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German Pages 901 [904] Year 2016
Neue Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit
Herbert Jaumann, Gideon Stiening (Hrsg.)
Neue Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit Ein Handbuch
ISBN 978-3-11-028976-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-028999-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038877-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort 1. Der vorliegende Band mit Beiträgen zu einem weitgespannten Themenfeld der Forschungen zur Frühen Neuzeit in Europa führt das im Jahre 2011 erschienene Handbuch fort und füllt manche der damals offen gebliebenen Lücken. Man muß freilich kein Frühneuzeitforscher sein, um festzustellen, daß weiterhin viele Desiderate bestehen bleiben und sich weitere Lücken aufgetan haben – Qui plura novit, eum maiora sequuntur dubia (mehr zu wissen, vergrößert auch die Zweifel).1 Zu den offenkundigen Lücken im ersten Band dieses Handbuches gehörte unter anderem ein Beitrag, der sich eingehend und kritisch mit dem Begriff und dem Namen für seinen Gegenstand, nämlich mit dem übergreifenden Epochenkonzept, der Makroepoche Frühe Neuzeit beschäftigte.2 Mit der ausführlichen Abhandlung von Eric Achermann (Münster) wurde diesem Mangel nun abgeholfen. Achermanns weit ausgreifende Erörterung von Theorien und Konzepten der Frühen Neuzeit als Epoche hat freilich den anderen Titelbegriff des Handbuch, die Gelehrtenkultur, kaum berührt. Gegenüber der Frühen Neuzeit als Markierung der zeitlichen Bestimmung und Begrenzung und der Rolle in der üblichen Epochenabfolge handelt es sich dabei sogar um die eigentliche Benennung des Gegenstandbereiches und die Kategorie, auf die die Themen der Einzelbeiträge sich beziehen, wenn nicht darunter sich subsumieren lassen. »Die Verwendung von zeitgenössischen Begriffen zur Charakterisierung vergangener Strukturen ist ein Dauerproblem, ja das methodische Hauptproblem der Historiker. Vergangenheit kann nur mit der eigenen zeitgebundenen Sprache beschrieben werden. Es bleibt deshalb ein Wagnis, solche Begriffe einzusetzen, die die Zeitgenossen etwa des 16./17. Jahrhunderts selbst nicht verwendet haben«, oder, so muß man hinzusetzen: gar
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[L]e beaucoup savoir apporte l’occasion de plus douter, heißt es in Montaignes Essais, livre 2, XII: Apologie de Raymond Sebond (bei Stilett II, 270), in einer Wiedergabe des lateinischen Zitats, welches wohl auf Enea Silvio Piccolomini (Pius II) zurückgeht. Vgl. den Artikel von Herbert Jaumann: Frühe Neuzeit. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Neubearb. Bd. I (1997), S. 632–636.
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nicht oder in der heute üblichen Bedeutung nicht kannten.3 Diesen goldenen Worten Luise Schorn-Schüttes ist weiter nichts hinzuzufügen, und in diesem Sinn ist es gemeint, wenn wir sagen: Die Geschichte der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit und ihre Erforschung sind etwas anderes als Wissenschaftsgeschichte, weil Status, Wissen und Tätigkeit des Gelehrten, seine Herkunft und Sozialisation, seine Interessen, Motive, Ziele und Verfahren nicht dasselbe waren wie das, was man seit dem späteren 18. und dem 19. Jahrhundert unter Wissenschaft versteht. Im Hinblick auf die Frühe Neuzeit damit zu operieren, ist eine semantische Fehlorientierung. Die Vermeidung der Rede vom ›Wissenschaftler‹, von ›wissenschaftlich‹, ›Wissenschaft‹ und ›Wissenschaftsgeschichte‹ ist deshalb der erste Schritt auf dem Weg zur Gewinnung zuständiger Kategorien für die Gegenstände dieser Forschung. Ein Gegenstand wie die Gelehrtenkultur kann nur aus der semantischen Perspektive seiner eigenen Epoche zureichend bestimmt werden, und dabei muß dann von eruditio und studium die Rede sein und von Begriffen wie artes und scientiae statt von ›Natur‹- und ›Geistes‹- oder ›Kulturwissenschaften‹ – auch die Rede von ›Humanwissenschaften‹ trifft die Sache nicht, weil eigentlich alle Studien als studia humanitatis verstanden werden wollten.4 Schon eine knapp angedeutete Kontroverse wie die über die Zuordnung der grammatica, der »Grammatices natura« beim älteren Vossius wirft ein Licht auf die für einen Vergleich mit dem heutigen Reden von ›Wissenschaft‹ usw. inkompatiblen Parameter: Aufgrund der aristotelischen Definition hinsichtlich ihrer Aufgabe (officium, munus) ist grammatica »ars purè loquendi«, während sie für Scaliger und Nicodemus Frischlin eine scientia sei. »Eine scientia aber kann sie nicht sein, weil diese es«, so Vossius, »mit res aeternae zu tun hat; die grammatica aber hat es mit den res contingentes zu tun.«5 Es wurde bewußt kein Versuch gemacht, die Begriffe in diesem Zitat zu übersetzen; denn hat man die Naivität einmal abgelegt, mit der oft so anachronistisch von ›Wissenschaften‹ und dergleichen dahergeredet wird, tut man sich im Deutschen schwer
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In der Einleitung der Herausgeberin zu dem Band: Intellektuelle in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Luise Schorn-Schütte. Berlin: Akademie Verlag 2010, S. 7. Vgl. auch die Begriffsbestimmungen nach Aristoteles und im Neoaristotelismus der Frühen Neuzeit bei Barbara Mahlmann-Bauer: Artes et scientiae – Künste und Wissenschaften – im Verhältnis zur Natur, d. i. die Einleitung in die Wolfenbütteler Kongreßbände: Scientiae et artes. Die Vermittlung alten und neuen Wissens in Literatur, Kunst und Musik. Hrsg. von Barbara Mahlmann-Bauer, 2 Bde. Wiesbaden: Harrassowitz 2004 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 38), S. 11–62, bes. S. 29ff. Vgl. Gerardus Johannes Vossius: De arte grammatica libri VII. Amsterdam 1635, cap. II, S. 6. Dagegen Iulius Caesar Scaliger: De causis linguae Latinae libri XIII. Lyon 1540, lib. I, cap. I, und Nicodemus Frischlin: Quaestionum grammaticarum libri VIII. Venedig 1584, lib. I, cap. I.
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mit der Wiedergabe dieser historischen Kategorien. Diese Schwierigkeit dürfte u. a. eine Folge der ›Modernisierung‹ des Wissenschafts-, Universitäts- und Bildungsvokabulars im frühen 19. Jahrhundert sein, die sich in den preußischen Reformen konzentriert, von dort aus weitere Kreise gezogen und die Gelehrtenkultur in Deutschland (die damals nicht mehr so heißen sollte) nicht nur jahrhundertealter Einrichtungen, sondern auch deren Namen beraubt und sie gegenüber dem, was gemeineuropäisch (wie etwa auch in Nordamerika) weiterhin galt, ins Abseits gedrängt hat – ein Abseits, das bis heute als Fortschritt gerühmt wird. In Wahrheit war es einer der deutschen Sonderwege, dessen Folgen unter Modernisierungskosten zu verbuchen sind. Daß ein Studienabschluß wie der ›Bachelor‹ am Beginn des neuen Jahrtausends hierzulande unter den bekannten unglücklichen Umständen wieder eingeführt werden mußte und noch immer nur als reichlich sonderbares Fremdwort aus dem Englischen existiert, ist eine späte Folge dieses institutionellen und eben auch terminologischen Traditionsabbruchs. Dagegen blieben aus den genannten Gründen vor allem im Englischen die mit der vormodernen Gelehrtenkultur kompatiblen Benennungen auch in der Bildungssprache erhalten, und es ist ein erfreuliches Zeichen begrifflicher Wachheit, daß in der internationalen Frühneuzeitforschung, zumal in angloamerikanischen und niederländischen Publikationen, seit einigen Jahren der Gebrauch von Benennungen wie erudition und vor allem scholar, scholarship und history of scholarship anstelle des anachronistischen ›science‹, ›scientist‹ und ›history of science‹ zunimmt. Einen besonderen Hinweis verdient hier die neu gegründete Zeitschrift Erudition and the Republic of Letters, deren erstes Heft 2016 im Verlag Brill (Leiden/Boston) erschienen ist.6 »When talking about seventeenth-century scholarship, terms like ›science‹ are preferably avoided«, empfiehlt der Historiker Fokko Jan Dijksterhuis in einer Abhandlung über Isaac Vossius’ Arbeiten zur Optik.7 Eine Empfehlung, die weitergetragen und vor allem systematisiert zu werden verdient. 6
Vgl. den Band History of Scholarship. A selection of papers from the Seminar on the History of Scholarship held annually at the Warburg Institute, hrsg. von Christopher R. Ligota und Jean-Louis Quantin. Oxford: Oxford UP 2006, sowie die beiden Bände The Making of the Humanities, hrsg. von Rens Bod, Jaap Maat und Thijs Weststijn. Amsterdam: Amsterdam UP 2010, 2012. Dazu Rens Bod: A New History of the Humanities. The Search for Principles and Patterns from Antiquity to the Present. Oxford: Oxford UP 2013 (zuerst niederl. 2010). 7 In: Isaac Vossius (1618–1689) Between Science and Scholarship. Hrsg. von Eric Jorink & Dirk van Miert. Leiden: Brill 2012 (Brill’s Studies in Intellectual History, 214), S. 157– 185, hier 185. Auch zu derartigen kategorialen Fragen, die sich an den Arbeiten des jüngeren Vossius immer wieder ablesen lassen, vgl. die Rezension dieses reichhaltigen Bandes von Herbert Jaumann in: Scientia Poetica 18 (2014), S. 327–334. Vgl. auch den Band Art and Science in the Early Modern Netherlands. Hrsg. von Eric Jorink und Bartholomeus Ramakers. Zwolle: WBooks 2011.
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In der deutschsprachigen Forschung scheint es bis auf weiteres keine Alternative zur Bezeichnung und zum Konzept der Gelehrtenkultur zu geben. Die wichtigsten Kriterien dessen, was in diesem Band darunter verstanden werden soll, wurden im vorausgehenden Band der Diskurse kurz genannt und sind im Prinzip die gleichen geblieben: (1.) Es geht nicht nur um intellektuelle und theoretische, sondern auch um soziale und materielle Kultur, die (2.) im wesentlichen pränational ist, nicht eigentlich international, und in diesem Sinne so übernational, wie sie in Europa seither nie wieder gewesen ist und nie wieder sein kann. Sie beruht (3.) auf einem jüdisch-christlichen Fundament, und ein Aspekt dieser Gelehrtenkultur ist (4.) immer Antikerezeption, classical tradition, da sie in der lebendigen Kontinuität der griechischen und lateinischen Antike steht, mehr oder weniger vermittelt durch das Christentum, wenngleich zunehmend durchsetzt von theologie- und religionskritischen Absichten und Bewegungen.8 Aber ebenso wichtig wie die Durchsetzung dieses Konzepts der Gelehrtenkultur gegen das anachronistische Reden von ›Wissenschaft‹, ja wichtiger noch ist seine weitere historische Konkretion zumal in Anbetracht der bekannten ›Baustellen‹ der Forschung. Dazu zählt die Geschlechterfrage, über die inzwischen hinreichend bekannte ›Querelle des femmes‹ hinaus, etwa die je nach kultureller Umgebung nicht leicht einzuschätzende Rolle der ›dames savantes‹ von der Art der Marie de Gournay und ihrer Alliierten wie Montaigne oder später François Poullain de la Barre: »l’esprit n’a pas de sexe«. Leider ist es nicht gelungen, diesen Band mit einem geeigneten Beitrag zu diesem Thema zu bereichern. Vor allem aber zählt dazu das Verhältnis zu dem nicht weniger strikt historisch zu verstehenden Konzept der Gelehrtenrepublik, besser: der Respublica litteraria im Verständnis des europäischen Humanismus und Späthumanismus zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert, also ›Lateineuropas‹, das aber je länger desto mehr auch in den nationalen europäischen Gelehrtenkulturen über Italien und Frankreich hinaus, in den Niederlanden, in England, in Skandinavien und zuletzt auch in den deutschsprachigen Ländern an Bedeutung gewann. Auch dieses Konzept samt seiner Komponenten und Varianten muß semantisch aus der Perspektive seiner Genese und der Geltung in seiner Epoche verstanden werden. Das kann auch heißen, daß etwas, das in der unübersichtlichen Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts als bedeutsam erscheinen mag, aus der Perspektive der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur 8
Nach dem Vorwort des Herausgebers in: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hrsg. von Herbert Jaumann. Berlin: de Gruyter 2011, S. VIII. Vgl. auch das Vorwort des Verf. in: Herbert Jaumann: Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit, Bd. 1: Bio-bibliographisches Repertorium. Berlin, New York: de Gruyter 2004, S. VIIIf.
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eine geringe oder keine Beachtung verdient. Mit Hilfe der Staatsmetapher ›Respublica‹ wurde die Kommunikation innerhalb der Gelehrtenkultur normativ bestimmt, manchmal auch mit utopischem Einschlag. Die Bestimmung dürfte jedoch weniger universell gewesen sein, als ihre Rhetorik behauptet. Und eben weil im Zeichen der zentralen Metaphorik zwar ein universalistischer Anspruch erhoben wurde, unter dem gleichen Titel aber durchaus spezifische, exklusive Normen vertreten wurden, sollte die Forschung auch andere Konzepte ins Auge fassen, mit deren Hilfe die Selbstbeschreibung der Kommunikationsverhältnisse in der Gelehrtenkultur formuliert worden sein mag,9 und der Ansatz bei der Institution der Universität und ihren neben den Fakultäten und Disziplinen spezifisch vormodernen Teilinstituten wie den Bursen und Collegien kann sich als ergiebig erweisen, sofern die richtigen Fragen gestellt werden.10 Geeignete theoretische Analyseansätze scheint es hingegen weniger zu geben als gemeinhin angenommen. Während die soziologische Feld-Theorie Pierre Bourdieus explizit in der Zeit nach der Frühen Neuzeit ansetzt und das Konzept des champ littéraire auch nach Ausweis entsprechender Studien von Bourdieu selbst und seinen Schülern erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts wirklich ›greift‹, ist es hingegen im Fall der Applikation von Niklas Luhmanns Systemtheorie und ihrer Differenzierungstypologie bekanntlich in erster Linie der Übergang zur Frühen Neuzeit, dessen Interpretation mit Hilfe seiner Begriffe erheblich gewinnen kann, und dies immerhin gelegentlich auch im Detail, wenn man an Luhmanns LiebesStudie denkt und diese nicht, wie es oft geschieht, im Stil eines theoretischen Mantras zitiert (Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, 2015 in 13. Aufl.).11 Es bleiben Fragen wie die zum Verhältnis der Gelehrtenkultur zu den Schönen Künsten und zur literarischen Kultur. Auch wenn man nicht, analog zur Rede von der ›Wissenschaft‹, einen anachronistischen Literaturbegriff 9
Das ist eine ausdrückliche Folgerung aus den Thesen der Abhandlung von Herbert Jaumann: Respublica litteraria: Partei mit einem Programm der Parteilosigkeit. Gegen das anachronistische Mißverständnis eines mehrdeutigen Konzepts der Frühen Neuzeit. In: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch 26 (2014), Thema: Gelehrtenrepublik, hrsg. von Marian Füssel und Martin Mulsow, S. 17–30, dort mit der weiteren Literatur. 10 Dazu vieles in den neueren Forschungen zur Frühgeschichte der Universitäten im 15.– 17. Jahrhundert (jüngst etwa zu Altdorf, Königsberg, Leipzig, Ingolstadt oder Wien) sowie der Band: Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Hrsg. von Barbara Krug-Richter und RuthE. Mohrmann. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2009 (Beihefte zum Archiv f. Kulturgeschichte, 65). 11 Vgl. dazu ausführlicher und mit Hinweisen auf einschlägige Literatur Herbert Jaumann: Einführung, in: Thomasius im literarischen Feld. Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext. Hrsg. von Manfred Beetz und dems. Tübingen: Niemeyer 2003 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 20), S. 1–5, hier 3f.
