Jahre 2011 mit großer Einsatzbereitschaft an dem Projekt beteiligt haben. Dies gilt auch für die Gastautoren Marcel Bubert, Martin Wagendorfer, Thomas Woelki und Susana Zapke. Sie haben an unseren Arbeitstreffen teilgenommen, mitdiskutiert und einzelne Beiträge aus ihrem jeweiligen Spezialgebiet übernommen. Für die Unterstützung bei der Redaktionsarbeit bedanken wir uns bei unseren wissenschaftlichen Hilfskräften Anne-Lara Wulff, Hendrik Scholten und Steffen Hackbarth. Infrastrukturelle Unterstützung unserer Netzwerktreffen leisteten das Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen sowie das Historische Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Unser besonderer Dank richtet sich an die DFG für die großzügige Förderung des Netzwerks sowie die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Dem Verlag danken wir für die kompetente Unterstützung bei der Drucklegung. Essen, Göttingen und Heidelberg, im April 2017 Jan-Hendryk de Boer, Marian Füssel, Maximilian Schuh
Einleitung Jan-Hendryk de Boer / Marian Füssel / Maximilian Schuh
Im Zentrum unseres Bandes steht die mittelalterliche Universität von ihrer Entstehung um 1200 bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Die Wahl dieses Zeitrahmens ist sowohl pragmatisch wie auch inhaltlich begründet: Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass sich die Geschichte der vormodernen Universität in verschiedenen Entwicklungsschüben entfaltete. Zwar ist die Entstehung der Universität nicht ohne den Hintergrund des Schulmilieus in Paris und Bologna zu verstehen (Kintzinger 2003; Ferruolo 1985; Wei 2012; Fried 1974), dieses ist jedoch institutionell wie auch hinsichtlich der gebrauchten Textsorten und Kommunikationsformen gegenüber den Universitäten bereits des 13. Jahrhunderts so verschieden, dass es sinnvoll erschien, die Darstellung mit dem späten 12. Jahrhundert anheben zu lassen. Ähnlich lässt sich der Endpunkt ‚um 1600‘ begründen: Auch wenn die Rede von der wissenschaftlichen Revolution im 17. Jahrhundert in den letzten Jahren an Faszination und Überzeugungskraft eingebüßt hat (Shapin 1996), ist doch nicht zu leugnen, dass in diesem Zeitraum entscheidende Veränderungen sowohl hinsichtlich der gelehrten Disziplinen, in den universitären Textsorten, in der personalen Struktur der Studentenschaft wie der Professoren, in deren Selbstpräsentation, in der internationalen Vernetzung sowie in der Beziehung der Universitäten zu konkurrierenden Institutionen wie Akademien und anderen hohen Schulen zu beobachten sind (Pedersen 1996; Frijhoff 2016; Clark 2006). Schließlich liegt seit 2011 ein Sammelband vor, der die Quellen der frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte behandelt (Rasche 2011). So nötig es ist, diesem ein Pendant für die ersten Jahrhunderte der Universitäten an die Seite zu stellen, so überflüssig erschien es, den dort behandelten Zeitraum in gleicher Weise abdecken zu wollen. Intensiv diskutiert wurde unter den Mitgliedern des Netzwerks hingegen die Frage, inwiefern andere Bildungseinrichtungen neben der Universität zu berücksichtigen seien. Namentlich die Bettelordensstudien waren personal, strukturell wie in den gelehrten Inhalten eng mit den Universitäten verknüpft, wohingegen die Lateinschulen zumal seit dem Spätmittelalter auch solche Aufgaben übernahmen, die ebenfalls von den Artesfakultäten ausgefüllt wurden (Nonn 2012). Letztlich haben wir uns für einen Kompromiss entschieden: Im Zentrum des Buches stehen die Universitäten, wo es jedoch unerlässlich ist, auf andere Institutionen zu verweisen, um ein hinreichend vollständiges Bild zeichnen zu können, ist dies in den einzelnen Artikeln geschehen. Die Geschichte der Universitäten hat sich national wie international inzwischen zu einer eigenen Subdisziplin der Geschichtswissenschaft entwickelt. Von diesem Ins-
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titutionalisierungsprozess zeugen unter anderem eigene Zeitschriften wie etwa History of Universities (seit 1981) oder das Jahrbuch für Universitätsgeschichte (seit 1998) und eigene Fachverbände wie die „International Commission for the History of Universities“ (ICHU) oder die „Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte“ (GUW). Zwischen „Jubiläumsschrift und Alltagsarbeit“ changierend (Hammerstein 1983), hat es die Universitätshistoriographie nicht immer leicht, sich zu behaupten, da ihre Relevanz zu akademischen Jubiläen zwar gern hervorgehoben wird, im Alltag häufig jedoch eher das Image einer selbstreferentiellen Institutionengeschichte von Akademikern für Akademiker vorherrscht. Im Zeichen der Annäherung von Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte und der Erweiterung Letzterer zu einer Wissensgeschichte hat sich das Image in jüngerer Zeit zum Teil jedoch gewandelt. Die Anfänge einer modernen Universitätsgeschichte werden landläufig auf das späte 18. Jahrhundert datiert (Müller 2000). Gelehrte wie Johann David Michaelis (1717–1791) oder Christoph Meiners (1747–1810) verfassten allgemeine Darstellungen, die sowohl über die Tradition der historia litteraria als auch die Chronistik der jeweils eigenen Hochschule hinausgingen. Die Agenda der Themen war damit schon weitgehend gesetzt, es ging u. a. um die Geschichte der Professoren und der Studenten, um Verfassung und Privilegien, um Unterrichts- und Graduierungsformen, Finanzfragen, Gerichtsbarkeit oder die einzelnen Fakultäten und Fächer. Die methodischen Zugangsweisen haben sich jedoch in den vergangenen 200 Jahren mehrfach geändert und kontinuierlich weiterentwickelt und differenziert. Die großen Linien verliefen und verlaufen dabei vielfach homolog zu denen in der allgemeinen Geschichtswissenschaft (Paletschek 2011; Füssel 2014). Zu Beginn standen die großen aus dem Geist des Historismus entstandenen Quelleneditionen und ein gewisser Schwerpunkt auf der Verfassungs- und Ideengeschichte der Universitäten. Doch bereits im 19. Jahrhundert finden sich vereinzelte ‚culturhistorische‘ Arbeiten etwa zur Studentengeschichte (‚Cultur‘ damals noch mit C), die belegen, dass ein einzelner Zugang niemals vollständig dominierte. Seit den 1960er- bis 1980er-Jahren traten dann verstärkt sozialhistorische Arbeiten auf den Plan, die zeigen, dass die Universitätsgeschichte keineswegs nur den allgemeinen historiographischen Trends folgte, sondern solche auch selbst mit zu setzen vermochte. Insbesondere die Mediävistik hat lange Zeit als Motor methodischer Innovation fungiert (Schwinges 2000). Mit den 1990er-Jahren verlagerten sich die Schwerpunkte von der Sozialgeschichte allmählich zur Neuen Kulturgeschichte und zur Historischen Anthropologie. Diese Ansätze rückten Themen wie akademische Repräsentationsformen, die Geschichte des Habitus oder akademischer Praktiken in den Fokus und verknüpften die Universitätsgeschichte auch mit anderen Forschungsfeldern wie etwa der Geschlechtergeschichte oder der Wissensgeschichte (Paletschek 2011). Inzwischen herrscht ein Pluralismus an Methoden und Themenschwerpunkten vor, der Matrikelanalysen ebenso zulässt wie Diskursanalysen. Den Ausgangspunkt der Diskussionen des wissenschaftlichen Netzwerkes, deren Resultate der vorliegende Band versammelt, bildete daher die Überzeugung, dass das einende Band in einer ausdifferenzierten und zumindest partiell unübersichtlich gewordenen Forschungslandschaft die Arbeit an den Quellen darstellt. Statt von den
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bestehenden Traditionen und Positionen der universitätsgeschichtlichen Forschung auszugehen, haben wir danach gefragt, mit welchen Quellensorten es Universitätshistorikerinnen und -historiker zu tun haben. Jene haben wir zu typisieren versucht, wobei uns ihre formalen Merkmale, ihr Aufbau, ihre Genese und Funktion als Unterscheidungskriterien gedient haben. Vor dem Hintergrund des in den letzten Jahren stark gewachsenen Interesses an Materialität haben wir uns nicht auf Textsorten wie Statuten, Privilegien, Matrikeln, Akten, Predigten oder Kommentare beschränkt, die schon lange von der Forschung behandelt wurden, sondern auch Bilder und materielle Quellen wie Insignien, Grabmäler, Gebäude und Alltagsgegenstände aufgenommen. Dahinter steht die Einsicht, dass insbesondere die Zusammenschau textlicher und dinglicher Quellen neue Einsichten in die Geschichte der vormodernen Universität erbringen wird. Den einzelnen Quellensorten wurde jeweils ein Basisartikel gewidmet, der diese nach einem einheitlichen Schema vorstellt. Dieses formalistische Vorgehen macht auch solche Quellensorten hinsichtlich festgelegter Parameter vergleichbar, die bislang in der Forschung kaum zusammengesehen wurden. Erst so ist es möglich, Ähnlichkeiten und Unterschiede festzustellen. Die Artikel beginnen mit einer kurzen Begriffserklärung, darauf werden zunächst Genese, Funktion und Vorkommen, in einem weiteren Abschnitt Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität und unterschiedliche Ausprägungen dargestellt, bevor im letzten Teil jedes Artikels methodische Zugänge und Aussagemöglichkeiten diskutiert werden. Unter diesem Punkt erfolgt eine Bestandsaufnahme der bisherigen Forschung sowie der Editionslage, es werden aber auch weiterführende Untersuchungsmöglichkeiten aufgezeigt, die dazu anregen sollen, ausgetretene Pfade zu verlassen. Sowohl für die disziplinäre wie für die interdisziplinäre Diskussion dürften sich sowohl dadurch neue Perspektiven ergeben, dass an bekannte und gut erforschte Quellensorten bislang nur an anderer Stelle erprobte Methoden herangetragen werden, als auch dadurch, dass Material erschlossen wird, das bislang zu wenig Beachtung gefunden hat. Beschlossen wird jeder Artikel von einer Bibliographie, die exemplarisch Quellen, insbesondere Editionen, und Forschungsliteratur nennt. Einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben diese Bibliographien ausdrücklich nicht. Die unterschiedliche Länge der Artikel, aber auch der Umfang der jeweiligen Bibliographie geben einen Hinweis darauf, wie intensiv die verschiedenen Quellen bislang von der Forschung behandelt wurden. Während bei einigen Typen eine so lange und rege Forschungstätigkeit zu verzeichnen ist, dass der beschränkte Raum eines derartigen Artikels nur einen ersten groben Einstieg in die Materie bieten kann, war in anderen Fällen Pionierarbeit gefragt, da hier nur sehr verstreute Arbeiten vorlagen und es an einschlägigen Editionen mangelte. Derartige teils in den Eigenheiten nationaler Forschungskulturen, teils in disziplinären Differenzen begründete Ungleichgewichte und sich daraus ergebende Desiderate werden jeweils im dritten Abschnitt der Artikel benannt. Prinzipiell beanspruchen die Artikel, einen Blick auf die Geschichte der Universitäten in Europa zu bieten. Entsprechend der unterschiedlichen Bedeutung der einzelnen Universitäten, der stark differierenden Forschungslagen, der verfügbaren
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Vorarbeiten und Quellenausgaben gestaltet sich die Umsetzung dieses Anspruchs in den verschiedenen Artikeln unterschiedlich. Abgesehen von den Fällen, in denen eine Quellensorte, etwa die Matrikel, vor allem für die Universitäten eines Raumes, hier des römisch-deutschen Reiches, belegt ist und damit der Fokus des Artikels naturgemäß auf diesen beschränkt bleibt, wurde versucht, zumindest die Universitäten in den Blick zu nehmen, die eine europaweite Ausstrahlung besaßen. Lokale Besonderheiten wurden, soweit aus der Forschung erschließbar, benannt. Diesbezüglich verstehen sich jedoch die vorliegenden Artikel ausdrücklich nicht als erschöpfende Bestandsaufnahmen, sondern als Anregungen für weitere Forschungen und insbesondere auch für das Bergen und Erschließen bislang unbekannter oder ungenutzter Quellenbestände. Gegliedert sind die Artikel des Bandes in die Sektionen „Verwaltung“, „Lehren und Lernen“ und „Repräsentation“. Am Beginn jeder Sektion steht ein ‚Dachartikel‘, der den jeweiligen Funktionsbereich darstellt und auf wichtige Forschungsarbeiten hinweist. Die Dachartikel verlinken über zahlreiche, durch Fettdruck gekennzeichnete Verweise zu den Basisartikeln der jeweiligen Sektion sowie gegebenenfalls zu den je einer Quellensorte gewidmeten ‚Basisartikeln‘ anderer Sektionen, insoweit diese für den jeweiligen Funktionsbereich von Bedeutung sind. Diese Gliederung mag auf den ersten Blick wie eine Fortführung der drei dominanten Ansätze der universitätsgeschichtlichen Forschung erscheinen: des sozialgeschichtlichen, des ideengeschichtlichen und des kulturwissenschaftlich-praxeologischen. Tatsächlich wollen wir die Wirkmächtigkeit dieser Forschungstraditionen nicht leugnen, da sie bis heute auf die Forschungsarbeit beträchtlichen Einfluss haben. Indem wir aber die drei Funktionsbereiche gemeinsam und gleichberechtigt in einem Band behandeln, wollen wir zugleich zeigen, dass diese nur jeweils vor dem Hintergrund der anderen zu verstehen sind. Wenn die ältere ideengeschichtliche Forschung die Verfasstheit der Universitäten ignorierte, wenn die Sozialgeschichte zwar Erhellendes zu der Universität als Personenverband zu sagen hatte, jedoch sich allenfalls beiläufig für die gelehrten Inhalte interessierte, wenn die Praxeologie die Formen und Verfahren des Unterrichts gegenüber den Inhalten privilegierte, handelt es sich um überkommene Beschränkungen, die arbeitspragmatisch, analytisch und methodologisch durchaus gerechtfertigt sind, die jedoch als Beschränkungen immer nur partielle Einblicke in den Kosmos der Universitäten geben können. Insofern empfiehlt es sich auch für den Leser, der vorrangig an der universitären Verwaltung interessiert ist, für den gestandenen Praxeologen oder für die überzeugte Ideenhistorikerin, sich durch die Verweisstruktur zwischen den Artikeln leiten zu lassen – und darüber vielleicht in Bereichen anzukommen, die zuvor im blinden Fleck der eigenen Arbeit lagen. Die Dachartikel in ihrer Summe sollen und können zwar kein erschöpfendes Bild der mittelalterlichen Universität bieten, eignen sich jedoch als Einstieg in die weitere Forschung wie in die jeweiligen Basisartikel, die sie kontextualisieren. Alle Basisartikel sind das Resultat individueller Autorschaft, erwachsen sind sie jedoch aus einem gemeinsamen Diskussionsprozess der Netzwerkmitglieder, die die verschiedenen Textfassungen besprochen und kritisch kommentiert sowie Informationen aus dem eigenen Wissensgebiet beigesteuert haben. Die Hauptautorin bzw. der
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Hauptautor eines Basisartikels wird jeweils namentlich genannt. Bei den Dachartikeln „Lehren und Lernen“ und „Verwaltung“ zeichnet insgesamt eine Autorengruppe verantwortlich. Um die Genese dieser Texte zu erhellen, sind auch die Namen der Verfasser und Verfasserinnen der einzelnen Abschnitte angegeben. Noch mehr als für die Basisartikel gilt jedoch für die Dachartikel, dass diese aus der Diskussion im wissenschaftlichen Netzwerk erwachsen sind, was durch die den Praktiken der Forschungslandschaft geschuldete Nennung der Hauptautoren bzw. Hauptautorinnen nicht adäquat auszudrücken ist. Bibliographie Clark, William (2006), Academic Charisma and the Origins of the Research University, Chicago. Ferruolo, Stephen C. (1985), The Origins of the University. The Schools of Paris and their Critics, 1100–1215, Stanford. Fried, Johannes (1974), Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert. Zur sozialen Stellung und politischen Bedeutung gelehrter Juristen in Bologna und Modena, Köln/ Wien. Frijhoff, Willem (2016), University, academia, Hochschule, College: Early Modern Perceptions and Realities of European Institutions of Higher Education, in: de Boer, Jan-Hendryk / Füssel, Marian / Schütte, Jana Madlen (Hrsg.), Zwischen Konflikt und Kooperation. Praktiken der europäischen Gelehrtenkultur (12.–17. Jahrhundert) (Historische Forschungen, 114), Berlin 2016, S. 67–88. Füssel, Marian (2014), Wie schreibt man Universitätsgeschichte?, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 22/4, S. 287–293. Hammerstein, Notker (1983), Jubiläumsschrift und Alltagsarbeit. Tendenzen bildungsgeschichtlicher Literatur, in: Historische Zeitschrift 236, S. 601–633. Kintzinger, Martin (2003), Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter, Stuttgart. Müller, Rainer A. (2000), Genese, Methoden und Tendenzen der allgemeinen deutschen Universitätsgeschichte. Zur Entwicklung einer historischen Spezialdisziplin, in: Mensch – Wissenschaft – Magie. Mitteilungen der Österr. Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 20, S. 181–202. Nonn, Ulrich (2012), Mönche, Schreiber und Gelehrte. Bildung und Wissenschaft im Mittelalter, Darmstadt. Paletschek, Sylvia (2011), Stand und Perspektiven der neueren Universitätsgeschichte, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 22/4, S. 169–189. Pedersen, Olaf (1996), Tradition und Innovation, in: Rüegg, Walter (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 2: Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800), München, S. 363–390. Rasche, Ulrich (Hrsg.) (2011), Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven (Wolfenbütteler Forschungen, 128), Wiesbaden. Shapin, Steven (1996), The Scientific Revolution, Chicago u. a. Wei, Ian P. (2012), Intellectual Culture in Medieval Paris. Theologians and the University c. 1100–1330, Cambridge u. a.
VERWALTUNG
Verwaltung Martin Kintzinger / Frank Rexroth / Jana Madlen Schütte
1. Die Universität: Qualität, Entstehung, Verbreitung (Frank Rexroth) Alle Universitäten sind Hochschulen, aber nicht jede historisch belegbare Form der hohen Schule (d. h. der Schule, die ‚höheres‘, wissenschaftliches Wissen vermittelt) ist eine Universität. Universitäten gibt es erst seit ca. 1200, und dies ausschließlich im ‚lateinischen‘ Europa. Es ist nicht sinnvoll, sie typologisch mit den Religions-, Rechts- oder Philosophenschulen anderer globaler Kulturen gleichzusetzen oder gar von diesen herzuleiten (Oexle 2011, S. 637 f.). Doch auch dort, wo Historiker die Universitäten als die Weiterentwicklung früherer Schulformen des ‚lateinischen‘ Europa selbst interpretiert haben (Pedersen 2007), sind sie deren Spezifik nicht gerecht geworden. Fraglos übernahmen die Universitäten einen Großteil ihrer Lehrinhalte von früheren einheimischen Schulformen: Die Ausbildung in den sog. sieben freien Künsten (septem artes liberales) beispielsweise lag im frühen Mittelalter bei den Klosterschulen des benediktinischen Mönchtums, wurde seit dem 10. Jh. an den Kathedralschulen betrieben und ging während des 11. und 12. Jh.s in einer sozial diffusen, aber intellektuell äußerst produktiven Phase über die scholae privater Lehrer zu den frühen Universitäten und ihren Artes-Fakultäten über. Wo man allerdings daraus folgerte, dass sich die Universitäten genetisch als die Ableger der Kloster- und Kathedralschulen verstehen lassen, übersah man, dass sie einer gänzlich anderen Logik der sozialen Organisation folgten und einem anderen Typus der Vergesellschaftung angehörten. Universitäten waren Schwureinungen, d. h. Personenverbände in Gestalt der mittelalterlichen Gilden. Ihre Form war vor allem dadurch bestimmt, dass ihre Angehörigen häufig fernab von ihrer Herkunftswelt lebten und damit auf den Schutz durch Familie und andere soziale Nahbeziehungen verzichten mussten. Der unsichere Rechtszustand, in dem sie sich in der Fremde befanden, machte selbst dann Schutzbedürftige aus ihnen, wenn sie besser gestellten Familien entstammten – sie galten als arm, wie aus der Scholarenkonstitution Friedrich Barbarossas hervorgeht (Authentica „Habita“, wohl 1155: Amore sciencie facti exules, de divitibus pauperes, dazu Stelzer 1978). Um diese schwierige Situation zu meistern, verpflichteten sich noch vor der Wende vom 12. zum 13. Jh. in Bologna die Scholaren, wenige Jahre später in Paris die Magister und Scholaren einander zu wechselseitigem Beistand. Auf diese Weise entstanden geschworene Einungen (coniurationes) von Lernenden bzw. Leh-
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renden. Die zeitgenössische allgemeinste Bezeichnung für solche Personengruppen war universitas, in heutiger Sprache ‚Gesamtheit‘, ‚Gruppe‘. Dieses unverbindliche Wort bedurfte der näheren Bestimmung, um brauchbar zu sein, etwa in der Fügung universitas civium für den Bürgerverband von Städten, universitas iudeorum für die Judengemeinde an einem gegebenen Ort – und seit ca. 1200 eben universitas scholarium bzw. universitas magistrorum et scholarium. Die zeitgenössische Korporationstheorie erarbeitete die Denkform, dass solche universitates rechtsfähig sein konnten, d. h., dass sie unabhängig von der Existenz ihrer je einzelnen Angehörigen als Rechtssubjekte auftreten konnten (Michaud-Quantin 1970; Black 1984). Die auf diese Weise eher aus wilder Wurzel entstandenen als förmlich gegründeten Universitäten müssen daher in sozialgeschichtlicher Hinsicht als eine Ausprägung der Schwureinung verstanden werden, die durch Eidleistung ins Leben gerufen und durch die Neuaufnahme von Angehörigen (die dann ihrerseits zum Immatrikulationseid verpflichtet waren) beständig erneuert wurde (Oexle 2011, Nr. 10–15). Ihre Angehörigen gaben sich mittels statutarischen Rechts eine eigene Ordnung (Autonomie), richteten ihre eigenen Führungspositionen und Magistrate ein (Autokephalie), schufen sich eine eigene Kasse und unterwarfen diese einer Reihe von Kontrollmechanismen. Gemeinsames Totengedenken und gemeinsame Liturgie, eine gruppeninterne Festkultur (gemeinsame Gastmahle) und der Gebrauch eigener Symbole (Zepter und Stäbe, Siegel, Amtsbücher, archae universitatis etc.) totalisierten die Zwecke, denen das Leben in der Gruppe verpflichtet war. Universitäten waren daher im Sinne von Marcel Mauss „totale“ soziale Phänomene (Borgolte 1992): Sie erhoben den Anspruch, das Leben ihrer Angehörigen umfassend zu schützen, aber auch zu steuern und zu reglementieren. Sie zielten auf die gesamte Existenz der ihnen angehörenden natürlichen Personen und nicht auf spezifische Zwecke, waren nach dem Verständnis der Zeit also immer mehr als reine Bildungsanstalten. Typologisch verwandt mit ihnen waren nicht nur die genannten städtischen Kommunen und Sondergemeinden, sondern auch die anderen Gildeformen des ‚lateinischen‘ Mittelalters: die Händlergilden und Handwerkerzünfte, die Gesellenbruderschaften und Adelsgesellschaften, die Gilden der Schützen und Meistersinger, Kalande, Quartiere und andere Bruderschaften (Rexroth 2013, S. 24). Wegen der Komplexität ihrer Gruppenstruktur nahmen die Universitäten im Kontext zeitgenössischer Formen der Gilde aber zugleich eine Sonderstellung ein. Denn nicht nur im Ganzen waren sie dem Muster der Gilden verpflichtet, auch ihre Bestandteile organisierten sich in dieser Form: Auch die Fakultäten und nationes (die in den folgenden Abschnitten vorgestellt werden) waren als Gilden organisiert, auch sie verlangten ihren Angehörigen bei Eintritt einen promissorischen Eid ab, auch sie gaben sich eigene Ordnungen unter dem Dach der Statuten, die die Universitäten im Ganzen betrafen, und auch sie wählten ihre turnusmäßig neu zu besetzende interne Führung. Wo in der Gesamtuniversität der Rektor in Amt, Pflicht und Würden stand, dort wurden in den Fakultäten Dekane gewählt; sofern an einer Universität nationes bestanden, unterstanden diese auf gleiche Weise ihren eigenen Magistraten, den Prokuratoren. Universitäten waren daher zugleich Schwureinungen und ganze
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Cluster aus kleineren, ihnen einbegriffenen Schwureinungen. Da zwischen dem Ganzen und seinen Teilen statutarisch genau geregelte Delegationsbeziehungen bestanden, wirkte die Universität von außen besehen als eine besonders rationale Form der Vergesellschaftung: Die Ordnung der Fakultäten und nationes musste sich in die universitäre Gesamtordnung fügen, umgekehrt aber fungierte die Gesamtordnung in der Alltagspraxis nur als subsidiäres Instrument, was den Disziplinen, die die einzelnen Fakultäten ausmachen, weitreichende Handlungsspielräume sicherte (Rexroth 2011, S. 463). Von den ersten Universitäten Paris, Bologna und Oxford ausgehend und unter deren Einfluss breitete sich die Universität in Schüben weiter aus (vgl. zum Folgenden die Darstellung dieses säkularen Prozesses in den Überblickswerken Rüegg 1993 und Rüegg 1996, s. dort besonders die Karten und Listen). Zwei Modi standen dabei zur Verfügung: der Exodus und die Stiftung (Classen 1983). Im ersteren Fall entstand die neue Universität dadurch, dass die Magister und/oder Scholaren einer bereits existierenden Hochschule abwanderten und sich am neuen Ort niederließen (z. B. Cambridge 1209, s. Cobban 1988, S. 110–115, oder Padua 1222, s. Siraisi 1973, Piovan/ Sitran Rea 2001, Vercelli durch Wegzug wiederum aus Padua 1228, der förmliche Vertrag dazu bei Rashdall 1936, Bd. 2, S. 337–341). Stiftungsuniversitäten wurden durch die Initiative von Individuen oder manchmal auch Gruppen geschaffen, die durch die Bereitstellung eines Vermögens für einen Zweck, der ihre Lebenszeit überdauern sollte, eine Universität gründeten und verstetigten (Rexroth 1992). Bei den persönlichen Stiftern handelte es sich in der überwiegenden Zahl der Fälle um die Fürsten der einschlägigen Territorien (erstmals Toulouse 1229 im Zusammenwirken zwischen Graf Raimund VII. von Toulouse, König Ludwig IX. von Frankreich und Papst Gregor IX.). Die sozialen Gruppen, die Gleiches taten, waren europäische Städte, vertreten durch ihre Magistrate (früh in Italien, s. o. zu Padua und Vercelli, später im Reich z. B. Köln, Erfurt und Basel). Deutlicher Schwerpunkt der Hochschulentstehung blieb bis zum Ausbruch des Großen Abendländischen Schismas (1378) der Süden Europas: die iberische Halbinsel und Italien, wobei die bereits bestehenden Zentren in Paris, Oxford, Orléans und Cambridge auch gegen das zahlenmäßige Übergewicht dieser südeuropäischen Universitäten (Montpellier, Salamanca, Padua, Toulouse, Lissabon/Coimbra, Lérida u. v. m.) ihren Vorrang bewahren konnten. Erst in der Phase des Papstschismas und danach breiteten sich die universitates in Gründungswellen in ganz Europa aus (z. B. Krakau in Polen, St. Andrews und Aberdeen in Schottland, Kopenhagen in Dänemark, Uppsala in Schweden). Allein im Reich existierten am Vorabend der Reformation 17 Universitäten, so dass man für diesen Raum für die Zeitspanne von ca. 1200 bis zu Luther eine Zahl von insgesamt 250.000 Universitätsbesuchern geschätzt hat (Schwinges 1986, Studienaufenthalte außerhalb des Reichs einbegriffen). Erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges scheint der Markt der Hochschulen zunächst gesättigt gewesen zu sein, zuvor hielt der Prozess der Universitätsgründungen weiterhin an. Der Prozess der Provinzialisierung, der sich in Mitteleuropa durch die Entstehung kleiner, nur im engeren Umfeld ihre Besucher rekrutierenden Universitäten
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eingestellt hatte, wurde nun in Südeuropa nachgeholt. Die bedeutenden Zentren blieben die alten Hochschulen der ersten Stunde, die zeitgenössischen Neugründungen (z. B. Santiago de Compostela, Nîmes oder Messina) bedienten nur die Bedürfnisse ihrer unmittelbaren Umgebung. 2. Organe, Personal und Ämter (Martin Kintzinger / Jana Madlen Schütte) Die Universitätsgeschichte kennt keine ersten Gründungsdokumente, auf denen alles Weitere aufgebaut worden wäre. Entsprechend gab es keine frühen Organisationspläne, die Zuständigkeiten oder Funktionen geregelt hätten. Inwiefern am Anfang solche Strukturierungen überhaupt bestanden, muss demnach offenbleiben – die ältesten überlieferten Statuten sind in Paris 1215 bezeugt, Vorläuferfassungen entstanden vermutlich 1208/09. Es ist wahrscheinlich, dass das eingespielte Verfahren der Schulen sogenannter ‚freier Magister‘, in denen Lehrende (magistri) Unterricht für Lernende (scolares) hielten, das einzige oder doch für längere Zeit dominante Strukturmerkmal jener selbstorganisierten Formen von Lehre blieb, aus denen später die Universitäten hervorgingen. Elemente von institutioneller Ordnung, interne Strukturierungen und Funktionszuordnungen entwickelten sich erst sukzessive. Terminologische Festlegungen erfolgten daher zunächst in der Praxis der Lehre an den scholae (Weijers 1987) sowie über Fremdzuschreibungen und eher allgemein nach den in der zeitgenössischen Gesellschaft ansonsten üblichen Formen statt als Definition von Organisationeinheiten. Weil den freien Magistern und ihren Schülerkreisen, Exulanten aus den etablierten Kathedralschulen, ein formaler Rechtsstatus und eine institutionelle Form fehlten, gerieten sie zunehmend in Konflikte mit den etablierten kirchlichen Schulträgern wie auch mit stadtbürgerlichen Einrichtungen und zogen einerseits Skepsis gegen ihre Eigenständigkeit, andererseits Interesse an ihrem Fachwissen auf sich. Sie verlangten nach rechtlicher Anerkennung. Als kirchliche Institutionen und der Königshof sie deshalb im frühen 13. Jh. formal adressieren wollten, fehlte ihnen eine geeignete Begrifflichkeit. Als universitas vestra (Kaluza 2000, S. 52) wurden sie daher tituliert, eine erkennbare, aber für die Umwelt noch nicht institutionell fassbare Gemeinschaft. Diese und ähnliche Bezeichnungen finden sich in urkundlichen Dokumenten, mit denen der Gemeinschaft eine Rechtsform gegeben wurde, die sie erst zu einer institutionellen Einheit werden ließ. Weiterhin blieb die universitas aber „in erster Linie ein Personenverband, der in einer bestimmten Stadt dem Studium oblag“ (Verger 1993, S. 51). Indem der Gemeinschaft als Personenverband ein eigenes Recht und eigene Freiheiten zugestanden wurden, definierten geistliche wie weltliche Autoritäten, die bischöfliche und die königliche Gewalt, sie als Gemeinschaft eigenen Rechts, als Rechtskörperschaft (Korporation). Als solche war sie fortan nach außen von anderen rechtlichen wie sozialen Einheiten unterschieden und nach innen notwendig organisatorisch strukturiert. Zuständigkeiten, Verfahrensformen und Normen der
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Selbstorganisation mussten nun verbindlich festgelegt werden. Entscheidend für die weitere Entwicklung war die Satzungshoheit der Korporation: Sie durfte und musste ihre eigenen Belange selbstständig organisieren und verantworten, musste festlegen, wer zu ihr gehören sollte, wer über diese Zugehörigkeit entschied, welche Verfahren dabei angewandt wurden, wer über welche Inhalte mit welchen Methoden lehren sollte, wer als Lernender aufgenommen werden sollte und schließlich welche Examina durchgeführt und im Erfolgsfall attestiert werden sollten. Hierfür bedurfte es vor allem und zuerst der Festlegung von Funktionsstellen und einer Ämterhierarchie. Die Privilegien der übergeordneten Instanzen garantierten den rechtlichen Status der Korporation, selbständig zu beschließende Satzungen und Verfahrensordnungen deren interne Organisation. Hier lag der Beginn der Institutionalisierung der Universität. Ungefähr gleichzeitig – der Streit um die frühere Entstehung lässt sich trotz kontroverser Debatten bis heute nicht klären – entstand in Bologna aus dem Milieu der etablierten Schulen des römischen bzw. kanonischen Rechts und der Schreibkunst (ars dictandi, ars dictaminis) ebenfalls eine neue Formation, die sich später als Gemeinschaft der Scholaren, der Lernenden, definierte. Anders als in Paris wurden die Lehrenden in Bologna nicht aus dem Kreis ihrer Kollegen berufen, sondern durch die Scholaren. An beiden Orten und noch für längere Zeit verwendete man den später für Lehrende an der Universität üblich werdenden Professoren-Titel noch nicht. Sie wurden weiterhin als magistri tituliert, also mit der allgemeinen Bezeichnung für jemanden, der seine erlernte Kunst beherrschte und Lernende darin unterwies. Das Examen als Magister konnte an jeder Universität und in den Universitäten nach Pariser Muster an allen Fakultäten abgelegt werden. Nach den unteren Graden des Baccalarius und des Licentiatus stellte der Magister den ersten Grad dar, der zur Lehre befähigte. An der Artistenfakultät gab es keinen höheren Grad. Magistri konnten zugleich selbst an der Artistenfakultät Unterricht erteilen und ihrerseits Scholaren an einer der höheren Fakultäten sein (Schuh 2013, S. 41 f.), dort auch über das Licentiat und Baccalariat zum Magistertitel gelangen, der allerdings noch nicht den höchsten Titel darstellte. Erst mit der Promotion zum doctor war der höchste mögliche universitäre Titel an der theologischen, juristischen oder medizinischen Fakultät erreicht. Zunächst begrifflich mitunter synonym verwendet, wurde doctor im Unterschied zu magister die Bezeichnung für den eigenständig Lehrenden an einer universitären Fakultät (Verger 1993, S. 139–142). Allmählich unterschied man zudem zwischen jenen Lehrenden, die die thematisch wichtigsten und obligatorischen Vorlesungen hielten (und dafür Ansehen und Hörergeld der Scholaren erhielten) als den doctores regentes (oder auch ordinarii) im Unterschied zu den doctores non regentes an der Fakultät. Erst allmählich löste sich die Universität von der Finanzierung ihrer Lehrenden über kirchliche Pfründen, so dass Gebühren der Scholaren, vor allem aber interessenpolitische Entscheidungen von weltlichen und geistlichen Institutionen und zunehmend auch der Gestaltungswille von Stiftern immer wichtiger wurden (Verger 1993, S. 144–148).
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Um den Doktorgrad zu erlangen, musste man allerdings nicht nur viele Jahre lang studiert und ein aufwendiges Examen (Disputation) abgelegt, sondern auch zeremonielle Akte durchstanden und schließlich eine Feier für die Angehörigen der Fakultät organisiert haben. Nicht wenige scheiterten auf diesem Weg wegen der Finanzierung der Studiendauer und der Zeremonien (Schwinges 2007; Müller 2007). Sowohl in der disziplinären Ausrichtung und Geltungserwartung als auch der sozialen Stellung und deren ritueller Repräsentation gab es vielfaches Konkurrenz- und Konfliktpotential zwischen den Graduierten der unterschiedlichen Examensstufen in den verschiedenen Fakultäten (Destemberg 2015, S. 128–140; Cassagnes-Brouquet 2012, S. 217–257). Seit dem frühen 13. Jh. an den Universitäten belegt, genoss der Doktorgrad in der umgebenden Gesellschaft hohes Ansehen und ermöglichte den Zugang zu exklusiven, gut dotierten Anstellungen, wohingegen von den übrigen universitären Rängen allenfalls der Magistergrad noch soziales Prestige versprach. Allerdings waren die Graduierungen, auch das Doktorat, nicht mit einer Funktion oder als Amtsbezeichnung in der institutionellen Ordnung der Universität definiert. Als „rein korporativer Grad“ (Verger 1986c, Sp. 1156) stand das Doktorat vielmehr für die korporative Autonomie der Universität und hier insbesondere der Fakultät, ihre rechtliche Freiheit und Unabhängigkeit, über die Vergabe derartiger Grade und Titel zu entscheiden. Der Kanzler, ansonsten an allen substantiellen Verfahren innerhalb der Universität beteiligt, spielte bei den Graduierungen lediglich eine formale oder zeremonielle Rolle und ließ sich darin oft von Lehrenden vertreten (Wagner 1999, S. 236). Allerdings waren universitäre Grade unabhängig vom Ort ihres Erwerbs an allen Universitäten in Europa (und damit im Horizont der Zeit global) gültig. Entsprechend erwarb man die Lehrerlaubnis (licentia) mit dem Magisterium und dem Doktorat für eine räumlich unbegrenzte Anwendung, als Berechtigung, „überall“ zu lehren, ubique docendi. An jeder Universität unabhängig vom Ort der eigenen Graduierung eigenverantwortlich Vorlesungen halten zu dürfen, war aber an die Auflage gebunden, für eine gewisse Zeit (gewöhnlich zwei Jahre lang) der jeweiligen Fakultät als Mitglied anzugehören. Mit der Verleihung der licentia ubique docendi war also zugleich das Recht der Universität als Korporation ausgedrückt, Lehrende selbst zu berufen (Selbstergänzungsrecht), wie dasjenige, über die personelle Zusammensetzung des Lehrkörpers unabhängig zu entscheiden (Kooptationsrecht) (Wolgast 2002, S. 355). Umso wichtiger war es, dass Verfahrensformen, Examina, Graduierungen und universitäre Funktionstitel genau geregelt und grundsätzlich übertragbar definiert wurden. Die Verleihung der licentia wurde in Gegenwart des Kanzlers vorgenommen (Denk 2013, S. 92 f.), der an den Kathedralschulen früher für die Verleihung der Lehrlizenz zuständig gewesen war und in Paris noch im frühen 13. Jh. entsprechende Kompetenz an der neu entstandenen Universität reklamierte (Kintzinger 2007, S. 65 f.). Mit der rechtsverbindlichen Beschreibung der Stellung des Magisters gegenüber seinen Scholaren, wie sie sich im Verlaufe des 12. und frühen 13. Jh.s entwickelte, war der Prozess der internen, organisatorischen Durchdringung der universitas und
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die Beschreibung von Amtszuständigkeiten angestoßen worden. Es musste ein Leitungsamt geschaffen werden, dessen Inhaber die Entscheidungen wie auch die rechtliche Autorität nach innen und die Repräsentation sowie die Rechtsvertretung nach außen wahrnahm und nicht zuletzt die Koordination der Organisationseinheiten (so auch der Fakultäten) innerhalb der Universität verantwortete. Weitere Leitungsämter der untergeordneten Einheiten waren erforderlich und Verfahrensformen, die deren Zusammenwirken regelten. Lehrinhalte und Lehrformen, Veranstaltungs- und Prüfungsformate waren verbindlich zu beschreiben, die für die Rechtskörperschaft der Universität substantielle Satzungshoheit musste geregelt und die Gerichtsgewalt über deren Mitglieder organisiert werden. Das grundlegende und verbindlich vereinbarte Verfahren in allen diesen und sämtlichen inneren, organisatorischen Belangen wurde in Satzungen schriftlich festgehalten, den Universitätsstatuten, die rechtsverbindlichen Charakter hatten. Ämter, Verfahren und Satzungen sind der sichtbarste Ausdruck der Institutionalisierung der Universität (Gieysztor 1993, S. 118–126). Mit der institutionellen Entwicklung der Universität war von vornherein ihre Differenzierung in verschiedene Organisationsformen gegeben. Diese sollen im Folgenden zunächst anhand der wichtigsten organisatorischen Einheiten, den Fakultäten und den Nationen nachgezeichnet werden, bevor die in diesem Kontext geschaffenen Ämter in den Blick genommen werden. Prägend war der Unterschied zwischen entstandenen und gegründeten Universität sowie jener zwischen „Magisteruniversitäten“ wie Paris und fast allen später gegründeten Universitäten im nordalpinen Raum gegenüber „Studentenuniversitäten“ wie Bologna und nach dem Bologneser Vorbild geprägten weiteren Universitäten in Italien, Südfrankreich und auf der Iberischen Halbinsel. Zugleich ist damit der Unterschied zwischen einer Vier-FakultätenUniversität nach Pariser Muster und einer fachlich spezialisierten Universität nach Bologneser Modell bezeichnet. Während in Paris die Universität in die untere Artistenfakultät und die oberen Fakultäten Medizin, Recht und Theologie gegliedert war, blieb Bologna zunächst ausschließlich eine Rechtsuniversität und musste auf die theologische Fakultät verzichten, da die Kurie bis zum Ausbruch des Großen Abendländischen Schismas 1378 bestrebt war, die Theologenausbildung in Paris zu konzentrieren (Borst 1970). Der Begriff facultas entwickelte sich vom antiken, eher allgemeinen Verständnis einer Fähigkeit oder Möglichkeit über die spezifischere Gleichsetzung mit einer Wissenschaft bzw. Fachdisziplin zu einer technischen Bezeichnung für die Organisationsform eines Faches (Teeuwen 2003, S. 80 f.; Weijers 1987, S. 52–55). Mittelalterliche Gelehrte veranschaulichten die Hierarchie der Fakultäten in Analogien (Füssel 2007, S. 105). In seiner Autobiographie De rebus a se gestis von 1204/05 zieht Giraldus Cambrensis die Architektur als Metapher für das Studium der verschiedenen Fächer heran: Die artes legten das Fundament, auf dem die leges und canones Mauern setzten, so dass die Theologie das Gebäude mit dem Dach abschließen könne (Brewer 1861, S. 45). Indem die vier Fakultäten mit der Gründung der Universitäten eine organisierte Existenz neben- bzw. übereinander eingingen, waren sie seit den ersten Universitäts-
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gründungen zu einer institutionellen Zusammenarbeit unter einem Dach gezwungen (Rexroth 2009, S. 97). Seither kann der „Streit der Fakultäten“ als ein wesentlicher Bestandteil des universitären Alltags betrachtet werden (Kintzinger 2001, S. 183 f.). Obwohl alle mittelalterlichen Universitätsmitglieder dem geistlichen Stand angehörten, trennte eine klare soziale Barriere die Artistenfakultät als „Raum der Masse“ von den höheren Fakultäten als „Raum der Wenigen“ (Schwinges 1993, S. 196 f.). Wenngleich nur ein kleiner Teil der Artesstudenten ihr Studium an einer der höheren Fakultäten fortsetzte, waren auch die Lehrenden und Lernenden der höheren Fakultäten sozial unterschiedlich strukturiert. So betont Schwinges, dass den Theologen zwar die höchste Würde und der erste Rang zukamen, den Juristen aber das größte soziale Prestige (Schwinges 1993, S. 197; dazu auch Füssel 2007, S. 108). Die Bedeutung der juristischen Fakultät nahm im Spätmittelalter zu, da ihre Studenten entweder von gehobenem gesellschaftlichem Stand waren oder ein Studium der Jurisprudenz für eine spätere Karriere außerhalb der Universität nutzen konnten (Schwinges 1993, S. 184). Die Hierarchie der Fakultäten bestimmte nicht nur deren unterschiedlichen Rang und den ihrer Mitglieder, sondern hatte auch Auswirkungen auf die finanzielle Ausstattung und die Besoldung der Professoren. Dieser Zustand war Gegenstand beständiger Klagen jener Fakultäten, die sich dadurch benachteiligt sahen, und wurde häufig im Zuge von landesherrlichen Visitationen und Reformen thematisiert. Reformen konnten auf diesem Gebiet aber meist nur in geringem Ausmaß durchgesetzt werden, eine grundlegende Änderung der Fakultätenstruktur erfolgte bis ins 18. Jh. hinein nicht (Hammerstein 2001). Zu den Aufgaben der Fakultät gehörte die Organisation der Lehrveranstaltungen und der Prüfungen; sie verlieh die akademischen Grade und sorgte für die Anwerbung und Anstellung des Lehrpersonals. Als Leiter der Verwaltung fungierte der Dekan (Uiblein 1995, S. 54). Fakultäten verfügten fast ausnahmslos über eigene Siegel und Statuten; die Ausstattung mit einem eigenen Fakultätsgebäude und einer Bibliothek war hingegen nicht überall gegeben (Statuten; Gebäude; Bücherverzeichnisse). Auch die Ausprägung der schriftlichen Überlieferung in Form von Matrikeln, Akten, Rechnungen (Finanz- und Vermögensverwaltung) etc. gestaltete sich uneinheitlich. Ein weiteres Organ der Verwaltung bildeten die Nationen: Um die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, die aus einer Vielzahl von Regionen und Ländern stammten, organisatorisch handzuhaben, wurden sie seit dem 12. Jh. durch eine grobe Unterscheidung nach Herkunftsregionen in nationes eingeteilt. Akademische Nationen verstanden sich als Interessensvertretungen gegenüber den städtischen Institutionen und den Studenten der anderen Nationen. Sie boten ihren Mitgliedern Rechtsschutz und erleichterten die Integration in das universitäre Leben (Kibre 1948, S. 3–6, 161; Wagner 2000, S. 141–143). In Bologna waren die nationes der Scholaren früh vorhanden und wurden zum grundlegenden Organisationsprinzip der Universität. Sie unterschieden zunächst zwischen denen, die von dies-, und denen, die von jenseits der Alpen stammten, woraus im ersten Drittel des 13. Jh.s zwei universitates (citramontanorum/ultramontanorum)
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entstanden. Diese wurden ihrerseits nach Großregionen und Reichen in subnationes (bei den Citramontanen consiliariae) unterteilt. Deren Leiter (procuratorii, bei den Citramontanen consiliarii) wählten für jede der universitates die Rektoren. Sie bildeten den Rat der Rektoren und waren das für die Immatrikulation der Scholaren wie auch für die Gerichtshoheit innerhalb der Universität maßgebliche Gremium (Verger 1992, Sp. 1039). An Universitäten des Bologneser Modells übernahmen die Nationen zudem verstärkt Aufgaben in der Verwaltung, die andernorts von den Fakultäten erfüllt wurden. Entsprechend den Fakultäten verfügten sie über eigene Siegel, Matrikel und Nationenbücher, hielten besondere Feiertage ein und verehrten ihre eigenen Schutzheiligen (Hirschi 2005, S. 127). In Paris verlief die Entstehung der nationes auffallend anders: Sie entwickelten sich nicht vor dem ersten Drittel des 13. Jh.s, waren von vornherein auf Großregionen oder Reiche bezogen, intern in Provinzen unterteilt, waren für die Immatrikulation der Scholaren zuständig, bezogen aber Scholaren und Magister mit in ihre Organisation ein. Allerdings waren sie auf die Artistenfakultät beschränkt, während die oberen Fakultäten dieses Instrument der inneren Organisation ablehnten (Gieysztor 1993, S. 114). Die Rezeption dieser Ordnung verlief an den europäischen Universitäten recht unterschiedlich. Eine Mehrheit der Universitäten im späten Mittelalter (darunter sämtliche im Heiligen Römischen Reich gelegene) kannten nationes als Organisationseinheit, wobei die Zuordnung von Herkunftsregionen und nationes sehr grob und beliebig blieb. Mancherorts, so in Montpellier und Orléans, aber auch in Oxford und Cambridge, wurde das Modell der Scholaren-nationes übernommen. Häufig gab die Unterscheidung der nationes Anlass zu heftig ausgetragenen Konflikten zwischen den Beteiligten. In der institutionellen Organisation mussten sich die Rektoren der Universitäten mit den Prokuratoren der nationes abstimmen. Vor allem blieben die nationes das entscheidende Organisationselement zur Wahl in die Leitungsämter der Universität, auch des Rektorats. Als im ausgehenden Mittelalter die Herkunft der Studenten zunehmend auf die Region der Universität selbst bezogen wurde und die Autonomie der Korporation durch die verstärkte Einwirkung territorialpolitischer Gewalt erhebliche Einbußen hinnehmen musste, verloren die nationes an Bedeutung, blieben aber weiterhin als Wahlgremien bestehen. Von der Forschung wird die Annahme einer Kontinuität der akademischen nationes zu den frühneuzeitlichen Nationen mittlerweile weitestgehend ablehnend beurteilt (Wagner 2000, S. 141; Hirschi 2005, S. 124–174). Nach Hirschi übten die akademischen Nationen auf die „humanistische Nationskonstruktion […] keine nachhaltige Wirkung aus“ (Hirschi 2005, S. 125). Mit der Ausbildung einer differenzierten Binnenstruktur der Universität war die Schaffung von Ämtern verbunden, die für das Funktionieren der organisatorischen Einheiten ebenso von Bedeutung waren wie für deren Zusammenarbeit und das Verhältnis der Universität als Ganzer zu ihrer Umwelt. In Paris ist erstmals 1245 ein rector als verantwortlicher Leiter und Repräsentant der Universität belegt (Verger 1994). An den meisten Universitäten stand ein Rektor an der Spitze, auch wenn die Modalitä-
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ten der Wahl, die Rekrutierung eines künftigen Rektors und dessen Befugnisse sich erst sukzessive entwickelten und es weiterhin Unterschiede zwischen den Verfahren an den einzelnen Universitäten gab (für das Reich im 15. Jh. Schwinges 1992). Für die inneren Belange der Universität und ihrer Angehörigen kam dem Rektor die Gerichtsgewalt zu. Meist präsidierte er dem Konvent, dem die satzungsgebende Gewalt zukam. Entscheidungen über die Satzung fielen im Konvent auf der Grundlage der vorherigen Debatte in den einzelnen Nationen und Fakultäten, deren Beschlüsse über ihre Prokuratoren und Dekane an den Konvent übermittelt und dort zu einer für die Gesamtheit geltenden Entscheidung zusammengeführt und durch den Rektor bekanntgegeben wurden (Gieysztor 1993, S. 120, 122 f.). Mit der institutionellen Ausdifferenzierung innerhalb der entstehenden Universitäten waren zugleich vielfache Konkurrenzen verbunden. Da für seine Wahl die nationes der Artistenfakultät zuständig waren, kam der Rektor in Paris immer aus dieser Fakultät. Aus struktureller Konkurrenz und weil die Artistenfakultät das geringste Ansehen genoss, verweigerten die Angehörigen und Leitungsverantwortlichen der anderen, höheren Fakultäten an Hochschulen, die sich an diesem Modell orientierten und nur Artisten als Rektoren dulden wollten, vielfach dem Rektor die Gefolgschaft. Daher musste dieses zunächst favorisierte Verfahren im späteren Mittelalter geändert werden. Künftig wurde der Rektor von den magistri und doctores der gesamten Universität gewählt. Mit dem kollektiven Wahlverfahren (Verger 1993, S. 62), das sich insbesondere im Heiligen Römischen Reich des Spätmittelalters nach mehreren unterschiedlichen Modalitäten auffächerte, wurde zugleich der grundlegende Konflikt zwischen dem Exklusivitätsanspruch der oberen Fakultäten (denen die doctores angehörten) und der Massenfakultät der Artisten manifest (Schwinges 1992, S. 64 f.). An der ‚Studentenuniversität‘ Bologna und den nach ihrem Modell entwickelten hohen Schulen stellte sich die Situation anders dar: Dort war der Rektor stets ein fortgeschrittener Student. Wieder anders waren jene Universitäten organisiert, an deren Spitze zwar ebenfalls ein Leitungsamt stand, das aber anders bezeichnet wurde (so in Avignon) oder mit dem Amt des auf Vorschlag der doctores vom Ortsbischof ernannten Kanzlers identisch war (so an den Universitäten Oxford und Cambridge, die dem Pariser Muster folgten, und an der Universität Montpellier, die als Medizinschule dem Bologneser Modell folgte). Das Amt des Kanzlers, mit Zuständigkeit für die administrative Gesamtorganisation und Finanzierung der Universität, war zugleich ein mögliches Einfallstor für die Einflussnahme übergeordneter Instanzen, des Diözesanbischofs zunächst, später auch des territorialfürstlichen Landesherrn (Aschbach 1865, S. 585; Thümmel 1975, S. 13; Wagner 1999, S. 110, 166; Denk 2013, S. 39, 52). Es ist also nur bedingt als universitäres Amt zu werten, insofern es, im Unterschied zu sonstigen Funktionsstellen, nur an wenigen Universitäten wie Oxford und Cambridge ab dem 13. Jh. für die korporative Unabhängigkeit stand. Über administrative, nicht wissenschaftliche oder lehrende Zuständigkeiten – also „administrateurs et personnels“ gegenüber „enseignants“ und „étudiants“ (Weijers 1987) – waren schließlich auch jene Dienstkräfte der Universität definiert, die als (meist nebenberufliche) Notare, funktional und sozial niederrangiger als Pedelle,
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Boten/nuntii und Buchhändler bezeichnet wurden (Weijers 1987, S. 223–233; Verger 1997, Sp. 1251). Pedelle waren zumeist den Rektoren, andere den Fakultäten zugeordnet, allgemeinen (bedellus generalis) oder besonderen Aufgabenfeldern zugewiesen (bedellus specialis). Durch Amtstracht und einen Stab gekennzeichnet (Insignien), gingen sie bei offiziellen Anlässen dem Rektor voraus, trugen die Akten (Graduierungslisten, Bücherverzeichnisse), sammelten die Stimmabgaben bei Sitzungen ein und verkündeten von Rektor und Konvent getroffene Beschlüsse sowie neu erlassene Statutentexte (Gieysztor 1993, S. 124). Die Dienstkräfte standen gewöhnlich im Dienstverhältnis zur Leitung der Universität, konnten aber, darin ähnlich dem Kanzler, auch von übergeordneten kirchlichen oder weltlichen Instanzen gestellt werden. Nur selten gingen sie aus dem Kreis der Scholaren oder (gescheiterten) Bakkalaren hervor (Teufel 1977, S. 215–218; Hofmann 1982, S. 75). Mitunter wurden sie als „Universitätsverwandte“ bezeichnet (Wolgast 2002, S. 357). In den Fakultäten entstand mit dem collegium doctorum (in dieser Bezeichnung zuerst an den italienischen universitates scolarium als Selbstorganisation der Lehrenden aufgekommen) ein zugleich repräsentatives und entscheidungskompetentes Gremium der doctores (also ausschließlich der Inhaber des höchsten Qualifikationsgrades), das über die internen Verfahren der Prüfungsordnungen, Graduierungen und Titelverleihungen entschied. Ihm stand mit dem regens ein von den Mitgliedern befristet gewählter (oder nach Anciennität bestimmter) Leiter vor, der auch als decanus (selten als rector) bezeichnet werden konnte. Diese Funktion bot die Grundlage der späteren Entwicklung zum Amt des Dekans. Wegen der übergreifenden Kompetenzen des Rektors wie auch des Kanzlers bot die Zuständigkeit des regens/decanus vielfaches Konfliktpotential in der Wahrnehmung der Eigeninteressen einer Fakultät. In Bologna wie in Paris ist die institutionelle Zuständigkeit des decanus erstmals gegen Mitte des 13. Jh.s nachweisbar. Insbesondere in Paris korrespondiert die Einführung des Amtes mit der Etablierung von förmlichen Statuten. Begrifflich wird der decanus erstmals in den 60er-Jahren des 13. Jh.s erwähnt. Obwohl den nach dem Pariser Modell in einer Fakultätenstruktur organisierten Universitäten die Einrichtung eines Dekanats in den höheren Fakultäten (wegen dessen regulärer Zugehörigkeit zum Kreis der doctores) möglich gewesen wäre, verzichteten sie zunächst und griffen darauf erst spät (oft im 15. Jh.) und vornehmlich an den Universitäten des Heiligen Römischen Reiches zurück (Verger 1986b, Sp. 653). Zuvor war ein Dekan nur an der Artistenfakultät bestellt worden und präsidierte als ältester der Magister deren Versammlung, die für die Organisation der Lehre und der Examina zuständig war (Gieysztor 1993, S. 112). 3. Innere Umwelt und Umweltbeziehungen (Martin Kintzinger) Auch wenn keinesfalls alles an der Universität gelehrte Wissen auf Nutzbarkeit im außeruniversitären bzw. außerwissenschaftlichen Raum ausgerichtet war, stellten Studierte und ihr Wissen doch eine Ressource bereit, die von Institutionen und Personen der außeruniversitären Umwelt für eigene Zwecke in Dienst genommen wurden. Der
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Nutzen insbesondere rechtsgelehrten Rates für die Herrschaft war evident. Wie in anderen Zusammenhängen auch, war Kaiser Friedrich II., in diesem Fall als König von Sizilien, seiner Zeit voraus: 1224 gründete er die Universität Neapel in der erklärten Absicht, vor allem Rechtsgelehrte ausbilden zu lassen. Analog zu dem kaiserlichen Privileg für Bologna von 1155/1158 wurden den Lehrenden die Gerichtsgewalt (hier eingeschränkt auf das Zivilrecht) über ihre Scholaren zugesprochen und alle Universitätsangehörigen unter besonderen Schutz gestellt. Detaillierte administrative Regelungen (so etwa zu den Mietbedingungen für Scholaren) banden die Kommune in die Planungen ein, während der Kirche jede Mitwirkung verweigert wurde (Nardi 1993, S. 91 f.). Aus der Absicht, die eigenen Untertanen des Königreichs an die neue Universität zu ziehen, wurde das Verbot, dass sie außerhalb studierten. Mit Neapel war eine erste Universität des Typs jener „Landesuniversitäten“ entstanden, wie sie seit der ersten Einrichtung im Heiligen Römischen Reich, der 1348 durch Karl IV. als böhmischem König gegründeten Universität Prag, in Mitteleuropa typisch werden sollten. Die Erzählung von der „Bildungsmigration“ am Anfang der Universitätsgeschichte wirkte bereits hier und schlug in den Gründungsprivilegien durch: Damit die eigenen Landeskinder nicht mehr in fremde Länder zum Studium gehen müssten – so legitimierte Karl IV. seine Gründung (Kaluka 2000, S. 112). Gemeint war damit vor allem Italien, wie im Gegenzug am Hof der böhmischen Könige aus dem Haus Luxemburg zahlreiche italienische Gelehrte tätig waren. Die angestrebte Eigenständigkeit war in zweifacher Hinsicht von politischer Bedeutung. Aus Sicht der Landesherren als Stifter und Gründer von Universitäten im Spätmittelalter darf sie in jedem Fall als eine gelenkte Eigenständigkeit im Interesse der Rekrutierung einer Funktionselite für die Bedürfnisse herrschaftlicher Politik und Administration verstanden werden. Mit der Karriere der Gelehrten des römischen Rechts (Legisten) als Ratgeber und Gutachter an den europäischen Fürstenhöfen war eine entscheidende Weiterentwicklung von „Vorstellungen zur Herrschaftspraxis“ (Graßnick 2004, S. 297) und zur politischen Theorie verbunden. Über die eher allgemein belehrende Textgattung der Fürstenspiegel hinaus entstanden nun Texte zur Begründung exklusiver politischer Geltungserwartungen, international wirksamer Vorrangansprüche und erster völkerrechtlicher Legitimationen (Kintzinger 2011). Das darin sichtbare Ausgreifen wissenschaftlicher Modellbildungen auf die gesellschaftliche Realität war wesentlich durch die aufkommende Rezeption der Werke des Aristoteles geprägt (Perret 2011), bezeichnet also zugleich einen innerwissenschaftlichen wie einen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit stattfindenden Transferprozess. An den Karrierechancen innerhalb der Gesellschaft und der damit verbundenen Aussicht auf eine gesicherte ökonomische und soziale Position hatten vor allem die Rechtsgelehrten teil, insgesamt die Angehörigen der oberen Fakultäten und die höher Graduierten, die doctores, eher als die übrigen. Die Angehörigen und Absolventen der Artistenfakultäten waren daran nicht beteiligt (Kintzinger 2001). Ihnen blieb in aller Regel immerhin die Aussicht auf Versorgung durch Übernahme von Schreiberstellen in Kanzleien, von Schulmeisterpositionen oder kirchlichen Pfründen (Kintzinger 1999). Der Erwerb des Magistergrades zahlte sich für sie oft nur bedingt aus, weil man
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wohl für doctores der Rechte oder der Medizin ein hohes Gehalt auszusetzen bereit war, nicht aber für magistri artium. Daher waren diese in weit höherem Maße als die Angehörigen der oberen Fakultäten auf kirchliche Pfründen als Versorgungsgrundlage angewiesen (Rüegg 1993, S. 40). Die überwiegende Mehrheit der Artesstudenten konnte durch den praktischen Nachweis der erlernten Schreibfähigkeiten (sicher in der Volkssprache, nicht notwendig auch im Lateinischen) eine Anstellung finden, selbst ohne förmlichen Studienabschluss durch ein Universitätsexamen (Schwinges 2008b). Der Zusammenhang von „savoir et pouvoir“ und die Anforderungen der „monde de la pratique“ entschieden über den gesellschaftlichen Wert universitärer Studien und Grade und beeinflussten das Studienverhalten und neue Formen einer funktionalen Migration von Scholaren zu bestimmten Universitäten oder auch den Studienortwechsel (Schwinges 1986; Verger 1997; Schwinges 2008a). Um die unterschiedlichen Motivationslagen Studienwilliger zu erfassen, ist in der Forschung die Unterscheidung in „fünf idealtypische Universitätsbesucher“ vorgeschlagen worden: „Simplex, Bakkalar, Magisterstudent, Standesstudent, Fachstudent“ (Schwinges 1993, S. 185). Sie lässt sich als faktische, sozial determinierte Unterteilung der Scholaren an der mittelalterlichen Universität, insbesondere den Universitäten im spätmittelalterlichen römisch-deutschen Reich, lesen: „Für die Studenten waren Universitäts- und Außenwelt also mit Bedacht ineinander geschoben – racione gradus aut status, so formulierte man in Wien, gemäß akademischen Graden oder sozialer Position“ (Schwinges 1993, S. 190). Zugleich bildet die Scholarentypologie als sozialständisches Differenzierungsmodell das Panorama der zeitgenössischen Versorgungs- und Karrieremöglichkeiten durch einen Universitätsbesuch ab, den Absolventen der oberen Fakultäten mit gehobener sozialer Herkunft als graduierte Absolventen zur Statussicherung, Artisten hingegen mehrheitlich als Ungraduierte zu einer immerhin geringen Statusbesserung durch Anstellungsperspektiven nutzen konnten. Die unterschiedlichen sozialen Chancen wirkten auf das Ansehen der Disziplinen an der Universität zurück und begründeten eine Geltungskonkurrenz zwischen den Fakultäten. Von den Juristen, Medizinern und Theologen wurde bewusst gehalten, dass die Artistenfakultät den notwendig ersten Zugang für lernwillige Scholaren bot, von denen viele lediglich volks- und lateinsprachige Schreibfähigkeit zu erwerben suchten und keine nennenswerten Entwicklungschancen in der umgebenden Gesellschaft hatten. Das Wissen der Artisten wurde in einer Begriffsprägung aus dem Trivium, den auf die Schrift- und Redekunst bezogenen untersten Disziplinen der Septem Artes Liberales, als „trivial“ deklassiert. Als die kirchlichen Instanzen im 13. Jh. (vergeblich) versuchten, die Verbreitung aristotelischer Lehren an der Universität Paris zu unterbinden und der Ortsbischof die inkriminierten Thesen 1277 zusammenstellte, ging es nicht nur um die mit der kirchlichen Dogmatik schwer vereinbaren Behauptungen, sondern und vielleicht sogar vorrangig darum, dass diese Behauptungen mit Aussagen theologischen Inhalts nicht an der theologischen, sondern an der artistischen Fakultät kursierten (Zensur). Sie taten es trotz des bischöflichen Verbotes weiter. Mehr als von den übrigen Universitätsangehörigen ging von den Artisten tendenziell ein Unruhepotential aus.
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Die Zurückweisung durch die Angehörigen der oberen Fakultäten nahmen die Artisten nicht unwidersprochen hin. Im Gegenzug prägten sie – die „Klage der weniger gut Weggekommenen“ (Miethke 2004, S. 4) – die Bezeichnung der oberen Fakultäten, insbesondere der Rechtswissenschaft, als scientiae lucrativae (Miethke 2004, S. 109; Walther 1989, S. 478; Kintzinger 2014, S. 282). Nicht Anerkennung sozialer Geltung und politischer Bedeutung drückt sich in dem satirischen Diktum aus, sondern ein Verdikt gegen die Orientierung der Angehörigen jener Disziplinen auf finanzielle Einträglichkeit statt wissenschaftlicher Erkenntnis. Die gegenseitigen Vorwürfe wurden in kontroverser Publizistik ausgetragen, und in den Reformschriften des ausgehenden Mittelalters wurde die angebliche Nutzlosigkeit gelehrten Wissens und das Postulat einer dem allgemeinen Nutzen verpflichteten Wissenschaft ein gewichtiges Argument. Disziplinarkonflikte zwischen übergeordneten Amtsinhabern und Fakultätsangehörigen (mitunter im Rahmen von ritualisierten Praktiken vollzogen) waren ebenso häufig wie Konflikte zwischen Lehrenden um das Hörergeld der Scholaren oder schließlich körperlich ausgetragene Meinungsverschiedenheiten als Widerspiegelung disziplinärer Lehrstreitigkeiten. Formen der „violence éstudiantine“ (innerhalb der Universität wie in der Stadt des Studienortes, dort mitunter in subtilen Formen vollzogen, etwa im Rahmen einer Prozession) waren als „Normalfall“ der Kommunikation nichts anderes als ein zeitüblicher Ausdruck der in der umgebenden Gesellschaft ebenso anzutreffenden Konfliktkultur (Tewes 1993, S. 228–235; Cassagnes-Brouquet 2012, S. 11; Destemberg 2015, S. 128–139, 178–184).
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BASISARTIKEL „VERWALTUNG“ Akten: Rektorats-, Senats- und Fakultätsakten Jana Madlen Schütte
Begriffserklärung Rektorats-, Senats- und Fakultätsakten berichten über die alltäglichen Angelegenheiten der Universität oder der Fakultät. Sie geben Auskunft über Besetzungen von Ämtern, Prüfungen, Beziehungen zur Stadt oder zu anderen Universitäten und enthalten neben Protokollen von Universitäts- oder Fakultätsversammlungen z. B. Rechnungen, Briefe und Abschriften von Urkunden. Die Akten wurden von den Rektoren oder Dekanen während oder bald nach ihrer Amtszeit häufig in erzählender Form geführt und meist chronologisch nach Semestern bzw. Jahren angeordnet. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Während die Universitätsmatrikel bald nach Gründung der Universität angelegt wurde, begannen die einzelnen Fakultäten und die Universität zum Teil erst nach einigen Jahren mit der Anlage der Fakultäts- (acta facultatis) bzw. Rektoratsakten (acta rectorum). Oft war zu diesem Zeitpunkt die Phase der Konsolidierung der Universität bereits abgeschlossen und Statuten genehmigt und festgesetzt. Dann fasste die Universitäts- bzw. Fakultätsversammlung einen offiziellen Beschluss zur Anschaffung eines Buches und Anlage der Akten. Damit verbunden war die Zuweisung an den Dekan bzw. Rektor oder einen Vertreter, der die Führung und Verwaltung der Akten übernahm. Gelegentlich lässt sich ein Hinweis ausmachen, was in den Akten verzeichnet werden sollte. Die Vorgaben konnten allgemein sein und alle Angelegenheiten der Fakultät oder präziser die Beschlüsse des Gremiums und Listen der Graduierten umfassen. Neben der Bezeichnung acta findet sich in den zeitgenössischen Quellen häufig der Begriff liber, d. h. statt acta facultatis konnte liber facultatis oder liber decanatus verwendet werden und statt acta rectorum allgemeiner liber universitatis. Da seit dem 16. Jh. die Generalversammlung der Universität, ihr höchstes legislatives und administratives Organ, auch Senat genannt wurde, wird in der frühen Neuzeit für Rektoratsakten die Bezeichnung Senatsakten gebräuchlich (Uiblein 1995, S. 54 und Ridder-Symoens 1996, S. 149). In seiner Einleitung zu der Übersetzung der Greifswalder Dekanatsakten der Artistenfakultät beklagt Thümmel, dass die Akten kaum Informationen über die zeit-
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genössische Wissenschaft lieferten, sondern vielmehr ein „Buch der Wirtschaft und der Verwaltung“ seien (Thümmel 2008, S. 14). Gerade diese Ausrichtung der Quellengattung ermöglicht jedoch einen Einblick in das tägliche Leben und die Angelegenheiten der Fakultät bzw. der Universität (Uiblein 1995, S. 54), den andere Quellen für diesen frühen Zeitraum oftmals nicht bieten. Der Inhalt der Fakultäts- und Rektoratsakten lässt sich in vier Kategorien einteilen: (1) Finanzielle Verwaltung: Dazu gehören z. B. Angaben über Einnahmen und Ausgaben der Fakultät und über den Bucherwerb; Rechnungslisten nehmen innerhalb der Akten großen Raum ein. (2) Formale Organisation des Fakultäts- und Universitätslebens: In den Akten finden sich häufig umfangreiche Verzeichnisse der Prüfungen und Promotionen zu den akademischen Graden, die nach Semestern angeordnet sind. Zudem beginnen die Einträge eines Jahres/Semesters meist mit Nachrichten über die Besetzung der Fakultätsämter, besonders über die Wahl des Dekans. Manchmal werden die gehaltenen Vorlesungen und Disputationen erwähnt. (3) Gestaltung des Fakultäts- und Universitätslebens: Einen großen Teil der Akten nehmen Protokolle über Beratungen der Fakultäts- und Universitätsversammlungen ein, in denen u. a. Auslegungen oder Differenzierungen der Statuten oder Beschlüsse zu Streitfällen zwischen einzelnen Studenten, Professoren oder unterschiedlichen Fakultäten festgehalten werden. Gelegentlich finden sich in den Akten auch Hinweise auf Konflikte, die vor Gericht verhandelt wurden. Außerdem wird über die Abhaltung universitärer Feierlichkeiten und über die Beziehungen der Fakultät bzw. der Universität zu anderen Fakultäten und Universitäten und zur Stadt berichtet. Vereinzelt werden politische Ereignisse der Stadt oder des Landes aufgegriffen, wenn sie in Beziehung zur Universität stehen. (4) Andere Quellengattungen, die Eingang in die Akten gefunden haben: In den Akten wurden neben den schon erwähnten Rechnungen (Finanz- und Vermögensverwaltung) die ein- und ausgehende Korrespondenz z. B. mit anderen Universitäten und Abschriften von Urkunden und Briefen (vgl. den Hinweis in der Einleitung von Uiblein 1968, S. XIV) aufgenommen. Die mit der Verschriftung von Informationen in den Fakultäts- und Rektoratsakten verfolgten Ziele sind vielfältig. So musste der jeweilige Dekan anhand seiner Aufzeichnungen Rechenschaft über die Einnahmen und Ausgaben während seiner Amtszeit ablegen. Wenn er es versäumte seinem Nachfolger eine genaue Abrechnung vorzulegen, konnte ihm sogar der Ausschluss aus der Fakultät drohen. Zudem wollte der Dekan seinen Amtsnachfolger und generell die Nachwelt über Prüfungen, Beschlüsse, Änderungen von Statuten etc. informieren. Fakultäts- und Rektoratsakten konnten daher auch als ‚Nachschlagewerke‘ bei Zweifel an erfolgreich abgeschlossenen Prüfungen, bei anstehenden Statutenänderungen o. Ä. herangezogen werden, wie Anmerkungen und andere Benutzungsspuren zeigen Die Akten kamen dem Bedürfnis entgegen, Ordnungen und Regelungen schriftlich zu fixieren und ihnen damit Verbindlichkeit zu verleihen. Schließlich konnte die Funktion der Akten über den Raum der Fakultät und Universität hinausreichen, indem Beschlüsse des Landesherren oder Aushandlungen mit dem städtischen Rat festgehalten wurden. In einigen Fällen erlangten die Akten für einen Personenkreis Bedeutung, der nicht zu
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den Angehörigen der Universität selbst zählte: So lassen sich aus den Akten der medizinischen Fakultäten z. B. Informationen über die Strukturierung und Verwaltung des Gesundheitswesens gewinnen. Die Fakultäts- und Rektoratsakten differieren von Universität zu Universität sehr stark im Umfang; generell ist ab dem 17. Jh. ein Anstieg der Aktenführung zu bemerken. Gelegentlich finden Anteile der Akten Eingang in die Matrikel, so dass die Universitätsmatrikel durch beschreibende Teile ergänzt werden, wie sie sich sonst im Rektoratsbuch finden lassen. Dieser Fall ist auch umgekehrt bei Promotionsbüchern der Fakultäten oder Fakultätsmatrikeln zu beobachten. Für den italienischen Sprachraum sind kaum Fakultäts- oder Rektoratsakten überliefert, da die Organisation der Universitäten nach dem Bologneser Modell die Entwicklung von Nationen und damit verbunden die Aktenführung dieser Teilinstitutionen begünstigte (Nationenbücher). 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Rektorats- bzw. Fakultätsakten sind chronologisch nach Amtszeiten der Rektoren bzw. der Dekane aufgebaut. Die Dekane bzw. Rektoren oder von ihnen beauftragte Schreiber verfassten ihre Berichte während oder am Ende ihrer Dienstzeit, die meist mit dem Ende des Semesters zusammenfiel. Die Einträge sind unterschiedlich lang: Während einige nur wichtige Fakten zusammentragen, sind andere Einträge sehr ausführlich. Daneben finden sich leergelassene Seiten, auf denen möglicherweise später Notizen ergänzt werden sollten (Uiblein 1978, S. XVII–XIX; Schrauf/Senfelder, Bd. 1 1894–1910, S. V). Zudem gibt es immer wieder Unterbrechungen in der Überlieferungskette (Thümmel 2008, S. 11). Neben Lücken finden sich Passagen, die später z. B. nach Begleichung einer Schuldforderung gestrichen wurden (Thümmel 2008, S. 14; Uiblein 1995, S. 55). Selten sind Dekanatsakten wie die der Erfurter medizinischen Fakultät mit aufwendigen Initialen und Miniaturen versehen. Die Fakultäts- und Rektoratsakten sind weitgehend auf Latein verfasst, gelegentlich finden sich z. B. bei Abschriften volkssprachliche Anteile. Ab dem 16. Jh. kann ein Anstieg der volkssprachlichen Einträge beobachtet werden. Die 1574 einsetzenden Akten der Universität Leiden wurden beispielsweise auf Niederländisch verfasst (Molhuysen 1913). Da die Verfasser der Einträge mit der Amtsübergabe wechselten, gibt es viele verschiedene Hände. Daher unterscheiden sich Inhalt und Gestalt der Einträge von Autor zu Autor, was sich z. B. in unterschiedlichem Stil und Lesbarkeit offenbart. Häufig zeigen die Berichte ihre schnelle Entstehung u. a. als Sitzungsprotokolle durch lange Sätze ohne konstruierte periodische Reihung oder Schreib- bzw. Flüchtigkeitsfehler. Das Latein kann als Gebrauchslatein charakterisiert werden (Thümmel 2008, S. 14). Selten lässt der Stil des jeweiligen Schreibers persönliche Besonderheiten erkennen oder zeigt durch die Wortwahl die Haltung zu fakultätsinternen Beschlüssen. Die verwendete Sprache ist meist sehr sachlich und gegenstandsbezogen. Durchgängig wird universitäres Vokabular gebraucht z. B. bei Amtsbezeichnungen von
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Seite aus dem Erfurter Dekanatsbuch der medizinischen Fakultät, 1490er Jahre, oben die Schutzpatrone der Fakultät, Cosmas und Damian, (Stadtarchiv Erfurt 1-1/X B XIII, 71, fol. 86).
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Personen, Gebäuden bzw. Institutionen und Disziplinen. Hinzu kommen Vokabeln der Amtssprache; spezifische Fachbegriffe finden sich z. T. bei der Beschreibung von Prüfungsinhalten, Buchkäufen oder der Festlegung von Lehrplänen. In den Acta facultatis medicae universitatis Vindobonensis wurde am 6. Mai 1399 die Einführung eines Dekanatsbuches festgehalten: Es wurde beschlossen, dass ein Buch erworben werden sollte, um darin die Angelegenheiten der medizinischen Fakultät aufzuschreiben; zudem sollten alle neu inskribierten und alle graduierten Medizinstudenten darin notiert werden. Ausdrücklich formuliert wird das Ziel, das damit intendiert wird: Durch das Eintragen in das Buch sollen die Studenten in der Zukunft als Mitglieder der Fakultät bekannt sein (Schrauf/Senfelder, Bd. 1 1894–1910, S. 2). Dieses Dekanatsbuch wurde so angelegt, dass die ersten 18 Blätter den Dekanatsberichten vorbehalten blieben. Im Anschluss finden sich ein Registrum pro doctoribus, ein Registrum pro licenciatis und ein Registrum pro baccalariis (Schrauf/ Senfelder, Bd. 1 1894–1910, S. VI). Zu Beginn der Aktenführung wurden häufig lose Blätter beschrieben, die später zusammengebunden wurden (Thümmel 2008, S. 13). In der Folgezeit fanden meistens vorgebundene Bücher Verwendung. So kaufte der Dekan Paul Fabri von Geldern 1396 das erste Buch für die Aufzeichnungen der theologischen Fakultät von Wien aufgrund eines Fakultätsbeschlusses (Uiblein 1978, S. VIII–X, S. 19). Auch beim Liber decanatus der Tübinger Artistenfakultät wurde ein vorgebundenes Buch verwendet, dessen Einband aus lederbespannten Holzdeckeln besteht; ursprünglich war eine Schließe vorhanden. Es enthält 78 Papierblätter, die größtenteils beidseitig beschrieben sind (Hofacker 1978, S. XIV). Die Fakultäts- bzw. Rektoratsakten variieren im Umfang stark zwischen den verschiedenen Universitäten. Außerdem beschränken sich einige Akten auf die Zusammenfassung von Beschlüssen und fügen keine Abschriften weiterer Quellen ein. So sind z. B. die Akten der Wiener medizinischen Fakultät sehr ausführlich; sie stellen nicht nur eine Quelle für das Alltagsleben der Fakultät dar, sondern geben ein anschauliches Bild der Entwicklung der Beziehung der Fakultät zu den nicht-akademischen Heilkundigen (Schrauf/Senfelder 1894–1910). Im Gegensatz dazu beschränkt sich das Dekanatsbuch der juristischen Fakultät in Frankfurt a. O. auf wenige Daten und Ereignisse und besteht größtenteils aus Listen der Graduierten (Bauch 1906, S. 48–68). An den italienischen Universitäten trat der Umfang der Fakultätsakten aufgrund ihrer Organisationsstruktur zugunsten von Nationenbüchern zurück. In Padua gab es darüber hinaus die Acta graduum academicorum gymnasii patavini, die sehr knapp die Graduierungen zusammenstellen (Zonta/Brotto 1922; Ghezzo/Pengo/ Forin 1990–2008). Zu den Fakultäts- und Rektoratsakten kommen – besonders ab dem 15. Jh. – weitere Aktenformen hinzu, die nicht klar einer der beiden Kategorien zugordnet werden können. Dabei handelt es sich um Prozessakten bzw. -protokolle (z. B. Wien: Protocollum Universitatis […] Controversiae, acta et causae etc., ab 1591 und Ingolstadt: Liber iudiciarius/iudicalis, 15. und 16. Jh.) oder Anstellungsbücher (z. B. Tübingen: Liber conductionum, ab 1503).
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Visitationsakten bildeten eine weitere, allerdings nicht von der Universität geführte Aktenform, die verstärkt ab dem 16. Jh. im Kontext von landesherrlichen Universitätsvisitationen geführt wurden (Rasche 2011, S. 143; Clark 2006, S. 340). Themen der Visitationen waren z. B. Erfolg oder Misserfolg bei der Überwachung der Disziplin, der Durchführung des Unterrichts, bei der Einhaltung der äußeren Form (Kleiderordnungen), der Haushaltsführung und der Stellenbesetzung (PillRademacher 1993, S. 36–39). Ihre Ergebnisse fassten die Visitatoren in Bedenken und Korrekturanweisungen zusammen, die sie zur Beratung z. B. dem Kurfürsten und seinen Räten übergaben. Diese finden sich ebenso in den Visitationsakten wie die Stellungnahmen der Universitätsangehörigen und landesherrliche Beschlüsse. 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Uiblein bemerkt zu den Akten, dass ihr großer Umfang die Publikation erschwere (Uiblein 1980, S. 330), was sicherlich erklärt, warum für viele Universitäten noch keine (durchgängigen) Editionen vorliegen. Insgesamt wäre es zu begrüßen, wenn mehr Editionsprojekte zu Fakultäts- und Rektoratsakten ins Leben gerufen würden, was sicherlich auch eine Steigerung der vergleichenden Studien zu dieser Quellengattung zur Folge hätte. Da die Akten auch für den universitären Unterricht vielfältige Einsatzmöglichkeiten bieten, wären hier auch über zweisprachige Editionen nachzudenken. Durch die genauen und häufig detaillierten Aufzeichnungen sind die Akten „meist die eingehendste erzählende Quelle zur Geschichte der Universität“ (Uiblein 1980, S. 330). Fakultäts- und Rektoratsakten eröffnen zahlreiche Zugänge für die Universitätsgeschichte. Ihr chronologischer Aufbau bietet anders als Urkunden, die die Ergebnisse eines Aushandlungsprozesses verschriften, die Möglichkeit, diese dynamischen Prozesse zu verfolgen und über einen längeren Zeitraum die Einflussgrößen auf eine Entscheidung zu beobachten (Nuding 1998, S. 198). Daher können Fakultäts- und Rektoratsakten beispielweise für personengeschichtliche, sozialgeschichtliche, kulturgeschichtliche und wissenschaftsgeschichtliche Forschungen herangezogen werden. Im Folgenden werden diese verschiedenen Zugänge an einigen Beispielen vorgestellt. Die Aufzeichnungen der Pariser medizinischen Fakultät, die Commentaires la Faculté de Médicine de l’Université de Paris, vom 13. Februar 1396 (Denifle 1897, Bd. 4, Nr. 1725) geben Auskunft darüber, dass die Mitglieder der Fakultät an diesem Tag zusammentraten, um über zwei Artikel zu befinden. Zunächst wurden diejenigen der Bakkalare festgehalten, die zum Licentiatsexamen zugelassen werden sollten. Dabei ergab sich eine Diskussion über die Zulassung des Magisters Johannes de Pisis (Johannes de Pisiis, Jean des Pois), der verheiratet war. Von Bakkalaren wurde ein Schwur verlangt, nach dem sie nicht in den Stand der Ehe eintreten durften. Daher konnte Johannes de Pisis nicht zur Prüfung zugelassen werden. Er erscheint nochmals in den Akten, als am 24./25. Februar desselben Jahres darüber berichtet wird, dass
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zwölf Kandidaten zum Licentiat zugelassen und dem Kanzler vorgestellt wurden, der dreizehnte Kandidat, Johannis de Pisis, aber nicht zugelassen wurde. Dies verwundert nicht, da in Paris Medizinern erst ab 1452 erlaubt war zu heiraten (Denifle 1897, Bd. 4, Nr. 2690). Allerdings verschwand Johannes de Pisis damit nicht aus den Aufzeichnungen der medizinischen Fakultät; am 9. Juni 1408, zwölf Jahre später, wird er wieder erwähnt. Nun musste er der Fakultät zusichern, dass er in der Gegend um Paris keine chirurgischen Eingriffe mehr vornehmen werde, bevor er nicht als Medikus von der Fakultät angenommen worden sei; bei Zuwiderhandeln werde er sich dem Urteil der Fakultät unterwerfen. Nur wenige Tage später, am 12. Juni, wurde Johannes de Pisis gegen die Gebühr von drei France in den Kreis der Licentiaten der Fakultät aufgenommen. Seine Kariere als Universitätsmediziner schritt nun unverzüglich voran, bis er am 8. November 1410 seine Wahl zum Dekan der medizinischen Fakultät selbst bekannt gab. Der Karriereknick durch die Verheiratung des Johannes de Pisis erscheint schlüssig; darüber, warum er über ein Jahrzehnt später doch aufgenommen wurde, lässt sich nur mutmaßen. Möglicherweise war seine Frau verstorben oder die Fakultät hatte – unter neuer personeller Führung – ihre strenge Haltung gelockert. Wie hier am Schicksal von Johannes de Pisis dargestellt wurde, können die Akten eine Vielzahl von Informationen über einzelne Personen liefern: Diese reichen vom Datum der Immatrikulation über die Promotion bis hin zur Wahl als Dekan. Ähnliche Informationen lassen sich auch den Matrikeln entnehmen. Die Akten können diese im günstigsten Fall durch weitere Erwähnungen der Person z. B. bei Konflikten mit anderen Fakultätsmitgliedern oder bei der Übernahme von Aufgaben als Lehrender ergänzen. Hinzu kommen Fragen, die unabhängig von der einzelnen Person betrachtet werden müssen. So z. B. die Überlegungen, warum Johannes de Pisis als verheirateter Magister keinen Grad an der medizinischen Fakultät erwerben durfte, wer an solchen Entscheidungen beteiligt war und wie sie in den Akten dargestellt wurden. Ähnliche Beispiele können für kulturgeschichtliche Fragen wie die nach der Art der Repräsentation der Fakultät bei Prozessionen, Gottesdiensten und anderen akademischen Ritualen herangezogen werden. Einen Einblick in einen weiteren Themenkomplex, das alltägliche Fakultätsleben, soll das folgende Beispiel geben. In der Fakultät wurde nicht nur die Verwendung von Gebäuden und Geldern (Finanz- und Vermögensverwaltung) diskutiert, sondern auch die Beziehung zum außeruniversitären Umfeld. Ein Eintrag von 1444 in den Akten der Wiener theologischen Fakultät (Uiblein 1978, S. 219–220) zeigt nicht nur, dass andere Quellengattungen, wie hier Briefe – sogar in der Volkssprache – Eingang in die Akten fanden, sondern auch dass neben universitäts- bzw. fakultätsinternen Angelegenheiten Themen zur Sprache kamen, die die Stadt Wien betrafen. Dadurch wird deutlich, dass sich die theologische Fakultät nicht nur für die Unterweisung und Ausbildung ihrer Studenten verantwortlich fühlte, sondern ihren Einfluss auf weitere Bereiche des städtischen Lebens ausdehnen wollte. So wurde am 17. November 1444 während der Sitzung der Fakultät über Bedenken der Fakultätsangehörigen, die Neubesetzung der Propstei von St. Stephan in Wien betreffend, beraten. Diese war
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am 2. Juni 1444 durch den Tod des Amtsinhabers vakant geworden. Als Nachfolger war der noch nicht dreizehnjährige Sohn des Grafen Johann von Schaunberg im Gespräch. In den Fakultätsakten wird diese Besetzung als skandalös und gefährlich bezeichnet, so dass sich die Lehrer der Heiligen Schrift verpflichtet sahen, den König auf ihre Bedenken hinzuweisen. Der in die Fakultätsakten kopierte Brief ist im Original nicht erhalten (Uiblein 1978, S. 508). Der Versuch der theologischen Fakultät, die Besetzung der Propstei mit dem minderjährigen Grafen von Schaunberg zu verhindern, war nicht erfolgreich, und Albrecht von Schaunberg wurde am 13. Februar 1445 vom Passauer Bischof in die Propstei eingesetzt. Die theologische Fakultät wünschte sich also eine Mitbestimmung bei Entscheidungen in ihrem Umfeld, sah sich selbst als entscheidungskompetent an und brachte dieses nachdrücklich bei den Autoritäten zur Sprache. Als letztes sei ein verfassungs- bzw. verwaltungsgeschichtliches Beispiel vorgestellt. Es gibt Aufschluss darüber, wie Beschlüsse innerhalb der Fakultät gefasst wurden, wer dabei mitwirkte und welche Veränderungen in der Struktur und Organisation der Fakultät und Universität sich daraus ergaben. In den Acta facultatis der Artisten von St. Andrews wurde unter dem Datum vom 7. Mai 1478 festgehalten, dass die Fakultätsversammlung zusammentrat, um über Angelegenheiten der Fakultätsverwaltung und -organisation zu beraten. Die gefassten sechs Beschlüsse wurden systematisch und nummeriert festgehalten, so dass sie künftigen Fakultätsmitgliedern als Grundlage des Fakultätslebens dienen konnten und jederzeit zum Nachschlagen zur Verfügung standen. Festgehalten wurden hier z. B. Regelungen, die die Verwaltung der Bursen und Collegien und damit die Kontrolle und Disziplinierung der Studenten betrafen, Bestimmungen zur Zahlung von Außenständen und zum Curriculum wurden ebenso erlassen wie Prüfungstermine und die Gestaltung von Feierlichkeiten festgesetzt. Der letzte und sechste der Beschlüsse betrifft die Kleidung der Magister und verbot diesen, ihre cappae an Graduierende zu verleihen (Dunlop 1964, S. 201–202). Es handelt sich also um Richtlinien, die bestehende Statuten in Erinnerung rufen sollten, diese ergänzten oder Leerstellen füllten. Insgesamt sind diese Richtlinien als normsetzender Akt durch Verschriftung aufzufassen. Aus Beispielen wie diesem lassen sich bildungs- und wissenschaftsgeschichtlich interessante Inhalte rekonstruieren. In den Akten wurden z. T. Lehrpläne, Bücherkäufe oder Prüfungsstoff festgehalten, so dass auch Veränderungen der gelehrten Inhalte und der Lehrmethoden nachvollzogen werden können.
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Briefe, Gelehrtenkorrespondenz Antonia Landois
Begriffserklärung Als zentrales schriftliches Kommunikations- und Informationsmedium innerhalb und außerhalb der Universität vermitteln Briefe formales und informelles Wissen und geben Hinweise auf Grad und Charakter der sozialen Beziehung zwischen den Briefpartnern. Sie ermöglichen so Einblicke in bestehende und gewollte Kontakte zwischen Personen und geben Aufschluss über netzwerkartige Strukturen. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Ein Brief (epistola, litterae, libellus brevis, breve) entstand im Mittelalter und in der frühen Neuzeit als Substitut oder als Ergänzung mündlich stattfindender Kommunikation zwischen mindestens zwei Parteien. Aufgrund des Fehlens anderer Kommunikationsformen zur Überwindung von Distanz stellen Briefe das zentrale Medium zahlreicher privater und institutioneller Interaktionen dar. Sie entstanden entweder im Austausch über größere geographische Räume hinweg oder aber auch am Wirkungsort der absendenden bzw. empfangenden Partei, z. B. zweier Gelehrter, und stellen sowohl ein alltägliches Mitteilungsmedium dar, wie sie auch – jenseits ihres pragmatischen und unmittelbaren Überlieferungszusammenhanges – zu literarischen Texten avancieren konnten (Golz 2007, S. 251). Vom 13. bis zum 16. Jh. liegen Briefe auf Pergament oder Papier mit dem Schreibstoff Tinte oder aber im Druck vor. Vielfältig wie ihr Entstehungszusammenhang ist auch ihre Erscheinungsform und daraus folgend ihre Klassifikation. Der Terminus „Brief“ erfordert für Mittelalter und frühe Neuzeit Differenzierungen. In der Volkssprache meint der Begriff bis ins 16. Jh. häufig noch die Urkunde, während die lateinischen Wörter litterae und epistula mit „Brief“ oder auch „Sendbrief“ übersetzt wurden. Briefe unter Gelehrten erfüllten ganz unterschiedliche Funktionen. Sie dienten der Informations- und Nachrichtenübermittlung, der politischen Polemik oder Parteinahme, der gelehrten Inszenierung sowohl des Verfassers als auch des Adressaten, der Bewahrung von für überlieferungswürdig erachteten Texten (Tradition), der theologischen oder philosophischen Erörterung oder der literarischen oder poetischen Reflexion. Dabei weisen zahlreiche Schreiben mehrere dieser Facetten auf.
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Die sprachliche und rhetorische Ausbildung in der Artistenfakultät widmete sich seit der Entstehung der Universitäten u. a. auch der Abfassung idealer lateinischer Briefe im Sinne einer schriftlichen oratio (Golz 2007, S. 251), wobei Briefsammlungen und Brieflehren mit oder ohne Mustertexte benutzt wurden (zu den artes dictandi s. den Überblick Worstbrock/Klaes/Bütten 1992; zur kommunalen Bedeutung s. Hartmann 2013). Parallel zu dieser Entwicklung nahm seit dem 13. Jh. auch die Verwendung der Volkssprache als Briefsprache zu, wovon sich der Gelehrtenbrief durch die ausschließliche Verwendung des Lateinischen bis zur Reformation kategorisch abzuheben versuchte. Die Beherrschung der Briefform war Teil der gesamten kulturellen, nicht nur der gelehrten oder universitären Schriftpraxis. Im Vergleich beispielsweise mit der arabischen Kultur galt die Abfassung von Briefen geradezu als Charakteristikum des gelehrten Okzidents (so Paulus Alvarus, 9. Jh.). Insgesamt wuchs die Zahl der Briefe im Laufe des Mittelalters. Seit dem 11. Jh. ist ein stetiger Anstieg zu verzeichnen. Schließlich formte der Humanismus mit seinen sprachästhetischen Forderungen die Briefliteratur unter Bezugnahme auf antike Vorbilder erneut und versuchte, dabei auch die theoretischen Grundlagen zur Abfassung von Briefen zu modifizieren (Herold 2008, S. 93). Hinsichtlich der Quellenkritik wirft die Einordnung eines Briefes als Konzept, Entwurf, tatsächlich versendetes Schreiben oder aber als authentischer bzw. literarisch-fiktiver Mustertext Probleme auf. Auch die ‚Privatheit‘ einer schriftlichen Mitteilung muss in diesem Rahmen besonders vorsichtig beurteilt werden (Köhn 2008, S. 313 ff.; Kuhn 2010). Denn durch ihre sprachliche Unmittelbarkeit und die scheinbar persönliche Form der Mitteilung vermitteln Briefe zwar häufig den Eindruck, Einblicke in individuelle Ansichten, Gefühlswelten und Beziehungsstrukturen zu geben. Dies ist jedoch nur begrenzt und bedingt der Fall. Brieftheoretische Schriften mit Mustern und Formeln für die schriftliche Kommunikation, die bis zur Festlegung für die Äußerung von Gefühlen wie Trauer oder Glück reichen, begleiten die Abfassung von Briefen seit dem Mittelalter. Selbst Liebesbriefe unterlagen zumindest theoretisch diesen formalen Kriterien, so dass lediglich in der Auswahl der Topoi und Metaphern eine individuelle Prägung vermutet werden kann (s. u.). Die häufigsten Überlieferungsformen des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Briefes sind nicht ‚Original‘ oder gar Autograph, sondern gleichzeitige oder spätere Abschriften (Köhn 2008, S. 312). Ein Text ist dabei entweder vom Abfasser selbst als Konzept notiert oder aber vom Empfänger entsprechend festgehalten worden. Eine Parallelüberlieferung vom Konzept des Verfassers, dem tatsächlich versendeten ‚Original‘ und einer Empfängerabschrift existiert nicht. Eher selten ist für das Mittelalter auch die quasi archivalische Aufbewahrung von autographen Stücken beim Empfänger. Die tatsächliche Überlieferung von Briefen wiederum hängt von einer Vielzahl – oft zufälliger – Faktoren ab und ist deshalb stets als lückenhaft zu betrachten. Die Texte sind als Einzelstücke oder auch im Rahmen von Briefstellern, Briefregistern, Briefbüchern und Briefsammlungen erhalten (Köhn 2008, S. 314 f.). Bei Briefstellern beispielsweise ist die Mischung von fiktionalem und echtem Schreiben keine Selten-
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heit. Überwiegend chronologisch geordnete Briefregister, die Abschriften der ausgehenden Korrespondenz enthalten, sind wohl nie lückenlos und geben keine Gewähr für die Absendung der Schreiben. Sozusagen ‚private‘, also nicht institutionell verortbare Korrespondenz fand zwar auch Eingang in Briefregister, Überlieferungszeugen hierfür sind jedoch rar (s. u. Studentenbriefe). Als Briefbuch versteht man vorrangig die Sammlung eines Briefwechsels, die eventuell mit Texten des Sammlers verbunden werden oder aber für sich stehen. Briefbücher können dabei einen thematischen Schwerpunkt haben oder aber den Briefverkehr einer Person abbilden. Aufgrund der oben skizzierten Überlieferungsumstände ist die überwiegende Mehrheit an mittelalterlichen Gelehrtenbriefen handschriftlich (und abschriftlich) in Bibliotheken überliefert. Autographe Einzelstücke sind mitunter in Gelehrtennachlässen und damit ggf. auch im archivalischen Zusammenhang zu finden. Die Gesamtzahl von Gelehrtenbriefen für das 13. bis 16. Jh. ist nicht abzuschätzen, da zahlreiche Handschriften mit Briefen noch nie daraufhin ausgewertet oder ediert wurden, ja noch nicht einmal ein Repertorium der europäischen Briefsammlungen existiert (Köhn 2008, S. 311; zu Briefsammlungen mit Literatur s. Ysebaert 2010). Erst ab dem Ende des 15. Jh. sind für einige Gelehrte Zahlen zu nennen, die zwischen einigen Hundert (etwa die Briefe von Konrad Celtis) und vielen Tausenden von Briefen (etwa die Briefe Philipp Melanchthons) variieren. Nur ein kleiner Teil dieser Schreiben entspringt dabei jedoch unmittelbar dem universitären Zusammenhang der Gelehrten. Zudem ist prinzipiell ein hoher Verlust ist anzunehmen, da Briefe, insoweit sie nur eine ganz spezielle Funktion hatten und diese erfüllt war, üblicherweise der Vernichtung anheimfielen. 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Das Medium des Briefes wurde im späten Mittelalter von allen literaten Schichten ausgiebig zur Übermittlung von Botschaften genutzt. Dadurch nahm im Laufe der Jahrhunderte der private Charakter der Schreiben zu. Die Volkssprachlichkeit hielt Einzug, und auch das inhaltliche Spektrum erweiterte sich erheblich. Wohl nicht zuletzt in Absetzung davon wollten die Humanisten eine besondere Briefkultur mit elitären Zügen etablieren, die bisweilen Ausmaße eines regelrechten ‚Briefkultes‘ annahm. Das Lateinische avancierte dabei von der üblichen Sprache der Gelehrten zu einem ‚Code‘, wobei die Orientierung an den sprachlichen Vorbildern der Antike als sozio-kulturelles Distinktionsmerkmal verstanden werden kann. Der Briefwechsel zwischen Gelehrten wurde also mehr und mehr von humanistischen Charakteristika durchdrungen, weshalb es schwierig ist, einen Terminus wie „Humanistenbrief“ systematisch zu verwenden. Es bietet sich daher an, hierfür den Terminus „Gelehrtenbrief“ zu wählen. Gelehrtenbriefe weisen viele Ebenen der Mitteilung auf, die häufig parallel bedient wurden. Trivial erscheinende Informationen, wie sie heute in ganz anderen Me-
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dien übermittelt würden, praktische Fragen des gelehrten ‚Tagesgeschäfts‘ (Bücherkäufe, universitäre Lehre, Karriere und Protektion) und hochspezialisierte Diskurse bzw. humanistisches literarisches Schaffen stehen dicht bei- oder nebeneinander. Eine besondere Form des Briefes stellen Widmungsepisteln dar, die ausschließlich für die lesende Öffentlichkeit verfasst wurden und häufig stärker die gewünschte Nähe zum Empfänger ausdrücken, als dass sie Auskunft über tatsächlich existierende Verbindungen geben. Seit der Zeit um 1500 hatten Gelehrtenbriefe immer häufiger (auch) den Charakter von ‚Neuen Zeitungen‘, sie enthielten Informationen über aktuelle politische Vorkommnisse oder über Ereignisse von allgemeinem Interesse. Damit trat der Brief bisweilen vollständig in die Sphäre der Öffentlichkeit über. Auch war gerade unter Humanisten die Praxis verbreitet, Briefe berühmter Gelehrter als Zeichen der Zugehörigkeit zur res publica litteraria und zur Steigerung des Ruhms auf Seiten des Empfängers Anderen zu zeigen oder vorzulesen. Das Verhältnis zu solchen Schreiben konnte dabei dem Verhältnis zu Reliquien ähneln und macht den Kultcharakter des Briefeschreibens besonders deutlich, etwa wenn ein gelehrter Kartäuserprior des 16. Jh. beschrieben wird, der einen Brief Johannes Reuchlins an ihn umarmt und mit Küssen bedeckt hat, weil die Hände des Gelehrten ihn berührt hatten (Erasmus, Bd. 2 1910, Nr. 471, S. 350). Das Private oder Vertrauliche einer Mitteilung konnte in solchen und ähnlichen Kontexten freilich zu einem Teil der gelehrten (Selbst-)Inszenierung werden, denn hinsichtlich der Grenzen des Veröffentlichbaren und des geheimen Charakters eines Briefes herrschte aufgrund der Vermengung von zeitgenössischer und antiker Brieflehre kein Konsens; immer wieder wurden Briefe gedruckt, deren Absender sie nicht dafür bestimmt hatten, bisweilen erfolgte die Publikation sogar gegen deren ausdrücklichen Willen. Der Privatbrief als Gattung war Ende des 15. Jh. noch relativ jung, und in Anlehnung an die Briefkultur der Antike stand das Briefgeheimnis in Frage. Zwar war die Verletzung des Briefgeheimnisses als crimen falsi auch im Spätmittelalter gerichtsfällig, nicht aber die Veröffentlichung von Briefen. In der Theorie war die Form eines Briefes durch die Brieflehre (ars dictandi/ars dictaminis), wie sie seit dem 12. Jh. in ganz Europa entstand, vorgeschrieben. Alberichs von Montecassino Breviarium de dictamine aus dem Ende des 11. Jh. steht dabei am Anfang der vollständigen Überlieferung von Anleitungen zur Abfassung von Briefen, wenngleich man erst im 12. Jh. von einer ars dictandi spricht (Schaller 1999, Sp. 281; 1034 ff., mit einem Überblick wichtiger Autoren). Als auf praktische Umsetzung ausgerichtetes Thema gehörte das Fach in den Bereich von Rhetorik und Grammatik und damit zum Unterrichtskanon der septem artes liberales an den Kloster- und Kathedralschulen. Im universitären Kontext sind entsprechende Texte seit dem 12. Jh. vor allem in Bologna fassbar (vgl. Hartmann 2011; Hartmann 2013). Für mindestens zwei Jahrhunderte dominierten die Unterrichtstexte aus dem Umfeld dieser Universität die Brieflehre. Das Fach wurde hier vor allem im Zusammenhang mit juristischen und rhetorischen Studien gelehrt, zukünftige Juristen, Notare und Kanzlisten waren das Publikum. Um 1300 wurde die Brieflehre auch an der Universität Oxford als Lehrfach eingeführt. Vorherrschend war hier der kuriale Stil des
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13. Jh. in der Tradition Peter von Vienas und Guido Fabas, der in Folge dessen auch Einzug in die Kanzleien hielt (Köhn 2008, S. 316). Mit der weiteren Verbreitung des Faches lassen sich eine Differenzierung des Stoffes und eine stärkere Didaktisierung feststellen, Mustertexte dienten als ‚praktisches‘ Unterrichts- und Nachschlagemittel. Im Zuge humanistischer Bestrebungen erfuhr auch die Brieflehre eine starke Rückbesinnung auf antike Vorbilder. Humanistisch geprägte Lehren zur Briefkunst (der Begriff ars dictandi verschwindet; Schaller 1999, Sp. 1038) weisen vor allem bei der salutatio eine Veränderung auf: Der Verfasser nennt sich stets vor dem Empfänger, auf Titel wird in der Regel verzichtet. Nach der im Wesentlichen auf Cicero und Plinius zurückgehenden antiken Brieflehre erforderte ein (gelehrter) Briefkontakt Regelmäßigkeit und Gegenseitigkeit. Der Brief selbst galt dabei nicht nur als Informationsmedium, sondern auch als charta caritatis. Nachlässigkeit in der Beantwortung musste deshalb in der Regel gerechtfertigt werden, und auch an der Länge des Briefes war theoretisch die Zuneigung des Verfassers ablesbar, weshalb ein kurzer Brief wiederum eine Erklärung nötig machen konnte. Der Brief erforderte sprachliche Klarheit vom Verfasser, wobei der hochrhetorische kuriale Stil in der Tradition des 13. Jh. im späten Mittelalter neben dem humanistischen Anspruch stand, dass das sprachliche Niveau weder rhetorisch noch thematisch über das eines alltäglichen Gesprächs zwischen Gebildeten hinausreichen sollte (Köhn 2008, S. 315). In der Tradition Francesco Petrarcas und Coluccio Salutatis manifestierte sich dies beispielsweise auch in der humanistischen Brieftheorie Lorenzo Vallas (De conficiendis epistolis libellus, um 1444). Die zahlreichen Versuche normativer theoretischer Regelung wurden jedoch durch die Praxis stets eingeholt und überholt, die stets stilistische Individualisierungen aufwies, für die in der mittelalterlichen Kommunikation durchaus Raum war. Zu Beginn des 16. Jh. schließlich verlangte Erasmus von Rotterdam, die Form des Briefes nicht länger durch starre Vorgaben einzuschränken, da diese Mitteilungsart eben gerade den Vorteil biete, sich in völliger Freiheit auszudrücken. Er begann seine Brieflehre mit dem Hinweis, ein Gebildeter solle mit der Briefform keineswegs restriktiv umgehen (Erasmus 1971). Jedoch blieb auch dieses Postulat auf die Sphäre des humanistischen Freundschaftsbriefes beschränkt und darf daher nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der öffentlichen Sphäre die Einhaltung formaler Vorgaben ungebrochen bis weit in die Moderne hinein zur Konvention gehört(e) und die Norm schriftlicher Kommunikation darstellt(e). Brieflehren und Briefsteller deckten theoretisch alle Ebenen menschlicher Mitteilung ab, förmliche und emotionale Schreibakte waren hier gleichermaßen vorgeschrieben, womit sich der Verfasser in ein kulturell freilich begrenztes Kollektiv jeweils einschreiben konnte. Seine Individualität drückte sich dann in der inhaltlichen Ausgestaltung einer Vorschrift, nicht aber in seiner Kreativität nach heutigem Verständnis aus. Reine Mustertextsammlungen und Brieflehren ohne Muster sind nur zwei extreme Beispiele für die Vielfältigkeit einer Textgattung, die noch nicht annähernd in ihrer Gesamtheit wissenschaftlich behandelt oder gar in Editionen zugänglich ist. Ihre Fülle und Heterogenität lassen eine Gültigkeit beanspruchende Klassifikation
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bisher nicht zu. Für die Zeit ab dem 14. Jh. und für den Humanismus gilt die Gattung als weitgehend unerforscht. Etwa 3000 europäische mittelalterliche Handschriften von Brieflehren sind durch den von Franz Josef Worstbrock geleiteten Teilbereich B des SFB 231 (1986–1990) und die Forschungen Anderer bekannt geworden. Derzeit unternimmt das DFG-geförderte Projekt Ars dictaminis (URL: http://www. ars-dictaminis.com/index.html) den Versuch, die Quellengattung sowohl philologisch als auch historisch zu erschließen. 3. Methodische Zugänge/Aussagemöglichkeiten Universitäre Briefe kann man in drei Gruppen unterteilen: Institutionelle Briefe, Studentenbriefe und (klassische) Gelehrtenbriefe. Im Folgenden sollen diese Gruppen auf ihren charakteristischen Quellenwert und ihre wissenschaftlichen Aussagemöglichkeiten hin untersucht werden. Betrachtet man einen Brief nicht als imago animi, also als Abbild des Gemüts seines Verfassers und damit als unmittelbaren Ausdruck von dessen Subjektivität, sondern als weit verbreitetes Kommunikationsphänomen, eröffnen sich methodische Möglichkeiten der Untersuchung und Interpretation solcher Quellen. Briefe geben dabei zunächst einen Einblick in die vernetzte Kommunikationsstruktur der Gelehrten, wobei stets die Problematik bestehen bleibt, dass ein Brief zwar Kontakt belegt, das Fehlen eines Briefes aber nichts darüber aussagt, ob tatsächlich Kontakt bestand. Nichtsdestoweniger dienten die Schreiben der Gemeinschaftsbildung innerhalb der Gelehrtenkreise. In den Briefen wiederum nahm häufig die Bekräftigung der ‚Freundschaft‘ eben durch den Austausch von Briefen oder literarischen Werken einen breiten Raum ein. Der Empfänger sollte so an die Verbindung erinnert werden. Auch dienten Briefe in der res publica litteraria als stolzer Nachweis der eigenen Zugehörigkeit. Mündlich stattfindende Treffen bewirkten zwar persönliche Verbindlichkeit, Bekanntheit und Ruhm aber schuf nach außen hin nur der Brief, weil er die eigene Gelehrtheit schriftlich bezeugte. Nach dem Vorbild von Humanisten wie Petrarca (Petrarca 1933–1942) gaben Gelehrte wie Johannes Trithemius oder Konrad Celtis an sie gerichtete Briefe in Sammlungen heraus oder bereiteten ihren Druck vor (Celtis 1934). Besonders einflussreich wirkten die zahlreichen Sammlungen, in denen Erasmus von Rotterdam seine Korrespondenz veröffentlichte und sich als Mittelpunkt eines europäischen Gelehrtennetzwerks präsentierte (Erasmus 1906–1958; dazu Ryle 2014). Der Rückschluss, dass der Sammlung gelehrter Briefwechsel generell eine publizistische Intention zugrunde lag, führt dennoch in die Irre. Untersucht man die Briefe auch auf ihre Inhalte, so erschließt sich u. a. durch die Auswahl der Briefformeln und die Berücksichtigung theoretischer Vorgaben die individuelle Ausgestaltung durch einen Gelehrten. Auf der Sachebene bieten die Schreiben zum Beispiel Aufschlüsse über materielle Grundlagen, die u. a. mikrohistorischen, aber auch bildungsgeschichtlichen Analysen zuträglich sein können, sowie über symbolische Kommunikationspraktiken unter Gelehrten. Sie verraten viel über
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das self-fashioning und den Habitus der Schreibenden und der Empfänger, bei denen man voraussetzt, dass sie die Botschaft verstehen. Durch die Betrachtung der Vernetzung innerhalb der res publica litteraria ist es außerdem möglich, auch deren ‚Wissensräume‘ zu untersuchen, d. h. welche Zugangsmöglichkeiten zu Wissen (in Form von Handschriften, Büchern und anderen Publikationsmedien) die einzelnen Personen hatten. Die Universitäten wird man als Entstehungsort von Briefen nicht systematisch untersuchen können, da die gelehrten Korrespondenzen bei weitem nicht auf diese Bildungsinstitution beschränkt waren. Der Überlieferung nach nehmen solche Briefe sogar nur einen kleinen Teil ein. Im Folgenden sollen deshalb nur wenige Beispiele für Korrespondenz geboten werden, die im universitären Rahmen entstehen konnte. Der Brief als Medium diente nicht nur der Mitteilung zwischen Einzelpersonen, sondern auch zwischen Institutionen oder Institution und Person. Universitäten bedienten sich des Briefes als Kommunikationsmittel, um beispielsweise mit dem Landesherrn oder städtischen Institutionen in Kontakt zu treten. Bei diesen Schreiben waren die Absender zwar auch einzelne Gelehrte oder Mitglieder der Universität, sie traten jedoch lediglich als Repräsentanten ihres jeweiligen Amtes oder in ihrer Funktion in Erscheinung und erfüllten damit verwaltungsmäßige Pflichten. Das Studium war im Spätmittelalter für fast alle Studenten mit einem Ortswechsel verbunden. Wie auch bei anderen Ausbildungen, beispielsweise bei der zum Kaufmann, war das Lernen in der Ferne kostenintensiv und zugleich meist die erste Zeit im Leben, wo elterlicher bzw. familiärer Einfluss nicht mehr lückenlos gewährleistet war. Um dennoch eine gewisse Kontrolle wahren zu können, sollten Briefe den persönlichen Austausch ersetzen. Die Überlieferung solcher Texte ist nicht besonders häufig und eher zufällig, da es sich zum Großteil um zweckgebundene Schreiben handelte. Ein regelrechter Briefwechsel lässt sich mit wenigen Ausnahmen für das 13. bis 16. Jh. nicht rekonstruieren. Studentenbriefe sind seit dem 13. Jh. spärlich erhalten, im ausgehenden Mittelalter erhöht sich die Zahl der überlieferten Schreiben deutlich. Solche Texte lassen sich weiter unterteilen in eine Erscheinungsform, die man auch als ‚Pflichtschreiben‘ bezeichnen könnte; an nahe Verwandte wie die Eltern, aber auch an andere Unterstützer des Studiums sollten während der Abwesenheit vom Heimatort regelmäßig schriftliche Berichte erfolgen, die den Fortgang der Ausbildung, den Gesundheitszustand sowie die finanzielle und auch persönliche Lage des Auszubildenden zum Inhalt hatten. In der praktischen Durchführung wurden allerdings wohl weit weniger Briefe geschrieben als gefordert wurden, wenngleich dieser Befund auch durch starken Quellenschwund zustande gekommen sein könnte. Bei den erhaltenen Schreiben handelt es sich häufig um stark mit Floskeln und Formeln durchsetzte Texte, für die wiederum Musterbriefe aus Briefstellern vorlagen. Solche Briefe kann man als symbolische Kommunikationspraktiken im schriftlichen Medium interpretieren. Eine weitere Erscheinungsform studentischer Briefe bilden jene Schreiben, die die Studenten untereinander und mit höher Graduierten, die sich ihrer als Mentoren annahmen, ausgetauscht haben. In ihnen bilden studentisches Leben und Lernen,
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persönliche Erlebnisse, Bitte um finanzielle Unterstützung und Ausbildungsinhalte die Themenschwerpunkte. Humanistisch Interessierte nördlich der Alpen beauftragten Studierende darüber hinaus auch mit Bücherkäufen aktueller Werke und ließen sich über den Büchermarkt informieren. Auch geplante Karriereschritte der baldigen Absolventen kommen verschiedentlich zur Sprache. Die Briefe sollten dezidiert auch als Übungen in der Epistolographie gelten und weisen immer wieder eine Metaebene der Kommunikation auf, indem über das gegenseitige Schreiben geschrieben wird. Die universitäre bzw. gelehrte Sphäre brachte dabei die lateinische Schriftlichkeit mit sich, die der brieflichen Kommunikation des Spätmittelalters auch unter Kommilitonen einen höheren Status verleihen sollte. Die relative Publizität des Schreibaktes war durch die Referenzen an ein größeres Netzwerk auch hier stets gewährleistet. Hier sind nun zwei seltene Beispiele für die Überlieferung studentischer Briefe um 1500 kurz vorzustellen. Der Nürnberger Patrizier Anton Kress hat eine Sammlung von Briefen hinterlassen, die heute im Germanischen Nationalmuseum liegt (GNM, Historisches Archiv, Familienarchiv Kress, Lade XXVII, Faszikel F, „Sendschreiben an Herrn Anton Kreß“). Sie enthält knapp hundert Schreiben, ausschließlich an ihn gerichtet und im autographen Original, so wie er sie in der italienischen Studienzeit und danach als Propst von St. Lorenz in Nürnberg gesammelt hat. Dutzende von Personen hatten sich schriftlich an den jungen Kress gerichtet, darunter namhafte Humanisten wie Willibald Pirckheimer, Johannes Cochläus oder auch Sebastian von Rotenhan. Auch die beiden Nürnberger Juristen und ehemaligen Lehrer von Anton Kress an der Universität Ingolstadt, Gabriel Paumgartner und Sixtus Tucher, gehörten zu den Korrespondenzpartnern des jungen Kress. Die Briefe zeigen eindrücklich, wie gut vernetzt der junge Mann schon sehr früh war. Das inhaltliche Spektrum der Schreiben ist sehr breit: Studienkollegen aus Italien oder aus dem Reich schreiben – zum Teil literarisch ausgeschmückt – aus ihrem Leben mit seinen Höhen und mehr noch Tiefen (Geldsorgen, Erkrankungen, Unglücksfälle, Tod von Verwandten in ihrer Abwesenheit) oder erkundigen sich nach politischen Vorgängen südlich der Alpen. Damit kommt den Briefen auch hier schon die Aufgabe zu, neueste Nachrichten zu übermitteln, die auf dem üblichen Weg nicht oder mit größerem zeitlichen Abstand an die Adressaten gelangt wären. Auch Bildungs- und Studienerlebnisse spielen mitunter eine Rolle. Dabei treten die studia humanitatis in den Vordergrund, die Pflichtfächer hingegen, üblicherweise Medizin oder kanonisches und römisches Recht, kommen oft nur am Rande vor. Allgemeine Studienverhältnisse werden reflektiert und einzelne Lehrpersonen beschrieben. Auch die wichtige Frage, wer nach seinem Abschluss welche Karrierewege durchlaufen hat, beschäftigte die Studierenden und die Ehemaligen gleichermaßen. Besonders die älteren Gelehrten, ganz überwiegend selbst ehemalige Italienstudenten, gehen etwa im Falle von Anton Kress auf die Möglichkeiten der weiteren Karriere des jungen Mannes ein und übernehmen damit eine bedeutende Mentoren- und Fürsprecherfunktion. Diese brieflichen Mitteilungen, zu denen bedauerlicherweise, aber keineswegs überraschend, die Konzepte der Schreiben von Anton Kress selbst fehlen, liegen ganz überwiegend in lateinischer Sprache und überdies zum Großteil in der humanistischen Kursive vor, also in der
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damals ‚modernsten‘ Form der Schrift. Volkssprachliche Schreiben sind kaum darunter, und auch die Korrespondenz mit den familiär Nahestehenden, also den Eltern und den weitläufigeren Verwandten, macht nur einen Bruchteil der Überlieferung aus. Hieraus kann man schließen, dass die Kommunikationsnetze eines angehenden Gelehrten wie Kress nicht nur weit gespannt, sondern auch gut kalkuliert waren – ein ehemaliger Italienstudent förderte den oder die Studenten der nächsten Generation. Innerhalb dieser kleinen Gruppe waren Erfahrungen mitteilbar, die im sozialen Umfeld der eigenen Herkunft, häufig der Kaufmannschaft, überhaupt nicht oder jedenfalls viel schlechter kommunizierbar waren. Teilweise lässt sich dieses Netz der sich gegenseitig in allen wichtigen Karriereschritten protegierenden Italienstudenten über mehrere ‚Gelehrtengenerationen‘ nachweisen. Fehlt im ersten Beispiel von Anton Kress die Überlieferung auf der Seite des Briefempfängers, so sind für einen Jurastudenten derselben Zeit und ebenfalls aus Nürnberg, Christoph II. Scheurl, die Briefregister detailliert überliefert. Von ihm liegen, überwiegend autograph, die Texte jener Briefe vor, welche er wohl an andere verschickt hat. Ein Teil von Scheurls Briefen aus der Zeit nach 1505 ist schon lange bekannt und wurde als so genanntes Briefbuch (so die missverständliche Bezeichnung für ein Briefregister) im 19. Jh. lückenhaft ediert (Scheurl 1962). Die frühen Briefe aus der Studienzeit in Italien ab 1498 bis 1505 wurden erst vor einem Jahr in einer Handschrift aufgefunden und von der Forschung bemerkt (Fuchs 2012; Landois 2014; Daniels 2014), aber bisher nicht umfassend ausgewertet. Es handelt sich dabei sicher um eines der umfangreichsten Briefregister eines Studenten, das aus dieser Zeit überhaupt bekannt ist. Die Handschrift enthält 159 lateinische Texte an rund 40 Adressaten, darunter allein ein Drittel an den wichtigsten Mentor in seiner Heimatstadt Nürnberg, Sixtus Tucher, der in der Korrespondenz damit als Hauptbezugsperson deutlich wird. Bemerkenswert dürfte sein, dass sich an die Eltern des Studenten keine Briefe finden, möglicherweise deshalb, weil er ihnen ‚nur‘ in der Muttersprache geschrieben hätte. Inhaltlich auffällig sind bei Scheurl jedenfalls Redundanzen und Dopplungen: Er richtete mitunter gleichlautende Schreiben an verschiedene Adressaten und verwendete dabei eine Form von Textbausteinen. Wie ernst der Student die Brieflehre nahm, in deren Kontext viele der Schreiben entstanden, die demnach geradezu Übungen in Epistolographie gewesen zu sein scheinen, zeigt die oft in der Einleitung ausgedrückte Verzweiflung darüber, dass der Korrespondenzpartner noch nicht geantwortet hatte. Für Christoph Scheurl fehlen allerdings bis auf ganz wenige Ausnahmen die Texte jener Briefe, die er selbst erhalten hat – dass eine gelehrte Person beide Seiten der Korrespondenz für gleich wichtig erachtet und aufbewahrt hat, scheint selten vorgekommen zu sein. Dieser Befund lässt zumindest Zweifel an der Theorie zu, dass es sich bei brieflicher Kommunikation im Spätmittelalter um den schriftlichen Ersatz für einen Dialog und mithin um die Imitation eines Gespräches gehandelt haben soll – war der Brief nicht eher Medium des mit Projektion arbeitenden Selbstgesprächs (vgl. dagegen Herold 2008, S. 97 f.)? Gelehrtenbriefe können systematisch dazu genutzt werden, Kommunikationsstrukturen zu erforschen. In anschaulicher und technologisch aktueller, wenn auch
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zu wenig transparenter Weise ist dies etwa beim Projekt Mapping the Republic of Letters der Stanford University geschehen (URL: http://republicofletters.stanford.edu/). Hier wurde die Möglichkeit genutzt, den Austausch von Briefen zu visualisieren und damit die überaus enge europäische Vernetzung der Intellektuellen zu verdeutlichen. Für die Neuzeit ist dies allerdings leichter als für die so genannte ‚Vormoderne‘, in der die Überlieferungslage unregelmäßiger ist und so einen übergreifenden methodischen Ansatz erschwert, wo nicht sogar unmöglich macht. Projekte auf dieser Metaebene der Briefe, also jenseits ihres Inhalts, sagen freilich nichts über die Qualität der ausgetauschten Texte aus. Erst in einem weiteren Schritt könnte auch analysiert werden, welche Themen die Gelehrten beschäftigt, wie sich Nachrichten verbreitet haben oder warum bestimmte Regionen Europas besonders intensiv hervortreten und andere scheinbar etwas außerhalb des Kommunikationsnetzes standen. Gelehrtenbriefe kann man also auf inhaltlicher Ebene zu analysieren versuchen. Dann tritt die Kontextualisierung eines Schreibens in den Vordergrund, meist, um es in einem anderen Forschungszusammenhang, etwa der Prosopographie oder Biographie, aber auch für mentalitäts-, ideen- und institutionengeschichtliche Ansätze, verwenden zu können. An einem einzelnen Schreiben soll dies hier vorgeführt werden. Am 7. Mai 1487 erscheint der Name des späteren gekrönten Dichters und Hofhistoriographen Maximilians I., Ioseph Grüenpeck ex Burckhausen in der Matrikel der Universität Ingolstadt. In einem Brief aus der Zeit nach 1491 und vor 1496 trat Grünpeck an seinen ehemaligen Lehrer Sixtus Tucher, der noch immer in Ingolstadt lehrte, vielleicht mit einer Bitte heran – wir wissen es aber nicht, denn erhalten ist nur dessen Antwort. In einem Kodex des Klosters Tegernsee findet sich dieses Schreiben, das man als typischen humanistischen Freundschaftsbrief unter Gelehrten einordnen und interpretieren kann. Zunächst zeichnet sich der Text durch gutes und gewähltes Latein aus, das neben dem Empfänger zugleich auch den gelehrten Absender in das bestmögliche Licht zu rücken versucht. Sodann fallen Förmlichkeit und Floskelhaftigkeit der Sprache auf, die trotz aller Verbindlichkeitserklärungen distanziert wirkt. Unter Umständen kann man sogar ein regelrechtes Ausweichmanöver Tuchers unterstellen, der sich scheinbar vor jeglicher Konkretisierung scheute. Denn das Schreiben ist, abgesehen vom Lob für Grünpecks hervorragendes Latein (eloquentia) und seine tugendhafte Weisheit (sapientia), womit er das Ideal des Humanismus erfüllte, geradezu inhaltsleer. Zwischen den Zeilen steht also, dass damit zwar der Höflichkeit, auf einen Brief zu antworten, Genüge getan wurde, aber eigentlich alles gesagt wäre. In einem nächsten Schritt der Auswertung könnte man nun nach dem historischen Kontext des Briefes für beide Briefpartner, nach dem ‚Sitz im Leben‘ des Textes fragen: Was kann Grünpeck gewollt haben? Wie war seine Situation? Was versprach er sich von dem Kontakt? Was hatte sein Adressat zu bieten? Es könnte beispielsweise Grünpecks Bemühen um eine Rhetorikdozentur in Ingolstadt in der Nachfolge von Konrad Celtis dahinter gestanden haben oder auch der Versuch, sich von Ingolstadt aus als Historiograph der bayerischen Herzöge zu empfehlen. Der Entstehungszeit-
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punkt des Schreibens wäre somit auf den Zeitraum 1495/96 einzugrenzen. Jedoch handelt es sich hier häufig um eher spekulative Zugänge. Von großer Signifikanz ist aber sicher der Überlieferungszusammenhang dieses Schreibens und anderer Briefe, der unbedingt berücksichtigt werden sollte. Denn der Text ist – wie üblich abschriftlich, nicht etwa im Autograph Tuchers – in einer Handschrift zu finden, in der auch stilistische und grammatisch-rhetorische Regeln etwa Lorenzo Vallas, ein griechisches Vokabular und eine beispielhafte Rede zu finden sind (Schuh 2013, S. 191 f.). Damit aber befindet er sich in einem didaktischen Zusammenhang und diente wohl im epistolographischen Unterricht, der in Ingolstadt entweder in der Artistenfakultät oder durch einen bestallten ‚Poeten‘ erteilt wurde, als Mustertext eines humanistischen Gelehrtenbriefes. Es ist also nicht mehr zu eruieren, ob der Brief jemals durch den Absender abgeschickt wurde. In diesem Fall, der durchaus als exemplarisch begriffen werden kann, ist es aber auch nicht möglich, zu bestimmen, ob der Text überhaupt von Tucher selbst verfasst wurde oder von Anfang an für einen anderen Zusammenhang erstellt worden ist. Einen besonderen Fall humanistischer Gelehrtenkorrespondenz stellen die satirischen Epistolae obscurorum virorum (ab jetzt EOV), die seit dem 18. Jh. so genannten ‚Dunkelmännerbriefe‘, dar (Bömer 1978; für den Überblick mit Literatur HuberRebenich 2008, Sp. 646–658; für Einzelstudien z. B. Rädle 1994; Gerschmann 1997; Ludwig 1999; Kivistö 2002; de Boer 2016). Die Briefe erschienen 1515 anonym und kontrastierten schon vom Titel her die im Jahr zuvor publizierten Clarorum virorum epistolae, bei denen es sich um eine Zusammenstellung von Texten handelte, die europäische Gelehrte an den Humanisten Johannes Reuchlin geschickt hatten, um ihre Solidarität mit ihm zu untermauern. Reuchlin war in den Jahren zuvor insbesondere mit Kölner Dominikanern um den Inquisitor Jakob von Hoogstraeten aneinandergeraten. Im Zentrum des Konflikts stand die Frage, ob die jüdischen Glaubensschriften vernichtet werden sollten oder nicht, wobei Reuchlin sich als einziger der kaiserlich Befragten für die Erhaltung der hebräischen Bildungsgüter ausgesprochen hatte. Seine Verteidigungsschrift, der so genannte ‚Augenspiegel‘, wurde 1513 von den theologischen Fakultäten in Köln, Löwen, Mainz und Erfurt als häretisch verurteilt. Als eindeutige bischöfliche Verurteilungen des ‚Augenspiegels‘ ausblieben, appellierte Hoogstraeten an die Kurie. Den langwierigen Prozess verlor Reuchlin 1520 (Zensur). Der Konflikt zwischen den Dominikanern und Reuchlin entfernte sich schon bald von seinem ursprünglichen Kern, der Frage nach dem Umgang mit den hebräischen Schriften. Reuchlin wurde in der Auseinandersetzung zunehmend als Opfer von Anhängern der Scholastik wahrgenommen, die sich in den Kölner Theologen Hoogstraeten und Ortwinus Gratius personifizierten (Huber-Rebenich 2008, Sp. 648). Um diese Partei des Konflikts nachhaltig zu desavouieren, brachten Anhänger Reuchlins die EOV in zwei Teilen zum Druck, eine Sammlung von insgesamt 110 fiktiven Briefen an Ortwinus Gratius. Als Verfasser der satirischen Texte stehen seit den 1530er-Jahren Crotus Rubeanus und Ulrich von Hutten fest, die Teilnahme weiterer Humanisten wie z. B. Hermann Buschius wird angenommen. Für ihre Briefe konnten die Verfasser auf humanistische Invektiven, Kleriker- und Narrensatiren,
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Fastnachtspiele, Schwänke und Universitätssatiren (Literatur) zurückgreifen (Huber-Rebenich 2008, Sp. 655). Die Briefe sind ausnahmslos in schlechtem, weil stark germanisiertem Latein verfasst, ihre fiktiven Verfasser tragen ebenso fiktive, pseudo-humanistische Namen wie etwa Mistladerius. Sie beachten die Regeln der durch die Antike autorisierten humanistischen Brieflehre nicht, sondern gefallen sich in ihrer Titelhudelei. Als zu karikierendes Vorbild scheinen Rubeanus und von Hutten besonders die vielfach gedruckte Brieflehre des Humanisten Heinrich Bebel, die Commentaria epistolarum conficiendarum, herangezogen zu haben (Ludwig 1999). Die Korrespondenzpartner des Gratius sind insgesamt durch intellektuelle und charakterliche Schwäche gekennzeichnet und geben durch die Themen, die sie interessieren, überdies ein Zerrbild jener Institution ab, die sie repräsentativ sind: für die zeitgenössische Universität, insbesondere die scholastisch geprägte Theologie (Huber-Rebenich 2008, Sp. 654). Ihre Interessen indes sind nicht nur im Metaphysischen angesiedelt, sondern überaus weltlich: Liebesabenteuer und Besäufnisse spielen eine große Rolle. Dabei war es den Verfassern der fiktiven Schreiben ein Anliegen, auch die humanistischen Ambitionen ihrer Gegner ins Lächerliche zu ziehen und zu parodieren: Sie sind nicht mehr als Möchtegern-Humanisten, die falsche Lehrbücher verwenden und von dem, worüber sie sprechen, nichts verstehen. Das ‚Netzwerk‘, welches sie bilden, kann als ‚negative Spiegelung‘ von damals existierenden humanistischen Versammlungen und Briefsammlungen, etwa um Konrad Celtis, Conradus Mutianus oder Erasmus von Rotterdam, angesehen werden. Die Texte scheinen den heftigen Abgrenzungsgefechten zwischen Theologen und Humanisten entsprungen zu sein, die sich inner- und außeruniversitär in den Jahrzehnten zuvor immer wieder abgespielt und zugespitzt hatten. Reuchlins Fall geriet so zu einem Anlass – mit möglicherweise ‚hegemonialem‘ Anspruch (de Boer 2016), – rigorose Grenzziehungen vorzunehmen. Die eher magere unmittelbare Rezeptionsgeschichte der EOV spricht allerdings dagegen, dass die Mittel der Polemik und Verunglimpfung im brieflich geführten Diskurs von humanistischen Gelehrten akzeptiert wurden (zur Rezeption s. Huber-Rebenich 2008, Sp. 655–657). 4. Bibliographie 4.1 Quellen Germanisches Nationalmuseum, Historisches Archiv, Lade XXVII, Faszikel F, „Sendschreiben an Herrn Anton Kreß“. Bömer, Aloys (Hrsg.), Epistolae obscurorum virorum. 2 Teilbde.: Einführung, Text, Heidelberg 1924, ND Aalen. Celtis, Konrad (1934), Briefwechsel, hrsg. v. Hans Rupprich (Veröffentlichungen der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Reformation und Gegenreformation, Humanistenbriefe, 3), München.
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4.3 Datenbanken URL: www.ars-dictaminis.com/index.html URL: www.republicofletters.stanford.edu
Bücherverzeichnisse Martin Wagendorfer
Begriffserklärung Universitäre Bücherverzeichnisse sind Aufstellungen von Handschriften oder Drucken, die sich im Besitz von Universitätseinrichtungen befanden. Somit ermöglichen sie wichtige Rückschlüsse auf die Verbreitung bestimmter Texte zu bestimmten Zeitpunkten an den Universitäten, oft aber auch auf Aufstellung, Erwerb, Schenkungen, Wert und Benutzung der Bände. Zumindest für das Mittelalter problematisch ist der Begriff ‚Universitätsbibliothekskataloge‘, da die frühesten universitären Büchersammlungen (und somit auch deren Verzeichnisse) in der Regel an den Universitätskollegien und an den Fakultäten entstanden, sodass man erst später von Universitätsbibliotheken im eigentlichen Sinne sprechen kann. Verzeichnisse über Bücher im Besitz der Universitäten, Fakultäten oder Kollegien müssen nicht zwingend von diesen Institutionen selbst angelegt worden sein. So sind wir in vielen Fällen auch oder ausschließlich durch Testamente oder Schenkungsurkunden über Bücherlegate oder -testate an die genannten Institutionen informiert; auch Erwähnungen solcher Legate oder Testate in anderen Quellen, wie Briefen etc., können vorkommen. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Die folgenden Ausführungen beziehen sich nur auf solche Verzeichnisse, die von den universitären Institutionen selbst angelegt worden sind. Grenzfälle wie etwa die Bücherverzeichnisse, die in Stiftungsurkunden oder Statuten von Kollegien aufgenommen wurden, werden je nach Relevanz behandelt. Ursache für die Genese von universitären Bücherverzeichnissen war bei ausführlichen Katalogen der Bibliotheken fast immer das Anwachsen der entsprechenden Sammlungen, das nach einer Verzeichnung verlangte. Dabei (und manchmal auch unabhängig davon) konnte allerdings der konkrete Anlass stark variieren. Mögliche Anlässe waren etwa eine (oder mehrere) aktuell eingetretene, erhebliche Erweiterung(en) des Buchbestandes (meist durch Schenkung oder Testat) (Rouse 1967, S. 51), die Errichtung eines eigenen Bibliotheksgebäudes, etwa der Universitätsbibliothek in Cambridge 1427 (Clarke 2003, S. XXXVIII), oder überhaupt eines neuen Kollegs, wie des St. John’s College
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in Cambridge 1516 (Clarke 2003, S. XXXVIII, S. 606). Manche Kollegien verlangten in den Statuten das Anlegen von Inventaren (als Form der Besitzsicherung, s. u.). Häufig wurden Verzeichnisse beim Wechsel im Amt des Bibliothekars oder des für die Bibliothek Verantwortlichen bzw. des Kollegvorstehers sozusagen als Übergabeinventare angelegt (Clarke 2003, S. XXXVIII). Andere Verzeichnisse wiederum sind reine Schenkungslisten aufgrund aktueller Legate oder Testate und finden sich unter anderen geschenkten Gütern der betreffenden Person. Im England des 16. Jh.s waren auch Visitationen der Universitäten bzw. Kollegien, etwa durch die sogenannten Marian commissioners (Cambridge 1557 für mehrere Bibliotheken, s. Clarke 2003, S. XXXVI), der Anlass für oft recht übereilt und hastig angelegte Verzeichnisse. Auch Zusammenstellungen von Büchern, die man nicht besaß, auf deren Schenkung man aber aufgrund der einem Gönner übersandten Liste hoffte, sind bezeugt (Clarke 2003, S. XXXVII). Dazu kommen Ausleihverzeichnisse (Vieillard/Jullien de Pommerol 2000) bzw. an den englischen Universitäten Verzeichnisse der electiones. Die stark variierende Genese der Bücherverzeichnisse hat konsequenterweise eine große Bandbreite ihrer Funktion zur Folge: Im Vordergrund stand dabei v. a. die Besitzsicherung, die man durch die Anlage von Inventaren oder Ausleihverzeichnissen erreichen wollte; im Falle von Schenkungsverzeichnissen ist – in manchen Fällen ergänzend neben dem eben genannten finanziellen – auch mit kommemorativem Zweck zu rechnen: Das Verzeichnis sollte der Memoria des Stifters dienen (dies ist insbesondere bei dem Bittgebet für die Stifter von Büchern an die Universitätsbibliothek Cambridge der Fall, in dessen Rahmen auch die gestifteten Bücher genannt werden, Clarke 2003, S. 69). Wichtig war zudem die Auffindbarkeit der Bücher durch die Benutzer der Bibliothek, die durch entsprechende systematische Verzeichnisse erreicht werden sollte. Die für die Marian commissioners 1557 angelegten Listen dienten wiederum als Grundlage für die Aussortierung und Vernichtung nicht genehmer protestantischer Literatur in den Kollegbibliotheken von Cambridge (Clarke 2003, S. XXXVI). Universitäre Bücherverzeichnisse fanden sich zunächst v. a. in den Kollegien und nicht an den Universitäten des mittelalterlichen Europa selbst. Dies hängt mit den besseren finanziellen Möglichkeiten und mit dem Vorhandensein institutionseigener Gebäude zusammen, über welche die Kollegien im Unterschied zu den eigentlichen Universitäten von Beginn an verfügten. In vielen Fällen verband der Stifter eines Kollegs mit seiner Stiftung von Anfang an auch eine Bücherschenkung, um die Kollegiaten mit den entsprechenden Texten zu versorgen. In Cambridge war dies bei zwei Dritteln der Stifter der Fall (Clarke 2003, S. XXI). Darüber hinaus wurde in den Statuten der Kollegien vielfach der Anspruch des Kollegs auf den Buchbesitz der Fellows bei deren Tod oder bei Eintritt in einen geistlichen Orden ausdrücklich festgehalten (Ker 1985, S. 302). Tatsächlich wuchsen die Büchersammlungen der Kollegien überwiegend durch Testate oder Legate, weniger durch organisiertes Kopieren von Handschriften oder den Kauf von Büchern. Dasselbe war bei den Fakultäts- und Universitätsbibliotheken der Fall, aus denen sich erst deutlich später als aus den Kollegien Bücherverzeichnisse erhalten haben, wobei die Abgrenzung von Universitätsbibliotheken zu den Fakultätsbibliotheken, insbesondere jenen der artistischen Fa-
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kultäten, nicht immer eindeutig gegeben war. Vielfach dienten die Bibliotheken der Artistenfakultäten gleichzeitig auch als eine Art Universitätsbibliothek, da sie auch Literatur für die Professoren und Studenten der höheren Fakultäten zur Verfügung stellten, oder entwickelten sich langsam dazu. Die ersten erhaltenen Bücherverzeichnisse aus dem universitären Umfeld stammen aus dem 1257 gegründeten Collège de Sorbonne, und dies sicher nicht zufällig, verfügte dieses Kolleg doch schon außergewöhnlich früh über eine Büchersammlung, die viele Klosterbibliotheken vom Umfang her übertraf und bis zum Ende des Mittelalters an Quantität und Qualität von keiner anderen universitären Büchersammlung erreicht wurde: 1290 besaß das Kolleg 1017 Bände, 1338 1290 Bände (Rouse 1967, S. 42, Anm. 1). In Paris, Bibliothèque Nationale, ms. lat. 16412 haben sich zwei ursprünglich als Vorsatzblätter verwendete Folia erhalten, die ein Fragment des ältesten Inventars des Kollegs darstellen und wohl bald nach dem 15. August 1274 (Tod Roberts von Sorbon) geschrieben sein dürften. Dieses Inventarfragment ist vermutlich auch der älteste Beleg für die Angabe der dicta probatoria, die im 14. Jh. nicht nur in Paris zum Usus wurde (Rouse 1967, S. 51–55). Vom Ende des 13. Jh.s stammen zwei formlose Listen, die sich offenbar auf Ausleihen aus dem Collège beziehen, doch scheinen systematische Ausleihregister erst später, aber sicher vor 1321 angelegt worden zu sein. Die ältesten aus dem Collège de Sorbonne erhaltenen Ausleihregister datieren erst aus dem 15. Jh. (Vieillard/Jullien de Pommerol 2000). Zwei weitere Kataloge des Collège aus den Jahren 1290 und 1321 sind zwar offenbar verloren, doch lässt sich aus dem nächsten erhaltenen Katalog (1338) jener des Jahres 1290 großteils rekonstruieren (Rouse 1967). Im 14. Jh. sind Bücherverzeichnisse von Kollegbibliotheken aus England, Frankreich, teils auch aus dem Reich und Italien in größerer Anzahl erhalten, vereinzelt auch schon Verzeichnisse von Fakultäts- und Universitätsbibliotheken, die aber erst im 15. Jh. häufiger werden (s. die Tabelle bei Jullien de Pommerol 1989, S. 97). Einen Sonderfall in der europäischen Universitätslandschaft unter dem Aspekt der Bücherverzeichnisse dürfte Italien darstellen. Auch hier wurden offenbar viele Kollegien gleich bei ihrer Gründung mit Bibliotheken ausgestattet, deren Verzeichnisse sich z. T. erhalten haben, doch spielten die Kollegien in Italien eine bei weitem nicht so bedeutende Rolle wie in England oder Frankreich. Fakultäts- bzw. Universitätsbibliotheken scheint es in Italien im Spätmittelalter nicht gegeben zu haben. Zumindest dürften sich keine Verzeichnisse davon erhalten haben (Pesenti Marangon 1979, S. 5). Die theologischen Fakultäten, die ähnlich wie die Kollegien in Italien keine besonders große Rolle spielten, setzten sich eher aus den Ordensstudia vor Ort zusammen und bedienten sich der großen Konventsbibliotheken (Pesenti Marangon 1979, S. 5); die Juristen verfügten über reiche individuelle Büchersammlungen und benutzten die Dom- und Stiftsbibliotheken. Stattdessen gab es in Italien im 16. Jh. Bibliotheken der Nationen, die in den Nationsakten (Akten) immer wieder genannt werden (für Bologna s. Colliva 1975; für Padua s. Pesenti Marangon 1979, S. 4), doch haben sich auch hier vermutlich keine Verzeichnisse erhalten oder sind zumindest bisher nicht gedruckt.
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2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Der Aufbau der universitären Bücherverzeichnisse hängt eng mit ihrer jeweiligen Funktion zusammen. Zu unterscheiden ist v. a. zwischen zwei Großgruppen von Bücherverzeichnissen: den Inventaren und den eigentlichen Katalogen. Inventare dienen zur Besitzsicherung und zeichnen zu diesem Zweck den vorhandenen Buchbesitz auf. Hierbei kann es sich um eigenständig überlieferte oder aber auch im Rahmen eines größeren Besitzverzeichnisses der Institution erhaltene Listen handeln, was häufig bei Testaten und Legaten der Fall ist. In Heidelberg wurde ein solches Bücherverzeichnis 1396 ungewöhnlicher Weise sogar in die Universitätsmatrikel eingetragen (Toepke 1884, S. 665–695). Der Aufbau solcher Inventare ist oft eher locker und weist häufig keine durchgängige, ordnende Systematik auf (Ähnliches gilt auch für Ausleihverzeichnisse, die ja im Wesentlichen der Besitzsicherung dienen), kann aber unter Umständen auch die Aufstellung der Bücher in der Bibliothek widerspiegeln. Bibliothekskataloge im eigentlichen Sinne dienen v. a. der Auffindung der Bücher durch den Benutzer. Hinter dem Begriff ‚Katalog‘ können sich erneut verschiedene Arten von Bücherlisten verbergen. Als Haupttypen sind Standortkataloge und systematische Kataloge zu unterscheiden. Standortkataloge geben die Aufstellung der Bücher in den (Pult-)Bibliotheken wieder, erlauben also bis zu einem gewissen Grad die Rekonstruktion der Aufstellung der Bücher. Systematische Kataloge ordnen die Bücher nach Sachthemen und/oder nach dem Alphabet, um das Auffinden eines bestimmten Textes in der Bibliothek zu ermöglichen. Allen diesen Typen, deren Übergänge z. T. fließend sind, sind mehrere Grundprobleme gemeinsam, die auch Auswirkungen auf die Erforschung von universitären Büchersammlungen haben. Am gravierendsten wirkt sich der Umstand aus, dass kaum ein universitäres Bücherverzeichnis tatsächlich den Gesamtbestand der Bibliothek wiedergibt (Clarke 2003, S. XLIV). Kolleg-, Fakultäts- oder Universitätsbibliotheken bestanden häufig aus zwei Sammlungen, nämlich einer Leih- und einer Präsenzbibliothek. Die erhaltenen Bibliothekskataloge im eigentlichen Sinne betreffen häufig nur die Präsenzbibliothek, während über die andere Sammlung oft nur Ausleihverzeichnisse (in England: Electiones-Listen) Auskunft geben oder überhaupt nichts bekannt ist. Auch hier gibt es allerdings Ausnahmen: Vollständige Kataloge existieren etwa aus dem Collège de Sorbonne (Rouse 1967) und aus Cambridge (King’s Hall 1390/91, Peterhouse 1418) (Clarke 2003, S. XLIV). Ein weiteres Grundproblem stellt die Weiterführung bzw. Aktualisierung dieser Kataloge dar. Da es sich in der Regel um Kataloge in Buchform handelte und noch kein Karteikartensystem in Gebrauch war, gestaltete sich die Aktualisierung bei neuen Bucherwerbungen schwierig. Häufig versuchte man, dem durch Freilassen entsprechenden Raumes in regelmäßigen Abständen zu begegnen, um spätere Erwerbungen in das vorliegende Ordnungssystem eintragen zu können, doch erwiesen sich diese Versuche durchwegs und zumindest mit zunehmender Dauer der Weiterführung des Katalogs als untauglich. Häufig trug man deswegen auch größere in die Bibliothek gelangte Testate oder Donate geschlossen nach Schenkern nach, was
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unter Umständen wichtige Aufschlüsse über deren Lebensdaten ermöglicht. Liegen Kataloge, die längere Zeit aktualisiert wurden, nur mehr als spätere Abschriften des Originals vor, sind diese Aktualisierungen z. T. nur schwer zu erkennen; zuweilen verbirgt sich in einem späteren Katalog als Kern ein schon früher angelegter (Rouse 1967, S. 63 u. ö.). Abgesehen von den eben geschilderten Phänomenen, ist zuweilen die Unvollständigkeit eines Katalogs klar erkennbar, wohingegen der Grund dafür nicht immer zu eruieren ist: So fehlen etwa im Verzeichnis der Universitätsbibliothek von Cambridge des Jahres 1424 legistische Texte zur Gänze, obwohl die Bibliothek nachweislich zahlreiche besaß (Clarke 2003, S. XLIII, S. 8). Neben den eben geschilderten beiden Typen – Inventar und Katalog – gibt es auch noch andere, teils auch recht häufig überlieferte Arten von Bücherlisten, die keine erkennbaren Ordnungssystematiken aufweisen. So können sich in oder in unmittelbarer Nähe zu Rechnungsbüchern (Finanz- und Vermögensverwaltung) oder in Chartularien von Kollegien, Fakultäten und Universitäten auch Notizen über erworbene Bücher finden (so etwa in King’s Hall und Peterhouse in Cambridge, in der dortigen Universitätsbibliothek in den Rechnungseinträgen der sogenannten Grace Books, in denen auch die Zerstörung von Büchern erwähnt wird, Clarke 2003, S. XLI und S. 63). Erwerbungen von Büchern sind fallweise auch in den Universitäts- oder Fakultätsakten (also in den von Schwinges so genannten Acta promotionum) eingetragen, so etwa in den Rektoratsakten und den Akten der Artistenfakultät an der Universität Wien (Gottlieb 1915, S. 463–498) oder in den Artistenakten der Universität Freiburg i. Br. (Lehmann 1969, S. 42–46) (Akten). Manchmal tauchen Bücherlisten auch in den Statuten von Kollegien oder Fakultäten, meist in Zusammenhang mit Bibliotheksordnungen, auf. Im Liber rerum memorabilium der Universitätsbibliothek Cambridge finden sich für die Jahre ab etwa 1510 Bittgebete für Wohltäter der Universität, in deren Rahmen manche Gönner mit ihren Bücherschenkungen erwähnt werden, die das Gebet zur Bedingung für die Schenkung machten. Universitäre Bücherverzeichnisse sind fast durchwegs auf Latein verfasst (Higgit 2006, S. 26. Die hier edierte volkssprachliche Liste vom Ende des 15. oder Beginn des 16. Jh.s verzeichnet bezeichnenderweise Einrichtungsgegenstände, Kleidung und Bücher in der Kollegiatskirche des St. Salvator’s College und nicht die eigentliche Kollegbibliothek). Gemäß der Funktion der Verzeichnisse als einfache Listen, die selbst bei ausführlicherer Beschreibung der Bücher nicht über wenige Zeilen pro Band hinauskommen, ist die Sprache ausnahmslos schlicht, funktionell und ohne höhere Ansprüche. Eine einheitliche Terminologie der Bücherverzeichnisse gibt es in den Überlieferungen nicht. Viele tragen überhaupt keinen Titel und geben oft nicht einmal Ort und Zeit ihrer Entstehung oder den verzeichneten Bestand an Büchern an. In jenen Fällen, in denen Verzeichnisse mit einer Überschrift versehen sind oder in anderen Quellen erwähnt werden, werden sie häufig mit Begriffen wie registrum, catalogus, inventarium, libri ex dono o. Ä. bezeichnet. Die variablen Bezeichnungen entsprechen damit zumindest z. T. der oben diskutierten unterschiedlichen Funktion bzw. der Genese der Verzeichnisse.
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Universitäre Bücherverzeichnisse können im Original oder in späteren Abschriften überliefert sein. Vielfach sind sie, bei insgesamt hoher anzunehmender Verlustquote (Jullien de Pommerol 1989, S. 95), auch nur fragmentarisch erhalten, da die alten Kataloge bei der Anlage neuer ihren Wert verloren und als Makulatur verwendet wurden (Keussen 1929, S. 142). Sie sind in der Regel auf Pergament oder Papier geschrieben und können selbständig in Form einzelner Streifen (zu Gonville Hall s. Clarke 2003, S. 256), Einzel- oder Doppelblätter oder auch ganzer Lagen, Faszikel oder Bänden überliefert oder zusammen mit anderen Verzeichnissen (etwa solchen, welche die bona collegii, also den übrigen Besitz eines Kollegs neben den Büchern, verzeichnen) oder ganz verschiedenartigen Texten gemeinsam in eine Handschrift eingetragen sein. Des Öfteren liegen sie auch als Adligate vor, die entweder unmittelbar nach ihrer Anlage oder erst viel später anderen Texten beigebunden wurden. Auch Verzeichnisse auf Pergamentrollen (so etwa für das All Souls College in Oxford, s. Ker 1985, S. 304; oder auch Lehmann 1969, S. 42) und großen pergamentenen Plakaten, die wohl im Eingangsbereich der Bibliotheken zur Orientierung der Leser hingen (Keussen 1899, S. 142), haben sich erhalten. Vereinzelt gibt es darüber hinaus Hinweise, dass in den Bibliotheken selbst (wohl an den sichtbaren Enden der Pulte in den Pultbibliotheken) anscheinend geweißte (Holz-?)Tafeln existierten (oder zumindest angebracht werden sollten), auf welchen wohl die auf den Pulten liegenden Bücher angeführt waren. Laut einem Vertrag von 1374 gab es solche Tafeln etwa in der New Library des Merton College in Oxford (Thomson 2009, S. XXIX). Universitäre Bücherverzeichnisse können von einer oder, insbesondere wenn sie über einen längeren Zeitraum entstanden, von mehreren Händen geschrieben sein. Die Verfasser bzw. Schreiber der Listen sind häufig nicht bekannt und können je nach Funktion der Verzeichnisse auch variieren. In Frage kommen der Bibliothekar bzw. der mit der Verwaltung der Bibliothek beauftragte Funktionär, aber häufig auch Personen aus der Verwaltung oder Finanzverwaltung der Kollegien oder Fakultäten bzw. Universitäten (in England etwa treasurers, bursars, proctors, masters), da Bücherlisten häufig als Inventare zur Besitzsicherung dienten (Clarke 2003, S. XXVIII f.). Ausleihlisten können unter Umständen auch aus von den Benutzern selbst angefertigten Einträgen bestehen. Die Ausprägung der Bücherverzeichnisse selbst ist äußerst unterschiedlich. So können etwa Rechnungsbücher oder Notizen über Schenkungen nur die Anzahl angeschaffter Bände enthalten, ohne sich auch nur knapp über den Inhalt der erworbenen Bücher zu äußern. Als Normalfall wird man jene Art von Bücherlisten anzusehen haben, die nur sehr knappe Informationen über die einzelnen Einheiten enthält, oft also nur eine kurze Angabe über deren Inhalt (oder, bei Sammelhandschriften, einen kleinen Teil des Inhalts). Insbesondere bei kurzen Listen ist diese Art der Verzeichnung häufig anzutreffen, so etwa bei der kurzen Liste von Godshouse (später Christ’s College) in Cambridge (nach 1451) (Clarke 2003, S. 108–110), da die einzelnen Bände innerhalb kleiner Bestände sehr leicht identifiziert werden können. Auch längere Beschreibungen der einzelnen Bücher sind aber durchaus üblich. Sie können sowohl die ‚inneren‘ Merkmale der Bände betreffen (also die Zahl der enthaltenen Texte, ihre
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Autoren, die genaue Bestimmung der Texte selbst durch Incipit und Explicit usw.), als auch die ‚äußeren‘, d. h. die ‚physischen‘ Aspekte des Buches. So sind Angaben über den allgemeinen Zustand des Bandes sowie über Format, Einband, Lagenaufbau, Ausstattung, Initialen, Miniaturen, Schrift etc. möglich und z. T. gar nicht selten, ebenso wie Qualitätsurteile (pulcher, bonus, antiquus etc.). Sehr oft begegnet die Angabe der sogenannten dicta probatoria, d. h. der ersten Worte (Incipit) meist des zweiten oder dritten Blattes der Handschrift (und häufig auch des Incipit oder Explicit ihres vorletzten Blattes): Dies soll die eindeutige Identifizierung einer Handschrift gegenüber anderen Exemplaren mit demselben Text ermöglichen (Clarke 2003, S. LXXXIII, S. 606–611). Rechnungsbücher und Ausleihverzeichnisse geben häufig auch über den Wert der Bücher Auskunft, wobei die diesbezüglichen Angaben in den letzteren mit Vorsicht zu genießen sind, beziehen sie sich doch auf Strafen, die bei Verlust des Buches angedroht werden und zur Abschreckung dienen sollen, sodass sie des Öfteren überhöht angesetzt werden. Schenkerlisten und Pfandverzeichnisse informieren über den oder die früheren Besitzer der Bücher und deren individuelle Büchersammlungen, Ausleihverzeichnisse informieren über deren Benutzer. Keine der erhaltenen universitären Bücherverzeichnisse bietet alle diese Informationen, die Varianz ist enorm groß. Interessant ist allerdings, dass gerade die früheren Listen – zumindest wird dieser Befund für die Universität Cambridge nahegelegt – die detaillierteren sind, etwa Corpus Christi 1376, Peterhouse 1418, Universitätsbibliothek Cambridge ca. 1424: vielleicht, weil in Cambridge nach 1450 grobe Grundregeln für die Kataloge aufgekommen sein könnten (Clarke 2003, S. LVII). 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Entsprechend ihren oben erläuterten Funktionen besitzen universitäre Bücherverzeichnisse eine Vielzahl von Aussagemöglichkeiten, die sich zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen zunutze machen können. Primär geben die Listen Auskunft über die Anzahl der zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem Kolleg oder an einer Fakultät/ Universität vorhandenen Bücher. Problematisch ist dabei die Tatsache, dass die Verzeichnisse in den meisten Fällen nicht vollständig und darüber hinaus nicht selten undatiert sind, sodass ihr Entstehungszeitpunkt oft nur näherungsweise bestimmt werden kann. Liegen mehrere Bücherlisten für ein und dieselbe Büchersammlung vor, können sie vorbehaltlich der genannten Kautelen eine einzigartige Quelle für das Wachstum (und eventuell für die inhaltliche oder physische Veränderung, etwa den Wechsel von Handschriften zu Drucken) der betreffenden Bibliothek sein (Rouse 1967, S. 42, Anm. 1; Jullien de Pommerol 1989, S. 95). Damit sind universitäre Bücherverzeichnisse exzeptionell wichtige Zeugnisse für die Buch- und Universitätsgeschichte, was die Quantität der vorhandenen Bücher betrifft. Geben die Verzeichnisse auch mehr oder weniger detaillierte Informationen über den äußeren Zustand und die Ausstattung der Bücher, ermöglichen sie der Buchwissenschaft auch wichtige Aufschlüsse über deren Qualität und physische Eigenschaften (Einband, Schrift, Be-
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schreibstoff, Illuminationen, Initialen, allgemeiner Zustand usw.). Aussagen über die Schrift von Handschriften sind etwa auch für die Paläographie von einiger Relevanz, liefern sie doch wichtige Informationen darüber, wie die Zeitgenossen bestimmte Schriften einschätzten und terminologisch bezeichneten. Die in seltenen Fällen angeführten Lagenangaben zu einzelnen Bänden können, ebenso wie die eben genannten anderen Informationen über das Aussehen der Bücher, die Identifizierung der erwähnten Bände mit heute noch vorhandenen ermöglichen und sind u. a. auch für die Kodikologie relevant. Dass besonders bei universitären Bücherverzeichnissen häufig auch die Herkunft des Buches, also der Vorbesitzer, angegeben ist, macht sie für die Bibliotheksgeschichte ebenso interessant wie der bei Drucken häufig angegebene Erscheinungsort bzw. das Druckdatum. Systematische Kataloge bzw. Signaturenkataloge können zudem interessante Aufschlüsse über die Anordnung, Aufbewahrung und Aufstellung der Bücher in den Bibliotheken und damit über Wissenschaftssystematiken u. Ä. liefern. Buch- und bibliotheksgeschichtlich, aber auch wirtschaftsgeschichtlich relevant sind Angaben über den Wert der Bücher, die allerdings z. T. wenig verlässlich sind, da der Wert häufig im Zusammenhang mit Kompensationszahlungen für den eventuellen Verlust des Buches angegeben und deswegen prohibitiv höher angesetzt wurde, als es der Realität entsprach (Clarke 2003, S. LVI). Verlässlicher sind in diesem Zusammenhang Angaben, die in Verbindung mit der Anschaffung der Bücher, ihrer Bindung, Ausstattung oder Restaurierung gemacht werden, was v. a. in Rechnungsbüchern und Universitätsakten (Finanz- und Vermögensverwaltung; Akten) der Fall ist. Wichtig sind außerdem die Angaben über die Inhalte der Bücher, also die an den Universitäten vorhandenen Texte. Sie können Auskunft geben über die Verfügbarkeit von bestimmten Texten an bestimmten Orten, über die Relevanz einzelner Texte für die universitäre Lehre und über den Bedarf an diesen Texten. Damit sind die Bücherverzeichnisse nicht nur für die allgemeine Kultur- und Geistesgeschichte und die Wissenschaftsgeschichte eine unentbehrliche Quelle, sondern auch für die Institutionen- und Universitätsgeschichte oder die Text- und Überlieferungsgeschichte – insbesondere dann, wenn etwa die Datierung der Handschriften oder Drucke in den Verzeichnissen auftauchen. Sozialgeschichtlich und prosopographisch lassen sich neben den Angaben über die Vorbesitzer der Bücher v. a. die in Einzelfällen erhaltenen Ausleihregister auswerten, da sie uns auch mit jenen Personen bekannt machen, welche die Bücher wirklich benutzten. Insbesondere die frühen Kataloge des Collège de Sorbonne ermöglichen etwa durch die Angaben der Vorbesitzer der Bücher, ihre Lebens- bzw. Sterbedaten präziser zu bestimmen, als das durch andere Quellen möglich ist (Rouse 1967, S. 65 f.). Letztlich ist noch die Mentalitätsgeschichte zu nennen, die von den allerdings sehr seltenen persönlichen Angaben des Stifters über seine Bücher und die ihnen zugemessene Bedeutung profitieren kann (Clarke 2003, S. LIX f.). Der Auswertung universitärer Bücherverzeichnisse im eben genannten Sinne stehen allerdings noch immer massive Forschungsdesiderata gegenüber, die behoben werden müssten, ehe man zu wirklich verlässlichen Ergebnissen in gesamteuropäi-
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scher Perspektive kommen kann. Bedingt durch die meist auf die einzelnen Universitäten beschränkten Editions- und Forschungsvorhaben, gibt es keinen einzigen verlässlichen Überblick über universitäre Bücherverzeichnisse für Europa oder einzelne Länder (vgl. etwa für Frankreich die relativ magere und nicht durch Anmerkungen belegte Tabelle bei Jullien de Pommerol 1989, S. 97), geschweige denn einen erstrebenswerten Zensus der universitären Bücherverzeichnisse des europäischen Mittelalters bzw. der frühen Neuzeit. Nicht zufriedenstellend ist auch der Editionsstand der einschlägigen Verzeichnisse, der allerdings regional stark schwankt. Modernen Ansprüchen genügt hier einzig das Corpus of British Medieval Library Catalogues mit den schon vorliegenden vorbildlichen Bänden über die schottischen Bibliotheken (inklusive der hier relevanten Universitäten St. Andrews und Glasgow) bzw. die Universitäts- und Kollegbibliotheken von Cambridge. Nach Erscheinen des in Vorbereitung befindlichen Bandes über die Universitäts- und Kollegbibliotheken in Oxford (der Band erschien während der Drucklegung und konnte inhaltlich nicht mehr eingearbeitet werden) wird der englisch-schottische Raum erfreulicherweise vollständig erschlossen sein, während im Rest Europas, insbesondere im an Kollegien reichen und einzig mit England vergleichbaren Frankreich, der Editionsstand nur als äußerst unbefriedigend bezeichnet werden kann und man selbst für Paris z. T. auf Drucke der Verzeichnisse aus dem 18. Jh. zurückgreifen muss. Das Fehlen eines übergreifenden Verzeichnisses und das ins Stocken geratene Unternehmen der Mittelalterlichen Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz führen etwa im deutschsprachigen Raum dazu, dass man zur Eruierung der erhaltenen Bücherverzeichnisse in mühevoller Kleinarbeit die Geschichte jeder einzelnen Universität (Bibliotheksgeschichten sind nur z. T. vorhanden) durchforsten muss, ehe man zu sicheren Ergebnissen kommt, ob überhaupt Bücherverzeichnisse vorhanden und wie diese überliefert sind. In einem weiteren Schritt wären zur lückenlosen Erforschung der universitären Bücherverzeichnisse auch fundierte Vollkataloge der mittelalterlichen Bibliotheken und insbesondere der heutigen Universitätsbibliotheken notwendig, um die in den Verzeichnissen genannten Bände identifizieren und daraus weitere Erkenntnisse über die oft mageren Angaben zu den Büchern in den Verzeichnissen selbst hinaus gewinnen zu können. Auch hier liegen bisher, wiederum v. a. aus dem englischsprachigen Raum, z. T. aber auch aus Deutschland, nur punktuell brauchbare Kataloge vor. Wichtig erscheint hier die Feststellung, dass ausschließlich Vollkatalogisierung der Bestände die Identifizierung der betreffenden Handschriften ermöglicht und dringend von Kurzkatalogen oder Inventaren abzusehen ist. In diesem Sinne stützt sich der hier vorliegende Artikel notwendigerweise v. a. auf die Bücherverzeichnisse der Universitäten in England und Schottland, die in modernen und verlässlichen Editionen vorliegen, und zum geringeren Teil auf die nur partiell gut erschlossenen Verzeichnisse aus Frankreich, dem deutschsprachigen Raum und Spanien bzw. Italien. Der Forschungsstand spiegelt sich somit auch in der folgenden Liste an Literatur und Ausgaben der Bücherverzeichnisse wider, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, sondern sich vorrangig auf die wichtigen Universitäten Europas sowie auf jene, deren Bücherverzeichnis in verlässlichen Ausgaben vorliegen, beschränkt.
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4. Bibliographie Im Text zitierte Literatur Clarke, Peter D. (Hrsg.) (2003), The University and College Libraries of Cambridge (Corpus of British Medieval Library Catalogues, 10), London. Colliva, Paolo (Hrsg.) (1975), Statuta nationis Germanicae universitatis Bononiae (1292– 1750) (Quaderni dell’Associazione Italo-Tedesca. Acta Germanica, 1), Bologna. Gottlieb, Theodor (Hrsg.) (1974), Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs, Bd. 1: Niederösterreich, Wien 1915, ND Aalen. Higgitt, John (Hrsg.) (2006), Scottish Libraries. With an Introductory Essay by John Durkan (Corpus of British Medieval Library Catalogues, 12), London. Jullien de Pommerol, Marie-Henriette (1989), Livres d’étudiants, bibliothèques de collèges et d’universités, in: Vernet, André (Hrsg.), Histoire des bibliothèques françaises. Les bibliothèques médiévales du Ve siècle à 1530, Paris, S. 93–111. Ker, Neil Ripley (1985), Oxford College Libraries before 1500, in: Ker, Neil Ripley (Hrsg.), Books, Collectors and Libraries. Studies in the Medieval Heritage, London, S. 301–320. Keussen, Hermann (1899), Beiträge zur Geschichte der Kölner Universität, in: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst 18, S. 315–369. Keussen, Hermann (1929), Die alte Kölner Universitätsbibliothek, in: Jahrbuch des kölnischen Geschichtsvereins 11, S. 138–189. Lehmann, Paul (Hrsg.) (1969), Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Bd. 1, München 1918, ND München. Pesenti Marangon, Tiziana (1979), La biblioteca universitaria di Padova, Padua. Rouse, R. H. (1967), The Early Library of the Sorbonne, in: Scriptorium 21, S. 42–71, 226–251. Thomson, Rodney M. (2009), A Descriptive Catalogue of the Medieval Manuscripts of Merton College, Oxford, Cambridge. Thomson, Rodney M. (Hrsg.) (2015), The University and College Libraries of Oxford, 2 Bde. (Corpus of British Medieval Library Catalogues, 16), London (erst während der Drucklegung des Buchs erschienen). Toepke, Gustav (Hrsg.) (1884), Die Matrikel der Universität Heidelberg von 1386 bis 1662. Erster Theil: Von 1386 bis 1553, Heidelberg. Vieillard, Jeanne / Jullien de Pommerol, Marie-Henriette (Hrsg.) (2000), Le registre de prêt de la bibliothèque du collège de Sorbonne (1402–1536). Diarium Bibliothecae Sorbonae. Paris, Bibliothèque Mazarine, ms. 3323 (Documents, Études et Répertoires publiés par l’Institut de Recherche et d’Histoire des Textes, 57), Paris. Ziel der folgenden Bibliographie ist vor allem die Auflistung der gedruckten Editionen von universitären Bücherlisten und von Literatur, die sich spezifisch damit beschäftigt. Literatur zur Geschichte der betreffenden Büchersammlungen allgemein wird nur dann aufgenommen, wenn es dort auch um Bücherverzeichnisse geht. Aufgrund des begrenzten Raumes beschränken sich die Literaturangaben auf die neueren Datums, wenn dort die ältere Literatur gut erfasst ist; auf sie wird dann nicht mehr eigens hingewiesen.