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der späteren Neuzeit in Ansatz bringt, läßt sich für Poesie und Literatur doch nur eine höchstens marginale Position innerhalb der Gelehrtenkultur konzedieren, so wie das auch im oben (Fn 8) genannten Vorwort des Autorenlexikons formuliert wurde.12 Daß Literatur und Kunst aus der Perspektive der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit sensu stricto eher zu den randständigen Bereichen und Produktionen gehören, wird jedem Kenner der Epoche klar sein. Umgekehrt werden gelehrte Interessen und Theorien etwa in Malerei und Bildenden Künsten seit dem Frühhumanismus von immer mehr Künstlern selbst zu ihrer Sache gemacht, wie das jüngst Bernd Roeck in einem informativen Buch wieder gezeigt hat.13 »Schon vor 1500 ist in Italien von Kunst als Ars liberalis und vom pictor doctus die Rede, vom gelehrten Maler, analog zum poeta doctus; denn auch der Dichter nähert sich in dieser Zeit der Rolle des theoretisch kompetenten Gelehrten an, von der er aber nie so weit entfernt gewesen war wie der Künstlerhandwerker; schließlich gab es schon immer eine respektable Theorie der Dichtung, während es für die bildenden Künste dergleichen nie gegeben hatte. Jetzt aber rezipiert auch der Künstler Theorie und die kanonischen Autoren der Antike und schreibt selbst darüber, er hat gewöhnlich nicht selbst studiert, aber nicht selten unterhält er Kontakte zu Gelehrten aus geistlich-kirchlichen und universitären Milieus, er bildet sich im Selbststudium, und mancher besitzt eine Bibliothek. Es geht um die Entstehung eines neuen Künstlertyps: eines Künstlers, der auch gelehrt über sein Metier nachdenkt und liest, mit anderen darüber redet und debattiert und mehr und mehr auch selbst darüber schreibt und publiziert.«14
Wem nun die auf diesen Seiten vertretene Ablehnung der Rede von ›Wissenschaft‹ und ›Wissenschaftsgeschichte‹ zwar einleuchtet, der Begriff und die Bezeichnung Gelehrtenkultur und deren Geschichte jedoch nicht generell genug ist und der Rekurs auf die lateinischen Termini viel zu umständlich, der sucht vielleicht in einem Begriff die Lösung, der in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften seit vielen Jahren eine unerhörte Karriere gemacht hat. Wir meinen, ebenso schlicht wie ergreifend, den Begriff des Wissens, der Wissensgeschichte und sogar der Wissenskulturen.
12 Und im deutlichen Gegensatz zu den Weiterungen, die man in dem Beitrag MahlmannBauers lesen kann (vgl. Fn 4). 13 Bernd Roeck: Gelehrte Künstler. Maler, Bildhauer und Architekten der Renaissance über Kunst. Berlin: Wagenbach 2013. 14 Herbert Jaumann in der Rezension des Buches von Roeck, in: literaturkritik.de, Juni 2013 (15. Jg.).
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2. Ihren Ausgang nehmen diese kulturwissenschaftlichen Forschungen zur Wissensgeschichte bzw. zu Wissenskulturen15 bei Michel Foucaults Begriff des Wissens, dessen Historizität den zentralen Gegenstand jener ›bescheidenen Ideengeschichte‹ bzw. Archäologie des Wissens ausmacht,16 die Foucaults allgemeine Historiographie als diskontinuierliche, diskursgenerierte Wissensgeschichte konstituiert: »Die geringfügige Verschiebung, die hier für die Geschichte der Ideen vorgeschlagen wird und die darin besteht, daß man nicht Vorstellungen hinter den Diskursen behandelt, sondern Diskurse als geregelte und diskrete Serien von Ereignissen – diese winzige Verschiebung ist vielleicht so etwas wie eine kleine (und widerwärtige) Maschinerie, welche es erlaubt, den Zufall, das Diskontinuierliche und die Materialität in die Wurzel des Denkens einzulassen.«17
Eine solche Art ›Geschichte des Wissens‹ übte und übt einen prägenden Einfluss auf die Kulturwissenschaften aus – allerdings nicht nur derjenigen der Erforschung der Frühen Neuzeit. Dabei versteht sich solcherart Wissensgeschichte nicht als Ergänzung, sondern als Ersetzung aller Sozialgeschichte. Denn die ökonomischen und politischen Strukturen gelten nicht als fundierende Realien der historischen Prozesse – u. a. weil es aufgrund des diskursiven Universalismus gar keine Realien gibt18 –, Kultur als Wissen wird vielmehr von einer Vielzahl nicht hierarchisierbarer Bedingungsdiskurse konstituiert, von denen Ökonomie und Politik eben nur zwei neben anderen ausmachen. Und wenn bereits seit einigen Jahren beispielsweise in den wissensgeschichtlichen Literaturwissenschaften ökonomische Daten wieder zum Kontext der Literatur aufgerufen werden, dann ist das keine Rückkehr zur Sozialgeschichte, sondern geschieht im Rahmen der 15 Siehe hierzu jetzt auch den Band: Wissen. Wissenskulturen und die Kontextualität des Wissens. Hrsg. von Hans Jörg Sandkühler. Bern u. a. 2014 (darin programmatisch ders.: Wissenskulturen. Zum Status und zur Funktion eines epistemologischen Konzepts, S. 59–72, sowie Claus Zittel: Wissenskulturen, Wissensgeschichte und historische Epistemologie, S. 91–110). 16 Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Übers. von Ulrich Köppen. Frankfurt/M. 1981, S. 194: »Vielleicht bin ich im Grunde nur ein Ideengeschichtler, aber ein verschämter oder, wenn man so will, ein anmaßender.« 17 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. 7., erw. Aufl. Frankfurt/M. 2000, S. 38, Hervorh. von uns. 18 Es ist von wesentlicher Bedeutung, diesen nominalistischen Zug an Foucaults allgemeiner Realitätskonzeption zu erkennen und in ihren Widersprüchen zu analysieren; zum expliziten Nominalismus der Foucaultschen Wissensgeschichte vgl. Gideon Stiening: »Glücklicher Positivismus«? Michel Foucaults Beitrag zur Begründung der Kulturwissenschaften. In: http://www.germanistik.ch/publikation.php?id=Gluecklicher_Positivismus.
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kulturalistischen Depotenzierung von Ökonomie und Politik zu historisch kontingenten Wissenskontexten der Literatur.19 Im Hinblick auf die Bewertung der Leistungsfähigkeiten des auch in der Frühneuzeitforschung längst angekommenen20 Programms einer Geschichte des Wissens lassen sich drei konstitutive Momente festhalten, die im Folgenden kurz einer kritischen Darstellung unterzogen werden sollen: (1) Die spezifische Form der Historisierung des Wissens, (2) die Entdifferenzierung und Entgrenzung des Wissensbegriffes und (3) eine eigentümliche Ästhetisierung bzw. Poetisierung im Zusammenhang seiner literaturwissenschaftlichen Verwendung. (1) Die erste Prämisse der von Foucault ausgehenden Wissensgeschichte besteht in der Annahme einer grundlegenden Diskontinuität von Geschichte: »Das […] moderne Konzept von Kulturwissenschaft beruht auf der Einsicht, daß es nur ein Apriori gibt, das historische Apriori der Kultur.«21 Diese axiomatische Setzung kulturwissenschaftlicher WissensHistoriographie besagt, dass sich historische Veränderungen ausschließlich über unvermittelbare Brüche oder Unvereinbarkeiten realisierten. Für Foucault, auf den die Kategorie des historischen Apriori zurückgeht, gilt diese Unvergleichlichkeit insbesondere für die von ihm rekonstruierte Episteme von Epochen. In den Kulturwissenschaften gilt dieser »gnadenlose Historismus«22 als radikale Historisierung. Doch lässt sich deren angebliche Radikalität bestreiten: Schon Manfred Frank konnte nachweisen, dass die abstrakte Setzung historischer Diskontinuitäten, die auf Foucaults Kategorie eines historischen Apriori basiert, instabil ist, weil der Begriff der Diskontinuität nur logisch möglich und verständlich ist in seinem Verhältnis zu einer vorausgesetzten Kontinuität; keine Diskontinuität ohne Kontinuität, so Franks klare und eine für Foucaults Geschichtstheologie des Bruchs desaströse Erkenntnis.23 Alle Versuche der Feststellung von
19 Vgl. hierzu Sandra Pott: Wirtschaft in Literatur. ›Ökonomische Subjekte‹ im Wirtschaftsroman der Gegenwart. In: KulturPoetik 4.2 (2004), S. 15–33, oder auch Michael Horvath: Literatur und Ökonomie. Ein Problemaufriss. In: literaturkritik.de, vom 04.12.2014. 20 Siehe hierzu, um nur einige aktuelle Beispiele zu nennen, Robert Felfe: Naturform und bildnerische Prozesse: Elemente einer Wissengeschichte in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts. Berlin, Boston 2015; Geschichte(n) des Wissens. FS für Wolfgang E. J. Weber. Hrsg. von Mark Häberlein, Stefan Paulus. Augsburg 2015; Markus Friedrich: Die Geburt des Archivs: eine Wissensgeschichte. München 2013. 21 Hartmut Böhme: Art. »Kulturwissenschaft«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus Weimar u. a. Berlin, New York 1997–2004, Bd. II (2000), S. 356–359, hier 357. 22 Zu dieser Bestimmung des Foucaultschen Verständnisses von Historizität vgl. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt/M. 1985, S. 296. 23 Vgl. hierzu Manfred Frank: Ein Grundelement der historischen Analyse: die Diskonti-
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historischen Brüchen sind mithin auf deren Korrelation mit Konstanten angewiesen, wie dies schon viele der differenzierten Geschichtstheorien der Aufklärung vorführten.24 »Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharret die Substanz«,25 und an der Gültigkeit dieses Kantischen Satzes hat sich auch für eine auf Brüche spezialisierte Geschichtswissenschaft nichts geändert. Eine methodisch stabile und historiographisch ertragreiche Wissensgeschichte, die tatsächlich die Leistungen der Ideen-, Wissenschafts-, Philosophie- oder Literaturgeschichtsschreibung aufnehmen können und dabei die charakteristischen Besonderheiten eines frühneuzeitlichen Begriffs von Gelehrtenkultur in Abgrenzung vom modernen Wissenschaftsbegriff feststellen will, wird sich daher vom antinomischen Historismus des historischen Apriori verabschieden müssen. Historiographie – sei es als ausdifferenzierte Literatur-, Philosophie-, Theologie- oder Wissenschaftsgeschichte, sei es als übergreifende Wissensgeschichte – wird an der Formierung formaler Apriorismen nicht vorbei kommen. So hat Wolfgang Röd für die Philosophiegeschichtsschreibung die Möglichkeit und Produktivität der Begriffe des Fortschritts und Rückschritts als reflektierte historiographische Kategorien nahegelegt.26 Auch in anderen Disziplinen werden solche Überlegungen im Rahmen einer an Kurt Flasch oder Karl Eibl anschließenden Problem- oder Wissensgeschichte neuerdings wieder angestellt.27 Olaf Breidbachs wissenschaftsgeschichtliches Modell einer transdisziplinären Wissensgeschichte ist ebenfalls dem Versuch der Formierung entwicklungsgeschichtlicher Kategorien verpflichtet, die alle Varianten unkritischer Teleologie ebenso wie die abstrakter Diskontinuitätskonzeptionen hinter sich gelassen haben.28
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nuität. Die Epochenwende von 1775 in Foucaults Archäologie. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hrsg. von Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck. München 1987, S. 97–130. Vgl. hierzu Johannes Rohbeck: Geschichtsphilosophie zur Einführung. Hamburg 2004, S. 23–52. KrV, B224. Wolfgang Röd: Fortschritt und Rückschritt in der Philosophiehistorie. In: Veritas filia Temporis? Philosophiehistorie zwischen Wahrheit und Geschichte. FS für Rainer Specht zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Rolf W. Puster. Berlin, New York 1995, S. 31–43; zum Versuch einer wertfreien Anwendung dieser Distinktion siehe auch Gideon Stiening: »Es gibt gar keine verschiedenen Arten von Menschen.« Systematizität und historische Semantik am Beispiel der Kant-Forster-Kontroverse zum Begriff der Menschenrasse. In: Klopffechtereien – Missverständnisse – Widersprüche? Methodische und methodologische Perspektiven auf die Kant-Forster-Kontroverse. Hrsg. von Rainer Godel u. Gideon Stiening. München 2012, S. 19–53 Kurt Flasch: Philosophie hat Geschichte. Frankfurt/M. 2003, Bd. I , S. 62–80. Vgl. Olaf Breidbach: Goethes Metamorphosenlehre, München 2006, S. 310–319, sowie ders.:
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(2) Zweitens ist an den Modellen der Wissensgeschichte ein unabgegrenzter und historisch unbestimmter Begriff des Wissens festzustellen, da dieser mit Vorstellungen überhaupt bzw. mit mentaler Repräsentation identisch ist.29 Systematisch ist dieser Wissensbegriff in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen bereitet dieser Begriff Schwierigkeiten, weil es vor dem Hintergrund des diskursiven Universalismus der diskursanalytischen Wissensgeschichte keinerlei Unterscheidung – weder interne noch externe, mentale noch extramentale – gegenüber dem bzw. vom Wissen geben kann.30 Es gibt jedoch Gegenstände historischer Wissenschaften, die mit den Instrumenten einer Wissensgeschichte nicht angemessen zu erfassen sind, und daher muss jeder als historiographische Kategorie entworfene Wissensbegriff intensional wie extensional eingeschränkt werden. Es ist also – wenigstens – daran festzuhalten, dass zwischen der Geschichte der Ideen und der Geschichte der Realien ein systematisch zu bestimmender, methodisch zu reflektierender und inhaltlich zu gestaltender Unterschied besteht und damit die Geschichte der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit von der Geschichte der politischen Entwicklungen systematisch und methodisch zu unterscheiden ist – wenngleich sie auf dieser Grundlage erneut korreliert werden müssen. Die Frage nach dem Verständnis von ›Wissen‹ in den Gelehrtenkulturen der Frühen Neuzeit ist mithin nur als eine ideengeschichtliche Kontextualisierungstheorie zu beantworten, und zwar in deutlicher Abgrenzung von nur sozialgeschichtlichen oder nur wissenssoziologischen Perspektiven, und nicht in einer Konzeption von Wissensgeschichte, für die Wissen ein Synonym für Sein schlechthin ist. Diese Abgrenzung muss notwendig erfolgen, gerade um die je unterschiedliche Bedeutung ideen- und realgeschichtlicher Kontexte für die Entstehung und Entwicklung von gelehrtem Wissen in der Frühen Neuzeit zu erfassen. Zum anderen führt die Identifikation des Wissensbegriffs mit dem Begriff der Vorstellung überhaupt bzw. dem der mentalen Repräsentation
Neue Wissensordnungen. Wie aus Informationen und Nachrichten kulturelles Wissen entsteht. Frankfurt/M. 2008, S. 23f., S. 33ff. u. S. 42–61. 29 Zum Begriff der »mentalen Repräsentation«, seiner historischen Verbindung und systematischen Äquivalenz zum lockeschen Begriff der »idea« und damit dem der »Vorstellung überhaupt« vgl. Andreas Kemmerling: Vom Unverständlichen zum als selbstverständlich Vorausgesetzten – Lockes unerläuterter Ideenbegriff. In: Aufklärung 18 (2006), S. 7–20, bes. S. 7f. 30 Zur Erosion der Unterscheidung zwischen externen und internen Bedingungsfaktoren des Wissenschaftsprozesses durch eine kulturwissenschaftliche Diskurshistoriographie vgl. auch Michael Hagner: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. In: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. Hrsg. von dems. Frankfurt/M. 2001, S. 7–39, hier 23.
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zu einer Entdifferenzierung und Entgrenzung eines seit Aristoteles wohldefinierten Begriffs.31 Demgegenüber verlangt die Anschlussfähigkeit einer transdisziplinären Wissensgeschichte an andere Fächer, die aus begriffsgeschichtlichen und forschungspragmatischen Gründen zu Recht gefordert wird,32 zwischen Wissen, Glauben, Meinen, Empfinden, Sich-Einbilden, Phantasieren und Fühlen zu unterscheiden. Mit diesen Begriffen werden unterscheidbare mentale und emotionale Vermögen bzw. Prozesse erfasst, die mit je unterschiedlichen Verfahren anhand unterschiedlicher Kriterien bestimmbar sind, sich in Texten je anders realisieren und je anders analysiert und interpretiert werden müssen. Zu den Bestimmungen des Wissens gehört seit Aristoteles aus guten Gründen die Urteilsform ebenso wie der Wahrheitsanspruch und die Begründungsleistung.33 Dem Glauben wie dem Meinen, Imaginieren oder Fühlen, wie auch dem Erzählen oder anderen Formen poetischer Invention und Reflexion fehlen einzelne oder mehrere dieser Kriterien, oder sie werden durch andere bestimmt. Deshalb ist beispielsweise ›Literatur‹ kein Wissen, d. h. sie kann streng genommen keinen Wissensanspruch erheben – auch wenn sie in ihren historisch differierenden Erscheinungsformen Wissen ermöglicht.34 Zwar wird Dichtung im Laufe des europäischen Spätmittelalters zu einem Teil der Gelehrsamkeit, dennoch bleibt sie in ihrem Wissensstatus von dem der Logik oder Metaphysik deutlich geschieden. Wissensgeschichte ist darüber hinaus auch keine Glaubensgeschichte noch eine Geschichte der Meinungen. (3) Drittens ist eine auch, aber nicht nur in den Literaturwissenschaften forcierte allgemeine ›Poetologisierung‹ des Wissens35 nicht tragfähig.36 Im Zentrum dieser Prämisse steht die erkenntnistheoretische Annahme von einer »unauflöslichen Verschränkung von Poetologie und Epistemologie«.37 31 Siehe hierzu u. a. Wilhelm Schmidt- Biggemann: Welches Wissen? Vier aristotelische Meditationen. In: Scientia Poetica 15 (2011), S. 300–330. 32 So Tilmann Köppe: Vom Wissen in Literatur. In: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), S. 398–410, hier S. 398f. 33 Vgl. hierzu auch Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin, New York 2008, S. 12. 34 So zu Recht Tilmann Köppe: Vom Wissen in Literatur (wie Anm. 30), S. 403. 35 Siehe hierzu auch die schon ältere Forschung zur Anthropologie der Spätaufklärung, die neuerdings Anbindungen an die erfolgreiche Wissenspoetik sucht bei Carsten Zelle: Anthropologie – Wissen – Wissenschaft. Ansichten einer ›literarischen Anthropologie‹ der Aufklärung. In: Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung. Hrsg. von Stefanie Stockhorst. Göttingen 2013, S. 285–302. 36 Im übrigen lautet die korrekte Wortform ›Poeseologie‹, von griech. po[i]esis. ›Poetologie‹, ›poetologisch‹ sind demgegenüber schlicht falsche Wortbildungen, so alt und eingeschliffen sie auch sind. Vgl. ebenso argumentativ erschöpfend wie als »Zwischenruf« offensichtlich zu schwach und deshalb vergeblich Wilfried Barner: Poetologie? Ein Zwischenruf. In: Scientia Poetica 9 (2005), S. 389–399. 37 So Bernhard Dotzler: Literaturforschung & Wissen(schaft)sgeschichte. Vorwort. In: »fülle
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Jede Beschäftigung mit Erkenntnistheorie lässt jedoch wissen, dass diese These nicht zu halten ist; es ist schlicht falsch, dass jeder Erkenntnisvorgang (oder jede erkenntnistheoretische These oder gar Demonstration) an ästhetische Kriterien gebunden sei – und das gilt insbesondere für das Wissen im eigentlichen Sinne.38 Zwar ist unbestreitbar, dass sowohl unter systematischen als auch unter historischen Gesichtspunkten Erkenntnistheorie und Ästhetik in einem engen Zusammenhang stehen – so u. a. in der Formationsphase der Ästhetik im späten 18. Jahrhundert39 – ihre »unauflösliche« Identität wird jedoch auch in der Frühneuzeitforschung nicht behauptet. Alle drei Prämissen – die Diskontinuitätsthese, der unbestimmte Wissensbegriff und die apriorische Ästhetisierung des Wissens – legen es nahe, den Begriff einer Wissensgeschichte grundlegend anders zu begründen und zu gestalten, wenn er denn überhaupt für eine Geschichte der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit fruchtbar sein soll. Dazu wäre es allerdings erforderlich, an einem präzise definierten Wissensbegriff als historiographischer Kategorie festzuhalten.40 Es gibt keinen Grund, zu diesem Zweck die Definition des seit der Antike eindeutigen Wissensbegriffes aufzugeben. Der Terminus »Wissen« ist aus guten Gründen gemäß seinem Wahrheitsanspruch seit Aristoteles durch die Kriterien der wahren gerechtfertigten Überzeugung definiert. Es bedarf mithin, um dies noch einmal zu betonen, für jegliches Wissen, das mehr bzw. etwas anderes sein will als Glauben, Meinen oder Imaginieren, der Urteilsform, des Wahrheitsanspruches und einer diesen Anspruch realisierenden Begründungsleistung. Einerseits ist es, um an diesem elaborierten Wissensbegriff als historiographischer Kategorie festzuhalten, für jede Wissensgeschichte erforderlich, eine materiale von einer formalen Seite des jeweiligen Wissens zu unterschieden; man kann auch davon sprechen, dass man eine systematische von einer historischen Seite unterscheidet, allerdings nur bei Phä-
der combinationen«. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte. Hrsg. von dems. u. Sigrid Weigel. München 2005, S. 12. 38 Vgl. hierzu u. a. die analytischen Debatten bei Gerhard Ernst: Das Problem des Wissens. Paderborn 2002, oder den für die Geschichtswissenschaften besonders anschlussfähigen Band von Andrea Kern: Quellen des Wissens. Zum Begriff vernünftiger Erkenntnisfähigkeit. Frankfurt/M. 2006. 39 Vgl. hierzu u. a. Ernst Stöckmann: Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung. Tübingen 2009. 40 Diese klare Bestimmung eines Wissensbegriffes fehlt bei den letztlich im historistischen Allerlei verbleibenden Ausführungen von Lutz Danneberg u. Carlos Spoerhase: Wissen und Literatur als Herausforderung einer Pragmatik von Wissenszuschreibungen: sechs Problemfelder, sechs Fragen und zwölf Thesen. In: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Hrsg. von Tilmann Köppe. Berlin, Boston 2011, S. 29–76.
Vorwort
XVII
nomenen, die die Definitionselemente des mit guten Gründen tradierten Wissensbegriffs aufweisen. Die Aufrechterhaltung der traditionellen Wissenskriterien einer ›wahren gerechtfertigten Überzeugung‹ in einem nur formalen Status ermöglich es einerseits, Wissen von anderen Formen der Vorstellung und dergleichen abzugrenzen und so eine Wissensgeschichte von Glaubens-, Meinens-, Gefühls-, Imaginations- oder Erfahrungsgeschichten zu unterscheiden. In dieser Form wäre Wissensgeschichte ein spezifisches Segment einer ideengeschichtlichen Kontextualisierungskonzeption, die auf historistische Geltungsrelativierungen verzichten kann.41 Andererseits macht es die Einschränkung der historisch und systematisch wirksamen Definitionselemente des Wissens auf einen rein formalen Status möglich, eine Überprüfung der systematischen Virulenz des historisch je unterschiedlich gestalteten Wissens als historiographisch irrational zurückzuweisen; die Frage, ob die frühneuzeitliche Chiromantie einen systematischen – also aktuell wirksamen – Ertrag hat, ist irrational, während die Frage nach ihrem historischen Wissensstatus und den unterschiedlichen Niveaus ihrer Begründung beantwortet werden kann und für eine Wissensgeschichte frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit gewiß auch beantwortet werden müßte. Darüber hinaus würde es das Festhalten an einem wohldefinierten Wissensbegriff ermöglichen, begründete Differenzierungen im Programm einer sozial- und politikgeschichtlichen Kontextualisierung von Wissen einzuhalten;42 so betont der Wissenshistoriker Peter Burke: »Differenzieren müssen wir auch zwischen Wissen und Information, zwischen ›wissen, wie‹ und ›wissen, daß‹, zwischen Explizitem und Angenommenem. Der Einfachheit halber verwenden wir in diesem Buch den Begriff Information für das, was roh, spezifisch und praktisch ist, während Wissen das Gekochte bezeichnet, das gedanklich Verarbeitete oder Systematisierte.«43
Schon Jürgen Mittelstrass hatte weniger in historiographischen als vielmehr in systematischen und soziopolitischen Zusammenhängen empfohlen, an dieser Unterscheidung zwischen Wissen und Information festzuhalten:
41 Dazu die auch methodisch vorbildliche Studie von Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens, 3 Bde. München 2009–2014. 42 Siehe hierzu die innovativen, wenngleich noch weiter zu entwickelnden Konzepte Jonathan Israels zur Geschichte eines Radical Enlightenment, jetzt auch in: Radikalaufklärung. Hrsg. von Jonathan Israel u. Martin Mulsow. Frankfurt/M. 2014. 43 Burke, Peter: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 2001, S. 20.
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Vorwort
»Maßgebend für diese Bestimmung ist, daß ›Informationswissen‹ stets in erster Linie ein Faktenwissen ist, d. h. ein Wissen darüber, was der Fall ist (oder als solcher ausgegeben wird). Demgegenüber läßt sich ein Orientierungswissen als ein Zwecke- und Zielewissen definieren, d. h. als ein Wissen darüber, was (begründet) der Fall sein soll. Oder noch anders, den ›Ort‹ eines ›Informationswissens‹ im System des Wissens verdeutlichend, formuliert: ›Informationswissen‹ ist Teil eines Verfügungswissens und dient dem Orientierungswissen.«44
In der Anbindung an die Traditionen des Wissensbegriffes bietet Mittelstrass hiermit eine formale Unterscheidung, die auch in einer historiographischen Anwendung die historisch und disziplinär je unterschiedlichen Status spezifischer Inhalte der wissensgeschichtlich zu betrachtenden Vorstellungen zu differenzieren erlaubt. Nur eine Geschichte des Wissens, die diese u. a. von Mittelstrass und Burke verteidigte formale und daher transhistorische Differenzierung des Wissensbegriffes berücksichtigt, kann die qualitativen Unterschiede zwischen historisch variierenden Reflexionsformen angemessen bestimmen. Auf der Grundlage eines formalen Wissensbegriffes können zudem die unterschiedlichen Entwicklungsstadien gelehrter oder wissenschaftlicher, aber auch weltanschaulicher Konzepte distinkt erfasst werden; überhaupt können zwischen empirischem und nichtempirischem Wissen sowie zwischen Wissenschaften bzw. Gelehrsamkeit und Formen der ›Weltanschauung‹ deutliche Grenzen gezogen werden,45 um erst auf der Basis dieser Differenzierung die sich historisch je verändernden Korrelationen zu überprüfen. Die insoweit skizzierte Variante einer Wissensgeschichte, die ein Segment einer übergreifenden ideengeschichtlichen Kontextualisierung bestimmen sollte, würde sich in ihrem Selbstverständnis zum einen keineswegs in einer Epoche »nach der Sozialgeschichte« bewegen.46 An den Formen institutionell ungebundenen, erst recht des verbotenen Wissens47 ließe sich vielmehr zeigen, dass eine solche Wissensgeschichte eine sozialgeschichtliche Perspektive vielmehr in regelgeleiteter Form ergänzt und nicht ausschließt.48 Zum anderen befände sich der an den gelehrten Dis44 Jürgen Mittelstrass: Wissen und Grenzen. Philosophische Studien. Frankfurt/M. 2001, S. 44. 45 Vgl. hierzu die grundlegende Studie von Horst Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Wissen in Literatur. Hrsg. von Lutz Danneberg u. Friedrich Vollhardt. Tübingen 2002, S. 338–380. 46 Vgl. den für den ›cultural turn‹ einflussreichen Band: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Hrsg. von von Martin Huber u. Gerhard Laue. Tübingen 2000, S. 1–11. 47 Siehe hierzu Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit. Frankfurt/M. 2012. 48 Von seiten der Sozialgeschichtsschreibung wurde eine für eine eigenständige Ideengeschichte anschlussfähige Konzeption entwickelt von Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Darmstadt 2006.
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kursen und Disputen zu exemplifizierende Versuch einer Wissensgeschichte daher jenseits der Alternative zwischen der historistischer Relativierung von Wissensansprüchen und einer systematischen Depotenzierung eines historischen Wissensbegriffs. Eine vermittelnde Stellung dazwischen kann erstens eingenommen werden, weil gegen den Historismus an einem differenzierten und anspruchsvollen Begriff des Wissens festgehalten wird, der die Bestimmungen der Tradition aufnimmt und so an dem eigenständigen Geltungsanspruch des Wissens gegen andere Vorstellungsformen sowie gegen literarische Reflexionen festhält. Zweitens ergäbe sich für die hier gewählte Formation von Wissensgeschichte eine Mittelstellung, weil sie gegen eine systematische Austreibung des Wissensbegriffes aus den Geschichtswissenschaften mit Hilfe eines rein formalen Status seiner Momente dessen historische Realisationen nicht an einem materialen Wahrheitsgehalt überprüfen muss. So ließe sich an einem bestimmten Segment einer umfassenderen Kontextualisierungsgeschichte wissensgeschichtlicher Gegenstände arbeiten, ohne in philosophisch-systematische Auseinandersetzungen verstrickt zu werden. Das kann vorerst entweder beispielhaft an einzelnen Motiven, Begriffen und Problemfeldern erprobt werden,49 wie das auch die Beiträge des vorliegenden Bandes zeigen, oder an der kritischen Konstitution bzw. Rekonstitution von übergreifenden historiographischen Kategorien erfolgen, die die Verlaufsformen des frühneuzeitlichen Denkens50 zu erfassen versuchen. Die erneuerte Erforschung von Säkularisierungsprozessen51 – die als Signum der Frühen Neuzeit u. a. auf dem Gebiet der politischen Theorie nur in ihrer kontroversen Komplementarität mit den ebenso starken Resakralisierungstendenzen, mithin einer politischen Theologie, angemessen zu rekonstruieren sind – zeigt deutlich in diese Richtung, mit der die Geltung des Historismus in den Kulturwissenschaften beendet werden kann.52 49 Siehe hierzu den instruktiven Band: Scharlatan! Eine Figur der Relegation in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur. Hrsg. von Tina Asmussen u. Hole Rößler. Frankfurt/M. 2013. 50 Dass nach der langen Zeit der Konzentration auf Brüche nunmehr erneut Verlaufsformen in den Focus der Geschichtswissenschaften rücken, lässt sich nachlesen bei Barbara Stollberg-Rilinger: Die Frühe Neuzeit – eine Epoche der Formalisierung? In: Die Frühe Neuzeit: Revisionen einer Epoche. Hrsg. von Andreas Höfele, Jan-Dirk Müller u. Wulf Oesterreicher. Berlin, Boston 2013, S. 3–28. 51 Ausgehen müssen diese erneuerten Überlegungen von den differenzierenden Einsichten von Hans Blumenberg: Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, 2 Aufl. Frankfurt/M. 1988; vgl. aber aktuell: Postsäkularismus? Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. von Matthias Lutz-Bachmann. Frankfurt/M.: Campus 2015. 52 Siehe hierzu u. a. Literarische Säkularisierung im Mittelalter. Hrsg. von Susanne Köbele u. Bruno Quast. Berlin, Boston 2014, oder auch Gideon Stiening: Politische Theologie als Lösung und Problem. Francisco Suárez’ De legibus ac de legislatore als Krisenphänomen und
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Vorwort
Die Herausgeber danken dem Verlag De Gruyter, den Mitarbeitern des Lektorats und der Herstellung sowie insbesondere den Autoren, die trotz steigender Arbeitsbelastung, die immer weniger den Gegenständen ihrer Wissenschaft zugute kommt, ihre vereinbarten Beiträge geliefert haben. Schließlich möchten wir bei dieser Gelegenheit eines Autors gedenken, der zu den besten Kennern der frühneuzeitlichen Rechts- und Politiktheorie gehört hat und sogar mit zwei Beiträgen in diesem Band vertreten sein sollte, über Konzepte der Politik in der Frühen Neuzeit und über das Naturrecht von Melanchthon bis Locke und Pufendorf: Merio Scattola ist am 22. August 2015 nach langer Krankheit gestorben. Scattola lehrte Germanistik an der Universität Padua und unterhielt über Jahrzehnte enge und für beide Seiten fruchtbare Beziehungen zu vielen Einrichtungen und Freunden in Deutschland, dessen Sprache er perfekt beherrschte, zu Bibliotheken, Forschungsinstituten und Universitäten.
Die Herausgeber
Befriedungsangebot In: Ideengeschichte um 1600. Konstellationen zwischen Schulmetaphysik, Konfessionalisierung und hermetischer Spekulation. Hrsg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Friedrich Vollhardt. Stuttgart-Bad Cannstatt 2017 [im Druck].