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Allgemein Buzás, Ladislaus (1975), Deutsche Bibliotheksgeschichte des Mittelalters (Elemente des Buch- und Bibliothekswesens, 1), Wiesbaden. Gottlieb, Theodor (1955), Über mittelalterliche Bibliotheken, Leipzig 1890, ND Graz. Leyh, Georg (Hrsg.) (1955), Handbuch der Bibliothekswissenschaft, Bd. 3: Geschichte der Bibliotheken. Erste Hälfte, 2. Aufl., Wiesbaden. Schmitz, Wolfgang (1984), Deutsche Bibliotheksgeschichtsgeschichte (Langs Germanistische Lehrbuchsammlung, 52), Bern/Frankfurt a. M./New York. Fabian, Bernhard (Hrsg.) (1992–1997), Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, 13 Bde., Hildesheim u. a.
Einzelne Universitäten – Editionen und Literatur Belgien Louvain Derolez, Albert (Hrsg.) (2001), Corpus catalogorum Belgii. The Medieval Booklists of the Southern Low Countries IV: Provinces of Brabant and Hainault, Brüssel, S. 162–175 [Edition]. van Hove, Alphonse (1914), La bibliothèque de la Facultè des Arts de l’Universitè de Louvain au milieu du XVe siècle, in: Mèlanges d’histoire offerts à Charles Moeller à l’occasion de son jubilé de 50 années de professorat à l’Université de Louvain I: Antiquité et Moyen Âge, Louvain/Paris, S. 602–625 [Edition S. 618–625].
Deutschland Erfurt Bischoff, Bernhard (1966), Neuaufgefundene Auszüge aus einem verschollenen Katalog der Amploniana, in: Bischoff, Bernhard, Mittelalterliche Studien, Bd. 1, Stuttgart, S. 133–140. Lehmann, Paul (Hrsg.) (1969), Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Bd. 2, München 1928, ND München [Edition S. 1–99: Collegium Amplonianum; S. 100–220: Collegium universitatis]. Schum, Wilhelm (1887), Beschreibendes Verzeichnis der Amplonianischen HandschriftenSammlung zu Erfurt, Berlin. Freiburg i. Br. Lehmann, Paul (Hrsg.) (1969), Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Bd. 1, München 1918, ND München [Edition S. 42–46: Bücher betreffende Eintragungen in den Artistenakten]. Greifswald Kosegarten, Ludwig (1856), Geschichte der Universität Greifswald mit urkundlichen Beilagen, Bd. 2, Greifswald [Edition: S. 232–234].
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Heidelberg Toepke, Gustav (Hrsg.) (1884), Die Matrikel der Universität Heidelberg von 1386 bis 1662. Erster Theil: Von 1386 bis 1553, Heidelberg [Edition S. 655–670: Bücherverzeichnis im Rahmen eines Vermögensverzeichnisses der Universität von 1396; S. 678–695: weitere Zuwächse bis 1432]. Eine Reihe von weiteren Bücher betreffende Einträgen in die Universitäts- und Artistenakten sowie Bücherverzeichnissen, u. a. ein Gesamtkatalog von Universitätsbibliothek, Artistenbibliothek und Heiligengeistkirche von 1461 (UB Heidelberg Hs. 47 und 47a [Abschrift 16. Jh.]) ist noch ungedruckt und soll in den nächsten Jahren in der Reihe Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz erscheinen. Ingolstadt Buzás, Ladislaus (1972), Geschichte der Universitätsbibliothek München, Wiesbaden. John, Wilhelm (1942), Das Bücherverzeichnis der Ingolstädter Artistenfakultät von 1508, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 59, S. 381–412 [Edition]. Ruf, Paul (Hrsg.) (1933), Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Bd. 3, 2, München [Edition S. 220–256: Universitätsakten; Katalog der Artistenfakultät]. Schuh, Maximilian (2013), Aneignungen des Humanismus. Institutionelle und individuelle Praktiken an der Universität Ingolstadt im 15. Jahrhundert (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, 47), Leiden u. a., S. 122–160. Köln Keussen, Hermann (1899), Beiträge zur Geschichte der Kölner Universität, in: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst 18, S. 315–369 [Edition S. 342 f.: Bücherverzeichnis der Juristenfakultät 1474; S. 345–348: kleinere Buchbesitzeinträge der Artistenfakultät ab 1421]. Keussen, Hermann (1929), Die alte Kölner Universitätsbibliothek, in: Jahrbuch des kölnischen Geschichtsvereins 11, S. 138–189 [Edition: S. 163–183: Bücherverzeichnis der Artistenbibliothek 1474; S. 183–190: Bücherzuwachs der Artistenbibliothek nach 1474 laut Eintragungen in die Fakultätsakten und Testamenten]. Stohlmann, Jürgen (1989), Insignis illic bibliotheca asservatur. Die Kölner Professoren und ihre Bibliothek in der Frühzeit der Universität, in: Zimmermann, Albert (Hrsg.), Die Kölner Universität im Mittelalter. Geistige Wurzeln und soziale Wirklichkeit, Berlin, S. 433–466. Leipzig Döring, Detlef (1990), Die Bestandsentwicklung der Bibliothek der Philosophischen Fakultät der Universität zu Leipzig von ihren Anfängen bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Leipziger Universität in ihrer vorreformatorischen Zeit (Zentralblatt für Bibliothekswesen Beiheft, 99), Leipzig [Edition S. 36, 51–145: Kataloge der Artistenfakultät von 1480 und ca. 1560]. Zarncke, Friedrich (1857), Die urkundlichen Quellen zur Geschichte der Universität Leipzig in den ersten 150 Jahren ihres Bestehens, in: Abhandlungen der phil.-hist. Klasse der Königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Bd. 2, Leipzig [S. 509–922, v. a. S. 853, 855 f. Hinweise auf auch von Döring nicht gedruckte Bücherlisten, beginnend um 1438].
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Rostock Heydeck, Kurt (2001), Die mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Rostock (Kataloge der Universitätsbibliothek Rostock, 1), Wiesbaden, S. 12–17. Jügelt, Karl-Heinz (1991), Nathan Chytraeus, der Begründer der Universitätsbibliothek Rostock, in: Elsmann, Thomas / Lietz, Hanno / Pettke, Sabine (Hrsg.), Nathan Chytraeus 1543–1598. Ein Humanist in Rostock und Bremen. Quellen und Studien, Bremen, S. 13–18. Eine Edition der ersten erhaltenen Bücher betreffende Einträge im Liber facultatis philosophicae (ab 1559, Einträge von Buchgeschenken an die Artistenfakultät) fehlt. Tübingen Röckelein, Hedwig (1991), Die lateinischen Handschriften der Universitätsbibliothek Tübingen, Teil 1: Signaturen Mc 1 bis Mc 150 (Handschriftenkataloge der Universitätsbibliothek Tübingen, 1), Wiesbaden, S. 1–21. Wittenberg Kusukawa, Sachiko (Hrsg.) (1995), A Wittenberg University Library Catalogue of 1536 (Medieval and Renaissance Texts and Studies), Binghamton [Edition].
England/Schottland Cambridge Clarke, Peter D. (Hrsg.) (2003), The University and College Libraries of Cambridge (Corpus of British Medieval Library Catalogues, 10), London [Literatur/Edition]. Oxford Ker, Neil Ripley (1985), Oxford College Libraries before 1500, in: Ker, Neil Ripley (Hrsg.), Books, Collectors and Libraries. Studies in the Medieval Heritage, London, S. 301–320. Thomson, Rodney M. (2009), A Descriptive Catalogue of the Medieval Manuscripts of Merton College, Oxford, Cambridge. Thomson, Rodney M. (Hrsg.) (2015), The University and College Libraries of Oxford (Corpus of British Medieval Library Catalogues, 16), 2 Bde., London [Edition]. St. Andrew und Glasgow Higgitt, John (Hrsg.) (2006), Scottish Libraries. With an Introductory Essay by John Durkan † (Corpus of British Medieval Library Catalogues, 12), London, S. 257–385 [Literatur/Edition].
Frankreich Genevois, Anne-Marie / Genest, Jean-François / Chalandon, Anne (Hrsg.) (1987), Bibliothèques de manuscrits médiévaux en France. Relevé des inventaires du VIIIe au XVIIIe siècle, Paris. Jullien de Pommerol, Marie-Henriette (1989), Livres d’étudiants, bibliothèques de collèges et d’universités, in: Vernet, André (Hrsg.), Histoire des bibliothèques françaises. Les bibliothèques médiévales du Ve siècle à 1530, Paris, S. 93–111. Avignon Genevois, Anne-Marie / Genest, Jean-François / Chalandon, Anne (Hrsg.) (1987), Bibliothèques de manuscrits médiévaux en France. Relevé des inventaires du VIIIe au XVIIIe siècle, Paris, S. 21, Nr. 167–169.
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Caen Genevois, Anne-Marie / Genest, Jean-François / Chalandon, Anne (Hrsg.) (1987), Bibliothèques de manuscrits médiévaux en France. Relevé des inventaires du VIIIe au XVIIIe siècle, Paris, S. 39, Nr. 317. Cahors Genevois, Anne-Marie / Genest, Jean-François / Chalandon, Anne (Hrsg.) (1987), Bibliothèques de manuscrits médiévaux en France. Relevé des inventaires du VIIIe au XVIIIe siècle, Paris, S. 39, Nr. 318. Montpellier Genevois, Anne-Marie / Genest, Jean-François / Chalandon, Anne (Hrsg.) (1987), Bibliothèques de manuscrits médiévaux en France. Relevé des inventaires du VIIIe au XVIIIe siècle, Paris, S. 141, Nr. 1132–1134. Orléans Genevois, Anne-Marie / Genest, Jean-François / Chalandon, Anne (Hrsg.) (1987), Bibliothèques de manuscrits médiévaux en France. Relevé des inventaires du VIIIe au XVIIIe siècle, Paris, S. 149, Nr. 1189. Paris Genevois, Anne-Marie / Genest, Jean-François / Chalandon, Anne (Hrsg.) (1987), Bibliothèques de manuscrits médiévaux en France. Relevé des inventaires du VIIIe au XVIIIe siècle, Paris, S. 150–178. Sorbonne Genevois, Anne-Marie / Genest, Jean-François / Chalandon, Anne (Hrsg.) (1987), Bibliothèques de manuscrits médiévaux en France. Relevé des inventaires du VIIIe au XVIIIe siècle, Paris, S. 177 f., Nr. 1432–1446. Rouse, R. H. (1967), The Early Library of the Sorbonne, in: Scriptorium 21, S. 42–71, 226–251. Vieillard, Jeanne / Jullien de Pommerol, Marie-Henriette (Hrsg.) (2000), Le registre de prêt de la bibliothèque du collège de Sorbonne (1402–1536). Diarium Bibliothecae Sorbonae. Paris, Bibliothèque Mazarine, ms. 3323 (Documents, Études et Répertoires publiés par l’Institut de Recherche et d’Histoire des Textes, 57), Paris [Literatur/Edition]. Toulouse Genevois, Anne-Marie / Genest, Genest, Jean-François / Chalandon, Anne (Hrsg.) (1987), Bibliothèques de manuscrits médiévaux en France. Relevé des inventaires du VIIIe au XVIIIe siècle, Paris, S. 226, Nr. 1830.
Italien Bologna Colliva, Paolo (Hrsg.) (1975), Statuta nationis Germanicae universitatis Bononiae (1292– 1750) (Quaderni dell’Associazione Italo-Tedesca. Acta Germanica, 1), Bologna. Collegio di Spagna Laurent, Marie-Hyacinthe (1943), Fabio Vigili et les bibliothèques de Bologne (Studi e testi, 105), Vatikanstadt, [Edition S. 175–179: Bücherschenkung von Kardinal Albornoz für sein Kolleg vom 4. April 1365].
Bücherverzeichnisse Collegium Gregorianum Laurent, Marie-Hyacinthe (1943), Fabio Vigili et les bibliothèques de Bologne (Studi e testi, 105), Vatikanstadt [Edition: S. 180–202: Schenkungsverzeichnis Gregors XI. vom 8. Juni 1373]. Padua Pesenti Marangon, Tiziana (1979), La biblioteca universitaria di Padova, Padua. Rom Collegio Capranica Aimone, Pier V. (2004), Una biblioteca fatta per lo studio. Le regole di conduzione di una biblioteca del XV secolo. La biblioteca donata dal Card. Firmano al Collegio Capranicense, da lui fondato a Roma nella seconda metà del xv secolo, in: Secchi Tarugi, Luisa (Hrsg.), L’Europa del Libro nell’età dell’umanesimo. Atti del XIV Convegno Internazionale, Chiciano, Firenze, Pienza 16–19 luglio 2002 (Quaderni della Rassegna, 36), Florenz, S. 61–77 [Literatur/Edition].
Österreich Wien Gottlieb, Theodor (Hrsg.) (1974), Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs, Bd. 1: Niederösterreich, Wien 1915, ND Aalen [Edition S. 463–504: Bücher betreffende Einträge in den Universitäts- und Fakultätsakten]. Pongratz, Walter (1977), Geschichte der Universitätsbibliothek Wien, Wien/Köln/Graz [Literatur].
Polen Krakau Zimmer, Szczepan K. (1963), The Jagellonian University Library in Cracow, in: The Polish Review 8, S. 56–77.
Schweiz Basel Burckhardt, Max (1959), Aus dem Umkreis der ersten Basler Universitätsbibliothek, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 58/59, S. 155–191. Heiligensetzer, Lorenz (2005), Der Bibliothekskatalog von Heinrich Pantaleon (1559), in: Heiligensetzer, Lorenz et al. (Hrsg.), „Treffenliche schöne Biecher“. Hans Ungnads Büchergeschenk und die Universitätsbibliothek Basel im 16. Jahrhundert. Katalog zur Ausstellung der UB Basel, 27. August-5. November 2005, Basel, S. 105–107. Heusler, Andreas (1896), Geschichte der Öffentlichen Bibliothek der Universität Basel, Basel. Der Katalog Pantaleons von 1559 und der von 1583 sind ungedruckt.
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Tschechien Prag Bečka, Josef / Urbánková, Emma (Hrsg.) (1948), Katalogy Knihoven Kolejí Karlovy University. Introduction de Josef Becka et Emma Urbankova, Prag [Edition]. Šmahel, František (2007), Die Bücherkataloge des Collegium Nationis Bohemicae und des Collegium Reczkonis, in: Šmahel, František (Hrsg.), Die Prager Universität im Mittelalter – The Charles University in the Middle Ages. Gesammelte Aufsätze – Selected Studies (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, 28), Leiden/Boston, S. 405–439. Šmahel, František / Zuzana Silagiová (Hrsg.) (2015), Catalogi librorum vetustissimi Universitatis Pragensis. Die ältesten Bücherkataloge der Prager Universität (Magistri Iohannis Hus opera omnia. Suppl. 2 = Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis, 271), Turnhout [Edition].
Consilia Thomas Woelki / Tobias Daniels
Begriffserklärung Ein Consilium, dem Begriff nach ein Ratschlag, bezeichnet eine nach Auftrag erteilte autoritative und institutionalisierte, d. h. zumeist ‚wissenschaftliche Kriterien‘ erfüllende Form der Auskunft bzw. des Gutachtens über eine Frage der Praxis durch einen Experten bzw. ein Gremium von Experten. Anwendung findet diese Form der Beratung in verschiedenen Lebensbereichen der Vormoderne, etwa in Medizin oder Bauwesen, Malerei und Skulptur, besondere Relevanz hat sie allerdings seit jeher in der Jurisprudenz als Mittel der Rechtsfindung. Autorität erhielt ein Consilium insbesondere durch den Consiliator / die Consiliatoren und seine/ihre Bewertung des Falles auf der Grundlage des gelehrten Rechts. Dem Anspruch nach geschah dies professionell und überparteiisch, de facto ist das Consilium jedoch immer als anlass- und zweckgebundene argumentative Form auf der Schwelle zwischen Theorie und Praxis zu verstehen. Aus ihm ist nicht notwendig zu erfahren, wer im Recht ist, sondern welche Argumente Auftraggebern und Verfassern als rechtskonform, plausibel und konsensfähig erschienen. Grundsätzlich ist zwischen der Form der dem Anspruch nach unparteiischen Expertise zur Rechtsfindung, dem consilium sapientis, und dem Gutachten der Parteivertretung, consilium pro parte, zu unterscheiden (differenzierte Typologie bei Ascheri 2003, S. 314–319; vereinfacht bei Vallerani 2011, S. 130–137). 1. Genese, Funktion, Vorkommen Rechtsauskünfte berühmter Juristen hatten bereits in der römischen Antike eine wichtige Funktion für die Jurisprudenz und Fortentwicklung des Rechts (Ascheri 2004, S. 245–247). Die responsa der Rechtsgelehrten, welche nicht nur private Anfragen beantworteten, sondern spätestens in der römischen Kaiserzeit als Assessoren institutionell in die Urteilsfindung eingebunden waren, gingen vor allem durch die unter dem byzantinischen Kaiser Justinian zusammengestellten Digesten in das Corpus Iuris Civilis ein. Die Tradition des Urteilens aufgrund von gelehrten Stellungnahmen scheint in Italien nie ganz abgerissen zu sein. Im frühen Mittelalter werden Urteile häufig mit der Formel habito consilio versehen, wobei ab dem 12. Jh. zunehmend auch die Namen der Consulenten angegeben werden, darunter auch der berühmte Bolog-
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neser Rechtslehrer Irnerius und seine Schüler (Fried 1974). Die zunehmende Professionalisierung des Gerichtsprozesses führte in den italienischen Kommunen am Ende des 12. Jh.s zu einem deutlichen Anstieg der Produktion von Consilia. Die allgemeine Etablierung dieses Genres ist Ausdruck und Folge der typisch urbanen Rechtskultur der italienischen Kommunen des Hochmittelalters, welche das gesellschaftliche Zusammenleben nicht mehr aufgrund von persönlichen Abhängigkeiten und individuellen Privilegien, sondern auf der Basis eines abstrakten Normensystems organisierten (Bellomo 2012). Consilia machten es überhaupt erst möglich, soziale Konflikte nicht mehr auf der Basis von gewachsenen Macht- und Sozialstrukturen auszuhandeln, sondern im Rahmen des legalen Systems durch dialektische Konfrontation von Argumenten zu lösen (Vallerani 2011, S. 146 f.). Als die italienischen Stadtstaaten im 13. Jh. vielerorts dazu übergingen, wichtige Ämter (Podestà, Capitano del popolo) mit auswärtigen Personen zu besetzen, garantierten Consilia der lokalen Rechtsgelehrten eine fortlaufende Kontrolle und bewahrten Einflussmöglichkeiten der stadtadligen Familien, aus deren Kreisen die einheimischen Juristen meist hervorgegangen waren (Ascheri 2004, S. 250–252; Menzinger 2006). Kommunale Statuten verpflichteten daher die Richter häufig zur Einholung von Consilia und erklärten diese für verbindlich (Ascheri 2004, S. 251; Vallerani 2011, S. 129). Selbst wenn die Statuten keine explizite Verbindlichkeit der Consilia vorschrieben, lag das Anfordern und Beachten von Consilia in der Regel im Interesse der Richter, welche sich am Ende der Amtszeit in Syndikatsprozessen zu rechtfertigen hatten (dazu umfassend M. Isenmann 2010). Die bereits um 1200 in Italien weit verbreitete Praxis der Urteilsfindung aufgrund verbindlicher Consilia rief schon früh Skepsis und Widerstände hervor. Innozenz III. versuchte 1199 mit der Dekretale Ad nostram (X. 1.4.3), die Verbindlichkeit von Gerichtsconsilia für den kirchlichen Bereich einzuschränken (Ascheri 1991, S. 198). Guillaume Durands einflussreiches Speculum iudiciale enthält zwar einen kurzen Titel De requisitione consilii und erleichtert den Gebrauch von Consilia im Gerichtsprozess vor allem durch Formulierungsvorschläge, besteht aber auf der Letztverantwortlichkeit der Richter. Auch bei den Legisten bestand eine beinahe einhellige Ansicht, dass offensichtlich rechtswidrige Consilia nicht bindend sein durften, auch wenn Statuten das Gegenteil vorschrieben. Bei mehreren einander widersprechenden Consilia wurde teilweise dem Richter die Wahl überlassen, teilweise das Votum der Mehrzahl der Consultoren für bindend erklärt. Während zunächst das Gewicht der Consultoren als grundsätzlich gleichrangig betrachtet wurde, mehrten sich im 15. Jh. Stimmen, welche einen Vorrang des berühmteren Gutachters forderten. Die von Antonio da Butrio eingeführte Meinung, ein auf der Grundlage eines consilium sapientis entschiedener Rechtsstreit könne niemals als (grundsätzlich nicht mehr juristisch angreifbare) res iudicata betrachtet werden, weil stets ein besseres Consilium eines berühmteren Professors folgen könne, setzte sich nach einigen Widerständen (v. a. Niccolò Tudeschi) durch (s. Ascheri 1991, S. 182–191). Der hieran ablesbare Autoritätsverlust der Consilia, welche den Anspruch erreichbarer Wahrheitsevidenz und Unangreifbarkeit verloren, setzte sich in der frühen Neuzeit fort. Zu der schon im 12. und 13. Jh. greifbaren Skepsis vor käuflichen und betrügerischen Juristen, die als
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Handlanger der Mächtigen Verwirrung stifteten und die Rechtsfindung manipulierten, gesellte sich nun die Kritik an den offenkundigen Selbstwidersprüchen der Consultores (Falk 2006, S. 242–259). Die Erstellung von Consilia war zum großen Teil Teamarbeit. Im Verlauf des 13. Jh.s bildeten sich in vielen Kommunen Doktorenkollegien heraus, welche korporative Consilia erstellten (Gilli 2014). Voraussetzung für die Mitgliedschaft in einem solchen Kollegium war meist das lokale Bürgerrecht, so dass die Doktorenkollegien in der Mehrzahl mit nachrangigen Juristen besetzt waren. Um die dadurch verloren gegangene Neutralität und wissenschaftliche Professionalität auszugleichen, wurden zumindest bei wichtigen Prozessen regelmäßig berühmte auswärtige Doktoren mit dem Erstellen von Consilia beauftragt, welche auch die Entscheidungen der Doktorenkollegien überstimmen konnten (Woelki 2011, S. 68–71). Die Consilia, welche ab dem 13. Jh. einen Großteil der juristischen Textproduktion ausmachten, leisteten wichtige Beiträge zur Diffusion des an der Universität ausgearbeiteten Ius commune in die gerichtliche Praxis. Auch wenn die Consilia in der Regel keine Verbindung zum Lehrbetrieb aufwiesen, trugen sie zur gelehrten Rechtsfortbildung bei. Die berühmtesten und gefragtesten Consultoren bezogen ihr Prestige vor allem aus ihrer Rolle als Universitätslehrer und brachten Hinweise auf den gerade besetzten Lehrstuhl gern in der Unterschrift ihrer Gutachten unter. In den Vorlesungen und Kommentarwerken wiederum verwiesen die Rechtslehrer regelmäßig auf die eigenen Stellungnahmen aus der Praxis und die Gutachten ihrer Kollegen. Consilia berühmter Autoren waren spätestens ab dem 14. Jh. voll zitierfähig. Häufig wurden in ihnen aktuell auftretende Probleme zuerst behandelt, bevor sie in die exegetischen Werke eingingen. So tauchen Konflikte um die Auslegung von Statuten und ihr Verhältnis zum Ius Commune zunächst in den Consilia auf. Im Bereich des kanonischen Rechts wurden wichtige Einzelheiten der Pfründenvergabe und des Inquisitionsprozesses durch Consilia vorgezeichnet (Hitzbleck 2009; Parmeggiani 2011). Im medizinischen Bereich etablierte sich das Consilium als wissenschaftliches Genre ab der zweiten Hälfte des 13. Jh.s wohl nach dem juristischen Vorbild (Agrimi/Crisciani 1994). Wegweisend wirkten hier die Aufzeichnungen zu individuellen Krankheitsbildern und Therapien des Taddeo Alderotti. Weit verbreitete Sammlungen hinterließen in der Folgezeit Gentile da Foligno, Antonio Cermisone und Bartolomeo Montagnana. In Bauwesen, Malerei und Skulptur sind Begutachtungen seit der Antike bekannt, mit der Renaissance werden sie häufiger (Renn et al. 2014). Zur kritischen Einordnung der Aussagen eines Rechtsgelehrten ist vor allem zu unterscheiden, ob das Consilium als institutionell angeordnetes Gutachten eines prinzipiell unparteiischen Experten entstand oder im Interesse einer Partei erstellt wurde. Zur ersten Kategorie gehört der häufig überlieferte Typ des consilium sapientis iudiciale, welches im Verlauf eines Prozesses durch den Richter aufgrund eigener Initiative oder auf Antrag der Parteien eingeholt wurde, um strittige Rechtsfragen zu klären. Darüber hinaus holten städtische Autoritäten regelmäßig Consilia der einheimischen Doktoren ein, um politische Entscheidungen oder legislative Akte juristisch
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abzusichern (Ascheri 1980). In Perugia etwa waren städtische Juristen regelmäßig den wichtigsten Amtsträgern beigeordnet und standen für die Dauer der Amtszeit als Consultores zur Verfügung. Für das Reich ist eine ähnliche Praxis vor allem durch die Nürnberger Ratschlagsbücher dokumentiert (s. E. Isenmann 2010). Auch an der päpstlichen Rota, dem ersten professionellen Gerichtshof Europas, später auch auf dem Basler Konzil, welches eine Rota nach kurialem Vorbild bildete, gehörten die für den prozessführenden Richter verbindlichen Consilia der anderen Mitglieder des Richterkollegiums zum Gerichtsverfahren (Gilles 1955; Woelki 2011; Daniels 2013). Daneben gaben streitende Parteien vor oder im Verlauf von Gerichtsverfahren parteiische Gutachten (consilium pro parte) in Auftrag, um ihren Rechtsanspruch zu untermauern. In ähnlicher Weise ließen auch Könige und Fürsten politische Positionen durch Consilia berühmter Rechtsgelehrter begründen. Viele politische Konflikte des 14. und 15. Jh.s, vom Templerprozess über das große Schisma und die Auseinandersetzung zwischen Papst Eugen IV. und dem Basler Konzil bis zur Revolte der Pazzi in Florenz und der Scheidungsaffäre des englischen Königs Heinrich VIII., waren von einer juristisch-theologischen Publizistik flankiert, welche zahlreiche Consilia hervorbrachte (instruktive Beispiele bei Lange 2010). In der juristischen Textproduktion löste das consilium pro parte im 16. Jh. die unparteiischen Gerichtsconsilia weitgehend ab, auch wenn diese in der Rechtsprechungspraxis der fürstlichen Gerichtshöfe weiterhin eine wichtige Bedeutung hatten. Allerdings lässt sich anhand des überlieferten Textes oft nicht eindeutig entscheiden, ob das Consilium als prinzipiell neutrales consilium sapientis oder als Parteigutachten entstanden ist. Da Juristen im Regelfall beide Arten von Consilia produzierten, finden sich diese gemeinsam in den überlieferten Sammlungen. Die frühesten Consilia finden sich vereinzelt in Prozessakten des 12. und 13. Jh.s. Erst als es etwa seit der Mitte des 13. Jh.s üblich wurde, dass der Consultor nicht nur ein autoritatives Votum abgab, sondern die Rechtslage umfassend erörterte und mit zahlreichen Zitaten und Allegationen begründete, stieg das Interesse an der Aufbewahrung der Texte für die künftige Rechtspraxis. Kopien und Originale von Consilia fanden fortan zusammen mit Quaestionen, Traktaten, Repetitionen und verschiedensten Formen von Exzerpten und Repertorien Eingang in die juristischen Miszellanhandschriften. Codices mit besonders vielen originalen Consilia, welche die originale Unterschrift und das Siegel berühmter Juristen enthalten, haben sich zum Beispiel in den Nachlässen von Benedetto Accolti (Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Landau Finaly 98) und Tommaso Diplovatazio bzw. Martino Garato erhalten (Ravenna, Biblioteca Classense, cod. 484 und 485/I–X). Dabei enthalten die originalen Consilia meist die Unterschriften und Siegel mehrerer Doktoren, welche sich dem vorhergehenden Consilium des Kollegen anschlossen, oft ohne eigene inhaltliche Zusätze. Die Approbation von Kollegenmeinungen scheint derart zur Gewohnheit geworden zu sein, dass Baldo degli Ubaldi seine Kollegen mahnte, ein Consilium nicht ungelesen zu unterschreiben (Baldus ad C. 4.22.5). Eine zentrale Bedeutung für die Etablierung der Consilia als Gattung der juristischen Literatur hatten die umfangreichen Sammlungen von Consilia einzelner
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Autoren. Die frühesten erhaltenen Sammlungen dieser Art stammen aus der Zeit um 1300 (Dino del Mugello, Oldrado da Ponte, Federico Petrucci, Gilles Bellemère). Im Verlauf des 14. Jh.s wurde es erst allmählich zur Gewohnheit, dass Doktoren ihre eigenen Consilia systematisch sammelten (Murano 2014). Cino da Pistoia scheint sich im Gegensatz zu seinem Lehrer Dino del Mugello nicht darum gekümmert zu haben. Die Sammlung der Consilia des berühmten Bartolo da Sassoferrato übernahmen Familienangehörige nach dessen unerwartet frühem Tod (Ascheri 1990). Sein Schüler Baldo degli Ubaldi, mit über 3000 Gutachten Rekordhalter unter den Konsilienschreibern, ließ die eigenen Consilia systematisch durch Sekretäre und Mitarbeiter sammeln. Auch die bereits 1472 gedruckte Consilia-Sammlung des Lodovico Pontano geht im Kern auf das Handexemplar des Juristen zurück. Im Original erhalten sind zwei Bände mit zum großen Teil autographen Entwürfen der Consilia Alessandro Tartagnis (Camerino, Biblioteca Valentiniana, 99 a–b; s. Murano 2014). Ähnlich reiche Sammlungen eines einzelnen Autors im Reichsgebiet bieten sich nur sporadisch, etwa im Fall des sächsischen Juristen Dietrich von Bocksdorf (Wejwoda 2012). Ein prominentes Beispiel einer Mehrfachbegutachtung bieten die von Winand von Steeg gesammelten Consilia zur Frage nach der Zollfreiheit des Bacharacher Pfarrweines auf dem Rhein (Schmidt/Heimpel 1977). Das Inkunabelzeitalter sorgte für eine sprunghaft steigende Verbreitung der Konsiliensammlungen, welche weit über die ebenfalls gestiegene Produktion von Kommentarwerken hinausging. Die Consilia der berühmtesten Juristen des 15. Jh.s, eines Paolo di Castro, Giovanni da Imola, Lodovico Pontano, Benedetto Capra, Francesco Accolti, Mariano und Bartolomeo Sozzini, Andrea Barbazza, Alessandro Tartagni, Filippo della Corgna, Ludovico Bolognini und vieler weiterer Juristenpersönlichkeiten, erlebten bis weit ins 17. Jh. immer wieder neue Auflagen, welche die europäischen Büchermärkte fluteten und reichlich versehen mit analytischen Indices und Registern zu massiven Repertorien von Autoritätsmeinungen wurden. 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Ein Consilium weist in seiner traditionellen Form (es gibt auch freiere Varianten) eine klare Grundstruktur auf. Am Beginn beschreibt der Jurist auf Grundlage der ihm dargelegten Fakten den Fall (casus). Dabei konnte der Sachverhalt dem Juristen entweder mündlich oder schriftlich dargelegt worden sein. Verschiedenste Dokumente konnten als Grundlage dienen, von einfachen Stellungnahmen bis hin zu umfangreichen Prozessakten. Oft wurden die strittigen und prozessentscheidenden Rechtsfragen für den Consultor formuliert (punctus), in anderen Fällen wurde schlicht nach der Rechtslage gefragt (quid iuris), so dass der Gutachter selbständig alle mit dem Sachverhalt verbundenen Rechtsfragen (quaestiones) erarbeiten musste. Die eigentliche Argumentation eröffnete fast durchgängig eine invocatio, welche den quasi sakralen Charakter der Rechtswissenschaft als Suche nach der Wahrheit
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demonstrierte. Die im casus aufgestellten Rechtsfragen wurden im Anschluss unter Abwägung von Pro- und Contra-Argumenten erörtert. Den Abschluss der Argumentation bildete vor allem seit dem 15. Jh. regelmäßig eine (auch in Notariatsdokumenten übliche) formelhafte Einräumung eines möglichen Irrtums (salvo saniori consilio), welche zugleich als Bescheidenheitstopos und juristische Absicherung vor Schadensersatzklagen bei fehlerhafter Begutachtung fungierte. Bei all diesen Schritten stützt der Jurist seine Argumentation auf das Ius Commune und die einschlägigen Statuten. Zum Teil sehr umfangreiche Allegationen aus den Rechtsbüchern und Kommentarwerken (Kommentar) verleihen den Stellungnahmen Autorität, stützen aber die Argumentation nicht unbedingt zwingend und ursächlich. Den Abschluss des Consiliums bilden die Unterschrift und das zunächst angehängte, später aufgedrückte Siegel des Ausstellers. Im erwähnten exzeptionellen Fall des Bacharacher Pfarrweines verlieh Winand von Steeg dem Consilienverbund dadurch zusätzliche Autorität, dass er den Stellungnahmen der beteiligten Juristen gemalte Portraits hinzufügte (Schmidt/Heimpel 1977). Oftmals wurde nicht nur die Stellungnahme eines einzelnen, sondern die Expertisen mehrerer Consiliatoren eingeholt. Bei diesen Mehrfachbegutachtungen finden sich einerseits Reihungen von Einzelstellungnahmen, andererseits Gutachtenverbünde mit übergreifenden Strukturen. In letzterem Fall fungierte ein Gutachten als Haupt- bzw. Leitconsilium und die folgenden als Zusatz- oder Anschlussgutachten bzw. Approbationen. Zu Mehrfachbegutachtungen kam es einerseits durch das Interesse des Klienten, andererseits durch institutionelle Erfordernisse in Kollegialorganen, und so sind die Mehrfachbegutachtungen in unterschiedlicher Weise prosopographisch relevant. Die medizinischen Consilia sind grundsätzlich in drei Abschnitte gegliedert. Zunächst wurde der Krankheitsfall beschrieben und die Diagnostik erörtert. Es folgten diätetische und therapeutische Anweisungen und schließlich eine Zusammenstellung von geeigneten Medikamenten und Rezepten. Im 15. Jh. wurde der diagnostische Teil, welcher zunächst häufig nur die Krankheit benannte, durch immer ausführlichere Erörterungen des Krankheitsbildes und immer stärker mit Autoritätszitaten durchsetzte Darlegungen erweitert. Die Terminologie der Krankheitssymptome wurde zunehmend kanonisiert. Hinweise auf persönliche Kontakte zwischen Arzt und Patienten wurden hingegen seltener. Wie im juristischen Bereich, in dem der Consultor kaum mit dem Klienten in direkten Kontakt trat und den Fall häufig aus der Ferne begutachtete, basierten Consilia vor allem auf zugesandten Akten (Argimi/ Crisciani 1994, S. 57 f.). Gutachten in Bauwesen, Malerei und Skulptur betrafen neben ästhetischen Aspekten vor allem die – zunehmend vertraglich festgelegte – technische, handwerkliche und zeitliche Durchführbarkeit eines Projektes, die Qualität und die Preise von Materialien, die Honorare der Künstler oder die Auswahl eines unter verschiedenen vorliegenden Projekten, etwa bei Wettbewerben, und schließlich Strafen bei Vertragsbruch. Beurteilt wurde die geleistete Arbeit, aber es wurden auch Empfehlungen zur Weiterarbeit erstellt. Weitere Anlässe boten im Schaffensprozess unerwartet auftre-
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tende Probleme, die Übergabe eines im Entstehen begriffenen Werkes von einem an den nächsten ausführenden Künstler, Streitigkeiten oder eine ausgebliebene Fertigstellung eines Kunstwerks. Die jeweils eingeholten Stellungnahmen erhielten Autorität durch den Gutachter. In den Gutachten bezog man sich auf Statutenrecht und das Ius Commune, wenn es um vertragsrechtliche Fälle ging. Künstlerische Beurteilungen wurden eher fallweise getroffen und orientierten sich weniger an Referenzliteratur, obwohl auch dies vorkam. Nach dem Stand der Forschung trugen sie nicht zur Fortbildung der Kunsttheorie bei. Gegebenenfalls konnten solche Gutachten prozessrelevant werden, etwa in einem Schiedsverfahren. Hier waren dann wieder Juristen involviert (s. weiterführend: Renn/Osthues/Schlimme 2014; Kubersky-Piredda 2005; Büscher 2002). 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Impulse zur systematischen Erfassung und Erforschung der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Consilia kamen bereits in den 1950er- und 60er-Jahren von Seiten deutscher und italienischer Rechtshistoriker (Rossi 1958; Kisch 1970). Methodisch wegweisend und inhaltlich grundlegend waren hiernach vor allem die Arbeiten Mario Ascheris. Seit den 1980er-Jahren folgten umfangreiche Einzelstudien zu den Consilia einzelner Autoren wie Oldrado da Ponte, Martino Garati und andere (Baumgärtner 1999; Valsecchi 2001), welche stets die Bedeutung dieser Quellengattung auch für sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen betonten. Eine ganze Reihe von Tagungsbänden zog immer wieder methodische Bilanzen, erweiterte die Materialgrundlage um zahlreiche Einzelbeispiele und zeigte für ganz unterschiedliche Forschungsfelder das immense Potential der Consilia als mikroskopische Einblicke in vormoderne Lebenswelten auf (s. z. B. Baumgärtner 1990; Baumgärtner 1995; Ascheri/Baumgärtner/Kirshner 1999). Die Chancen und Möglichkeiten dieser Quellengattung sind jedoch längst nicht ausgeschöpft. Noch immer sind große Teile der Textüberlieferung in den Handschriften und Frühdrucken vollkommen unberührt; man denke nur an die Consilia der Brüder Pietro und Angelo degli Ubaldi oder an diejenigen des jahrzehntelang in Perugia lehrenden Giovanni da Montesperello. Dieser beinahe unerschöpfliche Quellenfundus stellt freilich nicht geringe Anforderungen an den Bearbeiter. Die mitunter sperrigen Argumentationslinien, bei denen jede tragende Aussage mit mehreren, nicht immer leicht zu entschlüsselnden Allegationen aufgepanzert wird, geben nur mühsam den Blick auf das stets dahinter liegende Stück Lebenswirklichkeit frei. Oft wird eine Kontextualisierung dadurch erschwert, dass die zu didaktischen und wissenschaftlichen Zwecken zusammengestellten Sammlungen die typischerweise der Argumentation vorangestellte Fallbeschreibung (casus) weglassen. Die Arbeit mit handschriftlich überlieferten Consilia ist daher oft auch dann geboten, wenn weit verbreitete Drucke des 16. und 17. Jh.s vorliegen. Allerdings erfolgte die Erschließung der Miszellanhandschriften mit oft weit über 100 Einzelgutachten bislang nur punktuell. Handschriftenkataloge verzeichnen
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oft nur listenartig die Namen der Autoren. Eine vorbildliche Katalogisierung haben bislang nur wenige juristische Handschriftenbestände erfahren (so für das Bologneser Collegio di Spagna: Maffei et al. 1992; für die Handschriften von La Seu D’Urgell: García y García et al. 2009). Kritische Editionen von Consilia, wie überhaupt der juristischen Literatur des Spätmittelalters, existieren nur in Einzelfällen (z. B. Chiantini 1996). Die massive Verbreitung in alten Drucken, welche immer öfter auch bequem in digitaler Form verfügbar sind, und die schwer zu bewältigenden Textmengen, dürften das Interesse an kritischen Editionen auf absehbare Zeit begrenzt halten. Denkbar wären allerdings systematische Erschließungen in Regestenform, welche zumindest die jeweils beteiligten Personen, Institutionen und Orte auffindbar machen würden. Da sowohl in den juristischen wie in den medizinischen Consilia häufig hochgestellte Persönlichkeiten erwähnt werden, böte bereits die prosopographische Erfassung der Texte ein immenses Potential. Darüber hinaus würde eine breitangelegte Erschließung der Consilia zu einem besseren Verständnis vormoderner Lebenswelten sowie von Vorstellungen über Rechtskonformität und der Anwendung des Rechts führen. In diachroner Perspektive könnte nach Wandel von Merkmalen und Inhalten der Consilia gefragt werden, so etwa nach dem Eindringen des römischen Rechts sowie des Humanismus in juristische Argumentationen nördlich der Alpen. In regionenvergleichender Perspektive wäre zu fragen, ob sich in bestimmten Orten spezifische Fälle häufen und ob sich regionale Präferenzen von bestimmten juristischen Autoritäten ausbilden. Derlei Fragestellungen bieten sich insbesondere auch für die Universitätsgeschichte an. Eine serielle Auswertung der universitären Consilia böte die Möglichkeit, die Universität als rechtspraktische Institution zu verstehen, d. h., das Hineinwirken und die Verflechtung der Hochschulen mit der Lebenswelt des sie umgebenden städtischen wie ländlichen Umlandes sowie ihr Verhältnis zu den lokalen und überregionalen Rechtshöfen und Machthabern besser zu erfassen. Da bei universitären Gutachten häufig Juristen des kanonischen und des Zivilrechts unterschiedlicher Graduierung zu Wort kommen, könnten weitere Fragen die fakultätenübergreifende Zusammenarbeit zwischen Lehrenden und Studierenden betreffen und somit letztlich einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Institution Universität liefern. 4. Bibliographie 4.1 Quellen Camerino, Biblioteca Valentiniana, 99 a–b. Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Landau Finaly 98. Ravenna, Biblioteca Classense, cod. 484 und 485/I–X.
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Finanz- und Vermögensverwaltung Antonia Landois
Begriffserklärung Bei Überlieferungen zur universitären Finanz- und Vermögensverwaltung handelt es sich um den schriftlichen Niederschlag von Rechnungs- und Rechenschaftslegung bzw. -kontrolle der Universität und ihrer Teilinstitutionen. Sie enthalten Informationen zur materiellen und personellen Ausstattung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Bildungsinstitutionen. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Im Gegensatz zu den Kathedralschulen konnte sich an den Universitäten die seit dem 12. Jh. von der Papstkirche veranlasste Bestimmung nicht durchsetzen, dass die Vermittlung von Wissen als Gottesgabe nicht verkauft werden dürfe. Schon für die ersten Universitäten sind je nach Gründungszusammenhang und weiterer Entwicklung unterschiedliche Arten der Entlohnung für die Lehre bekannt: Neben inkorporierten Pfründen, also Dotationen, die noch am ehesten der überkommenen Ansicht entsprachen, standen schon seit dem 13. Jh. von städtischer oder landesherrlicher Seite finanzierte Gehälter, die häufig den juristischen und medizinischen Lehrenden gezahlt wurden. Institutionalisierte Kollegiengelder unterschiedlicher Abstufung traten in der Artistenfakultät neben in der Höhe variierende Hörergelder bzw. -honorare (collectae). Hinzu kamen ständig steigende Examensgebühren, durch die sich die Lehrer zusätzlich finanzierten. Ein institutionalisiertes „Bezahlungssystem“ gab es vom 13. bis zum 16. Jh. jedoch an keiner Universität, die finanzielle Versorgung blieb in der Form eines „internen ökonomischen Berechtigungssystems“ (Schwinges 2005, S. 175–180; Alvermann 2011, S. 173) stets Verhandlungssache und konnte – außer für die Einkünfte aus Pfründen, die in der Regel lebenslang bezogen wurden – von Jahr zu Jahr variieren. Die Finanzierung der Lehrenden blieb bis in die Neuzeit hinein der empfindlichste Punkt jeder Universität, während etwa die Räumlichkeiten (Gebäude) und die Ausstattung üblicherweise keine nennenswerten finanziellen Probleme verursachten. War es bei der Gründung versäumt worden, die Institution materiell nachhaltig abzusichern, was häufig durch eine ausreichende Anzahl inkorporierter Pfründen geschah, so konnte die ganze Universität daran scheitern (Lorenz 1999).
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In den Statuten der Universitäten und Fakultäten wurden Kassenführung und Rechnungslegung als Teil der institutionellen Geschäftsführung allenfalls vage erwähnt und keinesfalls systematisch behandelt. In der ‚äußeren Verfassung‘ der mittelalterlichen Universität kam die Finanz- und Vermögensverwaltung kaum vor, auch wurden Gesamtstatuten nicht nachträglich um sie erweitert. Die situative mündliche Lösung scheint den Vorrang vor der normativen Regelung gehabt zu haben. Nur äußerst selten ist demgemäß auch eine mittelalterliche ‚Geschäftsordnung‘ für ein rechnungsführendes Organ der ‚internen Verwaltung‘ überliefert (eine Ausnahme ist hier z. B. die Kammerordnung für die Universität Ingolstadt von 1487). Die Belege für die Missachtung der Statuten bzw. die Anmahnung ihrer Einhaltung setzen allerdings zeitgleich mit ihrer Entstehung ein. Eine Gesamtrechnungslegung und damit die Vorstufe eines universitären Finanzhaushalts ist für keine der spätmittelalterlichen Universitäten überliefert, da die relativ einfache Kassenverwaltung der Finanzen bis ins späte Mittelalter in der Verantwortung der Korporation lag (Pleyer 1955, S. 15 f., mit Beispielen; Alvermann 2011, S. 173). An vielen Universitäten, wie etwa Prag, Heidelberg oder Köln, hatten zudem einzelne Fakultäten bzw. Kollegien oder zeitlich beschränkte universitäre Ämter wie Dekanat und Rektorat ihre jeweiligen Finanzen zu verwalten, was die Übersicht nachhaltig erschwert. Auch eine gesicherte Aussage darüber, was ein einzelner Lehrender tatsächlich für seine Tätigkeit einnahm, wenn alle Gelder zusammengenommen werden, ist jedenfalls für das Mittelalter nicht möglich, da auch ‚privat‘ keine rechtfertigende Dokumentation erfolgte oder entsprechende Dokumente verloren sind. Für die frühe Neuzeit dagegen lassen sich Professorenhaushalte mitunter detaillierter nachvollziehen (z. B. Rasche 2004). Bei Juristen und Medizinern ist mit teilweise erheblichen Nebeneinkünften durch ihre professionelle Praxis, etwa im städtischen oder fürstlichen Dienst, zu rechnen. Transparenz scheint im Zusammenhang mit der Finanz- und Vermögensverwaltung der Universitäten insgesamt nur selten angemahnt worden zu sein. Auch hier bildet die Universität Ingolstadt eine Ausnahme, für die ausführliche Beschwerdeschreiben und Befragungen von Universitätsangehörigen zu Missständen aller Art für das 15. und 16. Jh. erhalten sind (Seifert 1971). Erst im Laufe des 16. Jh.s wurden viele Universitäten mit einem landesherrlichen Dotalvermögen versehen, das auf naturalwirtschaftlichen Erträgen basierte und die Institution dauerhaft abzusichern vermochte. Das neue Finanzierungsmodell zog zugleich eine umfangreiche und differenzierte Kassen- und Vermögensverwaltung mit sich, die auch die Rechtfertigungspflicht der jeweiligen Universität dem Landesherren gegenüber umfasste. Die Rechnungsprüfung hielt Einzug, immer häufiger wurden hierzu Personen der Regierung abgestellt (Alvermann 2011, S. 174–176, mit Beispielen; Rasche 2007). Noch erhaltene Dokumente der universitären Finanz- und Vermögensverwaltung stellen also für den größten Teil des Zeitraums vom 13. bis zum 16. Jh. nur eine ausschnittsweise Niederschrift tatsächlich erfolgter Bezahlungen oder von Universitätsangehörigen eingenommener Gelder dar. Aus diesen Umständen ergibt sich eine große Heterogenität des Quellenmaterials nicht nur zwischen den Hohen Schulen, sondern auch an jeder einzelnen Institution.
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2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Vorgänge der universitären Finanzverwaltung fanden im späten Mittelalter nicht in festen bürokratischen Strukturen statt und wurden unsystematisch in verschiedenen Akten und Amtsbüchern dokumentiert Für das 16. Jh. sind Normierungstendenzen erkennbar, mit festen administrativen Reglements hatten sie jedoch noch nichts zu tun. Vor Ort waren vielmehr unterschiedlich zusammengesetzte ‚Finanzkollegien‘ für die Verwaltung von Einnahmen, Ausgaben und Vermögen zuständig. Ihre Arbeit war von Mündlichkeit geprägt, zudem wurden Bereiche vermischt, die heute als ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ getrennt werden (Fouquet 2001). Dokumente der universitären Finanz- und Vermögensverwaltung liegen als Einzel- oder Bruchstücke, z. B. in der Form von Quittanzen, vor, häufiger jedoch ist ihre kompakte oder auch vereinzelte Überlieferung in Amtsbüchern (Klosterhuis 2004). Für den kaufmännischen Kontext ist seit der ersten Hälfte des 14. Jh.s die doppelte Buchführung (Doppik), oft einhergehend mit der Verwendung der indischen (bzw. arabischen) Ziffern, fassbar (Vogeler 2010, 1778; Arlinghaus 2006, 55 ff., 67 ff.). In Dokumenten universitärer Herkunft ist die einfache, oft nicht lückenlose Buchführung in der römischen Zahlschrift zu finden. Sie kennt seitenweise oder darüber hinausgehende Summierungen, ist von jeglicher Bilanzierung jedoch weit entfernt. Häufig liegen im Spätmittelalter einfache, zeilenförmige und absatzgegliederte Textblockrechnungen in lateinischer und deutscher Sprache vor, die zunehmend ordnende Überschriften aufweisen. Auch entsprechende Einzelbuchungsrechnungen in der Form von Einnahme- und Ausgaberegistern sind überliefert. Sie enthalten meist Seitensummen und seit dem 15. Jh. auch Spaltennotierung und greifen damit der rein tabellarischen Form der Rechnung vor (Mersiowsky 2000; Fouquet 2001; Alvermann 2011, S. 181, mit Beispielen für Erfurt, Leipzig, Wittenberg, Rostock und Greifswald). Inwiefern vom formalen Aufbau und der inneren Differenzierung vorliegender Dokumente der Finanz- und Vermögensverwaltung auf den stattfindenden oder ausbleibenden „Fortschritt“ der jeweils zuständigen Finanzadministration geschlossen werden sollte, ist in der Forschung umstritten (Fouquet, Zusammenfassung zur Online-Publikation, 2001). 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Insgesamt ist die Rechnungsüberlieferung für die Frühzeit der europäischen Universitäten eher spärlich, so dass erst etwa ab der Mitte des 15. und im Verlauf des 16. Jh.s für einige Hohe Schulen präzisere Aussagen zu ihrer Finanz- und Vermögensverwaltung getroffen werden können. Durch die archivische Ordnung nach dem Provenienzprinzip besteht eine Aufgabe der Forschung darin, zunächst herauszufinden, in welchen Institutionen die (Alt-)Bestände der Universität evtl. aufgegangen sind bzw. wer bei ihrer Gründung und Finanzierung maßgeblich beteiligt war.
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Rechnung des Andreas Sparber im Rechnungsbuch der Ingolstädter Artistenfakultät, 1495, München, Universitätsarchiv, O-V-1, fol. 51r.
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Aus dem lückenhaften und wenig systematischen Quellenbefund wurde geschlossen, dass es möglicherweise der Vormoderne insgesamt an der entsprechenden ratio gemangelt haben könnte. Jedoch hat die jüngere Forschung angemahnt, dass Rechnungen als „Signaturen von Lebensformen“ verstanden werden könnten. Hinsichtlich ihrer Aussagekraft sollten sie demnach nicht auf den formalen und inhaltlichen Aspekt reduziert werden, um sie auch sozial- und mentalitätsgeschichtlich auswerten zu können (Fouquet 2001). Insofern stellt sich bei den überlieferten universitären Dokumenten zur Finanzadministration neben ihren inhaltlichen Komponenten die Frage nach dem dahinterstehenden „Verwaltungswollen“ (Mersiowsky 2000): Für wen und durch wen wurden in welchem Kontext Dokumente der Finanz- und Vermögensverwaltung erstellt? Gab es von Anfang an kontrollierende Instanzen oder fehlten diese? Wurde eine Form von Öffentlichkeit hergestellt? Welchen Zwecken diente die Erstellung: Gewinnkalkulation resp. Sparzwang oder einfache Pragmatik im Sinne der kurz- oder langfristigen Dokumentation von Einnahmen und Ausgaben? Welche Schlüsse lässt die Form der Rechnung zu? Wie ist die Schriftlichkeit dieser Quellen einzuschätzen, wie die Textualität einer Rechnung zu bestimmen und zu beschreiben? In welchem Verhältnis zueinander standen und stehen Buchstaben und Zahlen? Die Finanzierung einer Universität und ihrer Mitglieder war für ihr Bestehen entscheidend und konnte im Mittelalter und der frühen Neuzeit auf verschiedene Weisen erfolgen. Den unterschiedlichen Praktiken, wie der einer Dotation mit Pfründen, der Bezahlung aus städtischen Kassen oder der Finanzierung durch die Erträge großer Liegenschaften, wurde in der Forschung Rechnung getragen (Gieysztor 1993; Hesse 2005). Auch die Studienfinanzierung etwa durch Stipendien, sowie das offenbar zum Missbrauch einladende universitäre Kollegien- und Gebührenwesen kamen immer wieder in den Blick (Horn 1897; Real 1972; Schwinges 2000; Kusche 2009). Eine vergleichende Untersuchung entsprechender archivalischer Bestände hinsichtlich der Verwaltungsentwicklung steht hingegen noch aus, bislang nimmt die Finanz- und Vermögensadministration in Einzeldarstellungen zur Universitätsgeschichte eine untergeordnete Position ein (z. B. Steiner 1989, S. 175 ff., 354; Kleineidam 1964, S. 221 ff.; für Köln Meuthen 1988, S. 28 ff., 72 ff.; Bünz, Bd. 1 2009, S. 133–138, 154–160). Der Anspruch der Forschung zum Umgang mit Rechnungen und anderen Dokumenten der Finanzverwaltung wird schon seit langem mit „ponderare, non numerare“ („abwiegen, nicht zählen“) formuliert (Ullmann 2001, nach Griewank, 1927). Überwiegend unter dieser Prämisse wurden seit den 1970er-Jahren unterschiedliche Aspekte klösterlicher, kirchlicher, kaufmännischer, städtischer und höfischer bzw. herrschaftlicher Rechnungslegung in den Blick genommen, um Fragestellungen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Mentalitätsgeschichte, Realienkunde und Sozialgeschichte zu bearbeiten (vgl. z. B. die Beiträge in Fouquet 2001; Schwinges 2005 bringt S. 5 f. einen Forschungsüberblick). Eine vergleichende oder singuläre Analyse entsprechender Bestände für die Universitäten blieb bislang jedoch weitgehend aus (Bley 1963; Moraw 1986; Rosen 1972). Ein Grund ist sicher die grundsätzlich diffizile und lückenhafte Überlieferungslage: Im Gegensatz zu anderen Quellensorten wie Urkunden oder Urbaren wurde die Rechnung nach ihrer Erledigung oft nicht aufbe-
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wahrt, sondern vernichtet. Sie findet sich als Einzelstück in Akten und systematisiert in der Amtsbuchüberlieferung, vor allem in Rechnungsbüchern. Zudem muss für die Erforschung des Rechnungs- und Verwaltungswesens immer auch auf andere Quellen wie beispielsweise Inventare zurückgegriffen werden, die für die interessierende Zeit jedoch möglicherweise nicht überliefert oder erschlossen sind. Auch der inhaltliche Aspekt muss der Quellenkritik unterzogen werden: Manipulationen, Unterschlagung und Betrug sind meist nicht offensichtlich und können nur im diachronen Vergleich festgestellt werden, für den jedoch oft das Material fehlt. Nur selten ist es möglich, den finanziellen Gesamtaufwand für eine universitäre Bildungseinrichtung auszumachen. Auch eine Schätzung darüber, welchen prozentualen Anteil die Ausstattung einer Universität am ebenfalls nur indirekt erschließbaren „Gesamthaushalt“ des Kostenträgers hatte, ist nur vereinzelt möglich (Schwinges 2005, S. 10). Auch universitäre Haushalte sind für das Spätmittelalter und das 16. Jh. nicht erforscht, da neben dem weitgehenden Fehlen des Etatmodells bei der Erschließung der äußerst lückenhaften Quellen zur Finanzverwaltung die Problematik mangelnder Vergleichbarkeit von Währungen und Werten tritt (Alvermann 2011, S. 181, 189). Die Bürokratisierung im universitären Bereich etablierte sich erst im 19. Jh. Insofern läuft die Forschung immer Gefahr, dem Untersuchungszeitraum eine Vorstellung von öffentlichen Geldern zu unterstellen, die ihm nicht inhärent war. Entgegengewirkt werden kann dieser ahistorischen Tendenz durch eine hinreichende Sensibilität für die anders gelagerten Selbstverständlichkeiten der Vormoderne und den Wille zur genauen Kontextualisierung. 4. Bibliographie 4.1 Quellen Universitäre Rechnungen finden sich regelmäßig in Akten und Nationenbüchern. Die in den beiden Artikeln verzeichneten Editionen sind auch für die Finanzverwaltung einschlägig. Bateson, Mary (1903/05), Grace Book B containing the Proctors’ Accounts and other Records of the University of Cambridge for the years 1488–1544, 2 Bde. (Luard Memorial Series, 2), Cambridge. Gabriel, Astrik Ladislas/Boyce, Gray Cowan (Hrsg.) (1964), Auctarium chartularii Universitatis Parisiensis, Bd. 6: Liber receptorum nationis Alemanniae in Universitate Parisiensi 1425–1494, Paris. Leathes, Stanley Mordaunt (1897), Grace Book A Containing the Proctors’ Accounts and Other Records of the University of Cambridge for the Years 1454–1488 (Luard Memorial Series, 1) Cambridge. Ruf, Paul (Bearb.) (1969), Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Bd. 3/2: Das Bistum Eichstätt, München, S. 214–219 [Auszüge aus dem Rechnungsbuch der Artistenfakultät der Universität Ingolstadt]. Salter, Herbert Edward (1921), Mediaeval Archives of the University of Oxford, Bd. 2 (Oxford Historical Society, 73), S. 252–378 [Rechnungen der Jahre 1464–1497].
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Matrikeln Maximilian Schuh
Begriffserklärung Als Matrikeln werden die von den leitenden Amtsträgern der Universität und ihrer Teilinstitutionen (Rektor, Dekan, Prokurator, Kollegvorsteher) angelegten Verzeichnisse der Mitglieder bezeichnet. Die Eintragung in die Matrikel unter Nennung von Datum, Namen, Herkunftsort sowie gegebenenfalls sozialem Status und Gebührenzahlung dokumentierte den bei der Immatrikulation abgelegten promissorischen Gehorsamseid gegenüber den akademischen Leitungsämtern und die Mitgliedschaft in der universitären Schwureinung mit den damit verbundenen Rechten und Pflichten. Die Matrikel stellt die schriftliche Fixierung der universitären Personenverbände dar. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Bezeichnete der Begriff matricula seit dem 3. Jh. zunächst Listen von Taufbewerbern, wurde er in der Folge für verschiedene Formen kirchlicher Registerführung, vor allem für die Verzeichnisse der an Kathedral-, Kollegiat- oder Pfarrkirche bepfründeten Kleriker verwendet. Dasselbe galt für Listen der von einer Kirche dauerhaft versorgten Armen (Willoweit 2014). Im universitären Umfeld erscheint der Begriff matricula erstmals in der ersten Hälfte des 13. Jh.s in Oxford und Cambridge. Dort wurde zudem, wie später auch in Wien, der Terminus rotulus im Sinne von Matrikel verwendet, was möglicherweise einen Hinweis auf frühere Formen darstellt. Während des 14. und 15. Jh.s traten an den verschiedenen Universitäten in Europa weitere Bezeichnungen hinzu: So zum Beispiel registrum in Köln, Wien, Ingolstadt und Oxford, liber in Heidelberg, Wien, Löwen und Bologna. In Paris wurde die Matrikel als papyrus, in Bologna als volumen bezeichnet. Während des 16. Jh.s fanden neue Begriffe wie album (Leipzig, Heidelberg, Rostock, Tübingen), cathalogus (Heidelberg), annales (Bologna) oder leucoma rotuli (Leipzig) Verwendung (Paquet 1992, S. 14 f.). Die mittelalterliche Universität kannte keine formalen Qualifikationen und kaum Zugangsvoraussetzungen. Eheliche Geburt und das schwurfähige Alter von 14 Jahren waren zwar in der Theorie nötig, ihr Fehlen stellte in der Praxis jedoch kaum ein Hindernis dar. Um ein Universitätsstudium zu beginnen, hatten sich Interessierte an dem jeweiligen Universitätsort zunächst an einen Magister zu wenden. Dieser begab sich
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mit dem neu zu Immatrikulierenden zum Rektor und sprach für ihn vor. Vor dem Rektor hatte der Bewerber auf Latein Vor- und Nachnamen, Herkunftsort und Stand zu nennen sowie einen promissorischen Gehorsamseid zu leisten. Darüber hinaus waren an Pedell und Rektor Gebühren zu entrichten, die von der sozialen Stellung des Einschreibenden abhingen. Immatrikulieren konnte man sich grundsätzlich immer. Die Namen der Neuimmatrikulierten wurden an manchen Universitäten direkt in den Matrikelcodex eingetragen, überwiegend aber mit allen zugehörigen Informationen zunächst vom Rektor oder Universitätsnotar vorläufig auf Zetteln (schedae) festgehalten. Bei der Niederschrift der Namen sind häufig auf Hörfehler zurückgehende Schreibungen zu beobachten, die auf den engen Zusammenhang von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei der Immatrikulation hinweisen. In einem zweiten Schritt wurden die Namen wahrscheinlich am Ende der Amtszeit des Rektors gesammelt in prachtvoll gestaltete Matrikelcodices übertragen (Paquet 1983; Paquet 1992, S. 50–54, 61–62; Schwinges 2008a, S. 67; Rasche 2001/02; Matschinegg 2004, S. 715–717). Die datierte Eintragung von Namen, Herkunftsort und teilweise von Stand sowie der bezahlten Gebühr in die allgemeinen Universitätsmatrikel bzw. Rektoratsmatrikel dokumentierte die Aufnahme in den privilegierten akademischen Personenverband. Die Leistung des Gehorsamseids gegenüber der Universität und später auch dem jeweiligen Landesherrn, der nicht selten den Matrikelbänden als Formular vorangestellt ist (z. B. Basel, Ingolstadt), war mit der Eintragung notiert und somit eindeutig festgehalten, wer als civis academicus die Privilegien der Korporation genießen konnte und die statuarischen Regelungen der Universität zu befolgen hatte. So konnte in Streit- oder Konfliktfällen die Mitgliedschaft überprüft werden (Schwinges 2008a, S. 66). Wie Benutzungsspuren zeigen, legte der Immatrikulierende seine Hand während der Eidesleistung auf den aufgeschlagenen Codex bzw. das Schwurblatt. (so z. B. in Ingolstadt Pölnitz 1937, S. IX, Farbtafeln II und II). In den Matrikelcodices einiger Universitäten wurde an entsprechender Stelle die Gesamtzahl der eingeschriebenen Mitglieder vermerkt, was den Stolz auf das Anwachsen des Personenverbands ausdrückte. Das Verlassen der Universität wurde in der Regel nicht verzeichnet, alleine der Ausschluss einzelner Universitätsangehöriger wegen schwerwiegender Übertretungen der akademischen Statuten wurde notiert und durch Streichung des Namens sichtbar gemacht (Paquet 1992, S. 56). Umfassende Matrikelüberlieferungen entstanden seit dem 14. Jh. vor allem an Universitäten des römisch-deutschen Reichs nördlich der Alpen. Von 17 heute greifbaren Matrikeln mittelalterlicher Universitäten stammen 14 aus diesem Gebiet. Für Wien (1377), Heidelberg (1386), Erfurt (1392), Köln (1392), Leipzig (1409), Rostock (1419), Löwen (1426), Greifswald (1456), Freiburg (1460), Basel (1460), Ingolstadt (1472), Tübingen (1477), Wittenberg (1502) und Frankfurt an der Oder (1506) sind allgemeine Universitätsmatrikeln, in denen die Mitglieder der Gesamtkorporation notiert sind, fassbar und ediert. Für Würzburg fehlt diese Überlieferung, für Mainz und Trier ist sie nur bruchstückhaft greifbar. Außerhalb des deutschen Sprachraums sind Matrikeln noch für Böhmen (Prag 1372), Polen (Krakau 1400) und Schottland (St. Andrews 1473–1489) nachzuweisen (Paquet 1992, S. 19).
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Für diesen Befund ist wohl nicht jene von Jacques Paquet vermutete deutsche Vorliebe verantwortlich, Dinge und Personen in Listen zu erfassen und zu ordnen, die sich auch in Bürger- und Steuerbüchern ausdrückt (Paquet 1992, S. 19). Die Dokumentation der Universitätsbesucher ist wahrscheinlich vielmehr der Tatsache geschuldet, dass die Universitäten auf dem Reichsgebiet im Gegensatz zu den aus anderen Formen erwachsenen hohen Schulen wie Paris, Bologna und Oxford landesherrliche und städtische Gründungen darstellten. Diese fürstlichen und städtischen Obrigkeiten hatten ein großes Interesse daran, die von ihnen ins Leben gerufenen Korporationen nicht nur zu kontrollieren, sondern sich auch das beeidete Gehorsamsversprechen ihrer Mitglieder präzise dokumentieren zu lassen. Als Vorbild dienten städtische Neubürger- bzw. Bürgereidbücher, die während des Mittelalters ebenfalls nur in deutschsprachigen Gebieten existierten (Schwinges 2008a, S. 68–70). Neben der Gesamtuniversität führten die Fakultäten zum Teil ihre eigenen Matrikeln. In manche wurden alle Mitglieder der jeweiligen Fakultät eingeschrieben (z. B. Juristenmatrikel in Wien, Mühlberger/Seidl 2015), in diejenige der Mediziner in Montpellier lediglich die Hörer der Magister, in andere nur Bakkalare und Magister (z. B. Erfurter Artistenfakultät), wieder in andere ausschließlich die Graduierten, so bei den Medizinern in Ingolstadt oder den Artisten, Juristen und Medizinern in Tübingen. Nicht alle in den Statuten festgeschriebenen Fakultätsmatrikeln sind erhalten (Paquet 1992, S. 20–22). Ferner existieren auf Fakultätsebene Mitgliederverzeichnisse anderer Gemeinschaften, wie etwa das der Gebetsverbrüderung der Ingolstädter Artistenfakultät. Obwohl hier zahlreiche Fakultätsmitglieder aufgeführt sind, handelt es sich um keine Matrikel der universitären Teileinrichtung, da für die Aufnahme in diese fraternitas eine weitere Gebühr zu entrichten war, die in keinen Zusammenhang mit dem Studium stand (Schöner 1994, S. 148, Anm. 116.) Für die älteren Universitäten in Süd- und Westeuropa gestaltet sich die Überlieferungssituation anders. Wo die Gliederung in Nationen die Universitätsstruktur bestimmte, waren diese Gruppen, die sich nach der Herkunft ihrer Mitglieder zusammenfanden, für die Führung der Mitgliederverzeichnisse verantwortlich. An den von Studenten geleiteten italienischen Universitäten wurden wahrscheinlich früh nach Nationen gegliederte Verzeichnisse angelegt. Erhalten sind jedoch nur die Matrikeln der deutschen Nationen in Bologna (seit 1289) und Orleans. Aus Padua sind aus dem 16. Jh. Verzeichnisse der deutschen Nationen der Juristen und Artisten überliefert (Paquet 1992, S. 22–23). Fehlen entsprechende Überlieferungen, muss das durch die Auswertung anderer Zeugnisse aufgefangen werden. So bieten universitäre, päpstliche, königliche, bischöfliche, städtische und viele andere Überlieferungskontexte oftmals Hinweise auf den Universitätsbesuch von Einzelpersonen (Paquet 1992, S. 24–35). Für Padua zum Beispiel bieten die von bischöflicher Seite geführten acta graduorum gesicherte Informationen zu Hochschulbesuchern, die einen akademischen Grad erwarben. An den von Magistern organisierten Schwureinungen in Paris, Oxford und Cambridge notierten die Magister die Namen der Mitglieder ihrer ‚Familien‘ zunächst in individuellen Listen. Statutarisch (Statuten) festgeschrieben wurde dies für die bei-
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den englischen Universitäten in den 1230er-Jahren, in Paris 1289. Die Verpflichtung, diese Listen zusammenzuführen, um ein Gesamtverzeichnis aller immatrikulierten Mitglieder zu erstellen, wurde erst erheblich später allgemein verbindlich und auch dann nur bedingt umgesetzt. Für die Universitäten Cambridge, Oxford und Paris sowie auf der iberischen Halbinsel sind Matrikel erst seit dem 16. Jh. bezeugt. In Frankreich wurden im 15. Jh. in den Statuten der Universitäten Avignon, Caen und Dôle Universitätsmatrikeln zwar erwähnt, überliefert sind jedoch keine. Schließlich führten auch Kollegien und Bursen Matrikeln, so zum Beispiel das Kollegium Porta Coeli in Erfurt, das New College in Oxford oder das Spanische Kolleg in Bologna (Paquet 1992, S. 16–18, 23). 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Die Art, wie eine Matrikel geführt wurde, bestimmte ihre Überlieferungsform. Die ersten von Magistern geführten Listen für Oxford oder Cambridge finden sich als Marginalien in ihren Lehrwerken. Die Rektoratsmatrikeln der Universitäten im Reich nördlich der Alpen sind hingegen als Codices erhalten. Um ihre repräsentative Bedeutung zu unterstreichen, wurden sie überwiegend auf Pergament geschrieben. In der vornehmlich von der Verwendung von günstigerem Papier geprägten universitären Verwaltungsüberlieferung des ausgehenden 14. und 15. Jh.s fällt dieses Material auf, das bis in die frühe Neuzeit beibehalten wurde. Parallelen sind in der repräsentativen Verwendung von Pergamentcodices in städtischen Verwaltungen zu sehen (Mersiowsky 2015, S. 227–231). Der Aufbau der unterschiedlichen Matrikelcodices ist ähnlich. Als Teil der universitären Verwaltungsüberlieferung sind sie durchgängig auf Latein geschrieben. Einem mehr oder weniger schmuckvoll gestaltetem Titelblatt (Basel: Ganz 1960; Erfurt: Mittelstädt 1999) folgt zum Teil der zu leistende Eid in Formularform (z. B. Basel, Ingolstadt, Tübingen). Manche Matrikelcodices enthalten zudem ein Schwurblatt und ein Stifterbild. Das Schwurblatt der Ingolstädter Matrikel etwa zeigt eine Kreuzigungsszene, die vom Beginn des Johannesevangeliums gefolgt wird. Das darauf folgende Stifterbild zeigt den Universitätsgründer Ludwig IX. von Bayern-Landshut und den Gründungsrektor Christoph Mendel vom Steinfels im Bittgestus vor Maria. Gebrauchsspuren auf beiden Miniaturen belegen, dass die Immatrikulierenden bei der Eidesleistung ihre Hand auf die aufgeschlagene Seite und die Abbildung des Rektors als Repräsentanten des Personenverbands legten (s. Abbildung; Pölnitz 1937, S. IX, Farbtafeln II und III). Somit hatte wenigstens in der Theorie jedes Mitglied der universitas einmal den Matrikelcodex berührt, was die symbolische Bedeutung des Artefakts für deren Repräsentation unterstrich und ihm eine über seine reine Materialität hinausgehende Aura (Assman 2015) verlieh. Die semesterweisen oder seltener jährlichen Rektoratswechsel gliedern die Matrikeln. Zu Beginn des neuen Semesters nennt sich der amtierende Rektor selbst. Im 14.
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Stifterbild Ingolstadt, München, Universitätsarchiv, D-V-2, fol. 4r.
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und 15. Jh. überwiegen hier prosaische lateinische Verwaltungsangaben, in manchen Fällen ist jedoch ein aufwändig gestaltetes Rektoratsblatt erhalten (Erfurt, Basel). In Ingolstadt sind an dieser Stelle ab der zweiten Hälfte des 16. Jh.s äußerst sorgfältig ausgearbeitete Miniaturen überliefert, die neben dem Wappen des (Adels-)Rektors weitere Ornamentik oder Szenen aufweisen (Pölnitz 1937, S. XI–X und SchwarzweißTafeln). Den Höhepunkt dieser Tradition bilden neben ganzseitigen allegorischen Darstellungen die Miniaturen, die die Aufnahme und Abgabe des Ingolstädter Rektorenamts durch den 13-jährigen Herzogsohn und zukünftigen Bischof von Regensburg, Phillip Wilhelm von Wittelsbach, im Wintersemester 1589 zeigen (München, UA, D-V-4, fol. 4v-5r). Im 17. Jh. brach diese individuelle Prachtentfaltung in der Matrikel schließlich ab. In der Regel wurden die neuaufgenommenen Mitglieder des universitären Personenverbands chronologisch nach Datum der Immatrikulation in der Matrikel verzeichnet. Vornamen, Nachnamen und Herkunftsort sind dabei stets festgehalten. An anderen Universitäten erworbene akademische Grade finden ebenso Erwähnung, wie der Beruf (z. B. Buchhändler und -drucker) bei nicht-akademischen Mitgliedern. Nicht selten wurde auch der herausgehobene soziale Rang des Einzelnen erfasst. Das galt insbesondere für hohe Geistliche, Adlige und andere Würdenträger, was zeigt, dass sich die soziale Gliederung der mittelalterlichen Gesellschaft in der Hierarchie innerhalb der Universitäten widerspiegelte. Da der Eintrag in die Matrikel die Dokumentation des Rechtsakts der Immatrikulation darstellte, verzeichnen einige Matrikeln die an Rektor und Pedell gezahlten Gebühren, die sich je nach gesellschaftlichem Stand, Fakultät und universitärer Protektion unterschieden. Da sie eine zentrale Einnahmequelle der Gesamtkorporation darstellten, war ihre Erfassung für die Rechenschaftsablage des Rektors bei Amtsübergabe von großer Bedeutung. In Köln und Löwen wurde außerdem notiert, an welcher Fakultät der Inskribierte studierte, in Leipzig und Wien seine Nationszugehörigkeit dokumentiert (Paquet 1992, S. 70–76). An einigen Universitäten bestimmten andere Prinzipien die Reihenfolge der Eintragungen in die Matrikel. In Erfurt, Basel, Löwen und Wien nahm der Rektor am Ende des Semesters beim Übertrag der Namen von den während des Semesters geführten Zetteln in den Matrikelcodex die Reihung der Immatrikulierten nach ihrem sozialen Rang vor. So standen Adelige, Dom- und Stiftsgeistliche sowie wohlhabende Patrizier und Stadtbürger am Beginn, die mittel- und beziehungslosen pauperes, die keine Gebühr entrichtet hatten, am Ende der Einträge. Die Anordnung der Immatrikulationen war somit Ausdruck der vom Rektor und den Zeitgenossen empfundenen sozialen Rangfolge der Universitätsmitglieder, die nicht nur in öffentlichen Akten, Gottesdiensten, Prozessionen und Promotionen ihren Ausdruck fand, sondern auch für künftige Amtsträger sichtbar in den Matrikelcodex eingeschrieben wurde (Schwinges 2008a, S. 68, für Erfurt und Ingolstadt vgl. Schuh 2014, S. 86–91).
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3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Universitätsmatrikeln stellen mit tausenden von Immatrikulationsdaten, Namen, Herkunftsorten und anderen Informationen mit die bedeutendste serielle Überlieferung der Vormoderne dar. Sie bieten wichtige Anhaltspunkte für biographische und prosopographische Forschungen, da sie über die genannten Angaben hinaus Aufschlüsse über das Alter, Studienfächer, sozialen Status, Ordenszugehörigkeit und vieles mehr geben (Paquet 1992, S. 112–117; z. B. Schuh 2015), die gerade auch für Genealogie und Familienforschung von großem Wert sind. Daher bestand für die historische Forschung ein großes Interesse daran, diese universitäre Verwaltungsübelieferung durch Edition zugänglich zu machen, allerdings sagen die Matrikeleinträge nichts über die Verweildauer an den Universitäten oder über Studienverläufe und Abschlüsse aus. Sie belegen nur, dass der Eid abgelegt und die Gebühr bezahlt wurde. Mancher hochrangige Pfründeninhaber oder Herzogssohn immatrikulierte sich lediglich, um die Universität durch Zahlung der Aufnahmegebühr finanziell zu unterstützen. Anderseits erscheinen in den verschiedenen universitären Aktenüberlieferungen immer wieder Mitglieder, die in den Matrikeln nicht aufzufinden sind (für Basel Wackernagel 1950, S. 9–11). Für die Matrikeleditionen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh.s stand neben der historischen Identitätsstiftung der jeweiligen Universität vor allem das wissenschaftliche Interesse an der Erforschung der Besucherfrequenz über Epochengrenzen hinweg im Zentrum (Eulenburg 1904). Diese in der Folgezeit vernachlässigte Forschungsrichtung wurde erst mit dem Aufkommen sozialhistorischer Studien zur vormodernen Universität wiederbelebt. Vor allem die Studien Rainer C. Schwinges’ zum Hochschulbesuch im 14. und 15. Jh. griffen entsprechende Fragestellungen auf und gelangten auf Grundlage der umfassenden statistischen Analyse der Matrikeln der Universitäten im Reich nördlich der Alpen zu wegweisenden Ergebnissen, die ein neues Verständnis der mittelalterlichen Universität ermöglichten. So wurde etwa die Korrelation der Entwicklung von Getreidepreisen mit den Besucherzahlen der Universitäten zweifelsfrei nachgewiesen (Schwinges 1986). Diese Erkenntnisse bildeten die Grundlage für weiterführende Fragestellungen zur sozialen Struktur des universitären Personenverbands. Aufbauend auf den Studien von Rainer A. Müller (1974) und Peter Moraw (1975) nutzte Schwinges Matrikeln, um egalisierende Vorstellungen von der mittelalterlichen Universitätsbesucherschaft zu widerlegen und den ordo differencie herauszuarbeiten. Denn die Nennung des gesellschaftlichen Standes und der gezahlten Immatrikulationsgebühr in den Matrikeln erlaubt nicht nur Rückschlüsse auf die Stellung des Einzelnen, sondern auch auf die soziale Gliederung der Gesamtuniversität. Diesen Ansatz griffen andere auf und untersuchten etwa die soziale Zusammensetzung der Universität Heidelberg im Spätmittelalter (Fuchs 1994). Schwinges selbst bündelte diese Erkenntnisse schließlich in einem Schema von fünf Besuchertypen mit spezifischem sozialen Hintergrund (scholaris simplex, artistischer Bakkalar, Magisterstudent, Standesstudent und Fachstudent), die die mittelalterliche Universität prägten (Schwinges 1993). Auch wenn
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diese Systematisierung nicht immer greift und deswegen teilweise kritisiert wurde (Gramsch 2003), erlaubt sie ein besseres Verständnis der verschiedenen Besuchergruppen sowie ihrer Studienverläufe und -ziele. Die Eintragungen in den Universitätsmatrikeln erlauben außerdem Einblicke in bereits vor der Immatrikulation bestehende Bekanntschaften und Kleingruppenbildungen. Die Einschreibung mehrerer neuer Universitätsmitglieder am selben Tag macht ihre gemeinsame Reise zum und Ankunft am neuen Studienort wahrscheinlich, was auf bereits zuvor bestehende Bekanntschaft hindeutet. Angesichts der Mühsalen und Gefahren des mittelalterlichen Reisens war ein solches Vorgehen von Vorteil. Zum Teil lässt sich der Wechsel von ganzen Gruppen von der einen zu der anderen Universität in den Matrikeln der Zieluniversität beobachten (Schwinges 2008b). Der aus Bakkalaren und Scholaren bestehende Kreis um die beiden Artistenmagister Heinrich Pfeilschmid und Martin Prenninger siedelte im Sommer 1472 nicht nur von Wien nach Ingolstadt um, wie der gemeinsame Eintrag in der Matrikel am 25. Juni belegt, sondern brachte auch ein ausgeprägtes humanistisches Interesse an die bayerische Landesuniversität mit, wie verschiedene Überlieferungen aus den folgenden Jahren zeigen (s. Abbildung; Schuh 2013, S. 46–50). Somit leistet die Identifizierung studentischer Kleingruppen einen wichtigen Beitrag nicht nur zu sozial-, sondern auch zu wissensgeschichtlichen Fragestellungen. Solche Erkenntnisse lassen sich allerdings nur durch den sorgfältigen Abgleich von Matrikeln mit Rektorats- und Fakultätsakten sowie Selbstzeugnissen, Kollegheften und anderen Überlieferungen gewinnen. Analysetools der Digital Humanities werden es künftig möglicherweise erlauben, solche Netzwerke nicht mehr nur durch mühsame individuelle Recherchearbeit nachzuzeichnen, sondern durch die Anwendung einschlägiger Algorithmen auf die elektronisch erfassten Matrikeleinträge schneller entsprechende Gruppen zu identifizieren (Blecher 2013). Allerdings sind hier Probleme wie verschiedene Namenschreibungen und unterschiedliche Herkunftsangaben bei ein und derselben Person zu berücksichtigen. Die Bearbeiter des Repertorium Academicum Germanicum, das alle graduierten Universitätsbesucher des Alten Reiches ab dem Grad des Artistenmagisters für den Zeitraum von 1250 bis 1550 zu erfassen sucht, formulierten praktikable Lösungsstrategien für solche Herausforderungen (Schwinges 2013). Jenseits dieser inhaltlichen Aussagemöglichkeiten ist in jüngster Zeit wieder die Materialität der Matrikeln stärker in den Blick genommen worden. Da diese Codices die schriftliche Fixierung des ansonsten nur schwer fassbaren universitären Personenverbands der Lehrenden und Lernenden darstellten, eigneten sie sich hervorragend für repräsentative Zwecke (Rexroth 2000; Füssel 2006; Füssel 2008). Die Übergabe der Matrikel an den neugewählten Rektor stellt in vielen Statuten das zentrale Moment der Amtsaufnahme dar. Ferner wurden sie bei feierlichen Akten und Versammlungen der Gesamtuniversität zur Schau gestellt. Somit sind Matrikelcodices nicht nur als Repräsentation der universitas, sondern auch als Insignie für die Amtsgewalt des Rektors zu werten (Insignien). Dass zumindest in der Theorie alle Immatrikulierten bei der Eidesleistung diesen Codex berührten, unterstreicht beide Dimensionen.
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Gruppe um Martin Prenninger, München, Universitätsarchiv, D-V-2, fol. 18r.
Die sorgfältige Ausgestaltung von Rektorenwappen am Beginn eines neuen Semesters deutet daraufhin, dass die Amtsträger diese Überlieferung im Laufe des 16. Jh.s stärker für ihre persönliche Memoria zu nutzen suchten. Damit gewannen Matrikeln auch eine über die Lebensdauer des Einzelnen hinausreichende Bedeutung. In Erfurt ließ der Humanist Crotus Rubeanus am Ende seiner Amtszeit als Rektor im Mai 1521
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im Matrikelcodex eine Seite anlegen, die sein eigenes zusammen mit den Wappen sechzehn führender Humanisten zeigte, darunter Erasmus, Philipp Melanchthon, Johannes Reuchlin und Martin Luther. Hier wurde programmatisch die Einheit der humanistischen Bewegung beschworen, als sie im Zuge der Wittenberger Reformation bereits zu erodieren begann (de Boer 2016, S. 1032–1034). Der Ingolstädter Theologieprofessor und mehrfache Rektor Johannes Eck fügte ebenso wie Amtskollegen an anderen Universitäten im Nachhinein an die Namen von Besuchern, die nach ihrem Studium bedeutende Ämter übernahmen oder Wichtiges leisteten, entsprechende Bemerkungen hinzu (Pölnitz 1937, S. IX; Paquet 1992, S. 57). Somit wurde nicht nur der Lebensweg des einzelnen festgehalten, sondern auch die Bedeutung des Personenverbands memoriert. In Greifswald nutze der amtierende Rektor ab den 1520er-Jahren den Matrikelcodex außerdem, um in knappem annalistischen Stil Bemerkungen über politische Ereignisse, Kriegsauswirkungen, Pestepidemien und das Wetter festzuhalten (Friedländer 1893, ab S. 123) (Universitätsgeschichtsschreibung). Somit wurde die auch an anderen Universitäten sensibel beobachtete Entwicklung der Zahl der Immatrikulationen in den breiteren Kontext zeitgenössischer Geschehnisse gestellt. Mit dem Übergang zur Staatsanstalt zu Beginn des 19. Jh.s verloren Matrikeln solche repräsentativen und identitätsstiftenden Funktionen. Sie stellten lediglich noch die schriftliche Dokumentation des Verwaltungsakts der Einschreibung an der Universität dar. Mit dem Einzug der elektronischen Datenerfassung und -speicherung im ausgehenden 20. Jh. wurde schließlich auch ihre ursprüngliche materielle Gestalt aufgegeben.
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Begriffserklärung Akademische Nationen, d. h. die Vereinigungen von Universitätsmitgliedern nach dem Kriterium der regionalen Herkunft, verfügten über Amtsbücher, in denen neben den Statuten und Matrikeln der Nation nach Jahren geordnete Aufzeichnungen der Procuratoren über die Ereignisse während ihrer Amtszeit enthalten sind. Die Nationenbücher geben u. a. Auskunft über die geographische und soziale Herkunft der Studenten, das Alltagsleben und die finanzielle Ausstattung einer Nation. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Nationen verfügten nicht nur über eigene Haushaltsmittel, sondern auch über eigene Siegel, Matrikel- und Nationenbücher (libri nationis). Ein liber nationis lässt sich in drei Bestandteile untergliedern: Statuten, Matrikel und Akten. Es handelt sich dabei um die Statuten der jeweiligen Nation, ihre Nationenmatrikel und die Aktenführung der Nation. Die acta procuratorum, auch liber procuratorum, acta nationis oder annales nationis, sind die Aufzeichnungen der Procuratoren bzw. der Vorsteher der Nation über die Ereignisse während ihrer Amtszeit. Diese drei Bestandteile sind nicht in jedem Nationenbuch enthalten und auch nicht immer deutlich voneinander zu unterscheiden. Sie können sowohl aneinandergereiht sein als auch miteinander verschmelzen; besonders Matrikeleinträge und Akten werden häufig chronologisch abwechselnd aufgeführt. In diesem Fall sind in der Aktenführung Listen der in die Nation aufgenommenen oder graduierten Mitglieder enthalten. Andere Nationen teilten ihre Matrikelbücher, Statutenbücher und acta procuratorum auf drei selbstständige Bücher auf. Die Akten der Nationen bieten viele Informationen, die sich in ähnlicher Art in den Fakultäts- oder Rektoratsakten wiederfinden lassen. Während die Fakultätsakten z. B. über das Verhältnis der jeweiligen Fakultät zur Stadt, zum Landesherren oder zu den anderen Fakultäten informieren, lassen sich diese Informationen – bezogen auf die Organisationseinheit Nation – aus deren Akten gewinnen. Die Akten der Nationen geben Auskunft über ihr Alltagsleben, ihre finanziellen Angelegenheiten, ihre Stellung innerhalb der bzw. zur Gesamtuniversität, ihre Funk-
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tion bei der Rektorwahl, ihr Verhältnis zur städtischen Obrigkeit, zur Regierung, zur Kirche, über Fehden bzw. Auseinandersetzungen mit anderen Nationen (z. B. zwischen deutscher und polnischer Nation in Padua) und über studentische Belange (Mühlberger 2010). Zudem können aus den Nationenmatrikeln Hinweise zur geographischen und sozialen Herkunft der Studenten gewonnen werden (Steindl 1993). Änderungen der Statuten sind über die Diskussionen in den Akten der Nation oder über eingetragene Abschriften der Statuten oder festgehaltene Statutenergänzungen nachzuvollziehen. Dem Nationenbuch kam die Funktion zu, den nächsten Vorsteher der Nation über die Mitglieder, erfolgte Prüfungen, geänderte Statuten und Beschlüsse der Nation zu informieren. Gleichzeitig legte der Vorsteher der Nation, d. h. meist der Procurator, gegenüber seinem Nachfolger Rechenschaft über die Einnahmen und Ausgaben der Nation ab, die er im Nationenbuch festhielt; gelegentlich wurde die Inspektion des Nationenbuches angeordnet. Persönliche Kommentare des Procurators finden sich selten; häufig verwendet er aber statt der unpersönlichen dritten Person die Ich-Form und benennt sich selbst mit ‚ego‘. Gelegentlich findet sich eine Selbstthematisierung der Tätigkeit des Procurators, d. h., er kommt auf seine Aufgabe, die Akten zu führen, zu sprechen und bezeichnet die Akten als solche. Daran zeigt sich, dass sich die Procuratoren ihrer Aufgabe und der Bedeutung ihrer eigenen Nation bewusst waren. Neben den beschriebenen strukturellen Unterschieden variieren die Aufzeichnungen der Nationen stark im Umfang. Während im deutschen Sprachraum die Nationenbücher eher kurz und präzise Auskunft über personelle Veränderungen und die finanziellen Angelegenheiten der Nation geben, sind die Akten der Nationen an französischen oder italienischen Universitäten weit ausführlicher. Der Umfang der Nationenbücher ist abhängig von der Bedeutung, die den Nationen an den Universitäten zukam, und verhält sich umgekehrt proportional zu den Fakultätsakten, d. h., dort, wo die Nationenbücher eher knapp geführt wurden, lassen sich oftmals umfangreiche Rektorats- und Fakultätsakten finden und umgekehrt; eine Ausnahme bildet Paris, wo beide Aktenformen sehr ausführlich geführt wurden. An französischen und italienischen Universitäten nahmen im 15. und 16. Jh. die Aufzeichnungen deutlich zu. In der frühen Neuzeit verloren die Nationen stark an Ansehen und Einfluss, meist zugunsten der Fakultäten. Damit ging ein Bedeutungsverlust der Nationenbücher einher und die Bereitschaft zur regelmäßigen und ausführlichen Führung der Akten sank. 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Die Nationenbücher wurden chronologisch in einem eigens dafür vorgesehenen Buch von Procuratoren, Rezeptoren oder Bibliothekaren geführt und verwaltet. Das Nationenbuch ist entsprechend der Amtszeiten der Procuratoren angeordnet und beginnt meist mit der Information über die Wahl des neuen Procurators. Da die Procurato-
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ren häufig wechselten, z. T. monatlich oder semesterweise, variieren die Art und der Umfang der Berichterstattung von Amtsperiode zu Amtsperiode (Boyce 1927, S. 19). Damit verbunden ist ein häufiger Wechsel der Handschrift und der verwendeten Form der Schriftsprache. Meist wurden die Nationenbücher auf Latein verfasst; selten finden sich vollständig in der Volkssprache verfasste Aufzeichnungen; häufiger sind einzelne Urkunden oder Einschübe in der Muttersprache der jeweiligen Nation. Die Überlieferung der Akten gestaltet sich unterschiedlich: Während die Nationenbücher einiger Universitäten durchgängig überliefert sind, gibt es anderenorts Lücken in der Überlieferung, oder das Buch wurde nicht regelmäßig geführt. Häufig finden sich zu Beginn der Nationenbücher Illustrationen und besonders ausgestaltete Initialen. 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Bis auf einige Hinweise in den Vorwörtern der Editionen gibt es bisher kaum selbstständige und v. a. vergleichende Forschungen zu Nationenbüchern. Dies kann für die deutschen Universitäten sicherlich auf die marginale Bedeutung der Nationen zurückgeführt werden. Insgesamt ist zudem eine zu geringe Editionsdichte für die Nationenbücher zu konstatieren. Besonderheiten der Nationenaufzeichnungen und mögliche methodische Zugriffsweisen werden im Folgenden anhand der Ungarischen Nation in Wien, der Deutschen Nation in Orléans und der Deutschen Nation in Padua vorgestellt. So können Nationenbücher u. a. für personengeschichtliche, sozialgeschichtliche, kulturgeschichtliche und wissenschaftsgeschichtliche Forschungen herangezogen werden, aber auch Fragen zur Institutionen- und Verfassungsgeschichte beantworten. Mithilfe der Aufzeichnungen der Nationen lässt sich nicht nur der universitäre Alltag mit Gremiensitzungen und Prüfungen rekonstruieren, sondern auch ein Beitrag zur Erforschung von Konflikten und Konkurrenzen innerhalb der Nationen oder zwischen unterschiedlichen Nationen leisten. Die Universität Wien wurde nach dem Pariser Modell in vier Nationen eingeteilt: die österreichische, die rheinische, die ungarische und die sächsische Nation. Im Unterschied zu den Pariser nationes wurden neben graduierten Magistern der Artistenfakultät auch Scholaren und Graduierte der anderen Fakultäten in die Nationen aufgenommen. Die Statuten der Wiener Universität von 1389 bestimmten die Procuratoren als Vorsteher der Nationen, wiesen ihnen ihre Aufgaben in der Universitätsverwaltung zu und ordneten die Führung von libri nationis an. Unter den Wiener Nationen besitzt die ungarische die reichhaltigste Überlieferung (Mühlberger 2010). Der Liber Nationis Hungaricae, der 1453 vom Magister Johannes Messingsloer de Leutschau angelegt wurde, beginnt mit einer leicht überarbeiteten Abschrift der Statuten von 1414. Im Anschluss finden sich chronologisch gereiht Beschlüsse der Nation aus den Jahren 1415 bis 1430, die Matrikel der ungarischen Nation nach Ständen und Graden geordnet und wiederum chronologisch die acta procuratorum ab 1453 und schließlich Nachträge, für die von Anfang an Raum vorgesehen worden war (Schrauf 1902).
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Die Aufzeichnungen der Procuratoren hatten z. T. den Charakter eines Rechnungsbuches (Finanz- und Vermögensverwaltung) und legten Rechenschaft ab über die Einnahmen und Ausgaben während der Amtszeit des jeweiligen Procurators. Daher bieten sie aus einer verfassungs- bzw. verwaltungsgeschichtlichen Perspektive Einblicke in die Organisation und Struktur der Nationen. Außerdem wurden die Wahl des Procurators und die Neubesetzung der Ämter innerhalb der Nation notiert, so dass auch einzelne biografische Informationen entnommen werden können. So auch für das Jahr 1456, das hier beispielhaft herangezogen wird. Der Procurator Magister Jacobus de Cibinio gab selbst die Wahl seines Nachfolgers, Magister Nicolaus de Noytod, bekannt, in dessen Händen er resignierte. Dieser wiederum benannte den Procurator für das Jahr 1457, Magister Stephan de Lechnicia, einen Doktor der Medizin. Zudem wurden für dieses Jahr Einnahmen und Ausgaben der Nation, z. B. für das angestellte Personal, festgehalten. Den Pedellen der Nation wurden für ihre Dienste beim Patronatsfest acht Groschen und dem Diener der Pedellen, der besonders viele Botengänge absolvieren musste, zwei Groschen zuerkannt (Schrauf 1902, S. 215 f.). Die Rechtsuniversität von Orléans war bis 1532 in zehn Nationen unterteilt und wie eine italienische universitas legistarum organisiert. Für die deutsche Nation sind libri statutorum (1378–1650), libri procuratorum (1444–1689), libri receptorum (1502– 1734) und libri assessorum (1567–1689) überliefert (Illmer/Ridder-Symoens/Ridderikhoff 1971–1988). Im Liber procuratorum I beginnt die Berichterstattung der Procuratoren auf Folioseite 48r. Davor befinden sich Abschriften der zentralen Gründungsdokumente, die Statuten der Universität und die Statuten der deutschen Nation. Die Aufzeichnungen der Procuratoren begannen am 29. September 1444 während des Procurats von Eustachius de Atrio und verwendeten die Selbstbezeichnung als Akten des Procurators (z. B. „Acta procuratore nationis Conrado a Planta Rhaero“). Im Gegensatz zur ungarischen Nation in Wien, die ihre Matrikelführung zwar ins Nationenbuch einfügte, aber den chronologischen Aufzeichnungen der Procuratoren vorschaltete, und zu der deutschen Nation in Padua, die ein eigenes separates Matrikelbuch führte, wurden in Orléans die Matrikel in die Aktenführung integriert, so dass sich die Eintragung der in die Nation Inskribierten unter dem jeweiligen Jahr zwischen dem Fließtext findet. Der Liber procuratorum wurde zunächst meist knapp geführt und im Wesentlichen wurden die Personalentwicklung und die Finanzverwaltung dargestellt. Zum Ende des 15. Jh.s hin wurden die Ausführungen detaillierter und umfangreicher. Vereinzelt wurden nun lateinische Gedichte zum Ruhm des jeweiligen Procurators zwischen den anderen Aufzeichnungen eingetragen, so z. B. für das Jahr 1561. In regelmäßigen Abständen berichteten die Procuratoren von Diskussionen über die Statuten, die in statutenverändernden oder bestätigenden Einträgen resultierten. Während die pikardische Nation in Orléans ihre Aufzeichnungen größtenteils auf Französisch verfasste, verwendete die deutsche Nation Latein für ihre Aktenführung, was 1484 auch statutarisch festgelegt wurde. Sehr selten wurden einzelne Zeilen auf Griechisch geschrieben und noch seltener Hebräisch verwendet. 1563 wurden aus-
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nahmsweise zwei Zitate aus beiden Sprachen hintereinander notiert: zunächst eine hebräische Zeile mit Ps 121,2 und im Anschluss eine griechische Zeile aus den Sentenzen von Menander (Illmer/Ridder-Symoens/Ridderikhoff, Bd. 2 1971–1988, S. 422). Anhand der Aktenführung der deutschen Nation in Orléans lassen sich u. a. personengeschichtliche Fragestellungen beantworten und Informationen über das Alltagsleben der Nation gewinnen. Im Unterschied zum Wiener Beispiel gaben in diesen Aufzeichnungen die Procuratoren ihre Wahl selbst bekannt. So Johannes Rorel für das Jahr 1492, der explizit darauf hinwies, dass unter ihm niemand in die Nation eingeschrieben wurde. Außerdem ging Johannes Rorel auf ein Ereignis des Jahres 1492 ein, das einen Einblick in das alltägliche Leben der Nation gibt. Er berichtete, dass in diesem Jahr Remerus Spiess, ein Mitglied der deutschen Nation, verstarb und in der Kirche Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle vor dem Altar der heiligen Martha in einem Grabmal beigesetzt wurde. Der Eintrag schloss mit der Fürbitte für seine Seele (Illmer/Ridder-Symoens/Ridderikhoff, Bd. 1 1971–1988, S. 83 f.). Die Universität Padua bestand zunächst aus vier Nationen. Seit 1260 (Erneuerung der Universität) gliederte sich das studium generale in Padua in zwei universitates, die universitas legistarum (Rechtsfakultät) und die universitas artistarum et medicorum (Fakultät der Artisten und der Mediziner). Beide wurden jeweils in eine universitas citramontanorum und eine universitas ultramontanorum unterteilt; diese bestanden wiederum aus Nationen. Die universitas juristarum bestand aus 22 (zwölf cisalpinen und zehn transalpinen) und die universitas artistarum aus sieben (sechs cisalpinen und einer transalpinen) Nationen. Die deutsche Nation bekleidete eine besondere Stellung unter den transalpinen Nationen, da sie bei den Universitätsversammlungen zwei Stimmen besaß und unter den Nationenvertretern den ersten Rang innehatte. Erst im 16. Jh., genauer im Jahr 1546, als die Anzahl von Studenten und Lehrern in Padua signifikant gestiegen war, legte die deutsche Nation eine eigene Matrikel an und gründete ein Archiv. Dieser Matrikel zufolge gehörten die Studenten beider Universitäten (Juristen bzw. Artisten und Mediziner) zu einer gemeinsamen Nation. Ab 1553 teilte sich die deutsche Nation in zwei selbstständige Abteilungen: die Natio Germanica Juristarum und die Natio Germanica Artistarum. Im Gegensatz zu Wien und Orléans stand in Padua der Consiliarius an der Spitze der Nation, der vom Syndikus, zwei Procuratoren und mehreren Assessoren unterstützt wurde. Die Procuratoren waren speziell für das Rechnungswesen zuständig. Beide Abteilungen der deutschen Nation führten eigene Akten. Daneben wurden die Matrikel und Statuten der deutschen Nation in getrennten Büchern aufgezeichnet (nicht ediert Matricola dei Giurusti und Matricola degli Artisti, jeweils 4 Bde.). Die Aktenführung der Juristen, Annalium inclytae Nationis Germanicae Iuristarum, begann 1545 während des Consiliariums von Johannes Conrado Mayero Schaphus, die der Artisten unter der Bezeichnung Acta Nationis Germanicae Artistarum et Medicorum sub consiliaratu Michaelis Aurifabrii Cadanensis Bohemi nach der Trennung von den Juristen im Jahre 1553 (Brugi 1912; Favaro 1911–1912). Die Matrikel der Juristen wurde 1546, die der Artisten 1553 angelegt. Die Aktenführung beider Abteilungen war
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sehr ausführlich und detailliert, und diente einerseits dazu, finanzielle und personelle Veränderungen festzuhalten. Das folgende Beispiel zeigt, dass andererseits politische Entscheidungen, wie die Entwicklung der Privilegien, für die deutschen Nationen in Italien und das Verhältnis zu anderen Universitäten besprochen wurden. Die Nationenbücher können daher auch einen Beitrag zur Aufdeckung von Konflikten zwischen den Nationen leisten und Ansatzpunkte für die Verflechtungsgeschichte von Universitäten bieten. Nachdem 1562 zwei deutsche Studenten in Bologna von einem päpstlichen Legaten verhaftet worden waren, kam es zur öffentlichen Inszenierung studentischen Protestes und zum Auszug der deutschen Nation aus Bologna. Im Folgenden profitierte die Universität Padua von den Privilegien, die die deutschen Nationen mit der Studienbehörde in Venedig ausgehandelt hatten. Diese Ereignisse fanden in großer Ausführlichkeit Eingang in die Aufzeichnungen der juristischen Abteilung der deutschen Nation. Es wurde über das Zusammentreten der Nationsmitglieder zu Beratungen über ihre Privilegien berichtet und als Anlass der Auszug der deutschen Nation aus Bologna angegeben. Die einzelnen gefassten Beschlüsse wurden detailliert festgehalten und Nachrichten, die die Nation aus Bologna oder Venedig erreichten, anscheinend im Wortlaut aufgezeichnet – das suggerieren zumindest die verwendeten Anführungszeichen (Brugi 1912, S. 99–103). Das besondere Interesse der Nation an einer Regelung der Privilegien der deutschen Nationen in Italien wird dadurch ersichtlich, dass ein Beschluss zur Lage der deutschen Nation in Bologna auf Deutsch verfasst wurde. Damit gehört dieser Eintrag zu den wenigen volkssprachlichen Anteilen (Deutsch, Italienisch), die sich in den Akten der deutschen Nation in Padua finden lassen.
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Privilegien Frank Rexroth
Begriffserklärung Als privilegia bezeichnete man während der Vormoderne privatae leges, also Ausnahmerechte, die sich von dem allgemein geltenden Recht abhoben und damit juristische Sondersachverhalte schufen. Zugleich stand privilegium für die Urkunde, mit der solche Rechte verliehen bzw. bestätigt werden: Iura et leges wurden in diesem Sinne privilegio erteilt. V. a. die letztere, auf Verschriftung zielende Bedeutung ist der Gegenstand der folgenden Ausführungen. Demgemäß werden unter universitären Privilegien Schriftstücke verstanden, die nach den zeitgenössischen Konventionen der Beurkundung erstellt wurden und in denen ein Aussteller einer Universität oder ihren korporativen Bestandteilen (Fakultäten, nationes, gegebenenfalls Universitätskollegien) bestimmte Rechte dauerhaft übereignete. Neben ihnen standen Privilegien, deren Destinatäre einzelne Universitätsangehörige und nicht die Korporationen waren (z. B. Anstellungsurkunden für einzelne Professoren); sie sind in den folgenden Ausführungen mitzudenken, werden aber nicht gesondert behandelt. Nicht unterschieden wird dagegen zwischen dem Privileg im engeren Sinne der Urkundenforschung und funktional äquivalenten Urkundentypen wie den päpstlichen litterae clausae oder der Bulle. Als Aussteller der universitären Privilegien fungierten Kaiser und Könige, Päpste sowie ihre Legaten, Landesherren und weitere Würdenträger wie z. B. Ortsbischöfe oder die Vorsteher von Kollegiatkirchen. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Die Praxis der Privilegierung von Korporationen ist älter als die Universitäten selbst und stand daher neben anderen Formen positiver Rechtssetzung (etwa als Kaiserrecht in Form der Authentik, s. Friedrich Barbarossas Habita von 1155, dazu Stelzer 1978) bereits als Medium zur Verfügung, als sich Scholaren- und Magistergruppen zu Schwureinungen formierten (Kibre 1961). So stellte der französische König Philipp II. August schon 1200 – und damit Jahre bevor von einer universitas scholarium die Rede war – den Pariser Scholaren ein großes Schutzprivileg aus. Bezeichnenderweise sollte dieses vom Herausgeber des Chartularium Universitatis Parisiensis im ausgehenden 19. Jh. zur ersten Nummer seines Hauptteils gemacht werden. Das proto-universitäre
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Schutzprivileg wurde damit wie eine Gründungsurkunde inszeniert Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 1, S. 59–61)! Privilegierungen durchziehen von da an die Geschichte jeder europäischen Universität, sei sie aus wilder Wurzel gewachsen oder durch einen Stiftungsprozess geschaffen worden. Eine Reihe von Sonderrechten war für die Korporationen unverzichtbar, andere traten hinzu und spornten die Akteure in den akademischen Senaten dazu an, sich auch um ihre Erlangung zu bemühen. Bei den Päpsten wollte man die Verleihung des ius ubique docendi erlangen, also die Befugnis zur Lehre an jedem anderen privilegierten studium, die mit dem Erwerb eines örtlichen akademischen Grades verbunden war (Toulouse 1233, dann Montpellier 1289, Lissabon 1290, Gray 1291 usw.). Die Nennung von Vorbildanstalten, deren Rechte und Freiheiten pauschal übertragen werden, taucht ebenfalls schon früh in den päpstlichen Privilegienbriefen auf (Toulouse als Vorbild für Orléans 1306 und Cahors 1332), die Dispens der klerikalen Universitätsbesucher von der Residenzpflicht an ihren Mutterkirchen zunächst eher selten (z. B. Rom 1303). Bestimmte Formulare und Urkundenformeln wurden in diesem Prozess vorbildhaft, so etwa die Arengenformeln Dum solicitae considerationis (Pamiers 1295, dann mehrfach in den 1330er-Jahren) oder In supremae dignitatis specula (Pisa 1343). Besonders elaborierte Ausfertigungen (Prag 1347 auf Pisaner Grundlage, allerdings auf Basis einer umfassenden Schönheitsoperation, dazu Blaschka 1954; Rexroth 1992, S. 60–74) wurden gesamthaft zu Vorbildern für spätere Gründungen (Miethke 2001). Das Privileg Martins V. für Löwen (1425) imitierte das sechs Jahre ältere für Rostock (Nelissen 1998). Für die Jahre bis zur Privilegierung der Universität Frankfurt a. O. (1506/07) hat man europaweit 67 solche allgemein fundierenden päpstlichen Privilegienbriefe identifiziert (Meyhöfer 1912), zu denen zahlreiche ergänzende Rechtsverleihungen hinzutraten (eine Auflistung möglicher Materien am Beispiel von Paris bei Denifle, Bd. 1 1889, S. XXXIV f., Anm. 3). Während dieser Ära wandeln sich die fundierenden päpstlichen Privilegien in ihrem Charakter signifikant: Sind sie zunächst ab dem zweiten Drittel des 13. Jh.s deutlich an den lokalen Gegebenheiten der Destinatäre orientiert, wird v. a. während des 14. Jh.s ihre Gestaltung stereotyper, wohingegen ihre Bedeutung symbolisch durch die Ästhetik der Ausführung aufgewertet wurde. In diesem Zusammenhang ist etwa die allmähliche Ablösung der littera durch die bulla seit ca. 1300 zu sehen. Allgemein gilt: Die Privilegien für spanische, portugiesische, englische und irische Hochschulen bewahrten dabei eine größere Individualität als die italienischen, französischen, deutschen und ostmitteleuropäischen. Als diplomatisch weniger kohärent zeigt sich die Kategorie der weltlichen Privilegien, obwohl auch hier eine ältere Urkunde zum Vorbild oder wenigstens zum Ideengeber für eine jüngere werden konnte (Heidelberg 1386, für Freiburg 1457). Die kaiserlichen Urkunden ähneln einander nur, wenn sie von derselben Kanzlei expediert wurden: Die Diplome Karls IV. bzw. Sigismunds für verschiedene Destinatäre weisen Ähnlichkeiten miteinander auf, die der späteren mittelalterlichen Kaiser kaum, die neuzeitlichen dagegen wieder mehr; das Wittenberger Formular (1502) wird für Einzelfälle bis zu Bonn (1784) wieder in Anwendung gebracht. Bis zur Bonner Privilegierung hat man 58 große kaiserliche Privilegienbriefe identifiziert (Meyhöfer 1912).
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Neben der vorrangig von den Päpsten ersuchten akademischen Freiheit des ius ubique docendi wurden in den fürstlichen Privilegienbriefen ganz verschiedene Materien verhandelt, die die Sonderform der Universität als einer Form der hohen Schule ausmachten und die vormoderne Vorstellung von der libertas scholastica bildeten: Der Rechtsschutz der Scholaren bei der An- und Abreise samt der Regelung von Nieder- und Hochgerichtsbarkeit, die Befreiung von Zöllen und Steuern, die Bindung von Lebensmittelpreisen und Mietzins, die Gewährung der Privilegien auch für die Familienangehörigen der Professoren sowie für die Vertreter universitätsspezifischer Gewerbe, im Extremfall sogar die Umwidmung eines städtischen Areals zum quartier latin (für Wien, woraus freilich nichts wurde, s. Ubl 2010). Je detaillierter die Regelungen der fürstlichen Privilegien in Dingen des akademischen Rechts- und Lebensalltags wurden, desto näher kamen sie den Aufgaben der korporativen Satzungsautonomie, wie sie in den universitären Statuten ihren Niederschlag fand. Die Opulenz ihrer Verfügungen ließ die Rechtsgestalt der Hochschule als Ausdruck herrschaftlichen Willens statt genossenschaftlicher Satzungsautonomie erscheinen, galt aber dort als verlässlichere Rechtsgrundlage, wo das prekäre Zusammenleben von akademischen und städtischen ‚Bürgern‘ berührt war. Der Fürst stand über beiden, so dass seine Verfügungen im Konfliktfall eine bessere Handlungsanleitung boten. Neben der universitas der Lehrenden und Lernenden war die städtische und ländliche Umwelt der Hochschulen als weitere Zielgruppe der Hochschulprivilegien fest miteingeplant, sei es durch die Regelung ihrer Beziehungen im Text, sei es durch die Praxis der turnusmäßigen Verlesung der Privilegien. 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung In ihrer äußeren Gestalt und ihrem inneren Aufbau orientieren sich die Privilegien an den zeitgenössischen Erwartungen an Urkunden von hervorgehobener Bedeutung. Am besten lässt sich diese formale Gebundenheit an den original überlieferten Papsturkunden verdeutlichten (hilfreich ist die Kommentierung der Erfurter Bulle von 1389 bei Kleineidam 1992). Beschreibstoff ist durchweg Pergament, die Besiegelung ist unverzichtbar, der Gebrauch von litterae elongatae ebenso. Das Formular ist auf die klassische Dreiteilung in Protokoll, Kontext und Eschatokoll mit entsprechender Binnengliederung gestützt. Die Arenga gab Anlass dazu, die konkrete Rechtsverleihung in weite, das Papsttum prominent herausstellende Sinnzusammenhänge einzuordnen, die narratio berichtete von den konkreten Vorgängen, die zur Ausstellung geführt hatten, die dispositio enthielt den Kern der Rechtsverleihung. Biblische Metaphorik (die Perle der Wissenschaft nach Mt 13,46; der Brunnen der Weisheit nach Jes 12,3) wurde häufig verwendet. Aufschlussreich, wenngleich nicht zum eigentlichen Urkundentext gehörend und noch in jüngsten Transkriptionen häufig unterschlagen, sind die Registraturvermerke, die beim Durchlauf durch die Stationen der päpstlichen Kanzlei in bzw. sub plica oder als Dorsualvermerk angebracht werden. Von ih-
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nen kann man nicht nur etwas über die Kosten der Expedierung, sondern gegebenenfalls auch über die sozialen Kapitalien erfahren, die die Gesandten der Hochschule bzw. des Stifters an der Kurie nutzen konnten: „Pro G. Weert Gotfridus“ heißt es auf der Plica eines Stücks, das Bonifaz IX. 1389 für die Universität Heidelberg ausstellte, ein andermal steht auf einem Privileg desselben Papstes von 1398 „gratis de mandato domini nostri pape, Iohannes de Ferentino“ (Winkelmann 1886, Bd. 1, Nr. 27 und Nr. 46; zu den Registraturvermerken s. Frenz 2000). Weiterhin verdienen die Einträge in die kurialen Supplikenregister Beachtung, die sich auf den Erwerb von Universitätsprivilegien beziehen und die damit gleichfalls Aufschluss über die Kontakte zwischen dem Petenten und dem päpstlichen Aussteller geben (Diener 1986; Courtenay 2003–2013). Auch im Hinblick auf ihre Gestalt gilt für die weltlichen Privilegienbriefe, was oben über ihre Inhalte gesagt wurde: Sie sind weniger standardisiert und weisen daher eine deutlich größere Varianz auf. Verschiedene Absichten und Ideale trugen hierzu bei, was anhand einiger deutscher Beispiele deutlich wird: Ging es Karl IV. als dem Stifter der Prager Hochschule (1348) darum, eventuelle Widerstände des böhmischen Adels gegen die Einrichtung einer Hochschule nicht zu reizen und daher einen möglichst knappen, unanstößigen Text vorzulegen (Rexroth 1992, S. 74–92), so wollte sein Schwiegersohn Rudolf IV. von Österreich den Wiener Privilegierungsakt (1365) mittels eines opulenten Stückes in seiner Bedeutung aufwerten; die deutsche Ausfertigung des Briefes misst 135×106 cm. Wiederum andere waren bescheidener in Libellform verfasst (Freiburg 1457). In Heidelberg ließen die Stifter keine Einzelurkunde anfertigen, sondern eine Sukzession von fünf lateinischen Briefen samt einem volkssprachlichen Stück, das für die öffentliche Verlesung um das Allerheiligenfest herum gedacht war. Wo eine solche jährliche Verlesung anberaumt war, bildete sich die Dignität der Urkunde nicht nur in ihrer äußeren Gestalt, sondern auch in verfließender Zeit ab. Mehr noch: Bei besonders elaborierten Stücken, wie dem Privileg Kaiser Maximilians I. für Wittenberg (1502), sind bei der Verlesung vermutlich die Proportionen zwischen den Urkundenabschnitten hörbar geworden, dies „nach den Verhältnissen des Goldenen Schnittes in der Laméschen Reihe […] 1, 2, 3, 5, 8 usw.“, womit „der zeitliche Aufbau nach dem Gesetze der wachsenden Glieder ohrfällig“ wurde (Blaschka 1952, S. 81). In der Tradition der Universitäten wurden die Privilegienbriefe und ihre Verfügungen jahrhundertelang beachtet. Zum einen waren die Hochschulen darauf bedacht, das Wissen um die ihnen verbrieften Rechte und Freiheiten zu konservieren und hierdurch zu schützen; zahlreiche Abschriften in Kopiaren und Amtsbüchern dienten diesem Zweck. Sie finden sich nicht nur in den Akten der Rektorate, sondern auch an den einzelnen Fakultäten (Fakultäts- und Rektoratsakten). Die Universitätsangehörigen sahen in den so entstandenen Privilegiensammlungen vorrangig Findbücher des geltenden Rechts, sekundär allerdings durchaus auch historische Quellen: Das Amtsbuch, das primär der Information über die iura et libertates der Hochschule diente, konnte zugleich als die annales universitatis bezeichnet werden (Miethke 1986, S. 6). Zu diesem Eindruck trugen ein- bzw. überleitende Zusätze
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zu den Urkundentexten bei, die etwa den Prozess der Hochschulentstehung oder Verhandlungen von Senat und Fakultätsversammlungen narrativ aufbereiteten (Universitätsgeschichtsschreibung). Zugleich galten die besiegelten Originale ähnlich wie Siegeltypare und Zepter als unverzichtbare Bezeugungen der korporativen Existenz, zählten regelrecht zu den insignia universitatis und waren damit Träger einer Bedeutung, die sich nicht auf eine Kopie übertragen ließ. Während der Hochschuleröffnungszeremonien, die in die örtliche Liturgie eingebettet wurden, holte man daher die Originalurkunden manchmal in großer Prozession feierlich in die Städte ein (so in Greifswald 1456), ja man inthronisierte sie dort möglicherweise in einer Kirche (so in Frankfurt a. O. 1506, zu solchen Ritualen s. Rexroth 2000). Anschließend wurden sie jahrhundertelang in den Schreinen der Universitäten aufbewahrt. Die Anbringung mehrerer Schlösser an einer solchen archa universitatis und die durch Statuten geregelte Vergabe der zugehörigen Schlüssel an amtierende Rektoren, Dekane und gegebenenfalls Kanzler machten den Zugriff auf die dort verwahrten Fundamental-Urkunden zu einem Akt, der Struktur und Verfassung der alma mater symbolisierte. In Zeiten des Konflikts griff man auf sie zurück und suchte (oft nach langer Zeit), die Tradition der jährlichen Verlesung wiederzubeleben. Als die Stadt Freiburg in der Ära Ludwigs XIV. französisch geworden und die Professoren nach Konstanz geflohen waren, wollten diese ihre Stiftungsurkunde von 1457 verlesen lassen, was der Konstanzer Magistrat verweigerte. 1768 erwog die Freiburger Universität während eines Konflikts mit Kaiserin Maria Theresia: „praelectio Albertinae annua an resuscitanda?“ (Gerber 1957, Bd. 2, S. 288; s. Borgolte 2013, S. 192). Ein gewisser Teil der Autorität, der v. a. den kaiserlichen Privilegien zugesprochen wurde, ging auf Theorien zurück, die die spätmittelalterlichen Legisten im Hinblick auf die Legitimität der einzelnen Hochschulen anwendeten. Das Corpus Iuris Civilis tradierte Kaiser Justinians Verbot, in anderen Städten als den königlichen Städten Rom und Konstantinopel sowie in Beirut Schulen des römischen Rechts zu unterhalten (Mommsen/Krüger 1908, S. 10–12: Const. Omnem § 7; dazu s. Scheltema 1970). Diese Bestimmung wurde während des 13. und 14. Jh.s v. a. von Bologneser Römischrechtlern dahingehend modifiziert, dass nur kaiserlich privilegierte studia des Rechts legitim seien, ja dass andere Hochschulen als studia adulterina zu gelten hätten (z. B. diskutiert von Bartolus von Sassoferrato 1588, S. 399a f.). Zwar fühlten sich gerade während des 13. Jh.s zahlreiche vornehmlich italienische Rechtsschulen berechtigt, auch ohne kaiserliche Einrichtung ihren Betrieb aufzunehmen, doch fällt auf, dass auch solche eher ex consuetudine statt ex privilegio entstandenen Universitäten nachträglich versuchten, päpstliche oder kaiserliche, ja landesherrliche Privilegienbriefe zu erlangen. Besonders weit gingen dabei die Bologneser, die in den 1220er- oder 1230er-Jahren in Ermangelung einer Gründungsurkunde ein Privileg Kaiser Theodosius’ II. fälschten und auf das Jahr 433 datierten – die wahrscheinlich meistbeachtete Privilegienfälschung der Universitätsgeschichte! Sie ist zu verstehen im Kontext eines Prozesses, in dem sich die frühen, nicht auf Stiftungsakten beruhenden Universitäten durch die Rückführung auf mythische Gründungssituationen
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abzusichern begannen. Auch für Cambridge entsteht eine ganze Sequenz solcher Fälschungen: König Artus habe am 7. April 531 die Universität von öffentlichen Abgaben und Diensten befreit, die Könige Cadwaldus und Edward sowie Papst Honorius I. hätten sie ergänzt, heißt es dann (Dyer 1824; Gabriel 1988; Rexroth 1998). 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Erst mit dem Ende des Ancien Regime und dem Aufschwung der historischen Wissenschaften im frühen 19. Jh. begann der ‚historische‘ Blick auf die universitären Privilegienbriefe deren Verständnis als Rechtstexte zu überlagern; modernes Hochschulrecht und die Kompetenzen der einzelnen Universitäten wurden gemäß zeitgenössischen Erfordernissen neu geregelt, die Verfügungen der Stiftungsprivilegien wurden in Rechtsstreitigkeiten nicht mehr als Zeugnis geltenden Rechts angesehen. Von sämtlichen universitätsgeschichtlich relevanten Quellengattungen sind sie unter dem neuen, ‚historischen‘ Blickwinkel wahrscheinlich dennoch die am häufigsten beachteten geblieben: Historikerinnen und Historiker waren sich der Tatsache bewusst, dass die Privilegienbriefe eine hervorragende Rolle für die Identitätspraktiken vormoderner Universitäten spielten, und sie neigten auch selbst dazu, die diachrone Einheit einer Universität in der Kontinuität ihrer Ausstattung und ihrer Rechte zu sehen und diese Einheit in der kritischen Diskussion ihrer Privilegien abzubilden. Zum dritten spielte die Urkundenlehre für die Ausprägung und die Methodenstandards der modernen Geschichtswissenschaft lange Zeit ohnehin eine Schlüsselrolle. So wurden auch den universitären Privilegienbriefen Spezialstudien gewidmet, die den jeweiligen Kenntnisstand der Diplomatik als der avanciertesten Historischen Hilfswissenschaft repräsentieren sollten (Meyhöfer 1912; Blaschka 1952; Lackner 2013). Ein weiterer, für das Verständnis der Forschungsgeschichte wichtiger Zusammenhang besteht darin, dass die Universitäten zwar soziologisch der Tradition der freien Schwureinungen (Gilden) angehörten, zugleich aber schon seit dem 13. Jh. mehrheitlich auf landesherrliche bzw. städtische Initiative hin entstanden, mithin ihre Existenz einem fürstlichen oder städtischen Gründungsprivileg verdankten. In den stark weltanschaulich geprägten Debatten seit den 1880er-Jahren wirkte daher die Konkurrenz zwischen einer idealtypisch liberalen und einer konservativen Sicht auf die Universitäten. Die erstere betonte die Gildeform der Universitäten und sah in den Privilegierungen Akte, die allenfalls Rahmenbedingungen für die Magisterkollegien schufen, jedoch in ihrer rechtlichen Erheblichkeit hinter dem konstitutiven Eid der Universitätsangehörigen deutlich zurückstanden. Die letztere Sichtweise verstand die Entstehung der Universitäten primär vom fürstlichen bzw. päpstlichen Privilegierungsakt aus. Die historische Bedeutung der Universitätsprivilegien wurde hierdurch zu einem Kampfplatz in der Auseinandersetzung zwischen liberalen und konstitutionell-monarchisch gesinnten Historikern, wobei katholische Forscher in die Nähe der ‚monarchischen‘ Position gerückt werden konnten, wenn sie die päpstlichen Privilegien als Belege für die papstkirchlich garantierte Einheit des ‚lateinischen‘
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Europas stark gewichteten. Zwar hat diese Konkurrenz ihre lebensweltliche Bedeutung längst verloren, doch sollten heutige Forscher bei der Benutzung älterer Arbeiten diese Hintergründe mit bedenken. Die großen Synthesen jener Ära (Denifle 1885; Kaufmann 1888/1896; Rashdall 1936) sind nur mit äußerster Vorsicht als Handbücher und Nachschlagewerke zu konsultieren! Auch ist zu bedenken, dass die Geschichtsschreibung einzelner Universitäten sehr häufig durch Jubiläen motiviert ist und dass daher den Initiationsakten päpstlicher und landesherrlicher Privilegierung genrebedingt stets aufs Neue eine überproportional große Aufmerksamkeit gewidmet wird – dies selbst dann, wenn die allgemeinen Leitfragen der Geschichtswissenschaft andere Zugangsweisen begünstigen würden. Derart motivierte Studien sind möglicherweise geneigt, den Willen eines Urkundenausstellers und die Normen, die in den Privilegien ausgedrückt werden, für die soziale Wirklichkeit zu nehmen. Doch gibt es hierzu durchaus Alternativen: Der Text der Privilegien kann als Niederschlag situationsgebundener Handlungsspielräume angesehen werden, wie sie von konkurrierenden Akteuren wahrgenommen werden. Wo sich etwa Spuren von Empfängerausfertigung ausmachen lassen (Ferruolo 1985; Mertens 2007, v. a. S. 29), kann der Text als Zeugnis für die Kommunikation zwischen dem Aussteller und den Angehörigen der künftigen Gelehrtenkorporation gelesen werden. Ein weiteres, recht junges Verständnis der Privilegien sucht diese in den Praktiken der universitären Thesaurierung oder als Bestandteile performativer Akte auf (Eröffnungsrituale, Konfliktaustrag, dazu Rexroth 2000). Aus Anlass von Universitätsjubiläen werden ihnen heute häufig repräsentative Editionen und Transkriptionen gewidmet. Faksimile und Originaltext samt Übersetzung werden in schmalen, aber repräsentativ gestalteten Ausgaben dargebracht (Hermans/ Nelissen 1994) – das ideale Gastgeschenk für Hochschuldelegationen, denn Anciennität ist chic! Von der historischen Brisanz ihrer Verfügungen bleibt dabei selten etwas spürbar (anders Gramsch 2012). Derartige Aufbereitungen der Privilegien sind ihrerseits als kulturelle Praktiken zu verstehen, und zwar als solche zur Herstellung von Modernität: Die Universität wird von ihrer eigenen Vergangenheit entlastet, indem die Spuren ihrer Historizität zum ästhetisch-pittoresken Traditionsgut umgedeutet werden. 4. Bibliographie 4.1 Quellen Alvermann, Dirk / Spieß, Karl-Heinz (Hrsg.) (2011), Quellen zur Verfassungsgeschichte der Universität Greifswald, Bd. 1: Von der Universitätsgründung bis zum Westfälischen Frieden 1456–1648, Stuttgart. Bartolus a Saxoferrato (1588), Opera quae nunc extant omnia […], Bd. 4: In I. partem codicis commentaria, Basel, Officina episcopania. Blaschka, Anton [1952], Der Stiftungsbrief Maximilians I. und das Patent Friedrichs des Weisen zur Gründung der Wittenberger Universität, in: Aland, Kurt / Stern, Leo (Hrsg.), 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 3 Bde., Halle, S. 69–85.
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Rotuli und Suppliken Bruno Boute / Tobias Daniels
Begriffserklärung Rotuli (vollständig: rotuli beneficiandorum, im universitären Kontext abzugrenzen von mit demselben Terminus bezeichneten Vorlesungs- bzw. Dozentenverzeichnissen oder Matrikeln) sind Gruppen- bzw. Sammelsuppliken, die – anfänglich auf ‚aufgerolltem‘ Pergament – verfasst wurden, um dem Papst einen gemeinsamen Antrag auf Gewährung von Provisionen und Anwartschaften (Expektativen) für niedere Pfründen vorzulegen. Durch Rotuli supplizierten unterschiedliche Einzelpersönlichkeiten (Könige, Fürsten, Kardinäle, Bischöfe etc.) oder Körperschaften (Klöster, Städte etc.) an der Spitze eines Personennetzwerks für ihre Klientel und für die Gelehrten in ihrem Dienst. Universitäre Rotuli wurden meist vom Landesherrn unterstützt, doch sie wurden in erster Linie von den Universitäten als Körperschaften eingereicht. Die Antragenden wurden in der Regel hierarchisch gestaffelt eingetragen. Auch rotuli particulares für einzelne Fakultäten und Nationen, für Kollegien oder für weniger institutionalisierte Gruppen innerhalb der Universitäten (wie etwa die Bakkalaren der Theologie an der Universität von Paris) sind nachgewiesen. Dem gemeinschaftlichen Antrag um Bestätigung der Gesuche konnten einzelne Suppliken folgen. Rotuli und einzelne Suppliken einerseits und die entsprechende päpstliche Provisionen für Gelehrte andererseits wurden bei Bewilligung in die (lückenhaft überlieferten) päpstlichen Suppliken- bzw. Bullenregister eingetragen. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Wie auch im Falle von Einzelsuppliken (Müller/Schwarz 2005) sind nur wenige universitäre Rotuli im Original erhalten. Für die Supplizierenden verloren solche Dokumente an Bedeutung, sobald sie von der Kurie approbiert, registriert und somit rechtsverbindlich geworden waren (Schmidt 1986, S. 109; Kallfelz 1980). Der in den Archives Nationales in Paris erhaltene, von der Pikardischen Nation an der Universität Paris bei dem Gegenpapst Johannes XXIII. eingereichte Rotulus zeigt, dass die Rotuli in ihrer originären Form wörtlich „Suppliken-Rollen“ waren. In diesem Fall bestanden sie aus mehreren zusammengenähten Seiten (Vulliez 2003; Bresslau/Klewitz 1968, S. 8). Die Rollen waren in lateinischer Sprache verfasst. Sie listeten dutzende
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(manchmal sogar hunderte) Suppliken auf und enthielten typischerweise Anfragen für mehrere rechtliche Klauseln in Bezug auf alle Petitionen (unter anderem auch Dispense von Inkompatibilitäten). Im Vergleich mit anderen Arten von Sammelsuppliken erscheinen die universitären Rotuli konservativer und moderater, was die erbetenen Gratien betrifft, denn es galt, eine möglichst hohe Bewilligungsrate zu sichern. Das Einreichen von Bittschriften an den Papst anstatt persönlichem Vorstelligwerden kam seit dem 12./13. Jh. auf. Päpstliche Provisionen für Pfründen standen seit der Mitte des 12. Jh.s in Konkurrenz zu der ordentlichen Kollatur und stiegen seit dem 13. Jh. signifikant an. Die erste Bezugnahme auf den Papst als Garanten von vielen Gratien für Magister, die von den Universitäten benannt werden (jene von Paris und Oxford), und nicht auf Petitionen einzelner Universitätsangehöriger, ist für das Jahr 1317 nachgewiesen (vgl. die Liste in Watt 1959, S. 226). Für die Zeit vor 1316 ist kein Cluster von päpstlichen Pfründenprovisionen von demselben Datum für mehrere Kleriker einer bestimmten Institution nachweisbar. William Courtenay hat daraus geschlossen, dass die Praxis der Gruppensuppliken im Pontifikat Johannes’ XXII. begonnen haben muss (Courtenay 2002). Sein Pontifikat war in der Tat durch einen signifikanten Anstieg an Suppliken insbesondere armer Kleriker charakterisiert (Meyer 1986b, S. 116) und in seinen Kanzleiregeln werden Rotuli erwähnt (Meyer, Online-Edition Kanzleiregeln, Johannes XXII., Nr. 42). Diese Form der Antragstellung war eine bedeutsame Innovation innerhalb des Supplikationswesens, denn nun mussten Universitätsangehörige im Gegensatz zu vielen anderen Petenten nicht mehr ein Bittschreiben verfassen oder sich persönlich an die Kurie begeben. Die päpstliche Bürokratie musste die Supplizierenden nicht mehr einzeln prüfen, sie überließ diese Aufgabe (auf Anfrage) der akademischen Institution (Courtenay, Bd. 1 2002, S. 19). Die Praxis, Suppliken im Kontext der Universitäten oder anderer gelehrter Institutionen an den Papst zu richten, war in der Zeit des Großen Abendländischen Schismas stark in Gebrauch und soll nach dem Konzil von Konstanz abgenommen haben. Bezeugt ist, dass die Universitäten am Ende des Konzils bei Papst Martin V. geradezu Schlange standen, um ihre Sammelsuppliken einzureichen (Miethke 2012, S. 216, Anm. 73; Schwarz 2012, S. 121). Nach Watt sollen die Rotuli im Pontifikat Eugens IV. außer Gebrauch gekommen sein (Watt 1959, S. 224). In der Tat verloren sie durch die Reformen des Wiener Konkordats von 1448 ihre Durchschlagskraft, etwa durch das Wegfallen der bei ihnen üblichen Vorzugsdatierung (Meyer 1986b, S. 131). Dennoch bestand die Praxis zumindest bis in das ausgehende 15. Jh. fort (siehe z. B. Schmitz Kallenberg 1904, S. 47–51). Die Sammelsuppliken waren nachweislich noch im Pontifikat Sixtus’ IV. gebräuchlich und wurden dementsprechend in den Kanzleiregeln weiterhin angeführt (Schwarz 1997, S. 5; Meyer, Online-Edition Kanzleiregel, Sixtus IV., Nr. 149: Widerrufung vorausgehender Anwartschaften auch durch Rotuli). Die Universitäten Löwen und Wien reichten in den Jahren 1449 und 1488 Supplikenrotuli ein (Denifle 1896; Mühlberger 1999, S. 161; siehe auch die vielfachen Belege zu Rom bei Schwarz 2012). Auf lange Sicht verloren die Rotuli ihre Attraktivität nicht nur durch die genannten Veränderungen in der Rechtslage, die einen Aufschwung der ordentlichen Kollatur nach sich zogen, sondern auch durch die im
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Universitätssystem mit der Zeit verbesserten Möglichkeiten für Studenten, Kontakte zu den Ordinarien zu pflegen (Meyer 1986b, S. 139, 112). Weitere Gründe sind in der wachsenden Anzahl von Expektanten und der dadurch zunehmenden Rechtsunsicherheit gesehen worden (Miethke 1996, S. 209). Den seit 1343 überlieferten päpstlichen Supplikenregistern zufolge wurden besonders in der zweiten Hälfte des 14. Jh.s durch die Universitäten in ganz Europa sehr häufig Rotuli erstellt, wobei für den italienischen Raum nur sporadische Nachweise vorliegen (vgl. allerdings Schwarz 2012, S. 311–326). Das Verfassen der Rotuli durch inrotulatores (zu diesen Vulliez 2003), die Aufnahmekriterien bei der Inrotulation (die Listen konnten ausgehängt werden), die Geldbeschaffung zur Finanzierung der notwendigen Schritte im Kontakt mit der Kurie durch zu entrichtende Gebühren seitens der teilnehmenden Petenten und anderer (Statuten; Rektorats- und Fakultätsakten; Nationenbücher) variierten von Institution zu Institution. War der Zugang in Paris exklusiver, so war jener an den jüngeren Universitäten im Reich tendenziell inkludierender und erlaubte auch einfachen scholares die Inrotulation. Ein gemeinsames Charakteristikum der Rotuli war, dass die einzelnen Petitionen geordnet nach ihrer Stellung in absteigender Hierarchie aufgelistet wurden. Somit legen die Rotuli die hierarchischen Beziehungen innerhalb der akademischen Institution im Moment der Antragstellung offen, was Zugehörigkeit zu Fakultäten, akademische Funktionen, Titel, tatsächliche oder ehemalige Mitgliedschaft und das Kriterium der Anciennität betrifft; auch der soziale Stand oder landsmannschaftliche Zugehörigkeit konnte eine Rolle spielen. Mithin geben die Rotuli Aufschluss über potentielle Interessenkonflikte der einzelnen Petenten. Soweit es die registrierten Supplikationen erkennen lassen, erkannte der Papst, bzw. die kurialen Beamten, die in den Rotuli niedergelegte Rangordnung generell an, die mit entsprechenden ‚meritokratischen‘ Paragraphen zu Provisionen in den päpstlichen Kanzleiregeln konform war (Schwarz 2012; Meyer 2014). Gemäß dem Prinzip des prior in dato, potior in iure war die päpstliche Approbation der Rotuli derjenige Akt, der die Rechte der Petenten hinsichtlich ihrer Ansprüche auf Pfründen und Gratien, auch im Konflikt mit anderen Parteien wie auch Universitäten, festsetzte. Ähnlich wie bei anderen Pfründensuppliken, war das Datum selbst (insbesondere das päpstliche Krönungsdatum am Beginn eines Pontifikats) daher ein begehrtes Objekt des Interesses. Teils wurde die Ausstellung fiktiv datiert, und dies auch innerhalb des Rotulus, um beispielsweise einem Magister einen besseren Anspruch auf einen Rechtstitel zu gewähren als einem Scholaren (Meyer 1990; Meyer 1992; Meyer 2014; Hotz 2002; Hotz 2005b; Schwarz 2012). 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Ist lediglich das Original eines Rotulus erhalten, so muss erwogen werden, dass dieser möglicherweise niemals eingereicht oder insgesamt nicht anerkannt wurde (zur Expedierung Schwinges 1986, S. 200 f. mit Tabelle), doch dies ist aufgrund der lücken-
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haften Überlieferung der vatikanischen Quellen teils schwer zu verifizieren (siehe unten). Die wenigen Exemplare, welche dort aufgefunden wurden, weisen Annotationen der kurialen Beamten auf, die während der Überprüfung der Schriftstücke entstanden. Während dieses Prozesses konnten auch Petenten anwesend sein und die Registrierung der Anwartschaften im Hinblick auf Vorzugsbehandlung beeinflussen. Generell waren universitäre Rotuli allerdings nicht das einzige Mittel, zum Pfründenerfolg zu kommen. Oft supplizierten Petenten gleichzeitig auf anderem Wege um dieselbe Pfründe, etwa durch Eintragung auf Rotuli, die von anderen Protektoren veranlasst wurden (Schwarz 2012). Die bedeutsamsten Überlieferungsträger der Rotuli stellen die päpstlichen Supplikenregister dar (Zusammenstellung bei Diener 1986). In den gleichermaßen für ihren Reichtum wie für ihre Lückenhaftigkeit bekannten Registra supplicationum (vgl. Schmidt 1986, S. 109; Diener 1972) wurden die Rotuli gemeinsam mit tausenden von Einzelsuppliken registriert, sofern sie approbiert worden waren. Auch hier gibt es Überlieferungslücken. Von Belang für eine quantitative Einschätzung ist, dass aufgrund von Kassationen im Vatikanischen Archiv im 17. Jh. für den Zeitraum seit dem 15. Jh. nur sehr wenige Expektativenregister erhalten sind und somit die Anzahl der tatsächlich eingereichten Rotuli nicht präzise abschätzbar ist (Diener 1986, S. 360; Meyer 1986b, S. 135; Schwarz 1997, S. 5). Die kritische Edition von in den päpstlichen Registern registrierten Rotuli zeigt, dass die Kollektivsuppliken nicht immer in ihrer Gesamtheit angenommen wurden. Neben jede einzelne approbierte Supplik wurde entweder ein päpstliches fiat (und in dem folgenden Eintrag die Klausel in eodem modo) oder Modifikationen notiert. Ein Vergleich zwischen den erhaltenen Originalen und Abschriften der päpstlichen Kanzlei erweist, dass die in den kurialen Supplikenregistern überlieferten Abschriften nicht als genaue Kopien der Originale anzusehen sind. Aus Gründen der Ökonomie wurden die einleitenden Formeln und die Petitionen selbst durch Solizitatoren oder Skriptoren des kurialen Supplikenbüros stark gekürzt. Ferner wurden mehrere Einzelpetitionen abgewiesen und erscheinen somit nicht in den päpstlichen Registern. Unsicher ist schließlich bei unikaler Überlieferung in den kurialen Registern, ob die Anordnung der Suppliken in der vatikanischen Abschrift jener des Originals entspricht oder auf einen päpstlichen Referendar zurückgeht (so schon Kehr 1887, S. 92). In einigen Fällen stellen von Einzelnen verfasste Petitionen um die Revision einer Bittschrift oder die Einreichung einer ‚reformierten‘ (d. h. nach der Genehmigung abgeänderten) Supplik durch zurückgewiesene Petenten die einzige Dokumentation für zuvor eingereichte Rotuli dar (Schwarz 2012). Ähnliches gilt für Suppliken, in denen sich Einzelpetenten oder Universitäten auf frühere Begünstigungen bezogen, die Schwesterinstitutionen durch den Papst gewährt worden waren. Dabei war die Bezugnahme auf das Modell der Universität Paris am weitesten verbreitet, denn diese Universität forderte für ihre Magister den Vorrang vor allen anderen Hochschulen ein. Ähnlich verfuhren die Universitäten Bologna und Padua. Approbierte Rotuli bildeten die rechtliche Basis für Suppliken, die von inrotulierten Einzelpersonen dem Papst unterbreitet wurden, um ihre Position auf dem
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universitären Rotulus geltend zu machen oder sie zu verbessern und um unter inzwischen veränderten Umständen gemäß dem Formular perinde valere eine päpstliche Provision zu erhalten, auf deren Grundlage sie rechtmäßig ein Benefizium erlangen konnten. Solcherlei Quellen bieten weitere Informationen, etwa zu den apostolischen Exekutoren, deren Aufgabe die Durchsetzung der päpstlichen Gratie in partibus (vor Ort) war (Hitzbleck 2009, S. 457 f.). Oftmals war zumindest einer der durch den Papst auf Anfrage des Petenten benannten Exekutoren selbst ein Universitätsangehöriger. In seiner Edition der Pariser Rotuli vor dem Großen Schisma hat Courtenay aufgezeigt, wie die päpstlichen Provisionen als Grundlage für die Rekonstruktion der verlorenen Originalrotuli zu nutzen sind, auch jener, die nicht in den Supplikenregistern registriert wurden (Courtenay 2002; zur Methode schon Diener 1986, S. 361, ferner Schwarz 2012). Diese Arbeit ist mit Risiken verbunden, denn es ist nicht leicht, zwischen Gratien zu unterschieden, die auf den universitären Rotuli basierten, und den zahllosen weiteren, welche durch die Suppliken von Einzelpersonen oder auf der Grundlage von Rotuli zustande kamen, die bei anderen Gelegenheiten eingereicht wurden. Da nicht allen Suppliken stattgegeben wurde und nicht jede Gratie zu einer tatsächlichen Provision führte, kann die so erzeugte Meta-Quelle nur eine partielle Rekonstruktion der originalen Rotuli bieten. Dennoch können so die meist verlorenen Originale zumindest teilweise wiederhergestellt werden. 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Die Erforschung der päpstlichen Registerserien stand in ihren Anfängen im 19. Jh. im Zeichen eines politikgeschichtlichen Interesses. Anhand der vatikanischen Überlieferung sollten die politischen Beziehungen eines Landes mit der Kurie in ihren historischen Dimensionen aufgezeigt werden. Dazu gehörte auch die Verbindung der Universitäten mit dem päpstlichen Provisionswesen. Die ältere und jüngere Forschung hat die Rolle der Universitäten im Großen Schisma, das Abnehmen des päpstlichen Einflusses auf die partes im Zuge des Konziliarismus sowie die Entstehung ‚nationaler‘ Kirchenverbände intensiv untersucht. Das päpstliche Provisionssystem war der sichtbarste Ausdruck des pontifikalen Universalitätsanspruchs, und Interessen sowie Gestaltungsmöglichkeiten der Universitäten als Protagonisten der Reformkonzilien von Konstanz und Basel im 15. Jh. waren vielfältig. Somit konnte ihre Rolle in diesem Prozess der Staatsbildung aus dem christlichen Europa heraus nicht vernachlässigt werden. Zu einer eingehenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Rotuli, wie auch mit dem Pfründenwesen allgemein, kam es im Zeichen des social turn in der Universitätsgeschichte, im Zuge dessen (verbunden mit einer tatsächlichen Demokratisierung der bestehenden Universitätsstrukturen in den 1970er Jahren) der Personen- und Sozialgeschichte der Hochschulen verstärkte Aufmerksamkeit zukam. Als materialreiche serielle Quellen ergänzen die Rotuli die (insbesondere für das Reich meist lückenlos überlieferten) Matrikeln. Wo keine Matrikeln (wie z. B. im Falle
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der Universitäten Oxford und Cambridge sowie der italienischen Universitäten) oder Nationenbücher vorhanden sind, stellen die Rotuli (auch wegen auf europäischer Ebene bisher meist nicht geleisteter Grundlagenforschung in alternativen Quellenbeständen wie den päpstlichen Registern) oft den einzigen unmittelbaren Zugang zur personellen Zusammensetzung – d. h. insbesondere zur Studenten- und Professorenschaft – der Hochschulen dar. Auf ihrer Grundlage konnte die Forschung – teils unter Hinzunahme weiterer serieller Quellen – nicht nur das inrotulierte Personal der Universitäten im Einzelnen erfassen, sondern auch Ämter, Status und Herkunft dieser Personen. Der Heidelberger Rotulus von 1401 etwa verzeichnet 405 Namen; davon 34 Doktoren und Magister, 56 Bakkalaren sowie 315 Scholaren (Zimmermann 1996). Viele Probleme bei der Auswertung von Matrikeln werden allerdings bei jener der Rotuli besonders deutlich: Matrikeln können kein vollständiges Bild des Personals einer Universität geben, weil nicht alle Universitätsangehörigen sich immatrikulieren ließen; Rotuli liefern ein ähnlich fragmentarisches Bild, da sie nur jene Universitätsmitglieder verzeichnen, die um ein Benefizium supplizierten (bzw. deren Supplik stattgegeben wurde). Funktional stellen Rotuli Instrumente der Pfründenbeschaffung, mithin der Studienfinanzierung (Schmutz 1996) sowie der sozioökonomischen Integration von Studenten in die Gesellschaft dar. Die Forschung hat Rotuli insbesondere für prosopographische Untersuchungen und Netzwerkanalysen genutzt (vgl. etwa Gramsch 2012). Unter prosopographischen Aspekten können die Rotuli in ähnlicher Weise ausgewertet werden wie Matrikeln, insofern sie eine Momentaufnahme (eines Teils) des universitären Personals darstellen. Jedoch sind in den Rotuli oft andere Informationen zu den Personen enthalten als in den Matrikeln. Edle Geburt, Titel, oder Weihegrade wurden bei der Inrotulation eher angegeben als bei der Immatrikulation, da die Erwähnung dieser Daten auf dem Rotulus die Aussicht auf Gewährung der anvisierten Pfründen steigerte (Fuchs 1994, S. 15, Anm. 19). In diesem Sinne sind die Rotuli auch als Mittel der universitären Repräsentation nach Außen verstanden worden, insofern durch die Darstellung von Status und Prestige der universitas die Erfolgsmöglichkeiten der einzelnen Petenten erhöht werden sollten (Schwinges 1986, S. 347). Außerdem können (im Gegensatz zu den Matrikeln) aufgrund des formalisierten Charakters des Pfründenerwerbs in den Rotuli bzw. einzelnen Suppliken weitere Angaben zur akademischen Laufbahn und zur sozialen Position der einzelnen Petenten enthalten sein, die gewissermaßen den Eintritt eines Individuums in die gelehrten Zunft dokumentieren. Prosopographische Auswertungen der Rotuli und einschlägigen Suppliken oder entsprechenden Bullenregistrationen können aufgrund der in ihnen enthaltenen Angaben, bzw. aufgrund des mehr oder weniger institutionalisierten Charakters der supplizierenden Gruppe, etwa die soziale Zusammensetzung betreffen, Klientelbeziehungen und landsmannschaftliche Gruppen innerhalb der Universität, Pfründenausstattung und Pfründenwünsche oder das Einzugsgebiet der Universitäten. Schließlich können aufgrund der hierarchischen Struktur der Listen universitäre Führungsgruppen ausgemacht werden und so beispielsweise auch Trägergruppen von Universitäts-
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gründungen (Gramsch 2012; Rexroth 1992; Lorenz 1999). Umgekehrt spiegeln Rotuli den „Erwartungshorizont“ (Schmutz 1996, S. 155) der Supplikanten einer Universität wider und sind somit ein wichtiger Indikator für die gesellschaftliche Wirksamkeit der Hochschulen. Swanson hat argumentiert, die universitäre Laufbahn habe den Studenten insbesondere auch in sozialer Hinsicht genutzt, weil Studierende durch die Hochschule Eingang in Klientelnetzwerke fanden, die Kontakte zur Kurie unterhielten, und somit Versorgung mit Pfründen sichern konnten (Swanson 1985, S. 43). Die Rotuli können dafür ein Beispiel bieten. Schwierig ist allerdings der tatsächliche Erfolg der Rotuli auf der Pfründenebene einzuschätzen, da meist die Durchsetzung der Pfründenansprüche in partibus nicht erforscht wurde. Eine Pilotstudie (die auf breiter Quellenbasis zu verifizieren wäre) legt nahe, dass der tatsächliche Erfolg der Rotuli für die einzelnen Petenten als äußerst gering anzusehen ist (Quoten zwischen 5 und 8 %) und dass in den geringen Erfolgsaussichten ein Grund für den Niedergang der Rotuli zu sehen wäre. Dies geschah im Spannungsfeld eines überstrapazierten Einsatzes der Suppliken und einer (auch durch die Universitätsgründungen im Reich bedingten) größer werdenden Anzahl der Supplikanten (Schmutz 1996). Allerdings galten päpstliche Provisionen und besonders Expektanzen als ‚best practice‘ für den Pfründenerwerb, da sie im Vergleich zur lokalen ordentlichen Kollatur oder zu anderen Provisionstypen immerhin größeren Erfolg versprechende Wege zur Pfründe bildeten (Meyer 1986a). Generell wird angenommen, das päpstliche Provisionswesen insgesamt sei im Zuge der schwindenden Bedeutung des Papsttums als internationaler Organisation seit der zweiten Hälfte des 15. Jh.s in die Krise geraten. Die Forschungen von Götz-Rüdiger Tewes zu den päpstlichen Registern seit der Mitte des 15. Jh.s bis zur Reformation und besonders seine Ausführungen zu Frankreich haben allerdings deutlich gemacht, dass auf Konkordaten basierende Regierungssysteme paradoxerweise nicht notwendig im Gegensatz zu einer Intensivierung der administrativen Beziehungen mit der Kurie standen (Tewes 2001). Die kombinierte Analyse von kurialen Registern und lokalen Quellen hinsichtlich des Benefizienerwerbs vor und kurz nach der Einführung von Konkordaten hat bedeutende Erkenntnisse zur Stellung der Universitätsgraduierten im mittelalterlichen Europa geliefert. In den 1980er- und 1990er-Jahren hat insbesondere die deutsche Geschichtswissenschaft in Fallstudien eine Tendenz zur Re-Provinzialisierung bei der Rekrutierung von kirchlichen Amtsträgern nachgewiesen und als Konsequenz des Wiener Konkordats von 1448 verstanden. Diese hinge auch mit der Regionalisierung der Universitäten im Zuge der Neugründungen, etwa im Reich, zusammen. Zum Nachteil der Universitätsangehörigen habe sich im Reich eine Entwicklung hin zu einer Adelskirche vollzogen, was ihre führenden Positionen anging (Meyer 1986b; Schwarz 1993; Hesse 1996). Eine Ausnahme bildeten die Universitätsstifte, die für das akademische Personal eine interne Struktur bildeten und die akademischen Eliten in die lokalen Kontexte einbetteten. Auf lange Sicht betrachtet, wird der Niedergang des päpstlichen Provisionswesens (dem allerdings Tewes’ Forschungen zu den päpstlichen Registern zwischen Ende des 15. und Anfang des 16. Jh.s widersprechen; Tewes, 2001) auch mit einer Verengung der Karriereperspektiven für graduierte Theologen
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im Zusammenhang gebracht. Dementsprechend führte die höhere Frequenz des Universitätsbesuches verhältnismäßig nicht zu einer Steigerung der Zahl von Graduierten in der Theologie (oder anderen höheren Fakultäten) (Miethke 1996). Im Vergleich mit anderen katholischen Gebieten war die Verbindung zwischen Studium und Pfründenwesen in der aristokratischen Reichskirche der frühen Neuzeit erheblich schwächer. Nichtadelige graduierte Säkularkleriker hatten hier weniger Chancen, außerhalb von Universitätsstiften, Diözesanstrukturen bzw. adeligen und fürstlichen Patronagenetzwerken zu reüssieren. Diese Ergebnisse können nicht ohne weiteres auf das gesamte Reich oder das kontinentale Europa insgesamt angewandt werden. Universitäten suchten mit unterschiedlichem Erfolg (und oft erfolglos) intensiv nach Möglichkeiten, die sie umgebenden lokalen und regionalen Benefizialstrukturen bzw. Pfründenpools unter ihre Kontrolle zu bringen. Damit sollte das kompensiert werden, was sie als „Krise der Patronage“ empfanden. Solche Versuche lassen sich die frühe Neuzeit hindurch vermehrt nachweisen. Ein Beispiel für das Reich stellen die Kölner Pfründengnaden im 16. Jh. dar, deren Benefiziaten in den päpstlichen Registern erscheinen. Ähnliche Fälle bieten die ausgeweiteten Nominationsprivilegien, welche Löwen in den burgundischen und habsburgischen Niederlanden erhielt, während die benachbarten Universitäten von Douai und Köln in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s erfolglos danach strebten, sie für ihr Einzugsgebiet zu erlangen (Boute 2010). In Frankreich wurden mit dem Konkordat von Bologna (1516) Nischen für den Pfründenerwerb der Universitäten und Graduierten geschaffen, und zwar durch die privilèges des nominations für die berühmten Universitäten des Königreichs und das privilège des gradués für solche Graduierten, welche die Universitäten verlassen hatten (zur Frühen Neuzeit: Julia 1989). Die Auswirkungen solcher Prärogativen auf die nunmehr deutlich ‚akademisierteren‘ kirchlichen Hierarchien außerhalb des Reichs sind bisher unklar, doch es steht fest, dass die jüngst nachgewiesene fortwährende Vitalität der katholischen Hochschulen in der frühen Neuzeit, was das Gebiet außerhalb des Reichs betrifft, neben anderen Faktoren auch mit der Verknüpfung der Hochschulen mit dem Pfründensystem zusammenhängt (Frijhoff 2005). Im Gegensatz zu der kontinentalen Historiographie, welche die Bedeutung des Konziliarismus hervorhob, hat Swanson in einer stärker ökonomisch orientierten Analyse von einer „crisis of patronage“ im universitären Bereich im spätmittelalterlichen England gesprochen und eine ökonomische Veränderung aufgezeigt, im Zuge derer durch die Pest viele Benefizien für nicht-residierende Kleriker frei wurden, welche an Universitäten in England oder im Ausland studierten (Swanson 1985). Die Patronage-Krise wurde – neben anderen Faktoren – durch eine Laisierung der Studentenschaft gelöst, die mit den abnehmenden Erfolgsaussichten bei dem Benefizienerwerb während eines Universitätsaufenthalts und danach korrespondiert. Die Frage nach der Universitätsfinanzierung durch Benefizien für ihre Angehörigen ist schwer zu beantworten, denn es ist unklar, in welchem Ausmaß individueller Benefizienbesitz vor ca. 1400 eine finanzielle Basis der Universitäten bildete. Die Reaktion der Akademiker auf die Krise bestand jedenfalls im Aufschwung der Kollegiatuniversität
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und der damit einhergehenden Konzentration menschlicher und ökonomischer Ressourcen in den Kollegien als primäre Einheit des akademischen Lebens. Dies führte zur Entstehung einer neuen Ämterhierarchie in der Verwaltung der Kollegien, welche für manchen einen längeren Aufenthalt an den Hochschulen bedingte, und ferner (in weit geringerem Ausmaß und bezüglich einer kleineren Gruppe an Klerikern) zur Einräumung von teils großen Vorrechten hinsichtlich bestimmter Kirchen. Obwohl die Situation in England und die von Swanson benutzten Quellen keineswegs auf den Kontinent übertragen werden können, bietet seine Analyse Anhaltspunkte für die Bedeutung der Verbindung von Benefiziensystem, akademischen Institutionen sowie der Koexistenz und Überschneidung von Hierarchien im ordo academicus auf dem europäischen Kontinent im Hinblick auf den seit dem 16. Jh. einsetzenden Aufstieg der Kollegiatuniversität als primäres Organ höherer Bildung neben der Magisteruniversität mittelalterlicher Prägung. Eine systematische vergleichende Auswertung aller bekannter Supplikenrotuli ist bisher nicht erfolgt (so schon Diener 1986, S. 364; ferner Schmutz 1996). Der forschungsgeschichtliche Überblick legt nahe, dass ausgehend von den Untersuchungen der 1980er und 1990er Jahre noch viel Verifizierungsbedarf besteht. Die vorhandenen Studien zu Rotuli, päpstlichen Registern und anderer für das Benefizienwesen von Akademikern, Graduierten und größerer klerikaler Verbände relevanten Quellen deuten auf regionale Unterschiede hin. Diese gälte es näher zu erforschen, bevor eine Gesamtbeurteilung der Verbindung von Universitäten mit dem päpstlichen Benefizialsystem auf europäischer Ebene vorgenommen werden kann. Die diesbezüglichen Kontinuitäten in der frühen Neuzeit, speziell auf katholischer Seite, wären durch Studien zu ökonomischen Strukturen, Karrieremustern und -erwartungen sowie dem sozialen Status der Universitätsgraduierten in verschiedenen Teilen Europas im Zeitraum zwischen 1400 bis 1600 näher zu erforschen. Die Rotuli sind Produkte eines Kommunikationsprozesses zwischen Universität und Kurie. Als dessen Produkte erlauben sie Rückschlüsse auf eben jenen Prozess (siehe z. B. Hotz 2005a, S. 397), insbesondere, wenn weitere Quellen zu RotulusGesandtschaften an die Kurie vorliegen (Girgensohn 1964, S. 204; Uiblein 1968, S. 349, 30–32; Miethke 2012, S. 216, siehe auch Schmitz Kallenberg 1904). Ferner kann ein Rotulus als Ausdruck des akademischen Rituals verstanden werden, insofern er ein eigens durch die Hochschule zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter spezifischen Bedingungen hervorgebrachtes hierarchisches Selbstabbild darstellt. In dieser Sicht handelt es sich gewissermaßen um das administrative Pendant des akademischen Rituals, das erforscht werden kann, wenn eine a priori Unterscheidung zwischen symbolischer und administrativer Praxis aufgegeben wird. In seinen Arbeiten zur Entstehung der modernen Forschungsuniversität hat William Clark aufgezeigt, wie materielle Praxis und oft triviale Techniken der Bewahrung und Vermittlung von wissenschaftlichem und bürokratischem Wissen das Werden der modernen Forschungsuniversität als Ort einer kumulativen Wissenschaft mitgeprägt hat, die durch gleichrangige Experten durchgeführt wird (Clark 2006). In dieser Perspektive könnten administrative Quellen wie Rotuli oder päpstliche Register zu
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einem besseren Verständnis der Verbindung zwischen dem traditionell juristischhierarchisch geprägten akademischen Ordo und seinen inhaltlichen Verfahren und Zielen beitragen. 4. Bibliographie 4.1 Quellen Battelli, Giulio (1991), Il rotolo di suppliche dello Studio di Roma a Clemente VII antipapa (1378), in: Archivio della Società Romana di storia patria 114, S. 27–56. Courtenay, William J. (2000), The Earliest Oxford Supplication List for Papal Provisions, in: History of Universities 16, S. 1–15. Courtenay, William J. / Goddard, Eric D. (Hrsg.) (2002–2013), Rotuli Parisienses. Supplications to the Pope from the University of Paris, 3 Bde., Leiden/Boston. Denifle, Heinrich (1896), Rotulus ou liste des Professeurs et suppôts de l’université de Louvain demandant des bénéfices au Saint Siège en 1449, in: Analectes pour servir à l’histoire ecclésiastique de la Belgique 26, S. 298–328. Goñi Gaztambide, José (1963), Tres rótulos de la Universidad de Salamanca de 1381, 1389 y 1393, in: Anthologica annua 11, S. 227–336. Goñi Gaztambide, José (1964), Un rótulo de la Universidad de Salamanca de 1392, in: Anthologica annua 12, S. 283–292. Goñi Gaztambide, José (1968), Un rótulo de la Universidad de Lérida de 1393, in: Anthologica annua 16, S. 351–384. Keussen, Hermann (1891), Die Rotuli der Kölner Universität, in: Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 20, S. 1–38. Schmitz Kallenberg, Ludwig (1904), Practica cancelleriae apostolicae saeculi XV. exeuntis. Ein Handbuch für den Verkehr mit der päpstlichen Kanzlei, Münster. Uiblein, Paul (Hrsg.) (1968), Acta facultatis artium universitatis Vindobonensis 1385–1416, Graz u. a. Vulliez, Charles (2002), Autour d’un rotulus adressé par l’Université de Paris à Benoît XII (1335): Le rôle des maîtres ès arts de la nation picarde, in: Mélanges de l’Ecole française de Rome. Moyen Âge 114, S. 359–370. Vulliez, Charles (2003), Un rotulus original de la nation picarde de l’université de Paris au temps du pape Jean XXIII, in: Millet, Hélène (Hrsg.), Suppliques et requêtes. Le gouvernement par la grâce en Occident (XIIe–XVe siècle), Rom, S. 165–173. Winkelmann, Eduard (Hrsg.) (1886), Urkundenbuch der Universität Heidelberg, Bd. 1, Heidelberg.