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
I. Kategorien Eric Achermann Die Frühe Neuzeit als Epoche. Theorien und Konzepte . . . . . . . . . . . . 3
II. Themenfelder 1. Theologie und Religion Jörg Jochen Berns Wunderzeichen am Himmel und auf Erden. Der frühneuzeitliche Prodigiendiskurs und dessen medientechnische Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Andreas Pietsch Libertinage érudit, Dissimulation, Nikodemismus. Zur Erforschung gelehrter Devianz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Michael Multhammer Religio prudentum, eine frühneuzeitliche Gedankenfigur . . . . . . . . . 197 Jörg Jochen Berns Der deutsche Bildstreit des 16. Jahrhunderts. Hinweise zu Kontur und Binnenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2. Philosophie und Recht Anita Traninger Libertas philosophandi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
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Inhaltsverzeichnis
Günter Frank Philosophia perennis als christliche Einheits- und Universalwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Sergius Kodera Die gelehrte Magie der Renaissance von Marsilio Ficino bis Giovan Battista della Porta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Gideon Stiening Appetitus societatis seu libertas. Zu einem Dogma politischer Anthropologie zwischen Suárez, Grotius und Hobbes . . . . . . . . . . . 389 3. Kosmographie und Utopie Helmut Zedelmaier Neue Erfahrungen / Alte Texte. Anmerkungen zum frühneuzeitlichen Diskurs über die ›Neue Welt‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Martin Disselkamp Eine neue Welt. Kosmographie als gelehrtes Arbeitsfeld im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Thomas Schölderle Ikonografie der Utopie. Bilderwelten und ihr Symbolgehalt im utopischen Diskurs der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 4. Geschichte und Philologie Bernd Roling Odin, Apoll des Nordens. Der europäische Antiquarismusdiskurs und die Erschließung nationaler Traditionen in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Hole Rößler Polyhistorie und Polymathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 Caspar Hirschi Kritik und Korrektur. Über die philologischen Grundlagen der aufklärerischen Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677
Inhaltsverzeichnis
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5. Technik und Medizin Daniel Schäfer Quid sit mors: Medizinische Todesdefinitionen im frühneuzeitlichen Gelehrtendiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 Marcus Popplow Diskurse über Technik in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 739 Anhang 1: Gesamtverzeichnis der Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . 765 Anhang 2: Die Autoren. Biobibliographische Angaben . . . . . . . . . . 849 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861
I. Kategorien
Eric Achermann
Die Frühe Neuzeit als Epoche Theorien und Konzepte Zu den fadesten Topoi terminologischer und begriffsgeschichtlicher Erwägungen gehört die Klage, dass über die Bedeutung eines Begriffs ›leider keine Einigkeit herrscht‹. Die Aussage ist so richtig wie vollkommen überflüssig, da es überhaupt keine Bereiche gibt, in welchen von Einigkeit beherrschte Begriffe hausen. Der angebliche Mangel, mit dem wir es hier zu tun haben, ist weder den Geisteswissenschaften im Allgemeinen noch der historischen Arbeit im Besonderen eigen, sondern in der Wissenschaftlichkeit von Wissenschaft begründet, oder etwas genauer: in der Abhängigkeit fachsprachlicher Termini von theoretischen Einstellungen. Begriffe, darin ist man sich in der Wissenschaftstheorie mehrheitlich einig, zeichnen sich in ihren definierten Bedeutungen durch Angemessenheit bezüglich ihres Gegenstands, Kompatibilität mit anderen Termini und ›explanatorische‹ Leistungsfähigkeit aus, nicht aber durch Theorieunabhängigkeit; dies ist bei Begriffen wie ›Masse‹, ›Logarithmus‹ und ›Molekül‹ nicht anders als bei ›Komödie‹, ›Mimesis‹ oder ›Konstellation‹.
1. Präliminarien Was nun Ausdrücke betrifft, die zur Bezeichnung von Zeiträumen verwendet werden, liegen die Dinge etwas anders. Nicht dass sie nebulöser oder mehrdeutiger wären, ihr logischer Status aber wirft Fragen auf, deren sich die Historiker und Historikerinnen der verschiedensten Fachrichtungen oft nicht bewusst scheinen. So bedeuten Epochenausdrücke nicht eigentlich, sie nehmen vielmehr Bezug, und zwar auf einen singulären Gegenstand. Eine Epoche wird, zumindest in unserer linearen Auffassung von Zeit, nicht als wiederkehrend und multipel erachtet; und wir gehen auch nicht davon aus, dass sich parallel zu den europäischen Epochen Renaissance und Barock auf anderen Kontinenten und damit unverbunden ›die Renaissance‹ oder ›das Barock‹ abspielte. So hat denn ein Begriff
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Eric Achermann
wie ›Erneuerungsphase‹ eine Bedeutung, während ein Epochenname wie ›Renaissance‹ eine bestimmte, historisch einmalige Phase bezeichnet, deren räumliche und zeitliche Lokalisierbarkeit mit der Verwendung des Ausdrucks behauptet wird. Epochenausdrücke können somit auch nicht in einem engeren Sinne definiert werden,1 es ist vielmehr der bezeichnete Gegenstand, den es angemessen zu beschreiben gilt. Die Definition von ›Renaissance‹, nicht anders als von ›Frühe Neuzeit‹, besteht einzig in einer Aussage wie ›ist Name einer Epoche‹, alle weiteren Bestimmungen gehören in den Bereich der Sacherklärung. Kurz, logisch gesehen handelt es sich bei einem Epochenausdruck nicht um einen allgemeinen Begriff, sondern um einen singulären Terminus oder Eigennamen. Dass dem so ist, soll hier nicht ausführlich nachgewiesen,2 sondern an zwei Eigenschaften erläutert werden. Zum einen ist es schwierig, Ausdrücke wie ›Barock‹ oder ›Mittelalter‹ in den Plural zu setzen, und auch bei Ausdrücken wie ›Renaissance‹ oder ›Aufklärung‹ ist die uneigentliche Verwendungsweise im Falle einer Pluralbildung (›Renaissancen‹, ›Aufklärungen‹) ziemlich offensichtlich. Dies heißt jedoch nicht, dass diese uneigentliche Verwendungsweise nicht motiviert wäre. Sie reagiert vielmehr durchaus aufschlussreich auf Beschreibungen einer bestimmten Periode, eines bestimmten Zeitalters oder Zeitraums, indem sie aus den Elementen dieser Beschreibungen – bewusst oder unbewusst – Elemente der Bedeutung von Epochenausdrücken macht. Dadurch ›semantisiert‹ sie Eigennamen und wendet diese nun als allgemeine Termini auf Klassen von Gegenständen an – ein Vorgang, der so selten nicht ist: ›Machiavelli‹ ist eigentlich ein Eigenname und bezeichnet eine singuläre historische Person, nicht aber in dem Satz ›Er (oder sie) ist ein Machiavelli‹; und auch ›die Renaissance‹ bezeichnet eigentlich eine bestimmte Epoche, nicht aber in der Wendung ›die Renaissance der Pferdewette‹.3 Wer Eigennamen als allgemeine Ter-
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Vgl. Searle, John R.: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1983, S. 248: »Wenn es stimmte, daß ein Eigenname eine abgekürzte Beschreibung ist, müßten wir über Beschreibungen verfügen, die als definitorisch festgelegte Äquivalente für Eigennamen fungierten; es gibt aber im allgemeinen keine Definitionen für Eigennamen. Sogenannte Wörterbücher für Eigennamen enthalten zwar Beschreibungen der Namensträger, aber in den meisten Fällen sind diese Beschreibungen keine definitorisch festgelegten Äquivalente für die Namen, da sie dem Träger nur zufällig zukommen.« Für eine ausführliche Behandlung der Frage vgl. Achermann, Eric: Epochennamen und Epochenbegriffe. Prolegomena zu einer Epochentheorie. In: Zeitenwende. Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses. Hrsg. von Peter Wiesinger, Bd. 6: Epochenbegriffe. Grenzen und Möglichkeiten. Hrsg. von Uwe Japp, Ryozo Maeda und Helmut Pfotenhauer. Bern 2002, S. 19–24; ders.: Existieren Epochen? In: Epochen. Hrsg. von Peter Strohschneider und Friedrich Vollhardt. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49 (2002), H. 3, S. 222–239. Bezeichnend ist etwa folgendes Argument: »In the cultural universe of the twelfth century
Die Frühe Neuzeit als Epoche
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mini verwendet, der kann – solange sein Sprachgefühl (wie dasjenige eines Panofsky4) nicht rebelliert – sie ganz offensichtlich auch in den Plural setzen. Und so können wir in der Tat beobachten, dass die genannten Pluralbildungen oft dazu dienen, anhand mutmaßlich typischer oder charakteristischer Merkmale eigentlicher Epochen deren mutmaßliche Einheit in Zweifel zu ziehen: ›Genau besehen‹, dies will man mit diesen Pluralbildungen bedeuten, ›ist diese Einheit gar keine, oder keine hinreichend bestimmbare‹. Der Nachweis ihrer Singularität nämlich sei, entgegen der Epochenausdrücken inhärierenden Absicht, nicht ausreichend geleistet. Eine solche Argumentation kann beispielsweise ›Ottonische‹ oder ›Karolingische Renaissance‹ dazu verwenden, die Identität desjenigen in Frage zu stellen, was als epochale Leistung mit ›die Renaissance‹ verbunden wird. Die Kultur namens ›Renaissance‹ sei ›de facto‹ historisch bereits früher ausgebildet, womit denn der Renaissance geradewegs das Recht abgesprochen wird, die behauptete Singularität zu besitzen.5 Nicht anders verhält es sich mit Epochenausdrücken, die gleichsam komparatistisch auf andere ›Kulturräume‹ übertragen werden, wie etwa ›Aufklärung‹ auf die arabische oder die Trias ›Altertum, Mittelalter, Neuzeit‹ auf die chinesische Geschichte.6 Hier geht es nicht um die Epochen ›die Aufklärung‹ bzw. ›die Neuzeit‹, sondern um Ideen von Aufgeklärtheit und Modernität, die als allgemeine Einsichten in die Periodizität historischer Entwicklungen auf andere ebenfalls als periodisierbar erachtete Entwicklungen übertragen werden. Ganz gleichgültig wie sinnvoll solche Analogiebildungen auch sein mögen, so kann der Transfer solcher Bezeichnungen natürlich auch
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the new jurisprudence is a major component of that intellectual achievement which allows us to give the century the name of a renaissance. Hardly any legal historian has been able to discuss our period without speaking of ›rebirth and renewal.‹« [Hervorh. von mir, E. A.] In: Kuttner, Stephen: The Revival of Jurisprudence. In: Renaissance and Renewal in the Twelfth Century. Hrsg. von Robert L. Benson und Giles Constable. Cambridge/Mass. 1982, S. 299–323, hier S. 299. Panofsky, Erwin: Renaissance and Renascences. In: The Kenyon Review 6 (1944), no. 2, S. 201–236. Vgl. die klassische Untersuchung von Haskins, Charles Homer: The Renaissance of the Twelfth Century. Cambridge 1927; zur weiteren Entwicklung der Debatte vgl. u. a. Renaissances Before the Renaissance. Cultural Revivals of Late Antiquity and the Middle Ages. Hrsg. von Warren Treadgold. Stanford 1984, hier vor allem den Beitrag von Ferruolo, Stephen C.: The Twelfth-Century Renaissance, S. 114–143; Colish, Marcia L.: Medieval Foundations of the Western Intellectual Tradition 400–1400. New Haven 1997, darin Kap. The Renaissance of the Twelfth Century: S. 175–182; Melve, Leidulf: The Revolt of the Medievalists. In: Journal of Medieval History 32 (2006), S. 231–252. Vgl. Mittag, Achim: Die Konstruktion der Neuzeit in China. Selbstvergewisserung und die Suche nach Anschluss an die moderne Staatengemeinschaft. In: Eigene und fremde Frühe Neuzeit. Genese und Geltung eines Epochenbegriffs. Hrsg. von Renate Dürr u. a. München 2003, S. 141–161.
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Eric Achermann
zur Bildung neuer Epochennamen führen, die nun eben dem arabischen Raum, dem chinesischen Reich sowie in umgekehrter Richtung auch unserer eigenen (oder als eigen erachteten) Geschichte gelten; denn wieso sollten Ausdrücke wie ›Perestroika‹, ›Glasnost‹ oder ›Gilded Age‹ künftig nicht Phasen portugiesischer Geschichte bezeichnen? Ein solches Vergleichen im Hinblick auf ein epochales ›tertium‹ kann, wie jede andere aufmerksame Betrachtung auch, unser jeweiliges Verständnis von Aufklärung oder Neuzeit verbessern oder zumindest verändern, verleitet aber mitunter zur Konstruktion einer Geschichtsteleologie, die vorzüglich in der eigenen Periodisierung universalhistorische Züge erkennt und durch Übertragung Universalität konstituiert.7 Die zweite Eigenschaft hat mit demjenigen zu tun, was in der Namensforschung als ›onomasiologisches Dissoziationsgesetz‹8 bekannt ist. Es besagt, dass ein Ausdruck dann ein Eigenname ist, wenn er mit dem bezeichneten Gegenstand eine so enge Bindung eingeht, dass eine ursprüngliche Bedeutung verdrängt wird: Die Erwähnung von Freiburg lässt selten Gedanken zur Bedeutung von ›frei‹ und ›Burg‹ aufkommen. Mag zwar in der Namensforschung Uneinigkeit darüber herrschen, ob ein Personenname nicht bloß eine bestimmte Person bezeichne, sondern in den meisten Fällen auch das Geschlecht, vielleicht auch noch die Erwartung der Eltern, die geographische Herkunft, den sozialen Rang, die herrschenden Moden etc. bedeute, so kommen ihm diese Eigenschaften einzig in Hinsicht auf das Sprachsystem oder quasi-systemische Bereiche der Sprache und wohl eher metasprachlich zu (Wortfeld, Etymologie, Soziolekt, regionalsprachliche Varietäten, statistische Verbreitung etc.), als dass sie seine semantische und pragmatische Primärfunktion beträfen. In der Logik werden solche Erwägungen ›per definitionem‹ bei der Behandlung von Eigennamen ausgeschlossen: Felix hieße auch dann noch ›Felix‹, wenn er nicht glücklich sein sollte. Tatsächlich können wir auch bei Epochen feststellen, dass sogar diejenigen Historikerinnen und Historiker, die zum Beispiel das politische Denken der Aufklärung als wenig aufgeklärt erachten, auch weiterhin den Ausdruck ›Aufklärung‹ für die Epoche verwenden. 7
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Besonders intrikate Fälle bestehen wohl darin, dass westliche Periodisierungsvorstellungen von fremden Kulturen importiert und programmatisch dazu eingesetzt werden, der eigenen Geschichte eine Richtung zu geben, die sich so zwar gegen die eigene Tradition auf ein fremdes kulturhistorisches Verständnis beruft, dieses jedoch radikal uminterpretiert; vgl. Lamarre, Thomas: Art. »Japan«. In: The Routledge Companion to Literature and Science. Hrsg. von Bruce Clarke, Manuela Rossini. London, New York 2011, S. 497–507. Vgl. Lötscher, Andreas: Der Name als lexikalische Einheit. Denotation und Konnotation. In: Namenforschung. Name Studies. Les Noms Propres. Ein internationales Handbuch zur Onomastik. Hrsg. von Ernst Eichler, Gerold Hilty, Heinrich Löffler, Hugo Steger und Ladislav Zgusta. Bd. 1. Berlin 1995, S. 448–453.
Die Frühe Neuzeit als Epoche
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Doch wozu diese sehr bruchstückhaften Anmerkungen zum logischen Status von Epochenausdrücken? Betrachten wir die großen historiographischen Debatten der letzten Jahrzehnte, so entsteht der Eindruck, dass – neben der Erörterung der moralischen Schuld gewisser Akteure – Fragen nach dem Profil bestimmter Epochen sowie nach der adäquaten Methode, diese zu erfassen, wohl die prominentesten sind. Ja, es kommt der Verdacht auf, dass Epochenbezeichnungen trotz routinierter Versicherungen des Gegenteils wenig zu einer Vereinfachung der Wissenschaftskommunikation,9 weniger gar zu einer ordnenden Erkenntnis beitragen, sondern hauptsächlich als Objekte methodologischen, nicht selten auch ideologischen Dissenses in Erscheinung treten.