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Statuten Martin Kintzinger
Begriffserklärung Aus dem Lateinischen statuere (festsetzen, bestimmen) wurde in der Rechtssprache der zur Bezeichnung normativer Setzungen gebildete Terminus statutum entwickelt und seit dem 13. Jh. an den Universitäten angewandt. Er war, semantisch zu constitutio analog, im Rechtsverständnis lokalen und regionalen Rechtsgewohnheiten (consuetudines) näher als dem allgemeinen römischen Recht. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Insbesondere die in einem Prozess der rechtlichen Verselbständigung stehenden Städte, zunächst besonders in Oberitalien, dann auch im nordalpinen Mitteleuropa, praktizierten seit dem 13. Jh. zunehmend den Erlass kommunaler statuta. Sie waren einerseits Ausdruck der Notwendigkeit und Entscheidung, die eigenen, internen Angelegenheiten auf einer rechtsverbindlichen Grundlage organisatorisch, administrativ und institutionell zu normieren. Andererseits machten ihr Erlass und ihre Beachtung die Satzungshoheit der jeweiligen sozialen Ordnung als Rechtskörperschaft (Korporation) sichtbar. In Städten, die die eigene korporative Satzungshoheit zum Erlass von Statuten nutzten, etablierten sich daher bald weitere, unterschiedliche Formationen als satzungsgebende Korporationen, etwa Handwerkerzusammenschlüsse, Vereinigungen von Kaufleuten und Bruderschaften. In diesem Zusammenhang entstanden auch Interessenverbände von Gelehrten unterschiedlicher Disziplinen und schließlich von Lehrenden und/oder Scholaren an den in Städten situierten Schulen, den Voroder Frühformen der Universität (Chittolini 1996, Sp. 73 f.). Die lokale Verortung in einer Stadt bei gleichzeitiger korporativer Unabhängigkeit von der rechtlichen und politischen Ordnung der Stadt – insofern vergleichbar mit kirchlichen Einrichtungen in Städten – blieb ein Kennzeichen der Universitäten. Ihre Selbstbezeichnung und Namengebung in den Universitätsakten, so auch in den Statutenbüchern, erfolgte gewöhnlich über den Begriff universitas studii […], gefolgt vom Namen der Stadt, also […] Erfordensis, Heydelbergensis und entsprechend für die übrigen Städte. Die Anfänge der europäischen Universitätsgeschichte sind eng mit dem Prozess des Erlasses von Statuten durch Korporationen verbunden. Erst nachdem die aus
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den Kathedralschulen exilierten, sogenannten Freien Magister mit ihren Schülern in Paris, die sich seit dem Übergang zum 12. Jh. zunächst ohne feste äußere Form selbst organisiert hatten, in der ersten Hälfte des 13. Jh.s durch bischöfliche und königliche Privilegiengewährung als universitas magistrorum et scolarium und somit als Korporation anerkannt worden waren, bedurften sie geregelter interner Verfahrensformen. Bereits zuvor war es ihren Gemeinschaften zwar möglich gewesen, wie eine Korporation aufzutreten und zu handeln, obwohl sie weder Statuten noch eigenes Siegel besaß (Verger 1993, S. 51). Mit der förmlichen Anerkennung als Korporation war aber eine Satzung auch erforderlich für die Selbstrepräsentation als „privilegierte Körperschaft mit dem Recht auf eigene Statuten und Organe, auf Zulassung durch Immatrikulation, auf Graduierung und eigene Gerichtsbarkeit, auch auf eigenes Vermögen, mit einem Wort, auf eigene Rechtspersönlichkeit“ (Miethke 2004c, S. 75). Die ersten universitären Satzungen fanden ihren institutionellen Rahmen in den bald formulierten Statuten, deren früheste bereits 1215 und in Neufassungen bis 1231 in Paris erlassen wurden. Stets verlief die Entwicklung spezifisch nach den Bedingungen des Einzelfalls: Die Daten für den Beleg einer ersten Statutenfassung oder späterer Überarbeitungen, für die Einrichtung von Ämtern oder die Einführung eines Siegels folgten an den einzelnen Universitäten keinem festen Verlauf und konnten unterschiedlich weit auseinanderliegen. In der ungefähr gleichzeitig aus zuvor etablierten Schulen des Rechts und der Schreibkunst entstandenen universitas scolarium in Bologna war der Übergang wegen der bereits bestehenden und weitergeführten Organisationsformen fließender und erforderte die Einrichtung von Statuten offenbar nicht mit gleicher Dringlichkeit. Die ersten Bologneser Statuten wurden 1251 erlassen (Wolgast 2002, S. 355). Hingegen sind durch externe Zuweisung verordnete Statuten schon erheblich früher belegt, so diejenigen Kaiser Friedrichs II. für die Medizinschulen von Salerno 1231, die allerdings dadurch keine Rechtsunabhängigkeit erhielt, und Montpellier (erstmals bereits 1130 bezeugt), dort verbunden mit dem Status als Medizinuniversität (Verger 1993, S. 62). Verantwortlich für Satzungsentscheidungen innerhalb der universitates waren die je nach Verfassungsform aus Magistern und/oder Scholaren rekrutierten Konvente (congregationes generales), denen meist der Rektor vorstand. Der Pedell lud die Magistri zu deren Sitzungen. Die Tagesordnungspunkte waren zuvor von den Nationen und Fakultäten dem Rektor vorgeschlagen worden und wurden von diesem an den Konvent vermittelt. Entsprechend debattierten Nationen und Fakultäten über Beschlussvorlagen, insbesondere zu beantragten Satzungsänderungen, und übermittelten ihre Voten an den Rektor. Er trug sie dem Konvent vor, der dann eine Gesamtbeschlusslage herstellte, die der Rektor bekanntgab und die durch die Pedelle in der Universität publiziert wurde (Gieysztor 1993, S. 122 f.). Obwohl der Rektor bei diesem Verfahren eher eine ausführende Funktion hatte, musste er darauf achten, die grundlegenden und allgemeinen, über die Bedarfe der Disziplinen, Nationen und Fakultäten hinausreichenden Belange in den Statuten angemessen abgebildet zu sehen. Von dem persönlichen Engagement der Rektoren hing oft die Solidität
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der Statutenarbeit ab. Satzungsbeschlüsse sind, ähnlich wie Rektorwahlen, zu den herausragenden und wichtigsten Ereignissen innerhalb des regulären Universitätsbetriebes gezählt worden (Miethke 2004c, S. 48 f.). Nicht selten waren aktuelle Mängelfeststellungen oder die notwendige Schlichtung zwischen Streitparteien Anlässe für den Erlass oder die Überarbeitung von Statuten. Unterschiedliche Konfliktpotentiale, immer wieder auch die Konkurrenz unter den Lehrenden um Hörergelder der Scholaren, erforderten eine Regelvorgabe zur Streitbeilegung und -vermeidung. Kritik von Scholaren oder anderen Lehrenden gegenüber Nachlässigkeiten einzelner magistri oder doctores in der Vorlesungspraxis oder persönlichen Vorlieben auf Kosten des erwartbaren Anspruchsniveaus führten vielfach zu Nachbesserungen der curricularen Vorschriften oder einer Einführung neuer Regeln in den Statuten. Heidelberg und Perugia nahmen im 14. Jh. in die Statuten einen Passus auf, der die Lehrenden verpflichtete, während ihrer Vorlesungen laut und verständlich vorzutragen und die Autoritätentexte so zu lehren, dass die Studenten (v. a. jene, die sich nicht die Bücher zum Mitlesen leisten konnten) sie verstehen könnten. Dass hier eine Klage der Studenten gegen Nachlässigkeiten des Lehrbetriebs im Hintergrund stand, ist evident (Miethke 2004g, S. 465 f.). Im Einzelnen konnte man bei Revisionen älteren Vorlagen von Statuten anderer Universitäten folgen und war frei in deren funktionaler Zusammenführung. So übernahm man bei der Gründung der Universitäten in Wien und Köln Pariser und Bologneser Vorlagen (letztere in der jüngsten Fassung von 1365) gleichermaßen, ergänzte aber eigenständig einen dort unbekannten Passus, der den Erfahrungen aus der eigenen Zeit geschuldet war. Aus Paris wurde berichtet, dass in Vorlesungen zu den Sentenzenkommentaren (Kommentar) regelwidrig nicht mehr ein Bibelvers, sondern einzelne Wörter oder Silben ausgelegt wurden. Dies sollte nach dem Wortlaut der Statuten an den neu gegründeten Universitäten nicht zulässig sein. Sogar dogmatische Lehrstreitigkeiten oder Häresieverdacht konnten zu Eingriffen in das Lehrprogramm führen, die wiederum in den Statuten verankert wurden. Bei der Einrichtung der theologischen Fakultät in Bologna 1364 wurde, in Erinnerung an eine knapp 20 Jahre zuvor erfolgte Verurteilung bestimmter Lehren in Paris, den Statuten eine Liste der damals inkriminierten Thesen und ein Verbot ungewohnter Lehren oder eigenwilliger Positionen eingefügt. Bei einer zwei Jahre später erfolgten Revision der Pariser Statuten wurde die Vermischung logischer und theologischer Argumente – seit der ersten Verurteilung von 1277 ein grundsätzlicher Vorwurf (Zensur) – untersagt (Asztalos 1993, S. 379–381). Vorrangig bezog man sich dabei auf Vorlesungen über die Sentenzenkommentare des Petrus Lombardus, eines der wichtigsten Autoritätenwerke in der theologischen Wissenschaft der Zeit. Von den 15 ausführlich untergliederten Artikeln der Statuten der theologischen Fakultät der Universität Erfurt von 1412 bezogen sich nur zwei auf die Vorlesungsinhalte, einer (Artikel 8) auf den cursus Bibliae, der zweite (Artikel 9) auf die lectura Sententiarum (Meier 1951). Methodisch war das Anliegen, philosophisch-artistische Zugänge und damit insbesondere aristotelisch-logische Syllogismen von der theologischen Lehre fernzuhalten. So war es bereits 1277 versucht worden, doch der mangelnde Erfolg scheint
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eine nachdrückliche Wiederholung nahegelegt zu haben, die man jetzt in der disziplinären Einschärfung durch die Statuten realisierte. Der normative Anspruch der Statutentexte gerade in curricularen Kontexten und insbesondere in der theologischen Fakultät zeigt hier zugleich ihre deskriptive Aussagefähigkeit: Sie spiegeln das Ringen um die angemessene, legitime und konsensfähige wissenschaftliche Methode. Weil sie, analog zur Glossierungspraxis bei der Bearbeitung wissenschaftlicher Texte, ein veränderndes Fortschreiben der gegebenen Textbestände und der durch sie beschriebenen institutionellen Ordnung bedeuteten, wurden Satzungseinführungen und -änderungen als reformationes verstanden und bezeichnet (Rüegg 1993b, S. 45). Sie resultierten in aller Regel aus den Bedürfnissen der universitas selbst und wurden von ihren Mitgliedern vorgeschlagen und formuliert. Aber Statutenänderungen konnten auch von jenen übergeordneten Instanzen (namentlich der Papstkurie und dem Königshof ) gefordert und durchgesetzt werden, die die universitas durch ihre Privilegienerteilung erst zur Korporation hatten werden lassen, ihr also auch die Satzungshoheit verliehen hatten. Im Spätmittelalter konnte in päpstlichen und landesherrlichen Privilegierungen ausdrücklich die Kompetenz der neu einzurichtenden Universität zum Erlass von Statuten erwähnt werden (Miethke 2004a, S. 5; Uiblein 1999, S. 79 f.). Es konnte allerdings auch eine Besserung der rechtlichen Freiheiten damit verbunden sein, so bereits 1255 in Paris, als von päpstlicher Seite die Revision bestimmter Statutenartikel gefordert wurde, um den seitens der Kurie (ihrer theologischen Kompetenz wegen) geschätzten Universitätsgelehrten das Streikrecht zu gewähren und gleichzeitig die Verfahren für die Kooptation in den Lehrkörper und die Zuständigkeit des Kanzlers genauer zu regeln. Im frühen 13. Jh. wurde seitens königlicher Erlasse als Statutenbestandteil in Paris, Montpellier und Cambridge verfügt (und in Cambridge 1250 in die Statuten übernommen), dass die Universität die Gerichtshoheit bei allen Prozessen unter Beteiligung ihrer Angehörigen beanspruchen könne. Die Scholaren sollten gezwungen werden, sich innerhalb von zwei Wochen nach Aufnahme ihres Studiums in die Matrikel eines Magisters einzuschreiben, und die lokale städtische Obrigkeit sollte befugt sein, Säumige festzusetzen. Das politische Interesse der „Behörden an Disziplin und Tätigkeiten“ der Universität und ihrer Angehörigen mochte ambivalent zu beurteilen sein (Verger 1993, S. 95 f.). Die erfolgreiche Durchsetzung derartigen Interesses zeigt in jedem Fall die trotz des korporativen Charakters und damit der verbrieften rechtlichen Eigenständigkeit der Universität nach wie vor gegebenen Eingriffsmöglichkeiten der übergeordneten Instanzen. Hierbei sind, je später desto umfangreicher, auch Gründer, Stifter und Mäzene wirksam gewesen, die ihrerseits mitunter den von ihnen gestifteten oder geförderten Einrichtungen eigene Statuten vorgaben. Die Universitäten blieben in ihren äußeren Umweltbeziehungen auf gesellschaftliche und herrschaftliche Machtfaktoren bezogen und profitierten von deren Unterstützung oder auch mäzenatischer Förderung. Schließlich wird an diesen Kontexten evident, dass die Überlieferungsgattung der Statuten ein erstrangiges Zeugnis für die institutionelle Geschichte der Universitäten ist.
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Wie bei den ersten, fundamentalen Privilegien zur Bestätigung der universitates in Paris und Bologna im frühen 13. Jh. und bei Gründungsprivilegien späterer Universitäten, die noch im selben Jh. einsetzten, wurden mitunter auch die ersten, grundlegenden Statuten von einer übergeordneten Instanz, meist der päpstlichen Kurie, erlassen. Zumindest implizit oder sogar ausdrücklich war damit die Erwartung verbunden, dass die Universität sich der Fortschreibung ihrer Statuten und der Beachtung der damit selbst gesetzten Normen verpflichten würde. Wie substantiell die Bedeutung der Statuten für die Identität der Korporation verstanden wurde, zeigt sich beispielsweise in den eidlichen Selbstverpflichtungen im Rahmen der Doktorpromotion: nicht zum Schaden der Universität zu handeln, den Rektor zu achten, Wissen, um die Interna der Gremiensitzungen geheim zu halten – und die geltenden Statuten zu beachten. Jeder, der sich, auch als bereits andernorts Graduierter, etwa über eine Inanspruchnahme der licentia ubique docendi, in die Matrikel einer Universität eintragen wollte, hatte den Eid auf geltende Statuten und Ordnungen abzulegen (Miethke 2004c, S. 52; Miethke 2004f, S. 438). Einzelfälle, in denen jemand bei dieser Gelegenheit versuchte, sich den vor Ort geltenden, satzungsgemäßen Bedingungen zu entziehen oder diese durch Variation im Wortlaut des (nach) gesprochenen Eides abzuschwächen, erregten daher Aufsehen: Wer der Korporation angehören wollte, hatte deren institutionelle Identität anzuerkennen, und diese hatte in den Statuten Form gewonnen. Mehrheitlich wurden aber schon die ersten und v. a. durchweg die überarbeiteten Versionen der Statuten innerhalb der Universitäten als Ordnungen des internen Verfahrens formuliert und publiziert. Sie regelten die „Studienprogramme, Curricula, Examina, […] Löhne für Magister und Pedelle, […] Fürsorgeeinrichtungen, Universitätsämter, [die] studentische […] Disziplin, Bekleidung und Wohnung“ (Gieysztor 1993, S. 113). Gerade hinsichtlich des Lehrprogrammes und der Ausstattung mit Texten der in den Vorlesungen vorgetragenen und interpretierten Autoritätenwerke bezeugen die Statuten eine situationsbedingte Aktualisierung. Beispielsweise war im 14. und 15. Jh. wegen der großen Nachfrage das zuvor bewährte System der pecia – die Verteilung der Abschrift ganzer Texte, die als Vorlagen von einem Universitätsbuchhändler (stationarius) besorgt worden waren, auf verschiedene Kopisten – häufig überfordert (Kolleghefte). Man ging dann dazu über, Traktate und Quaestionen (analog zu den auch außeruniversitär üblichen Florienlegien) zusammenzustellen, die geschlossen den Kopisten diktiert wurden. Dieses für die Praxis der universitären Wissensvermittlung wegweisende Verfahren wurde programmatisch in den Statuten (so in Prag, Wien, Heidelberg und Erfurt) festgeschrieben. In Bologna legten die Statuten fest, dass die Lehrenden nach ihren Vorlesungen aus Mitschriften organisierte, systematisch geordnete Textfassungen autorisieren und ihrerseits an den Pedell als Vorlage für die Arbeit von Kopisten zu übergeben hatten (Miethke 2004d, S. 203 f.; Miethke 2004g, S. 469 f., 478 f.). Statuten stellen insofern eine erstrangige Quelle für Prozesse erfahrungsbedingter Anpassung von Verfahrensformen innerhalb der universitären Selbstorganisation dar. Allerdings hat nicht selten der normative gegenüber dem deskriptiven Charakter gerade bei den
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curricularen Vorgaben dominiert. Zeitgenössische Klagen belegen, dass die in den Statuten programmatisch genannten Lehrinhalte und Autoritätentexte nicht immer auch tatsächlich in vollem Umfang gelehrt worden sind (Siraisi 1993, S. 336). Als Rechtskörperschaft anerkannt (Paris und Bologna) oder gegründet, waren die Universitäten des Mittelalters „eine juristische Person, berechtigt, rechtskräftige Akte zu vollziehen und zu besiegeln, vor Gericht im eigenen Namen aufzutreten, sich Satzungen zu geben und sie ihren Mitgliedern gegenüber durchzusetzen“ (Verger 1993, S. 51). Diese Rechtsstellung galt nicht nur für die unversitas als Ganzes, sondern auch für ihre organisatorischen Einheiten, die Fakultäten und nationes. Grundsätzlich konnten auch sie eigene Statuten für ihre Belange ausformen, und es lag an den internen Kräfteverhältnissen innerhalb der universitas, ob, wann und inwieweit sie dies durchzusetzen vermochten. Beschlussfassung und Ausgestaltung der Fakultätsstatuten oblag den Lehrenden und dem jeweiligen Dekan; dessen Wahl war einer der wesentlichen Gegenstände der Statutenartikel. Die Einführung neuer und Überarbeitung vorhandener Statuten konnte, wie in Wien 1388/89, ein umfangreicher Akt sein, der mit Hilfe von Deputierten aller betroffenen Fakultäten und der notwendigen Approbation durch die Gesamtuniversität aufwendig gestaltet war (Uiblein 1999, S. 83 f.). Die zunächst herausragend starke Stellung der Artes-Fakultät an vielen Universitäten fand auch darin ihren Ausdruck, dass die Artisten über eigene Statuten verfügten, die oberen Fakultäten aber noch nicht gleichziehen konnten und auf Statuten wie Dekanate verzichten mussten. Während in Paris die oberen Fakultäten bald das eigene Satzungsrecht durchsetzen konnten, blieben in Oxford die Verhältnisse noch längere Zeit bestehen, weshalb in den Statuten der Artistenfakultät 1253 geregelt wurde, dass nur ein magister artium, der dort bereits Lehrerfahrungen vorweisen konnte, auch Magister der Theologie werden könne (Aszatalos 1993, S. 365). Diese Problematik war insbesondere bei den ersten Universitäten wirksam, während die späteren Gründungsuniversitäten mit einem programmatischen Satzungsbestand nach ihrer Einrichtung (durch den Gründer vorgegeben oder selbst erlassen) ausgestattet waren (Miethke 2004a, S. 30). Überall aber blieb das Verhältnis zwischen den Fakultäten von Spannungen belastet, die sich auch in der Abfolge und Intensität des Erlasses und der Modifikation von Statuten zeigen konnten. In Köln entstanden die Statuten der universitas 1392, vier Jahre nach dem grundlegenden päpstlichen Privileg und drei Jahre nach Aufnahme des Vorlesungsbetriebes, diejenigen der Medizinischen Fakultät bereits im Folgejahr, der übrigen Fakultäten, der Juristen und Theologen, auch der Artisten, aber erst weitere fünf Jahre später. Jetzt wurde mehr Mühe in die Gestaltung des Statutentextes investiert als einst bei den Medizinern: Über die besondere Bedeutung der von ihnen verliehenen Grade reflektierten die Juristen, und die Theologen betonten ihre Entsprechung zur Universität Paris. Während die Statuten der juristischen Fakultät in 13 und der theologischen in 17 Kapitel unterteilt war, hatten die Artisten ihre Statuten in 31 Kapiteln formuliert. In Köln und wenig später auch in Wien erhielten selbst die Bursen eigene Statuten (Brincken 1989, S. 396, 400, 409; Uiblein 1999, S. 99; Tuisl 2014, S. 55).
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Nach Anfängen im 13. Jh. (in Oxford 1214, in Montpellier 1220, in Cambridge seit 1236 und bis 1254) (Verger 1993, S. 62; Miethke 2004d, S. 213), entstanden im 14. und noch 15. Jh. vermehrt neue Statuten. Sie wurden einerseits im Zusammenhang von Neugründungen erlassen, andererseits wurden sie bei bestehenden Universitäten aus jeweils aktuellen Anlässen veröffentlicht, so in Toulouse seit 1309 und in mehreren Überarbeitungsschritten bis 1329, in Oxford als Neufassung der alten Statuten 1313, in Montpellier ebenso 1339 und in Salamanca, dem die ersten Statuten von Kaiser Friedrich II. 1220 zugewiesen worden waren, erneut 1411. Unterdessen mussten die frühen Bologneser Statuten revidiert werden, was 1317 und wieder 1432 geschah (Gieysztor 1993, S. 113). Die Einführung von Universitätssiegeln ist als analoger Prozess zur Etablierung der Statuten zu sehen, beides die wohl sichtbarsten Ausdrucksformen der rechtlichen Eigenständigkeit der universitas als Korporation (Insignien). Auch wenn die Unterscheidung von Universitäten nach Pariser oder Bologneser Modell impliziert, dass die dortigen Verfahrensformen der Selbstorganisation übernommen worden sind und dies grundsätzlich auch für die satzungsmäßigen Regelungen, also die Statuten, galt, so war doch der primäre Bezug der Statuten einer Universität nicht auf vorgängige Modellbildungen bezogen, sondern auf die funktionalen Bedingungen des aktuellen, lokalen Einzelfalls (Gieystor 1993, S. 113 f., 121) und die Nutzung andernorts bewährter Erfahrungen. Daraus begründet sich die v. a. in institutioneller Logik stehende, pragmatische Entscheidung zur Übernahme bewährter Verfahrensformen anderer Universitäten und entsprechend deren Satzungstexten. Neugründungen im 15. Jh. wählten den legitimierenden topischen Verweis auf die Pariser oder Bologneser Tradition und nutzten gleichzeitig die Satzungsvorlagen aus „Prag, Heidelberg oder Erfurt, Köln oder Leipzig […], deren Statuten sie sich dann auch über ganze Passagen zu eigen machten“ (Miethke 2004c, S. 179). Neben den curricularen, prüfungs- und examensbezogenen Regelungen sowie dienstrechtlichen Verfügungen standen immer auch disziplinarrechtliche Einhegungen des studentischen Unruhepotentials im Focus der Statuten. Der Regelungsbedarf war hier offenbar an älteren Juristenuniversitäten im südlichen Europa geringer als an jüngeren Gründungen in Mitteleuropa, in Paris, Oxford oder Cambridge geringer als in den späten Gründungen im römisch-deutschen Reich. Insbesondere dort (vergleichbar allenfalls in den Statutenrevisionen von Paris 1452 und Oxford 1489) wurde die studentische Disziplin vorzugsweise zentral in der universitas geregelt und in den Statuten normiert: „Die allgemeinen Statuten setzten Normen für alle immatrikulierten Angehörigen der Universität vom Doktor der Theologie bis zum Anfänger in der Grammatik“ (Schwinges 1993b, S. 207). Im späteren Mittelalter konnte die durch die Statuten vorgegebene administrative Organisation der Universitäten im Ganzen als bewährt gelten. Hierzu gehörte eine Aufzählung und funktionale Definition der Ämter und die Bestimmung deren administrativer und rechtlicher Kompetenzen wie der Gerichtszuständigkeiten, der Verfahrensformen und Abstimmungsmodi, auch der Besoldungs- und Honorarordnung. Weiterhin vornehmlich lokale Verfahrensformen beschreibend und normierend, spiegelt die systematische Gefügtheit, hohe Detailgenauigkeit und tendenzielle
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Vollständigkeit der Realitätserfassung in den Statutenartikeln gleichzeitig den allgemein üblich werdenden Praxisbezug des römischen Rechts wider. Vielerorts blieben die Statuten in ihren fundamentalen Teilen bis in die frühe Neuzeit hinein bestehen und erfuhren dann neue Akzentuierungen unter dem verstärkten Zugriff der landesherrlichen, geistlichen wie weltlichen Territorialgewalten. Die spätmittelalterlichen Statutenreformen galten zunehmend weniger Grundsatz-, als detaillierten Verfahrensfragen, auch Lehrpläne und Lehrinhalte betreffend, die Immatrikulationsgebühren und -eide, ein Mindestalter für Magisterpromotionen, die Zulassung auswärts Graduierter, „Studienordnungen, sowie die Prüfungs- und Promotionsordnungen mit den Bestimmungen für die Ablegung der Bakkalariatsund Lizentiatsprüfungen und der Graduierung zum Magister an der Artesfakultät und zum Doktor an den drei oberen Fakultäten“ (Uiblein 1999, S. 84). 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Als rechtssetzende Texte normiert und funktional als Disziplinarordnungen wirkend, waren die Statuten der universitates wie der Fakultäten in gelehrter lateinischer Diktion gehalten. Für ihren Aufbau gab es keine feste Vorgabe jenseits des für derartige normative Texte Üblichen. Art und Ausführung können vielfach als Reflex auf den Anlass gesehen werden, der zum Erlass oder zur Überarbeitung der betreffenden Ordnung oder einzelner Artikel geführt hat. Die Statuten der medizinischen Fakultät der Universität Wien, nach deren Gründung im Jahr 1365 erst 1389 erlassen, beginnen mit einem ausführliche Prooemium über Wert und Nutzen der gelehrten Medizin. Der erste titulus in der Abfolge der Statutenartikel ist der Durchführungspraxis von Vorlesungen und Disputationen gewidmet, die folgenden gelten den Graduierungsverfahren und den Regeln zur Aufnahme andernorts Graduierter. Erst titulus sechs beschreibt die Wahl des Dekans und dessen Aufgaben (De electione decani et eius officio) (Tuisl 2014). Nur in einer wenig späteren Abschrift überliefert, verrät die gewählte Ordnung der Statuten nicht, weshalb diese Reihenfolge der insgesamt sieben tituli bevorzugt und nicht etwa mit der Ämterordnung begonnen wurde. Vermutlich haben aktuelle Diskussionen über die interne Gewichtung zwischen den Fakultäten den Ausschlag dafür gegeben. Die aufwendige Legitimation der akademischen Medizin mag noch eine Folge des tiefgreifenden Zweifels in der Öffentlichkeit an der Wirksamkeit gelehrten medizinischen Wissens nach der Großen Pest gewesen sein. Es gehört allerdings auch zum üblichen Verfahren, dass die Entstehungshintergründe für eine Statutenformulierung oder -revision im Text selbst nicht mitgeteilt werden. Hingegen wurden die Diskussionen in der satzungsgebenden Versammlung oder den Fakultätsversammlungen mitunter in eigenen Akten verzeichnet und verraten dann regen und durchaus kontroversen Meinungsaustausch (Akten). Als knapp einhundert Jahre später und zwei Jahre nach der Gründung, 1475, die Generalstatuten der Universität Trier in Kraft traten, inserierte man dem Statu-
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tenbuch ein Notariatsinstrument, das über den Prozess der Entstehung der Statuten genauere Auskunft gibt. Es war zu diesem Zweck ein eigener Ausschuss gebildet worden, der nutzbare Vorlagen zusammenstellte und einen Entwurf erarbeitete, der allen Lehrenden vorgelegt und in den Fakultäten einzeln geprüft und erwogen wurde. Der endgültige Beschluss durch Approbation seitens einer Konferenz aller Lehrenden und Ausfertigung des Textes einschließlich des erwähnten Notariatsinstrumentes stellte die neue Rechtssituation her. Zuvor hatte die Stadt die auf den Erzbischof ausgestellten päpstlichen Gründungsprivilegien von diesem erworben und damit die Beteiligung der Kirche am Gründungsakt praktisch umgangen. Dem Wortlaut der Statuten nach zu urteilen, orientierten sich diese an der Ordnung der bestehenden Universitäten Köln und Erfurt, wohl absichtsvoll hingegen nicht an Heidelberg oder Ingolstadt. Selbst in ihrem formalen Aufbau folgen die Trierer Statuten dem Erfurter Muster. Offenbar hatte man besonderen Wert auf die Beteiligung aller lehrenden Universitätsangehörigen gelegt, dabei die Satzungsentscheidung aber ausdrücklich als unabhängigen Akt der Universität inszeniert, ohne Mitwirkung des Territorialherrn oder der Stadt: „die Universität hat offenbar von Anfang an ihren Anspruch auf unbeschränkte Statutenkompetenz durchsetzen können“ (Duchhardt 1978, S. 132 f.). Eine sorgfältige Planung, Vorbereitung und Umsetzung des Satzungserlasses ist hier ebenso erfolgt wie zuvor in Wien. Auch in Trier wirkten konkrete Handlungsabsichten und ein komplexer Interessenausgleich zwischen den Beteiligten entscheidend ein. An beiden Orten war der Lehrbetrieb aufgenommen worden, bevor die Statuten erlassen wurden. Anders als in Wien, ging es in Trier aber nicht darum, einer inzwischen bewährten Organisation in Absetzung von anderen internen Einheiten und mit Legitimationsabsicht gegenüber der Öffentlichkeit eine formale institutionelle Ordnung zuzuschreiben. Bei der Trierer Statutengebung stand die grundlegende Absicht der Einrichtung einer Statutenordnung für die jüngst installierte Universitätsgründung im Mittelpunkt. Die Textgestalt der Statuten setzt diese Bedingungen konsequent um (Duchhardt 1978, S. 160–189): Am Beginn finden sich Zitate aus der Heiligen Schrift, dem Neuen Testament, auf der ersten Seite des erhaltenen Manuskripts (fol. 1r) durch das für die Worttheologie und Verkündigung und damit auch für die gelehrte Wissensvermittlung insgesamt aussagekräftige „In principio erat verbum […]“ (Joh 1,1–6). Nach Zitaten aus den Anfängen der Evangelien nach Matthäus und Lukas folgt als erster rechtsrelevanter Satz die Eidformel für die Universitätsangehörigen: „Ego N. juro et promitto hec lecta velle servare, sic me Deus adiuvet et hec sancta eius ewangelia.“ Auf der Verso-Seite des ersten Blattes beginnt dann der Statutentext mit dem „Prologus statutorum alme universitatis Treverensis“. Er hält fest, welches repräsentative Gremium die folgenden Statuten zur künftigen inneren Ordnung und Selbstverpflichtung der Mitglieder der universitas beschlossen habe: „[…] rector studii pro tempore, quatuor facultatem decani, doctores et magistri […] per totam universitatem de communi omnium consensu deputati […] pro studii nostri […] et omnium utilitate ediderunt statuta […]. Volentes et decernentes, ut hiis statutis doctores et
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magistri, baccalaurii et studentes [nach anderer Lesart magistri, doctores et scolares] in scolis et actibus publicis et extra decetero utantur.“ Sodann werden die 13 rubra statutorum aufgeführt und im Einzelnen ausgeführt: Der Inkorporationseid für neue Mitglieder der universitas, die Wahl des Rektors, Amt und Gewalt des Rektors, Immatrikulation, Amt der Fakultätsvertreter im Rektorat, Ordnung der Fakultäten und Graduierungen, Amt der Bursenvorsteher, Verhalten der Studenten, Strafen bei Ordnungswidrigkeiten, Pedelle und Universitätsdiener, Messfeiern an der Universität, Präbenden von Universitätsangehörigen (gegenüber der Rubrikenübersicht eingeschoben, weshalb sich die weitere Zählung verändert), Rechtsvertretung und Konservatoren, Eid der Anwälte, Prokuratoren, Notare und Boten. In einer stringenten Reihenfolge werden die institutionellen Organisationseinheiten und -elemente der universitas aufgeführt und in konzentrierter Diktion definiert. Die Trierer Statuten ergeben damit die Textform einer Verfassungsordnung für die Universität, die die interne institutionelle Struktur verbindlich, normativ und rechtswirksam vorgibt. Begriffe und Beschreibungen werden im zeitüblichen gelehrten Duktus und analog zu Rechtstexten, Ordnungen und Statuten anderer Körperschaften formuliert und gefügt. Anders als an anderen Universitäten hatte man in Trier darauf verzichtet, den legitimatorischen Hinweis auf das (faktisch zugrundeliegende) Pariser Modell zu erwähnen, Angaben über Bedeutung und Funktion der Wissenschaft oder der Lehre mitzuteilen und v. a. curriculare Vorschriften zu Inhalt, Methode und Struktur der Lehrpläne und Prüfungsordnungen zu erwähnen. Dass Statuten als Gattung rechtssetzender Texte und normative Ordnungsvorgabe zu jeder funktionierenden Universität gehören, scheint selbstverständlich. In der zeitgenössischen Realität ist aber ganz offenbar der Konnex zwischen Institutionalität und Rechtsordnung nicht derart obligat verstanden worden. So sind hinsichtlich des Zeitraumes zwischen der Privilegierung und Einrichtung einer universitas mit der Aufnahme des Lehrbetriebes und dem Erlass von Statuten die Unterschiede zwischen den Universitäten besonders groß: In Ingolstadt waren die Statuten nur einen Monat nach Universitätseröffnung 1472 fertiggestellt, in Mainz sieben Jahre später, 1484. In Erfurt wurden die Statuten der Artistenfakultät 20 Jahre nach der Gründung, 1412, erlassen. Die situativen und lokalen Bedingungen entschieden stets über das genaue Vorgehen, ein regelhaftes oder auch nur mehrheitlich beachtetes Verfahren ist nicht erkennbar, und überall konnte offenbar der Lehrbetrieb aufgenommen und erfolgreich betrieben werden, auch ohne dass die institutionelle Ordnung der Ämter, Zuständigkeiten, Abläufe, Methoden und Inhalte schriftlich fixiert worden wären. Die Statuten der Universität Mainz von 1484 haben partiell intensiv aus den neun Jahre zuvor erlassenen Trierer Statuten geschöpft, so insbesondere bei dem komplexen Verfahren der Rektoratswahl (Duchhardt 1977). In Aufbau und Struktur sind die Mainzer Statuten aber erheblich umfangreicher und mit insgesamt 71 Artikeln wesentlich ausführlicher gehalten als die Trierer und geben gleich zu Beginn dem Text einen gattungsspezifischen Begriff: „[…] publicum librum, qui statutorum universitatis suarumque facultatum intitulatus sit […]“ (Duchhardt 1977, S. 37–65). Neben Wahl und Kompetenzen des Rektors und den übrigen universitären Titeln und Äm-
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tern, von den Dekanen bis zu den Boten, werden Finanzierungs-, Gebühren- und Vergütungsfragen angesprochen, Disziplinar- und Strafangelegenheiten. In Artikel 62 wird die interne Lehrlizenz definiert: „[…] ut nullus doctorum, licentiatorum, magistrorum aut cuiuscunque alterius status in aliqua professione seu facultate legere, exercere aut disputare presumat, nisi prius universitati nostre sit inmatriculatus et in eam facultatem, in qua legere, exercere vel disputare intendit, sit receptus, a rectore desuper licenciam obtinuerit.“ Wie sehr die intendierte Normativität der Statuten im Einzelfall funktional und bedarfsorientiert ist, zeigen besondere Realisierungsfelder wie etwa die Statuten der deutschen Nation an der Universität Bologna im Spätmittelalter. Aus der zweiten Hälfte der 1340er Jahre ist eine Fassung erhalten, die sich in den ersten acht ihrer insgesamt 34 Artikel mit dem Amt des Prokurators befasst. Als für die interne Politik der natio germanica gegenüber anderen institutionellen Elementen der universitas wie auch für ihre Außendarstellung entscheidender Amtsträger war die detaillierte Regelung von dessen Wahl, Zuständigkeit und Kompetenzen offenbar von zentraler Bedeutung und wurde daher vorrangig behandelt (Colliva 1975, S. 99–123). Analog war bereits ein Jh. zuvor in Cambridge verfahren worden. 1209 nach der Abspaltung von der Universität Oxford entstanden, erhielt die neue Universität ihre frühesten Statuten erst 1236. Drei Jahre nach einer bedeutenden päpstlichen Privilegienverleihung kann es nicht überraschen, dass der erste der insgesamt 13 Artikel der Statuten von der Wahl und Amtsgewalt (potestas) des Kanzlers handelt, mit der Begründung „Quoniam difficile est universitatem consentire“. Erst im Anschluss wird von der creatio und dem habitus magistrorum und erst danach auch von dem officium rectorum gehandelt (Skånland 1965). Durch den zuständigen Bischof von Ely hatte die Universität zeitgleich das Recht erhalten, ihren Kanzler (als Angehörigen der theologischen Fakultät) selbst zu wählen. Er übte sein Leitungsrecht innerhalb der Universität selbst aus und delegierte es zunächst nicht an den Rektor. Entsprechend wurde sein Amt als dasjenige des rechtlichen und faktischen Leiters und Repräsentanten der Universität vorrangig in den Statuten beschrieben. Etwa gleichzeitig, 1231, hatten die scolares des römischen und des kanonischen Rechts in Orléans das früheste päpstliche Privileg erhalten. Als die dortige universitas 1307 ihre ersten Statuten erlassen konnte, präsentierte sie sich als institutionell organisiert. Als Aussteller zeichneten rector, omnes doctores ac omnes procuratores einmütig und mit der Erwartung, dass die erlassenen Statuten auch ihre Nachfolger binden würden (Fournier, Bd. 1 1970). Auch hier waren die einschlägigen Zitate aus allen synoptischen Evangelien an den Anfang gestellt, beginnend mit „In principio erat verbum“ (Joh 1,1). Die Statutenartikel setzen mit der Eidformel für den Rektor ein, dem Immatrikulationseid sowie den Eidformeln für Licentiaten, Baccalare, Prokuratoren, Pedelle und Stationarii. Nach dem detaillierten Jahresfestkalender folgen in 32 Artikeln Ausführungsbestimmungen zu den Ämtern, zu den Bedingungen für die Lehrerlaubnis, die Form der Versammlungen, zu Vertretungs- und Absenzregelungen sowie der Geheimhaltungspflicht.
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1497 wurde in Bologna eine neue Fassung der Statuten erarbeitet. Jetzt war erst am Ende der insgesamt 30 Artikel, ab Artikel 26, die Rede von Wahl, Amt und Insignien der Prokuratoren. Inzwischen schienen die Verhältnisse konsolidiert worden zu sein, so dass die Statuten nun in der Gestalt einer fundamentalen Verfassungsordnung gefügt sind. Entsprechend beginnt der Statutentext, ähnlich dem erwähnten Trierer Beispiel 20 Jahre zuvor, mit Zitaten aus Evangelieninitien, an erster Stelle auch hier das vielzitierte „In principio erat verbum“. Im ersten Artikel wird definiert, welche Personen zu der natio gehörten, im zweiten Artikel von der Beachtung der „statut[a] scolasticorum Germanice Nationis studii bononiensis“, im dritten von dem Eid der Angehörigen und im vierten von jenem der neu Einzuschreibenden gehandelt. Die Feste im Jahreskalender der natio werden sodann behandelt, disziplinarische Fragen, die beschließenden Versammlungen, die Aufnahme Adeliger, die Redaktion der Statuten und der Antrag auf Zulassung zur Doktorpromotion. Auch in dieser Statutenredaktion finden sich Passus, die offenbar aktuellen Vorkommnissen und Mängelfeststellungen geschuldet sind. So wird mit dem aus dem kanonischen Recht abgeleiteten Lehrsatz „Quia quod omnes tangit, ab omnibus approbari debet“ in Artikel 13, der Ordnung der Bologneser universitas scolarium folgend, die persönliche Teilnahmemöglichkeit jedes scolaris an allen Versammlungen (convocationes, conventus) angemahnt. Ebenso auffällig ist die Widmung des 16. Artikels, „De editione et correctione et mutatione statutorum […]“, der erinnert, dass die Statuten dem öffentlichen und allgemeinen Nutzen zu dienen hätten und ein Quorum von drei Mitgliedern der natio wie auch ein besonderes Procedere für Antrag und Durchführung von Änderungsanträgen zu beachten sei (Colliva 1975, S. 125–154). Seit immerhin 1163 datieren die Privilegien, auf die sich die Vorgeschichte der Universität in Paris zurückführt. Die noch nicht institutionalisierte Gemeinschaft der Magister und Scholaren entwickelte in der zweiten Hälfte des 12. Jh.s eingespielte Verfahrensformen, die wie Rechtsgewohnheiten (consuetudines) gehandhabt nach außen dargestellt und entsprechend von den Privilegien der übergeordneten Instanzen bestätigt wurden (Denifle, Bd. 1 1964). In der päpstlichen Urkunde von 1208/1209, in der die Gemeinschaft erstmals als universitas vestra angesprochen wird, ist ebenfalls zum ersten Mal, wenn auch noch ohne nähere Erklärung, von den statuta vestra die Rede. Die erste Fassung der förmlichen Statuten der Universität in Paris wird gewöhnlich auf das Jahr 1215 datiert. In der ersten Hälfte der 1210er Jahre verdichteten sich insbesondere päpstliche Privilegierungen. 1215 verfügte die Urkunde des Kardinallegaten Robert de Courçon für die universi magistri et scolares Parisienses eine Reform des status Parisiensis scolarium und legte fest, welche Autoritätentexte (insbesondere welche Texte des Aristoteles) zu welchen Zeiten gelesen und welche für die Lehre nicht verwendet werden sollten. Diese Urkunde kann, wenn auch (noch) nicht als Ausdruck korporativer Autonomie, wohl aber bereits als Beweis statutarischer Ordnung verstanden werden. Entsprechend ist seit demselben Jahr das Diktum überliefert, dass als Pariser Scholar nur gelten dürfe, wer sich einem Magister angeschlossen habe. Als 1229, im Zuge des Streiks und Auszugs der Magister aus der Universität ein Erlass der provisores verkündet wurde, handelten diese darin als Repräsentanten der
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universitas magistrorum et scolarium und in der legitimen Rolle derjenigen, die autoritativ (secundum nostrum arbitrium) über den Aufenthalt von deren Mitgliedern causa studii, scilicet audiendi vel docendi zu entscheiden hätten. Ohne ausdrückliche begriffliche Bezugnahme, stellt dieser Akt doch einen (und hier den ersten) Beleg für die statutarische Autonomie der universitas dar. Zwei Jahre später wurden die Exilierten durch eine päpstliche Urkunde und infolge der kurialen Vermittlung mit dem König von Frankreich wieder zurückgerufen. Ebenfalls 1231 wurde die restituierte, institutionelle Ordnung der universitas durch eine Statutenrevision gesichert. 1245 erließ die Versammlung der Pariser Magister einstimmig die Vorgabe, dass jeder Magister sich auf die Leitung einer einzigen Schule (scola) zu beschränken habe. Drei Jahre später wurde durch päpstliche Urkunde den doctores und der universitas scolarium Parisiensium zugesagt, dass ihre statuta et ordinationes unverletzt zu beachten seien. In allen genannten Zusammenhängen aus der Frühgeschichte der Pariser Universität kommt dem üblichen Terminus der Urkundensprache, wonach der Aussteller den dispositiven Inhalt seiner Urkunde festsetze (statuimus), zugleich eine übertragene Bedeutung zu: Die päpstliche Kurie als übergeordnete Instanz oder, sukzessive zunehmend, die zuständigen Amtsträger innerhalb der Korporation, erließen eine gefügte, rechtsverbindliche und institutionalisierte Ordnung für die Regelung der inneren Angelegenheiten der universitas. Nach Jahrzehnten dieser wiederholt geübten Praxis ist die Bezeichnung der normativen Rechtstexte als statutum/statuta nur folgerichtig. Angaben zu Lehrinhalten, Lehrplänen oder Vermittlungsmethoden wie auch zu Prüfungs- und Graduierungsverfahren fehlen in den hier exemplarisch vorgestellten Universitätsstatuten auffallend häufig. Hinweise auf die Lektüre der biblischen Bücher oder der Sentenzenkommentare (Kommentar) waren weniger inhaltlich als durch dafür geeignete Phasen und Zeiträume markiert. Die differenzierte Vorgabe zur Lehre der Schriften des Aristoteles ist weniger im curricularen Kontext als im Zusammenhang des tiefgehenden Konflikts um deren Zulässigkeit zu verstehen. Vorgaben zu den Lehrinhalten ohne derartige aktuelle und selektive Zugriffe sind gewöhnlich jenseits allgemeiner Aussagen über die Bedeutung der gelehrten Wissenschaft eher in den Fakultätsstatuten zu finden gewesen. Daneben haben sich eigene, deskriptiv angelegte Textgattungen mit Kommentaren und Anleitungen zum Lehrstoff erhalten, vermutlich im Kontext von Vorlesungsmitschriften entstanden, die die faktischen Lehrprogramme abbilden (Lafleur 1995) (Kolleghefte). Disziplinäre Rahmenvorgaben wie etwa in theologischen Fakultäten zum Vorlesungskanon der Sentenzenkommentare oder Bücherlisten sind mitunter in den Statuten aufgeführt worden, zu deren regelmäßigen Inhalten gehören sie aber nicht (Weijers 1995). Im Übergang zum 16. Jh. kamen systematischer als zuvor Vorlesungsprogramme als bald in gedruckter Form vorgelegte Textgattung in Gebrauch, die die administrativ dominierten Statutenvorschriften ergänzten (Wagner 2011). Der Prozess einer bedarfsbedingten Ausdifferenzierung von Statutentexten blieb weiterhin ebenso prägend in der Universitätsgeschichte wie die grundlegende Bedeutung der Statuten als rechtssetzende Ordnungsvorgabe.
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Statuten der Ingolstädter Artistenfakultät 1492, München, Universitätsarchiv, B-II-5, fol. 1r.
Dessen ungeachtet, ist die Überlieferung von Statutentexten als Originalhandschrift oder auch nur zeitnahe Abschrift insgesamt eher fragil. Ob man hierfür häufige Nutzung und insofern materiellen Verschleiß veranschlagen will, ist fraglich. In den Tex-
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ten selbst wird mitunter auf die Truhen und Kästen verwiesen, in denen, wie auch ansonsten in der Zeit üblich, die grundlegenden Dokumente aufbewahrt und geschützt wurden, also auch die Statuten. Vollends fehlt in den meisten Fällen eine Dokumentation der Entscheidungsfindungsprozesse im Vor- und Umfeld des Erlasses der Statuten. Umfangreiche editorische Recherchearbeit hat hier Beachtliches geleistet und komplexe Diskursprozesse rekonstruieren können, die mündlich und schriftlich abliefen, aber dennoch wenige Zeugnisse hinterlassen haben. Dies gilt selbstverständlich nur für jene Statutenerlässe, die als Ausdruck der Autonomie der universitas an einer Universität mit bereits eröffnetem Lehrbetrieb von deren Mitgliedern in einer geordneten, dafür eingerichteten Verfahrensform gefunden und beschlossen worden sind. Die Entstehung der Textfassungen landesherrlicher oder päpstlicher Statutensetzungen ist über die dispositive Privilegierungsurkunde hinaus und jenseits vorangegangener Petitionen kaum belegbar. Dass Überlieferungslücken und Überlieferungsfunde kontingent sein können, bleibt daneben ein stets zu respektierender Tatbestand. So konnten zwei zum Zweck der Prüfungsmeldung erstellte Leistungsnachweise über besuchte Vorlesungen und Disputationen an der Artistenfakultät der Universität Leipzig von um 1410 aus Bucheinbänden gelöst werden. In den Statuten der Fakultät wird die Anfertigung derartiger cedulae vorgesehen. Wie in anderen Zusammenhängen vielfach auch, blieb bei solchen Vorschriften die Alternative zwischen deskriptivem und normativem Charakter von Statutenvorgaben und damit die Frage ihrer erwartbaren Realisierung im universitären Alltag offen. Im Leipziger Fall ist der Beleg möglich (Stewing 2009). 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Die Universitätsgeschichtsschreibung hat in den letzten Jahrzehnten eine Entwicklung von einer dominant institutionen- und rechtsgeschichtlichen zu einer sozialund kulturwissenschaftlich akzentuierten Forschung durchlaufen (Schwinges 2008). Insbesondere Überlieferungen, die vordem als Zeugnisse der Institutionengeschichte und einer institutionengeschichtlich verstandenen Verfassungsgeschichte gedeutet worden sind, wurden und werden daher einem zumindest partiell neuen Zugang geöffnet. Hierzu gehören etwa Matrikelbücher (Matrikeln), die in ihrem Entstehungskontext als (finanz)administrative Akten geführt wurden, in der heutigen Forschung hingegen insbesondere sozial- und mobilitätshistorisch ausgewertet werden. Statutenbücher sind analog früher als Ausdruck einer linear gedachten Geschichte von Rechtsinstituten verstanden worden und werden neuerdings beispielsweise im Kontext einer Symbol- und Ritualgeschichte als Elemente universitärer Insignienund Repräsentationskultur beschrieben (Gieysztor 1993, S. 135). Mit der Neudefinition von consuetudines als Rechtsgewohnheiten (nicht mehr Gewohnheitsrecht) wird die historische Entwicklung von rechtlichen Normvorstellungen heute eher prozessual verstanden (Pilch 2009). Für das weiterhin erkenntnisleitende Potential einer Gegenüberstellung von consuetudines und (in der Regel
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römischrechtlich verstandenem) ius positivum wird insbesondere die bislang statisch gedachte statutarische Gesetzgebung einer Neubewertung zu unterziehen sein. Die rechtshistorische Forschung geht bei der Untersuchung des mittelalterlichen Statutarrechts weiterhin von der Gegenüberstellung des partikularen und lokalen gegenüber dem allgemeinen (römischen) Recht und von einer vorrangigen Wertung des ersteren sowie dessen Überformung (nicht Verdrängung) durch das römische Recht aus (Schulze 1999; Meder 2002). Indem in historischen Studien ein statischer Institutionalitätsbegriff durch einen prozessualen Institutionalisierungsbegriff abgelöst worden ist (Melville 2001), werden Entwicklungen institutioneller Formung und Verstetigung heute neu definiert. Der konstitutionengeschichtliche Ansatz in der verfassungsgeschichtlichen wie in der politikhistorischen Forschung zielt ebenfalls auf eine prozessuale statt einer linearen oder statischen Modellbildung und auf die Einbeziehung von Entstehungs- und Wirkungskontexten (Vorländer 2004; Foronda 2011). Neuere Ansätze einer komparativen geschichtswissenschaftlichen Untersuchung von Statuten schließen die Universitätsgeschichte bislang nur marginal mit ein (Courtenay 2010), während die originär universitätshistorische Forschung die Statutengeschichte umfangreich, wenn auch weiterhin dominant institutionengeschichtlich berücksichtigt (Rüegg 1993a). Die aktuelle und künftige Forschung wird absehbar zwei Akzente verstärkt ausformen: Erstens wird sie die Bearbeitung von Universitätsstatuten stärker als bislang im zeitgenössischen Zusammenhang zur Statutarpraxis anderer Institutionen, so v. a. der (Universitäts-)Städte, untersuchen können. Die besondere soziale und kommunikative Nähe von Kommunen und Universitäten, gerade angesichts der korporationsrechtlichen Unabhängigkeit der Universitäten, gehört zu den besonderen Merkmalen der mittelalterlichen europäischen Gesellschaften. Zweitens wird die Forschung weiterhin weniger von statischen als von dynamischen und prozessualen Erklärungsmodellen für die Entstehungsgeschichte der Universität ausgehen. Dies gilt nicht nur für Paris und Bologna, sondern auch für die Gründungsuniversitäten. Deren Einrichtung gingen vielfache, nicht selten kontroverse Diskurse über Nutzen und Notwendigkeit, aber auch Risiken und Folgekosten einer Universitätsgründung voraus und begleiteten ihre Entwicklung als Reformforderungen weiterhin. Die Etablierung von Statuten ist daher stets weniger Ausdruck einer normativautoritativen Setzung als vielmehr Beleg für die Institutionalisierung und Verrechtlichung der universitates unter den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Zeit. Erst im Kontext von Konflikten und Diskursen ist insbesondere die häufige, mitunter regelmäßige Novellierung von Statuten zu verstehen. Aktuelle Studien zur Kultur und Einhegung von Gewalt im Rahmen der Selbstorganisation an den Universitäten (Cassagnes-Brouquet 2012; Destemberg 2014) bestätigen diese Annahme ebenso wie der jüngste Ansatz einer Erklärung der korporativen Autonomie der Universität Paris nicht als Grundlage ihrer Entstehung, sondern als ordnungspolitische Folge eines Lehrkonfliktes und dogmatischen Streites. Die institutionengeschichtliche Interpretation und damit die fundamentale Bedeutung der Statuten für die Entwicklung der
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Universität bleibt bei diesem Neuansatz unverändert: „[spätestens mit den] Statuten für die Universität […] war diese Institution nun etabliert“ (Leppin 2014). 4. Bibliographie 4.1 Quellen Bernoulli, Carl Christoph (Hrsg.) (1906), Die Statuten der juristischen Fakultät der Universität Basel, Basel. Bernoulli, Carl Christoph (Hrsg.) (1907), Die Statuten der philosophischen Fakultät der Universität Basel, Basel. Bernoulli, Carl Christoph (Hrsg.) (1910), Die Statuten der theologischen Fakultät der Universität Basel, Basel. Cartulaire de l’Université de Montpellier (1890), Bd. 1: 1181–1400, Montpellier. Denifle, Heinrich (Hrsg.) (1892), Die Statuten der Juristen-Universität Padua vom Jahre 1331, in: Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters 6, S. 309–560. Denifle, Henrich (Hrsg.) (1964), Chartularium Universitatis Parisiensis, 4 Bde., Paris 1889–1897, ND Brüssel. Duchhardt, Heinz (Hrsg.) (1977), Die ältesten Statuten der Universität Mainz (Beiträge zur Geschichte der Universität Mainz, 10), Wiesbaden. Duchhardt, Heinz (Hrsg.) (1978), Die ältesten Generalstatuten der Universität Trier von 1475, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 129, S. 129–189. Ebel, Wilhelm (1961), Die Privilegien und ältesten Statuten der Georg-August-Universität zu Göttingen, Göttingen. Ehrle, Franz (Hrsg.) (1932), I più antichi statuti della facoltà theologica dell’Università di Bologna, Bologna. Fournier, Marcel (Hrsg.) (1970), Les status et privilèges des universités françaises depuis leur fondation jusqu’en 1789, 4 Bde., Paris 1890–1894, ND Aalen. Gualazzini, Ugo (Hrsg.) (1978), Corpus statutorum almi studii Parmensis (Saec. XV). Con introduzione su la storia della Università di Parma dalle origini al secolo XV, Mailand. Hackett, M. B. (Hrsg.) (1970), The Original Statutes of Cambridge University. The Text and Its History, Cambridge. Heywood, James (Hrsg.) (1855), Early Cambridge University and College Statutes, in the English Language, Cambridge. Kaufmann, Georg / Kaufmann, Jakob Caro (1892), Eine unbekannte Redaction der Statuten der Universität Padua, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 9, S. 1–7. König, Joseph (1890), Die ältesten Statuten der theologischen Facultät in Freiburg, in: Freiburger Diözesanarchiv 21, S. 1–23. König, Joseph (1892), Die ältesten Statuten der theologischen Facultät in Freiburg, in: Freiburger Diözesanarchiv 22, S. 1–40. Malagola, C. (Hrsg.) (1888), Statuti delle università et dei collegi dello studio Bolognese, Bologna. Meier, Ludger (1951) (Hrsg.), Die Statuten der theologischen Fakultät der Universität Erfurt, in: Scholastica ratione historico-critica instauranda. Acta Congressus scholastici internationalis Romæ Anno sancto MCML celebrati (Bibliotheca Pontificii Athenaei Antoniani, 7), Rom, S. 79–130.
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4.3 Datenbanken Medieval Universities. Matriculation Lists, Archival Sources, Secondary Studies, URL: http://www.ou.edu/class/med-sci/universi.htm.
LEHREN UND LERNEN
Lehren und Lernen Jan-Hendryk de Boer / Martin Kintzinger / Jana Madlen Schütte / Thomas Woelki
1. Anfänge und Übergänge (Martin Kintzinger) Die Geschichte der europäischen Universität im Mittelalter ist in ihrer Entstehung und Entwicklung als Folge und Ausdruck gesellschaftlicher Herausforderungen zu verstehen. Die „Begegnung von Universität und Gesellschaft“ (Moraw 1993) ist ein Kernthema der Universitätsgeschichtsforschung. Das Herausforderungspotential dieser Begegnung kann deshalb als eindrückliches Beispiel für das Innovationspotential der Zeit beschrieben werden (Schwinges 2001). Institutionen- wie wissenschaftsgeschichtlich und sozialgeschichtlich gleichermaßen aussagekräftig, ist die Universitätsgeschichtsschreibung immer auch Gegenstand narrativer Konstruktionen gewesen, so etwa von modernen Fortschrittsvorstellungen. Sie sind bereits in den Aussagen und Selbstzuschreibungen der Zeitgenossen angelegt. Auffällig ist die Koinzidenz zwischen ersten Zeugnissen argumentativ vorgetragener Individualität, der Rezeption nichtchristlicher Wissenschaft und neuen Formen sozialer Selbstorganisation seit dem 12. Jh., womit Gelehrte auf die Herausforderungen ihrer Zeit reagierten und dadurch selbst prägend auf ihre Umgebung einwirkten. Universitätsgeschichte ist deshalb vielfach von Prozessen der Aufnahme oder Abgrenzung, der Verbindung oder Konkurrenz der Universitätsangehörigen geprägt, gegenüber der umgebenden Gesellschaft einerseits, innerhalb der Universität andererseits. In den Kathedralschulen vor allem der Ile-de-France hatte sich seit dem ausgehenden 11. Jh. aus der traditionellen artistischen Schuldisziplin der dialectica eine neue Wissenschaft, die logica, auszuformen begonnen. Das damit verbundene methodische Postulat der logischen Schlüssigkeit, das bald auf alle Lebensbereiche angewandt wurde, übte eine besondere Faszination auf gelehrte junge Kleriker in Mitteleuropa aus. Sie begehrten gegen die überkommenen Schulen auf, deren Methoden und nicht zuletzt deren organisatorische Einigung in kirchliche Institutionen. In einer später als „Bildungsmigration“ des 12. Jh.s beschriebenen persönlichen Mobilität wanderten viele von ihnen zu den neuen Schulen in Frankreich und Oberitalien. Bald konstruierten sie das Verdikt des nur mechanischen Auswendiglernens, das für die traditionelle Wissenschaft der Monastik bezeichnend sei, um sich davon als dem freien, vorbehaltlosen logischen Denken verpflichtete Wissenschaftler abzusetzen. Der bis in die neuere Forschung fortgeschriebene Dualismus zwischen Monastik und Scholastik blieb davon geprägt. Er bezeichnet zutreffend eine methodische Differenz
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zwischen einer enzyklopädisch angelegten und einer auf die kontroverse Disputation gestützten Wissenschaft, übersieht aber, dass beide Methoden unter den Bedingungen ihrer Zeit auf Erkenntnis orientiert und prinzipiell ergebnisoffen waren (Steckel 2011). Analog, in Hinsicht auf die Bedeutung der Umweltbeziehungen noch evidenter, ist der Beginn der Universität Bologna seit dem ausgehenden 11. Jh. vor dem Hintergrund etablierter Rechtsschulen und Schulen der ars dictaminis / Briefstellerei zu verstehen (Hartmann 2013, S. 78–89). Der funktionale, praktische Nutzen der Briefstellerei und des Rechtswissens stand zumindest gleichberechtigt neben artifiziellen oder wissenschaftlichen Interessen. Absolventen solcher Schulen hatten Aussicht auf Anstellung in städtischen wie kirchlichen und bald auch fürstlichen Kanzleien. Geistliche und weltliche Herrschaften suchten zunehmend nach qualifizierten Fachkräften, um ihre Interessenpolitik effektiv gestalten und durchsetzen zu können. Studienmotivation und Förderungsbereitschaft trafen sich in der Absicht, durch anspruchsvolle Schulen den gesellschaftlichen Bedarf an funktionalem Wissen zu befriedigen. Zwischen „praxisorientierter Ausbildung“ und „elitärem Wissen“ (Schuh 2012) wurde in der zeitgenössischen Publizistik des ausgehenden Mittelalters kritisch unterschieden. Bis dahin und von ihrem Beginn an war die Universitätsgeschichte von einer symbiotischen Verbindung beider Parameter geprägt. Lange Zeit hat die Universitätsgeschichtsschreibung, einem Diktum Herbert Grundmanns aus den späten 1950erJahren folgend und nach einem Zitat aus dem Privileg Kaiser Friedrichs I. für die Bologneser Scholaren von 1155, den amor sciendi, die reine Liebe zum Wissenwollen, als entscheidendes Motiv jener jungen Gelehrten verstanden, deren Aufbruch in der (vielfach auch missverständlich als ‚Renaissance‘ gedeuteten) ‚Bildungsmigration‘ des 12. Jh.s die Anfänge der Universität ermöglichte. Heute wird man die pragmatischen, auf persönliche Versorgungsabsichten und Karrierechancen und damit auf die soziale Stellung von Gelehrten abzielenden Erwägungen gleichberechtigt mit einbeziehen (entsprechend den Erweiterungen der Grundmann-These durch Peter Classen, Arno Seifert und Rolf Köhn) und auch die Wirkung sozialer Netzwerke berücksichtigen (Schwinges 2010). Zunächst ausnahmslos Geistliche (weshalb noch lange sämtliche Universitätslehrer kollektiv als clerici bezeichnet wurden), waren die Gebildeten und Gelehrten zunehmend auch Laien, vornehmlich bürgerlichen Standes und wurden spätestens seit dem 13. Jh. unentbehrliche Stützen der Administration politischer Herrschaft. Eine für den Wissenstransfer des frühen Mittelalters markante Beschreibung – „the migration of ideas“ (Rosamond McKitterick) – kann ebenso auf die Entstehung und Entwicklung der Universitäten angewandt werden: Durch die auf aktuelle Herausforderungen orientierte Gestaltung und Erweiterung des überkommenen Wissenshaushalts vermochten die Universitäten in einer zuvor unbekannten Intensität und Wirksamkeit Wissenstransfer in die Gesellschaft und deren (Teil-)Öffentlichkeiten zu leisten.
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2. Praktiken und Inhalte (Jan-Hendryk de Boer) Die mittelalterlichen Universitäten gingen nicht allein genealogisch aus Schulen hervor, kennzeichnend insbesondere für die Artesfakultät blieb, dass diese zumindest bis ins 15. Jh. Aufgaben übernahm, die wir heute mit den Schulen verbinden. Eine formalisierte Zugangsvoraussetzung wie die heutige als Zeugnis zertifizierte Allgemeine Hochschulreife fehlte. Entsprechend uneinheitlich waren die Kenntnisse, welche die angehenden Studenten mitbrachten. Während manche bereits über eine solide Grundlage verfügten, die sie an einer Kloster-, Stifts- oder Domschule oder an einer der sich seit dem 13. Jh. ausbreitenden städtischen Lateinschulen erworben hatten (Kintzinger 2003, S. 125–142), mussten andere allererst ausreichend Latein erlernen, um am Unterricht tatsächlich teilnehmen zu können. Viele Statuten legten ein Mindestalter für die Immatrikulation an einer Universität fest. In Köln schrieben die Statuten ein Alter von mindestens zwanzig Jahren für den Erwerb der artistischen Lizenz vor, woraus sich ein regulärer Studienbeginn mit etwa sechzehn bis siebzehn Jahren ergab; allerdings wurden häufig Ausnahmen gewährt (Meuthen 1988, S. 115 f.). Überblickt man die europäische Universitätslandschaft des Mittelalters, lag der Studienbeginn vielfach früher: Eine Immatrikulation mit vierzehn oder fünfzehn Jahren war vor allem im 15. Jh. keinesfalls selten (Hammerstein 2010, S. 3). Wie die in der Heidelberger Matrikel belegten Fälle Johannes Ecks oder Philipp Melanchthons zeigen, war es möglich, schon mit zwölf Jahren ein Studium zu beginnen. Erst im 16. Jh. stieg das Eintrittsalter der Studenten allmählich an. Besonders für die jungen Artesstudenten war die mitunter von den Statuten ausdrücklich eingeforderte Bindung an einzelne Magister von großer Bedeutung, da diese sie gleichermaßen an die Studieninhalte wie an die Praktiken des universitären Lebens heranführen konnten. Anhand des Vorbildes der Magister konnten sich die Neuankömmlinge in den gelehrten Habitus einüben. Mit dem Wechsel an eine höhere Fakultät war daher nicht selten eine Rückkehr in derartige Lehrer-SchülerVerhältnisse verbunden, da es nun galt, sich neu in die Rolle des Mediziners, Juristen oder Theologen einzuschreiben. Entsprechend forderten etwa die ältesten Statuten der medizinischen Fakultät von Montpellier im Jahre 1220 ausdrücklich, jeder Student möge sich einen Magister wählen, unter dessen Leitung er studieren wolle (Cartulaire (1890), Nr. 2, S. 181). Das Verhältnis von Lehrer und Schüler konnte lebenslang intellektuell prägend sein – wie im Falle der Dominikaner Thomas von Aquin und Ulrich von Straßburg, die am Kölner Bettelordensstudium bei Albertus Magnus studiert hatten, des Theologen Jean Gerson, einem Schüler des Pariser Professors Pierre d’Ailly, des Baldus de Ubaldis, der in Perugia bei dem berühmten Rechtslehrer Bartolus de Saxoferrato studierte, oder des Byzantiners Manuel Chrysoloras, der u. a. in Florenz, Bologna, Rom und Venedig lehrte und stets zahlreiche Humanisten als Schüler um sich sammelte, darunter Leonardo Bruni, Guarino da Verona und Ambrogio Traversari. Universitäre Lehrer-Schüler-Verhältnisse konnten die institutionelle Bindung überdauernde Freundschaften hervorbringen – wie im Falle des Erfurter Artisten und Theologen Bartholomäus Arnoldi von Usingen und seines Schülers Martin
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Luther oder des Kölner scholastischen Theologen Arnold von Tongern und seines Schülers Johannes Murmellius, der als Schullehrer in Münster die studia humanitatis unterrichtete. Möglich war es schließlich, dass sich ein Gelehrter virtuell einen Lehrer wählte als denjenigen, von dessen Denken er besonders beeinflusst war, ohne tatsächlich von diesem unterrichtet worden zu sein – wie im Falle des Theologen Marsilius von Inghen in Bezug auf Johannes Buridan. Negativ gespiegelt finden sich die studentischen Erwartungen an die Magister in einem Brief, mit dem sich Ingolstädter Studenten 1497 bei dem Humanisten Konrad Celtis darüber beklagten, dass dieser seine Pflichten als Lehrer aus Hochmut und Trägheit vernachlässige; statt die Studenten im humanistischen Latein zu unterweisen, wie er öffentlich angekündigt habe, beschimpfe er sie als ungeeignet, was einem Doktor schlecht anstehe (Celtis 1934, Nr. 174, S. 286 f.). Dass sich die Forschung vorrangig für charismatische LehrerSchüler-Beziehungen interessiert hat, sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass vielfach rein pragmatische Verhältnisse vorlagen, die keine längere Prägewirkung entfalteten. Dies gilt zumal für die spätmittelalterlichen ‚Massenuniversitäten‘ wie Paris, Oxford, Bologna oder Padua, die zwischen 400 und 500 neue Studenten pro Jahr aufnahmen, aber auch für Wien, Köln oder Löwen mit etwa einer Frequenz von 150 bis 200 Studenten pro Jahr (Schwinges 1993, S. 174–179; zu den Universitäten des Heiligen Römischen Reichs ausführlich Schwinges 1986). Institutionalisiert wurde die enge Bindung von Lehrern und Schülern in den Kollegien und Bursen. Seit dem 13. Jh. wurden Kollegien als Ort gegründet, an dem Magister und zumeist fortgeschrittene Studenten lebten, studierten und in zunehmendem Maße auch lehrten (Gebäude). Das 1257 von Robert de Sorbon in Paris gegründete Kolleg, das Collège de la Sorbonne, steht idealtypisch für die auch in Oxford oder Cambridge zu beobachtende Entwicklung, dass sich die Universität in Form von Kollegien binnenorganisierte. Während den Bursen und Kollegien zunächst lediglich die Aufgabe zukam, den Lehrstoff zu repetieren, verlagerte sich der eigentliche Universitätsunterricht sukzessive an diese organisatorischen Teileinheiten innerhalb der Universität. Nicht zuletzt die starke Zunahme der Studenten im Laufe des 14. und 15. Jh.s (bei rückläufigen Bevölkerungszahlen nach den Pestwellen der Mitte des 14. Jh.s) begünstigte europaweit die Gründung von Bursen und Kollegien. Zum Ende des 14. Jh.s war es normal, dass die Studenten der Artes unter der Aufsicht eines Magisters in einer Burse lebten und studierten, wie die Statuten der Kölner Artistenfakultät von 1398 zeigen. An Köln lässt sich idealtypisch die Dominanz der Bursen im 15. Jh. erkennen (Meuthen 1988; Tewes 1993): Schrittweise entstanden vier Großbursen, wobei die Tätigkeit des Theologen Heinrich von Gorkum an der späteren Bursa Montis vorbildlich wirkte. Seit der Mitte des 15. Jh.s waren nur noch wenige Magister der Artistenfakultät nicht Angehörige einer der Hauptbursen. Im Verlaufe des 16. Jh.s gerieten die Bursen und Kollegien zunehmend in eine Krise. Die Kritik an der streng regulierten Lebensform wuchs. Idealtypisch findet sie sich in der Polemik des Erasmus von Rotterdam gegen das Pariser Collège de Montaigu, an dem der Theologe Jan Standonck auf asketische Disziplin drängte (Erasmus 1972). Eine Alternative boten sich als praeceptores privati verdingende Magister ohne
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besoldete Lektur, die gegen Gebühr Studenten unterwiesen. Im 16. Jh. wurde diese Form der Betreuung sehr populär und fand vielerorts sogar Eingang in die Statuten, ohne dass dies, wie etwa in Ingolstadt, notwendig das Ende der Bursen bedeutet hätte (Seifert 1996, S. 262–264). Mit den Pädagogien, die in gewisser Weise die Nachfolge der Bursen antraten, entstand im 16. Jh. eine Schulform, die angehenden Studenten die sprachlichen, logischen und rhetorischen Grundlagen vermitteln sollte, um das Problem mangelnder oder allzu uneinheitlicher Vorkenntnisse der Studienanfänger zu beheben. Während etwa in Wittenberg das Pädagogium lediglich aus besonderen einführenden Lehrformen bestand, ohne eine eigene organisatorische Struktur zu entwickeln (und dementsprechend rasch einging), etablierte es sich an manchen Orten, so etwa in Basel, als Mittelschule zwischen den örtlichen Schulen und der Universität. Im protestantischen Bereich entwickelte sich zugleich das Gymnasium als von der Universität organisatorisch geschiedene Lehranstalt, an der vor allem sprachliche und religiöse Bildung vermittelt wurde. Die Jesuiten gingen einen ähnlichen Weg: Sie richteten an ihren Universitäten systematisch ein fünfklassiges Pädagogium als Vorbereitung für das eigentliche Studium ein. Die universitären Lehrformen dienten gleichermaßen der Vermittlung von Wissen, der Produktion von Wissen und der Symbolisierung von Wissen. Dabei unterschied sich der Schwerpunkt je nach Veranstaltungstyp. Die beiden wichtigsten Lehrformen der mittelalterlichen Universität waren die Vorlesung (lectio) und die Disputation. Für beide Veranstaltungstypen charakteristisch ist der Medienwechsel vom gesprochenen zum geschriebenen Wort. Obwohl Unterricht an der mittelalterlichen Universität primär mündlich war, kam dem Text als Bezugsort, als Speichermedium und als Mittel der Generierung und Systematisierung von Wissen eine zentrale Rolle zu. Insofern kann man die scholastische universitäre Pädagogik als „mündlich vermittelte Buchwissenschaft“ (Michael 2006, S. 189) bezeichnen. Wichtigste Aufgabe der Vorlesungen war die Vermittlung autoritativer Texte, worunter nicht allein das erläuternde Erklären und Kommentieren, sondern auch ein buchstäbliches Vorlesen des Referenzwerkes zu verstehen ist, das häufig in geraffter Form und mit den passenden Erläuterungen diktiert wurde. Studenten, die nicht über den behandelten Text verfügten, konnten diesen mitschreiben. Wie wichtig die Praxis des Lesens und Erläuterns in den Vorlesungen gleichermaßen als Mittel der Textdistribution wie der Interpretation war, zeigt die sich schon im 13. Jh. wiederholende Klage von Studenten, man sei dazu übergegangen, Referenztexte zu kaufen, statt sie im Unterricht zu kopieren, was insbesondere für die weniger Begüterten eine finanzielle Herausforderung darstellte (Blair 2008, S. 46). Um diesem Problem zu begegnen, begann man, vor der eigentlichen Veranstaltung eine pronuntiatio anzusetzen, bei der der Text langsam diktiert wurde. Wer über die nötigen finanziellen Mittel verfügte, konnte auch eine professionelle Abschrift erstellen lassen, in die dann glossierend die Erläuterungen des Magisters eingetragen werden konnten. Um zu gewährleisten, dass Studenten über verlässliche Textfassungen verfügten, wurde bereits früh das sogenannte Peciensystem eingerichtet (Weichselbaumer 2010; Destrez 1935; Soetermeer 2002; Murano 2005; Kolleghefte). In Bologna war es schon 1222 etabliert, in Oxford
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in den 1230er-Jahren, in Paris spätestens ab der Mitte des 13. Jh.s.; für die zentraleuropäischen Universitäten ist das System dagegen nicht belegt. Die für den Unterricht erforderlichen Werke wurden in einer von einem Komitee der Magister und Professoren bestimmten Vorlage (exemplar) einem Buchhändler (stationarius) übergeben, damit dieser eine Abschrift in der Form einzelner ungebundener Lagen von zumeist acht Seiten (peciae) erstellte. Nachdem die Qualität der Abschrift überprüft worden war, konnten die Pecien gegen eine von der Universität festgesetzte Gebühr beim Buchhändler ausgeliehen und abgeschrieben oder einem professionellen Schreiber übergeben werden (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 530, S. 644–650; Denifle, Bd. 2 1891, Nr. 642, S. 107–112). Ende des 14. Jh.s verschwand das streng regulierte Peciensystem weitgehend. Mit der Einrichtung universitärer Druckereien, in Paris etwa in den 1470er-Jahren, bot sich den Universitäten eine neue Möglichkeit, Einfluss darauf zu nehmen, dass die Studenten über korrekte Fassungen der Autoritätentexte und Lehrwerke verfügten. Durch den langsamen Siegeszug des gedruckten Buches nahm die Bedeutung von Mitschriften diktierter Autoritätentexte allmählich ab, das Diktieren von Erläuterungen blieb jedoch weiterhin gebräuchlich. Nun konnten diese in eigens für den Unterricht von darauf spezialisierten, der Universität eng verbundenen Druckern erstellten Textausgaben notiert werden. Die Disputation lässt sich ebenfalls in einem ersten Schritt als Wechsel vom Schriftlichen zum Mündlichen beschreiben. Auch wenn die Akteure im Unterschied zur Vorlesung keine Bücher während der Disputation vor sich liegen hatten, hatten sie ihre Thesen und Argumente doch zumeist im Vorhinein anhand des Studiums der Schriften von Autoritäten und Zeitgenossen entwickelt. In einem zweiten Schritt vollzog sich wiederum ein Wechsel vom Mündlichen zum Schriftlichen, wenn sich die Hörer ähnlich wie während einer Vorlesung oder einer Predigt während der Disputation Notizen machten und gegebenenfalls, u. U. im Auftrag des vorsitzenden Magisters, eine Mitschrift (reportatio) erstellten, die von jenem bearbeitet und herausgegeben werden konnte (Hamesse 1986). Bei den Disputationen ist zu unterscheiden zwischen den alltäglichen Veranstaltungen, die vor allem dazu dienten, den Studenten Wissen und Fertigkeiten zu vermitteln, sowie hervorgehobenen Ereignissen, die stärker auf die Produktion von Wissen orientiert waren. Zu Letzteren zählen die feierlichen Disputationen der Magister, die vor allem an der theologischen Fakultät gepflegte besondere Form der Quodlibeta-Disputation. Auch bei den Vorlesungen gab es Abstufungen hinsichtlich der Bedeutung: Die wichtigen lagen am Vormittag und wurden von den ordentlichen Professoren gehalten, wohingegen die curricular weniger bedeutsamen Texte später am Tag häufig durch Bakkalare oder Inhaber geringer besoldeter Lekturen behandelt wurden. Ein zusätzlicher Relevanzunterschied in Bezug auf die gelehrten Autoritäten ergab sich dadurch, dass zwischen Büchern unterschieden wurde, über die ausführlich (ordinarie), und solchen, über die kursorisch (cursorie) zu lesen sei. Während im letzten Fall nur der Sinn des Textes erläutert wurde, wurden im ersten nach einer Einteilung der behandelten Passage in Sinnabschnitte (divisio textus) weitere Erklärungen vorgetragen und zusätzlich sich aus dem Text ergebende Probleme behandelt.
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Zumal den Quodlibeta-Disputationen und den Principia, programmatischen Reden oder Predigten, mit denen Vorlesungen über Autoritätentexte und die Sentenzensammlung des Petrus Lombardus eröffnet wurden, kam eine eminente symbolische Bedeutung zu. Mit den Principia wurde in die Materie eingeführt und häufig ein Lob der eigenen Disziplin formuliert. Die eigenen Wissensbestände derart im Wissensganzen zu verorten, bedeutete immer auch, der eigenen Disziplin bzw. der eigenen Fakultät innerhalb der Universität den ihr gebührenden Platz zuzuweisen. Zugleich boten diese Veranstaltungen einen bevorzugten Rahmen, in dem Gelehrte stellvertretend für ihresgleichen die Geltungsansprüche ihres Wissens symbolisch vor einer inneruniversitären Öffentlichkeit präsentieren und so für deren Integration sorgen konnten. Die Reden, mit denen Humanisten seit dem 15. Jh. gerne ihre Kurse beginnen ließen, übernahmen diese Funktion der Repräsentation von Wissen, der universitären Gemeinschaft und des sprechenden Selbst als Träger jenes Wissens. Stärker als ihre scholastischen Kollegen akzentuierten die Humanisten jedoch häufig eine prekäre Stellung ihrer Person wie der von ihnen vertretenen studia humanitatis innerhalb des Wissensganzen und der jeweiligen Universität, die es dringend im Interesse der Bildung zu überwinden gelte. Gerade Programmreden repräsentierten die Universität nach außen gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit der Stadt oder des Hofes. Universitäre Predigten schließlich vermittelten selbstverständlich theologisches Wissen, dienten zugleich jedoch immer auch der Seelsorge und stellten damit den Nutzen des in Vorlesungen und Disputationen vermittelten Wissens anschaulich unter Beweis. Zugleich adressierten sie die versammelten Studenten und Magister als (Kleriker-)Gemeinschaft und setzten sie in Beziehung zu ihrer Umwelt. 3. Zugriffsweisen: Autoritäten, Sprache (Jan-Hendryk de Boer) Die scholastische Wissenschaft des Mittelalters war autoritätenbasiert. Die eigenen Aussagen und Positionen wurden unter Bezug auf allgemein anerkannte Referenzautoren formuliert und diskutiert. Autoritativen Aussagen wurde ein besonders hoher Geltungsanspruch zugeschrieben; sie zurückzuweisen, bedurfte sehr guter Gründe. Solche kanonischen Autoren und Texte waren disziplinär verschieden. Durchweg anerkannt war die Autorität der Bibel sowie der dogmatischen Festlegungen durch die Konzilien und Päpste. Ebenfalls in allen Fächern prinzipiell akzeptiert war die Autorität patristischer Autoren, wobei Augustinus und Hieronymus nicht nur für die Theologie besonderes Gewicht besaßen. Schon seit dem 12. Jh. stand mit den Sentenzen des Petrus Lombardus eine systematisch gegliederte Sammlung vorrangig patristischer Autoritäten bereit, die deren Rezeption erleichterte und steuerte. Der Lombarde orientierte sich bei der Gliederung an der augustinischen Unterscheidung zwischen Dingen (res) und Worten (verba), in Bezug auf jene differenzierte er außerdem zwischen solchen, die zu genießen (frui), und solchen, die zu benutzen (uti) seien. Daraus ergab sich ein Aufbau in vier Büchern deren erstes Gott behandelte, worauf im zweiten Buch die Schöpfungs-, Sünden- und Erlösungslehre thematisiert wurden; das dritte Buch widmete sich der In-
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karnation des Wortes, also der Christologie; den Abschluss bildete die Sakramentslehre sowie die Eschatologie (Petrus Lombardus 1971–1981; dazu Colish 1994; Rosemann 2007). Wichtigster Referenzautor der universitären Artes war Aristoteles, der mit dem Ehrentitel philosophus bedacht wurde. Die Aristotelesrezeption des lateinischen Mittelalters ist kaum denkbar ohne seine islamischen Interpreten, die die Lateiner ebenso zur Entwicklung neuer Interpretationsmethoden wie zur Formulierung philosophischer und theologischer Problemstellungen anregten (zu den Beziehungen zwischen islamischer, jüdischer und lateinischer Philosophie s. de Libera 2006). Als commentator besaß Averroes (Ibn Rushd) zwar eine besondere Stellung als Aristotelesinterpret, allerdings war die Geltung seiner Deutungen und Aussagen durchweg umstritten. Für die Medizin kamen Galen, (Ps-)Hippokrates und Avicenna (Ibn Sina) eine herausragende Autorität zu (Temkin 1973; Hirai 2011; Jacquart 1996, S. 233–238). In der Rechtswissenschaft waren für die Kanonistik das Decretum Gratiani, selbst eine Autoritätensammlung, und die weiteren im 13. und 14. Jh. angelegten Sammlungen päpstlicher Dekrete und Dekretalen, die zusammen das Corpus Iuris Canonici bildeten, von besonderer Bedeutung. In der Legistik dominierten die im Corpus Iuris Civilis versammelten antik-römischen Rechtsquellen (Wieacker 1967; Coing 1973). Was im Falle der Sentenzen des Petrus Lombardus augenfällig ist, gilt auch für die juristischen Autoritätensammlungen: Das gesammelte Material wurde entsprechend eines bestimmten Konzepts arrangiert und damit für eine interpretative Erschließung vorbereitet. Auch das Prinzip der Textökonomie konnte den Redaktor veranlassen, in den Textbestand einzugreifen, so dass spätere Deutungen auf diese möglicherweise nicht mehr erkennbaren Eingriffe aufbauten (am Beispiel des Liber extra Wetzstein 2006). Wie in der Theologie etablierten sich in der Rechtswissenschaft mittelalterliche Autoren als weitere Autoritäten, die einen privilegierten Zugang zu den disziplinären Wissensbeständen verhießen. In der Rechtswissenschaft sind hier die Glossatoren (Irnerius, Azo, Accursius) und Kommentatoren (Bartolus de Saxoferrato, Baldus de Ubaldis) mit ihren Erläuterungen zum Corpus Iuris Civilis zu nennen (Lange 1997; Lange/Kriechbaum 2007), in der Theologie Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus oder Wilhelm von Ockham, auf die sich spätmittelalterliche Denkschulen beriefen. Die allmähliche Institutionalisierung des Humanismus an den Universitäten seit dem 15. Jh. bedeutete keinesfalls das Ende des Autoritätsprinzips, wohl aber eine Herausforderung bislang etablierter Autoritäten. So wurden die spätantiken Aristoteleskommentatoren wiederentdeckt und in allen Disziplinen verstärkt genutzt. Neue Aristoteles- und Platonübersetzungen kamen in Gebrauch; Aristoteles oder Galen wurden seit dem späten 15. Jh. verstärkt im griechischen Original gelesen. Cicero und Quintilian etablierten sich in den Artes als besondere Autoritäten richtiger sprachlicher Praxis. Mittelalterliche Juristen wie Bartolus wurden kritisiert, weil sie die antiken Rechtstexte mit dem wissenschaftlichen Vokabular ihrer Zeit ausgelegt und sich nicht um eine möglichst große sprachliche Nähe zur antiken Welt bemüht hatten (Speroni 1979). In der Theologie waren humanistisch orientierte Gelehrte bestrebt, die Bedeutung des Aristoteles und der scholastischen Autoritäten zurückzudrängen und die Patristik aufzuwerten.
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Heftig umstritten waren die Bemühungen, den Bibeltext mit den neuen philologischen Instrumentarien zu verbessern, indem statt der Vulgata auf griechische und hebräische Textzeugen zurückgegriffen wurde. Konzipierte Erasmus sein 1516 erschienenes Novum Instrumentum, eine Ausgabe des griechischen Neuen Testaments mit einer eigens erstellten neuen lateinischen Übersetzung, als Herausforderung an die Vulgatatradition, waren die im Umfeld der Universität Alcalá wirkenden Urheber der Complutenser Polyglotte um Gonzalo Jiménez de Cisneros vorsichtiger, als sie dem hebräischen Text des Alten Testaments die Vulgata, die Septuaginta sowie für den Pentateuch den aramäischen Text beigaben. Philologie und Textkritik sollten in beiden Fällen einen verlässlicheren Zugang zur Autorität gewähren. Strittig war nicht der Umgang mit der Vulgata, sondern ebenso die Frage, was die neuen Methoden in Bezug auf die mittelalterlich-scholastische Tradition und ihren Zugriff auf die Autoritäten zu bedeuten hatten (Rummel 1989; Rummel 2008). Mit der Reformation schließlich änderten sich seit den 1520er-Jahren vielfach die Inhalte des Curriculums in den Artes und vor allem der Theologie, ohne dass damit grundsätzliche strukturelle Änderungen verbunden gewesen wären. Das Autoritätenprinzip wurde im 16. Jh. keinesfalls verabschiedet. Vielmehr wurden vor allem im Bereich der Reformation mittelalterliche durch patristische oder reformatorische Autoritäten ersetzt, die nun als Ausgangspunkt von Studium und wissenschaftlicher Erkenntnisbildung galten. Die lutherische Orthodoxie, wie sie von Jacob Andreae Ende der 1570er-Jahre in Wittenberg propagiert wurde, setzte etwa das Werk Luthers als zentrale autoritative Ressource ein, mit der ein theologischer Konsens innerhalb der Lutheraner etabliert werden sollte (Appold 2008, S. 82–85). Die Universität erhielt die Aufgabe zugewiesen, zu missionieren, den wahren Glauben zu propagieren sowie Abweichungen zu bekämpfen. Theologie wurde daher vorrangig von ihren praktischen Zielen her verstanden: Sie sollte Menschen zu deren Rettung führen. Im Zentrum der wissenschaftlichen Tätigkeit hatte aus Sicht der lutherischen Orthodoxie das Evangelium zu stehen, welches nach den von Luther formulierten Grundsätzen zu lesen war (Nieden 2006). Ein heuristisches Mittel, wie dies zu geschehen hatte, bot die von Melanchthon propagierte humanistische Loci-Methode: Bei der Lektüre autoritativer Schriften waren thematisch geordnete Exzerpte anzulegen, die dann unter systematischen Gesichtspunkten interpretiert und performativ nutzbar gemacht werden konnten (Kolb 1987; Scheible 2010). Mit seinen Loci communes bot Melanchthon selbst ein Modell, wie dabei vorzugehen sei. Nicht nur die Theologie, sondern auch die Jurisprudenz oder die Geschichtsschreibung machten sich diese Methode unabhängig von konfessionellen Differenzen rasch zu eigen (Schröder 1998; Theologische Lehrwerke). Die verschiedenen Strömungen innerhalb der protestantischen Theologie lassen sich damit ebenso wie zeitgleich die jesuitische Theologie als Neuauflagen des Autoritätsprinzips verstehen, welche die Universitäten noch im 17. Jh. prägen sollten (Roling 2013). Das Autoritätsprinzip wäre missverstanden, wenn man es als blinden Gehorsam gegenüber Autoritäten verstünde. Es war sehr wohl möglich, die Geltungsansprüche autoritativer Aussagen zu prüfen und gegebenenfalls zurückzuweisen. Der Einzug des Aristoteles in die Theologie war seit dem 13. Jh. mit der Diskussion verbunden,
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inwiefern ein heidnischer Autor überhaupt als Referenzautor für theologische Fragen dienen konnte. Mittelalterliche Autoritäten kritisch zu diskutieren, war relativ unproblematisch, wenn es auch immer wieder Versuche gab, einzelne Autoren solchen Diskussionsprozessen zu entziehen. Doch die Bemühungen etwa der Dominikaner, Thomas von Aquin zu dem Ordenstheologen zu machen, waren außerhalb des Ordens nur bedingt erfolgreich. Obwohl er 1323 heiliggesprochen worden war, blieb Thomas stets eine umstrittene Autorität. Die systematisierenden Zugriffe auf sein Werk, die insbesondere in der spanischen Jesuitenscholastik des 16. und frühen 17. Jh.s unternommen wurden, führten allerdings zur Entstehung umfassender Lehrwerke, die als organisierte Sammlung des scholastischen Wissensstandes auch an protestantischen Universitäten bereitwillig rezipiert wurden (z. B. Suárez 1998). Eine ähnliche Bewegung zwischen wachsender Autoritätskritik und auf Autoritäten angewiesenen Systematisierungsbemühungen lässt sich auch in anderen Disziplinen feststellen. Aristoteles blieb im 16. Jh. zwar die zentrale philosophische Autorität an den Universitäten aller konfessionellen Lager, allerdings veränderte sich die Art der Interpretation: Man interessierte sich immer stärker für den griechischen Text, philologische und textkritische Ansätze spielten eine immer größere Rolle. Der prononcierte Antiaristotelismus, der unter dem Einfluss Luthers im Wittenberg der 1520erund 1530er-Jahre herrschte, war gleichwohl eher eine Ausnahme in der europäischen Bildungslandschaft und wirkte nur bedingt vorbildlich. Selbst viele protestantische Autoren mochten die mittelalterlichen Aristoteleskommentare nicht so umstandslos aufgeben, wie es die an die emphatische Spielart des Humanismus anschließende konfessionelle Polemik forderte. Vielmehr formierte sich der Aristotelismus nach humanistischer und reformatorischer Kritik neu, wobei manche mittelalterlichen Traditionen fortgesetzt, zugleich jedoch neue wissenschaftliche Fragestellungen und Methoden integriert wurden (Frank/Speer 2007; Darge/Bauer/Frank 2010). Das Kirchenrecht verfiel dem Verdikt der Reformation, ohne dass die Kanonistik an protestantischen Universitäten ganz abgeschafft worden wäre. Es wurde hier allerdings unter historischen (und apologetischen) Gesichtspunkten studiert, um die Verirrungen der mittelalterlichen Papstkirche nachweisen zu können. Je besser die Galenkenntnis der Mediziner im 16. Jh. wurde, desto stärker fielen Widersprüche in seinem Werk ins Auge. Während sich Jean Fernel bemühte, die Autorität Galens zu sichern, indem er entgegen einer materialistischen Lesart zu beweisen suchte, dass dessen Lehren mit dem christlichen Glauben vereinbar waren (Fernel 1551; Hirai 2011), stieß Andreas Vesal, als er dem humanistischen Prinzip ad fontes folgend Galenschriften übersetzte, auf immer neue Abweichungen von seinen eigenen Sektionsbefunden, wie er 1543 in der Vorrede zu De humani corporis fabrica libri septem anzeigte (Vesal 1555). Trotz der wachsenden Autoritätenkritik musste die Entdeckung des Blutkreislaufes im 17. Jh. gleichwohl gegen erhebliche Widerstände der entschiedenen Vertreter des Autoritätsprinzips durchgesetzt werden. Nikolaus Kopernikus wiederum konzipierte seinen nur handschriftlich erhaltenen Commentariolus sowie seine ausgearbeitete Darstellung des heliozentrischen Weltbildes in De revolutionibus orbium coelestium (1543) als kritische Auseinandersetzung mit Ptolemaeus und Aris-
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toteles – und rechtfertigte seine Kosmologie ausdrücklich damit, dass der Heliozentrismus bereits in der Antike diskutiert worden sei (Kopernikus 1984; Goddu 2010). Wissenschaftshistorisch produktiv war das Autoritätsprinzip insofern, als schon im 12. Jh. deutlich wurde, dass selbst unumstößliche Autoritäten wie die Bibel oder die kanonistischen Rechtsquellen nicht selbsterklärend, sondern auslegungsbedürftig waren. Der Zugang zu diesen Autoritäten erforderte also weitere Autoritäten als Vermittler, im Falle der Bibel etwa die Kirchenväter, die jedoch einander widersprechen konnten. Die großen Autoritätensammlungen, die Petrus Lombardus für die Theologie in Gestalt der Sentenzen und Gratian für das Kirchenrecht in Gestalt des Decretum erstellten, verdeutlichten – durchaus nicht immer in Übereinstimmung mit der Absicht ihrer Schöpfer –, dass Wahrheit beanspruchende Autoritäten keinesfalls harmonisch übereinstimmen mussten (Colish 1994; Winroth 2000). Abaelard inszenierte diesen Sachverhalt dramatisch in seinem theologischen Werk Sic et non. Während er sich damit begnügte, auf Widersprüche hinzuweisen, wurde es in Rechtswissenschaft und Theologie schon vor Gründung der Universitäten zum Anliegen, Strategien zu entwickeln, wie Autoritätenkonflikte zu lösen waren. Dabei galt es, Methoden zu finden, die es erlaubten, autoritative Aussagen so zu interpretieren, dass Widersprüche abgeschwächt oder aufgehoben wurden (Otte 1971; Dedek 2010). Unter Umständen konnte auch die Autorität selbst herausgefordert werden, wobei wiederum nach einem sicheren Fundament zu suchen war, von dem aus dies nachvollziehbar gelingen konnte. Dass die Dialektik das dominante Untersuchungsinstrument universitärer Wissenschaft bis ins 17. Jh. blieb, ist nicht zuletzt darin begründet, dass sie verhieß, widerstreitende autoritative Geltungsansprüche klären und einer Lösung zuführen zu können (Grabmann 1911; Leinsle 1995; Schönberger 1991). In den im 15. und 16. Jh. beliebten Darstellungen einer Harmonie zwischen Autoritäten wie Platon und Aristoteles (Morcillo 1977) oder – im Rahmen der Schulstreitigkeiten – Albertus Magnus und Thomas von Aquin blieb die Dialektik ein unverzichtbares Mittel, Dissens und Konsens gleichermaßen zu sichern. Ein starkes Traditionsbewusstsein und der Wunsch, das eigene Denken und Schreiben in der Tradition zu verorten, führte nun zu in verschiedenen Textgattungen – vom Kommentar über den Dialog bis zum Traktat – beobachtbaren Bemühungen, vermeintliche oder tatsächliche Schulzusammenhänge und Einflüsse einander ordnend gegenüberzustellen. Die Sprache des universitären Lehrens und Lernens war über das ganze Mittelalter hinweg Latein. Allenfalls in Anfängerveranstaltungen war die Volkssprache als Hilfssprache zugelassen. Zwar finden sich seit dem späten 15. Jh. immer wieder Belege für volkssprachliche Lehrveranstaltungen, das Verhältnis von Latein und den Volkssprachen änderte sich großflächig jedoch erst im 17. Jh., als außeruniversitäre gelehrte Vereinigungen und Organisationen begannen, Wissenschaft in den Volkssprachen zu treiben. Das universitäre Latein ist eine ausgesprochen technischfunktionale Sprache, die in jeder Disziplin ein eigenes Fachvokabular ausbildete. Daraus ergibt sich als eine der wesentlichen Aufgaben der Artistenfakultäten, die Studenten mit den allgemeinen Grundlagen dieses Fachvokabulars und seiner Handhabung vertraut zu machen. Entsprechend legten die Statuten häufig dieses ‚Grund-
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studium‘ an der Artistenfakultät oder in den Studienhäusern der Bettelorden, wo dieselben sprachlich-formalen Grundlagen vermittelt wurden, als Voraussetzung für ein Studium an den höheren Fakultäten fest. Das scholastische Latein war funktional orientiert: Wichtigstes Ziel war die Vermittlung von Gehalten; dazu waren die sprachlichen Strukturen zumeist einfach, die Sprecher um Klarheit bemüht. Erst unter dem Einfluss des Humanismus wurde, zunächst an den Artistenfakultäten, eine Rückkehr zum klassischen Latein der Antike gesucht. Darüber, dass dieser Weg nicht nur im Elementarunterricht schwierig war, legen zahlreiche Misch- und Übergangsformen des 15. und 16. Jh.s Zeugnis ab, in denen sich scholastische und humanistische, mittellateinische und klassizistische Elemente verbanden. Der Anspruch der Propagatoren der humanistischen Bewegung, das ‚Mittelalterliche‘ zugunsten einer Wiedergeburt des ‚Antiken‘ zu überwinden, erwies sich in der Praxis nicht nur im sprachlichen Bereich als schwierig durchsetzbar (Grafton/Jardine 1986; Black 2001). Nur langsam wurden mittelalterliche Lehrbücher wie das Doctrinale des Alexander de Villa Dei durch neue, den humanistischen Vorstellungen entsprechende abgelöst (Perotti 1490), während schon lange in Gebrauch seiende spätantike Lehrwerke wie die Grammatiken Donats und Priscians sich ungebrochener Beliebtheit erfreuten. Allmählich traten neue humanistisch geprägte Lehrbücher hinzu, die während des 16. Jh.s insbesondere in den Artes und der Philosophie das scholastische Latein zurückdrängten (Melanchthon 2001; Scaliger 1540). Die unter den Humanisten heftig geführte Debatte um den ‚Ciceronianismus‘, also die Frage, wie sehr antike Autoren als alleiniges Richtmaß guten Stils zu gelten hatten und ob ihre Texte in strikter imitatio Vorbild des eigenen Schreibens und Sprechens zu sein hatten, problematisierte die allmähliche Durchsetzung der humanistischen Latinität und schuf ein Bewusstsein für die kulturellen Differenzen, welche die eigene Gegenwart von den verehrten Autoritäten trennten (Robert 2011). Für die Rechtswissenschaft und insbesondere die Theologie gilt dies nicht in gleichem Maße. Mit der Wendung ad fontes wurde das Studium des Griechischen und Hebräischen seit dem späten 15. und schwerpunktmäßig im 16. Jh. institutionalisiert, indem eigene Lehrstühle eingerichtet, an verschiedenen Orten, so 1508 in Alcalá, 1517 in Löwen oder 1530 in Paris, dem Studium der drei Sprachen gewidmete Kollegien (Collegia trilingua) gegründet und die Kenntnis der drei Sprachen nicht nur in der Theologie zum wünschenswerten, wenn auch nicht immer realisierten Ideal wurde. Betonten die Reformatoren von Beginn an die Notwendigkeit sprachlicher Kenntnisse, um die Bibel im Original und nicht in der Vulgata lesen zu können, folgten ihnen die altgläubigen Theologen mit einigen Jahrzehnten Abstand. In der Institutionalisierung des Studiums der drei Sprachen wirkte die Universität Wittenberg insofern maßgeblich, als dieses mit der Reformation in den Statuten als unverzichtbar für die Theologie festgelegt wurde. Rasch schlossen sich die meisten lutherischen Universitäten an, die katholischen folgten nach einigem Zögern. Zum wichtigsten Träger der Integration des humanistischen Bildungsgedankens und seiner Hochschätzung antiker Wissensbestände und philologischer Fertigkeiten in erneuerte scholastische Traditionen wurde auf katholischer Seite in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s der Jesui-
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tenorden. Wie für die reformatorischen, so gilt auch für die Jesuitenuniversitäten und die übrigen katholischen Universitäten, dass die frühe Neuzeit zu einer Transformation der überkommenen Zugriffsweisen auf Wissensbestände und außersprachliche Wirklichkeit führte, zunächst jedoch nicht zu radikalen Brüchen. 4. Disziplinen Trotz der reichen Überlieferung universitärer Lehrwerke, von Kommentaren, Disputationen und Predigten fällt es nicht leicht, die tatsächliche Praxis des Lehrens und Lernens an der mittelalterlichen Universität zu rekonstruieren. Mitschriften (Kolleghefte) sind verhältnismäßig selten überliefert, auch Konzepte der Professoren und Magister haben sich erst ab dem 16. Jh. in größerer Zahl erhalten. Vorlesungsankündigungen aus der Frühzeit der Universitäten sind kaum und danach nur vereinzelt überliefert. Rechenschaftsberichte, eine für die Rekonstruktion der Lehrveranstaltungen wichtige Gattung des 17. und 18. Jh.s, besitzen keine mittelalterliche Entsprechung. Bedeutsam ist daher die Rolle der Statuten, anhand derer festgestellt werden kann, welche Vorlesungen und Disputationen im Laufe eines Studiums zu absolvieren waren. Allerdings ist stets zu berücksichtigen, dass es sich hierbei um normative Texte handelt, die beschreiben, wie die Wirklichkeit sein sollte, nicht abbilden, wie sie tatsächlich war. Gleichwohl lässt sich der Kernbestand der Schriften, über die Studenten an den verschiedenen Fakultäten Vorlesungen zu hören hatten, zumindest seit dem 14. Jh. recht verlässlich rekonstruieren. Zusammen mit den Werken, die die Magister zum Zweck der Lehre oder für die wissenschaftliche Diskussion verfassten, und Studienführern, Universitätsreden oder Predigten, die programmatische (Selbst-)Aussagen zu institutioneller und epistemischen Eigenart der Disziplinen innerhalb des Wissensganzen formulierten, ergibt sich das Bild eines Wissenskosmos, dessen Einheit und disziplinäre Vielheit gleichermaßen mit der organisatorischen Struktur der Universitäten korrelierte. 4.1 Artes (Jan-Hendryk de Boer) Der Kanon der septem artes liberales bildete sich bereits in der Spätantike aus und strukturierte die frühmittelalterliche Wissenschaft (Lindgren 1992; Koch 1959; Nonn 2012, S. 27–56; Stolz 2004). Die Schulen des 12. Jh.s und die mittelalterlichen Universitäten übernahmen die prinzipielle Scheidung zwischen den drei sprachorientierten Fächern des Triviums (Grammatik, Dialektik, Rhetorik) und den vier Disziplinen des Quadriviums (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik) (Ferruolo 1985; Southern 1995). Auch wichtige einführende Lehrwerke waren spätmittelalterlichen Ursprungs, so die beiden Grammatiken Donats (Ars minor und Ars maior), die Institutiones grammaticae Priscians, die als Werk Ciceros geltende Rhetorica ad Herennium, schließlich De institutione musica sowie De institutione arithmetica des Boethius als
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fundamentale Lehrwerke der Arithmetik bzw. der Musik. Seine Übersetzungen und Kommentare zum Organon, den gesammelten logischen Schriften des Aristoteles, blieben bis ins Spätmittelalter unverzichtbar für die Einführung der Studenten in die Dialektik, wohingegen die Isagoge des Porphyrius im Laufe des 13. Jh.s an Bedeutung verlor. Hinzu kamen mittelalterliche Lehrbücher wie das Doctrinale des Alexander de Villa Dei. Institutioneller Ort der Vermittlung dieser Wissensbestände war die Artistenfakultät, der als rangniedersten der vier Fakultäten die Aufgabe zukam, die Grundlagen zu lehren, die zumindest einigen Studenten ein Studium der drei höheren Disziplinen ermöglichten (Leff 1993; Sarnowsky 1999; Schwinges 1993). Wie zahlreiche sozialgeschichtliche Studien zu den mittelalterlichen Universitäten zeigen konnte, galt vor allem für die Artes, dass Studieren nicht notwendig bedeutete, tatsächlich einen Abschluss zu machen – oder auch nur einen solchen anzustreben. Für das Mittelalter ist davon auszugehen, dass annähernd die Hälfte aller Artesstudenten nicht einmal den Grad eines baccalaureus artium erwarb; für weitere 20 bis 40 Prozent war das artistische Bakkalaureat der einzige Grad, den sie an einer Universität erlangten (Schwinges 1993, S. 182 f.). Gemessen an den vermittelten Kenntnissen entspricht dieser Abschluss eher einem heutigen Schul- als einem Universitätsabschluss. Die in der philosophie- und theologiegeschichtlichen Forschung prominenten, inhaltlich und argumentativ häufig sehr anspruchsvollen Kommentare und Disputationen sind daher nicht als Repräsentation des Lehralltags zu lesen; ihre Adressaten waren im Regelfall keine einfachen Studenten, sondern Bakkalare, Magister und universitätsexterne Gelehrte. Fragt man daher nach den Wissensbeständen und Fertigkeiten, die ein Großteil der Universitätsbesucher während seines Studiums erwarb, sind diese vorrangig im Bereich des Triviums zu verorten. Dem ‚trivialen‘ Sprachunterricht kam es zu, in die Gelehrtensprache Latein einzuführen sowie Grundlagen im logischen Schließen und im Argumentieren zu vermitteln. Wenn die universitäre Scholastik außerhalb der Elitenkommunikation tatsächlich den ‚Geist‘ einer Epoche geprägt haben sollte, wie dies Erwin Panofsky anhand eines vermeintlichen Zusammenhangs von Scholastik und gotischer Architektur behauptet hat (Panofsky 1989), wäre dieser Wirkungszusammenhang wohl auf der Ebene elementarer Praktiken des begrifflichen und logischen Strukturierens von Wissensbeständen zu suchen. Die (allerdings nie unumstrittene) große Rolle des Aristoteles innerhalb des artistischen Curriculums dokumentiert etwa der 1431 statuarisch in Oxford vorgeschriebene Lektürekanon für die Erlangung der Lizenz: Zu lesen waren neben dem einführenden Lehrwerk Priscians die aristotelische Rhetorik oder Boethius, die aristotelische Topik sowie die Ersten Analytiken, Cicero, Ovids Metamorphosen oder Vergil, Peri Hermeneias oder Boethius; in der Musik und Arithmetik die grundlegenden Schriften des Boethius; in der Physik wiederum aristotelische Schriften, wahlweise De caelo, De proprietatibus elementorum, Meteorologica, De vegetabilibus, De anima, De animalibus oder die sogenannten Parva naturalia; außerdem hatten alternativ die Nikomachische Ethik, die Ökonomie oder die Politik, schließlich die Metaphysik Gegenstand von Vorlesungen zu sein (Gibson 1931, S. 234 f.). In Paris wurden in den neuen Statuten des Jahres 1452 sogar ausschließlich Schriften des Aristoteles als Voraussetzung für die
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Lizenz genannt, nämlich die Physik, De generatione et corruptione, De caelo et mundo, die Parva naturalia, die Metaphysik sowie die Ethik. Der Anfänger hatte hingegen das Doctrinale des Alexander de Villa Dei und den Graecismus, ein Lehrgedicht des Eberhard von Béthune, zu studieren; es folgte wiederum Aristoteles, nämlich die Ars vetus, die Topik, die Sophistici elenchi, die beiden Analytiken und De anima (Denifle 1897, Bd. 4, Nr. 2690, S. 728 f.). Die über die Wiener Statuten von Paris abhängigen Kölner Statuten von 1398 sahen ein zweijähriges Studium bis zur Bakkalaureatsprüfung vor. Inhaltlich lag der Schwerpunkt des Anfängerunterrichts auf der Behandlung der Summulae des Petrus Hispanus und derjenigen Johannes Buridans, zweier Lehrbücher der Logik, die je drei Monate zu studieren waren. Der Studienschwerpunkt des Bakkalars verschob sich vom Trivium zum Quadrivium. Bis zur Lizenz war ein Programm zu absolvieren, das sich auf insgesamt 82 Monate verteilte: Davon entfielen auf die Ars vetus vier, auf die Ars nova acht Monate, auf die aristotelische Physik und Metaphysik je neun, auf die Ethik sieben, auf die Meteorologica fünf, auf De caelo viereinhalb und auf De anima dreieinhalb Monate (Bianco 1974, S. 59–73). Die an der Artistenfakultät betriebene philosophische Logik und Sprachanalyse setzte inhaltlich Entwicklungen des Schulmilieus des 12. Jh.s fort und formte sich unter dem Eindruck der aristotelischen Schriften zu einem komplexen Feld. Hier wurden Kriterien und Techniken entwickelt, um wissenschaftliche Geltungsansprüche zu erheben, zu beurteilen und herauszufordern (Kretzmann/Kenny/Pinborg 1982; Gabbay/Woods 2008). Den Erfordernissen der italienischen Stadtkommunen entsprechend, erfreute sich die Rhetorik an den dortigen Universitäten durchweg großer Beliebtheit, während sie in Nordeuropa zwar gelehrt wurde, vor dem Aufkommen des Humanismus im 15. Jh. im Vergleich zu der Dialektik jedoch häufig marginal blieb (König-Pralong 2016). Prägendes Merkmal des scholastischen Denkens ist die Vorstellung einer Priorität der geistigen Sprache vor dem lautlichen Sprechen. Entsprechend richtete sich die Aufmerksamkeit der meisten Philosophen weniger auf die tatsächliche sprachliche Praxis, sondern darauf, die Geltung von Propositionen unabhängig von konkreten Aussagesituationen bestimmen zu können. Sprachanalyse war so eine Analyse geistiger Inhalte, die, insofern sie die extramentale Wirklichkeit korrekt repräsentierten, wiederum über deren Verfasstheit Auskunft zu geben vermochten. In diesem konzeptionellen Rahmen entwickelte sich die Dialektik mit den Zentren Paris, Oxford und Cambridge, später auch Padua oder Krakau, rasch über ihre propädeutische Funktionalisierung hinaus und wurde zu einer Subdisziplin, welche die Rolle von Begriffen in Propositionen sowie diejenige von Propositionen in logischen Schlussfolgerungen untersuchte. Die v. a. im 13. Jh. einflussreichen Modisten waren überzeugt, dass die semantische Analyse erlaube, die menschlichen Kenntnisse zu analysieren. Sie gingen von einer systematischen Struktur von Sprache und Welt aus. Da es dem Geist möglich sei, die Seinsformen zu erkennen, müsse man die Weisen des Verstehens (modi intelligendi) erfassen, um die Weisen des Bezeichnens (der modi significandi) und darüber die außersprachliche Welt zu erforschen. Im 14. Jh. wuchsen Zweifel an der Verlässlichkeit des Zusammenhangs von Zeichen und Dingen und der Zeichen untereinander, auf die mit neuen, subtileren logischen Theorien
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wie der Suppositionslehre reagiert wurde, die danach strebte, die Referenzialität der Begriffe zu systematisieren, oder der Signifikationstheorie, die diskutierte, in welcher Form Sätze die Wirklichkeit bezeichneten. Besonders bekannt ist die (bereits in der Spätantike, im Früh- und Hochmittelalter immer wieder aufbrechende) Auseinandersetzung um den Status der Universalien, also der Allgemeinbegriffe wie Mensch oder Tier (Perler 1990; Kretzmann/Stump 1988; Pinborg 1972; de Libera 2005; sowie die Beiträge in Kretzmann/Kenny/Pinborg 1982 und Pasnau 2010). Unmittelbare institutionelle Auswirkungen erhielten Probleme der Logik und Metaphysik im sogenannten Wegestreit: Die Frage nach dem Status allgemeiner Begriffe verband sich hierin mit dem Ringen um das Verhältnis der Wissenschaften zueinander, den Status der Logik im Wissensganzen und die Legitimität verschiedener Methoden des Lehrens und Lernens. Auf der einen Seite standen jene, die den Universalien eine extramentale Existenz zusprachen, auf der anderen diejenigen, die im Gefolge des Konzeptualismus Wilhelms von Ockham und Johannes Buridans die reale Existenz der Universalien ablehnten. Anhand dieses logisch-metaphysischen Gegensatzes differenzierten sich die Artes des 15. und frühen 16. Jh.s in die realistische via antiqua und die nominalistische via moderna aus (Hoenen 2003). Institutionell begünstigt wurde diese Entwicklung durch die Kollegien und Bursen, die Träger einer solchen Schule werden konnten. In Mainz und in Tübingen wurden die Scholaren jeweils in zwei Bursen vereinigt, deren eine der via antiqua, deren andere der via moderna folgte. Anders gestaltete sich die Entwicklung in Köln, wo sich verschiedene Richtungen innerhalb des Realismus gegenüberstanden. Hier wurden die Bursen Laurentiana und Kuckana zu den Trägern des Albertismus, wohingegen der Thomismus an der Montana und Corneliana beheimatet war (Meuthen 1995; Tewes 1993). Die Nominalisten hatten 1425 versucht, die realistische Dominanz zu brechen, indem sie fünf Kurfürsten davon überzeugten, in einem Schreiben an die Stadt darauf zu drängen, an der Universität statt des Realismus die via moderna lehren zu lassen. Die Kölner Professoren jedoch konnten sich erfolgreich vom Verdacht befreien, mit dem Realismus implizit die Lehren der auf dem Konstanzer Konzil verurteilten Theologen John Wyclif und Johannes Hus zu billigen, so dass es bei der institutionellen Dominanz der via antiqua blieb. Die trivialen Disziplinen erwiesen sich von Italien ausgehend seit dem späten 14. und europaweit im 15. Jh. als Einfallstor des neuen humanistischen Sprachverständnisses, das eine Abkehr vom technischen scholastischen zugunsten eines rhetorisierten, an der Antike geschulten Lateins zelebrierte (Korenjak 2016). Entgegen der in der älteren Forschung dominierenden Annahme eines scholastisch-humanistischen Gegensatzes verlief die Integration des humanistischen Sprach- und Grammatikverständnisses sowie einer an Cicero und Quintilian geschulten Rhetorik an den Artistenfakultäten, von lokalen, häufig persönlich motivierten Streitigkeiten abgesehen, überwiegend problemlos. Die von zahlenmäßig wenigen, jedoch bereits zeitgenössisch prominenten Humanisten wortgewaltig artikulierten, weitergehenden Ansprüche, die an den Universitäten gepflegte Wissensordnung umzustoßen, und der spezifische humanistische Gelehrtenhabitus, der sich in die überkommenen Formen der
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Repräsentation inneruniversitärer Hierarchien nicht fügen wollte, stießen hingegen auf teils erbitterten Widerstand der Artistenmagister und der Vertreter der höheren Fakultäten (Helmrath 1988; Rummel 1995; Schuh 2013; de Boer 2016). Die erhaltenen Programmreden humanistischer Gelehrter, die außerordentlich selbstbewusst einen Platz für die neuen Wissensbestände sowie ihre Träger forderten, stellten vielfach eine planmäßige Irritation der institutionalisierten Praktiken und Strukturen dar und sind daher weniger als akkurate Situationsbeschreibungen zu lesen, sondern als Performanzen, die für die studia humanitatis ebenso wie für die Redenden selbst warben (z. B. Celtis 2003). Während in Paris schon im 13. Jh. das Quadrivium gegenüber dem Trivium eine weit geringere Rolle spielte, bildeten sich in Oxford (besonders am Merton College), Cambridge, Wien oder Krakau Schwerpunkte in den quadrivialen Disziplinen heraus, die an einigen der Kollegien intensiv gepflegt wurden. An vielen Neugründungen des 14. Jh.s wurden die quadrivialen Disziplinen schon früh durch die Einrichtung eigener Lehrstühle institutionell gefestigt, so in Krakau durch einen Lehrstuhl für Astronomie (1394). Die Fächer des Quadriviums hatten bereits in voruniversitärer Zeit einen erheblichen Aufschwung durch die Zunahme lateinischer Übersetzungen arabischer und griechischer Schriften erlebt, die allmählich aus Südeuropa nach Norden gelangten. Gleichwohl blieben die Schriften des Boethius für die Arithmetik und die Musik unverzichtbar. Wichtigster Referenzautor der Geometrie war Euklid. Zu diesem Fach wurde zumeist auch die Optik gerechnet, zu der Robert Grosseteste, Roger Bacon und Alhazen zentrale Werke verfassten. Die sich häufig in vermittelter Form (etwa durch die Sphera des Johann von Sacroboscos) auf den Almagest des Ptolemaeus stützende Astronomie war nicht strikt von der Astrologie geschieden, die sich im 15. Jh. im Zeichen der Ausbreitung des Humanismus zu einer Modedisziplin entwickelte. Großes Interesse an der Astrologie bestand von Seiten der Mediziner etwa in Orléans, Bologna, Padua oder Paris. Der Kanon der sieben freien Künste deckte keinesfalls alle an der Artistenfakultät gepflegten Wissensfelder ab. Besonders produktiv waren die mittelalterlichen Artisten auf den Feldern der Naturphilosophie, der Ethik und der Metaphysik (dazu die Beiträge in Pasnau 2010; Lagerlund 2011; Kretzmann/Kenny/Pinborg 1982; Schmitt/ Skinner 1988). Die beiden letztgenannten Fächer wurden besonders in Paris gepflegt, wo das Interesse an der Metaphysik auch von theologischer Seite groß war, da hier eine Disziplin vorzuliegen schien, die theologische Kernfragen mit den Mitteln der natürlichen Vernunft zu untersuchen beabsichtigte. Das Studium naturphilosophischer Schriften blieb in Paris hingegen bis Mitte des 13. Jh.s strikt reguliert; demgegenüber erlangte die in Oxford betriebene, von Beginn an kaum beschränkte Naturphilosophie europaweite Geltung (Courtenay 1987; Grant 1996). Unter dem Eindruck der englischen Mathematikerschule erblühte im 14. Jh. auch in Paris die Naturphilosophie, die von den Gründungsrektoren Albert von Sachsen und Marsilius von Inghen nach Wien beziehungsweise Heidelberg transferiert wurde. Die scholastische Naturphilosophie war trotz der aristotelischen Wissenschaftstheorie, die der Sinneserkenntnis eine konstitutive Rolle zuschrieb, vielfach eine rein theore-
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tische Wissenschaft. Auf Erfahrungen und konkrete Sinneseindrücke wurde häufig situativ und unsystematisch rekurriert – eine Praxis, die bereits von Zeitgenossen wie Roger Bacon und Albertus Magnus kritisiert wurde, die beide experientia bzw. experimentum eine große Bedeutung beimaßen und bemüht waren, Beobachtungen zu systematisieren (Grant 2010; Lindberg 2013; Kintzinger 2012; Fidora/Lutz-Bachmann 2007). Allein schon aufgrund ihrer schieren Größe, aber auch durch ihre intellektuelle Produktivität trugen die Artistenfakultäten in Paris und Oxford schon im 13. Jh. erheblich zur europaweiten Attraktion der beiden Universitäten bei (Leff 1968), wohingegen die Rolle der meisten italienischen Artesfakultäten bis ins 15. Jh. bescheidener blieb. In Paris wurde die Fakultät stärker als in Oxford früh durch eine Nähe und gleichzeitige Rivalität zur theologischen Fakultät geprägt. Letztlich setzte sich damit die bereits für die karolingische Zeit zu verzeichnende Hinordnung der Artes auf die Theologie, die in den Schulen des 12. Jh.s erneuert wurde, zunächst fort. Das im Laufe des 13. Jh.s von artistischer Seite immer häufiger propagierte Ideal eines nutzlosen Wissens, also einer Wissenschaft, die weder unmittelbare praktische Anwendbarkeit noch materiellen Gewinn oder glänzende Karrieren verhieß, lässt sich als Ausdruck eines zunehmenden Selbstbewusstseins der Artesmagister deuten, die die Vorstellung eines Eigenrechts ihrer Disziplin entwickelten (Rexroth 2016, S. 100–107). Diese Vorstellung der Artes als Wissenschafts- und Lebensform sui generis schlug sich nicht nur in der artistischen Einführungsliteratur (Lafleur 1988; Studienführer) sowie in programmatischen Quaestionen und Traktaten (Boethius von Dacien 1976) nieder, sondern auch darin, dass Magister wie Siger von Brabant und Boethius von Dacien oder – im 14. Jh. – Johannes von Jandun und Johannes Buridan nicht mehr danach strebten, ihre Karriere in der Artistenfakultät an einer der drei höheren Fakultäten fortzusetzen (de Libera 2003; Bianchi 1990; Van Steenberghen 1966; Michael 1985). Eine vergleichbare Entwicklung findet sich in Italien v. a. in Padua, Pavia und Bologna ab dem 15. Jh. mit Gelehrten wie Nicoletto Vernia, Agostino Nifo oder Pietro Pomponazzi, begünstigt durch die vermehrte Einrichtung eigener Lehrstühle für Philosophie (Grendler 2002). Wachsendes artistisches Selbstbewusstsein führte nicht selten zu theologischen Gegenmaßnahmen, die bis zu Verurteilungen und Zensur reichen konnten. Während die Artes in Paris, Oxford und Cambridge stets gezwungen waren, ihr institutionelles wie doktrinales Verhältnis zur Theologie zu klären, sahen sie sich in Italien, Spanien und Südfrankreich, wo theologische Fakultäten erst zögerlich seit dem 14. Jh. geschaffen wurden, mit den Ansprüchen der Medizin und insbesondere der Rechtswissenschaft konfrontiert. Wie viele Theologen beäugten auch Juristen artistische Autonomieansprüche und einen emphatischen Philosophiebegriff äußerst kritisch und wollten die Fakultät auf ihre propädeutisch-dienende Rolle beschränken. In der frühen Reformation wurde die artistisch-theologische Konkurrenz unter veränderten Vorzeichen erneuert, als Luther mit dem Schlag gegen den Aristotelismus und eine sich selbst überschätzende menschliche Vernunft auch die an der Artistenfakultät praktizierte Gelehrsamkeit empfindlich traf. Der Bedeutungsaufschwung der Rhetorik und einer anwendungsorientierten, nach rhetorischen
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Maßstäben reformierten Dialektik, wie sie von Petrus Ramus in Paris gelehrt und europaweit in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s rezipiert wurde, war ebenso wie die Stärkung der Philologie und des Sprachstudiums eine unter humanistischen Vorzeichen entwickelte Antwort auf diese neuerliche Herausforderung. Ort der praktischen Ausbildung in Technik oder Mechanik war die mittelalterliche Universität nicht, diese oblag dem Handwerk. Ab dem 15. Jh. entwickelten sich Spezialschulen, um dem Bedürfnis nach spezifischer technischer Schulung zu genügen. Auf der iberischen Halbinsel entstanden Schulen für Navigation und Kartographie, in Holland im späten 16. Jh. eine der Universität Leiden angeschlossene Schule für militärisches Ingenieurswesen (Pedersen 1996). Allerdings wäre es zu einfach, lediglich der traditionellen Meistererzählung zu folgen, wonach die Universitäten spätestens am Ende des Mittelalters in eine Erstarrung verfielen, von der sie sich erst mit der Gründung von Reformuniversitäten wie Göttingen und Halle im 18. Jh. hätten lösen können, wohingegen insbesondere die Akademien als institutionellen Zentren der ‚Forschung‘ in der frühen Neuzeit die eigentlichen Orte innovativer Erkenntnisgewinnung gewesen seien (Füssel 2015). Tatsächlich wurden neue Fächer wie Geschichte und Dichtung mit dem Einzug des Humanismus an den Artistenfakultäten bereits im späten 15. und frühen 16. Jh. institutionalisiert. Spätestens seit dem 17. Jh. wurden moderne Fremdsprachen wie Spanisch, Französisch, Englisch oder Italienisch an den Philosophischen Fakultäten der Universitäten unterrichtet, ebenso Kavaliersfächer wie Reiten, Fechten oder Tanzen. In diesem Rahmen hielt auch militärisch-technisches Wissen Einzug in den universitären Bildungskanon. Das Studium an den drei höheren Fakultäten dauerte deutlich länger als das Artesstudium. Im Regelfall stellte dieses die Voraussetzung dafür dar, Medizin, Jura oder Theologie zu studieren, wobei unter anderem für die Angehörigen der Bettelorden im Falle der Theologie Ausnahmen gemacht werden konnten. Es war üblich, dass die Studenten der höheren Fakultäten zugleich als Magister an der Artesfakultät unterrichteten. Obwohl die Fakultäten je eigene institutionelle Strukturen ausbildeten, blieb auf diese Weise der Zusammenhang zwischen den Artes und den höheren Fakultäten gewahrt. Zugleich wurde so der Status der artistischen Wissensbestände und insbesondere der Dialektik als Fundament der übrigen Wissenschaften gesichert. 4.2 Medizin (Jana Madlen Schütte) Medizinische Fakultäten waren an den meisten mittelalterlichen Universitäten vorgesehen. Die Ursprünge einer akademischen Medizinerausbildung sind aber schon vor der Gründung der ersten Universitäten im 10. Jh. in der Medizinschule von Salerno fassbar, die sich besonders in der Rezeption des griechisch-arabischen Textgutes in der Übersetzung des Constantinus Africanus hervortat. Allerdings entstand erst 1231 eine Universität in Salerno, nachdem die Blütezeit der dortigen Medizinschule vorbei war (Baader 1978; Siraisi 1993, S. 325–328). Neben Salerno gab es nur wenige bedeutende medizinische Ausbildungszentren, wie zunächst in Montpellier, Paris und
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Bologna. In Montpellier wurde seit dem Ende des 12. Jh.s Medizinunterricht erteilt, noch bevor 1289 das Studium der Medizin offiziell durch eine päpstliche Bulle genehmigt wurde. Die medizinische Fakultät machte sich durch viele berühmte Lehrer der Chirurgie wie Henri de Mondeville und Guy de Chauliac einen Namen (Le Blévec/ Granier 2004; McVaugh 2004). In Paris ist eine schulische Form der Medizinerausbildung zwar seit 1213 belegt, die medizinische Fakultät als Korporation trat aber erst 1270 offiziell in Erscheinung. Das Verhältnis zwischen Ärzten und Chirurgen in Paris war durch zahlreiche Konflikte belastet. Daher wurden Chirurgen zur medizinischen Fakultät nicht zugelassen und schlossen sich zu einer eigenen Gemeinschaft, dem Kollegium von Cosmas und Damian, zusammen (Seidler 1967; Wagner 2008, S. 23–33). Wie in Paris gab es auch in Bologna eine eigene Chirurgenschule; Chirurgen und weitere Heiler sind in Bologna seit den ersten zwei Jahrzehnten des 13. Jh.s belegt, die medizinische Fakultät bildete sich erst nach 1260 heraus (Siraisi 1993, S. 327; zur späteren Zeit Pomata 1998). Im deutschen Sprachraum begann sich in der zweiten Hälfte des 14. Jh.s in Wien, Köln und Erfurt das Medizinstudium auszuprägen (Siraisi 1993, S. 325–328). Die überwiegend theoretische Ausbildung der Studenten bestritten an deutschen Universitäten meist zwei Medizinprofessoren, von denen einer den Lehrstuhl für Therapie bzw. Praktische Medizin und einer den für Pathologie bzw. Theoretische Medizin innehatte; eine Professur für Chirurgie kam erst im 16. Jh. hinzu (Sudhoff 1909, S. 10; Kintzinger 2000). Ein Medizinstudium baute normalerweise auf dem Besuch der Artesfakultät auf und dauerte fünf bis sieben Jahre. Die Ausübung der ärztlichen Praxis setzte den Abschluss mit dem Lizentiatsexamen voraus, die nachfolgende feierliche Promotion zum Doktor der Medizin bildete den formalen Abschluss des Studiums (Kink 1854, Nr. 15, S. 156–170; Matschinegg 1996, S. 63–71). An italienischen Universitäten waren Medizin und Artes häufig zu einer Fakultät zusammengeschlossen und auch die Chirurgie war von Beginn an als Universitätsfach anerkannt (Park 1985; Siraisi 2001). In den Statuten der medizinischen Fakultäten wurde der für das Medizinstudium vorgesehene Kanon der medizinischen Lehrwerke festgelegt. 1309 legte Clemens V. etwa die Bücher fest, über die ein Medizinstudent in Montpellier Vorlesungen gehört haben musste, wollte er Bakkalar werden: Neben sechs galenischen Schriften waren dies arabische Autoren wie Avicenna oder al-Razi (Rasis), Constantinus Africanus und Isaak Israeli sowie die sogenannten Articella, eine Sammlung kommentierter kleinerer Schriften, die von Medizinern der Schule von Salerno zusammengestellt worden war (Cartulaire (1830), Nr. 25, S. 219–221; Siraisi 1993, S. 334–341). Bei guten artistischen Kenntnissen waren hierfür fünf, ansonsten sechs Jahre vorgesehen. Hinzu kam ein achtmonatiges Praktikum außerhalb der Stadt. Den Übergang vom hörenden Studium eines Anfängers zum gestaltenden des Fortgeschrittenen markierte wie in den übrigen Fächern das Abhalten eigener Vorlesungen, im Falle Montpelliers einer theoretischen und einer praktischen, bevor der Student zum Magisterium promoviert werden konnte. Länger dauerte das Medizinstudium in Bologna: Den Statuten von 1405 zufolge sollten Philosophie und Astrologie je drei, darauf die theoretische und die praktische Medizin je vier Jahre studiert werden (Malagola 1888, S. 272–277).
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Der Bücherkanon war an deutschen, italienischen, französischen, spanischen und englischen Fakultäten gleich (Nutton 1998, S. 88). Neben den Autoritäten und ihren Auslegungen entstanden konkrete Handreichungen, die das Studieren erleichtern sollten (Studienführer). Martin Stainpeis, der 1490 in Wien zum Doktor der Medizin promoviert worden war, veröffentlichte z. B. 1520 unter dem Titel Liber de modo studendi seu legendi in medicina eine Studienanleitung, die dem Medizinstudenten nicht nur Inhalte, Verlauf und Autoren des Studiums vermitteln sollte, sondern auch eine praktische Anleitung zum idealen Arzt bot (Stainpeis 1980). Auch das Medizinstudium im deutschen Sprachraum enthielt einzelne praktische Ausbildungsanteile: In einigen Statuten war festgeschrieben, dass Medizinstudenten ein Jahr lang einen erfahrenen Arzt bei seinen Krankenbesuchen begleiten sollten (Seifert 1996, S. 212). Anatomische Sektionen fanden nur unregelmäßig statt, obwohl ab dem 15. Jh. vielerorts zwei Sektionen pro Jahr vorgeschrieben waren (Porter 2008, S. 115; Cunningham 1997). In der Hierarchie der Fakultäten kam der Medizin nach Theologie und Jurisprudenz der dritte Rang zu. Die medizinische war die kleinste der höheren Fakultäten; folglich war auch die Anzahl ihrer Absolventen gering und diese bildeten eine Minderheit auf dem medizinischen Markt. Ihr Verhältnis zu den anderen Heilern reichte von Arbeitsteilung über gegenseitige Toleranz bis hin zu Konkurrenz (Pedersen 1996, S. 363–365; Wagner 2008, S. 32; Schütte 2017). Die Chirurgie und mit ihr jede Art praktischer Patientenbehandlung gehörte zu den Aufgaben der Bader, Barbiere und Wundärzte, die eine handwerkliche Ausbildung durchliefen und in Zünften organisiert waren. Einige medizinische Fakultäten unternahmen Anstrengungen, auch die Approbation der nicht studierten Heiler und die Visitation der Apotheken an sich zu ziehen. Zu diesen institutionell angebundenen medizinischen Berufszweigen kamen noch weitere heilkundig Tätige wie Empiriker, Hebammen und jüdische Ärzte oder fahrende Heiler hinzu (Jütte 2001). 4.3 Jura (Jan-Hendryk de Boer / Thomas Woelki) Seit dem späten 11. Jh. sind für Bologna Rechtsschulen belegt; im 12. Jh. bildeten sich solche auch in zahlreichen anderen norditalienischen Städten aus (Fried 1974; Fried 1986; Cortese 1995). In den Jahrzehnten um 1200 statteten Irnerius und seine vier Schüler das Corpus Iuris Civilis mit einem Grundstock von Glossen aus und legten somit die Basis für die systematische Exegese des römischen Rechts und dessen Zuschnitt auf die Erfordernisse der mittelalterlichen Kommunen. Die hierbei herausgearbeiteten Rechtsfiguren wurden als überzeitliche und heilige Dogmen (dogmata iuris) betrachtet, welche dem auf traditionellen Abhängigkeiten und Loyalitäten gründenden feudalen Rechtsdenken leistungsfähige Alternativen entgegensetzten (Bellomo 2012). Die Bologneser Rechtsschulen wurden zur Keimzelle der universitären Rechtsfakultäten. Den Anfang machte wiederum Bologna. Die Bildung einer universitas ging hier maßgeblich von Rechtsstudenten aus. Auch in Padua, Piacenza,
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Siena, Perugia und Pavia entstanden juristische Fakultäten nach Bologneser Vorbild, während in Pisa oder Mailand, wo das langobardische Recht gepflegt wurde, die Existenz von Rechtsschulen erst spät Anlass zur Gründung von universitären Fakultäten wurde. In Vicenza oder Arezzo gab es zwar im 13. und 14. Jh. mehr oder weniger einflussreiche Rechtslehrer, doch die örtlichen Universitäten konnten sich nicht dauerhaft etablieren. Entscheidende Impulse gingen für das Zivilrecht im 14. Jh. vor allem von Perugia aus, wo die berühmten Juristen Bartolus de Saxoferrato sowie die Brüder Baldus und Angelus de Ubaldis monumentale Kommentare zu allen Teilen des Zivilrechts verfassten. Ihre Texte wurden bis weit in die frühe Neuzeit zur Basis jeder Beschäftigung mit dem römischen Recht, auch wenn im 15. und 16. Jh. weitere bedeutende Kommentarwerke hinzukamen. Für Frankreich lässt sich mit zeitlicher Verzögerung eine mit Norditalien vergleichbare Entwicklung beobachten. Hier bildeten sich v. a. in Südfrankreich im 12. Jh. Rechtsschulen heraus, was im 13. Jh. in Montpellier, Toulouse und Orléans zur Konstitution von Rechtsfakultäten führte (Gouron 1978). Da Papst Honorius III. 1219 verboten hatte, in Paris Zivilrecht zu unterrichten, wurde hier lediglich das kanonische Recht gelehrt. Frühes Zentrum des Rechtsstudiums in Spanien war Salamanca. Im 14. Jh. entstanden europaweit in zahlreichen Neugründungen juristische Fakultäten, in Frankreich etwa in Avignon, Cahors und Orange, in Spanien in Lerida und Huesca, im Heiligen Römischen Reich in Prag, Heidelberg, Wien, Köln und Erfurt, in Ungarn in Pécs und Buda. Im 15. Jh. kamen neben weiteren Gründungen in Frankreich, Spanien und im Reich Fakultäten in Schottland (St. Andrews, Glasgow, Aberdeen) und in Skandinavien (Kopenhagen, Uppsala) hinzu. In Bologna hatte sich neben dem Unterricht im römischen Recht seit Mitte des 12. Jh.s unter dem Eindruck der vom Kamaldulensermönch Gratian angelegten Rechtssammlung, dem oben bereits erwähnten Decretum, ein kontinuierliches Interesse am kanonischen Recht ausgebildet, so dass später auch an der Universität beide Rechte gelehrt und die jeweiligen Doktoren in zwei Collegia versammelt wurden. Da an den italienischen Universitäten lange Zeit nur vereinzelt Theologie unterrichtet wurde, behielten die Juristen wie in Bologna auch in Padua, Siena oder Perugia eine dominierende Stellung, die sich bereits an den Zahlenverhältnissen der Lehrenden ablesen lässt: Von 122 Gelehrten, die 1488/89 in Bologna unterrichteten, waren nicht weniger als 64 Juristen (Lange/Kriechbaum 2007). Die Zahlenverhältnisse zwischen Kanonisten und Zivilisten schwankten nördlich wie südlich der Alpen je nach Universität. Während in Orléans die Legistik dominierte, war in Toulouse, Montpellier und Avignon die Kanonistik bestimmend. In Oxford und Köln waren die Verhältnisse zwischen Legistik und Kanonistik ausgeglichen. An vielen Universitäten des Heiligen Römischen Reichs und auf der iberischen Halbinsel besaß zunächst das kanonische Recht ein Übergewicht, während das römische Recht zwar gelehrt wurde, aber auf jenes hingeordnet war. Ein Ausbau der legistischen Lehrstühle erfolgte vielfach erst im 15. Jh. (Barton 1984; Boyle 1984; Coing 1964). Anders als die norditalienischen Rechtsfakultäten mit ihrer europaweiten Ausstrahlung zogen die Fakultäten im Reich, in England oder auf der iberischen Halbinsel keine fremden Studenten an.
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Bis ins 16. Jh. machten sich Nordeuropäer, wenn sie es sich leisten konnten, auf den Weg über die Alpen, um in Italien ihr Studium abzuschließen und so das eigene Renommee zu steigern. Besonders angesehen war der Grad eines doctor utriusque iuris, der häufig am Anfang einer steilen Karriere in der Kirche oder im Dienst eines weltlichen Herrschers stand. Was für das Rechtsstudium insgesamt galt, bestätigte sich bei einem an einer prestigeträchtigen Universität erworbenen Doktorgrad: Sein Studium verhieß dem Juristen im Vergleich zu dem Studium an einer anderen Fakultät etwa durch das Verfassen von Gutachten (Consilia) erheblich größere Verdienstmöglichkeiten, was zu teils heftiger Polemik gegen die gerne als geldgierig und skrupellos beschriebenen Juristen in Literatur, Predigt oder gelehrtem Traktat führte. Die sich bereits im 12. Jh. herausbildende ‚Juristenschelte‘ ist insofern ein Hinweis auf die Ausbildung einer Funktionselite, die in den norditalienischen Kommunen, bald aber auch an Höfen, der Kurie und in den Städten in ganz Europa zu Einfluss gelangte (Brundage 2002; Wetzstein 2010). Wichtigste Rechtsquellen waren das Corpus Iuris Civilis und das Corpus Iuris Canonici. Das Corpus Iuris Civilis setzte sich zusammen aus den Institutionen, den Digesten – gegliedert in Digestum vetus (Dig. 1,1–24,2), Infortiatum (Dig. 24,3–38,17) und Digestum novum (Dig. 39,1–50,17) –, dem Codex Iustiniani – gegliedert in Codex (die Bücher 1 bis 9 des Justinianischen Codex) und das zumeist von Anfängern unterrichtete Volumen bzw. Volumen parvum, worunter die drei übrigen Bücher des Codex (die Tres libri), die Institutionen sowie die Novellen fielen (Lange 1997). Das Corpus Iuris Canonici bestand neben dem Decretum Gratiani aus dem Liber extra (der 1234 unter Gregor IX. erstellten Dekretalensammlung), der von Bonifaz VIII. erlassenen Ergänzung, dem Liber Sextus von 1298 und den 1317 bzw. 1325 durch Johannes XXII. approbierten Clementinae und Extravagantes (Kuttner 1980; Sweeney/Chodorow 1989; Kuttner 1990; Landau 2013). Eine Pariser Ausgabe erweiterte die Sammlung zwischen 1500 und 1503 um die Dekretalen späterer Päpste. Eine von Pius V. 1566 eingesetzte Kommission korrigierte den Textbestand. Während die autoritative Grundlage des römischen Rechts mit Ausnahme des Lehnsrechts und einiger weniger Konstitutionen staufischer Kaiser, die in den Codex aufgenommen wurden, eine in sich abgeschlossene Übernahme eines (spät-)antiken Textbestandes darstellte, wuchs und veränderte sich das Korpus des kanonischen Rechts bis ins 16. Jh. Erst 1580 verbot Gregor XIII. jegliche Veränderungen am so entstandenen Text und schloss damit die Kanonbildung ab. Dass in England insbesondere in den Rechtsschulen der Londoner Inns of Court der eigenen Rechtstradition ein erhebliches Gewicht beigemessen wurde, während man der Einführung des ius civile häufig skeptisch gegenüberstand, war die Ausnahme (De Zulueta/Stein 1990). Wenn man sich mit dem Gewohnheitsrecht befasste, geschah dies zumeist ausgehend von der Überzeugung, dass das Studium des römischen bzw. des kanonischen Rechts und seiner Kommentare die Voraussetzung für die Beschäftigung mit allen übrigen Rechtsquellen und -traditionen bildete. Wie für die Medizin gilt auch für die Rechtswissenschaft, dass ein bis ins frühe 16. Jh. allgemein akzeptierter Autoritätenbestand und europaweit ähnliche Metho-
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den, diesen auszulegen, zu einer Standardisierung des Studiums führten, die gleichwohl Unterschiede im Curriculum (etwa in der Gewichtung von römischem und kanonischem Recht) und der Studienorganisation zuließ. So war es in Bologna anders als an den meisten anderen Universitäten etwa möglich, das ius civile ohne eine vorausgehende Artesausbildung zu studieren. Während nördlich der Alpen eine eigene Prüfung und eine Verleihung des Bakkalaureats üblich waren, bezeichnete man in Italien fortgeschrittene Scholaren, die bereits selbst lehrten, ohne eine solche als Bakkalare. Am Ende des Studiums stand in den italienischen Universitäten das privatum examen, das zu bestehen dem Kandidaten eine beschränkte licentia docendi einbrachte; mit dem feierlichen und kostspieligen publicum examen wurde der Kandidat schließlich zum Doktor promoviert. Seit 1291 war das Doktorat in Bologna mit der licentia ubique docendi verbunden (Sorbelli 1940; Weimar 1982; Lange 1997; Lange/ Kriechbaum 2007). Auch in Nordeuropa und Spanien war das Lizentiat Ausweis fachlicher Kompetenz und erfolgreicher Lehrtätigkeit, während die Promotion weniger strenge Prüfung als ritualisierte Aufnahme in den Kreis der Doktoren bedeutete. Die Vorlesungen folgten überall der Ordnung der justinianischen Rechtsbücher. Im Zentrum des Rechtsstudiums in Norditalien standen die Digesten und die ersten neun Bücher des Codex, ein Vorgehen, das die nordalpinen Universitäten übernahmen (Bellomo 1979). Nach einer Einführung in den jeweiligen Titel gab der Lehrende eine Inhaltsangabe der jeweils behandelten Lex oder des jeweiligen Paragraphen. Anschließend wurde der Text verlesen, wobei schwierige Worte und Passagen erläutert und Parallelstellen angegeben wurden. Daraufhin wurden der Gehalt in allgemeiner Form herausgearbeitet, weitere Distinktionen formuliert und schließlich der jeweiligen Referenzstelle verwandte Rechtsfragen besprochen (Weimar 1973; Lange/Kriechbaum 2007). Neben den eigentlichen Vorlesungen fanden am Nachmittag oder an Feiertagen besondere Lehrveranstaltungen statt, in denen entweder Einzelprobleme intensiv erörtert oder einzelne Abschnitte der Rechtsbücher intensiver analysiert wurden, als dies im normalen Lehrbetrieb möglich war. Diese sogenannten Repetitionen gingen häufig weit über die Erörterung der unmittelbar in der jeweils besprochenen Textstelle enthaltenen Inhalte hinaus und behandelten systematisch größere Rechtsmaterien. Als juristische Literaturform, die formal dem Traktat verwandt war, verdrängte die Repetitio im 14. Jh. weitgehend die Quaestio disputata und im 16. Jh. auch den ganze Rechtsbücher umfassenden Großkommentar. Als Beispiel für den Ablauf des Rechtsstudiums sei hier derjenige der Universität Leipzig vorgestellt. In der Neufassung des Lehrplans für alle Fakultäten im Jahre 1519 wurde das Rechtsstudium auf vier Jahre angesetzt: Die wichtigste Vorlesung am frühen Vormittag war stets dem kanonischen Recht gewidmet, genauer dem ersten und zweiten Buch des Liber extra, der im Auftrag Gregors IX. angelegten Dekretalensammlung. Detailliert wurde festgelegt, welche Titel in welchem Jahr zu behandeln waren. Ebenfalls vormittags, im Sommer zur siebten, im Winter zur achten Stunde, fand die Vorlesung im Zivilrecht statt. Im ersten Jahr war über den ersten Teil des Digestum vetus, also D.1.1 bis D.11.8 zu lesen; im zweiten und vierten Jahr waren Titel aus dem ersten Teil des Codex zu behandeln; das dritte Jahr war Titeln des ersten Teils des
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Digestum novum, also aus D.39.1 bis D.44.7 vorbehalten. Anschließend, im Sommer zur achten, im Winter zur neunten Stunde, standen erneut Vorlesungen im kanonischen Recht an, nämlich über Titel aus dem Liber Sextus und den Clementinen. Am Nachmittag fanden in den ersten drei Jahren wiederum Vorlesungen im Zivilrecht statt; nun sollte im ersten und dritten Jahr über Titel des Infortiatum, des zweiten Teils der Digesten, gelesen werden (D.24.1 bis D.38.17), im zweiten Jahr über solche aus dem zweiten Teil des Digestum vetus (D.12.1 bis D.23.5); im vierten Jahr waren schließlich weitere Titel der Dekretalen angesetzt. Damit auch tatsächlich die gesamte Wissenschaft beider Rechte behandelt würde, sei, so die Statuten, außerdem zu lesen über die Institutionen, das vierte Buch der Dekretalen sowie die Libri feudorum (auch Usus feudorum), eine hochmittelalterliche Kompilation des Lehnsrechts. Regelmäßig sollten schließlich Disputationen abgehalten werden (Zarncke 1861, Nr. 8, S. 36–38). Der Schwerpunkt des Unterrichts lag in erster Linie auf der Erklärung und Kommentierung der Rechtsquellen und erst in zweiter Linie auf deren Anwendung auf aktuelle Rechtsfälle. Gemäß der scholastischen Diskurslogik wurden Rechtsquellen in einzelne Punkte und Worte zerlegt, deren Bedeutung durch Begriffs- und Sinnunterscheidungen sowie das Heranziehen weiterer Autoritäten geklärt wurde (Meyer 2000; Dedek 2010). Einleitende Bemerkungen umrissen den Inhalt und die Bedeutung des besprochenen Gesetzesabschnitts, spalteten längere Texte in Sinneinheiten auf und resümierten den Inhalt. Der exegetischen Erschließung dienten auch Auflistungen der Parallelstellen aus anderen Gesetzesabschnitten. (Scheinbare) Widersprüche innerhalb der Rechtssystematik wurden durch Zergliederung von Sondermerkmalen der Rechtsbegriffe und ihres Anwendungsbereichs harmonisiert (distinctiones). Auftretende Rechtsprobleme (quaestiones legitimae) wurden häufig innerhalb des Kommentars erörtert, Subsumtionsprobleme (quaestiones de facto) hingegen gern in die außerordentlichen Lehrveranstaltungen verlagert. Zumeist folgten Fallbeispiele (casus), welche die im Text enthaltenen Inhalte konkretisierten. Die aus dem Text abzuleitenden allgemeinen Rechtsregeln wurden typischerweise mit Nota quod … hervorgehoben (notabilia), insbesondere wenn die hier zu notierende Rechtsregel nur aus dieser Textstelle erwuchs (singularia). Tendenziell nahm die Bedeutung der exegetischen Bestandteile im späten Mittelalter ab, während die Textmasse insbesondere durch die Akkumulation der praxisorientierten Elemente (casus, notabilia, quaestiones) abschwoll. Erst mit dem Humanismus begann die Auslegung der Rechtsquellen seit dem 15. Jh., historisch-genetische Aspekte zu berücksichtigen (Burmeister 1974). Seit dem 16. Jh. wurde die traditionelle Legalordnung in den Kommentarwerken immer stärker durch eine systematische Behandlung von Rechtsmaterien abgelöst, wobei Gelehrte wie Guillaume Budé, Andreas Alciatus oder Jacobus Cujas auf die extensive Kompilation von Gesetzesstellen und Literaturzitaten verzichteten. Die Institutiones und die Digestentitel De verborum significatione (D. 50.16) und De regulis iuris (D. 50.17) erhielten als propädeutische Grundlagen des Rechtsstudiums höheres Gewicht; Teildisziplinen der Rechtswissenschaft differenzierten sich heraus (Prozessrecht, Strafrecht, öffentliches Recht). Staatliche Gesetzgebung verdrängte das Ius commune schließlich gegen Ende des 17. Jh.s als Gegenstand von Wissenschaft und Lehre.
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Eine kaum zu überschätzende Bedeutung für das Rechtsstudium hatten die zahlreichen Repertorienwerke, welche den umfangreichen Stoff auf essentielle Kerninhalte reduzierten und durch alphabetische oder systematische Ordnungssysteme einen schnellen Überblick versprachen. Die Bandbreite der Erscheinungsformen derartiger Texte reicht von Exzerpt- und Allegationensammlungen zu einzelnen Rechtsbüchern oder Kommentarwerken bis zu Auflistungen von Meinungsverschiedenheiten (Dissensiones doctorum) und Divergenzen zwischen römischem und kanonischem Recht. Eine Sonderstellung nehmen die im 15. und 16. Jh. sehr beliebten Sammlungen von Singularia ein, in welchen Text- und Kommentarstellen gesammelt wurden, welche für sich allein eine für die Praxis besonders relevante Rechtsregel fundierten (Matheus de Mathesilaneis, Ludovicus Pontanus). Weit stärker als an den übrigen Fakultäten entstammten Studenten der Rechtswissenschaft einer vermögenden Schicht, für die Universität Wien etwa wird ihr Anteil für das 15. Jh. auf 95 Prozent geschätzt. Der Adel war unter den angehenden Juristen überproportional vertreten. Dass unter den sozial kartographierbaren Studenten in Bologna zwischen 1265 und 1425 fast 75 Prozent dem Adel entstammten, lag insbesondere an dem Ruf der dortigen Hochschule als Juristenuniversität. Ihrer Herkunft nach, aber auch aufgrund des Prestiges ihres Faches und angesichts der zu erwartenden einträglichen Karrieren bildeten Juristen ein besonderes Statusbewusstsein aus, das regelmäßig zu Konflikten mit anderen Universitätsangehörigen führte (Immenhauser 1998). In Prag konstituierte sich infolgedessen 1372 die Rechtsfakultät als eigene universitas. Zu Rangstreitigkeiten zwischen den Juristen und den Repräsentanten der anderen Fakultäten, insbesondere den Theologen, kam es auch an anderen Universitäten regelmäßig. Die Dignität des disziplinären Gegenstandes und die Tradition konnten dabei ebenso Annahmen über den Rang der Wissenschaften begründen wie deren Status in der außeruniversitären Umwelt, wobei keinesfalls ausgemacht war, ob die Juristen als Funktionselite der Verwaltung und bei Hofe oder die Theologen als Seelsorger und Wächter des rechten Glaubens ihre Ansprüche durchsetzen konnten. 4.4 Theologie (Jan-Hendryk de Boer) Wie die Theologie als Wissenschaft, so beanspruchten die theologischen Fakultäten des Mittelalters einen (allerdings keinesfalls unangefochtenen) Vorrang gegenüber den anderen Fakultäten und Disziplinen. Begründet wurde dieser Anspruch auf verschiedene Weise: Die Theologen konnten für sich reklamieren, über den höchsten Gegenstand, nämlich Gott, zu sprechen, außerdem als Einzige mit dem Glauben einer Erkenntnisweise zu folgen, die an Gewissheit die Möglichkeiten der natürlichen Vernunft übertraf. Schließlich behaupteten sie, eine besondere Rolle nicht nur bei der religiösen Unterweisung, sondern auch beim Schutz des rechten Glaubens zu spielen, da sie vor allen Übrigen zum Kampf gegen Häresien und Irrlehren berufen waren und so als Wächter der Wahrheit eine unverzichtbare diskursive Ordnungsmacht dar-
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stellten (Zensur). Diese Ansprüche finden sich sämtlich zwar schon in voruniversitärer Zeit, wurden jedoch im 13. Jh. insbesondere von den Pariser Theologen systematisiert und argumentativ ausgebaut (Köpf 1974; Chenu 1957). Diese Selbstreflexion auf die typische Erkenntnisweise der eigenen Disziplin und ihr Verhältnis zu den anderen Fächern, insbesondere den Artes und der Kanonistik, sowie zur christlichen Gesellschaft insgesamt spielte eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung der Theologie als Wissenschaft, die – bei allen Unterschieden – prinzipiell mit den übrigen an der Universität gelehrten Disziplinen in einen wissenschaftlichen Austausch treten konnte. Die besondere Rolle der Theologie wird bereits dadurch deutlich, dass sie zunächst lediglich an den Universitäten Paris, Oxford und Cambridge, an der Kurienuniversität in Rom sowie an einigen Studienhäusern der Bettelorden gelehrt wurde. Paris war bereits im 12. Jh. ein, wenn nicht das Zentrum der Theologie gewesen, da hier einflussreiche Theologen wie Abaelard, Gilbert von Poitiers, Peter Cantor und Stephen Langton wirkten und zahlreiche Studenten um sich sammelten (Leppin 2007). An der Pariser Kathedralschule lehrte auch Petrus Lombardus, der spätere Pariser Bischof und als Autor der bereits erwähnten gewaltigen Sammlung von autoritativen Lehrsätzen ein bis ins 16. Jh. zumindest mittelbar außerordentlich einflussreicher Theologe. Die Päpste waren im gesamten 13. und in der ersten Hälfte des 14. Jh.s bestrebt, die Bildung theologischer Fakultäten an anderen Universitäten zu verhindern. Sie förderten insbesondere die Pariser Theologen, die sie wiederholt um fachliche Unterstützung bei Lehrstreitigkeiten und Häresieverfahren ersuchten. Die Bildung weiterer theologischer Fakultäten hätte die privilegierte Rolle der Pariser Fakultät zu beeinträchtigen gedroht und den Päpsten den Zugriff auf diese für die Wahrung des rechten Glaubens und damit für die Stützung der Kirche unerlässliche Instanz erschwert. Ganz zu verhindern war die Etablierung neuer theologischer Fakultäten im 14. Jh. nicht mehr (Asztalos 1993). Den Anfang machte 1347 Prag, da der neugegründeten Universität ausdrücklich gestattet wurde, eine theologische Fakultät zu unterhalten. Ab 1360 folgten neben Toulose mehrere italienische Universitäten, darunter Pisa, Perugia, Bologna, Padua. Die neuen theologischen Fakultäten gingen dabei nicht selten aus lokalen Bettelordensstudien hervor. Diese Anfänge beschleunigten sich mit dem Großen Schisma ab 1378, als die Konkurrenz der Päpste den Universitäten bzw. den Universitätsgründern ungeahnte Handlungsspielräume bot. Nicht nur war es nun leichter, von einem Papst ein Privileg zu erhalten, das die Einrichtung einer theologischen Fakultät gestattete, obendrein führte das Schisma zu zahlreichen, häufig landsmannschaftlichen Auszügen von Theologengruppen, die andernorts rasch ein Studium der Theologie aufzubauen ermöglichten. So profitierte die Gründung der Wiener Universität 1389 von der Expertise der Theologen Heinrich von Langenstein und Heinrich Totting von Oyta, Heidelberg vom hochangesehenen Marsilius von Inghen. Papst Urban VI. nutzte die Gelegenheit, durch die Schaffung neuer theologischer Fakultäten die Bedeutung von Paris zu mindern, das zu seinem Gegner Clemens VII. hielt. Die Statuten der neu geschaffenen Universitäten und ihrer theologischen Fakultäten orientierten sich mit einigen Abweichungen am Pariser
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Vorbild, wie auch das Theologiestudium in verkleinertem Maßstab das den Professoren aus Paris Bekannte nachbildete. Was in Paris und Oxford üblich war, wurde von den später gegründeten theologischen Fakultäten übernommen: Allerorten hatte der angehende Theologe am längsten zu studieren. In Paris dauerte das Theologiestudium 1366 nicht weniger als sechzehn Jahre; erst 1452 wurde es um ein Jahr verkürzt. In den ersten vier Jahren waren Vorlesungen über die Bibel und die Sentenzen zu hören, worauf das Bakkalaureat erworben werden konnte. Der Bakkalar las nun als cursor zwei Jahre über die Bibel, danach als baccalaureus sententiarius für zwei, später ein Jahr über die Sentenzen; gleichzeitig hatte er aktiv an mehreren Disputationen teilzunehmen (Denifle, Bd. 3 1894, Nr. 1319, S. 143–146; Denifle 1897, Bd. 4, Nr. 2690, S. 712–734). In Oxford dauerte das Theologiestudium Mitte des 14. Jh.s für diejenigen, die bereits das Magisterium an der Artesfakultät erworben hatten, sieben Jahre bis zum Bakkalaureat; alle anderen hatten ein Jahr länger zu studieren (Gibson 1931, S. 48 ff.) In Wien sahen die Statuten für alle nicht einem Bettelorden angehörenden Studenten ein sechsjähriges Studium bis zum Erwerb des Bakkalaureats vor, wobei morgens Vorlesungen über die Bibel und die Sentenzen bei einem Magister oder Doktor, nachmittags zusätzliche Bibelvorlesungen bei einem baccalaureus biblicus, also einem fortgeschrittenen Studenten der Theologie, zu hören waren. Während Letzterer über die Bibel kursorisch (cursorie), also bezogen auf den Literalsinn, las, legten die Professoren ausführlich den geistlichen Sinn der Schrift aus. Hatte der Bakkalar erfolgreich seine Bibelvorlesung absolviert, war er – nach einem mindestens achtjährigen Studium – berechtigt, über die Sentenzen zu lesen, wenn er außerdem zumindest zweimal als Respondent in einer Disputation seines Magisters agiert und mindestens einmal vor Universitätsangehörigen gepredigt hatte. Wer die je nach Beschluss der Fakultät auf ein oder zwei Jahre angesetzte Sentenzenvorlesung absolviert und in insgesamt vier Disputationen respondiert hatte, konnte, wenn er mindestens dreißig Jahre alt war, zur Lizenz zugelassen werden (Kink 1854, Nr. 15, S. 105–118). Den päpstlichen Willen, auf die Lehre der Theologie in Paris Einfluss zu nehmen, dokumentieren bereits die vom päpstlichen Legaten Robert von Courçon erlassenen Vorschriften von 1215, welche die Lektüre der naturphilosophischen Schriften des Aristoteles untersagten. Auch im Hintergrund weiterer Zensurmaßnahmen und Lehrverurteilungen machte sich immer wieder päpstlicher Einfluss bemerkbar, so auch im Falle der Verurteilung von 219 Thesen durch den Pariser Ortsbischof, die jedoch zugleich eine Konkurrenz zwischen den lokalen Autoritäten, der theologischen Fakultät sowie dem Papst ausdrückte (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 473, S. 543–558). Die Pariser Theologen sahen äußere Einflussnahmen nämlich keinesfalls gerne und versuchten zunehmend, getragen von einem institutionell stabilisierten und epistemologisch begründeten Selbstbewusstsein, als eigenständige Spieler innerhalb des Ringens um die Grenzen des wahren Glaubens aufzutreten, was nicht nur die Kurie, sondern insbesondere auch die Juristen herausforderte (Marmursztejn 2007). Anders als in Paris war das Papsttum in der ersten Hälfte des 13. Jh.s für die theologischen Fakultäten von Oxford und Cambridge zunächst kein entscheidender Faktor. Erst 1254
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bestätigte Innozenz IV. den Oxforder Magistern ihre Rechte – die erste päpstliche Einflussnahme in die inneren Angelegenheiten der englischen Universität. Danach nahm die päpstliche Aufmerksamkeit für die theologische Fakultät in Oxford stetig zu, ein Ausdruck für deren gewachsene Bedeutung. Spätestens seit den 1270er-Jahren hat Oxford als gleichwertiges Zentrum theologischen Denkens neben Paris zu gelten. Diese neue Rolle schlug sich nicht zuletzt in verschiedenen Lehrzuchtverfahren als Resultat verstärkter päpstlicher Kontrollversuche während des 14. Jh.s nieder. Genannt seien hier nur der auf Initiative des ehemaligen Oxforder Kanzlers John Lutterell begonnene Avignoneser Prozess gegen Wilhelm von Ockham, dann die Auseinandersetzungen um die Lehren John Wyclifs, die eine europäische Dimension erhielten, als sich die Prager Theologen um Johannes Hus und Hieronymus von Prag für die metaphysische Spekulation wie für die realistische Metaphysik des Engländers zu begeistern begannen. Gleichzeitig wurden Spannungen innerhalb der Universität und Konflikte mit dem zuständigen Bischof von Lincoln bzw. mit dem Erzbischof von Canterbury immer häufiger an die Kurie getragen (Larsen 2011; Catto 1992). Daran, dass aus päpstlicher Sicht bis weit in die frühe Neuzeit hinein Paris als die bei weitem wichtigste theologische Fakultät der institutionelle Ort war, an dem der wahre Glauben verteidigt wurde, änderten diese Entwicklungen jedoch nichts. Bis in die 1330er-Jahre waren die personalen und doktrinalen Verbindungen zwischen den theologischen Fakultäten in Paris und Oxford sehr eng (Leff 1968; Courtenay 1987). Erst danach löste der Hundertjährige Krieg, aber auch die Etablierung anderer theologischer Fakultäten seit der Jahrhundertmitte die engen Bande. Anders als in Paris durften in Oxford die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles von Beginn an ungehindert studiert werden. Dass mathematisch-naturwissenschaftliches Wissen eine wichtige Rolle innerhalb der Theologie spielen konnte, war seit Robert Grosseteste in Oxford prinzipiell unumstritten. Die heftigen Auseinandersetzungen um die Rolle der natürlichen Vernunft und damit der aristotelischen Syllogistik sowie artistisch-philosophischer Wissensbestände in der Theologie, welche die 1250er bis 1270er und wieder die ersten Jahrzehnte des 14. Jh.s in Paris kennzeichneten, finden sich in Oxford daher nur in abgeschwächter Form. Ähnlich schwierig gestaltete sich hingegen an beiden Universitäten das Verhältnis zwischen Weltgeistlichen und Mendikanten. In Paris war es Alexander von Hales, in Oxford Roger Bacon, die als erste magistri regentes in einen Bettelorden eintraten. Auf diese Weise fiel eine der zwölf Pariser Lekturen für Theologie an den Franziskanerorden, eine der Oxforder Professuren an die Dominikaner. Dass die Orden (mit Ausnahme der Karmeliter) in Paris, Oxford und Cambridge Generalstudien unterhielten, die auf ihrer Unabhängigkeit gegenüber der Universität bestanden, wurde spätestens immer dann zum Problem, wenn die weltgeistlichen Universitätsmagister streikten. Denn ihre mendikantischen Kollegen schlossen sich ihnen in der Regel nicht an, sondern setzten ihre Lehrtätigkeit fort, was die Wirkung des Streiks schwächte und von den Universitätsmagistern als Provokation betrachtet wurde. Als die Pariser Mendikanten sich im Jahre 1253 nicht an einem Streik der Universität beteiligen wollten, beschloss die universitas, dass ein Eid auf die Statuten künftig Vo-
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raussetzung dafür sein solle, in das Kollegium der Magister aufgenommen zu werden. Letztlich wollten sie damit durchsetzen, dass die Ansprüche der Korporation höher rangierten als die möglicherweise diesen zuwiderlaufenden Interessen der Orden. Als Papst Alexander II. sich auf die Seite der Mendikanten stellte, eskalierte die Auseinandersetzung zu einem in Disputationen und Predigten ausgetragenen Konflikt, in dem sich schließlich die Orden, die mit Bonaventura und Thomas von Aquin ihre vielversprechendsten jungen Theologen ins Gefecht schickten, durchzusetzen vermochten (Steckel 2013). Auch in Oxford sorgten sich die weltgeistlichen Magister, allzu viele der wenigen Studenten der Theologie an die Bettelordensmagister zu verlieren, deren Stellung zur Mitte des 13. Jh.s hin immer dominanter wurde (Catto 1984). Strittig war wie in Paris die Frage, welche Voraussetzungen ein Student mitzubringen hatte, um zum Studium der Theologie zugelassen zu werden. Genügte ein Artesstudium an einem ordenseigenen Studium, oder bedurfte es eines Studiums an der universitären Artistenfakultät? Als der Franziskaner Thomas von York 1253 darum ersuchte, ohne vorheriges Artesstudium zum theologischen Magisterium zugelassen zu werden, gestatte man dies zwar, legte jedoch fest, dass künftig niemand zum Magister der Theologie promoviert werden dürfe, der nicht Magister der Artes sei. In den ersten Jahrzehnten des 14. Jh.s brach der Konflikt erneut aus. Wiederum gebrauchten die Weltgeistlichen die Statuten als Mittel, ihre Interessen durchzusetzen. Strittig war unter anderem, ob man anders als bisher zunächst über die Sentenzen lesen müsse, bevor man über die Bibel lesen dürfe. Als der Dominikaner Hugh von Sutton den Eid auf die Statuten verweigerte, appellierten die Mendikanten mehrfach an den Papst, konnten sich jedoch trotz päpstlicher Unterstützung nicht durchsetzen (Sheehan 1984). Ungeachtet all dieser Konflikte war der Zugang zu den theologischen Fakultäten für die Orden von großer Bedeutung. Die Orden schickten an die Generalstudien und zumal nach Paris ihre begabtesten Studenten, die das hier erworbene Wissen als Lehrer wiederum an die übrigen Studienhäuser tragen konnten. Albertus Magnus etwa wurde 1243 von seinem Orden nach Paris entsandt, wo er zum Magister der Theologie promoviert wurde und einige Jahre lang lehrte, bevor er 1248 als Leiter des neugeschaffenen Generalstudiums nach Köln ging. Nicht zuletzt seine in Paris erworbenen Aristoteleskenntnisse konnte er hier seinen Schülern weitergeben. Auf diese Weise legte er den Grundstein für ein eigenes intellektuelles Profil der Kölner Dominikanerschule, die sich mit Meister Eckhart und Dietrich von Freiberg als Alternative zur im Orden hegemonial werdenden Theologie des Albertschülers Thomas von Aquin verstand (Flasch 2007). In England war es das Londoner Studienhaus der Franziskaner, dem in den 1310er- und 1320er-Jahren eine besondere Rolle in den intellektuellen Debatten um den Status der Theologie und deren Methode zukam, die Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham angestoßen hatten. Während Thomas von Aquin in Auseinandersetzung mit aristotelesskeptischen Theologen wie Bonaventura, die die Artes bzw. die Philosophie auf ihre sprichwörtliche Rolle als ‚Magd der Theologie‘ reduzieren wollten, nach Strategien suchte, wie die Philosophie und die Theologie einerseits ein disziplinäres Eigenrecht besitzen und andererseits
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zugleich in ihren Anliegen harmonisch zusammengefügt werden könnten, grenzten die Franziskaner die Theologie epistemologisch gegen die übrigen Disziplinen scharf ab. Sie problematisierten die besondere Rolle des geoffenbarten Glaubenswissens, welches zwar dem theologischen Wissen ein hohes Maß an Gewissheit garantierte, jedoch seinen Status als Wissenschaft im aristotelischen Sinne unterminierte (Marenbon 2007). Im späten 14. und 15. Jh. waren es nicht zuletzt diese selbstreflexiven Debatten, die Bezugspunkte für die Ausbildung von Denkschulen boten, die in Albertus Magnus, Bonaventura, Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus oder Wilhelm von Ockham in ihren Kommentaren, Disputationen und sonstigen Schriften einen bevorzugten Anknüpfungspunkt des Denkens sahen und sich darüber gegen konkurrierende Schulen abgrenzten. Mit der Zunahme der Zahl der theologischen Fakultäten im Laufe der zweiten Hälfte des 14. Jh.s änderte sich sukzessive der Charakter der universitären Theologie. Was in der Forschung lange als Krise, als Erstarrung galt, die erst durch die Reformation aufgebrochen worden sei, wird heute als eigenständige und durchaus produktive Phase der scholastischen Theologie verstanden (Aertsen/Pickavé 2004). Zwei dominante Tendenzen zeichneten sich ab: Erstens die bereits erwähnte, ähnlich in den Artes zu beobachtende verstärkte Schulbildung (Oberman 1977; Hoenen 2003). Was sich auf artistischer Ebene als Wegestreit fassen lässt, also als Konflikt zwischen einer nominalistischen via moderna, welche den Universalien eine extramentale bzw. außersprachliche Existenz absprach, und einer das Gegenteil lehrenden realistischen via antiqua, fällt auf theologischer Ebene zusammen mit Schulgegensätzen, die nicht einfach in der Gegnerschaft von Nominalisten und Realisten aufgingen, sondern zu stärker differenzierten Richtungsstreitigkeiten führten. Zweitens eine innertheologische Debatte darum, wie die eigene Disziplin ihren (zumal seelsorgerlichen) Aufgaben nachzukommen hatte. Seit der Mitte des 14. Jh.s mehrten sich Vorbehalte gegen eine zu dominante Rolle der Logik und allgemein der Sprachphilosophie innerhalb der Theologie. Einflussreich gebündelt findet sich diese auch von Theologen wie Heinrich von Langenstein geäußerte Kritik in den Werken des zeitweiligen Pariser Kanzlers Jean Gerson, der beklagte, dass das Übermaß an metaphysischer Spekulation und sprachphilosophischer Finesse dazu führe, dass die Theologie nicht mehr vermöge, den einfachen Gläubigen hilfreich zu sein (Gerson 1962). Die so entworfene Antinomie sollte überwunden werden durch eine größere Rolle der Volkssprache in der Vermittlung geistlicher Inhalte, eine Zurückdrängung logisch-philosophischer Wissensbestände und eine Betonung seelsorgerlicher Praxis. Nachweisen konnte die spätmittelalterliche Theologie ihre Praxisrelevanz nicht zuletzt in der Diskussion von Strategien, wie mit dem 1378 ausgebrochenen Schisma umzugehen bzw. wie die Kirche zu reformieren sei. Die von Juristen und Theologen getragene Bewegung des Konziliarismus, an der Gerson ebenso wie sein Lehrer Pierre d’Ailly maßgeblichen Anteil hatte, wollte nicht allein das Schisma beenden, sondern diskutierte grundlegende Umgestaltungen im Kräftegleichgewicht kirchlicher Akteure, um den Machtgewinn des Papsttums rückgängig zu machen. Das konziliaristische Schrifttum wie die Konzilien von Konstanz und Basel waren nicht zuletzt eine Demonstration der
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Fähigkeiten von Gelehrten, ihr Wissen und ihre Argumentationstechniken nutzbringend für die Kirchenreform einzusetzen und darüber einen besonderen Rang der Gelehrten in der Kirche zu begründen (Müller/Helmrath 2007). Die Wittenberger Reformation steht bis zu einem gewissen Grade in diesen Traditionen theologischer Selbstkritik und Neuorientierung und der Suche nach kirchlicher Reform (Leppin 2015; Hamm 2011). Sogar ihre antirömisch-antipäpstliche Haltung setzt entsprechende spätmittelalterliche Tendenzen fort. Wie schon bei den Hussiten wurden Theologen in Reformation, Gegenreformation und Konfessionalisierung zu Trägern einer Umgestaltung des geistlichen Lebens mit weitreichenden sozialen und kulturellen Folgen (Kaufmann 2016). Bei Luther, Andreas Karlstadt, Johannes Bugenhagen oder Johannes Calvin paarten sich das persönliche Charisma des Predigers und Seelsorgers mit der institutionalisierten Autorität des Theologieprofessors. Universitäten bzw. theologische Fakultäten spielten mithin eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung (bzw. der Abwehr) der reformatorischen Bewegungen. Allerdings war die Rolle der Universitäten auf reformatorischer Seite zunächst nicht unumstritten: In den 1520er-Jahren griff Luther selbst die Universitäten scharf an, die sich nicht seinen Lehren öffnen wollten. Angesichts des Zweifels an der Notwendigkeit, die tradierten Inhalte zu studieren, kam es in Wittenberg, aber auch in Erfurt, Greifswald und dem altgläubigen Köln zu einem teils dramatischen Rückgang der Studentenzahlen, die sich erst zur Jahrhundertmitte wieder erholt hatten (Seifert 1996, S. 256–258). Selbst Anhänger der Reformation wie Philipp Melanchthon und der Humanist Eobanus Hessus waren alarmiert und verteidigten publizistisch in Briefen, Reden und Dialogen die Notwendigkeit höherer Bildung für die reformatorische Theologie (Melanchthon 1843; Hessus 2016). Bald trat auch Luther für eine Stärkung der Trivialschulen wie der Universitäten ein. Die universitäre Gelehrsamkeit wurde – in protestantischer Einkleidung – zunehmend als wichtiger Ordnungsfaktor anerkannt und entsprechend institutionell gestärkt (am Beispiel Rostocks Kaufmann 1997). Dies geschah nicht zuletzt durch die Gründung protestantischer höherer Schulen und Universitäten, wie etwa 1544 in Königsberg. Für den Calvinismus wurde die 1559 in Genf gegründete Akademie die zentrale Organisation, die die reformatorische Bewegung theologisch absicherte und nach außen verteidigte. Im Gefolge des Trienter Konzils wurde auch auf katholischer Seite das Theologiestudium grundlegenden Reformen unterzogen, welche die verwendeten Lehrbücher, die Unterrichtsmethoden und die vermittelten Inhalte betrafen. Besonders erfolgreich waren die Reformbemühungen der Jesuiten, an deren Kollegien und Universitäten das Philosophiestudium funktional auf die Theologie hin orientiert wurde. In diesen thomistischen Rahmen vermochten sie es, humanistische Elemente, insbesondere das Studium der Sprachen, zu integrieren. Nicht nur an ihren eigenen Universitäten wie Dillingen oder Vilnius, sondern auch als Professoren an den theologischen Fakultäten etablierter Universitäten initiierten die Jesuiten eine innerkatholische Erneuerung der universitären Theologie und Bildung insgesamt, die über die Grenzen Europas bis in die Neue Welt ausstrahlte.
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Protestantische und reformierte Theologen agierten wie ihre katholischen Kollegen gleichermaßen als Diskurswächter nach innen wie nach außen: Innerhalb der verschiedenen religiösen Lager kam es den Theologen zu, über die Einhaltung des rechten Glaubens zu wachen. Luthers rigorose Haltung gegenüber ‚Schwärmern‘ und ‚Täufern‘ ist ebenso Ausdruck dieser normativen Zentrierung innerhalb der reformatorischen Bewegungen wie Calvins Anteil am 1553 ergangenen Todesurteil gegen den antitrinitarischen Theologen Michael Servetus. Zugleich grenzten die reformatorischen Theologen durch ihre Schriften und Predigten sowie in den großen Religionsgesprächen (Disputationen) die eigene Bewegung dogmatisch von konkurrierenden Richtungen sowie der römischen Kirche ab. Eine besondere Rolle kam dabei Lehrwerken wie Melanchthons Loci communes oder Calvins Christianae religionis institutio zu, welche die traditionellen Lehrbücher ersetzen und einen dogmatisch richtigen Zugang zur Bibel als Grundlage von Glauben und Theologie ermöglichen sollten. Die räumliche, personale wie inhaltliche Diversifizierung der Theologie, die sich im Verlaufe des 14. und 15. Jh.s beobachten lässt, beschleunigte sich geradezu eruptiv während der Reformation und gerann in der einsetzenden Konfessionalisierung zu einer Vielzahl theologischer Richtungen, die untereinander kaum mehr kommunikativ anschlussfähig waren. Die Stellung der Landesherren, deren unmittelbarer Einfluss auf die Universität im Spätmittelalter ohnehin zugenommen hatte, wurde durch die Konfessionalisierung weiter gestärkt, da sie die konfessionelle Zugehörigkeit und Konformität ihrer Universitäten kontrollierten und darüber unmittelbar Lehre und wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung mitprägten. Wenn dem ersten Rektor anlässlich der Einweihung der neugegründeten Universität Helmstedt im Jahre 1576 ein Exemplar des Corpus doctrinae Julium überreicht wurde, welches die in BraunschweigWolfenbüttel verbindlichen Lehr- und Bekenntnisschriften versammelte, wurde dieser Anspruch des Landesherrn symbolisch inszeniert – und seine Umsetzung in der Folgezeit kontrolliert (Baumgart 2006, S. 15 f.). Der Wille der Theologen, dem richtigen Glauben zur Durchsetzung zu verhelfen, führte dabei nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der verschiedenen Konfessionen zu erheblichen Zerwürfnissen. So gingen die Vertreter der lutherischen Orthodoxie hart mit den Anhängern Melanchthons ins Gericht. Auf der katholischen Seite beanspruchten die Jesuiten die Rolle des theologischen Diskurswächters. Jesuiten als Professoren an die Universitäten zu berufen, war eine vielgenutzte Möglichkeit katholischer Landesherren, nach außen die konfessionelle Profilierung voranzutreiben und nach innen durchzusetzen. Wenn auf katholischer wie protestantischer und reformierter Seite die zweite Hälfte des 16. und das beginnende 17. Jh. die theologischen Diskussionen vielfach von Normierungstendenzen geprägt waren, bedeutete die Zunahme konkurrierender Zentren theologischer Erkenntnisbildung zugleich jedoch auch eine Dynamisierung und schuf neue Möglichkeiten, Differenzen zu erzeugen und zu behaupten.
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BASISARTIKEL „LEHREN UND LERNEN“ Disputation, quaestio disputata Jan-Hendryk de Boer
Begriffserklärung Bei der scholastischen Disputation handelt es sich nicht einfach um einen Disput oder eine Diskussion, sondern um eine spezifische Weise, konfligierende Argumente in Bezug auf ein in Frageform gestelltes Problem zu erörtern und dieses einer Lösung zuzuführen. In einer mündlichen Disputation werden mit verteilten Rollen eine oder mehrere Fragen diskutiert. Disputationen dienen sowohl der Generierung von Erkenntnis wie der Einübung in die Dialektik. Die Teilnahme an ihnen bildet eine Voraussetzung für das Erlangen universitärer Grade. Die an die mündliche Disputation angelehnte literarische Form der quaestio disputata dient dazu, unter Einsatz von Autoritäten und Argumenten wissenschaftliche Thesen zu erörtern, Ansichten zu widerlegen und neue Positionen zu entwickeln. Zu unterscheiden ist die scholastische Disputation von argumentativen Gefechten mit Mitteln der Dialektik, in denen der Gegner zu falschen Folgerungen zu zwingen war, sowie von interreligiösen oder interkonfessionellen Religionsgesprächen, bei denen die Wahrheit einer religiösen Position mit dialektischen und rhetorischen Mitteln gegenüber einer anderen propagiert und performativ unter Beweis gestellt werden sollte. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Die Disputation als Form, Schüler in die dialektische Argumentation einzuführen, existierte bereits in der Antike. Derartige Gefechte waren auch im gesamten Mittelalter eine beliebte Methode, den praktischen Gebrauch der Dialektik zu üben. Mittelalterlichen Ursprungs ist dagegen die scholastische Disputation bzw. die Textform der quaestio disputata. Nachdem in der Forschung lange Uneinigkeit darüber herrschte, in welcher Disziplin diese Form als eigener Lehrtyp entstanden ist, gilt es inzwischen als sicher, dass sich im 12. Jh. in der italienischen Legistik und – mit wenigen Jahrzehnten Abstand – Kanonistik sowie (wohl zeitlich etwas später) im Pariser Schulmilieu die quaestio als Form etablierte, um im Rahmen von Vorlesungen (lectiones) aufkommende Fragen zu klären (Weijers 1995; Weijers 2002; Weijers 2011; Weijers 2013; Novikoff 2013). Insofern steht sie institutionell in ihrer Entstehung dem Kommentar sehr nahe, der sich ebenfalls der Form der quaestio bediente. Wissensgeschichtlich ist die Entstehung der Disputation Ausdruck der Hochschätzung der
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Dialektik, die verschiedene Gelehrtenmilieus während der sogenannten Renaissance des 12. Jh.s kennzeichnete. Unter Berufung auf Boethius diskutierte etwa Gilbert von Poitiers die Textkommentierung in quaestiones-Form, die seiner Meinung nach bedingte, dass gültige Argumente für beide Antwortmöglichkeiten anführbar waren. Gestaltet waren diese quaestiones zumeist in der Form utrum – an, um die beiden möglichen Antworten zu markieren (de Rijk 1990). Anders als Vorlesung bzw. Kommentar erlaubte die mündliche Disputation, sich von der Bindung an einen Referenztext zu befreien. Die quaestio disputata entwickelte sich bald in diesem Rahmen zu einer eigenen Gattung, um in Frageform aufgeworfene Probleme mit Gründen für beide Seiten (in utramque partem) zu behandeln. In Bologna dürften die Brocardica, Sammlungen von Argumenten und Gegenargumenten, die jeweils mit Belegstellen untermauert sind, vorbildlich für die Etablierung von in quaestiones-Form gestalteten Disputationen und sich an deren Aufbau orientierenden Textsorten gewesen sein. Anders als in der Theologie bildete den Ausgangspunkt legistischer quaestiones ein konkreter Fall (casus), der Anlass zu einer mit den Mitteln der Dialektik zu behandelnden Frage bot. In den Schulen wurden vor allem zu Übungszwecken quaestiones decretales bzw. legitimae disputiert, die ihre Themen den anerkannten Rechtssammlungen und Kommentaren entnahmen (Bellomo 2000). Kontroversen zwischen Juristen über tatsächliche Rechtsfälle, quaestiones de facto emergentes, wurden in dissensiones dominorum dargestellt; komplex strukturierte juristische disputationes im eigentlichen Sinne bildeten sich (vielleicht aus der Lehrtätigkeit des Bulgarus de Bulgarinis) heraus als nach bestimmten Regeln geführte, formalisierte Erörterungen von quaestiones de facto (Fransen 1985). Die erste Sammlung juristischer quaestiones entstand, als Studenten des Bulgarus insgesamt 67 von dessen quaestiones sammelten (Kantorowicz 1939). Die kanonistische quaestio hingegen erwuchs – der Entwicklung in der Theologie vergleichbar – aus der Notwendigkeit, widerstreitende Autoritäten miteinander vereinbar zu machen (Salgado 1992; Landau 1997). Was zunächst als Methode entstanden war, Konkordanz herzustellen, wurde hier – wiederum vergleichbar mit der Theologie – zu einem wichtigen Mittel, widerstreitende Geltungsansprüche durch Heranziehen von weiteren Autoritäten und vernünftigen Gründen mithilfe der Dialektik zu klären. Ohne dass eine wechselseitige Beeinflussung zwischen den Entwicklungen in der italienischen Rechtswissenschaft und im Pariser Gelehrtenmilieu feststellbar wäre, ist am Beginn des 13. Jh.s auch in Paris in der Theologie die Ablösung der quaestio disputata von der lectio endgültig vollzogen (Simon von Tournai 1932). Bereits im gesamten 12. Jh. waren quaestiones genutzt worden, um theologische Probleme zu klären (Bazàn et al. 1985). Seit der Zeit Abaelards hatte sich aus der einfachen quaestio sukzessive die quaestio disputata als komplexe Form entwickelt, im Unterricht wie in der wissenschaftlichen Untersuchung Probleme zu diskutieren, ohne einem Referenztext zu folgen. Mit der Gründung der Universität wurde die Disputation rasch als Lehr- und Prüfungsform institutionalisiert. Die Statuten von Montpellier schreiben 1220 die Disputation als Verpflichtung für die Magister fest. Um 1230 ist in Paris die disputatio als offizieller Akt anerkannt. Es tauchen bereits die Rollen des
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opponens und des respondens auf, dem Magister obliegt es, eine endgültige Lösung zu formulieren. Seit dieser Zeit besteht eine Disputation zumeist aus zwei Teilen: In der ersten Sitzung diskutieren opponens und respondens, eventuell unter Beteiligung weiterer Teilnehmer; in der zweiten Sitzung präsentiert der Magister als Antwort seine determinatio und widerlegt die widerstreitenden Argumente. Hierbei handelt es sich allerdings um einen Idealtypus, von dem es in der Praxis je nach Disziplin und Universität erhebliche Abweichungen gab. Die disputatio in scolis oder disputatio privata war eine Übung für Studenten, die an den Artesfakultäten regelmäßig in der Schule des jeweiligen Magisters stattfand (bezeugt vielleicht in einer Pariser Sammlung von quaestiones zu logischen und semantischen Problemen; Lafleur/Piché 2004). Die disputatio ordinaria oder disputatio magistrorum war dagegen für Studenten und Magister anderer Schulen offen (Rentsch 1990, S. 84–86). Zumeist waren diese sogar durch die Statuten verpflichtet, zu diesen Disputationen zu erscheinen, so dass vor einem großen Publikum disputiert wurde. Magister konnten auf der Grundlage ihrer eigenen Vorarbeiten, der Notizen, die ihre Assistenten während der Disputation angefertigt hatten, sowie der von ihnen selbst vorgelegten Lösung separate quaestiones disputatae verfassen (für Oxford: Robert Grosseteste 1966; Adam von Buckfield, Questio de augmento; sehr verbreitet ist diese Textsorte in Italien und in Mitteleuropa; für Prag: Hus 2004; für Krakau: Johannes von Glogovia 1967). Mitunter wurden solche quaestiones wiederum zu größeren Texten zusammengefasst (Sharpe, Questiones super libros Physicorum). Neben diesen an den meisten Universitäten vorfindlichen Typen gab es regionale Sonderformen, so in Oxford die rein studentische disputatio apud Augustinenses. Im 14. Jh. wurden auf dem Kontinent wie in England die Kollegien und Bursen sowie die Studienhäuser der Mendikanten zum Ort, an dem die disputationes privatae institutionalisiert wurden. Der Status der öffentlichen Disputationen variierte je nach Universität und Fach: In Bologna fand von der Fastenzeit bis Pfingsten wöchentlich eine disputatio publica der Juristen statt, an der alle Magister und Studenten teilnehmen mussten (Bellomo 2005, S. 144–148). Der präsidierende Magister war verpflichtet, einen Bericht über die Disputation beim Pedell abzugeben, von dem die peciarii zwei Kopien zu erstellen hatten (Statuten 1274, ähnlich in Padua 1271 und Toulouse 1314). In Prag, Heidelberg oder Wien legten die Statuten großen Wert auf die disputatio ordinaria (Winkelmann 1886, S. 43; Kink 1854, S. 211–214). Anders als an der Artesfakultät spielten die disputationes privatae im Jurastudium nur eine untergeordnete Rolle. Während seit Mitte des 13. Jh.s in Paris, vielleicht auch als Reflex auf die bedeutende Rolle der Disputation im Unterricht und in der wissenschaftlichen Diskussion, der Kommentar in quaestiones-Form immer größere Verbreitung fand, verankerten zeitgleich die Statuten die disputatio als festen Bestandteil auf dem Weg zum artistischen Magisterium (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 137, S. 178 f.) und zur theologischen Lizenz (Denifle, Bd. 2 1891, Nr. 1185, S. 683; Nr. 1188, S. 692; Nr. 1189, S. 699–701; ebenso in Bologna und Padua, Ehrle 1932, S. 18). Durch das ganze Mittelalter und bis in die frühe Neuzeit hinein blieb die Disputation europaweit unverzichtbar als Übungs- und Prüfungsinstrument. Da wir über ausführliche, nur maßvoll redigierte
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Disputationsmitschriften vor allem von feierlichen Disputationen zwischen Magistern verfügen, stützt sich unsere Kenntnis der Disputationen, die zu Prüfungszwecken abgehalten wurden, vorrangig auf universitäre Statuten. Als Beispiel sei hier die inceptio geschildert, die ein Bologneser Lizentiat der Theologie vor dem Eintritt in die Magisterkorporation absolvieren musste (Denifle, Bd. 2 1891, Nr. 1188, S. 693 f.). An anderen Universitäten, etwa in Paris, Oxford oder Wien, gestaltete sich der Ablauf ähnlich. Die inceptio verteilt sich auf zwei Tage und besteht aus vesperie, inceptio oder aula und resumpta. Einige Tage im Voraus teilt der Kandidat, der erstmals das Thema einer Disputation bestimmen darf, seinem Magister und den übrigen Beteiligten die zu disputierenden Fragen mit. Eine erste Frage (expectativa magistrorum) ist kurz und wird unter dem Vorsitz des Magisters des Lizentiaten diskutiert. Die zweite Frage wird vom ältesten Magister mit Pro- und Contra-Argumenten vorgetragen; der Kandidat formuliert seine Position; der Magister greift diese Position mit drei bis vier Argumenten an; der Kandidat antwortet auf die ersten zwei oder drei; ein zweiter Magister interveniert mit zwei oder drei Argumenten, worauf der Kandidat erwidern kann; es erfolgt eine letzte Intervention des Magisters; der Lizentiat formuliert seinerseits eine Replik. Eine Rede des vorsitzenden Magisters beschließt die Sitzung. Bei der aula oder der eigentlichen inceptio müssen alle Magister und Bakkalare anwesend sein; der Magister des Kandidaten übergibt diesem das Barrett. Die beiden letzten vorgelegten Fragen werden disputiert, eine dritte wird durch einen Studenten gestellt. Die Rolle des respondens übernimmt ein baccalaureus formatus, der neue Magister gibt eine kurze determinatio. Die vierte Frage ist den Magistern vorbehalten. In seiner ersten Vorlesung (principium) nimmt der neue Magister als resumpta die Fragen der inceptio wieder auf (zu den aus der predigtähnlichen collatio entstandenen principia s. Spatz 1992; Universitätspredigten). Die Prüfung als feierlicher Initiationsritus leitet auf diese Weise symbolisch zur magistralen Lehrtätigkeit über. Während insbesondere seit dem 14. Jh. zahlreiche principia erhalten sind, die sich zum Ort entwickelten, grundsätzliche Reflexionen über seine Wissenschaft anzustellen, kann man nur recht wenige quaestiones einer inceptio zuordnen (Anon., Oratio magistri in vesperis; Thomas von Aquin, De opere manuali religiosorum (Quodl. 7, qu. 7, a. 1–2), in: Thomas von Aquin 1996; s. Weisheipl 1975, S. 104–109; nach Gauthier disputierte Thomas diese quaestiones in seiner ersten Quodlibeta-Disputation als Magister), wobei es jedoch denkbar ist, dass zahlreiche einzelne quaestiones disputatae tatsächlich den vesperie oder inceptiones/aulae entstammen. Um 1230 entstand in Paris mit der disputatio de quolibet eine vor allem bei den Theologen beliebte spezifische Form der Disputation, bei der die Anwesenden dem Magister Fragen zu jedem Thema vorlegten, die dieser dann in einer zweiten Sitzung einer Antwort zuführte (Wippel 1985; Weijers 2009; Glorieux 1925; Glorieux 1935). Die Antworten konnten dabei relativ knapp ausfallen oder – insbesondere in der nachträglichen Redaktion durch den Magister – sehr umfangreich und komplex strukturiert sein. Ihre Hochzeit hatte diese Disputationsform sowie die von ihr abhängigen Texte von der Mitte des 13. Jh.s bis in die 1430er Jahre in Paris, Oxford und Cambridge (Thomas von Aquin 1996; Johannes Duns Scotus 1895; Holcot 1983; s. die
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Beiträge in Schabel 2006; Schabel 2007). Auffällig ist, dass in den ersten Jahrzehnten Vertreter der Bettelorden besonders rege Quodlibeta-Disputationen veranstalteten (Hamesse 2006). Am Ende des 13. Jh.s etablierte sich die Quodlibeta-Disputation mehr und mehr als performativer wie literarischer Rahmen, in dem strittige theologische Fragen zwischen den Magistern und ihren Schulen aufgeworfen wurden (Heinrich von Gent 1979–2011, dazu Porro 2006; Jakob von Viterbo 1968–1975; Marston 1994) oder polemisch andere Ansichten zurückgewiesen werden konnten. So nutzte der Weltgeistliche Gerhard von Abbeville Quodlibeta-Disputationen zu scharfer antimendikantischer Polemik (Gerhard von Abbeville 1951), wohingegen der Franziskaner John Peckham sich in den 1270er-Jahren im gleichen Medium gegen die weltgeistlichen Mendikantenkritiker wandte (Peckham 2002). Unter dem Eindruck der Pariser Lehrverurteilung von 1277 (Zensur) rangen Theologen wie der in Paris lehrende Heinrich von Gent, der Oxforder Franziskaner Roger Marston, der Thomasschüler Aegidius Romanus, der wegen seiner Weigerung, ihm von Bischof Tempier angelastete Thesen zurückzunehmen, zeitweise hatte Paris verlassen müssen, sowie die ebenfalls in Paris wirkenden Gottfried von Fontaines und Jakob von Viterbo in aufeinander Bezug nehmenden Quodlibeta-Disputationen um das Prinzip der Individuation, das Dinge zu Einzeldingen, also individuell, machte (Pickavé 2007). Der an dieser Kontroverse ebenfalls beteiligte Oxforder Dominikaner Thomas von Sutton verteidigte in Disputationen energisch die Lehren seines Ordensbruders Thomas von Aquin und kritisierte im gleichen Atemzug den Franziskaner Johannes Duns Scotus (Thomas von Sutton 1969). Der weitgehend thomistisch argumentierende Hervaeus Natalis wiederum griff den ordensinternen Thomaskritiker Durandus von Saint Pourçain an (Hervaeus Natalis 1966). In den von hochumstrittenen Thesen Papst Johannes’ XXII. ausgelösten Streit um die beseligende Schau greift 1333 Gerardus Odonis in Paris mit dem letzten auf dem Kontinent disputierten Quodlibet eines Franziskaners ein (Gerardus Odonis 2001, dazu Duba 2007, S. 629–638). Mitunter versuchten anwesende Magister, den präsidierenden Kontrahenten auf gefährliches Terrain zu leiten und zur Formulierung anstößiger oder gar häresieverdächtiger Positionen zu vernalassen (Gottfried von Fontaines 1904–1935). Einige Magister gaben in der späteren Redaktion ihren in den Quodlibeta-Disputationen behandelten Fragen einen systematischen Zusammenhang (Franciscus de Mayronis 1507). Mancher Gelehrte bediente sich der Quodlibeta-Form, ohne dass seinem Werk eine tatsächliche Disputation zugrunde lag. Wilhelm von Ockhams teilweise in Avignon, teilweise wohl noch am Londoner Bettelordensstudium entstandene sieben Quodlibeta simulieren etwa eine universitäre Disputationskultur. In insgesamt 170 quaestiones werden eine Vielzahl mehr oder weniger eng miteinander verbundener philosophischer und theologischer Themen untersucht, verschiedene Positionen diskutiert und eigene Lösungen formuliert. Ockham behandelt neben neuen Fragestellungen auch solche, denen er sich bereits im Sentenzenkommentar gewidmet hat, wobei er teils seine früheren Antworten ausbaut, teils zu veränderten Ergebnissen kommt. Sein wichtigster Gesprächspartner ist sein Ordensbruder Walter Chatton, auf dessen im Sentenzenkommentar vorgetragene Positionen er mit den Quodlibeta
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unmittelbar und häufig sehr kritisch reagiert (Wilhelm von Ockham 1980, dazu Keele 2007, S. 653–660; Etzkorn 2001). Regelmäßig wurden bis zum 15. Jh. Quodlibeta-Disputationen auch an medizinischen Fakultäten veranstaltet (Siraisi 2001). In der Theologie hingegen verlor die Quodlibeta-Disputation an Bedeutung (Courtenay 2007). Zwar bleiben die quaestiones quodlibetales als für theologische Magister verpflichtende Veranstaltungen in den Pariser und Oxforder Statuten erhalten, doch sind nur wenige Textzeugnisse überliefert, die die Dauer dieser Praxis bezeugen. Für andere Universitäten sind dagegen noch für das 15. Jh. verschiedentlich theologische disputationes quodlibetales belegt (für Erfurt Wöhler 2001; für Prag Liber decanorum, S. 65–67). Ohne die Bedeutung der theologischen disputationes de quolibet zu erreichen, fanden in England und Frankreich sowie, verstärkt ab dem 14. Jh., in Italien auch an den Artesfakultäten Quodlibeta-Disputationen statt (Anselm von Como 1965; Angelus von Arezzo, Questio; Oresme 1985). In Mitteleuropa gestaltete sich das Verhältnis umgekehrt: Hier wurden disputationes de quolibet vorrangig an den Artesfakultäten abgehalten. Erhalten sind Notizhefte, die der Vorbereitung des Magisters auf die Disputation dienten (Kejř 1971; Hus 2006; Henricus de Geysmaria, Questio principalis). Bei den Pariser Artisten war es üblich, die zu stellenden Fragen zuvor an andere Magister zu schicken. Im 14. und 15. Jh. lässt sich für die Pariser artistischen disputationes de quolibet eine Bevorzugung naturphilosophischer Themen erkennen, die jeweils nur kurz abgehandelt wurden (eine Sammlung naturphilosophischer Quodlibeta von Albert von Sachsen, Johannes Buridan, Nikolaus Oresme und Heinrich von Langenstein findet sich in Ms. Paris, BnF lat. 2831; lediglich Fragen verschiedener Pariser Magister und die Lösung des Problems durch den präsidierenden Magister sind festgehalten in Ms. Paris, BnF lat. 16089). Mitunter boten die feierlichen Quodlibeta-Disputationen auch Gelegenheit für Anzüglichkeiten und Späße (dokumentiert etwa in Ms. Paris, BnF lat. 16089; Lawn 1983, S. 127). In Wien sahen die Statuten ausdrücklich vor, dass auch (schickliche) Scherze dem Ernsten beigemischt werden dürften (Kink 1854, S. 219). Resultat dieser Lizenz waren die an verschiedenen Orten bezeugten scherzhaften Fragen wie diejenige, die Enea Silvio Piccolomini Ende 1445 in Wien zu beantworten hatte. Seine Antwort auf die Frage, warum in der kaiserlichen Kanzlei billige Tierhäute und alte Hemden teuer verkauft würden, verband eine geistreiche Replik mit der Demonstration humanistischer Bildung und verteidigte so die Ehre jener Institution, für die er selbst tätig war (Lhotsky 1965, S. 263–273). In Heidelberg hatte es sich eingebürgert, die Quodlibeta-Disputationen mit parodistischen quaestiones minus principales aufzulockern. Erhalten haben sich etwa der Beitrag des Bartholomaeus Gribus zu einer Quodlibeta-Disputation des Jahres 1478 oder 1479 sowie derjenige des Jodocus Galtz aus dem Jahre 1489. Beide waren unter dem Vorsitz des Humanisten Jakob Wimpfeling disputiert worden, der sie bald drucken ließ (Zarncke 1857, S. 51–66; Kleinschmidt 1977). Charakteristisch für diese von Wimpfeling ausgewählten Disputationsreden ist die Verbindung satirischer und moralisierender Anliegen. Dadurch, dass das Verhalten der Studenten, Gelehrten oder Kleriker getadelt wurde, sollten diese zur Besserung ihrer Sitten angeleitet werden (Kipf 2010).
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In Paris, Oxford und Cambridge bildeten sich weitere Sonderformen der Disputation heraus: Die disputationes de sophismatibus, die im 13. Jh. und am Beginn des 14. Jh.s Studenten in der Tradition der dialektischen Disputationen im Gebrauch von Logik und Argumentation übten und häufig einem mit den Mitteln der Dialektik geführten Turnier ähnelten, aber auch eine Möglichkeit boten, spezifische logische Probleme zu behandeln (eine Sammlung solcher didaktischer Sophismata aus der ersten Hälfte des 13 Jh.s ist erhalten in Ms. Paris, BnF lat. 16135; weitere Sammlungen von in den Schulen disputierten Sophismata Ms. Vat. lat. 7678; Boethius von Dacien 1962 u. 1970); die insolubilia, in denen logische Paradoxa diskutiert wurden (Spade 1975); die wiederum einem Turnier ähnlichen obligationes, in denen sich der respondens verpflichtet, eine Position, die vom opponens vorgeschlagen wird, zu verteidigen, während der opponens versucht, ihn in einen Widerspruch zu treiben (Martinus Anglicus 1993; Paul von Venedig 1988; Angelelli 1970, S. 802–806; Stump 1982; Spade 1982; Ashworth 1994). Derartige Übungsdisputationen waren vor allem an der artistischen Fakultät weit verbreitet, wurden jedoch auch an den höheren Fakultäten ausgetragen. Anders als in den schriftlichen quaestiones disputatae oder den oben beschriebenen scholastischen Disputationen liegt der Schwerpunkt hier auf dem Beziehen einer Position und deren Verteidigung gegen Angriffe weiterer Teilnehmer, der opponentes. Die Rolle des respondens nähert sich derjenigen des determinierenden Magisters an. Im 14. und vereinzelt im 15. Jh. erwuchsen aus diesen Übungsdisputationen komplexe logische Traktate, die allenfalls mittelbar von mündlichen Disputationen abhängen oder ohne eine solche entstehen (Albert von Sachsen 1975; Buridan 2004; Kilvington 1990; Heytesbury 1994; Paul von Venedig 1493). Die Geschichte der Disputation nach 1500 ist noch immer schlecht erforscht, trotz einiger Verbesserungen in den letzten Jahren. Sicher ist, dass das Aufkommen des Humanismus und die humanistische Kritik an der scholastischen Disputationspraxis sowie der quaestio nirgendwo in Europa zu deren Verdrängung aus der Universität führten (Gindhart/Kundert 2010; Marti 1994; Gindhart/Marti/Seidel 2016; Füssel 2006; Horn 1893; Romero/Paz 2000). Als Prüfungsinstrument blieb die Disputation unverzichtbar. Auch die quaestio existierte als Textform im 16. Jh. fort, wurde aber weniger formalistisch gehandhabt. Seit dem späten 14. Jh. waren ihr bereits andere, formal weniger regulierte Gattungen wie der Traktat, die Abhandlung oder der Dialog zur Seite getreten, um doktrinale Probleme zu behandeln. Im 16. Jh. begannen sie zusammen mit neu entstehenden Gattungen wie dem Essay, die quaestio als zentrale Textform zur Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis abzulösen (Lawn 1993). Formal lassen sich für das 16. Jh. einige Neuerungen sowohl bei mündlichen wie bei verschrifteten Disputationen feststellen: So wurde die initiale quaestio zunehmend ersetzt durch eine These, die dann disputierend verteidigt wurde (Chang 2004). Der in Paris lehrende Josse Clichtove beschrieb diesen Modus bereits zu Beginn des 16. Jh.s (Clichtove 1535, fol. 14v–15v): Eine scholastische Disputation, die nach der Ermittlung der Wahrheit strebe, gehe von einer bestimmten positio aus. Der opponens formuliere Einwände gegen sie, auf die dann der respondens durch drei Operationen replizieren müsse: Er könne die Aussage zugestehen (concedere), sie für falsch erklären (negare)
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oder durch begriffliche Unterscheidungen verschiedene Sinnebenen der Position eröffnen, deren Wahrheit bzw. Falschheit dann zu prüfen sei (distinguere). Er gebe nun seinerseits eine solutio, die wiederum der opponens zu widerlegen habe (Ashworth 1986; Ashworth 1988, S. 166 f.; Traninger 2014, S. 331 f.). Seit dem späten 16. Jh. oblag es häufig dem opponens, nach den einleitenden Worten des vorsitzenden Magisters die Disputation zu eröffnen, indem er eine der vorgelegten Thesen auswählte. Letztlich wurde auf diese Weise die überkommene Form (quaestio – Argumente – conclusio) umgekehrt. Nicht ein Problem, sondern eine Position bildete den Ausgangspunkt der Disputation, wie anschaulich schon im Druckbild der Disputationes ordinariae des Helmstedter Juristen Johannes Borcholten erkennbar ist (Borcholten 1597). Dass diese vom vorsitzenden Professor formulierten Thesen bereits vor der Disputation zunächst als einfache Zettel, immer häufiger jedoch in teils aufwändig gestalteten Bänden gedruckt wurden, verdeutlicht den Bedeutungsverlust der mündlichen zugunsten der schriftlichen Disputation (Horn 1893). In den mündlichen Disputationen formulierte nun der opponens Einwände, die vom respondens akzeptiert, zurückgewiesen oder begrifflich differenziert werden konnten. Hier ist bereits der Weg zur sogenannten ‚modernen Methode‘ des 17. und 18. Jh.s vorgezeichnet: Grundlage mündlicher (Prüfungs-)Disputationen wurden gedruckte Dissertationen mit Thesen, Argumenten und der Widerlegung möglicher Einwände, die den Teilnehmern vor der eigentlichen Disputation schon bekannt waren. Diese dissertationes stammten bis ins 18. Jh. überwiegend aus der Feder des betreuenden Professors. Der Prüfling agierte als respondens, welcher die vorgelegten Thesen gegen Einwürfe der opponentes zu verteidigen hatte (Felipe 2010; Marti 1999; Weijers 2013, S. 220–223). Spielte auch die verschriftete Disputation bzw. die quaestio disputata in der frühneuzeitlichen Universität eine geringere Rolle, blieben Elemente der Gattung, so die Argumentation in utramque partem, doch sehr präsent, indem sie in eklektischer Weise mit formalen Elementen und Funktionsweisen anderer Gattungen kombiniert wurden. Francisco Suárez etwa legte seine umfassende Erklärung der Metaphysik, mit der er die Art und Weise korrigieren wollte, wie in Salamanca Philosophie unterrichtet wurde, ausdrücklich als Serie von 54 Disputationen an, die systematisch nacheinander das Seiende als Seiendes, das unerschaffene Seiende und das erschaffene Seiende behandelten (Suárez 1877). Ohne sich der Form der quaestio disputata zu bedienen, handelt es sich bei den Disputationes Metaphysicae tatsächlich um einen diskursiv organisierten Kommentar, der nach dem Muster der Disputation verschiedene Positionen (opiniones) unter Heranziehung von Autoritäten und Gründen gegeneinander abwägt, um zu einem präziseren und besseren Verständnis der aristotelischen Metaphysik zu gelangen. Regelmäßig schaltet Suárez in die Diskussion einer Lehrmeinung Einwände ein, die dann wiederum diskutiert werden. Nicht immer ist das Ziel, den Widerstreit der Positionen aufzulösen. Mitunter begnügt sich der Autor damit, das Problem zu klären, ohne eine definitive Lösung anzubieten. Der in Oxford lehrende John Case verwandelte die Rollen von respondens und opponens in seinem Speculum quaestionum moralium in Dialogpartner: Die aristotelische Moralphilosophie behandelte er in einer Reihe von Fragen, die jeweils unmittelbar mit einer län-
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geren mit humanistischem Bildungsgut aufgeputzten und häufig mit ramistischen Begriffsdiagrammen versehenen Antwort bedacht werden, worauf respondens und opponens das Wort ergreifen, um das Dargebotene durch scholastische Begriffsarbeit zu präzisieren (Case 1596). Die kreative Arbeit mit den Gattungselementen der Disputation blieb nicht auf den universitären Raum beschränkt. In den frühen Jahren der Reformation erhielt die öffentliche Disputation sukzessive eine zentrale Funktion, zunächst in der Ausformulierung reformatorischer Positionen, dann in der Kontroverse mit altgläubigen Gegnern (Leppin 2012). Luther, Karlstadt und Melanchthon verfassten zugespitzte, ihre Vorstellungen kondensierende Thesen für Prüfungsdisputationen ihrer fortgeschrittenen Studenten, denen es aufgegeben war, die reformatorischen Lehren hochschulöffentlich zu verteidigen (Luther 1883a). Die geplante, jedoch wohl nie durchgeführte Disputation über die Ablassthesen markiert den Übergang einer hochschulinternen Prüfungsdisputation zu einer öffentlichen Disputation, an der auch die kirchliche Hierarchie teilnehmen sollte (Luther 1883b). In Anwesenheit der örtlichen Artisten disputierte Luther auf dem 1518 in Heidelberg abgehaltenen Generalkapitel der Augustinereremiten 28 theologische und 12 philosophische Thesen. Mit Mitteln der Scholastik setzte er sich schroff von der scholastischen Verbindung von Philosophie und Theologie sowie der scholastischen Gnaden- und Gesetzeslehre ab (Luther 1883c). Die aufsehenerregende Leipziger Disputation, in der die Wittenberger mit Johannes Eck disputierten, vollzog den Auszug der Disputation aus der Universität und eine Auflösung der strikt regulierten Form der universitären Disputation zu einem öffentlichen, kontroverstheologischen Streitgespräch (Schubert 2008). Bezeichnend ist, dass am Ende der Disputation nicht eindeutig feststand, wer den Sieg davongetragen hatte. Dies festzustellen, war zunächst den Universitäten Erfurt und Paris aufgegeben worden, die sich diesem Auftrag jedoch faktisch verweigerten. Daher wurden die publizistischen Gefechte nach der Disputation zu einer Fortsetzung des argumentativen Ringens in einem anderen Medium. Fortgeführt wurde diese Entwicklung von den beiden Zürcher Disputationen, auf denen Zwinglis Lehren 1523 diskutiert wurden. Sie wurden vorbildlich für weitere Streitgespräche, in denen sich Altgläubige und Anhänger der Reformation gegenüberstanden, so etwa 1525 in Nürnberg oder 1526 in Baden (Moeller 2011; Schindler/Schneider-Lastin 2015). Da in den inter- oder auch innerkonfessionellen öffentlichen Disputationen in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s eine anerkannte Schiedsinstanz zumeist fehlte, die den ritualisierten Streit hätte entscheiden können, setzte sich eine Entwicklung fort, die ihren Anfang mit der Leipziger Disputation genommen hatte: Die Entscheidung über die vorgebrachten Argumente und Positionen verlagerte sich aus dem ritualisierten Rahmen der mündlichen Disputation in die öffentliche Arena, in der die Kontrahenten durch die Publikation der verschrifteten Beiträge und deren polemischer Deutung zu bestehen suchten (Paintner 2010). Dass es in den beiden Zürcher Disputationen dem Großen Rat zukam, über den Sieger zu entscheiden, weist bereits darauf hin, dass derartige Religionsgespräche andere Funktionen besaßen als universitäre Disputationen. Sicherlich ging es auch um theologische (Selbst-)Verständigung, aus Sicht der Obrigkeit war
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Andreas Karlstadt, Disputationsthesen vom 28.11.1522 für den respondens Gottschalk Grop, Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Ms. theol. lat. oct. 91, fol. 67v.
es jedoch ebenso wichtig, die eigene Sorge um die religiöse Ordnung zu demonstrieren und eine Entscheidung für oder gegen die reformatorischen Bewegungen zu legitimieren, indem sie als Folge eines öffentlich geführten religiösen Streitgesprächs inszeniert wurde. Dass die religiös-politischen Disputationen von nun an zumeist in der Volkssprache ausgetragen wurden, verdeutlicht, wie weit die der öffentlichen Inszenierung konfessioneller und religionspolitischer Geltungsansprüche dienenden Streitgespräche der Reformationszeit von den universitären Disputationen entfernt waren (Leppin 2015; Moeller 1999; Fuchs 1995; Hollerbach 1982). Ob und in welcher Weise sich in formaler und argumentativer Hinsicht die in universitären Disputatio-
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nen gewonnenen Erfahrungen der beteiligten Theologen niederschlugen, muss noch genauer untersucht werden. Dass die universitäre Disputation trotz aller Kritik, die sie etwa durch Humanisten und Literaten wie Rabelais erfuhr, und aller Umgestaltungen, die innerhalb und außerhalb der Universität vorgenommen wurden, bis ins 18. Jh. gleichermaßen als Prüfungsinstrument und Mittel universitärer Selbstrepräsentation diente (Rasche 2007), dokumentiert neben den Statuten, die Teilnahme und Ablauf minutiös regeln (z. B. für Oxford in den Jahren 1549 und 1583, Gibson 1931, S. 346–348, 427–429), Thesenreihen und Verzeichnissen (Kundert 1984; Mommsen 1978) eine große Zahl gedruckter Ergebnisse mündlicher Disputationen (Leinsle 2006; Matsen 1994), ohne dass daraus immer ein hinreichendes Bild der tatsächlichen Disputationspraxis gewonnen werden könnte (Füssel 2013). Sicher ist jedoch, dass die Krise, in die das Disputationswesen an reformatorischen Universitäten wie Wittenberg Mitte der 1520er Jahre geriet, bereits im Laufe der 1530er Jahre überwunden wurde (Nieden 2006, S. 44–68). Disputationen dienten auch künftig bei allen lokalen und konfessionsbedingten Unterschieden dazu, die Hohen Schulen als Orte des Lehrens und Lernens zu repräsentieren, ohne dass dies bedeutet hätte, dass sie nicht weiterhin ein Medium gewesen wären, aktuelle wissenschaftliche Fragen zu diskutieren und neuartige Lösungen zu formulieren (Roling 2013). Sie konnten auch ein Mittel darstellen, einen Konsens zwischen Vertretern verschiedener inner- oder interkonfessioneller Strömungen herzustellen (Appold 2004). Allerdings fächerte sich das Gattungsspektrum an der frühneuzeitlichen Universität aus, so dass die Disputation in ihren verschiedenen Funktionen Konkurrenz bekam. An ihre Seite trat etwa die von den Humanisten hochgeschätzte declamatio, die als Übungsrede und rhetorische Strategie, in utramque partem zu argumentieren, einige der didaktischen wie repräsentativen Aufgaben der Disputation übernahm (Traninger 2012; Universitätsreden). 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Nur wenige zeitgenössische Beschreibungen von Ablauf und Regularien der Disputation haben sich erhalten (s. etwa diejenige des Kölner Dominikaners Leonhard von Brixenthal in Löhr 1926, S. 17). Rekonstruktionen des Ablaufs von mündlichen Disputationen greifen daher neben den wenigen Berichten vor allem auf deren verschriftete Resultate sowie auf Statuten zurück. Verschriftlicht worden sind mittelalterliche Disputationen primär in zweierlei Weisen: Als Hörermitschriften (reportationes) (Fanckel, Notizbuch; Löhr 1926), die eventuell vom leitenden Magister überarbeitet und publiziert wurden (reportationes examinatae oder redactae) (Hus 2006; Bartholomäus von Usingen, in: Wöhler 2001), oder als von den Magistern auf der Grundlage einer oder auch mehrerer Disputationen verfasster Text, der in unterschiedlichem Grad Spuren der zugrunde liegenden mündlichen Veranstaltung aufweisen kann (Thomas von Aquin 1975; Siger von Brabant 1974; Johannes Duns Scotus 1895; Petrus von Modena
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1991). In ihren Redaktionen weiteten Magister gerne die von ihnen in der mündlichen Debatte formulierte Lösung (determinatio) stark aus, so dass diese zu einer Art Traktat anwachsen konnte (Johannes von Göttingen 1980; Bartholomäus von Brügge 1981). Schließlich ist die quaestio disputata eine Textform, die auch Verwendung für rein literarische Disputationen fand, ohne dass eine tatsächlich abgehaltene Disputation vorausgegangen war (Boethius von Dacien 1976; Johannes von Casale 1960; Sharpe 1990; Nicoletto Vernia 1480). Erst im Laufe des 16. Jh.s wurde es üblich, Thesenreihen für Bakkalaureats- oder Magisterprüfungen drucken zu lassen, die zwar nicht den genauen Ablauf der Disputation erhellen, aber immerhin die disputierten quaestiones zu ermitteln erlauben (Marti 1994, Sp. 869 f.). Nur in seltenen Fällen, so etwa für den Wiener Humanisten und Mediziner Joachim Vadian, haben sich schon aus dem 16. Jh. eigenhändige Notizen zu derartigen Thesenreihen erhalten (Müller 2012). Eine Disputation bestand zumeist aus zwei Sitzungen, einer ersten, in der die jeweilige(n) Frage(n) diskutiert wurde(n), und einer zweiten, in der der Magister eine Antwort formulierte. Grundsätzlich zeichnen sich Disputationen an der theologischen Fakultät durch eine größere formale Variation aus als diejenigen an den übrigen Fakultäten; die sich in der ersten Hälfte des 13. Jh.s etablierende Grundform ist aber überall identisch. Sie lässt sich schematisierend wie folgt darstellen: Erste Sitzung: Vorstellung des Problems (meist durch den veranstaltenden Magister); Vortrag der ersten Argumente; erste Antwort des respondens (zumeist ein Bakkalar) mit Widerlegung der Gegenargumente gegen seine Lösung; Intervention des opponens (ein Bakkalar oder Student), der die Position des respondens attackiert; Widerlegung der Argumente des opponens durch den respondens; neuer Angriff des opponens; Widerlegung durch den respondens. Zweite Sitzung: determinatio durch den Magister, eingeleitet zumeist durch eine ordnende Zusammenfassung der Diskussion und eine systematisch-verkürzte Präsentation der Argumente (zumeist durch einen fortgeschrittenen Bakkalar, in Oxford als replicator bezeichnet); Lösung (solutio) durch den Magister, häufig mit begrifflichen Unterscheidungen und Präsentation anderer Argumente; Widerlegung der der Lösung widerstreitenden Argumente. Redigierte und rein literarische Disputationen können von diesem Schema stark abweichen. Schon im 13. Jh. wurde es beispielsweise üblich, dass in den disputationes in scolis mehrere Bakkalare oder Studenten als opponentes agierten. In den feierlichen disputationes ordinariae oder disputationes magistrorum traten mehrere der anwesenden Magister, Bakkalare und unter Umständen auch Studenten in der Reihenfolge ihres Ranges als opponentes auf. Dies führte zu einer starken Betonung der Argumente und wechselseitigen Widerlegungen (Johannes von Jandun, Questio de notioritate universalium). Gegenläufig zu dieser Entwicklung lässt sich seit dem 14. Jh. in Padua die Tendenz einer Monologisierung der feierlichen juristischen Disputationen erkennen: Die Rolle des Magisters wurde ausgebaut, der opponens verschwand ganz, der respondens wurde zum untergeordneten Mitdiskutanten (Belloni 1989). Der Professor scheint nun vor allem mit sich selbst gestritten zu haben. Wie die konkrete Ausgestaltung der Disputation zwischen den Beteiligten ausgehandelt werden konnte, um die eigenen Ziele durchzusetzen, dokumentieren die
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Verhandlungen vor Johannes Ecks Wiener Disputation. Bevor diese im August 1516 stattfinden konnte, musste man sich nicht nur auf die konkrete Form einigen (so wünschte Eck statt der angebotenen disputatio privata eine prestigeträchtigere disputatio publica) sowie die zu behandelnden quaestiones festlegen, obendrein setzte der Ingolstädter Theologe gegen den Widerstand der Gastgeber durch, nicht nur die Rolle des determinierenden Magisters, sondern auch diejenige des respondens übernehmen zu dürfen. So war bereits von Beginn an festgelegt, dass er einen Großteil der Aufmerksamkeit über den gesamten Disputationsverlauf auf sich ziehen würde und seine berühmten disputatorischen Fähigkeiten zur vollen Entfaltung bringen konnte. Dass der Plan aufgegangen war, dokumentierte Eck selbst anschließend dadurch, dass er einen Bericht von seiner Wiener Reise und der erfolgreichen Disputation veröffentlichte (Eck 1923, S. 2–26). Gerade aus der Frühzeit der Universitäten haben sich vielfach nur sehr knappe Redaktionen mündlicher Disputationen erhalten, die lediglich Frage und Lösung enthalten, gegebenenfalls ergänzt um wenige Argumente. Ab der zweiten Hälfte des 13. Jh.s wird die Struktur der verschrifteten Disputationen merklich komplexer. Damit einher geht ein Bedeutungszuwachs der Rolle des Magisters. In Bologna etabliert sich spätestens mit Petrus de Abano für die Medizin ein verbindliches Schema: Zunächst werden Argumente pro und contra vorgebracht, die solutio besteht insbesondere in einer Begriffsklärung (expositio terminorum); es werden frühere Meinungen angeführt und auf dieser Grundlage wird eine begründete Antwort formuliert, bevor die der Lösung widerstreitenden Argumente ihre Widerlegung erfahren. Verschriftete juristische Disputationen stellen einführend meist den konkreten Rechtsfall (casus) vor. Aus ihm werden eine oder mehrere quaestiones entwickelt; es folgen Argumente pro und contra, die solutio sowie die Widerlegung der widerstreitenden Argumente (Bellomo 1978). Seit der Mitte des 13. Jh.s findet sich auch ein komplizierterer Aufbau: Die verschriftete Disputation wird eingeleitet durch eine Rubrik, die das Thema benennt, sowie ein exordium; der casus wird vorgestellt und das jeweilige juristische Problem als Frage(n) gefasst; es werden Argumente pro und contra angegeben; eine Gliederung (divisio) ordnet das Material, bevor in einer propositio actionis unter Verweis auf die verwendeten Rechtsmittel ein Lösungsvorschlag formuliert wird. Es folgt eine Rechtsausführung der Parteien unter Bezugnahme auf Autoritäten, bevor in einer determinatio oder decisio eine Entscheidung getroffen wird. Die Redaktionen der von Bartolus veranstalteten Disputationen lassen noch deutlich erkennen, dass es den Studenten oblag, die vom Magister meist symmetrisch angelegten Argumente pro und contra vorzutragen, während dieser einleitend die Rechtsfragen formulierte und abschließend eine Lösung fand (Bartolus 1588). Anders als in artistischen und theologischen quaestiones disputatae werden die Argumente für beide Seiten in juristischen Disputationen häufig unmittelbar widerlegt; wie in den übrigen Disziplinen erfolgt die Lösung durch den Magister. Die literarischen quaestiones disputatae insbesondere des 14. Jh.s können außerordentlich kompliziert aufgebaut sein, indem einzelne Argumente sofort auf Gegenargumente stoßen, die wiederum ihrerseits gekontert werden. In die Lösung können weitere dubia oder Einwände (instantiae) eingeschaltet
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werden, die zusätzliche begriffliche oder inhaltliche Differenzierungen vornehmen. Wie in allen scholastischen Texten gilt ein Autoritätsbezug (je fachtypisch etwa Aristoteles, Averroes, Avicenna, Decretum Gratiani, Codex Iustiniani, Galen, die Kirchenväter, die Bibel) als Argument; vor allem literarische Disputationen tendieren dazu, als einleitende Argumente Autoritätszitate einzusetzen. Die abschließende Widerlegung besteht in diesem Fall häufig darin, ihre Verwendung als gegen ihre Intention zu enthüllen oder ihre relative Geltung im jeweiligen Fall zu diskutieren. Generell besaßen die in regelmäßigen Abständen (im 14. und 15. Jh. zumeist wöchentlich oder vierzehntägig) unter Leitung eines Magisters abgehaltenen disputationes ordinariae oder publicae, wie sie für die Rechtswissenschaft etwa in den Responsa doctorum Tholosanum oder für die Theologie durch Thomas von Aquins auf das Material von drei akademischen Jahren zurückgehenden Quaestiones disputatae de veritate bezeugt sind (Thomas von Aquin 1970–1976), eine größere Überlieferungschance als die alltäglichen disputationes in scolis oder privatae, deren pragmatische Bedeutung für den Magister darin lag, seine Studenten in der Dialektik praktisch zu unterweisen. Doch obwohl beispielsweise die Bologneser Juristenmagister seit dem zweiten Drittel des 13. Jh.s ihre schriftlich festgehaltenen feierlichen Disputationen über den Pedell an die lokalen stationarii übergeben mussten (Ergebnis dieser Praxis sind etwa Aegidius de Fuscariis/Johannes Garsias 1860, wobei Aegidius großzügig auf Disputationen anderer Autoren zurückgriff, und Borromei 1977), sind viele Disputationstexte verloren, so dass unser Bild über die Entwicklungstendenzen in wechselndem Grad lückenhaft ist. Dass in Bologna Texte der juristischen disputationes publicae im 14. Jh. in libri magni disputationum gesammelt wurden, stellt eine Ausnahme dar (Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Archivio S. Pietro A.29 und Chigi E.VIII.245; Bologna, Collegio di Spagna, 109; Bellomo 1969; Bellomo 1974; Bertram 2013). Sichtbar wird hier immerhin, wie vielfältig die behandelten Themen waren, dass allgemeine Rechtsfragen ebenso disputiert wurden wie konkrete Probleme aus der studentischen Lebenswelt. Erhalten sind die meisten quaestiones disputatae als Sammlungen, die teils von einem Magister als solche für seine Lehre oder seinen Privatgebrauch angelegt wurden (Pilius 1967; Giuliano da Sesso, Libellus quaestionum), teils aus (zeitgenössischen oder späteren) Zusammenstellungen von Rezipienten resultieren. Sammlungen konnten vom disputierenden Magister erstellt werden, um systematisch ein Wissensgebiet zu erschließen (Petrus de Abano 1565; Radulphus Brito, Questiones mathematice; Johannes Andreae 1550). An der Pariser Artistenfakultät entstand um 1300 eine Sammlung von 293 vorrangig naturwissenschaftlichen und medizinischen quaestiones disputatae unterschiedlicher Komplexität mit einem ausgeprägten praktischen Interesse. Einzelne Serien lassen sich bestimmten Magistern zuordnen (Heinrich von Brüssel, Henricus de Alemannia, Johannes Vath, Ulricus), andere sind anonym überliefert (Ms. BnF lat. 16089). Die separate quaestio disputata wurde seit der ersten Hälfte des 13. Jh.s genutzt, um eine konkrete wissenschaftliche Frage von allen Seiten unter Heranziehung der wichtigen Autoritäten und zeitgenössischen Meinungen zu betrachten, was sowohl der Klärung eines im Unterricht aufgetretenen Problems
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und der Formulierung einer bestimmten Lehre dienen (Alexander von Hales 1960; Aegidius Romanus 1990; Johannes von Casale 1960; Meister Eckhart 2006) als auch zu einem Problemaufriss führen konnte, der sich einer Überführung in eine eindeutige Lösung entzog (Bartholomäus von Brügge 1978; Pomponazzi 1955). Nicht selten widmeten Autoren einzelnen Themen wiederum ganze Serien von quaestiones, die sukzessive bemüht waren, ein aufeinander bezogenes Set wahrer Überzeugungen zum jeweiligen Gegenstand zu formulieren (etwa Thomas von Aquin 1970–1976; Nikolaus von Ockham 1993), wodurch quaestiones-Reihen zu einem wirksamen Mittel intellektueller Auseinandersetzung mit gegnerischen Lehrgebäuden werden konnten (Wilhelm von Alnwick 1935; Achillini 1494). Manche Gelehrte, wie etwa Hieronymus von Prag, zogen zu verschiedenen Universitäten, um ihre Überzeugungen in Disputationen zu vertreten und als quaestiones zu veröffentlichen, die Spuren der jeweiligen Debatten, die sie vor Ort auslösten, enthalten (Hieronymus von Prag 2010). Den formalen und institutionellen Rahmen der mittelalterlichen Disputation sprengte das Vorhaben Giovanni Picos della Mirandola, der in einer aemulatio des bei einem Aufenthalt in Paris erlebten universitären Disputationsbetriebs plante, 1486 nicht weniger als 900 Thesen aus diversen Fachbereichen bis hin zur Magie und Kabbala zu verteidigen (Pico della Mirandola 1998). Europaweit lud er Gelehrte zur Teilnahme nach Rom ein und bot sogar an, die Reisekosten zu übernehmen. Dass die Disputation aufgrund der massiven Skepsis etablierter Gelehrter im Umfeld der Kurie nicht realisiert, sondern vielmehr eine Prüfung und anschließende Verurteilung von dreizehn anstößigen Thesen ins Werk gesetzt wurde, zeigt, wie weit sich Pico nicht nur inhaltlich, sondern auch formal von den Gattungserwartungen gelöst und so Widerstände provoziert hatte. Picos wichtigster Gegner, der Spanier Pedro Garcia, hatte 1478 vierzig theologische und zehn philosophische Thesen herausgebracht, um in Paris die theologische licentia zu erlangen. Vor diesem Erwartungshorizont musste Picos Ansinnen als gefährliche Neuerungssucht erscheinen. Besonders Quodlibeta-Disputationen eigneten sich dazu, umstrittene neue Lehrmeinungen in wechselseitiger Bezugnahme zu diskutieren, politische Vorstellungen zu artikulieren oder auch soziale Konflikte zwischen Gelehrtengruppen auszutragen (Thomas von Aquin 1996; Roger Marston 1994; Thomas von Sutton 1969; zur Debatte um die visio beatifica zwischen Thomas Wylton, Sibert de Beka, Petrus Aureoli und Raymundus Bequini s. Nielsen 2009; zum Löwener Streit um die futura contingentia zwischen 1465 und 1475 s. Baudry 1950). Wegen dieser besonderen wissenschaftlichen Funktion der feierlichen Quodlibeta, die in Paris nur zweimal jährlich stattfanden, lag den disputierenden Magistern im 13. und frühen 14. Jh. daran, ihre Gattungsbeiträge zu publizieren, weshalb sich im Vergleich zu anderen verschrifteten Disputationen viele disputationes de quolibet erhalten haben. Einen lebendigen Eindruck von den Lehr- und Gruppenkonflikten, die in disputationes de quolibet realisiert wurden, geben die Quodlibeta einiger Pariser Theologen vom Ende des 13. und aus der ersten Hälfte des 14. Jh.s (Heinrich von Gent 1979–2011; Johannes von Polliaco 2004; Gerardus Odonis 2001). Von Gottfried von Fontaines wissen wir, dass er über Jahre hinweg kurz nach einer solchen Disputation eine Redaktion zur Veröf-
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fentlichung erstellte und dem universitären Buchhändler übergab und so die intellektuellen Diskussionen an der Universität in seinem Sinne zu beeinflussen versuchte; insgesamt entstanden auf diese Weise fünfzehn teils sehr umfängliche Quodlibeta zu ganz verschiedenen Themen, die intertextuell mit den quaestiones disputatae anderer Magister verknüpft sind (Gottfried von Fontaines 1904–1935). Doch auch rein oder vorrangig literarische Quodlibeta, die sich besonders dafür eigneten, zu verschiedenen, dem jeweiligen Magister wichtigen theologischen und philosophischen Themen Lösungen zur Diskussion zu stellen, konnten ausgesprochen kontrovers und kritisch gegenüber Zeitgenossen angelegt sein (Wilhelm von Ockham 1980). Disputationen und quaestiones disputatae sind bis ins 16. Jh. hinein in einem für die Scholastik typischen sehr technischen und klaren Latein gehalten. Ein Streben nach begrifflicher Genauigkeit und ein Bemühen um semantische Differenzierungen spielen eine wichtige Rolle. Die Argumentation bedient sich vorzugsweise logischer Mittel, erst spät gewinnen rhetorische Strategien eine größere Bedeutung. Die einzelnen Abschnitte einer scholastischen Disputation bzw. quaestio disputata werden oft formelhaft markiert: Eingeleitet wird die jeweilige quaestio häufig mit „queritur“ oder auch nur mit „utrum“ bzw. „utrum … an“. Die häufig durchnummerierten Argumente („rationes“) können mit „videtur quod sic“ oder „arguitur quod non“ eingeführt werden; die in verschrifteten Disputationen en bloc gebotenen Gegenargumente werden mit „sed contra“ oder „in oppositum“ eingeführt. Folgerungen aus Argumenten setzen mit „ergo“ ein. Die zumeist nur noch indirekt zu erschließende Aktivität von respondens und opponens schlägt sich in einem neutralen „dicit“ nieder, die Lösung erscheint als solutio oder determinatio, wobei ab dem 14. Jh. häufiger die erste Person („dico“, „mihi videtur“) gebraucht wird. Die abschließende Widerlegung der widerstreitenden Argumente wird vielfach eingeleitet durch „(tunc) ad rationes“. Juristische Disputationen vor der Entstehung der Universität Bologna und noch in deren Frühphase zeichnen sich durch eine weniger stringente, reichere Sprache aus, was mit einem stärkeren Hervortreten der einzelnen an einer Disputation beteiligten Personen einhergeht. Im 13. Jh. gleichen sie sich den Gebräuchen der übrigen Fakultäten an. Ab dem 15. Jh. ist, angefangen in Italien, in unterschiedlichem Grade eine vorsichtige Annäherung an das humanistische Ideal eines an der Antike geschulten Lateins zu erkennen, ohne dass die etablierte technische Begrifflichkeit aufgegeben worden wäre (ein Beispiel hierfür bietet Zanardi 1619). Im Vergleich zum späten 13. und 14. Jh. scheint aber das Bewusstsein zugenommen zu haben, dass die Logik als zentrales argumentatives und epistemisches Mittel mit einer verstärkten Orientierung auf die kommunikativen Bedürfnisse der Rezipienten zu verbinden war, um diese überzeugen zu können (Bose 2002). Die so initiierte Rhetorisierung der Disputation ermöglichte es, disputierte Fragen in andere Gattungen zu überführen. So griff der in Dillingen lehrende Jesuit Jacobus Pontanus für seine Dialoge Progymnasmata Latinitatis auf Material aus Promotionsdisputationen zurück, das er formal und sprachlich in humanistischer Manier aufbereitete (Pontanus 1589–1594). Dass die neuen stilistischen Ansprüche nicht nur auf verschriftete Disputationen beschränkt blieben, sondern auch die universitäre Praxis beeinflussten, bezeugt für Oxford eine
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Liste der von Artesstudenten zwischen 1576 und 1622 debattierten quaestiones (Clark 1887, S. 170–217). Allerdings verwenden viele Texte des 16. und 17. Jh.s. Disputation nur noch als Titelbezeichnung, um zu zeigen, dass ein bestimmtes Thema diskursiv mit Argumenten für verschiedene Positionen behandelt wird, ohne aber noch dem mittelalterlich-scholastischen Formschema und der damit verbundenen Fachsprache zu folgen (Cremonini 1613). Dies gilt auch für die frühneuzeitlichen Schuldisputationen und deren verschriftlichte Produkte in Form von Dissertationen und Thesenschriften (Marti 1982; Marti 2010). Immerhin lebt in ihnen die Funktion mittelalterlicher scholastischer Disputationen als spezifische universitäre Prüfungsform wie als Repräsentation einer Universität bzw. einer Fakultät fort. Dass die häufig mit beträchtlichem Aufwand gestalteten Promotionskataloge der philosophischen Fakultäten zumeist lediglich noch die anlässlich von Bakkalaureats- und Magisterpromotionen disputierten Fragen verzeichnen, auf eine Wiedergabe der Antworten und ihrer Argumente in utramque partem jedoch verzichten, verdeutlicht noch besser, dass es hier um die Repräsentation der Universität gegenüber einer Öffentlichkeit ging, von der die Wahrheitssuche in den Dienst genommen worden war. Interessanterweise bedeutete dies gerade nicht, dass man in den Promotionsdisputationen nicht tagesaktuelle und (wissenschafts-)politische Fragen thematisiert hätte (Leinsle 1998; Leinsle 1999). Im Gegenteil scheint die Funktionalisierung der Disputation als Selbstrepräsentation der Institution der Neigung Vorschub geleistet zu haben, derartige Probleme zu explizieren. 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Im Unterschied zu vielen anderen in diesem Band behandelten Quellengattungen ist die Disputation zumindest für das Mittelalter gut erforscht, wohingegen ihre Geschichte seit dem 16. Jh. bislang nur vereinzelt untersucht wurde. Schon lange wurde sie nicht nur als spezifische Gattung wahrgenommen, sondern erkannt, dass die Gattungsmerkmale entscheidend für die jeweilige Textkonstitution und den Argumentationsgang waren. In der Forschung lassen sich vier dominante Zugriffsweisen unterscheiden: Ideen-, wissenschafts- und disziplinengeschichtliche Zugänge; gattungsgeschichtliche Ansätze; institutionengeschichtliche Behandlungen; kulturgeschichtliche Zugriffe. In den disziplinengeschichtlichen Zugängen liegt ein Schwerpunkt auf der inhaltlichen Untersuchung überlieferter Texte und deren Einordnung in die Geschichte der jeweiligen Wissenschaft, vor allem Philosophie, Naturwissenschaften, Theologie, Jura oder Medizin (Baudry 1950; de Rijk 1980; Spade 1975; Schabel 2006; Schabel 2007; d’Amelio et al. 1980; Bellomo 1997; Fransen 2002; Jacquart 1998). Themen, die nicht in das etablierte Disziplinenraster fallen, wurden von der Forschung lange vernachlässigt (zur Politik Lambertini 2006; zur Ökonomie Ceccarelli 2006). Gattungsgeschichtliche Studien schließen seit den 1980er-Jahren zumeist ideengeschichtliche und institutionengeschichtliche Zugänge ein. Sie sind interessiert an der Entstehung und Entwicklung spezifischer Textgattungen und den entsprechenden
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Sprechakten (Novikoff 2012). Dabei zeigte sich, dass diese nur dann plausibel zu untersuchen sind, wenn die Genealogie einer Gattung in einem institutionellen Rahmen wie Fakultäten und Universitäten und in Relation zur Entwicklung der jeweils transportierten Inhalte gestellt wird (Weijers 1995; Weijers 2002; Weijers 2009; Bazàn et al. 1985; Traninger 2012). Versuche, die Disputation im Sinne einer mit Argumenten geführten Debatte zwischen Vertretern unterschiedlicher Überzeugungen als typischen Zug mittelalterlichen Denkens und Sprechens zu bestimmen, der gleichermaßen für die Schulen des 12. Jh.s, die Universitäten, Religionsgespräche zwischen Christen und Juden, Dichtung, Dialoge und polyphone Musik prägend war, sind selten geblieben (Périgot 2005; Novikoff 2012; Novikoff 2013) und können angesichts der differenzierten Forschungsergebnisse zu all diesen Wirklichkeitsbereichen kaum überzeugen. Notwendig bleibt des ungeachtet jedoch, universitäre scholastische Disputationen mit solchen Gattungen komparatistisch und genealogisch in Beziehung zu setzen, die ähnliche Funktionen übernahmen, seien es antike philosophische Disputationen, dialektische Übungsdisputationen, philosophische, theologische und Lehrdialoge des Mittelalters und der Renaissance, seien es Religionsgespräche oder öffentliche, nichtuniversitäre Disputationen (Weijers 2013; Kintzinger 2015). Auch eine Untersuchung der humanistischen Kritik an und der gleichzeitigen aneignenden Umgestaltung von scholastischen Disputationstechniken ist erst in Ansätzen erfolgt (Traninger 2012). Fortdauer und Veränderung der Disputation in der frühen Neuzeit zu erforschen und sie dabei in Beziehung zur Dissertation als wichtigstem funktionalen Nachfolger zu setzen, ist bislang nur in wenigen Arbeiten und zumal mit starken regionalen Ungleichgewichten unternommen worden (Marti 1982; Marti 1999; Martin 2005). Jüngst lässt sich allerdings eine Zunahme des Interesses an dieser Thematik feststellen (Sdzuj/Seidel/Zegowitz 2012; Gindhart/Marti/Seidel 2016). Zu fragen wäre dabei auch nach dem Niederschlag von Disputationen in literarischen Texten (Literatur): Dieser beschränkt sich nicht auf bekannte Karikaturen wie bei Rabelais. So gestaltete Torquato Tasso in seinem 1590/91 entstandenen Dialog Cataneo 50 Thesen aus, mit denen er 1570 vor der Accademia Ferrarese über den Liebesbegriff disputiert hatte (Tasso 1998, S. 857–899). Diese offenkundig zwischen Karneval, Galanterie und intellektuellem Vergnügen schwankende Veranstaltung übernahm, Tassos Dialog zufolge, gleichwohl Regularien universitärer Disputationen: Viele der Thesen stammten nicht von Tasso in der Rolle des respondens, sondern vom Philosophieprofessor Antonio Montecatini; außerdem hatte Tasso seine Thesen vorab bekannt machen müssen, so dass die Opponenten ihre Angriffe vorbereiten konnten, wohingegen er selbst aus dem Stegreif zu replizieren hatte (Häsner 2015). In institutionengeschichtlichen Arbeiten spielen die Disputationen zwar selten eine Hauptrolle, werden jedoch regelmäßig im Zusammenhang mit der Ausbildung der Universitäten, der Geschichte einzelner Fakultäten und Universitäten, der Regulierungen von Unterricht und Prüfungswesen sowie im Kontext institutioneller Konflikte behandelt (Siraisi 2001; Rüegg 1993; Rüegg 1996; Maierù 1993; Schwinges 1999; Rexroth 2010). Dass Pariser Magister ihre Disputationen im späten 13. und frühen 14. Jh. nutzten, um selbstbewusst einen besonderen Status des Theologen
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einzufordern (Marmursztejn 2006; Marmursztejn 2007), zeigt, welche Möglichkeiten die ideen- und institutionsgeschichtliche Perspektiven zusammennehmende Erforschung von Disputationen bietet, um das Selbstverständnis von Gelehrten und ihre Deutung von Wissenschaft und Universität zu verstehen. Kulturgeschichtliche Ansätze schließlich, die innerhalb der Disputationsforschung noch immer eher am Rande stehen, greifen etwa die schon lange von der Forschung vorgenommene Analogie zwischen einer Disputation und einem Turnier (Grabmann 1909–1911; Peri 1963) auf und zeigen, wie die Disputation als ritualisierter Wettkampf der Selbstpräsentation der Universitäten und ihrer Vertreter dient und wie hier die Produktion von Erkenntnis performativ ins Werk gesetzt wird (Füssel 2006; Füssel 2016). Erschwerend für kulturgeschichtliche Fragestellungen ist, dass in der Forschung verschrifteten Disputationen weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde als mündlichen. Gerade eine Rekonstruktion tatsächlich abgehaltener Disputationen ist für die Zeit vor dem 15. Jh. bislang nur in Ansätzen erfolgt, was allerdings auch im relativen Mangel aussagekräftiger Zeugnisse begründet liegt. Entsprechende Untersuchungen sind gleichwohl wünschenswert, weil der Zusammenhang zwischen mündlicher Disputation und ihren verschrifteten Niederschlägen sowie der quaestio als Textform sich noch besser rekonstruieren ließe, als dies bisher gelungen ist. Systematischer zu untersuchen wäre die sich im Laufe der Jahrhunderte verändernde Rolle des Publikums: Während wir vor allem im 14. Jh. zahlreiche Versuche dokumentiert finden, diese passiv anzulegen, wenn Zwischenrufe, Unruhe und Lärmen untersagt werden, erhält es spätestens mit dem Heraustreten der Disputation aus dem universitären Raum vor ein höfisches oder städtisches Publikum im Rahmen der Reformation eine neue Funktion als Resonanzraum, den es zu bestimmen galt. Zu zeigen wäre außerdem der Zusammenhang inhaltlich-argumentativer, performativer und symbolischer Ausrichtungen von Disputationen: Wie etwa der Fall einer in Venedig veranstalteten medizinischen Disputation im Jahre 1576 zeigt, konnte die Disputation ein Mittel sein, Einstellungen und Haltungen des Publikums gleichermaßen argumentativ wie symbolisch zu beeinflussen. Angesichts einer um sich greifenden Seuche disputierten hier nämlich in Gegenwart des Dogen die aus Padua hinzugezogenen Professoren Girolamo Mercuriale und Girolamo Capodivacca ihre umstrittene Einschätzung, es handele sich nicht um die Pest, sondern um eine verhältnismäßig harmlose Seuche. Zwar war die Disputation zunächst ein Erfolg, da die Experten sich die Deutungshoheit sichern konnten, als jedoch die Seuche immer weiter um sich griff, ließ sich nicht länger leugnen, dass sich die Disputierenden geirrt hatten (Rodenwaldt 1953). Dass die Disputation in diesem Fall einer strittigen Einschätzung Geltung verleihen sollte, indem deren Gründe argumentativ dargelegt und die Autorität der Professoren performativ unter Beweis gestellt wurde, darf aus kulturhistorischer Sicht als Beleg für die Steuerungsfunktion gelten, die Disputationen auch im späteren 16. Jh. zugeschrieben wurde, da diese erlaubten, Geltungsansprüche inhaltlich, performativ und symbolisch zu prüfen.
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Kolleghefte, Vorlesungsmitschriften Maximilian Schuh
Begriffserklärung Unter Kollegheften und Vorlesungsmitschriften werden studentische Überlieferungen gefasst, die für oder während des universitären Unterrichts angefertigt und dort benutzt wurden. Sie können schriftliche Spuren unterschiedlicher mündlicher Kommunikationssituationen im Hörsaal enthalten. In Aussehen und Inhalt sind sie vielfältig und uneinheitlich. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Vorlesungsmitschriften und Kolleghefte sind zentrale Quellen für die Untersuchung des akademischen Unterrichts. In der Regel wurden sie als studentische Sammlungen von Handschriften und/oder Inkunabeln/Frühdrucken angelegt. Vielgestaltigkeit ist ein zentrales Kennzeichen dieser Quellengattung. Das Spektrum reicht von wertvollen Pergamentcodices des Hochmittelalters über zahlreich überlieferte Papierhandschriften des Spätmittelalters bis hin zum vergleichsweise günstigen Drucken der Lehrwerke (für die Pariser Artistenfakultät vgl. Weijers 1994–2010; für die Wiener Artistenfakultät vgl. Glaßner 2010). Die Quellengattung lässt sich vom 12. bis zum 16. Jh. für alle universitären Fächer in ganz Europa nachweisen. Die in einem Codex zusammengestellten Lehrwerke können höchst unterschiedlicher Natur sein, da der Studienverlauf und das Sammlungsinteresse des Anlegenden entscheidend waren. Für die Mehrheit der Universitätsbesucher bestimmten in erster Linie ökonomische Beschränkungen die Möglichkeiten der Textbeschaffung. Über die Lehrbuchtexte hinaus enthalten solche Sammlungen zum Teil weitere persönliche Studienmaterialien und Niederschriften. Die dem Unterricht zugrunde gelegten Lehrbuchtexte dominieren die Überlieferung. In den universitären Curricula stehen die Titel der behandelten Werke stellvertretend für das unterrichtete Fach. Die Bereitstellung korrekter Textgrundlagen war ein zentrales universitäres Anliegen. Das in Bologna Mitte des 13. Jh.s entstandene Pecien-System ist die berühmteste Ausprägung dieser Bemühungen und diente bis zum 15. Jh. der Herstellung von Lehrtexten, später auch von Questionen und Repetitionen. Diese professionelle Form der zunächst juristischen Buchproduktion, die sich
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bald in anderen Universitätsstädten in Italien, Frankreich, Spanien und England etablierte, löste das individuelle Abschreiben der Texte ab. Studenten benutzten Vorlagen (exemplaria), die aus losen, nicht gebundenen und nummerierten Lagen bestanden, den sogenannten Pecien. Einzelne Werke konnten aus über 100 Pecien bestehen. Diese waren bei von der Universität approbierten Buchhändlern (stationarii) ausleihbar. Wesentlich für das Peciensystem war, dass der einzelne Nutzer jeweils nur eine Pecia erhielt. Die Studenten brachten die ausgeliehenen Pecien zu einem professionellen Schreiber (scriptor) zum Kopieren. Der hatte für die Anfertigung der Abschrift in der Regel eine Woche Zeit, und der Ausleiher erhielt nur nach Rückgabe der benutzen Pecia die folgende. So konnten mehrere Schreiber zur selben Zeit verschiedene Vorlagen aus einem Werk benutzen. Solche Vorgaben wurden ausdrücklich in den universitären Statuten verankert (z. B. Paris (1316) Denifle, Bd. 2 1891, S. 190; Montpellier (1396) Fournier 1890/91, Bd. 2, S. 161 f.; Bologna (1405) Malagola 1988, S. 285). Diese arbeitsteilige Vorgehensweise beschleunigte und verbilligte die Handschriftenproduktion und sorgte für eine ausreichende Versorgung mit Lehrbuchtexten. Vor allem bot sie der Universitätsleitung die Möglichkeit, die verwendeten Werke und die Qualität der Abschriften zu kontrollieren. Trotz aller Beschleunigung durch dieses Vorgehen dauerte die Abschrift des kompletten Decretum Gratiani etwa, je nach Können des beauftragten Schreibers, ein bis zwei Jahre und war noch immer sehr teuer. Die stationarii vermittelten gegen Gebühr auch den Verkauf bereits benutzter Lehrwerke zwischen Studenten. Seit Mitte des 14. Jh.s kopierten in italienischen Universitätsstädten verstärkt auch niederländische und deutsche Studenten Pecien nicht für das eigene Studium, sondern um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen (Christ 1938; Pollard 1978; Soetermeer 2002). Im mittel- und osteuropäischen Hochschulraum hingegen wurde aufgrund des sozioökonomischen Hintergrunds der Universitätsbesucher ein anderes Verfahren favorisiert. Der Lehrbuchtext wurde in der Regel nicht erworben. Stattdessen wurde er vor Beginn der Veranstaltungen den zukünftigen Teilnehmern des Unterrichts in der sogenannten pronuntiatio diktiert, so dass sie während der Veranstaltung theoretisch den Text in eigener Abschrift vorliegen hatten. Dieses Vorgehen wurde in den universitären Statuten festgelegt (Wien 1389; Prag 1390; Erfurt 1449). Für Heidelberg (1452) und Ingolstadt (1476) sind die Vorgaben überliefert, dass mindestens zwei bzw. drei Studenten gemeinsam einen Lehrbuchtext benutzen sollten. Das Diktat übernahmen von der Universitäts- oder Fakultätsleitung beauftragte Magister und Bakkalare (Christ 1938; Powitz 2005). Da der Zugang zu universitären Bibliotheken in der Regel den Lehrenden vorbehalten war, stellte dies die einzige Möglichkeit dar, kostengünstig an die Unterrichtstexte zu gelangen. Kommentare bzw. von Lehrenden verfasste Textkompendien verdrängten im Laufe des Mittelalters zunehmend den ursprünglichen Lehrbuchtext (für Aristoteles vgl. Grabmann 1939; Flüeler 2004). Im Zuge der humanistischen Bildungserneuerung wurden seit der Mitte des 15. Jh.s wieder die zum Teil neu übersetzten Autoritätentexte dem Unterricht zugrunde gelegt, wobei auch hier seit Beginn des 16. Jh.s aus didaktischen Gründen verstärkt gedruckte Kompendien Verwendung fanden (Seifert 1978).
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Daneben existieren studentische Aufzeichnungen, die während des Unterrichts angefertigt und zum Teil im Anschluss redigiert wurden. Sie sind seit dem 14. Jh. durchgängig überliefert und runden die Überlieferung ab (für Uppsala vgl. etwa Piltz 1977). Der Vergleich mit Textsammlungen aus dem Kontext von Latein- und Stadtschulen macht deutlich, dass sich der Unterricht dort zum Teil nur graduell von artistischen Lehrveranstaltungen unterschied (Bodemann/Kretzschmar 2000; Baldzuhn 2009). 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Die im Unterricht benutzen Texte wurden in der Regel mit anderen Studienunterlagen und persönlichen Materialien in einem Studiencodex zusammengebunden. Überlieferungschancen bestanden vor allem, wenn solche Codices einer institutionell verankerten Bibliothek übergeben wurden. Das waren in der Regel keine Universitäts- oder Fakultätsbibliotheken, sondern Kloster-, Stifts- und städtische Bibliotheken, also Kontexte, in denen die Schreiber nach ihrem Studium tätig waren. Vorderund Rückdeckel der Codices können Angaben zum Verfasser und zum Zeitpunkt und Ort der Entstehung bzw. Übergabe enthalten. Auch die einzelnen in den Codices versammelten Werke werden oft von Paratexten begleitet. Vom Schreiber verfasste Incipia und Kolophone ermöglichen zum Teil die Datierung, Lokalisierung und Zuweisung der Texte (Glaßner 2010). Auch das Ende einzelner Pecien wird durch solche Texte markiert, in denen sich häufig der Schreiber nennt. Der Lehrbuchtext, der den Unterrichtsteilnehmern vorlag, wurde vom Magister in der Vorlesung (lectio) als zentraler Studienveranstaltung erläuternd ausgelegt (Haye 2005). Das für Universitätshandschriften typische Seitenlayout präsentiert ihn in großer, sorgfältig ausgeführter Schrift und lässt sowohl durch Zeilendurchschüsse als auch an den Seitenrändern ausreichend Platz für weitere Notierungen. Dieses Layout wurde in für den Unterricht bestimmten Drucken aufgenommen. Im Vordergrund stand der größer geschriebene Lehrbuchtext. In die Freiräume wurden von den Hörern während des Unterrichts in kleinerer Schrift Notizen geschrieben (Henkel 2010; Powitz 1981). Diese Notierungen teilten sich, wie in mittelalterlichen Handschriften üblich (Baldzuhn 2001), in Interlinear- und Marginalglossen, die unterschiedliche Schwerpunkte setzten. In den Interlinearglossen überwiegen lexikalische und grammatikalische Wort- und Sacherklärungen, um überhaupt den primären Sinn des Lehrtexts zu erschließen. Die Marginalglossen hingegen enthalten kaum grundlegende Wort- und Grammatikerklärungen. Sie bieten vor allem vertiefende Erläuterungen des Haupttexts oder zusätzliche Beispiele und Hinweise (Leonhardt 2008; Blair 2008; Schuh 2015). Sie werden regelmäßig mit den Wendungen wie ponit magister distinctionem, ponit magister cautelam, pretendit magister oder ponit magister preceptum eingeleitet (Beispiele aus Graz, Universitätsbibliothek, Ms. 854, fol. 84v-90r). Die Ausführung und Schrift der Glossen sind stets von der
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Anfertigung unter Zeitdruck geprägt. Flüchtige Buchstabenformen, zahlreiche Kürzungen und Auslassungen, die sich deutlich vom sorgfältig geschriebenen Haupttext unterscheiden, sind zentrale Charakteristika (Powitz 2005). Dazu tritt die zum Teil überintensive Nutzung des zur Verfügung stehenden Schreibraums. Sprachlich stellen diese studentischen Notierungen eine Brücke zwischen dem Lehrbuchtext und den Fähigkeiten der Unterrichtsteilnehmer dar. Sie sind wie der Lehrbuchtext im universitären Kontext stets auf Latein verfasst, repräsentieren aber (vor allem im nicht-romanischen Gebieten) eine völlig andere Sprachfertigkeitsebene, die an das Niveau des Haupttextes herangeführt wird. Volksprachliche Notierungen finden sich kaum, aber das oft einfache Latein ist von volksprachlicher Lexik und Syntax geprägt. Inhaltlich sind sie bestrebt, die gelehrten Inhalte leichter handhabbar zu machen. Daneben entstanden genuine Mitschriften der Vorlesung (für eine anatomische Vorlesung im 16. Jh. s. Eriksson 1959; für juristische Vorlesungen vgl. Hagemann 1992). Diese sind in ihrer äußeren Form mit den Glossen vergleichbar. Dicht gedrängte Schrift, Kürzungen und maximale Ausnutzung des vorhandenen Schreibraums prägen auch hier das Bild (Powitz 2005). Die Schreiber waren vor allem bemüht, unabhängig vom Lehrbuchtext zentrale Inhalte der Vorlesung zum Teil auch durch schematische Darstellungen zu dokumentieren. 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Studentische Textquellen erlauben auf der institutionengeschichtlichen Ebene zu überprüfen, inwieweit die curriculare Norm im Unterricht eingehalten wurde. Sie ermöglichen, die präskriptive Ebene der Statuten zu verlassen und die tatsächlich im Unterricht behandelten Lehrwerke zu eruieren. Bei der gründlichen Untersuchung des an der Artistenfakultät der Universität Wien entstandenen Schriftguts wurde deutlich, dass sich das Interesse der Studenten vor allem auf die trivialen Fächer Grammatik und Rhetorik richtete, da entsprechende Texte vermehrt gesammelt wurden (Glaßner 2010). Der Lehrplan hingegen stellte Logik, Natur- und Moralphilosophie in den Mittelpunkt des artistischen Studiums. Da nur der geringere Teil der Studenten eine Graduierung anstrebte, scheinen persönliche Interessen und Nützlichkeitserwägungen wichtigere Anstöße gegeben zu haben als universitäre Curricula. Die tatsächlich im Unterricht verwendeten Werke erhellen zudem unspezifische Vorgaben der Statuten oder zeigen Tendenzen auf, die erst im Nachhinein normativ verankert wurden (für den artistischen Rhetorikunterricht in Ingolstadt vgl. Schuh 2013, S. 83–121; Schuh 2015). Auch die im Unterricht konkret vermittelten Inhalte lassen sich nachvollziehen. Das gilt insbesondere für Werke, deren vollständige Behandlung in den zeitlich zum Teil stark begrenzten Vorlesungen nicht möglich war (für den mathematischen Bereich vgl. Schöner 1994). Der Zeitpunkt der Niederschrift von Vorlesungsmanuskripten zeigt, dass Studenten sich zum Teil erst an der Universität immatrikulierten, nachdem sie dort bereits einige Zeit studiert hatten, wenn sie sich
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denn überhaupt einschrieben. So können die Mitschriften den Aussagewert von universitären und fakultären Matrikeln modifizieren und ergänzen. Studentische Mitschriften ermöglichen aus bildungsgeschichtlicher Perspektive in Ansätzen die Rekonstruktion des Unterrichtsgeschehens im mittelalterlichen Hörsaal (Leonhardt/Schindler 2007). Die Magister trugen die Erläuterungen zum Lehrbuchtext wahrscheinlich im Unterricht vor, woraufhin sie von den Studenten notiert wurden. Eindrücklich belegen das Hörfehler in den Notierungen. So waren etwa studentische Schreiber an der Universität Uppsala Ende des 15. Jh.s nicht in der Lage, unbekannte deutsche Städtenamen, die ihnen der in Rostock ausgebildete Magister Erik Olai diktierte, korrekt niederzuschreiben (Piltz 1977). Auch in Leipziger Glossen finden sich zahlreiche falsche Notierungen (Bräuer/Leonhardt/Schindler 2008). Die unterschiedliche Quantität der beiden Glossierungsarten deutet darauf hin, dass sie in zwei getrennten Besprechungsdurchgängen notiert wurden. Zum Teil sind Abschriften und Drucke von Texten überliefert, die durchgängig interlinear glossiert wurden. Die Marginalglossierung hingegen wurde nicht auf jeder Seite notiert. Dieser Befund legt nahe, dass der Lehrbuchtext zunächst auf der Wort- und Sachebene erläutert wurde. Erst in einem zweiten Schritt wurden zusätzliche inhaltliche Erklärungen vorgetragen (Blair 2010). Leipziger Zeugnisse zeigen ein anderes Bild. Verpasste der Schreiber eine Sitzung der Lehrveranstaltung fehlte jegliche Glossierung. Die Parallelüberlieferung verschiedener Exemplare eines in derselben Lehrveranstaltung glossierten Cicerodrucks zu Beginn des 15. Jh.s erlaubt in diesem Zusammenhang interessante Vergleiche, ist aber bisher singulär (Bräuer/Leonhardt/Schindler 2008). Auf handschriftlicher Ebene sind vergleichbare Funde bisher nicht gemacht worden. Die Marginalglossen zeigen zudem die Aneignung der vermittelten Inhalte durch die Besucher der Lehrveranstaltungen. Eine Glosse des Ingolstädter Studenten Johannes Stetmaister – Johannes Stetmaister longe carior est puellis ceteris waccalareis (Augsburg, Staats-und Stadtbibliothek, 2° Cod 213, fol. 7v) – lässt vermuten, dass sie nicht auf einer magistralen Erläuterung beruht, sondern auf einen Einfall des Schreibers zurückgeht. Spielerisch werden die Regeln des Lehrbuchtexts aufgegriffen. Das belegt den aneignenden Umgang der Studierenden mit den vermittelten Lehrinhalten. Zwar handelt es sich hier nur um Hinweise, doch wecken sie erhebliche Zweifel an der pauschalen These, dass sich die mündliche Kommunikation auf Latein an den spätmittelalterlichen Universitäten des nordalpinen Reiches hauptsächlich entlang von vorgefertigten Textbausteinen bewegte (Haye 2008). Hier wurde vielmehr die Mündlichkeit des täglichen Lebens an den lateinischen Unterrichtstext herangetragen (Schuh 2013, S. 194–203; Schuh 2015). Notwendig ist die umfassende Erschließung der entsprechenden Handschriftenund Drucküberlieferung. Aufgrund der oben dargelegten Überlieferungslage ist dafür ein erheblicher Rechercheaufwand nötig. Entsprechende Projekte sind für Paris und Wien angestoßen worden und haben in einem erheblichen Erkenntnisfortschritt erbracht (Weijers 1994–2010; Schriftgut aus dem Umkreis der Universität Wien von 1365 bis 1500). Weitere umfassende Erschließungsunternehmen sind wünschenswert, da auch die Tiefenerschließung in Handschriftenkatalogen nur zum Teil gegeben ist.
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Beginn einer in Ingolstadt glossierten Abschrift der Elegantiolae des Augustinus Datus, 1486, Bayerische Staatsbibliothek München, clm 14644, fol. 59r.
Die geographische und thematische Begrenzung des Untersuchungsgegenstands auf eine Universität und ein Lehrbuch bzw. Fach stellen daher eine Möglichkeit dar, die Menge der handschriftlichen Überlieferung sinnvoll zu begrenzen (Leonhardt/Schindler 2007; Schuh 2013; Schuh 2015). Der Nutzen von Paratexten für die personelle Erschließung, Datierung und Lokalisierung von universitären Handschriften ist hoch. Studienverläufe, Studienortswechsel, inhaltliche Präferenzen, aber auch personelle Netzwerke, die nicht in anderen Quellengattungen dokumentiert sind, lassen sich aus diesen Notierungen rekonstruieren. Die Erschließung von datierten Kolophonen
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ist in diesem Zusammenhang von großem Nutzen (Bouveret 1965–1982), ebenso die systematische Verzeichnung der Schreiber und Besitzer von Handschriften (Krämer 2001–2008). Weitere in den Codices notierte Schriftstücke wie Vokalbellisten, Vorlesungsankündigungen oder Briefe ermöglichen zusätzliche Einblicke in das universitäre Leben und Lernen und bieten ähnliche Möglichkeiten wie die Paratexte (vgl. etwa Rando 2008). Studentische Vorlesungsmitschriften und Kolleghefte stellen eine aussagekräftige Quellengattung dar, deren Erkenntnispotential aufgrund von Schwierigkeiten bei Recherche und Auswertung bisher nur in Ansätzen ausgeschöpft wird.
4. Bibliographie 4.1 Quellen Bouveret, Bénédictins du (Hrsg.) (1965–1982), Colophons de manuscrits occidentaux des origines au XVIe siècle (Spicilegii Friburgensis subsidia, 2–7), Fribourg. Eriksson, Ruben (Hrsg.) (1959), Andreas Vesalius’ First Public Anatomy at Bologna 1540. An Eyewitness Report by Baldasar Heseler Medocinae Scolaris (Lychnos-Bibliotek, 18), Uppsala. Krämer, Sigrid (2001–2008), Scriptores possessoresque codicum medii aevi. Datenbank von Schreibern und Besitzern mittelalterlicher Handschriften, Augsburg, URL: http:// rzblx10.uni-regensburg.de/dbinfo/detail.php?bib_id=ulbms&colors=&ocolors=&lett=fs &titel_id=6950. Piltz, Anders (Hrsg.) (1977), Studium Upsalense. Specimens of the Oldest Lecture Notes Taken in the Mediaeval University of Uppsala (Acta Universitatis Upsaliensis. Skrifter rörande Uppsala universitet. C, 36), Stockholm. Schriftgut aus dem Umkreis der Universität Wien von 1365 bis 1500, URL: http://www. ksbm.oeaw.ac.at/univ. Weijers, Olga (1994–2010), Le travail intellectuel à la Faculté des arts de Paris. Textes et maîtres (ca. 1200–1500) (Studia artistarum 1, 3, 6, 9, 11, 13, 15, 25), 8 Bde., Turnhout.
4.2 Literatur Baldzuhn, Michael (2001), Schriftliche Glosse und mündlicher Unterricht. Das Beispiel der älteren lateinisch und volkssprachlich glossierten Aviane (9.–11. Jahrhundert), in: Bergmann, Rolf / Glaser, Elvira / Moulin-Fankhänel, Claudine (Hrsg.), Mittelalterliche volkssprachige Glossen, Heidelberg, S. 485–512. Baldzuhn, Michael (2009), Schulbücher im Trivium des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Verschriftlichung von Unterricht in der Text- und Überlieferungsgeschichte der Fabulae Avians und der deutschen Disticha Catonis (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 44, 1–2), 2 Bde., Berlin/New York. Blair, Ann M. (2008), Student Manuscripts and the Textbook, in: Grafton, Anthony T. u. a. (Hrsg.), Scholarly Knowledge. Textbooks in Early Modern Europe (Travaux d’Humanisme et Renaissance, 447), Genf, S. 39–73.
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Kommentar Jan-Hendryk de Boer
Begriffserklärung Kommentare sind Texte, die explizit formal und/oder inhaltlich auf einen autoritativen Text Bezug nehmen, um dessen Bedeutung zu klären oder von ihm aufgeworfene Fragen und Problemstellungen in mehr oder weniger großer Nähe zu der Vorlage zu erörtern. Der Grad, in dem sich der Kommentar auf den Ausgangstext in seinem Aufbau und seinem Gehalt bezieht, kann dabei stark variieren: Literalkommentare dienen der unmittelbaren Erläuterung schwieriger oder diskussionswürdiger Aussagen der Vorlage, Quaestionenkommentare nehmen in der Vorlage behandelte Themen und Probleme als Ausgangspunkt, um diese unter Hinzuziehung weiterer Autoritäten mit den Mitteln der Logik zu diskutieren. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Kommentieren bzw. das Verfassen von Kommentaren sind charakteristisch für die Lehr- und Wissenschaftspraxis der vormodernen Universität. Bereits seit der Spätantike hatten sich Gelehrte kommentierend mit den Werken hochangesehener Vorgänger auseinandergesetzt (Geerlings 2002–2004; Gibson/Kraus 2002). Diese Kommentare waren formal wie inhaltlich vorbildlich für mittelalterliche Kommentare. Einen durch das ganze Mittelalter hin intensiv studierten und kommentierten Text (Heinrich Totting von Oyta 1979; Manlevelt 2014; Bakker/Kok 2015) stellt etwa die Isagoge des Porphyrius dar, die zwar kein Kommentar im eigentlichen Sinne, wohl aber eine Einführung in die Kategorienschrift des Aristoteles und damit in das Organon insgesamt ist. Boethius’ Kommentar zur Isagoge war zu entnehmen, dass Thema, Nutzen, Authentizität, Struktur, Titel und Fachbereich des kommentierten Referenztextes im Prolog zu bestimmen seien. Auch die patristischen Bibelkommentare mit ihrer Einsicht, dass die Schrift einen mehrfachen Sinn haben könne, den es interpretatorisch auszufalten gelte, standen im ganzen Mittelalter als formale Vorbilder und Wissensschatz bereit. Die spätantiken Aristoteleskommentare wurden hingegen erst seit dem 14. Jh. breit rezipiert (Guldentops et al. 2007a–c). Die islamische Philosophie und Medizin rezipierte das christliche Mittelalter nicht zuletzt über die Kommentare, die Avicenna (Ibn Sina) und Averroes (Ibn Rushd) den antiken Klassikern gewidmet
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hatten (Calma 2011; Hasse 2000; Siraisi 1987). Der zentrale Rang, der dieser kommentierenden Durchdringung der antiken Schriften im Verständnis der christlichen Gelehrten für ihre eigenen Bemühungen zukam, bringt der Ehrentitel commentator zum Ausdruck, mit dem sie Ibn Rushd/Averroes bedachten (Baffioni 2004). Auch nach der Herausbildung der Universität, die dem Kommentieren einen neuen institutionellen Ort gab, war der Kommentar nicht auf diesen beschränkt: Weiterhin entstanden zahllose Kommentare in Klöstern, für den Schulbetrieb oder – insbesondere seit dem Aufkommen des Humanismus – als in Gelehrtenzirkeln zirkulierende Privatarbeiten. Im 12. Jh. bevorzugten Theologen wie Rechtsgelehrte die Glosse als Mittel der Kommentierung. Wichtigstes Instrument, die Bibel zu verstehen, war die in der Schule von Laon im 12. Jh. erstellte Glossa ordinaria, die autoritative, zumeist patristische Erklärungen versammelte (Smalley 1984; Smith 2009; Roth 2007). Bis weit ins Druckzeitalter war diese Glossierung Begleiterin des Bibeltextes, den sie mit der patristischen Tradition intertextuell vernetzte (Biblia 1992). Spätere Bibelkommentare wie derjenige des Franziskaners Nikolaus von Lyra (Nikolaus von Lyra 1971) oder derjenige des Oxforder Theologen John Wyclif, der wiederum stark auf die Postilla des Nikolaus von Lyra zurückgriff (Benrath 1966; Smalley 1953), nutzten bei aller Eigenständigkeit großzügig das in der Glossa ordinaria organisierte Material. Glossierende Erläuterungen konnten sich zwar vom autoritativen Text durch die Hinzuziehung weiterer Autoritäten mehr oder weniger stark entfernen, blieben jedoch grundsätzlich an den Referenztext gebunden. In Italien hatte sich insbesondere bei den Gelehrten der Bologneser Rechtsschule bereits im 12. Jh. die Glosse als privilegierte Form etabliert, um sich mit dem Corpus Iuris Civilis auseinanderzusetzen (Lange 1997; Kästle-Lamparter 2016). Die Glosse war die Übertragung der mündlichen Erläuterungen der Vorlesung in das Medium der Schrift (Weimar 1969, S. 44 f.). Kanonisten wie Guibert de Bornado, Simon von Bisignano oder Johannes Faventius behandelten nach dem Vorbild ihrer römischrechtlichen Kollegen das Decretum Gratiani (Weigand 1991 mit Teileditionen; Pennington/Müller 2008) und die päpstlichen Dekretalen in Glossenform. Die Entstehung der Universitäten bedeutete hier zunächst keine Abkehr von der glossierenden Erklärung. Allerdings lässt sich seit dem Ende des 12. Jh.s die Tendenz feststellen, die Glossen so zu konzipieren, dass sie als selbständiger Text und nicht mehr notwendig zusammen mit dem Gesetzestext zu lesen waren (Dolezalek 2000). Auf der Grundlage der Glossenwerke Huguccios und insbesondere Azos schuf dessen Schüler Accursius um 1250 mit seiner Glossa ordinaria eine organisierende Zusammenfassung der bisherigen Glossen zum Corpus Iuris Civilis (Accursius 1968a–c; Accursius1969a–b) – und kanonisierte damit das Wissen der sogenannten Glossatoren (Weimar 1973; Horn 1973; Jakobs 2006). Die Glossa ordinaria, die in den Handschriften wie in späteren Drucken als Klammerglosse um den Haupttext gesetzt wurde, war nun europaweit als Wissensreservoir unverzichtbarer Bestandteil der weiteren Rezeption des römischen Rechts (Lepsius 2014, S. 146–152; Duntze 2005; Bellomo 2005, S. 175–179). Auf diese Grundlage bauten die sogenannten Kommentatoren auf, so der in Perugia lehrende Cinus von Pistoia
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Corpus iuris civilis. Digesta Iustiniani. Digestum novum. Mit der Glossa ordinaria des Franciscus Accursius und Summaria nach Bartolus und Paulus, Lyon: Siber 1500 (GW07715), Staatsbibliothek zu Berlin – PK, 2° Inc. 4684,31, fol. 229r (D. 47.10).
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und sein zeitweiliger, später in Pisa und Perugia unterrichtender Schüler Bartolus de Saxoferrato (Bartolus de Saxoferrato 1999), sein umtriebiger Schüler Baldus de Ubaldis (Baldus de Ubaldis 1585; Baldus de Ubaldis 1970) und dessen Bruder Angelus de Ubaldis. Sie machten sich in ihren umfangreichen Kommentaren daran, den gesamten Regelungsgehalt von Rechtsvorschriften in systematisierender Weise zu erläutern (Lange/Kriechbaum 2007; Horn 1973). Ihre Kommentierungen blieben formal ebenso wie inhaltlich bis ins 16. Jh. außerordentlich einflussreich. Besonders der sehr produktive Bartolus wurde zur Autorität, deren Ausführungen man für Jahrhunderte nicht unberücksichtigt lassen konnte; ein Vorgang, der von Nichtjuristen gerne belächelt wurde (Lepsius 2004; Bellomo 2005, S. 196–201). In Handschriften wie im Buchdruck kamen die Rechtstexte häufig in Begleitung ihrer kommentierenden Erläuterungen daher. Auch wenn spätmittelalterliche, ihrerseits wiederum einflussreiche Kommentatoren wie Johannes von Imola (Johannes von Imola 1547), Jason de Mayno (Jason de Mayno 1569) oder dessen Schüler Filippo Decio ihre verehrten Vorläufer durchaus kritisierten und zu anderen Lösungen kommen konnten, blieben vor allem die von Bartolus und Baldus bezogenen Positionen dennoch unverzichtbare Diskussionsgrundlage. Die Ausführungen der Glossa ordinaria sowie weitere Meinungen angesehener Kommentatoren wurden bald ihrerseits Gegenstand der Kommentierung, die zustimmend, differenzierend, jedoch auch eindeutig kritisch ausfallen konnte. Wie schon Huguccio von Pisa im späten 12. Jh. darlegte, ziele der Kommentar im Unterschied zur Glosse nicht allein auf die Erklärung der Bedeutung der jeweiligen Passage, was ausdrücklich die Erläuterung einzelner Worte einschließe, sondern erhelle zusätzliche Sinnschichten (Huguccio von Pisa 2004, Bd. 2, S. 536). Diese veränderten Erwartungen in Bezug auf die Gattung Kommentar schlugen sich in formalen Neuerungen nieder: Wie in den übrigen Disziplinen diente die Form der quaestio als Mittel, über den konkreten Fall hinausgehende Rechtsfragen zu behandeln. Während die Kommentatoren des 14. Jh.s die dem Textverständnis dienenden Erläuterungen zumeist kurz hielten oder sich mit Hinweisen auf die Glossa ordinaria begnügten, wurden die quaestiones zur Form, um weiterführende Rechtsfragen ausführlich zu erörtern, so dass sie wie einzelne Traktate wirken können. Mit der Repetitio entwickelte sich aus dem universitären Unterricht heraus schließlich eine spezifische Form des Kommentars, die es erlaubte, die zu kommentierende Stelle unter Hinzuziehung möglichst vieler verschiedener eigener oder in früheren Glossierungen und Kommentierungen anzutreffender Deutungsmöglichkeiten zu behandeln (Bezemer 1987; Daniels 2013, S. 464–484). Derartige Repetitiones konnten entweder gesondert veröffentlicht oder als besonders intensiv durchgeführter Abschnitt in Kommentare eingeschaltet werden. Die Ausführungen der Kommentatoren konnten dabei einen so beträchtlichen Umfang annehmen, dass sie nur noch die ersten Titel des Rechtsbuches ausführlich behandelten. Zugleich lässt sich bei den Kommentatoren ein gewachsenes Interesse an der Rechtspraxis feststellen (erkennbar etwa bei den Legisten an der Universität Neapel wie Benedictus de Isernia sowie Andreas Bonellus de Barulo) und – nicht zuletzt unter
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dem Eindruck der aristotelischen Wissenschaftstheorie – ein Bemühen, die wissenschaftlichen Methoden ihres Fachs fortzuentwickeln. Dadurch, dass verstärkt Einzelprobleme kommentiert wurden, vertiefte sich einerseits die Exegese, andererseits wurde der rasch wachsende juristische Wissensbestand zunehmend unübersichtlich, eine systematisierende Zusammenschau immer schwieriger. Odofredus war einer der wenigen italienischen Juristen, der sich nach Accursius an ein großes selbständiges Werk wagte, ohne sich dessen Einfluss durchweg entziehen zu können. Im Vergleich zu Accursius schenkte er aktuellen Ereignissen eine weit größere Aufmerksamkeit (Odofredus 1967–1968; Jakobs 2001). Seine Kollegen bevorzugten in der Regel kleinere exegetische Arbeiten. Im 15. und 16. Jh. entstanden dann wieder teils sehr umfangreiche Kommentare, die ihren inhaltlichen Ursprung zwar noch in der Vorlesungstätigkeit des jeweiligen Autors hatten, jedoch durch die Länge und die Komplexität der Ausführungen nur noch im Medium der Schrift rezipierbar waren (Nicolaus de Tudeschis 1487–1488). Die Wirkung dieser Kommentatorentätigkeit blieb jedoch nicht an die Rezeption des Gesamtkommentars gebunden, vielmehr wurden Ausführungen zu den einzelnen leges bereits früh aus diesem herausgelöst und gesondert verbreitet (z. B. Decio 1511; Johannes von Imola 1598), womit sich die Funktion des Kommentierens den Consilia annäherte, da nun der Kommentar als Lösung für bestimmte Rechtsprobleme herangezogen werden konnte (Woelki 2011, S. 32 f.). Unter den Kanonisten schuf der zunächst in Bologna, später in Orense lehrende Laurentius Hispanus zwischen 1210 und 1214 einen ausgreifenden Glossenapparat zum Decretum, der wiederum vorbildlich für den wenige Jahre später entstandenen Glossenapparat des in Bologna lehrenden Johannes Teutonicus wurde (Johannes Teutonicus 1981). In einer um 1240 von Bartholomäus Brixisensis redigierten Fassung wurde der von Johannes erstellte Apparat zur breit überlieferten und vielfach gedruckten kanonistischen Glossa ordinaria (Decretum Gratiani 1512; Weigand 2008). Darüber hinaus glossierte der aus Halberstadt stammende Jurist die Konstitutionen des Vierten Laterankonzils. Seit 1210 arbeitete Tankred von Bologna an seiner rasch als Glossa ordinaria anerkannten Glossierung zu den ersten drei Teilen der Dekretalensammlung Quinque compilationes antiquae, die später durch den von Raimund von Penyafort zu Beginn der 1230er-Jahre erstellten Liber extra abgelöst wurde. Den lange Zeit maßgeblichen Kommentar zu dieser Sammlung bildete das respektvoll Summa aurea genannte Werk des als Hostiensis bekannten Henricus de Segusio (Hostiensis 1962). Der in Bologna lehrende Johannes Andreae schließlich verfasste umfangreiche Kommentare zu allen offiziellen Dekretalensammlungen. Damit schuf er – vergleichbar der Glossa des Accursius – eine systematisierende Zusammenschau des verfügbaren Wissens, die künftigen Kanonisten bezogen auf das versammelte Material sowie dessen Strukturierung als Referenzpunkt dienen sollte (Andreae 1465; Andreae 1963a–b; Kuttner 1990). Stark von Andreae geprägt zeigte sich der Dekretalenkommentar des in Bologna, Padua und Ferrara lehrenden Petrus de Ancarano, der auch als Autor zahlreicher Consilia hervortrat. Analog zur Entwicklung der theologischen Sentenzenkommentare neigten die juristischen Kommentatoren des 14. und 15. Jh.s dazu, nicht mehr alle Teile ihrer Referenztexte gleich ausführlich zu erläutern,
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sondern sich stärker auf einzelne, aus wissenschaftsimmanenten Gründen oder auch aufgrund tagesaktueller Problemlagen als besonders relevant befundene Partien zu konzentrieren. Panormitanus (Nicolaus de Tudeschis) verwandte in seinem Dekretalenkommentar weit mehr Sorgfalt und Raum auf die Bücher zwei und drei, wohingegen er das erste, vierte und fünfte weniger ausführlich behandelte (Nicolaus de Tudeschis 1487–1488). Dass gleichwohl weiterhin von Rezipientenseite die Erwartung bestand, in einem Kommentar eine Erläuterung des gesamten Rechtstextes zu finden, dokumentiert die Entscheidung mehrerer Schreiber und Drucker, für die fehlenden Erläuterungen zu X.1.7–1.28 die entsprechenden Abschnitte aus dem Kommentar des Antonio de Butrio in den Kommentar des Panormitanus zu integrieren (Pennington 2000, S. 16–23). Wie für die Theologen, so wurde auch für die Juristen die Frage des Konzils in der ersten Hälfte des 15. Jh.s zu einem in Traktaten, aber auch in Kommentaren vieldiskutierten Thema. Bei Francesco Zabarallas Traktat über das Schisma handelte es sich zunächst um ein Rechtsgutachten für einen ungenannten Fürsten: Dies wurde von seinem Autor jedoch 1408 erheblich erweitert und zu einer Repetitio umgearbeitet, die er als Spezialkommentar in seinen Dekretalenkommentar als Erläuterungen zu einem Dekret des Dritten Laterankonzils über die Durchführung der Papstwahl aufnahm (Zabarella 1602, Bd. 1, fol. 105r-110v). Im Unterschied zur Legistik und Kanonistik spielte in den Artes und der Theologie die Glossierung zwar im universitären Lehrbetrieb als Ad-hoc-Erklärung von Ausdrücken und Passagen der kommentierten Referenztexte eine unverzichtbare Rolle, unter den veröffentlichten Werken dominierten jedoch ‚moderne‘ Kommentarformen, namentlich der fortlaufende Kommentar, der Quaestionenkommentar und Mischformen zwischen diesen beiden Idealtypen. Unter den artistischen Kommentaren dominierten, bezogen auf den jeweiligen Referenztext, seit dem Ende des 12. Jh.s Aristoteleskommentare, die zunächst das bis Mitte des 13. Jh.s vollständig in Übersetzungen zur Verfügung stehende Corpus aristotelicum inhaltlich verstehbar zu machen suchten, bevor die aristotelischen Schriften Anstoß zu weiterführenden Fragen gaben (Dod 1982; Lohr 1982; Brams 2003; Guldentops et al. 2007c, S. 31–42). Dass das Organon und insbesondere die erstmals von Robert Grosseteste um 1230 vollständig kommentierten Zweiten Analytiken (Grosseteste 1981; Hackett 2004) schon im frühen 13. Jh. in Oxford und später auch in Paris Gegenstand von Vorlesungen wurden, schuf für Artisten, Mediziner und Theologen die Notwendigkeit, sich mit dem aristotelischen Wissenschaftsbegriff auseinanderzusetzen (Corbini 2006; Serene 1982). Ein wichtiges inhaltliches Vorbild wurden islamische Kommentare zum Organon, während die lateinischen Autoren formal eigene Wege gingen (Burnett 1993). Seit der Frühzeit der Universitäten wurden in Vorlesungen und veröffentlichten Kommentaren nicht nur spezifische Sachprobleme behandelt; immer drängender stellte sich auch die grundsätzlichere Frage, wie sich das aristotelische Wissen und die aristotelische Wissenschaftstheorie zu anderen Traditionen verhielt – eine Frage, die auch in theologischen Sentenzenkommentaren seit Mitte des 13. Jh.s regelmäßig thematisiert wurde. Die kommentierende Reflexion auf die Aussagemöglichkeiten und epistemologischen Eigenheiten der eigenen Disziplin spielte in der Theologie, aber auch in
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den Artes eine wichtige Rolle dabei, disziplinäre Eigenständigkeit im Gesamt der scholastischen Wissenschaft zu reklamieren (Köpf 1974). Aus dem wachsenden Problembewusstsein bezüglich des Verhältnisses zwischen antik-philosophischem Wissen und religiösem Glauben heraus sowie – ganz prosaisch – aufgrund der inhaltlichen Schwierigkeiten der aristotelischen Schriften wurde es schon im 13. Jh. üblich, in Aristoteleskommentaren von theologischen Geltungsansprüchen abzusehen und primär philosophisch, d. h. mit Hilfe der natürlichen Vernunft, zu argumentieren. Während dieses Vorgehen von konservativen Theologen wie Bonaventura oder dem Pariser Bischof Tempier, der 1277 mit einer Verurteilung von 219 Thesen derartigen Bestrebungen entgegentreten wollte (Zensur), kritisch beäugt wurde, hatte der Theologe Albertus Magnus, als er sich daranmachte, den gesamten Aristoteles zu kommentieren, es ausdrücklich zur methodischen Maxime erhoben (z. B. Albertus Magnus 1968–1987; Honnefelder 2005). Darin folgte ihm sein Schüler Thomas von Aquin. Auch die sogenannten radikalen Pariser Aristoteliker um Siger von Brabant und Boethius von Dacien, denen daran gelegen war, die Artes als Disziplin eigenen Rechts institutionell wie inhaltlich zu begründen, hielten es für geboten, Aristoteles rein philosophisch zu kommentieren (Van Steenberghen 1991). Aristoteleskommentare des 14. Jh.s, wie diejenigen des in Paris lehrenden Johannes von Jandun (Johannes von Jandun 1505) und des ebenfalls in Paris tätigen, vor allem an mittel- und osteuropäischen Universitäten stark rezipierten Johannes Buridan (Buridan 1984; Buridan 1968; Buridan 1964), knüpften an diesen Ansatz an: Ihre Argumentation bediente sich der natürlichen Vernunft. Da Buridan bewusst auf eine Karriere an einer der höheren Fakultäten verzichtete, wurden seine Kommentare inhaltlicher Ausdruck eines Leben und Denken formenden Verständnisses der Artes als Disziplin sui generis. Allerdings sollten trotz eines bereits im 13. Jh. erkennbaren Selbst- und Methodenbewusstseins insbesondere der Pariser Artisten, das sich in der Einführungsliteratur mit ihrem Lob der praktischen Nutzlosigkeit und gleichzeitigen epistemischen und ethischen Dignität der Philosophie manifestiert (Lafleur 1988; Lafleur 1995; Studienführer), deren Autonomiebestrebungen nicht überschätzt werden. Dies verdeutlichen etwa die intertextuellen Beziehungen artistischer Kommentare: Als Siger von Brabant einen Kommentar zum neuplatonisch gefärbten, u. a. auch von Theologen wie Roger Bacon (Bacon 1935), Albertus Magnus (Albertus Magnus 1993a), Thomas von Aquin (Thomas von Aquin 1950), Aegidius Romanus (Aegidius Romanus 1968b) oder Walter Burley (nicht erhalten) kommentierten Liber de causis verfasste, kam er zwar ausführlich auf die physikalischen und metaphysischen Theorien des Aristoteles zu sprechen (Siger von Brabant 1972), doch wie den Liber de causis selbst scheint er diese vorrangig über die philosophischen und theologischen Schriften des Thomas von Aquin und insbesondere über dessen große Summen rezipiert zu haben (Calma 2003; Imbach 1996b). ‚Philosophische‘ Aristoteleskommentare konnten also ebenso von Autoren wie Albertus Magnus oder Thomas von Aquin verfasst werden, die institutionell an der theologischen Fakultät bzw. an Bettelordensstudien beheimatet waren, wie Artisten in ihre Kommentare theologische Auslegungen und Wissensbestände integrieren konnten.
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Neben den Schriften des Organon (Newton 2008), der Metaphysik (Siger von Brabant 1981; Johannes von Jandun 1505; Franciscus de Marchia 2012; Buridan 1984; Dominicus de Flandria 2010; Versor 1967b; s. Amerini/Galluzo 2014) und der Nikomachischen Ethik (Albertus Magnus 1968–1987; Gerardus Odonis 1500; Burley 1500; Buridan 1968; s. Bejzcy 2011; Wieland 1981) oder auch der Politik (Flüeler 1992; Lanza 2002) waren die naturphilosophischen Schriften im Corpus aristotelicum von der Entstehung der Universitäten angefangen bis weit ins 17. Jh. hinein ein bevorzugter Gegenstand von im universitären Kontext entstandenen Kommentaren (z. B. Bacon 1928; Aegidius Aurelianensis 1993; Buridan / Albert von Sachsen 1999; Albert von Sachsen 2008; Gaetano da Thiene 1496; s. De Leemans 2011; Lindberg/Shank 2013; Leijenhorst/Lüthy 2002; Steel/Guldentops/Beullens 1999; De Leemans 2000; Perfetti 2000; Grant 2011). In Kommentaren zur Physik galt es unter anderem, die aristotelische Kosmologie zu durchdringen und die von einem christlichen Standpunkt aus abzulehnende These von der Ewigkeit der Welt zu diskutieren (Patar 2001; Bianchi 1984; Dales 1990). Die Kommentare zu der naturphilosophischen Schrift De anima wurden der Ort, an dem die Natur der menschlichen und tierischen Seele, die Sinneserkenntnis, das Verhältnis von Sinneswahrnehmung und Intellekt erörtert wurden (de Boer 2013; Bakker/Thijssen 2007; Köhler 2000). Einige dunkle Bemerkungen des Aristoteles und die daran anknüpfenden ausführlichen Erklärungen des Averroes gaben Anlass zu einem immer wieder erneuerten Streit, inwiefern alle Menschen nur einen Intellekt hätten (z. B. Kuksewicz 1965; Gardinali 1992; Oresme 1996; Burley/ Burley 1997; Cajetan 1938–1939) – eine Lehre, die aus christlicher Sicht inakzeptabel schien, da sie die individuelle Sündhaftigkeit des Menschen ebenso ausschloss wie eine personale Unsterblichkeit der Seele (Dales 1995; Bazàn 2002). Das Aufkommen des Humanismus bedeutete trotz der etwa von Francesco Petrarca oder Lorenzo Valla prononciert vorgetragenen Aristoteleskritik weder das Ende der universitären Aristoteleskommentierung noch, dass nicht auch Humanisten fleißig Aristoteles kommentiert hätten. Wichtig war den humanistischen Kommentatoren allerdings eine Abkehr von der Quaestionenform und das Ersetzen der ‚mittelalterlichen‘ Übersetzungen des Wilhelm von Moerbeke und anderer durch neuere, dem humanistischen Stilempfinden entsprechende Übersetzungen, die seit der Wende zum 15. Jh. angefertigt wurden. Ebenso wenig wie der Humanismus vertrieb die Reformation – trotz aller nicht zuletzt von Luther geübten Aristoteleskritik – das Corpus aristotelicum aus den Universitäten. Dies zeigen etwa die Kommentare des in Tübingen lehrenden, der protestantischen Neuscholastik zuzurechnenden Jakob Schegk (Schegk 1550) oder die von protestantischen Humanisten verfassten Kommentare zur Nikomachischen Ethik (Melanchthon 1850; Hyperius 1586; Camerarius 1578). Dass Aristoteles zu kommentieren auch im 16. Jh. ermöglichte, neue philosophische Probleme zu diskutieren, beweist der De anima-Kommentar des Giulio Castellani, der sich kritisch mit der pyrrhonischen Skepsis auseinandersetzte (Castellani 1568). Der in Padua lehrende Jacopo Zabarella bemühte sich in seinem Kommentar zu De generatione et corruptione, die aristotelische Lehre in Beziehung zur zeitgenössischen Naturwissenschaft zu setzen (Zabarella 2009). Neben Zabarella wirkte mit Giulio Pace der wichtigste
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humanistische Kommentator des Organon in Padua, der zuvor bereits als Herausgeber einer griechisch-lateinischen Ausgabe dieser Werkgruppe hervorgetreten war (Pace 1967). Die bessere Kenntnis der spätantiken aristotelischen Tradition in der Renaissance führte schließlich zur Entstehung erster Metakommentare zu antiken Aristoteleskommentaren wie demjenigen des Alexander von Aphrodisias (Trallianus/ Jacobus de Partibus/Simon Ianuensis 1504). Wie die artistischen und theologischen Kommentare lassen die medizinischen Kommentierungen formal und inhaltlich ihren Ursprung in der universitären Lehre erkennen. Auch in ihnen erwies sich das Bestreben, die antiken und islamischen Autoritäten didaktisch aufzubereiten und verständlich zu machen, als eine zentrale Strategie der Erkenntnisgenerierung. Abseits der Hippokrates zugeschriebenen Werke war Galen der wichtigste antike Referenzautor der Medizin. Ihm waren im gesamten Mittelalter bis ins 17. Jh. nicht nur zahlreiche Kommentare gewidmet (z. B. Alderotti 1522; vgl. die Zusammenstellungen von Niedling 1924; Ottosson 1984), außerdem wurde er in Kommentaren zu anderen Autoritäten wie etwa Aristoteles regelmäßig herangezogen (Nutton 2008). Aber auch weitere medizinische Autoritäten wie Avicenna (Avicenna/Gentile da Foligno 1510–1512; Benzi 1518; French 2001), ar-Razis (Gerardus de Solo 1505), Dioskurides für die Kräuterkunde (Amatus Lusitanus 1558; Mattioli 1559) sowie nicht zuletzt die durch Galens Kommentare bekannten, Hippokrates zugeschriebenen Schriften wie die Aphorismi (Alderotti 1527; Benzi 1493; Siraisi 2009) wurden immer wieder kommentiert. Gleiches gilt für die Articella, eine im 11. Jh. in Salerno entstandene Sammlung medizinischer Schriften, die erstmals von Bartholomäus von Salerno kommentiert worden war (Kristeller 1976). Die quaestio-Form hielt in der Medizin, verglichen mit den Artes und der Theologie, eher zögerlich Einzug. Beliebt waren Mischformen, in denen in den Literalkommentar eingeschaltete quaestiones erlaubten, einzelne Punkte systematischer unter Lösung vom Argumentationsgang der Vorlage zu behandeln (Dino del Garbo 1515). Der in Padua lehrende Petrus de Abano, der zeitweise in Byzanz sowie in Paris Medizin studiert hatte, verwendete sein disziplinäres Fachwissen für einen 1310 vollendeten Kommentar zu den pseudo-aristotelischen Problemata, einer Sammlung von Fragen und Antworten zu zahlreichen naturwissenschaftlichen, medizinischen und moralphilosophischen Problemen (Petrus de Abano 1482). In diesem Werk, das als Einführung der griechischen Problemata-Literatur im lateinischen Westen gelten darf, behandelte Petrus de Abano nicht nur die vorgefundenen Fragestellungen, sondern nutzte die disziplinübergreifende Materialsammlung, um sein striktes, von Aristoteles und Averroes geprägtes Verständnis davon zu explizieren, was als wissenschaftliches Wissen gelten dürfe (Siraisi 1970). Als sich der in Paris lehrende Franziskaner Alexander von Hales entschloss, ordinarie über die Sentenzen des Petrus Lombardus zu lesen, wurde mit der Mitte des 12. Jh.s angelegten Autoritätensammlung erstmals ein anderer Text als die Bibel zur Grundlage einer universitären Vorlesung des theologischen Kerncurriculums gemacht (Theologische Lehrwerke). Die Sentenzen selbst waren bereits seit den 1150er-Jahren Gegenstand von Kommentierungen geworden, womit ihr Status als
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Autorität faktisch anerkannt worden war. Eine besondere Rolle spielte dabei die Interlinearglossierung durch Petrus Comestor. In den 1160er- und 1170er-Jahren entstand dann an der Kathedralschule von Notre Dame eine vollständige Glosse, die früher Peter von Poitiers zugeschrieben wurde (Dreyer 2014, S. 133–138; Rosemann 2007). In dieser Zeit galten die Sentenzen vor allem als Hilfsmittel für das Bibelstudium, bevor sie an den Universitäten neben der Bibel zu dem Grundlagentext des Theologiestudiums aufstiegen. Unumstritten war diese Entwicklung keinesfalls: Noch 1240 kritisierte Robert Grosseteste als Bischof von Lincoln den Versuch der Universität Oxford, die Sentenzen zum Gegenstand regulärer Vorlesungen zu machen; Roger Bacon beschwerte sich in den 1260er-Jahren bei Clemens IV., dass den Sentenzen im Vorlesungsbetrieb ein ungebührlich hoher Rang zukomme (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 419, S. 473 f.) – doch eine Mehrheit der Magister teilte diese Kritik weder in Paris noch in Oxford, und so war der Siegeszug der Autoritätensammlung nicht mehr aufzuhalten. Die Bettelorden schlossen sich in den Regelungen für ihre Studienhäuser der Praxis der theologischen Fakultäten an (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 57, S. 112 f.; Denifle, Bd. 2 1891, Nr. 580, S. 56 f.; Nr. 613, S. 85; Nr. 654, S. 119; Nr. 990, S. 447; Nr. 992, S. 448–451; Nr. 1002, S. 463–465; Nr. 1006, S. 469–471). Nach Paris geschickt zu werden, um dort über die Sentenzen zu lesen, galt als Auszeichnung, die nur den begabtesten Mitbrüdern vorbehalten war. Dass viele Theologen besonderen Wert darauf legten, ihre Sentenzenvorlesungen zur Veröffentlichung auszuarbeiten, ist Resultat des herausragenden institutionellen und wissenschaftlichen Status der Sentenzenkommentierung in der universitären Theologie der zweiten Hälfte des 13. und der ersten Hälfte des 14. Jh.s. Auch wenn weiterhin andere Texte, wie diejenigen des Boethius oder des Pseudo-Dionysius Areopagita, Gegenstand theologischer Kommentare wurden (Albertus Magnus 1978; Albertus Magnus 1993a–b; Thomas von Aquin 1992a; Holcot 1489), wurde der Sentenzenkommentar noch vor dem Bibelkommentar und neben nicht auf einen Referenztext bezogenen quaestiones disputatae (Disputation) zur disziplinären Leitgattung, da er systematisierende und problemorientierte Zugriffsweisen zu verbinden erlaubte und die aktuellen theologischen Diskussionen fest in der Tradition verankerte. In Paris und Oxford wurde die sich über zwei Jahre erstreckende Vorlesung über die Sentenzen durch die Bakkalare zur Voraussetzung für das theologische Lizentiat. In welcher Reihenfolge Vorlesungen über die Bibel und die Sentenzen zu erfolgen hatten, war allerdings universitätsintern umstritten. Die Oxforder Dominikaner verwahrten sich entschieden dagegen, dass über die Sentenzen zu lesen Voraussetzung für das Recht sein sollte, über die Bibel zu lesen. Doch mussten sie mit den Statuten von 1313 eine Niederlage hinnehmen (Gibson 1931, S. 48–52). In Paris blieb man hingegen bei der im 13. Jh. etablierten Reihenfolge, dass der Bakkalar zunächst zwei Jahre über die Bibel und erst dann über die Sentenzen zu lesen hatte (Denifle, Bd. 2 1891, Nr. 1188, S. 691–697; Nr. 1189, S. 697–704; Denifle, Bd. 3 1894, Nr. 1534, S. 441 f.). Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung in den Statuten blieb die Sentenzenkommentierung eine, wenn nicht die zentrale Station auf dem Karriereweg der Theologen auf dem Weg zum Magisterium. Dass der Beginn der Sentenzenvorle-
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sung häufig Anlass für eine Rede bot, in der nicht allein in den Referenztext und den folgenden Cursus eingeführt wurde, sondern oft auch ein das besondere disziplinäre Selbstverständnis der Anwesenden zum Ausdruck bringende Lob der Theologie angestimmt wurde, verweist bereits auf die Bedeutung der Sentenzenvorlesungen (Universitätsreden). In den für die Veröffentlichung bearbeiteten Fassungen der Sentenzenvorlesungen bildete das Material dieser principia nicht selten die Grundlage für grundsätzliche Erörterungen, die den einzelnen Büchern oder als mehr oder weniger umfangreicher Prolog dem gesamten Kommentar vorangestellt wurden (z. B. Bonaventuras praelocutio zu Sent. II; Bonaventura, Bd. 2 1882–1889). Vor dem letzten Viertel des 13. Jh.s hatten u. a. Kommentare zu anderen Autoritäten dazu gedient, den epistemischen Status der Theologie zu bestimmen. So wählte Thomas nicht den auf eine im September 1252 begonnene Vorlesung zurückgehenden Sentenzenkommentar, der übrigens nach wie vor nicht kritisch ediert ist, sondern den einige Jahre später entstandenen Kommentar zur kleinen Schrift De trinitate des Boethius, um die angesichts der Rezeption des aristotelischen Wissenschaftsbegriffs der Zweiten Analytiken drängende Frage nach dem wissenschaftlichen Charakter der Theologie aufzuwerfen. Er bejahte sie, indem er die geoffenbarten Glaubensartikel als Prinzipien der menschlichen Theologie begriff (Thomas von Aquin 1992a). Während der Aquinate zu den letzten Scholastikern gehörte, die die Trinitätsschrift des Boethius eines Kommentars würdigten, wurden im späten 13. und frühen 14. Jh. die Prologe der Sentenzenkommentare sowie die Kommentierung des ersten Buchs der vierbändigen Sammlung des Petrus Lombardus zum Ort, an dem Theologen epistemologische und wissenschaftstheoretische Überlegungen über ihre Disziplin anstellten (Chenu 1957; Köpf 1974). Im Sentenzenkommentar des Thomas von Aquin, der den Anfang seiner eigenen Lehrtätigkeit in Paris markiert, besteht ein merkliches Spannungsverhältnis zwischen der traditionellen spirituellen Orientierung und einem vermehrten Interesse an reflexiver Durchdringung der theologischen Thematik mit Hilfe der Techniken der aristotelischen Philosophie. Der Prolog bestimmt die Gegenstände der Theologie recht traditionell dadurch, dass Gott in der Mitte stehe und alle Dinge um ihn angeordnet würden (Thomas von Aquin 1980, Sent. I, dist. 2, div. textus; Oliva 2006). Anders als ihr dominikanischer Kollege verfassten die beiden Franziskaner Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham einige Jahrzehnte später viele hundert Seiten starke Prologe, die sich inhaltlich wie methodisch völlig von der Vorlage lösten. Hier suchten sie den disziplinären Status der Theologie durch grundsätzliche philosophische und wissenschaftstheoretische Überlegungen zu bestimmen (Leppin 1995). Dabei kamen sie zu der Einsicht, dass die Theologie im aristotelischen Sinne keine strikte Wissenschaft sei, da sie in charakteristischer Weise auf Glaubenserkenntnis angewiesen sei. Diese reflexiven Selbstbetrachtungen der theologischen Rede stellten nicht nur eine Bestimmung des Verhältnisses von Glauben und Wissen dar, das schon für die Sentenzenkommentare der Mitte des 13. Jh.s von zentraler Bedeutung gewesen war, sondern überprüften auf einer grundsätzlicheren Ebene auch die Vereinbarkeit von aristotelisch-arabischer und christlicher Tradition. Diese veränderte Funktion der Sentenzenkommentare am Ende des 13. Jh.s ging einher mit einer zu-
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nehmenden Emanzipation des Kommentars vom autoritativen Text: Während die vom Lombarden entwickelte und von Alexander von Hales durch die Einführung von distinctiones herausgearbeitete Struktur vor allem in Paris, weniger in Oxford weiterhin als verbindlich anerkannt wurde, lösten sich die Kommentare immer stärker von ihrer konkreten Vorlage und wurden zu eigenständigen Abhandlungen, die die Tradition primär dazu nutzten, um Debatten mit Zeitgenossen zu führen (Rosemann 2007). Die Kommentare bzw. die einzelnen quaestiones wurden seit den 1290er-Jahren zumeist positionszentriert angelegt, was ein zunehmend konfrontatives Vorgehen begünstigte (Friedman 2002). Die eigenen Ausführungen nach Positionen und nicht nach Argumenten zu strukturieren, erlaubte nämlich gleichermaßen, sich in Debatten mit Zeitgenossen und Vorgängern zu profilieren wie durch Themenwahl und die gebotenen Lösungen eigene Akzente zu setzen. Im Falle der Trinitätstheologie traten bereits im Verlaufe der zweiten Hälfte des 13. Jh.s Differenzen zwischen Dominikanern und Franziskanern zu Tage. Die rivalisierenden Orden konnten sich mit Thomas von Aquin bzw. Bonaventura auf je einen Ordenstheologen berufen, der die folgende Diskussion prägte, ohne sie zu determinieren. Vielmehr gelang es etwa Johannes Duns Scotus und Petrus Aureoli, nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit den Thesen des Weltgeistlichen Heinrich von Gent, eigene trinitätstheologische Positionen zu entwickeln, die von den folgenden Generationen um Wilhelm von Ockham und Walter Chatton oder Adam Wodeham und Gregor von Rimini in ihren Sentenzenkommentaren kritisch hinterfragt wurden (Friedman 2012). Dass die unautorisierte Verbreitung eines Kommentars gerade deshalb unabsehbare Folgen haben konnte, weil im späten 13. und frühen 14. Jh. in dieser Gattung besonders strittige Themen behandelt und überkommene Lösungen herausgefordert wurden, musste der Dominikaner Durandus von St. Pourçain erfahren, als ihm – wie er später behauptete – die erste Fassung seines Sentenzenkommentars, in der er seinen Ordensbruder Thomas von Aquin scharf kritisierte, entwendet wurde, um bald darauf im Orden zu zirkulieren und heftige Gegenwehr auszulösen. Seine Pariser Sentenzenvorlesung von 1308 bis 1310 nutzte er, um eine um allzu deutliche Kritik bereinigte Version zu erstellen, die allerdings wiederum von seinen ordensinternen Gegnern wie Hervaeus Natalis, Johannes von Neapel und Petrus de Palude bekämpft wurde. Die von den Letzteren verfasste Irrtumsliste stellte einen Schritt in der Ausrichtung des Ordens auf eine thomistische Linie dar, von der abzuweichen sanktioniert wurde. Erst jenseits der Universität konnte der von Clemens V. und Johannes XXII. geförderte, inzwischen zum Bischof ernannte und damit der ordensinternen Jurisdiktion entzogene Durandus in der dritten Fassung seines Sentenzenkommentars zu seinen antithomistischen Überzeugungen zurückkehren. Im Explizit bestimmte er diese letzte Redaktion als allein gültige Version (Durandus 2012–2014; Koch 1973; Lowe 2003; Iribarren 2005; Speer et al. 2014). Dadurch, dass Sentenzenkommentare dialogisch auf die Thesen zeitgenössischer und früherer Autoren bezogen wurden, fanden neben stets verhandelten Problemen auch solche Themen Eingang, die man in dieser Gattung nicht unbedingt vermuten würde: Die Franziskaner Petrus Aureoli und Wilhelm von Ockham formulierten in
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ihren in Paris bzw. Oxford entstandenen Kommentaren zum ersten Buch der Sentenzen ihre Theorien der Sinneserkenntnis (Aureoli 1952–1956; Ockham 1967–1984; Tachau 1988). Der in Paris und Avignon lehrende Franziskaner Franciscus de Marchia legte seine Theorie zur Bewegung von Körpern im vierten Buch seines Sentenzenkommentars dar, als er sich mit der Sakramentslehre befasste (Franciscus de Marchia 2006). Die Sentenzenkommentare vollzogen mit dieser thematischen Öffnung eine Entwicklung der Gattung Kommentar insgesamt nach, denn die Behandlung spezifischer Themen war in Kommentaren zumal im 14. und 15. Jh. immer weniger auf die Auseinandersetzung mit einem bestimmten Referenztext beschränkt. So entwickelte der Artist Johannes Buridan seine Theorie des impetus, der internen Bewegungskraft, die dafür verantwortlich sei, dass sich geworfene Objekte weiterbewegten, nicht nur im Physik- (Buridan 1964, lib. VIII, q. 12), sondern auch im Metaphysikkommentar (Buridan 1984, lib. XII, q. 9), wobei er, anders als der Theologe Franciscus de Marchia, theologische Gesichtspunkte weitgehend ausblendete (Grant 1977, S. 50–55; Grant 2011, S. 166–168). Nach den 1320er-Jahren begannen die Sentenzenprologe wie die Sentenzenkommentare insgesamt an Bedeutung einzubüßen, was nicht zuletzt an einer veränderten, stärker seelsorgerliche Aspekte berücksichtigenden Ausrichtung des Theologiestudiums lag (Schabel 2010). Gleichwohl ermöglichte die Sentenzenkommentierung weiterhin, philosophische und insbesondere epistemologische Überlegungen mit theologischen Reflexionen zu verbinden (Schabel 2002a). Zu ersehen ist dies etwa an den in Paris entstandenen Kommentaren des Franziskaners Petrus Aureoli (Aureoli 1605; Aureoli 1952–1956; Schabel 2000), dem Kommentar seines ihm gegenüber kritischen, stark von Duns Scotus beeinflussten Ordensbruders Franciscus de Mayronis (Franciscus de Mayronis 2013), demjenigen des Augustiners Gregor von Rimini (Gregor von Rimini 1981–1987) oder demjenigen des Weltgeistlichen Marsilius von Inghen (Marsilius von Inghen 2000–2015; Hoenen 1993; Hoenen 2002). All diese Sentenzenkommentare sind geprägt von einer spekulativen, philosophischen Theologie (Brown/Dewender/Kobusch 2009), die aus Sicht der Theologen das wissenschaftliche wie institutionelle Verhältnis der Theologie zu den Artes und der Kanonistik bestimmte und darüber den Anspruch der Theologie als Leitwissenschaft formulierte. Zugleich ist die enge intertextuelle Vernetzung der Kommentare von Duns Scotus, Aureoli, Franciscus de Mayronis und Gregor von Rimini Ausdruck einer engagierten Auseinandersetzung der Theologen mit ihren Zeitgenossen sowie mit den unmittelbaren Vorgängern. Eine vergleichbare Konstellation einer dichten Debattenstruktur mit aufeinander kritisch Bezug nehmenden Sentenzenkommentaren liegt für Oxford bzw. das Londoner Studium der Franziskaner mit den Werken von Ockham, dem diesem kritisch begegnenden Walter Chatton (Chatton 2002–2005) sowie Ockhams sehr eigenständigem Ordensbruder Adam Wodeham (Wodeham 1990) vor (Tachau 1988; Schabel 2002b). All die erwähnten Texte zeigen, dass der Sentenzenkommentar bis weit ins 14. Jh. den medialen Rahmen gleichermaßen für theologische und philosophische Grundsatzdiskussionen wie für die Behandlung hochgradig spezifischer Einzelfragen bildete. Sichtbarer Ausdruck der neuartigen dialogischen Struktur
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der Sentenzenkommentare ist die seit den 1310er-Jahren zu beobachtende Tendenz, die zeitgenössischen Denker, auf die kritisch Bezug genommen wird, namentlich zu identifizieren – entweder direkt im Text oder, etwa bei Gregor von Rimini, zumindest durch entsprechende Marginalien. Trotz des relativen Bedeutungsverlustes der Sentenzenkommentare im Spätmittelalter wäre es zu einfach, sie mit der älteren Forschung nur als unproduktive Wiederholung überkommener Positionen zu sehen. Während in England seit dem späten 14. Jh. keine neuen Werke der Gattung mehr entstanden, erfreute sie sich auf dem Kontinent auch im späten 14. sowie im 15. Jh. weiterhin beträchtlicher Beliebtheit, erfuhr allerdings einige signifikante Veränderungen. Dass die Kommentare nach den gewaltigen Werken von Ockham, Duns Scotus oder Gregor von Rimini wieder kürzer wurden, ist nur das offensichtlichste Phänomen. Hatte schon in Ockhams Kommentar das erste Buch der Sentenzen im Mittelpunkt des Interesses gestanden, tendierten viele Kommentatoren des späten 14. Jh.s dazu, nur noch das erste (und in geringerem Maße das zweite) ausführlich zu behandeln – eine Praxis, die für Paris durch Statuten untersagt (Denifle, Bd. 2 1891, Nr. 1189, S. 700), durch einen zu schwörenden Eid unterbunden (Denifle, Bd. 2 1891, Nr. 1190, S. 705–707) und von einflussreichen Theologen wie Jean Gerson scharf kritisiert wurde (Gerson 1960, Nr. 3, S. 23–28), jedoch offenkundig nicht aus der Welt zu schaffen war. Entsprechend der seit dem späten 14. Jh. feststellbaren Entwicklung der philosophischen und juristischen Kommentare lässt sich auch bei den Theologen das Bemühen erkennen, ihre Gattungsbeiträge anwendungsorientierter und nutzbarer zu gestalten. Waren die mit zahlreichen dubia und notanda erweiterten quaestiones in den Kommentaren des 14. Jh.s zumeist nicht mehr einem einzelnen Problem, sondern einem ganzen Problemkomplex gewidmet (Heinrich von Langenstein 1979–1980), orientierten sich die Kommentatoren am Ende des 14. und im 15. Jh. wieder stärker an den weniger umfangreichen, je einem Problem gewidmeten quaestiones des 13. Jh.s (Friedman 2007). Im Zuge der nun aufkommenden Schulbildung und eines verstärkten Traditionalismus wurden die Kommentare des 13. und frühen 14. Jh.s inhaltlich wie formal als vorbildlich gesehen, um allzu ausgreifende Spekulationen zugunsten von für die Seelsorge wichtigeren Themensetzungen zu verabschieden (Nikolaus von Dinkelsbühl, Quaestiones communes super sententias; s. Madre 1965, S. 72–79). Andere Kommentatoren begannen, sich von der Quaestionenform insgesamt zugunsten einer fortlaufenden Kommentierung zu lösen. So geht etwa im Sentenzenkommentar des Marsilius von Inghen die an der quaestio geschulte Pro- und Contra-Struktur in eine fortlaufende Prosa über (Marsilius von Inghen 2000–2015), wodurch die für das späte 13. und frühe 14. Jh. prägende Dialogizität einer Linearität wich (s. Rosemann 2007). Immer häufiger legten Autoren ihrer Sentenzenkommentierung den Kommentar eines früheren Autors zugrunde, was als Teil der Schulbildung seit dem späten 14. Jh. zu sehen ist, die sich in den Artes im Wegestreit niederschlug (Kaluza 1988; Hoenen 2003; Ehrle 1925). Der in Paris lehrende Petrus Tartaretus beispielsweise orientierte sich in seinem Sentenzenkommentar nicht nur an der Struktur des entsprechenden Werkes des Johannes Duns Scotus, sondern legte seine Ausführungen als Klärung
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des scotischen Begriffsapparats an (Tartaretus 1583). Dieses als lectura secundum alium bezeichnete Phänomen (Trapp 1956) bedeutete allerdings nicht, dass die jeweiligen Autoren sich jeglicher Eigenständigkeit enthalten hätten. Vielmehr nutzten sie die je spezifische Auswahl ihrer Vorlagen, um Debatten zu sortieren und verschiedene autoritative Traditionen herauszuarbeiten. Durch Selektionen, Kürzungen, Umstellungen und Ergänzungen war es auch derartigen, sich traditionsbewusst gebenden Kommentaren möglich, eigene Akzente zu setzen (Zahnd 2014; Zahnd 2015a). Noch recht unspezifisch kommen die Übernahmen daher, die der in Paris lehrende Franziskaner Aufredi Gonteri Brito 1325 in seinem Sentenzenkommentar vornahm. Das erste Buch folgt überwiegend dem weltgeistlichen Magister Henry of Harclay. Die folgenden Bücher, für die sich kein Kommentar Harclays erhalten hat, füllte Brito mit Material zahlreicher anderer Autoren (Duba/Friedman/Schabel 2010). Eklektizismus und nicht kanonisierende Schulbildung sind hier das vorherrschende Merkmal. Kommentare secundum alium konnten zu komplizierten intertextuellen Geflechten werden: Paul von Venedig erstellte eine Kurzfassung des Kommentars zum ersten Buch der Sentenzen, in dem sich der um 1350 in Paris lehrende Johannes de Ripa mit der Sentenzenkommentierung des Johannes Duns Scotus auseinandergesetzt hatte (Paul von Venedig 2000). Spätestens im 15. Jh. war die Kommentierung secundum alium ein probates Mittel, eine Schulmeinung zu befestigen, indem konkurrierende Ansätze mit den Mitteln der Dialektik aus dem Feld geschlagen wurden. An der jungen Universität Wien, wohin Heinrich von Langenstein und Heinrich Totting von Oyta ihre in Paris erworbenen Kenntnisse der Sentenzenkommentierung vermittelt hatten, entstanden auf diese Weise um 1400 Sentenzenkommentare, die durch die Orientierung an gemeinsamen Vorlagen (Bonaventura, Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus, Thomas von Straßburg) und wechselseitige Übernahmen als Kommentierungen einer Autorengruppe zu sehen sind (Shank 1988). Johannes Capreolus erstellte seinen Sentenzenkommentar explizit als Defensiones theologiae divi Thomae Aquinatis (Capreolus 1900–1908). Entsprechend besteht das Werk zu etwa einem Drittel aus Exzerpten der Schriften des Aquinaten, die in der Diskussion zeitgenössischer Positionen beständig präsent gehalten werden. Gabriel Biel dagegen orientierte sich in seinem Sentenzenkommentar an demjenigen des Wilhelm von Ockham. Während er die ersten beiden Bücher in der Form einer epitome anlegte, die vor allem Ockhams Kommentar komprimiert wiedergab, gewährte er in den in der Form eines collectorium, einer kommentierenden Zusammenstellung von Referenzautoren, angelegten letzten beiden Büchern der via antiqua breiteren Raum. Biels nominalistische Überzeugungen gingen einher mit einem Streben nach einer synthetischen Zusammenschau der Tradition, wobei vor allem die Autoren des 13. Jh.s als vorbildlich begriffen wurden (Biel 1973–1992; Oberman 1965). Auf die Spitze getrieben ist dieses Bemühen einer Synthese der Theologie der sogenannten Hochscholastik im sehr umfangreichen Sentenzenkommentar Dionysius des Kartäusers, der bestrebt war, die verborgenen Einheiten in den mannigfachen Deutungstraditionen des göttlichen Wortes aufzuzeigen (Dionysius Cartusianus 1902–1913; s. Emery 1996; Wassermann 1996). Dazu griff er weit stärker als seine Vorgänger wieder auf den Text des Lombarden selbst zurück.
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Als Leitmaß erscheint ihm die thomistische Tradition; darüber hinaus rezipiert er auch Duns Scotus, den er allerdings mehrfach scharf kritisiert. Den Nominalismus betrachtet er als illegitimes Abirren von der thomistischen Harmonie, so dass sich bei Dionysius ‚normative Zentrierung‘ (B. Hamm) und Ausschließung einer als schädlich erfahrenen Pluralität gegenseitig bedingen. Der in Paris lehrende Schotte John Mair hingegen gehörte dem Nominalismus an, wollte jedoch seinen 1516 gedruckten Sentenzenkommentar explizit auch für Realisten akzeptabel gestalten (Mair 1516). Schließlich ist – entgegen manch eingefahrenem Klischee – eine behutsame Öffnung gegenüber humanistischen Idealen und Techniken in Sentenzenkommentaren des 15. und 16. Jh.s zu erkennen, wenn etwa textkritische Erwägungen eine größere Rolle spielen, die Sammlung des Lombarden als Zugang zur patristischen Tradition genutzt wurde oder das technische scholastische durch ein geschliffeneres Latein ersetzt werden sollte (Cortesius 1513; s. Hoenen 2016). Trotz aller hier nur knapp umrissenen Neuerungsversuche nahm die Zahl der veröffentlichten Sentenzenkommentare im 16. Jh. noch einmal drastisch ab – und zwar in allen konfessionellen Lagern. Luther hatte zwar den Universitätsstatuten entsprechend die für angehende Doktoren der Theologie obligatorische Sentenzenvorlesung 1510–1511 in Erfurt gehalten. Wenn sich auch zahlreiche Annotationen insbesondere zu den ersten beiden Büchern aus seiner Hand erhalten haben (Luther 2009), scheint er gleichwohl nie beabsichtigt zu haben, einen Sentenzenkommentar zu veröffentlichen. Stattdessen spielen für die Herausbildung seines theologischen Denkens die Vorlesungen und die in diesem Kontext entstandene, in Glossenform vorgenommene Kommentierung zum Römerbrief und zu den Psalmen eine entscheidende Rolle (Luther 1938). Sein Wittenberger Kollege Andreas Karlstadt wiederum widmete zeitgleich Augustinus’ De spiritu et littera einen Kommentar, in dem er sich mit Luthers Verständnis des Kirchenvaters auseinandersetzte (Karlstadt 1952). Während Martin Bucer seine Kommentare als nahezu enzyklopädische Sammlung verschiedener, für das Bibelstudium in seinen Augen unverzichtbarer Wissensbestände anlegte, orientierte sich Heinrich Bullinger in seinen Bibelkommentaren an den Bedürfnissen der protestantischen Pfarrer, die es im rechten Verständnis der Schrift zu unterweisen galt (Bullinger 1582). Auch für Calvin spielten Kommentare zu verschiedenen Büchern der Bibel eine wichtige Rolle, um zumeist auf der Grundlage vorheriger Vorlesungen bestimmte theologische Probleme zu untersuchen. Dabei wurde der Referenztext in kleinere Abschnitte zerlegt, die in lateinischer Übersetzung dargeboten und mit sprachlichen Erläuterungen versehen wurden, bevor Sinn und Aussageabsicht herausgearbeitet werden konnten (Calvin 1997–2009). Die Sentenzen und die Tradition ihrer Kommentierung sahen diese Theologen nicht länger als adäquate Gesprächspartner an. Stattdessen wurde der Bibelkommentar zu einer zentralen Textsorte bei der Ausbildung und Vermittlung reformatorischer Theologie (Opitz 2014). Auch über die Gattung des Sentenzenkommentars hinaus hatten Kommentare entscheidenden Einfluss auf die theologische Schulbildung des späten 14. und 15. Jh.s, indem sie sich vielfach explizit einer Schulmeinung anschlossen und konkurrierende Schulen kritisierten (Lambertus de Monte 1498). Manche Autoren dagegen bemüh-
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ten sich, in ihren Kommentaren die Harmonie etwa zwischen Albertisten und Thomisten aufzuweisen und so die realistischen Traditionen zu integrieren. Schließlich wurden die kanonisierten Schulautoren selbst Gegenstand von Kommentaren. Die Summa theologiae des Thomas von Aquin wurde im 16. Jh. etwa in Paris, Köln und Rom statt der Sentenzen als theologischer Einführungstext genutzt. So trat hier wie bereits zuvor in den Studienhäusern der Dominikaner die Vorlesung über die Summa an die Stelle der Sentenzenvorlesung – und der Summenkommentar an diejenige des Sentenzenkommentars (Suárez 1856–1877). In Salamanca, wohin der Theologe Francisco de Vitoria diese Neuerung aus Paris mitbrachte, bildeten die Vorlesungen und Kommentare zu den Schriften des Thomas von Aquin einen Kristallisationspunkt für eine Erneuerung der scholastischen Theologie und der Lehre vom Naturrecht unter thomistischen Vorzeichen (de Vitoria 1932–1952; Belda Plans 2000). Wie einflussreich die auf diese Weise entstandene kanonische Thomasdeutung war, die prägend sein sollte für den Neuthomismus des 19. und 20. Jh.s, lässt sich bereits daran ablesen, dass der Summa theologiae ebenso wie der Summa contra gentiles in den modernen Ausgaben der Editio Leonina die Kommentare der Dominikaner Thomas de Vio Cajetan bzw. Franciscus Sylvester von Ferrara beigefügt sind (Thomas von Aquin 1888–1906; Thomas von Aquin 1918–1930). Autoritätsaneignungen vermittels eines Kommentars wirkten hier normativ und kanonbildend. Der Einfluss humanistischer Vorstellungen machte sich im Verlaufe des 15. und im frühen 16. Jh. allmählich auch an den Universitäten bemerkbar. Selbst ein gestandener Scholastiker wie der in Paris lehrende Schotte John Mair bemühte sich in seinem Kommentar zu den als Lehrbuch nach wie vor vielgenutzten Summulae des Petrus Hispanus darum, dem Zeitgeschmack zu entsprechen: Die Elemente der quaestio disputata handhabte er flexibel, indem er in seine Ausführungen durchnummerierte Schlussfolgerungen, Zweifel („dubitatur“), Einwände („contra hoc arguitur“) und deren Widerlegung („respondetur“, „respondeo“) einschaltete. Insbesondere aber sah er oder sein Drucker sich genötigt, dem Werk einen kleinen Dialog zwischen zwei Logikern und einem Magister voranzustellen (Mair 1505). Mit der Etablierung des Humanismus an den Fakultäten und vielleicht mehr noch mit dem sich entwickelnden Markt für humanistische Schriften ging eine erhebliche Zunahme humanistischer Kommentare einher, wohingegen sich die Humanisten des 14. Jh.s kaum dieser Gattung gewidmet hatten. Hatte der humanistische Kommentar zunächst eine rein dienende Funktion besessen und nur in geringem Maße Merkmale einer eigenen literarischen Gattung aufgewiesen, lässt sich schon im 15. Jh. die Ausbildung eigenständiger formaler und sprachlicher Elemente erkennen. Der für den Humanismus typische rhetorische Anspruch verband sich mit den didaktischen und philologischen Anliegen derart, dass die Kommentare, ohne sich notwendig vom Referenztext zu lösen, stilistisch und inhaltlich zu eigenständigen gelehrten Beiträgen aufgewertet wurden (Buck/Herding 1975). In seinem Kommentar zu den vier Evangelien konnte der zeitweise in Paris lehrende Jesuit Juan de Maldonado am Ende des 16. Jh.s schließlich den Kommentar zum zeittypischen Genre humanistischer Gelehrsamkeit erklären, wohingegen niemand mehr Dispu-
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tationen verfasse (de Maldonado 1874). Als Merkmale humanistischer Kommentare lassen sich ein größeres Bemühen um Nähe zur formalen und sprachlichen Gestaltung des Referenztextes, das sich in einer Bevorzugung des Literalkommentars und einem entschiedenen Abrücken vom Quaestionenkommentar niederschlug, eine Prominenz semantischer, grammatischer und philologischer Probleme, ein Zurückdrängen allzu ausgreifender spekulativer Höhenflüge und das Streben nach eleganter Latinität ausmachen. Die Übergänge zwischen scholastisch geprägtem und humanistischem Kommentar sind allerdings insbesondere bei solchen Texten, die an Universitäten und für ein universitäres Publikum entstanden sind, häufig fließend. Deutlicher treten humanistische Vorstellungen in solchen Kommentaren hervor, die sich an ein humanistisches Publikum richteten, das seinen institutionellen Ort nicht primär an der Universität hatte. Ficinos im Florentiner Gelehrtenkreis um Lorenzo de’ Medici beheimatete Platonexegese (Ficino 2002; Ficino 1981; Ficino 2000; Leinkauf 2006; Allen/Rees/Davies 2002; Allen 1984) bildet nur ein besonders prominentes Beispiel derartiger Kommentare, die – häufig unter Anknüpfung an spätantike, aber auch an nichtscholastische mittelalterliche Vorbilder – die platonische und neuplatonische Tradition ebenso durchmaßen wie die antik-römische und spätantike (Hankins 1990). Guillaume Budé wich in seinem Pandektenkommentar von mittelalterlichen Vorbildern nicht nur dadurch ab, dass er keine vollständige Kommentierung vorlegte, sondern gezielt auswählte, was er für kommentierenswert hielt. Seine Erläuterungen messen darüber hinaus philologischen Fragen eine ebenso große Bedeutung bei wie der Einordnung der kommentierten Gesetze in die römische Geschichte. Entsprechend häufig verweist der Kommentar daher auf die antike Geschichtsschreibung (Budé 1508; Maffei 1956, S. 129–131). Erasmus versah nicht nur seine Ausgabe des Neuen Testaments, das Novum Instrumentum, mit philologischen Erläuterungen, sondern legte, als eine an ein breiteres Publikum gewandte Ergänzung, auch eine Reihe von Paraphrasen vor, welche den Bibeltext erzählend aufbereiteten, vor allem unter Bezug auf patristische Autoren deuteten und so der Reform des Christentums dienen sollten (Rabil 1972). Die vorrangig für das Universitätsstudium bestimmten Paraphrasen und kommentierenden Einführungen zu zahlreichen aristotelischen Schriften, die der in Paris lehrende Humanist Jacques Lefèvre d’Étaples herausbrachte, lassen sich hingegen als Abkehr von einer nominalistischen, spekulativen Kommentartradition lesen, sie sind jedoch zugleich geprägt durch eine Hinwendung zur terministischen Logik und der Aristoteleskommentierung des 13. Jh.s. Insofern stellen sie ein Beispiel für scholastisch-humanistische Mischformen des Kommentars dar (Lefèvre d’Étaples 1508; Lefèvre d’Étaples 1510; s. Keßler 1999). Der Ingolstädter Theologe Johannes Eck kommentierte mit der Summulae des Petrus Hispanus nicht nur ein scholastisches, von den Humanisten vielgeschmähtes Standardlehrbuch der Logik, sondern zwischen 1516 und 1520 auch zahlreiche Schriften des Aristoteles. Ohne die scholastische Auslegungstradition zu verabschieden, zeigt sich doch im Bemühen um Textnähe formale Klarheit und in der Verwendung der Übersetzung des Johannes Argyropulos eine Offenheit gegenüber humanistischen Anliegen (Seifert 1978). Was für den humanistischen Aristo-
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teleskommentar gilt, gilt auch für die Kommentierung zahlreicher anderer Autoritäten wie die Sphaera des Johannes von Sacrobosco (Johannes de Sacrobosco 1508; Johannes de Sacrobosco 1516): Humanisten kommentierten vielfach solche Texte, die bereits von den Scholastikern behandelt worden waren. Zugleich fanden jedoch die antiken Autoren und Schriften ihre Kommentatoren, die im scholastischen Universitätsbetrieb eher am Rande gestanden hatten, darunter Apuleius (Beroaldo 1501), Ciceros Somnium Scipionis (Vives 1989) und De lege agraria (Ramus 1561), Horaz (Stadeler 2015), Ovids Metamorphosen (Guthmüller 1975), Sallusts Bellum Catilinae (Sallustius 1491, der Kommentar stammt möglicherweise von Lorenzo Valla; Osmond 2005), Pomponius Mela (Pomponius Mela/Vadian 1518), Theophrast (Scaliger 1566), Vitruv (Cesariano 1969; Philandrier 2000), aber auch Augustinus’ De civitate Dei (Vives 1992–2010). Neuere mittelalterliche Autoren wurden ebenfalls kommentiert, so Dante durch Cristoforo Landino, der, stark von Ficinos Neuplatonismus beeinflusst, seinen Kommentar als Gesamtallegorese anlegte (Landino 2001; Lentzen 1975). Textnäher ging der Venezianer Trifone Gabriele vor, der Sprache und Stil der Comedia einer systematischen Analyse unterzog (Gabriele 1993). Mit dem Aufkommen des Humanismus spielten philologische Fragen in Kommentaren disziplinenübergreifend eine immer größere Rolle. So bemühte sich der Jurist Andrea Alciato etwa durch Vergleich verschiedener Textzeugen um eine bessere Fassung des Digestentextes – ein Unterfangen, das zwar textkritisch avanciert war, jedoch zu keinem befriedigenden Ergebnis kam, da er keinen Zugang zum besten Textzeugnis, der Littera Florentina, erlangen konnte (Alciato 1515). In der Pliniuskommentierung des in Ferrara lehrenden Niccolò Leoniceno ist die philologische Textkritik ein konstitutiver Bestandteil der Suche nach dem wahren naturkundlichen Wissen: Zahlreiche antike, arabische und mittelalterliche Autoren werden teils zustimmend, teils kritisch angeführt, um Fehler in Autoritätentexten und deren Auslegung aufzudecken (Leoniceno 1509; dazu Dilg 1975, S. 235–239). In medizinischen Kommentaren wurden philologische Probleme ebenfalls zum bevorzugten, wenn auch nicht ausschließlichen Gegenstand (Barbaro 1530), bevor sich im Laufe des 16. Jh.s eine grundsätzlichere inhaltliche Kritik an den antiken und islamischen Autoritäten Bahn brach. Giovanni Argenterio verband in seinem Galenkommentar die Kritik an der scholastischen quaestio-Methode und an der Überbetonung philologischer Probleme im humanistischen Kommentar mit einer Herausforderung der antiken Autoritäten selbst. Zu bewähren hätten sich die erhobenen Geltungsansprüche in der medizinischen Praxis – und hier, daran ließ Argenterio keinen Zweifel, erwiesen sich weder Galen noch seine scholastischen oder humanistischen Deuter als hilfreich (Argenterio 1566, fol. IVr–Vr; Siraisi 1990). Als Beispiel für die Fehlerhaftigkeit der Autorität führte er eine eigene leidvolle Erfahrung an: Während seiner Zeit in Pisa habe seine junge Frau angefangen, Blut zu husten. Nach Galen sei er überzeugt gewesen, dass dies keine Gefahr bedeutete – doch bald wurde er eines Besseren belehrt: Seine Frau starb wenige Wochen später (Argenterio 1566, fol. 453 f.). Argenterio stand mit seinem Interesse an der Praxis, aber auch mit der Schwierigkeit, sich von den Autoritäten und der jahrhundertelangen Auslegungstradition zu lösen, nicht allein. So
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Reuchlin, Johannes / Simler, Georg (1507), Sergius uel Capitis caput cum commentario Georgij Symler, Pforzheim: Anshelm (VD 16 R 1286), Staatsbibliothek zu Berlin – PK, 2° Inc. 2070, fol. 11.