2. Schwierige Anfänge Wir sollten also etwas weniger zuversichtlich sein gegenüber einer Reihe von Argumenten, die wir allzu gerne in unseren Disputen über die jeweilige Richtigkeit von Epocheneinteilungen benutzen. Das Kriterium zur Beurteilung einer sinnvollen Verwendung von Epochenausdrücken besteht in der Plausibilität der Beschreibung, Charakterisierung oder Kennzeichnung, die wir von einer Epoche geben, um deren Einheit zum Ausdruck zu bringen. Wer von ›Früher Neuzeit‹ als Epoche sprechen will, muss ein überzeugendes Identitätsangebot machen; er oder sie muss klären, ob Ereignisse nachvollziehbar sowie Gewinn versprechend – das heißt mit ›explanatorischem‹ Wert für eine Reihe historischer Ereignisse – zu einer Einheit zusammengefasst werden können, deren Kennzeichnung distinktiv ist,
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Vgl. etwa Nünning, Ansgar: Kanonisierung, Periodisierung und der Konstruktcharakter von Literaturgeschichten. Grundbegriffe und Prämissen theoriegeleiteter Literaturgeschichtsschreibung. In: Eine andere Geschichte der englischen Literatur. Epochen, Gattungen und Teilgebiete im Überblick. Hrsg. von dems. Trier 2004, S. 1–24, hier S. 12f. Nünning zählt sieben Funktionen von Epochen- und Gattungsbegriffen auf, die in Kürze auf den einen Truismus reduziert werden können: Es ist gut, Worte zu haben, um über Dinge reden zu können (sei es affirmativ, fragend, komparativ oder lehrend). Wer wirklich bloß garantieren will, dass über ›das Gleiche‹ gesprochen wird, dem seien Jahrhunderte, Jahreszahlen sowie angemessen präzise Ortsangaben empfohlen. Die Praxis etwa, Literaturgeschichte nach Jahrhunderte einzuteilen, ist in den romanischen Sprachen gängig; sie scheint auch im deutschsprachigen Raum als eine weniger ›belastete‹ Alternative zu den Epochennamen an Beliebtheit zu gewinnen. Epochennamen haben mit Gattungsbegriffen weder logisch noch von der Sache, noch von ihrer Genese etwas zu tun. Sie sind keine analytischen Begriffe, sondern historische Bezeichnungen. Es mag aber immerhin eingeräumt werden, dass ihnen bisweilen die gleiche Funktion zugesprochen wird, nämlich Dinge zu lehren, von denen man nicht so genau weiß, wieso man sie zu wissen braucht.
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das heißt sich von der Kennzeichnung anderer raumzeitlicher Einheiten unterscheidet. Der Epochenname ›Frühe Neuzeit‹ nun ist relativ jung, und er ist aufgrund der alltagssprachlichen Verwendung seiner Komposita stark semantisch konnotiert. In einem weit höheren Maß als ›Gotik‹ oder ›Barock‹ läuft ›Frühe Neuzeit‹ Gefahr, auf eine oder gar seine Bedeutung hin verstanden zu werden. Da die ›onomasiologische Dissoziation‹ noch nicht vollständig vollzogen ist, verleitet das ›früh‹ von ›Frühe Neuzeit‹, nach einer Hoch- oder eigentlichen Phase zu fragen, während ›Neuzeit‹ seinerseits eine Bedeutung suggeriert, die sich begriffsdefinitorisch aus der Abgrenzung auf eine alte oder ältere Zeit ergebe. Tatsächlich stellt diese doppelte Demarkation nicht die Lösung, sondern vielmehr ein methodologisches Problem bei der Erfassung unseres Zeitraums dar: Sie legt ein teleologisches Geschichtsverständnis nahe, das sich gerne, wenn auch oft unbewusst, in der Diagnose ›Übergang‹ artikuliert. Der Fokus so mancher historischen Untersuchung zur Frühen Neuzeit liegt denn nicht auf der zu untersuchenden Zeit, sondern auf dem anhaltenden Erfolg gewisser Neuerungen, und zwar in der Neuzeit ›tout court‹, sowie auf dem Erbe oder der Erblast früherer Zeiten (der Antike bzw. des Mittelalters), die als tradierte bzw. überkommene in ihr fortwirken.10 Widerstand gegen ein solch problematisches Geschichtsverständnis, nämlich eine historische Epoche letzten Endes auf ihren Beitrag für die Jetztzeit hin zu befragen, dürfte mit ein Grund gewesen sein, der zu der Großschreibung von ›früh‹ und damit der Betonung des Eigennamencharakters von ›Frühe Neuzeit‹ geführt hat.11 Ganz ungeachtet der theoretischen Richtung, die Untersuchungen zu einer korrekten Beschreibung der Frühen Neuzeit einschlagen, sollten wir unsere Vorstellungen von der 10 Auf diese Gefahr verweist mit aller Klarheit Jaumann, Herbert: Vorwort. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hrsg. von dems. Berlin, New York 2011, S. VII: »Epochenbezeichnungen sind weder wohldefinierte mathematische Zeichen, noch sind sie von einem terminologischen System getragen. Sie sind vielmehr überkommene Wortprägungen heterogener Herkunft, in der Regel mit einer eigenen, oft speziellen Geschichte. Man muß damit vorlieb nehmen, voluntaristische Versuche kurzfristiger Korrekturen sind hier aussichtslos, und seien sie – man denke an den notorischen Fall des ›Barock‹-Begriffs – noch so überzeugend und notwendig. Es hilft nur ebenso geduldige wie insistierende Reflexion auf die Vor- und Nachteile der im Gebrauch befindlichen Namen. Zu diesen ist sicher das Bestimmungswort ›früh‹ zu zählen, das dem Begriff automatisch den Index einer ›Vorgeschichte‹ zu einer ›späteren‹ (und womöglich ›eigentlichen‹) Neuzeit verpaßt und damit eine Teleologie suggeriert, die der Absicht, die besondere Eigenständigkeit dieser Epoche zu bekräftigen, auf fatale Weise zuwiderläuft […].« 11 Mieck datiert die Schreibung auf seine 1970 publizierte Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit; vgl. Mieck, Ilja: Die Frühe Neuzeit. Definitionsprobleme, Methodendiskussionen, Forschungstendenzen. In: Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungsergebnisse. Hrsg. von Nada Boškovska Leimgruber. Paderborn 1997, S. 17‑38, hier S. 22.
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Beschaffenheit des bezeichneten Zeitraums abhängig machen und nicht umgekehrt, die Identität der Frühen Neuzeit aus Vorgängigkeiten und Modernitäten montieren. Sicherlich finden sich bisweilen und nicht selten geeignete Anlässe, Geschichte und Geschichten mit Fokus auf das Transitorische und mit vorherrschendem Interesse an der Gegenwart zu erzählen, doch dient eine epochale Betrachtungsweise nicht zuletzt dazu, sich just gegen eine solche Sicht zu verwahren. Nach allen mir bekannten Theorien soll es bei Epochen um die Eigenheit, gar Eigengesetzlichkeit eines bestimmten Zeitraums gehen. Wie also lauten die guten Gründe, die es für die Verwendung des Namens ›Frühe Neuzeit‹ sowie einer dadurch implizierten Identität gibt? Die Geschichte diesbezüglicher Begründungen reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück.12 So erklärt Kurt Breysig 1898 den Zeitraum zwischen 1500 und 1789 zu einer Epoche, und dies, obwohl deren vorzüglichste Eigenschaft im ›Übergehen‹ bestehe. Ja, genau besehen, scheint das von Breysig konzipierte »Übergangszeitalter zwischen Mittelalter und Neuzeit« die Bezeichnung ›Mittel-‹ wohl eher zu verdienen, als es das Mittelalter je tat.13 Breysigs Überlegungen leiden offensichtlich an einer gewissen Zirkularität: Wurzeln und Früchte werden durch Bildungsprozesse verknüpft, die ›Übergang‹ heißen. Was aber als Wurzel, was als Bildung zu gelten hat, das zeigen uns die Früchte an. Eine solche Sicht läuft Gefahr, den Übergang als Mitte zu betrachten, um anschließend diese Mitte als ein Nicht-Mehr und Noch-Nicht in ihrem doppelten Nicht-Sein zu pejorisieren. Es dürfte kein Zufall sein, sondern vielmehr Not, dass eines der hauptsächlichen Probleme bei der Erfassung der Frühen Neuzeit bereits in diesen frühen Überlegungen voll zum Ausdruck kommt, nämlich die gleichzeitige Behauptung von Transitorik und Identität: »[m]an wird von der Epoche zwischen 1500 und 1789 doch im wesentlichen als von einer Einheit sprechen dürfen.«14 Den Grund für das beredte »doch« erkennt 12 Schulze, Winfried: ›Von den großen Anfängen des neuen Welttheaters‹. Entwicklung, neuere Ansätze und Aufgaben der Frühneuzeitforschung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44 (1993), S. 3–18, hier S. 4: »In der modernen historischen Forschung wird man den Berliner Kulturhistoriker Kurt Breysig als Historiker bezeichnen müssen, der als erster die Frühe Neuzeit als distinkte Epoche angesprochen hat.« 13 Breysig, Kurt: Die sociale Entwicklung der führenden Völker Europas in der neueren und neuesten Zeit. Ein Versuch. In: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft (Schmollers Jahrbuch) 22 (1898), S. 141–219, hier S. 141: »Jede Betrachtung des Übergangszeitalters zwischen Mittelalter und Neuzeit führt zu der einen ganz allgemeinen Beobachtung zurück, daß die Tendenzen, von denen die sociale Entwicklung der Epoche von 1500 bis 1789 beherrscht ist, im Grunde alle schon in dieser Periode ihren Ursprung haben: insbesondere die Wurzeln des modernen absoluten Staates reichen tief ins Mittelalter zurück.« 14 Breysig: Die sociale Entwicklung, S. 142.
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Breysig bei allem Übergang letztlich in der Stabilität des sozialen Gebildes und der Persistenz gewisser »Grundzüge«.15 Es sind aus dieser Warte nicht das Neue, sondern das »Fundament des socialen Gebäudes«, nicht die auf Veränderung zielenden Ereignisse, sondern vielmehr die auf Stabilisierung bedachte Organisation vormaliger Neuerungen, welche die Rede von einer Epoche als berechtigt erscheinen lassen.16 Mag an die Stelle der zur Abwertung verleitenden Vokabel ›Übergang‹ die nicht weniger problematische Belobigung ›kultureller Produktivität‹ sowie der immerzu positiv konnotierten ›Dynamik‹ getreten sein, so ist das »doch«, welches das Nebeneinander von Übergang und Fundament behauptet, damals wie heute bei der Bestimmung der Frühen Neuzeit ebenso intrikat wie auch bezeichnend. Aber nicht nur dieses Lavieren zwischen Persistenz und Wandel, sondern auch Breysigs Datierung wirft Fragen auf, welche die Frühneuzeit-Forschung bis heute begleitet. Verortete zwar zu Beginn der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts Werner Näf in seiner Rede vom »Frühling der Neuzeit« oder des »frühneuzeitlichen Staates« den genannten Frühling in der Zeit zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert,17 setzte Gerhard Oestreich 1953 seine »frühe Neuzeit« noch von dem darauffolgenden Barock ab18 und beschränkte auch Wilhelm Kamlah seine »Frühneuzeit« auf das 16. Jahrhundert,19 so setzte sich dennoch das Etikett ›Frühe Neuzeit‹ für eine mehrere Jahrhunderte umfassende Makroepoche durch. Der heute weit verbreitete Umgang mit der Frühen Neuzeit als einer ›longue durée‹, auf deren Hintergrund sich politische,
15 Breysig, ebd., S. 141: »Um das Jahr 1500 war ihre [i. e. dieser Periode] Formierung schon so weit vorgeschritten und hatte schon eine so feste Gestalt angenommen, daß ihr in ihren wesentlichen Grundzügen eine Jahrhunderte lange Dauer sicher war.« 16 Vgl. z. B. ebd., S. 142: »Der Absolutismus dagegen hatte wohl fast alle die Impulse, die ihn später so rasch vorwärts trieben, schon im späten Mittelalter empfangen, aber sich recht ausleben und auswirken konnte er erst nunmehr [das heißt im Zeitraum von 1500 bis 1789].« 17 Näf, Werner: Frühformen des modernen Staates im Spätmittelalter. In: Historische Zeitschrift 171 (1951), S. 225–243, hier S. 225: »Das 14. und das 15. Jahrhundert gelten mehr als ›Herbst des Mittelalters‹, denn als Frühling der Neuzeit«; ebd. S. 228: »Der Dualismus des frühneuzeitlichen Staates ist nicht einfach als Ergebnis machtpolitischer Auseinandersetzungen des Königs oder Fürsten und der nicht-fürstlichen Lehensträger, die sich korporativ, ständisch gruppiert hatten, aufzufassen.« Die Herrschaftsverträge, die hier beispielhaft zur Untermauerung der These genannt werden, reichen von 1215 bis 1514. 18 Oestreich, Gerhard: Der römische Stoizismus und die oranische Heeresreform. In: Historische Zeitschrift 176 (1953), S. 12–43, hier S. 21: »So erhält die noch keineswegs allgemein anerkannte These von der großen Wirksamkeit des Stoizismus in der frühen Neuzeit und im Barock Nachdruck von einer Seite [der Heeresreform] her, von der man es nicht erwartete.« 19 Kamlah, Wilhelm: »Zeitalter« überhaupt, »Neuzeit« und »Frühneuzeit«. In: Saeculum 8 (1957), S. 313–332.
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religiöse, soziale, wirtschaftliche, kulturelle etc. Konjunkturen abzeichnen, hat jedoch nicht dazu geführt, dass ›in puncto‹ Datierung so etwas wie Konsens herrscht. Was Beginn und Ende der Neuzeit betrifft, gehen die Ansichten weit auseinander. Ein primär verfassungsgeschichtliches Forschungssinteresse lässt Breysig, wie gesehen, Reformation und Revolution als Anfangs- und Schlusspunkt wählen. Dieser Ansicht steht eine kulturhistorisch orientierte Forschungstradition gegenüber, die ihr Augenmerk eher auf Veränderungen ästhetischer und ethischer Werthaltungen richtet. Der kaum zu überschätzende Einfluss, den kulturgeschichtliche Forschung in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfaltet hatte, wirkte sich nicht zuletzt auf die Periodisierung der Allgemeinen Geschichte aus und bestimmt auch heute noch die diesbezügliche Terminologie. Dies zeigt sich in dem Nebeneinander von Epochennamen, die ihren Ursprung in der Kunst- und Stilgeschichte haben (›Romanik‹, ›Gotik‹, ›Barock‹),20 anderen, die wohl eher programmatischen Ursprungs sind (›Aufklärung‹, ›Romantik‹)21 sowie schließlich eines Namens, der seit 20 Zur Geschichte von ›Barock‹ vgl. Jaumann, Herbert: Art. »Barock«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1 (1997), S. 199–204. 21 Es sei hier auf die frühe Verwendung von »Jahrhundert der Aufklärung« bei Prutz sowie »Epoche der Aufklärung« bei Meyen hingewiesen, die Zelle in seinem einschlägigen Handbuchartikel als erste Verwendung des Epochennamens ›Aufklärung‹ anzeigt; Zelle, Carsten: Art. »Aufklärung«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1 (1997), S. 160–165, hier S. 161. Prutz verweist auf den doppelten Ursprung der Charakteristik des Jahrhunderts, auf »religiöse Vertiefung des Pietismus« und »die Aufklärung der Philosophie« (Prutz, Robert Eduard: Der Göttinger Dichterbund. Geschichte der deutschen Literatur. Leipzig 1841, S. 6). Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts wertet er, gegen die zeitgenössische Einschätzung, als positive Weiterentwicklung der Reformation: »So unterscheidet man im achtzehnten Jahrhundert eine Aufklärung erstlich des Gemüthes: und diese in verschiedenen Sphären unsrer Bildung, in der religiösen als Pietismus, in der Sphäre der Poesie als Sentimentalität und Lyrik; sodann eine Aufklärung des Verstandes, des gemeinen Bewußtseins in der Wolfischen Philosophie, in Nicolai und all jenen Aufklärungsmännern von Profession; eine Aufklärung des Genies in der Sturm und Drangperiode; endlich eine Aufklärung des politischen Bewußtseins, des Bürgersinns und Patriotismus in dem Enthusiasmus für Friedrich den Großen, in dem deutschthümelnden Bardenwesen, nicht weniger in dem Interesse für die französische Revolution und Allem, was davon noch heutigen Tages durch unsre Pulse zuckt.« (ebd. S. 14). Trotz dieser Schilderung der verschiedenen Bereiche, sieht er jedoch in der Aufklärung eine transhistorische Konstante: »Daß, so aufgefasst, die Aufklärung keineswegs auf das achtzehnte Jahrhundert sich beschränkt, daß sie vielmehr so alt ist, wie die Geschichte überhaupt, und daß es, zum Beispiel, kaum jemals entschiednere und ausdrücklichere Aufklärer gegeben hat, als in Griechenland […].« (ebd.). Meyen, der seine Epoche der Aufklärung in die Entwicklungsgeschichte der Journalistik unter Berücksichtigung der ideellen Auseinandersetzung der Zeit stellt, hebt auf die zeitgenössischen Konfrontationen ab: Meyen, Eduard: Die Berliner Monatsschrift. In: Literarhistorisches Taschenbuch 5 (1847), S. 151–222, hier S. 156f.: »Ich wollte mir eine nähere Kenntniß der Epoche der deutschen Aufklärung verschaffen: zu welchem Ende ich mich sehr bald veranlaßt sah, auch die dahin einschlagende Journalistik ins Auge zu fassen, um mir die Kämpfe dieser Zeit in ihrer unmittelbaren Gestalt zu vergegenwärtigen.«
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den Anfängen einer einschlägigen Forschung für eine Kultur oder Zivilisation steht: ›Renaissance‹. Die Flut alternativer Datierungen, welche die Frage nach dem Anfang der Renaissance gezeitigt hat, betrifft unser Verständnis von Früher Neuzeit ganz direkt, sind es doch ›grosso modo‹ entweder Renaissance und Barock oder aber Renaissance, Barock und Aufklärung, die zusammen den Zeitraum Frühe Neuzeit bemessen. Ungeachtet der Frage nach dem Ende der Makroepoche ist man sich bezüglich des Anfangs der Frühen Neuzeit ziemlich einig, dass dieser untrennbar mit der Frage nach dem Ende des Mittelalters bzw. der Entstehung einer neuen Kultur, nämlich der Renaissance, zusammenhängt. Womit wir denn inmitten einer, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, seit Jahrzehnten geführten Debatte um die »distinctive physiognomy«22 der Renaissance angelangt sind. Nach einer weit verbreiteten Ansicht soll es Jules Michelet gewesen sein, der als erster ›Renaissance‹ als Epochenausdruck verwendet hat.23 Mitunter wird 22 Kristeller, Paul Oskar: Renaissance Thought. The Classic, Scholastic, and Humanistic Strains. (Überarb. und erw. Ausg. von: The Classics and Renaissance Thought, 1956). New York u. a. 1961, S. 4: »I merely maintain that the so-called Renaissance period has a distinctive physiognomy of its own, and that the inability of historians to find a simple and satisfactory definition for it does not entitle us to doubt its existence; otherwise, by the same token, we should have to question the existence of the Middle Ages, or of the eighteenth century.« – Zur Eigenständigkeit der Renaissance vgl. Achermann, Eric: Existieren Epochen? (wie Anm. 2). 23 Vgl. unter vielen [Mahlmann-]Bauer, Barbara: Art. »Renaissance«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3 (2003), S. 262–266, hier S. 263: »Michelet ›erfand‹ (Febvre) 1840 den Renaissance-Begriff für die sich aus dem Gegensatz zur ›tyrannie du moyen âge‹ definierende Mentalität einer Epoche, die in der bildenden Kunst des 14./15. Jhs. zum Ausdruck gekommen sei und im 16. Jh. alle Lebensbereiche (Literatur, Bildung, Politik, Naturkunde) durchdrungen habe.« Was ›Renaissance‹ als Epochennamen betrifft, ist dies schlicht falsch, erscheint der Ausdruck, ›notabene‹ auch schon in der deutschsprachigen kunstgeschichtlichen Literatur – so bei Franz Kugler (1837), Burckhardt (1837) und Eduard Kolloff (1840) – einigermaßen geläufig, bevor Michelet (recte: 1855) den Begriff mit einer ganz anderen als der geschilderten Intention zum Titel wählte; dazu vgl. Stierle, Karlheinz: Renaissance. Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hrsg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck. München 1987, S. 453–492, insbesondere S. 465–472 (hier weitere Angaben zur einschlägigen Forschung); ders.: Italienische Renaissance und deutsche Romantik. In: ›Italien in Germanien‹. Deutsche Italienrezeption von 1750–1850. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann. Tübingen 1996, S. 373–404, (zu Burckhardts früher Verwendung in Zeitschrift über das gesamte Bauwesen) S. 398; Freigang, Christian: Der Ort der Kunst in der Frühen Neuzeit. Wissenschaftsgeschichtliches zum Beginn der Frühen Neuzeit in der Kunstgeschichte sowie Anmerkungen zum kunsttheoretischen Diskurs nördlich der Alpen im 15. Jahrhundert. In: Die Frühe Neuzeit als Epoche. Hrsg. von Helmut Neuhaus. München 2009, S. 7–34, hier S. 12f. Zu einer Vorstellung von Renaissance, welche bereits im 18. Jahrhundert auftritt, vgl. das Standardwerk von Ferguson, Wallace Klippert: The Renaissance in Historical Thought. Five Centuries of Interpretation. Cambridge/Mass. 1948, S. 78–112 und S. 173‑194.
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jedoch vergessen, dass Michelet das 16. Jahrhundert im Auge hat, und zwar der Geschichte Frankreichs, und nicht etwa die italienische Kultur des 14. oder 15. Jahrhunderts.24 Dennoch bilden sowohl Datierung als auch Michelets Geringschätzung des kulturellen Gewichts des 14. und 15. Jahrhunderts in der Folge die eigentliche Krux der Forschung zum Beginn der Neuzeit: Brechen die kulturellen Leistungen der Eliten Norditaliens sowie Frankreichs und Burgunds25 im 14. und 15. Jahrhundert die Bahn, oder handelt es sich bei den so oft zitierten Werken eines Petrarca, Boccaccio, Giotto, Brunelleschi, Leonardo und auch noch Machiavelli vielmehr um vereinzelte, im großen und ganzen von den Zeitgenossen wenig beachtete elitäre Versuche, die Geschichte Europas aus der Totengruft des Mittelalters auferstehen zu lassen? Bekanntlich steht die Antwort und damit die kulturgeschichtliche Bewertung der Epoche im Zentrum einer Kontroverse, die mit den Namen Jacob Burckhardts und Johan Huizingas verbunden ist.26 Beider Perspektive, dies ist klar, unterscheidet sich deutlich von derjenigen eines Breysig: Geht es einem Vertreter der Verfassungsgeschichte hauptsächlich um die Funktion fürstlicher Machtausübung in der Herausbildung des modernen Staates,27 so stehen bei Burckhardt und Huizinga, nicht anders als bei Michelet, psychosoziale Aspekte zwischen Werthaltungen und Lebensführung, zwischen Mentalität und ethischer Reflexion im Zentrum der Aufmerksamkeit. Doch dort, wo Burckhardt Aufbruch und Befreiung aus den Zwängen der Tradition nicht zuletzt in der Entwicklung der schönen Künste erblickt, attestiert Huizinga eben diesen Künsten durch das ganze 15. Jahrhundert hindurch die etwas es-
24 Michelets Darstellung auf Datierung und Inhalt der Renaissance zu befragen, ist nicht einfach; zu weitausholend und auch beliebig ist das Material, das er in seiner Darstellung herbeizitiert. Betrachten wir das ganze Werk, so dürften wohl folgende Argumente als zentral und konsistent gelten: Das ausgehende Mittelalter war eine Zeit, die sich durch den radikalen Mangel an Leben und Zeugungskraft auszeichnete. Michelet stellt sich also die Frage: Wie und wieso hat das tote Mittelalter noch drei Jahrhunderte weitergelebt, und dies trotz der Leistungen solcher Figuren wie Brunelleschi, Donatello und Masaccio? Diese mussten nämlich den Weg der Kunst wählen, weil alle anderen Wege versperrt waren. Es sind denn Kolumbus, Kopernikus und Luther, welche die Veränderungen bewirken, die wir als entscheidend für die eigentliche Renaissance und das endgültige Ende des Mittelalters erachten sollten (vgl. Michelet, Jules: Histoire de France, Bd. 7: Histoire de France au seizième siècle. Renaissance. Paris 1855, S. LVI, LXXII–LXXXIV, CXXXf. und 310). 25 Zur Beziehung Renaissance/Burgund vgl. Belozerskaya, Marina: Rethinking the Renaissance. Burgundian Arts across Europe. Cambridge 2002, insbesondere S. 76–145. 26 Vgl. zu den beiden Erklärungsparadigmen Roeck, Bernd: Reformation und Gegenreformation. Die großen geistigen Ereignisse zwischen Mittelalter und Neuzeit. In: Propyläen Geschichte der Literatur, Bd. 3. Renaissance und Barock 1400–1700. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1984, S. 68–97, hier S. 68. 27 Ebd., S. 144: »Die praktische Regierungsweise der einzelnen Herrscher wird zuletzt immer den Ausschlag geben müssen, alles übrige bleibt Hülfsmaterial der Beurteilung.«
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kapistische Rolle,28 den »horror vacui« mit Schmuck und Prunk zu übertünchen.29 Hinter diesem Urteil Huizingas steht die Einsicht, dass jedem Anfang so etwas wie ein Ende innewohnt: »Wir können jede historische Periode als Anfang und als Ende sehen. Wir können unseren Blick auf das Neue richten, das darin keimt und Früchte getragen hat. So sehen wir gewöhnlich die Renaissance. Aber mit den letzten Betrachtungen habe ich Sie schon zu dem Blickwinkel geführt, sie als Ende zu sehen: Es war die Größe der Verzweiflung, der Lauf auf den Abgrund zu.«30
Es mag denn auch nicht überraschen, dass solche und ähnliche Befunde dazu geführt haben, die Zeit zwischen 1300 und 1500 auch aus Warte der Kulturgeschichte nun ihrerseits als Übergangszeit zu bezeichnen, sei es, dass ihr Hauptcharakter mit Ferguson »in a peculiarly fluid state« ent28 Vgl. z. B. eine Formulierung wie: »Alles war weithin Literatur geworden, eine brüchige Renaissance und leere Konvention. Überladener Prunk und Etikette sollten den innerlichen Verfall der Lebensform überdecken. Der ritterliche Gedanke des fünfzehnten Jahrhunderts schwelgt in einer Romantik, die durch und durch hohl und verschlissen ist.« In Huizinga, Johan: Herbst des Mittelalters. Studien über Leben- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden [zuerst 1941]. Hrsg. von Kurt Köster. 11. Aufl. Stuttgart 1975, S. 370. 29 Mit Bezug auf die Zeit der burgundischen Kultur von 1350 bis 1480 vgl. Huizinga: Herbst des Mittelalters, S. 365: »Die flamboyante Gotik ist wie ein endloses Orgelnachspiel; sie löst alle Formen in Selbstzergliederung auf, gibt jedem Detail seine unbeschränkte Durchführung bis ins Letzte, jeder Linie ihre Gegenlinie. Es ist ein ungebundenes Wuchern der Form über die Idee; das ausschmückende Detail greift alle Flächen und Linien an. In dieser Kunst herrscht jener horror vacui, den man vielleicht ein Merkmal zu Ende gehender Geistesperioden nennen darf./ Das alles bedeutet, daß die Grenzen zwischen Prunk und Schönheit schwinden. Schmuck und Ornament dienen nicht mehr der Verherrlichung des natürlich Schönen, sondern überwuchern es und drohen es zu ersticken.« Man vergleiche dagegen, wie Jacob Burckhardt (Die Cultur der Renaissance in Italien [zuerst 1860], Essen 1996, S. 298) sich zu Hubert und Jan van Eyck, zu prominenten Gegenständen von Huizingas Untersuchung also, äußert: »Mit dem 15. Jahrhundert rauben dann auf einmal die grossen Meister der flandrischen Schule, Hubert und Johann van Eyck, der Natur ihr Bild. Und zwar ist ihre Landschaft nicht bloss Konsequenz ihres allgemeinen Strebens, einen Schein der Wirklichkeit hervorzubringen, sondern sie hat bereits einen selbständigen poetischen Gehalt, eine Seele, wenn auch nur in befangener Weise. Der Eindruck derselben auf die ganze abendländische Kunst ist unleugbar, und so blieb auch die italienische Landschaftsmalerei davon nicht unberührt.« 30 Huizinga, Johan: Vortrag von Februar 1908 in Delft. Zit. nach: Strupp, Christoph: Johan Huizinga. Geschichtswissenschaft als Kulturgeschichte. Göttingen 2000, S. 136. Huizinga dürfte hier wohl an Michelet gedacht haben, der das Mittelalter nicht von einer »loi universelle de toute vie« [Universalgesetz des Lebens] befreit sehen möchte und dieses »comme nous tous, hommes, peuples et religions« [wie wir alle, Menschen, Völker und Religionen] erste durch eine notwendige »épuration de la mort« [Reinigung des Todes] als entwicklungsfähig erkennt, denn: »Est-ce un si grand mal de mourir? A ce prix, on renaît en ce qu’on eut de meilleur.« [Ist etwa der Tod ein solches Übel? Nur dadurch wird man in demjenigen wiedergeboren, was man als Bestes hatte.]; Michelet: Renaissance, Vorwort, o. S.
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deckt,31 sei es, dass sie mit Hobsbawm als bloßes »seasoning to an essentially medieval or feudal dish« betrachtet wird.32 Trotz, oder vielleicht gerade aufgrund all dieser Unwägbarkeiten zur Geburt der Moderne aus dem Geist der Renaissance hat das Etikett ›Frühe Neuzeit‹ an Popularität gewonnen und verdrängt bisweilen sowohl in der Allgemeinen Geschichte als auch in den Spezialgeschichten die alte Währung, die noch in Renaissance, Humanismus, Barock u. a. m. rechnete. Doch Gängigkeit bedeutet nicht Einigkeit, ganz im Gegenteil. Wenden wir uns einzig dem Bereich der Literaturgeschichte zu, so begegnen wir Datierungsvorschlägen, die noch verwirrender, wo nicht verwirrter sind, als jene, die den Übergang von Mittelalter zur Neuzeit markieren. Allein was die Periodisierung der deutschsprachigen Literatur betrifft, sehen wir uns auch in jüngster Vergangenheit mit einem breiten Spektrum konfrontiert: 1350 bis 1700, 1350 bzw. 1500 bis 1620, 1380 bis 1790, 1400 bis 1620, 1400 bis 1700, 1400 bis 1750, 1595 bis 1773, 1500 bis 1720,33 ganz zu 31 Ferguson: The Renaissance in Historical Thought (wie Anm. 23), S. 396: »The historian must be satisfied to found his synthesis on characteristic features of relative validity, upon a judicious weighing of more and less, rather than upon the hopeless search for absolute uniformity. This weighing of more and less is especially important in relation to the Renaissance, for, in accordance with its transitional character, standing as it did between two fairly well integrated types of civilization, its own civilization was in a peculiarly fluid state, filled with contrasting elements.« 32 Hobsbawm, Eric J.: The General Crisis of the European Economy in the 17th Century. In: Past and Present 5/1 (1954), S. 33–53, hier S. 33: »There is a taste of ›bourgeois‹ and ›industrial‹ revolution about 14th-century Tuscany and Flanders or early 16th-century Germany. Yet it is only from the middle of the 17th century that this taste becomes more than a seasoning to an essentially medieval or feudal dish. The earlier urban societies never quite succeeded in the revolutions they foreshadowed.« 33 Der Reihe nach: The Camden House History of German Literature. Hrsg. von James Hardin, Bd. 4: Early Modern German Literature 1350‑1700. Hrsg. von Max Reinhart. Rochester 2007; Brunner, Horst: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit im Überblick. Erw. Ausg. Stuttgart 2010; Keller, Andreas: Frühe Neuzeit. Das rhetorische Zeitalter. Berlin 2008, S. 18; Nusser, Peter: Deutsche Literatur. Eine Sozial- und Kulturgeschichte, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit. Darmstadt 2012 (setzt seine Darstellung der Frühen Neuzeit mit dem Ackermann aus Böhmen an und lässt sie mit den Rosenkreuzer-Schriften Andreaes enden); Sauder, Gerhard: Frühe Neuzeit, Frühe Aufklärung. Epochenprobleme. In: Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung. Hrsg. von Stefanie Stockhorst. Göttingen 2013, S. 25–46, hier S. 42: »Als konsensfähige Periodisierung des ausgedehnten Kontinuums ›Frühe Neuzeit‹ hat sich der Zeitraum zwischen 1400 und 1700 durchgesetzt; die möglichen Varianten für Beginn und Ende (z. B. 1720) sind hier zu vernachlässigen.« Der Befund mag umso mehr überraschen, da ja Sauder durch den ganzen Artikel hindurch Darstellungen mit massiv anderen Datierungsangeboten referiert. – Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750). Hrsg. von Alfred Noe und Hans-Gert Roloff, 2 Bde. Bern 2012 und 2014; Niefanger, Dirk: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit. 1495–1773. Tübingen 2005; mit merkwürdiger Begründung (Buchdruck und Reformation für den Anfang, Brockes und Gottsched fürs Ende) Bremer, Kai: Literatur der Frühen Neuzeit. Paderborn 2008, S. 11f.