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verzichtete etwa der Paveser Professor Antonio Guainerio in seinem Kommentar zum sogenannten Liber ad Almansorem des persischen Gelehrten ar-Razi (lat. Rhazes) auf die üblichen scholastischen argumentativen Verfahren zugunsten einer stringenten Aufbereitung des Materials (Guainerio 1508; Talbot 1978). Am Beispiel der Kommentare zu Lukrez (Pio 1514) lässt sich erkennen, dass der im 15. Jh. wiederentdeckte antike Referenztext mit der Unsterblichkeit der Seele für seine christlichen Leser eine Herausforderung darstellte, die bereits die scholastischen Aristoteleskommentatoren umgetrieben hatte. Eine intensive philologische Textarbeit hinderte etwa Denis Lambin nicht daran, die Lehre des kommentierten Autors zurückzuweisen – wobei er, gut humanistisch, mit Cicero einen anderen antiken Gewährsmann gegen die Schrift des Lukrez in Stellung brachte (Lambin 1570; Gambino-Longo 2014). Wenn schließlich Texte humanistischer Autoren wie etwa Petrarca selbst zum Gegenstand von Kommentaren wurden, wurden jene zu den Klassikern vergleichbaren, herausgehobenen Referenzautoren mit autoritativem Status gemacht (z. B. Petrarca 1522; Petrarca 1547; dazu Belloni 1986; Busjan 2013; Neumann 2006). Zu unterscheiden ist hierbei, wie für die humanistischen Kommentare insgesamt, zwischen didaktischen Kommentaren, die primär dem (Sprach-)Unterricht dienten (Reuchlin/Simler 1507; Reuchlin/Spiegel 1512), und solchen, die einen komplexen Text für ein gelehrtes Publikum an und außerhalb der Universitäten besser rezipierbar machen sollten (Listrius/Erasmus 1521). 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Der bei weitem überwiegende Teil universitärer Kommentare entstand im Kontext von Vorlesungen. Gelehrtenzirkel, Höfe oder gar private Lektüre stellten, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, erst seit dem 15. Jh. einen, wenn auch weit weniger ertragreichen, Ort der Textkommentierung dar. So sehr also die Kommentierung ihren Sitz im Leben im universitären Unterricht besaß, so sehr strebten Autoren seit den Gründungstagen der Universitäten danach, ihre Kommentare zu veröffentlichen und sie damit zu einem dauerhafteren Beitrag in der gelehrten Auseinandersetzung zu machen. Manche entschlossen sich, ihre Vorlesungen in überarbeiteter Form selbst zu veröffentlichen, oder es erschienen möglicherweise vom Lektor redigierte Mitschriften. Im ersten Fall spricht man von ordinationes, im zweiten von reportationes. Im Falle des Franziskaners Johannes Duns Scotus ist die Oxforder Sentenzenvorlesung von 1298–1299 als umfangreiche, offenbar erheblich überarbeitete ordinatio (Duns Scotus 1950–2013) erhalten, wohingegen sein späterer, wohl auf eine Vorlesung von 1301–1302 zurückgehender Pariser Sentenzenkommentar in einer durchgesehenen, deutlich knapperen (und von der Forschung lange vernachlässigten) reportatio vorliegt (Duns Scotus 2004; Rodler 2005; Surzyn 2011). Wilhelms von Ockham Sentenzenkommentar zerfällt in zwei Teile: Prolog und Kommentar zum ersten Buch liegen als sehr umfangreiche, offenbar erheblich erweiterte ordinatio vor, während
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die Bücher zwei bis vier als deutlich knappere reportatio überliefert sind (Ockham 1967–1984). Dass der universitäre Unterricht von Beginn an kommentierend Autoritätentexte auslegte, bedeutete zunächst eine bloße Fortsetzung der überkommenen voruniversitären Unterrichtspraxis. Erst allmählich bildeten sich neue, spezifisch auf die Universität bezogene Formen heraus. Formal wie genetisch lassen sich zwei Weisen der Textkommentierung an den Schulen des 12. Jh.s sowie an den Universitäten unterscheiden: Literal- und Quaestionenkommentare. Erstere dienen der schrittweisen Erklärung des Referenztextes. Ihre Grundlage ist die Texterklärung durch den Magister in der Vorlesung (lectio), die zuallererst den Studenten ein besseres Verständnis des Autoritätentextes ermöglichen sollte. Die Form des Quaestionenkommentars geht ebenfalls auf die Kommentierung von Referenztexten in Vorlesungen zurück. Dienten Fragen zunächst als didaktisches Mittel, um einzelne Passagen zu erklären, wurde die Form der quaestio im frühen 13. Jh. in Vorlesungen ebenso wie in Disputationen eingesetzt, um größere Problemkomplexe zu entwickeln, zusätzliche Autoritäten anzuführen und mögliche Widersprüche in diesen zu bearbeiten. Vorlesungen wie Kommentare bedienten sich jenseits dieser scheinbar klaren Dichotomie jedoch häufiger verschiedener interpretativer Verfahren, so dass der Literal- und der Quaestionenkommentar Idealtypen sind, zwischen denen zahlreiche Mischformen existieren. So legten Albertus Magnus oder Gerardus Odonis beispielsweise ihre Ethikkommentare als expositio an, ergänzt jeweils um quaestiones disputatae (Albertus Magnus 1968–1987; Gerardus Odonis 1500). Trotzdem ist es sinnvoll, idealtypisch einige Kommentarformen voneinander abzugrenzen, um die Spezifik derartiger eigenständiger Formgebungen erfassen zu können. Im 12. Jh. waren in allen Disziplinen Kommentare in Glossenform sehr verbreitet (Weijers 1996, S. 39–41). Der Timaios, im lateinischen Westen lange die am meisten rezipierte Schrift Platons (Leinkauf/Steel 2006), wurde im 12. Jh. mehrfach glossiert. Prägend blieb dieser Kommentartyp, wie im vorherigen Abschnitt erwähnt, vor allem für die mittelalterliche Rechtswissenschaft. Ihren Ursprung nahmen Glossen in Erläuterungen einzelner Worte, die sich bereits im frühen Mittelalter finden lassen; aus dieser Form entwickelten sich umfassendere Erläuterungen von Aussagen, die Rechtsprobleme zu klären oder widerstreitende Autoritäten in Einklang zu bringen versuchten (Weigand 2008). Derartige Glossen konnten einen weit über den Referenztext hinausgehenden Umfang annehmen und ermöglichten eine systematische Durchdringung der jeweiligen Rechtsprobleme. Nicht von ungefähr werden die Lehrer des römischen Rechts des 12. und 13. Jh.s entsprechend ihrer bevorzugten Auslegungsform als Glossatoren bezeichnet (Lange 1997). Formal lässt sich zwischen Marginalglossen, die am Rand des autoritativen Textes notiert wurden, und Interlinearglossen zwischen den Zeilen unterscheiden. Während Letztere sich buchstäblich in den Text einschreiben, umklammern ihn die Marginalglossen, die – allein aus materiellen Gründen – Gelegenheit boten, der glossierten Passage kommentierend zusätzliche Autoritäten und weitergehende Erläuterungen beizugeben. In der Entwicklung des Glossenapparats stellt die Technik des Accursius, alle Glossen an ein Bezugswort
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im Referenztext zu knüpfen, einen entscheidenden Einschnitt dar. Schreiber konnten nun durch Unterstreichungen oder Bezugszeichen die Bezüge zwischen Text und Glossierung leicht erkennbar machen und die Seiten des Kommentars planvoll aufbauen, so dass Glossierung und Referenztext graphisch voneinander abgesetzt, aber doch als sinnhafte Einheit erschienen – eine Optik, die sich über den Medienwechsel zum Buchdruck erhielt (Kästle-Lamparter 2016, S. 165–170). Dem Kommentar in Glossenform steht derjenige in Form einer expositio nahe. Die expositio ist – im Unterschied zu den auf eine Paraphrase des Referenztextes verzichtenden Quaestionenkommentaren – zu den Literalkommentaren zu zählen, die Struktur und Inhalt des Referenztextes folgen (Weijers 2011; Weijers 2009, S. 15–19; Ebbesen 1993). Der Kommentar in Form einer expositio erwächst unmittelbar aus der Struktur des universitären Unterrichts, ist doch die Erklärung einer Passage oder eines Satzes neben den einführenden Bemerkungen zu Autorschaft, Gattung und Struktur des Referenztextes (accessus ad auctores), dem eigentlichen abschnittsweisen Vorlesen des Textes (littera) und dessen thematischer Einteilung (divisio textus) konstitutiver Bestandteil der Vorlesung (lectio) (Thomas von Aquin 1950; Thomas von Aquin 1992b; Aegidius Romanus 1968a; Ockham 1979; Ockham 1985; Burley 1500; Paul von Venedig 1518; s. Rentsch 1990, S. 75 f.; Weijers 1996, S. 41 f.). Besonders prägnant wird der Übergang von der Kommentierung in Glossenform zum Kommentar im strengeren Sinne in der Theologie durch den um 1190 entstandenen Pariser Sentenzenkommentar des Stephen Langton markiert (Langton 1952; Dreyer 2014, S. 134 f.). Durch die Form der lectio oder expositio war es stärker als in der Glosse möglich, die Sprache des Referenztextes gemäß dem zeitgenössischen Schulgebrauch mit seinem technischen Latein zu standardisieren, ihn durch eine divisio textus inhaltlich zu systematisieren, die Aussageabsichten (intentio) und argumentativen Zusammenhänge herauszuarbeiten und ihn darüber didaktisch nutzbar zu machen (John Pagus 2012). Häufig ist dieser Typ in verschiedene lectiones unterteilt, was seine Herkunft aus dem Vorlesungsbetrieb verrät. Eine divisio textus zerlegt die entsprechende autoritative Passage in die erklärungsbedürftigen Komponenten und arbeitet so die logische Struktur des Textes heraus. Paraphrasierend wird dessen Inhalt wiedergegeben, wobei zwischen der Darlegung des allgemeinen Sinns und der Erläuterung einzelner Passagen unterschieden wird. Durch notanda werden mehr oder weniger nah am Text schwierige Punkte behandelt; dubia geben Gelegenheit, unter Hinzuziehung weiteren Materials vom Referenztext aufgeworfene Probleme zu lösen. Diese Form des Kommentars erlaubte es, quaestiones zu integrieren, die sich in allen Disziplinen zu einem bevorzugten Mittel entwickelten, Autoritätenkonflikte zu klären (Weijers 2011, S. 146–155; del Punta 1998). Der in Bologna, Florenz, Siena und Padua lehrende Mediziner Giacomo Della Torre (da Forlì) beispielsweise war in seinem Kommentar zum ersten Buch des Kanons des Avicenna bemüht, dessen Argumentation so zu formalisieren, dass den eine scholastische Textarbeit gewohnten Lesern das Verständnis erleichtert wurde. Daher zerlegte seine expositio den Referenztext in durchnummerierte Argumentationsschritte, reformulierte Thesen als determinationes und organisierte weitere Folgerungen als conclusiones; an den Literalkommentar schloss er quaes-
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tiones an, die das Dargelegte diskursiv aufbereiteten und Folgeprobleme erörterten (Jacobus de Forlivio 1547). Als besonders stabil erwies sich die Verbindung von expositio und quaestio im juristischen Kommentar. Seit der Mitte des 13. Jh.s setzte die mündliche Kommentierung in der Vorlesung sowie diejenige des geschriebenen Textes mit einer Inhaltsangabe des jeweils behandelten Kapitels ein (summarius, summarium), woran sich eine Gliederung des Textes anschloss. Darauf wurde der jeweilige Fall (casus) erläutert, der den Anlass zum Erlass der jeweiligen gesetzlichen Bestimmung geboten hatte. Damit war der Grund bereitet, um den Wortlaut des Rechtstextes zu verlesen. Sprachlich unklare Stellen und schwierige Worte wurden erklärt. Nun konnte zusätzliches Material herangezogen werden, wobei es galt, Widersprüche zu beseitigen oder aufzudecken. In einem weiteren Schritt waren die allgemeinen Rechtsgedanken zu formulieren (notabilia), welche sich aus dem behandelten Text ergaben, bevor Rechtsfälle erörtert werden konnten, die in sachlichem Zusammenhang zum behandelten Problem standen. Bevorzugtes Mittel der Darlegung war das Wechselspiel von Frage und Antwort. Wie Francesco Zabarella in dem seinem großangelegten Dekretalenkommentar beigegebenen Traktat De ordine docendi et discendi darlegt, hatte sich die mündliche Vorlesung an der Anordnung des Stoffes in der Glosse zu orientieren, wohingegen dem Verfasser eines schriftlichen Kommentars größere Freiheiten im Bestreben, sein Material systematisch aufzubereiten, zugestanden wurden. Denn er brauchte keine Rücksicht auf das beschränkte Auffassungsvermögen der Hörer zu nehmen und konnte daher komplexere – und deutlich umfangreichere – Erläuterungen erstellen (eine sehr fehlerhafte und unvollständige Edition bietet Zabarella 1989; Girgensohn 1993, S. 249 f., 258–260; Girgensohn 1997, S. 531–540). Vergleicht man Zabarellas Ratschläge, wie ein Text zu kommentieren sei, mit früheren Berichten, etwa demjenigen des Johannes Bassianus aus dem 12. Jh. (gedruckt in von Savigny, Bd. 3 1961, S. 553), dem des Hostiensis (Henricus de Segusio 1962, fol. 325r) oder dem des Odofredus de Denariis (oder demjenigen einer seiner Schüler; gedruckt in von Savigny, Bd. 3 1961, S. 553) aus dem 13. Jh., so fällt auf, wie wenig sich die Methode des Kommentierens in den juristischen Vorlesungen seitdem geändert hatte (Weimar 1969, S. 47–51). Die zum Standard gewordene scholastische Kommentierungstechnik wirkte dabei über die Universität hinaus: Als Johann von Buch sich im zweiten Viertel des 14. Jh.s daranmachte, einen volkssprachlichen Kommentar zum Sachsenspiegel zu verfassen, orientierte er sich an der Form der Glosse, die er während seines Studiums in Bologna kennengelernt hatte (Johann von Buch 2002; Kästle-Lamparter 2016, S. 190–205). Erst in den juristischen Kommentaren des 16. Jh.s lässt sich der Wille erkennen, mit den überkommenen Strukturschemata zu brechen (Thier 2014, S. 219–235; Kästle-Lamparter 2016, S. 38–49). Der Wille zur Abstraktion, ein Lösen vom Quellentext und die Suche nach eigenen, neuen Strukturschemata bestimmten viele Kommentare. Während sich Ulrich Zasius vorsichtig der Aufgabe stellte, den Textbestand neu zu ordnen (Zasius 1964a; Zasius 1964b), ging der Humanist François Douaren von einer Kritik der bisherigen Kommentierungsstrategien aus (Duarenus 1585). Zu
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viele Kommentare hätten die Rechtsquellen selbst verdeckt. Daher drängte sein eigener Kommentar nicht nur den Autoritätengebrauch zurück, sondern suchte auch nach formalen Mitteln, die eine adäquate Erläuterung des jeweiligen Digestentitels ermöglichen sollten (Duarenus 1554). Der Calvinist Hugues Doneau schließlich löste sich mit seinen Commentarii de iure civili von der Struktur der Pandekten und organisierte sein Material aufgrund systematischer Gesichtspunkte neu (Donellus 1822–1834; Heise 2004). Stärker an die Erfordernisse des akademischen Unterrichts angepasst war der Pandektenkommentar des in Jena und Wittenberg lehrenden Matthäus Wesenbeck (Wesenbeck 1579), der sich bemühte, seine Erläuterungen einem einheitlichen Schema aus defenitio, species et gradus, causae (gemäß der aristotelischen Ursachenlehre), interpretationes, contraria und actiones (Klagen) folgen zu lassen (Wesenbeck 1584). Die zahlreichen Auflagen, die sein Kommentar bis zum Ende des 17. Jh.s erfuhr, belegen, dass Wesenbecks Vermittlungsstrategie aufgegangen war. Dem Siegeszug der quaestio disputata an den Universitäten entspricht die Mitte des 13. Jh.s aufkommende Form des Quaestionenkommentars, der keine fortlaufende Erläuterung des Referenztextes anstrebt, sondern ausgewählte Punkte ausführlicher unter Verwendung weiterer Autoritäten behandelt. Quaestionenkommentare erlaubten es, sich weit vom Referenztext zu lösen und bestimmte Sachprobleme ausführlich zu diskutieren. Auf diese Weise entstanden komplexe Gefüge von teils sehr umfänglichen Quaestionen, deren Aufbau in den Handschriften und Drucken durch beigegebene Verzeichnisse (tabulae) allererst nachvollziehbar gemacht werden musste. Die Form des Quaestionenkommentars wurde nicht nur in Sentenzenkommentaren üblich (Bonaventura 1882–1889; Thomas von Aquin 1980; Wilhelm de la Mare 1989–2001; Richard de Mediavilla 1507–1509; Johannes Quidort 1961–1964; Duns Scotus 1950–2013; Durandus 2012–2014; Ockham 1967–1984; Chatton 2002–2005; Crathorn 1988; Johannes von Sterngassen 1995; Pierre d’Ailly 1968), sondern auch in den Kommentierungen antiker philosophischer Texte: Während Kommentierungen in Vorlesungen häufig stärker textbezogen vorgingen und in einem ersten Schritt ein Verständnis des Referenztextes schaffen wollten, zählten die meisten (aber längst nicht alle) der bis ins frühe 16. Jh. veröffentlichten scholastischen Kommentare zu den philosophischen Schriften und insbesondere diejenigen zum Corpus aristotelicum zum Typus des Quaestionenkommentars. Dieser ermöglichte es nämlich, philosophische Debatten mit Zeitgenossen zu führen, verschiedene Deutungsansätze zu prüfen und pointiert eigene Positionen zu entwickeln (Thomas von Aquin 1992a; Burley 1997; Campsall 1968; Buridan 1989; Albert von Sachsen 2008; Oresme 1996; Oresme 2010; Dominicus de Flandria 2010; Johannes Magistri 1481; Versor 1967a; Dullaert 1512; Zimara 1550). Selbst wenn sich ein Autor wie Paul von Venedig entschloss, in seinem Kommentar zu den Zweiten Analytiken auf die Quaestionenform zu verzichten, wurden seinem Text im Druck von 1518 gleichwohl Listen mit conclusiones und quaestiones vorangestellt, die es erlaubten, den Literalkommentar als Quaestionenkommentar zu lesen (Paul von Venedig 1518). Ähnlich war man bereits bei den kurzgefassten Conclusiones verfahren, die der Kölner Theologe Heinrich von Gorkum zu den Sentenzen unter Verzicht auf quaestiones und dubia verfasst hatte: Den Drucken
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seines Werkes war eine Liste der Titel der quaestiones des Thomas von Aquin beigegeben (Heinrich von Gorkum 1489). Der seit der Mitte des 13. Jh.s dominierende Quaestionenkommentar hatte den Literalkommentar keinesfalls verdrängt: Seit den 1250er-Jahren tritt neben die expositio als weitere Form des Literalkommentars die sententia. Wie jene sind die sententiae in lectiones eingeteilt und bieten eine detaillierte, erklärende Paraphrase des Referenztextes, die durch notanda und dubia unterbrochen und mitunter durch zumeist kurze quaestiones ergänzt wird (Peter von Auvergne 2003; s. Weijers 1996, S. 45 f.). Dieser besonders textnahe Typus des Literalkommentars wurde regelmäßig bei Bibelkommentaren verwendet (Albertus Magnus 1987; Thomas von Aquin 1965; Tostado 1728; Cajetan 2005). Meister Eckhart dagegen legte seinen Kommentar zum Johannesevangelium nicht als fortlaufende Paraphrase und Erklärung des Evangelientextes an, sondern als philosophisch und theologisch weit ausschwingende Deutungen der einzelnen Schriftworte mit der erklärten Absicht, nicht die Deutungen von Vorgängern zu wiederholen, sondern Neues zu bieten (Meister Eckhart 1994). Dass derselbe Referenztext Gegenstand eines Literal- wie eines Quaestionenkommentars werden kann, verdeutlichen die Ethikkommentare des Thomas von Aquin und des Johannes Buridan (Lines 2005). Die 1271–1272 entstandene Sententia in libros Ethicorum des Dominikaners bietet eine literale Textauslegung, die der Vorlage eng folgt (Thomas von Aquin 1969); Buridan hingegen verwendete die Quaestionenform, was es ihm erlaubte, lediglich die Probleme der Nikomachischen Ethik herauszugreifen, die er für diskutierenswert hielt (Buridan 1968). Die von Thomas gewählte textnahe Auslegungsform dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass sich sein Kommentar insbesondere in Italien vom 15. bis ins 17. Jh. großer Beliebtheit erfreute, während die Wirkung des Kommentars Buridans auf Paris, Krakau, Wien und einige weitere Universitäten des Reichs beschränkt blieb (Lines 2005; Michael 1985, S. 824–886). Die studentische Mitschrift einer Vorlesung über die aristotelische Metaphysik, die einen seltenen Einblick in den mündlichen Vortrag Buridans bietet (Paris, BnF, lat. 16131), zeigt schließlich, dass derselbe Text in einer Vorlesung gleichermaßen Gegenstand eines Literal- wie eines Quaestionenkommentars werden konnte. Die Handschrift sowie die Wasserzeichen des verwendeten Papiers verraten, dass Buridan den Text zuerst in Form einer expositio erläuterte, um daran jeweils weiterführende quaestiones anzuschließen. Allerdings forderte die größere Ausführlichkeit der Kommentierung in Quaestionenform im Laufe des Semesters ihren Tribut: Als Buridan seine Vorlesungen wegen der großen Winterkälte abbrechen musste, war der Literalkommentar bis zum zwölften, der Quaestionenkommentar nur bis zum neunten Buch gelangt (Flüeler 1999, S. 507–511). Humanisten hatten zunächst in Italien, seit der zweiten Hälfte des 15. Jh.s auch nördlich der Alpen den scholastischen Quaestionenkommentar scharf kritisiert und literale Auslegungen bevorzugt, die dem Verlauf des Referenztextes sichtbar folgten. Dies hatte nicht zuletzt didaktische Gründe: Eine textnahe Kommentierung, die die gelehrte Erläuterung einzelner Worte, Sprachfiguren und wissenschaftlicher oder literarischer Informationen zum Ziel hatte, sollte es Studenten und anderen Lesern
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ermöglichen, die jeweiligen Referenztexte bestmöglich zu verstehen. Das Ausmaß, in dem diese Erläuterungen, in Drucken häufig unter den kommentierten Text gesetzt, weitere Informationen boten, die auf den kulturellen Entstehungskontext des Referenztextes, vergleichbare Werke oder philologische, philosophische oder andere wissenschaftliche Probleme verwiesen, variierte erheblich. Wie bei den Scholastikern finden sich unterschiedliche Ausprägungen des Literalkommentars, wie die Platonkommentare Marsilio Ficinos beweisen: Verfasste er zu den meisten platonischen Schriften knappe Kommentare, die primär ein erstes Verständnis des Textes erlauben sollten, orientieren sich seine Kommentare zum Symposion, Philebus oder Phaedrus (Ficino 2002; Ficino 1981; Ficino 2000) zwar an der Struktur des Referenztextes, werden jedoch durch eine spezifische Auswahl und Akzentuierung der behandelten Probleme zu eigenständigen philosophischen Abhandlungen, die in ihrem Anspruch wie in ihrer literarischen Gestaltung eher seiner Theologia platonica (Ficino 1964) als den kurzen Literalkommentaren nahestehen. Filippo Beroaldo hielt sich in seinem auf seine Lehrtätigkeit in Bologna zurückgehenden Apuleiuskommentar hingegen eng an den Referenztext, den er Zeile für Zeile und Wort für Wort erläuterte (Beroaldo 1501). Das in diesen Erläuterungen gebotene Material ließ seinen Kommentar zu einer Einführung in die römische Antike insgesamt werden (Krautter 1971; Haig Gaisser 2005). Niccolò Perotti nutzte diese Methode, einzelne Worte des Referenztextes umfassend unter Aufbietung aller Gelehrsamkeit zu erläutern, in seinen Cornucopiae exzessiv. Er behandelte die Worte in 28 Epigrammen Martials in der Reihenfolge ihres Auftretens. Da er allein für das Wort ‚ferant‘ nicht weniger als 700 Beispiele für den Gebrauch der Grundform in der lateinischen Literatur anzuführen wusste, umfasste sein postum veröffentlichtes Werk im Druck 389 Folioseiten (Perotti 1489; dazu Blair 2010; Blair 2006, S. 118–120). Der in Paris lehrende Denis Lambin stellte seinen Lukrezkommentar nicht nur in den Dienst einer sorgfältigen philologischen Textkritik, sondern war obendrein bemüht, die Lehren des Referenzautors in ihren weiteren philosophischen Bezugsrahmen einzupassen, wobei er die antiplatonische Stoßrichtung herausarbeitete (Lambin 1570). Der Spanier Sebastián Fox Morcillo wiederum wetteiferte mit Ficino, indem er seinen Timaioskommentar als minutiöse Erläuterung des Referenztextes anlegte, die – weniger spekulativ als der Florentiner – dem Textverstehen ebenso dienen sollte, wie sie eine Perspektive auf die gesamte neuplatonische Philosophie insgesamt eröffnen wollte. Die Grenze zwischen verhältnismäßig textnaher Erläuterung und zu kleinen Traktaten anwachsender Digression war dabei fließend (Morcillo 1554). Dass bei den Humanisten editorische und kommentierende Tätigkeit häufiger Hand in Hand gingen, zeigt die Martialausgabe des Jesuiten Matthäus Rader, der die antiken Texte in einer um allzu obszöne und anstößige Passagen bereinigten Form zusammen mit einem ausführlichen Kommentar darbot, der Fremdworte, Eigennamen, Orte sowie schwierige Vokabeln und Wendungen extensiv unter Aufbietung seiner breiten Belesenheit erklärte (Rader 1602). Eine spezifische Unterform des humanistischen Kommentars sind die variae lectiones, in denen Passagen verschiedener Autoren behandelt werden. Die Fragmente der Referenztexte werden mal systematisch, mal ohne erkennbaren Ordnungswil-
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len präsentiert (Blair 2006). Ihren unmittelbaren Ursprung hat diese Form nicht in der mittelalterlichen oder antiken Kommentarpraxis, sondern in bei der Lektüre der Klassiker angefertigten Notizen, die gesammelt und in dieser Form als Handreichungen für Schüler und Studenten genutzt werden konnten. Die Grenze zu Florilegien ist hier fließend. Die besonders erfolgreichen Lectiones antiquae des Ludovico Ricchieri entstanden aus einer Materialsammlung zu einem geplanten, aber nicht realisierten Kommentar zu Sprichworten nach dem Vorbild der Adagia des Erasmus (Ricchieri 1566; dazu Marangoni 1997). Ricchieri arrangierte stattdessen seine Funde in thematischer Ordnung. So wurde in Götterwelt, Natur, den Menschen, die Wissenschaften und Künste anhand kurzer antiker Aussprüche eingeführt. Philologische Fragen standen neben Ausführungen zu antiken Philosophen, zur Geschichte, Mythologie und Literatur. Indizes halfen den Lesern, den dargebotenen Wissensschatz für sich nutzbar zu machen. Auch bei solchen Gelehrten, die der humanistischen Bewegung fernstanden, lässt sich seit dem späten 15. Jh. ein Abrücken von der quaestio erkennen. Neben neuen Formen, wie dem philosophischen Traktat, erfreute sich der fortlaufende Literalkommentar unter veränderten Vorzeichen beträchtlicher Beliebtheit. Agostino Nifo nutzte etwa seinen Kommentar zu De anima, um die didaktische Überlegenheit des Aristoteles gegenüber Platon darzulegen, was mit einem Versuch einherging, statt der quaestio den aristotelischen Argumentationstechniken nahezukommen (Nifo 1559). Doch auch der Quaestionenkommentar hatte im Spätmittelalter Neuerungen erfahren, die seine Fortexistenz sicherten. Heinrich Totting von Oyta lernte in den 1370er-Jahren in Paris den umfangreichen Sentenzenkommentar Adam Wodehams (Wodeham 1990) kennen. Um ihn didaktisch besser nutzbar zu machen, erstellte er eine Kurzfassung (abbreviatio), die die komplizierte Struktur der quaestiones des Engländers vereinfachte und dessen ausführliche Auseinandersetzungen mit den Thesen anderer Gelehrter rigoros zusammenstrich. In dieser Form war der Kommentar sehr erfolgreich, wie zahlreiche erhaltene spätmittelalterliche Handschriften belegen (Courtenay 1978). Vom Melker Sentenzenkommentar des Nikolaus von Dinkelsbühl fertigten mehrere Gelehrte abbreviationes an, die auf einen erheblichen Teil der argumentativen Partien verzichteten, gleichwohl jedoch im Umgang mit dem vorgefundenen Material häufig besondere theologische und philosophische Interessen verrieten (Madre 1965, S. 99–125; Zahnd 2014, S. 378–382). Im 15. Jh. kamen in Löwen für den Unterricht besonders geeignete Kommentare aus quaestiones non disputatae auf, in denen auf jede Frage lediglich eine kurze Antwort gegeben wurde, die wiederum Anlass zu Einwänden und weiteren knappen Antworten geben konnte. Nicht nur Scholastiker bemühten sich, die quaestio als Mittel der Kommentierung zu reformieren, auch einige Humanisten nutzten die überkommene Form, wenn auch in eigensinniger Weise. Francesco Robortello behandelte in seinem in Pisa verfassten Kommentar zur aristotelischen Poetik die Katharsis in Gestalt einer formal allerdings nicht streng durchgeführten quaestio, indem er Aristoteles und Proklos in utramque partem diskutieren ließ. Ihnen werden alsbald Sextus Empiricus und Plutarch zugesellt. Des Letztgenannten Beitrag bietet schließlich die Grundlage zu einem humanistischen
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Lob der Dichtkunst, die als moralisch nützliche Kunst dargestellt wird (Robortello 1968; Leroux 2011). 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Der scholastische Kommentar genoss in der Forschung lange keinen guten Ruf, schien er doch alle antischolastischen Klischees, die von Humanisten oder später den Denkern der Aufklärung in die Welt gesetzt worden waren, zu bestätigen. Der Kommentar ist formaler Ausdruck des Autoritätsprinzips, das die Universitäten bis weit in die frühe Neuzeit bestimmte –, und muss daher einem Wissenschaftsverständnis, das Innovation und Originalität allerhöchsten Wert beimisst, verdächtig vorkommen. So sehr sich der Topos vom ‚scholastischen Kommentar‘ als bloßem Reproduzieren dessen, was Griechen und Araber bereits vorgedacht hätten, außerhalb der Fachforschung gehalten hat, hat sich in Letzterer bis zur Mitte des 20. Jh.s die Einsicht durchgesetzt, dass Kommentare für die vormoderne Wissenschaft konstitutiv und keinesfalls sterile Fleißarbeiten waren. Gerade sie spielten eine entscheidende Rolle für die Ausdifferenzierung der Disziplinen gegeneinander und für die Entwicklung einer disziplinenspezifischen Methodik (Aertsen 2000). Grob lassen sich zwei Zugangsweisen unterscheiden: Erstens Versuche, die – letztlich in tendenziell ahistorischer Übernahme des modernen Innovativitätsideals – aufzeigen, dass vormoderne Kommentare durchaus innovativ und originell sein konnten. In dieser Sichtweise bedeutet Kommentieren nicht einfach Nachvollziehen einer Autorität, sondern kritisches Durchdenken und reflexive Auseinandersetzung mit der Tradition, die zu neuen Einsichten, Argumentations- und Aussagestrategien führen kann. Zweitens wird unter Absehung von Fortschritts- und Innovationserzählungen untersucht, wie Kommentieren und Kommentare Lehren und Lernen an den Universitäten des Mittelalters und der frühen Neuzeit prägten, wie Studenten durch kommentierendes Erklären in die Autoritäten und die an diese angelagerten Traditionen eingeführt wurden und wie Kommentieren schließlich bedeuten konnte, sich in Traditionslinien einzuschreiben, andere zu verwerfen oder verschiedene Auslegungstraditionen synthetisch zu verbinden. Während disziplingeschichtliche Ansätze wie die Philosophie-, Theologie-, Medizin- und Rechtsgeschichte eher dazu tendieren, dem erstgenannten Paradigma zu folgen, gehen vor allem neuere wissens-, bildungs-, textsorten- und universitätsgeschichtliche Forschungen den letztgenannten Weg. Die Editions- und Forschungslage ist von deutlichen Unterschieden zwischen den Disziplinen geprägt. So verfügen wir über ungleich mehr Editionen (insbesondere hochmittelalterlicher) philosophischer und theologischer als medizinischer und juristischer Kommentare. Die rechtshistorische Forschung hat sich lange vor allem für die Glossatoren und in geringerem Maße für die Postglossatoren interessiert, spätmittelalterliche Kommentatoren hingegen wurden häufig vernachlässigt. Auch dominieren Arbeiten zu italienischen Autoren, wohingegen andere Regionen weit schlechter erforscht sind. Die medizinhistorische Forschung hat Kommentare bislang
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kaum systematisch ausgewertet. Doch auch für die Artes und die Theologie lässt sich eine beträchtliche Unwucht feststellen, die ebenso in der Suche nach Fortschritt, Innovation und Originalität wie in deren Korrelat, der Erzählung von Dekadenz und Niedergang, begründet ist. Als trotz aller begründeten Kritik bis heute wirkmächtig hat sich die neuthomistische Wertung einer vermeintlichen Harmonie von Glauben und Wissen, Spiritualität und Spekulation bei Thomas von Aquin und seinen Zeitgenossen erwiesen, die kontrastiert wird mit einer zum Selbstzweck gewordenen philosophischen Spekulation seit den 1310er-Jahren (zur Forschungsgeschichte Kluxen 1988; Imbach 1996a) – ein Deutungsansatz, der sich insbesondere in der Forschung zu den Sentenzenkommentaren niedergeschlagen hat (Rosemann 2007). Werden schon seit mehreren Jahrzehnten die Sentenzenkommentare des Johannes Duns Scotus und Wilhelms von Ockham in der Philosophie- und Theologiegeschichte auf der Seite der Innovativität und Originalität verortet, wurden einzelne Sentenzenkommentare ‚nach Ockham‘ zwar immer wieder gewürdigt (etwa durch die großen Editionsprojekte der Kommentare des Durandus von St. Pourçain, Gregors von Rimini und Adam Wodehams oder die Bemühungen um Marsilius von Inghen und Gabriel Biel, in jüngerer Zeit auch um Petrus Aureoli und Franciscus de Marchia), doch warten nach wie vor zahllose Kommentare auf die Wiederentdeckung durch die Forschung oder eine moderne Edition. Immerhin sind neben verschiedenen Zeitschriftenbeiträgen in den letzten Jahren mehrere Sammelbände und einige Monographien erschienen, die es erlauben, die Entwicklungen des 14. und (in geringerem Maße) des 15. und 16. Jh.s zu überblicken (Evans 2002; Rosemann 2010; Rosemann 2015; Hoenen 1993; Schabel 2000; Rosemann 2007; Zahnd 2014; Beiträge in Bulletin de Philosophie Médiévale 56 (2015); außerdem schon Ehrle 1925). Was für die Sentenzenkommentare gilt, gilt ähnlich auch für Forschung und Editionslage bezüglich der artistischen Kommentare. Die Kenntnis der Werke und Diskurse des 13. und frühen 14. Jh.s ist weit besser als diejenige der folgenden Jahrhunderte. Einen Eindruck vom Reichtum des hier bereitstehenden Materials geben die von Charles Lohr angelegten Zusammenstellungen der Aristoteleskommentare des Mittelalters und der Renaissance (Lohr 1967–1974; Lohr 1973; Lohr 1988; Lohr 1995). Die Forschung bevorzugt – gemäß dem ersten beschriebenen Paradigma – zumeist solche Kommentare, die als inhaltlich innovativ angesehen werden, was dazu führt, dass wir über Kommentare, die vorrangig zur Nutzung im Unterricht erstellt wurden, weit schlechter informiert sind als über die Werke von Autoren, denen eine große philosophische oder theologische Relevanz zugeschrieben wird. Lange unberücksichtigt blieb die intensive Kommentartätigkeit des 15. bis 17. Jh.s. Charles Schmitt schätzt, dass allein im 16. Jh. mehr Aristoteleskommentare entstanden als im gesamten Mittelalter (Schmitt 1984). Darauf, dass ungeachtet des emphatischen Antiaristotelismus, in dem sich Humanisten seit Petrarca gefielen, Aristoteles – über die Konfessionsgrenzen hinweg – unverzichtbar für Lehre und Lernen an der frühneuzeitlichen Universität zumindest bis ins frühe 18. Jh. war, hat die Forschung, von einigen Pionierarbeiten abgesehen, erst in den letzten Jahren großflächiger reagiert (Darge/Bauer/Frank 2010; Bianchi 2003; Rohls 2012/2013; Blum 2012; Fidora 2007;
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Di Liscia/Keßler/Methuen 1997; Iorio 1991). Der in Ingolstadt lehrende Johannes Eck etwa, der hier nur als ein Beispiel für die erneuerten Bemühungen um den Stagiriten am Ende des Mittelalters genannt sei, machte sich im Auftrag seiner Universität daran, die aristotelischen Schriften neu zu erschließen, wobei er methodisch zwar der Scholastik verhaftet blieb, jedoch humanistische Anliegen wie die Verwendung neuer, gefälligerer und weniger technischer Übersetzungen, größere Textnähe und didaktische Funktionalisierung der kommentierten Schriften aufnahm (Eck 1517; Eck 1519; Seifert 1978). Doch auch für die Kommentare anderer Autoritäten gilt Ähnliches wie für die Aristoteleskommentare: Abgesehen von einigen Spitzenwerken harren zahllose spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Kommentare ihrer Wiederentdeckung. Dies gilt insbesondere, aber keinesfalls ausschließlich für jene Kommentare, die nur handschriftlich vorliegen. Unter den humanistischen Platonkommentaren beispielsweise haben diejenigen Ficinos sehr große Aufmerksamkeit erhalten, wohingegen vor allem an Universitäten entstandene, vielleicht weniger avancierte Kommentare nur vereinzelt untersucht wurden (z. B. Leinkauf/Steel 2006; Jayne 1995). In den letzten Jahren ist das Interesse an frühneuzeitlichen Kommentaren stark gewachsen (Pade 2005; Häfner/Völkel 2006; Enenkel/Nellen 2013; Stadeler 2015), wobei vorrangig nichtuniversitäre Kommentare untersucht wurden (s. aber Perfetti 2000; Boulègue 2014). Im Unterschied zum scholastischen Kommentar, der seinen Sitz im Leben an der Universität hatte, war der humanistische Kommentar nicht wesentlich mit dieser Institution verbunden: Humanistische Kommentare konnten der universitären Lehre dienen, zielten aber häufig auf ein größeres gelehrtes Publikum – gleich, ob es an der Universität beheimatet war oder nicht. Für künftige Forschungen dürfte eine zentrale Aufgabe darin bestehen, mehr über den Zusammenhang zwischen Gattungsentwicklung, inhaltlichen Positionierungen und institutionellen Bedingungen zu erfahren. Ein Ansatz dazu ist, auch philosophisch, medizinisch oder theologisch innovative Kommentare nicht nur inhaltlich zu analysieren, sondern sie auch in ihren institutionellen Kontext und in ihre Rezeptionsnetze einzuordnen. Die transkulturellen Beziehungsgeflechte von lateinisch-spätantiken, lateinisch-mittelalterlichen, arabisch-islamischen und griechisch-byzantinischen Kommentaren zu erforschen, bleibt weitgehend Desiderat (eine Ausnahme bildet Guldentops et al. 2007a–c). Daneben sollten stärker auch solche Kommentare herangezogen werden, die speziell für die Lehre konzipiert wurden. Dass sich im Falle des Nikolaus von Dinkelsbühl offenkundig ein handschriftliches, mit zahlreichen Marginalien versehenes Arbeitsexemplar seiner Wiener Sentenzenvorlesung erhalten hat (Nikolaus von Dinkelsbühl, Wien, Schottenstift 269; Brinzei/Schabel 2015), bietet die seltene Gelegenheit, das universitäre Kommentieren als work in progress zu studieren. Für Kommentare in allen Disziplinen gilt es, über die Mitte des 14. Jh.s hinauszugehen, Kontinuitäten aufzuspüren sowie Neuerungen und Veränderungen zu erkennen. Ein wichtiges Untersuchungsfeld hierbei bleibt der sich über mehrere Jahrzehnte erstreckende Medienwechsel von der Handschrift zum gedruckten Buch. Wie bei anderen Textsorten vollzog sich dieser nur zögerlich. Aufgrund ökonomischer Erwägungen begannen die Drucker zunächst solche Texte zu
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drucken, deren Verkaufserfolg sicher war. Ausschließlich oder primär für ein Universitätspublikum gedachte Schriften mussten zunächst hintanstehen, bis in den letzten Jahrzehnten des 15. Jh.s sowohl für den universitären Unterricht bestimmte Ausgaben wie wissenschaftliche Werke, darunter nicht zuletzt Kommentare, mit zunehmender Häufigkeit gedruckt wurden. Passte man die Auflagenhöhe an und orientierte sich an den Interessen der örtlichen Universität, besaß man hier einen sicheren Absatzmarkt. Auffällig ist der – für den frühen Druck insgesamt festzustellende – Konservativismus bei der Textauswahl: Keinesfalls wurden nur neue, etwa den humanistischen Ansprüchen genügende Schriften gedruckt, auch etablierte scholastische Kommentare fanden in allen Disziplinen ihren Weg in das neue Medium (für die Medizin Pesenti 2000). Die Rezeptionsbewegungen zwischen den Disziplinen (etwa zwischen Jura und Theologie oder zwischen der Naturphilosophie und der Medizin) könnten Aufschluss darüber geben, warum bestimmte inhaltliche wie formale Entwicklungen sich durchsetzten und andere in Ansätzen stecken blieben. Wechselseitige Abgrenzung und intertextuelle Rezeption sind schließlich in Bezug auf scholastische und humanistische Kommentare zu erforschen, da in beiden Traditionen bestimmte Entwicklungen wie die didaktische Nutzbarmachungen von Kommentaren und das Streben nach größerer Nähe zum Referenztext seit dem späten 14. Jh. zu beobachten sind. Nur disziplinenübergreifende Analysen werden zu beurteilen erlauben, ob es sich bei derartigen Entwicklungen um Koinzidenzen oder wechselseitige Abhängigkeiten handelte. 4. Bibliographie 4.1 Quellen Paris, Bibliothèque nationale, lat. 16131. Accursius, Franciscus (1968a), Glossa in Codicem (Corpus glossatorum iuris civilis, 10), Venedig 1488, ND Turin. Accursius, Franciscus (1968b), Glossa in Digestum infortiatum (Corpus glossatorum iuris civilis, 8), Venedig 1488, ND Turin. Accursius, Franciscus (1968c), Glossa in Digestum novum (Corpus glossatorum iuris civilis, 9), Venedig 1487, ND Turin. Accursius, Franciscus (1969a), Glossa in Digestum vetus (Corpus glossatorum iuris civilis, 7), Venedig 1488, ND Turin. Accursius, Franciscus (1969b), Glossa in Volumen (Corpus glossatorum iuris civilis, 11), Turin. Aegidius Aurelianensis (1993), Quaestiones super De generatione et corruptione (Bochumer Studien zur Philosophie, 18), Amsterdam. Aegidius Romanus (1968a), In libros priorum analyticorum expositio, Venedig 1516, ND Frankfurt a. M. Aegidius Romanus (1968b), Super Librum de Causis, Venedig 1550, ND Frankfurt a. M. Albert von Sachsen (2008), Quaestiones in Aristotelis De caelo, hrsg. v. Benoît Patar (Philosophes médiévaux, 51), Louvain-la-Neuve.
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Theologische Lehrwerke Sita Steckel
Begriffserklärung Grundlegendes Lehrwerk der auch als sacra pagina bezeichneten Theologie war und blieb in Mittelalter und Früher Neuzeit selbstverständlich in erster Linie die Bibel. Ihre Behandlung in Vorlesungen war für die baccalarii der Theologie verpflichtender Teil der Ausbildung. Doch entwickelten sich um das Studium und die Nutzung der Bibel im Verlauf der Jahrhunderte verschiedene Formen erschließender Texte, die hier als Lehrwerke verstanden werden. Daneben traten spezialisierte Lehrwerke für die Vermittlung christlicher Lehre an breitere Rezipientenkreise sowie für die Seelsorge. Neben Lehrwerken im engeren Sinne sind fachspezifische Kommentare, Disputationstexte und Nachschlagewerke aufzufinden, also Hilfsmittel zum Verständnis und zur praktischen Nutzung der Bibel. Diese Typen müssen hier notgedrungen knapp einbezogen werden, um den Horizont der Entstehung und Nutzung von theologischen Lehrwerken im engeren Sinne verständlich zu machen. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Anstöße für das Aufkommen und die Nutzung von spezialisierten Lehrwerken ergaben sich seit dem langen 12. Jh. sowohl aus inneren Entwicklungen der gelehrten Theologie und ihrer institutionellen Einbettung an den Universitäten wie auch aus sich verändernden Bemühungen, Aspekte theologischer Lehre an verschiedene Adressatengruppen außerhalb von Schulen und Universitäten zu vermitteln. Wiewohl neue Lehrwerke immer wieder entstanden und sich Veränderungen in Form und Funktion teils sehr graduell vollzogen, kann man solche Neuerungen zu einer groben Systematisierung mit drei überlappenden Phasen in Verbindung bringen – einer Entstehungsphase der universitären Theologie vom 12. Jh. bis ca. 1215–1250, einer Konsolidierungs- und Ausbauphase von ca. 1215 bis ins endende 14. Jh. und einer Phase der regionalen und inhaltlichen Diversifizierung im langen 15. und im 16. Jh. (vgl. insgesamt Smalley 1984; Verger 1984; Hauser/Watson 2009; Courtenay 2013). Im 12. Jh. resultierte aus veränderten gesellschaftlichen Anforderungen und Herangehensweisen an den Bibeltext zunächst ein neuer Umgang mit der Bibel und erklärenden Texten durch die sich professionalisierende Gelehrtenelite. An höheren
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Schulen, Universitäten und Bettelordensstudia wurde zwar weiterhin auch die textgeleitete, an einzelnen Büchern der Bibel orientierte Exegese betrieben und durch neue Hilfsmittel und Lehrwerke unterstützt (Verger 1994). In den Vordergrund des gelehrten Unterrichts trat jedoch die problemorientierte Erschließung und begriffliche und inhaltliche Klärung der christlichen Lehre. Aufgrund des regionalen Zusammenwachsens des lateinischen Christentums unter Führung des Papsttums war man nicht zuletzt an einem überregional verbindlich gedachten Kernwissen zur christlichen Lehre interessiert. Die neue Form der Auseinandersetzung mit der Bibel wurde seit dem 12. Jh. als eigene Wissensdisziplin verstanden und als ‚theologia‘ bezeichnet (Enders 2007). Intensive Diskussionen zwischen verschiedenen Schulen und Netzwerken führten zur Herausbildung und Festigung der heute als ‚scholastisch‘ zusammengefassten Methoden, Denk- und Arbeitsweisen. Ziel des theologischen Unterrichts an den entstehenden Universitäten war die Kenntnis der überregional konsensfähigen, orthodoxen Lehren zu essentiellen Fragen (v. a. in Gotteslehre, Sakramentenlehre, Moraltheologie) sowie vertieftes Methodenwissen zum Umgang mit Problemlösungen, daneben auch der Erwerb von Orientierungswissen über die heiligen Schriften und die sonstige christliche Überlieferung. Noch im 12. Jh. entstanden in diesem Zusammenhang neue Formen von Kommentaren sowie neue Formen theologischer Lehrwerke im engeren Sinne, zunächst Sentenzensammlungen, dann Kommentare zu diesen, schließlich Summen (vgl. Evans 2002; Colish 1994a; Hödl 1999). Kommentare und Summen wurden auch in den folgenden Jahrhunderten in steigender Zahl verfasst und erfuhren eine Reihe von unterschiedlichen Ausgestaltungen und thematischen Spezialisierungen. Mit den zunehmend intensiven Auseinandersetzungen mit arabisch-islamischer, jüdischer und zugrundeliegender antik-heidnischer Wissenschaft wuchs die christliche Theologie besonders seit dem 13. Jh. in einen transkulturellen Rahmen auf der Basis aristotelischer Wissenschaftstheorie hinein. Mit verschiedenen religiösen Reformbewegungen seit dem endenden 14. Jh. (Dove 2013) und mit humanistisch-kritischen Bemühungen um den Bibeltext (Hamilton 1996) wurden die etablierten Lehrgebäude und Textbestände dann wiederum hinterfragt. Die protestantischen und katholischen Reformen des konfessionellen Zeitalters brachten schließlich neue oder überarbeitete Lehrwerke für die universitäre Theologie hervor (Rummel 2000; Nieden 2006; Selderhuis/Wriedt 2006; Hauser/Watson 2009). Ebenfalls schon seit dem späten 12. Jh. kamen Lehrwerke zu Spezialthemen auf, wobei meist klare Bezüge zu gesellschaftlichen Problemen und Bedürfnissen bestehen. Im Zusammenspiel zwischen Papsttum und reformorientierten Gelehrtengruppen kam es seit dem letzten Drittel des 12. Jh.s zunächst v. a. an der Universität Paris zu einer verstärkten Hinwendung zur Seelsorge als Thema der Theologie. Entsprechende Bemühungen aus dem Kreis des Pariser Theologen Petrus Cantor wurden spätestens mit dem Vierten Laterankonzil 1215 normativ verankert und überregional eingefordert. Seit dem zweiten Drittel des 13. Jh.s traten die neuen Bettelorden, voran die Dominikaner und Franziskaner, in die Rolle von Vermittlern zwischen Universität und Seelsorge ein (Baldwin 1970; Oberste 2003, S. 103–207; Emery/Courtenay/Metzger
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2012). Spätestens mit dem endenden 14. Jh. und der Vermehrung von Universitäten und theologischen Fakultäten innerhalb Europas ist ein erneuter Schub theologischer Lehrwerke zu verzeichnen, die sich nun teils auf eine direktere Wissensvermittlung an das verstärkt lesekundige Laienpublikum richteten und auch Übersetzungen und Überarbeitungen gelehrter Texte in verschiedenen Volkssprachen umfassten. Diese Tendenz setzte sich in unterschiedlichen konfessionellen Ausprägungen auch nach der Reformation fort. Der Vollständigkeit halber seien schließlich spezialisierte theologische Werke erwähnt, an denen sich die religiöse und politische Rolle der Universitäten oft in aller Deutlichkeit zeigt, die hier jedoch nicht weiter thematisiert werden können: Neben häresiologischen Schriften (Sackville 2011) und interreligiöser Polemik (Vose 2009; Burman 2007) wäre etwa die theologisch ausgerichtete politische Theorie und Ekklesiologie zu nennen (vgl. z. B. Miethke 1982; Miethke 2008), die jeweils Bemühungen um Vereindeutigung und Abgrenzung in innerkirchlichen, interreligiösen oder politischen Auseinandersetzungen dokumentieren. In verschiedenen praxisorientierten Lehrwerken bestehen zudem enge Bezüge zwischen theologischer Lehre und kanonischem Recht. 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialiät, unterschiedliche Ausprägung Als Resultat und Hilfsmittel der Durchdringung und systematischen Erschließung des Bibeltextes und der vorhandenen patristischen und frühmittelalterlichen Kommentare entstand seit dem beginnenden 12. Jh. zunächst die sogenannte Glossa ordinaria. Bei diesem Glossenapparat handelte es sich um nichts anderes als die einschlägigen Aussagen der Kirchenväter zu bestimmten Büchern der Bibel, die um und nach 1100 (auf der Basis älterer, v. a. karolingerzeitlicher Bibelkommentare) systematisch gesammelt und ausgewertet wurden. Man stellte die wichtigsten Stellen nun im sog. glosatus-Format zwischen oder um den Haupttext herum, so dass Text und Erläuterung zu einer nur graphisch voneinander abgehobenen Einheit wurden (s. Abbildung; Smith 2009). Neben die Glossa ordinaria traten später teils noch weitere Sammlungen von Väterautoritäten, wie etwa die kontinuierlich zu lesende, einflussreiche Catena Aurea des Thomas von Aquin zu den Evangelien aus den 1260er-Jahren (Thomas de Aquino 1953; Courtenay 2013, S. 566; Torrell 2005, S. 136–138). Hauptsächliche Produkte der systematischen Erschließung und dialektischsprachlogischen Erörterung und Vereindeutigung der vorhandenen, widerstreitenden Autoritäten waren die ebenfalls seit ca. 1100 angefertigten Sentenzensammlungen (Colish 1994a). Sie stellten ‚Meinungen‘ oder ‚Urteile‘ der Kirchenväter entlang einer thematischen Ordnung zusammen, nahmen dabei aber deutlicher Stellung und mischten allmählich auch Sentenzen zeitgenössischer Lehrer und Schulen unter. Der Begriff der sententia blieb dann auch für Aussagen zeitgenössischer Gelehrter in Gebrauch (vgl. Evans 2002; Flueler 1994, S. 89–94). Bei den Sentenzensammlungen des
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Bibel (Liber Genesis) mit Glossa ordinaria, 13. Jh., Universitäts- und Landesbibliothek Münster, Hs 222, fol. 11v.
12. Jh.s kann es sich um anonym überlieferte, thematisch zusammengestellte Textreihen handeln, wie dies teils für die frühen, einflussreichen Sammlungen der Schule von Laon der Fall ist (Giraud 2010), oder um sorgfältig von einem Autor durchkomponierte und thematisch geordnete Lehrwerke. Letzteres ist der Fall bei den um 1160 entstandenen Vier Büchern Sentenzen des Petrus Lombardus, die sich in der Mitte des 13. Jh.s als Standard-Lehrwerk der Theologie an den theologischen Fakultäten von Pa-
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ris, Oxford und Cambridge durchsetzen sollten (Edition Petrus Lombardus 1971–81; Colish 1994b; Monagle 2013). Da die Sentenzen des Lombardus schließlich sogar von allen Bakkalaren der Theologie kommentiert werden mussten, entfalteten sie eine erhebliche Wirkung und wurden zur Grundlage weiterer Kommentare (Rosemann 2004; 2007). Entscheidender Unterschied zu bloßen Sammlungen vorhandener Auslegungen war die thematische Strukturierung, die den Unterricht mit seiner relativ zügigen Besprechung der wesentlichen Fragen der christlichen Lehre widerspiegelt. Die Vier Bücher Sentenzen des Lombardus gliedern sich nach einem teils systematischen, teils heilsgeschichtlichen Schema; sie sind nacheinander der Gotteslehre und Trinität, der Schöpfung (inklusive Engel, Menschen und Sündenfall), der Christologie sowie den Sakramenten und letzten Dingen gewidmet. Die Vielzahl der aus dem universitären Unterricht erwachsenden, auf sie aufbauenden Kommentare zeigt, dass innerhalb dieser Gliederung im Verlauf der weiteren Jahrhunderte ganz unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt wurden (vgl. hier nur Dreyer 2014; Zahnd 2011). Mit der intensivierten und immer genaueren gelehrten Beschäftigung mit den Heiligen Schriften seit der zweiten Hälfte des 12. Jh.s wurde auch die Bibel selbst verstärkt zum Lehr- und Nachschlagewerk. Sie wurde mit einer neuen Anordnung der Bücher und Einteilung in Kapitel versehen (einer Verszählung jedoch erst im 16. Jh.) und im 13. Jh. textkritisch durchgearbeitet (vgl. Light 1984; Linde 2012). Seit dem 13. Jh. wurde sie nicht nur oft als Pandekt (Vollbibel) in einem Band zusammengestellt, sondern teils in kleinem, handlichen Format hergestellt (Light 2013; allg. Poleg/Light 2013). Die Bedeutung einzelner Begriffe und die Bezüge zwischen Litteralsinn und weiteren Schriftsinnen wurden zunehmend durch Nachschlagewerke wie Distinctiones (Erklärungen verschiedener Bedeutungen einzelner Begriffe) und Bibelkonkordanzen zugänglich gemacht (Rouse/Rouse 1984; 1991a; 1991b). Einige Kommentare zur Bibel widmeten den spezifischen Termini, Ortsnamen und historischen Kontexten der biblischen Bücher besondere Aufmerksamkeit (Courtenay 2013, S. 563 f.). Tiefgreifende Veränderungen im Umgang mit dem Bibeltext ergaben sich dann im Zuge spätmittelalterlicher Frömmigkeitsbewegungen und humanistischer Bemühungen um einen verbesserten Bibeltext, die eine Vielzahl neuer Editionen und Übersetzungen der Bibel sowie Kommentare zu ihnen hervorbrachten (Lamberigts/ den Hollander 2006; François/den Hollander 2009; Rummel 2008). Die bereits in den Sentenzensammlungen zutage tretende Tendenz zu methodisch und inhaltlich kohärenten Darstellungen christlicher Lehre resultierte seit dem 12. Jh. auch in einer Vielzahl von Summen, also systematischen, nach Vollständigkeit strebenden Darstellungen bestimmter Themengebiete, die nicht die Vielfalt der Autoritäten, sondern eine vom Autor durchgearbeitete Perspektive auf diese darbieten (Colish 1994a; Hödl 1997). Während die Gattungen der Sentenzen und Summen bis um c. 1200 noch überlappen, entfernten sich Summenautoren des 13. Jh.s vom Format der thematischen Darbietung von Sentenzen und gliederten ihre Diskussion der Autoritäten stattdessen oft durchgehend in Quaestionen, also entlang systematisch disputierter Einzelfragen (Disputation), wie dies schon die Summa Aurea des
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Wilhelm von Auxerre zeigt (Wilhelm von Auxerre 1980–87). Innerhalb von Summenwerken zu den wichtigsten Themen der christlichen Lehre zeigen sich im Verlauf der Jahrhunderte jedoch unterschiedliche Akzentsetzungen und Ausprägungen. Die einflussreiche Summa theologiae des Thomas von Aquin bietet etwa eine Zusammenstellung der Gottes- und Schöpfungslehre sowie der Moraltheologie, in der die Autoritäten in Quaestionenform erörtert werden (Thomas von Aquin 2003; vgl. Speer 2005). Die Summa contra gentiles des Thomas verzichtet zum Zweck der Heidenmission dagegen auf patristische Autoritäten und bietet stattdessen eine in Kapitel gegliederte, geordnete Erörterung von Vernunftgründen für die christlichen Lehre. Besonders im Zuge der Rezeption antiker und arabischer Wissenschaftstheorie und der verstärkten Schulenbildung im 13. Jh. wurden häufig Selbstreflexionen zum Status der Theologie als Wissenschaft an den Beginn von Summen gesetzt, etwa in der Summa theologiae des Thomas von Aquin oder der Summa des Weltklerikers Heinrich von Gent (Henry of Ghent 2008). Die Gliederung in Quaestionen teilen Summen oft mit (entlang des Bibeltextes angeordneten) Kommentaren und Sentenzenkommentaren. Sowieso wurden neben Summen während des gesamten Mittelalters weiterhin Bibelkommentare angefertigt, die zunehmend umfangreicher wurden und sich an verschiedene Lehrformate und Funktionen anpassten (Courtenay 2013, S. 566–577). Für die entlang des Bibeltextes angeordnete Kommentierung entwickelte sich seit dem 13. Jh. auch die Bezeichnung als Postilla (angeblich nach den häufigen Wiederholungen von ‚post illa verba‘). Zum Standardkommentar zur Bibel, der in frühen Drucken mit der Glossa ordinaria verschmolzen wurde, entwickelte sich im Spätmittelalter die in Litteral- und Moralsinn gegliederte Postilla super totam bibliam des Nikolaus von Lyra von 1322–31 (Nicolaus de Lyra 1971). Neue umfassende Lehrwerke im Gefolge der Reformation führten vielfach humanistische Kritik an der scholastischen Theologie weiter (vgl. insgesamt Gordon/ MacLean 2012). Von Seiten der protestantischen Reformatoren wurde die im Lehrplan der theologischen Fakultäten verankerte Konzentration des Studiums auf die Sentenzen des Petrus Lombardus heftig kritisiert, die zunehmend zum Sprungbrett einer rein spekulativen Theologie geworden waren. Die frühen Reformatoren nahmen vor allem bibelhumanistische Tendenzen auf und entwickelten sie weiter (Opitz 2014; Rummel 2008). Bei den Lutheranern setzten sich relativ schnell Philipp Melanchtons Loci communes von 1521 als neues Lehrwerk für das Theologiestudium durch (Melanchton 1997; Nieden 2006, S. 69–80; Köpf 2012). Für die reformierte Konfession wurde Jean Calvins Institutio Christianae Religionis von 1536 maßgeblich (Pitkin 2009; Strohm/Freedman/Selderhuis 2006). Im Zuge der katholischen Reform wurde die standardmäßige Kommentierung der Sentenzen des Lombardus durch die Behandlung der Summa theologiae des Thomas von Aquin ersetzt. Für die katholische Gelehrsamkeit wurden in der Folge insbesondere die neuen Studienprogramme des Jesuitenordens bedeutend (Janse/Pitkin 2006; Gersh/Roest 2003). Neben der wissenschaftlichen Durchdringung der Textbestände lag ein wichtiger Bedingungsfaktor für die Entstehung neuer Lehrwerke im Wunsch nach Dar-
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bietung theologischen Wissens in pragmatischen Handreichungen. Seit der Frühzeit wurden daher Spezialsummen zu sehr spezifischen Themen verfasst, im Bereich der kirchlichen Verwaltung etwa zur liturgischen Praxis oder zur Pfründenvergabe. Der wesentliche Bereich theologischer Lehrwerke im engeren Sinne zielte jedoch auf die Bereitstellung von Handreichungen für die Vermittlung gelehrten Wissens über die christliche Lehre an Laien. Zwar gab es längst (zumeist vermittelt) an Laien gerichtete Werke, etwa den Lehrdialog des Elucidarium des Honorius Augustodunensis aus dem späten 11. Jh., der noch im 12. Jh. in die Volkssprache übersetzt worden war (Honorius Augustodunensis 1954). Doch entstanden seit dem letzten Drittel des 12. Jh.s mehrere spezifische Formen von Lehrwerken für die Ausbildung und den Gebrauch angehender Seelsorger, die man mit Leonard E. Boyle als ‚Pastoralia‘ bezeichnen kann (Goering 2010; Goering 2004). Wichtige Typen solcher Lehrwerke waren etwa Beicht- und Bußsummen (Summae confessorum, Summae poenitentiales, s. zu internen Unterschieden Boyle 1982). Nach ersten Experimenten im Umfeld der Pariser Universität um und kurz nach 1200 (Alanus ab Insulis 1965; Petrus Cantor 1954–67; Thomas of Chobham 1968; Robert of Flamborough 1971) gewannen sie nach den Beschlüssen des Vierten Laterankonzils 1215 sowie durch die Konzentration der neuen Bettelorden auf die Seelsorge an Bedeutung. Beicht- und Bußsummen fassten teils die kanonistischen Regelungen zur Buße systematisch zusammen wie die hauptsächlich rechtliche Summa poenitentiae des Dominikaners Raymond de Penafort (Raymond of Penafort 1976) oder boten dem als Beichtvater wirkenden Priester neben Rechtsgrundlagen moraltheologische Hintergrundinformationen zur Beurteilung individueller Sünde und praktische Empfehlungen für die Buße. Letzteres ist etwa in der einflussreichen Summa confessorum des ebenfalls dominikanischen Johannes von Freiburg von 1298 der Fall (Johannes Friburgensis 1476), der praktische Hinweise vor allem aus dominikanischer gelehrter Theologie zog (vgl. Boyle 1974/81). Teils entstanden Spezialwerke, die sich nur mit bestimmten, in der Pastoral relevanten Sonderthemen wie kirchlichen Ämtern oder dem Wucher beschäftigten (vgl. etwa Wilhelm von Auxerre 2007–13; Robert de Courson 1902). Daneben traten Handreichungen für die Vermittlung von Glaubensgrundlagen an Laien, etwa Erläuterungen zu den zehn Geboten, dem Vaterunser oder den sieben Todsünden (vgl. die Übersicht Boyle 1982, S. 231). Im 14. und vor allem im 15. Jh. wurde diese aus dem gelehrten Bereich an die Laienwelt vermittelnde Literatur stark ausgebaut. Das resultierende breite Textspektrum ist insgesamt als „Frömmigkeitstheologie“ bezeichnet worden (Hamm/Lentes 2001; Hamm 2011): Es entstanden neue Formen der Wissensvermittlung wie etwa die Traktate Jean Gersons (Hobbins 2009, S. 128–151), teils von vornherein in der Volkssprache. Ein weiterer, sehr heterogener Bereich bestand aus volkssprachlichen Übersetzungen und Adaptationen zumeist älterer theologischer Schriften (Gillespie 2007; Betteridge 2010; Corbellini 2013). Aus dem weiten Feld kirchlich-pastoraler Lehrwerke wären als weiterer, in sich stark differenzierter Bereich schließlich noch Texte zur Predigt abzuheben, die ebenfalls einen wesentlichen Transmissionsriemen gelehrten theologischen Wissens in die
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praktische Seelsorge und an das Ohr der Laien bilden (Universitätspredigten). Die Bandbreite von Lehrwerken reicht von moraltheologisch ausgerichteten Predigtsummen über stark von der Rhetorik beeinflusste Artes praedicandi zu einer Vielzahl von Materialsammlungen wie Musterpredigtsammlungen, Predigtzyklen (vgl. insgesamt Beriou 2000), Exempelsammlungen (Bremond/Le Goff/Schmitt 1982) sowie die als Nachschlagewerke verwendeten Distinctiones. Ähnlich wie bei den Beicht- und Bußsummen lässt sich ein erster Impetus zur Intensivierung der Predigt auf Reforminitiativen des Papsttums sowie Bemühungen Pariser Gelehrter des letzten Drittels des 12. Jh.s zurückführen (Beriou 1998). Seit der Mitte des 13. Jh.s wurden die Dominikaner und Franziskaner führend und legten eine Vielzahl von Predigt- und Exempelsammlungen sowie Predigtsummen vor (D’Avray 1985; Johnson 2012; vgl. etwa Bonaventura 1977; 1990; 1993; Étienne de Bourbon 1877; Iohannes Bromiardus 1586). Für die Predigt geeignetes Material wurde im Spätmittelalter zudem vielfach auch in die im Umfang stark anwachsenden Bibelkommentare integriert, die dadurch zu multifunktional nutzbaren ‚Allroundwerken‘ wurden (Courtenay 2013, S. 575 f.; Howard 2013). Mit Humanismus, Reformation und katholischer Reform erfuhr auch die Predigtliteratur jeweils Neuausrichtungen, die zumeist seit dem Spätmittelalter auftretende Tendenzen verstärkten (vgl. die Beiträge in Taylor 2001; Gersh/Roest 2003; McCullough/Adlington/Rhatigan 2011). 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Wenig überraschend galt die weitaus stärkste Aufmerksamkeit der Forschung zunächst dem Inhalt theologischer Lehrwerke und weniger der Entwicklung spezifischer Formen. Im Verlauf des 19. und 20. Jh.s wurden aus theologie- und dogmengeschichtlicher sowie aus philosophiehistorischer Sicht große Linien der Entwicklung der mittelalterlichen Theologie aus Lehrwerken erarbeitet. Ähnlich wie dies bei Kommentaren der Fall war, wurde besonders nach Innovativität gesucht, wobei konfessionelle bzw. weltanschauliche und nationale Perspektiven zu unterschiedlichen Schwerpunktbildungen führten, die man heute zumeist zu historisieren sucht (Colish 2000; Corbellini et al. 2013). Insbesondere etablierte sich eine sehr deutliche Trennung zwischen der Erforschung lateinischer, gelehrter Lehrwerke und derjenigen von (teils volkssprachlichen) Texten für einen breiteren Rezipientenkreis. Zudem entwickelten sich aufgrund disziplinärer und konfessioneller Perspektiven verschieden periodisierte Forschungsfelder auseinander. Prinzipiell wurde die mittelalterliche Theologie aus konfessionellen Gründen von neuzeitlicher, besonders reformatorischer Theologie abgesetzt. Die Erforschung der scholastischen Theologie wurde im Gefolge des Neothomismus seit dem 19. Jh. dann lange Zeit von katholischen Gelehrten dominiert, während protestantische Kirchen- und Disziplinhistoriker in ‚vorreformatorischen Forschungen‘ typischerweise bibelorientierte Theologie des Spätmittelalters oder humanistische Scholastikkritik als Grundlagen der Reformation ins Auge fassten. Insbesondere Humanismus und Renaissance entwickelten sich
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jedoch bald zu interdisziplinären und weltanschaulich heterogenen Forschungsfeldern. Ähnliches vollzog sich in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s für den Verwissenschaftlichungsprozess der Frühscholastik im 12. Jh., der für verschiedene Varianten von Modernisierungs- und Säkularisierungserzählungen reklamiert wurde. Insgesamt wurden im Verlauf des 19. und 20. Jh.s grundlegende Prozesse der Bestandsaufnahme und Erschließung der betroffenen Gattungen begonnen und weit vorangetrieben (Stegmüller 1949–80; Schneyer 1969–90; Hödl/Knoch 2001; Schönberger et al. 2011). Gerade für das Spätmittelalter darf die Erschließung theologischer Lehrwerke jedoch keineswegs als abgeschlossen gelten. In Forschungen seit den 1970er-Jahren wurde dann verstärkt nach der Typologie einzelner Gattungen (vgl. z. B. Bultot 1981; Hamesse 1994) und deren internen Veränderungen gefragt (s. mit Verweisen Dreyer 2014; Courtenay 2013). Vor allem die Erforschung der Zusammenhänge zwischen der Institutionalisierung der Lehre an den Universitäten und der gelehrten Textproduktion erwies sich als weiterführend: Einerseits wurde das Verhältnis überlieferter Textgattungen zu mündlichen Praktiken des Lehrens problematisiert und genauer erforscht (Miethke 1990; Courtenay 1994; Michael 2006). Dabei geriet in den Blick, dass sich weniger die Lehr- als die Publikationsgewohnheiten auf Zahlen und Umfang bestimmter Typen von Lehrwerken auswirkten, da auf die Publikation von Lehrmaterialien offenbar teils auch verzichtet wurde. Es wurde etwa fraglich, ob die Magister der Bettelorden tatsächlich produktivere gelehrte Autoren waren, wie lange Zeit angenommen, oder ob sie nur die schriftlichen Produkte ihrer Lehrtätigkeit öfter an die Öffentlichkeit brachten (Courtenay 1994; Courtenay 2013, S. 568 f.; Schabel 2010). Forschungen zur Produktion und Hochzeit bestimmter Typen theologischer Werke werden derzeit weiterhin unternommen. Seit Beginn des 21. Jh.s gerät immer deutlicher in den Blick, dass die aus älteren, zumeist konfessionellen Paradigmen stammenden Entwicklungsmodelle und Zäsuren in der Geschichte der Theologie zu einer starken Zersplitterung des Forschungsfelds geführt haben und oftmals Zusammenhänge und Kontinuitäten verschleiern. Die lange Zeit dominierenden Annahmen einer grundsätzlichen Verschiedenheit und Diskontinuität zwischen der gelehrten Produktion der Scholastik und des Humanismus sind genauso in die Kritik geraten wie die Annahme eines tiefen Bruchs und Neubeginns mit der Reformation (Hamm 2012; Walsham 2008; 2014) und schließlich die getrennte Erforschung volkssprachlicher und lateinischer, didaktisch-laikal orientierter und gelehrter Textproduktion (Corbellini et al. 2013), die großenteils auf die Trennung von Theologie- bzw. Philosophiegeschichte, Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaften zurückzuführen ist. Ein Aufbau neuer, übergreifender Perspektiven vollzieht sich derzeit in Arbeiten, die gezielt nach Zusammenhängen zwischen diesen Bereichen fragen und so dynamische Wechselwirkungen intellektueller, institutioneller und umgebender sozioökonomischer Prozesse besser erfassen. Dabei erweist sich die räumliche und soziale Verortung gelehrter Wissensvermittlung und die Aufnahme bestimmter intellektueller Strömungen in spezifischen Netzwerken als Ansatzpunkt, wie dies etwa Forschungen
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zu Diffusion und Aneignung des Humanismus zeigen (Schuh 2013; Helmrath 2002). Weiterhin findet angesichts einer rapide wachsenden Zahl digital zugänglicher Handschriften und Frühdrucke die Materialität der Wissensvermittlung neues Interesse. Nicht nur buchgeschichtliche (z. B. Hamel 1984; Colli 2002; Soetermeer 2002) sondern auch gelehrten- und wissensgeschichtliche Forschungen haben etwa Techniken der Glossierung und Annotation erforscht (Burnett 1998; Blair 2004; Schuh 2013, S. 173–203) oder textuelle Arrangements und Layout in gelehrten Texten in den Vordergrund gestellt (Smith 2001; Meier 2010; Angotti 2010; Wimmer 2012). Doch sind auf diesem Forschungsfeld noch viele Fragen offen, nicht zuletzt auch zu unterliegenden ökonomischen Faktoren wie der Nutzung von Papier im gelehrten Bereich (Meyer/Schulz/Schneidmüller 2015). Weitere produktive Verknüpfungen ehemals getrennter Forschungsfelder könnten wohl entstehen, wenn ‚interdisziplinären‘ Verschränkungen in Lehrwerken genauer nachgegangen würde. Neu entstehende gesellschaftliche Anwendungsfelder brachten etwa häufig Wissen hervor, das typische Lehrinhalte der theologischen Fakultät mit Kompetenzen anderer Fakultäten kombinierte. So steht etwa die Erforschung mittelalterlicher Predigten, ein in sich relativ geschlossenes Forschungsfeld mit eigenen Publikationsorganen, an einem hochinteressanten Schnittpunkt der Fächer Theologie und Rhetorik und kann zahlreiche kulturelle Umbrüche illustrieren. Auch die Erforschung der eingangs kurz genannten Gattungen wie Häresiologie, Polemik oder politische Theorie, die jeweils gelehrte Inhalte zu Zwecken der politischen und religiösen Identitätsstiftung adaptierten, sind nur in Teilen oder für bestimmte Perioden wie die Zeit der großen Konzilien in ihren jeweiligen Bezügen zu Theologie und anderen Disziplinen erforscht und laden insofern zu Neuperspektivierungen ein. Von hohem Interesse wäre schließlich auch eine Erforschung theologischer Lehrwerke vor einem transkulturellen Horizont, da zu den Bezügen jüdischer, christlicher und islamischer Lehrtraditionen in der Theologie viel weniger gearbeitet worden ist als in der Philosophie (vgl. z. B. McAuliffe/Walfish/Goering 2010). 4. Bibliographie 4.1 Quellen Alanus ab Insulis (1965), Liber poenitentialis, hrsg. v. Jean Longère, 2 Bde., Lille. Bonaventura (1970), Sermones dominicales, hrsg. v. Jacques Guy Bougerol, Grottaferrata. Bonaventura (1990), Sermones de tempore, hrsg. v. Jacques Guy Bougerol, Paris. Bonaventura (1993), Sermones de diversis, hrsg. v. Jacques Guy Bougerol, 2 Bde., Paris. Heinrich von Gent (2008), Summa of Ordinary Questions, Article One: On the Possibility of Knowing, hrsg. u. übers. v. Roland J. Teske, South Bend, Ind. Honorius Augustodunensis (1954), Elucidarium, hrsg. v. Yves Lefèvre, in: L’Elucidarium et les Lucidaires (Bibliothèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome, 180), Paris, S. 359–521. Iohannes Bromiardus (1586), Summa Praedicantium, Venedig: Nicolinus.
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Studienführer Marcel Bubert / Jan-Hendryk de Boer
Begriffserklärung Bei Studienführern handelt es sich um formal unterschiedliche Texte, die künftige Studenten und Anfänger in die Kommunikationstechniken und wissenschaftlichen Inhalte wie auch in das von ihnen an den Universitäten erwartete Verhalten einführen sollen. Sind diese Texte im 13. Jh. eng auf die institutionellen Gegebenheiten vor allem der Pariser Artesfakultät bezogen, verschwimmt im 15. und 16. Jh. die Grenze zwischen Studienführern für Artesstudenten und Gesprächsbüchern, die für Schüler an Lateinschulen entstanden sind. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Die ersten Studienführer wurden in der ersten Hälfte des 13. Jh.s verfasst. Mit dem Entstehen der Universitäten waren Schriften notwendig geworden, die einer grundlegenden Orientierung der Scholaren dienten, sowohl hinsichtlich der Studieninhalte als auch des ‚richtigen Verhaltens‘ im universitären Alltag (allgemein: Haskins 1929). Während der formativen Phase der Artistenfakultät der Universität Paris entstanden daher seit ca. 1230 eine ganze Reihe solcher Texte, die unterschiedlich ausgerichtet sein konnten, aber das gemeinsame Ziel einer entsprechenden Orientierung und Systematisierung verfolgten. Die spezifischen und turbulenten Entwicklungen in Paris während des 13. Jh.s scheinen der Produktion von Studienführern förderlich gewesen zu sein, denn offensichtlich entsprangen sie dem Bedürfnis der Artesmagister, die Verhältnisse ihrer Fakultät eigenständig zu ordnen. Jedenfalls handelt es sich bei den Studienführern um ein Phänomen, das im 13. Jh. in erster Linie mit der Universität Paris, und hier mit der Fakultät der Artisten, verbunden war. Zwar sind Beispiele aus Italien bekannt – etwa der an Juristen gerichtete Studienführer De regimine et modo studendi des Martino da Fano (Martino da Fano 1921; Girgensohn 1997, S. 526 f.) –, aber die Mehrzahl der bekannten Texte stammt aus Paris. Zielpublikum der Pariser Studienführer – die auch Grundlage einer Vorlesung sein konnten – waren zunächst Studenten, aber ebenfalls die Lehrenden der Artesfakultät. Für Letztere hält die Schrift De disciplina scolarium des Pseudo-Boethius von ca. 1240 wichtige Hinweise bereit, etwa zum rechten Verhalten des Magisters oder zur
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Lehrtätigkeit in einem fremden Land (Pseudo-Boethius 1976). Darüber hinaus waren die Studienführer jedoch auch insofern ein zentrales Kommunikationsmedium zwischen den Artesmagistern, als hier in vielen Fällen eine Systematik der Philosophie entworfen wurde, die von anderen aufgegriffen und angeeignet werden konnte. Zahlreiche intertextuelle Verflechtungen zwischen den einzelnen Schriften belegen die intensive Rezeption dieser Texte unter den Artisten. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass Studienführer sehr verschiedene Funktionen für die Scholaren und Magister erfüllten. Dieser Pluralität entspricht eine Heterogenität der Texte, was eine klare Definition der Kategorie ‚Studienführer‘ erschwert. Da weder in den Quellen noch in der Forschung eine einheitliche Bestimmung begegnet, erscheint es ratsam, die hauptsächlichen Funktionen dieser Schriften zum Ausgangspunkt zu nehmen, um den Rahmen der hier zu berücksichtigenden Quellen abzustecken. Drei primäre Funktionen sind für das 13. Jh. zu nennen: 1. Moralische Orientierung und allgemeine Verhaltensregeln, 2. Übersicht der zu lernenden Unterrichtsinhalte, 3. Systematisierung des Gebiets der Philosophie oder eines Teilbereichs des philosophischen Wissensbestands. Für die bekannten Studienführer ist meist eine dieser Funktionen zentral, wenngleich sie je nach Rezeptionskontext auch andere erfüllen konnten: So dient das Morale scolarium des Johannes de Garlandia von 1241 ausschließlich der moralischen Orientierung der Studenten (Johannes de Garlandia 1927), ebenso wie sich Pseudo-Boethius vor allem auf Verhaltensregeln für Scholaren und Magister beschränkt. Der Studienführer De communibus artium liberalium (ca. 1250), der das konkrete Ziel der Vorbereitung auf das Examen in den Artes verfolgt, beinhaltet Angaben zu prüfungsrelevanten Inhalten, verzichtet aber sowohl auf moralische Vorschriften als auch auf eine systematische Einteilung der Philosophie (De communibus artium liberalium 1994). Schriften der dritten Kategorie hingegen erheben einen solchen systematischen Anspruch, ohne dabei gezielt der Prüfungsvorbereitung zu dienen. Texte mit dieser Funktion, also einer Systematik der Philosophie, gehen in mancher Hinsicht über Studienführer im engeren Sinne hinaus und stellen breiter disponierte ‚Einführungen in die Philosophie‘ dar, die in der Tradition der philosophischen Einleitungsliteratur stehen (Imbach 1996; Baur 1903; Weisheipl 1965) und strukturale Analogien zu den Wissenschaftsklassifikationen des 12. Jh.s aufweisen, von denen sie teilweise abhängen. Da sie jedoch der Orientierung von Studenten und Magistern über die von ihnen verwalteten bzw. beanspruchten Wissensbestände dienen und zudem zwangsläufig auch über Studieninhalte informieren (oder zu diesem Zweck gelesen werden konnten), erfüllen sie aus textpragmatischer Perspektive die Funktion von ‚Studienführern‘. Vor dem Hintergrund der Ausbreitung humanistischer Vorstellungen erlebten Studienführer seit dem Ende des 15. Jh.s im Heiligen Römischen Reich eine neue Konjunktur. Im Vergleich zu den oben beschriebenen Pariser Texten weisen sie eine andere kommunikative Ausrichtung und Funktion auf. Gerichtet waren sie an Schüler oder angehende Studenten, die in der lateinischen Konversation angeleitet werden sollten. Dementsprechend bevorzugte man die Dialogform, um den jungen Rezipienten lebensnah Fertigkeiten und Wissensbestände zu vermitteln. Insofern sich diese
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Texte vorrangig an Schüler richteten, griffen sie schulspezifische Themen auf (Cordier 1568), insofern sie Studenten adressierten, behandelten sie die Gepflogenheiten des universitären Lebens. Zumeist in Dialogform aufgebaut, modellieren sie häufig die Begegnung zweier Schüler, eines Schülers und eines Lehrers, zweier Studenten, eines erfahrenen und eines Grünschnabels (beanus), oder eines Magisters und eines jungen Studenten. In den beiden letztgenannten Fällen begehrt der Student von jenem zu wissen, was es mit dem universitären Studium auf sich habe. Der beanus repräsentierte das Zielpublikum der Publikation, Schüler, die eine Lateinschule besucht hatten und nun entweder beabsichtigten, ein Studium aufzunehmen, oder bereits als Anfänger an den universitären Artesfakultäten ihren Weg zu finden suchten. Das wohl bekannteste Exemplar dieser spätmittelalterlichen Studienführer ist das in den 1480er-Jahren in Heidelberg entstandene, im folgenden Abschnitt ausführlicher zu besprechende Manuale scholarium (Zarncke 1857, S. 3–48; Ritter 1923). Wie die Forschung zeigen konnte, orientiert sich dieser Studienführer an dem Latinum ydeoma pro novellis studentibus des Leipziger Magisters und Lehrers an der Chemnitzer Lateinschule Paulus Niavis (Niavis 1970/71; s. Worstbrock 1992). Der unbekannte Bearbeiter adaptierte seine Vorlage für junge Heidelberger Studenten. An dieser Übernahme wird ersichtlich, dass zwischen universitären Studienführern und für Lateinschüler verfassten Gesprächsbüchern keine strenge Differenz besteht; hinzu kommt, dass das universitäre Studium den Fluchtpunkt vieler primär auf die Lateinschule bezogener Gesprächsbücher bildete, indem der Wunsch der Schüler thematisiert wurde, an einer Universität zu studieren. Das Ziel des humanistischen Vorstellungen gegenüber aufgeschlossenen Paulus Niavis war es in seinem Studienführer ebenso wie in seinen für Schüler verfassten Gesprächsbüchern (Niavis 2013) lebensnahe und praktisch umsetzbare Anleitungen zur lateinischen Konversation zu geben. Nachdem die Schüler und Studenten über hinreichende Vokabel- und Grammatikkenntnisse verfügten, konnten sie derartigen Gesprächsbüchern Formeln entnehmen, wie sie sich in verschiedenen Situationen adäquat in der Gelehrtensprache Latein unterhalten konnten. Das Memorieren der in den Lehrbüchern gegebenen Redeweisen war der erste Schritt auf dem Weg zur lateinischen Beredsamkeit, die sich an der Schule, der Universität und im Alltagsleben in der Stegreifrede bewähren sollte. Typisch sind die von Paulus Niavis ersonnenen Dialoge auch darin, dass sie nicht nur Sprachkompetenz, sondern auch weitergehende Informationen zum Schul- bzw. Universitätsalltag vermitteln. Schließlich propagiert das Latinum ydeoma pro novellis studentibus, aber auch mehrere der ebenfalls Latinum ydeoma benannten Schülerdialoge humanistische Bildungsideale, verbunden mit einer prononcierten Kritik an scholastischen Gepflogenheiten. Die Rezipienten werden über das Erlernen eines für die Konversation geeigneten Latein also in einen institutionsadäquaten Habitus eingeführt und zu einem Akteur in der humanistischen Gelehrtenwelt erzogen. Im Gefolge der Schriften des Paulus Niavis entstanden im Reich zahlreiche weitere humanistischen Idealen verpflichtete Gesprächsbücher bzw. Studienführer. Das Ziel, zur souveränen lateinischen Konversation in ganz verschiedenen Kontexten zu erziehen, teilten derartige Werke mit anderen von den Humanisten bevorzugten
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Textsorten wie Brieflehren (Brief), Grammatiken, Lehrbüchern der Beredsamkeit oder Schulkomödien (Literatur). Viele der um 1500 entstandenen Gesprächsbücher richteten sich vorrangig an Schüler (insofern könnte man von Schulführern sprechen), doch auch angehenden Studenten wurde hier anschaulich vermittelt, über welche sprachlichen Fertigkeiten man verfügen sollte, wenn man ein Universitätsstudium aufzunehmen gedachte. Aus der humanistischen Überzeugung heraus, dass die praktische Übung für den Erwerb guter Lateinkenntnisse unerlässlich sei, werden in den zumeist kurzen Dialogen typische Situationen des Schullebens behandelt, von der Aufnahme über das Frühstück, Krankheit und kurzfristige Heimreise bis hin zum Aufbruch an die Universität nach dem erfolgreichen Schulbesuch. Anlassspezifisch werden die notwendigen Sätze vermittelt, die es ermöglichen sollen, kommunikative Herausforderungen im Alltag zu bewältigen. So kann der angehende Student etwa mit Gruß- und Abschiedsformeln für die Universitätsgelehrten, Floskeln, mit denen um einen Eintrag in die Matrikel ersucht wird, oder Wendungen für das Überreichen von Geschenken versorgt werden. Mit 49 Ausgaben sehr erfolgreich war der Gattungsbeitrag des Laurentius Corvinus (Corvinus 1506; Bömer 1897, S. 61–66). Das Latinum ydeoma des Celtisschülers spielte verschiedene Alltagssituationen in der Form von Dialogen zwischen Lehrern und Schülern durch. Die Gespräche bauen teilweise aufeinander auf: Im ersten wird geschildert, wie ein Schüler einem anderen gegenüber behauptet, der Rektor habe ihnen freigegeben. Die unerwartete freie Zeit wird mit einem Kugelspiel verbracht, das allerdings im Streit endet. Im zweiten Gespräch wird die Auseinandersetzung dem Baccalaureus vorgelegt. Im dritten bitten zwei Schüler, die alle Kugeln verspielt haben, heimgehen zu dürfen. Eine neue Szene bietet das vierte Gespräch: Ein Schüler soll einen säumigen Mitschüler zum Rektor rufen. Das nächste Gespräch will wichtige lateinische Floskeln für den Einkauf auf dem Markt vermitteln. Zurück in die Schulräume führt das sechste Gespräch, in welchem der Baccalaureus dem Diebstahl eines Buches nachgeht. Darauf ist ein Kantor zu erleben, der mit den Schülern neue Antiphonen und Responsorien übt. Im abschließenden Gespräch zeigt ein Schüler einem anderen den Garten der Familie. Erkennbar ist der (praktisch kaum umsetzbare) Wunsch des Corvinus, die lateinische Konversation nicht auf den Schulraum zu beschränken, sondern sie in alle Lebenslagen einzuführen. Ergänzend sind zwei knappe Musterreden angeführt, die illustrieren, wie ein Schüler um Aufnahme an der Schule und Abschied von ihr bitten kann. Fluchtpunkt des Unterrichts an der Lateinschule ist auch hier das Universitätsstudium: Die zweite der Reden ist aus der Perspektive eines Schülers geschrieben, der ein Studium an der Universität Krakau aufnehmen will – der Hochschule, die auch der Autor besucht hatte (Corvinus 1506, fol. b6r). Das neben den weiter unten zu behandelnden erasmischen Colloquia wohl umfangreichste im Heiligen Römischen Reich im 16. Jh. entstandene Gesprächsbuch sind die Confabulationes des Hermann Schottenius, der in Köln als Lehrer wirkte (Schottenius 2007; Macardle 2007). In 123 kleinen Gesprächen werden alle erdenklichen Begebenheiten im Leben eines Lateinschülers dialogisch entfaltet. Stärker noch als seine Vorgänger richtet Schottenius seine Aufmerksamkeit auf alltägliche Verrich-
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tungen wie das Schlafengehen, das Aufstehen, das Frühstücken, das Spielen oder das Schwänzen des Unterrichts. Daneben behandeln zahlreiche Dialoge die Schwierigkeiten, welche den Knaben die lateinische Sprache bereitet. Manches, was Schottenius vermittelte, dürfte vorrangig für Lateinschüler von Interesse gewesen sein, andere Punkte, etwa wie man richtig lernte oder wie man Briefe verfasste, war auch für Studenten an den Universitäten von Belang (Schottenius 2007, S. 76–81; 204–207). Immer wieder scheint die Universität schließlich als Ort auf, an dem die Schüler, den nötigen Eifer vorausgesetzt, dereinst höheres Wissen erwerben können. So möchte ein Schüler eine Burse besuchen und wird von einem Kameraden bei dieser Gelegenheit belehrt, was das Wort bursa bedeute (Schottenius 2007, S. 176–179). An den sehr erfolgreichen Colloquia familiaria des Erasmus von Rotterdam lässt sich in der literarischen Gestaltung wie in der Aussageabsicht die allmähliche Emanzipation von den Zwängen der Gattung des humanistischen Gesprächsbuchs beobachten (Erasmus 1972; Bierlaire 1978). In der noch sehr schlanken ersten, 1518 bei Froben in Basel erschienenen Fassung ist diese Tradition deutlich präsent: Der Dialog zwischen Augustinus und Christianus ist sehr knapp gehalten; durchgespielt werden alltägliche Kommunikationssituationen wie Begrüßung, das Erkundigen nach dem Wohlbefinden und den Plänen des Gesprächspartners, der Gruß an Freunde, das gemeinsame Mahl sowie die Verabschiedung. Integriert sind Elemente typischer humanistischer Gelehrtenkonversation wie die Mahnung, beständig zu studieren, der Austausch von Briefen – und sich über die Borniertheit scholastischer Theologen zu beklagen. Ziel ist stets, den korrekten Gebrauch der verschiedenen dargebotenen einschlägigen Formeln zu exemplifizieren, daneben werden zahlreiche elementare Informationen über antike Autoren oder die Mythologie geliefert. Mitunter werden weiterführende stilistische und grammatische Erklärungen eingeschaltet (Erasmus 1972, S. 27–61). Das ohne das Wissen des Autors herausgegebene Buch erwies sich rasch als großer Erfolg – und Erasmus erkannte den Wert der Gesprächsform über die sprachliche Unterweisung hinaus. Die weiteren vierzehn Ausgaben boten Anlass zu erheblichen Überarbeitungen und vor allem zur beständigen Aufnahme neuer Gespräche, bis die letzte von Erasmus selbst verantwortete Fassung von 1533 mit 48 Dialogen ein Panorama des erasmischen Denkens bot (Worstbrock et al. 2008, Sp. 723–727). Unter den vielen Humanisten, die sich von den Colloquia anregen ließen, kommt Juan Luis Vives mit seiner 1538 erschienenen Linguae latinae exercitatio ein besonderer Rang zu, da sie nicht nur gestalterisch und sprachlich dem großen Vorbild nahekam, sondern wie diese auch europaweit ein großer publizistischer Erfolg war (Vives 1553). In der zweiten Hälfte des 16. Jh.s erschienen nicht weniger als 49 Ausgaben; kontinuierlich gedruckt wurde die in Schulen wie Universitäten als Lateinlehrbuch verwendete Schrift bis ins 18. Jh. Von den humanistisch geprägten Studienführern, die Anfänger in die Beherrschung des Lateins als der Gelehrtensprache und das Studium der Artes einführen sollten, sind jene zu unterscheiden, die das Studium an den höheren Fakultäten behandelten. Relativ kontinuierlich entstanden juristische Studienführer im Anschluss an das erwähnte Werk des Martino da Fano. Die Juristen Simone da Borsano und
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Francesco Zabarella hatten in der Art eines Studienführers gehaltene Erwartungen an Doktoren und Studenten, an universitäre Lehre und studentisches Lernen in ihre Kommentare integriert; Ersterer hatte sie an den Anfang seines Kommentars zu den Clementinen, Letzterer ans Ende seines Dekretalenkommentars gestellt (Maffei 1972; Zabarella 1989; Girgensohn 1997, S. 529–540). Große Ähnlichkeiten zu Zabarellas Ausführungen weist der Studienführer des in Salamanca lehrenden Juan Alfonso de Benavente auf (Girgensohn 1997, S. 544–546). Mit mehr als 30 Ausgaben, häufig im Anhang eines Rechtswörterbuchs, des Vocabularius utriusque iuris, war der juristische Studienführer des in Siena lehrenden Giovanni Battista Caccialupi besonders verbreitet (Caccialupi 1493; Girgensohn 1997, S. 546–548). Der humanistisch gebildete Caccialupi legte großen Wert auf die richtige Einstellung, die ein Student entwickeln müsse: Diese schloss einen moralisch einwandfreien Lebenswandel ebenso ein wie Respekt gegenüber den Doktoren und Magistern, deren Autorität unbedingt anzuerkennen sei (Caccialupi 1493, fol. 2r–v). Auch der in Padua lehrende Gian Giacomo Can stellte in seiner erstmals 1476 erschienenen Schrift De modo in iure studendi heraus, dass jeder, der Rechtsgelehrter werden wolle, zunächst einmal Schüler sein müsse, um deren Art kennenzulernen (Can 1488, fol. a2v). Wer römisches oder kanonisches Recht studieren wolle, müsse Körper und Geist entsprechend disponieren. Unverzichtbar, so Can, sei es, sich vom sinnlichen Verlangen zu befreien, außerdem müsse der Student in Gestalt sehr guter Latein- und elementarer Griechischkenntnisse die sprachlichen Voraussetzungen erwerben, um ein Rechtsstudium absolvieren zu können (Can 1488, fol. a4r–b1r). Unter der Anleitung seines Lehrers solle, so führt Caccialupi aus, der Student mit Sorgfalt studieren, dabei dürfe er nicht zu viele Bücher zugleich lesen oder alles nur kursorisch behandeln, da dies den Geist verwirre. Der Autor belässt es nicht bei diesen allgemeinen Richtlinien, sondern gibt darauf eine detaillierte Zusammenstellung von Texten, welche der angehende Rechtsgelehrte kennen sollte. Im Unterschied zu vielen anderen Studienführern arrangiert Caccialupi seinen Kanon literaturgeschichtlich: Die Rechtswissenschaft wird hier genealogisch als intertextuell dicht gewobenes System von Autoren und ihren Schriften entfaltet (Caccialupi 1493, fol. 3r–4r). Im Anschluss wird ein idealer Studienverlauf entworfen, der mit schweigendem Zuhören beginnt und den Studenten sukzessive zu einer aktiven Teilnahme an Disputationen führt, in der sich auszuzeichnen als besonderer Beweis geistiger Begabung betrachtet wird (Caccialupi 1493, fol. 5r). Das von Can entworfene Studienprogramm ist sogar noch detaillierter gestaltet als das seines Sienenser Kollegen (Can 1488, fol. b7r–c2r). Den Abschluss der kleinen Schrift Caccialupis bildet eine Einführung in den Codex Iustinianus, der gleichermaßen von seiner Entstehungsgeschichte wie vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Auslegungstradition her behandelt wird. Can hingegen rühmt abschließend die Rechtswissenschaft als Disziplin, die dem Gemeinwesen in besonderer Weise von Nutzen sei (Can 1488, fol. c4v–c5r). Nur noch eine ferne Ähnlichkeit zu den universitären Studienführern weist der 1588 erschienene volkssprachliche Dialog Lo scolare des Franziskaners Bartolomeo Meduna auf, der unter humanistischen Vorzeichen die Eigenschaften des idealen
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Gelehrten bestimmen will (Meduna 1588). Bei Meduna wird ein dreitätiger Dialog dreier Gelehrter geschildert, die sich 1575 in Siena begegnen. Alle hatten früher in Padua gelehrt. Es wird ein holistisches Gelehrtenbild entworfen: Behandelt werden ebenso die Herkunft und Geburt des Gelehrten, dessen Körper, Übungen, um die Gesundheit zu erhalten, Trank und Speise, Wachen, Schlafen und Träumen wie jene Disziplinen, in welchen der Gelehrte bewandert sein müsse. Dabei werden neben Dialektik, Rhetorik, Poesie, Musik, Arithmetik, Optik, Malkunst, Geographie, Architektur, Kunst und Astrologie auch jene erwähnt, die zweifelhaft oder schädlich sind, wie die Geomantie, Magie und Alchemie. Um ertragreich zu studieren, müsse man über die nötige finanzielle Unabhängigkeit verfügen. Frauen dürfe man durchaus den Zugang zum Studierzimmer gewähren, allerdings entspreche dieses nicht deren natürlicher Veranlagung. Zum Verhaltensregime, das dem Gelehrten auferlegt wird, gehört auch eine angemessene Gesprächsführung, ein tugendsames Leben und das Pflegen freundschaftlicher Kontakte zu anderen Gelehrten. Vorbildlich für Medunas Dialog waren weniger die humanistischen Gesprächsbücher oder gar die universitären Studienführer, sondern vielmehr humanistische Dialoge und insbesondere der Cortegiano des Baldassare Castiglione, in welchem dialogisch der ideale Hofmann entworfen wird. Gleichwohl teilt Medunas Text eine Aussageintention mit den Pariser Studienführern des 13. Jh.s sowie mit einigen der humanistischen Gesprächsbücher: Es wird ein Gelehrtenideal entworfen, das gleichermaßen über zu erwerbende Wissensbestände wie habituelle Dispositionen bestimmt ist. Wie die Pariser Studienführer Ausdruck eines neuen artistischen Selbstbewusstseins waren, so verkörpert Medunas Schrift ähnlich wie eine vergleichbare Abhandlung Orazio Lombardellis das Selbstbewusstsein der humanistischen Gelehrten, die sich allerdings nicht mehr auf die Zugehörigkeit zur Institution Universität bezogen, sondern ihr Selbst als Teil einer Gelehrtengemeinschaft entwarfen (Davies 2013). Wenn Cesare Crispolti dagegen eine nach humanistischen Maßstäben ausgerichtete Lebenspraxis ausdrücklich im institutionellen Gefüge der Universität beheimatet sein lässt (Patrizi 2005), erinnert dies an die Pariser Studienführer des 13. Jh.s: Die Universität ist der vorzüglichste Ort gelehrten Lebens, das gemäß einer Ästhetik gelehrter Existenz ausgerichtet werden soll. 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Ihren verschiedenen Funktionen entsprechend begegnen Studienführer in unterschiedlichen Formen mit jeweils eigenem Aufbau. Dieser Aufbau kann, wie im Falle der philosophischen Systematiken, stark konventionell sein, oder aber eine relative Formlosigkeit aufweisen, wie dies bei moralischen Anweisungen die Regel ist. So zeichnen sich die ‚Einführungen in die Philosophie‘ des 13. Jh.s durch eine weitgehend einheitliche Anlage aus: Zu Beginn steht ein Prolog, der eine Apologie der Philosophie formuliert, indem er Gründe für deren Studium angibt. Darauf folgt
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eine Definition der Philosophie, wobei oft mehrere Definitionen aneinandergereiht werden, welche die Philosophie oder mit ihr verbundene Begriffe wie scientia und ars betreffen. An dritter Stelle steht eine Einteilung der Philosophie, die die Gesamtheit des philosophischen Wissens klassifiziert, bevor schließlich eine ausführliche Darstellung der einzelnen Disziplinen erfolgt (Lafleur 1994). Die anonyme Schrift Philosophica disciplina von ca. 1245 oder die Philosophia des Olivier le Breton (zwischen 1250 und 1270) können als typische Beispiele solcher Studienführer gelten (Philosophica disciplina 1988; Olivier le Breton 1997). Nachdem die Autoren in ihren Prologen Gründe für das philosophische Studium liefern und anschließend jeweils mehrere Definitionen der Philosophie anführen, kommen sie zur systematischen Einteilung der Philosophie. Diese wird in beiden Schriften zunächst von den artes mechanicae unterschieden und daraufhin in practica und speculativa unterteilt. Während Olivier Erstere in monastica, yconomica und politica gliedert, besteht die spekulative Philosophie aus Mathematik, Naturphilosophie und Metaphysik sowie dem sprachlichen Trivium (scientia de signis). Alle diese Bereiche werden danach im Einzelnen behandelt, d. h. definiert und teilweise mit Bezug auf konkrete Textbücher näher ausgeführt. Die Klassifikation der Philosophie kann in den verschiedenen Schriften durchaus variieren, je nachdem welches Schema der Einteilung zugrunde liegt. Auch kommt es vor, dass einzelne Abschnitte fehlen (etwa die Definition in der Philosophia des Nikolaus von Paris). Doch die grundsätzliche Disposition, wie sie hier skizziert wurde, ist ein gemeinsames Merkmal der philosophischen Einführungen. Dazu zählen etwa die Divisio scientiarum des Arnulf von der Provence, die anonymen Schriften Dicit Aristotiles, Felix nimium und Ut testatur Aristotiles, die Philosophia des Aubry von Reims oder die Divisio scientiae des Johannes von Dacien, die alle zwischen 1250 und 1280 in Paris entstanden (Arnulf von der Provence 1988; Dicit Aristotiles 1995; Felix nimium 1995; Ut testatur Aristotiles 1992; Aubry von Reims 1984; Johannes von Dacien 1955). Nicht streng diesem Aufbau verpflichtet sind hingegen jene Studienführer, die dezidiert der Vorbereitung auf das Examen an der Artesfakultät dienen sollten. De communibus artium liberalium etwa beginnt nach einem sehr kurzen Prolog, der keine Apologie der Philosophie aufweist, sogleich mit Ausführungen zur Logik, die dann einen großen Teil des Textes ausmachen. Nach einigen allgemeinen Fragen werden einzelne Textbücher zur Logik der Reihe nach behandelt: Zunächst die Isagoge des Porphyrius, danach die sechs Bücher des aristotelischen Organon (die Kategorien, De interpretatione, die Ersten und Zweiten Analytiken, die Topik und De sophisticis elenchis), schließlich De differentiis topicis und De divisione von Boethius. Es folgen analoge Abschnitte über Grammatik, Rhetorik und die Disziplinen des Quadriviums. Nach einem kurzen Kapitel über Ethik schließt die Schrift mit einem Epilog, in dem es heißt: „Dies sind die allgemeinen Themen, zu denen die Kandidaten für die Lizenz in den Artes antworten müssen“ („Hec sunt communia quibus tenentur respondere licentiandi in artibus“) (De communibus artium liberalium 1994, S. 203). Der wohl bekannteste Studienführer dieser Art ist der sogenannte Guide de l’étudiant parisien, der zwischen 1230 und 1240 entstand (Nos gravamen 1992; dazu
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Lafleur 1995). Er wurde 1927 von Martin Grabmann in der Handschrift Ripoll 109 aus Barcelona entdeckt und treffend als eine „für Examinazwecke abgefasste Quaestionensammlung“ bezeichnet (Grabmann 1936). Wie De communibus artium liberalium behandelt auch dieser Studienführer den Unterrichtsstoff großenteils in Form von Fragen und Antworten (ein Schema, das in den philosophischen Systematiken nicht begegnet). Doch anders als De communibus artium liberalium entspricht der Guide de l’étudiant stärker dem Aufbau der philosophischen Einführungen, da er sowohl eine Definition als auch eine Einteilung der Philosophie enthält und damit auch eine systematische Funktion erfüllt. Von diesen beiden mehr oder weniger stark formalisierten Typen (Systematik und Examenshilfe) zu unterscheiden, sind schließlich Texte mit der primären Funktion, Ratschläge in moralischen oder praktischen Fragen zu geben. Das Morale scolarium des Johannes de Garlandia, De disciplina scolarium von Pseudo-Boethius und De regimine et modo studendi des Martino da Fano enthalten praktische Hinweise zum studentischen bzw. universitären Leben, folgen aber keinem einheitlichen Aufbau. Die Ratschläge reichen von der Vorgabe, Umgang mit Trinkern und Prostituierten zu meiden, bis zu dem Hinweis, einen Lehrer zunächst zu testen, bevor man sich dauerhaft seinem Unterricht verschreibt. Der für Juristen schreibende Martino da Fano liefert Anleitungen zum effektiveren Lernen von Gesetzen. Im Unterschied zu den hochmittelalterlichen Pariser Studienführern ist für die humanistisch geprägten Werke des späten 15. und frühen 16. Jh.s, insofern sie an Studienanfänger bzw. Artesstudenten gerichtet waren, die Dialogform charakteristisch. Dementsprechend werden sie in der Forschung häufig als ‚Gesprächsbücher‘ bezeichnet. Im Manuale Scholarium, den Dialogen des Paulus Niavis, der Paedologia des Petrus Mosellanus, den Confabulationes des Hermann Schottenius oder auch der ersten Fassung der Colloquia des Erasmus dominiert eine Wechselrede, in der die Beiträge der Sprecher knapp gehalten sind. Die Sprache ist sowohl hinsichtlich der Syntax wie des Wortschatzes einfach, um den Rezipienten das Verständnis zu erleichtern. Stereotype Wendungen konnten memoriert und in Situationen abgerufen werden, die den in den Studienführern vorgebildeten entsprachen. Die Humanisten unter den Verfassern bemühten sich, allerdings mit wechselndem Erfolg, ihre Schriften in einem an antiken Vorbildern wie Cicero, Quintilian oder Terenz geschulten Latein abzufassen. Ihr Ziel war es, den Schülern und Studenten nicht einfach Lateinkenntnis zu vermitteln, sondern sie vermittels der Gesprächsbücher an das stilistische Ideal der studia humanitatis heranzuführen. Die Dialoge sollten praktische Hilfsmittel bieten, um diesem durch tägliches Üben gerecht zu werden. Die Studienführer transportierten gleichermaßen Normen der lateinischen Gelehrtenkommunikation wie Wissensbestände über das Gelehrtenleben. Dies betraf den Aufbau des Studiums, den Umgang mit Magistern, Bakkalaren und Kommilitonen, Unterrichtszeiten, Lehrbücher und Studiertechniken sowie das richtige Betragen im Unterricht, aber auch Informationen über Referenzautoren und moralische Unterweisung. Das entworfene Ideal des rechten Studiums ist – ebenso wie im Fall der Pariser Studienführer – holistisch: Der angehende Student sollte nach dem Vorbild der Dialoge über das Aneignen von Wis-
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sensbeständen und Kommunikationstechniken sein Selbst formen. Vives bezeichnete daher in der Vorrede seiner Exercitatio die lateinische Sprache als „Schatz jeglicher Bildung“ (Vives 1553, S. 2). Für die Humanisten bedeutete, gutes Latein zu erlernen, zugleich, wahre eruditio zu erwerben. Insbesondere für Erasmus und Vives war diese notwendig christlich gefärbt, wohingegen andere humanistische Studienführer und Gesprächsbücher sich mit allgemeiner moralischer Unterweisung begnügten. Wie sein Vorbild, das Latinum ydeoma des Paulus Niavis, ist das Manuale Scholarium unterteilt in mehrere Dialoge, welche die Etappen auf dem Weg des Studenten bei der Aufnahme seines Studiums nachbilden. Im ersten Kapitel trifft ein angehender Student auf einen erfahrenen Magister, der ihn über seine Herkunft und seine Absichten ausfragt. Der aus Ulm stammende Student, der über begrenzte finanzielle Möglichkeiten verfügt, hat nur grobe Vorstellungen von dem, was ihn an der Universität erwartet. Daher nimmt er gerne den Rat des Magisters an. Als Erstes muss er sich immatrikulieren (Matrikel) und den Eid leisten, die Statuten zu respektieren (Zarncke 1857, S. 3 f.; Niavis 1971, S. 191–193). Darauf plant man die depositio und die collatio des beanus, raue Initiationsriten, die im folgenden Dialog zwischen zwei älteren Studenten dargestellt werden. Diese geben vor, den Neuankömmling als Gestank und Untier wahrzunehmen, verspotten ihn, schikanieren ihn physisch und stutzen ihm schließlich die Hörner (Zarncke 1857, S. 4–10; Niavis 1971, S. 193–198). So wird der tierische, ungelehrte Mensch symbolisch in die universitäre Gemeinschaft aufgenommen. Der körperlichen folgt die geistige Initiation: Im folgenden Dialog unterhalten sich die beiden älteren Studenten über die Vorlesungen und Übungen, welche der junge Artesstudent zu belegen hat. Die Auswirkungen des Wegestreits als Kontingenzgenerator werden im folgenden Kapitel thematisiert: Der Student Camillus beteuert, die Erklärungen eines Magisters nicht beachten zu wollen, da er ein Nominalist sei, was ihm den Tadel des Bartoldus einträgt: Es sei töricht, Unterweisung zu verachten. Selbst die Nominalisten (moderni) hätten einen großen Teil der Philosophie behandelt. Zudem gebe es ganze Universitäten, darunter Wien und Erfurt, an denen allein die via moderna gelehrt werde. Wie könne man da behaupten, unter den Nominalisten gebe es keine guten und gelehrten Männer (Zarncke 1857, S. 12 f.; Niavis 1971, S. 200–202)? Im siebten Kapitel werden anlässlich der Unterhaltung eines aus Erfurt stammenden mit einem Heidelberger Studenten erneut die Auswirkungen des Wegestreits erörtert, die dazu führten, dass mit der Wahl der Universität eine Entscheidung für einen Denkstil verbunden sein konnte. Dass dieses Problem auch die Theologie betraf, hatte zuvor bereits eine Diskussion über den Wert der verschiedenen theologischen Schulen in Erinnerung gebracht, wobei Camillus den Anhängern des Albertus Magnus, Bartoldus denjenigen des Thomas von Aquin den Vorzug gibt, wohingegen die Scotisten von beiden Figuren abgelehnt werden. Ein weiterer Dialog thematisiert das Eindringen humanistischer Bildungsinhalte in das universitäre Curriculum: Der Student Camillus möchte eine Vorlesung über die Komödien des Terenz besuchen, was sein Kommilitone für verschwendete Mühe hält, da Poeten obszön und damit ein Hindernis auf dem Weg zu wahrer Gelehrsamkeit seien (Zarncke 1857, S. 15 f.; Niavis 1971, S. 204 f.). Detailliert geschildert wird, welche
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Manuale Scholarium (1489), Köln: Quentell (GW M20708), Staatsbibliothek zu Berlin – PK, 8° Inc 1034, fol. Aaa2r.
Handlungen im Vorfeld von Prüfungen notwendig sind (Zarncke 1857, S. 26–28; Niavis 1971, S. 214–216). Mehrere Gespräche stellen Konversationsanleitungen zu verschiedenen Themen dar: Modellhaft wird dem Leser vorgeführt, wie man sich in
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lateinischer Sprache über die Natur, bei Tisch oder über gerade besuchte Vorlesungen oder Disputationen unterhalten kann. Auch wie man Streit schlichtet, geliehenes Geld zurückfordert, einen Boten für seine Briefe an die Eltern findet oder über die an der Universität gemachten Erfahrungen berichtet, konnte man aus dem Manuale bzw. dem Latinum ydeoma erfahren. Frauen sind ein Thema zahlreicher Dialoge, die Sprachkenntnisse vermitteln und zugleich ein Konzept studentischer Männlichkeit profilieren. Das studentische Leben bildet das Zentrum der 1518 erstmals gedruckten 35 (später 37) Dialoge der Paedologia in puerorum usum conscripta, mit welcher der in Leipzig lehrende Humanist Petrus Mosellanus seinen Lesern gleichermaßen an Terenz und Cicero geschulte sprachliche Kompetenz wie christliche Moral vermitteln will (Mosellanus 1906; Bömer 1897, S. 95–107; Blanco y Sánchez 1920). Dass das Werk bis 1570 in mindestens 84 Ausgaben erschien, zeigt, dass es Mosellanus gelungen war, seine pädagogischen Ansprüche in eine ansprechende literarische Form zu bringen. Während Paulus Niavis sich zwar bemühte, den Idealen der humanistischen Bewegung zu entsprechen, gelang ihm dies auf sprachlicher Ebene nur bedingt, was dazu führte, dass seine Werke im Laufe des 16. Jh.s rasch an Ansehen verloren. Die Paedologia hingegen entsprach den gehobenen Ansprüchen mit ihrem zwar aus pädagogischen Gründen einfach gehaltenen, jedoch den klassischen Vorbildern verpflichteten Stil. Dass der ebenfalls in Leipzig lehrende Christoph Hegendorf sich in seinen aus zwölf Gesprächen bestehenden Dialogi pueriles thematisch wie gestalterisch eng an Mosellanus anlehnt, ohne dies allerdings kenntlich zu machen, zeigt, auf welch großes Interesse die Paedologia bei Gleichgesinnten stieß (Hegendorf 1520; Bömer 1897, S. 108–112; Bierlaire 1980). Ob Mosellanus in jenen Dialogen, welche die materielle Not der Studenten, das Leiden unter Hunger und Kälte, thematisieren (Mosellanus 1906, S. 5–7; 12–14; 26 f.), eigene Erfahrungen verarbeitet hat, muss offenbleiben, sicher ist, dass er einige seiner auch an anderer Stelle entfalteten gelehrten Ideale dialogisch profilierte: So kommt im fünften Gespräch ein Student an die Universität mit dem Wunsch, Griechisch zu erlernen, nachdem er bei Cicero auf die Aufforderung gestoßen ist, gleichermaßen Griechisch wie Lateinisch zu studieren (Mosellanus 1906, S. 9–11). Dialogisch wird im neunten Dialog ein idealer Leseplan für angehende Humanisten entworfen (Mosellanus 1906, S. 15–17). Das Gespräch eines Schülers, der sich bei seinem Rektor erkundigt, welche Universität er besuchen solle, dient dazu, Rangunterschiede zwischen den Hochschulen aufzuzeigen: Zu Leipzig und Wittenberg wird geraten, wenn der angehende Student nahe der Heimat bleiben wolle, empfehlenswert seien Erfurt und Basel für diejenigen, die es in die Ferne ziehe, am besten sei jedoch Löwen, da hier die drei Sprachen, Lateinisch, Griechisch und Hebräisch, unterrichtet würden (Mosellanus 1906, S. 46–50). Die wiederholten studentischen Klagen über Fastengebote sind einerseits lebensnah entworfen, erinnern andererseits aber an die entsprechenden Ausführungen des Erasmus, der eine übertriebene Betonung des Fastens für ein Zeichen einer veräußerlichten Frömmigkeit hielt. Die im späten 15. und 16. Jh. entstandenen, nicht allzu zahlreichen Studienführer für die höheren Fakultäten verzichteten im Gegensatz zu jenen für die Artesstu-
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denten in der Regel auf die Dialogform. Sie waren vielmehr als Traktate aufgebaut, die in meist kurzen Kapiteln thematisch zusammengehörige Informationen und Ratschläge versammelten. Die erste gedruckte Einführung in das Medizinstudium stammt von Martin Stainpeiss, der in Wien Medizin lehrte und mehrfach als Dekan der Fakultät amtierte (Stainpeiss 1520; Durling 1970). In seinem in sieben Bücher untergliederten Liber de modo studendi seu legendi in medicina gibt Stainpeiss dem angehenden Medizinstudenten alle grundlegenden Informationen an die Hand, die zu einer ersten Orientierung im Studienalltag notwendig waren: Im ersten Buch werden in Listenform die Bücher jahrweise aufgeführt, welche der Student notwendigerweise und welche er fakultativ lesen sollte. Daraufhin wird genauer erläutert, welche Teile der genannten Werke, insbesondere der Schriften Avicennas und al-Razis sowie der Articella, zu studieren seien. Die Autoritäten sollen dabei nicht für sich, sondern zusammen mit Kommentaren gelesen werden. Im Anschluss werden allgemeine Lektüreempfehlungen (darunter die Bibel) sowie die einschlägige Literatur für einzelne medizinische Fachgebiete besprochen. Das zweite Buch des Studienführers ist dem Lektürekanon gewidmet, der nach der Promotion zu absolvieren war. Nach einigen knappen Ratschlägen, wie man sich bei der Lektüre Notizen macht, gibt Stainpeiss dem Mediziner vierzehn Regeln an die Hand, die sein Verhalten leiten sollen. Moralische Tadellosigkeit wird ebenso verlangt wie Gottesfürchtigkeit, die anerkennt, dass der Mediziner ohne Gottes Hilfe nichts vermöge (Stainpeiss 1520, fol. 22r–26v). Im dritten Buch wird ein Lektüreprogramm für Apotheker geboten, deren bereits im zweiten Buch dem studierten Mediziner mahnend vor Augen geführte Fehler und Irrtümer auch Thema des vierten Buches sind. Das fünfte und längste Buch der Schrift erläutert medizinische Fachbegriffe und deren Umschreibungen, mitunter werden die entsprechenden volkssprachlichen Ausdrücke angeführt. Der medizinischen Praxis ist das sechste Buch gewidmet, wobei Stainpeiss ausführlich auf die jeweils einschlägigen Autoritäten verweist. Daran schließt sich eine Zusammenstellung von Medikamenten und Behandlungsmethoden an, die den Studienführer so abrundet, dass der angehende Mediziner ein Handbuch zur Verfügung hat, das ihn durch sein Studium und die Fülle der Fachliteratur ebenso weist, wie es ihm bei der praktischen Ausübung seines Berufs und der Ausbildung des fachspezifischen Habitus behilflich ist. 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Aufgrund der Vielfalt und Heterogenität der Gattung bieten Studienführer Aussagemöglichkeiten für sehr verschiedene Perspektiven und Fragestellungen. Für das 13. Jh. sind sie zu den zentralen Quellen der Artesfakultät zu zählen. So liefern etwa die Examenshilfen wichtige Informationen über das Curriculum der Artisten und geben Aufschluss über die Prüfung, die zum Erlangen der Lizenz in den Artes notwendig war (s. Lafleur 2004). Texte wie das Morale scolarium zeigen die moralischen Ansprüche, mit denen sich die Scholaren konfrontiert sahen, und liefern Einblicke in die
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studentische Lebenswelt (auch wenn die Ausführungen oft sehr allgemein gehalten sind). Vor allem das Ensemble der philosophischen Einführungen bildet ein aussagekräftiges Quellenkorpus für unterschiedliche Entwicklungen an der Artistenfakultät. Diese Schriften sind einschlägig für den spezifischen Philosophiebegriff, der die artistische Universitätsphilosophie charakterisiert und sich von philosophischen Konzepten außerhalb der Universität unterscheidet. Besonders ergiebig sind die Einführungstexte ferner für das sich in diesen Schriften abzeichnende Selbstverständnis der Artesmagister, wie es etwa in den apologetischen Prologen zum Ausdruck kommt. Hier manifestiert sich die Wertschätzung, welche die Artisten der Philosophie entgegenbrachten (Imbach 1996; Lafleur 1998). Arnulf von der Provence hält fest, dass jede Wissenschaft, durch welche die menschliche Seele vervollkommnet werde, zur Philosophie gehöre, die daher voller Leidenschaft erstrebt werden müsse (Arnulf von der Provence 1988). Aussagen dieser Art, die den Enthusiasmus der Artesmagister spüren lassen, finden sich in zahlreichen Einführungstexten des 13. Jh.s. Ebenso zeigen die Systematiken, wie die Artisten ihren eigenen Zuständigkeitsbereich definierten und als genuin philosophisches Arbeitsfeld beanspruchten. Das zunehmende artistische Selbstbewusstsein, das im Laufe des 13. Jh.s in diesen Schriften zu Tage tritt, ist für die Erforschung jener Entwicklungen, die schließlich zu den berühmten Verurteilungen der 1270er Jahre führten, von besonderem Interesse (Lafleur 1994; Lafleur 1998). Doch noch in weiterer Hinsicht können die Studienführer informativ sein für das Selbstverständnis ihrer Autoren. In vielen Texten finden sich Hinweise darauf, wie die Artesmagister ihre eigene Rolle als Lehrer wahrnahmen. Die Bedeutung, die Pseudo-Boethius den Modalitäten des Unterrichtens, der Vorbildfunktion und dem Verhalten des Lehrers beimisst, zeigt das Bewusstsein des Autors für seine spezifische Aufgabe und seine Verantwortung als Lehrer der Artes. Mehrere Studienführer reflektieren zudem den Wert der Lehre und die Verpflichtung, das philosophische Wissen weiterzugeben. „Die Philosophie ist ein edler Besitz der Seele, der einen geizigen Besitzer verschmäht, und der entgleitet, wenn er nicht weitergegeben wird, der sich aber vergrößert, wenn man ihn vielen zu Teil werden lässt“, heißt es etwa in Dicit Aristotiles (Dicit Aristotiles 1995, S. 377). Aspekte dieser Art machen deutlich, dass die Studienführer nicht nur wichtige Quellen für wissenschafts- und ideengeschichtliche Entwicklungen sind, sondern auch für sozialgeschichtliche Fragestellungen aufschlussreich sein können (Bubert 2016). Während das Interesse an den Pariser Studienführern des 13. Jh.s in den letzten Jahren spürbar zugenommen hat, hat sich die Forschung mit den Studienführern des 15. und 16. Jh.s nur noch vereinzelt beschäftigt – sieht man einmal vom Sonderfall der Colloquia des Erasmus ab. Viel größer war die Aufmerksamkeit, die diese Gattung im späten 19. und frühen 20. Jh. genoss. Hier entstanden neben verschiedenen Übersichtswerken zu den ‚Gesprächsbüchern‘ (Massebieau 1878; Bömer 1897) Editionen und Einzelstudien. Die spätmittelalterlichen und insbesondere die humanistischen Studienführer erschienen unter neuhumanistischen Vorzeichen bildungsgeschichtlich als Ausdruck einer Transformation hin zur Pädagogisierung der Bildung, wie sie von Humanisten und Reformatoren angestrebt worden sei. Vielfach galten die Studi-
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enführer und Gesprächsbücher als authentischer Einblick in die Lebenswirklichkeit von Studenten und Schülern des Spätmittelalters (Ritter 1923, S. 5 f.; 30) – eine Perspektive, die aus heutiger Sicht fraglich ist. Schon die Tatsache, dass der unbekannte Bearbeiter das in Leipzig entstandene Latinum ydeoma des Paulus Niavis umstandslos für ein Heidelberger Publikum adaptieren konnte, deutet darauf hin, dass es sich hier um Literatur handelt, die konkrete Beobachtungen und Erfahrungen zwar einbezogen haben dürfte, jedoch auf einer allgemeineren Ebene verarbeitete. Es ging den Autoren darum, Anleitungen richtigen Sprechens und Handelns an Universitäten bzw. Schulen zu geben, wobei die Annahmen über die Verfasstheit der Gelehrtenwelt entscheidend dafür waren, wie jene konkret gestaltet wurden. Idealtypisch sollten sich Rezipienten mit dem Gelernten an jeder Organisation eines Typs (Schule oder Universität mit ihren Fakultäten) und in jeder analogen Kommunikationssituation zurechtfinden. Für die jüngere Forschung sind vor allem vier Zugangsweisen zu unterscheiden: Aus philologischer Sicht bieten die Gesprächsbücher Einblicke in die allmähliche und durchaus beschwerliche Transformation des mittelalterlichen zu einem an klassischen Vorbildern und dem Ideal der eloquentia verpflichteten Latein, welche das Vordringen des Humanismus an Universitäten und Schulen kennzeichnet. Disziplinengeschichtlich geben Studienführer Auskunft über die zeitgenössischen Erwartungen, welche Fähigkeiten und Wissensbestände Studenten, aber auch Magister und Professoren besitzen mussten. Für die Ideengeschichte aufschlussreich können Studienführer etwa darin sein, wie sie sich im Wegestreit und den Schulstreitigkeiten positionierten (Hoenen 2003, S. 339 f.). Auch wie sich humanistische Vorstellungen profilierten, indem sie sich als Neuerungen in einer als erstarrt und überholt verzeichneten Bildungslandschaft präsentierten, ist den Studienführern zu entnehmen. Aus einer kultur- und wissensgeschichtlichen Perspektive geben die Studienführer und Gesprächsbücher einerseits unverzichtbare Einblicke in die Praktiken, welche den universitären Alltag prägten, andererseits dokumentieren sie normative Erwartungen von Gelehrten, wie sich Studenten zu verhalten hätten und welche Fertigkeiten sie besitzen müssten. Sie verraten etwa, auf welche Weise studentische Männlichkeit in Riten wie der von Paulus Niavis bzw. dem Manuale Scholarium beschriebenen Deposition eingeübt wurde (Karras 2003). Derartige Formen von an den Universitäten ausgeübter Gewalt lassen sich kulturwissenschaftlich als Inkorporierung eines standesspezifischen Habitus, als Initiationsritus, der die Grenzen der Organisation zu ihrer Umwelt markiert, sowie als Mittel der Hierarchiebildung innerhalb der Studentenschaft interpretieren (Füssel 2005a; Füssel 2005b). Die Gattung des Studienführers als solche ist aus praxeologischer Sicht nicht einfach Repräsentation universitärer Riten und Kommunikationsformen, sondern fungierte selbst als Mittel der Initiation: Durch den holistischen Anspruch, Reden, Handeln und Wertmaßstäbe zu formen, versprach sie, diejenigen, die den gebotenen Mustern und Regeln folgten, zu Akteuren in der Welt der Studierten zu machen.
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Zensur und Lehrverurteilungen Jan-Hendryk de Boer
Begriffserklärung Unterschiedlichen Textsorten eignete die Funktion, Lehren und Personen zu verurteilen sowie Bücher zu verbieten. Unter die Gruppe der Zensurtexte fallen neben den Urteilen selbst Irrtumslisten, Einträge in Akten und Statuten sowie Protokolle und weitere Dokumente der Verhandlungen und Prozesse, aber auch die Widerrufe der betroffenen Gelehrten. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Zensurtexte, Prozesse und Verurteilungen begleiteten die Geschichte der Universität von Beginn an. In der Zeit vor den Universitäten wurden Prozesse entweder initiiert von Personen, die außerhalb der Schulen standen, oder von Schulangehörigen, die insbesondere den neuen Weisen, Theologie zu treiben, misstrauten. Ersteres ist der Fall im Streit um die Eucharistielehre des Berengar von Tours und in den Prozessen, die Bernhard von Clairvaux gegen Abaelard und Gilbert von Poitiers anstrengte (Godman 2000; Miethke 1975; Miethke 2014; Monagle 2004; Steckel 2011). Dass es zu den Verfahren gegen die beiden Letztgenannten kam, liegt allerdings nicht nur an der Irritation, mit der Akteure außerhalb des Pariser Schulmilieus reagierten, sondern ebenso an den Meinungsverschiedenheiten und der Konkurrenz zwischen den Schulen. Diese Spannung sollte auch viele der Prozesse und Verurteilungen an den Universitäten prägen: Häufig war es eine Verbindung universitätsinterner und -externer Motive und Interessen, die dazu führte, dass die Lehren einiger Gelehrter zum Gegenstand von Untersuchungen und Verurteilungen wurden, wohingegen andere unbehelligt blieben. Treibende Kraft in den Prozessen des 12. Jh.s waren bischöfliche oder päpstliche Synoden, auf denen rechtswirksame Urteile verkündet werden konnten; mit der Entstehung der Universitäten agierte die Korporation der Magister selbst als Wächter akademischer Orthodoxie (Courtenay 1989; Miethke 2001). Eine besondere Rolle kam den Theologen zu. Sie wurden zu den wichtigsten Autoritäten, die über die Rechtgläubigkeit von Gelehrten zu entscheiden hatten. Ihre Untersuchungen konnten sich ebenso gegen die Lehren von Angehörigen der eigenen wie einer anderen Universität richten, aber auch gegen die Ansichten von Gelehrten,
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die die Universitäten längst verlassen hatten. Die Orden zogen jene Ordensbrüder, die an den theologischen Fakultäten von Paris oder Oxford lehrten, gerne heran, um mögliche Irrlehren festzustellen. So wandte sich der Ordensgeneral Bonagratia 1283 an die franziskanischen Professoren in Paris, um die Schriften des Spiritualen Petrus Johannes Olivi überprüfen und Irrtümer zusammenstellen zu lassen (Burr 1976; Burr 2001). In der Rolle der Universitätstheologen als Diskurswächter liegt begründet, dass die Mehrzahl der Prozesse und Lehrverurteilungen gegen Gelehrte bis ins 15. Jh. an Universitäten geführt wurde, an denen eine theologische Fakultät bestand. Die Theologen konnten selbst initiativ werden, um anstößige Lehren zu überprüfen, oder aber durch universitätsexterne Akteure mit einer Untersuchung beauftragt werden. Doch auch wenn das Verfahren vom Kanzler, dem Dekan oder der Fakultät angestoßen worden war, blieben Prozesse und Verurteilungen nicht notwendig universitätsinterne Angelegenheiten. Vielmehr traten schon im Laufe des 13. Jh.s andere Instanzen wie Bischöfe, Erzbischöfe, Päpste oder weltliche Machthaber fallweise, wenn nicht initiierend, so doch unterstützend oder konkurrierend, in Erscheinung (Miethke 1976). Dies war insbesondere dann der Fall, wenn sich ähnlich starke Gruppen innerhalb der Universität gegenüberstanden, so dass universitäre Lehrzuchtverfahren als Lösung des Konflikts ausfielen. Die 1250er und 60er Jahre waren beispielsweise in Paris geprägt vom Konflikt zwischen weltgeistlichen Magistern und solchen, die den Orden angehörten (Traver 2011; Dufeil 1972). Bestimmt ist der Konflikt von scharfer, sich in Traktaten, Predigten und Quaestionen äußernder Polemik und dem wechselseitigen Erstellen von Irrtumslisten (Bierbaum 1920; Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 243, S. 272–276). Eine Einigung zwischen den beiden Lagern war nicht möglich, auch gelang es keiner der beteiligten Theologengruppen, gegenüber der anderen die Oberhand zu gewinnen, weshalb sich beide Seiten bemühten, außeruniversitäre Autoritäten hinzuzuziehen, angefangen bei den französischen Bischöfen bis hin zum Papst. Der Stellungnahme einer Kardinalskommission folgend, verurteilte Alexander IV. 1256 die apokalyptisch getönte Schrift De periculis novissimorum temporum Wilhelms von Saint-Amour, eines der Anführer der weltgeistlichen Partei: Der Autor wurde verbannt, künftig zu lehren oder zu predigen wurde ihm untersagt (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 288, S. 331–333). Die unten ausführlicher zu besprechenden Untersuchungen gegen die Lehren John Wyclifs in Oxford und Jan Hus’ in Prag sind in ähnlicher Weise durch die Konkurrenz verschiedener Gruppierungen an der Universität geprägt, was zur Intervention universitätsexterner Kräfte und zur Eskalation der Auseinandersetzungen führte. Universitäre Lehrzuchtverfahren richteten sich im Unterschied zu Inquisitionsverfahren, bischöflichen oder päpstlichen Untersuchungen gegen verdächtige Lehrmeinungen, nicht gegen die sie vertretenden Personen selbst. Die Proponenten der anstößigen Thesen wurden zumeist vorgeladen und angehört, bevor ein Urteil erfolgte (Thijssen 1998; Putallaz 2010). Der Autor der verurteilten Thesen hatte einen öffentlichen Widerruf zu leisten, wodurch er sich vom Verdacht der pertinacia, der Verstocktheit, befreite, was kirchenrechtlich als Kennzeichen eines Häretikers galt. Die Kurie konnte in Prozessen gegen Gelehrte sowohl als Gericht erster Instanz wie als
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Appellationsgericht auftreten, das von den Beklagten angerufen wurde. Institutionalisiert wurde die Rolle der Theologen als Experten für die Beurteilung der rechten Lehre mit der Entstehung der Inquisition im 13. Jh. Ihre Aufgabe war es, die Rechtgläubigkeit des Beschuldigten zu überprüfen. Die meist den Bettelorden und vorrangig den Dominikanern angehörenden Inquisitoren waren nicht den lokalen Bischöfen unterstellt. Es bedurfte keiner vorherigen Anklage zur Prozesserhebung, vielmehr konnten Inquisitoren auf eigene Initiative hin tätig werden (Segl 1993). Zur Untersuchung der Vorwürfe konnten sie auf Professoren der Theologie oder des kanonischen Rechts zurückgreifen, die als Fachgutachter agierten. Inquisitionsprozesse gegen Gelehrte und insbesondere gegen Magister oder Professoren blieben jedoch bis ins 15. Jh. selten. Zumeist waren die zuständigen Bischöfe, die Universitäten oder die Orden bestrebt, die Untersuchungen gegen vermeintliche Irrlehren selbst durchzuführen. Für Paris sind im 13. Jh. mehrere Untersuchungen der Lehren von Universitätsgelehrten belegt (Miethke 1976; Thijssen 1998; Bianchi 1999). Die für die nächsten Jh.e prägenden Formen der Lehrzuchtverfahren etablierten sich rasch. So strengten Pariser Magister zu Beginn des Jh.s eine Untersuchung gegen den Theologen Amalrich von Bena wegen dessen Lehren an, die angeblich unter allen Katholiken auf Widerspruch stießen. Der Gelehrte appellierte vergeblich an den Papst. Daraufhin musste er seine Lehren öffentlich widerrufen (Thijssen 1996). Besonders ist dieser Fall insofern, als die meisten Untersuchungen und Verurteilungen des 13. Jh.s nicht gegen Magister der Theologie, sondern gegen Artisten und fortgeschrittene Theologiestudenten gerichtet waren. Obendrein wurde das universitäre Lehrzuchtverfahren wenig später Anlass für einen Häresieprozess, in dem nicht nur die Wahrheit und Falschheit von Lehrmeinungen, sondern auch die Rechtgläubigkeit der Beschuldigten untersucht wurden. 1210 wurden Anhänger Amalrichs auf einer Pariser Synode unter dem Vorsitz des Erzbischofs von Sens zum Tode auf dem Scheiterhaufen oder zu lebenslanger Haft verurteilt, Amalrich selbst postum zum Häretiker erklärt und exkommuniziert (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 11, S. 70; Nr. 12, S. 71 f.). Verurteilt wurden nicht nur die Lehren Amalrichs und seiner Anhänger, sondern auch die naturphilosophischen Schriften des David von Dinant, der sich aus Sicht der Theologen einen zu kritiklosen Umgang mit den entsprechenden Werken des Aristoteles hatte zuschulden kommen lassen. Der für die Pariser Theologie und Artes kennzeichnende Streit um Aristoteles (Bianchi 1990; Bianchi/Randi 1993; Van Steenberghen 1991) wurde fortgesetzt durch das 1215 vom päpstlichen Legaten Robert von Courçon erlassene Privileg, das die Sicherung des Rechtsstatus der Magister und Scholaren nutzte, um zugleich in Erneuerung eines Beschlusses der Pariser Synode von 1210 Vorlesungen über die aristotelische Naturphilosophie und Metaphysik zu untersagen (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 20, S. 78–80; Ferruolo 1985). Die zwischenzeitliche Bestrebung, durch eine Theologenkommission einen gereinigten Aristoteles erstellen zu lassen, hat keinen greifbaren Ertrag gebracht (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 79, S. 136–139). Eine vergleichbare Beschränkung des Aristotelesstudiums für Oxford fehlt. Entsprechend stark war hier von Beginn an die Naturphilosophie innerhalb der Artes verankert. In Toulouse warb man 1229 während
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eines Streiks der Pariser Magister sogar ausdrücklich damit, dass hier Aristoteles frei studiert werden dürfe (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 72, S. 129 f.). Wie auch in Montpellier konnte sich in Toulouse daher früh das Studium der griechischen und arabischen Autoren entfalten, bevor sich auch in Paris die institutionellen Beschränkungen nicht länger halten ließen. Nachdem 1252 bereits die englische Nation das Studium der aristotelischen Naturphilosophie gestattet hatte, zog die Artistenfakultät im Ganzen 1255 nach (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 246, S. 277–279). Wie unterschiedlich die Folgen eines Verdachts, Irrlehren zu verbreiten, für die betroffenen Gelehrten sein konnten, zeigen die Fälle des Johannes von Brescain und des Dominikaners Petrus von Tarentaise. Nachdem Ersterer bereits infolge einer von Bischof, Kanzler und Theologen gemeinsam geführten Untersuchung mehrere logische Irrtümer hatte öffentlich widerrufen müssen, musste er sich 1247 für eine häretische Äußerung in einer Disputation verantworten. Als Wiederholungstäter wurde er aus der Diözese Paris verbannt, jede Lehrtätigkeit an einer Universität wurde ihm verboten (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 176, S. 206–208). Petrus von Tarentaise hingegen wurde von einem Ordensbruder beim Generalmagister seines Ordens denunziert. Dieser sandte Mitte der 1260er Jahre eine Liste mit 108 vermeintlich irrigen Sätzen aus seiner Sentenzenvorlesung an Thomas von Aquin, der in einem ausführlichen Gutachten seinen Mitbruder mit aller Entschiedenheit verteidigte (Thomas von Aquin 1979). Geschadet haben Petrus von Tarentaise die Vorwürfe nicht. Vielmehr wurde er nur wenige Jahre später Erzbischof von Lyon, bevor er 1276 zum Papst gewählt wurde. Auch wenn das Pontifikat Innozenz’ V. aufgrund seines frühen Todes kurz war – sein Ansehen bei Zeitgenossen und Nachlebenden war trotz der gegen ihn erhobenen Vorwürfe groß. Als Schlüsselpunkt in der Geschichte der Scholastik wie der Universität Paris gilt die Verurteilung von 219 Thesen durch den Pariser Bischof Étienne Tempier im Jahre 1277, der eine Verurteilung von 13 anstößigen Thesen sieben Jahre zuvor vorausgegangen war (Piché 1999; Hissette 1977; Bianchi 1999; Thijssen 1998; Putallaz 1995; de Libera 2003). Die heterogene, allenfalls grob strukturierte Sammlung von Thesen, die künftig nicht mehr gelehrt werden sollten, ist Ausdruck der Konflikte zwischen Theologen und Artisten einerseits sowie zwischen konservativen Theologen und den mit ihnen verbündeten konservativen Artisten, moderaten Theologen und radikalen Aristotelesanhängern andererseits. Im Zentrum des Argwohns stand ein emphatisches Philosophieverständnis, das die Würde des Artesmagisters als eines Wahrheitssuchers betonte, eine spezifische philosophische Lebensform anstrebte und nach Denkräumen suchte, in denen mit den Mitteln der Dialektik unter Absehung der theologischen Wahrheit philosophisch-aristotelisch gedacht werden konnte. Dass viele der von einer Theologenkommission zusammengestellten Thesen sich in den erhaltenen Schriften der Artisten nicht nachweisen lassen, spricht dafür, dass hier eine Gefahr imaginiert wurde, die so nicht bestanden hatte. Aus Sicht der Verurteilenden war es dadurch möglich, auch solche Positionen zu diskreditieren, die zwar nicht unwidersprochen geblieben waren, jedoch sicher nicht als irrig bzw. häretisch zu gelten hatten.
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Schon unter den Zeitgenossen war diese Verurteilung umstritten, da sie allzu deutlich Züge eines Positionskampfes innerhalb der Universität trug: Zwar beendete sie für zwanzig Jahre den radikalen Aristotelismus in Paris; da jedoch unter den inkriminierten Thesen auch solche waren, die Thomas von Aquin zuzuordnen waren, sowie andere, die keine kirchliche Lehre herausforderten, wurde von Theologen wie dem wohl an ihrer Entstehung beteiligten Heinrich von Gent oder Gottfried von Fontaines in Kommentaren und Disputationen wiederholt erörtert, inwieweit die Verurteilung richtig und gültig war (Putallaz 1995; König-Pralong 2005). Weiterhin strittig war, ob Tempiers Verurteilung außerhalb von Paris zu beachten sei. Im Zuge des Kanonisationsprozesses des Thomas von Aquin wurde schließlich die Verurteilung der seine Lehren betreffenden Thesen zurückgenommen. Dennoch wurde die Verurteilung bis ins 16. Jh. abgeschrieben, gedruckt und mitunter kommentiert (Heinrich von Gorkum 1489; Petrus Lombardus 1528; Wels 2004). Die regelmäßige Iteration der Zusammenstellungen irriger Thesen schuf der institutionalisierten Markierung dessen, was nicht legitimerweise lehr- und disputierbar war, eine situationsunabhängige Dauer. Noch in der Löwener Kontroverse zwischen Petrus de Rivo und Heinrich von Zomeren über die futura contingentia zwischen 1465 und 1476 spielten die Pariser Thesenliste von 1277 und die damals verurteilte Lehre von der doppelten Wahrheit als Ordnung des Sagbaren eine beständige Rolle (Schabel 1995/1996). Dass Petrus de Rivo 1473 und 1476 seine Unterscheidung zwischen einer philosophischen und einer populären Wahrheit in Bezug auf die Vorsehung und die künftigen Ereignisse widerrufen musste, war nicht zuletzt eine Folge seines Verstoßes gegen das, was zweihundert Jahre zuvor als richtige Lehre festgesetzt worden war (Bianchi 2008, S. 69–85). Dass seine Position, wonach Aussagen über Zukünftiges eines Wahrheitswertes ermangelten und daher sogar das göttliche propositionale Wissen der futura contingentia weder wahr noch falsch sei, weitgehend derjenigen entsprach, die Petrus Aureoli in der ersten Hälfte des 14. Jh.s hatte unangefochten vertreten können, zeigt, dass der Raum des Diskussionswürdigen historisch wandelbar war. Zensurmaßnahmen gestalteten diesen Prozess aktiv mit, wie sie zugleich veränderte Mehrheitsmeinungen innerhalb der Gelehrtenwelt reflektierten. Eine nahezu zeitgleiche Parallele fand das Vorgehen des Pariser Bischofs gegen thomasische und aristotelische Lehrinhalte in Oxford, als der Bischof von Canterbury, Robert Kilwardby, durch die Verurteilung von 40 philosophischen Thesen am 18. März 1277 die neuaugustinische Tradition gegen die konkurrierenden Lehren verteidigen wollte (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 474, S. 558–560; Silva 2012). Kilwardby hatte mit seiner Verurteilung weniger Erfolg als sein Pariser Kollege. 1284 sah sich sein Nachfolger, Johannes Pecham, genötigt, die Verurteilung von 1277 zu erneuern – allerdings erwies es sich bereits als schwierig, den originalen Wortlaut der älteren Thesenreihe festzustellen. Antithomistisch motiviert war auch Pechams Vorgehen gegen Richard Knapwell: Pecham ließ elf Thesen aus einer theologischen Disputation des Dominikaners 1285 überprüfen und diesen selbst schließlich exkommunizieren. Der Versuch Knapwells, durch eine Appellation an den Papst das Urteil aufzuheben, scheiterte, was ihn allerdings nicht daran hinderte, in Bologna seine Lehren zu erneuern (Larsen 2011, S. 42–63; Boureau 1999).
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Die Mehrzahl der Verurteilungen des 14. Jh.s betraf in Oxford theologische Irrtümer, während in Paris philosophische und theologische Thesen gleichermaßen zensiert wurden. Ab etwa 1300 verlagerte sich die Funktion des Wächters über die Abweichung von der rechten Lehre zunehmend von den theologischen Magistern an die Kurie, die zumeist von lokalen Autoritäten angestoßene Untersuchungen immer häufiger an sich zog. Auf Betreiben der Franziskaner zitierte beispielsweise Johannes XXII. 1318 den Theologen Johannes von Pouilly wegen seiner mendikantenkritischen Thesen nach Avignon; 1321 wurden drei seiner Thesen verurteilt (Koch, Bd. 2 1973, S. 387–422). Auch für Oxford wurde die Kurie zu einer wichtigen Instanz im Rahmen von Untersuchungen anstößiger Lehren. Noch im Jahre 1315 verurteilten die Oxforder Theologen mehrere Thesen zur göttlichen Allmacht, ohne externe Autoritäten heranzuziehen. Sieben Jahre später wurde dagegen eine Untersuchung der Thesen des Franziskaners Wilhelm von Ockham nicht von der Universität durchgeführt, sondern von einer theologischen Expertenkommission im Auftrag Johannes’ XXII. Ockham war entweder von einem Kollegen beim Papst angezeigt worden, oder der abgesetzte Oxforder Kanzler Thomas Lutterell, der beim Papst Unterstützung gegen seine Universität suchte, hatte den Franziskaner selbst denunziert. Er erstellte eine erste Liste mit 56 irrigen Artikeln, die in überarbeiteter Form Grundlage der Untersuchung einer sechsköpfigen Theologenkommission wurde (Lutterell 1959; Koch, Bd. 2 1973, S. 275–365). Ockham selbst wurde nach Avignon zitiert, um sich zu verteidigen. Zu einem Abschluss des Prozesses kam es nicht, da der Gelehrte in den zwischen dem Papst und Vertretern seines Ordens ausgetragenen Armutsstreit hineingezogen wurde und sich 1328 entschloss, aus Avignon zu fliehen. Obwohl er sich in den folgenden Jahren als Publizist für Ludwig den Bayern betätigte, wurden seine Thesen nie verurteilt (Miethke 1969). Ockham selbst begründete später nicht nur brieflich sein Handeln gegenüber seinen Ordensbrüdern (Ockham 1956), sondern reflektierte in verschiedenen Traktaten und insbesondere im Dialogus die Legitimität von Häresieprozessen, die er der Zuständigkeit von Juristen entziehen und strikt an die theologische Untersuchung der Wahrheit binden wollte. Nicht die Kanonistik, sondern allein die Theologie vermöge, Geltungsansprüche in Glaubensfragen zu prüfen und über angemessene Reaktionen zu entscheiden (Ockham 2011). In der ersten Hälfte des 14. Jh.s wurde die Kurie von Gelehrten, die durch eine Appellation an den Papst einer Verurteilung entgehen wollten, auch aktiv als Schiedsinstanz gesucht, um den Machtwirkungen der lokalen Autoritäten wie dem zuständigen Bischof, einer Universität oder dem eigenen Orden zu entgehen. So begann ein Inquisitionsprozess gegen den Dominikaner und ehemaligen Pariser Magister Eckhart von Hochheim nach einer ordensinternen Denunziation, aufgrund derer der Kölner Erzbischof einen Prozess einleitete. Als Eckhart 1327 erkannte, dass seine Verteidigungsbemühungen im in Köln geführten Häresieprozess nichts austrugen, appellierte er an den Papst, um einer Verurteilung zuvorzukommen (Eckhart 2006; Trusen 1988; Miethke 1997). In Avignon wurden – parallel zum Prozess gegen Ockham – die in Köln zusammengetragenen Thesen geprüft; 1329 schließlich wurden 28 Artikel des inzwischen verstorbenen Dominikaners als häretisch oder übelklingend
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verurteilt. Trotz dieses Urteils bedeutete die Verlagerung des Prozesses an die Kurie, dass Eckhart der Häresieanklage entging – und daher auch selbst nicht als Häretiker verurteilt wurde. Auch in anderen Fällen konnte es ratsam sein, sich den Scharmützeln an der eigenen Universität zu entziehen und den Fall vor den Papst zu tragen. Als sein Orden 93 bzw. 235 von der Lehre des Thomas von Aquin abweichende Thesen aus seinem Sentenzenkommentar 1314 und 1316 verurteilte, richtete etwa der in Paris lehrende Dominikaner Durandus von Saint Pourçain seine Appellation zwar nicht an den Papst, nutzte jedoch den Schutz des Papsthofes in Avignon, um seine Karriere unbehelligt fortsetzen zu können (Koch, Bd. 2 1973, S. 7–118; Iribarren 2005). An der Rolle von Päpsten und Kardinälen als Instanzen, die angefochtenen Gelehrten Schutz und Unterstützung zu gewähren vermochten, änderte sich bis in die frühe Neuzeit grundsätzlich nichts, wenn auch deren Bereitschaft, sich in lokale Zensurverfahren einzuschalten, schwankte. Nur durch die Unterstützung des Kardinals Pietro Bembo entging beispielsweise der in Bologna lehrende Pietro Pomponazzi einer Häresieanklage wegen seines 1516 im Tractatus de immortalitate animae rein mit den Mitteln der natürlichen Vernunft unter Absehung vom Glauben geführten Beweises, dass die menschliche Seele nicht unsterblich sei (Pomponazzi 1990). Nicht immer boten die kirchlichen Autoritäten jedoch Schutz: Wer wie der Franziskaner Franciscus de Marchia, der sich im Armutsstreit gegen Papst Johannes XXII. gestellt hatte, ergriffen und zwangsweise vor dem päpstlichen Hof erscheinen musste, konnte im günstigen Fall darauf hoffen, mit einem Widerruf einer Verurteilung als Häretiker zu entgehen (Wittneben/Lambertini 1999–2000). Doch auch die Strategie, den Papst aktiv in den eigenen Prozess hineinzuziehen, konnte scheitern: So appellierte der in Paris lehrende Franziskaner Denis Foullechat 1364 an den Papst, als der Kanzler und die theologische Fakultät von ihm einen Widerruf seiner Thesen zur absoluten Armut Christi verlangten. Damit erregte er den Zorn der Theologen, die dies als Missachtung ihrer Rechte verstanden (Denifle, Bd. 3 1894, Nr. 1299, S. 120–122). Erfolg hatte er letztlich nicht; stattdessen musste er fünf Jahre später in Avignon wie in Paris öffentlich drei Thesen widerrufen und drei weitere Aussagen, von denen er beteuerte, sie selbst nicht gelehrt zu haben, für falsch erklären (Denifle, Bd. 3 1894, Nr. 1352, S. 185 f.). Wenig später betraf ein vergleichbarer Fall den Dominikaner Juan de Monzón, als dieser von den Pariser Theologen aufgefordert wurde, vierzehn strittige Thesen zur unbefleckten Empfängnis und zur Metaphysik öffentlich zu widerrufen (Denifle, Bd. 3 1894, Nr. 1559, S. 185 f.; Lamy 2000). Doch Juan de Monzón erschien nicht zum festgesetzten Termin. Die Theologen wandten sich notgedrungen an den Pariser Bischof, der seinerseits den Dominikaner mehrfach vergeblich vor sein Gericht zitierte. Der Beklagte suchte stattdessen Hilfe bei Papst Clemens VII. in Avignon, worauf der Pariser Bischof seine Thesen offiziell verurteilte. Die Universität entsandte 1388 eine von Pierre d’Ailly geleitete Delegation, der auch der junge Jean Gerson angehörte, gen Süden, um die Sache der Universität zu vertreten. Die vom Papst eingesetzte Kommission aus drei Kardinälen bestätigte das Pariser Urteil und exkommunizierte Juan de Monzón (Denifle, Bd. 3 1894, Nr. 1569, S. 491–496). Doch die Pariser begnügten sich nicht mit diesem Sieg, da sie den Dominikanern vorwar-
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fen, Juan de Monzón vor dem Pariser Prozess geschützt zu haben. Gerson selbst unternahm es, den Dominikaner und dessen Unterstützer in einem Traktat anzugreifen und so die Affäre publik zu machen (Ouy 1962). Die Monzón-Affäre ist insofern typisch für die Situation des 14. Jh.s, als dass das Avignoneser Papsttum bemüht war, die Untersuchung von Häresien an sich zu ziehen. Zwar ging die Initiative meist von lokalen Kräften aus, sowohl für die betroffenen Gelehrten selbst wie für die Kurie war es jedoch attraktiv, strittige Fälle an dieser entscheiden zu lassen (Iribarren 2006; Courtenay 2011). Die Universitäten verteidigten umgekehrt das Recht, ihre Mitglieder zu disziplinieren. Die Pariser Theologen konnten 1347 ohne äußere Eingriffe 41 Irrtümer des Johannes von Mirecourt verurteilen, da dieser sich zu einem öffentlichen Widerruf bereitfand (Courtenay 1986). Anders als Mirecourt, der sich dem Urteil fügte, wurde der in Oxford lehrende John Kendington, der die weltgeistlichen Magister durch seine Thesen zum Besitzrecht aufgebracht hatte, streng bestraft. Dass ihm 1358 nicht nur eine öffentliche Entschuldigung abgenötigt, sondern auch eine ungewöhnlich hohe Geldstrafe auferlegt und ihm schließlich untersagt wurde, ohne Erlaubnis des Kanzlers und aller Magister Theologie zu lesen, lässt sich nur damit erklären, dass er den universitätsinternen Konflikt nach außen, an die Kurie und vor den Erzbischof von Canterbury getragen und sich dazu verstiegen hatte, seine Universität als Schule der Häretiker zu bezeichnen (Larsen 2011, S. 92–108). Der erste Versuch, den Theologen John Wyclif zu verurteilen, ging 1377 dagegen nicht von der Universität, sondern von Erzbischof Sudbury aus (Catto 1992). Die Universität konnte sich trotz ihr vorgelegter Listen mit irrigen Thesen lange nicht zu einer Verurteilung durchringen, da Wyclif unter dem Schutz des John of Gaunt stand. Als der Theologe allerdings 1381 mit Thesen zur Abendmahlslehre hervortrat und sein Beschützer von ihm abzurücken begann, wurde vom Oxforder Kanzler eine Kommission von zwölf Gelehrten einberufen, um jene Thesen zu prüfen. Ohne Wyclif namentlich zu nennen, wurde im folgenden Jahr untersagt, die anstößigen Thesen künftig zu lehren. Ein von Erzbischof William Courtenay einberufener Rat verurteilte 1382 ebenfalls 24 Thesen als häretisch oder irrig; einer persönlichen Bestrafung entging Wyclif abermals durch die Intervention des John of Gaunt. Auch die Wyclif nahestehende Gruppe der sogenannten Oxford Lollards musste sich nun für ihre Thesen verantworten. Courtenay setzte die Verurteilung zahlreicher Artikellisten durch. Wie inzwischen üblich beteuerten einige der angeklagten Gelehrten, anstößige Thesen nur um der Diskussion willen im Klassenraum vorgebracht zu haben – ein Argument, das der Erzbischof akzeptierte. Mit den 1411 erlassenen Konstitutionen des Erzbischofs Arundel hingegen galt dieses Recht, anstößige, wenn auch nicht gegen explizite kirchliche Lehre verstoßende Thesen diskutieren zu dürfen, nicht mehr. Nun wurde Grammatiklehrern untersagt, etwas gegen den katholischen Glauben oder die Sakramente zu lehren; die Lektüre der Schriften Wyclifs sowie von Bibelübersetzungen wurde verboten; alle Artikel, die vom katholischen Glauben und den guten Sitten abwichen, seien anzuzeigen, selbst wenn sie nur im Rahmen einer Disputation angeführt worden seien (Dahmus 1952; Copeland 2001; Larsen 2011, S. 127–176). Die Verurteilung von Wyclifs Irrtümern
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auf dem Konstanzer Konzil, nicht zuletzt eine Reaktion auf die große Unterstützung, die die Lehren des Engländers unter den Prager Theologen um Johannes Hus und Hieronymus von Prag gefunden hatten, bedeutete den Sieg dieser strikten Linie, die bemüht war, die wyclifitischen Irrtümer endgültig aus der Welt zu schaffen (Kelley 2001). Seit dem Ende des 14. Jh.s begann die weltliche Obrigkeit, unmittelbar in die Lehre der Universität einzugreifen (Classen 1981). Als der Pariser Theologe Jean Petit im Auftrag des Herzogs von Burgund im Hinblick auf die Ermordung Ludwigs von Orléans 1407 den Tyrannenmord rechtfertigte, strengten die Parteigänger der Armagnacs 1413 postum ein Inquisitionsverfahren gegen Petit an. Die Pariser Theologen agierten als Gutachter in dem Verfahren, an dessen Ende die Verurteilung von neun Irrtümern stand. Die Schrift wurde öffentlich verbrannt (Werner 2007). Der erste direkte Eingriff einer politischen Instanz in die universitäre Lehre im Reich stellt das Mahnschreiben der Kurfürsten dar, mit dem diese im November 1425 die Universität Köln drängten, vom in ihren Augen den hussitischen Irrtümern nahestehenden Realismus abzurücken und zur althergebrachten Lehre des Nominalismus oder Terminismus zurückzukehren (Tewes 1993; Meersseman 1935). In ihrem Antwortschreiben hoben dagegen die Kölner hervor, dass der dort praktizierte albertistische Realismus nichts mit dem spezifischen wyclifitischen gemein habe. Außerdem wurde die Wertschätzung hervorgehoben, die Buridan, Marsilius von Inghen und anderen Nominalisten entgegengebracht werde (Ehrle 1925, S. 281–290). Hintergrund des Mahnschreibens war das Erstarken des Albertismus in Köln unter dem Einfluss des wirkmächtig albertistische und platonische Lehrelemente verbindenden Theologen Heymericus de Campo. Dringlich warnte man die Kölner vor der Zwietracht, die durch den Realismus entstehen könne – eine direkte Anspielung auf die Ereignisse an der Prager Universität. Trotz aller internen Spannungen rückten die Kölner Magister jedoch angesichts des externen Versuchs, ihre Lehre zu reglementieren, zusammen und präsentierten sich in ihrer Antwort als Einheit, bestrebt, das Recht zu verteidigen, auch den Realismus zu unterrichten. In Paris bot der Wegestreit der weltlichen Obrigkeit gleichfalls einen willkommenen Anlass, um regulierend in die universitäre Lehre einzugreifen: Ludwig XI. erließ am 1. März 1474 ein Mandat, das den Nominalismus aus Paris vertreiben und so eine Rückkehr zur Theologie des 13. Jh.s einleiten sollte. Die theologische Fakultät war in eine realistische und eine nominalistische Partei gespalten. Indem sie den König zu Hilfe riefen, holten die Realisten und ihre Unterstützer an der Artesfakultät zum entscheidenden Schlag aus. Dazu wurde u. a. angeordnet, alle nominalistischen Schriften einzuziehen. Die Nominalisten gaben sich nicht geschlagen und verteidigten sich mit einer Schrift, die nicht nur eine klare Bestimmung des nominalistischen Standpunktes in der Philosophie ergab, sondern auch von den mit dem Prozess gegen Ockham anhebenden Verfolgungen berichtete, denen ihre Schule ausgesetzt gewesen sei. Die Pariser Artistenfakultät hatte nämlich im September 1339 verboten, einige Lehren Ockhams zu verbreiten; im Dezember 1340 war unter Berufung auf dieses Verbot den Anhängern Ockhams untersagt worden, Aussagen lediglich nach ihrem objektiven Sinn ohne Beachtung von Aus-
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sageintention und -kontext gelten zu lassen (Denifle, Bd. 2 1891, Nr. 1023, S. 485 f.; Nr. 1042, S. 505–507; dazu Thijssen 1998; Kaluza 1994; Paqué 1970; Courtenay 2008). Diese Statuten erscheinen in der nominalistischen Verteidigungsschrift weniger als Ausdruck eines Parteienstreites an der Fakultät, sondern als Ergebnis einer Bestechung durch Johannes XXII., nicht als Streit um hermeneutische Prinzipien sowie die Rolle der Philosophie relativ zur Theologie, sondern als Manifestation dunkler Machenschaften. Obwohl die Nominalisten außerdem geschickt auf die Verfolgungen der Prager Nominalisten durch die Wyclifiten um Hus verwiesen, erreichten sie erst nach zähen Verhandlungen sechs Jahre später zumindest die Rückgabe ihrer Referenzwerke. Auch wenn ihre Partei aus der Auseinandersetzung geschwächt hervorging – ein Ende des Pariser Nominalismus hatte die königliche Intervention nicht erbracht (Kaluza 1995b). Im Vergleich zu Nordeuropa spielten die Bischöfe in Italien auch im 14. und 15. Jh. eine deutlich größere Rolle bei der Kontrolle der universitären Lehre. Aufgrund seines entschiedenen Materialismus und Determinismus musste sich etwa der Naturphilosoph Biagio Pelacani aus Parma 1396 vor dem Bischof von Pavia verantworten und schließlich vor seinen Kollegen widerrufen, was er gegen Glauben und Kirche gesagt hatte. Beunruhigt von der Rezeption der averroistischen Theorien zur Seelenlehre durch Nicoletto Vernia, ließ der Bischof von Padua, Pietro Barozzi, 1489 zusammen mit dem örtlichen Inquisitor an der Kathedraltür ein Verbot aller Diskussionen des Monopsychismus anschlagen (Grendler 2002; Nardi 1958). Da derartige obrigkeitliche Interventionen eher selten waren und zumeist nur lokal wirksam blieben, ergab sich für die italienischen Universitäten bis ins 15. Jh. ein verhältnismäßig größeres Maß an Freiheit, während die Theologen in Paris oder Oxford, später auch in Löwen und Köln an der eigenen Universität wie gegenüber Gelehrten anderer Universitäten als wachsame Kontrollinstanz auftraten. Südlich der Alpen blieb jedoch selbst der Einfluss der wichtigsten theologischen Fakultät, der Pariser, beschränkt. Nicht nur als Urteilende, mehr noch als Mitglieder von Untersuchungskommissionen oder als Gutachter blieben Professoren für Theologie und Jura bis weit in die frühe Neuzeit gesucht. Wichtig war ihre Rolle beispielsweise im Kampf gegen die Hussiten. Kirchliche Autoritäten wie der Bischof von Worms, der zugleich Kanzler der Heidelberger Universität war, griffen auf die Dienste von Professoren zurück, um hussitische Lehren untersuchen und ein Urteil im Inquisitionsverfahren vorbereiten zu lassen (Heimpel 1969a; Heimpel 1969b; Classen 1983). In den ersten Jahren der Reformation agierten die Theologen in Paris und Löwen als Kontrollinstanzen gegenüber den Ideen Luthers – allerdings hatte ihre Verurteilung der Ablassthesen nicht den gewünschten Erfolg. Im Gegenteil, Luther zerlegte in seiner Responsio ad condemnationem doctrinalem die Argumente der Verurteilungen und zeigte sich nicht gewillt, den erwarteten Widerruf zu leisten (Luther 1888). Dass er sich in einer langen Reihe von Gelehrten sah, die von den Theologen zu Unrecht bekämpft und verurteilt worden waren, zeigt, welchen Ansehensverlust universitäre Verurteilungen im Laufe des 15. Jh.s erlitten hatten. Dementsprechend machten auch die späteren Verurteilungen von Thesen aus Luthers Schriften, wie sie etwa die Universität Paris vornahmen,
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Determinatio Theologice facultatis Parisiensis, super Doctrina Lutherania, Köln: Quentel 1521 (VD 16 P 761), Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Dg 1241, fol. a3r.
auf die Wittenberger Reformatoren keinen Eindruck; allein ihre Gegner mochten sich zustimmend auf sie berufen (Determinatio Theologice facultatis Parisiensis 1521). Ebenfalls auf entschiedene Ablehnung stieß die päpstliche Bannandrohungsbulle Exsurge domine, der Luther Folge zu leisten nicht bereit war. Performativer Ausdruck
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dieser Absage an die etablierten Regelungsmechanismen der Zensur und Lehrverurteilung war die Verbrennung der Bulle und des Corpus Iuris Canonici durch Luther und seine Studenten vor den Toren Wittenbergs im Dezember 1520. Mit der inhaltlichen und symbolischen Absage an die päpstliche und universitäre Zensur bildete sich ein Muster für den weiteren Verlauf der Reformation heraus: Verurteilungen und Zensurmaßnahmen waren hochgradig umstritten und wurden häufig mit publizistischen Kampagnen beantwortet. Geltung erlangen konnten sie nur im eigenen konfessionellen Lager und auch nur dann, wenn die weltliche oder kirchliche Obrigkeit ihre Durchsetzung unterstützte. Diese Entwicklung reicht allerdings bis ins späte 14. Jh. zurück: In den Konflikten um Wyclif und Hus lässt sich feststellen, dass die Expertise der Universitätsgelehrten herausgefordert wurde, indem Lehrkonflikte gezielt in eine größere kommunikative Arena verlagert wurden (Fasciculi Zizaniorum 1858). Der Prager Theologe hatte mit seinen Appellationen an ein Konzil und schließlich an Christus die im Streit um einen an Wyclif anschließenden Realismus sich entladenden Spannungen zwischen tschechischen und deutschen Professoren gezielt dem Zugriff der Universität und dem Prager Bischof entzogen und vor die gesamte Christenheit gebracht (Graus 1996; Kejř 2005; Fudge 2013). Während des Prozesses auf dem Konstanzer Konzil nutzte er das Medium Brief, um seine Sicht der Dinge und sein Selbstbild als Märtyrer für die wahre christliche Lehre dem böhmischen Adel und den Bürgern von Prag mitzuteilen (Hus 1920). Die mediale Verbreitung des Todes von Hus und Hieronymus von Prag auf dem Scheiterhaufen betrieben Anhänger und Gegner gleichermaßen. In noch stärkerem Maße als im Falle Wyclifs hing hier die Bewertung des Wahrheitswerts der anstößigen Lehren nicht mehr nur von den Stellungnahmen der theologischen Experten und den Verurteilungen kirchlicher Autoritäten ab, sondern ebenso von der Meinung eines breiteren Publikums, das es für alle Parteien publizistisch zu mobilisieren galt. Auch wenn erst Luther und seinen Anhängern eine den Pragern vergleichbare und sie bald noch übertreffende Mobilisierung einer breiten Öffentlichkeit über die gelehrten Kreise hinaus gelang, wurde in anderen Konflikten und Prozessen des 15. und 16. Jh.s die Adressierung eines gelehrten Publikums ebenfalls zu einem strategischen Mittel, um die Wirkung von Verurteilungen zu unterlaufen. Der der Frömmigkeitstheologie und dem Humanismus nahestehende Gelehrte Jakob Wimpfeling brachte zu diesem Zweck etwa die Liste der 1479 in einem gut dokumentierten Inquisitionsverfahren verurteilten Thesen des ehemaligen Erfurter Professors und späteren Wormser Dompredigers Johann von Wesel zum Druck. Dass er ihnen den Titel Paradoxa gab, verdeutlichte seine Ansicht, die Sätze zu Ablass, Fastengebot und der überragenden Autorität der Bibel gegenüber sonstigen kirchlichen Satzungen müssten Gegenstand gelehrter Diskussion und nicht eines Zensurverfahrens sein (Benrath 2006; Clemen 1898; Clemen 1900). Als der Jurist und Hebraist Johannes Reuchlin 1510 bezüglich der Frage, ob alle jüdischen Bücher außer der Bibel einzuziehen und zu verbrennen seien, im Unterschied zu den theologischen Fakultäten der Universitäten Köln, Mainz, Erfurt und Heidelberg zu einer insgesamt negativen Antwort kam und eine Einigung zwischen ihm und den Kölner Theologen scheiterte, machten sich
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beide Seiten daran, ihre Position in Flugschriften zu publizieren (Overfield 1984; Price 2010; de Boer 2016). Dass der Buchdruck derartige Ausweitungen von Gelehrtenkonflikten in autoritativ kaum beherrschbare kommunikative Arenen begünstigte, mussten Kirche und weltliche Obrigkeit trotz aller Regulierungsbemühungen spätestens in der Reformation erfahren. Besonders illustrierte Flugschriften erwiesen sich als wirksames Mittel, zensierenden Machtwirkungen herauszufordern (Schwitalla 1983). Schon in den 1470er-Jahren sind erste Versuche erkennbar, den neuartigen Distributionsmöglichkeiten, die der Buchdruck bereitstellte, mit Präventivzensur zu begegnen. Ein Vorreiter war hier die Universität Köln, die wohl schon 1475 vor Ort gedruckte Bücher einer Vorzensur unterwarf. Durch ein Breve Sixtus’ IV. ließ sie sich 1479 berechtigen, gedruckte Bücher auf mögliche Irrlehren und Ketzerei zu überprüfen. Nach derartigen ersten lokalen Ansätzen formulierte Innozenz VIII. 1487 mit der Bulle Contra impressores librorum reprobatorum das weitergehende Anliegen, für alle gedruckten Bücher Europas eine Vorzensur zu institutionalisieren. Druckern, die sich dieser nicht unterwerfen wollten, wurde die Exkommunikation angedroht (Pinto de Oliveira 1966). Alexander VI. gestand 1501 den Erzbischöfen von Mainz, Köln, Trier und Magdeburg das Recht der Präventivzensur zu. Auf dem Fünften Laterankonzil wurde sie 1515 mit der – alsbald im Druck veröffentlichten – Konstitution Inter sollicitudines für die Gesamtkirche vorgeschrieben (Bulla 1515), ohne dass sich dieses weitgespannte Anliegen flächendeckend umsetzen ließ. Wirksamer war es, wenn entweder lokale Universitäten die Präventivzensur an sich zogen wie Ingolstadt (1522), Wittenberg (1522/23), Marburg (1538) oder Leipzig (1543), oder Zensurmaßnahmen einzelne Schriften oder das Werk eines Autors betrafen. So verbot die spanische Inquisition 1521 und erneut 1523 alle Texte Luthers. Auch die weltliche Obrigkeit blieb nicht untätig: Kaiser Maximilian I. bestellte bereits 1496 einen Juristen zum Generalsuperintendenten des Bücherwesens in Deutschland, ohne dass davon eine sichtbare Wirkung ausgegangen wäre. Eine generelle kaiserliche Vorzensur aller im Reich gedruckten Schriften wurde schließlich im Wormser Edikt vom 8. Mai 1521 eingeführt. Im gleichen Jahr übertrug der französische König Franz I. die Zensur aller theologischen Bücher der Sorbonne; 1542 wurde in Frankreich eine staatliche Zensur auch für medizinische, juristische, literarische und historische Schriften eingerichtet. Im Reich gab der Nürnberger Abschied 1524 den Landesherren die Zensurhoheit. Der Reichsabschied von Speyer (1529) sowie die Reichspolizeiordnung von 1548 verschärften die getroffenen Maßnahmen, indem der Druck an eine obrigkeitliche Genehmigung gebunden wurde (Eisenhardt 1970; Burkhard 2001). In die Tat umzusetzen vermochten jedoch zunächst weder Universitäten noch die Kurie oder die weltliche Obrigkeit derartige Ansprüche einer Kontrolle der Buchproduktion (Grendler 1988). Dies änderte sich Mitte des 16. Jh.s. Auf Reichsebene wie in den Landesherrschaften kam es in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s zu einer Ausweitung der Kontrollbemühungen des Buchmarktes. Für die Frankfurter Buchmesse wurde eine eigene Bücherkommission geschaffen, die die dort vertriebenen Schriften prüfen sollte. Die bayerischen Herzöge richteten beispielsweise 1569/70 ein Religionstribunal ein, das die Zensur koordinierte, bevor diese Aufgabe nur wenige Jahre später
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der kurfürstlichen Zentralbehörde übertragen wurde. 1570 verbot der Reichsabschied von Speyer alle Winkeldruckereien; Pressen sollte es fortan nur in Reichsstädten sowie in Städten geben, die über eine Universität verfügten oder Residenz eines Fürsten waren. Die sieben Jahre später erlassene Reichspolizeiordnung ermöglichte es den kaiserlichen Organen, bei unzureichenden Kontrollmaßnahmen der lokalen Obrigkeit direkt zu intervenieren und Bücher zu konfiszieren. Unter dem Eindruck der konfessionellen Spaltung Europas waren zuvor schon je regional bzw. national gültige Listen mit verbotenen Büchern seit den 1520er-Jahren in den katholischen Niederlanden, in England durch Heinrich VIII. (1526), in Lucca (1545), Köln (Diözesansynode 1549), Venedig (1549 mit 149 Werken und 1554) und Mailand (1554; de Bujanda, Bd. 3 1987) sowie im Auftrag des französischen Königs von der Universität Paris (1544 mit 230 Büchern, 1545, 1547, 1549, 1551, 1556 mit 530 Titeln; de Bujanda, Bd. 1 1985) und im Auftrag Karls V. von der Universität Löwen (1546, 1550 und 1557/58 mit 450 Titeln; de Bujanda, Bd. 2 1986) erstellt worden. Eine Liste mit etwa 160 verbotenen Büchern für Portugal kam 1547 heraus; eine erste gedruckte Version erschien vier Jahre später. Für beide Indices lässt sich eine Rezeption der entsprechenden Verbotslisten aus Paris und Löwen nachweisen. Ein erster spanischer Index wurde 1551 in vier lokalen Redaktionen veröffentlicht, er führte 109 verbotene Titel bzw. Werkgruppen auf. Der Schwerpunkt lag dabei auf Bibelausgaben, -übersetzungen und -kommentaren sowie auf den Schriften der Reformatoren. Vorlage war der Löwener Index von 1550. Neue Ausgaben erschienen 1554, 1559 (mit 431 Verboten in der lateinischen und 175 in der kastilischen Liste), 1583 und 1584. 1554 hatte ein königliches Edikt die Präventivzensur und die Erteilung von Druckprivilegien dem Consejo Real übertragen; die Inquisition sollte dagegen bereits erschienene Bücher prüfen und notfalls aus dem Verkehr ziehen. Ein weiteres Edikt regelte 1558 minutiös Buchdruck und -handel für lateinische und volkssprachliche Schriften sowie das Vorgehen der Zensoren (de Bujanda, Bd. 5 1984; Pinto Crespo 1983). Der erste Index der portugiesischen Inquisition erschien 1547; Neubearbeitungen und Erweiterungen kamen 1551, 1559, 1561, 1564, 1581 und 1597 heraus. Ebenso wie ihre reformatorischen Kontrahenten intensivierte die katholische Kirche ab Mitte des 16. Jh.s ihre Kontrollbemühungen, wobei sie bestrebt war, die Zensurmaßnahmen zu zentralisieren: 1542 wurde das Sanctum Officium eingerichtet, dem es bis 1948 zukommen sollte, den Index verbotener Bücher zu erstellen. Das Trienter Konzil band 1546 den Druck von Erläuterungen und Kommentaren zur Heiligen Schrift grundsätzlich an eine Autorisierung durch die zuständigen geistlichen Autoritäten. Eine erste Version des Index der verbotenen Bücher entstand 1557 unter Paul IV.; diese Version wurde allerdings nicht veröffentlicht. Eine Neufassung kam 1559 heraus; verboten wurden die Werke von etwa 550 Autoren (de Bujanda, Bd. 8 1990). Selbst von katholischer Seite wurde diese Liste jedoch bald kritisiert, so dass Pius IV. eine Kommission einsetzte, die Regeln zum Umgang mit verbotenen Büchern erarbeiten sollte. Auf dieser Grundlage konnte Pius IV. 1564 ein Breve verkünden, welches die Kontrolle des Buchdrucks und Buchhandels durch Bischöfe und Inquisition regelte. So sollten alle Bücher all der Autoren, die bis 1515 von Päpsten
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und ökumenischen Konzilien verurteilt worden waren, verboten bleiben. Auch alle Schriften der ‚neuen Ketzer‘ wie Luther, Zwingli oder Calvin wurden unabhängig von ihrem Thema und Gehalt verboten. Laien wurde die Lektüre volkssprachlicher Bibelübersetzungen untersagt; Ausnahmen konnten nur durch Bischöfe oder die Inquisition erteilt werden. Die hier getroffenen Regelungen für den Umgang mit verbotenen Schriften blieben bis zur Reform durch Leo XIII. 1896 in Kraft. Mit den Indexregeln wurde eine neue Version des Index librorum prohibitorum publiziert, die die Vorlage aller künftigen Indices bis zur grundsätzlichen Neufassung von 1897 bilden sollte (de Bujanda, Bd. 8 1990; Reusch 1883–1885; Wolf 2001; Wolf 2006). Der Anspruch einer umfassenden Zensur erforderte die Schaffung geeigneter Institutionen. 1571 wurde eine Kongregation geschaffen, deren Aufgabe es war, alle Schriften zu prüfen, die bei der Kurie als möglicherweise irrig angezeigt worden waren, um so Neuerscheinungen in den Index aufnehmen oder Listen mit notwendigen Korrektoren erstellen zu können. Eine erste aktualisierte Version des Index wurde 1596 von Clemens VIII. veröffentlicht. Indem es schließlich zur Aufgabe der Inquisition wurde, die Druckerzeugnisse zu kontrollieren, war ein institutioneller Mechanismus gefunden, um die Zensurmaßnahmen überregional wirksam durchzusetzen. Eine flächendeckende Kontrolle gelang gleichwohl nicht (Grendler 1981; Fitos 2000; Breuer 1982). Die Zensurbemühungen auf reformatorischer Seite besaßen von vornherein vorrangig lokale Geltung. Dies bedeutete allerdings nicht notwendig, dass es ihnen im Vergleich zur katholischen Zensur grundsätzlich an Effektivität gemangelt hätte. Tatsächlich konnten die städtischen Obrigkeiten bzw. die lokalen Universitäten teils sehr restriktiv vorgehen und die Drucker dazu zwingen, anstößige Texte nicht zu veröffentlichen. Erfolgreich waren sie vor allem dann, wenn es ihnen gelang, bei der lokalen Bevölkerung die Überzeugung zu wecken, Zensurmaßnahmen seien notwendig, um die Reinheit des rechten Glaubens aufrechtzuerhalten und gegen äußere Angriffe zu schützen (Creasman 2012; Hasse 2000). Da sich jedoch häufig Konkurrenten in Nachbarstädten oder anderen Regionen fanden, die die inkriminierten Texte dennoch herausbrachten, blieben viele der von lutherischen oder reformierten Territorien und Städten ausgehenden Zensurmaßnahmen im Reich, anders als in Frankreich oder Spanien, über das gesamte 16. Jh. hinweg lokal beschränkte Kommunikationskontrollen (Pettegree/Hall 2004). 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Zensurtexte und Lehrverurteilungen sind formal und gattungsmäßig ausgesprochen uneinheitlich. Haupttypen sind Urkunden, Irrtumslisten (Koch 1973; Anzulewicz 1992) und (seit dem 16. Jh.) Listen verbotener Bücher (de Bujanda 1985–2011) sowie in die Statuten aufgenommene Beschlüsse von Fakultäten bzw. der Universität. Protokolle von Verhandlungen, die zu Zensurmaßnahmen führten, sind erst seit dem Spätmittelalter erhalten. Wenn auch die meisten dieser Texte auf Lateinisch verfasst
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sind, wurden von einigen zeitgleich autorisierte volkssprachliche Übersetzungen erstellt (etwa die Kölner Antwort auf das Mahnschreiben der Kurfürsten; Ehrle 1925, S. 281–290), mitunter wurde lateinisches Material zum Zweck der Veröffentlichung im Druck in die Volkssprache übertragen (Pfefferkorn 1516). Die publizistisch ausgetragenen Konflikte, die seit dem 15. Jh. viele Zensurmaßnahmen und Lehrverurteilungen begleiteten, wechselten häufig zwischen Gelehrten- und Volkssprache. Johannes Reuchlins 1511 veröffentlichter Augenspiegel etwa ist teils deutsch, teils lateinisch abgefasst; daneben verfasste er eine kurze deutschsprachige und eine umfangreiche lateinische Verteidigungsschrift (Reuchlin 1999). Als die Pariser Theologen 1241 Lehren des Dominikaners Stephan von Venizy verurteilten, griffen sie mit der Erstellung einer Liste von zehn zensierten Artikeln, denen jeweils ein emphatisches Bekenntnis des eigenen Wahrheitsbesitzes gegenübergestellt wurde, auf altkirchliche Formen zurück (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 128, S. 170– 172). Stephans Orden machte sich das Verbot eilfertig zu eigen. Der Pariser Bischof Wilhelm von Auvergne übernahm drei Jahre später das Urteil der theologischen Experten ausdrücklich und erneuerte die Verurteilung der zehn Thesen (Doucet 1947; Courtenay 1994). Mit ihrer Verurteilung eigens zusammengestellter Aussagen hatten die Theologen trotz einiger ordensinterner und inneruniversitärer Widerstände nicht nur erreicht, dass bestimmte Thesen künftig nicht mehr gelehrt werden konnten, sondern obendrein eine Form geschaffen, die in vielen späteren Verurteilungen verwendet wurde, um Wahres vom Falschen zu scheiden. Die in der Forschung vieldiskutierte Pariser Verurteilung von 1277 besteht etwa aus einem Brief des Bischofs Tempier, dem eine nummerierte Aufstellung der 219 verurteilten Artikel folgt (Piché 1999). Der Bischof beklagte in seinem Schreiben, dass einige Studenten der Artes die Grenzen ihrer Fakultät überschritten und Irrlehren verbreitet hätten. Besonders anstößig erschien ihm, dass sie sich dabei auf Schriften der Heiden stützten – zu denken ist insbesondere an Averroes, aber auch an Aristoteles selbst. Sie suggerierten, das, was sie vorbrächten, seien keine Behauptungen von universaler Geltung, sondern wahr allein nach der Philosophie, jedoch nicht gemäß dem christlichen Glauben. Aus Sicht der Zensoren war dies eine inakzeptable Schutzbehauptung mit gefährlichen Konsequenzen. Mit dem topischen, in Verurteilungen immer wiederkehrenden Verweis auf die Einfältigen, die durch solcherlei Lehren verwirrt würden, verbot der Bischof unter Berufung auf einen entsprechenden Ratschlag einer Theologenkommission, die im Folgenden angeführten Thesen zu lehren und zu verteidigen. Wer sie dennoch verbreite, solle binnen sieben Tagen zur Anzeige gebracht werden. Die hier entworfene Lehre der doppelten Wahrheit wurde Gegenstand einer intensiven Forschungsdiskussion (Dales 1984). Heute wird zumeist angenommen, dass kein Zeitgenosse eine solche Position in der von Tempier angegebenen Form vertreten habe, sich jedoch bei Artisten wie Boethius von Dacien oder Siger von Brabant die Aussageweise etabliert hatte, ‚gemäß den Philosophen‘ oder ‚wie ein Naturphilosoph‘ zu sprechen und so relativ zum jeweiligen Aussagekontext die Geltung der Glaubenswahrheiten im Argumentationsgang zu suspendieren (Bianchi/Randi 1993; Bianchi 2008). Die Artikelliste selbst wirft weitere Fragen auf: Die versammelten Themen sind ausgesprochen hete-
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rogen, von der Leugnung der Trinität über die an Averroes anschließende Annahme eines überpersonalen Intellekts, der die Körper wie ein Seemann sein Schiff bewege, bis hin zur Forderung, auf das Töten von Tieren zu verzichten. Eine klare Gliederung lässt sich nicht feststellen. Allenfalls einige Themen wie die Exzellenz des philosophischen Lebens finden sich zusammengeordnet. Ein zentrales theologisches Anliegen der Zensoren war es offenkundig, jegliche Beschränkungen der göttlichen Allmacht, die eine strikt aristotelische Kosmologie mit sich brächte, auszuschließen. Außerdem wollten sie einem selbstreferentiellen Philosophieverständnis entgegentreten, welches eine spezifische philosophische Lebensweise, wie sie auch in der zeitgenössischen Einführungsliteratur (Studienführer) entworfen wurde, mit der Verpflichtung auf die philosophische Wahrheit korrelierte. Nur wenige mittelalterliche Prozesse gegen Gelehrte sind ähnlich gut dokumentiert wie das Verfahren gegen den Pariser Bakkalar der Theologie Nikolaus von Autrecourt. Im Vatikanischen Archiv haben sich ein Prozessbericht, Thesenlisten und sein öffentlicher sowie ein ausführlicherer schriftlicher Widerruf erhalten, die Auskunft über die mehrere Jahre dauernde Untersuchung geben (gedruckt in Autrecourt 1994). Im November 1340 wurde Autrecourt zusammen mit vier weiteren Theologen nach Avignon zitiert. Vorausgegangen war eine Denunziation, vermutlich aufgrund von Thesen, die der Lizentiat in seiner Sentenzenvorlesung vorgetragen hatte. Aus Paris hatte man eine Liste mit zehn anstößigen Artikeln geschickt, die jedoch von der eingesetzten Kommission durchweg als nicht häretisch beurteilt worden waren. Erst in Avignon wurden auch sein Briefwechsel mit Bernhard (Brief) sowie der Traktat Exigit ordo Gegenstand der Untersuchung – und hier wurde die Kommission fündig. Dem offensichtlich bei Abschluss des Prozesses angefertigten Bericht zufolge zog sie weitere Prälaten, Doktoren und Professoren der Theologie hinzu, stellte anstößige Artikel zusammen, diskutierte sie und forderte von Autrecourt Erläuterungen. Dieser erkannte in einem kurzen Brief an die Kommission deren Autorität an. Er gab eine knappe Erläuterung zu den Hauptvorwürfen. Zu einem Widerruf erklärte er sich bereit und konnte so verhindern, dass ein Inquisitionsprozess eröffnet wurde. Die Kommission war sich, dem Bericht zufolge, nicht durchweg einig, wie die Artikel zu beurteilen seien, und konnte erst nach weiteren Anhörungen und Beratungen einen Konsens erzielen. Dieser wurde Autrecourt persönlich verkündet: Seine Briefe an Bernhard sowie Exigit ordo enthielten demnach so viel Falsches, Gefährliches und Häretisches, dass sie in Paris öffentlich verbrannt werden müssten. Autrecourt selbst sollte zunächst in Avignon und später in Paris einen für ihn verfassten Widerruf verlesen, in dem er vier Artikel öffentlich als falsch und irrig anerkannte. Die in einer ausführlicheren Liste zusammengestellten irrigen Thesen hatte er zu widerrufen. Sie und die vier Artikel durften künftig nicht mehr vertreten werden. Er selbst solle das Avignoneser Urteil nach Paris bringen und dort bekannt machen als Zeichen, dass er dessen Rechtmäßigkeit anerkenne. Neben dem öffentlichen Widerruf, den er am 19. Mai 1346 in Avignon und am 25. November 1347 in der Pariser Dominikanerkirche leistete, musste er in einem Schreiben an Papst Clemens VI., das charakteristischerweise mit den Worten ‚ve mihi‘ anhebt, alle von der Kommission beanstandeten
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Artikel widerrufen. Eingangs beteuerte er, seine anstößigen Thesen nicht verstockt weiter zu vertreten und deshalb, wenn er etwas falsch gesagt habe, einen öffentlichen Widerruf leisten zu wollen. Es folgt eine Aufstellung der inkriminierten Artikel, die Autrecourt als tatsächlich von ihm geäußert anerkennt. Beigefügt ist jeweils eine in der ersten Person Singular gehaltene kurze Erklärung, mit der er den Artikel als falsch oder irrig und mitunter auch als häretisch widerrief. Gegliedert ist die Liste nach den Fundorten. Den Anfang machen das Principium der Sentenzenvorlesung und die Briefe, es folgen die Artikel aus Exigit ordo. Die in der älteren Forschung als prototypischer Konflikt zwischen Humanismus und Scholastik behandelte Reuchlinaffäre ist geprägt von einer Vielzahl verschiedener Zensurtexte (Trusen 1998). Die theologischen Fakultäten der Universitäten Löwen, Köln, Erfurt, Mainz und Paris verurteilten zwischen 1513 und 1514 Reuchlins Augenspiegel, in dem er seinen Ratschlag zum Umgang mit dem jüdischen Schrifttum veröffentlicht und ausführlich gerechtfertigt hatte (alle Dokumente sind gedruckt in Pfefferkorn 1864). In Urkundenform wird jeweils berichtet, warum die Theologen zur Prüfung des Textes geschritten waren, dass sie darin zahlreiche Irrtümer und missverständliche Stellen sowie eine Begünstigung der Juden gefunden hätten und ihn daher als Wächter des Glaubens verurteilen müssten. Begründet wurde dies nicht zuletzt mit der Sorge um die Einfältigen, die vor anstößigen und zweifelhaften Lehren geschützt werden müssten. Daher sei das Buch zu unterdrücken und dürfe weder gedruckt noch verbreitet werden. Dass der Autor zu einem öffentlichen Widerruf zu zwingen sei, forderten lediglich die Pariser Theologen. Die Urteile wurden rasch als Flugblätter allgemein bekannt gemacht; das Pariser erschien sogar als eigene Flugschrift (Acta doctorum Parrhisiensium 1514). Alle Urteile wurden außerdem von Reuchlins Gegenspieler, dem Konvertiten Johannes Pfefferkorn, in seiner Beschyrmung bzw. Defensio publiziert, um die eigene Position zu stärken (Pfefferkorn 1516; Pfefferkorn 1864). Der Konflikt blieb auf diese Weise nicht auf die Welt der Universitäten beschränkt, auch weltliche Herrscher mischten sich ein. Der französische König sowie der spätere römische Kaiser Karl von Habsburg forderten vom Papst, den Augenspiegel zu unterdrücken (Pfefferkorn 1864, S. 149 f.). Kaiser Maximilian wiederum ordnete 1512 bzw. 1513 in zwei volkssprachlichen Mandaten an, dass Reuchlins Augenspiegel sowie seine weitere Verteidigungsschrift, die Defensio, konfisziert werden sollten. Gegen beide erging ein Verkaufsverbot, das die lokalen Obrigkeiten durchzusetzen hatten (Reuchlin 2003, S. 625–633). Ein Ende fand die langwierige Auseinandersetzung erst mit der Verurteilung des Augenspiegels durch Papst Leo X. am 23. Juni 1520. Das Dekanatsbuch der Kölner theologischen Fakultät verzeichnete unter dem Datum des 23. Juli, ein Brief aus Rom sei in der Fakultätsversammlung verlesen worden mit der freudigen Nachricht, dass man schlussendlich Erfolg gehabt habe. Doch die scheinbare Eindeutigkeit des Ausgangs des Prozesses gegen den Augenspiegel ist trügerisch. Denn obwohl die Universitäten und zumal die theologischen Fakultäten nach wie vor eine wichtige Rolle bei der Prüfung abweichender Lehrmeinungen spielten und als Wächter der Orthodoxie auftraten, begegneten sie, so zeigt der Fall Reuchlins, seit dem 15. Jh. immer mehr Widerständen, mit ihren Verurteilungen tatsächlich Konflikte zu
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entscheiden. Andere Instanzen traten hinzu, die über eigene Textsorten zur Zensur und eigene Strategien, ihre Anliegen durchzusetzen, verfügten. Als die Pariser theologische Fakultät 1544 ihren Katalog verbotener Bücher zum Druck brachte, sah sie sich mit dem rechtlichen Problem konfrontiert, dass ihre Entscheidungen zwar für ihre Kollegen, nicht jedoch für alle Christen bindend waren. Jede ihrer Verurteilungen konnte daher mit der bischöflichen oder päpstlichen Entscheidungsgewalt in Konflikt geraten. Daher war es ratsam, sich der Unterstützung von König oder Parlament zu versichern, um die Verurteilungen tatsächlich über den eigenen Kreis hinaus wirksam werden zu lassen. Eingedenk der Notwendigkeit, Anerkennung für das eigene verurteilende Handeln zu gewinnen, ist dem Druck des Katalogs ein längerer Auszug aus den Fakultätsregistern (Akten) vorausgeschickt, der für die Verurteilung wirbt (de Bujanda, Bd. 1 1985, S. 445–472). Irrlehren und irrige Schriften zu verurteilen, sei schon seit den Kirchenvätern geübte christliche Praxis. So habe Augustinus etwa eine Widerlegung eigener Schriften publiziert. Die Orthodoxie zu verteidigen, sei vornehmste Aufgabe der Theologen. Es sei dringend geboten, ein weiteres Umsichgreifen der lutherischen Häresie dadurch zu verhindern, dass die propagierenden Schriften unterdrückt würden. Man hoffe, mit Christi Hilfe werde es gelingen, alle Häresien aus Frankreich zu vertreiben. Dazu habe man Bücher aufgelistet, die häretisch, verdächtig oder anstößig und insgesamt dem christlichen Gemeinwesen gefährlich seien. Der eigentliche Katalog schließt sich an. Den Anfang machen die lateinischen Bücher, gefolgt von den französischsprachigen. In alphabetischer Ordnung werden zunächst jeweils die Schriften namentlich bekannter Autoren genannt, die geprüft und für schlecht befunden worden waren. Darauf folgt eine Zusammenstellung anonym erschienener Werke. Die Zensur konnte nahezu das Gesamtwerk eines Autors betreffen, so etwa im Falle des ‚Häresierachen‘ Martin Luther, zentrale Werke wie bei Erasmus von Rotterdam oder aber nur wenige Schriften, so im Falle der Humanisten Jacques Lefèvre d’Étaples oder Philipp Melanchthon. Abgeschlossen wurde der Katalog durch eine feierliche Erklärung des Dekans und der Fakultät, die bestätigte, dass dieser nach sorgfältiger Prüfung einvernehmlich beschlossen worden sei. Obwohl sich auch in diesem Fall die Zensur bzw. Verurteilung als dauerhafter Rechtsakt inszenierte, darf nicht übersehen werden, wie prekär ihre Geltung durchweg blieb, auch wenn die sie aussprechenden Institutionen alles versuchten, ihr Dauer zu verleihen. So griff der Katalog seinerseits auf vorherige Verurteilungen einzelner Schriften zurück und bestätigte sie damit. Bereits im folgenden Jahr erschien eine erweiterte Version, was in der Iteration der zensierenden Praxis unfreiwillig verdeutlichte, dass Verurteilungs- und Zensurtexte nicht in einem einzigen Sprechakt Tatsachen schufen, sondern vielmehr Elemente von Prozessen waren, in denen unter Rückgriff auf frühere Entscheidungen immer wieder aufs Neue Wahres vom Falschen, Sagbares vom Unsagbaren geschieden wurde.