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schweigen von einer »Mittleren Deutschen Literatur« (1400 bis 1750), die Hans-Gert Roloff mit wenig Fortüne als angemessene Ergänzung der Älteren und Neueren Deutschen Literatur zu etablieren versucht hat.34 Es scheint zudem, als ob zunehmend die Forschung in eine mittelalterliche Frühe Neuzeit (mit Schwerpunkt 1350 bis 1600) in Konkurrenz zu einer neuzeitlichen (mit Schwerpunkt 1600/1620 bis 1800) trete, also da ein Verständnis, das unter ›Frühe Neuzeit‹ die angestammten Bezeichnungen Spätmittelalter und Renaissance, hier ein anderes, das Barock und Aufklärung subsumiert. Die unterschiedliche Gewichtung, die darin dem Verhältnis von Mittelalter und Neuzeit zum Ausdruck kommt, dürfte nicht zuletzt eine Spätfolge der von Ferguson als »the Revolt of the Medievalists« bezeichneten Infragestellung der allzu forschen Kontrastierung von Mittelalter und Renaissance in Burckhardts klassischer Untersuchung sein.35
34 Roloff, Hans-Gert: Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. In: Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. Hrsg. von Christiane Caemmerer, Walter Delabar, Jörg Jungmayr und Knut Kiesant. Amsterdam 2000 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 33), S. 469–494, hier S. 469: »Das Gebiet der Mittleren Deutschen Literatur umfaßt die gesamte Literatur – und im weiteren die Kultur – des deutschen Sprachgebiets in der Frühen Neuzeit. Es reicht in sprachlicher und literarischer Hinsicht vom ausgehenden 14. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Als Eckdaten lassen sich cum grano salis 1400 und 1750 ansetzen. Die deutsche Literatur dieses Zeitraums ist zweisprachig überliefert, in Frühneuhochdeutsch und Neulatein. Für die Literaturgeschichte haben politische Grenzziehungen, die stetem Wechsel unterworfen sind, weder affirmierende noch differenzierende Funktionen, vielmehr ist die gemeinsame Sprache die primäre Basis für literarische Textkonstitution und Kommunikation. Im Bereich der Mittleren Literatur wurden Texte in Deutsch bzw. Latein publiziert und rezipiert. Aus diesen und anderen Gründen zeichnet sich zwischen der Literatur des Mittelalters und der der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein relativ geschlossener Block ab.« Was die genannten Gründe betrifft, so fällt es mir schwer, sie sowohl logisch als auch von der Sache her nachzuvollziehen. Die anderen Gründe werden leider nicht genannt. Vielleicht handelt es sich um das »sozial-historische Moment« (ebd. S. 470), das unsere Augen für die »Textmengen« öffnet, »die man unter dem Vorwand literarästhetischer Minderwertigkeit geflissentlich« übersieht, wobei aber gerade ein solches Interesse von Roloff nur wenige Zeilen zuvor massiv relativiert wird: »Bei der harten Fragestellung: literarischer Text oder historisches System liegen die Neigungen heute unweigerlich beim Text als der geschichtlichen Basis.« Wieso aber eine Priorisierung des historischen Systems (was auch immer das sein mag) zu einer »Metaphysizierung von Epochen und Periodenbegriffen« führen soll, ist mir vollkommen schleierhaft (ebd. S. 469). 35 Ferguson: The Renaissance in Historical Thought (wie Anm. 23), S. 330–385. Zur Kritik von Fergusons einseitiger Darstellung vgl. Bianchi, Luca: Renaissance und ›Ende‹ des Mittelalters. Betrachtungen zu einem historiographischen Pseudoproblem. In: Die Renaissance und ihre Antike, Bd. 1 von Die Renaissance als erste Aufklärung. Hrsg. von Enno Rudolph. Tübingen 1998, S. 117–130.
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3. Humanismus Welches die zeitlichen Grenzen der Frühen Neuzeit sind, scheint also alles andere als klar, zumindest aber sollte klar sein, dass die vielfältigen Datierungsangebote wohl kaum auf einen Nenner zu bringen sind – von den räumlichen Grenzen ganz zu schweigen, die nur geringe Aufmerksamkeit erhalten und in der Regel durch keinerlei Argumente gestützt werden. Doch wie gewichtig sind solche Unklarheiten? Lohnen sich die hart geführten Kämpfe, um den Anfang dieser Frühen Neuzeit sowie deren Ende, und mit diesem Ende denn auch um den Anfang einer Neuzeit, die des ›Früh‹ nicht bedarf? Um diese Fragen zu beantworten, dürfte es hilfreich sein, Konsequenzen aus den eingangs angestellten theoretischen Überlegungen zu ziehen. In den meisten Fällen nämlich gehen die Kontrahenten von falschen Prämissen aus – die Probleme, die sie erkennen, sind unlösbar, und die Desiderate, die sie formulieren, unerfüllbar. Als erstes sei der Problembefund erwähnt, welcher die mangelnde Systematik der Epochenterminologie ins Feld führt.36 ›Pars pro toto‹ sei hier Roloff zitiert, der im Brustton eines sicheren Sieges die gängige Praxis für erledigt erklärt: »Die Literarhistorie hat für den Zeitraum des ausgehenden 14. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts bisher eine Terminologie verwendet, die ein denkbar ungeschicktes Surrogat von Begriffen darstellt, die an und für sich zur Bezeichnung geistiger Bewegung, politischer oder philosophischer Phänomene, religiöser bzw. kirchengeschichtlicher Ereignisse stimmen, nicht aber geeignet sind, literarische Erscheinungen zu differenzieren. Begriffe wie ›Spätes Mittelalter‹, ›Renaissance‹, ›Humanismus‹, ›Reformation‹, ›Gegenreformation‹, ›Manierismus‹, ›Barock‹, ›Frühaufklärung‹, ›Späthumanismus‹, ›vorbarocker Klassizismus‹, ›deutsche Sonderrenaissance‹ usw. zerfallen beim Herangehen an die Texte und an größere Textgruppen in nichts.«37
Einmal ganz abgesehen davon, dass sich bei Nutzern der Vokabeln ›Spätmittelalter‹, ›Reformation‹, ›Renaissance‹ oder ›Barock‹ ganz entgegengesetzte Gewissheiten finden lassen,38 handelt es sich bei solchem und
36 Plumpe, Gerhard: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995, S. 7–11. Mit Bezug auf die chaotische Vielfalt von Epochenausdrücken im Bereich der Frühen Neuzeit vgl. Keller: Frühe Neuzeit (wie Anm. 33), S. 13. 37 Roloff: Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur (wie Anm. 34), S. 471. 38 Betrachten wir einzig den prominenten Fall des Barock, so findet sich neben der handelsüblichen Forderung, das Epochenetikett abzuschaffen (Beispiele bei Moser, Walter: Art. »Barock«. In: Ästhetische Grundbegriffe. Hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius u. a. Bd. 1. Stuttgart 2000, S. 578–618, hier S. 587f.), die ebenso selbstverständliche Verteidigung der Brauchbarkeit, wenn nicht gar Unbestrittenheit; vgl. Niefanger, Dirk: Barock. Stuttgart, Weimar 2000, S. 11: »Heute ist die Sprachregelung kaum noch umstritten: ›Barock‹ hat sich als Verständigungs- und Arbeitsbegriff für die Literatur des 17. Jahr-
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ähnlichem Lamentieren wohl kaum um eine berechtigte Ermahnung zur Begriffshygiene, sondern schlicht um einen Kategorienfehler. Zwar kann gesagt werden, dass ›Barock‹ zum Barock nicht passe, dass in der Renaissance keine Wiedergeburt stattgefunden habe und das Mittelalter in keiner Mitte liege, doch heißt dies ganz und gar nicht, dass die entsprechenden Ausdrücke deshalb nicht – oder aufgrund solcher Einsichten nicht mehr – referieren. Auch wenn es sich eigentlich immer lohnt, über die Bedeutung von Begriffen nachzudenken, so denken wir trivialerweise immer über Begriffe nach, wenn wir über Bedeutung nachdenken, nicht aber über Namen, die – und dies doch eher selten – kraft eines ihnen anhaftenden, aus einer ursprünglich appellativen Funktion herrührenden semantischen Residuums im besten Fall als passend oder unpassend beurteilt werden können. Wir können mit Namen falsche Vorstellungen verbinden, so etwa wenn wir ›Sue‹ hören und uns dabei ein Mädchen vorstellen, obwohl der Namensträger ein Junge ist; hieraus folgt aber nicht, dass nach der Korrektur meiner irrigen Vorstellung, der Name ›Sue‹ nicht weiterhin auf diesen Jungen referiert.39 Und so bezieht sich ›Mittelalter‹ nach wie vor
hunderts eingebürgert. […] Das Jahrhundert wird zunehmend als Teil der weiter gefassten Frühen Neuzeit gesehen. ›Frühe Neuzeit‹ ist ein ›mehrere Literaturepochen überspannender Begriff aus der Allgemeinen Geschichte, der die Dichtung ›etwa vom 16. bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts‹ umfasst [Jaumann, Herbert: Art. »Frühe Neuzeit«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (wie Anm. 20), S. 632–636, hier S. 632]. Insbesondere die kulturgeschichtlich ausgerichtete Forschung versteht die Barockzeit als mittlere und in vieler Hinsicht entscheidende Phase der Frühen Neuzeit«; sowie Braungart, Georg: Art. »Barock«. In: Literaturwissenschaftliches Lexikon. Grundbegriffe der Germanistik. Hrsg. von Horst Brunner und Rainer Moritz. 2. Aufl. Berlin 2006, S. 44–50, hier S. 45: »es ist inzwischen üblich geworden, den Begriff B[arock] als – nunmehr völlig neutrale – Epochenbezeichnung für die dt. Literatur des 17. Jh. zu verwenden.« Zur ideologischen Last, die ›Barock‹ abzustreifen hatte und hat, vgl. das Standardwerk von Jaumann, Herbert: Die deutsche Barockliteratur. Wertung, Umwertung. Eine wertungsgeschichtliche Studie in systematischer Absicht. Bonn 1975. 39 Vgl. Kripkes Argument: »Columbus was the first man to realize that the earth was round. He was also the first European to land in the western hemisphere. Probably none of these things are true, and therefore, when people use the term ›Columbus‹ they really refer to some Greek if they use the roundness of the earth, or to some Norseman, perhaps, if they use the ›discovery of America‹. But they don’t. So it does not seem that if most of the φ’s are satisfied by a unique object γ, then γ is the referent of the name. This seems simply to be false.«; Kripke, Saul A.: Naming and Necessity. Erw. Ausg. 1980. Oxford, Cambridge/Mass. 1980, S. 85. Natürlich ist auch Kripkes Argument bestritten worden, doch beschreibt es m.E. korrekt einen wichtigen Zug unseres intuitiven Verständnisses von Eigennamen. Ob eine andere Definition, nämlich diejenige von Eigennamen als Abkürzung für eine definite Beschreibung, aus Gründen semantischer Ökonomie oder zur Vermeidung modaler Argumente günstiger wäre, ist hier für unsere Belange (und einzig auf diese bezogen) irrelevant. Zur diesbezüglichen Debatte vgl. Haack, Susan: Philosophy of Logics. Cambridge, London 1978, S. 56–73; sowie Wolff, Ursula: Einleitung. In: Eigennamen. Dokumentation einer Kontroverse. Hrsg. von ders. Frankfurt/M. 1985, S. 12–27.
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auf das Mittelalter, auch wenn die Vorstellung schon längst aufgegeben ist, das Mittelalter habe etwas ›Mittiges‹. Eine Umbenennung bringt da wohl kaum Verbesserung. Es ist nur schwer vorstellbar, dass das Schicksal, das Roloff den Ausdrücken ›Reformation‹ oder ›Renaissance‹ bescheidet, unter Beibringung ähnlicher Argumente nicht auch das von ihm favorisierte ›Mittlere Deutsche Literatur‹ ereilen wird. Zum zweiten sind Epochenausdrücke wie alle Eigennamen, und ganz im Gegensatz zu Gattungs- und Klassenbegriffen, weder aus anderen Termini deduzierbar noch anhand spezifischer Differenzkriterien in Oberund Unterkategorien systematisierbar, sondern bestenfalls als andere Epochen umfassende Totalitäten bzw. als Teile solcher Totalitäten bestimmbar. Auch folgt aus der ›Länge‹ des Mittelalters keineswegs, dass der Romantik eine ähnliche Dauer zugesprochen werden muss, noch präsupponiert die Behauptung einer zentralen Rolle der Leibnizschen Philosophie für das Zeitalter der Aufklärung, dass für das Zeitalter des Realismus eine Philosophie von ähnlich epochalem Gewicht gefunden werden muss, oder auch nur schon aus philosophischer Perspektive zu geschehen habe. Kurz, wer eine Epoche bestimmt, muss nicht alle Epochen bestimmen; und wer eine Epoche bestimmt, muss andere Epochen nicht nach denselben Kriterien oder irgendwie analog zueinander bestimmen. Eine solche Forderung ergibt sich nicht wie von selbst aus der Verwendung von Epochennamen, sondern folgt einzig aus einer bestimmten Epochentheorie oder einem bestimmten Forschungsinteresse, die gewisse Kategorien, vorzugsweise sinnvolle, vorgeben. Zudem erscheint es kaum begründbar, mehr oder minder phantasievolle Kombinationen wie ›vorbarocker Klassizismus‹ oder ›deutscher Renaissancehumanismus‹ zu diskreditieren, sondern vielmehr danach zu fragen, ob es sich um eine plausible Bezeichnung oder zumindest eine im gegebenen Kontext berechtigte, ›ad hoc‹ motivierte Präzisierung handle. Die genannten Beispiele nämlich kombinieren bloß die programmatische oder stilgeschichtliche Bedeutung gewisser Begriffe (›Humanismus‹, ›Klassizismus‹) mit Epochennamen (›Barock‹, ›Renaissance‹), was nicht ausschließt, dass auch ›Klassizismus‹ oder ›Humanismus‹ anderswo als Epochennamen Verwendung finden. Hier, wie eigentlich immer, gilt es zu klären, wie die einzelnen sprachlichen Elemente verwendet werden – das heißt, ob als Epochenausdrücke oder etwa als stilgeschichtliche Bezeichnungen40 – und erst dann zu urteilen, ob wir mit Blick auf die bezeichneten historischen Zeiträume solche Komposita als sinnvoll, nachvollziehbar und hilfreich beurteilen.
40 (Franz.) ›Empire‹ bezeichnet bekanntlich das Zeitalter Napoleons wie auch einen gewissen Stil. Ein Empire-Stuhl stammt nicht notwendig aus der Zeit des Empire.