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3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Lehrverurteilungen und Zensurtexte sind eine Institution, in der die inhaltliche Dimension der Lehrgehalte und Wissensbestände mit der Organisation vormoderner Wissenschaft zusammentrifft. Entsprechend lassen sich in der Forschung Ansätze, die primär an den verurteilten Wissensbeständen interessiert sind, von solchen unterscheiden, die vorrangig nach den Mechanismen der institutionellen Regulierungen bzw. deren Verortung im organisatorischen Gefüge der Universität fragen. Während jene vor allem in der Philosophie- und Theologiegeschichte zu finden sind, dominieren letztere in der Geschichtswissenschaft. In den letzten Jahren wuchs hier außerdem das Interesse an der performativen, rituellen und semiotischen Dimension von Zensurmaßnahmen (Assmann/Assmann 1987). Dass Verurteilungen und insbesondere die Verbrennung von Irrtumslisten bzw. verurteilten Schriften eine hohe symbolische Bedeutung hatten als öffentliche Grenzmarkierung zwischen Sagbarem und Unsagbarem, hat Thomas Werner gezeigt (Werner 2007). Forschungen zu Zensur und Lehrverurteilungen sind häufig von latenten oder expliziten Wertannahmen geleitet. Während insbesondere neuthomistisch geprägte Wissenschaftler eine grundsätzliche Berechtigung von Zensurmaßnahmen zum Schutze des rechten Glaubens und als Einhegung überschießender menschlicher Neugier anerkannten, sahen kirchenkritische Forscher in Verurteilungen und Zensur einen Beleg für das verderbliche Wirken der Kirche, die eine freie Entfaltung der Wissenschaft behindert hätte. Auch wenn solche undifferenzierten Positionen heute kaum noch zu finden sind, lässt sich doch immer wieder feststellen, wie die Einschätzung der denkerischen Leistung eines Gelehrten vom Vorhandensein oder Fehlen mittelalterlicher Zensurmaßnahmen geprägt war. Während sich die Thomasforschung lange schwertat zuzugeben, dass die von Leo XIII. 1879 zur Grundlage der theologischen Ausbildung erklärten Lehren des Thomas von Aquin Gegenstand mittelalterlicher Lehrverurteilungen gewesen waren (z. B. die vehemente Behauptung, Thomas sei von der Verurteilung 1277 nicht betroffen gewesen, bei Hissette 1977 u. Wilshire 1997, dagegen bereits Wippel 1977), gewannen andere Gelehrte ein besonderes Prestige als Opfer vermeintlicher Zensur. Der Franziskaner Roger Bacon etwa wird gerne als kühner Neuerer innerhalb der mittelalterlichen Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie betrachtet (Power 2006; Heiduk 2014). Dass seine Lehren angeblich von seinem Orden 1278 verurteilt worden waren und er zeitlebens mit massiven Widerständen durch Mitbrüder, Ordensobere und andere Zeitgenossen zu kämpfen hatte, wurde als Beleg für seine Bedeutung genommen. Inzwischen bestreiten viele Forscher die Existenz der Verurteilung; in den letzten Jahren konnte obendrein gezeigt werden, dass die von Clemens IV. in Auftrag gegebenen Werke zur Erneuerung der christlichen Philosophie und Theologie durchaus in Einklang mit den Zielsetzungen des Ordens standen (Power 2013). Der Fall Roger Bacons zeigt, dass vermeintliche oder tatsächliche Verurteilungen nicht nur für die Zeitgenossen, sondern auch für die moderne Forschung wichtige Anhaltspunkte für die Einschätzung der Leistungen einzelner Gelehrter relativ zu ein-
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zelnen Zeitgenossen wie zu einem wissenschaftlichen Systems insgesamt boten und immer noch bieten. Bei Verurteilungen, die nicht gegen die Lehren eines namentlich genannten Gelehrten gerichtet waren, stellte sich der Forschung immer wieder die ganz konkrete Frage, wer dieser gewesen sein könnte und welche Denkweisen verurteilt werden sollten. Besonders intensiv geführt wurde die Diskussion um die Verurteilung von 1277. Umstritten war hier einerseits, welche Personen oder Gruppen an der Universität gemeint waren (Hissette 1977; Thijssen 1998; Bianchi 2003; Aertsen/Emery/Speer 2001). Andererseits wurde trotz der offensichtlichen Disparatheit der versammelten Thesen gefragt, inwiefern hier über einzelne Lehrmeinungen hinaus eine bestimmte Denkweise an der Artistenfakultät verurteilt worden sei, die in aristotelischer Tradition einen emphatischen Philosophiebegriff und ein sittlich aufgeladenes Konzept des wahren philosophischen Lebens vertreten habe (de Libera 2003; Piché 1999). Neben einigen Studienführern, Kommentaren und quaestiones disputatae (Disputation) wäre die Verurteilung dann ein wichtiger Beleg für die Existenz einer derartigen philosophischen Bewegung. Aus historischer Sicht stellt sich die Frage, wie sich Verurteilungen und Zensurmaßnahmen zu einer vorrangig rechtlich gedachten libertas scholarium als Summe der Privilegien und Rechte der Magister und Scholaren verhielten (Classen 1983). In einer weiteren Perspektive schließt sich daran das vieldiskutierte grundsätzlichere Problem an, inwiefern es eine Lehr- oder sogar Wissenschaftsfreiheit an der vormodernen Universität gegeben habe. Dass damit häufig Werturteile in Bezug auf die vormoderne bzw. mittelalterliche und die moderne Wissenschaft einhergehen, kann kaum überraschen. Während in der älteren Forschung Verurteilungen häufig als Beleg für die repressive Wirkung von Kirche und Religion auf die vormoderne Wissenschaft genommen wurden (Lea 1906–1907), stellt diese Position in den letzten Jahrzehnten lediglich eine Meinung neben anderen dar. Insbesondere Philosophiehistoriker verweisen nach wie vor regelmäßig auf die Beschränkungen der Lehrfreiheit im Mittelalter und am Beginn der frühen Neuzeit, die von kirchlichen Autoritäten und inneruniversitär von den theologischen Fakultäten ausgegangen seien (Bianchi 1990; Bianchi 1999; Flasch 2008). Demgegenüber betonen viele Universitätshistoriker, wie wenig durchgreifend die Verurteilungen insgesamt gewesen seien (Courtenay 1989). McLaughlin etwa sieht die Verurteilungen als Reaktion auf die immer größer werdenden intellektuellen Freiheiten der Magister, die sie jedoch nicht wirksam beschränken konnten (McLaughlin 1977). Aufeinander prallten diese beiden Sichtweisen in einer Debatte zwischen Luca Bianchi, der die Beschränkungen hervorhob, denen mittelalterliche Wissenschaft unterworfen war, und Alain Boureau, der die beschränkten Wirkungen betonte, die die meisten Verurteilungen und Zensurmaßnahmen faktisch besaßen (Boureau 2000; Bianchi 2002). Boureaus Sichtweise entspricht derjenigen Hans Thijssens oder Andrew Larsens, die zumindest für die Zeit vor 1400 vom situativen und nur bedingt wirksamen Charakter der Lehrverurteilungen ausgehen (Thijssen 1998; Larsen 2011). Der Versuch Pierre Duhems, die Verurteilung von 1277 als Beitrag zum Fortschritt der Wissenschaft zu deuten, da sie gegen ein zu striktes Vertrauen auf das aristotelische Weltbild gerichtet gewesen sei, hat in der jüngeren Forschung kaum
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mehr Zustimmung gefunden, kann jedoch immerhin zur Diskussion der nichtintendierten Folgen repressiver Maßnahmen anregen (Murdoch 1991). Für die ersten beiden Jh.e der universitären Wissenschaft lässt sich tatsächlich nur bedingt von einer durchgehenden Beschränkung des Wissens und der Diskussion durch Verurteilungen und Zensurmaßnahmen sprechen, wenn man nicht das moderne Ideal der Wissenschaftsfreiheit als Referenzrahmen wählt. Im direkten Vergleich fielen repressive Maßnahmen gegen Laien deutlich schärfer aus als gegen Gelehrte. Fanden sich die betroffenen Gelehrten zu einem Widerruf bereit und unterließen es, die inkriminierten Thesen erneut zu vertreten, entgingen sie nicht nur in der Regel einer Häresieanklage, sondern konnten vielfach ihre Karriere innerhalb wie außerhalb der Universität fortsetzen, insbesondere, wenn sie wie Roger Bacon oder Durandus einflussreiche Förderer besaßen. Nikolaus von Autrecourt, dessen Universitätskarriere nach der Verurteilung seiner Thesen ihr Ende fand, war es immerhin möglich, nach seinem Widerruf Kanoniker zu werden (Kaluza 1995a). Dass die Geltung von Verurteilungen kritisch diskutiert werden konnte (Putallaz 1995; König-Pralong 2005), mahnt ebenso wie die fortgesetzte Rezeption von Gelehrten, deren Thesen verurteilt worden waren, dazu, die Wirkung von Lehrverurteilungen und Zensurmaßnahmen nicht zu überschätzen. So vermochten Heinrich Seuse oder Nicolaus Cusanus, die Lehren Meister Eckharts zu studieren und zu rezipieren, wenn sie auch vorsichtig vorgingen und weitgehend explizite namentliche Referenzen vermieden. Selbst die Verurteilung von 1277 unterbrach lediglich die Tradition des radikalen Aristotelismus in Paris, die jedoch drei Jahrzehnte später u. a. im Werk des Johannes von Jandun fortgesetzt werden sollte. Einig ist sich die Forschung darin, dass mit der Auseinandersetzung um den Prager Realismus eines Jan Hus und eines Hieronymus von Prag die repressiven Beschränkungen universitärer Lehre zunahmen. Ein Grund dafür dürfte die Einschätzung von Zeitgenossen wie Enea Silvio Piccolomini gewesen sein, dass die Irrtümer der Theologen die Lollarden bzw. die Hussiten verführt und damit zu erheblichen sozialen und religiösen Verwerfungen geführt hätten (Fudge 2005). Gelehrte Irrlehren erschienen so als manifeste Gefahr für einfache Gläubige und die Kirche insgesamt. Zudem war aus seelsorgerlichen Gründen ebenso wie zum Schutz der Kirche und der öffentlichen Ordnung eine rigorose Intervention notwendig, die innerakademische Debatten meist nicht verlangt hatten. Ein weiterer Grund war die sich schon bei Wyclif, dem Vorbild der Prager, andeutende Tendenz, Gelehrtenkonflikte aus der Universität hinauszutragen und nach externen, häufig weltlichen Unterstützern zu suchen. Dass obrigkeitliche Regulierungsversuche im 15. Jh. zunahmen, lässt sich an den Konstitutionen von Erzbischof Arundel für Oxford ebenso ablesen wie am Versuch der Kurfürsten, 1425 in Köln den erstarkenden Realismus zurückzudrängen (Classen 1981; Larsen 2011; Tewes 1993). Dass die Kölner Theologen über alle Schulgrenzen hinweg angesichts des kurfürstlichen Mahnschreibens jedoch ihr Recht betonten, den Realismus zu vertreten, explizierte die für den wissenschaftlichen Betrieb der mittelalterlichen Universität konstitutive Forderung, auch strittige Thesen an der Universität disputieren zu können. Dass Gelehrte wie Johannes Reuchlin oder Mar-
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tin Luther offen die Zensurpraxis der Theologen kritisierten, da auf diese Weise Sachfragen rein durch Machtmittel entschieden würden, zeigt ebenfalls das zeitgenössische Bewusstsein, dass Zensur an bestimmte Regeln gebunden war. Aus Sicht der Betroffenen gehörte dazu, dass Entscheidungen inhaltlich nachvollziehbar ausfielen und unparteiisch erfolgten. Dass die Reformatoren bei aller Kritik am zensierenden Treiben altgläubiger theologischer Fakultäten selbst wiederum zu Zensurmaßnahmen gegen ihnen nicht genehme Schriften und Autoren griffen, die ihrerseits als Machtmittel wahrgenommen wurden, ist eines jener Paradoxa, die für die Geschichte von Verurteilung und Zensur in der Vormoderne typisch sind. Selbst wenn das Konzept einer universitären Freiheit von Lehre und Forschung, wie es sich in der Sattelzeit entwickelte, für das Mittelalter nicht feststellbar ist, besaß die vormoderne Universität eine akademische Freiheit im Sinne eines ständischen Rechts, wissenschaftliche Gehalte frei zu disputieren (Classen 1981; Classen 1983). Grenzen wurden dieser Disputierbarkeit von Wissensbeständen dort gesetzt, wo es eindeutige lehramtliche Festsetzungen der Kirche gab. Durch die Aussageweise, ‚wie ein Naturwissenschaftler‘, also unter kontextabhängiger Ausblendung der religiösen Wahrheit, zu sprechen, konnten jedoch selbst solche Lehren, die dem christlichen Dogma widersprachen, zumindest diskutiert, wenn auch nicht als uneingeschränkt wahr vertreten werden (Bianchi/Randi 1993; Bianchi 2008). Als Leo X. 1513 in der Bulle Apostolici regiminis die Sterblichkeit der menschlichen Seele zu lehren verbot, bedeutete dies entgegen der Intention des Papstes keineswegs das faktische Ende der wissenschaftlichen Debatte. Denn diese Beschränkung hinderte den in Bologna lehrenden Pietro Pomponazzi nicht, nur drei Jahre später anhand dieser Lehre zu demonstrieren, dass ein konsequenter Aristotelismus zu Folgerungen führen musste, die mit dem Glauben nicht in Einklang zu bringen waren. Die Geschichte der Beschränkung der Aussagemöglichkeiten ist damit immer auch die Geschichte der Weisen, eigensinnig mit diesen umzugehen. 4. Bibliographie 4.1 Quellen Acta Doctorum Parrhisiensium de sacratissima facultate theologica … Contra Speculum oculare Joannis reuchlin Phorcensis (1514), Köln: Quentell (VD 16 P 754). de Bujanda, Jesús Martínez (Hrsg.) (1985–2002), Index des livres interdits, 11 Bde., Sherbrooke u. a. Bulla super impressione librorum: Lecta in Decima Sessione sacrosancti Lateranensis Concilii (1515), [Rom: Silber]. Clemen, Otto (1898), Über Leben und Schriften Johanns von Wesel, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, N. F. 2, S. 143–173. Clemen, Otto (1900), Zu dem Ketzerprozess Johanns von Wesel, in: Historische Vierteljahrschrift 3, S. 521–523. Denifle, Heinrich (Hrsg.) (1889–1897), Chartularium Universitatis Parisiensis, 4 Bde., Paris.
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REPRÄSENTATION
Repräsentation Marian Füssel
1. Die Universität als symbolische Ordnung Die universitas magistrorum et scholarium entwickelte sich während des späten Mittelalters vom privilegierten Personenverband allmählich zu einer Institution, d. h. einer auf Dauer gestellten genossenschaftlich organisierten, rechtlich abgesicherten und obrigkeitlich durch Pfründen und Landgüter finanzierten Einrichtung. Zur institutionellen Stabilisierung des akademischen Personenverbandes wurden Statuten und kodifizierte Normen ebenso benötigt wie klare Zugangsbedingungen und eine Verortung im sozialen Raum der jeweiligen die Universität beherbergenden Stadt. Um Sichtbarkeit, Anerkennung und Memoria der Institution zu gewährleisten, waren vielfältige symbolische Formen der Repräsentation erforderlich, die von den Aufnahmeritualen bis zur Beerdigung, von der Kleidung der Lehrenden und Lernenden bis hin zu den Insignien der Korporation reichten (Füssel 2006; Destemberg 2015). Das Thema Repräsentation ist für Universitätsgeschichtsschreibung nicht neu. Setzt man den Beginn einer modernen, das heißt hier zunächst sozialgeschichtlich ausgerichteten Universitätshistoriographie in den 1960er-Jahren an, waren entsprechende Themen stets präsent. So hielt Laetitia Boehm bereits 1972 einen wichtigen Vortrag zur Geschichte des „‚actus publicus‘ im akademischen Leben“ (Boehm 1996a), und Hartmut Bookmann sprach auf der Reichenauer Doppeltagung zur mittelalterlichen Universitäts- und Bildungsgeschichte 1981/1982 zur „Ikonographie der Universitäten“ (Bookmann 1986). Doch erst seit den späten 1990er-Jahren hat sich im Zuge einer alle Epochen und Themenfelder erfassenden kulturwissenschaftlichen Wende das Interesse für Fragen der zeitgenössischen Deutungsmuster und für die Alterität von Wahrnehmungs- und Handlungsmustern vom Rand in das Zentrum der Forschung verlagert. Eine Verschiebung, die als Zäsur jedoch nicht überbetont werden sollte. In vielen Bereichen erweisen sich die Fragen nach der Repräsentation als kompatibel mit den zuvor vorherrschenden verfassungs- und sozialgeschichtlichen Zugangsweisen. Begreift man die Universitätsverfassung als eine symbolische Ordnung und fragt nach der Verfassungswirklichkeit in actu (Stollberg-Rilinger 2010), erweist sich der Blick auf kulturelle Repräsentationen ebenso weiterführend wie die sozialgeschichtliche Frage nach sozialen Ungleichheiten, ständischen und korporativen Hierarchien, Karrierechancen und Mobilität, Gruppenbildungen oder Praktiken der Inklusion und Exklusion (Schwinges 1986). Ein weiterer wichtiger Effekt der
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kulturwissenschaftlichen Erweiterung des Themenfeldes der Universitätshistoriographie ist ihre interdisziplinäre Öffnung. War in den 1970er- und 1980er-Jahren die Soziologie ein wichtiger Einfluss, so partizipieren inzwischen auch Kunst-, Literatur- oder Musikgeschichte an Themen der vormodernen Gelehrtenkultur und ihren Repräsentationen. Unter Repräsentation werden hier im Anschluss an Roger Chartier drei Ebenen verstanden, innerhalb derer sich das Verhältnis „kollektiver“ Repräsentation zur sozialen Welt ausdrückt (Chartier 1989, S. 15). Auf einer ersten Ebene sind die verschiedenen Prinzipien der Klassifikation und Einteilung angesiedelt, mit denen eine Gruppe ihre Sicht der Welt manifestiert. Hierzu zählen Diskurse über Rang, Status und Privilegien der Universitätsangehörigen, über ihren sozialen Ort in der gesellschaftlichen Hierarchie, aber auch Unterscheidungen wie die zwischen litterati und illiterati oder die vielfältigen Konstruktionen intellektueller Orthodoxie und Heterodoxie (Zensur). Auf der zweiten Ebene der Repräsentation liegen die symbolischen Praktiken im Kampf um Anerkennung einer spezifischen sozialen Identität und eines sozialen Geltungsanspruchs. Hierunter fallen beispielsweise Kleidung, Prozessionsund Sitzordnungen, Anrede und Titulatur ebenso wie Verbildlichungen an Grabmälern oder in Matrikelbüchern (Matrikel). Die dritte Ebene schließlich benennt die „institutionalisierten und objektivierten Formen“ (Chartier 1992, S. 15) mit denen sich die Akteure und die Institution als Ganze auf sichtbare Weise Dauer verleihen und ihre Existenz manifestieren. Dies kann die Architektur von Universitätsgebäuden (Gebäude) ebenso umfassen wie bestimmte institutionelle Mechanismen, etwa das Prüfungs- und Graduierungswesen, die Rektorwahl oder Formen der Vergemeinschaftung durch rituelle Speisegemeinschaften oder akademische Gottesdienste und Feiertage bis hin zur Erinnerungskultur in Universitätsgeschichtsschreibung oder Jubiläum. Zeremonielle Interaktionen waren ephemer und lokal gebunden, doch durch ihre mediale Transformation wurden sie sowohl speicher- als auch an einen breiteren Adressatenkreis kommunizierbar. Visuelle Darstellungen einer Prozession, eines Wappens oder bestimmter Kleidungsstücke waren keine bloßen Abbilder, sondern materielle Träger von Geltungsansprüchen (Bilder). Als soziale Institutionen bedurften die mittelalterlichen Universitäten materieller Formen der Repräsentation, um ihre Geltung dauerhaft und unabhängig von der körperlichen Präsenz ihrer Mitglieder zu behaupten (Rehberg 2001). Materiellen Ausdruck des herausgehobenen Status als von Papst und/oder Kaiser privilegierter Institution bildeten die Insignien wie Zepter, Rektormantel, Privilegienurkunden und Siegel. Daneben traten zentrale Schriftstücke der autonomen Selbstverwaltung wie Statuten und Matrikelbücher. Für den Vollzug der akademischen Rituale und Zeremonien waren sie zentral, denn sie begründeten im Verbund mit den jeweiligen Akteuren und Räumen die besondere Qualität der Situation. So war für den Vollzug der Immatrikulation und den dabei zu leistenden Eid die materielle Beschaffenheit des Matrikelbuchs konstitutiv. Das Siegel war für den Abschluss universitärer Rechtshandlungen wie die Verleihung der Doktorwürde unabdingbar. Doch während diese performativen Praktiken an die An-
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wesenheit der Akteure gebunden waren und damit eine zeitlich begrenzte Dimension hatten, konnten die Objekte diese besondere Qualität über den Moment hinaus erhalten. Sie war ihnen gewissermaßen inhärent, indem sie zum einen sichtbare Spuren und Erinnerungen an den Akt bewahrten, wie etwa durch die unzähligen Fingerabdrücke auf dem Schwurblatt der Matrikelbücher, auf die Studenten ihren Eid ablegen mussten. Zum anderen konnten und mussten sie auch in Zukunft für diese für die Institution so konstitutiven Handlungen bereitstehen. Sie repräsentierten damit gleichsam die zeitliche Persistenz der Universität. 2. Einsetzungsriten Schon um eine Universität überhaupt ins Leben zu rufen, bedurfte es eines aufwendigen, kostspieligen und genau choreographierten „Einsetzungsrituals“ (Bourdieu 1990). Mit einem feierlichen Adventus holte man die Privilegien ein, die künftigen Universitätsmitglieder prozessierten durch die Stadt, und in der zentralen Kirche erfolgten die Investitur mit den Insignien der Rektorwürde und ein Festgottesdienst (Rexroth 1998; Weber 2004). Eine ephemere festliche Großinszenierung mit eigener Ästhetik entstand, für die Musik eine ebenso zentrale Rolle spielte wie die besondere Kleidung der Festteilnehmer. Ein gemeinschaftsstiftendes Mahl beschloss die Feierlichkeiten. Während der frühen Neuzeit holte man nicht mehr die Privilegien ein, sondern den jeweiligen Landesherrn bzw. dessen Stellvertreter als Stifter der Universität (Füssel 2006; Kirwan 2009). Ein „Erinnern an die Gründung“ (Müller 1998) als explizite Jubiläumsveranstaltung scheint sich bereits im späten Mittelalter herausgebildet zu haben (Wagner 2018). Allerdings brachte wohl erst die Reformationszeit die fortan prägende festkulturelle Ausgestaltung (Müller 1998). Die individuelle Laufbahn des homo academicus begann bereits weit vor der ersten Vorlesung am Hochschulort. Nachdem im Elternhaus die Entscheidung für ein Studium gefallen war und die Modi der Finanzierung etwa durch ein Stipendium geklärt waren, begann die von zahlreichen Unsicherheiten geprägte peregrinatio academica zur Universität (Miethke 1985; Irrgang 2002; Hiernard 2011). Die Sicherheit der reisenden Scholaren zu gewährleisten, war bereits Bestandteil der Authentica Habita Friedrichs I. und damit Ausgangspunkt der rechtlich-institutionellen Formierung der Universität als einer privilegierten Gemeinschaft (Stelzer 1978). In der Universitätsstadt angekommen, erwarteten den angehenden Studenten neue Unsicherheiten. Bereits am Stadttor begrüßten ihn künftige Kommilitonen, die ihn als Mitglied einer Landsmannschaft gewinnen wollten. Vielleicht gab man dem Neuankömmling auch bald schon zu verstehen, dass sein Kleidungs- und Sprachstil nicht den Gepflogenheiten der akademischen Kultur entsprach. In den Bursen und Kollegien als neuen Heimstätten erwartete die künftigen Studenten ab dem 14. Jh. fast überall in Europa ein derbes Aufnahmeritual, die sogenannte Deposition. Parallel zur Immatrikulation beim Dekan der Artistenfakultät vollzog die Gruppe der Bursalen bzw. der Studenten insgesamt die Aufnahme ihres
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neuen Kommilitonen durch allerlei körperliche und symbolische Erniedrigungen, die im Abschlagen künstlicher Hörner, der depositio cornuum ihren Höhepunkt fand (Füssel 2005; Verger 2007b; Studienführer). Ähnlich wie die Immatrikulation kostete diese Aufnahme den Kandidaten vor allem Geld. Beide Aufnahmevorgänge haben je ihre spezifischen Quellen hinterlassen: Zeugen die Einträge in die Matrikel von der sozialen Herkunft und den entsprechend gestaffelten Gebührensätzen, so liegen in den einzeln überlieferten Depositionsscheinen Belege dafür vor, wie wichtig es war, den Vollzug des Ritus belegen zu können, um ihn nicht ein zweites Mal durchlaufen zu müssen. Ab dem 16. Jh. verlagerte sich die Deposition mit dem Niedergang der Bursen in den Kompetenzbereich des Dekans der Artistenfakultät. Der Aufnahmevorgang bediente nicht nur die ökonomischen Bedürfnisse des akademischen Berechtigungssystems (Rasche 2007), sondern trug auch zur normativen Integration der akademischen Gemeinschaft bei. So wurden die angehenden Studenten, die nun in einen besonders privilegierten ständischen Rechtsraum eintraten, auf die akademischen Gesetze wortwörtlich eingeschworen, indem sie einen feierlichen Eid leisteten (Kibre 1955). Die normative Integrationsleistung der Immatrikulation kommt seit dem 17. Jh. materiell besonders in den als Einblattdrucken ausgegebenen akademischen Disziplinarregeln zum Ausdruck, die als eine Art Immatrikulationsbescheinigung dienten (Rasche 2016). Auf diese Weise konnte sich analog der regelmäßigen öffentlichen Statutenverlesung nach Gottesdiensten zu Semesterbeginn niemand damit entschuldigen, er hätte von den Verboten nichts gewusst. Da gerade das deviante Verhalten der Studenten aktenkundig wurde, entstand in der Historiographie häufig der Eindruck, das gesamte Studentenleben sei ein fortwährender Exzess gewesen. Von Verstößen gegen die Kleiderordnung, übermäßigem Alkoholkonsum, Sachzerstörung und nächtlicher Ruhestörung, bis hin zu Zweikämpfen und kollektiver Gewalt (Bubach 2005; Cassagnes-Brouquet 2012; Skoda 2013), unehelichen Schwangerschaften und Schuldenbergen reicht die Palette an Delikten. Studentische Devianz stellte für alle vormodernen Universitätsstädte ein prägendes Problem dar und zeigt deutlich, dass die Lebensstile und Männlichkeitskonzepte von Studierenden und graduierten Akademikern wie Magistern und Professoren sich deutlich voneinander unterschieden (Karras 1997; Schuh 2015). Die studentische Kultur fand ganz eigene Rituale der Subjektivierung und Identitätsbildung und bildete eine akademische ‚Standeskultur auf Zeit‘ (Füssel 2004, S. 166). Denn mit dem Ende des Studiums und dem Verlassen der Universitätsstadt (Exmatrikulationsbescheinigungen gab es noch keine) endete auch der privilegierte Status, es sei denn, man schloss das Studium mit einem akademischen Grad des Lizentiaten, Magisters oder Doktors ab und genoss die damit beanspruchten Vorrechte, was eher die Ausnahme war (Baumgärtner 1986; Kouamé 1998). Die Graduierung stellte symbolisch wie materiell – jedoch meist weit weniger intellektuell – den Höhe- und Endpunkt des Studiums derjenigen Kandidaten dar, die im Dienste einer späteren Karriere einen Grad erwerben wollten (Destemberg 2009). Die Ursprünge der Graduierung gehen bis auf die Pariser Schulen des 12. Jh.s zurück, wo die Aufnahme in den Kreis der ‚Gilde‘ der lehrberechtigten Magister bereits be-
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legt ist, als die korporativen Formen der universitären Vergemeinschaftung sich erst herausbildeten (Spatz 1994). Nach verschiedenen Übungsdisputationen wurde eine pro-gradu-Disputation und ein Examen anberaumt (Weijers 1996), während derer der Kandidat seine intellektuellen Kompetenzen unter Beweis stellen konnte. Den beiden Hauptlehrformen der mittelalterlichen Universität, der lectio (Vorlesung) und der disputatio (Disputatio) sowie den öffentlichen Reden und Predigten, kam selbst ein symbolischer Charakter zu. Vortragende und Hörer waren durch bestimmte Sitz- oder Stehordnungen voneinander in ihren Rollen sorgfältig geschieden, und die Sprechakte folgten einer genau geregelten räumlichen wie zeitlichen Ordnung. Besonders deutlich wurde dies im quasi zeremoniellen Schaukampf der Disputation, die immer wieder metaphorisch als Hahnenkampf, Duell oder Redeschlacht tituliert wurde (Füssel 2010, S. 225–227; Traninger 2005). Eine agonale, aber geregelte Praktik, die für den Erwerb oder Verlust von Ehre auf intellektueller Ebene ähnlich folgenreich sein konnte wie ein tatsächlicher gewaltsamer Zweikampf. Für die Graduierung noch wichtiger als intellektuelle Kompetenz war jedoch die korrekte Entrichtung der beträchtlichen Gebühren (Verger 1977). Kostspieligster Teil der Graduierung war die feierliche Investitur mit den Zeichen der Doktorwürde, die je nach Universität lokal leicht differierten, aber aus einem festen Kanon von Doktorring und -mantel, dem Zeigen eines geschlossen und eines geöffneten Buches, einem Kuss und dem Besteigen des Katheders bestand (Füssel 2010, S. 227–233). Begleitet wurde der Akt von einer sinnstiftenden Promotionsrede, die meist auf die Bedeutung der einzelnen Insignien einging (Lewry 1982; Füssel 2006, S. 179–187). Der Investitur schloss sich ein Doktorschmaus an, das sogenannte prandium, innerhalb dessen eine kostenintensive Bewirtung in einem öffentlichen Gasthaus oder einer der Räumlichkeiten der Universität anstand (Erler 1905; Prahl 1988). Weitere Kosten entstanden durch das Schenken von Handschuhen und Biretten von den Geprüften an die Prüfenden (Hülsen-Esch 2006, S. 124–142; Schuh 2013, S. 74). Um diese Ökonomie der Verausgabung ein wenig zu rationalisieren und gleichzeitig den Abschied vom zwangszölibatären Studentenleben deutlich zum Ausdruck zu bringen, verbanden manche Kandidaten die symbolische Vermählung mit der Wissenschaft mit einer richtigen Hochzeit (Wagner 210). Kaum ein anderes akademisches Einsetzungsritual verdeutlicht so sehr in nuce die Funktionsprinzipien der vormodernen Universität. Hier inszenierte sich die akademische Gemeinschaft feierlich und kommunizierte nach außen gegenüber den geladenen Honoratioren und Verwandten das erfolgreiche ‚Arbeiten‘ der Hochschule. Der akademische Personenverband zog seinen materiellen Profit aus der Veranstaltung, und der Kandidat erlebte einen bedeutenden sozialen Statuswechsel, der von den Zeitgenossen mit einem Ritterschlag verglichen wurde. So begriff sich der Inhaber eines Doktortitels als Mitglied einer nobilitas literaria, ein Geltungsanspruch, den der Adel von Geblüt freilich niemals anerkennen sollte (Füssel 2013). Eine alternative außeruniversitäre Praktik der Statuserhöhung begann 1341 mit der Krönung Francesco Petrarcas zum poeta laureatus, ein Ritual, dass sich seit dem 15. Jh. zunehmend häuft und noch bis in das 18. Jh. vollzogen wurde (Schirrmeister 2003; Flood 2006). Auch bei der Dichterkrönung spielten bestimmte Insignien eine
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zentrale Rolle bei der Investitur. Ähnlich wie bei einer Doktorpromotion wurden Ring und Barett verliehen, als Zeichen der kaiserlichen Autorität folgten ein Zepter sowie ein Siegel und schließlich das zentrale Zeichen, der Lorbeerkranz (vgl. das Wiener Beispiel des Konrad Celtis bei Schirrmeister 2003, S. 3 mit Anm. 12) Die Einsetzungsrituale der Graduierung zeigen die spezifisch universitäre Verbindung der Vermittlung gelehrter Kompetenzen, materieller Ressourcen und einer spezifischen sozialen Anerkennung – mithin einer Kombination aus ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, dessen Wahrnehmung das symbolische Kapital des Akademikers konstituierte. Die Graduierung verweist aber auch auf die Verschränkung von individuellen und kollektiven Mechanismen der Repräsentation: Der Kandidat stand im Mittelpunkt und erlebte in einem Akt „sozialer Magie“ eine Verwandlung (Bourdieu 1990). Gleichzeitig vergewisserte sich die Korporation als Ganze ihrer Werte, ihrer Arbeitsfähigkeit und ihres privilegierten Status. Der spezifischen sozialen Logik des Einsetzungsrituals entsprechend wurde mit Immatrikulation, Deposition und Graduierung nicht nur eine klare Trennung gezogen zwischen denjenigen, die das Ritual bereits durchlaufen, und denen, die es noch zu absolvieren hatten. Vielmehr bekräftigten die universitären Rituale auch die Grenze zu denjenigen, die niemals diese Rituale durchlaufen würden, da sie grundsätzlich nicht zum Besuch des Studiums berechtigt waren, wie etwa Frauen (Boehm 1996b; Hülsen-Esch 1997) und – mit Ausnahmen – Juden (Shatzmiller 1994) oder Unehrliche (Nowosadtko 1994, S. 317–321). Die erste Promotion eines Juden erfolgte im Reich offenbar erst im Jahr 1650 mit Jakob Israel in Freiburg (vgl. Komorowski 1991, S. 33) und die erste Promotion einer Frau mit Dorothea Christiane Erxleben 1755 in Halle. Ein wesentliches Ausschlusskriterium lag in den zu leistenden Eiden, da diese Gruppen in der Vormoderne als nicht oder nur bedingt eidesfähig galten. Die Rituale bekräftigten damit die innere Kohäsion der universitären Gemeinschaft und verstärkten die Abgrenzung nach außen. Zugleich leisteten die Rituale und Zeremonien, die den Übergang zwischen den verschiedenen Stufen akademischer Zugehörigkeit begleiteten, einen wesentlichen Beitrag zur Binnendifferenzierung der jeweiligen Institution. Denn Zeitpunkt und Qualität des Abschlusses bildeten zentrale Grundlagen des inneruniversitären Rangsystems, das den Alltag der Universitätsangehörigen auf nahezu allen Ebenen bestimmte. So wurde der Platz eines Graduierten in seiner Kohorte, zumindest dem Anspruch nach, seiner examinierten Leistung entsprechend verzeichnet. Statuskonflikte mit dem Adel konterkarierten sowohl die rein meritokratische Ranglogik nach Leistung als auch nach Anciennität jedoch immer wieder (Füssel 2006, S. 166–175). 3. Ordnung und Distinktion Das grundlegende hierarchische Strukturprinzip der Universität bildete die Ordnung der vier Fakultäten Theologie, Jurisprudenz, Medizin und Philosophie. Während die artistische bzw. später philosophische Fakultät nur den Status einer propädeutischen
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Vorstufe einnahm, häufig in der Metapher der Magd (ancilla) ausgedrückt, unterschieden sich die drei sogenannten höheren Fakultäten sowohl in materieller wie symbolischer Hinsicht deutlich voneinander (Kintzinger 2001). Neben höheren Gehältern wurde dies etwa auch durch die Tatsache ausgedrückt, dass nur sie einen Doktorgrad vergaben, während der höchste Abschluss in der Philosophie bis in das 18. Jh. hinein der Magister blieb (Füssel 2006, S. 234–240). Die zahlreichen Interferenzen der unterschiedlichen hierarchischen Ordnungsprinzipien wie Anciennität, Art des Grades und Fakultätszugehörigkeit boten immer wieder Stoff für langwierige Rangkonflikte im „Streit der Fakultäten“ (Immanuel Kant). Drei Konfliktkonstellationen stechen dabei besonders hervor. Die erste Konfliktlinie verlief zwischen Theologen und Juristen (Krynen 1991). Neben dem traditionellen Streit, wer über den wichtigeren Gegenstand verfügte, zeichneten sich hier vor allem soziale Rivalitäten ab, die unterschiedlichen Machtressourcen bzw. Kapitalien im Sinne Pierre Bourdieus geschuldet waren (Bourdieu 1997). Während die Theologen stets die erste Position im Zeremoniell einnehmen konnten, also über hohes symbolisches Kapital an Ehre verfügten, besaßen die Juristen aufgrund ihrer Berater- und Gutachtertätigkeiten meist das höhere ökonomische Kapital. Das dadurch erhöhte Selbstbewusstsein wurde zusätzlich noch durch die Nähe zu den regierenden Fürsten und Königen unterstützt (Rexroth 1994; Immenhauser 1998). Hinzu traten auch konkurrierende Geltungsansprüche etwa zur Verteidigung des Glaubens und der Verurteilung von vermeintlichen Irrlehren, wodurch die Vertretung des rechten Glaubens selbst zu einer symbolischen Ressource werden konnte (Zensur). War dies eine Sache der Kanonisten, also der Rechtsprechung, oder blieben derartige Entscheidungen allein den Theologen vorbehalten? Geltungskonflikte waren damit in der Anwesenheitsgesellschaft einer vormodernen Korporation vorprogrammiert. Offenen Austrag als Rangstreit fand jedoch häufiger ein zweites Konfliktmuster in Gestalt des Streites zwischen Juristen und Medizinern (Schütte 2017). Auch hier standen sich die vom Gegenstand abgeleiteten Geltungsansprüche – Kompetenz für den Körper des Gemeinwesens oder den individuellen menschlichen Körper – relativ schwer vermittelbar gegenüber. Beide Gruppen bildeten zudem „Prototypen“ vormoderner Experten par excellence (Rexroth 2008, S. 25). Die Mediziner verfügten als Leibärzte und Gutachter über ähnliche Beratungstätigkeiten und Einflüsse wie die Juristen, suchten sich aber gleichzeitig von der handwerklichen Tradition der praktizierenden Ärzte abzugrenzen und bildeten noch dazu meist die kleinste Fakultät der jeweiligen Universität (Schütte 2017). Die dritte Konfliktkonstellation verlief zwischen den drei höheren Fakultäten und der Artistenfakultät (Kintzinger 2001). So kam den Artisten als zwar zahlenmäßig größter, aber vor allem auf propädeutische Wissensvermittlung ausgerichteter Fakultät der unterste Rang zu. Ein weiteres internes Strukturprinzip der mittelalterlichen Universität war die Ordnung nach Nationen, die allerdings im Heiligen Römischen Reich nur Prag, Wien und Leipzig betraf (Kibre 1948). Die nationes waren landsmannschaftliche Verbände, die ähnlich den Fakultäten häufig eine Viererstruktur formten und vor allem in Fragen der internen Selbstergänzung und Selbstverwaltung eine Rolle spielten. Auch hier
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kam es regelmäßig zu Auseinandersetzungen, die allerdings bis zum Übergang zur frühen Neuzeit nicht als ‚protonationale‘ Konflikte, sondern als Konkurrenz institutioneller Teileinheiten zu verstehen sind. 4. Korporation und Umwelt Als genossenschaftlicher Personenverband wählte die Universität ihr Oberhaupt, den Rektor, aus den eigenen Reihen, d. h. aus dem Kreis der ordentlichen Professoren. In der Entwicklung der verschiedenen Wahlverfahren lassen sich auch die Wertschätzung und Bedeutung des Amtes sowie der Grad der institutionellen Autonomie ablesen (Gorochov/Verger 2008). Während die mittelalterliche Universität drei Typen von Verfahren mit aufsteigendem Komplexitätsgrad kannte, die Repräsentantenwahlen, die Ausschusswahlen und die Mehrfachausschusswahlen, erfolgte die Wahl in der frühen Neuzeit nahezu automatisiert nach Anciennitätsprinzip oder an einigen katholischen, fürstbischöflichen Hochschulen auf Lebenszeit (Schwinges 1992) (Verwaltung). Nach erfolgter Wahl wurde der Rektor in einem feierlichen Einsetzungsritual in sein Amt eingeführt. Das Ritual des Rektoratswechsels und damit gleichzeitig des Semesterwechsels bildete eine wichtige Station im akademischen Jahresablauf und konnte zu einer Art Stimmungsbarometer für die Beziehungen zwischen Rektor und Studenten ebenso wie zwischen Universität und Stadt werden (Verger 2007a). Wann immer sich die Mitglieder der Universität begegneten und damit gezwungen waren, eine räumliche Ordnung einzunehmen, wie etwa beim gemeinsamen Mahl oder einer universitären Prozession, gebührte dem Rektor die Oberstelle. Eine Position, die innerhalb der Universität selten in Frage stand, in der Interaktion mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt jedoch immer wieder zum Quell von Statusrivalitäten wurde. Gebührte dem Bürgermeister einer Stadt, einem hohen geistlichen Würdenträger, einem studierenden Adeligen oder dem Rektor der erste Platz in einem alle Gruppen eines Gemeinwesens bindenden Ritual wie etwa der Fronleichnamsprozession? Fragen, über die jahrhundertelang immer wieder gestritten wurde. Die öffentliche Sichtbarkeit von Rang und Status war innerhalb einer vormodernen Anwesenheitsgesellschaft eine zentrale Frage, die über die Ehre und damit auch die Autorität einer Korporation und ihrer Angehörigen entschied. Zu dieser Sichtbarkeit gehörten zweifellos auch die Wohnungen und Häuser der Gelehrten und Studenten, doch sind moderne Vorstellungen eines ‚Quartier Latin‘ nicht immer kompatibel mit den mittelalterlichen Wohnverhältnissen, wenngleich bereits früh mentale Kartierungen urbaner Räume mit Blick auf die Universitätsangehörigen anzutreffen sind (Rexroth 2016). Universität und Stadt standen in einem komplexen Verhältnis des Mit- und Gegeneinander, das räumlich seine Eindeutigkeit in Bezug auf die wechselseitigen Beziehungen vor allem im Zeremoniell fand. Jenseits der Kollegarchitektur von Oxford, Cambridge oder in abgeschwächtem Maß Helmstedt oder Würzburg war der urbane Raum eher von einer kleinteiligen Ordnung geprägt, in der sich vom Kirchenraum bis hin zur Immunität des Professorenhauses
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unterschiedliche Rechtskreise überschnitten (Gebäude). Grabmonumente und Epitaphien von Gelehrten etwa konnten in städtischen Kirchenräumen Rang und Status der Universität demonstrieren, ohne dass eine körperliche Anwesenheit der Akademiker notwendig war (Knöll 2003; Wolff 2007) (Grabmäler). Überschneidungen und Rivalitäten kamen auch auf dem städtischen Gesundheitsmarkt zum Ausdruck (Schütte 2017) sowie in der Konkurrenz akademischer und städtischer Gerichtsbarkeit (Bubach 2005) oder in den vielfältigen Wirtschaftszweigen der cives academici vom Universitätskellerwirt oder Universitätsapotheker bis zum Universitätsbuchdrucker, die mit ihren städtischen Kollegen konkurrierten. Während die Städte trotz aller Privilegien der Universitätsbürger ökonomisch von der Präsenz einer Hochschule profitierten, kam es in Fragen von Recht und Repräsentation regelmäßig zu Konflikten. Ein Verhältnis, das sich von einer binären Logik zweier konkurrierender Korporationen auf Basis von Schwureinungen ab dem späten Mittelalter immer mehr zu einer triangulären Struktur von Stadt, Universität und Landesherrschaft entwickelte. Langfristig ging die Relation vor allem zu Lasten der Städte, da es die Universitäten gut verstanden, sich als landesherrliche Institutionen gegen die Stadt zu positionieren. So boten die Universitäten den Landesherren eine willkommene Bühne zur Inszenierung der eigenen Macht. Die Nähe der Universitätsgelehrten zum Hof fand so ihren Ausdruck einerseits in bestimmten Expertentätigkeiten als Leibärzten, gelehrten Räten oder Dichtern, andererseits in der symbolischen Partizipation an der höfischen Kultur und ihren Geltungsansprüchen. Gerade die Ausbreitung des Humanismus an den Universitäten seit dem 15. Jh. schuf durch die Hochschätzung der Rhetorik neue Möglichkeiten, für die herrschaftliche Repräsentation etwa im Bereich des Herrscherlobs oder der dynastischen Genealogie nützlich zu werden (Grafton/Jardine 1986). Eine Nähe, die selbst wieder neue Spannungen zwischen Wissen und Macht, Höflingen und Gelehrten sowie den Habitusmustern der ‚verhöflichten‘ Gelehrten und traditionellen Formen des Gelehrtenhabitus hervorrief. Ein besonders drastisches symbolisches wie instrumentelles Mittel der Distanzierung war der Auszug der gesamten Universität oder eines Teils der Studierenden aus der Universitätsstadt. Im Reich erfolgten solche Auszüge zwischen 1348 und 1517 insgesamt elf Mal (Bahnson 1973). Als besonders folgenreich erwiesen sich 1209–1214 der Auszug von Magistern und Studenten aus Oxford, der in der Gründung der Universität Cambridge mündete, Auszüge von Professoren und Studenten aus Paris, von denen Schulen in Angers und Orléans profitierten, sowie 1409 der Auszug der Studenten der deutschen Nation aus der Universität Prag, der zur Gründung der Universität Leipzig führte (Verger 1993, S. 63). Auszüge bildeten symbolisch eine Art Inversion des Einzugszeremoniells einer Universitätsgründung. Nicht alle Auszüge waren jedoch Rang- und Statuskonflikten mit der sozialen Umwelt, sei es nun innerhalb der Hochschule oder mit der Stadt, geschuldet. Die meisten Ursachen bildeten Kriege, Seuchen und Hungersnöte, die den Hochschulbetrieb vor Ort unmöglich machten (z. B. die Pest in Heidelberg 1388, 1407, 1426, 1437; Greifswald 1457; Rostock 1464; Frankfurt/Oder 1517). Das Resultat eines klassischen „town and gown“-
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Konfliktes (Verger 2007a) bildete im Reich allerdings der kurzfristige Auszug von Professoren und Studenten aus Erfurt 1510 (Bahnson 1973, S. 195). 5. Repräsentationen im Wandel Mit der Konfessionalisierung veränderten sich zwar religiöse Anlässe und Räume, für die Intensität von Statuskonkurrenzen blieb dies jedoch weitgehend folgenlos, ja wirkte in vielen Fällen sogar noch bestärkend, wie etwa die Geschichte der Kirchenbestuhlung zeigt, die in allen konfessionellen Lagern zu einer umstrittenen Statusressource wurde (Füssel 2006, S. 312–317). Auch im Bereich der Universitätsauszüge kam es zu einem Anstieg: Zwischen 1517 und 1607 erfolgten allein im Reich 20 Auszüge (Bahnson 1973). Mit dem 16. Jh. und der frühen Neuzeit stieg jedoch auch der Einfluss der Landesherrschaften und territorialen Zentralgewalten immer mehr. Die Universitäten verloren an genossenschaftlicher Autonomie, gewannen aber an Einfluss als Anstalten des werdenden Staates. Für die Formen der Repräsentation blieb das nicht ohne Folgen. Der Landesherr wurde – von der Ausnahme städtischer Gründungen wie Basel, Straßburg oder Köln einmal abgesehen – zur zentralen Bezugsfigur, was sich auch in den symbolischen Formen artikulierte. Der Rektor sollte an Universitäten im Reich fortan meist der Landesherr selbst sein, das eigentliche Amt übte der Prorektor aus. Portraitgalerien von Professoren gingen ebenso auf landesherrliche Initiative zurück (Bilder) wie die Regulierung der akademischen Kleiderordnung oder von akademischen Verfahren der Selbstergänzung und Selbststeuerung. Das Zusammenspiel von Diskursen, symbolischen Praktiken und institutionalisierten Formen der Repräsentation ist von Statik und Dynamik gleichermaßen geprägt, alte Geltungsansprüche verloren an Resonanz, neue traten hinzu. Ihre symbolische Ordnung verlieh den Universitäten immer wieder institutionelle Dauer und Stabilität. So waren die von ihr ausgehenden Statuskonkurrenzen selten auf die Aufhebung der gesamten Ordnung ausgelegt – mit Ausnahme von kurzen Phasen des Antiritualismus wie der Reformationszeit einmal abgesehen –, sondern bestätigten vielmehr die Geltung der Ordnung als solcher. Formal wurde etwa die symbolische Hierarchie der vier Fakultäten nie geändert, obwohl sich die jeweiligen Machtpotentiale durchaus wandelten. Am sinnfälligsten verkörpern aus heutiger Sicht die Talare die kulturelle Reproduktionsmacht der symbolischen Ordnung der Hochschulen. Sie verschwanden erst am Ende des 18. Jh.s, jedoch nur um im 19. Jh. bereits wiederzukehren. Doch bei aller (vermeintlichen) Kontinuität sollte schließlich nicht die spezifische Historizität der mittelalterlichen Universitas aus dem Blick geraten, denn allzu oft suggeriert die formale Ähnlichkeit der Repräsentationen auch eine gemeinsame Kultur. Ein Fokus auf die Quellen- und Überlieferungssituation kann hier als wichtiges Korrektiv dienen, um sowohl Rückprojektionen aus der Geschichte der frühen Neuzeit zu vermeiden, als auch Einheit wie Pluralität der europäischen Universitätsgeschichte angemessen zu differenzieren.
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BASISARTIKEL „REPRÄSENTATION“ Alltagsgegenstände Wolfgang Eric Wagner
Begriffserklärung Unter Alltagsgegenständen werden mobile Objekte, Sachen, Dinge und Artefakte wie Betten, Tische, Stühle, Truhen, Teller, Trinkgefäße, Schreibutensilien, Musikinstrumente, Spielgeräte und Waffen verstanden, die vormoderne Universitätsangehörige in ihrem täglichen Handlungsumfeld eher unauffällig begleiteten, sie also nahezu ständig umgaben und durch sie verwendet, aber von ihnen nur punktuell, bei bestimmten Anlässen, bewusst wahrgenommen wurden. Es handelt sich folglich um einen Ausschnitt aus der materiellen Kultur der Gelehrten, zu der etwa auch Kleidung, Insignien und Gebäude zu zählen sind. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Alltagsgegenstände aus dem universitären Bereich der Vormoderne begegnen erstens als real überlieferte, also physisch präsente Artefakte, zweitens als in Texten genannte oder beschriebene Dinge und drittens als in Bildern dargestellte Objekte. Die real überlieferten Artefakte können wiederum als archäologische Funde oder in bewusst (dafür) angelegten Repositorien wie privaten und universitären Sammlungen, Universitätsarchiven und -museen vorkommen. Archäologische Funde oder gar Fundkomplexe, die mit Sicherheit in den Kontext vormoderner Bildungsstätten gehören, sind bislang ausgesprochen selten. Das gilt nicht nur für die im Vergleich zu heute wenigen Universitäten im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa, sondern auch für die weitaus häufigeren Schulen. Für letztere sind aufzuzählen der Fundkomplex aus der Latrine der Lateinschule bei St. Jakobi in Lübeck (Warncke 1912; Laggin 2002; Lüdecke/Drenkhahn 2002) sowie weitere Funde in Alpirsbach (Alpirsbach 2001), Coventry (Woodfield 1981), Leiden und Groningen (Willemsen 2002). An universitären Fundkomplexen können genannt werden: Tartu (Dorpat) in Estland (Tvauri 2004), Pécs in Ungarn (Sandor 1999), Graz (Fürnholzer 2003) und Wien in Österreich (Pittoni 1974; Offenberger/ Geischläger 1997–2002; Kühtreiber 2006; Kühtreiber 2010), Helmstedt (Ahrens 2000), Erfurt (Lappe 2003), Rostock (Münch/Mulsow 2005; Mulsow 2005a und b) und Greifswald (Schönrock 2006) in Deutschland. An diesen Orten konnten zwar z. T. aussagekräftige baugeschichtliche Befunde aufgenommen werden (Gebäude),
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aber kaum anderes Fundmaterial, das eindeutig dem universitären Milieu zuzuordnen ist. Eine Ausnahme bilden die Fundensembles in Wien, Helmstedt und Rostock, die deshalb im nächsten Abschnitt bezüglich ihrer Zusammensetzung und der Funktionalität von Einzelstücken kurz vorgestellt werden. Der Erfurter Fundkomplex aus dem Collegium majus der alten Universität, der in der Hauptsache aus Ofenkacheln bestand, daneben aber auch zahlreiche Scherben kompletter Keramikgefäße enthielt, die Anfang bis Mitte des 17. Jh.s üblich waren, bleibt hier aufgrund des Kriteriums Mobilität und des abweichenden Betrachtungszeitraums unberücksichtigt (Lappe 2003). Trotz aller Zufälligkeit und regionalen Verstreutheit weisen die Funde einige wiederkehrende Merkmale auf. Sie setzen sich neben einem mehr oder weniger großen Anteil an Gefäßscherben aus Schreibutensilien und Textträgern, Spielobjekten wie Murmeln und Spielsteinen sowie einfachen Musikinstrumenten wie Pfeifen, Flöten und Maultrommeln, aber auch Waffen wie Messern und Schwertern zusammen und verweisen damit auf die Funktionszusammenhänge Speisenzubereitung und -verzehr, Schriftlichkeit und Buchgebrauch, Spiel und Freizeit, körperliche Übung und gewaltsamer Konflikt. 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung In Wien wurden zwischen 1997 und 2002 im Zuge einer Generalsanierung im Hof des ehemaligen Herzogskollegs (Collegium ducale), des bedeutendsten Gebäudes der Artistenfakultät in der Alten Universität, mehrere Notgrabungen durchgeführt, bei denen neben bauhistorischen Befunden auch mehrere Einzelstücke sichergestellt werden konnten. Dabei handelte es sich neben keramischem Importgut um Schreibgriffel, Beingriffe mit abgebrochenen Eisenspitzen oder -klingen, Wetzsteine, Buchbeschläge und -schließen, ein Textfragment auf Pergament, die wohl alle auf den Funktionszusammenhang Schriftlichkeit und Buchgebrauch, also Studium, verweisen. An Spielobjekten fand man Tonmurmeln, Beinpfeifchen und den Torso einer keramischen Pferdestatuette. Belege für Kunstgewerbe, Metallverarbeitung und Destillierwesen sind möglicherweise Blech-Schnittreste aus Buntmetall (für Buchbeschläge?) und Fragmente von Destillierhelmen (für alchemistische Versuche oder Branntweinherstellung?). Einige Wallfahrts- oder Gnadenmedaillen scheinen schließlich die sprichwörtliche Mobilität von „fahrenden Magistern und Scholaren“ in der Vormoderne zu bestätigen (Offenberger/Geischläger 2002; Kühtreiber 2006; Kühtreiber 2010). In Helmstedt stieß man am 20. August 1987 bei Bauarbeiten auf dem Juleumshof (Collegienplatz) der ehemaligen Universität auf mittelalterliche Gewölbereste, Relikte der Vorbebauung, die zum Stadthof des Zisterzienserklosters Mariental gehörten. Sie hatten den frühneuzeitlichen Universitätsangehörigen als Abfallgruben gedient und waren später in Vergessenheit geraten. Der ehrenamtliche Museumsleiter Berndt
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Schürmann und seine Mitarbeiter bargen in den folgenden Wochen mehrere tausend Einzelstücke, darunter organische Abfälle wie Tierknochen und Muschelschalen, die Hinweise auf die Speisen geben, die von den Universitätsangehörigen eingenommen wurden, und auf die Herkunft der damals bevorzugten Zutaten. Tausende Scherben von Koch- und Tafelgeschirr sowie Trinkgläsern verweisen ebenfalls auf die Art und Weise der Speisenzubereitung in der Küche und die Kultur der Nahrungsaufnahme bei Tisch. Fingerhüte, Tuchplomben und Gürtelzungen sind wohl der Herstellung oder dem Ausbessern von Kleidung zuzuordnen. Bruchstücke von Ofenkacheln, Dachziegeln und Fenstern sowie Reste eines Knochenkammes vermitteln eine Vorstellung von den Wohn- und Arbeitsbedingungen der Gelehrten. Rechenmünzen, Buchschließen und Tintenhörner stehen endlich mit ihrer Hauptbetätigung, dem Studium und der Lehre, in offensichtlichem Zusammenhang, Tonmurmeln mit Spiel und Freizeit. Aus den Scherben konnten zahlreiche, z. T. verzierte Keramik- und Glasgefäße (Becher, Flaschen und Fläschchen, Teller, Schüsseln, Standbodentöpfe, Dreifußpfanne, Grapen, Tiegel, Krüge, Kannen mit grüner, bräunlicher und gelblicher Glasur) nahezu vollständig rekonstruiert und der Zeit um 1600 zugeordnet werden. Sie werden zusammen mit den anderen Artefakten in der Dauerausstellung des Kreis- und Universitätsmuseums präsentiert, die sich im ehemaligen Wein- und Bierkeller unter dem Hauptgebäude der einstigen Universität befindet. Eine fundierte wissenschaftliche Auswertung der Funde steht noch aus (Ahrens 2000). Ein noch reichhaltigerer Fundkomplex stammt vom Hof des ehemaligen Pädagogiums in Rostock, einer Art universitärer Vorschule mit Lateinunterricht, die den sprechenden Namen ‚Himmelpforte‘ (porta coeli) trug. Sprechend deshalb, weil er den Übergang von den ‚Niederungen der Unbildung‘ in den ‚Himmel der Gelehrsamkeit‘ versinnbildlichte. 20–30 Zöglinge im Knabenalter lebten dort gemeinsam unter der Aufsicht von ein bis zwei Magistern, die von der Universität dazu bestellt wurden. Hinzu kamen wohl noch einige Bedienstete. 1997 stieß man bei Bauvorbereitungen in der Rostocker Innenstadt auf dem Hof des ehemaligen Pädagogiums auf drei nahezu gleich große Ziegelkloaken mit einem Fassungsvermögen von ursprünglich ca. 100 m3. Daraus konnten mehr als 15.000 Artefakte geborgen werden in einer aus archäologischer Sicht qualitativ sehr hochwertigen Zusammensetzung von Gegenständen oder Resten davon aus Keramik, Textilien, Glas, Metall, Holz, Leder und Knochen. Die Homogenität des Fundmaterials stützt die Vermutung, dass die drei Latrinen zeitgleich genutzt wurden, wobei deren Anzahl bei angenommenen 20–40 Studenten, Lehrkräften und Bediensteten angemessen erscheint. Der größte Teil der Fundgegenstände dürfte absichtlich in den Latrinen versenkt worden sein als Haushaltsabfall oder beim Gang auf den Abtritt. Ebendaher rühren diverse Papierreste und auch ein großer Teil der fast 5.000 Textilreste, die als eckig zurechtgerissene oder geschnittene, maximal handtellergroße Stücke in den Fäkalien begegneten. Eher unbeabsichtigt ist hingegen vermutlich ein größerer Teil der intakten Gefäße in die Latrinen gelangt, die wohl als Nachtgeschirr dienten, und ebenso einige persönliche Gegenstände wie Schlüssel, diverse sowohl aus Horn als auch aus Holz gefertigte Kämme und zwei kleine achteckige Taschenspiegel, hölzerne Löffel und ca. 40 über-
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wiegend sehr gut erhaltene Messer. Auch anderes, was am Gürtel getragen werden konnte, wie Messerscheiden, Schnürbeutel und Gürteltaschen fand seinen Weg wohl gelegentlich auch ohne Wollen der Besitzer in die Kloake (Münch/Mulsow 2005; Mulsow 2007). Wohl direkt vom Gürtel in die Latrine gerieten auch eine ganze Reihe Schlüssel, die sich verschiedenen Schlossarten zuordnen lassen. Kleine, reich verzierte HebeSchiebe-Schlüssel aus Messing gehörten etwa zu standardisierten verschließbaren Behältnissen, z. B. zu Wandschränken, Pulten oder Truhen und geben damit indirekte Hinweise auf das Mobiliar der Studentenstuben. Nur wenige andere Fundstücke wie glasierte und unglasierte Kacheln gestatten weitere Einblicke in die Ausstattung der Räume. Öfen mit aufwändiger hergestellten und verzierten Kacheln dürften im Gemeinschaftsraum und in den Zimmern der Lehrkräfte gestanden haben, während einfachere Ausführungen auf schlichte, immer wieder erneuerte Lehmkuppelöfen, wohl in den Stuben der Studenten, hindeuten. Eine Anschauung vom getragenen Schuhwerk, von der Sandale bis zum halbhohen Schuh, vermitteln zehn vollständige Schuhe und diverse Schuhreste (Münch/Mulsow 2005; Mulsow 2007). Mit 45 % macht allerdings Keramik den Großteil der ebendort gefundenen Gegenstände aus. Sie gehören überwiegend in das Umfeld von Speisesaal und Küche. Der schriftlichen Überlieferung zufolge gab es im Pädagogium, wie in derartigen Einrichtungen üblich, eine tägliche Gemeinschaftsverköstigung, an der sämtliche Bewohner in einem bestimmten Raum und mit einer vorgeschriebenen Sitzordnung teilzunehmen hatten (Hofmeister 1906). Die sichergestellten Keramikgefäße ergänzen nicht nur das Bild, sondern lassen ebenfalls Rückschlüsse auf die Struktur der gemeinschaftlichen Lebensform zu. Standbodentöpfe, Grapen und irdene Schüsseln sowie Reste von Brätern verweisen auf den Bereich der Küche. Steilrandige Schüsseln und große Schalen dienten hingegen als Serviergeschirr aus Keramik. Man aß von hölzernen Brettern und Tellern, aus kleinen Schalen und Schüsseln. Getrunken wurde aus einfachen Keramikgefäßen, wobei einige hervorstechende Humpen auf den Konsum von Bier hindeuten. Gläserreste fanden sich demgegenüber seltener. Schlichtheit und robuste Formgebung sowohl der Keramikgefäße als auch des Holzgeschirrs scheinen dem Charakter des Pädagogiums als Ausbildungsstätte für halbwüchsige Knaben zu entsprechen. Daher fallen unter den Fundstücken einige wenige aufwändiger gestaltete Trinkgefäße auf, etwa ein Glasbecher mit emaillierter Schrift und Goldauflage, der möglicherweise aus dem persönlichen Besitz von Lehrkräften oder Scholaren stammte. Bemerkenswert sind auch einige sonst selten überlieferte Pfrieme, spitze Mehrzweckwerkzeuge, die auch als Gabel dienen konnten (Münch/ Mulsow 2005; Mulsow 2007). Eine Rostocker Besonderheit stellen zudem die zahlreichen Überreste von mindestens 50 keramischen Lavabos dar, Gießgefäße mit Hänge- und Kippfunktion, die ursprünglich dem liturgischen Gebrauch vorbehalten waren, seit dem 14./15. Jh. aber auch im privaten Bereich als Handwaschgefäße verwendet wurden. Ihr gehäuftes Vorkommen in Rostock wird als Indiz für die Pflege gehobener Tischsitten oder als Modeerscheinung im universitären Milieu des 16. Jh.s gedeutet.
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Ebenfalls zu den persönlichen Dingen zu rechnen sind mehrere gefundene Hiebund Stichwaffen, darunter drei Dolche, die etwas größer als Gebrauchsmesser waren, verdeckt getragen werden konnten und gefährliche Nahkampfwaffen darstellten. Hingegen diente ein in Teilen geborgenes, qualitativ hochwertiges Schwert italienischer Art mit einem Griff aus Wurzelholz wohl eher als ‚Modewaffe‘ denn zum Fechten. Zwei der Dolche und das Schwert hatte man offenbar bewusst unbrauchbar gemacht, indem man die Dolche mit großer Kraftanstrengung verbog, beim Schwert die Spitze abbrach und seine Klinge am Ansatz zum Heft absägte. Möglicherweise wurden die Waffen bei einer Kontrolle im Haus oder in der Stadt aufgefunden oder nach gewalttätigen Auseinandersetzungen sichergestellt, dann gebrauchsunfähig gemacht und in der Latrine entsorgt. Diese Waffenfunde scheinen zu der Häufigkeit gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen den Studenten und der Rostocker Stadtbevölkerung zu passen, die durch Schriftquellen ausführlich dokumentiert ist (Hofmeister 1906). Obwohl das Tragen von Waffen den Universitätsstatuten (Statuten) zufolge verboten war, gab es bei ‚Raufhändeln‘ nicht selten Schwerverletzte oder gar Tote. Offenbar weil die Verbote, insbesondere bei den selbstbewusst auftretenden adligen Studenten, kaum durchzusetzen waren, wurden sie in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s gelockert. Stattdessen erlaubte man das Fechten als Zeichen vornehmer Erziehung nun sogar ausdrücklich. Ein erster Fechtmeister erteilte nachweislich 1560 an der Rostocker Universität Unterricht (Münch/Mulsow 2005; Mulsow 2007). Tonmurmeln, vier hölzerne Spielsteine für ein Brettspiel und drei große Holzkugeln (zum Kegeln?) zeigen, dass der vorgegebene Tagesablauf durchaus auch Zeit zur Muße und zum Spielen bot. Drei einfache, aus einem Holzblock geschnitzte Schiffsmodelle, denen ihre Hersteller gut erkennbar das Aussehen einer Karacke und zweier Galeonen gegeben haben, dienten entweder ebenfalls als Spielzeug oder wurden zu Unterrichtszwecken verwendet. Eine kleine Knochenflöte, die wohl wegen ihrer Beschädigungen in die Kloake geworfen wurde, weist auf musikalische Aktivitäten hin. Ein kleiner, nahezu vollständig erhaltener Vogelkäfig belegt, dass von den Lehrkräften oder Studenten auch (Sing-)Vögel gehalten wurden; ob zur Unterhaltung oder eher zum Verspeisen bleibt allerdings offen (Münch/Mulsow 2005; Mulsow 2007). Eine Reihe an Fundgegenständen weist unmittelbare Bezüge zum Hauptzweck des Pädagogiums auf, der Vermittlung und Aneignung von Wissen. So wurden vier Tintenfässchen und einige Hornspitzen von Rinderhörnern gefunden, die, in eine Öffnung am Schreibpult gesteckt, dem Schreibenden als offenes Tintenfass dienten. Schreibfedern im wörtlichen Sinn, also Federkiele von Gänsen, überdauerten in den Fäkalien zwar nicht, lassen sich jedoch indirekt, durch ein kleines Messer, das durch seine spezielle Form und seine kurze Klinge als Federmesser erkennbar ist, nachweisen. Einige der als Toilettenpapier nachgenutzten Papierfetzen tragen handschriftliche Zeilen, z. B. Notenreste eines lateinischen Chorgesanges, andere sind mit lateinischen Textfragmenten bedruckt. An Pergament fand man nur zwei Stücke, doch zudem einen Spreiz- oder Stechzirkel, mit dem hauptsächlich auf diesem Schreibmaterial Zeilenabstände markiert, aber auch geometrische Übungen ausgeführt werden konnten. Ein hölzerner Buchdeckelrest, einige Buchschließen- und Beschlagteile sowie Reste
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von Lederbezügen liefern Belege für den Besitz und Gebrauch von Büchern (Münch/ Mulsow 2005; Mulsow 2007). Die Rostocker Stadtarchäologie hat seit Anfang der 1990er Jahre, meist im Zuge von Baumaßnahmen, mehrere hundert Kloaken untersucht, von denen einige auf das 16./17. Jh. datiert werden konnten. In ihnen ließen sich auch materielle Hinterlassenschaften hunderter Magister und Scholaren erwarten. Ihre Zuordnung zu bestimmten Häusern und einst darin wohnenden Personengruppen oder gar einzelnen Personen bereitet jedoch aufgrund der hohen Fluktuation der Bewohner Probleme. So lassen sich lediglich zwei Kloaken sicher den Haushalten von Professoren zuordnen, während dies bei einigen weiteren immerhin angenommen werden kann. In diesen Abfallgruben konnten weitere z. T. spektakuläre Funde gemacht werden, so z. B. der Schädel einer Meerkatze mit gekürzten Eckzähnen, der auf die Haltung dieses Tieres im Hause hindeutet, oder ein sogenanntes Pentakel aus dem letzten Viertel des 15. Jh.s, mit dem kabbalistische Magie praktiziert wurde (Münch/Mulsow 2005; Mulsow 2007). Auch die Rostocker Funde und Fundkomplexe sind noch keiner tiefer gehenden wissenschaftlichen Analyse unterzogen worden. Doch schon ihre bisherige Auswertung veranschaulicht ansatzweise, wie ertragreich die wechselseitige Konfrontation der archäologischen mit der schriftlichen Überlieferung für die Universitätsgeschichte sein kann. Im Fall von Rostock wäre vor allem die Verlängerung des für die frühe Neuzeit bereits vorliegenden Grundregisters (1600–1820) ins späte Mittelalter hilfreich, um anhand des Hausbesitzes und der Lage der Grundstücke die archäologischen Funde noch genauer zuordnen zu können (Münch 1998/99). Damit sind bereits Schriftzeugnisse als zweite Quellengattung angesprochen, in der Gegenstände des universitären Alltags erwähnt oder sogar beschrieben werden. In nahezu allen Arten der schriftlichen Überlieferung von oder zu Universitäten kommen Alltagsgegenstände vor. Als klassische Fundstellen gelten neben Rechnungen und Rechnungsbüchern (Matschinegg 1990; Schwinges 2000) vor allem Testamente und Nachlassinventare von Universitätsangehörigen (Maisel 1991). Denn sie überliefern nicht nur die zeitgenössischen Bezeichnungen und die Namen der einstigen Besitzer der Objekte, sondern auch deren Gebrauchskontexte. So lässt sich aus Inventaren der Habseligkeiten von Oxforder Scholaren in der Mitte des 15. Jh.s ableiten, dass der materielle Komfort etwas höher als der im 13. Jh. war (Cobban 1999, S. 42). Die Inventare belegen, dass es bei den Studenten im 15. Jh. durchaus üblich war, außer Kleidung auch Bettzeug, Messer, Löffel, Kerzen, Bücher, Blasebälge, Laternen, Truhen, Schneckenbohrer und Musikinstrumente zu besitzen (Salter 1932, Bd. 1, S. 83 f., 160 f., 321, 352). In den Nachlassinventaren verstorbener Universitätsangehöriger, die im Registerbuch des Oxforder Universitätskanzlers aus dem 15. Jh. erfasst wurden, finden sich verschiedene genauer bezeichnete Musikinstrumente, darunter eine alte Harfe (antiqua cithara), eine zerbrochene Laute (lute fracta), eine Hornpfeife und eine weitere Laute oder Harfe (harpe) (Salter 1932, Bd. 1, S. 37, S. 160; Bd. 2, S. 101, S. 129, S. 327). Ebenso können normative Quellen wie Statuten oder erzählende Quellen wie Akten Hinweise auf die Wahrnehmung von und den Umgang mit Alltagsgegenstän-
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den geben. An den europäischen Universitäten waren Aktivitäten, die der Erholung und dem Zeitvertreib dienten, entweder untersagt oder erlaubt (Rashdall 1936, Bd. 3, S. 419–437). Anders als möglicherweise in Rostock, wie der dortige Fund des Vogelkäfigs zeigt, war in den meisten englischen Colleges ihren Statuten zufolge das Halten von Haustieren, insbesondere Singvögeln, verboten, weil sie Lärm erzeugten und daher eine Ablenkung vom Studium darstellten (Cobban 1999, S. 203 f.). Eine bemerkenswert ausführliche Auflistung unerwünschter Tiere bieten die Statuten von King’s College in Cambridge; das dortige Verbot erstreckte sich auf Hunde, Frettchen, Vögel, Affen, Bären, Wölfe, Hirsche und machte darüber hinaus detaillierte Angaben zur Beschaffenheit von Netzen für die Falknerei und das Fischen (Cambridge Documents, Bd. 2, S. 542). Untersagt war in den meisten englischen Colleges auch das Spielen in allen seinen Formen, ob mit Würfeln, Knöchelchen oder Karten. Denn Spielen konnte das Studium stören, zu rüpelhaftem Benehmen verleiten oder einen Scholaren zum Anhäufen erdrückender Schulden veranlassen (Cobban 1999, S. 204). Die Oxforder Listen des Coroners, des königlichen Kriminalbeamten, geben ausführlich Auskunft über mehr oder minder schwere Fälle von Gewalt, die unter Zuhilfenahme von Messern, Armbrüsten, Bögen, Knüppeln, Äxten oder Schwertern von oder gegen Studenten ausgeübt wurden (Salter 1912, S. 11, 22, 23, 51). Eine dritte Quellengattung schließlich, in der zahlreiche Gegenstände aus dem Universitätsalltag dargestellt werden, sind Bildquellen (Buch- und Tafelmalereien, Holzschnitte, Gemälde, Druckgrafiken und Grabbilder; Bilder) (Boockmann 1986). Als Beispiel mag hier der Hinweis auf die farbigen Miniaturen in der Statutenhandschrift des Freiburger Collegium Sapientiae genügen, die Fußböden und Wandschmuck (Bilder, Butzenscheiben), Mobiliar (Tische, Stühle, Bänke, Truhen mit Eisenbeschlägen, Lehrkanzeln, Betten), Beleuchtungsmittel (Kerzenständer, Öllampen), Zeitmesser (Sanduhren), Koch- und Essgeschirr, Vorratsbehälter (Säcke, Fässer), Spielgeräte (Karten, Würfel), Musikinstrumente (Laute, Flöte) sowie Fechtwaffen besonders sinnfällig wiedergeben. 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Die Geschichtswissenschaft ist auf überlieferte Texte fixiert. Sachquellen nahmen und nehmen in der Hierarchie der Quellen nur eine nachgeordnete Position ein. Sie gewinnen erst in dem Maße an Bedeutung, wie es an Schriftquellen mangelt. So lange in der Geschichtsbetrachtung politik-, institutionen- und ereignisgeschichtliche Deutungsansätze vorherrschten, wurden Alltagsgegenstände daher für bedeutungslos oder nebensächlich erachtet. Erst mit der stärkeren Hinwendung zur Geschichte der ‚einfachen‘ und ‚kleinen‘ Leute durch die Sozialgeschichte gerieten neben Fragen der Geschichte des Alltags auch dessen Objekte in den Blick. Zwar wird seither mehr auf Sachquellen Bezug genommen, doch werden sie kaum einmal selbst zum Gegenstand der Analyse gemacht. So werden Alltagsgegenstände noch immer eher von Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft und Nachbarwissenschaften mit ihren fachspezi-
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fischen Ansätzen untersucht, die sich vor allem mit dem Auffinden, Speichern und Präsentieren der Gegenstände (Archäologie, Archivkunde, Museologie), ihrer Produktion (Technik- und Designgeschichte), ihrem Erwerb (Konsumgeschichte) und ihrer Bedeutung (Historische Anthropologie, Empirische Kulturwissenschaft, Europäische Ethnologie, Material Culture Studies) befassen (König 2005; Hahn 2005; Ludwig 2011). Die universitätsgeschichtliche Forschung vollzog diese allgemeine Entwicklung in Teilen analog nach, wobei sie bislang lediglich ansatzweise Insignien und bildliche Darstellungen (Boockmann 1986; Bilder) und mit Ausnahme der Gelehrtenkleidung kaum Alltagsgegenstände untersucht hat. Methodisch betrachtet, wurden bei der Auswertung archäologischer Funde aus dem akademischen Bereich Sach- und Schriftquellen bislang weitaus häufiger aufeinander bezogen als Sach- und Bildquellen (Burrows/Niemann 1999/2000; Kühtreiber 2006; Kühtreiber 2010; Münch/Mulsow 2005). Erst vor kurzem hat man anhand der Statuten der Freiburger Sapienz zumindest exemplarisch die sich wechselseitig ergänzenden Aussagen von Bild- und Schriftquellen für das Alltagsleben in dieser Burse fruchtbar gemacht (Schwinges 2010). Die Ansätze der Neuen Kulturgeschichte, speziell der Material Culture Studies, sind in diesem Zusammenhang hingegen kaum angewendet worden. Letztere gehen von der Prämisse aus, dass mit den Objekten des Alltags Handlungen verknüpft sind. Alltagsgegenstände haben demnach in der sozialen Welt eine symbolische Funktion, indem sie Prestige und Distinktion verkörpern. Einerseits eröffnen sie neue Handlungsmöglichkeiten, andererseits erfordern sie aber Anpassungsleistungen und bestimmen dadurch Maß und Richtung alltäglicher Abläufe – meist unmerklich – mit. Diese Nutzungsroutinen sind den Objekten selbst eingeschrieben, können sich aber im Verlauf des Gebrauchs auch wandeln, neu-, über- oder umgeschrieben werden. Ziel der Forschung ist es, sowohl die eingeschriebenen als auch die sich historisch verändernden Bedeutungen ‚lesbar‘ zu machen. Alltagsgegenstände werden aus dieser Perspektive zu historiografischen Quellen eigenen Gewichts. In Kombination mit anderen Quellen können sie die Komplexität historischer Analyse erhöhen, aber auch den Blick auf Bereiche lenken, die von anderen Quellen nicht beleuchtet werden (König 2005; Hahn 2005; Tilley 2006; Ludwig 2011). Die verschiedenen Arten der Überlieferung (reales, abgebildetes, beschriebenes Objekt) und Aufbewahrung (universitäre Sammlungen, Archive, Museen) von universitären Alltagsgegenständen bringen verschiedene Situations- und Nutzungskontexte mit sich, die wiederum verschiedene Perspektiven der Reflexion bedingen. Jede dieser Überlieferungsarten bringt methodische Vorteile, aber auch Schwierigkeiten mit sich, die z. T. bereits angedeutet worden sind. So vermitteln historische Alltagsgegenstände aufgrund ihrer Sichtbarkeit und Stofflichkeit zunächst den Eindruck eines vermeintlich direkten Zuganges zur Vergangenheit über Epochengrenzen hinweg. Durch die Prozesse des Sammelns, Aufbewahrens und Präsentierens im Rahmen von universitären Sammlungen, Archiven und Museen werden sie jedoch in neue Situations- und Nutzungszusammenhänge eingeordnet. Entsprechend der jeweiligen Sammlungspraxis und -schwerpunkte sowie Ausstellungsformen werden sie ‚museali-
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siert‘. Denn ausgegrabene Alltagsgegenstände sind in der Regel ihres ursprünglichen funktionalen und symbolischen Kontextes entkleidet. Es fällt daher schwer, sie bestimmten Personengruppen wie akademisch Gebildeten oder gar einzelnen Personen zuzuordnen, also spezifisch universitäre Fundcharakteristika auszumachen, die sich von allgemein gängigen Hinterlassenschaften in urbanen Milieus unterscheiden. Nur wenn Alltagsgegenstände wie in einer Zeitkapsel in ihrem zeitgenössischen Verwendungs- und Bedeutungskontext überliefert werden, erfährt man etwas über ihr früheres ‚soziales Leben‘. Bildquellen vermögen ebenfalls, diesen funktionalen und symbolischen Kontext zu vermitteln. Sie besitzen die Eigenschaft, die Beziehungen zwischen Gegenständen, Personen und Orten festzuhalten und so Artefakte in ihrer einstigen sozialen und mentalen Ordnung zu lokalisieren. Zudem können Bilder wichtige Anhaltspunkte für die Datierung von archäologischen Fundstücken geben (Gaimster 2012). Andererseits dürfen Bilder nicht einfach als Eins-zu-eins-Repräsentationen des Alltagslebens und die dargestellten Alltagsgegenstände mithin als ‚Überreste‘ (Johann Gustav Droysen) angesehen werden. Vielmehr müssen die Bildquellen zunächst selbst hinsichtlich ihrer Funktion und Symbolik, die ihnen die Zeitgenossen zugedacht haben, kontextualisiert werden, um so ihren Aussagewert für die abgebildeten Objekte bestimmen zu können. In jedem Fall ist zunächst davon auszugehen, dass auch Alltagsgegenstände nicht zufällig und ohne Absicht dargestellt wurden. Die Erforschung der universitären Alltagsgegenstände erfordert daher eine dezidiert interdisziplinäre Herangehensweise. Obwohl Archäologen, Historiker und andere Kultur- und Geisteswissenschaftler den Erkenntnisgewinn vermittels wechselseitiger Erhellung von Alltagsgegenständen durch komplementäre Quellengattungen wie Text- und Bildquellen kennen und schätzen, werden geeignete Methoden und hermeneutische Verfahren zur Auswertung, auf dem Gebiet der Universitätsgeschichte bislang kaum eingesetzt. Während sich die Beschäftigung mit der materiellen Hinterlassenschaft auf anderen Gebieten der Geschichtswissenschaft bereits zu etablieren beginnt, liegt das Untersuchungsfeld universitärer Alltagsgegenstände noch fast brach. Dabei bieten die erhaltenen Gegenstände und die vielfältigen Text- und Bilddokumente ihres individuellen und kollektiven Gebrauchs eine breite Grundlage für eine kulturalistisch fundierte, erweiterte Alltags- und Sozialgeschichte der vormodernen Universität.
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4.3 Datenbanken http://www.universitaetssammlungen.de/
Bilder Marian Füssel / Stefanie Rüther
Begriffserklärung Eine Vielzahl unterschiedlicher Bildquellen enthält Aussagen über die universitäre Lebenswelt. Mit materiellen Bildträgern, von Handschriften und Gemälden bis zu Wandmalereien und Grabmälern, wurden herausgehobene repräsentative Akte, universitäre Akteure und Gebäude, Praktiken des Lehrens und Lernens sowie die verschiedenen Wissenschaften und ihre Inhalte visualisiert. Es bildete sich eine spezifische Ikonographie der Gelehrsamkeit und ihrer Institutionen, Akteure und Praktiken aus. Bildmedien partizipierten zudem an Gebrauchskontexten von der religiösen Andacht bis zur fürstlichen Repräsentation und vernetzen so gelehrte Wissenskulturen und ihre sozialen Umwelten. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Bilder des universitären Lebens sind so alt wie die Hochschulen selbst. Doch ihre materiellen Ausprägungen und medialen Träger, ihre Motive und Ikonografie sowie der Produzenten- und Adressatenkreis haben sich über die Jh.e stetig differenziert und vermehrt bzw. vergrößert. Ebenso wie die Institution selbst fußte auch ihre Verbildlichung auf bereits vorhandenen Traditionen und Kulturen. Im Falle der mittelalterlichen Hochschulen ist diese Tradition in erster Linie die des Klerus und der Kloster- und Domschulen. Frühe Universitätsikonografie, seien es Lehrer-SchülerVerhältnisse, Gruppenbilder oder Wissensallegorien lassen sich daher z. T. nur schwer von ihren kirchlichen Vorbildern unterscheiden (Boockmann 1986). Besonders augenfällig wird die erst schrittweise visuelle Autonomisierung im Bereich der Kleidung, die sich zunächst strikt an klerikalen Mustern orientierte. Die Einbettung der akademischen Bilderwelt in eine klerikale Umwelt bot viele Vorteile. Man reihte sich in bestehende Seh- und Darstellungsgewohnheiten ein und nutzte deren Autoritätsund Autorisierungseffekte. Der Verweis auf die Aura der Sakralität und auf die Dignität des geistlichen Stands waren für eine im Entstehen begriffene neue Institution wichtige Repräsentationsstrategien. Ähnlich wie Kleidung und Insignien im Alltag oder bei Festlichkeiten diente die universitäre Ikonografie der Repräsentation, d. h. der performativen Herstellung und Darstellung der privilegierten Korporation, ihrer
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Miniatur der electio Philipp Wilhelms von Wittelsbach zum Rektor der Universität Ingolstadt: München, Universitätsarchiv, D-V-4, fol. 4v.
Mitglieder, Zeichen, Orte und Schlüsselpraktiken. Universitäre Bilder wandten sich damit ebenso nach innen wie nach außen. Sie ermöglichten den Mitgliedern eine Selbstvergewisserung und Memoria innerhalb der Institution und repräsentierten gleichzeitig gegenüber der Umwelt Geschlossenheit und Distinktion (Hülsen-Esch 2006, S. 41–59). Die Entstehungskontexte der Bilder verweisen immer wieder auf die institutionellen Mechanismen und ihre pragmatische Schriftlichkeit. So finden sich bereits früh Szenen des akademischen Lebens in Statutenbüchern oder Rektorenbilder in illuminierten Matrikelbüchern. Auch die Ikonografie der Siegel zeigt die enge Verbindung von privilegiertem Rechtsakt und korporativer Selbstdarstellung. Neben ihren repräsentativen Funktionen wurden Bilder auch in instrumentellkognitiven Kontexten genutzt und dienten beispielweise als Lehr- und Anschauungsmaterial. So entstammt ein Großteil der frühen Lehrdarstellungen und Gruppenbilder den handschriftlichen Codices autoritativer Schriften von Aristoteles, Augustinus, Durandus oder Gratian. Bilder treten jedoch nicht nur in Schriftquellen auf, sondern sind vielfach immobil an bestimmte Orte gebunden, wie Fresken an Kirchenwänden, Epitaphe (Grabmäler), Skulpturen und Ausmalungen universitärer oder semi-universitärer Räume. Seit dem ausgehenden Mittelalter mehren sich Tendenzen zur Serialisierung (Professorengalerien, Stammbücher), Standardisierung (Siegel) und technischen Reproduzierbarkeit der Bilder (Druckgraphik). Diese Entwicklungen trugen allmählich zur Herausbildung einer eigenen universitären Bildsprache bei, die sich als eigene, d. h. ebenso wiedererkennbare wie distinguierte, Ikonografie europaweit etablierte. Trotz zahlloser lokaler Eigenheiten etwa im Bereich der Symbolik oder der Kleidung entwickelten sich gemeinsame Bildrepertoires.
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2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Eine interdisziplinäre akademische Bildkunde hat ebenso gattungsspezifische wie inhalts- und motivorientierte Klassifikationen zu berücksichtigen. So lassen sich universitäre Bildzeugnisse nach ihrer Materialität, den dargestellten Inhalten sowie ihren jeweiligen Entstehungs- und Verwendungskontexten kategorisieren. Eine an der Materialität orientierte Einteilung nach Gattungen unterscheidet zwischen Buchmalerei, Skulptur, Wand- und Tafelmalerei, Siegel, Kleinkunst und Druckgraphik (Hülsen-Esch 2006). Damit zum Teil korrespondierend lassen sich die Bilder nach den dargestellten Inhalten unterscheiden. Zu nennen sind etwa Lehr- und Lernszenen, Disputations- und Diskussionsszenen (Disputation) sowie im Falle der Mediziner Untersuchungs- und Behandlungssituationen. Hinzu treten allegorische Darstellungen der verschiedenen Fächer und Fakultäten sowie die symbolischen Repräsentationen der universitären Korporationen. Weitere Gruppen von Gelehrten oder einzelne Gelehrte werden oftmals in Gegenwart einzelner Herrscher, etwa bei der Gewährung von Privilegien oder in Beratungs- und Gerichtszenen dargestellt. Eine andere Motivgruppe bildet die Darstellung von Universitätsgelehrten in Verbindung mit Heiligen, in ihrer Funktion als Patrone der jeweiligen Universität oder einer Fakultät. Visualisiert werden die verschiedenen Fakultäten auch durch symbolische Darstellungen, etwa die Theologie durch das Schweißtuch der Veronica, die Jurisprudenz durch eine Waage oder die Medizin durch den Stier des Evangelisten Lukas. Einen Zugang zur mittelalterlichen Wissensordnung eröffnen allegorische Darstellungen der verschiedenen Fächer, die sich nicht nur in wissenschaftlichen Abhandlungen finden, sondern auch zum Bildprogramm mittelalterlicher Kirchen und Klöster gehören konnten. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür ist das Thomasfresko in Santa Maria Novella, der Kirche der Dominikaner in Florenz. Die Ausmalung an der Westwand des Kapitelsaals wurde 1366/67 von Andrea Bonaiuti ausgeführt. Das untere Drittel des Freskos, dessen Zentrum der thronende Heilige Thomas von Aquin bildet, zeigt in einer durchgehenden Reihe 14 weibliche Figuren mit unterschiedlichen Symbolen (Cardini/Fumagalli Beonio-Brocchieri, S. 18 f.). Die sieben Frauen auf der rechten Seite sind anhand ihrer Symbole als allegorische Darstellung der septem artes liberales zu identifizieren. Die Figuren auf der linken Seite sind als Personifikationen der anderen Fakultäten wie der Theologie und der Rechte gedeutet worden. Die das gesamte Mittelalter gebräuchliche Visualisierung der abstrakten Wissensinhalte des Triviums und Quadrivums mittels weiblicher Figuren zeigt die Nähe zu den Personifikationen der christlichen Tugenden sowie der Darstellung der antiken Musen (Nonn 2012, S. 32–42). Prägend waren hierfür die Beschreibungen der Artes durch Martianus Capella, der mit seiner Schrift De nuptiis Philogiae et Mercurii wesentlichen Anteil an der Etablierung des Kanons sowie der Festschreibung der Fächer und ihrer Attribute hatte. So ist die Grammatik ganz rechts als Eingang zu den Wissenschaften mit drei Kindern und einer Pforte dargestellt. Die Musik ist leicht an ihrer Handorgel zu identifizieren, ebenso wie die Geometrie, die Winkelmaß und
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Zirkel in der Hand hält. Darüber hinaus werden die verschiedenen Fächer durch die ihnen beigeordneten gelehrten Autoritäten repräsentiert, die zu ihren Füßen in unterschiedlicher Kleidung und Haltung abgebildet sind. Wenn etwa der Grammatik Priscian beigeordnet ist oder die Rhetorik durch Cicero repräsentiert wird, verweist dies auf den Lehrplan der mittelalterlichen Artistenfakultäten, in dem einzelne Lehrwerke stellvertretend für das jeweilige Fach standen (Tezmen-Siegel 1985). Das Fresko in der Dominikanerkirche präsentiert die verschiedenen Fächer als Teil der christlichen Wissensordnung. Sie bildete den Denkrahmen, in dem es möglich war, pagane Autoren wie Euklid oder Ptolemäus im sakralen Raum und in einer Reihe mit Kirchenvätern wie Augustinus und Hieronymus zu zeigen. Damit ist das Thema der Bildsprache sowie der Sprache im Bild berührt. Viele Bilder sind durch lateinische Legenden und Paratexte gekennzeichnet, volkssprachliche Elemente finden sich im Mittelalter kaum. Komplexer ist die Frage nach einer eigenen Bildsprache. Diese ist dem institutionellen Charakter der Hochschulen entsprechend hybrid und bediente sich der Traditionen anderer Standeskulturen, wie des Adels, des Klerus’ und z. T. auch des Handwerks. Bereits relativ früh gelang es den Universitäten jedoch, bestimmte Standeszeichen wie das Birett zu etablieren, die einen ikonographischen Wiedererkennungswert besitzen. Kleidung, Haltung und räumliche Umgebung weisen nicht nur den akademischen Gelehrten als solchen aus, sondern verweisen auch auf interne Rangunterschiede zwischen den vier Fakultäten. Neben der Standesikonographie lässt sich auch eine fächerbezogene Bildsprache beobachten. Obwohl jede Disziplin im Mittelalter vorrangig eine Buchwissenschaft darstellt, bildete das Buch in Italien beispielsweise gerade unter Juristen ein demonstratives Kennzeichen ihres Berufsstandes. Immer wieder finden sich Darstellungen von geöffneten Codices oder Schriftrollen, vom Überreichen geschlossener Codices oder vom Vorlesen aus Büchern (Hülsen-Esch 2010, S. 301–306). Ihre Rolle als Experten visualisierten Juristen oft durch eine visuelle Nähe zum Herrscher und entsprechende Beratungssituationen, während Mediziner sich in der diagnostischen und heilenden Ausübung ihrer Praktiken abbilden ließen. Ferner sind für alle Fakultäten bei Lehr- oder Disputationsszenen die Binnendifferenzen zwischen Lehrenden und Studierenden bereits durch die räumliche Aufteilung im Hörsaal deutlich erkennbar. Eine Vereinheitlichung der Bildsprache erfolgte sowohl über die Verbreitung bestimmter Symbole, Standeszeichen und Praktiken als auch über die Vorbildfunktion einzelner lokaler Artefakte. Im Bereich der Siegelikonographie erlangte das Siegel der Pariser Universität Vorbildcharakter, womit künftig den Gelehrten zugewandte Heilige, die Patrone des jeweiligen Ortes sowie Lehrszenen zum festen Repertoire an Motiven gehörten (Boockmann 1986). Den wohl entscheidenden Schritt in Richtung einer Standardisierung einer europäischen gelehrt-akademischen Bildsprache brachte der Wandel der Reproduktionstechniken zunächst zum Holzschnitt, später zum Kupferstich. Die Darstellungen universitärer Szenen überwanden damit ihre ortsgebundene Singularität und konnten überregional nachgeahmt und angeeignet werden. Dieser Prozess ist keineswegs nur für die Universitäten zu beobachten. Im akademischen Milieu bewirkte er mit seinem hohen Grad an Schriftlichkeit jedoch schnell Tendenzen zu flächendeckender
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Standardisierung. Von Beginn an standen die Universitäten untereinander in wechselseitiger Beobachtung und Konkurrenz, welche die Aufnahme der neuesten Trends auch im Bereich der Ikonographie notwendig machte. Die Repräsentation und Unterscheidung der Universitäten durch die Darstellung ihrer Gebäude gewinnt hingegen erst am Beginn der frühen Neuzeit an Bedeutung. Die Möglichkeiten von Gelehrten, sich selbst im Bild zu präsentieren, waren im Mittelalter begrenzt. Für die Formen spätmittelalterlicher Selbstdarstellung stellt die sogenannte Rubenowtafel im Greifswalder Dom daher ein einzigartiges Beispiel dar (Thümmel 1979). Sie wurde zwischen 1460 und 1462 vom Mitbegründer und ersten Rektor der 1456 gegründeten Universität Greifswald Heinrich Rubenow gestiftet und zeigt ihn zusammen mit sechs anderen namentlich genannten Universitätsgelehrten, dargestellt als Ganzkörperfiguren. Durch den Ort der Hängung im Kirchenraum sowie die in der Mitte des Bildes abgebildete Madonna mit Jesuskind in goldener Mandorla verortet sich die anderthalb Meter hohe und über zwei Meter breite Tafel im religiösen Kontext. Als Memorial- oder Stifterbild gibt sich die Gelehrtendarstellung auch durch den im linken Vordergrund knienden Pedell der Universität zu erkennen, dessen Spruchband eine Fürbitte an die Mutter Gottes richtet. Nach Ausweis der von Rubenow in Ich-Form sprechenden Schrifttafel unter der Tafel waren die neben ihm dargestellten Kollegen zum Zeitpunkt der Fertigstellung bereits verstorben. Nach der Aufzählung ihrer jeweiligen Begräbnisorte, deren Kenntnis eine wesentliche Voraussetzung für das mittelalterliche Gebetsgedenken war, schließt der Text mit einer weiteren Fürbitte um ihr Seelenheil (Grabmäler). Die mittelalterliche Memoria gibt damit den Rahmen vor, innerhalb dessen das Gedächtnisbild eine ganze Reihe weiterer Botschaften und Deutungen übermittelt, die sich zum einen aus der Art der visuellen Darstellung, zum anderen aus dem Zusammenspiel von Text und Bild ergeben. So geben sich die stehenden Personen durch Kleidung und Kopfbedeckung als Gelehrte zu erkennen, während Amt und Stellung des Pedells durch seine Körperhaltung sowie das Zepter der Universität zum Ausdruck gebracht werden. Die Gelehrten sind durch Spruchbänder zu identifizieren, die neben ihrem Namen ihre ademischen Titel sowie weitere Ämter und Funktionen nennen. Die Beischrift Heinrich Rubenows verweist auf seine herausgehobene Rolle bei der Gründung der Universität Greifswald als dessen erster Rektor, wodurch die Tafel zu einem Erinnerungsbild für diesen Akt wird. Indem er sich in der Gemeinschaft von sechs anderen Gelehrten abbilden lässt, die mit ihm in der Zeit der erzwungenen Verlegung der Universität Rostock nach Greifswald gekommen waren, wird zum einen die Konkurrenz der beiden Institutionen angedeutet. Zum anderen wird die Einmütigkeit der neugegründeten Korporation verbildlicht. Gruppenporträts wie die Rubenowtafel bilden demnach einen der wichtigsten Zugänge zum Selbstverständnis eines sich neu formierenden Gelehrtenstandes im späten Mittelalter. Sie machen aber zugleich deutlich, wie die Formen der Repräsentation an die anderer sozialer Gruppen angelehnt und in bestehende Deutungsmuster eingebettet waren. Seit dem ausgehenden 16. Jh. etablierten sich an vielen Universitäten Galerien mit Professorenportraits, die meist nicht individuell, sondern als Gruppen gehängt
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wurden und vor allem der Stiftung eines korporativen Gedächtnisses dienten. Die Initiative zur Einrichtung entsprechender Gemäldegalerien ging bezeichnenderweise meist nicht von den Professoren, sondern von den jeweiligen Landesherren aus. Eine ungewöhnliche, weil bereits früh im Druck erschienene Professorengalerie bilden die Imagines Professorum Tubingensum des Erhard Cellius von 1596 (Cellius 1981). Bedeutende Sammlungen von Professorenbildern entstanden u. a. in Leiden (van KersenHalbertsma et al. 1973), Jena, Leipzig, Gießen und Marburg (Graepler 1977). Mit den Porträts zeichnet sich eine zunehmende Tendenz vom Gruppenportrait hin zum Einzelbild ab. Individualisierung und Distinktion standen nun im subtilen Wechselspiel mit Ordnung und Standardisierung. Seit dem 16. Jh. verbreitete sich europaweit die Sitte, ein Stammbuch oder Freundschaftsbuch (album amicorum) zu führen, ein Brauch, der offenbar durch das Sammeln von Autographen berühmter Reformatoren noch befördert wurde (Schnabel 2003; Klose 1988). Wer es sich leisten konnte, verband mit seinem Eintrag in das Stammbuch eines Freundes ein Bildgeschenk und ließ von einem Stammbuchmaler ein Motiv aus der gemeinsamen akademischen Lebenswelt in das Stammbuch malen. Auf diese Weise wurden Stammbücher zu wichtigen Bildträgern v. a. innerhalb der deutschsprachigen Studentenkultur. So gelangte beispielsweise das Motiv des Cornelius Relegatus als einer Art Antiheld des devianten Studentenlebens zu besonderer Beliebtheit (Rasche 2009). Cornelius sitzt hoch verschuldet und verwundet in seiner mit Spielgerät und Scherben gepflasterten Bude. Er wird von einer Frau mit einem neugeborenen Kind besucht, während der Pedell seine Vorladung zum Rektor an die Tür zeichnet. An der Schwelle zum 17. Jh. finden sich dann Bildserien von Kupferstichen mit Szenen des akademischen Lebens wie etwa die Academia (1612) von Crispijn de Passe. Die Bildfolge zeigt den Weg eines Studenten vom Abschied vom Elternhaus über die Deposition und allerlei Ausschweifungen des akademischen Lebens, die Bibliothek und das akademische Theater bis hin zur erfolgreichen Doktorpromotion (Veldman 2001). Eine weitergehende Kategorisierung ist die der Bildquellen nach ihren Erscheinungsorten und Verwendungszusammenhängen. Bei Handschriftenillustrationen ist danach zu unterscheiden, ob die enthaltenen Texte im universitären Unterricht verwandt wurden bzw. sie dort entstanden sind, wie im Falle der Lehrbücher, und solchen Codices, die auf institutioneller Ebene zur Universität gehörten. Hierzu sind Matrikel-, Privilegien- und Statutenbücher zu zählen (Boockmann 1986). Ein anderer großer Bereich an visuellen Darstellungen findet sich in den einzelnen Wissensfeldern zur didaktischen Wissensvermittlung. Verbreitet sind etwa allegorische Darstellungen der sieben freien Künste oder die Darstellung wissenschaftlicher Objekte und Instrumente (Bahlmann/Oy-Marra/Schneider 2008, S. 150–184). An diesen Quellen zeigt sich die enge Verflochtenheit von Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte.
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3. Methodische Zugänge und Aussagemöglichkeiten Die Bildquellen zur vormodernen Universität zeichnen sich durch ihre Vielfalt aus und sind in ihrem vollen Umfang bisher kaum von der Forschung erfasst worden. Die klassische Problematik von Überlieferungschance und Überlieferungszufall stellt sich gerade bei den Bildquellen in besonders eklatanter Weise. So suggerieren Ausstellungs- und Jubiläumskataloge durch ihre Auswahl und Synthese oftmals eine Regelmäßigkeit in der Überlieferung, die so in der Praxis kaum gegeben ist. Allein die Tatsache, dass viele Bildquellen gleichsam seriellen Charakter angenommen haben, wie etwa Epitaphe oder Professorenporträts, bedeutet nicht, dass sie auch flächendeckend überliefert sind. Eine Problematik, die noch dadurch verschärft wird, dass Jubiläen meist die einzigen Anlässe sind, an denen der lokale universitätshistorische Bilderfundus erschlossen und mit neuen Fragestellungen ausgewertet wird. Den unterschiedlichen Entstehungs- und Verwendungskontexten von universitären Bildquellen entsprechend bietet ihre systematische Erschließung eine Vielzahl von Aussagemöglichkeiten zu unterschiedlichen Themenfeldern. Während aus kunstgeschichtlicher Perspektive eine Reihe künstlerisch bedeutenderer Werke mit universitäts- und wissenschaftsgeschichtlichen Inhalten, wie etwa Fresken und Grabmonumente, bereits intensiv untersucht und ausgewertet wurden, ist es bei einzelnen vielversprechenden Ansätzen geblieben, visuelle Quellen für die Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte fruchtbar zu machen (Weber 2007; Krug-Richter 2011). Wie ein solcher Zugang aussehen könnte, zeigen jüngere Ansätze zu einer Motivuntergliederung nach universitätsgeschichtlichen Forschungsfeldern. So schlägt Wolfgang Weber eine Unterscheidung nach sechs Teilbereichen vor: 1. Personalgeschichte des Professorentums, 2. Sozial- und Karrieregeschichte des Studententums, 3. akademische Strukturgeschichte bzw. Institutionengeschichte, 4. mehr oder weniger populärwissenschaftliche Gesamtdarstellungen einzelner oder einer Gruppe von Universitäten, 5. Wissenschaftsgeschichte im eigentlichen Sinne und 6. Disziplinengeschichte (Weber 2007). Eine entsprechende vor dem Hintergrund der modernen Universität entwickelte Typologie muss zweifellos den mittelalterlichen Umständen angepasst werden. So waren die meisten Disziplinen noch gar nicht ausdifferenziert oder befanden sich erst im Stadium der Genese. Im Laufe des Mittelalters vollzog sich eine zunehmende Vereindeutigung der einzelnen Fächer durch die ihnen zugeordneten Symbole und Kennzeichen. Ein diachroner Vergleich der verschiedenen Formen der Visualisierung der Artes kann mithin Aufschluss geben über Stellenwert und Ausformung der verschiedenen Fächer und die damit verbundenen Wissensinhalte. Insbesondere die Geschichte von Alltag und materieller Kultur der Universitäten kann von bildlichen Überlieferungen profitieren. Eine der facettenreichsten akademischen Bildquellen des späten Mittelalters stellt im deutschen Sprachraum ohne Zweifel das reich bebilderte Statutenbuch des Freiburger Collegium Sapientiae dar (Kerer 1957). In achtzig farbigen Miniaturen werden Szenen des universitären Alltags, des studentischen Lebens in der Burse und seiner Normierung verbildlicht.
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Die Handschrift liefert einen Bildkatalog akademischer Praktiken, in denen sich die Studentenkultur mit den institutionellen Mechanismen einer Hochschule verbindet. Verfasser der Statuten war der Stifter der Burse, der damalige Augsburger Weihbischof Johannes Kerer, eine der zentralen Gestalten im Freiburger Universitätsleben des 15. Jh.s, der an der Hochschule in zahlreichen Ämtern und Funktionen vom Artistenmagister bis zum Rektor wirkte. Über den oder die Maler der achtzig mit Blattgold gerahmten Deckfarbenmalereien ist kaum etwas bekannt. Sicher ist jedoch, dass er über gute Kenntnisse des akademischen Alltags und große Liebe zum Detail verfügte. Nach drei einleitenden Bildern, die einige wichtige Persönlichkeiten wie u. a. Kerer selbst zeigen, wird der Leser Schritt für Schritt durch die Hausordnung geführt: vom Eintritt in die Burse über die Beschaffenheit der Schlafkammer, Gottesdienste und Gebete, gemeinsame Mahlzeiten und die dabei einzuhaltenden Tischsitten, den Umgang mit Frauen, die Sperrzeiten oder das Abhalten von Disputationen. Kaum ein Aspekt des Alltags bleibt ungeregelt. Neben ihrer didaktischen Funktion ist die Bebilderung in mehrfacher Hinsicht eine wertvolle Quelle für die Alltagsgeschichte. Die Bilder geben Einblicke in die materielle Kultur einer Burse, zeigen Bänke, Stühle, Tische, Betten und Kanzeln ebenso wie Fässer, Säcke und Kisten oder Kleidung, Waffen oder Bücher. Auch wenn dies nicht ihre primäre Intention war, so erstellen sie gleichwohl eine Art Inventar der Dinge innerhalb der Burse. Die Miniaturen verbildlichen den idealen Kleidungstil der Scholaren und können damit auch als visuelle Kleiderordnung gelesen werden, welche die schriftlichen Normen sinnlich unterstützte. Sie zeigen Situationen der Krise und des Konfliktes wie Raufhändel, Krankheit und Verschuldung ebenso wie Szenen des Lehrens und Lernens, des Schreibens oder der Rangordnung in einer Prozession. Immer wieder tritt der Gegensatz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu Tage: Texte werden geschrieben, vorgelesen oder disputiert, Lieder werde gesungen oder mahnende Worte gesprochen. Insofern kann das Statutenbuch auch mediengeschichtlich interpretiert werden. Kerers Statutenbuch ist nicht das einzige seiner Art. So ist etwa für das Pariser Kollegium Ave Maria ebenfalls eine mit dreiunddreißig Miniaturen bebilderte Statutenhandschrift überliefert (Gabriel 1955). Sie unterhält u. a. vier Abbildungen von Prozessionen und ist gerade für die Bildlichkeit akademischer Rituale eine wichtige Quelle (Schmitt 2011). Bebilderte Statutenbücher verweisen ähnlich wie illuminierte Matrikeln sowohl auf die Entstehungskontexte pragmatischer Schriftlichkeit als auch auf die vielfältigen Auswertungsmöglichkeiten von Bildquellen für die Sozial- und Kulturgeschichte.
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Begriffserklärung Unter Universitätsgebäuden werden Bauten zusammengefasst, die von Angehörigen der vormodernen Universität vollständig oder partiell genutzt wurden. Das universitäre Leben spielte sich in Fakultäts- und Nationenhäusern, Kollegien, Bursen und Magister- oder Professorenhäusern ab, in denen sowohl gewohnt als auch studiert wurde. Zudem dienten Kirchen und Klöster als Räume für Unterricht, Versammlungen und feierliche Akte wie Promotionen und Amtsübergaben zur Repräsentation der Universität und ihrer Angehörigen. Während zunächst bereits bestehende weltliche oder kirchliche Gebäude mitgenutzt oder umgewidmet wurden, traten ab dem 14. Jh. zunehmend eigens von der Universität erworbene oder errichtete Funktionsgebäude für die Lehre, die Verwaltung und zur Unterbringung der Bibliothek hinzu. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Die gedankliche Gleichsetzung der ‚Universität‘ mit einem bestimmten Gebäude hat es wohl bis zum Ende des 16. Jh.s nicht gegeben. Erst zu dieser Zeit taucht in Italien – in Rom (Sapienza), Bologna (Archiginnasio) und Padua (Palazzo del Bò) – die Vorstellung von einem Zentralgebäude, einem Universitätshauptgebäude auf, in Deutschland zuerst bei den Neugründungen in Altdorf (1571–1583), Würzburg (1582–1591) und Helmstedt (1592–1612). Ursprünglich meinte man mit universitas kein Gebäude, sondern eine Gemeinschaft von Personen. Wie bis ins 20. Jh. hinein belegt ist, konnte diese Personengemeinschaft ihren Aufenthaltsort zeit- und teilweise verlagern oder ihn gänzlich verlassen. So wechselte etwa die älteste Universität in Portugal im 14. und 15. Jh. mehrfach ihren Standort zwischen Lissabon und Coimbra, bevor sie 1527 in Coimbra ihren endgültigen Sitz erhielt (Villar 1980). Die mittelalterliche universitas magistrorum et scholarium bildete „nur den rechtlichen und sozialen Bezugsrahmen für ihre Teileinheiten“ (Schwinges 1986, S. 529). Die Verbreitung von Gebäuden mit diesen universitären Teileinheiten über das Gebiet der jeweiligen Stadt spiegelt diese Gruppenstruktur wieder. Die einzelnen Universitätsbesucher verteilten sich auf Fakultäts- und Nationenhäuser, auf Kollegien, Bursen und Magister- oder Professorenhäuser, in denen sie zusammen wohnten und studierten.
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Als im 11. und 12. Jh. die ersten Universitäten in Italien, Frankreich und England entstanden, konnte man sie im Stadtbild noch nicht erkennen, da sie keine eigenen Gebäude besaßen. Bei den ersten Baulichkeiten, die von Universitätsbesuchern genutzt wurden, handelte es sich um Räume in Privathäusern, die jeweils mehrere Scholaren anmieteten, um darin eine Wohngemeinschaft unter Leitung eines älteren Studenten zu bilden. In Paris und Cambridge nannte man sie hospitium (engl. hostel), in Oxford hießen sie aula (engl. hal), etwa die seit 1318 bezeugte aula sancti Edmundi (St Edmund Hall). In diesen drei Städten wachte jeweils eine Kommission aus Mitgliedern der Universität und Bürgern der Stadt darüber, dass keine überhöhten Mieten gefordert wurden. Aus den ersten Statuten der Pariser Universität von 1215 geht hervor, dass Scholaren offenbar ohne Einverständnis der Besitzer einfach Räume und Häuser besetzten (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 20, S. 79). Auch die Magister in Paris und Bologna hielten ihren Unterricht zuerst in ihren gemieteten Privatwohnungen ab. Das offenbar übliche Nebeneinander von Unterrichts- und ‚Gewerbe‘-Räumen in einem Haus beschreiben anschaulich Jacques de Vitry in seiner Historia Occidentalis (1225) und Ambrogio Lorenzetti in seinem Freskenzyklus Effetti del Buon Governo in città e in campagna („Auswirkungen guter Regierung in Stadt und Land“) (1338/39) im Palazzo Pubblico in Siena (Jacques de Vitry 1972, cap. 7). Seit dem 13. Jh. wurden Häuser zudem durch Schenkung oder Kauf erworben und nach der Mitte des 14. Jh.s ohne größeren architektonischen Aufwand und künstlerischen Schmuck auch selbst errichtet. Das erste geplante Funktionsgebäude stellt das Congregation House, das „Konventgebäude“, in Oxford, dar, das etwa 1320 von Thomas Cobban, Bischof von Worcester, gestiftet und als Annex der St Mary’s Church errichtet wurde (Jackson 1897). Erweiterungen und Reparaturen wurden aus der Kollegien-, Bursen- oder Universitätskasse bezahlt. So führte in Heidelberg eine Kommission, die aus dem Rektor, dem Dekan der Artistenfakultät, einem Magister und dem Pedell der Universität bestand, zusammen mit zwei Handwerkern jedes Jahr eine Inspektion aller Fakultätsgebäude durch (Winkelmann 1886, Nr. 154, S. 208 f.). Erst im 15. Jh. erhielten zuerst in Italien Universitätsgebäude die Form eines Palastes, wofür sich die Bezeichnung Palazzo della sapienza, „Palast der Weisheit“, einbürgerte (Kiene 1993). Zunächst spielten die Gebäude für die Repräsentation der Universität offenbar nur eine nachgeordnete Rolle, denn im Vergleich zur Stadtgemeinde oder zu Gilden und Zünften verfügte die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden über ein geringeres Vermögen. Im Vordergrund stand die Nutzung der Bauten für Studium, Unterricht und Wohnen. Für Köln bilanzierte der Universitätshistoriker und Professor Theodor Riphaen am Ende des 16. Jh.s treffend, dass die Gebäude der Universität „si non ad magnificenciam, sane ad usum et necessitatem“ errichtet seien (Riphaen 1590/91, fol. 5r; zit. nach Meuthen 1988, S. 108). Dies zeigt sich auch in der Selbstdarstellung der Universität: Abbildungen von Universitätsgebäuden vor 1600 sind rar. Zwar weisen zahlreiche universitäre Siegel, Epitaphien und Grabreliefs von Universitätsangehörigen sowie Miniaturen in illuminierten Matrikel- und Statutenhandschriften auch Architekturabbreviaturen auf, doch verweisen sie meist nicht auf bestimmte Bauten, sondern rahmen die im Zentrum stehenden Personendarstellun-
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Mob Quad, Merton College, Oxford, errichtet zwischen 1288 und 1378. Im Vordergrund die Bibliothek, hinten die Chapel. Fotografie von Hannah Skoda, mit Dank an The Warden and Fellows of Merton College Oxford.
gen lediglich ein. Eine Ausnahme bildet etwa die detailgetreue Darstellung von Gebäuden des New College in Oxford (1380) im Chaundler Manuscript (ca. 1461–1465), die z. T. noch heute erhalten sind. Ausgehend von ihren vielfältigen Nutzungen durch Universitätsbesucher lassen sich die hauptsächlichen Baulichkeiten an den meisten Universitätsorten nördlich der Alpen grob unter den Begriffen „Kollegien“, „Bursen“ und „Kirchen“ zusammenfassen, wobei es außer den Kollegienbaustilen bis 1600 keine eigenständige Universitätsarchitektur gab (Rückbrod 1977; Kiene 1983, S. 63). Daneben begegnen in einzelnen Städten hin und wieder auch von den Kollegiengebäuden gesonderte Funktionsgebäude wie die Bibliothek des Collège de Navarre in Paris, die Salle des Thèses in Orléans, die Casa de anathomia in Zaragoza oder das Hospital der Artistenfakultät, die Rote Pforte, in Köln. In den großen Universitätsorten Italiens gab es zwar ebenfalls zahlreiche Kollegien, doch überwogen dort die Unterrichtsgebäude (Kiene 1993). ‚Karzer‘ (lat. carcer – „Umfriedung“, „Kerker“) und Arrestzellen, die z. T. ironische Eigennamen trugen, sind seit dem 15. Jh. nachweisbar und waren meist in Universitätsgebäude integriert (Rostock, Tübingen, Basel, Jena, Altdorf ). Mit „Kollegium“ wurden analog zum Begriff „Universität“ ursprünglich ganz allgemein weltliche oder geistliche Gemeinschaften bezeichnet, die aus Personen mit gleichartiger (Rechts-)Stellung und (Berufs-)Tätigkeit bestanden. Erst später ging auch diese Bezeichnung auf das von ihnen benutzte Gebäude und auf die darin stattfindenden Lehrveranstaltungen über, so dass man davon sprach, „ins Kolleg zu gehen“. Zum ersten Mal begegnet die Bezeichnung „Kolleg“ nicht nur für eine
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Gemeinschaft, sondern auch für ihr Gebäude 1324 für das Oriel College in Oxford (Kiene 1983, S. 63). Bei den ältesten namentlich bekannten Pariser Kollegien wie dem 1180 gegründeten Collège des Dix-Huit und dem domus pauperum scolarium St. Thomas-du-Louvre (1186) handelte es sich noch eher um fromme Stiftungen, die nach dem Vorbild von Armenhäusern konzipiert waren, nur dass sie zum Unterhalt und zur Beherbergung einer genau festgelegten Zahl armer Scholaren dienten (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 60, S. 116 f.). Das Collège des Dix-Huit bestand anfangs aus einem einzigen Raum im Hôtel-Dieu, der als Schlafsaal diente, bevor es ein eigenes Haus erhielt (Denifle, Bd. 1 1889, Nr. 50, S. 49 f.). Die späteren Kollegien wurden gleich bei ihrer Gründung mit Haus- und Grundbesitz sowie mit Renteneinnahmen ausgestattet und verfügten wie das Karolinum in Prag (1366), das Wiener Herzogskolleg (1384) oder das Collegium Maius in Krakau (1400) zumeist über eine eigene Bibliothek und eine Kapelle. Teilten sich mehrere Scholaren zunächst einen Raum, so sind später cabinets, études, chambres oder studioli genannte Einzelzimmer in Inventaren nachweisbar. An King’s Hall in Cambridge (1342) und am Collège de Périgord in Toulouse (1363) lässt sich schließlich als charakteristisches Merkmal der europäischen Kollegienarchitektur ein an vier Seiten geschlossener Hof beobachten. Die Stifterinnen und Stifter dieser Kollegien gehörten der Oberschicht an. Dazu zählten zuerst Weltkleriker, vornehmlich Kanoniker, Prälaten, Bischöfe und Kardinäle, aber auch Kaufleute, später Fürsten, Königinnen und Könige. Daneben existierten ebenfalls ‚Kollegium‘ genannte Studienhäuser für Mönche, die in der Regel von den Provinzen des entsendenden Ordens unterhalten wurden (Sohn/Verger 2011; Sohn/Verger 2012). Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke konnten sich die französischen und englischen Kollegien zu fast eigenständigen kleinen ‚Universitäten‘, ja Eliteschulen mit eigenem Lehrbetrieb entwickeln, was sich noch heute in den Bezeichnungen collége und college für höhere Bildungseinrichtungen widerspiegelt. Auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches wurde im Spätmittelalter an den Universitäten insofern ein neuer Kollegientyp eingeführt, als dieser weitgehend Magistern oder Doktoren vorbehalten war. Oft hatte der Rektor seine Dienst- und Wohnräume im größten Kollegium, wo auch Versammlungen, Promotionen und andere Feierlichkeiten abgehalten wurden, so z. B. im Collegium Sorbonicum in Paris, im Collegium Carolinum in Prag, im Collegium Maius in Krakau oder im Großen Kollegium in Rostock. Durch ihre zentrale Rolle im Leben der Alma Mater konnten diese Gebäude sogar pars pro toto für die gesamte Universität namengebend werden, wie das bei der Sorbonne und der Sapienza der Fall war (Fletcher 1991; de Ridder 1996). Im Unterschied zu den Kollegien, in denen vornehmlich Magister gemeinsam wohnten und arbeiteten, lebten in den Bursen Scholaren unter der Leitung mindestens eines Magisters zusammen. An den meisten deutschen Universitäten war für diese Art von Wohngemeinschaften der Begriff „Burse“ üblich, der mit „Beutel“ oder „Börse“ übersetzt werden könnte und auf den von jedem Bewohner wöchentlich dort hineinzugebenden Betrag zurückging. In Heidelberg und Tübingen hießen diese
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Wohngemeinschaften auch Contubernien, also wörtlich „Zeltgenossenschaften“, in Rostock mehrheitlich Regentien oder einfach domus (Haus). Die Bezeichnung „Regentie“ leitete sich vermutlich von dem darin gepflegten Zusammenleben unter einer Führungsperson, dem magister regens, her. Durch Um-, An- und Neubauten entstanden mancherorts regelrechte Universitätsviertel. So konzentrierten sich Kollegien, Studentenhäuser und Vorlesungsgebäude in Paris auf dem linken Ufer der Seine und bildeten zusammen mit den dort mitgenutzten Kirchen das Quartier latin, das Lateinische Viertel, so genannt, weil seine gelehrten Bewohner auf Latein miteinander kommunizierten. Der Name der dortigen Rue du Fouarre oder Feurre, lateinisch vicus straminis, „Strohstraße“, scheint gut zu Peter Abaelards Schilderungen der wilden Anfänge universitären Lebens zu passen, nach denen seine zahlreichen Schüler statt zu Hause, in ihren weichen Betten, lieber auf einer Streu aus Schilf und Stroh schliefen und tagsüber auf Bänken aus Grasballen saßen, nur um ihn hören zu können (Grabois 1972; Sullivan 1975; Abaelard 1979). In eine ähnliche Richtung zielte wohl der in der Stiftungsurkunde festgehaltene Plan des habsburgischen Herzogs Rudolf IV., seiner 1365 in Wien gegründeten Universität ein ummauertes Stadtviertel in der westlichen Altstadt zwischen dem Schottentor und der herzoglichen Burg zu widmen: die „phaffenstat, da die egenant wirdige schůl sein und alle maister und schůlêr wonen sullen“ (Perger 1985; Ubl 2010). Als der junge Universitätsstifter jedoch bereits vier Monate später starb, blieb sein Vorhaben unvollendet. Vergleichbare realisierte bauliche Komplexe entstanden mit der zona universitaria um 1300 in Lérida, mit dem Schools Quadrangle, dem „Universitätskarree“, im 14. und 15. Jh. in Cambridge und vom Ende des 16. Jh.s an in Salamanca mit El Patio de Escuelas, in Coimbra mit dem Paço das Escolas oder in Würzburg mit der Alten Universität. Nach der Reformation überließen einige Fürsten in den protestantischen Ländern bereits bestehenden oder von ihnen neu gegründeten Universitäten (Leipzig, Basel, Marburg, Heidelberg, Helmstedt) Bauwerke aus säkularisiertem Kirchenbesitz, wobei es sich in erster Linie um aufgehobene Klöster handelte. Auch in katholischen Ländern wurden für die Dotation von Neugründungen Gebäude aus Kircheneigentum übergeben. 2. Beschreibung, Überlieferung und Erhaltung Die Überlieferung und der Erhaltungszustand baulicher Überreste sind von Ort zu Ort recht verschieden. Neben schriftlichen Zeugnissen wie Urkunden, Akten, Rechnungen (Finanz- und Vermögensverwaltung), Briefen und erzählenden Quellen (Universitätsgeschichtsschreibung) können künstlerische und historische Ansichten von Bauwerken als Informationsquellen für deren Analyse und Einordnung herangezogen werden. Die Stadt Paris war im Mittelalter, wie Hastings Rashdall formulierte, „the true home of the collegiate system“ (Rashdall, Bd. 1 1936, S. 498). Allein im 14. Jh. gab es dort 37 Kollegienstiftungen mit entsprechendem Hausbesitz, bis zum Ende des
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Mittelalters kamen noch 18 weitere hinzu. Zum Vergleich: Um 1500 besaßen die englischen Universitäten zusammengenommen 23 weltliche Kollegien, während es allein in Paris deren 40 gab (Rashdall, Bd. 1 1936, S. 536–539; Gabriel 1962, S. 32 f.). Erhalten sind beispielsweise zwei Stockwerke, das Unter- und das Erdgeschoss, vom Ostflügel des Collège des Bernardins aus der zweiten Hälfte des 13. Jh.s. Im Erdgeschoss waren das Refektorium und die Sakristei untergebracht. Das Studienhaus für Mönche des Zisterzienserordens war 1245 von Stefan von Lexington, dem Abt der Zisterzienserabtei Clairvaux, gegründet worden. Gleichfalls erhalten ist die dem Evangelisten Johannes geweihte Kapelle des Collège de Beauvais, die heute den Namen Église des Saints-Archanges trägt. Die von der Straße aus zu betretende Kollegiumskapelle wurde 1375 von dem königlichen Architekten Raymond du Temple errichtet, der als Werkmeister Karls V. auch den Bau des Château du Louvre und des Château de Vincennes leitete. 1381 errichtete er ebenfalls die anderen, heute nicht mehr existenten Gebäude des Kollegs. Vom 1394 gegründeten Collège de Fortet steht noch ein Teil des mittelalterlichen Gebäudes, der als La Tour Calvin bezeichnet wird. Vom Bibliotheksgebäude des 1305 gegründeten Collège de Navarre, das 1509 in Form einer gotischen Halle errichtet und 1867 abgetragen wurde, gibt es hingegen nur noch Lithographien und fotographische Aufnahmen. Das repräsentative gotische Portal des Kollegs ist auf mehreren Stichen und Zeichnungen des 19. Jh.s festgehalten worden. Den gotischen Torbogen, der von einer Marienstatue gekrönt wurde, flankierten demnach steinerne Nischenfiguren der königlichen Stifterin Johanna von Navarra und ihres Gemahls Philipp IV., des Schönen (Gorochov 1997). In Orléans ist mit der gotischen Salle des Thèses ein weiteres spätmittelalterliches Gebäude erhalten. Sein Bau zog sich, unterbrochen vom Hundertjährigen Krieg, über die erste Hälfte des 15. Jh.s hin. Im großen Saal des unteren Stockwerks befand sich die Bibliothek, der zweite Saal in der darüber liegenden Etage wurde für feierliche Zusammenkünfte genutzt. Der Name des Bauwerks wird auf seine Nutzung als Versammlungsort für Prüfungskommissionen zurückgeführt (Boitel 1959/60). Die Entstehung eines Kollegiums durch Agglomeration bereits bestehender Gebäude lässt sich gut am Beispiel des Collège de Périgord in Toulouse nachvollziehen. Es wurde aus sechs städtischen Adelssitzen (Hôtels) zusammengefügt, die der Stifter, Kardinal Élie de Talleyrand-Périgord, zusammen mit einem Turm, der Tour Mauran, direkt von den Adligen erworben hatte. Gemeinsam bildeten sie einen an vier Seiten geschlossenen Innenhof (Meusnier 1951; Kiene 1983, S. 68). Hervorragende Beispiele für Kollegiengebäude stehen in Oxford und Cambridge. Obwohl sie alle nach 1500 umgebaut und erweitert wurden, vermitteln einige von ihnen wie Merton College (1264) oder New College (1380) in Oxford noch heute einen durchaus zutreffenden Eindruck von ihrem ursprünglichen Aussehen. Typisch für den mittelalterlichen englischen Kollegienbaustil ist, dass der Wohnbereich klar von den Unterrichtsräumen und der Kapelle separiert ist. Die Verbindung zwischen ihnen stellt der Innenhof her, um den die Anlage gruppiert ist. Zwischen Oxford und Cambridge gab es allerdings einen Unterschied hinsichtlich der Rolle, die der Rektorenwohnung räumlich-funktional zugewiesen wurde. Während sie in Cambridge
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in strategischer Hinsicht optimal integriert werden sollte, ohne dabei ihre komfortablere Gestaltung gegenüber den anderen Unterkünften zu beeinträchtigen, wurde ihr in Oxford ein eigener, abgesonderter Bereich zugeteilt. Die räumliche Abfolge Küche – Speisekammer – Durchgang (screen) – Halle – beheizbarer Aufenthaltsraum des Kollegiumsvorstandes ergab in Cambridge, z. B. in Queens’ College und Corpus Christi College, eine ‚funktionale Achse‘, die es dem Rektor durch ein eigenes Treppenhaus ermöglichte, die Halle, also den Speisesaal, wie ein Burgherr, gesondert und direkt, zu betreten. In Merton College kam der Rektor oder warden, wie er dort und an anderen Oxford Colleges hieß, hingegen nur zu besonderen Anlässen in die aula magna. In New College fasste man Halle und Kapelle zu einem Flügel des Hofes zusammen, so dass eine für die Kollegien in Oxford typische ‚monumentale Achse‘ entstand. Die Rektorenwohnung lag hier meist außerhalb des Wohnhofes, an einem herausgehobenen Ort (Kiene 1983, S. 84–95). Finanziert durch einzelne Gönner und die Universität entstanden im 14. und 15. Jh. weitere bedeutende Gebäude wie die Divinity School, die Theologenschule, und Unterrichtsräume für andere Fakultäten. Für das 1438 gegründete All Souls College liegen höchst informative Baurechnungen aus den ersten fünf Jahren vor (Walker 2010). Auch die nach 1500 neu errichteten Colleges in Oxford, Cambridge und Dublin folgten dem Kollegienbaustil ihrer mittelalterlichen Vorgänger. Sie wiesen viereckige Innenhöfe auf, Säulenhallen, eine größere Lehr- und Speisehalle, Kapelle und Glockenturm, Bibliothek sowie Dienst- und Wohnräume für die Kollegleitung. In Italien nahm die Nutzung von Gebäuden durch die Universität einen etwas anderen Weg. Zwar nutzte man auch hier zunächst Privathäuser und gründete v. a. ab dem 14. Jh. darin auch Kollegien, doch fügten sie sich in der Regel unauffällig in das Stadtbild ein. Der Grund dafür könnte in der geringen Größe der Stiftungen zu suchen sein, aber auch in der anderen Verfasstheit der italienischen universitas als Scholarenuniversität. Eine italienische Besonderheit gegenüber den nordalpinen Verhältnissen stellt der ab 1420 entstehende Gebäudetyp des domus sapientiae, ‚Haus der Weisheit‘, später Palazzo della sapienza, dar. Das einflussreichste Vorbild für diesen Bautyp gab das 1365–1367 errichtete Collegio di Spagna in Bologna ab. Die Räume dieses Kollegiums sind um einen viereckigen Innenhof gebaut und bilden genau gleich lange Flügel, die in dem Vertrag zwischen dem Stifter, Kardinal Gil Carillo de Albornoz, dem Architekten Matteo Gattaponi da Gubbio und den ausführenden Maurern als palazzi bezeichnet werden (Kiene 1983, S. 78). Im Laufe des 15. Jh.s ging der Anteil der Wohnungen in den Palazzi zugunsten von Vorlesungs- und Disputationssälen, Bibliothek, Verwaltungsräumen, Archiven und Graduiertenzimmern zurück, so dass sie im 16. Jh. den Charakter von offiziellen Universitätsgebäuden annahmen (Kiene 1988). Ein imposantes Beispiel dafür gibt der von Kardinal Carlo Borromeo im Auftrag Papst Pius’ IV. errichtete Palazzo dell’Archiginnasio (1562/63) in Bologna ab, der bis 1803 Sitz der Universität blieb. Das zweigeschossige Gebäude mit Vorbau und Innenhof enthält eine Kapelle, zehn Vorlesungssäle und eine Bibliothek. Obwohl die Universität Padua bereits eine jahrhundertelange Tradition anatomischer Lehrsektionen und zahlreiche bekannte Anatomielehrer besaß, wurde das erste
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Salamanca, Westfassade der Escuelas Mayores. Fotografie von Klaas de Boer.
theatrum anatomicum dort erst 1594/1595 durch Gerolamo Fabrizi da Acquapendente erbaut. Allerdings handelte es sich nicht um ein eigenständiges Gebäude, denn es war in den Universitätspalast, den Palazzo del Bò, integriert, der um die Mitte des 16. Jh.s von Andrea Moroni aus Bergamo errichtet worden war (Klestinec 2004; Klestinec 2007). Unter den Gebäuden der Universität Salamanca ist das erhaltene Gebäude der Escuelas Mayores hervorzuheben, das zwischen 1411 und 1533 mit Aula, Kapelle und Galerien um einen quadratischen Hof herum erbaut wurde. Spektakulär ist die repräsentative Westfassade im plateresken Stil zum Patio el Escuelas hin. Sie ist in drei übereinander angeordnete Abschnitte gegliedert: Der obere zeigt einen zwischen zwei Kardinälen thronenden Papst. Der mittlere Abschnitt enthält drei Wappenschilde, deren mittlerer und größter die Wappen der Ländereien zeigt, die das Königreich Spanien zum Zeitpunkt des Fassadenbaues (ca. 1512–1533) umfasste. Rechts davon ist das Wappen der Königin Isabella „der Katholischen“ abgebildet, links davon das
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Karls I. von Spanien, also Kaiser Karls V. Das Medaillon im unteren Abschnitt zeigt Büsten der beiden ‚Katholischen Könige‘ Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon (Canto 2014). Die Übersetzung der griechischen Umschrift um das Medaillon lautet: „Die Könige der Universität und sie den Königen“. Am Beispiel des Wiener Herzogskollegs (Collegium ducale) lässt sich die schrittweise Vergrößerung eines Kollegiengebäudes durch den sukzessiven Ankauf von benachbarten Gebäuden anhand der urkundlichen Überlieferung und einer zeitgenössischen Miniatur recht genau nachvollziehen. Die Stiftung des Collegium ducale durch Herzog Albrecht III. 1384 ist in einer Miniatur auf der ersten Seite der reich illuminierten Übersetzung des Rationale divinorum officiorum des Wilhelm Durandus dargestellt, die zwischen 1385 und 1404 angefertigt wurde (Wilhelm Durandus, Rationale, fol. 1r; Perger 1985, Kat. Nr. 2.1, S. 228). Der Herzog sitzt vor dem von ihm gestifteten Gebäude des Herzogskollegs und weist auf seine Stiftung. Der rechte Teil des Gebäudes mit dem hohen Turm über der Toreinfahrt dürfte mit dem aus zwei Häusern zusammengebauten Haus des Niklas Würffel identisch sein, das von Albrecht spätestens 1384 für die Universität erworben wurde. Der Teil links vom Turm dürfte dem Haus entsprechen, das der Herzog 1385 vom Stift Lilienfeld kaufte, um das Kollegium zu erweitern (Perger 1985, Kat. Nr. 2.17 und 2.19, S. 235 f.). Das Gebäude des Collegium Maius in Krakau ist ebenfalls durch die sukzessive Vereinigung mehrerer Häuser entstanden. Auch hier stellte der Stifter, König Ladislaus Jagiello, im Jahr 1400 ein Grundstück mit den darauf befindlichen Häusern zur Verfügung, 1417 folgte ein weiteres. Im Verlauf des 15. Jh.s kamen noch andere Gebäude hinzu, von denen ein Teil, die stuba communis, erhalten geblieben ist. Der gotische Erker in ihrer Fassade, für den während der Mahlzeiten vorlesenden Lektor, erinnert in Proportionen und Funktion an den Erker des Kollegium Karolinum in Prag. Nach verheerenden Bränden in den Jahren 1462 und 1492 wurde das Kollegium nach dem Vorbild des Collegio di Spagna neu erbaut (Estreicher 1974, S. 9–23; Kiene 1983, S. 81 f.; Gieysztor 1996, S. 134 f.; Włodarek 2000). 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Die bauliche Hinterlassenschaft der vormodernen Universität ist von der Forschung bis weit ins 20. Jh. hinein vorwiegend auf lokaler Ebene untersucht worden. Das liegt zum einen an den höchst eindrucksvollen Bauensembles, wie sie in Oxford und Cambridge überkommen sind, zum anderen daran, dass im Rahmen des universitären Jubiläumsschrifttums regelmäßig auch die Gebäude Aufmerksamkeit fanden. So entstanden zwar gehaltvolle Spezialstudien, die aber auf die eigene Alma Mater beschränkt blieben und den vergleichenden Blick auf die benachbarten oder weiter entfernt liegenden Hohen Schulen oft vermissen lassen. Erst seit den 1970er-Jahren wurden von kunsthistorischer Seite auch komparative Studien vorgelegt, die sich aber auf den Bautyp des nordalpinen Kollegiums und des italienischen Universitätspalastes konzentrieren und andere Baulichkeiten, die zwar ebenfalls von Universitätsbesuchern genutzt wurden, aber keine spezifisch universitäre Bauweise aufwiesen,
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bewusst außer Acht lassen (Rückbrod 1970; Rückbrod 1972; Rückbrod 1977; Kiene 1981; Kiene 1983; Kiene 1986; Kiene 1988; Kiene 1993; Kiene 1997). Zuvor hatte in der kunstgeschichtlichen Forschung lange die Frage im Vordergrund gestanden, ob die Kollegienarchitektur von der Klosterbaukunst abhängig (Konrad Rückbrod) oder ob ihr Vorbild eher im Profanbau zu suchen sei (Robert Willis; John Willis Clark). Da beide Richtungen die Quellen im Sinne eines Entweder-Oder lediglich unter formalen Gesichtspunkten betrachteten und dabei allein nach dem Ursprung, nicht aber nach möglichen Wechselwirkungen fragten, fiel das Ergebnis recht statisch aus. Zudem bezogen beide Forschungsmeinungen nur wenige oder gar keine italienischen Beispiele mit ein. Als weiterführender erwies sich demgegenüber die Typenlehre von Nikolaus Pevsner („englischer“ und „spanisch-italienischer Typus“), um den Gesamtbestand an Kollegienbauten sinnvoll zu gliedern (Pevsner 1953). Diese Typologie hat Michael Kiene in mehreren vergleichenden Studien zu den englischen, französischen und italienischen Kollegien differenzierend erweitert und die ermittelten Typen genauer bezeichnet: „Cambridge-“, „Oxford-“, „schottischer“ und „toulousianischer Typus“, „italienischer Universitätspalast“ (Kiene 1981; Keine 1983; Kiene 1986; Keine 1988; Kiene 1993; Kiene 1997). Auf diese Weise gelang es ihm, das breite Spektrum an Lösungsmöglichkeiten innerhalb eines Stilverhaltens für die gleiche Bauaufgabe sichtbar zu machen. Die methodische Grundlage für seine stilgeschichtliche Einordnung bildet der Vergleich von Bauten und Bauteilen, Fenster- und Portaldetails, Maßwerk und Ornamentformen, durch den in Verbindung mit historischen Daten, die aus schriftlichen Quellen gewonnen wurden, eine zeitliche Abfolge der Gestaltung von Kollegienbauten festgestellt werden konnte. Dabei bezog er Informationen zu Auftraggebern, Architekten und Erbauern sowie Nutzung und Funktion der einzelnen Räumlichkeiten mit ein. Zudem konnte Kiene zeigen, dass bei Neu- und Ausbaumaßnahmen von Kollegien je nach Beschaffenheit des erworbenen Vorgängerbaues Elemente aus dem Bürgerhausbau oder von städtischen Adelssitzen übernommen wurden (Kiene 1983, S. 71). In den letzten Jahren sind die Ergebnisse von Rückbrod und Kiene auch von der französischen, spanischen und portugiesischen Forschung rezipiert und fortgeführt worden. So hat Aurélie Perraut in ihrer kunstgeschichtlichen und archäologischen Thèse die Architektur und den Grundbesitz von 56 Pariser Kollegien, die vor 1422 gestiftet worden sind, vergleichend untersucht (Perraut 2009). Spanische und portugiesische Studien zielen in erster Linie auf den Vergleich zwischen den Kollegienbauten der iberischen Halbinsel mit denen Italiens ab und auf den Nachweis der Vorbildrolle des von einem Spanier gestifteten Collegio di Spagna in Bologna für beide Regionen (Bérchez/Gómez-Ferrer 1999; Desfilis 2006; Desfilis 2012; Lobo 2010; Lobo 2012; Lahoz 2009; Lahoz 2010; Lahoz 2012). Die bislang vorliegenden kunsthistorischen und historischen Bauforschungen auf geisteswissenschaftlicher Basis, die ebenfalls mit den klassischen Werkzeugen der Kunstgeschichte, der Formenlehre und der Stilgeschichte arbeiten, greifen auch auf Quellen und Ergebnisse anderer Fachrichtungen zurück wie historisch ermittelte Daten aus Inschriften, Wappen und Archivalien, archäologische Befunde und bildli-
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che Darstellungen. Zu letzteren zählen Fotographien, künstlerische und historische Ansichten von Bauwerken auf Stichen, Zeichnungen, Aquarellen, Gemälden, Altarbildern, Teppichen, Wandmalereien, Karten, Plänen und Veduten. Ihr Quellenwert ist sehr verschieden und hängt von den Intentionen und Fertigkeiten des jeweiligen Künstlers ab. Oft ist es nicht einfach, zwischen künstlerisch bestimmter Gestaltung und realitätsgetreuer Wiedergabe zu entscheiden. Zwar sind die dargestellten Bauten nicht immer eindeutig lokalisierbar, doch mitunter sehr konkret dargestellt. Gelegentlich geben sie Hinweise auf frühere Bauzustände und ermöglichen es, Umbauten und Bauabfolgen zu erkennen oder zu bestätigen. In einzelnen Fällen, wie im Statutenbuch der Freiburger Sapienz, liefern sie auch realistische Innenansichten (Kerer 1957). Angeregt, ja, herausgefordert wird die kunst- und bauhistorische Forschung regelmäßig durch die Stadtarchäologie, denn Beschreibung und Identifikation und die damit einhergehende Bewertung baulicher Überreste tragen maßgeblich zur Entscheidung über den künftigen Umgang mit ihnen, über Bewahrung oder Abriss, bei. Vielversprechend erscheint gerade für Universitätsgebäude der Ansatz von Erwin Panofsky, Philosophie, Ideengeschichte und Kunstgeschichte miteinander zu verknüpfen, den Kiene z. T. aufgegriffen hat. Panofsky interpretiert die Gotik als stilistisches Phänomen in ihrem scholastischen Kontext (Panofsky 1951). In Anlehnung daran schlägt Kiene vor, die verschiedenen Baustile in Oxford- und Cambridge (s. o.) jeweils als Abhandlung einer quaestio zum Thema universitäre Kollegienbaukunst aufzufassen: In beiden Universitäten ziele die Architektur auf ein Maximum an Explizierung durch die Form. Alle Bauelemente sind äußerlich bestimmbar. Für einen Scholastiker seien die Gebäude daher wie eine Disputation lesbar: Denn „das Erfordernis der Anlage des Ganzen aus seinen Teilen ist völlig durchgeführt durch die architektonische Gliederung und die Sonderung in Halle, Kapelle, Tor, Wohnkompartimente, die insgesamt hierarchisch aufeinander bezogen bleiben.“ Und weil sie so gegliedert seien, könne sich der Besucher sofort orientieren (Kiene 1983, S. 97). In ähnlicher Weise lässt sich eine Wechselbeziehung zwischen studierten Fächern und Architektur bei den italienischen Universitätspalästen beobachten. Da die italienischen Universitäten in Bologna, Padua und Turin jeweils aus zwei voneinander unabhängigen Universitäten bestanden, einer Universität der Artisten und Mediziner und einer der Juristen, trug man ihrem Bedürfnis nach räumlicher Trennung in baulicher Hinsicht Rechnung, indem jede der beiden Universitäten ein eigenes Treppenhaus am entgegengesetzten Ende der Eingangsportikus erhielt. In Pavia besaß jede Universität seit den Baumaßnahmen am Ende des 15. Jh.s sogar einen eigenen Hof (Kiene 1993, S. 56 f.). Aussichtsreich erscheint es daher, die baulichen Gegebenheiten der vormodernen Universität noch konsequenter, als es hier nur hin und wieder angedeutet werden konnte, als Resultat eines historischen Prozesses zu betrachten. Dabei sollten aus soziologischer und anthropologischer Perspektive die Wechselwirkungen zwischen architektonischer Gestaltung und Interaktions- und Kommunikationsmustern in den Mittelpunkt gestellt und nach den räumlichen Bedingungen menschlicher Beziehungen gefragt werden, etwa am Beispiel der Verlagerung des
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wissenschaftlichen Lebens vom Privaten ins Öffentliche. In diesem Zusammenhang müssten sowohl die menschliche Wahrnehmung der Gebäude als auch der Einfluss des Räumlichen auf Beziehungs- und Kommunikationsformen analysiert werden (Foucault 1992; Friese/Wagner 1993; Algazi 2003; Algazi 2005; Klestinec 2011b). 4. Bibliographie 4.1 Quellen Abaelard (1979), Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa, hrsg. u. übertr. v. Eberhard Brost, 4. Aufl., Heidelberg. Chaundler Manuscript, Oxford, New College, MS 288. Denifle, Heinrich (Hrsg.) (1889), Chartularium Universitatis Parisiensis, Bd. 1, Paris. Jacques de Vitry (1972), Historia occidentalis. A Critical Edition, hrsg. v. John Frederick Hinnebusch (Spicilegium Friburgense, 17), Fribourg 1972. Kerer, Johannes (1957), Statuta collegii sapientiae. Satzungen des Collegium Sapientiae zu Freiburg im Breisgau 1497. Mit einer Einführung hrsg. v. Josef Hermann Beckmann. Lateinischen Text besorgt u. ins Deutsche übers. v. Robert Feger, Lindau u. a. Riphaen, Theodor, Descriptio academiae Coloniensis compilata circa annum 1590/91 (Biblioteca Vaticana Ottob. nr. 2422 II 663 b; Abschrift im Stadtarchiv Köln, Universität, Akten 84). Walker, Simon K. (2010), Building Accounts of All Souls College, 1438–1443, Woodbridge. Wilhelm Durandus, Rationale divinorum officiorum, ÖNB, Handschriftensammlung, Cod. 2765. Winkelmann, Eduard (Hrsg.) (1886), Urkundenbuch der Universitaet Heidelberg, Bd. 1, Heidelberg.
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Begriffserklärung Ein Grabmal dient dazu, den Bestattungsort einer Person oder Personengruppe zu bezeichnen und so die Erinnerung an Person(-en) und Ort wach zu halten. Die Mitglieder der vormodernen Universität (Studenten, Magister, Universitätsbedienstete) ließen sich in Kapellen, Kirchen und Klöstern oder auf deren Friedhöfen entweder einzeln oder als Angehörige einer universitären Teileinheit (Kollegium, Universitätsnation, Fakultät) in einer gemeinsamen Grablege bestatten. Als Medien zur Markierung des Ortes und zur Evokation der Memoria wurden Grabsteine, Tumben, Grabplatten und Epitaphien verwendet. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Grabmäler für (Universitäts-)Gelehrte sind ab dem 13. Jh. überliefert. Sie folgten zunächst dem allgemeinen Trend bei der Gestaltung von Grabmälern, wobei zu beachten ist, dass Grabmonumente das gesamte Mittelalter hindurch ein exklusives Attribut von Oberschichten darstellten (Reinle 1989). Dem entspricht nördlich der Alpen ihre Aufstellung innerhalb von Kirchenräumen, bei der eine Hierarchie der Standorte beachtet wurde: im Chor, vor dem Altar mit den Heiligenreliquien, im Hauptschiff, Seitenschiff oder im Kreuzgang. Geachtet wurde auch auf die Nähe zum Grab bereits verstorbener Verwandter und Freunde, so dass am räumlichen Umfeld des Grabmals auch die soziale Verortung des Verstorbenen abzulesen war. In formaler Hinsicht sind frei auf dem Friedhof oder an einer Kirchenwand innen oder außen stehende plattenförmige Stelen, im Boden eines Kirchengebäudes liegende Grabplatten sowie kasten- oder tischförmige Tumben und Sarkophage anzutreffen. Letztere können mit einem Sattel- oder Pultdach versehen sein, außerund innerhalb von Kirchen frei oder in Wandnischen stehen. Im 14., 15. und 16. Jh. findet das Epitaph zunehmend Verbreitung, ein tafelförmiges Totengedächtnismal aus Holz oder Stein, das aus einer Schrifttafel, dem ursprünglich namengebenden ‚Epitaphium‘, und einer religiösen oder allegorischen Bilddarstellung besteht, in die der Verstorbene einbezogen ist. Die Funktionen von Grabmälern lassen sich in instrumentelle und symbolische scheiden, wobei deren Anteile von Grabmaltyp zu Grabmaltyp variieren und inei-
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nander übergehen. Liegende, steinerne oder metallene Grabplatten besitzen instrumentelle Funktionen, etwa ein darunter liegendes Grab abzudecken, es zu schützen und so das ‚Darübergehen‘ im knapp bemessenen Kirchenraum zu ermöglichen. Der ‚Darübergehende‘ nahm die Grabplatte auf diese Weise nicht nur visuell, sondern auch durch die Berührung mit dem Fuß wahr. Das veränderte seinen Gang, forderte seine Aufmerksamkeit und ließ ihn mit dem Toten gleichsam direkt in Kontakt treten. Kastentumben, Wand- und Baldachingräber sind hingegen meist nur Kenotaphien, also Leergräber (Schmidt 1990, S. 14). Ebenso wie Epitaphien, Wanddenkmäler mit Schrifttafeln, wurden sie häufig in mehr oder weniger großer räumlicher Entfernung vom Grab aufgestellt oder aufgehängt und verweisen oftmals nicht eindeutig auf den Ort des Grabes. Bei ihnen überwiegen symbolisch-kommunikative Funktionen, sie sollen die Vorübergehenden zum ‚Stehenbleiben‘, Betrachten der Darstellung, Lesen der Inschrift mit den Lebensdaten der Verstorbenen und möglicherweise zur Fürbitte für sie veranlassen. So gibt etwa das Bronzeepitaph für den Ingolstädter Theologieprofessor Johannes Eck, das sein Brustbild mit Talar, Birett und Priesterkelch in der Hand zeigt, die Lebensdaten sowie seinen Bruder Simon als Urheber des Denkmals an und fordert den Betrachter auf: „Vorbeikommender bete, Eck liegt hier, geh’, der Du selbst sterben musst“ (Götz 1925, S. 60). Allen Grabmälern gemeinsam ist die symbolische Funktion, einen Bestattungsort als solchen zu markieren. Symbolisch bedeutet dabei zugleich, dass sie als Zeichen über sich selbst hinaus auf andere Bedeutungen und Sinnzusammenhänge verweisen, die es durch den Betrachter wie Forschende zu entschlüsseln gilt. Als Symbol sollten Grabmäler an den Toten erinnern und seine Person durch Bild und Text genauer kennzeichnen. Diese memoriale Funktion erfüllten sie v. a. in der Liturgie: Man gedachte der Verstorbenen persönlich bei ihrer Bestattung, am siebenten und dreißigsten Tag danach, am Jahrtag des Todes, auch in den folgenden Jahren, zu Allerseelen und im Rahmen von gestifteten Memorien, daneben summarisch bei jeder Messe. Den Grabmälern kam dabei eine Stellvertreterfunktion für den Verstorbenen zu, sie wurden zu „Medien des abwesenden Körpers“ (Belting 2002, S. 29). Mittels ihrer bildlichen Darstellung waren die Verstorbenen beim Stundengebet der geistlichen Gemeinschaft und bei jeder Messe der Gemeinde anwesend und bildeten so eine Gemeinschaft mit den Lebenden (Oexle 1993). Beispielsweise wurden die Fellows der Colleges in Oxford in der Regel in der Kapelle ihres Hauses oder in der benachbarten Pfarrkirche bestattet, wobei das Grab ein Grabmal erhielt (Knöll 2005, S. 73). Den Statuten von Merton College zufolge, die von 1274 bis 1850 in Kraft waren, hatte ein Fellow, wenn er zum Zeitpunkt seines Todes noch Mitglied des Colleges war, Anrecht auf ein kirchliches Begräbnis, damit er wie zu Lebzeiten unter seinen Mitbrüdern verweilen konnte (Statutes of Merton College, Oxford, 1274, Cap. 35, S. 35). Grabmäler sind also Zeichen, mit deren Hilfe ihre Besitzer und ihre Bewahrer Botschaften kommunizieren und ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft zum Ausdruck bringen wollen. Größe, Form, Material, Gestaltung und Aufstellungsort eines Grabmals sind individuell entschiedene Merkmale, die den Willen des Auftraggebers, den Konsens der Bewahrer und die umsetzende Einflussnahme des Handwerkers/ Künstlers widerspiegeln. Dieses Beziehungsdreieck muss bei der Deutung mitbedacht
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werden, ist aber in den Quellen mangels Überlieferung oft nur lückenhaft greifbar. Als Auftraggeber in Frage kamen der Verstorbene selbst, seine Familie oder Kollegen, was die Problematik von Rückschlüssen auf das ‚Selbstverständnis‘ einzelner Verstorbener oder ganzer ‚Verstorbenengruppen‘ (collective identity) verdeutlicht. Einige Beispiele mögen das verdeutlichen: Einem sehr frühen Beleg eines testamentarischen Eintrags in den Akten des Konvents von San Daniele in Venedig zufolge, der von einem Priester Johannes angelegt wurde und auf Juni 1138 datiert ist, wünschte der decretorum doctor Nicolò Morosini, sein Grab in der Kirche San Daniele im Stadtteil Castello möge mit einer Steinplatte bedeckt werden, in die das Bild eines Doktors eingeschnitten sei, der nach Art eines Lesenden in einer Kathedra sitze („in quo sit sculta una ymago doctoris in cathedra sedentis ad modum legentis“; Cecchetti 1887, S. 58 Anm. 5; Wolters, Bd. 1 1976, S. 137 Anm. 21). Ob der Wille des Testators so umgesetzt wurde, ist allerdings unklar und lässt sich anhand der materiellen Überlieferung nicht mehr überprüfen, denn San Daniele wurde 1839 abgerissen. Francesco Petrarca hatte in seinem Testament verfügt, dass ihn seine Erben in oder nahe bei der Pfarrkirche Santa Maria in Arquà bestatten sollten (Mommsen 1957). Fünf Tage nach seinem Tod wurde er in der Kirche beigesetzt. Um Petrarcas Ruhm dauerhaft zu sichern, beschloss seine Familie, ihm ein monumentales Grabmal zu errichten und seine sterblichen Überreste darin umzubetten. Ab 1380 ließ daher sein Schwieger- und Adoptivsohn Francescuolo da Brossano einen riesigen Sarkophag, der auf einem Unterbau und vier viereckigen Säulen ruht, vor der Nordseite der Kirche erbauen, wo sich damals deren Friedhof befand und wo das Grabmal noch heute steht. Die Form des Sarkophags entspricht exakt dem Kenotaph des Troja-Helden und sagenhaften Gründers von Padua Antenor, das die Kommune 1283 aufwändig erneuert hatte, nur dass ihm dessen Architekturbaldachin fehlt (Hendrix 2007, S. 16 f.; Benes 2012, S. 45–50). Für den Kanzler der Universität Tübingen, Jakob Beurlin (1520–1561), der auf einer Reise zu einem Religionsgespräch nach Poissy in Paris verstorben war, errichtete der Senat der Universität, also die Kollegen des Verstorbenen, in der Tübinger Stiftskirche St. Georg eine Gedenktafel. Den Rechnungen des Supremus deputatus für das Jahr 1564 zufolge wurde sie von dem Maler Hans Schickhardt gestaltet (Universitätsarchiv Tübingen 6/8, fol. 117v; Knöll 2005, S. 79 f. mit Anm. 21). Das Grabmal für Rolandino De’Passeggeri in Bologna (1306), auf dem eine doctor-in-cathedra-Szene mit fünf Schülern zu sehen ist, wurde der Inschrift nach von der Zunft der Notare in Auftrag gegeben, als deren ‚Vater‘ (pater) und ‚erster Vorsteher‘ (preconsul primus) er darin bezeichnet wird. Seit 1283 hatte Rolandino, der sich selbstbewusst doctor notarie oder doctor artis notarie nannte, der Notarszunft vorgestanden und sie neu organisiert, indem er ihr neue Statuten gab (Fanti 2000; Tamba 2002, S. 96). Das weitgehend unveränderte Überdauern dieses Grabmals ist wohl darauf zurückzuführen, dass es auch zur Bestattung aller anderen Vorsteher der Notarszunft diente, die während ihrer Amtstätigkeit verstarben. Zudem ließ die Zunft das Grabmal ab 1603 wiederholt restaurieren (Krafft 2007, S. 220; Rubbiani 1890; Biavati 2000). Materialität hat wesentlichen Einfluss auf soziale Bedeutungen und Konfigurationen. Grabmäler sind durch Formgebung, Zwecksetzung und Gebrauch zugleich
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Anlass und Effekt des gesellschaftlichen Diskurses über Rang und Status, der sowohl innerhalb der verschiedenen Statusgruppen als auch zwischen ihnen geführt wird. Die Monumente verweisen dabei nicht nur auf soziale Ordnungen, z. B. auf soziale Ungleichheiten, Hierarchien sowie Dominanz, sie stellen diese auch her und stabilisierten sie. Für einige Juristen (Glossatoren) der Bologneser Universität, wie dem eben genannten Rolandino De’Passeggeri, wurden ab der zweiten Hälfte des 13. Jh.s auf den damaligen Friedhöfen der Franziskanerkirche San Francesco und der Dominikanerkirche San Domenico freistehende Grabmonumente im Stil des römischen Grabturms mit Baldachinabschluss errichtet. Fünf davon sind noch heute auf der jetzigen Piazza Malpighi und der Piazza San Domenico zu sehen. Auch wenn die Grabmäler auf Friedhöfen standen, darf man mit einer beträchtlichen universitären und städtischen Öffentlichkeit rechnen. Zwischen den Mönchen und der bolognesischen Universität bestanden enge Beziehungen. So traf sich die Korporation der Rechtsstudenten im Kloster zu ihren Sitzungen, und weitere Studierende besuchten die theologische Schule und die Konventsbibliothek der Dominikaner. Jedes Studienjahr begann mit einem gemeinsamen Gottesdienst der Universitätsangehörigen in der Dominikanerkirche. Welche Bedeutung die Verbindung zwischen Kloster und Universität besaß, zeigen zum einen die Universitätsstatuten, die den Dominikanern die Aufsicht bei den Rektoratswahlen zuwiesen, und zum anderen die Tatsache, dass die Universitätsbesucher über einen eigenen Friedhofsbereich an der Nordseite des Kirchengebäudes verfügten. Als Grablege des Ordensgründers war San Domenico die bedeutendste Pilgerkirche der Stadt. Das sorgte für einen nicht abreißenden Besucherstrom, der auch an den Gelehrtengräbern vorüberkam. Im Verlauf des 13. Jh.s wählte die Stadt Bologna den Hl. Dominikus zu ihrem Schutzpatron. Seine Grabkirche und ihr Umfeld standen dadurch im Mittelpunkt der städtischen Aufmerksamkeit, wenn Podesta, Anzianen, Capitano del Popolo und weitere Vertreter der Kommune alljährlich am Festtag des Heiligen in feierlicher Prozession zu seinem Grabe zogen, um den ‚Beschützer der städtischen Freiheit‘ zu feiern und ihm dabei ihren Dank abzustatten (Herklotz 1990, S. 243; D’Amato 1987, S. 91–97). Vor diesem Hintergrund lässt sich die Ausprägung der Gelehrtengrabmäler in Bologna in Form antikisierender Grabtürme und Mausoleumsgräber im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung zwischen dem Stauferkaiser Friedrich II. und den oberitalienischen Kommunen interpretieren, die von den Bologneser Rechtsprofessoren unterstützt wurden. So könnte das etwa 1268 errichtete Grabmal für den doctor legum Odofredo, das von seinem Sohn, dem doctor legum Alfredo Denari, in Auftrag gegeben wurde, formal und daher auch dem Anspruch nach in Konkurrenz zu dem Baldachingrabmal Friedrichs II. aus Porphyr im Dom von Palermo getreten sein (Grandi 1982, S. 28, 109; Körner 1997, S. 96). Grabmäler sind Ausdruck der religiösen Vorstellungen und Wissensordnungen ihrer Auftraggeber und der damit verbundenen sozialen Normierungen sowie Strukturierungen. Sie sind Materialisierungen der individuellen und kollektiven Wahrnehmung des Transzendenten und Religiösen, das in religiösen Praktiken sichtbar wird. Im Umkehrschluss sind Grabmäler durch ihre Anordnung und Gestaltung zu-
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gleich Voraussetzungen für sakrale Atmosphären und spirituelles Erleben. Sie konnten dazu dienen, religiöse Denkmodelle und kulturelle Praktiken zu vermitteln, die in Textgestalt nicht jedem zugänglich waren. Ein Beispiel dafür ist das Epitaph für den Erfurter Theologieprofessor Friedrich Schön in der Nürnberger Lorenz-Kirche, der für sein Gedächtnisbild eine damals neue „berufsspezifische Darstellung“ wählte (Boockmann 1986, S. 597). Die Inschrift fehlt, da sie wie in vielen anderen Nürnberger Fällen im frühen 19. Jh. anlässlich der Umfunktionierung des Epitaphs zu einem Kunstwerk abgesägt und vernichtet worden ist. Um eine Darstellung der Geburt Christi herum sind in den dreieckigen Feldern am Rand vier Ereignisse des Alten Testaments und vier Merkwürdigkeiten des Physiologus, eines im Mittelalter beliebten spätantiken Tiermärchenbuches, abgebildet. Sie waren typologisch als Vorzeichen der Reinheit Mariens zu deuten, wie sie der Wiener Dominikaner Franz von Retz in seiner Schrift Defensorium inviolatae virginitatis beatae Mariae zusammengestellt hatte. Schön hatte in Wien wahrscheinlich bei Franz von Retz Theologie studiert. Sein Epitaph besaß also einen „didaktisch-pastoralen Sinn“ (Boockmann 1986, S. 597). Die Reformation veränderte den Totenkult grundlegend, auch den der Gelehrten. Alle reformatorischen Strömungen lehnten Totenmessen und jegliche liturgische Handlungen ab, durch die die Lebenden meinten, das Schicksal der Verstorbenen beeinflussen zu können. Inwieweit der theologische und liturgische Umbruch jedoch die Gestaltung und Funktion von Grabmälern beeinflusste, lässt sich nur durch diachrone, konfessionsvergleichende Studien fassen, die aber noch fehlen. Bislang liegen nur diachrone Untersuchungen zur Sepulkralkultur innerhalb einzelner Konfessionen vor, die wichtige Voraussetzungen für den noch ausstehenden interkonfessionellen Vergleich bilden (Knöll 2003; Zerbe 2005; Zerbe 2007; Zerbe 2013). Zahlreiche Grabmäler sind von ihrem ursprünglichen Standort entfernt worden, indem man sie innerhalb der Kirche versetzt oder aus zerstörten Kirchen in ein Museum gebracht hat. Sie sind dadurch z. T. oder völlig aus ihrem funktionalen, sozialen und symbolischen Zusammenhang gerissen. Von Universitätsgelehrten oder für sie in Auftrag gegebene Grabmäler stehen v. a. dort, wo die Magister und Doktoren ihr festes Einkommen bezogen und wo sie Stiftungen für ihre Memoria errichteten. Erhielten sie ihr Salär von der Universität oder einer ihrer Teileinheiten, so finden sich die Monumente auf Friedhöfen oder in Kapellen von Kollegien, in der Universität benachbarten oder einverleibten Pfarrkirchen oder in anderen mit der Universität verbundenen Gotteshäusern, wie Kollegiatund Domstiften. Besaßen sie andernorts eine Pfründe, so ließen sie sich in der Regel dort bestatten und stifteten dort Epitaphien und Altäre (Boockmann 1986, S. 598). Denn mit dem Grab war das liturgische Totengedenken, die Memoria, verbunden, die von der geistlichen Gemeinschaft zu pflegen war, in deren Zuständigkeitsbereich es sich befand (Borgolte 2000). Bei der Interpretation sind jeweils Überlieferungschance und -zufall einzubeziehen, da Kirchen bevorzugte Überlieferungsorte sind (Boockmann 1986, S. 599). Über das Selbstverständnis der Doktoren oder die Sicht der Auftraggeber der Grabmäler auf sie sagt dieser Befund aus, dass sie in erster Linie als Kleriker wahrgenommen werden wollten oder sollten.
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Weniger bemittelte Universitätsbesucher wurden z. T. in Gemeinschaftsgrablegen unter einem gemeinsamen Grabstein bestattet. Derartige Grablegen aus dem 15. Jh. sind durch Grabplatten für die Greifswalder Kirche St. Jacobi und für die Rostocker Kirche St. Petri belegt. Die Greifswalder Platte trug die Inschrift Lapis facultatis arcium („Stein der Artistenfakultät“) und existierte nachweislich bis zur Mitte des 19. Jh.s. Die Inschriften der Rostocker Platten weisen auf die Stiftung beider Steine im Jahr 1499 hin, wobei der eine zur Bestattung auswärtiger Scholaren der Juristenfakultät dienen sollte („pro sepeliendis scholaribus extraneis juridice facultatis“), der andere zur Bestattung auswärtiger Studenten („pro extraneis etiam studentibus“). Beide lagen noch im 18. Jh. vor dem Altar der Petrikirche (Magin 2010, S. 102–104). Die ältesten und auch die meisten Gelehrtengrabmäler sind in Mittel- und Oberitalien überliefert, in Bologna, Padua, Modena, Treviso, Verona, Pistoia und Pavia (Hülsen-Esch 2006, S. 235–238; Wolff 2007, S. 222). Obwohl Italien somit eine reiche Überlieferung an Gelehrtengrabmälern besitzt, sind bislang nur diejenigen in Bologna und Padua eingehender untersucht worden. In Bologna, der für das Studium der Rechte im 13. und 14. Jh. bedeutendsten Universitätsstadt Italiens, hat es der inschriftlichen Überlieferung zufolge bis zur Mitte des 14. Jh.s etwa 40 Monumente gegeben (Roversi 1982; Breveglieri 1986; Breveglieri 1993), in Padua ebenfalls (Billanovich 1976; Herzog 1986; Carrington 1997; Billanovich 2000; Billanovich 2002; Wolff 2002; Foladore 2009). Gelehrtengrabmäler in anderen Orten werden in der Forschungsliteratur zwar sporadisch erwähnt, vergleichende Studien fehlen jedoch bis jetzt (Hülsen-Esch 2006, S. 237 Anm. 120–123; Krafft 2007, S. 227, Anm. 1). Die freistehenden Grabmonumente für einige Juristen der Bologneser Universität, die in der zweiten Hälfte des 13. Jh.s auf den damaligen Friedhöfen der Franziskanerkirche San Francesco und der Dominikanerkirche San Domenico im Stil des antiken römischen Grabturms mit Baldachinabschluss errichtet wurden, sind jeweils nach dem gleichen Schema gestaltet, das von Fall zu Fall abgewandelt ist: Auf einem hohen Sockel, der entweder aus Säulen besteht (Odofredo, ca. 1268) oder aus einem gemauerten Block (Rolandino de’ Romanzi, um 1285; Accursio, um 1290), erheben sich Säulen aus Marmor, die die Grabkammer mit dem Sarkophag umschließen und auf denen eine Pyramide aus gemauerten Ziegeln ruht. Die Säulen in den Ecken sind vom Umfang her stärker als die zwischen ihnen eingestellten Säulchen, die aber verdoppelt sind. Skulptierte Sarkophage von bemerkenswerter künstlerischer Qualität meist des 14 Jh.s wie den des Giovanni da Legnano (1383–86) bewahrt das Museo civico medievale in Bologna. Sie sind aus den Werkstätten der bedeutendsten Steinmetze der Zeit hervorgegangen: Roso von Parma (Grab von Peter Cerruti 1338), Bettino von Bologna (Grab von Bonifacio Galluzzi 1346) Jacopo Lanfrani (Grab von Johannes Andreae von 1348) (Ricci 1888; Grandi 1982; Bertram 1985; Herklotz 1990, S. 241–244; Körner 1997, S. 93–96). In Wien sind in St. Stephan etwa fünfzehn Gelehrtengrabmäler aus dem 16. Jh. erhalten (Bachleitner 1965; Friesen 1989; Verstegen 2003; Zajic 2008; Plieger 2012). Sie erinnern zur einen Hälfte an hohe geistliche Würdenträger, die überwiegend mit dem Domkapitel zu St. Stephan in Verbindung standen oder diesem selbst angehör-
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ten, zur anderen Hälfte an Laien. Zu den bekanntesten unter ihnen zählen die Epitaphien des ‚Erz-Humanisten‘ Conrad Celtis († 1508) und des Johannes Spießheimer, genannt Cuspinian († 1529). Celtis’ Epitaph ist nicht nur aufgrund seiner einzigartigen Komposition aus christlich-antiker Symbolik, die zusammen mit drei Inschriften zu vielen Deutungen Anlass bietet, und der Prominenz des Verstorbenen bemerkenswert, sondern auch wegen mehrerer weiterer Zeugnisse, die darauf verweisen. In seinem Testament hatte Celtis Festlegungen für sein Begräbnis im Stephansdom getroffen und die Angehörigen der Universität zum liturgischen Totengedenken gemäß den universitären Gewohnheiten sowohl an seinem Beerdigungstag selbst als auch am siebenten und am dreißigsten Tag danach ermahnt (Rupprich 1934, S. 604–609, Nr. 338). Andere Quellen belegen, dass der Wille des Testators tatsächlich umgesetzt wurde (Rupprich 1934, S. 632 f., Nr. 353). Das aus Sandstein bestehende Originalmonument, dessen Oberfläche heute relativ stark beschädigt ist, wurde aus konservatorischen Gründen 1948 an der Außenwand durch eine Kopie ersetzt und im Inneren des Kirchenbaues angebracht. Farbspuren deuten darauf hin, dass es ursprünglich bunt bemalt war. Hinter einer Tabula ansata, einer Inschriftentafel mit Handhaben, die auf zwei Pilastern ruht, und so ein triumphbogenartiges Katheder oder Pult bildet, steht Celtis als Halbfigur im Habit des Gelehrten aus Talar und Birett und stützt seine Hände mit ausgebreiteten Armen auf jeweils drei Bücher (möglicherweise seine Werke), die gemischt versetzt wie Ziegelsteine übereinandergestapelt sind. Zwischen den Pilastern hängen zwei Girlanden herab, die mit Ringen an deren Kapitellen befestigt sind und einen Lorbeerkranz tragen. Der Kranz umschließt ein Kreuz; in den so gebildeten Quadranten steht jeweils ein Buchstabe in Kapitalis, die zusammen, im Uhrzeigersinn gelesen, die Buchstabenfolge VIVO bilden, „ich lebe“. Außer dem Epitaph hat Celtis ebenfalls zu Lebzeiten, wohl 1507, ein Holzschnittepitaph bei Hans Burgkmair in Augsburg in Auftrag gegeben, das sogenannte Sterbebild, das er an seine Freunde versandte. Es gibt den Gelehrten als Halbfigur in einer Rundbogennische wieder, der sich auf einen Stapel vor ihm liegender Bücher stützt. Die darunter auf einer Tafel zu lesende Inschrift rühmt die Verdienste und die Bildung des Verstorbenen, verweist auf sein Weiterleben in seinen hinterlassenen Schriften. Der Holzschnitt hat vermutlich eine starke Vorbildwirkung für die Gestaltung der Epitaphien seiner Freunde und Schüler ausgeübt, z. B. auf das von Johannes Turmair, genannt Aventin († 1534), in St. Emmeram in Regensburg und auf das des schon genannten Johannes Cuspinian. Belege für weitere 85 Monumente und Inschriften in St. Stephan aus der Zeit zwischen 1342 bis 1579, die Urheber und Auftraggeber mit akademischen Titeln nennen, liefert eine anonyme, im letzten Viertel des 16. Jh.s angelegte Handschrift mit sorgfältigen Transkriptionen (Epitaphia apud divum Stephanum). St. Stephan war als Universitätsstift personell und rituell eng mit dem Wiener Studium verknüpft. Acht der 24 Kanonikate des Kapitels wurden regelmäßig mit Magistern besetzt, die zuvor Mitglieder des Kollegiums der Artisten, des Herzogskollegs, gewesen sein mussten. Die so mit Pfründen versehenen Chorherrenprofessoren blieben akademische Lehrer und hatten zusätzlich das feierliche liturgische Totengedenken an der Grablege der habsburgi-
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schen Stifterfamilie zu vollziehen. Zudem befand sich die Grablege der Universität im südlichen Seitenschiff der Kirche. Spätestens seit 1397 sind dort Bestattungen von Universitätsprofessoren nachweisbar. Darüber hinaus diente St. Stephan als Raum für Lehrveranstaltungen und andere akademische Akte wie Promotionen und Feste der Universitätsnationen (Wagner 1999, S. 91–202). Auch in zwei anderen Wiener Gotteshäusern finden sich Grabmäler für Gelehrte der dortigen Universität: in der Pfarrkirche St. Michael eine Grabplatte des Medizinprofessors Christian Vrowin aus Soest († 1436) und in der Pfarrkirche St. Peter ein Epitaph für den Humanisten, Polyhistor, Kartographen, Medizinprofessor und kaiserlichen Leibarzt Wolfgang Lazius († 1565). Eine besonders dichte Überlieferung an Gelehrtengrabmälern weisen die Erfurter Kirchen auf, von denen es im Mittelalter 40 gab. Allein in der Hauptkirche St. Marien, dem Dom, befinden sich 13 Grabmäler von Magistern und Doktoren der dortigen Universität aus dem Zeitraum von 1451 bis 1548, die ein- oder mehrfach das Rektorenamt bekleidet haben. Die meisten von ihnen waren zugleich oder später Kanoniker, einige auch Kantor, Dekan oder Propst von St. Marien (Abe 1959, S. 6). Während der größere Teil der Monumente vollständig aus Sandstein besteht und mit hoher Wahrscheinlichkeit von Erfurter oder am Dom beschäftigten Steinmetzen behauen wurde, handelt es sich bei sechs Objekten um Steinplatten mit Metallbesatz, bei denen die Figur und der Rahmen mit der Inschrift aus Bronze und Messing gefertigt sind. Die Namen der Gießer, Modellschnitzer und Entwurfszeichner sowie der Einfluss der Verstorbenen und der Testamentsvollstrecker auf die Gestaltung der Denkmäler sind ungeklärt. Im Vergleich zu den zeitgleichen Sandsteinarbeiten handelt es sich um weitaus qualitätsvollere Arbeiten, die abgesehen von kleineren Teilen, wie Kopf, Kelch oder Wappen, von auswärtigen Meistern geschaffen wurden (Bornschein 1997, S. 25–33). Ob sie, wie Horst Rudolf Abe angibt, aus der berühmten Gießerwerkstatt von Hermann und Peter Vischer in Nürnberg stammen, ist noch zu klären (Abe 1959, S. 6). Sowohl das verwendete Material als auch die künstlerische Ausführung verdeutlichen einen Anspruch auf Exklusivität innerhalb der Sepulkralkunst des Stiftes. Neun weitere Gelehrtengrabmale liegen in St. Severi, das ebenfalls durch Professorenkanonikate mit der Universität verknüpft war; die Allerheiligenkirche und die Michaeliskirche haben jeweils eines, so dass insgesamt 24 Grabmäler von ehemaligen Universitätsrektoren erhalten sind. Sie weisen überwiegend Flachreliefs von Geistlichen nach Typ 1 auf (s. u.). Auch Darstellungen von einigen Bischöfen und Bürgerlichen sind darunter. Nicht alle Inschriften weisen jedoch auf die erreichten akademischen Grade hin (Abe 1959, S. 6–13; Bornschein 1997, S. 34–37). Ein bedeutendes Werk der Renaissance stellt die als Hochrelief gearbeitete Grabplatte für den Doktor der Medizin Heinrich Eberbach († 1537) in der Allerheiligenkirche dar, die zehn Jahre nach dessen Tod der unbekannte Meister A. B. geschaffen hat (Abe 1959, S. 12). Weitere vierzehn Grabmonumente von Rektoren sind zwar nicht mehr erhalten, aber noch durch anderweitig überlieferte Inschriften nachweisbar (Jahr-Lorenz 1915, Nr. 334, 343, 364, 365, 369, 420, 424, 454, 479, 501, 506, 541, 562, 573; Abe 1959, S. 14 Anm. 7). Erweitert man den Blickwinkel über Universitätsrektoren hin-
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aus, dürften sowohl unter den erhaltenen als auch unter den nur inschriftlich überlieferten Denkmälern durchaus noch mehr Gelehrtengrabmäler zu ermitteln sein, wie die beiden Grabplatten für den Theologieprofessor Johannes Zachariae († 1428) und den Theologen Conrad Cling († 1556) verdeutlichen, die sich im Augustinerkloster und im Dom erhalten haben (Abe 1959, S. 13). Eine beachtliche Zahl an Grabplatten und Epitaphien von Gelehrten aus der Zeit zwischen etwa 1470 und 1600 sind in den Kirchen von Ingolstadt erhalten (Hofmann 1970; Hofmann1971; Schädler 1974), in der Franziskanerkirche (Kögerl 1917; Götz 1927), in der Moritzkirche (Götz 1926) und insbesondere in der Liebfrauenkirche, dem Templum academicum der 1472 gegründeten Ingolstädter Universität (Götz 1925). Im Beobachtungszeitraum finden sich Denkmäler für insgesamt sieben Theologen, zehn Juristen, fünf Mediziner, fünfzehn Artisten/Philosophen, drei Studenten, eine Professorengemahlin und zwei Buchdrucker der Universität. Das in Ingolstadt vorhandene Ensemble ist nicht nur aufgrund der Qualität und Variabilität der Darstellungen bemerkenswert, sondern auch dadurch, dass mehrere Objekte bestimmten Künstlern zugewiesen werden können. Darüber hinaus gehören einige Monumente bekannten historischen Persönlichkeiten wie dem Luthergegner Johannes Eck († 1543; Liebfrauenkirche). Unmittelbar nach der Universitätsgründung setzen die frühesten figürlichen Darstellungen ein. Hervorzuheben sind die Epitaphien des Professors für kanonisches Recht und zweiten Rektors Johann Mainberger († 1475; Liebfrauenkirche; geschaffen von dem Straubinger Steinmetzen Erhart), des ersten Professors der Theologie in Ingolstadt 1472 Johann Permetter († 1505; Liebfrauenkirche), des Medizinprofessors Wolfgang Peisser († 1526; Franziskanerkirche; geschaffen von Friedrich Hagenauer), des ersten Regens des Collegium Georgianum Georg Schwebermair († 1530; Liebfrauenkirche, geschaffen von Loy Hering aus Eichstätt) und des Professors für kanonisches Recht Georg Hauer († 1536; St. Moritz; geschaffen von Stephan Rottaler) (Mader 1905, S. 76; Halm 1927, S. 226–229; Schädler 1974, S. 37, 40 f., 45–48, 56–65, 68). Eine umfangreiche Sammlung nachreformatorischer Grabmonumente von Universitätsangehörigen aus der Zeit vom 16. bis ins 18. Jh. ist in der ehemaligen Tübinger Stiftskirche St. Georg überliefert. Die Professoren der Universität Tübingen wurden ab der zweiten Hälfte des 16. Jh.s, auf dem Friedhof außerhalb der Stadt, einem Teil des heutigen Alten Botanischen Gartens, beigesetzt und erhielten dort einen Grabstein. Eine Bestattung innerhalb der St.-Georgs-Kirche blieb nunmehr dem Adel vorbehalten. Da St. Georg aber von 1477 bis zur Einführung der Reformation in Württemberg 1534 Universitätsstift war, dessen zehn Chorherrenpfründen schrittweise mit Professoren der Universität besetzt werden sollten, und auch nach der Reformation als Universitätskirche für akademische Akte und Gottesdienste genutzt wurde, durften hier weiterhin bis ins 18. Jh. neben den Grabmälern für Adlige auch Epitaphien für verstorbene Universitätsangehörige angebracht werden (Knöll 2005, S. 73; Knöll 2007c, S. 22–24, 28). Aus der Zeit zwischen 1500 und 1618 sind heute noch jeweils sechs Monumente für Theologen, Juristen und Artisten/Philosophen erhalten, eines für einen Mediziner und bemerkenswerterweise sogar neun für Studen-
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ten (Mohr 2007). Dabei handelt es sich um adlige Studenten, was ihr Vorhandensein erklärt. Zahlreiche Denkmäler weisen eine sehr einfache Gestaltung auf, einige, wie das des Theologieprofessors und Kanzlers der Universität Jakob Andreä (1528–1590), haben lediglich eine Inschrift (Knöll 2007c, S. 107–109, Nr. 74). Figürliche Darstellungen zeigen den Verstorbenen meist als Knienden unterhalb einer biblischen Szene, wobei Rechtsgelehrte, wie der Prinzenerzieher und Juraprofessor Andreas Laubmaier (1538–1604), in Analogie zu Adligen offenbar das Knien zu Füßen des Gekreuzigten bevorzugten (Knöll 2007c, S. 179–181, Nr. 122). Theologen wählten hingegen andere biblische Motive, unter denen sie knieten. 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung In der Sepulkralkunst der Gotik und der Renaissance lassen sich bestimmte Standardformen beobachten. Für die Gotik ist die Grabplatte charakteristisch. Sie zeigt den Verstorbenen als liegende oder stehende Figur unter einem Architekturbogen oder -baldachin und eingerahmt von einer Inschrift, die um die Darstellung läuft. In der Renaissance bevorzugte man hingegen die an antiken römischen Grabmälern orientierte Form des Epitaphs mit einem Relieffeld im oberen Abschnitt, auf dem der Verstorbene als plastisch gearbeitete Halbfigur in einer Nische dargestellt war, und einem Inschriftfeld im unteren Abschnitt. Die Inschriften, die auf Grabplatten die Figur des Verstorbenen umrahmen, an Sarkophagen und auf Epitaphien eher auf einer Tafel erscheinen, sind bis etwa 1380 in gotischen Majuskeln ausgeführt. Diese Schriftart wurde seit 1370 von der gotischen Minuskel abgelöst, die ihrerseits im 16. Jh. zunehmend durch die RenaissanceKapitalis ersetzt wurde. Bis zum Ende des 15. Jh.s hat man die Buchstaben meist eingetieft, danach erhaben ausgemeißelt. Inhaltlich bieten die Inschriften in der Regel Namen, akademische Grade, geistliche Ämter und Würden und Todesdatum des Verstorbenen sowie einen Segenswunsch. Im Laufe der Zeit wurden sie ausführlicher, Verse und ganze Gedichte kamen hinzu, die mahnende oder tröstliche Betrachtungen über Vergänglichkeit und Ewigkeit enthalten, den Schmerz der Hinterbliebenen sowie Fürbitte und Bitte um Fürbitte zum Ausdruck bringen, ein Lob der Tugenden bieten und Vorzüge des Verstorbenen aufzählen. Als Versmaß wurde neben anderen überwiegend das elegische Distichon gewählt. Was das Material angeht, so wurden Gelehrtengrabmäler wie andere Grabmäler in der Regel von ortsansässigen Steinmetzen aus den in Ortsnähe greifbaren Gesteinen geschaffen und zusätzlich polychrom gestaltet oder von Tischlern und Malern aus Holz gefertigt. Bei den Grabplatten dominieren Sandstein und Kalkstein, die z. T. mit Metallauflagen aus Bronze und Messing versehen wurden. Auch Sarkophage und Epitaphien wurden aus Sand- und Kalkstein gefertigt, aber auch aus weißem Marmor oder Alabaster, die in Nord- und Mitteleuropa allerdings importiert werden mussten (Reinle 1989). In Süddeutschland und Österreich griff man gerne auf den
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roten Marmor des nördlichen Alpenrandes oder auf Schiefer zurück. Die Wahl des Materials konnte Moden unterliegen, lässt aber auch Rückschlüsse auf das Repräsentationsbedürfnis und die Finanzkraft der Auftraggeber zu. Unter den figürlichen Grabmälern sind folgende ikonographische Grundtypen anzutreffen, die von Fall zu Fall variiert werden: Erstens, der Priester-Typus; vorwiegend auf Grabplatten: Die Figur des Verstorbenen wird im Flachrelief ganzfigurig, liegend oder stehend, in frontaler Ansicht in der Kleidung eines Geistlichen wiedergegeben, der entweder als Zeichen seiner Priesterwürde einen Kelch in der Linken hält und ihn mit der Rechten segnet oder, seltener, ein Buch, um als Vermittler des Glaubens oder als Gelehrter zu erscheinen. Beispiele für diesen Typus, auch Kombinationen von Buch und Kelch, sind etwa in Köln (St. Gereon) beim Grabmal des Johann Kreideweiß († 1513) anzutreffen (Schmid 2001, S. 10), vielfach in Erfurt (St. Marien, St. Severi) und in Ingolstadt (Liebfrauenkirche). Zweitens, die Lehrszene oder doctor-in-cathedra-Szene; auf Grabplatten oder als Sarkophag-Relief: Die steinerne Grabplatte des Kanonikers und Professors der Theologie Guillaume de Saint-Remy († 1340) in der Kathedrale von Meaux (Frankreich) zeigt den Verstorbenen an einem Pult sitzend bei einer Vorlesung vor einer Reihe deutlich kleiner dargestellter Zuhörer (Les Fastes du Gothique 1981, Nr. 37). Die meisten Beispiele für Sarkophag-Reliefs sind in Italien zu finden (s. o.). Drittens, die auf einem Totenbett ruhende Liegefigur mit Buch oder Büchern unter dem Kopf, gelegentlich auch unter den Füßen: Liegefiguren mit Büchern zeigen die Marmorgrabplatte des Ingolstädter Professors für kanonisches Recht und zweiten Rektors Johann Mainberger († 1475) in der Liebfrauenkirche (Götz 1925, S. 109–111; Schädler 1974, S. 40 f.) oder die marmorne Halbfigur des in Lérida und Salamanca studierten Juristen beider Rechte Alfonso Díaz de Montalvo († 1499), die sich ursprünglich in der Franziskuskirche von Hueto (Cuenca) befand und heute im Museo Arqueológico Nacional aufbewahrt wird (Caballero 1873; Fernández 2004). Das Buch dürfte das am häufigsten verwendete Attribut des Gelehrten auch auf Grabmälern sein (Knöll 2007c, S. 234; Knöll 2003, S. 25–27). Das Bild des ‚Buchgelehrten‘, lässt sich bis zu den Darstellungen der Evangelisten und der Kirchenväter zurückverfolgen, die sitzend, beim Schreiben ihrer Texte, gezeigt wurden (Mende 1970/1994). Aus dieser Perspektive zunächst als Bibel und dann als Lehrbuch zu verstehen, symbolisierte das Buch sowohl Tugendhaftigkeit und Vermittlung des Glaubens als auch Gelehrtheit. Viertens, der vor dem Gekreuzigten oder unterhalb einer biblischen Szene Kniende; vorwiegend auf Epitaphien: Die Darstellung des Verstorbenen in kniender Haltung wird v. a. im 16. Jh. zum beliebten Motiv. Die Epitaphien des Tübinger Juraprofessors Andreas Laubmaier († 1604) im dortigen St. Georgs-Stift und des Ingolstädter Theologieprofessors Albert Hunger († 1604) im dortigen Liebfrauenmünster, die beide vor einem Kruzifix knien, belegen, dass dieses Bildmotiv weder spezifisch für eine akademische Fachrichtung noch für eine Konfession ist.
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3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Grabmäler sind eine sehr komplexe Quellengruppe, da sie meist aus einer Kombination von bildhafter oder skulptierter Darstellung mit Text (Inschrift) bestehen und mit einem Bestattungsort in Verbindung stehen. Bis in die jüngste Vergangenheit hinein sind sie daher vorwiegend Gegenstand der Kunstgeschichte, der Archäologie und der historischen Grund- und Hilfswissenschaften, v. a. der Epigraphik, gewesen. Von der geschichtswissenschaftlichen und der kunsthistorischen Forschung wurden Grabmäler lange Zeit aufgrund ihrer voneinander abweichenden Prämissen aus völlig verschiedenen Perspektiven betrachtet. Während die Geschichtswissenschaften sie wegen ihrer Inschriften zunächst v. a. als eine weitere Quelle für personengeschichtliche Informationen über die Verstorbenen schätzten und vorhandene bildliche Darstellungen nur als illustrierendes Anschauungsmaterial für das Aussehen der Personen heranzogen, stand für die kunsthistorische Forschung die formale, stilgeschichtliche und ikonografische Einordnung der Objekte im Vordergrund. Inschriften wurden von ihr in der Regel lediglich zur Datierung herangezogen. Zur typisierenden Unterscheidung von Grabmälern arbeitet die Kunstwissenschaft mit einer sehr heterogenen Begrifflichkeit, die sich entweder an deren äußerer Gestalt oder am Bildinhalt orientiert. Maßgebende kunsthistorische Studien teilten Grabmale nach dem Grad ihrer Dreidimensionalität ein: in Grabplatten, die sich kaum über das Bodenniveau erheben, Denkmäler, die auf dem Boden stehen oder an der Wand hängen, und freistehende, komplett dreidimensionale Monumente (s’Jacob 1954; Panofsky 1964). Andere kunsthistorische Klassifizierungen setzten bei den Hauptbestandteilen oder bei der Umrahmung an: Arkosolium, Baldachin, Kastenform, Triumphbogen (Bauch 1976; Schmidt 1990). Die verschiedenen Herangehensweisen von Geschichtswissenschaft und Kunstgeschichtsforschung wirken bis in jüngste Untersuchungen hinein prägend, da sie Konsequenzen für die Auswahl und die Gruppierung der Untersuchungsobjekte haben. Was für ein „Humanistenepitaph“, ein „Gelehrten-“, „Doktoren-“ oder „Professorengrabmal“ gehalten wird, hängt von den zugrunde gelegten Kriterien ab. Es macht allerdings einen erheblichen Unterschied, ob man nach Monumenten für Verstorbene sucht, die gelehrten Tätigkeiten nachgegangen sind, oder ob man nach künstlerischen Darstellungen gelehrter Tätigkeiten und den dabei verwendeten Gegenständen wie Büchern oder Schreibutensilien Ausschau hält. Im ersten Fall wird die Ausbeute ungleich größer sein. Nimmt man hingegen von vornherein ausschließlich Grabmonumente ins Visier, auf denen etwa eine Szene mit einem doctor zu sehen ist, der in seiner cathedra thront, wobei mitunter auch seine Schüler mit abgebildet sind, oder Grabmäler, die einen Gelehrten liegend wie auf dem Totenbett zeigen mit Büchern unter dem Kopf oder den Füßen, so fallen alle anderen Denkmale durchs Raster und werden nicht mehr im Zusammenhang der Gelehrtengrabmäler betrachtet. „Die apriorische Festlegung, was als Gelehrtengrabmal gelten darf und was nicht, macht aber vor allem die Erkenntnis der Genese der verschiedenen Typen von Gelehrtengrabmälern schwierig, wenn nicht gar unmöglich […]“ (Wolff 2007, S. 219). Auch eine Konzentration auf bestimmte Ämter, etwa die „Grabdenkmale mittelal-
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terlicher Universitätsrektoren“ (Abe 1959), engt die Perspektive von vornherein zu stark ein. Für eine umfassende und ausgewogene Analyse erscheint es daher sinnvoll, als „Gelehrtengrabmal“ zunächst sowohl Monumente zu fassen, die zu Verstorbenen gehören, aus deren Biographie man ableiten kann, dass sie einer gelehrten Tätigkeit nachgingen, als auch solche, „die in ihren Inschriften durch die explizite Nennung von erworbenen Graden, spezifische Epitheta oder andere textliche Indizien unmittelbar auf akademische Ausbildung der Verstorbenen oder der Auftraggeber der Denkmäler verweisen“ (Zajic 2008, S. 116). Die grundlegenden und immer noch hilfreichen Inventarisierungen von Bauund Kunstdenkmälern, die in den meisten deutschen Ländern und größeren Städten in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jh.s vorgenommen und durch mehrbändige Werke dokumentiert wurden, haben nur einen Teil der erhaltenen Grabdenkmäler mit erfasst. Sie liefern meist lediglich Nennungen bis hin zu kurzen kunsthistorischen Beschreibungen und geben weitere Quellen nur unsystematisch an. Warum ein Grabstein mit in die Auswahl aufgenommen wurde und wie umfangreich seine Beschreibung ausfiel, wurde anscheinend nach dem subjektiv empfundenen Kunstwert oder der zeit- und standortgebundenen historischen Bedeutung des Bestatteten entschieden. Nicht erhaltene Monumente und deren Inschriften wurden meist nicht erfasst. Erst in jüngerer Zeit erfuhr die Grabmalforschung Veränderungen, die über die bloße hilfswissenschaftliche oder kunsthistorische Analyse hinausweisen. So wird das Forschungsinteresse von der seit den 1970er-Jahren etablierten Memoriaforschung stark beeinflusst, die den Blick auf die Praktiken des profanen und liturgischen Gedenkens gelenkt hat (Oexle 1993). Bei der Beschäftigung mit Grabmälern ist demnach sowohl der institutionelle als auch der rituelle Kontext einzubeziehen, um ihre Bedeutungen besser erschließen zu können. Denn das Bildprogramm, die Inschriften und die Lage der Grabmäler gewinnen ihre Bedeutung im Kontext der jeweiligen Grabbräuche (Angenendt 1984; Angenendt 2000; Kroos 1984; Bauer 1992; Illi 1992). Die Sakraltopographien der einzelnen Kirchen werden zudem als Spiegelbild sozialer Ordnungen begriffen, Raumordnungen und soziale Ordnungen in ihrem Wechselverhältnis beobachtet. Demnach vermochten Grabmäler „Statusdifferenzen so zum Ausdruck zu bringen, dass flüchtigere Betrachter sichere Zuordnungen treffen konnten“ (Hengerer 2005, S. 7). Hier wird der Sakralraum nicht nur als Ort der Bestattung und der liturgischen Memoria einbezogen, sondern auch als Medium sozialer Strukturabbildung und Strukturbildung betrachtet. Grabmäler sind Ausdruck des ständischen Selbstverständnisses des Auftraggebers. Sie ermöglichen Einblicke in die Bedeutung materieller Objekte für die Selbstdarstellung von Eliten und deren Anspruch auf Distinktion. Ob und wie Gelehrte versuchten, sich mit Hilfe ihrer Grabmäler von anderen Statusgruppen abzugrenzen, ist aber bislang nur ansatzweise und nur anhand einzelner Beispiele untersucht worden (Knöll 2003; Zerbe 2013). Einen weiteren erfolgversprechenden Ansatzpunkt bietet die Analyse der Kleidung, in der die Gelehrten auf ihren Grabmälern dargestellt wurden (Clark 1904; Druitt 1906/1970, S. 119–142).
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Auch die archäologische Forschung ist um integrative Interpretationsansätze bemüht, indem sie materielle und schriftliche Quellen bei der Deutung von Grabungsbefunden aufeinander bezieht. Bestattungen innerhalb von Kirchen werden nicht mehr für sich, sondern im Kontext der Kirchenbauten analysiert. Neben der topografischen Raumanordnung wird nach dem Wandel der Bestattungen und Grabsitten im Mittelalter, insbesondere beim Übergang in die frühe Neuzeit und beim Konfessionswechsel gefragt. Auf diese Weise wird es zum einen möglich, den dadurch gewonnenen Anteil am christlichen Denk- und Symbolsystem sichtbar zu machen, zum anderen die Repräsentationsstrategien des Besitzers aufzuzeigen, mit denen es ihm gelang, sich unabhängig von seiner physischen Präsenz und über den Tod hinaus in der Wahrnehmung der meist städtischen Öffentlichkeit zu verankern (Scholkmann 2003). Erst in letzter Zeit hat die Forschung also erkannt, dass der Erkenntnisgewinn aus den Inschriften und Darstellungen auf Grabmälern für die Untersuchung städtischer, klerikaler und adliger Eliten, ihres Wetteiferns um Rang und Status und ihrer religiösen Vorstellungen erheblich vermehrt werden kann, wenn die Artefakte im Kontext ihrer räumlichen Bezüge und ihrer Einbeziehung in die gottesdienstliche Praxis betrachtet werden. Diese Einsicht verlangt nach einem kombinierten Forschungsund Editionskonzept, das neben Inschriften auch edierte und archivalische Quellen berücksichtigt: Stiftungsurkunden, liturgische Ordnungen, Totenbücher, Inventare und Visitationsrezesse. Erst so werden die Wechselwirkungen zwischen den Platten, ihren epochenspezifischen Deutungen und konkreten objektgebundenen Praktiken in Gottesdienst und Totengedenken nachvollziehbar. Eine kulturgeschichtliche Analyse von Gelehrtengrabmälern muss also darauf abzielen, Wechselwirkungen zwischen Grabmälern, ihren epochenspezifischen Deutungen und konkreten Praktiken genauer zu verstehen. Sie umfasst daher sowohl die Biografie der einzelnen Objekte als auch deren wechselnde Kontexte, etwa die objektgebundenen Praktiken im Rahmen von Liturgie und Totengedenken, Besitzerbiografien sowie räumliche und soziale Konstellationen und Bezüge, um so Sinnzusammenhänge aufzudecken, die über das einzelne Grabmal hinausweisen. 4. Bibliographie 4.1 Quellen Becker, Karl et al. (Bearb.) (1929), Die Stadt Erfurt Dom, Severinkirche, Peterskloster, Zitadelle (Die Kunstdenkmale der Provinz Sachsen, 1), Burg. Buxtorf, Peter (1940), Die lateinischen Grabinschriften in der Stadt Basel (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 6), Basel. Cellius, Erhard (1596), Imagines professorum Tubingensium, senatorii praecipue ordinis, […], Tübingen: Erhard Cellius (VD 16 C 1874). Epitaphia apud divum Stephanum, Oberösterreichisches Landesarchiv Linz, Starh. Hs. 131. Friedrich, Johann (1624), Inscriptiones monumentorum quae sunt Tubingae in conditorio illustrissimorum Wurtembergiae principum: in templo divi Georgii et divi Jacobi in ca-
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Insignien Marian Füssel
Begriffserklärung Als Insignien werden Gegenstände und Handlungen mit einer bestimmten symbolischen Funktion bezeichnet, die ihren Träger mit korporativen Vorrechten ausstatteten und v. a. in Investiturritualen zum Einsatz kamen. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Die Insignien als Herrschaftszeichen und Rechtssymbole einer mittelalterlichen Schwureinigung folgen in ihrem Auftreten der sozialen Logik des akademischen Personenverbandes (Gieysztor 1993, S. 135–138). An der Spitze stehen die Zeichen des Rektors, doch war der Rektor nicht der einzige zeichenführende Amtsträger. Auch die Fakultäten und ihre Dekane führten ein ähnliches Zeichenrepertoire, ebenso wie die universitären Nationen als landsmannschaftlich organisierte Gruppen. Für alle drei Einheiten, Rektor, Fakultäten und Nationen, sind eigene Zepter, Siegel oder Statutenbücher überliefert. Die genaue Ausgestaltung des Bestandes der Insignien war jedoch lokal unterschiedlich. An der vormodernen Universität unterschied man je nach betroffenem Personenkreis und zeremoniellem actus bis zu fünf Gruppen von insignia. Die beiden wichtigsten stellten die rectoralia und die doctoralia dar, ihnen folgten die insignia baccalaureatum, poeticarum und ludimagistrorum (Höpingk 1642, S. 108–121). Zu den rectoralia gehörten bis zu sieben Artefakte, unter die man mit regionalen Abweichungen und Ergänzungen im Wesentlichen die Zepter, die Siegel, die Matrikel, die Statuten, den Mantel des Rektors und einen symbolischen Schlüssel des Karzers zählte. Als unter dem Schutz des pommerschen Herzogs Wartislaw IX. im Jahre 1456 in Greifswald eine Universität gegründet wurde, erteilte man dem plantator universitatis Heinrich Rubenow den Auftrag, er solle „statuta setten, en inghezegel graven laten, ceptra maken“ (Alvermann 2003, S. 113). Statuten, Siegel und Zepter bildeten also den Grundstock akademischer Institutionalität. V. a. die öffentliche Repräsentation der Universität und ihres höchsten Repräsentanten, des Rektors, waren auf Symbole angewiesen. In den Statuten der Universität Wien heißt es bereits 1385: „Der Rektor ziehe öffentlich auf unter Vorantritt der Universitätspedelle mit den Zeptern,
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zumal wenn er allgemeine Angelegenheiten der Universität vertritt.“ („Rector incedat … per vicos precedentibus pedellis universitatis cum virgulis et specialiter dum agit negotia communia universitatis“ (Paatz 1953, S. 9). Zu solchen Anlässen gehörten in erster Linie die feierlichen Rektoratswechsel bzw. -übergaben, aber auch Leichenbegängnisse im Amt verstorbener Rektoren, Feiertage, Graduierungen, Fürstenbesuche oder Universitätsjubiläen. Ereignisse, die in ganz Europa einer vergleichbaren Ritualgrammatik folgten (Paatz 1979, S. 85–96; Füssel 2006; Hülsen-Esch 2006, S. 163–172; Davies 2009, S. 141–156; Destemberg 2015). Aufbewahrt wurden die akademischen Insignien in eigenen verschließbaren Behältnissen, die man als cista oder arca bzw. archa bezeichnete (Graven 1938, S. 388). Diese Kisten wurden im Mittelalter meist in Kirchen oder Klöstern aufbewahrt, um angesichts fehlender zentraler Verwaltungsgebäude (Gebäude) den Transport von Wohnung zu Wohnung des wechselnden Rektors zu vermeiden. So wurden die arca universitatis in Bologna in der Kirche der Dominikaner aufbewahrt und die Kölner archa im Kloster der Franziskaner (Graven 1938, S. 388). Die überlieferten rectoralia bildeten später den Grundstock vieler akademischer Sammlungen bzw. von Universitätssammlungen „im engeren Sinne“ (te Heesen 2008, S. 486). Die doctoralia setzten sich aus einem Birett (Hülsen-Esch 2006, S. 174–180), einem Ring (Hülsen-Esch 2006, S. 146 f.), einem geschlossenen und einem geöffneten Buch, einem Kuss (Schreiner 1990), dem Segen und dem Besteigen des Katheders zusammen („cathedra, libro, biretto … annulo, osculo et benedictione“, Walther 1652, S. 441 f.). Charakteristisch für den performativen Charakter des Einsetzungsrituals ist die Tatsache, dass drei der sieben Insignien aus Handlungen bestanden und nicht aus Artefakten (Füssel 2006, S. 152–166). Bei dem Buch handelte es sich je nach Fakultät meist um spezifische Autoritäten: Die Theologen nutzten die Bibel, die Juristen das Corpus Iuris Civilis, die Mediziner Schriften von Hippokrates oder Galen, die Philosophen jene des Aristoteles (Füssel 2006, S. 183). Je nach lokalem Kontext konnten andere materielle Insignien hinzutreten. In Spanien, aber auch an manchen Universitäten des Reiches, wurden etwa Schwerter oder Degen verliehen, um damit die Äquivalenz zum Adel zu symbolisieren (Rashdall, 1895, Bd. 1, S. 230 mit Anm. 1; Verger 1973, S. 180; Füssel 2006, S. 181). An den Universitäten Basel und Ingolstadt verlieh man den Promovenden zusätzlich noch einen Gürtel (cingulum), der ebenfalls „dignitatem et ordinem equestrem“ symbolisieren sollte (Füssel 2006, S. 181). Dass die Deutung der Insignien nicht ohne Schriftquellen auskommt, zeigt insbesondere die Frage nach ihrer symbolischen Funktion. So wurde die Deutung des Symbolgehaltes der Insignien immer wieder durch Sprechakte wie begleitende Reden aktualisiert (Buchwald/Herrle 1921; Füssel 2006, S. 179–187). Einen interessanten Sonderfall stellen die Insignien des Collegium Poetarum in Wien dar. Das 1501 von Kaiser Maximilian I. gegründete Kollegium hatte das Recht, Dichter zu krönen, und stand unter der Leitung des ‚deutschen Erzhumanisten‘ Conrad Celtis. Der Kaiser verlieh dem Kollegium eigene Insignien, zu denen ein silberner Lorbeerkranz, ein Zepter mit den Wappen der sieben Kurfürsten, ein Doktorbirett (biretum), ein Ring und ein silberner Siegelstempel gehörten (Abb. Gall 1965, Ta-
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fel XIV). Erhalten ist heute allein noch der Siegelstempel. Nach Celtis Tod gingen die Insignien an die Universität Wien über und wurden in einem eigens gefertigten Kasten aufbewahrt, der sogenannten „Celtis Truhe“ (Gall 1965, S. 86–90). Erst 1876 wurde die kunstvoll bemalte, im 18. Jh. jedoch in Vergessenheit geratene Kiste wiederaufgefunden und restauriert. Neben den rectoralia und den doctoralia existierten noch weitere korporative Zeichenträger, zu denen u. a. Wappen, Festbecher und Banner zählten. Das Schenken von wertvollen Bechern war seit dem späten Mittelalter verbreitet. Neben eigentlichen Universitätsbechern, die der Gesamtkorporation gehörten, finden sich auch Fakultätsbecher und Nationenbecher (Gall 1965, S. 101–104). Während Fakultätsbecher häufig mit Bildnissen der jeweiligen Patrone geziert wurden, an der Wiener Artistenfakultät etwa mit der heiligen Katharina, so haben sich an der Universität Basel prachtvolle Doppelpokale erhalten, die auch für Praktiken der zeitgenössischen Wissensrepräsentation hoch aufschlussreich sind (Wüthrich 1959, S. 63–77, Tafeln 20– 27). Die sogenannten Globusbecher von Jakob Stampfer (um 1550) und Abraham Gessner (um 1590) boten Repräsentationen der Welt nach neuesten geographischen Kenntnissen. Der große Globus Gessners war etwa der Weltkarte von Abraham Ortelius von 1587 nachempfunden und enthielt zudem eine ausführliche Nennung der neun Professoren, die ihn gestiftet hatten, mit voller Titulatur. Die Becher kamen während der Symposia und Doktorschmäuse zum Einsatz oder wurden berühmten Gästen vorgeführt. In ihnen repräsentierte sich somit korporatives Selbstverständnis ebenso wie gelehrtes Wissen. Auch universitäre Wappen werden in der Literatur oftmals unter dem Begriff der ‚Insignien‘ verhandelt (Erman/Horn 1904, S. 578–579; Gieysztor 1993, S. 137). Der erste kollektive öffentliche Auftritt der universitären Wappen wird mit dem Konstanzer Konzil (1414–1418) in Verbindung gebracht, in dessen Zusammenhang die Chronik des Ulrich von Richental vierzehn Hochschulwappen anführt: Paris, Avignon, Orléans, Köln, Heidelberg, Erfurt, Hodenburg, Wien, Prag, London, Oxford, Bologna, Buda und Krakau (Gabriel 1969, S. 66). In Cambridge existierten neben dem Universitätswappen Wappen der Colleges und der einzelnen königlichen Regius-Professuren (Hope 1894). Noch im 18. Jh. diskutierte man beispielsweise im Reich unter Juristen die Rechtmäßigkeit dieses doch eigentlich den Kriegern vorbehaltenen Zeichens. Johann Jacob Moser etwa beantwortete die Frage, „Ob sich Arma & Insignia für Universitäten schicken?“, mit dem Schluss, dass in der heutigen Zeit die Wappen solche „Ehren- und Denck-Zeichen seynd, die sich für jedermann schicken“ (Moser 1752, S. 406–407). Der tatsächliche Besitz der Insignien war damit für die Geltendmachung korporativer Privilegien (Privilegien) konstitutiv und führte daher immer wieder zu Konflikten. An einem der ältesten Siegel einer universitas magistrorum et scholarium lässt sich bereits die Konfliktträchtigkeit institutioneller Geltungsansprüche ablesen. Als sich die Pariser Magister und Scholaren 1221 ein eigenes Siegel gaben, zogen sie sich damit den Unmut Papst Honorius III. zu, der das Siegel 1225 brechen ließ (Rexroth 2007, S. 75 f.). Während in der Frühzeit der Universitäten Päpste und Bischöfe noch
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mit Skepsis den korporativen Siegelgebrauch der Akademiker beobachteten und kontrollierten, kam es mit der Zeit sowohl zu einer Normalisierung wie einer institutionellen Ausdifferenzierung der Siegel. Neben dem großen Universitätssiegel, das man zu den insignia der Hochschule zählte, besonders sorgsam verwahrte und nur selten hervorholte, existierten im immer komplexer werdenden akademischen Verwaltungsalltag ‚kleinere‘ Siegel für den Rektor, die einzelnen Fakultäten und im Falle einer Nationenverfassung auch für die verschiedenen nationes (Rexroth 2007, S. 77). Ein aufschlussreiches Beispiel für die zeichengeleitete Legitimationsgeschichte einer Universität bilden die Zepter der Universitäten Marburg und Gießen. Die von Landgraf Philipp dem Großmütigen 1527 gegründete Universität Marburg verfügte zu Beginn weder über ein Privileg des Papstes noch des Kaisers. Auch Zepter besaß sie noch nicht. Ein erstes Zepterpaar wurde nach Ansuchen des Rektors beim Landesherrn 1530 im Jahre 1533 erworben. Karl V. hatte die Universität 1541 mit einem Privileg ausgestattet, und dies wurde auch mit einer Inschrift am Kopfteil der Zepter gewürdigt. Karl wird als Stifter von Hochschule und Zepter bezeichnet: CAROLE QVINTE VALE / TV SCEPTRA SCHOLAM(QVE) DEDISTI („Karl der Fünfte, Heil dir, du hast die Szepter und die Schule gegeben“) (Großmann 1977, S. 106; Graepler 1983, S. 10, 14). Die Figur am Zepterkopf konnte inzwischen eindeutig als Landgraf Philipp von Hessen identifiziert werden und stellt damit das früheste eindeutig belegte Zepterbildnis eines Universitätsstifters dar (Graepler 1983, S. 26). Beide, Inschrift wie Bild, datieren jedoch auf eine ‚Reparatur‘ des Zepterpaares im Jahre 1618 und zeigen, wie die Insignien auch zu Medien der Konstruktion einer institutionellen Eigengeschichte werden konnten. Im Zuge verschiedener Teilungen des Territoriums wurde zu Beginn des 17. Jh.s aus der Universität Marburg eine Universität in Kassel und eine in Gießen (1607), die beiden Zepter aus der Zeit Karls V. teilte man auf. Nach dem Westfälischen Frieden 1648 kam die Universität in Kassel 1653 als Neugründung zurück nach Marburg, während die ehemalige Universität Marburg in Gießen fortan als Universität Gießen bestehen blieb. Noch heute befindet sich je eines der beiden Zepter von 1533/41 in Gießen und in Marburg. Damit symbolisierten wie legitimierten sie beide Hochschulen als Rechtsnachfolger der ersten Marburger Gründung durch Philipp den Großmütigen. Das Beispiel der Marburger Zepter zeigt einerseits die enge Koppelung von rechtlicher Privilegierung und den akademischen Insignien, andererseits den hohen Stellenwert, den Zepter als materielle Verkörperung korporativer Eigengeschichte und Autonomie einnehmen konnten. Ihre Eigenschaft als Rechtssymbol machte die Insignien auch im Alltag immer wieder zum Bestandteil von Konflikten. Als 1673 in Rostock der ehemalige Student Andreas Riesener im Zuge eines Verfahrens wegen Ehebruchs in Gewahrsam genommen wurde, hatte dies eine Reihe von Konflikten zur Folge. Er entkam dem Rat und versteckte sich im Hause des Rektors. Der städtische Wachtmeister verschaffte sich mit seinen Männern daraufhin gewaltsam Zugang zu dem Haus und traf darin auf zwei Pedellen, welche die Treppe in den ersten Stock, wo sich Riesener aufhielt, mit den gekreuzten Zeptern sperrten. Während des gewaltsamen Zugriffs brach eines der Zepter entzwei und das andere wurde beschädigt. In der Folge entbrannte
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ein langer Streit zwischen Rat und Universität, und sogar die Immatrikulationszahlen sanken, da nicht nur das Ansehen der privilegierten Korporation litt, sondern auch die zentralen akademischen Rituale mangels Zepter kaum mehr durchgeführt wurden. Lediglich die Fakultätszepter erlaubten etwa der Philosophischen Fakultät weiter, Magisterpromotionen durchzuführen. Im Sommersemester 1679 erhielt die Universität ihre mittlerweile auf Kosten des Herzogs reparierten Zepter wieder zurück (Hofmeister 1896, S. 65–67). Der Fall zeigt eindrucksvoll, dass die Insignien kein schmückendes Beiwerk waren, sondern für das Funktionieren der Institution konstitutiven Charakter besaßen. Konflikte um die Aneignung der Insignien ziehen sich durch die gesamte Universitätsgeschichte. In Basel stritten im Jahre 1487 die Vertreter der antiqui und der moderni, bzw. der Realisten und der Nominalisten in der Artistenfakultät um die rechte Lehre. Der Dekan aus dem Lager der Nominalisten entwendete während dieses Konfliktes das Fakultätssiegel aus der Universitätslade, während der Dekan der Realisten sich seinerseits die Matrikel der Fakultät aneignete. Beide Lager machten sich so wechselseitig handlungsunfähig angesichts von Graduierungen und anderen Verwaltungsakten, die ein Siegel erforderten (Vischer 1860, S. 173–175; Rexroth 2007, S. 79). Noch drastischer gestaltete sich der Umgang mit den Insignien der Universität Erfurt im Zeichen konfessioneller Differenzen während des 30-jährigen Krieges (Medick 2008). Nach der Einnahme Erfurts durch die Schweden sollte eine ‚Restauration‘ der von nun an protestantischen Hochschule erfolgen. Zu dieser ‚Wiederaufrichtung‘ benötigte man auch die Insignien, diese verwahrte jedoch noch der katholische Domherr und Professor Caspar Heinrich Marx in einer Kiste. Als Besitzer der Insignien wähnte sich Marx auch angesichts der neuen politischen Machtverhältnisse in der Stadt als legitimer Amtsinhaber des Dekanats der theologischen Fakultät. Marx verweigerte hartnäckig die Herausgabe der Kiste, doch den neuen Amtsinhabern gelang es 1633 schließlich, sich unter Gewaltandrohung ihrer zu bemächtigen. Doch Marx akzeptierte den Verlust der insignia nicht. 1635 erfolgte eine parallele Wahl eines evangelischen und eines katholischen Dekans, im Zuge derer Marx die Herausgabe der Kiste einforderte und die Wahl seines protestantischen Gegenübers für nichtig erklärte. Die protestantische Seite aber gab die Kiste erst 1649 auf Drängen einer kaiserlichen Exekutionskommission wieder heraus (Medick 2008, S. 61–62). Der Erfurter Konflikt zeigt mit aller Deutlichkeit, wie sehr die korporative Autonomie und Handlungsfähigkeit von ihren sichtbaren ‚Zeichen‘ abhängig war. 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Unter den rectoralia erweisen sich die Zepter seit den grundlegenden Arbeiten von Walter Paatz sowie Günter W. und Ingeburg Vorbrodt (Paatz 1953; Paatz 1979; Vorbrodt/Vorbrodt 1971–1978) als die am besten erforschten. Die allermeisten Zepter
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der frühen Universitäten sind allerdings nicht mehr erhalten. So gelten beispielsweise die frühen Zepter der Universität Paris ebenso als verloren wie die von Coimbra, Padua, Köln und Leipzig (für Coimbra s. Paatz 1953, S. 93 f.; für Köln s. Paatz 1953, S. 115 f.; für Leipzig s. Paatz 1953, S. 117 ff.; für Padua s. Paatz 1953, S. 126; für Paris s. Paatz 1953, S. 127). Zu den ältesten erhaltenen Zeptern im deutschsprachigen Raum gehören ein Universitätszepter aus Heidelberg von 1387 und eines aus Erfurt aus dem Jahre 1412 (Paatz 1979, S. 145 f.). Eine Rekonstruktion der Zepter bleibt häufig auf Inventare, Statutentexte (Statuten), Rechnungsbücher (Rechnungen), Dekanats- und Gerichtsakten (Rektorats- und Fakultätsakten) oder zeitgenössische Bildquellen (Bilder) angewiesen (Alvermann 2003, S. 115). Mit dem Ende des alten Reiches 1806 riss die Tradition der Zepterneuschöpfung in Deutschland weitgehend ab. Von nun an wurden meist ältere Modelle symbolisch ‚recycelt‘. Begrifflich firmierten die Zepter in den Quellen des 14. bis 16. Jh.s meist als virga oder baculus, also Rute bzw. Stab (Paatz 1979, S. 16–23). Die virga meint einen kürzeren, beispielsweise Richterstab, der baculus einen längeren Hirtenstab. Ab dem frühen 15. Jh. fand sich im romanischen Sprachraum auch die Bezeichnung massa (Kolben) (Bologna 1432), während in England Begriffe wie mace oder stave gebraucht wurden. Als sceptrum universitatis firmierten die Stäbe im Reich erstmals 1413 in Wien (Gall 1965). Der Begriff Zepter begann sich ab Ende des 16. Jh.s allgemein durchzusetzen. Die materiale Gestalt der Zepter begann sich seit dem ausgehenden 14. Jh. zu folgendem Idealtyp zu entwickeln. Manche der ältesten Zepter waren noch rein aus Holz gefertigt, ab dem 15. Jh. setzten sich Metalle wie Eisen, Silber, Gold, Kupfer, Messing oder Bronze durch (Paatz 1979, S. 119–137). Manche Zepter besaßen nun einen Holzkern, der mit Silber ummantelt war, oder bestanden vollständig aus Metall. Bei einer variablen Länge von meist 65 bis 163 cm (das Gesamtspektrum reicht von 26,5 cm bis ca. 280 cm; Paatz 1979, S. 138–142) zeichnen sich die meisten durch einen starken Schaft aus, der durch Ringe und Knäufe untergliedert wird. Künstlerisches Herzstück ist das ‚Chörlein‘ des Kopfteils, das den jeweils lokal spezifischen Symbolkern des Zepters enthält. Im Heidelberger Zepter von 1492 ist beispielsweise der 12-jährige Jesus im Tempel abgebildet, der die Schriftgelehrten belehrt. Die Gelehrten zu je vier Seiten verkörpern gleichzeitig die vier Fakultäten. Beliebte symbolische Figuren der Zepter bildeten die Patroninnen und Patrone der jeweiligen Orte und Fakultäten (Wirth/Götz 1973, S. 1187 ff.). Besonders häufig findet sich die heilige Katharina (Wien, Heidelberg, Tübingen, Ingolstadt, Salzburg, Innsbruck, Padua). Im Humanismus werden die christlichen Figuren häufig von allegorischen Darstellungen abgelöst (Paatz 1979, S. 63–84). Der Rektormantel differenzierte sich erst langsam als genuine Amtstracht aus. So legten die Wiener Statuten von 1385 zunächst nur fest, dass der Rektor „in habitu honesto et decenti et clericali“ (Gall 1965, S. 40) aufzutreten habe, erst im Jahre 1551 sprechen die Quellen dann von der Anschaffung eines eigenen Rektorgewandes (Gall 1965, S. 41). In Erfurt wurde erstmals 1612/13 ein eigener Ornat des Rektors erwähnt (Wiegand 1954, S. 41). Neben regionalen Unterschieden ist ein langfristiger Wandel der Farbe der Talare von einer roten zu einer schwarzen Amtstracht zu beobachten.
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Verwirrung entsteht in der Literatur hinsichtlich der Farben oftmals durch eine mangelnde Unterscheidung zwischen dem bis zu den Knöcheln (ad talares) reichenden Talaren und den Überwürfen. So wurde ein goldbestickter Überwurf über dem Talar üblich, die sogenannte epomis (Salch 2012, S. 89 f. mit Anm. 300), sie war häufig aus rotem Samt oder Brokat sowie mit goldenen Knöpfen und Hermelinrand versehen. Ein weiteres, heute zu den akademischen Insignien zählendes Artefakt ist die Rektorkette, deren Entstehungszeit in der Forschung lange umstritten war (Stemmler 2004). Inzwischen ist jedoch herausgearbeitet worden, dass vor 1800 den Universitäten zwar von den Fürsten sogenannte ‚Gnadenketten‘ verliehen wurden, so etwa in Krakau (1460), Olmütz (1580, 1617, 1652) oder Greifswald (1681), doch erst im Übergang vom 18. zum 19. Jh. die bis heute gebräuchlichen ‚Amtsketten‘ aufkamen (Stemmler 2004, S. 242). Bereits im Pariser Universitätssiegel aus dem frühen 13. Jh. sind mit der Madonna mit dem Kind, zwei Heiligen (wahrscheinlich Katharina und Nikolaus) und Professoren mit ihren studentischen Zuhörern wesentliche der ikonographisch bestimmend werdenden Motive enthalten: spezielle Heilige und Patrone sowie eine Lehrszene (Gandilhon 1952, S. 83 f., Abb. Pl. 13; Boockmann 1986, S. 569). Das Prager Universitätssiegel von 1350 zeigt König Karl IV. kniend vor dem Landespatron, dem heiligen Wenzel, bei der Überreichung der Stiftungsurkunde. Auf diese Weise wurde das auch vom Adel beanspruchte Wenzelspatrozinium nicht nur vom König vereinnahmt, sondern auch der jungen Hochschule ein besonderer Schutz zugesprochen (Rexroth 2007, S. 77 f.). Als 1386 die Universität Heidelberg gegründet wurde, erbat der Gründungsrektor Marsilius von Inghen von Kurfürst Ruprecht I. die notwendigen Siegel. In der Ikonographie des runden Siegels von 70 mm Durchmesser orientierte man sich wiederum eindeutig am Prager Vorbild (Zinsmaier 1961, S. 64). Es zeigt einen sitzenden Petrus, den Patron der Universität mit einem Schlüssel in der Rechten, links und rechts des Patrons kniend zwei Ritter, deren Wappenschilder sie als die beiden Stifter, die Kurfürsten Ruprecht I. und Ruprecht II. ausweisen. Das sogenannte große Universitätssiegel sigillum universitatis maius wurde in der Praxis selten genutzt und nur bei besonderen Anlässen oder Empfängern verwendet. Seine Verwendung erforderte die Zustimmung der ganzen Korporation (Zinsmaier 1961, S. 66). Im Alltag verwendete man eher das Rektoratssiegel, das sigillum minus. In der längerfristigen Entwicklung der Siegel werden auch fakultätsspezifische ikonographische Traditionen sichtbar (Weiß 1930, S. 718 f.; Wirth/Götz 1973, S. 1185 FF.). Die Siegel der theologischen Fakultäten sind bestimmt von Christus (zehn Universitäten), dem Evangelisten Johannes (Prag, Breslau, Innsbruck, Bonn), dem Apostel Paulus (Freiburg, Tübingen, Duisburg, Münster) und den Kirchenvätern Augustinus (Bamberg, Wittenberg, Würzburg) und Hieronymus (Erfurt, Mainz, Trier). An der juristischen Fakultät dominieren die Justitia, Kaiser und Papst sowie Ivo, der Schutzheilige der Juristen (Freiburg, Wittenberg). Für die Medizin sind es die Ärzteheiligen Kosmas und Damian, die auf den Siegeln der medizinischen Fakultäten von Prag (1348), Leipzig (1409), Ingolstadt (1472) oder Wittenberg (1502) firmieren, während andere sich mit dem geflügelten Stier des heiligen Lukas schmücken, wie
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Siegeltypare der Universität Ingolstadt im Universitätsarchiv München
etwa Heidelberg (1386), Erfurt (1392), Wien (1404/1571) oder Helmstedt (1576) (Benedum/Michler 1982, S. 41). Mit dem 17. Jh. setzt dann ein radikaler Wandel in der medizinischen Ikonographie ein und die Heiligen weichen antiken Bezügen wie der Schlange des Asklepios (Gießen 1607), seiner Tochter Hygieia (Halle 1693), Personifikationen der ratio und der experientia (Herborn 1622) oder den Ärzten Hippokrates und Hermes Trismegistos (Marburg 1653) (Benedum/Michler 1982, S. 42–45). In der Artistenfakultät dominiert eindeutig die heilige Katharina (dreizehn Universitäten), gefolgt von der Madonna (Erfurt, Leipzig, Greifswald) und Minerva (Straßburg, Göttingen, Münster, Berlin), womit sich hier bei späteren Gründungen eine ähnlich antikisierende Tendenz ablesen lässt wie bei der Medizin. Mit den Motiven und Gravuren der Objekte treten auch die zahlreichen Stifter der Objekte selbst in den Blick. Gerade die aufwendigen handwerklichen Artefakte, wie Zepter oder Pokale, wurden keineswegs allein von der landesherrlichen oder städtischen Obrigkeit gestiftet, sondern z. T. auch von den Professoren oder örtlichen Honoratioren, Adeligen etc., die sich auf den Objekten mit ihren Namen oder Wappen erinnern ließen (Alvermann 2003, S. 118–121).
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Auch die Statutenwerke und Matrikeln sind als normative Grundlage der Universitätsverfassung und Kontrollinstrument des akademischen Personenverbandes nicht allein inhaltlich als Verfassungsdokumente und Ausdruck pragmatischer Schriftlichkeit bedeutsam, sondern auch in ihrer konkreten Materialität. So sind die Matrikelbücher oftmals durch zahlreiche Illuminationen und bildliche Ausstattungen verziert, mit denen die Rektoren sich dauerhaft im korporativen Gedächtnis verewigten. Eindrucksvolle Beispiele sind u. a. aus Erfurt (Mittelstädt 1999), Leipzig (Erler 1895), Basel (Ganz 1960) oder Ingolstadt (Pölnitz/Boehm 1937–1984) erhalten. 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Eigene Monographien liegen bislang nur zu den Insignien weniger Universitäten vor. Als gut erforscht können beispielsweise Erfurt (Wiegand 1954; Blaha 2001), Jena (Vorbrodt 1954/55; Dicke 2008; Bauer/Blaha 2014), Basel (Wüthrich 1959), Krakau (Bochnak 1962), Tübingen (Richter 1964), Wien (Gall 1965), Olmütz (Santavy/Hosek 1980), Prag (Herber 1987) oder Würzburg (Salch 2012) gelten. Europäisch vergleichend arbeiteten bislang nur wenige Forscher, wie in Ansätzen bereits Hubert Graven (Graven 1938) oder speziell zu den Zeptern Walter Paatz (Paatz 1953; Paatz 1979). Einen globalen Überblick über den Stand der Forschung im 20. Jh. geben Hugh Smith und Kevin Sheard (Smith/Sheard 1970). Die beiden wesentlichen Funktionszusammenhänge akademischer Insignien sind ihr Rechts- und Repräsentationscharakter. Für die Zeitgenossen stand der Rechtscharakter der rectoralia und der doctoralia außer Frage. Erst im frühen 20. Jh. äußerte der Rechtshistoriker Karl von Amira Zweifel und vertrat die These, die akademischen Zepter seien lediglich die Amts-Abzeichen der Pedelle, nicht aber Hoheitszeichen der Rektoren gewesen (Amira 1909, S. 78–81). Anlass zu der Frage gab die etwas ungewöhnliche Tatsache, dass nie der Rektor das Zepter trug, sondern stets seine Pedelle (Miethke 1989, S. 9–10). Doch zeigen die sämtlich ohne Führung der Zepter ausgeübten Tätigkeiten der Pedelle bereits, dass dies kein Grund für die Annahme ist, es handele sich nicht um Zeichen des Rektors. Amira ist daher inzwischen in der Forschung unter Verweis auf diverse Statuten und zeitgenössische Rechtstraktate (Heckscher 1970) wiederholt widersprochen worden (Gravert 1938, S. 401–403; Paatz 1953, S. 21–33; Paatz 1979, S. 173–187; Putzer 1985, S. 173 f.), so dass heute der rechtliche Geltungsanspruch, der sich in den Zeichen materialisierte, weitgehend außer Frage steht. Die akademischen Zepter orientieren sich sowohl an den Königszeptern wie an mittelalterlichen Botenund Amtsstäben (Töbelmann 2011). Die Symbolik der Zepter ist im Reich von deutlichen Referenzen auf den Kaiser geprägt, so finden sich eine Krone, der Reichsadler oder verschiedene Figuren als Verzierungen. Neben dem Kaiser bilden der Papst und der jeweilige Landesherr zentrale Bezugspunkte: Der Papst als Garant der universellen Lehrbefugnis sowie Kaiser und Landesherr als solche der Hoheitsrechte. Paatz sah die Wirkmächtigkeit der Insignien in ihrer unmittelbareren Anschauung begründet: „Das Szepter verkörperte nicht nur die Hoheitsrechte der Universität,
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sondern es legitimierte diese Rechte zugleich so, wie es im Mittelalter üblich war, nämlich durch anschauliche Hinweise auf deren Quellen, durch eine demonstratio ad oculos“ (Paatz 1953, S. 28). Heute wird man den Hinweis auf die Sichtbarkeit durch die ritualtheoretische Rekonstruktion der Performativität der symbolischen Handlungen ergänzen, die ihre Geltungsansprüche nicht nur sichtbar machten, sondern damit auch in actu wirksam werden ließen (Füssel 2006). Mit der Sphragistik, der Siegelkunde, haben die Siegel ihre eigene historische Hilfswissenschaft gefunden, die sich seit dem 17. Jh. zunehmend spezialisierte. Dementsprechend breit gefächert ist auch die Forschung zu akademischen Siegeln. Ein frühes Werk bietet bereits Johann Georg Hagelgans (Hagelgans 1737). Das Standardwerk bildet allerdings immer noch die Sammlung von Maximilian Gritzner und seinen Söhnen Erich und Hans Gritzner (Gritzner 1906). Ein weiterer Überblick zu den Siegeln der Universitäten eines Landes liegt für Frankreich vor (Gandilhon 1952). Einzelstudien existieren u. a. zu Cambridge (Hope 1881), Heidelberg (Zinsmaier 1961), Köln (Graven 1935); Erfurt (Wiegand 1954), Freiburg (Blume 1912; Schaub 1932), Jena (Bauer/Blaha 2014), Dillingen (Rupp 1978, S. 125–129) oder Gießen (Benedum/Michler 1982; Gundel 1983). Eine vergleichende Studie liegt zu IngolstadtLandshut-München, Würzburg und Erlangen vor (Wede 1996). Siegel und Zepter wurden bereits von Hartmut Boockmann für die Erforschung einer spezifisch universitären Ikonographie herangezogen (Boockmann 1986, S. 569– 576). Ein Zugang, der gezeigt hat, wie sich nicht nur die Gattungen der symbolischen Formen zunehmend standardisierten, sondern auch spezifische Bildprogramme europaweit zirkulierten. Was für den Quellenwert von Zeugnissen der materiellen Kultur generell gilt, trifft dabei auch für die Insignien zu: Ohne flankierende Überlieferung von Schrift oder Bildquellen ist es fast unmöglich, die zeitgenössischen Verwendungskontexte und Überlieferungsgeschichten dieser Artefakte zu rekonstruieren. So hat man etwa anhand der Kölner, Erfurter oder Greifswalder Zepter zeigen können, wie eine Analyse der Rechnungsbücher (Rechnungen) Interpretationen, die rein auf einer Analyse von Objekten und ihrer Ikonographie basieren, entscheidend korrigiert (Graven 1938, S. 395–398; Wiegand 1954, S. 29; Alvermann 2003). Die Analyse der Bildlichkeit, Materialität und Intermedialität der Siegel etwa bietet im Anschluss an Michel Pastoureau eine wichtige Erweiterung einer lange Zeit stark auf die rechtliche Beglaubigungsfunktion fixierten Forschung und eröffnet einen fruchtbaren Dialog mit den Bildwissenschaften (Pastoureau 1981; Pastoureau 1996; Späth/Hennig von Lange 2009). So entfalteten Siegel nicht nur visuelle, sondern auch haptische Effekte, das Tragen eines Zepters erforderte bestimmte Körperhaltungen ebenso wie das Tragen des Rektormantels. Für Qualität und distinktive Wirkung des Mantels waren wiederum nicht nur dessen Schnitt, sondern auch die Farbe und das verarbeitete Material relevant (Hülsen-Esch 2006, S. 69–151). Kunsthistorische und realienkundliche Perspektiven auf die Materialität der Artefakte sind insbesondere durch Fragen nach den Verwendungskontexten zu ergänzen. Dass der kunst- und materialhistorische Zugang keine hilfswissenschaftliche Fingerübung darstellt, sondern für die Deutung der Insignien konstitutiv ist, zeigt etwa die Arbeit von
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Carl Graepler zu den Marburger Zeptern (Graepler 1983). Graepler gelang es, mit handschriftlich-archivalischen, ikonographischen und materialkundlich-metallurgischen Befunden sowohl eine entscheidende Umdatierung der Gestaltung der Zepter als auch eine Neuinterpretation ihrer Ikonographie vorzunehmen. Neben Anknüpfungspunkten für die Rechtsgeschichte bilden viele der Artefakte mit Insignienfunktion auch wichtige Objekte für die Wissensgeschichte. Einerseits dienten sie, wie etwa im Falle der Basler Globenbecher, als Repräsentationen zeitgenössischer Wissensbestände oder der Antikenrezeption, wie in der medizinischen Siegelikonographie, andererseits lassen sich über das Material Rückschlüsse auf praktische Kenntnisse des zeitgenössischen Handwerks ziehen (Smith 2004). Insignien – sofern sie nicht selbst Praktiken oder Sprechakte sind, wie der Kuss, der Segen, das Betreten des Katheders etc. – sind in bestimmte Praktiken eingebunden oder ermöglichen diese. Stiften, Schenken, Sammeln, öffentlich zur Schau stellen, Beglaubigen, Legitimieren sind nur einige dieser Praktiken, die weiterführende Analyserahmen aufzeigen. Auch kann aus der Präzisierung der analytischen Begriffe in der Erforschung materieller Kultur künftig noch heuristischer Mehrwert generiert werden. Zu berücksichtigen wären Kategorien wie Affordanz, Aura, epistemisches Ding, Erinnerungsding, Fetisch, Materialität, Objektbiographie oder Ritualding (Samida/Eggert/Hahn 2014). Mit Hilfe entsprechender Begriffe und Theoreme können der Blick auf das „soziale Leben der Dinge“ (Appadurai 1986) analytisch geschärft und die Insignien in einen breiteren kulturellen Kontext gestellt werden. 4. Bibliographie 4.1 Quellen Erler, Georg (1895), Die Matrikel der Universität Leipzig, Bd. 1, Leipzig. Erman, Wilhelm / Horn, Ewald (1904), Bibliographie der deutschen Universitäten, Bd. 1, Leipzig/Berlin. Gritzner, Erich (1906), Die Siegel der deutschen Universitäten in Deutschland, Oesterreich und der Schweiz, mit Zeichnungen von Hans Gritzner, Nürnberg. Hagelgans, Johann Georg (1737), Orbis Literatvs Academicvs Germanico-Evropaevs: Praecipvas Mvsarvm Sedes, Societates, vniversitates, earvmqve fvndationes, privilegia, eventvs, Tevtonicarvm sigilla, prototypis conformia; vna cvm fastis, albo chronologico, catalogo vniversali membrorvm et professorvm hodie viventivm, In Synopsi repraesentans, Frankfurt a. M. Höpingk, Theodor (1642), De Insignium sive armorum prisco et novo iure Tractatus juridico-historico-philologicus, Nürnberg. Moser, Johann Jacob (1752), Teutsches Staats-Recht, Bd. 5, 2. Aufl., Nürnberg. Pölnitz, Götz von / Boehm, Laetitia (1937–1984), Die Matrikel der Ludwig-MaximiliansUniversität Ingolstadt-Landshut-München. Teil 1: Bde. 1–5 Ingolstadt, München. Smith, Hugh / Sheard, Kevin (1970), Academic Dress and Insignia of the World. Gowns, Hats, Chains of Office Hoods, Rings, Medals and other Degree Insignia of Universities & other Institutions of Learning, 3 Bde., Kapstadt.
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Begriffserklärung Musik war an der mittelalterlichen Universität Gegenstand theoretischer Wissensvermittlung, entsprechend der von Thomas von Aquin in seiner Expositio libri posteriorum (I, 25) vorgenommenen hierarchischen Differenzierung zwischen ars und usus bzw. zwischen musica mathematica (auch musica speculativa, musica disciplina, scientia musicae) und musica practica. Die Grundorientierung des Musikunterrichts an der Artistenfakultät wurde daher maßgeblich vom epistemologischen Diskurs mitbestimmt. Die Musik übte darüber hinaus eine performative Funktion im Rahmen der universitären Festkultur aus und diente der zeremoniellen Artikulation des akademischen Lebens. Die universitäre Körperschaft, sowohl Studenten als auch Professoren, partizipierte aktiv an den Festakten und war mit dem Gesangsrepertoire und den Handlungsabläufen der jeweiligen Akte vertraut, wobei teilweise auf die Vorkenntnisse der entsprechenden Ausbildung in scholae und collegia zurückgegriffen werden konnte. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Sowohl die Grundlagen der Musiktheorie als auch die Aneignung des musikalischliturgischen Repertoires bildeten seit dem frühen Mittelalter zentrale Gegenstände der Ausbildung an Klöstern sowie an Dom- und Pfarrschulen. Die Grundlage des Unterrichts basierte auf der Überlieferung der antiken lateinischen Musiktheorie. Die antiken Quellen wurden von den Gelehrten abgeschrieben, emendiert, exzerpiert und angepasst. Dementsprechend bestand eine der Herausforderungen darin, die antike Lehre mit der eigenen Musik in Übereinstimmung zu bringen. Nicht nur die geistlichen Repräsentanten der jeweiligen Orden und Kongregationen profitierten von dieser Ausbildung, sondern auch Kinder und Jugendliche, die in den jeweiligen scholae oder auch sogenannte scholae externae und collegia eine erste Grundausbildung u. a. in der Theorie und in der einstimmigen und mehrstimmigen Praxis des liturgischen Repertoires erhielten. Mit der Entstehung der Universitäten als zentralen Institutionen der Wissensvermittlung wurde die Musiktheorie Bestandteil des akademischen Curriculums.
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Seit Karl dem Großen bildeten die Lehre der Musik, neben derjenigen des Computus und der Grammatik, zentrale Bestandteile der Ausbildung in monastischen Zentren und Domschulen. Das von Alcuin von York strukturierte Lehrprogramm der artes liberales, das zunächst in der Aachener schola palatina von Karl dem Großen und in weiterer Folge in der Abtei St. Martin de Tours, wo Alcuin seit 797 als Abt tätig war, unterrichtet wurde, stellte im Mittelalter die zentrale Referenz der enzyklopädischen Wissensaneignung im Bereich der freien Künsten und der Theologie dar (Huglo 2000, S. 48–51). Die Hauptwerke der antiken Lehre über den Ethos von Tonarten und Rhythmen, u. a. die Texte von Aristoteles (Politik VIII, 1337b4–1338b8, 1339a11–1342b34), Platon (Timaeus 34b-37c; Republik 3.9–13, 17–18, 398b-405a, 410a412b), Protagoras (Dialog) und Augustinus (Confessiones), gehörten ebenso zum Bestand jenes intellektuellen Milieus der geistlichen Zentren (MacKinnon 1998, S. 135– 156). Ab Ende des 10. Jh.s und v. a. im Laufe des 13. Jh.s lösten die Kathedralschulen die Klöster als wissenschaftliche Zentren ab (Pietzsch 1969, S. 64–119; Dyer 2007, S. 3–71). Die an ihnen gelehrte theoretische Grundlage der Musiklehre basierte weiterhin auf der Rezeption des Wissens der klassischen Antike, dessen Überlieferung über die enzyklopädischen Kompilationen, Exzerpte und Kommentare der frühmittelalterlichen Gelehrten erfolgte (Zaminer 1990, S. 1–6). Boethius’ De institutione musica, Isidors Etymologiae (Kapitel De Musica), Martianus Capellas De nuptiis Philologiae et Mercurii, Macrobius’ Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis, Calcidius’ Kommentar des Timaeus sowie Cassiodorus’ De artibus ac disciplinis liberalium litterarum bildeten die autoritativen Unterrichtstexte an Klöstern und Kathedralschulen (Huglo 2000, S. 25–47; Bernhard 1990a; Bernhard 1990b), Werke, die zwar nur teilweise in das universitäre Curriculum übernommen wurden, jedoch weiterhin zum extracurricularen Bildungskanon gehörten. Mit der Entstehung der ersten Universitäten übernahm die Artistenfakultät den sowohl in Kloster- als auch in den Kathedral- und Pfarrschulen praktizierten scholastischen Kanon der sieben Studienfächer des Triviums und des mathematischen Disziplinenverbandes des Quadriviums, zu dem die Musik zählte. Den universitären Quellen nach, wie etwa Fakultätsakten (Rektorats- und Fakultätsakten), Studienordnungen und Bücherverteilungslisten, wurden im Unterricht allein musiktheoretische Inhalte vermittelt. Die musica wurde als scientia media betrachtet, die das Objekt Klang zwischen seiner physischen Beschaffenheit und den mathematischen Prinzipien untersuchte, die daran angeknüpften (Marchi 2008, S. 144). Die Musiktheorie behielt im akademischen Lehrprogramm gegenüber der praktischen Musikausübung weiterhin den Vorrang. Wissen und Urteilen über die musikalischen Verhältnisse, Gegenstände der musica speculativa (von speculatio, gr. Theorie), wurden im Verständnis der Gelehrten weit höher als ihre praktische Umsetzung eingestuft. Die musikalischen Lehrschriften befassten sich in erster Linie mit den Ursachen und der strukturellen Anlage musikalischer Phänomene wie etwa Zahlenverhältnissen, Intervallen, Konsonanzen, Tetrachorden, Tongeschlechtern, dem Aufbau des Tonsystems sowie den Tonarten (Sachs 1990, S. 105–161). Aus ihrer Ausbildung an einer
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Dom-, Pfarr- oder Klosterschule (wie etwa collegium civium, sogenannte Bürgerschulen, den colleges in Frankreich und England sowie den klösterlichen scholae externae) besaßen die Studenten häufig bereits beim Eintritt in die Universität musikalische Grundkenntnisse sowohl in theoretischer als auch in praktischer, auf das liturgische Repertoire bezogener Hinsicht. Im Rahmen des Unterrichts wurde auf die praktische Musikausführung jedoch kein Bezug genommen. Die Lehre vom einstimmigen und mehrstimmigen liturgischen Gesang war im universitären Curriculum nicht offiziell verankert, was nicht notwendig bedeutet, dass nicht extracurricular eine musikpraktische Vermittlung stattgefunden bzw. dass die universitäre Körperschaft nicht musikalisch proaktiv an den liturgischen Zelebrationen und im Rahmen universitärer Festakten teilgenommen hätte. Die Pariser geistlichen Zentren wie etwa St. Denis, Notre Dame und die Augustinnerherren von St. Viktor, waren bereits vor der Gründung der Universität zentrale Orte der musiktheoretischen Auseinandersetzung. Weiterreichende Informationen über die dort tätigen Lehrer, Lehrschriften und die curricularen Pläne sind erst durch Publikationen der letzten zehn Jahren bekannt geworden (Weijers 2001; Rico 2005; Dyer 2007; Dyer 2009; Huglo/Haggh 2013). Sowohl die Abtei von St. Viktor als auch Notre Dame etablierten sich als intellektuelle Orte, die nicht nur den eigenen Kanonikern, sondern auch den Universitätsstudenten zur Verfügung standen (Wright 1989). An der Pariser Universität des 13. Jh.s ist jedoch die Absenz der Musik als Unterrichtsfach in den sonst minutiös konzipierten Lehrprogrammen der Artistenfakultät signifikant (Dyer 2009, S. 177, S. 187). Aus der Artistenfakultät selbst ist ein geringes Corpus an musikalischen Lehrtexten überliefert, dagegen ist eine große Anzahl musiktheoretischer Schriften aus ihrem Umfeld belegt – etwa aus der Kathedrale von Notre Dame, St. Pierre des Fossés, St. Germain de Prés und den Abteien von St. Victor und St. Geneviève (Huglo/Haggh 2013, S. 275–334). Die Präsenz musiktheoretischer Bücher in den Pariser Collèges ist sehr gering. Einzig das Collège der Sorbonne weist einen beachtlichen Bestand an Lehrbüchern auf, der in vier Katalogen überliefert ist – darunter auch musiktheoretische Werke. Zahlreiche Einführungen in die Philosophie (Studienführer) und weitere Quellen des universitären Curriculums enthalten quadriviale Bücher, die als Lehr- und Prüfungsstoff dienten. Dyer hat acht solcher in Paris entstandenen Werke identifiziert, in denen u. a. die Musik behandelt wird. Eines davon ist das zwischen 1230 und 1240 entstandene Compendium von Barcelona (Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Ripoll ms. 109). Das Compendium enthält eine Sammlung von Fragen, die in direktem Bezug zu De institutione musica von Boethius stehen, aber seitens der Studenten keine vertiefenden Kenntnisse der musica speculativa verlangen (Dyer 2009, S. 190 f.). Ein weiteres Werk sind die Questiones super algoritmum et computum et questiones communes mathematice et etiam geometrie (ca. 1300) von Raoul le Breton, die allerdings keinen direkten Bezug zur spekulativen Musiklehre herstellen. Es geht hier, wie auch im Compendium, vielmehr um die Wissensklassifikation, die Verortung der Musik innerhalb des Quadriviums, das Verständnis der Musik als scientia media und ihre Position zwischen den scientie mathematice und den scientie naturales (partim ma-
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thematice et partim naturales) sowie die allgemeine Typologie der quadrivialen Fächer, wie etwa die größere Nähe der Astrologie (Astronomie) und der Musik zu den scientia naturales als zu den mathematischen Wissenszweigen (Weijers 1995, S. 162–171). Eine verbreitete Form musikalischer Lehrschriften stellen die Zusammenfassungen und Kommentare zu De institutione musica des Boethius dar. Eine anonym überlieferte Handschrift (ca. 1270) enthält die fünf Bücher des Boethius, wobei zwei davon als de forma gekennzeichnet sind (Meyer 1998, S. 91–121). Es handelt sich dabei um eine Zusammenfassung für eine mathematisch nicht versierte Leserschaft. Drei Kopien von Boethius’ De institutione musica und zwei seiner Arithmetica sind in der parva libraria der überlieferten Kataloge der Sorbonne annotiert (Paris, BN, nouv. Acq.lat. 99 (olim Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, MS 1223)). In diesem intellektuellen Kontext verfasste Johannes de Muris, Magister an der Sorbonne seit 1321, seine Lehrschrift Musica speculativa secundum Boethium abbreviata (Johannes de Muris 1994). Auch seine Notitia artis musice basiert auf De institutione musica und der erste Teil seines Quadripartitum numerorum beruht auf Boethius’ Arithmetica und Euklids Elementen. Die von Johannes de Muris verfassten musikalischen Lehrtexte wurden ab dem 14. Jh. nicht nur in Paris, sondern auch an mitteleuropäischen Universitäten wie Prag, Wien und Wahrschau Referenzwerke. Auf die Absenz sonst weit verbreiteter musikalischer Lehrtexte wie der Musica disciplina von Hucbald und der Alia musica oder den vereinzelten Belegen des Micrologus von Guido d’Arezzo an der Pariser Universität haben Huglo und Haggh aufmerksam gemacht (Huglo/Haggh 2013). Belege für ein reges Musizieren unter der Pariser Studentenschaft sind in den Chroniken von Guillaume le Breton und Matthäus Paris überliefert (Delaborde 1882, S. 297; Mattheus Parisiensis 1866–69, S. 342; vgl. auch Pirro 1930, S. 27 f.). Sowohl im Curriculum der Pariser als auch der Oxforder Universität werden manche Bücher der quadrivialen Fächer unter der Bezeichnung de forma erwähnt. Mit dem Begriff de forma im Gegensatz zum legere ist vermutlich eine Differenzierung des für die Prüfung notwendigen Lernstoffes intendiert gewesen. Von den fünf Büchern von Boethius’ Werk De institutione musica werden nur die zwei ersten als de forma gekennzeichnet, die drei weiteren waren demnach nicht Gegenstand der Prüfung. Das Gleiche gilt für die Elementa Euklids, von dessen fünfzig Büchern nur die ersten sechs als de forma gekennzeichnet wurden (Lafleur/Carrier 1997, S. 521–554). Die Oxforder Statuten des 14. und 15. Jh.s verwenden beide Begriffe mit unterschiedlichen Bedeutungen: de forma als ein für das Studium notwendiges Wissen, und de forma als allgemeine Bezeichnung für das Prozedere der Universität bei der Prüfung von Bakkalaren (Dyer 2009, S. 187–189). Die mangelnde Präsenz musiktheoretischer Inhalte in den quadrivialen Lehrschriften weist im Lichte dieser Begriffsdualität auf eine unterschiedliche Gewichtung und Verortung der Musiklehre hin. Neben der lectio ordinaria, die von einem Magister abgehalten wurde und die Erschließung eines autoritativen Textes zum Gegenstand hatte, und der lectio cursoria, die schnellere Lektüre eines Textes durch einen Bakkalar oder seltener einen Magister, erwähnen manche Universitätsquellen die lectio extraordinaria, die außerhalb des offiziellen Curriculums stand. Da die Musik als universitäres Fach weder in den curricularen
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Verordnungen (wie etwa im Paris des 13. Jh.s) noch in Form von Lehrschriften in den Bücherverteilungslisten belegt ist (wie zeitweise im Wien des 14. und 15. Jh.s), haben die lectio extraordinaria sowie die Form des legere möglicherweise als Formate für die Vermittlung musikalischer Inhalte fungiert. Die enge Beziehung zwischen Paris und Oxford während des 13. Jh.s, die durch den Austausch von Lehrenden und Lehrschriften belegt ist, ermöglicht einen komparativen Blick auf die Musiklehre beider Universitäten. Die Interaktion zwischen der Schule von Notre Dame und Oxford, zwischen St. Andrews und der Sorbonne war z. T. enger als jene zwischen Oxford und Cambridge (Carpenter 1958, S. 76–92). Nicht nur übte die an Notre-Dame gepflegte Polyphonie einen großen Einfluss auf die Musikkulturlandschaft Englands aus, sondern englische Gelehrte wie Johannes de Garlandia unterrichteten auch an der Pariser Universität. Dort konkurrierte der Unterricht im Fach musica mit den sonstigen trivialen und quadrivialen Fächern und wurde auf lediglich einen Tag in der Woche festgelegt (Rico 2005, S. 73 ff.). Entgegen der etablierten Meinung wurde an der Pariser Artistenfakultät bis ins 15. Jh. nicht auf Grundlage der Musica speculativa des Johannes de Muris, sondern auf Grundlage der zwei ersten Bücher von Boethius’ De institutione musica unterrichtet. Auch die in Paris verwendete Abbreviatio in musicam Boecii (Harley Kompilation ca. 1230–1260) weist auf das Interesse an Boethius’ Auseinandersetzung mit dem Begriff der Konsonanz hin. Die Präsenz von sechs glossierten Exemplaren, großenteils französischer und flämischer Provenienz, von De institutione musica an der Universität Oxford bestätigt sowohl die Rezeption dieses Werkes als auch die bemerkenswerte Ausstrahlungskraft der Pariser Institutionen – Universität, Kollegien und Kathedralschulen – Richtung Norden. Eine genaue Einordnung der Musik in das Curriculum der Oxforder Universität erfolgt erst durch die Universitätsstatuten von 1431. Demnach sollten die Studenten „ad incipiendum in artibus et philosophia“ die septem artes liberales et tres philosophias während acht Trimestern absolviert haben, wobei die Musik nach Boethius am Ende des Jahres behandelt werden sollte. Neben Boethius stechen zwei weitere musikalische Lehrschriften aus dem Oxforder Curriculum hervor: Isidorus in Etymologiis (1439) und der liber Augustini diversorum operum videlicet, Musice (1441). Beide Werke wurden der Universität von einem der wichtigsten Gönner, Humphrey, Duke of Gloucester, vermacht (Carpenter 1953, S. 12). Die Kenntnis der musica nach Boethius war an der Oxforder Universität eine Grundvoraussetzung für die Erlangung des Magisteriums. Die Statuten von 1431 sehen für das Fach Arithmetik und Musik dreißig lectiones mit De institutione musica als Referenztext vor. Für Astronomie und Geometrie war hingegen die doppelte Anzahl an lectiones vorgesehen. Vom in zwei Exemplaren des 15. Jh.s überlieferten Commentum Oxoniense in musicam Boethii (All Souls College, MS 90 und Bodleian 77), einer musikalischen Lehrschrift, liegt eine kritische Edition vor (Hochadel 2002). Weitere Musiktraktate wurden in Oxford kompiliert bzw. verfasst: Bartholomeaeus Anglicus behandelte die Musik in einem Kapitel seines enzyklopädischen Werkes De proprietatibus rerum, einem Kompendium, das in den Bücherlisten der Oxforder Universität des Öfteren erwähnt wird. Der Inhalt des Kapitels De musica widmet sich in Anlehnung an Isidor von Sevilla
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der Definition von Musik. Hier findet sich auch eine für die Zeit, abgesehen von Juan Gils de Zamora Ars musica, unübliche Beschreibung der Musikinstrumente. Roger Bacon zeichnete sich ebenfalls durch einen originellen Zugang zur Musik aus. In Opus majus und Opus tertium stellte er die Musiktheorie als Mittel der Interpretation biblischer Texte vor. Er bezieht sich hierbei auf alle autoritativen Texte seit der Antike und gibt vereinzelte Verweise auf die arabische Musiktheorie, namentlich auf Al-Farabi. Seine Originalität zeigt sich auch in der Reflexion über die Musik und den Tanz sowie die Mimik und die Gestik als visualisierte Formen der Musik (Carpenter 1958, S. 84–85). Die Verbindung zwischen beiden studia, Paris und Oxford, zeigt sich u. a. in den Traktaten von Robert Grosseteste und Robert Kilwardby, beide Absolventen sowohl der Pariser als auch der Oxforder Universität. Ersterer ist der Autor einer Speculatio musicae, in der er die Musik als wichtigstes der vier quadrivialen Fächer verortet. Grosseteste beschreibt alle Formen von Harmonie auf der Basis von Bewegung und versteht den tradierten Begriff der musica humana (im Unterschied zur musica mundana und instrumentalis) im Sinne der arabischen Philosophen als Teil der körperlichen Gesundheit. Sein singuläres Verständnis von Musik ergibt sich aus seinen sowohl philosophischen als auch theologischen Kenntnissen. Ferner soll er als Harfenist und Organist beträchtlichen Ruhm erlangt haben (Carpenter 1953, S. 15 f.). Robert Kilwardbys Traktat De ortu et divisione philosophiae widmet sich im achtzehnten Kapitel ausführlich der Musik unter Heranziehung der autoritativen Texte von Aristoteles, Isidorus, Gundissalinus und Boethius (Grossmann 1924). Gegenstand universitärer Diskurse, nicht aber zwingend curricularer Verordnungen waren die aus der Praxis entstandenen polemischen Fragestellungen bezüglich der Notation sowie die zeitliche Strukturierung der Musik. In seiner Notitia artis musice (1319–1321) erläuterte der in Paris tätige Johannes de Muris in Form von neun conclusiones, die die laufende Diskussion klären sollten, die wichtigsten Neuerungen des ars nova. In diesem Traktat ist die Erwähnung nicht nur der Pariser doctores musicae, sondern ebenso der venerabiles musici signifikant. Da Muris Schrift Quadipartitum numerorum (ca. 1340) Philipp de Vitry gewidmet war, ist anzunehmen, dass mit venerabiles musici nicht nur dieser, sondern auch Denis Legrant und andere Musikerpersönlichkeiten der Zeit gemeint sein könnten. Allerdings sind beide gelehrten Musiker zwar in Paris, nicht aber mit Gewissheit an der Universität zu verorten (Bent 1977). Wenn Gushee von einem „invisible college of Musicians“ spricht, so berührt er hiermit eine der wesentlichen Fragen bezüglich der Musikausbildung im Umfeld der Universität, die von der Forschung bis heute nicht umfassend beantwortet werden konnte (Gushee 1973, S. 339). In Oxford sind zahlreiche Belege für eine praktische Musikausbildung an den Colleges überliefert. So sieht der Gründer des Queen’s College, Robert von Eglesfield, in den Statuten von 1340 vor, dass „duo alii Praecentores, chorum regentes in festis majoribus, ad quorum assignationem Socii aulae antedictae cantare et legere teneantur“. Die sogenannten clerici capellae waren an diesem College für die Ausbildung der pueros pauperos („arme Kinder, Chorsinger“) in einstimmigem und mehrstimmigem Singen zuständig. Ebenso sahen die Statuten des 1400 von William of Wykeham gegründeten New College die beachtliche Anzahl von sechszehn
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Chorsängern vor, wobei festgehalten wurde, dass diese wissen sollten, wie beim Gottesdienst, der Lesung und dem Gesang zu lesen und zu singen sei („scientes competenter legere et cantare ad ministrandum, legendum et cantandum in dicta capella“). Die Chorsänger wurden „in lectura, plano cantu et antiquo Donato, competenter instructi“. Für die Oxforder Colleges sind zahlreiche Belege für eine musikalische Tätigkeit überliefert, nicht nur um Rahmen universitärer Festakte seitens der Studenten und Dozenten. Der Gründer des All Soul College, Henry Chiceley, Erzbischof von Canterbury, sah eine musikalische Vorbildung als Grundvoraussetzung für die Aufnahme in das College an (Carpenter 1958, S. 81 ff.). Das Erlernen des musik-liturgischen Repertoires war fester Bestand der Ausbildung und des Alltagslebens im College. Fakultätsstatuten, Verordnungen und Bücherverteilungslisten der Universitäten Prag, Wien und Krakau verzeichnen Musikvorlesungen und teilweise auch die dort behandelten Bücher seit ihrer Gründungszeit. Allerdings ist die für das Fach Musik vorgesehene Unterrichtsdauer gering. Laut Statuten waren für ein Doktorat der Medizin an der Wiener Universität im 14. und 15. Jh. sechzehn Vorlesungen in Musik innerhalb von vier Wochen zu absolvieren. Die Statuten der Artistenfakultät von Prag (1367 erstmals formuliert, 1390 bestätigt), Leipzig (1409–1410) sowie der Universität Ingolstadt schreiben für das Fach Musik eine Unterrichtszeit von drei Wochen vor. Die Statuten der Artistenfakultäten der Universitäten Erfurt (1412) und Krakau (1409) sehen als Dauer der Vorlesungen im Fach Musik lediglich einen Monat vor (Pietzsch 1971, S. 18, 27, 37, 68, 112; Pietzsch 1936, S. 424). Das im Curriculum für die Musik vorgesehene grundlegende Lehrbuch ist an allen vier mitteleuropäischen Universitäten, Prag, Wien, Leipzig und Krakau, die Musica speculativa des Johannes de Muris. Die Statuten der Universität Prag verweigern sogar jenen Studenten, die die Fächer Musik und Arithmetik nicht gehört haben, die Erlangung des Magistergrades (Dyer 2009, S. 202). In jenen Statuten wird explizit auf die Lesung musiktheoretischer Lehrtexte hingewiesen. So heißt es in der Rubrica V, 1 De modo eligendi ordinarium: „Debent quoque omnes libri Aristotelis una cum geometricalibus, arithmeticalibus, astronomicalibus & musicalibus secundum deliberationem magistrorum regentium […] legere“. Und an weiterer Stelle wird für die Musica Muris die Dauer von drei Wochen vorgeschrieben (Pietzsch 1971, S. 17–18). Nach der Revision der Statuten von 1528 und mit der fortschreitenden humanistischen Ausrichtung des Curriculums und der damit einhergehenden zunehmenden Bedeutung der Astronomie an der Prager Universität wurde die Musica des Johannes de Muris nicht mehr gelesen. Verwunderlich ist jedoch die Tatsache, dass die Bibliothekskataloge (Bücherverzeichnisse) wie etwa das Registrum librorum Collegii Carolini und das Registrum librariae nacionis Boemorum die wichtigsten musiktheoretischen Abhandlungen, die den universitären Vorlesungen zu Grunde lagen, d. h. die Musica Boecii, die Musica Muris und den Remigiuskommentar zu Martianus Capella, nicht erwähnen. Die fragmentarische Wiedergabe der Bücherbestände in den erwähnten Katalogen, deren Edition durch J. A. Hansliks (1851) bis heute nicht ersetzt wurde, könnte jedoch ein Grund für die Abwesenheit relevanter musikalischer Lehrschriften sein. Denn fest steht, dass seit 1367 Musikvorlesungen belegt sind. So verzeichnen die Kollegnachschriften neben
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Johannes de Muris auch weitere Lehrschriften über den einstimmigen und mehrstimmigen Gesang (Pietzsch 1971, S. 18–19). Zahlreiche Studenten sowie Lehrer, die das Fach Musik unterrichtet haben, sind aus dem Registrum ordinis graduatorium in artibus und dem Album seu Matricula facultatis juridicae der Prager Universität bekannt. Daraus ist auch die Mobilität von Studenten und Lehrenden zwischen der Prager und der Wiener Universität erkennbar. Eine erste stichprobenartige Bestandaufnahme ist von Pietzsch, eine erweiterte von Schwinges vorgenommen worden (Pietzsch 1971, S. 20–26; Repertorium Academicum Germanicum). Überliefert sind namhafte Musikernamen als Absolventen der Prager Universität wie etwa Johannes de Glatovia, cantor, der seine artistischen Grade 1459 bzw. 1462 erwarb; Vitus Zattaviensis, der sowohl an der Universität als auch in der Hofkapelle ausgebildet wurde, und Wenceslaus Nicolaides Vodnianus, ebenfalls Prager Absolvent und Autor der Cantiones evangelicae, die in Wittenberg gedruckt (1554) und von Philipp Melanchthon mit einem Prolog versehen wurden. Ebenfalls an der Prager Universität ausgebildet wurde Paulus Paulirinus de Praga, Autor einer Enzyklopädie, deren Liber XX artium der Musik gewidmet ist. Student zunächst der Artistenfakultät der Wiener Universität und später der Medizin in Padua und Bologna, besuchte Paulinus die Universitäten Prag im Jahre 1443 und Krakau im Jahre 1451. Seine Abhandlung über Musik, zwischen 1459 und 1463 verfasst, entspricht dem klassischen Kanon gemäß der scholastischen Teilung in musica speculativa und musica practica, stellt die Musik als quadriviales Fach vor, widmet einen weiteren Teil der mensuralen Musik und den verschiedenen polyphonen Gattungen und schließt mit einer Beschreibung der Instrumente, inklusive des dulce melos. Die musikalischen Bildungsprofile der intellektuellen Eliten und die institutionalisierten Ausbildungsprofile sowohl an der Wiener Universität als auch an den diversen ‚Schulen‘ der Stadt Wien sind nicht analog zu setzen, wenn auch beide als Bestandteile eines Prozesses der Produktion und der Dissemination von musikalischem Wissen zu betrachten sind. Die diversen Formate der Musikausbildung an den Rudolfinischen und Albertinischen Stiftungen wie Universität, Kollegiatstift, Collegium civium sowie Collegium ducale einerseits, den Kloster- und Pfarrschulen andererseits können anhand der jeweils überlieferten Handschriftencorpora nur bedingt nachgezeichnet werden. Schwierigkeiten ergeben sich v. a. in Bezug auf die unsichere institutionelle Zuordnung. Was die Statuten der Artistenfakultät (1449) betrifft, so erscheint die Musik als obligatorisches Fach innerhalb des Quadriviums und wird in 16 Vorlesungsstunden, auf vier Wochen verteilt, unterrichtet. Die Bücherverteilungslisten zeigen jedoch im Laufe des 14. und 15. Jh.s eine auffallende Absenz des Faches Musik, während die weiteren quadrivialen Fächer systematisch erfasst sind (Zapke 2012, S. 211–229; Zapke 2014, S. 350–363). Hier sind die wiederkehrenden Einträge Musica Muris sowie vereinzelt die Musica Euclides und Boethius (De institutione musica) verzeichnet. Musikalische Lehrschriften aus dem Umfeld der Universität mit Darstellungen der Manum Guidonis, Traktaten De simplici cantu und Exzerpte zur mensuralen Musik und zu den Grundlagen der Notation waren sowohl in Wien als auch in Prag und Krakau im Umfeld der Universitäten üblich. Die Interaktion mit den städtischen Schulen wie Bürgerschulen,
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monastischen scholae externae und Bursen sowie mit weiteren Orten der privaten Gelehrsamkeit ist für alle drei Universitäten gleichermaßen belegt. Solche Räume boten ergänzende Möglichkeiten der Wissensaneignung an, sind jedoch aufgrund nicht gesicherter Quellenprovenienz schwer zu erfassen. Ohne Zweifel war die Musica speculativa secundum Boethium von Johannes de Muris an der Wiener Artistenfakultät analog zu Paris und Prag die zentrale Lehrschrift für das Fach Musik. Signifikant ist jedoch die Tatsache, dass kaum frühe Zeugnisse der Musica speculativa aus dem universitären Umfeld überliefert sind, wie es aus den Einträgen in den Fakultätsakten zu erwarten gewesen wäre. Die einzige Muris-Lehrschrift aus Wien, auf 1503 bzw. 1506 datiert, ist eindeutig der Universität Leipzig zuzuordnen und kam möglicherweise durch einen Studenten bzw. Dozenten nach Wien (Wien, ÖNB, A-Wn 5274). Ein Kolophon weist u. a. folgenden Eintrag auf: „musica Joannis de Muris, que appellatur musica rusticorum parisiensium cantum nescentium in ecclesiis Die silentium“. Nach Peuerbachs und Toeklers astronomischen Abhandlungen folgen zwei Fassungen der Musica speculativa von Muris mit einem Kommentar von Konrad Toekler Noricus: Musica speculativa a Conrado Norico arcium liberalium academie Lypsensis magistro ordinata atque correcta que multis temporibus fuit obnubilata summo labore et diligentia (fol. 124r136r) und Musica speculativa per Conradum Noricum finaliter corroborata. Duo tractatus Johannis de Muris lecti sunt in academia Lipsiensi 1503 (fol. 138r-154r). Wie an diesem Beispiel ersichtlich, war die interuniversitäre Zirkulation von Lehrschriften nicht nur üblich, vielmehr bestand ebenso zwischen den verschiedenen Ausbildungszentren innerhalb und außerhalb Wiens, wie etwa mit den Klöstern Melk, Klosterneuburg, Seitenstetten und Mondsee, ein reger Wissensaustausch, der u. a. an der Provenienz der universitären Buchbestände erkennbar wird (Zapke 2014, S. 349). Die Zirkulation von Gelehrten und Lehrschriften weist auf ein breites Wissensspektrum hin, das über die offiziellen Angaben der universitären Lehrpläne hinausreicht. Was die musikalischen Lehrschriften der Wiener Artistenfakultät betrifft, gilt festzuhalten, dass die Seltenheit von Muris-Überlieferungen nicht nur durch die Untersuchung der Bücherverteilungslisten und der modernen Bibliotheksbestände, sondern ebenso durch die Untersuchung der mittelalterlichen Bibliothekskataloge bzw. der Schenkungen, Testamente und Ausleihverzeichnisse bestätigt wird (Zapke 2014, S. 355 ff.). In einem einzigen Fall wird die Musica speculativa von Muris erwähnt, und zwar im aus dem Ende des 15. Jh.s stammendem Bücherkatalog des Wiener Dominikanerklosters (Wien, ÖNB, A-Wn Cod. 260). Neben den offiziell erwähnten MurisTraktaten konnten an der Wiener Universität weitere musikalische Lehrexemplare identifiziert werden. Etwas extravagant mutet beispielsweise die Erwähnung einer Musica Euclides im Kontext der medizinischen Fakultät an, und zwar in einer Bücherliste eines Studenten der Medizin, die auf der Spiegelseite des Vorderdeckels einer medizinischen Miszellaneen-Handschrift überliefert ist (Wien, ÖNB, A-Wn Cod. 5155). Die Libri Euclidis werden als curricularer Stoff sowohl in den Acta Facultatis Artium gleich nach Gründung der Universität als auch im Liber actorum facultatis medicine erwähnt. Die Tatsache, dass die Musica Euclides durch diesen einzigen Eintrag bekannt ist, legt die Vermutung nahe, dass die offiziellen curricularen Pläne und die
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tatsächliche Lehrpraxis nicht immer übereinstimmten. Diese Asymmetrien betreffen nicht nur die Wiener Artistenfakultät, sondern auch andere universitäre Zentren. Die Nachzeichnung der Topographie der Ausbildungszentren in den jeweiligen Universitätsstädten und der Typologie der jeweiligen Ausbildungsprofile stellt nach wie vor ein Forschungsdesiderat der Universitätsgeschichte dar, das nur mittels einer umfänglichen, praktisch jedoch nur schwer realisierbaren Edition aller Artistenfakultätsakten, Bücherverteilungslisten, -kataloge und -verzeichnisse zu leisten sein wird. Über die in den Akten der Artistenfakultät und in den Bücherverteilungslisten enthaltenen Verweise hinaus bestehen weitere Indizien, die auf eine vorausgehende und/oder auch erweiternde Musikausbildung außerhalb des universitären Lehrplans hinweisen. Die erste Anlaufstelle der Musikausbildung bildeten das sogenannte Collegium civium, die Bürgerschule zu St. Stephan sowie verschiedene monastische scholae externae in der Stadt. Diese Lehrinstitutionen orientierten sich an dem antiken Bildungsideal der septem artes liberales, wobei sich der Unterricht maßgeblich den Fächern des Triviums widmete. Es war v. a. die lateinische Sprache, die hier erlernt wurde, sowohl um das Verständnis des liturgischen Ablaufs und der heiligen Schriften als auch das Singen im Rahmen von Hochämtern und Stiftsmessen sowie zu manchen Stundengebeten zu ermöglichen. In diesem Umfeld finden sich zwar Sammelhandschriften, die eindeutig für den schulischen Gebrauch kompiliert wurden, aber auch andere, deren Profil nicht eindeutig der Artistenfakultät, der Bürgerschule oder der sogenannten Lateinschulen zuzuordnen ist, sondern auf eine extracurriculare Behandlung der Inhalte hinweisen, die von den Kloster- und Pfarrschulen in akademischen Zirkel ausstrahlten (Zapke 2015; Zapke 2016). Zusätzlich wurde in Wien das Amt des scholasticus oder rector puerorum von einem Magister der Artistenfakultät besetzt, und die Schüler der Bürgerschule zu St. Stephan konnten an der Universität immatrikuliert werden. Diese Verwobenheit von Universität und Pfarrschule findet sich bereits in der Stiftungsurkunde des Herzogs Albrecht III. (1384) explizit formuliert (Privilegien). Die Lehrinhalte und Lehrschriften stimmen dementsprechend nicht nur für das Fach Musik überein (Zapke 2012). Aus den Bestimmungen der Bürgerschule von 1446 und vom 24. September 1460 (Bestellung und Ordnung der Cantorey) geht hervor, dass ein cantor und ein subcantor, „der eine gute Simm hab“, sowie zwei weitere Assistenten vorgesehen waren, um den Schülern das einstimmige und mehrstimmige Singen beizubringen (Hormayr 1823, Bd. V, S. CLXXXIII). Der Domkantor war zugleich an der Universität tätig, so z. B. Brictius Praepost de Cilia (um 1480), Kanoniker und cantor in St. Stephan und zugleich Vizerektor der Universität und Dekan der theologischen Fakultät. Auch im privaten Kreis sollen Universitätsgelehrte Musikunterricht erteilt haben. Wie aus der Korrespondenz mit seinem Schüler hervorgeht, erteilte Thomas Oedenhofer, Bakkalar im Jahre 1449 und magister regens im Jahre 1452, Privatunterricht. Auch Josef Grünpeck, ein Humanist aus dem Kreise des Konrad Celtis, soll Orgelunterricht gegeben haben, wie aus einem auf 1499 datierten Brief von Valentinus Kraus an Celtis hervorgeht (Carpenter 1958, S. 226 ff.). Wie Ward betont, war neben der theoretischen Musiklehre die Pflege, aber auch die Lehre der praktischen Musik v. a. im Hinblick auf Fragen der Notation und des
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Kontrapunktes ein Charakteristikum der mitteleuropäischen Universitäten (Ward 1991, S. 49 ff.). In den Statuten der Universität Krakau von 1409 gehört die Musica Muris zu den verpflichtenden Büchern ante gradum baccalariatus. Die Dauer der Vorlesungen betrug einen Monat. Die Arithmetik wird gelegentlich gemeinsam mit der Musik erwähnt. So ist in den Statuten von 1550 zu lesen, dass pro gradu magisterii die arithmetica cum musica gelesen wird. Noch bis ins 17. Jh. ist die Verbindung der arithmetica cum Musica speculativa Johannis de Muris una commutacione in den Statuten als conditio pro gradu magisterii festgehalten (Pietzsch 1971, S. 37–38; Muczkowski 1849, CLV). Die auf die mathematischen Fächer fokussierte Krakauer Universität orientiert sich in ihrer curricularen Ausrichtung an den Universitäten Prag und Leipzig (Carpenter 1958, S. 111–113). An der Artistenfakultät wurden offenbar auch musikpraktische Kenntnisse vermittelt, wie aus der Erfurter Handschrift (ms. O. 93) hervorgeht, einer musiktheoretischen Lehrschrift in der auch fünf Organa aus dem Umfeld der Kathedrale enthalten sind. Einzigartig ist die Überlieferung eines unvollständigen conspectum lecturarum et exercitiorum magistrorum, das nur teilweise ediert ist. Die Angaben Musica Muris, Arithmeticam et musicam und musicam choralem sind alternierend eingetragen (Pietzsch 1971, S. 61–64; Pietzsch 1936, S. 449–451). Eine prosopographische Aufnahme der Lehrer und Studenten an der Universität Krakau ist den Registern von Pietzsch und Schwinges zu entnehmen (Pietzsch 1936, S. 424–452; Repertorium Academicum Germanicum). Die Statuten der Leipziger Artistenfakultät von 1410 sehen von Anfang an die Musica speculativa von Johannes de Muris als Voraussetzung für die Erlangung des Magisteriums vor. Höchstens ein Monat und mindestens drei Wochen sind für das Fach Musik vorgesehen. Trotz Änderung der Statuten in den Jahren 1437 und 1440 blieb Musik durch die Muris-Lehrschrift konstant vertreten. Die Musik als Teil der Magisterausbildung ist ebenfalls in den Statuten von 1507 belegt. Hier sind die Musica Muris-Bücher pro magisterio verzeichnet und werden alternativ zur Astronomie und Arithmetik vorgeschrieben. Der Eintrag Qui libri possunt pro concurrenti audiri besagt, dass der Student drei Vorlesungen absolvieren musste und eine vierte unter den libri concurrentes, von denen eines die Musik war, auszuwählen hatte. Mit der zunehmenden humanistischen Ausrichtung des Curriculums im Laufe des 16. Jh.s wurde die Musik in den Statuten von 1558 nicht mehr explizit erwähnt, obwohl sie im Rahmen der mathematischen Disziplinen und der klassischen Literatur weiterhin unterrichtet wurde. Neben der Musica speculativa von Johannes de Muris, die als Fragment und in einer Bearbeitung von Conrado Norico, einem Absolventen der Leipziger Artistenfakultät, überliefert ist, sind weitere Kollegnachschriften aus der Leipziger Universität bekannt, die kurze Exzerpte allgemeiner theoretischer Grundlagen enthalten (Ward 1991, S. 49–57). Die Namen der magistri regentes, die in Leipzig Musik unterrichteten, sind großenteils überliefert (Carpenter 1958, S. 250 ff.). Singulär ist jedoch die explizite Erwähnung von Musikern in den Matrikeln wie etwa Ludolflus, Organista de Moguncia 1457, Johannes, Organista de Melrase, 1479 oder Henricus Finck bonus cantor 1482 und Johannes Organista de Turonia 1500. Zwei Bakkalare sind zudem als cantores registriert: Lodwicus Gotcz de Werdis 1475 und Mi-
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chael Schewss de Helpurck 1482. Weitere Absolventen der Leipziger Universität sind als Kantoren, Organisten, Hofkomponisten und Kapellmeister nachgewiesen (Pietzsch 1971, S. 73–93). Die Ausübung praktischer Musik im Umfeld der Leipziger Universität ist insbesondere im Zusammenhang mit der Zelebration von Messen bekannt. Der 1495 von Johannes Fabri de Werden verfasste Libellus formularis verweist auf die unter Partizipation der gesamten Artistenfakultät zu zelebrierenden Messen in der Kirche St. Nicolai. Ferner wird die jährliche Jubiläumsmesse des collegium maius pro magistro Johanne Lirike genannt, wobei detailliert vermerkt ist, was den Beteiligten zu bezahlen sei. Neben den internen Festakten der universitären Körperschaft sind den Promotionsakten auch Informationen über den Außenauftritt der Universität zu entnehmen. Zu diesem Anlass wurde die ganze Stadt miteinbezogen. Die Stadtpfeifer von St. Nicolai spielten ein Interludium zum Promotionsakt, nachdem der Vizerektor den Dekan dazu berechtigte, den erfolgreichen Kandidaten den Magistertitel zu verleihen. Eine Prozession mit Musikern, Trompetern und den neu ernannten Magistern samt den Mitgliedern des Collegium majus schloss die Zeremonie ab. Der Rektor und der Cantor der berühmten Leipziger Thomasschule wurden zum anschließenden Bankett eingeladen, wobei sowohl die cantores Thomiani als auch die Stadtpfeifer einen musikalischen Beitrag leisteten. Dem Prandium Aristotelis folgte am nächsten Tag das Prandium Platonis. Stadtpfeifer, cantores und ein Organist sorgten auch diesmal für die musikalische Umrahmung. Die norditalienischen Universitäten Pavia, Padua und Bologna formierten sich ähnlich wie in Paris aus bereits existierenden geistlichen Lehranstalten und musikalischen Zentren (Hof und Kathedralen). Die mathematischen Fächer hatten in der Artistenfakultät von Pavia nicht zuletzt deshalb einen besonderen Stellenwert, weil die universitas artium et medicinae eine Einheit bildete (Marchi 2008, S. 144). Laut den Statuten der artistischen und der medizinischen Fakultät hatten die Studenten in Pavia bis zur Licenciatsprüfung drei Jahre Unterricht zu bewältigen. Die Grundlage des Musikunterrichts in Padua basierte auf Boethius’ Schriften und auf Exzerpten aus Johannes de Muris. Allerdings behandelte der Humanist Vittorino da Feltre u. a. die Musica von Boethius in seinem Mathematikunterricht. Johannes Gallicus und Prosdocimus de Beldemandis, beide Lehrende an der Artistenfakultät in Padua, unterrichteten die Musica speculativa von Muris gemeinsam mit den Fächern Mathematik und Astronomie. Prodoscimus de Beldemandis hatte in Padua seine Grade in den Artes und der Medizin erlangt und unterrichtete dort Musik und Astronomie, wobei er neben Fragen der musica speculativa auch Aspekte der musica practica behandelte (Carpenter 1958, S. 93, 128). Marchetus de Padua, als doctissimus philosophus, simul et musicus in den Fakultätsakten erwähnt, sowie Jacopo de Bologna waren gemeinsam mit Giovanni da Ciconia nicht nur erstklassige Komponisten, sondern ausgewiesene Gelehrte im Bereich der mathematischen Fächer. Aber auch weitere Dozenten, die den Bereichen der artes matematicas und der Philosophie zugeordnet waren, wie Arismino Corti, Masino Codronchi und Pietro da Sarzana unterrichteten im 14. Jh. das Fach Musik. Überliefert sind die Namen zweier weiterer Universitätsgelehrter, die ebenfalls als Mäzene tätig waren: Pietro Filargo und Giovanni da Genova. Der erste
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stiftete 1402 eine Kapellmeisterstelle für die Kathedrale von Mailand, die von Matteo da Perugia besetzt wurde, und war Auftraggeber der Modena-Handschrift (Biblioteca Estense (alfa) M.5.24), deren Repertoire eng mit dem Hof der Visconti zusammenhängt. Giovanni da Genova (Johannes de Janua) hat 1383 in Padua sein Studium absolviert und wird als möglicher Autor zweier Kompositionen aus der erwähnten Modena-Handschrift angesehen. Ob die beiden musikaffinen Gelehrten auch Musik an der Universität von Pavia unterrichteten, ist zwar nicht eruierbar, gleichwohl belegt ihre Tätigkeit die Existenz einer breiten musikalischen Bildungsschicht. In diesem Zusammenhang ist auch der Wiener Hermannus Poll zu erwähnen. Poll studierte in den 1390er-Jahren in Padua und wurde nach seinem Tod 1401 als Doktor der Medizin, Magister der Artistenfakultät und hervorragender Musiker, nicht nur als Organist, sondern auch als Erfinder des Hapsichords gerühmt (Strohm 1993, S. 92–93). Ein weiterer Student, Giorgio Anselmi, bewies als Autor des Traktats De musica (1434) seine gründliche Kenntnis der aktuellen Debatten der Musiktheorie von Pythagoras und Boethius bis zu den neuen Entwürfen der Mensuralnotation. Signifikant ist darüber hinaus die enge Verbindung zwischen der Universität und den Mendikantenklöstern der Dominikaner und Franziskaner, die oft als Professoren der theologischen Fakultät fungierten und deren Räumlichkeiten nicht nur für den Unterricht, sondern auch als performativer Raum für universitären Zeremonien verwendet wurden. Eine Praxis, die in mitteleuropäischen Universitätsstädten wie Prag und Wien ebenso zu beobachten ist. Die zwei wichtigsten Kompilationen musiktheoretischer Traktate in Pavia sind die Quaestiones de Musica (Paris, BN, Lat. 7372) vom Ende des 14. Jh.s und die Chicago-Kompilation (Newberry Library, Case ms. 54.1) aus dem 15. Jh. Letztere enthält sowohl spekulative als auch praktische Musiktraktate – u. a. Notitia artis musicae und Libellus cantus mensurabilis des Johannes de Muris, das Lucidarium und das Pomerium des Marchetto de Padova, Phillips de Vitry Ars perfecta sowie La harpe de melodie, eine eng mit dem Hof der Visconti verbundene Komposition (Strohm 1993, S. 59–61). Obwohl jene musikalischen Lehrtexte nicht explizit im Curriculum der Artistenfakultät erwähnt sind, weisen die zahlreichen Annotationen und Glossen auf ihren Gebrauch innerhalb eines akademischen Milieus hin. Wie Marchi vermerkt, ist die hier vertretene Kombination praktischer und spekulativer Musiklehrtexte mit Kompositionen höfischer Provenienz ein Indiz für die Interaktion zweier urbaner Kreise: Universität und Hof (Marchi 2008, S. 163). 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Die musiktheoretische Literatur an den Universitäten hat keine eigenen Gattungen oder Typen herausgebildet. Verglichen mit dem Fachschrifttum anderer Disziplinen sind gattungsspezifische Differenzen in der Überlieferung kaum festzumachen. Musikalische Lehrtexte im Umfeld der Artistenfakultät treten meistens im Zusammenhang mit den drei anderen quadrivialen Fächern auf, und zwar in Form von kom-
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pilatorischen Miszellaneen. Die kurzen Exzerpte aus musiktheoretischen Traktaten können aber auch in kontextfremden Umgebungen auftreten, wie etwa innerhalb von theologischen oder medizinischen kompilatorischen Lehrschriften. Neben der obligatorischen Lektüre von Boethius und Johannes de Muris ist eine Vielzahl an kleinen anonymen Traktaten überliefert, die mehr oder weniger extracurricular, als Resultat einer Interaktion mit externen Institutionen oder einer individuellen Gestaltung des Unterrichtsstoffes, zu verorten sind. Stilistisch weisen diese Texte eine Reihe von gemeinsamen Merkmalen auf. Versifizierte Fachliteratur ist in den Musik-, aber auch in allen weiteren Artes-Traktaten nicht selten. Auch die Dialogform, die bereits in Alcuins Grammatik und Rhetorik verwendet wurde, ist in der Musik zu finden. Die Questiones in musica und die Questiones super partes musicae des Johannes de Muris folgen z. B. einem stereotypen Modell. Fachübergreifende Gestaltungsmöglichkeiten spiegeln sich in den Titeln der Traktate scholastischer Tradition wider: Tractatus, Dialogus, Epistola, Prologus, Quaestiones, Regulae, Commentarius oder (im Anschluss an Boethius) Institutio und treten ebenfalls in Verbindung mit musiktheoretischem Schrifttum auf (Bernhard 1990b, S. 50–53). Trotz der beachtlichen Zahl an bekannten Autoren von Traktaten ist die Mehrzahl der mittelalterlichen musiktheoretischen Schriften und Kurztraktate anonym überliefert. Die Gründe dafür sind unterschiedlicher Natur. Einerseits handelt es sich um Gebrauchstexte mit Werkcharakter: Kompilationen, Merkverse, Glossen und Vorlesungsschriften. Andererseits wird gemäß dem mittelalterlichen Demutsprinzip häufig absichtlich auf eine Nennung des Autors verzichtet. Da die Werke lediglich der Vermittlung des Lehrstoffs dienten, ist der Sprachstil nicht besonders elaboriert. Ein klarer, konziser und leicht verständlicher Sprachductus ist für die Gattung der Lehrtexte allgemein charakteristisch. Stereotype Wendungen und gleiche Satzkonstruktionen dienen dem leichteren Verständnis der Texte (Bernhard 1990b, S. 78). Die Ars musica entwickelte wie jede andere Disziplin auch ihre eigene Terminologie. Da die Musiktheorie des Mittelalters auf die Rezeption der antiken Theorie beruhte, wurde zunächst von der griechischen Terminologie Gebrauch gemacht. Die Benennung der Töne, des Tonsystems, der Tetrachorde, der konsonanten Intervalle und der Tonarten verweist auf griechische Termini. Zur Beschreibung der Klangphänomene (pthongos), der Rhythmen und der melodischen Elemente wird Vokabular aus der Rhetorik und Grammatik entlehnt. In den Traktaten können diese Termini in der griechischen Form mit griechischen Buchstaben, in der lateinischen Form, in lateinischen Buchstaben mit griechischer Flexion oder in lateinischer Form mit lateinischer Flexion vorkommen. Auch werden die lateinischen Entsprechungen für die griechischen Termini verwendet, wie etwa sonus für phtongos, intervallum für diastema, consonantia und dissonantia für symphonia und diaphonia. Auch aus dem philosophischen Vokabular sind termini technici übernommen worden, wie etwa bei der Differenzierung zwischen significatio intellectualis und significatio materialis oder beim in der Mensuralnotation weit verbreiteten Begriff der proprietas, der jedoch nicht mit dem philosophischen gleichzusetzen ist (Gushee 1973, S. 429 ff.; Bernhard 1990b, S. 84). Generell ist die scholastische Tradition darum bemüht, Mehrdeutigkeit
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einzugrenzen, indem begriffliche und kategoriale Klassifikationen und Systematisierungen vorgenommen werden. Dies zeigt sich z. B. in der Präzisierung von tonus, der von Hyeronimus de Moravia in tonus artificialis, tonus vulgaris und tonus differentialis gegliedert wurde (Hieronymus de Moravia 2012). 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Der Erforschung der Musiktheorie sowie der praktischen Ausübung von Musik an den Universitäten des Mittelalters und der frühen Neuzeit ist im Vergleich zu anderen universitären Disziplinen wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Diese Tendenz ist seit den Anfängen der Universitätsgeschichtsschreibung trotz einiger punktueller Ausnahmen bemerkbar (Wagner 1921; Pirro 1930; Pietzsch 1936). Nach dem zweiten Weltkrieg erlebte die Erforschung der Geschichte der Musik an den mittelalterlichen Universitäten einen ersten Höhepunkt. Das Thema wurde neben den Arbeiten von Pietzsch (1971) für die mitteleuropäischen Universitäten hauptsächlich von angelsächsischen Autoren behandelt (Carpenter 1953; Carpenter 1958; Bray 1995). Erst in jüngsten Publikationen ist die Musiklehre an den mittelalterlichen Universitäten zum zentralen Objekt der Forschung geworden (für Paris Rico 2005; Dyer 2009; Huglo/ Haggh 2013; für Wien Zapke 2012; Zapke 2014; Zapke 2015). Obwohl die Erforschung der Geschichte der Musiktheorie in den letzten drei Jahrzehnten überzeugende Studien, Datenbanken und Editionen hervorgebrachte, wurde ihre Einbettung in den jeweiligen universitären und gelehrten Kontexten nicht genügend berücksichtigt. Die Musiktheorie und die Musikpraxis, die im mittelalterlichen Erziehungssystem als eine Einheit verstanden wurden, sind von der Forschung traditionell getrennt behandelt worden. Ein Grund dafür mag im Mangel an Editionen grundlegender universitärer Quellen wie Rektorats- und Fakultätsakten (Akten) liegen. Betrachtet man die Universitäten des zentraleuropäischen Raums, so liegen lediglich für Krakau, nicht aber für Prag, Leipzig, Warschau und nur in Teilen für Wien Quelleneditionen vor. Für andere Universitäten wie Salamanca, Bologna, Évora, Alcalá de Henares und Padua stellt sich die Situation nicht anders dar. Versucht man, die Musiklehre an der Universität Salamanca vor 1500 oder an den Universitäten Coimbra und Évora im 15. Jh. zu rekonstruieren, ist die Autopsie der handschriftlichen Überlieferung vor Ort unumgänglich. Für Salamanca, eine der ältesten Universitäten Europas, ist eine einzige Edition vorhanden (Marcos Rodríguez 1964). Aber selbst für eine so zentrale Universität wie Paris ist die Quellenlage hinsichtlich der Musiklehre und -praxis schwer zu erfassen. Es wurden zwar ausführliche Studien über den Personenkreis der Pariser Universität vorgelegt (Glorieux 1971; Weijers 1994–2003), dagegen stellte die Erschließung der Musik als Teil des Wissenschaftssystems und des Unterrichtswesens bis in jüngster Zeit ein seltenes Forschungsobjekt dar (Rico 2005; Dyer 2009; Huglo/ Haggh 2013). Für Wien ist die Erschließung der Musiklehre sowohl als Teil des universitären Wissenskanons als auch als Abbild eines städtischen Gelehrtennetzwerkes in seinen Grundzügen jüngst nachgezeichnet worden (Zapke 2015; Zapke 2016). Die
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Erforschung der englischen Universitäten wie etwa Oxford und Cambridge ist weitgehend erfolgt (Catto-Evans 1992; Bray 1995; Carpenter 1953). Die Geschichte der Musik an der mittelalterlichen Universität ist mit der Geschichte der Musiktheorie nicht identisch. Die praktische Musikausbildung der Studenten der Artistenfakultät hat in der bisherigen Forschung wenig Beachtung gefunden. Beispielsweise wurde der repräsentative Auftritt der universitären Körperschaft unter musikalischer Mitwirkung der Studenten und Professoren gestaltet. In den meisten Universitätsstädten ist in diesem Zusammenhang eine intensive Interaktion der Universität mit den geistlichen Ausbildungszentren ihrer unmittelbaren Umgebung belegt. Die Auslagerung von Lehrinhalten an Bürgerschulen, Kollegien, Domkantoreien und private Gelehrte spielte daher eine zentrale Rolle. Die Zirkulation sowohl von Lehrenden als auch von musikalischen Lehr- und Repertoirehandschriften zwischen der Universität und den mit ihr verbundenen geistlichen Ausbildungszentren beweist einen Wissenstransfer, der für die erweiterte Musikausbildung der Studenten von Bedeutung war und gründlich zu untersuchen wäre. Die Erforschung der Musik an den Universitäten hat sowohl die Institutions-, die Stadt- und die Personengeschichte als auch die weitere Wissenschaftsgeschichte und die Alltagskultur zu berücksichtigen. Nur im Zusammenklang dieser unterschiedlichen Ebenen kann die Musik als Fach und als gelebte Praxis in ihrer ganzen Bedeutung erfasst werden. Ein weiteres Desideratum betrifft den bisherigen mangelnden komparatistischen Zugang. Die Gegenüberstellung von Lehrmethoden, Lehrenden und Referenztexten würde nicht nur einen differenzierten Blick auf die jeweiligen curricularen Profile und deren Entwicklung, sondern ebenso die Nachzeichnung des Wissenstransfers sowohl zwischen den Universitäten als auch zwischen den verschiedenen Ausbildungsinstitutionen der jeweiligen Städten ermöglichen. 4. Bibliographie 4.1 Quellen Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Ripoll ms. 109. Modena, Biblioteca Estense, (alfa) M.5.24. Newberry Library, Case ms. 54.1. Oxford, All Souls College, 90. Oxford, Bodleian, 77. Paris, Bibliothèque nationale, Lat. 7372. Paris, Bibliothèque nationale, nouv. Acq.lat. 99. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, A-Wn Cod. 260. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, A-Wn Cod. 5155. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, A-Wn Cod. 5274. Delaborde, Henri François (Hrsg.) (1882), Gesta Philippi Augusti, Guillelmi armorici liber, in: Delaborde, Henri François, Oeuvres de Rigord et de Guillaume Le Breton, Historiens de Philippe-Auguste, Chronique de Rigord et de Guillaume le Breton, Bd. 1, Paris, S. 168–333.
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Literarische Texte und Darstellungen Hannah Skoda
Begriffserklärung Mit ‚literarischen Darstellungen‘ sind fiktionale Darstellungen des Universitäts- und Studentenlebens gemeint. Obwohl relevante Texte unterschiedlichen Gattungen angehören, verwenden sie oft recht ähnliche Tropen und haben teils identische Themen oder sogar Verfasser. Man kann vier weitläufig miteinander verflochtene Literaturtypen unterscheiden: Kurzerzählungen, dialogische Literatur, Theater und satirische Dichtung. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Studenten werden in den literarischen Texten mit verschiedenen Begriffen bezeichnet (Teeuwen 2003, S. 29–150): escoliers, estudians (altfranzösisch, Godefroy 1880–1895); baccelier (italienisch, Bosco 1970–1976); Schreiber, Schüler, Student (mittelhochdeutsch, Coxon 2002, S. 20). Ein Teil der literarischen Darstellungen ist von Studenten verfasst. Ein anderer Teil stammt von ehemaligen Studenten, die offensichtlich von ihren eigenen Erfahrungen zehren, z. B. Eustache Deschamps. Schließlich gibt es auch Autoren, die kaum deutliche Verbindungen zu mittelalterlichen Universitäten hatten. Die Annahme, dass Chaucer eine Universitätsausbildung genossen hat, ist mittlerweile weitgehend diskreditiert (Hornsby 1988, S. 7–21). Eine typische rhetorische Strategie dieser Literatursparte ist es, auf eigene Beobachtungen des Verhaltens von Studenten und universitärer Gebräuche zu verweisen. Doch gibt es zugleich eine erkennbare Neigung, auf bestimmte Tropen zurückzugreifen, die oftmals ihren Ursprung in der klassischen Antike haben. Die Trope des lasterhaften Studenten scheint stark auf Interpretationen des Pseudo-Boethius (PsBoethius 1976) zu beruhen, der seinerseits möglicherweise Horaz und Ovid heranzieht. Dennoch werden diese Tropen im Laufe des Mittelalters sehr unterschiedlich eingesetzt. Die Bandbreite reicht von recht allgemeinen Darstellungen des ‚wandernden Scholaren‘ in Literatur aus dem Umfeld der entstehenden höheren Schulen des 12. Jh.s über die Charakterisierung wachsender Spannungen zwischen Studierenden und Stadtbewohnern im 14. und 15. Jh. bis hin zu zunehmend selbstreflexiven und realistischen Beschreibungen im Spätmittelalter.
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Das Aufkommen solcher Literatur und das Maß der von ihr beanspruchten Realitätsnähe hängt vermutlich mehr mit internen literarischen Entwicklungen zusammen als mit Veränderungen innerhalb der Universitäten. Die Verbreitung des komischen Dramas, das oft Darstellungen von Studenten enthält, scheint dem allgemeinen Zuwachs an Fastnachtspielen in Deutschland und Moralitäten in Frankreich zu folgen. Häufig werden dabei Tropen älterer satirischer Dichtung weiterverwendet. In gleicher Weise sind Darstellungen von Studenten und Studium im humanistischen Theater des Spätmittelalters Teil der allgemeinen Blüte dieser Literaturform. Die Funktionen von literarischen Darstellungen von Studenten und Studium sind dagegen facettenreich. Als vorrangiges Ziel erscheint die Unterhaltung, und man sollte sich vor Augen halten, dass der Großteil der mittelalterlichen Literatur Europas performant dargeboten wurde (Zumthor 1984, S. 37). Mit wenigen Ausnahmen kann man davon ausgehen, dass die relevante Literatur komischer Natur war – von beißender Satire über komplexe Parodie bis zur ausgewachsenen Farce. Man kann sogar eine bestimmte Entwicklung innerhalb des besagten Zeitraums erkennen: In der frühen Phase der Lehranstalten und Universitäten findet man das Bild des ‚weltabgewandten‘ Studenten, der das Konzept des asketischen Geistlichen umkehrt, indem er seine vermeintliche Weltabgewandtheit durch Alkoholexzess und Glücksspiel ausdrückt. Im 13. und 14. Jh. scheint Satire die Parodie zu ersetzen, indem die Gestalt des Studierenden mit dem normalen Ortsansässigen (oder häufig auch dem Müller) kontrastiert wird, zumeist um die Überlegenheit des Gelehrten herauszustellen. In den späteren Jh.en des Mittelalters findet jedoch eine Trendwende statt, da Gelehrte nun selbst häufig zur Zielscheibe possenhafter Komik werden. Der Humor konnte sehr pointiert sein, und eine ganze Reihe von Schauspielen wurde sogar mit dem Ziel politischer Kritik produziert – sei es, um die Universitäten gegen vermeintliche Angriffe zu verteidigen, sei es, um Kritik an spezifischen königlichen Richtlinien zu üben (Roy 2006, S. 177–186). Die Überlieferung relevanter literarischer Darstellungen ist breit und uneinheitlich, obwohl Dramen – also das Genre, das wohl am häufigsten von Studenten selbst verfasst wurde – oft in universitären Akten und Dokumenten vorzufinden sind (Belege für die Zensur studentischen Theaters 1462, 1516, 1525 u. a. diskutiert etwa Bossuat 1950, S. 165–176). Wie im Fall des mittelalterlichen Theaters allgemein hat sich unser Wissen zu diesem Thema stark verbessert, besonders durch ein differenzierteres Verständnis der Bedeutung überlieferter Schriften für die damalige Aufführungspraxis (Simon 2003). Bestimmte Aufzeichnungen und insbesondere Verbote von Theateraufführungen (die typischerweise auf deren fortgesetztes Auftreten hindeuten) sind häufig in Universitätsarchiven zu finden.
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2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Aufgrund der Heterogenität der literarischen Darstellungen der Universität erscheint es hilfreich, eine Typologie der Genres zu erstellen. Sie kann nicht zuletzt die wechselseitigen Einflüsse zwischen verschiedenen Typen literarischer Darstellung sowie verbreitete Tropen erhellen. Außen vor bleiben hier literarische Formen, die das Studentenleben oder die Universität nur beiläufig erwähnen. Solche Referenzen könnten freilich wichtige Einblicke geben, nicht zuletzt über die Verbreitung typischen Wissens über das studentische Leben. Wenn Dante in seinem Paradiso vom heiligen Petrus über die Natur des Glaubens befragt wird, so antwortet er mit einer Anspielung auf die feierliche Disputation beim Magisterexamen: „Sì come il baccellier s’arma e non parla/ fin che ’l maestro la question propone/ per approvarla, non per terminarla“ (Dante 1961, canto 24, V. 46–48). Es ist vielsagend, dass Dante annimmt, seine Leser verstünden diese Anspielung. Manchmal kommt die Gestalt des Studenten auch in religiöser Literatur vor, etwa im Zusammenhang mit Wundergeschichten (z. B. Gautier de Coinci 1955, V. 26 ff.) oder als Satire, z. B. in Des Teufels Netz von 1441, einer Erzählung, in der Studenten den Teufel selbst mit juristischen Argumenten konfrontieren (Barack 1863; s. Rupprich 1970, S. 303). In einiger epischer Literatur wie etwa Hartmanns von Aue Armem Heinrich finden wir Kritik an der Arroganz der Gelehrten (Hartmann von Aue 2003; Dietl 2008, S. 886 f.). In der höfischen Literatur spielen Schulen oft eine strukturelle Rolle für die Handlung, etwa, wenn sich Tristan in Salerno aufhält (Gottfried von Straßburg 1959; s. Dietl 2007, S. 31–42). Kurzerzählungen In der Volkssprache verfasste kurze Erzählungen komischer Art, die Darstellungen von Gelehrten beinhalteten, waren in ganz Europa populär und hauptsächlich für den mündlichen Vortrag gedacht (Definition nach Fischer 1983, S. 62 f.). In den elaborierten und komplexen einschlägigen Schriften Boccaccios und Chaucers ist gerade an der Gestaltung der Rahmenhandlung zu erkennen, dass die Erzählungen als Unterhaltung dienten (Dougill 1998, S. 19–25). Der Versuch einer Genealogie dieser Traditionen ist schwierig und möglicherweise wenig relevant. Die frühesten Beispiele sind in niederländischen und französischen Fabliaux zu finden, gefolgt von den etwas späteren, aber langlebigeren Mären des Mittelhochdeutschen (Birkhan et al. 2005– 2010; Hertog 1991, S. 60–64). Berühmte Beispiele aus England findet man in den Werken von Chaucer und seinen Nachahmern. In Italien fügte Boccaccio eines dieser Beispiele in sein berühmtes Decamerone ein (Boccaccio 1992, 8. Tag, 7. Geschichte). In Spanien nahmen die Erzählungen von Petrus Alfonsi (Alfonsi 1911) und Juan Ruiz (Ruiz 1992) einige der einschlägigen Tropen auf. Um die Verbreitung von Tropen und die Art und Weise ihrer literarischen Umgestaltung zu veranschaulichen, sollen im Folgenden Vorkommen und Entwicklung
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eines typischen Charakters durch diese Erzähltraditionen verfolgt werden. Die altfranzösische Erzählung Le Meunier et les deux clercs (van den Boogard/Noomen 1993, Nr. VII, S. 271–306) erzählt von zwei Studenten aus Paris, die einen ungehobelten und habgierigen Müller überlisten. Sie überreden ihn nicht nur dazu, ihnen kostenlose Unterkunft anzubieten, sondern schlafen auch mit seiner Frau und Tochter; der Müller selbst wird verprügelt. Die Geschichte scheint auf einem altniederländischen Original zu beruhen (Ziegeler 1988, S. 9–31). Die französische Fassung war besonders in der Picardie und Normandie verbreitet, in Gebieten also, aus denen Studenten in großen Zahlen nach Paris gingen. Mit den Mitteln des Humors breitet die Farce Themen wie die Listigkeit von Studenten, den Antagonismus zwischen Gelehrten und Ungelehrten, die als aggressiv dargestellte Maskulinität von Klerikern sowie die Armut von Scholaren aus. Die Erzählung berichtet dabei wenig Spezielles über Universitäten, transportierte aber die Vorstellung, dass Studenten stets von Armut geplagt sind. Ob solche Fabliaux von Geistlichen oder Studenten verfasst worden sind, ist schwer festzustellen. Nichtsdestoweniger spielt die überwiegende Mehrheit auf Kleriker als Verfasser an, wenn eine listige Gelehrtenfigur als Protagonist auftritt und (ähnlich wie der Verfasser selbst) die anderen Charaktere durch ihr Handeln manipuliert. Trotz des eher groben Humors wird so die intellektuelle Überlegenheit der Universitätsangehörigen geltend gemacht und insbesondere ihre Fähigkeit vorgeführt, andere zu beeinflussen. Es existiert auch eine deutsche Fassung der Erzählung, in der die manipulativen Fähigkeiten der Universitätsbesucher und die funktionelle Übereinstimmung zwischen Autor und Protagonist noch klarer dargestellt sind bzw. stärker hervorgehoben werden (Stehmann 1909, S. 198–216; Kommentar bei Ziegeler 1988, S. 9–31; Coxon 2007, S. 106; die verschiedenen Fassungen werden untersucht von Frosch-Freiburg 1971). In der Version Chaucers aus dem späten 14. Jh. mit dem Titel The Reeve’s Tale wird ein vergleichbarer Inhalt mit stärkeren Querbezügen zu den Institutionen versehen (Chaucer 1998). Der habgierige Müller wird nun nicht mehr lediglich als Schinder der armen Studenten dargestellt, sondern als Ausbeuter der gesamten Universität. Gerade hierfür wird er von den Studenten John und Aleyn bestraft. Die Version ist zudem detailreicher, was den Aufbau der Universität (in diesem Falle Cambridge) angeht. Es wird beispielsweise erklärt, dass die zwei Studenten aus dem Nordosten Englands stammen und die Universität aus Colleges besteht (Chaucer 1998, V. 3990 f.). Die Verwaltungsstrukturen werden ebenfalls erläutert (s. zum manciple, V. 3993; warden, V. 3999). Die Figur des listigen Scholaren ermöglicht es, eine ganze Reihe von Themen zu behandeln. Wie erwähnt, ist oft der Antagonismus zwischen Studenten und Laien Thema (s. z. B. Zweierlei Bettzeug, Fischer 1965). Häufig thematisiert Literatur über Scholaren auch deren Männlichkeit. Diesbezügliche Ängste und Unsicherheiten zeigen sich etwa in Geschichten über aggressive Bekräftigungen von Maskulinität (z. B. Die Buhlschaft auf dem Baum, Roth 1977, S. 281 ff.), aber auch in Erwiderungen auf Anfechtungen studentischer Männlichkeit durch laikale Beobachter. Das Trinken wird ebenfalls gern behandelt, wobei Studenten oft auf der Reise zur oder von der Universitätsstadt dargestellt werden. Eine Vielzahl von Geschichten beschäftigt sich
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Boccaccio, Giovanni, Il Decamerone Di Messer Giovanni Boccaccio Nuovamente Stampato Con Tre Novelle Aggiunte, Florenz: Giunta 1516, Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Xr 1072, fol. 228v (8. Tag, 7. Geschichte).
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mit Studenten aus ganz Europa auf dem Weg von oder nach Paris (Boccaccio 1992, 8. Tag, 7. Geschichte; Stehmann 1907, S. 198–216; s. Schultz 1995, S. 90; Gabriel 1969, S. 147–167). Manchmal scheint auch eine spöttische Infragestellung intellektueller Tätigkeiten insgesamt durch. Einzelne Geschichten enthalten detaillierte Beobachtungen über das allzu jugendliche Alter der Studenten und die typischen Gefährdungen für junge Leute (z. B. Claus Spaun 1966, S. 351–361; s. Coxon 2002, S. 37). Die Geschichten des anthropomorphen Fuchses Renart verweisen ebenfalls auf Gelehrsamkeit, hauptsächlich in satirischen Darstellungen der Wichtigtuerei der Gelehrten (Heinrich der Gleißner 1984, V. 1874 f.; s. Dietl 2008, S. 887 f.; Strubel 1998, XII, l. S. 473–788). Interessanterweise zeichnen sich in der Auseinandersetzung mit derartigen Themen im Verlauf des Spätmittelalters Verschiebungen ab (Coxon 2002, S. 30–41). Die Literatur wird realistischer und detailreicher und befasst sich immer deutlicher mit der institutionellen Realität des Universitätslebens. Im Falle der Literatur aus dem Heiligen Römischen Reich finden sich beispielsweise zunehmend Bezüge zu akademischer Kleidung, zu spezifischen Ritualen und Zeremonien und zum administrativen Rahmen der Universität (Coxon 2002, S. 53). Die Zunahme der Universitäten spiegelt sich in unterschiedlichen Schauplätzen wider. Es werden auch Besucher anderer Universitäten als Paris dargestellt, in einem bekannten Beispiel etwa ein Student aus Prag (Schmieher 1966, S. 89–92). Der Renner Hugos von Trimberg (Hugo von Trimberg 1908; s. Dietl 2008, S. 888 f.) ist ein weiteres Beispiel für diese Tendenz. Kurzerzählungen wissen auch von adeligen Universitätsbesuchern. Der soziale Status der dargestellten Studenten wird höher (z. B. Boccaccio 1992, 8. Tag, 7. Erzählung; Kaufringer 1972, Bd. 1, S. 41–52; Coxon 2002, S. 35). Zur Zielscheibe von Humor werden Studenten beispielsweise dadurch, dass eine negative Korrelation von sozialem Status und intellektueller Leistung dargestellt wird (z. B. Schmieher 1966, S. 89– 92, Z. 1–4; Coxon 2002, S. 32). Dialogliteratur und Streitgedichte Diese zum Ende des Mittelalters immer beliebtere Literaturgattung beschäftigt sich häufig mit der universitären Gelehrtenkultur, wobei Studenten oft in scharfen Auseinandersetzungen mit Laien oder Ungelehrten gezeigt werden (Coxon 2002, S. 51; Oulmont 1911). Diese Darstellungsform scheint besonders im Reich verbreitet. Sie ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert, denn neben der häufigen Präsenz von Studenten fällt auch der klare und bewusste Bezug auf universitäre Formen der Disputation auf, der in der Forschung bereits häufiger Gegenstand war (z. B. Gally 2004; Cardelle de Hartmann 2007, S. 231). Cardelle de Hartmanns zweckmäßige Typologie unterscheidet verschiedene Dialogtypen: Didaktische und hagiographische Dialoge, Streitgespräche, philosophische sowie selbstreflexive Dialoge und Trostbücher (Cardelle de Hartmann 2007, S. 3). Innerhalb dieser Typologie figurieren Studierende und ihre Magister am häufigsten als Protagonisten von Streitgesprächen (z. B. Johannes Peckham, Dialogus de statu saeculi, 1269–80; zu den Handschriften s. Cardelle de
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Hartmann 2007, S. 145) und didaktischen Dialogen, die häufig das Erlernen einer Sprache unterstützen sollen. Ein bekanntes Beispiel ist das Heidelberger Manuale Scholarium aus den 1480er-Jahren (Manuale Scholarium 1887, S. 1–48; s. auch die ‚Gesprächsbücher‘ des späten 15. Jh.s (Grubmüller 2000) sowie das Werk des Laurentius Corvinus (Bömer 1897, S. 61–66), diskutiert von Glomski 1999, S. 159–166; Studienführer). Neben diesen Dialogformen sind als spezifische Gattung die facetiae des Spätmittelalters zu erwähnen, beginnend mit denjenigen Heinrich Bebels (der auch Dialoge verfasste, s. Dietl 2013, S. 111). Wie Sebastian Coxon zeigt, wurde gemeinsames Lachen, besonders unter Scholaren, als wichtiges Element der amicitia verstanden (Coxon 2007). Viele facetiae Bebels spielen in der Universitätsstadt Tübingen und diskutieren das akademische Leben und die intellektuellen Herausforderungen dort (z. B. Bebel 1931, III, S. 166, 102, 125; s. Coxon 2007, S. 315; Wittchow 2001, S. 336–360). Derartige, teils bereits in dramatischer Form angelegte Dialoge wurden schnell in Richtung humanistischer Interessen weiterentwickelt. Eine Reihe spätmittelalterlicher Texte, die für universitäre Festtage abgefasst wurden, thematisieren den Streit zwischen Scholastik und Humanismus (Dietl 2013, S. 107–111). Der halb-dramatische Dialog Codrus kann als klassisches Beispiel gelten: Er setzt – mit Szenenanweisungen in der Handschrift – eine Debatte zwischen einem scholastischen Lehrer und zwei humanistischen Studenten in Köln in Szene. Der Lehrer Codrus wird am Ende des Stücks gewaltsam (und komisch) bestraft, nachdem seine Haltung als altmodisch und intellektuell unhaltbar dargestellt worden ist (Kerckmeister 2011). Das Stück war vermutlich für eine universitäre Graduierungsfeier intendiert (Dietl 2013, S. 110). Derartige Dialoge erweisen sich insofern auch als wichtige Quellen für die performative Rahmung universitärer Feiern. Sie wurden entsprechend ihrer engen Bezüge zu höfischen und städtischen Milieus offenbar für ein gemischtes Publikum aufgeführt. Getragen von akademischem Selbstbewusstsein, aber auch von öffentlichem Interesse an den intellektuellen Innovationen, werfen sie ein Schlaglicht auf Prozesse diskursiven Wandels: Die Verhandlung abstrakter Problematiken wird mit einer zumeist komischen Allegorisierung der konkurrierenden Formen der Gelehrsamkeit verschränkt und mit Anspielungen auf den banalen Alltag des Universitätslebens, wie das morgendliche Verschlafen, garniert. Drama Die erwähnten lateinischen Dialogtexte unterscheiden sich nur graduell vom Theater in seiner üblichen Definition. In der spätmittelalterlichen Literatur sind die Grenzen zwischen diesen Gattungen besonders fließend und problematisch (Symes 2007, S. 2), da Dialoge auch für die Aufführung bestimmt waren und in handschriftlicher Überlieferung oft nicht vom Theater im engeren Sinne unterschieden werden. Es steht fest, dass viele humanistische Dramen mit Bezug zur Universität aus Dialogformen entstanden (Vollmann 2004, S. 1–8). Sie zielten häufig in didaktischer Funktion
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auf die Verbesserung der Grammatik (Bloemendal 2013, S. 1–24) oder wurden bewusst für solche Zwecke adaptiert (Dietl 2013, S. 107). Eine Reihe erhaltener Dramen beschäftigt sich mit sehr ähnlichen Themen und war vermutlich sowohl für ein höfisches wie ein universitäres Publikum bestimmt (Dietl 2013, S. 110; Bloemendal 2013, S. 134). Schulmänner waren oft sowohl Autoren wie behandelter Gegenstand (z. B. Schulze 1882). Besonders viele Beispiele kommen, wenig überraschend, aus Italien – etwa Ludovico Ariostos Gli studenti und ihre Fortsetzung von Virgilio Ariosto (Ariosto 1915; s. Chevalier 2013, S. 25–103). Deutsche Dramen haben sich vermutlich großenteils an italienischen Beispielen ausgerichtet, die wiederum explizit auf Tropen des Terenz verweisen (Dietl 2013, S. 103, 105). Reuchlins Stück Sergius sive capitis caput von 1496, das sich mit einer Gruppe Heidelberger Studenten beschäftigt, ist ein typisches Beispiel (Reuchlin 1888, S. 107–126; s. Dietl 2013, S. 125). Etwas anders gelagert waren die deutschen Fastnachtspiele des Spätmittelalters. Sie bezogen ihren Stoff wohl aus verbreiteten Mären, wurden in karnevalesker Atmosphäre aufgeführt und zogen ein breitgefächertes städtisches Publikum an (Coxon 2002, S. 29, Anm. 27; Hans Rosenplüts Der fahrende Schüler wurde z. B. in ein Fastnachtsspiel umgewandelt, Rosenplüt 1996, S. 916–927). Das Thema des listigen Scholaren hatte für sie offensichtlichen Wert als komisches Element. Teilweise scheinen solche Spiele sogar von Studenten geschrieben worden zu sein, obwohl die Autoren der meisten deutschen Spiele quasi-professionelle Dichter waren, die nur selten einen universitären Hintergrund besaßen. Auch aus Frankreich haben sich einige Stücke dieses Typs erhalten, doch zeigen sie meist Studenten, die von der Öffentlichkeit des Karnevals profitierten, um politische Argumente vorzubringen. Die performative, aber doch als fiktional ausgewiesene Qualität des Theaters wurde häufig gerade dazu genutzt, ohne Furcht vor Konsequenzen harte politische Kritikpunkte zu äußern. Die Aufführung der Farce des Pattes-Ouaintes in Caen 1493 war Teil eines länger währenden Streites über die Steuerbefreiungen der Universität (Roy 2006, S. 177–186; Koopmans 2013, S. 60). Obwohl sich für den gesamten Untersuchungszeitraum Verbote auffinden lassen, boten Festtage Studenten offensichtlich eine Gelegenheit zur Aufführung ihrer Stücke (Roy 1996, S. 186). Solche Dramen stellten oft die Studenten selbst dar und nutzten dazu beispielsweise Moralitäten, deren allegorische Figuren komische Akzente erhielten, oder Sottien und Farcen (z. B. La Moralité du Coeur et des 5 sens 1886, S. 299 ff.). Weniger als eine realistische Darstellung studentischen Lebens in der eigentlichen Handlung ist es jedoch die Form derartiger Stücke, die über studentische Unterhaltung und Erfahrung unterrichtet (Bossuat 1950, S. 165–176). In Paris gab es die Theatertruppe der sogenannten Enfants sans-souci, die nach eigenen Angaben großenteils aus Studenten bestand. Sie kleideten sich demonstrativ in gelb-grüne Roben und trugen Kopfbedeckungen mit langen Ohren (Defourneaux 1952). In England wurde oft die Trope des ‚Königs der Studenten‘ benutzt, die aus studentischen Feiern hervorging, aber bald ihren Weg in Dramen für die Fastenzeit fand (Billington 1991, S. 36 f.). Als Burlesken konnten sich solche Aufführungen zu sehr komplexen Paro-
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dien entwickeln. In den beliebten sermons joyeux (Koopmans 1988) wurde die Form der Predigt nachgeahmt, um den Ermahnungen echter Prediger zur Askese sehr viel ansprechendere Versionen des Studentenlebens gegenüberzustellen. Ein amüsantes makaronisches Beispiel einer solchen Aufführung für das Fest des Heiligen Nikolaus, des Schutzheiligen der Scholaren, mischt lateinische liturgische Texte mit Zitaten aus Ovid und volkssprachlicher Parodie, die sowohl auf die Liturgie wie die üblichen Erwartungen an Studenten aufs Korn zielt: „tu cole maternas tute/ tu es, Colin, maistre et tutoeur/ Et de noz droiz conservateur,/ En la main de qui sont noz seaulx,/ Les brocs et les aultres vaisseaulx,/ Desservans a l’effusion/ De L’uille dont est mencion/ en la clause sospitati“ (Aubailly 1972, S. 73–88, V. 8–15). Satirische Dichtung Satirische Dichtung zeigt ähnliche Entwicklungslinien, wiewohl hier die älteren Beispiele zumeist auf Latein vorliegen, die jüngeren in Volkssprachen. Zunächst zu nennen ist die sogenannte goliardische Tradition, die, wie Helen Waddell formulierte, von ‚wandernden Scholaren‘ stammen soll (Waddell 1927; Laistner 1879). Tatsächlich evoziert diese Dichtung, die sich, wie Symonds (Symonds 1884) zusammenfasst, um die Themen ‚Wein, Weib und Gesang‘ dreht, scheinbar eine Welt desillusionierter Gelehrter. Entstanden ist sie allerdings bereits im 11. und 12. Jh., also vor der Ausbildung der Universitäten. Inhaltlich stützt sie sich zumeist eher auf Tropen der klassischen Literatur als auf tatsächliche Erfahrungen mittelalterlicher Scholaren. Als Quelle für studentische mores sind derartige Texte daher äußerst problematisch. Die bekanntesten Stücke goliardischer Dichtung stammen wie die Carmina Burana (Carmina Burana 1991) aus dem mittelalterlichen Reich, doch reichte die Tradition weiter, etwa nach Frankreich und zu Autoren wie Johannes de Hauvilla (Johannes de Hauvilla 1974) oder Polen (Michalowska 1997, S. 723–745). Ausläufer der goliardischen Tradition scheinen sich allerdings am längsten in Italien gehalten zu haben und explizit auch an den mittelalterlichen Universitäten gepflegt worden zu sein. In anderen literarischen Traditionen wurden Tropen goliardischer Dichtung mit neueren Formen kombiniert. Ein Beispiel sind die Dits des Pariser Dichters Rutebeuf: Diese typische Gattung des 13. Jh.s kombiniert eine Rhetorik des Realismus, die oft politische Attacken transportierte, mit komplexen literarischen Reflexionen über die Natur der Sprache. Rutebeuf kehrte beispielsweise häufig die goliardische Trope des carpe diem um, wobei er suggerierte, dass die Scholaren sich auf sinnliche Vergnügungen schon deswegen einlassen sollten, weil das Leben sinnlos und arm sei. Sein Dit de l’Université de Paris ist ein berühmtes Beispiel politischer Kritik, die sich gegen die Haltung des Königs zur Universität und zu Universitätsstreiks sowie gegen das Verhalten der Bettelorden an der Universität richtet und gleichzeitig über die Sinnlosigkeit des Lebens und Lernens reflektiert (Rutebeuf 1952). Man darf Rutebeuf möglicherweise sogar als Ahnherren einer langen und distinguierten Reihe französischer Satiriker bezeichnen, die aus einem Universitätskon-
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text stammen. François Villon ist vielleicht ihr bekanntester Vertreter (Villon 1991; s. Champion 1967). Sein Status als Studienabbrecher und Krimineller ist in Gerichtsakten nachweisbar (Paris, Archives Nationales, Trésor des Chartes, JJ 187 und JJ 183), und seine satirische Dichtung wurde daher lange Zeit als realistische Darstellung einer kriminellen studentischen Unterwelt an der mittelalterlichen Universität aufgefasst (Champion 1967). Die jüngere Forschung hat diese Interpretation allerdings als zu oberflächlich zurückgewiesen und geht davon aus, dass Villons Darstellungen studentischen Lebens und krimineller Umtriebe nicht als realistische Wiedergabe aufgefasst werden können. In spielerischer Sprache behandelt er vielmehr auch Themen wie die soziale Inklusion und Exklusion oder die dichterische Identität (Hunt 1996; Taylor 2001). Villon spielt mit den dichterischen Konventionen der Gattung Autobiographie und setzt sich dabei bewusst zu seinen Lesern in Bezug: Er „invents and incorporates his audience“ und bemüht „a poetics of dialectic and debate which constituted the energy and drive of fifteenth-century literary life“ (Taylor 2001, S. 2–4). Ähnlich verhält es sich mit Autoren wie Eustache Deschamps, dessen Dichtung sich großenteils mit seiner Zeit an der Universität Orléans beschäftigt und das Thema armutsgeplagter und regelbrechender Studenten in ein komisches Licht setzt (z. B. Deschamps, Bd. 9 1894, Nr. 1498, S. 69–73; Deschamps, Bd. 6 1889, Nr. 1105, S. 10 f.). Deschamps beschreibt z. B., wie ein armer Student seinen Vater brieflich um Geld für seine ‚Studien‘ bittet (Deschamps, Bd. 8 1893, Nr. 1438, S. 96 f.): „Tres chiers peres, pour m’alegier/ En la taverne, au boulengier/ Aux docteurs, aux bediaux, conclus,/ Et pour mes colectes paier/ A la buresse et au barbier/ Je vous mande argent et salus.“ Das Gedicht erzielt seinen komischen Effekt aufgrund der Unaufrichtigkeit des Briefs, doch wissen wir aus Archivmaterial und überlieferten Briefsammlungen, dass der Text sich auf etablierte Praktiken bezieht (Vulliez 1982, S. 149–183). Deschamps spielt hier dichterisch mit den Möglichkeiten der Sprache, indem er mit den Zuordnungen bestimmter Diskurse zu verschiedenen Kontexten experimentiert. Vergleichbare satirische Dichtungen haben mitunter politische Subtexte, wie im Falle Rutebeufs. Besonders im späteren Mittelalter beschäftigen sie sich auch mit dem Thema des intellektuellen Ehrgeizes und Gewinnstrebens. Im Falle Englands liegen Beispiele vor, die Rivalitäten zwischen den Universitäten Oxford und Cambridge behandeln (Putter 2003, S. 63). Einige Beispiele nutzen den Rahmen eines Konflikts zwischen Studenten, die entweder vom Streben nach weltlichem Erfolg oder einem als höherwertig eingestuften Wissensdrang motiviert sind (z. B. Caxton 1967). Ein besonders beliebter Typ der Satire zielte auf die intellektuellen Geltungsansprüche der Doktoren und Lehrenden und machte sich über die verästelten, esoterischen Diskussionen lustig, mit denen diese ihre Zeit zu verschwenden scheinen. Sebastian Brants Narrenschiff (Brant 2004) verspottet die hochtrabenden Allüren der Universitätsmagister, die sich in sinnlosen Debatten verlieren. Das Material wurde sowohl von Alexander Barclay als auch von John Skelton adaptiert (Koelbing 1908, S. 58–60). Im Spätmittelalter bündelten besonders zwei Metaphern die Kritik universitärer Selbstüberschätzung, wobei humanistische Kritik der Scholastik möglicherweise unterstützende Wirkung entfaltete: Eine ist die des Narrenschiffs, das häufig mit verschiedenen Details über die
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angeblich an der Universität betriebenen Debatten wiederkehrt. Die zweite Metapher ist die des Esels, die ihren ersten berühmten Auftritt bereits im 12. Jh. in Nigel de Longchamps Speculum stultorum hat (Longchamps 1960). Auf der Suche nach Wissen wandert der Esel dabei von Universität zu Universität, was dem modernen Leser eine interessante Liste beliebter Studienzentren der Zeit präsentiert. Die Figur dient jedoch v. a. dazu, die an den Universitäten diskutierten Themen lächerlich zu machen und den Unterschied zwischen echter Weisheit und bloßer Gelehrtheit hervorzuheben. Nachdem der Esel acht Jahre in Paris studiert hat, hat er sich etwa noch nicht einmal den Namen der Universität gemerkt. Obwohl die Figur des Esels ursprünglich Apuleius entnommen zu sein scheint, wurde sie im Verlaufe des Spätmittelalters neu geformt und gewissermaßen in den Kontext der Kritik scholastischer Gelehrsamkeit übersetzt. Sie begegnet beispielsweise in Chaucers Parson’s Tale (Chaucer 1988, V. 15328). Das Aufkommen des Humanismus hat vermutlich keinen besonderen dichterischen Fokus auf studentische Aktivitäten mit sich gebracht. Doch gibt es bedeutende Ausnahmen: Der polnische Humanist Laurentius Corvinus schließt in sein Handbuch der Dichtung einige schöne Beispiele eigener Werke zum studentischen Leben ein (Glomski 1999, S. 159–166). Seine Einblicke sind humorvoll und dienen gleichzeitig der Darstellung seiner humanistischen Bildung, die tief im universitären Milieu verankert ist. Deutlich fällt jedoch auf, dass die populären Tropen seiner Dichtung – nicht zuletzt Betrunkenheit und zügelloser Überschwang – bei aller humanistischen Aufmachung mittelalterliche Themen fortschreiben. 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Die Analyse literarischer Darstellungen des universitären Lebens bringt komplexe und weitreichende methodologische Probleme mit sich. Vier Problematiken seien hier angesprochen. Zunächst beziehen sich literarische Darstellungen studentischen Lebens genauso deutlich auf literarische Tropen wie auf gelebte Realität. Es ist daher von essentieller Bedeutung, diese oftmals weit vor die Entstehung mittelalterlicher Literatur zum Universitätsleben datierbaren Tropen identifizieren zu können, doch entwertet dies literarische Texte nicht als Quelle, da Tropen typischerweise adaptiert und für verschiedene Kontexte ‚übersetzt‘ werden. Ihr spezifischer Gebrauch wirft oft Licht auf bestimmte historische Situationen. Die Trope des ‚wandernden Scholaren‘ wird im Verlaufe des Untersuchungszeitraumes sehr unterschiedlich gebraucht: Die frühe goliardische Dichtung ist noch stark an Horaz angelehnt und kaum auf das zeitgenössische intellektuelle Leben bezogen. Die konkreteren Verweise auf Studierende auf dem Weg von und nach Paris im 13. und 14. Jh. verraten dagegen oft ein Bewusstsein des intellektuellen Vorranges von Paris, spielen jedoch gleichzeitig noch auf die klassische Trope an und stellen Studenten als Teil einer teils lasterhaften Gegenwelt dar. Im späteren Mittelalter wird das Wandern von Schule zu Schule oft mit humanistischer Kritik an sinnloser Wissensanhäufung verknüpft.
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Die zweite Herausforderung besteht darin, die Arten und Weisen der Aufführung und Performanz der unterschiedlichen literarischen Darstellungen im Blick zu behalten. Das meiste wurde wohl mündlich vorgetragen, doch nutzen viele Darstellungen auch ganz bewusst die Spannung zwischen geschriebener und mündlicher Form (was etwa zum Reiz des extravaganten Gebrauchs von Slang bei Villon beitragen dürfte, s. die Ballades en Jargon, Villon 1991, S. 323–353). Kurzerzählungen dürften oftmals unterhaltenden Aufführungen und eher seltener in studentischen Umgebungen entstanden sein. Von der Forschung wird tatsächlich hauptsächlich diskutiert, ob höfischen oder städtischen Kontexten größere Bedeutung zukommt (Nykrog 1957). Dies führt die Bedeutung möglicher Adressaten vor Augen: Wenn Erzählungen nicht innerhalb der Universität aufgeführt wurden, sondern für ein breiteres Publikum bestimmt waren, machen sie v. a. Aussagen über zeitgenössische Wahrnehmungen von Studenten und universitärem Leben – nicht zuletzt über Ängste, die man bezüglich des Zusammenlebens von Studenten und anderen Gruppen hatte. Doch spielen hier auch Fragen der Verfasserschaft eine Rolle – wo Studenten als Verfasser nachgewiesen werden können, gibt die Präsentation der intellektuellen Überlegenheit von Gelehrten eine komplementäre Einsicht in die Interaktion gelehrter und laikaler Gruppen. Das Theater stellt dagegen offensichtlich einen spektakuläreren Typ der Aufführung dar und fand oftmals im Universitätskontext statt. Auch dies ist für die Analyse von Tropen zum studentischen Leben von Bedeutung, da sowohl Gelegenheit zur narzisstischen Darstellung wie zu Witzen über das Universitätsleben für ‚Eingeweihte‘ bestand. Viele Dramen und sicherlich auch viel Dialogliteratur scheinen jedoch in einem gemischten Kontext aufgeführt worden zu sein, in dem Studenten mit dem Adel der Fürstenhöfe und Stadtbürgern zusammentrafen. In solchen Fällen ist mit einer komplexen Verschränkung von Selbstwahrnehmungen, in Außensicht gängigen Stereotypen und Selbstpräsentation zu rechnen. Um literarische Darstellungen als Quelle zu nutzen, müssen moderne Wissenschaftler daher um die Art und Weise der lesenden oder audiovisuellen Rezeption wissen, die wiederum stark mit Annahmen über das gemeinsame Vorwissen der Adressaten verknüpft ist. Wo Literatur zu politischen Themen Stellung bezog, sollten Historiker versuchen, die dem Publikum bewussten politischen Hintergründe zu identifizieren. Ein reflexives Verständnis der zeitgenössischen Rezeption erweist sich somit als essentiell (Jauss 1982). Als dritte Herausforderung stellt es sich dar, die Rolle der Satire angemessen zu würdigen. Nur sehr wenige literarische Darstellungen studentischen Lebens sind vollständig ernst gemeint. Doch ist die Analyse von Humor eine komplizierte Angelegenheit für die Forschung. Es ist grundsätzlich nötig, zwischen Satire, Parodie und Farce zu unterscheiden. Die frühe goliardische Dichtung parodiert beispielsweise die den Studierenden vertrauten liturgischen Formen, um ein Ethos des carpe diem zu propagieren. Die thematisch ähnlichen, aber späteren Dichtungen Rutebeufs verwenden dieselben Motive in satirischer Weise, um deutliche politische Kritiken zu formulieren. Beispiele satirischer und parodistischer Literatur zu identifizieren, ist also zur Einstufung von Texten schon auf einer rein inhaltlichen Ebene nötig und hilft, Überinterpretationen ironisch gemeinter Äußerungen zu vermeiden. Diese sa-
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gen auch etwas über den Gebrauch von Literatur in ihrem zeitgenössischen Kontext aus: Literarische Texte waren nicht nur als abbildende Darstellungen gemeint, sondern übten selbst historische Wirkung aus. Wir können ihre intendierten Wirkungen allerdings nur entschlüsseln, wenn wir die Funktionsweisen des benutzten Humors einordnen. Im Falle des Narrenschiffs von Sebastian Brant müssen Historiker zunächst die benutzten Tropen identifizieren, um dann deren spezifische Abwandlung und schließlich Art und Stoßrichtung des Humors einordnen zu können – der hier aus humanistischer Kritik entspringt, welche ein zirkulär begründetes Wissensstreben rein um des Wissens willen denunziert, da es nur Wissen, aber keine Weisheit hervorbringt. In Pantagruels paroles dégêlées (Rabelais 1994, Buch 4, Kap. 15 und 16) wird daraus schließlich eine amüsante Dekonstruktion der Sprache selbst. Die letzte hier zu diskutierende Herausforderung betrifft die Verfasserschaft solcher Literatur und deren Implikationen für die Untersuchung studentischen Verhaltens. Wie bereits festgehalten, wurden viele literarische Darstellungen der Studenten nicht von Studenten verfasst, sondern sagen mehr über die Wahrnehmung dieser Gruppe außerhalb der Universität aus. Einige wurden von Autoren verfasst, die über ihre lange zurückliegende Studienzeit schrieben. Die in solchen Texten evozierten Vorstellungen vom studentischen Leben mögen also teilweise auf der Beobachtung studentischen Verhaltens beruhen – aber es ist auch zu fragen, wie die Texte selbst Studierende beeinflussten. Anders formuliert, sollten literarische Artefakte auch auf Wirkungen befragt werden, die sie bei Studenten auslösten, nicht zuletzt durch die Bekräftigung von Stereotypen. Einige Texte thematisieren den Bezug zwischen Stereotyp und Wirklichkeit sogar ganz direkt. So spielt beispielsweise Die Treue Magd aus dem späten 14. Jh. mit den Klischees, die die Protagonisten wechselseitig pflegen (Schmid 1974, S. 720–729): Der Bauer dieser Erzählung hält Studenten für gelehrt, keusch und verweiblicht, während der Student eifrig bemüht ist, ihm das Gegenteil zu beweisen. Wenn Studenten andererseits selbst über die universitäre Lebensweise schrieben, versuchten sie teils ein Ideal studentischen Lebens für ihre Umgebung zu formulieren, das ihrem Geschmack besser entsprach (Kirwan 2013, S. 8 f.). Wir sollten also die üblichen methodologischen Warnungen über Tropen und literarische Konventionen beherzigen, uns darüber hinaus jedoch auch von dem Gedanken verabschieden, dass literarische Darstellungen nur abbilden. Wenn literarische Texte nicht nur als Quelle, sondern als historisch wirksame Aktanten verstanden werden, können wir uns der Erfahrungswelt der Studenten sehr viel nuancierter annähern.
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Universitätsgeschichtsschreibung Frank Rexroth
Begriffserklärung Im engeren Sinn ist unter Universitätsgeschichtsschreibung die an den Universitäten und ihren Vorläufern des 12. Jh.s geübte Praxis zu verstehen, kleinere, meist unselbständig überlieferte historiographische Texte über die eigene Vergangenheit zu verfassen. Eine selbständige historiographische Gattung analog zu monastischer, städtischer, Reichs- oder Papsthistoriographie ist damit nicht gemeint. Diese Texte präsentierten Handlungssequenzen, die narrativ zwischen vergangenen (meist fundierenden Anfangs-)Situationen und der jeweiligen Gegenwart vermittelten und damit einen Beitrag zur sinnhaften Ordnung der akademischen Lebenswelt leisteten. Im weiteren Sinn können auch solche Chroniken, Annalenwerke und Historien als Universitätsgeschichtsschreibung gelten, die zwar nicht an den Hochschulen entstanden sind, die die Schilderung universitärer Ereignisse aber zu einem ihrer bevorzugten Gegenstände wählen. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Charakteristisch ist der spezifisch historiographische Wahrheitsanspruch von Universitätsgeschichtsschreibung: Der Zweck dieser Texte war, vergangene Ereignisse und Handlungen zumeist aus den Anfängen der jeweiligen Hochschule durch ihre Kombination zu Erzählungen zu plausibilisieren und so als Handlungsanleitung für die Gegenwart nutzbar zu machen. Hierin unterscheiden sie sich von den genuin juristisch-normativen Universitätsprivilegien (Privilegien) oder den administrativ motivierten Protokollen der Senate, Fakultäten etc. Nahe stehen sie zugleich den oratorischen Formen des Städtelobs und den descriptiones urbium, die ebenfalls oft das Lob einer örtlichen alma mater mit einschlossen. Da für die Auswertung dieser Texte dieselben methodischen Erfordernisse gegeben sind wie für historiographische Werke im Allgemeinen, werden sie in diesem Abschnitt in ihrer Spezifizität vorgestellt, daran anschließend aber im Kontext vormoderner Historiographie erörtert. Seit es Universitäten gab, ließen Chronisten in ihre Arbeiten auch Bemerkungen über sie und ihre Angehörigen einfließen. „The glory and gossip of the schools“ (Southern, Bd. 1 1995, S. 195) waren schon bei Robert von Torigni (Howlett 1882) und Ge-
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rald von Wales (Giraldus bzw. Gerardus Cambrensis, Bd. 1 1861) bevorzugte Themen. Von den frühen Pariser Schulen berichteten Otto von Freising im ersten Buch seiner Gesta Friderici (Otto von Freising und Rahewin 1912), Johannes von Salisbury in seiner Papstchronik (Johannes von Salisbury 2002, noch ausführlicher in den autobiographischen Passagen des Metalogicon, Johannes von Salisbury 1991) sowie Wilhelm von Tyrus (Guillaume de Tyr 1986) in einem erst spät entdeckten Zusatz zu seiner Chronik (Huygens 1962). Bei diesem chronikalischen Interesse bleibt es auch weiterhin. Die sogenannte Koelhoff’sche Chronik (Cronica 1876/77 Teil 1, S. 289) wog die Stärken der Hochschulen von Paris, Köln, Bologna, Pavia und Krakau gegeneinander ab: Wo studierte man was am besten? Von der feierlichen Einholung der Rostocker Universitätsprivilegien vom November 1419 berichtete Albert Krantz (Krantz 1580, lib. XI, cap. 3). Immer noch abseits der universitären Überlieferung, doch bereits stärker auf die Hochschulen als ihren Hauptgegenstand bezogen, entstanden längere und kohärentere Texte, die als Fortführungen existierender Chroniken konzipiert waren. In die letzte Überarbeitung seiner Universalchronik nahm ein englischer Benediktiner (Ranulph Higden 1865–1886) um 1352 einen ausführlichen Bericht von der vermeintlichen Gründung der Oxforder Universität durch König Alfred den Großen auf, dies wohl, um dem gegenwärtigen König einen Spiegel vorzuhalten. Ein Bericht von den mythischen Anfängen der Universität wurde in der ersten Hälfte des 15. Jh.s in Cambridge verfasst, doch so ausgestaltet, dass er seinen Lesern wie eine Ergänzung der Historia regum Britanniae aus der Feder Galfrids von Monmouth erscheinen musste. Die Zeitgenossen sahen in dem Text ein eigenständiges Geschichtswerk (cronica), nahmen an, dass er aus entlegenen Klosterbibliotheken kompiliert war und fügten ihn als Anhang zu einzelnen Exemplaren der Higden’schen Universalchronik hinzu (Rexroth 1998). Dieser Cambridger Gründungsmythos scheint an der Universität entstanden und zunächst dort überliefert worden zu sein (John Caius 1568, S. 14: ex nigro codice universitatis). Noch deutlicher kann man für einen weiteren Entstehungsmythos universitäre Herkunft nachweisen: Als in Oxford um 1313 ein Handbuch für den Gebrauch durch den örtlichen Kanzler angefertigt wurde, gab man einem Kalendar, verschiedenen Eidformularen und einem Kruzifix auch eine historiola bei, die die trojanische Abkunft der Oxforder Hochschule behauptete – auch dies in Anlehnung an die Mythologie der Historia regum Britanniae (Rexroth 1998). Selbst wenn es sich bei beiden Texten um Mythologien und nicht um Geschichtsschreibung in unserem heutigen Sinne handelt: Charakteristisch ist, dass hier narrative Texte über die Anfänge der jeweiligen Universität als Ergänzung von Verwaltungsschrifttum (Akten) entstanden und mit diesem tradiert und popularisiert wurden. Genauso verhält es sich bei den frühen nicht-mythischen Texten: Als um 1402 in Heidelberg ein Amtsbuch für künftige Rektoren zusammengestellt wurde, fügte der Kompilator den Privilegien, Eidesformeln, Kalendaren, Abrechnungen (Finanz- und Vermögensverwaltung) und Promotionsnotizen auch einen Gründungsbericht des ersten Rektors Marsilius von Inghen hinzu. Dieser Text sollte wahrscheinlich eventuellen Verfassungskon-
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flikten vorbeugen, die wegen der gleichzeitigen Präsenz von Magistern ‚Pariser‘ und ‚Prager‘ Provenienz drohten (Miethke 1999, S. 146; vgl. Rexroth 1992, S. 211–213). In Köln wurden gleich zwei derartige Texte verfasst: Eine Erzählung der Universitätsgründung aus städtischer Perspektive wurde verschriftet, als sich die Kölner Universitätsprovisoren 1395 ein Amtsbuch schufen (Rexroth 1992, S. 334–336). Bei der Anlage der Matrikel ließ man an der Universität der Aufzählung der ersten Rektorate einen ausführlichen Bericht von der Universitätsgründung vorangehen, eingeleitet durch die Anrufung Gottes und eine Perpetuitätsklausel. Fortan wurden in die Matrikelhandschrift zahlreiche annalistische Passagen inseriert, von denen der Benutzer der modernen Matrikeledition (Keussen 1928) nichts erfährt (in dieser Hinsicht besser: die Transkription bei Schmitz 1878–1883). Ist damit Geschichtsschreibung in Verwaltungs- und Gebrauchstexte inseriert worden, so ist zugleich auch der umgekehrte Weg möglich: Eine detailgenaue Erzählung von der Basler Universitätseröffnung wurde zweimal in Urkundenform ausgefertigt, von zwei bischöflichen Notaren beglaubigt und dann dem städtischen Rat bzw. dem Ortsbischof übergeben (Vischer 1860, S. 282–289, zur Überlieferung S. 35). Sinn und Zweck dieser mittelalterlichen Universitätsgeschichtsschreibung im engeren Sinn war offenbar ein doppelter. Zum einen sollte damit das Wissen um die Vergangenheit der eigenen Hochschule bewahrt werden, weil von dieser gewisse Verpflichtungen für die Gegenwart ausgingen: Festhalten an der gewählten Verfassung, Memoria der Gründungsmagister und der fürstlichen bzw. städtischen Stifter, Kontakte zur päpstlichen Kurie. Zum zweiten integrierten die Erzählungen die wichtigsten urkundlichen Dokumente und die ersten Verwaltungsakte in soziale Zusammenhänge und steigerten damit deren Plausibilität – zum Verwaltungstext kam der soziale Kontext hinzu. Auch im 16. Jh. wurde der genealogisch-mythographische Blick auf die einzelnen Universitäten und ihre Ursprünge gepflegt, nun aber verstärkt durch die typisch antiquarische Vergangenheitskultur, die zum einen von der Suche nach Belegen für die ‚Wahrheit‘ der lokalen Entstehungserzählungen getragen war und die zum anderen die Universitäten nach systematischen Gesichtspunkten erschloss: Die Hochschulverfassung und die städtische Universitätstopographie dienten hierfür als leitende Kategorien. Bei den Humanisten waren das oratorische Städtelob (de Clapis 1499; Brassicanus 1516) bzw. die Stadtbeschreibung (Enea Silvio Piccolomini 1571) die am häufigsten verwendeten Präsentationsweisen der universitären Vergangenheit (Kleinschmidt 1999; zur Gattung Classen 1980). Über die Anfänge der Wittenberger Universität zu sprechen, war eine Sache für reformatorische Predigtzyklen, die gesamthaft das Leben und Wirken Luthers und seine Lehre vermitteln sollten (Mathesius 1567). Weiterhin finden sich in Stadt- und Landesgeschichten Passagen, die exkursartig die Anfänge oder die Amtsträger der örtlichen Universität behandeln. Ging es bei der Vorstellung der Städte um deren vetustas, um ihre Magistrate, Sehenswürdigkeiten sowie die Würde ihrer führenden Familien, so war in den entsprechenden Kapiteln über die örtliche Hochschule die Rede von deren Gründung, ihren Verfassungsorganen und den berühmtesten Professoren (Lazius 1546). Dabei bedienten sich die
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Verfasser aus den Gründungsprivilegien sowie den Matrikeln und zitierten diese flächig. Auch in der frühen Neuzeit gehen also Geschichtsschreibung und Dokumentation Hand in Hand, erstere bindet letztere in Narrative ein und steigert damit deren Plausibilität (Crusius 1596). Selbständige Darstellungen der Universitätsgeschichte (Middendorp 1567) kommen in derselben Ära auf, auch sie sind häufig antiquarisch motiviert, wie man der Monographie des Arztes John Caius über die Herkunft der Oxforder Universität (1568) anmerkt: Die Vergangenheitskultur der Antiquare dient zur Erörterung der lokalen Herkunftsmythologien (weitere Angaben zu Monographien des 16. Jh.s bei Erman/Horn, Bd. 1 1904, S. 89 f.). Rektoren- und Professorenlisten gaben Anlass zur Ergänzung annalistischer Bemerkungen und von Inskribentenzahlen (zu Wien Eder 1559, mit Blanketten für handschriftliche Nachträge für die Jahre 1559–1577; zu Ingolstadt Rotmar 1580). Am Beispiel Jenas ist die Rolle der städtischen Chronistik, der Hofhistoriographie, der antiquarischen Städtebeschreibung und der laudes urbium für die Erinnerungskultur der örtlichen Universität gut nachgewiesen worden. Dabei wurde deutlich, dass diese Textsorten erst an der Mitte des 17. Jh.s zu Trägern der kollektiven Erinnerung wurden. Zuvor scheint sich die Erinnerung an andere Medien angelehnt zu haben: an die örtliche Bibliothek, an die in Jena betriebene Lutherausgabe, an die zahlreichen epigraphischen, heraldischen und bildlichen Zeugnisse des Totengedenkens sowie die frühen Professorenporträts (Bauer 2012). Auch die barocke Historia Universitatis Parisiensis (1665–1673) des örtlichen Professors du Boulay steht dem Ideal antiquarisch-kompilatorischer Werke näher als dem historischen Wahrheitsanspruch späterer Zeiten. Mit der ersten umfassend synthetisierenden Universitätengeschichte des Göttingers Christoph Meiners (1802–1805) ist der Anspruch verbundenen, eine universitätshistorische Synthese als Geschichte einer profanen Organisationsform vorzulegen. Der kritische Anspruch der modernen historischen Wissenschaften wird erstmals deutlich in den universitätsgeschichtlichen Passagen von Friedrich Karl von Savignys Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter (1834–1851). 2. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Im weitaus überwiegenden Teil chronikalischer Aufzeichnungen, die universitätsgeschichtlich relevant sind, werden die scholae, Universitäten und ihre Mitglieder eher gelegentlich erwähnt. Dieser Umstand verführt zu einem steinbruchartigen Umgang mit den Texten. Stattdessen ist die Beachtung von Gattungsspezifika unverzichtbar; Berichte über Gelehrte und Hochschulen müssen aus dem Kontext der häufig komplexen Gesamtwerke heraus verstanden werden. Die universitätshistorischen Einträge stehen oft in einem lockeren Verhältnis zu den narrativen Elementen, die den jeweiligen Chronisten am wichtigsten erscheinen. Robert von Torigni, seit 1154 Abt des Klosters vom Mont-St-Michel, nimmt sich die Chronik seines Konvents vor, radiert Einträge aus, die er für unwichtig hält, und schafft damit Platz auf dem Pergament, den er anschließend für Notizen über ausgewählte
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Gelehrte nutzt (Howlett 1882). Er berichtet vom legendären Irnerius, vom Tod Hugos von St. Viktor sowie von dem Legisten Vacarius und dem Kanonisten Gratian, und er vermerkt die Übersetzungen aristotelischer Werke, die Jakob von Venedig unmittelbar aus dem Griechischen anfertigte. Der Palimpsest-Charakter von Roberts Nachträgen kann nur erkannt werden, wo entsprechende Texte original überliefert sind oder wo Historiker bereits scharfsinnige textkritische Arbeit geleistet haben. Dass der noch später als Robert schreibende Prämonstratenser Burchard von Ursberg (Holder-Egger 1916, S. 15 f.) gut über Irnerius informiert zu sein schien, gab zahllosen Erforschern der Legistik Anlass zu subtiler Vorlagenkritik (Fried 2001). Erschwert wird der Umgang mit Werken dort, wo diese noch vor der Etablierung entsprechender textkritischer Standards zum Druck gebracht wurden oder wo sie Eingang in schnell publizierte, den kritischen Apparat vernachlässigende Reihen gefunden haben. Ist die Herrschafts- und Reichsgeschichte der Hauptgegenstand von Chroniken, dann dienen Gelehrte und Universitäten dem Nachweis, dass sich ein rex iustus um die Belange seines Reichs kümmerte. Selbst so angesehene Universitäten wie die von Paris, so erfährt man etwa bei Guillelmus Brito, dem Chronisten des französischen Königs Philipp II. August (Rigord/Guillaume le Breton, Bd. 1, 1882, S. 230 f.), bringen Häretiker hervor, die von der Obrigkeit bekämpft werden müssen (Zensur). Seinen Bericht über den historischen Sieg des Königs bei Bouvines 1214 bereichert er durch die Schilderung der Siegesfeier, bei der zu Paris die universa scolarium multitudo die Nacht zum Tage machte (Rigord/Guillaume le Breton, Bd. 1, 1882, S. 297). Zu beachten sind daher nach den Regeln der Quellenkritik die Schreibabsicht und der mentale Horizont der Chronisten. Waren diese in der Lage, die Hochschulen von innen heraus zu beschreiben? Kompilierten sie aus Vorlagen Material, das sie zur Geschichte einer Universität zusammentrugen? Solches tat um 1420 ein Anonymus, der aus mehreren Vorlagen ein Chronicon universitatis Pragensis (Emler 1893) kompilierte. Besitzt die Prager Universität in diesem Werk eigenes Gewicht in einem landesgeschichtlichen Kontext, so fungieren entsprechende Erwähnungen in anderen historiographischen Arbeiten eher als Würze einer unterhaltsamen Erzählung: Eine österreichische Reimchronik (Seemüller 1909, S. 79, Nr. 188) erzählt von Karl dem Großen, dass er auf einen Happen zwei Hennen, eine Gans und einen Hasen verzehren konnte und dass er die Schule von Paris gründete. Chronikalische Erwähnungen von Gelehrten und Universitäten müssen folglich in doppelter Perspektive betrachtet werden: im Hinblick auf die Repräsentation außertextueller Wirklichkeit im Text und im Hinblick auf den immanenten Stellenwert, den die Erwähnung von Gelehrten und Hochschulen in der Narration der Chronik selbst einnimmt. So ist zum einen (wie gerade am Beispiel der Irnerius-Belege angedeutet) Ausschau nach der Parallelüberlieferung zum Geschilderten in anderen Werken zu halten. Die Zuverlässigkeit von Rogers von Wendover Bericht über den Oxforder Scholarenexodus von 1209 kann nur nach einem kritischen Vergleich mit den Einträgen in den Chroniken von Lanercost und Melrose sowie der übrigen Parallelüberlieferung beurteilt werden (Nachweise bei Rashdall/Powicke/Emden, Bd. 3 1936, S. 34). Die zweite Perspektive beleuchtet die narrative Logik des historiographischen
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Werks: Welche Bedeutung kommt dem Bericht über Gelehrte und Gelehrtengenossenschaften für die Plotstruktur der Chronik im Ganzen zu? Wie kann man beispielsweise erklären, dass Tileman Elhen von Wolfhagen in seiner Limburger Chronik den etwa 20 Jahre zuvor verstorbenen Pariser Magister Johannes Buridan wie einen Superstar seiner Zeit einführt (Tileman Elhen von Wolfhagen 1883, S. 58)? Der Chronist hat durchaus Interesse für die Universitätsgründungen in seiner Umgebung, doch die Nennung Buridans findet ihre deutlichere textimmanente Entsprechung in den Gelehrtheitssignalen, die dieser volkssprachige Geschichtsschreiber permanent aussandte; Bezüge auf Aristoteles und die Digesten treten bei ihm neben die wenigen ausgewählten Bücher der Bibel, die er zitiert. Bildung ist für Tilemann Spruchweisheit, dicta sind kondensierte Lebenserfahrung aus dem Mund von Weisen. Der Gestus, mit dem er über Buridan spricht, findet überdies eine Entsprechung in Tilemans Technik, zeitgenössische Modephänomene anzuführen, etwa die Novitäten der Bekleidung und die Lieder, die gerade im Reich gesungen werden. Buridan ist für ihn daher zugleich ein Weiser, der Quaestionen zur aristotelischen Ethik (Kommentar) verfasste (ein Werk, das er zu kennen vorgibt), und ein zeitgenössisches Gelehrtheitsereignis, von dem in den Duschen lande[n] um 1370 offenbar häufig die Rede war. Gehört die erstere, paradigmatische Sichtweise schon lange zum Standard qualitätsvoller Arbeit an Quellen, so bleibt die zweite, syntagmatische, noch häufig vernachlässigt. Abhilfe verspricht derzeit die stärkere Hinwendung von Historikerinnen und Historikern zur narrativen Struktur vormoderner Geschichtsschreibung. Die literaturwissenschaftliche Narratologie ist gegenwärtig im Begriff, ihre Selbstbegrenzung auf fiktionale Texte (Martinez/Scheffel 2002; Fludernik 2010) aufzugeben und in eine kulturwissenschaftliche Perspektive zu integrieren. Hieraus ergeben sich auch für die Erforschung der vormodernen Gelehrtenkultur vielversprechende Ansatzpunkte (Koschorke 2012). 4. Bibliographie 4.1 Quellen du Boulay, César Égasse (1665–1673), Historia Universitatis Parisiensis, 6 Bde., Paris. Brassicanus, Johannes (1516), Panegyricus, epistola qua gymnasium Tubingense extollitur et commendatur, in: Brassicanus, Johannes, Institutiones grammaticae elimatissimae, Tübingen: Anshelm (VD 16 B 7129). Burchard von Ursberg (1916), Chronik, hrsg. v. Oswald Holder-Egger (MGH SS rer. Germ., 16), 2. Aufl., Hannover. Caius, John (1568), De antiquitate Cantabrigiensis academiae libri duo, London. de Clapis, Peter Anton (1499), Oratio in genere demonstrativo in laudem civitatis universitatisque Heydelbergensis inclytissimique et serenissimi principis comitis Rheni palatini et Bavarie ducis, Mainz: Friedberg (GW 7057). Cronica van der hilliger stat von Coellen, in: Hermann Cardauns (1876/77) (Hrsg.), Die Chroniken der niederrheinischen Städte, Bd. 2 u. Bd. 3 (Chroniken der deutschen Städte, 13/14), Leipzig, Bd. 13, S. 209–638, und Bd. 14, S. 641–918.
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Universitätspredigten Sita Steckel
Begriffserklärung Als Universitätspredigten werden hier Predigten bezeichnet, die im Rahmen üblicher oder außergewöhnlicher universitärer Anlässe oder als universitäre Pflichtpredigten gehalten wurden. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Das Predigen als zentrale Praxis der religiösen Wissensvermittlung lässt sich als belehrendes und ermahnendes Sprechen eines Predigers über Glauben und Moral definieren, das auf einen Autoritätentext verweist, im Christentum zumeist auf die Bibel (Kienzle 2000, S. 150–159). Die Predigt wird im mittelalterlichen Christentum seit der Frühzeit geübt (wie bereits im Judentum; später im Islam). Prinzipiell ist zwischen der mündlichen Predigt und ihren möglichen Niederschlägen in der Überlieferung zu unterscheiden. Predigten aus dem Umfeld europäischer Universitäten sind wesentlich in schriftlichen, oft recht bruchstückhaften Zeugnissen greifbar (s. u.), möglicherweise auch in Bilddarstellungen (vgl. zur Darstellung von Predigern allgemein Martin 1988, S. 554–601; Rusconi 2002). Darüber sollte jedoch nicht der mündliche und Performanzcharakter mittelalterlicher Predigtpraxis vergessen werden (Kienzle 2002; Thompson 2002; Berardini 2010). Die Predigtpraxis des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Christentums ist in dreierlei Weise eng mit der Institution der Universität verknüpft: Erstens bestanden starke Berührungspunkte zwischen den Initiativen zur Intensivierung und Reform der Seelsorge, die im Laufe des 12. und frühen 13. Jh.s einerseits von den nordfranzösischen Schulen, andererseits von Reformorden und Papsttum ausgingen (Zier 2000; Beriou 2000a, S. 15–17; Oberste 2003; Young 2014). Die mit dem Vierten Laterankonzil 1215 dem Klerus nachdrücklich gestellte Aufgabe, die Seelsorge zu intensivieren, sollte explizit zu einer Verbesserung der pastoralen Ausbildung führen – also nicht zuletzt der Predigtausbildung. Eine intensive Beschäftigung mit der Predigt in den Pariser Schulen und die Entwicklung eines neuen Predigttyps (sermo modernus) können genauso als Antworten auf diese Herausforderung betrachtet werden wie die Konsolidierung der ersten europäischen Universitäten insgesamt.
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Die Predigt wurde zweitens schon seit dem späten 12. Jh. als essentieller Teil der pastoralen und theologischen Tätigkeit und somit auch des gelehrten Lehrens und Lernens verstanden – der für die Pariser Frühzeit wesentliche Theologe Petrus Cantor bezeichnete etwa die Lektüre (lectio) und die Disputation (disputatio) als Fundament und Wände des ‚Gebäudes‘ der Bibelstudien, die Predigt (praedicatio) jedoch als dessen Dach, das den Gläubigen Schutz biete (zitiert in Roberts 2005, S. 87). Da die Fähigkeit zu guter Predigt somit als Ziel des Bibelstudiums und der Ausbildung in der höchsten, nämlich der theologischen Fakultät galt, erhielt die praktische Ausübung der Predigt im universitären Kontext ebenfalls erhöhte symbolische Bedeutung als Selbstrepräsentation. In öffentlichen Predigten stellten besonders die Mitglieder der theologischen Fakultät (aber teils auch der anderen Fakultäten) performativ die erfolgreiche Umsetzung ihres Wissensstoffes vor Augen. Angesichts dieses Kontexts dürfte ein hoher Druck bestanden haben, qualitätvolle und nicht zuletzt originelle Predigten zu halten (Wei 2012, S. 234). Drittens müssen die europäischen Universitäten auch als große Zentren der Massenproduktion von Predigthandbüchern und -anleitungen (artes praedicandi) sowie von Musterpredigt- und Exempelsammlungen gelten – gemeinsam mit den Konventen der auf die Predigt spezialisierten Bettelorden, die mit den Universitäten teils institutionell verknüpft waren. Obwohl in der Forschung wiederholt bemerkt wurde, dass das Predigen keine offizielle, an der Universität gelehrte Wissensdisziplin war (z. B. Roberts 2005, S. 83; Wenzel 1995a, S. 305), ist doch ein Großteil der einschlägigen Buchproduktion mit verschiedenen Universitäten in Verbindung zu bringen. Das zu Beginn der Neuzeit riesige Reservoir an Materialien und Handreichungen für Prediger, das im Folgenden nicht weiter einbezogen wird, erscheint also in weiten Teilen durchaus als Resultat universitärer Wissensproduktion (Bériou 2000a; D’Avray 1985; Theologische Lehrwerke). Im Verlauf des späten 12. sowie des 13. Jh.s kristallisierten sich insbesondere in Paris, Oxford und Cambridge zwei Funktionen des Predigens im universitären Kontext heraus, die für die weitere Entwicklung maßgeblich wurden. Für das studentische Publikum und insbesondere für die Angehörigen der Artes-Fakultät waren die Universitätspredigten letztlich Seelsorge und Belehrung. Für die predigenden Magister und Bakkalare war die vor dem universitären Publikum gehaltene Predigt jedoch gleichzeitig Bestandteil der theologischen Ausbildung, auf den die vorausgehenden Lernprozesse der Aneignung der Bibel und der Sentenzen sowie deren Durchdringung durch Disputationen hinzielten. Universitäre Predigten wurden daher Teil der besonders für Bakkalare der theologischen Fakultät zu erbringenden Studienleistungen. Infolge dieser Verankerung wuchs ihnen dort, wie teils in den anderen Fakultäten, eine wichtige Funktion in der universitären Ritual- und Festkultur zu, insbesondere im Rahmen von inceptiones. Die von Bakkalaren als verpflichtende Lehrleistung gehaltenen Predigten werden mitunter als sermones examinatorii bezeichnet (Roberts 2005, S. 84). Über diese Funktionen von Universitätspredigten geben nicht zuletzt statutarische Regelungen (Statuten) Auskunft (Bériou 2000a, S. 109–122; Roberts 1998;
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Hamesse 1995, S. 52–64). Die Regelung universitärer Predigten war an den verschiedenen europäischen Universitäten unterschiedlich, meist aber eng mit der Einrichtung theologischer Fakultäten verknüpft, für die häufig auf das Modell der Pariser Universität zurückgegriffen wurde. Obwohl die frühesten statutarischen Regelungen aus Oxford erhalten sind (1253), hatte die Universität Paris schon im Laufe des 12. und 13. Jh.s bestimmte Routinen feiertäglicher und prüfungsbezogener Predigtpraxis entwickelt. Statutarische Regelungen sind dann aus dem 14. Jh. überliefert (zu Paris vgl. Denifle, Bd. 2 1891, Nr. 1188, S. 692; Nr. 1189, S. 700; zu Oxford/Cambridge vgl. Roberts 2005, S. 84–87; Wenzel 1995a). Dem Pariser Modell folgten Bologna, Toulouse, Prag, Heidelberg, Wien und Köln; die Bologneser Regelungen wurden ferner von Padua, Perugia, Florenz, Parma, Salamanca und Coimbra übernommen (vgl. Verger 1997). Für alle Universitätsmitglieder war laut diesen Regelungen der Besuch sonntäglicher Predigten und etlicher Feiertagspredigten verpflichtend, die von den Magistern der Theologie reihum gehalten wurden (sermones coram universitate oder magistrales in Paris, sermones publici oder generales in Oxford und Cambridge). In Paris trat zur morgendlichen sonntäglichen schon vor der Mitte des 13. Jh.s eine weitere abendliche Predigt, die collatio genannt wurde (Weijers 1987, S. 376–381). Ab den 1260er-Jahren hatte sie das Thema der morgendlichen Predigt fortzusetzen, wurde aber ab dem 14. Jh. nicht mehr von einem Magister, sondern von einem Bakkalaren der Theologie gehalten. Die Universitätspredigten sollten prinzipiell auch während der vorlesungsfreien Zeit (in Paris von Peter und Paul am 29. Juni bis zur Kreuzerhöhung am 14. September) gehalten werden. Neben den Hochfesten und Heiligenfesten, insbesondere Marien-, Apostel- und Evangelistenfesten, kamen Sonderpredigten beim Tod von Universitätsmagistern oder Bakkalaren hinzu, so dass in Paris schon im 13. Jh. über hundert jährliche Feiertage zu begehen waren (Bériou 2000a, S. 109–111). Eine besondere Rolle für die Entwicklung des gesamten Predigtwesens und somit auch der Universitätspredigten spielen die Bettelorden, insbesondere die Dominikaner und Franziskaner, die sich in der (freilich schon im 12. Jh. einsetzenden) Professionalisierung des Predigtwesens engagierten. Für Paris, aber auch für viele italienische Universitäten, denen Bettelordensstudia anstelle regulärer theologischer Fakultäten angegliedert waren, lässt sich daher ein wachsendes Gewicht mendikantischer Kirchen und Prediger feststellen. In Paris wurden schon während der zweiten Hälfte des 13. Jh.s die Kirchen der Dominikaner (Sonntage) und Franziskaner (Feiertage) die üblichen Orte von Universitätspredigten. Da das Universitätspersonal oft nicht ausreichte, um den Predigtbedarf abzudecken, übernahmen auch einfache Mitglieder der Mendikantenkonvente zusätzliche Predigten im Verlauf des Kirchenjahres (Bériou 2000a, S. 289–293; Hamesse 1995, S. 54). Während an einigen Universitäten bestimmte Kirchen so die Funktion von ‚Universitätskirchen‘ übernahmen, lässt sich für andere Universitätsstädte feststellen, dass man die reguläre Predigttätigkeit der Universität gezielt in eine verbesserte Seelsorge für die Laiengemeinden der Städte umzusetzen suchte (s. u.). Mit der Reformation konnte der Universitätspredigt eine gesteigerte Rolle für das Selbstverständnis neugläubiger Universitäten zuwachsen.
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Eine besondere Bedeutung für die Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte besitzen universitäre Pflichtpredigten, die im Rahmen von feierlichen inceptiones gehalten wurden. Auch zu ihnen geben uns erst späte Statuten Auskunft, obwohl sie sich bereits im Laufe des 13. Jh.s formalisiert haben dürften. Vorbildlich wirkte wiederum die Pariser Theologische Fakultät (s. Denifle, Bd. 2 1891, Nr. 1188, S. 692; Nr. 1189, S. 700; Spatz 1992; Spatz 1994; Spatz 1998): Im Rahmen der Ernennungsfeierlichkeiten eines neuen Magisters der Theologie wurde dort über zwei Tage hinweg eine ritualisierte Disputation vorgenommen (vesperies, inceptio/aula/aulica am folgenden Tag, resumptio am Abend dieses oder des nächsten Tages). Schon innerhalb der vesperies wurde vom vorsitzenden Magister eine laudatio des neu zu ernennenden Kandidaten in Form einer Predigt oder Ansprache gehalten. Doch wurde der Amtsantritt des neuen Magisters am nächsten Tag symbolisch nicht zuletzt dadurch markiert, dass er zu Beginn des Hauptteils der aulica eine Predigt über die Bedeutung der Heiligen Schrift hielt. Damit stellte er seine Fähigkeit zur Predigt unter Beweis und begann sein Amt als Magister actu regens demonstrativ mit dieser zentralen Tätigkeit. Da die Wahl des thematischen Bibelverses (s. u.) und die Ausführung der Predigt freigestellt waren, konnte der neue Magister in dieser ‚Antrittspredigt‘ zudem seine persönliche Auffassung von seiner Stellung als Lehrer der Heiligen Schrift oder sein Verständnis der Theologie explizieren. Spätere Antrittsvorlesungen entwickelten sich aus dieser Praxis. Eine ähnliche symbolische Bedeutung und explikative Rolle konnten die principia (auch introitus) besitzen, also Predigten oder Ansprachen, die zu Beginn der Vorlesungen über die Autoritätentexte der verschiedenen Fakultäten gehalten wurden und verpflichtend geleistet werden mussten. In der theologischen Fakultät, in der diese Praxis vermutlich entstanden ist, wurden von den Bakkalaren jeweils in der ersten Sitzung ihrer Vorlesungen über Bibel oder Sentenzen einleitende Ansprachen (principia) über das Buch der Bibel bzw. die einzelnen Bücher der Sentenzen des Petrus Lombardus gehalten. Derartige Auftakt-Predigten wurden im Falle der Verschriftlichung der Vorlesung als Kommentar o. Ä., teils als Paratext mit Prologfunktion, vorangestellt; sie können knapp bleiben und Züge eines accessus ad auctores aufweisen oder ähnlich wie die inceptio-Predigten die Bedeutung der Heiligen Schrift oder der kommentierten Autorität herausstellen. Principia als ritueller Beginn und textuelle Einleitung wurden jedoch auch in den anderen Fakultäten gehalten. So konnte das principium der Kanonisten das Decretum Gratiani preisen, während Legisten und Artisten Ansprachen über das römische Recht oder die iurisprudentia allgemein oder z. B. die Grammatik hielten (z. B. Logan 1995). In diesen Bereichen scheinen jedoch Übergänge zu Reden ohne Predigtform fließend.
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2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Was die Beschaffenheit von Universitätspredigten betrifft, sind die inhaltliche und formale Gestaltung der mündlich gehaltenen Predigten von der schriftlichen Überlieferung der Universitätspredigten zu unterscheiden. Die performative Situation der Predigt (vgl. Kienzle 2002; Berardini 2010) war im Mittelalter prinzipiell von einer klaren Rollenzuweisung zwischen Prediger und Publikum bestimmt, die zumeist durch einen erhöhten Platz des Predigers gekennzeichnet war. Das Publikum war zum aufmerksamen Zuhören aufgefordert, da die Predigt als Teil der Verkündung des Evangeliums verstanden wurde und der Prediger idealerweise Sprachrohr göttlicher Wahrheit oder sogar direkter Inspiration durch den Heiligen Geist sein sollte. Die Zuhörer konnten jedoch auch Zwischenrufe oder Einwände äußern, die der Prediger beantwortete oder aufnahm. In Erwähnungen von Studenten bei der Predigt wird teils kritisch antizipiert, dass diese der Predigt mit Indifferenz begegnen oder gar fehlen könnten (vgl. Roberts 1998; Hamesse 1995). Die Prediger sprachen üblicherweise frei oder mit Hilfe von Notizen. Nach bisherigen Erkenntnissen wurden Universitätspredigten vor den Universitätsmitgliedern im 13. und 14. Jh. zunächst hauptsächlich auf Latein gehalten. Pflichtpredigten, die aus pastoralen Gründen von vornherein vor Laienpublikum gehalten wurden (s. u.), fanden dagegen in der Volkssprache statt. Schon im 13. und verstärkt im 15. Jh. sind jedoch auch Universitätspredigten in der Volkssprache und makaronische (sprachmischende) Predigten nachgewiesen. Im Paris des 13. Jh.s wurde teils auch volkssprachlich gepredigt, obwohl prinzipiell Latein vorgesehen war (Bataillon 1981, S. 986). Wie Wenzel gezeigt hat, wurden im Rahmen einer volkssprachlichen Predigt aus dem Cambridge des 15. Jh.s solche Passagen auf Latein gehalten, die sich kritisch auf den Klerus bezogen und die man zur Skandalvermeidung nicht allgemeinverständlich aussprechen wollte; ähnliches ist auch für außeruniversitäre Predigten bezeugt (Wenzel 1995b, S. 55 mit Anm. 17; Wenzel 1994, S. 121). Auch für andere Universitätsstädte ist bekannt, dass sich Universitätspredigten je nach Gelegenheit an akademisches oder Laienpublikum richten konnten und die Sprache entsprechend angepasst wurde (Schiewer 1998; Burger 2007). Inhaltlich und im Aufbau entspricht ein Großteil der erschließbaren Universitätspredigten zunächst dem Typ des sermo modernus (auch ‚moderne‘ oder ‚scholastische‘ Predigt), der eng mit der scholastisch-universitären Form der Bibelexegese verknüpft ist (Bériou 2000a; kurz Wenzel 2012). Im Gegensatz zur älteren Homilienform wurde der grundlegende Autoritätentext nicht Zeile für Zeile oder Wort für Wort kommentiert, sondern die gesamte Predigt leitete sich aus einer Textstelle ab, üblicherweise einer Bibelperikope, dem ‚Thema‘ oder ‚Theuma‘. Aus dem Thema wurde dann ein moralischer oder dogmatischer Begriff oder eine Idee ausgewählt und in verschiedene Bedeutungsebenen oder -bestandteile unterteilt, wie dies auch in der Analyse des Bibeltextes gängig war (distinctio, divisio). Die Predigt behandelte dann die unterschiedenen Teile (membra) nacheinander und leitete aus ihnen Verhaltens-
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anleitungen ab, wobei die Leitbegriffe häufig noch weiter untergliedert oder erweitert wurden. An jeder Stelle der Predigt konnte die Argumentation durch Hinzuziehung weiterer Autoritäten, etymologischer Klärungen, Exkurse oder Exempla erweitert, verdeutlicht oder ausgeschmückt werden (digressio). Eine Pariser Predigt des zweiten oder dritten Viertels des 13. Jh.s, die offenbar vor Artesstudenten gehalten wurde, wählt beispielsweise als Thema das Herrenwort „Ihr sagt zu mir Meister und Herr und ihr nennt mich mit Recht so; denn ich bin es“ (Joh 13,13; s. Morenzoni 2010). Einige andere erhaltene Predigten schließen an dieses Thema eine Diskussion der Schule Christi an, in der man eine vierfache Lektion der Geduld, Frömmigkeit, Milde und Demut lernen konnte. Die erwähnte Predigt stellt jedoch einleitend die verschiedenen Disziplinen Christi den sieben Artes liberales gegenüber. So gibt es eine grammatica Christi, eine dialectica Christi und so weiter. Diese einzelnen Artes werden dann als membra ausgeführt: Die Grammatik Christi lehre, recht zu schreiben und zu sprechen. Recht schreiben lerne man, indem man die Gebote Christi in sein Herz schreibe; wie man aber auf einem zu feuchten, zu dicken oder noch zu behaarten Pergament nicht gut schreiben könne, müsse auch das Herz von Wollust, Gier und Geiz befreit werden, die jeweils mit weiteren Bibelzitaten mit den Eigenschaften der Feuchte, der Dicke und der Haarigkeit in Verbindung gebracht werden. In ihrem weiteren Verlauf polemisiert die Predigt dann gegen das Studium der ‚lukrativen‘ Fächer der Medizin sowie der Rechte und unterstreicht die Bedeutung der Theologie als heilsversprechender Wissenschaft. Gerahmt wurde die Predigt zumeist durch eine Vorrede oder Hinleitung (prothema, prologus), die man aus einer zweiten Bibelstelle, dem ‚Prothema‘, gewinnen konnte. Diese Vorrede behandelte häufig die Situation, die Rolle des Predigers oder des Publikums und endete typischerweise zur Gewährleistung des Gelingens der Predigt in einer Aufforderung zum gemeinsamen Gebet um göttliche Inspiration. Mit diesem gemeinsamen Gebet erhielt die Predigt einen ritualisierten religiösen Rahmen. Das Ende der Predigt konnte eine abschließende Zusammenfassung oder Rückführung auf das Thema enthalten. In der gerade erwähnten Predigt über die sieben Artes Christi wird mit einer Reihung von weiteren Autoritäten begonnen, die auf die religiöse Bedeutung des Studiums und Christus selbst als Lehrer verweisen, wobei teils auf die Etymologie des Wortes ‚dominus‘ zurückgegriffen wird. Dann wird der bekannte von Johannes Salisbury Bernhard von Chartres zugeschriebene Vers „Mens humilis, studium querendi, uita quieta,/Scrutinium tacitum, paupertas, terra aliena,/ Hec reserare solent multis secreta legendi“ zitiert, um zu belegen, dass es in der Schule Christi nicht um Dichtung gehe. Seit dem 13. und besonders dem späten 14. Jh. gibt es jedoch auch Ausnahmen von der Form des sermo modernus, dessen übermäßige Ausschmückung und Entfernung vom eigentlichen Bibeltext kritisiert wurde, etwa von John Wyclif (Wenzel 2012, S. 687–692). Wie sich erschließen lässt, blieben einige Universitätspredigten näher am Bibeltext – eine Cambridger Predigt des frühen 15. Jh.s kommentierte den gesamten (laufenden) Text einer Evangelienstelle („postillauit totum euangelium“; Wenzel 1995b, S. 57). Doch es lassen sich auch Abweichungen in Richtung profaner
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rhetorischer Formen oder gar politisch motivierte Exkurse zu tagesaktuellen Konflikten feststellen. Mit der Reformation ist eine Tendenz festzustellen, Universitätspredigten auf die Bibelauslegung zu fokussieren und von rhetorischen Ausschmückungen, Exempeln und überschwänglicher Rhetorik reinzuhalten (vgl. z. B. Methuen 2012). Unbedingt ist zu beachten, dass sich Universitätspredigten inhaltlich im Prinzip nicht von Predigten für ein Laienpublikum unterscheiden. Zwar dürften in Predigten coram universitate vielfach im Sinne von zielgruppenorientierten Ad status-Predigten Themen behandelt worden sein, die für die Universitätsangehörigen besonders relevant waren. Bei inceptio-Predigten und principia lag ein starker Bezug zum universitären Leben in der Natur der Sache. Oft genug wurde der Rahmen der Predigt zudem wohl in stark spielerischer Weise ausgefüllt, in Konfliktfällen instrumentalisiert oder gelehrten Debatten angenähert. Doch erweisen sich die meisten Predigten aus dem Kontext von Universitäten sozusagen als ‚normale‘ Predigten, die sich mit Tugenden und Lastern, Sünde, Buße und anderen moralischen und dogmatischen Themen beschäftigen. Der Hauptzweck der Pflichtpredigten, gerade von Bakkalaren der Theologie, blieb die Demonstration der Predigtbefähigung. Nur wenige Ad status-Predigten richteten sich ausdrücklich an Studenten (vgl. Salmela-Mattila 2003), und auch in Exempla-Sammlungen finden sich nur spärliche Beispiele für die Behandlung universitären Lebens (Destemberg 2015, Kap. 2.2.1.). Die schriftliche Überlieferung von Predigten birgt komplexe Probleme (Bériou 2000a, S. 89–103). Konsens der Forschung ist, dass vorliegende Verschriftlichungen nur in den wenigsten Fällen annähernd genaue Wiedergaben des Wortlautes der mündlich gehaltenen Predigt darstellen. Stattdessen sind uns Predigten entweder in Form von Mitschriften und Notationen gehaltener Predigten von Zuhörern (reportationes) oder in Form von Vorlagen, Notizen oder Konzepten des Predigers überliefert, die nicht den gesamten Umfang der Predigt wiedergeben. Nicht nur wurden meist lediglich grobe Stichworte notiert und Exkurse oder situationsbezogene Bemerkungen ausgelassen, oft genug verzeichneten sowohl reportationes wie Konzepte lediglich die Struktur der Predigt mit Thema, distinctio und verwendeten Autoritätenzitaten, also sozusagen nur das thematische Skelett. Es ist davon auszugehen, dass Prediger ihre Ansprache teilweise gar nicht genauer verschriftlicht hatten, sondern mit derartigen Konzepten als Gedächtnisstützen im Vortrag auskamen; es existieren jedoch auch Predigten, von denen wir eine knappe mitnotierte und eine ausführlichere, offenbar später redaktionierte Version besitzen (vgl. Bougerol 1982; Bataillon 1989). Einige reportationes zeigen ein besonderes Interesse an der thematischen Struktur und dem Gesamtaufbau der Predigten, während der Wortlaut offenbar zurücktrat (Wenzel 1995b, S. 57–58). Heute noch erhaltene Universitätspredigten lassen auf verschiedene Intentionen ihrer Verschriftlichung bei den Zeitgenossen schließen: Konzepte wie reportationes können einzeln überliefert oder in größere, für aktive Predigttätigkeit angelegte Mustersammlungen eingegangen sein, wobei wohl vielfach der Hinweis auf einen universitären Ursprung der Predigten getilgt wurde. An Universitäten und Bettelordensstudia wurden ohnehin Predigthandbücher, artes praedicandi mit Musterpredigten
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sowie Musterpredigtsammlungen in liturgischer Ordnung (sermones de tempore) und/ oder in hagiographischer Zusammenstellung (de sanctis), schließlich Exempla-Sammlungen (also Sammlungen von verwendbaren Einzelerzählungen) sowie Autoritätenund Themen-Sammlungen für die Predigttätigkeit angefertigt. Sie können Beispiele universitärer Predigten enthalten, die wir heute nicht mehr identifizieren können. Besser erschließbar ist der universitäre Kontext mitunter bei Predigtsammlungen einzelner (berühmter) Personen wie Bonaventura, John Wyclif oder Johannes Gerson, da dort teilweise Ort, Anlass und Gelegenheit der Predigt mitnotiert wurden, z. B. ad scolares, ad clerum, ad populum (Bonaventura 1901; Gerson 1963; Dolnikowski 1998). In Oxford und Cambridge war festgelegt, dass eine Verschriftlichung der Universitätspredigten der Bakkalare eingereicht werden musste und als Unterrichtsmaterial für zukünftige Studenten in Universitäts- oder Kollegbibliotheken aufbewahrt werden sollte. Wie Wenzel gezeigt hat, enthält eine Cambridger Sammelhandschrift etwa reportationes der Predigten zweier Universitätsjahre in Cambridge (1417/1424) und wurde offenbar als Materialsammlung auf der Basis von solchen Notizen über Predigten erstellt, die den Studenten zu Übungszwecken zur Verfügung standen (Wenzel 1995b, S. 59–61). Auch an anderen Universitäten scheint man reportationes von Universitätspredigten angefertigt zu haben, um Anschauungs- und Übungsmaterial zu gewinnen, wobei individuelle oder institutionelle Interessen (z. B. der Bettelordenskonvente) an solchen Zusammenstellungen in Handschriften erschließbar sind. Aus dem Paris des 13. Jh.s sind mehrere Handschriften überliefert, die reportationes von Predigten in chronologischer Reihung entlang des Kirchen- und Universitätsjahres verzeichnen, etwa für Teile der Jahre 1230–1231, 1241–1243, 1260–1261, 1281–1283 (vgl. Bériou 2000a, S. 73–108). Teils wurden Predigten in speziellen Notizsystemen festgehalten (Parkes 1989). Doch sind auch eine Vielzahl von Predigtsammlungen erhalten, die ältere und neue Predigten nach ihren liturgischen Anlässen zusammenstellen oder Predigten in persönlich gehaltenen Arbeitssammlungen mit anderem Unterrichtsmaterial, distinctiones und Notizen mischen. Vielfach wurden zu besonderen Anlässen gehaltene Predigten wie Antrittspredigten notiert (vgl. etwa die Materialien aus Leipzig und Köln bei Buchwald 1916; Buchwald 1921; Clasen 1951/52; Löffler 2006). Schließlich legten einzelne Autoren Sammlungen eigener und fremder Predigten an, da diese selbstverständlich mehrmals gehalten und abgewandelt werden konnten. Für einige Fälle ist belegt, dass Predigten zu besonderen Anlässen in ausführlicher Form verschriftlicht wurden und als eine Art Traktat zur Leserezeption und schriftlichen Verbreitung gedacht waren (Zajkowski 2010, S. 2077–2078). Aus dem 15. und 16. Jh. finden sich vereinzelt Drucke, die auf universitäre Predigten zurückgehen, so etwa aus Tübingen (Methuen 2012). Unter der ansteigenden Zahl von gedruckten Flugblättern, die einzelne Predigten oder Predigtsummarien enthielten, könnten Universitätspredigten gewesen sein (Moeller/Stackmann 1996), doch scheint die Verknüpfung von (Früh-)Drucken und Universitätspredigten noch wenig untersucht.
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3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Während die Umrisse des Phänomens der Universitätspredigt heute gut bekannt erscheinen, sind regionale und chronologische Ausprägungen in weiten Teilen nicht vergleichend erforscht (s. die Bemerkungen von Hamesse 1998, S. 313 f.). Auch innerhalb der Erforschung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Predigtpraxis sind Universitätspredigten eher schwach repräsentiert. Als größtes Problem stellt sich die Identifikation von ursprünglich universitären Predigten dar, die, wie erwähnt, nicht immer möglich ist. Zudem erscheint der Bereich vermutlich sowohl für die Universitätsgeschichte wie für die Erforschung mittelalterlicher Predigtliteratur jeweils randständig. Vor allem aber sind Universitätspredigten zwischen dem 12. und 16. Jh. so verstreut und vielfältig überliefert, dass bislang nur sehr grobe Entwicklungstendenzen beschrieben werden konnten. Paris, Oxford und Cambridge sind daher in der Forschung unverhältnismäßig stark repräsentiert. Einige Zugänge und Aussagemöglichkeiten haben sich über die Jahre jedoch herauskristallisiert. Der grundlegende Zugang zur Erforschung von Universitätspredigten, der sowohl über die Predigtpraxis wie über die Ziele und Intentionen der Mitschrift von Predigten in universitären Milieus unterrichtet, ist die Erforschung der Überlieferung selbst. Als Hilfsmittel für das Auffinden von gedruckten und handschriftlich überlieferten Universitätspredigten kommen so neben wenigen spezifischen Auflistungen (z. B. Glorieux 1968, S. 141–145, 148–161) vor allem allgemeine Repertorien in Frage (Schneyer 1969–1990; Hödl/Knoch/Schneyer 1999). Durch die enge Verknüpfung der Gattung der Predigt mit der Institution der Universität ist die Erforschung universitärer Predigtüberlieferungen oftmals hochrelevant (v. a. Bériou 2000a; D’Avray 1985). Forschungsüberblicke (Bataillon 1980; Roberts 1999; Muessig 2002; Zajkowski 2010, S. 2079–2086; van der Heijden/Roest 2015) und Hilfsmittel der allgemeinen Predigtforschung und zur ars praedicandi (Murphy 1989, S. 136–156; Briscoe 1992; Morenzoni 1995; Kienzle 2000; Roberts 2002) ergeben daher auch für Universitätspredigten viele relevante Befunde und Anhaltspunkte. Was Inhalt und Aufbau betrifft, wurden (Universitäts-)Predigten über weite Strecken des 19. und 20. Jh.s vor allem auf ihren doktrinalen und dogmatischen Gehalt befragt. Seit den 1970er-Jahren wurde mit der Intensivierung der Predigtforschung (u. a. Gründung der International Medieval Sermon Studies Society) zunächst vertieft nach Wandlungen der Gattung und deren Kontexten gefragt. Die genauen Ursprünge des sermo modernus im 12. Jh. und die Zusammenhänge zwischen der scholastischen, sprach- und textorientierten Diskussion von Autoritäten und dem thematisch-gliedernden Aufbau mit distinctio wurden genauer untersucht. Dabei wurden die Bezüge zwischen Predigten und wissensorganisierenden Gattungen wie Bibelkommentaren (Kommentare; s. Bataillon 1986; Bataillon 1992) sowie Distinctiones und Enzyklopädien (Theologische Lehrwerke; Binkley 1997; Rouse/Rouse 1991), aber auch die Zitierweise von Predigten (Davy 1931a) untersucht. Punktuell wurde gefragt, inwiefern Universitätspredigten sich in besonders deutlicher Weise einer philosophischen oder sonstwie wissenschaftlichen Sprache bedien-
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ten (Bataillon 1981). Eine Pariser Predigt aus den 1260er-Jahren erwähnte etwa das biblische Thema „prüfte er mich, ich ginge wie Gold hervor“ (Hiob 23,10) nur, um zu vier Formen von ‚Prüfung‘ überzuleiten, die vier Formen logischen Disputierens entsprächen, der disputatio sophistica, temtatiua, dialectica et demonstrativa (Bataillon 1981, S. 985). Dann schloss sich eine tagesaktuelle Polemik an, so dass das biblische Thema zugunsten anderer Inhalte zurücktrat. Auch Predigten auf Heilige konnten zur Reflexion auf das Selbstverständnis der Gelehrten genutzt werden, wie dies etwa bei der Predigt Meister Eckarts über den Kirchenvater Augustinus oder Heinrichs von Langenstein über die Heilige Katharina der Fall ist (Meister Eckhart 2008, S. 556– 569; Lang 1948). Während jedoch hier und da Universitätspredigten überliefert sind, die sich stark auf die Terminologie nichttheologischer Disziplinen oder gar auf die Schriften des Aristoteles beziehen, hielten sich auch ausgesprochen philosophisch orientierte Autoren wie Thomas von Aquin in Predigten typischerweise eng an die Bibel und die üblichen patristischen Autoritäten (Bataillon 1981, S. 984; vgl. Thomas Aquinas 2010). Mehrere artes praedicandi verboten allerdings ausdrücklich, als Thema einer Predigt profane Zitate oder Verse aus der weltlichen Literatur zu wählen, so dass man davon ausgehen kann, dass sogar Derartiges vorkam – möglicherweise als Satire oder Scherz (vgl. z. B. Thomas de Chobham 1988, S. 274). Die Gattung der Predigt, die generell gegenüber anderen Gattungen sehr offen und in sich flexibel ist, konnte jedoch prinzipiell in die Richtung von Kommentaren und Disputationen, aber auch von profanen Reden (Universitätsreden), Drama, Dichtung (Literatur) und Brief erweitert werden. Diese Querbezüge sind nur teilweise erforscht. Elemente des scholastischen Disputierens aufzunehmen, lag nahe, insbesondere, wenn der Prediger Einwände des Publikums antizipierte und entkräftete. Aber auch Verse scheinen sehr häufig in Predigten eingebaut worden zu sein. Aus dem Cambridge des 15. Jh.s ist mehrfach bezeugt, dass die einleitenden principia zur Vorlesung nicht nur in der Volkssprache, sondern komplett in Versen vorgetragen wurden, wobei neben englischen Versen auch lateinische elegische Distichen vorkamen (Wenzel 1995b, S. 56 f.). Auch aus den Fakultäten des Rechts und der Artes, in denen einleitende Predigten zur Empfehlung der Autoritätentexte offenbar in Nachahmung der theologischen principia eingeführt wurden, sind einige Fälle von principia in Vers- und Dialogform erhalten, in denen die iurisprudentia und die einzelnen Artes in personalisierter Form auftreten und Streitgespräche halten (Bischoff 1984, S. 194 f.). Obwohl wir keine systematischen Studien dazu haben, liegt es nahe, dass sich solche Gewohnheiten lokal entwickelten und der sozialen Distinktion der Vortragenden dienten. In eine ähnliche Richtung weist der Usus, principia zu den Sentenzen auf Bibelverse zu halten, die sich mit dem eigenen Namen des predigenden Bakkalars in Verbindung bringen ließen oder universitäre Predigten auf andere Weise mit identitätsstiftenden Anspielungen aufzuladen (Trapp 1956, S. 269–274; Tachau 1991). Derartige Praktiken zeigen wiederum die Universitätspredigt als Ort der Selbstrepräsentation – teils einzelner Individuen, teils aber auch eines Faches bzw. einer Expertengruppe. In Teilen offen ist weiterhin Frage, wie sich die Predigtrhetorik zur profanen Rhetorik und die Form der Predigt zur profanen, ohne Bibelperikope auskommen-
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den Rede verhält und inwiefern Predigten zu universitären Gelegenheiten auch durch Reden ersetzt werden konnten. Hier bestehen vermutlich zwischen den Fakultäten Unterschiede. Insbesondere mit dem Aufkommen des Humanismus und der Reformation sind regionale und situative Brüche zu vermuten. Während zur gegenseitigen Durchdringung von geistlicher und profaner Rhetorik wenige Überlegungen vorliegen, ist aber über das Verhältnis von Rede und Predigt im universitären Kontext weniger bekannt (vgl. Hamesse 1991). Nur punktuell erforscht ist schließlich die Rolle von Predigten in der Ritual- und Festkultur der Universitäten. Insbesondere das Ritual der inceptio an der Theologischen Fakultät, das sich bis ins späte 12. Jh. zurückführen lässt, ist bislang behandelt worden. So wurden die über die Rolle des Theologen reflektierenden inceptio-Predigten auf das Selbst- und Wissenschaftsverständnis der Vortragenden befragt (Spatz 1992; Spatz 1994; Prügl 2007). Von Interesse wäre zudem eine genauere Erforschung von Predigten auf verstorbene Universitätsangehörige, die bislang etwa für Leichenpredigten ab dem 16. Jh. vorliegt (Reinis 2007). Da momentan ein Schwerpunkt auf Paris liegt, wären weitere und vergleichende Forschungen zu diesen Aspekten wünschenswert. Stärker verknüpfen ließe sich auch die auf die Renaissance fokussierte Erforschung von profan-gelehrter Sammel- und Ordnungstätigkeit in Florilegien und Loci communes-Sammlungen (Blair 2010, S. 174–229) mit der Erforschung von chronologisch oft vorausgehenden Florilegien und Sammlungen zu Predigtzwecken (Rouse/Rouse 1979; Rouse/Rouse 1991). Eine vergleichbare Lage bietet sich bei der ebenfalls noch nicht systematisch behandelten Frage nach der Funktionalisierung und Instrumentalisierung von Universitätspredigten für Propaganda und Meinungsaustausch in universitätsinternen oder sogar externen politischen Konflikten. Als Forum ‚okkasioneller Öffentlichkeiten‘ waren universitäre Predigten nicht nur Orte universitärer Selbstrepräsentation, sondern konnten auch der Kritik an inner- oder außeruniversitären Machtverhältnissen Raum geben (vgl. Destemberg 2015, Kap. 2.2.1.) Bezüglich inneruniversitärer Konflikte ist dies bislang beispielsweise für die Auseinandersetzungen zwischen Universität und Stadt in Paris im 13. Jh. (Davy 1931b) oder für den Streit zwischen (Bettel-)Orden und Klerus im 13. und 15. Jh. erforscht worden. Im Rahmen letzterer Auseinandersetzungen wurden von den 1250er bis in die 1280er Jahre in Momenten der Eskalation des Streits immer wieder einmal Universitätspredigten (wie übrigens auch Quodlibetica) genutzt, um zu polemisieren und die Standpunkte der einen oder der anderen Partei öffentlich darzulegen (vgl. insgesamt Bataillon 1976; Steckel 2015, S. 179–192). 1256 formulierte etwa der Sprecher der Bettelordensgegner, Wilhelm von St. Amour, öffentlich eine ganze Reihe von Anklagepunkten gegen die Bettelordensmagister, die er jedoch als eschatologische Warnungen vor ‚Vorboten des Antichrist‘ oder als ‚Pharisäer‘ codierte und in äußerlich rein theologisch argumentierenden Predigten vorbrachte. Unter anderem kritisierte er dabei sogar die allzu ausgeschmückte Predigtpraxis der mendikantischen Theologen (vgl. William of Saint-Amour 2003, S. 53–74; Steckel 2011). Der franziskanische Magister Bonaventura führte in einer späteren Universitätspredigt aus dem Kontext dieses Streits pointiert die Heiligkeit
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des Franziskus von Assisi ins Feld (Anderson 2012). In den 1270er-Jahren wurden im predigenden Schlagabtausch zwischen dem Dominikaner Petrus von Tarentaise und klerikalen Magistern beide Seiten jeweils mit Juden verglichen (Bataillon 2007). Aus späteren Episoden des Streits sind ebenfalls polemische Predigten überliefert, etwa von Johannes Gerson, der Kritiken des 13 Jh.s nach 1400 neu aufgriff (McLoughlin 2006). Was politische Konflikte betrifft, haben bislang vor allem Universitätspredigten wichtiger Reformer wie John Wyclif das Augenmerk der Forschung auf sich gezogen (vgl. Dolnikowski 1998). Inwieweit Universitätspredigten sich generell zu Foren einer breiteren Öffentlichkeit entwickeln konnten, bleibt genauer zu erforschen. Aus punktuellen Studien ist jedoch deutlich geworden, dass Universitätspredigten Anlass zu solemnen und stark identitätsbildenden Zusammentreffen universitärer, politischer und kirchlicher Öffentlichkeiten bieten konnten. Zu bestimmten Anlässen konnten universitäre Predigten in Anwesenheit von Herrschern oder, im Falle Neapels, in höfischen Räumlichkeiten stattfinden, wobei sich sogar Könige als Prediger hervortun konnten (Pryds 1998). Noch deutlicher ist, dass sich Universitätsmagister in Predigten für Heilige engagierten, die ihnen oder der Stadt besonders wichtig waren bzw. dass Heiligenpredigten zu Orten öffentlicher Repräsentation werden konnten (vgl. Buchwald 1914; Roberts 1986/87; Gorochov 1999; Wagendorfer 2012). Vergleichende Untersuchungen stehen jedoch auch hier aus. Doch sind universitäts- und wissenschaftsgeschichtliche Zugänge mit der Stadtgeschichte verknüpft worden: Die Predigten universitätsgebildeter Theologen konnten eine wichtige und direkte Vermittlungsinstanz universitärer Theologie an ein städtisches Publikum sein. Besonders deutlich wird dies an den Studia der Bettelorden, die insbesondere in den italienischen Städten oftmals die Funktion theologischer Fakultäten übernommen hatten, aber stets auch in der städtischen Predigt wirkten. Mit auf die Stadt zugeschnittenen Predigten stellten sie ein Forum für religiöse Diskussion bereit und konnten oft die religiösen Wertvorstellungen der Stadtgemeinschaft tief prägen (Howard 2011). Einige Universitäten bildeten dann zwar früh eine Routine akademischer Predigt aus, die sich auf wenige ‚Universitäts‘-Kirchen und auf universitäre Zuhörerschaften einstellte und (wie spätere Predigten in Kollegien, Gebäude) somit ausschließlich auf ein universitäres Publikum zielte. Doch wurde das Reservoir gut ausgebildeter Prediger in vielen Universitätsstädten auch für die pastorale Versorgung der Bevölkerung nutzbar gemacht. So wurde von der Universität Cambridge aus an St. Paul’s Cross in London, einem öffentlich zugänglichen Platz, in der Volkssprache gepredigt (Roberts 2005, S. 90; Horner 1998). Die Universitätspredigten in der Tübinger Stiftskirche waren im 16. Jh. deutlich an die Bürgerschaft gerichtet (Methuen 2012; vgl. auch Holtz 1993). Auch in Paris, wo die Kirchen der Dominikaner und Franziskaner früh die Funktion von Universitätskirchen übernommen hatten, wurde von Universitätsangehörigen in Stadtpfarreien gepredigt. So bot sich für die Universität als Druckmittel an, anlässlich von Streiks nicht nur die Vorlesungstätigkeit, sondern auch die Predigttätigkeit in städtischen Pfarreien einzustellen (Destemberg 2011, S. 85–87), was auf eine Versorgung dieser Pfarreien mit universitä-
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ren Predigern schließen lässt. Auch im Umkreis der Universitäten Wien, Heidelberg und Basel scheint man sich um die Bereitstellung von volkssprachlichen Predigten bemüht zu haben, da solche in Handschriften überliefert sind, die aus akademischen Kontexten stammen. Doch ist bislang nicht ganz klar, inwieweit es sich bei den Predigten um universitäre Pflichtpredigten handelte (wie im Falle von Cambridge) oder ob Universitätsangehörige gleichzeitig Predigtaufgaben in lokalen Kirchen z. B. aufgrund lokaler Präbenden wahrnahmen oder als eine Art freiwilliger ‚Gastprediger‘ in lokalen Kirchen auftraten (Schiewer 1998). Die Universitäten erweisen sich jedenfalls als ganz direkte Schnittstellen zwischen der theoretischen Predigtausbildung und der konkreten Predigtpraxis. 4. Bibliographie 4.1 Quellen Bischoff, Bernhard (1984), Poetisches „Principium“ eines Juristen. Auszug aus dem „Moralium dogma philosophorum“. Apparat zu dem Digestentitel 50, 17 „De regulis iuris“ (Hugo de Porta Ravennate und Bulgarus) (Erste Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts), in: Bischoff, Bernhard (Hrsg.), Anecdota Novissima. Texte des vierten bis sechzehnten Jahrhunderts (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters, 7), Stuttgart, S. 192–203. Bonaventura (1901), Opera Omnia, Bd. 9: Sermones, ed. Collegium a St. Bonaventura, Quaracchi. Denifle, Heinrich (Hrsg.) (1889–1897), Chartularium Universitatis Parisiensis, 4 Bde., Paris. Geyer, Bernhard (1967), Die Universitätspredigten des Albertus Magnus (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse, Sitzungsberichte, Jahrgang 1966), München. Jean Gerson (1963), Oeuvres complètes, Bd. 5: L’Oeuvre oratoire, ed. Palémon Glorieux, Paris. Meister Eckhart (2008), Werke II. Texte und Übersetzungen, ed. und komm. Nikolaus Largier, Frankfurt a. M. Thomas Aquinas (2010), The Academic Sermons, trans. Mark-Robin Hoogland (The Fathers of the Church. Medieval Continuation), Washington, D. C. Thomas de Chobham (1988), Summa de arte praedicandi, ed. Franco Morenzoni (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis, 82), Turnhout. William of Saint-Amour (2003), The Opuscula of William of Saint-Amour: The Minor Works of 1255–1256, hrsg. v. Andrew G. Traver (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Neue Folge, 63), Münster.
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Universitätsreden Albert Schirrmeister
Begriffserklärung Universitätsreden gehören grundsätzlich zum demonstrativen Redegenus, sie sind epideiktische Reden. Zu ihnen zählen erstens Reden, die von Universitätsangehörigen zu besonderen festlichen Gelegenheiten u. U. im Namen der Universität oder der ihrer Teilglieder (Fakultäten, Nationen) als Korporation gehalten werden, zweitens Reden, die zur Eröffnung von Vorlesungen, drittens solche, die im Rahmen von Promotionsverfahren gehalten werden, sowie viertens Reden, die im Rahmen der ArtesStudiengänge von Studenten als Übungen gehalten werden. 1. Genese, Funktion, Vorkommen Die quellensprachlichen Bezeichnungen wechseln v. a. zwischen sermo, mit der nicht nur die Universitätspredigten im engeren Sinne bezeichnet werden, oratio, declamatio, collatio. Die Vielzahl dieser Bezeichnungen legt es nahe, von einer weiten Definition von Reden auszugehen, um so die Genese und die sich sukzessive entwickelnden Differenzierungen im Blick halten zu können. Unter Reden seien also zunächst mit Johannes Helmrath „eine mehr als wenige Sätze umfassende, an ein Publikum gerichtete, unter gezielter Beobachtung klassischer rhetorischer Regeln verfertigte mündliche Vorbringung“ verstanden, bei der in „Umfang, Stil (elocutio) und Grad der rhetorischen Durchformung“ große Unterschiede bestehen können (Helmrath 1997, S. 427). Zum Verständnis universitärer Reden hilfreich ist die grundsätzliche Differenzierung der Rhetorikforschung nach ihrer Funktion als Verbrauchs- bzw. Wiedergebrauchsrede. Während erstere ihre Funktion mit dem Aussprechen entsprechend der Intention des Redners verbraucht, kann letztere mit neuer Intention – z. B. als Leserede auch in einem anderen Medium – aufgeladen werden. Die epideiktische Rede ist nach Lausberg dabei die einzige Gattung, die klar als Wiedergebrauchsrede bezeichnet werden kann, wobei die Grenzen fließend seien (Lausberg 1990, S. 17, § 14–19). Es ist davon auszugehen, dass lateinische Festreden seit Beginn dauerhaft zum Universitätsleben gehörten und zur Repräsentation der Universitäten – ohne geographische Einschränkung – beitragen sollten. Diese Reden sind allerdings als „Ver-
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brauchsreden“ im Sinne Lausbergs zunächst nicht überliefert worden. Erst aus der zweiten Hälfte des 12. Jh.s stammt die offenbar früheste überlieferte Rede, verfasst von Walter von Châtillon, die er vor scolares (Studenten und Professoren) der Universität Bologna hielt (Haye 1999, S. 233 f.). Für die Genese und Institutionalisierung universitärer Rede sind Predigten in Theorie und Praxis fundamental; terminologisch, funktional und im Aufbau bleiben die Verbindungen dauerhaft eng, Universitätspredigten bleiben beständig Bezugspunkt und Spezialfall universitärer Redepraxis. Noch im 16. Jh. werden die gesammelten Reden des italienischen Humanisten Antonio Urceo Codrus im Druck gleichzeitig oratio und sermo (orationes seu sermones) genannt (Urceo 1506). In der Folge der sogenannten „homiletischen Revolution“ (Murphy 1974) wurden Themapredigten für politische Zwecke im Italien des späten 13. und im 14. Jh. etabliert, insbesondere von Bartholomäus von Capua (Nitschke 1955, S. 255–259, mit einem Verzeichnis der Reden) und König Robert von Sizilien (Goetz 1910, S. 46–68, mit einem Verzeichnis) sind biblische Themenpredigten vor dem Papst und zu Promotionen an der Neapler Universität bekannt. Aufgrund ihrer außergewöhnlichen institutionellen Gestalt – sie bildete keine eigenständige Korporation, war streng hierarchisch gegen den Papst gegründet und König Robert war Mitglied der Universität – könnte die Universität von Neapel in besonderer Weise für die produktive Weiterentwicklung der Universitätsreden geeignet gewesen sein (Nitschke 1955, S. 231). Jedenfalls sind von König Robert, der die aktive Teilnahme am Studienbetrieb gewissermaßen als akademische Übung selbst pflegte und in dieser Hinsicht allen anderen Herrschern seiner Zeit voransteht (Pryds 2000, S. 11), in Handschriften Reden als sermo und collatio identifiziert, ohne dass diese Reden strukturell zu unterscheiden wären (Pryds 1998). Collatio, als Begriff aus der monastischen Kultur stammend und dort eine nachmittägliche und abendliche Predigt außerhalb eines strengen liturgischen Rahmens bezeichnend, erhält im universitären Rahmen seit dem 13. Jh. einen mehrdeutigen Sinn: Einerseits kann Collatio die Rede eines neuen Magisters während seiner Graduierungszeremonie oder zu Beginn einer Vorlesung, andererseits aber auch eine Diskussion unter Studenten oder einen Vortrag bezeichnen (Weijers 1987). In den theologischen Curricula der Universitäten Oxford oder Bologna im 14. Jh. haben die Reden offenbar einen Platz als introitus in einen Kursus über die Sentenzen. Sie werden häufiger von einem Bakkalar als einem Magister gehalten. Für Italien hat Müllner die Eröffnung der Semester im Oktober (bzw. November) und Februar zur feierlichen Beginn der Vorlesungen, in denen die „jungen Hörer zur Liebe zu den Wissenschaften“ begeistert werden sollten (Müllner 1970, S. V), als vorrangigen Anlass für Reden hervorgehoben. Dies sind die Gelegenheiten, die humanistische Poeten, im Reich als erste Peter Luder und Conrad Celtis, nutzen, um ihren prekären Status an der Universität abzusichern und für ihre außerhalb des normalen Curriculums stehenden Vorlesungen zu werben. Das Gegenstück bilden Abschiedsvorlesungen, wie sie (verbittert) von Johannes Rhagius Aesticampian aus Leipzig (Clemen 1899) und von Giordano Bruno aus Wittenberg (1588) überliefert sind. Eine immer wiederkehrende,
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häufig genutzte Gelegenheit für feierliche Reden ist zudem die Übernahme eines Rektorats (z. B. Albrecht von Eyb 1472). Ebenfalls gern genutzte Redeanlässe stellten kirchliche Feiertage dar, so z. B. Patronatsfeste der universitären Nationen bzw. der Fakultäten oder Weihnachten. Die Reden werden dann u. U. als Predigten innerhalb der Gottesdienste gehalten (Vadian 1953). In den Statuten der Wiener medizinischen Fakultät von 1518 werden diese Reden auch als Ersatz für zu leistende Disputationen anerkannt (Müller 2012). Im Sprachgebrauch der Pariser Chartularien und Statuen im 14. Jh. fallen sermo und collatio zusammen, ähnliches gilt für oratio. Sie bezeichnen hier Reden bzw. Predigten zu Festtagen. Unter den Fakultäten war das Rederecht für diese Gelegenheiten umstritten. Solche Hinweise auf Reden und Predigten zu Patrozinien finden sich auch in den Akten anderer Unviersitäten (Wien), die auch die Verbindung zu Promotionsverfahren belegen. Im Protokoll der Rheinischen Nation 1511 bzw. 1512 werden die geistlichen akademischen Festreden mal als sermo (Arbogast Strub), im folgenden Jahr dagegen als oratio (Joachim Vadian) eingetragen, die sermones Strubs fungieren im Titel der Gedenkschrift wiederum als orationes (Strub 1511; Brandstätter 1955). Allerdings geben – wie auch im Fall Leipzigs erkennbar (Buchwald/Herrle 1921, S. 3) – die Bestimmungen der Statuten nicht umfassend über die Redepraxis Auskunft. Diese kann durch archivalische und bibliothekarische Funde belegt werden. In den Leipziger Statutenbüchern fehlen z. B. Bestimmungen zu den Reden bei der Erteilung des Magisteriums. Unsystematisch lässt sich die Verpflichtung zu derartigen Reden in den Statuten nachweisen, so z. B. in Bologna 1364, wo sie als collatio, inceptio oder sermo firmieren. Gehalten wurden sie von dem präsidierenden Magister sowie den Kandidaten selber. Ebenso wie für die kontinentalen Universitäten steht für Oxford trotz der unsicheren Quellenlage fest, dass ein Theologe im Rahmen der Magisterpromotion, neben dem Nachweis seiner Disputations- und Lehrfähigkeiten, auch eine Predigt halten musste. Schon die Graduierung zum Bakkalar scheint eine kurze Rede oder Predigt zum Lob der Theologie eingeschlossen zu haben (Lewry 1982; Wenzel 1995a; zu Paris Spatz 1992). Diese Reden bzw. Predigten waren terminologisch nicht festgelegt. So begegnet in den Oxforder Quellen der Begriff introitus, in Leipzig und in Prag der Begriff recommendatio baccalariandorum, ebenso auch recommendatio magistrandorum. Ab dem 15. Jh. wurden zunächst in Italien unter humanistischem Einfluss und mit starker Gewichtung auf rhetorischer Gestaltung Übungsreden, meistens declamatio genannt, als Bestandteil der Artes-Studien propagiert. Sie stellen eine Übernahme der Lehrpraxis von außeruniversitären Schulen dar (wie diejenigen des Guarino Guarini und des Vittorino da Feltre, s. Müllner 1970). Ein entscheidender Ausgangspunkt für die Ausbreitung der declamatio als Übungsrede in den lutheranischen Universitäten ist die Reorganisation des Wittenberger Curriculums durch Philipp Melanchthon im Jahr 1523 (Bauch 1900) als Teil der lutheranischen Erneuerung des Erziehungsund Schulwesens. Die Einrichtung des Gymnasiums in Straßburg 1538 diente als Modell für viele weitere lutheranische Schulen, in denen die höhere Schulbildung mit den traditionellen Artes verbunden wurde, in denen die declamatio ihren Platz
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als rhetorische Übung fand (zu Tübingen Barner 1970, S. 423). Ähnliches gilt in der Eidgenossenschaft für zwinglianische Schulen, die, zur Ausbildung reformierter Prediger konzipiert, Theologie und Rhetorik miteinander verknüpften (Van der Poel 1987). Auf katholischer Seite sind die jesuitischen Schulen seit den 1540er-Jahren der entscheidende Faktor für die Ausbreitung der schulischen declamatio, die ihren definitiven Platz spätestens mit dem Erlass der Ratio studiorum 1599 findet. Während in den Lateinschulen nach Melanchthons Modell die declamatio allein eine schriftliche Übung darstellte, war in den Oberen Schulen, grundsätzlich auch in den Schulen nach Sturms Straßburger Modell (Schindling 1977, S. 195 ff.) – mit größerem Einfluss in Frankreich – und in der Universität der mündliche Vortrag ein wichtiger Bestandteil. Vor allem in Sturms Schulmodell wurde der moralische und religiöse Charakter der declamatio betont. Die humanistischen rationes studii des 15. und des frühen 16. Jh.s (u. a. Bebel, Erasmus, Melanchthon, Ringelberg, Vives, Budaeus, Ramus) betonen die moralische Funktion der declamatio, in dem sie sich auf die klassisch-antike Verbindung des guten Redners als eines guten Mannes beziehen (orator est vir bonus) (Van der Poel 2015, S. 124). Erst seit Juan Luis Vives bildet der mündliche Vortrag ein wichtiges Element dieser Handbücher. Ebenso ist bei den rhetorischen Textbüchern festzuhalten, dass sie die dialektischen Aspekte der Reden hervorheben, explizit insbesondere in Melanchthons Genus didascalicum (Melanchthon 2001). Nur in wenigen praktischen Handbüchern wird declamatio als eigene Form behandelt (Sturm 1574; Sturm 1575; Sturm 1576; Junius 1592). 2. Beschreibung: Aufbau, Sprache, Terminologie, Materialität, unterschiedliche Ausprägung Die Genese universitärer Rede nicht zuletzt aus klösterlichen und sakralen Kontexten legt die formale Ähnlichkeit nahe, die Jürgen Miethke (1990) postuliert hat: Reden an Universitäten unterschieden sich nicht wesentlich von Reden an anderen Orten und in anderen Zusammenhängen. Die gemeinsame Überlieferung unterschiedlichster Reden – z. B. in der Münchner Handschrift clm 8482 – belegt in materieller Hinsicht die grundsätzliche Nähe. Die weitgefasste Bedeutung von sermo erschwert die Differenzierung der Predigten von anderen Reden im universitären Zusammenhang zusätzlich – mitunter findet sich quellensprachlich wenigstens die Differenzierung von sermones sacri, academici, politici (Ebendorfer). Universitäre Reden stellen gemeinsam mit Predigten und Vorlesungen ein vom Redner kontrolliertes, monologisches Kommunikationsformat dar. Normative Vorgaben und Beispiele finden sich z. B. in der Rhetorica novissima des Boncompagno da Signa, der an der Universität von Bologna und in Padua die ars dictaminis lehrte (Haye 2005, S. 78). Der Aufbau der universitären Reden ist grundsätzlich recht einheitlich, gerade die oben erwähnte Rede Walters von Châtillon allerdings ist aufgrund ihrer ungewöhnlichen Form mit Verspartien überliefert (Haye 1999 mit Edition und Überset-
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zung) – womit vor der Annahme gewarnt sein sollte, es habe eine verbindliche Form gegeben. Sehr wohl aber gibt es erwartbare Strukturen. Ein prominentes Beispiel ist die collatio laureationis Francesco Petrarcas von 1341 (Petrarca 2012; Godi 1988; Looney 2012), die bewusst die akademische und die religiöse Qualität von Reden und Predigten für seine außeruniversitäre Dichterkrönung in Anklang bringt (Mertens 1988): Auf eine propositio (bei Petrarca aus Vergils Georgica) folgt ein Gebet (bei Petrarca eine Anrufung Mariens), sodann mit Aufzählung die einzelnen abzuhandelnden Punkte: Primum (et haec de primo) – Secundum (et haec de secundo) – de Tertio et haec de tertio … Die Bestandteile der Vorreden zu den einzelnen Vorlesungen blieben anscheinend in ihrer grundsätzlichen Zusammensetzung längerfristig gleich. Zu besprechen waren vor der Interpretation eines Autors folgende acht Punkte: „intentio auctoris, utilitas, cuius sit liber, titulus, ordo, divisio, modus doctrinae ad quam philosophiae partem reducatur liber“ (Müllner 1970, S. 5). In ihrer Ausgestaltung differierten sie, und Abweichungen von diesem Schema sind ebenfalls zu beobachten, wenn z. B. auch lokale und persönliche Angelegenheiten in der Rede zur Sprache gebracht werden (Müllner 1970, S. 5). Die von Siegfried Wenzel untersuchten Reden aus Oxford zur Eröffnung von Vorlesungen über die Sentenzen des Petrus Lombardus (Kommentar) geben einen summarischen Überblick über den Inhalt der vier Bücher, andere Reden fungieren als Einführungen zum gesamten Curriculum (Hunt 1948; Quain 1945). Allgemein sieht Wenzel (1995a, S. 320) die formale Struktur des scholastischen sermo in den Reden der Artes ebenso wie bei Juristen und in der Medizin in Verwendung, wozu es aber noch weiterer Forschung bedürfe. Courtenay skizziert in seiner Darstellung zu Adam Wodenham, dessen vier collationes aus den 1330er-Jahren überliefert sind, als Zweck und Ziel der collatio vor der ersten Vorlesung eines jeden Sentenzenbuches, dass der Kandidat sein umfassendes Bibelwissen zeigen könne (Courtenay 1978, S. 173). Zudem hätten sich, so Courtenay, im 14. Jh. die collationes zu subtilen Kompositionen mit Wortwitz und heute teilweise unverständlichen, nicht aufklärbaren (persönlichen, mitunter heraldischen) Anspielungen entwickelt. In Leipzig hingegen wird collatio im Zusammenhang einer theologischen Magisterpromotion verwendet und bezeichnet eine formelhafte Rede des Promotors „pro recommendatione licentiandi, an deren Schluss der Licentiat niederkniete“ und der Promotor ihn mit Berufung auf seine geistliche und weltliche Autorität (und deshalb auch mit Gebets- und Segensworten schließend) seine Magisterwürde verlieh (Buchwald/Herrle 1921, S. 7). In Leipzig stammen die am frühesten überlieferten Beispiele für ein principium in cursum ebenfalls aus der ersten Hälfte des 15. Jh.s. Sie bestehen aus den drei Teilen divini nominis invocatio, sacrae theologiae recommendatio und der gratiarum actio. Das Principium in librum sententiarum bestand hingegen üblicherweise aus vier Teilen, der Bitte um Gottes Hilfe, der recommendatio der Theologie im Allgemeinen, dann, insbesondere auf die Sentenzen bezogen, drittens „die Determination einer in Beziehung zu dem ersten Buche stehenden quaestio und die Erwiderung auf die Konklusionen zweier konkurrierender Sententiarien“, sowie viertens einer gratiarum
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actio (Buchwald/Herrle 1921, S. 6) Die Leipziger Beispiele von Einleitungen in die weiteren Sentenzenbücher unterschieden sich von dejenigen zum ersten Buch nur marginal, so im Falle des dritten Buches, bei dem der Baccalarius der Determination der quaestio eine feierliche Erklärung voranzustellen hatte, niemals kirchlichen Lehren zu widersprechen. Obgleich sich in den Statuten der Universitäten nicht durchweg detaillierte Vorschriften über die Reden zu Magisterpromotionen finden, haben sich durch den Gebrauch gewisse Gewohnheiten herausgebildet, die die Redepraxis als förmliche Akte erkennen lässt, deren Inhalt nicht auf einmalige Gelegenheiten gemünzt waren. So sind in Sammelhandschriften, z. B. aus der Leipziger Universität, Reden überliefert, die offensichtlich mehrfach Verwendung gefunden haben. Die recommendatio der Lizentiaten durch den Rektor scheint so formelhaft, dass Johannes Kleine 1474 die Rede vortragen konnte, die offenbar schon 1472/73 Teil der Magisterpromotionen war – damit wohl auch nicht seine eigene, sondern die Rede eines anderen Verfassers (Buchwald/Herrle 1921, S. 5). Ähnliches ist aus der italienischen Praxis der Graduierungsreden zu belegen, wo die selbe Rede oder zumindest Redeteile wiederholt Verwendung fanden, wie Georg Strack in seinen Forschungen zu Thomas Pirckheimer und mit Bezug auf dessen Rolle als Rektor der Universität von Perugia wahrscheinlich macht (Strack 2010, S. 240 f.). Ebenso scheint eine Promotionsrede Ebendorfers zunächst für einen Akt im Jahr 1462 vorgesehen gewesen zu sein, aber erst im folgenden Jahr vorgetragen worden sein (Tuisl 2014, S. 100, 300). Eine Promotionsrede Ebendorfers an der medizinischen Fakultät bietet wiederum ein Beispiel für eine Rede, die nicht allein auf diätetische Themen eingeht, sondern auch die allgemeine politische Lage thematisiert (Tuisl 2014, S. 164). Die verstärkte Bedeutung rhetorischer Elemente in der universitären Praxis seit dem 15. Jh. zeigt sich auf unterschiedlichen Ebenen: Erstens in den einleitenden Reden zu Vorlesungen und zu offiziellen Gelegenheiten und zweitens in der Entwicklung von studentischen Übungsreden. Zumindest an den italienischen Universitäten des 15. Jh.s setzen sich Inauguralreden mit rhetorischem Anspruch und bisweilen in poetischer Form durch, die sich von der scholastischen Strukturierung lösen. Diese Reden werden mitunter auch unter dem Namen ihrer Verfasser gesammelt und teilweise bereits in der Inkunabelzeit, sehr häufig ab dem 16. Jh. gedruckt (Fontius 1477 u. 1487; Trinkaus 1960 zu Fontius (Bartolomeo della Fonte) mit Angabe der Überlieferung, bes. S. 92, 129; Poliziano 1537; Urceo 1506; die chronologische Ordnung seiner Reden bei Raimondi (1950), S. 147–150, für Deutschland vgl. z. B. Zasius 1538). Diese Neuorientierung führte zu inhaltlichen Konsequenzen auf mehreren Ebenen: Der Fundus an Zitaten, die Eingang in die Reden finden, verändert sich deutlich von biblischen Schwerpunkten hin zu klassisch-antiken Autoren, die aber zunächst gleichbleibend vornehmlich aus Florilegien gewonnen wurden (z. B. Buchwald/Herrle 1921, S. 92 f.). An die Stelle thematischer Einführungen rücken zunehmend epideiktische Reden über den Nutzen der Wissenschaften und der einzelnen Disziplinen. Diese laudes disciplinarum bezogen sich nicht allein auf die Artes liberales, sondern auch auf die höheren Fakultäten, also
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auf Theologie, Medizin und Recht. Auch angesehene Legisten, wie Catone Sacco 1438 in seiner Rede zur Promotion Michael Paeldincs an der Universität Pavia, bedienten sich in solchen Fällen humanistischer Gestaltungsmittel (Rosso 2011 (mit Edition); Hoest 1971 belegt den Einfluss Peter Luders auf den Theologen Hoest). Patria und natio werden als Belege für besondere Tugenden zu festen Bestandteilen der Lobreden auf Doktoranden und einen neuen Rektor (Beispiele bei Forin 2001, S. 102–104, 139– 141; Strack 2009, S. 480). Besonders hervorgehoben wird patria als Thema sicherlich bei den Ansprachen, die auf deutsche Rektoren an den italienischen Universitäten gemünzt werden, wie z. B. die Rede Christoph Scheurls vom 1. Mai 1505 zur Einführung des neugewählten Rektors beider Bologneser Universitäten, Wolfgang Kettwig, die im Druck zu einem Libellus de laudibus Germaniae et Ducum Saxoniae wurde (Mertens 2005, S. 72). In Spanien vollzog sich der Übergang von scholastischer zu humanistisch, rhetorisch geprägter Oratorik zähfließend, die laudes litterarum wurden zu Beginn des 16. Jh.s wohl v. a. an der neuen Universität Alcalà, weniger im traditioneller ausgerichteten Salamanca geprägt (Van Liere 2000; Van Liere 2003). Noch 1538 und 1539 werden in einigen seltenen Beispielen überlieferter juristischer Reden aus Salamanca humanistische Themen mit scholastischer Redepraxis verbunden (Van Liere 2000). Aus diesen Fallbeispielen aus der Anfangszeit des später berühmten Gelehrten Diego de Covarrubias y Leyva können zugleich Anhaltspunkte für die Differenzen zwischen Reden zu unterschiedlichen Gelegenheiten gewonnen werden. Die vor der Korporation der Universität – Rektor, Kanzler, Senat – gehaltene, deutlich formellere Rede zur Doktorgraduierung muss wohl ungefähr eine Stunde gedauert haben, während die Baccalauriatsrede deutlich kürzer ausfiel. Von Covarrubias ist ebenfalls eine Rede überliefert, die als Bewerbung um eine Lektur fungierte (Van Liere 2000). Im Reich ist das früheste Beispiel für eine solche Bewerbungsrede die hier exemplarisch vorgestellte Rede Peter Luders, der 1456 in Heidelberg und anschließend in Erfurt (wahrscheinlich auch in Leipzig, Basel und Wien) nahezu gleichlautende Reden hielt (Wattenbach 1869, S. 100–110; s. Probst/Metzger 2003, S. 56). Bemerkenswert ist seine Rede v. a. aus inhaltlichen Gründen, aber auch, weil von der Leipziger Rede eine Ankündigung erhalten ist, mit der Luder (unter Strafandrohung für ein Abreißen des Aushangs) für seine Rede und ihren Inhalt warb: Er kündigte an, die studia humanitatis darzustellen, also über „historiographos, oratores scilicet et poetas“ zu sprechen und zu beweisen, warum es sich für alle lohne, sich diesen Studien zu widmen (Baron 1993, S. 86–89; zu einer Heidelberger Ankündigung: Probst/Metzger 2003, S. 79). Seinen Beweis, dass die humanistischen Studien das Fundament aller Wissenschaften bildeten, baut Luder auf eine inhaltlich ostentativ ungewöhnliche Einleitung mit einer autobiographischen Skizze auf. Strukturell hingegen ist der Aufbau der Rede schulmäßig klar (zum folgenden Barner 1997, S. 9–11): Das exordium wird knapp mit einer Apostrophe der Anwesenden eröffnet: Adressaten der Rede sind der Rektor, die viri et adolescentes der Universität, also die Lehrenden, die zur Tolerierung und Unterstützung, ebenso wie die Studenten, die als zahlende Hörer gewonnen werden sollten. Hierauf folgen narratio, Hauptteil und ein gedehnter Schlussteil mit
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einer peroratio und einer excusatio für die Inanspruchnahme der Geduld und ein Segenswunsch. Diese Strukturierung wird inhaltlich mit einer in weiten Teilen von Guarino bis hin zum Plagiat übernommenen und lediglich an die deutsche Situation angepassten Darlegung über Gegenstand und Wert von Dichtung, Geschichte und Rhetorik gefüllt. Obwohl Guarino merkbare Leitautorität ist, bleibt er als Quelle von Zitaten ebenso wie andere Humanisten ungenannt; offen zitiert werden allein Bibel, pagane Antike und Patristik (dies ist schon der Bestand, der für König Robert konstatiert worden ist, Goetz 1910, S. 33 f.). Die bei Guarino stark präsente Gräzistik ist angesichts fehlender eigener Kompetenz nicht berücksichtigt. Als epochaler Neuansatz wird für die humanistische Prägung der Universitätsreden im Reich dennoch die Ingolstädter Inauguralrede des Conrad Celtis von 1492 (Celtis 2003) anzusetzen sein, zum einen weil sie intensiv rezipiert worden ist, zum anderen wegen der Ausweitung der inhaltlichen Dimension und der programmatischen Aufwertung: Nicht allein über die Nützlichkeit der Studien spricht Celtis, seine Rede besitzt ebenfalls eine politische Dimension, die die translatio studii mit der translatio imperii verband. Personell zeigt sich die Aufwertung rhetorischer Gestaltung unter anderem darin, dass bisweilen die Vortragenden für die Abfassung der Reden humanistisch gebildete Autoren in Anspruch nahmen – das prominenteste Beispiel ist die 1499 von Erasmus von Rotterdam für einen Arzt namens Gysbertus verfasste Rede zum Lob der Medizin, die zum Vortrag an der Universität Paris bestimmt war (Erasmus 1518; Siraisi 2004, S. 192). Die Pläne Philipp Melanchthons aus dem Jahr 1523 zur Studienreform der Universität Wittenberg propagieren für die Studenten eine wöchentlich abwechselnde Übung in mündlicher Disputation und Deklamation „in artibus“ (Bauch 1900). Diese studentischen declamationes sind als Übungsreden eher selten überliefert und scheinen generell im mündlichen Bereich geblieben zu sein – von ihnen gibt es in den allermeisten Fällen lediglich indirekte Zeugnisse. Zwei Ziele ließen sich mit ihnen verbinden: Die Übung des Gedächtnisses (memoria) und diejenige der Performanz (actio und pronuntiatio); es ging also nicht primär um das Verfassen von declamationes (Robert 2008, S. 380 f.). Hingegen steht fest, dass eine Vielzahl der zahlreichen (etwa 180) Reden, die Melanchthon verfasst hat und die unter seinem Namen gedruckt wurden, vor dem Druck von anderen Rednern vorgetragen wurden. Melanchthon nutzte die Reden als Instrument der Lehre und verstand dies als erste Funktion des demonstrativen Redegenus, noch vor Lob und Tadel: In den Reden ließen sich nach Melanchthons Verständnis Dialektik und Rhetorik miteinander verbinden (Scheible 1996; Kusukawa 1999; Schneider 1990). Juan Luis Vives trat etwa gleichzeitig mit seinen fünf Declamationes Syllanae (1520) als Verteidiger der Gattung auf, bei der er die Gefahr sah, dass sie in den Bereich der Grammatik und der Anfangsgründe der Schulausbildung abgedrängt würde. Unterstützt wurde er durch Erasmus von Rotterdam, der in seinem Vorwort zum Druck disputatio und declamatio funktional nebeneinander rückt und stilistisch
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Desiderius Erasmus, Declamationes duae. Altera exhortatoria ad matrimonium. Altera artis medicae laudes complectens, Köln: Caesar 1518 (VD 16 E 2812), Staatsbibliothek zu Berlin – PK, 2 an: Bb 790, fol. c1r.
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differenziert. Disputationen seien schärfer, Declamationen sanfter (Traninger 2012, S. 170 f.). Anita Traninger trennt folglich die unterschiedlichen declamationes kategoriell als propädeutische Übungsreden und erwachsene philosophische Reden voneinander. Die ersteren sind jene, deren Praxis Peter Mack für England in den Grammar Schools verortet (Mack 2007). Den letzteren sind vielseitigere Anlässe zuzuordnen, u. U. auch als Einleitungen für Disputationen (Mack 2007); jedenfalls sind es jene declamationes, die Beatus Rhenanus in seiner Vorrede zu den spätantiken sermones des Maximus Tyrius als Probierstein für Gedanken (Schirrmeister 2015) und Erasmus für ihre philosophische Offenheit lobt: Als ihren Zweck bezeichnet Erasmus die Bearbeitung fiktiver Themen zum Zweck der exercitatio ingenii. 3. Methodische Zugänge, Aussagemöglichkeiten Dass es Reden möglich war, gleichermaßen lehrende und repräsentative Funktionen innerhalb der Universität auszufüllen wie eine Verbindung zwischen Universität und Politik herzustellen und so unterschiedliche soziale und kulturelle Kontexte zu verbinden, eröffnet vornehmlich drei methodische Zugänge zur Analyse der Universitätsreden: Erstens einen ideengeschichtlichen Zugang mit einem Fokus auf den wissenschaftlichen Denkstil und die Rolle der Wissenschaften in der Gesellschaft, zweitens einen sozialgeschichtlichen und drittens einen rhetorikgeschichtlichen Ansatz. Generell lässt sich – auch aufgrund der Überlieferungssituation – für die Forschung ein Schwerpunkt auf der humanistisch geprägten Redepraxis konstatieren, der sich bei den jeweiligen Zugängen in unterschiedlicher Intensität auswirkt. Am stärksten zeigt sich diese Fokussierung bei Arbeiten, die die Reden als Zugang zu Wissenschaftskulturen nutzen. Damit folgen sie der Argumentation humanistischer Redner wie Chalcondyles, der auf den Nutzen der Griechischkenntnisse für Mediziner hinweist (Geanakoplos 1974, S. 135 f.). Sie nutzen ebenfalls die epideiktische Rhetorik der laudes disciplinarum, die Aufschlüsse über die Argumentationsmuster für einzelne Wissenschaften geben (z. B. Imhausen/Remmert 2006 für Mathematik). So ordnet Nancy Siraisi Reden als guten Einstieg in die Untersuchung des medizinischen Humanismus ein, da sie als Kreuzung des wissenschaftlichen medizinischen Denkens und der humanistischen Kultur fungierten (Siraisi 2004, S. 193 f.). Sie verweist dabei u. a. auf die Druckgeschichte humanistischer Reden, die – wie 1528 Melanchthons Encomium medicinae mit Celsus’ Medicina – gemeinsam mit ausgesprochener Fachliteratur gedruckt wurde. Wenn Universitätsreden als Manifestationen eines bestimmten wissenschaftlichen Denkstils betrachtet werden, so ist der alte Gegensatz ‚Humanismus‘ vs. ‚Scholastik‘ der etablierte Fokus, dessen Konstruktion aber durchaus mit neuen Ansätzen analysiert wird, so dass vor allem das komplexe Verhältnis von Deklamationen und Disputationen im 16. Jh. noch längst nicht abschließend diskutiert ist (neben der bereits genannten Forschung z. B. Baron in Hoest 1971; Traninger 2011; Traninger 2012; Schuh 2013; Schirrmeister 2015; für Spanien z. B. Rico 1978). Die Verbindung zwi-
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schen dem rhetorisch fundierten Denkstil und den sozialen Kontexten, von wissenschaftsgeschichtlicher und sozialgeschichtlicher Fragestellung wird in Forschungen zur Rolle rhetorisch-oratorischer Kompetenz an Höfen und in Kanzleien realisiert. Paradigmatisch hierfür ist Trinkaus, der die Handschriften der Reden des Bartolomeo Fontius als Verknüpfung der universitären Redepraxis und der höfischen gelehrten Interessen thematisiert (Trinkaus 1960, S. 92: Das Wolfenbütteler Manuskript seiner Reden für König Matthias Corvinus im Kontext seiner Erarbeitung eines Katalogs der königlichen Bibliothek 1489). Zumal in der neueren deutschen Forschung wird die Untersuchung der Aufgaben in einer Kanzlei und die der universitären Praxis miteinander verbunden (z. B. Daniels 2013; Strack 2010). Der sozialgeschichtliche Fokus nimmt zunächst die Redner selber und ihre Karriere in den Blick, so die mit den Reden verbundenen Versuche, sich an einer Universität zu etablieren und für sich zu werben (z. B. Möncke 2001 über den Mediziner Alexander Seitz, der sich an der Basler Universität mit Hilfe einer Rede zu etablieren sucht). Weitere Forschungsfragen können auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis zielen und zu ergründen versuchen, wie es sich in den Reden bzw. den Promotionszeremonien abbildet. Hier scheint noch ein größerer Nachholbedarf zu bestehen: Die in den Reden erforschten manifeste Abhängigkeit des Peter Luder von Guarino (Barner 1997) und die Bezugnahme des Conrad Celtis auf Rudolf Agricola (Celtis 2003) sind nur unzulängliche Beispiele. Stärker Beachtung gefunden hat in der letzten Zeit die in den Handschriften materiell belegbare Sozialgeschichte der Reden: Für Gruppenbildungen und kulturelle Transferprozesse erweisen sich diese Untersuchungen als sehr ergiebig (z. B. Landois 2014; Strack 2010; Daniels 2013): Über Abschriften und Tausch von Manuskripten lassen sich personelle Zusammenhänge, die die Übergange zwischen Universität (Studium und Lehre) und politischer Tätigkeit überdauern oder mitgestalten (Daniels 2013, S. 52–55). Mit einem rhetorik- bzw. textgeschichtlich geprägten Zugang können sich ebenfalls solche sozialgeschichtlich relevanten Befunde ergeben, wenn das Verhältnis zu anderen Schreibsituationen untersucht wird, wie z. B. zu Briefen, die als schriftliche Vorform von Reden erscheinen können, wenn sie vorgetragen werden (Witt 1982), so dass diese sprachlich-literarischen Formen in Wechselwirkung treten; vor allem aber, wenn das Verhältnis zu anderen Redesituationen und die Wechselwirkungen zu den stil- und kontextformenden Redeformen des Mittelalters untersucht wird (so Haye 2005; Feuchter/Helmrath 2008, S. 15 f.): Erstens zur Predigt als bedeutendstem Bereich lateinischer Oratorik in Mittelalter und früher Neuzeit, zweitens zu Synodalreden, drittens zu Gesandschaftsreden, sowie viertens zur Gerichtsrede. Auf die Wechselwirkung von konziliarer Rede, Reden auf Reichstagen (bzw. Reichsversammlungen) und Universität hat Helmrath bereits aufmerksam gemacht und die Reden der ersten Hälfte des 15. Jh. als „dialektisch aufgepanzerte Ableitungen der antiken Gerichtsrede“ charakterisiert: „Die Theologen und Juristen, ein Segovia, Tudeschi, Johann von Ragusa, Nikolaus von Kues, Thomas Ebendorfer, Thomas de Courcelles etc. präsentierten sich und argumentierten so, wie sie es auf der Universität gelernt hatten“ (Helmrath 1997, S. 431). Angesichts der relativ guten Quellenlage und ihrer
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Erschließung in Editionen ist für die genannten Versammlungsformen weitere Forschung vielversprechend. Die Untersuchung dieser oratorischen Praxis muss die verschiedenen Phasen des memorialen Erlernens und des Erwerbs fester Formeln und Versatzstücke sowie ihre Anwendung als komplexe Wiedergebrauchsreden in (z. B. parlamentarischen) Kommunikationssituationen ebenso in den Blick nehmen wie den Medienwechsel zur Schriftlichkeit, in der die formalisierte Mündlichkeit antizipiert bzw. nachvollzogen wird (Helmrath/Feuchter 2008, S. 18). Dies ist bisher weniger für universitäre Oratorik als für Versammlungsreden in Angriff genommen (Helmrath 2006 mit einem Überblick). Angesichts der Quellensituation sind allenfalls für die humanistische Redepraxis und für zeremonielle Elemente der universitären Reden körpergeschichtliche Aussagen zu treffen. Vielmehr ist es durch die Analyse von Sammelhandschriften möglich, Memorierpraktiken, Rezeptionsstrukturierungen und Profilierungen näher zu bestimmen, wenn z. B. Thomas Pirckheimers Obödienzreden vor Nikolaus V. und Pius II. in Rom sowie seine deutschen Gesandtenberichte, überliefert in seiner Sammelhandschrift, als Anwendungen der in Italien erworbenen Rhetorik analysiert werden (Strack 2010). In der jüngeren Zeit wird die bisher fehlende Forschungstradition zur öffentlichen weltlichen Rede im Mittelalter (Mertens 1997), die in einer mangelhaften Editionslage (Bezner 2008) eine (allerdings kaum hinreichende) Erklärung findet, neu begründet (insbesondere Haye 1999; Haye 2005; Helmrath 2006) und gelangt auch über Fallstudien hinaus. Die grosso modo fehlenden Untersuchungen mittelalterlicher Gelegenheitsreden im Rahmen zeremonieller Veranstaltungen (Promotionen) oder anlässlich von Herrscherbesuchen, das Fehlen methodischer Überlegungen und konzeptioneller Strategien (moniert von Mertens 1997) wird durch diese Forschungen zunehmend ausgeglichen, so dass die von Bezner als terra incognita der Literatur im lateinischen Mittelalter bezeichnete rhetorische Literatur nach und nach sowohl in ihrer umfassenden Quantität als auch in ihrer qualitativen Komplexität sichtbar wird (Bezner 2008, S. 335 f., 338). Auf dieser Basis werden sowohl die fehlenden und dringend nötigen synchronen Vergleiche scholastischer und humanistischer Universitätsrhetorik im Allgemeinen möglich, die über pauschale Parteinahme für die humanistische Praxis hinausgehen, als auch die ebenso dringend benötigten vergleichenden Forschungen zu oratorischer Praxis und rhetorischer Theorie.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Jan-HendryK de Boer, geb. 1980, 2000 bis 2005 Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Alten Geschichte und Deutschen Philologie an der Georg-AugustUniversität Göttingen; 2009 bis 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für die Geschichte des Hoch- und Spätmittelalters; 2014 Promotion; 2015 PostdocStipendiat am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz; seit November 2015 Postdoc am Graduiertenkolleg „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln“ an der Universität Duisburg-Essen; wichtige Publikationen: Unerwartete Absichten – Genealogie des Reuchlinkonflikts (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 94), Tübingen 2016; Wie aus Agon Antagonismus wird. Scholastisch-humanistische Grenzpolitik um 1500, in: Historische Zeitschrift 303 (2016), S. 643–670; Form und Formlosigkeit des Judenhasses. Kommunikationsweisen judenfeindlicher Traktate um 1500, in: de Boer, Jan-Hendryk / Füssel, Marian / Schütte, Jana Madlen (Hrsg.), Zwischen Konflikt und Kooperation. Praktiken der europäischen Gelehrtenkultur (12.–17. Jahrhundert) (Historische Forschungen, 114), Berlin 2016, S. 141–174. Bruno Boute studierte von 1993 bis 1997 Mittlere und Neuere Geschichte in Antwerpen und Löwen; 1998 bis 2002 war er Forschungsassistent in Löwen, wo er 2003 promoviert wurde; zwischen 2004 und 2007 arbeitete er als Postdoc in Löwen; 2008 bis 2015 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Langzeitprojekt „Römische Inquisition und Indexkongregation“ an der Universität Münster; derzeit ist er Mitarbeiter am DFG-Projekt „Engineering the Sacred, Administrating the Soul“ an der Universität Frankfurt; wichtige Publikationen: Academic Interests and Catholic Confessionalisation. The Louvain Privileges of Nomination for Ecclesiastical Benefices (Education and Society in the Middle Ages and the Renaissance, 35), Boston/ Leiden 2010; Herausgeberschaften: Devising Order. Socio-Religious Models, Rituals, and the Performativity of Practice (Brill’s Series in Church History – Religious History and Culture Series, 7), Boston/Leiden 2013 (mit Thomas Småberg). Marcel BuBert hat von 2005 bis 2012 die Fächer Musikwissenschaft, Mittelalterliche Geschichte und Keltologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn studiert. Von 2012–2015 war er Doktorand im Graduiertenkolleg „Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts“ an der Georg-August-Universität Göttingen. Seit Oktober 2015 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Im Dezember 2016 erfolgte die Promo-
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tion in mittelalterlicher Geschichte in Göttingen mit einer Arbeit zur Universität Paris im 13. und frühen 14. Jahrhundert. Wichtige Publikationen: Philosophische Identität? Sozialisation und Gruppenbildung an der Pariser Artistenfakultät im 13. Jahrhundert, in: de Boer, Jan-Hendryk / Füssel, Marian / Schütte, Jana Madlen (Hrsg.), Zwischen Konflikt und Kooperation. Praktiken der europäischen Gelehrtenkultur (12.–17. Jahrhundert) (Historische Forschungen, 114), Berlin 2016, S. 309–326; Roger Bacon als Apologet der profanen Wissenschaft. Die necessitas der artes liberales für die Theologie, in: Gemeinhardt, Peter / Georges, Tobias (Hrsg.), Theologie und Bildung im Mittelalter (Archa Verbi – Subsidia, 13), Münster 2015, S. 423–437. ToBias Daniels, geb. 1981, 2001 bis 2007 Studium der Geschichtswissenschaften, Italianistik und Germanistik in Bochum und Florenz; 2008 bis 2011 Mitglied des Internationalen Graduiertenkollegs Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert; 2011 Promotion an den Universitäten Innsbruck und Pavia ; 2012 bis 2016 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Minerva-Forschungsgruppe „Roma communis patria. Die Nationalkirchen in Rom zwischen Mittelalter und Neuzeit“ an der Bibliotheca-Hertziana, Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom; seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Ludwig-MaximiliansUniversität München, gefördert durch die DFG im Rahmen des Programms „Eigene Stelle“; wichtige Publikationen: Diplomatie, politische Rede und juristische Praxis im 15. Jahrhundert. Der gelehrte Rat Johannes Hofmann von Lieser (Schriften zur politischen Kommunikation, 11), Göttingen 2013; „Ingredere, benedicte domini“. Persuasionsstrategien in zwei universitären Begrüßungsreden an apostolische Legaten (Wien, 1387 und Köln, 1449), in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 122,1 (2012), S. 4–38; La congiura dei Pazzi. Documenti del conflitto fra Lorenzo de’ Medici e Sisto IV, Florenz 2013; Vom Humanismus zur Reformation. Girolamo Savonarolas Frührezeption im Deutschland des beginnenden 16. Jahrhunderts, in: Archiv für Reformationsgeschichte 106 (2015), S. 7–38. Marian Füssel, geb. 1973, Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Philosophie und Soziologie in Münster, Promotion 2004 in Münster mit einer Arbeit zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte, 2008 Juniorprofessor für Kulturgeschichte an der Universität Gießen, 2008 W1 Heyne-Juniorprofessor für die Geschichte der Frühen Neuzeit mit Schwerpunkt außereuropäische Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen, seit 2010 Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte in Göttingen. Wichtigste Veröffentlichungen: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006; Der Siebenjährige Krieg. Ein Weltkrieg im 18. Jahrhundert, München 2010; Zur Aktualität von Michel de Certeau. Einführung in sein Werk, Wiesbaden 2017. Martin Kintzinger, Studium der Geschichte und Germanistik an der TU Braunschweig; 1987 Promotion; Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HAB Wolfenbüttel,
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der Universität Stuttgart und der FU Berlin; 1997 Habilitation an der FU Berlin; 1999 bis 2002 Professor für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte an der Ludwig Maximilians-Universität München; seit 2002 Professor für die Geschichte des Hochund Spätmittelalters an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; 2011 Gastprofessur an der École des Hautes Études en Sciences Sociales Paris; wichtige Veröffentlichungen: Westbindungen im spätmittelalterlichen Europa. Auswärtige Politik zwischen dem Reich, Frankreich, Burgund und England in der Regierungszeit Kaiser Sigmunds (Mittelalter-Forschungen, 2), Stuttgart 2000; Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter, Ostfildern 2003; Experientia lucrativa? Erfahrungswissen und Wissenserfahrung im europäischen Mittelalter, in: Röckelein, Hedwig / Friedrich, Udo (Hrsg.), Experten der Vormoderne zwischen Wissen und Erfahrung (Das Mittelalter, 17), Berlin 2012, S. 95–117. Antonia Landois, 2000–2006 Studium der Geschichte und Germanistik an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg; 2008–2009 und 2011–2013 Lehrassistentin am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte; 2012 Promotion; 2013–2014 Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte an der Leibniz Universität Hannover; 2014–2016 Archivreferendarin für das Stadtarchiv Nürnberg an der Bayerischen Archivschule München; seit 2017 Abteilungsleitung am Stadtarchiv Nürnberg; wichtige Veröffentlichungen: Konkurrenz der Brieflehren in Ingolstadt? Zu einem bislang unbekannten Celtis-Fragment, in: Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 27 (2013), S. 53–69; Gelehrtentum und Patrizierstand. Wirkungskreise des Nürnberger Humanisten Sixtus Tucher (1459–1507) (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 77), Tübingen 2014; Frommer Zweifel am heiligen Wirken. Ein Einblick in die Bedeutung der Frömmigkeit im Nürnberger Humanismus um 1500, in: Hamm, Berndt / Kaufmann, Thomas (Hrsg.), Wie fromm waren die Humanisten? (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, 33), Wiesbaden 2016, S. 187–208. FranK Rexroth wurde 1988 in Freiburg im Breisgau promoviert aufgrund einer Arbeit über „Deutsche Universitätsstiftungen von Prag bis Köln“ (erschienen 1992). Anschließend forschte bzw. lehrte er am Deutschen Historischen Institut London und an der Humboldt-Universität Berlin, wo er sich 1998 habilitierte mit der Studie „Das Milieu der Nacht. Obrigkeit und Randgruppen im spätmittelalterlichen London“ (erschienen 1999, englisch als „Deviance and Power in Late Medieval London“ 2007). Nach einer Professur für die Geschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 1999 an der Universität Bielefeld wurde er 2000 auf eine Professur für Mittlere und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen berufen. Dort lehrt er seither. Er ist ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Mitglied der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica, im Beirat der Historischen Zeitschrift, im Kuratorium des Historischen Kollegs (München) sowie anderer gelehrter Vereinigungen. Forschungsaufenthalte verbrachte er u. a. an der University of California, Los Angeles, am Wissenschaftskolleg zu Berlin
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und am Institute for Advanced Study in Princeton, New Jersey; wichtige Veröffentlichungen: Deutsche Universitätsstiftungen von Prag bis Köln. Die Intentionen des Stifters und die Chancen ihrer Realisierbarkeit im spätmittelalterlichen deutschen Territorialstaat (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 34), Köln 1992; Die scholastische Wissenschaft in den Meistererzählungen von der europäischen Geschichte, in: Ridder, Klaus / Patzold, Steffen (Hrsg.), Die Aktualität der Vormoderne (Europa im Mittelalter, 23), Berlin 2013, S. 111–134; Wenn Studieren blöde macht. Die Kritik an den Scholastikern und die Kritik an Experten während des späteren Mittelalters (Randgänge der Mediävistik, 4), Bern 2015. SteFanie Rüther studierte Geschichte und Germanistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; dort wurde sie im Frühjahr 2000 promoviert; von 2000 bis 2008 arbeitete sie am SFB 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme“ als Wissenschaftliche Mitarbeiterin; von 2008 bis 2012 leitete sie eine Nachwuchsgruppe in der Graduiertenschule des Exzellenzclusters „Religion und Politik“; nach einer Anstellung als Referentin „Wissensforschung“ an der Zentralen Kustodie der Georg-August-Universität Göttingen ist sie seit 2015 Forschungskoordinatorin am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main; wichtige Veröffentlichungen: Prestige und Herrschaft. Zur Repräsentation der Lübecker Ratsherren in Mittelalter und Früher Neuzeit (Norm und Struktur, 16), Köln/Weimar/Wien 2003; Zwischen göttlicher Fügung und herrschaftlicher Verfügung. Katastrophen als Gegenstand spätmittelalterlicher Sicherheitspolitik, in: Kampmann, Christoph / Niggemann, Ulrich (Hrsg.), Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm, Praxis, Repräsentation, Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 335–350; als Herausgeberin: Integration und Konkurrenz. Symbolische Kommunikation in der spätmittelalterlichen Stadt (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, 21), Münster 2009. AlBert SchirrMeister, geboren 1969, Germanistik- und Geschichtsstudium an den Universitäten Freiburg i. Br. und Bielefeld, Promotion 2002; bis Oktober 2002 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit (ZFN) der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M.; 2002–2005 Forschungsstipendien an der Universität Bielefeld, am „Maison des Sciences de l’Homme“ in Paris und am MPIWG in Berlin. August 2005 bis Ende 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Humboldt-Universität Berlin am SFB 644 „Transformationen der Antike“ in einem Projekt zur humanistischen Historiographie; 2013–2015 Senior ResearchFellowship M4HUMAN (Gerda-Henkel-Stiftung) an der EHESS Paris. Seither Mitglied des „GRIHL“ (Groupe de Recherches Interdisciplinaires sur l’Histoire du Littéraire) CRH-EHESS Paris; wichtige Veröffentlichungen: Triumph des Dichters – Gekrönte Intellektuelle in der Frühen Neuzeit (Diss.) (Frühneuzeitstudien, N. F., 4), Köln/Wien, 2003; Autopsie und Convivium. Wissenskulturen des 16. Jahrhunderts als Beispiel für kulturelle Transformationen, in: Georgi, Sonja et al. (Hrsg.), Geschichtstransformationen. Medien, Verfahren und Funktionalisierungen historischer
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Rezeption (Mainzer Historische Kulturwissenschaften, 24), Bielefeld 2015, S. 69–106; Agir au futur: Attitudes d’attente et actions expectatives [Actes des colloques en 2014 et 2015 à l’Institut historique allemand]: Les Dossiers du Grihl, 2017–01. MaxiMilian Schuh, geb. 1979, Studium der Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaften in München und Edinburgh; 2011 Promotion in Mittlerer Geschichte in Münster mit einer Arbeit über die Universität Ingolstadt im 15. Jahrhundert; nach Stationen in München und Göttingen seit 2013 akademischer Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Heidelberg; Forschungsschwerpunkte: Universitätsgeschichte des Reichs nördlich der Alpen im Spätmittelalter; Umweltgeschichte Englands im 14. Jahrhundert; wichtige Publikationen: Aneignungen des Humanismus. Institutionelle und individuelle Praktiken an der Universität Ingolstadt im 15. Jahrhundert (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, 47), Leiden/Boston 2013; Making Renaissance Humanism Popular in the Fifteenth Century Empire, in: Dooley, Brendan (Hrsg.), Renaissance Now! The Value of the Renaissance Past in Contemporary Culture, Oxford u. a. 2014, S. 81–101; Umweltbeobachtungen oder Ausreden? Das Wetter und seine Auswirkungen in den grundherrlichen Rechnungen des Bischofs von Winchester im 14. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 43 (2016), S. 445–471. Jana Madlen Schütte, 2004 bis 2009 Studium der Mittleren und Neueren Geschichte und der Deutschen Philologie in Göttingen; 2015 Promotion; 10/2015 bis 9/2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart; seit 10/2016 Referendarin an der Staatsbibliothek zu Berlin; Forschungsschwerpunkte: Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte und Medizingeschichte; wichtige Publikationen: Medizin im Konflikt. Fakultäten, Märkte und Experten in deutschen Universitätsstädten des 14. bis 16. Jahrhunderts (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, 53), Leiden/Boston 2017; als Herausgeberin: Zwischen Konflikt und Kooperation. Praktiken der europäischen Gelehrtenkultur (12.–17. Jh.) (Historische Forschungen, 114), Berlin 2016 (mit Jan-Hendryk de Boer und Marian Füssel). Hannah SKoda ist Associate Professor of History an der Universität Oxford und Fellow am St John’s College. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der spätmittelalterlichen Sozial- und Kulturgeschichte; derzeit arbeitet sie an einem Projekt zum Ausdruck von Nostalgie im langen 14. Jahrhundert; wichtige Veröffentlichungen: Medieval Violence: Physical Brutality in Northern France, c.1270–c. 1330, Oxford 2012; als Herausgeberin: Contact and Exchange in Later Medieval Europe. Essays in Honour of Malcolm Vale, Woodbridge u. a. 2012 (mit Patrick Lantschner und Robert Shaw); Legalism: Anthropology and History, Oxford 2012 (mit Paul Dresch). Sita StecKel studierte und promovierte (2006) an der LMU München mit einer Studie zu „Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmittelalter. Autorität, Wissens-
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konzepte und Netzwerke von Gelehrten“. Seit 2004 war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar und Exzellenzcluster der WWU Münster tätig. Nach einem Postdoctoral Fellowship an der Harvard University, Cambridge/MA, wechselte sie als Trägerin eines Dilthey Fellowships 2012 auf eine Juniorprofessur für die Geschichte des Früh- und Hochmittelalters in Münster. Sie habilitiert zur Öffentlichkeit des französischen Bettelordensstreits; wichtige Veröffentlichungen: Charisma and Expertise. Constructing Sacralized Mastership in Northern and Western Europe, c. 800–1150, in: Speer, Andreas / Jeschke, Thomas (Hrsg.), Meister und Schüler (Miscellanea Mediaevalia, 39), Berlin/New York 2016, S. 641–679; Networks of Learning in Byzantine East and Latin West. Methodological Considerations and Starting Points for Further Work, in: Steckel, Sita / Gaul, Niels / Grünbart, Michael (Hrsg.), Networks of Learning. Perspectives on Scholars in Byzantine East and Latin West, c. 1000–1200, (Byzantinistische Studien und Texte, 6), Münster, 2014, S. 185–233; Wissensgeschichten. Zugänge, Probleme und Potentiale in der Erforschung mittelalterlicher Wissenskulturen, in: Kintzinger, Martin / Steckel, Sita (Hrsg.), Akademische Wissenskulturen. Praktiken des Lehrens und Forschens vom Mittelalter bis zur Moderne (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, 13), Bern 2015, S. 9–58. Martin WagendorFer, geboren 1973 in Amstetten (Niederösterreich); Studium der Geschichte, Klassischen Philologie (Latein) und Alten Geschichte an der Universität Wien. 1999 bis 2001 DOC-Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 2001 Promotion bei Univ.-Prof. Winfried Stelzer an der Universität Wien. 2003/04 und 2006 Rom-Stipendiat der ÖAW. 2004 bis 2006 und 2008 bis 2012 Mitarbeiter an der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters der ÖAW. 2006 bis 2008 Mitarbeiter im DFG-Projekt „Edition der Historia Austrialis des Eneas Silvius Piccolomini“ an der LMU München unter der Leitung von Prof. Dr. Claudia Märtl. 2008 Habilitation an der Universität Wien für Historische Hilfswissenschaften und Mittelalterliche Geschichte. Vertretungsprofessuren an der Universität Wien, der LMU München und der Universität Innsbruck. Sommer 2014 bis 2015 DFGProjekt (Eigene Stelle) bei den Monumenta Germaniae Historica in München („Politische Archäologie“ im hoch- und spätmittelalterlichen Bayern und Österreich). Seit 1. Oktober 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Innsbruck; wichtige Publikationen: Die Schrift des Eneas Silvius Piccolomini (Studi e testi, 441), Città del Vaticano 2008; Die Handschriften der alten Wiener Universitätsbibliothek in der Stiftsbibliothek Seitenstetten (Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 804), Wien 2011; als Editor: Eneas Silvius Piccolomini, Historia Austrialis (MGH, Scriptores rerum Germanicarum, Nova series, 24), 2 Bde., Hannover 2009 (zusammen mit Julia Knödler). WolFgang Eric Wagner studierte von 1988 bis 1993 Germanistik und Geschichte an der HU und der FU Berlin; 1997 bis 1998 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter
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am DFG-Projekt „Quellencorpus um mittelalterlichen Stiftungswesen“; 1999 wurde er an der HU Berlin promoviert; von 2001 bis 2006 arbeitete er als Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Rostock, wo er im Anschluss bis 2012 eine Juniorprofessur für die Geschichte des Mittelalters und der Historischen Hilfswissenschaften innehatte; 2009 habilitierte er sich an der Universität Rostock; nach einer Professurvertretung an der Georg-August-Universität Göttingen von 2011 bis 2012 ist er seit 2012 Professor für Geschichte des Mittelalters an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster; wichtige Veröffentlichungen: Universitätsstift und Kollegium in Prag, Wien und Heidelberg. Eine vergleichende Untersuchung spätmittelalterlicher Stiftungen im Spannungsfeld von Herrschaft und Genossenschaft (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik, 2), Berlin 1999; Die liturgische Gegenwart des abwesenden Königs. Gebetsverbrüderung und Herrscherbild im frühen Mittelalter (Brill’s Series on the Early Middle Ages, 19), Boston/Leiden 2010; Verheiratete Magister und Scholaren an der spätmittelalterlichen Universität Wien, in: Grössing, Helmuth / Mühlberger, Kurt (Hrsg.), Wissenschaft und Kultur an der Zeitenwende. Renaissance-Humanismus, Naturwissenschaften und universitärer Alltag im 15. und 16. Jahrhundert (Schriften des Archivs der Universität Wien, 15) Wien 2012, S. 257–278. ThoMas WoelKi, 1996–2005 Studium der Rechtswissenschaft, Geschichte und Romanistik in Berlin und Caen; 2010 Promotion; seit Oktober 2010 Bearbeiter der Acta Cusana am Lehrstuhl Mittelalterliche Geschichte II an der Humboldt Universität zu Berlin; aktuelle Forschungen zur mittelalterlichen Rechtswissenschaft und zu Nikolaus von Kues; wichtige Publikationen: Lodovico Pontano (ca. 1409–1439). Eine Juristenkarriere an Universität, Fürstenhof, Kurie und Konzil, (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, 38), Leiden/Boston 2011; Herausgeberschaften: Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues, Bd. 2/1–3, Hamburg 2012–2017 (gemeinsam mit Erich Meuthen, Hermann Hallauer u. Johannes Helmrath); Europa, das Reich und die Osmanen. Die Türkenreichstage von 1454/55 nach dem Fall von Konstantinopel. Johannes Helmrath zum 60. Geburtstag (Zeitsprünge. Forschungen zur frühen Neuzeit, 18,1–2), Frankfurt am Main 2014 (gemeinsam mit Marika Bacsóka u. Anna-Maria Blank). Susana ZapKe, Studium der Musikwissenschaft und Literaturwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. und an der Universität zu Köln; 1993 Promotion an der Universität Hamburg; 2009 Habilitation an der Universität Salzburg; seit 2009 Professorin für Historische Musikwissenschaft an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien; 2009 bis 2012 Leiterin des Forschungsprojektes Musik in Wien im Umfeld der Universität und des Frühhumanismus, 14.–15. Jahrhundert; wichtige Veröffentlichungen: Das Antiphonar von Sta. Cruz de la Serós, XII. Jh., Neuried 1996; Musikalische Bildungs- und Ausbildungsprofile im Wissensraum Wien, 15. Jahrhundert. Dokumente zu ihrer Erschließung, in: Rausch, Alexander / Tammen, Björn R. (Hrsg.), Musikalische Repertoires in Zentraleuropa (1420–
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1450): Prozesse & Praktiken, Wien u. a. 2014, S. 347–375; als Herausgeberin: Hispania vetus. Musical-Liturgical Manuscripts from Visigothic Origins to the Franco-Roman Transition (9th–12th Centuries), Bilbao 2007.
Ortsregister Aachen 492 Aberdeen 21, 198 Alcalá 185, 188, 565 Alcalá de Henares 505 Alpirsbach 405 Altdorf 431, 433 Angers 397 Arezzo 198 Arquà 453 Augsburg 426, 457 Avignon 28, 106, 198, 205, 225, 277, 362–364, 373, 477 Baden 229 Bamberg 481 Barcelona 345, 493 Basel 21, 86, 104, 106, 108 f., 143, 181, 207, 341, 348, 398, 433, 435, 476 f., 479, 483, 485, 531, 551, 565, 569 Berlin 482 Bologna 11, 19, 21, 23, 25 f., 28–30, 54, 69, 90, 103, 105 f., 124, 133, 142, 146, 154 f., 157–159, 163 f., 168, 178–181, 193 f., 196–198, 200, 202 f., 222–224, 233 f., 236, 255 f., 266, 269, 287 f., 291, 361, 363, 379, 431 f., 437, 440 f., 453 f., 456, 476 f., 480, 498, 502, 505, 530, 541, 560–562, 565 Bonn 130, 481 Buda 198, 477 Breslau 481 Caen 106, 518 Cahors 130, 198 Cambridge 21, 27 f., 67 f., 70–73, 75, 103, 105 f., 134, 144, 156, 159, 163, 180, 191, 193 f., 203–205, 224, 227, 323, 396, 397, 411, 432, 434–437, 439, 441, 477, 484, 495, 506, 514, 520, 530, 540 f., 543, 546–548, 550–551 Coimbra 21, 431, 435, 480, 541, 505 Coventry 405 Cuenca 461 Dillingen 208, 236, 484 Dôle 106
Douai 146 Dublin 437 Duisburg 481 Eichstätt 459 Erfurt 21, 41 f., 61, 97, 104–106, 108, 111, 131, 155, 157, 159, 161 f., 179, 196, 198, 208, 226, 229, 256, 280, 346, 348, 368, 374, 398, 405 f., 455, 458, 461, 477, 479–484, 497, 501, 565 Erlangen 484 Évora 505 Florenz 86, 179, 287, 421, 541 Frankfurt a. M. 369 Frankfurt a. O. 43, 104, 130, 133, 397 Freiburg 71, 104, 130, 132 f., 394, 411 f., 425 f., 441, 481, 484 Gießen 424, 478, 482, 484 Glasgow 198 Göttingen 195, 482 Gray 130 Graz 405 Greifswald 97, 104, 112, 133, 208, 397, 405, 423, 456, 475, 481 f., 484 Groningen 405 Halberstadt 269 Halle 195, 394, 482 Heidelberg 70, 96, 103 f.,, 109, 130, 132, 144, 155, 157, 159, 161, 179, 193, 198, 203, 223, 226, 229, 256, 339, 366, 368, 397, 432, 434 f., 477, 480–482, 484, 517 f., 530, 541, 551, 565 Helmstedt 209, 396, 405 f., 431, 435, 482 Herborn 482 Hodenburg 477 Huesca 198 Ingolstadt 43, 58, 60 f., 96, 98, 103–108, 110, 112, 161 f., 166, 180 f., 256, 260, 295, 369, 420, 452, 459, 461, 476, 480–484, 497, 532 Innsbruck 480 f. Jena 289, 424, 433, 483 f., 532 Kassel 478
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Ortsregister
Klosterneuburg 499 Köln 21, 61, 96, 99, 103 f., 108, 146, 155, 158 f., 161, 179, 180, 191 f., 196, 198, 206, 208, 281, 340, 362, 365–370, 374, 378, 398, 432 f., 461, 476 f., 480, 484, 517, 530 f., 541, 546, 567 Königsberg 208 Konstanz 133, 477 Kopenhagen 21, 198 Krakau 21, 104, 191, 193, 223, 290, 340, 434, 439, 477, 481, 483, 497 ., 501, 505, 530 Landshut 484 Leiden 41, 195, 405, 424 Le-Mont-Saint-Michel 532 Leipzig 97, 103 f., 108, 159, 167, 200, 259, 348, 351, 369, 395, 397, 424, 435, 480–483, 497, 499, 501, 502, 505, 560 f., 563–565 Lérida 21, 198, 435, 461 Lissabon 21, 130, 431 London 206, 225, 277, 477, 550 Löwen 61, 103 f., 108, 130, 140, 146, 180, 188, 292, 348, 366, 370, 374 Lübeck 405, 585 Lucca 370 Magdeburg 369 Mailand 198, 370, 503 Mainz 61, 104, 162, 192, 368 f., 374, 481 Marburg 369, 424, 435, 478, 482, 485 Meaux 461 Melk 499 Messina 22 Modena 456 Mondsee 499 Montpellier 21, 27 f., 105, 130, 154, 156, 159, 179, 195 f., 198, 222, 256, 360 München 484 Münster 180, 481, 482 Neapel 30, 268, 276, 550, 560 Nîmes 22 Nürnberg 58 f., 86, 229, 369, 455, 458 Olmütz 481, 483 Orange 198 Orléans 21, 27, 105, 121–123, 130, 163, 193, 198, 397, 433, 436, 477, 520 Orense 269 Oxford 21, 27 f., 54, 72, 75, 103, 105 f., 140, 144, 158 f., 163, 180 f., 190 f., 193 f., 198,
203–206, 223 f., 226–228, 231 f., 237, 270, 274, 276 f., 285, 323, 358 f., 361 f., 364, 366, 396 f., 410, 411, 432–434, 436 f., 439, 441, 452, 477, 494–497, 506, 520, 530, 532 f., 540 f., 546 f., 560 f., 563 Padua 21, 43, 69, 105, 120–124, 142, 180, 191, 193 f., 197 f., 203, 223, 232, 239, 269, 272 f., 287, 342 f., 366, 431, 437 f., 441, 453, 456, 480, 498, 502 f., 505, 541, 562 Palermo 454 Pamiers 130 Paris 11, 19, 21–25, 27–29, 31, 44 f., 69 f., 74 f., 103, 105 f., 120 f., 129 f., 139–143, 154–159, 162, 164 f., 168, 180, 182, 188, 190 f., 193–196, 198, 203–207, 221–227, 229, 234 f., 239, 255 f., 259, 270 f., 273–282, 290–292, 320, 325, 337, 344, 357–363, 365 f., 369 f., 373–375, 378, 392, 397, 422, 426, 432–435, 440, 453, 477, 480 f., 493–496, 499, 502, 505, 514, 516, 518 f., 521, 530 f., 533, 540–544, 546–550, 561, 566 Parma 366, 541 Pavia 194, 198, 441, 456, 502 f., 530, 565 Pécs 198, 405 Perugia 86, 89, 155, 179, 198, 203, 266, 268, 541, 564 Pforzheim 284 Piacenza 197 Pisa 130, 198, 203, 268, 283, 292 Pistoia 456 Poissy 453 Prag 30, 96, 104, 130, 132, 157, 159, 198, 202 f., 205, 223, 226, 235, 256, 358, 365, 368, 378, 395, 397, 434, 439, 477, 481, 483, 494, 497–499, 501, 503, 505, 516, 531, 533, 541, 561 Ravenna 86 Regensburg 457 Rom 130, 133, 140, 179, 203, 235, 281, 374, 431, 570 Rostock 97, 103 f., 130, 208, 259, 397, 405–411, 423, 434 f., 456, 478, 530 Salamanca 21, 159, 198, 228, 281, 342, 435, 438 f., 461, 505, 541, 565 Salerno 154, 195 f., 273 Santiago de Compostela 22
Ortsregister Salzburg 480 Seitenstetten 499 Siena 198, 287, 342 f., 432 Speyer 369 f. Soest 458 St. Andrews 21, 46, 75, 104, 198, 495 Straubingen 459 Straßburg 398, 482, 561 Tartu 405 Toulouse 21, 130, 159, 198, 223, 359 f., 434, 436, 541 Treviso 456 Trier 104, 160–162, 164, 369, 481 Tübingen 43, 103–106, 192, 433 f., 453, 459, 461, 480 f., 483, 517, 546, 562 Turin 441 Uppsala 21, 198, 257, 259 Venedig 124, 179, 227, 239, 370, 453
589
Vercelli 21 Verona 456 Vicenza 198 Vilnius 208 Warschau 494, 505 Wien 31, 43, 45, 71, 103–105, 108, 110, 121–123, 131 f., 140, 145, 155, 157 f., 160 f., 180, 191, 193, 196–198, 202–204, 223 f., 226, 255 f., 258 f., 279, 290, 295, 346, 349, 395, 405 f., 434 f., 439, 455–458, 475–477, 480, 482 f., 494 f., 497–500, 503, 505, 541, 551, 561, 565 Wittenberg 97, 104, 112, 130, 132, 181, 185 f., 188, 208, 231, 289, 348, 368 f., 481, 498, 531, 560, 566 Worcester 432 Würzburg 104, 396, 431, 435, 481, 483 f.
Die wichtigsten Forschungsbeiträge im Überblick
André Krischer (Hg.)
Stadtgeschichte
basistexte Frühe neuzeit – banD 4 Der herausgeber André Krischer, Studium von Geschichte, Philosophie und Anglistik. 2006 Promotion mit einer Arbeit über „Reichsstädte in der Fürstengesellschaft“, seit 2009 Juniorprofessor für Geschichte Großbritanniens, Habilitation 2015 mit einer Arbeit über englische Hochverratsprozesse. Forschungsschwerpunkte: Europäische Stadtgeschichte der Frühneuzeit, Britische Rechts- und Verfassungsgeschichte, Kriminalitätsgeschichte.
Stadtgeschichte ist ein zentraler Fokus der Frühneuzeitforschung. Ratsregiment, zünftische Wirtschaftsformen, Konflikte um bürgerliche Teilhabe am Politischen – all das verschaffte den Städten einen besonderen Status in einer Epoche, die durch eine Adels- und Fürstengesellschaft geprägt war. Was zeichnete Städte in dieser Zeit aus? Wie konnten sie sich als bürgerliche Welten in einer adligen Umwelt behaupten? Inwiefern haben sie sich aber auch angepasst und waren selbst ein Teil der vormodernen Ständegesellschaft? Solche Fragen standen bei den Historikern auf der Agenda, seitdem sich die Frühneuzeitforschung in den 1960er Jahren etabliert hat. Die Basistexte zur Stadtgeschichte bieten eine repräsentative Auswahl an Beiträgen, die dieses Forschungsfeld seitdem geprägt haben. Von der grundlegenden Frage nach Status und Besonderheit der frühneuzeitlichen Stadt reicht das Spektrum über Wirtschafts- und Selbstverwaltungspraktiken bis zu den neueren Forschungen über die Stadt als Raum von Kommunikation und Öffentlichkeit. Die ausführliche Einleitung bietet zugleich eine profunde Einführung in die frühneuzeitliche Stadtgeschichte. mit beiträgen von Otto Brunner, Peter Burke, Volker Press, Martin Dinges, Peter Blickle, Günther Lottes, Heinz-Gerhard Haupt, Rudolf Schlögl, Gerd Schwerhoff
2017 260 Seiten mit 4 Abbildungen 978-3-515-10831-7 kart.
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Zweite überarbeitete Auflage
Thomas Vogtherr
Einführung in die Urkundenlehre
der autor Thomas Vogtherr, Professor für Geschichte des Mittelalters an der Universität Osnabrück. Hauptarbeitsgebiete: Diplomatik, Historische Hilfswissenschaften, Landesgeschichte im norddeutschen Raum und Wissenschaftsgeschichte.
2017 166 Seiten mit 10 Abbildungen 978-3-515-11706-7 kart. 978-3-515-11710-4 e-book
Urkundenlehre ist als Historische Hilfswissenschaft unentbehrlich. Über lange Zeiten hinweg ist das Mittelalter das Urkundenzeitalter schlechthin: Urkunden stellen daher eine der zentralen Quellenarten für diese tausend Jahre europäischer Geschichte dar. Thomas Vogtherr bietet in diesem Band eine Einführung in Urkunden als Quellen, in den wissenschaftlichen Umgang mit diesen Quellen und in ihre Bedeutung für die Erschließung der mittelalterlichen Geschichte. Er gibt dem Leser das notwendige Handwerkszeug für den Umgang mit Urkunden der Kaiser und Könige, der Päpste sowie anderer Aussteller. Darüber hinaus behandelt er wesentliche Stationen der Wissenschaftsgeschichte und gibt erste Anregungen zur Auswertung von Urkunden – auch im Rahmen kulturwissenschaftlicher Fragestellungen. Abgerundet wird der Band durch umfangreiche Illustrationen und weiterführende Literaturhinweise. aus dem Inhalt Grundlegende Definitionen | Die Geschichte der Diplomatik als Wissenschaft | Die Entwicklung des Urkundenwesens von der Spätantike bis ins frühe Mittelalter | Die Entstehung der Urkunden | Äußere Merkmale der Urkunden | Innere Merkmale der Urkunden | Die Urkundensprache | Die Überlieferung der Urkunden | Urkundenfälschungen | Drei Fallstudien: Die Konstantinische Schenkung, das Privilegium Maius und die Urkundenfälschungen des Georg Friedrich Schott | Neuzeitliches Urkundenwesen | Diplomatik – eine historische Kulturwissenschaft? | Literatur, Quellen, Internetadressen | Index
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Michal Morawetz
Romantik in Böhmen Die Grundlagen des philosophischen Denkens des Grafen Georg von Buquoy
ContubernIum – bAnd 86 der Autor Michal Morawetz ist Doktorand am Institut für Geschichte der Philosophischen Fakultät der Südböhmischen Universität in České Budějovice und Archivar im staatlichen Gebietsarchiv Třeboň, Abteilung Český Krumlov. Forschungsschwerpunkte: die intellektuelle Geschichte der Habsburgermonarchie im Zeitalter der Romantik, insbesondere die geistesgeschichtliche Bedeutung des Grafen Georg von Buquoy, eines böhmischen Adeligen und Wissenschaftlers des Vormärz.
Graf Georg von Buquoy (1781–1851) wurde in der Geschichtsschreibung lange nur als ein patriotischer Gönner und Erfinder wahrgenommen. Erst vor ein paar Jahren rückten auch seine wissenschaftlichen Arbeiten in den Fächern Physik und Nationalökonomie in den Vordergrund. In diesen Studien deutet sich bereits an, dass die ungewöhnlich breiten Forschungsinteressen des Grafen durch eine gemeinsame Idee verbunden sind – der Schlüssel zum Verständnis des Wissenschaftlers Buquoy liegt daher in seinen zahlreichen philosophischen Schriften. Michal Morawetz präsentiert in diesem Band ein bislang unveröffentlichtes Manuskript, in dem der Graf seine philosophischen Anschauungen und seine Forschungsmethode darlegt. Darin werden die durch Naturphilosophie und zeitgenössische Esoterik inspirierten Reflexionen eines böhmischen Adeligen sichtbar, der im Zeitalter der Romantik deutschen Wissenschaftlern als ein angesehener Gesprächspartner galt. Aus dem InhAlt Zur Einleitung: Georg Buquoy in der Geschichtsschreibung | Die Bedingungen für Wissenschaft und Forschung im Vormärz | Graf Georg Buquoy (1781–1851): Kurzer Lebenslauf | Kern der philosophischen Grundansicht Georg Buquoys | Zusammenfassung | Edition | Erklärungen | Bibliographie und Quellenverzeichnis | Abstract | Register
2017 142 Seiten mit 2 Abbildungen 978-3-515-11753-1 gebunden 978-3-515-11754-8 e-book
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Das Schreiben über Universitätsgeschichte geht immer einher mit intensiver Quellenarbeit. Was wie eine Binsenweisheit anmutet, erweist sich in der Praxis nicht selten als Herausforderung: Die für die jeweilige Fragestellung relevanten Quellen müssen ausfindig gemacht, die Methoden zur Auswertung ausgewählt werden. Hier schaffen die Autorinnen und Autoren mit ihren Beiträgen Orientierung, indem sie die einschlägigen Quellensorten vorstellen. Dazu zählen Textquellen wie Matrikeln, Statuten, Privilegien, Akten, Consilia, Disputationen, Kommentare, Predigten und Reden, aber auch Bilder und dingliche Quellen wie Alltagsgegenstände, Gebäude und Grabmäler. Beiträge zur universitären Verwaltung, zur Universität als Ort des Lehrens und Lernens sowie zu den verschiedenen Weisen der Repräsentation der Institution und ihrer Mitglieder runden den Band ab und eröffnen eine weitere Perspektive auf die Geschichte der Universitäten im Europa der Vormoderne.
ISBN 978-3-515-11309-0
9
7 83 5 1 5 1 1 3090
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