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Als drittes gilt es die irritierenden Debatten anzuführen, die der Existenz von Epochen gelten. Da Epochenausdrücke ›per definitionem‹ eine bestimmte oder zumindest als bestimmbar gedachte Zeitdauer in einem bestimmten oder zumindest als bestimmbar gedachten Raum bezeichnen, ist die Frage nach ihrer Existenz wahrscheinlich ebenso müßig wie die Frage nach der Existenz des 19. Jahrhunderts in Italien.41 Sie muss dahingehend umformuliert werden, ob es plausible Gründe gebe, ein ›Gebilde‹ aus dem zeiträumlichen Kontinuum ›herauszulösen‹, mit einem Namen zu identifizieren und dadurch dessen Identität und relative Autonomie zu behaupten. Aussagen wie ›so etwas wie das Barock hat es nicht gegeben‹, ›die Frühaufklärung zerfällt in nichts‹ etc. sind zwar plakativ, jedoch nur dann nachvollziehbar, wenn die Verwendung von ›Barock‹ oder ›Frühaufklärung‹ entweder mit keinerlei Vorstellung bezüglich zeitlicher und räumlicher Grenzen verknüpft bzw. der Raum oder die Zeit, die sie zu bezeichnen vorgeben, irgendwie ›leer‹ wären. Und schließlich seien jene Argumente genannt, die stillschweigend davon ausgehen, dass ›Teile‹ einer Epoche notwendig Eigenschaften dieser Epoche als einer ganzen haben. Ein Teil einer Kugel muss nicht kugelig sein, und egal welche noch so intime Vorstellung ein Mensch von sich oder einem anderen haben sollte, sie betrifft wohl kaum sowohl eine jede Haarspitze als auch Milz und Niere. Dass jemand in der Epoche Aufklärung, im Barock oder auch in der Renaissance geschrieben hat, bedeutet nicht, dieser jemand (seine Werke Gedanken, Handlungen etc.) müsse in spezifischer Weise aufgeklärt, barock oder humanistisch gewesen sein. Im Gegensatz zu allgemeinen Termini bezeichnen singuläre Termini keine Klassen, die sich durch die Gemeinsamkeit einer oder mehrerer Eigenschaften konstituieren;42 singuläre Termini bezeichnen Entitäten, die sich durch Identität auszeichnen. Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt, der terminologischen Vielfalt epochaler Ausdrücke und der umfassenden makroepochalen Bezeichnung ›Frühe Neuzeit‹ zurück, so mag der Eindruck entstehen, dass, wo man auch nur etwas genauer hinschaut, immer neue ›mittlere Alter‹ entstehen. Die aufmerksame Betrachtung einer Zeit führt unweigerlich dazu, dass »beim Herangehen« die Epochentermini »in nichts« zu zerfallen scheinen, dass der Gegenstand, einmal historisch in den Blick genommen, »zerspellt«.43 Dem ist so, und es ist gut, dass dem so ist. Der historische Blick
41 Vgl. Achermann: Existieren Epochen? (wie Anm. 2). 42 Vgl. hierzu Achermann, Eric: Was ist hier Sache? Zum Verhältnis von Philologie und Kulturwissenschaft. In: Germanistische Mitteilungen. Zeitschrift für deutsche Sprache, Kultur und Literatur 65 (2007), S. 23–39; auch unter: http://germanistik.ch/kulturwissenschaft.php. 43 Plumpe: Epochen moderner Literatur (wie Anm. 36), S. 9: »das Wort ›Literatur‹ zerspellt in diverse Facetten und Komponenten, die in keiner Synthese zusammengefügt werden
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trägt bekanntlich wenig zur Vereinfachung unserer Vorstellungen bei. Wer genauer hinschaut, erkennt die Ereignisse und deren Beziehungen bald mal neu, bald mal nicht wieder. So überrascht es nicht eigentlich, dass die eingehende Betrachtung der einzelnen Epochen nur immer Resultate zeitigt, die Ordnungsliebende zur Verzweiflung treiben mögen: Übergang, Heterogenität, Konkurrenz, Konflikt. Und doch sind solche aporetischen Ergebnisse Antworten auf die eine und einzige Frage, nämlich diejenige nach der Identität einer zeiträumlichen Entität. In der Tat finden sich neben den unverhohlenen – bisweilen auch verhohlenen – negativen Befunden, die nichts anderes als den Mangel an Einheit einer vorgängig als Einheit behaupteten Epoche konstatieren, notwendig eben die Leitvorstellungen, die einen Inhalt positiv zu bestimmen trachten und als solche die Vorlage für die Kritik an der jeweiligen Epochenvorstellung liefern. Dass eine »Epoche«, um Goethes Wort zu zitieren, »sich aus der vorhergehenden durch Widerspruch [entwickelt]«,44 ergibt sich aus der Logik der Demarkation, doch ist damit noch nicht geklärt, welcher oder welche der unzähligen Widersprüche als ausreichend erachtet werden, die epochale Differenz zum Vorausgehenden zu markieren. Grenzen bestimmen das Begrenzte nicht minder, als dass sie durch das Begrenzte bestimmt werden. So hängt, ungeachtet ob die Renaissance nun als Anfang der Neuzeit oder Ende des Mittelalters erachtet wird, vieles davon ab, worin der Widerspruch zwischen den beiden verortet wird. Überschauen wir die Debatten, so bietet sich wohl am prominentesten der Begriff des ›Humanismus‹ an. Als ›‑ismus‹ diente der Ausdruck anfänglich zwar zur »Sektenbezeichnung«,45 entwickelte sich jedoch bald sowohl auf der Sach- als auch können. Ob es die Geschichte der Politik oder der Ökonomie, des Geistes oder der Mentalität, ob es Stilelemente der Malerei oder am Ende pure Jahreszahlen sind: Eine spezifische Geschichtlichkeit, die mehr und anders wäre als Reflex oder Wiederholung anderswo ablaufender ›Geschichten‹, gerät in den modernen Literaturgeschichten – nimmt man ihre Epochenbegriffe als Indikatoren – gänzlich aus dem Blick.« 44 Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, II, 7. Hrsg. von Klaus-Detlef Müller. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt., Bd. 14. Frankfurt/M. 1986, S. 283. 45 Der Begriff wird 1808 von Niethammer geprägt; vgl. Menze, Clemens: Art. »Humanismus, Humanität«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter. Bd. 3. Basel 1974, Sp. 1217–1219, hier Sp. 1217. – »Sektenbezeichnung« (Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena 1808, S. 38) verweist auf die pädagogischen Parteiungen, bezeichnen (ebd., S. 8f.) »Philanthropismus und Humanismus« doch »den Gegensatz des modernen und älteren Unterrichtssystems überhaupt und sogar der alten und modernen Pädagogik selbst.« Niethammer (ebd., S. 20) erkennt im Humanismus einen Kampfbegriff gegen das Gewinnstreben der Aufklärungspädagogik, welche »die Herabwürdigung des Studiums der alten Sprachen bis zu dem Grade« betrieben habe, »daß endlich sogar laut und öffentlich die Erlernung jener Sprachen für entbehrlich erklärt wurde.«
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auf der Ausdrucksebene zu einer Konkurrenzbezeichnung zu ›Renaissance‹. Gegen eine solche Verwendung beharrt ein Philosophiehistoriker wie Paul Oskar Kristeller auf der programmatischen Bedeutung von ›Humanismus‹. Dessen Basis bildeten die »studia humanitatis«, ein Fächerkanon, der sich im 15. Jahrhundert konsolidiere: »By the first half of the fifteenth century, the studia humanitatis came to stand for a clearly defined cycle of scholarly disciplines, namely grammar, rhetoric, history, poetry, and moral philosophy, and the study of each of these subjects was understood to include the reading and interpretation of its standard ancient writers in Latin and, to a lesser extent, in Greek. This meaning of the studia humanitatis remained in general use through the sixteenth century and later, and we may still find an echo of it in our use of the term ›humanities‹. Thus Renaissance humanism was not as such a philosophical tendency or system, but rather a cultural and educational program which emphasized and developed an important but limited area of studies. This area had for its center a group of subjects that was concerned essentially neither with the classics nor with philosophy, but might be roughly described as literature. It was to this peculiar literary preoccupation that the very intensive and extensive study which the humanists devoted to the Greek and especially to the Latin classics owed its peculiar character, which differentiates it from that of modern classical scholars since the second half of the eighteenth century.«46
Gemeinhin sind es die Leistungen Petrarcas seit den 30er Jahren des 14. Jahrhunderts, die aus dieser Warte zur Lokalisierung der Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit gewählt werden; in den Bemühungen um Restitution antiker Beredsamkeit, Dichtung und Philosophie werde mit einer Rezeptionshaltung gegenüber antiker Überlieferung im Mittelalter gebrochen, welche die zeitliche Distanz und damit die Historizität ihres Materials nicht im selben Maße und in selber Weise reflektiere. Die maßgebliche Interpretation dieses Widerspruchs liefert die 1859 veröffentlichte Untersuchung Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus von Georg Voigt: »Sprechen wir die neue Aufgabe Italiens aus. Das versunkene Alterthum der Hellenen und Römer der christlichen Welt wieder zuzuführen und zu eigen zu machen, seine Wissenschaft wieder zur Geltung zu bringen, den Duft seiner Kunst mit der Blüthe des christlich-romantischen Lebens zu vermählen, die Form und sinnliche Schönheit als das Erbe der klassischen Völker mit dem Geiste der Romantik zu vereinigen, das ist das Ziel, dem sich fortan die edelsten Kräfte zuwenden, das ist die Bedeutung eines Ariosto und Tasso, eines Bramante und Palladio, eines Lionardo da Vinci und Rafaele Sanzio.«47
46 Kristeller, Paul Oskar: Renaissance Thought (wie Anm. 22), S. 9f. 47 Voigt, Georg: Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, Bd. 1. 3. Aufl. Berlin 1893, S. 3.
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Es ist auch heute noch schwer, dem »Modell Italien«,48 dem Humanismus in seiner renaissancistischen Ausprägung, ganz ohne Blütenmetaphorik zu begegnen. Doch handelt es sich um eine Kultur, die nicht nur duftet, sondern auch strahlt, und zwar in einem Licht, das nicht nur Zeitgenossen im nördlichen Italien leuchtet, sondern aufgrund eines langwährenden Kulturexports durch weite Teile Europas erstrahlen wird. Die Geschichte dieses so beeindruckenden Siegeszuges humanistischer Ideale und renaissancistischer Kulturleistungen ist schon oft erzählt worden: Der von Petrarca initiierte lebendige Dialog mit der Antike findet in den norditalienischen Stadtrepubliken, allen voran Florenz, eine Trägerschicht, die sich durch soziale Mobilität, weitgespannte und sich weiter spinnende Handelsnetze, politische Autonomie u.a.m. von der mittelalterlichen Ordnung absetze und hierzu eines kulturellen Repräsentationsinstrumentes bedürfe. Im Zusammentreffen des neuen Bildungskonzepts für den Bereich der ›studia litterae‹ mit der Historiographie der Welfen-Partei erkennt der große Historiker der Frührenaissance Hans Baron »rapid shifts from ›medieval‹ to ›Renaissance‹«. Es sei ein »civic humanism«,49 der dieser maßgeblichen Verfestigung einer humanistischen Aufbruchsstimmung zu einer epochemachenden Kultur nicht nur ein Profil, sondern höchste Singularität verleihe: »Never before had there existed a situation like the one in which Florence took her lonely stand in 1401‑02.«50 ›Renaissance‹ bezeichnet eine Epoche, ›Humanismus‹ ein Programm. Niemand der im Norditalien des 16. Jahrhunderts lebt, kann es sich aussuchen, in der Renaissance zu leben, während hingegen das Programm oder die Ideale des Humanismus eine Option darstellen. Behaupten wir, 48 Braudel, Fernand: Das Modell Italien 1450–1650. Stuttgart 1999, S. 88f.: »wir empfehlen den Historikern durchaus, den vielschichtigen Begriff Renaissance trotz allem auch weiterhin zu verwenden, denn er bietet eine bequeme Handhabe, das erforderliche chronologische Umfeld abzustecken, in dem sich erklären läßt, wie und warum sich die Kultur des kleinen Europa schließlich verändert und mit einem Schlag die anderen Kontinente und Kulturen überflügelt, ja, für lange Zeit ihrem Willen unterwirft. Das läuft in erster Linie auf eine Darlegung der Geschichte Italiens hinaus, aber in der Zusammenschau mit der Geschichte Europas: der Niederlande, Deutschlands, Englands, Frankreichs, der Iberischen Halbinsel einschließlich Spaniens, das man vor kurzem noch ›ein Land ohne Renaissance‹ nannte, was aber keineswegs zutrifft, denn das hieße, dem Land die Modernität abzusprechen./ Jedenfalls aber schließt diese perspektivische Sicht der Renaissance nicht die anderen, die zeitlich begrenzten aus […], jenen Augenblick […], der, da er im Zeichen eines kurzen und ungewöhnlichen Glücks erstrahlt, völlig aus der Reihe der düsteren Jahrhunderte herausfällt. Diese als so bezaubernd beschriebene Epoche umfaßt die Namen und Proklamationen einer ganzen Humanistengeneration, die die ganze Seligkeit eines Goldenen Zeitalters bewußt erlebte – allen voran Erasmus von Rotterdam.« 49 Baron, Hans: The Crisis of the Early Italian Renaissance (1955). Überarb. Ausg. Princeton, N. J. 1966, insbesondere S. 94‑120. 50 Baron, ebd. S. 444.
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jemand gehöre nicht in die Epoche, in der er lebt, so sprechen wir ebenso uneigentlich, wie wenn wir sagen, ›er lebt in einer anderen Zeit‹. Zu sagen, jemand sei kein Humanist, scheint hingegen für alle Epochen unproblematisch. Als Epochenname bezeichnet ›Renaissance‹ eine erste Periode der Frühen Neuzeit und somit auch den Beginn der Neuzeit. Nicht anders als ›Frühe Neuzeit‹ lässt sich, was Ausdruck und Konzept betrifft, ›Neuzeit‹ auf die historiographischen Periodisierungsversuche des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts zurückführen.51 Es stellt eine terminologische Verdichtung der ›historia nova‹ dar, die als Element der Trias ›antiquitas, medium aevum, historia nova‹ wesentlich älteren Datums ist.52 Doch auch diese Geschichte kann über die reine Okkurrenz des Ausdrucks hinaus, konzeptionell durch die Jahrhunderte weiter zurückverfolgt werden. Und so landen wir schließlich bei dem humanistischen Geschichts- und Epochenbewusstsein, das die Herausbildung einer Vorstellung von Jetztzeit und epochaler Differenz erklärt.53 Insbesondere die neue Vorstellung eines 51 Vgl. Koselleck, Reinhart: »Neuzeit«. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1979, S. 300–348, hier S. 303; Schulze, Winfried: Neuere Geschichte. Ein problematisches Fach. In: Geschichte. Ein Grundkurs. Hrsg. von Hans-Jürgen Goertz. 3. Aufl. Reinbek b. Hamburg 2007, S. 340–369, hier S. 343–349. 52 Der Ursprung der Epochentrias ›Altertum, Mittelalter, Neuzeit‹ wird gemeinhin auf Christoph Cellarius’ Historia zurückgeführt, die er ursprünglich in drei Bänden (Historia Antiqua, Historia Medii Aevi, Historia Nova. Jena 1685, Jena 1688 bzw. Halle 1696) erscheinen lässt. Diese Filiation steht jedoch in der Kritik. In der Nachfolge von Lehmann, Paul: Vom Mittelalter und von der lateinischen Philologie des Mittelalters. (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalter 5/1). München 1914, S. 6f., erkennt Günther den Ursprung der Trias als Epochenbezeichnung vielmehr in der Vorrede zur ApuleiusAusgabe des Johannes Andrea Bussi (de Buxis) aus dem Jahre 1469, der er Hartmann Schedel und Joachim von Watt (Vadianus) folgen lässt; Günther, Horst: Art. »Neuzeit, Mittelalter, Altertum«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6. (wie Anm. 45), Sp. 782–798, hier Sp. 788. Wie dem auch sei, so steht fest, dass für das Repetitorium der Universalgeschichte, das Cellarius liefert, die ›historia nova‹ mit dem 16. Jahrhundert, genauer mit der Reformation einsetzt. Nach einer kurzen summarischen Darstellung der wesentlichen staatsgeschichtlichen Veränderungen (mutationes) verzeichnet er: »In primis Ecclesiae reformatio meretur, ut novam historiam, distinctam ab illa quae medii aevi fuit, ex saeculo decimo sexto, aut prope illius initia, auspicemur.« [Zuvörderst kommt der Reformation der Kirche das Verdienst zu, dass wir die Neue Geschichte, die von derjenigen des Mittelalters verschieden ist, von dem 16. Jahrhundert oder beinahe dessen Anfang an betrachten.]; Christoph Cellarius: Historia nova, hoc est XVI et XVII saeculororum. Halle 1696, S. 3. Zu dieser Stelle vgl. auch Brenndecke, Arndt: Eine tiefe, frühe, neue Zeit. Anmerkungen zur ›hidden agenda‹ der Frühneuzeitforschung. In: Die Frühe Neuzeit. Revisionen einer Epoche. Hrsg. von Andreas Höfele, Jan-Dirk Müller und Wulf Oesterreicher. Berlin, Boston 2013 (Pluralisierung und Autorität 40), S. 29–45, hier S. 30. 53 Stierle, Karlheinz: Renaissance. Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, S. 456 (wie Anm. 23); vgl. auch Graus, František: Epochenbewußtsein im Spätmittelalter und Probleme der Periodisierung. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (wie Anm. 23), S. 153–166, hier S. 161: »Das Epochengefühl des Spätmittelalters
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›mittleren Alters‹, das zwischen Antike und Neuzeit zu liegen kommt, erscheint aus dieser Perspektive als notwendige und hinreichende Bedingung, aus der sich die genannte universalhistorische Trias denn wie von selbst ergebe. Am Anfang der Neuzeit stehe also das Bewusstsein, in einer neuen Zeit zu leben. Es scheint unvermeidbar, bei der Datierung dieses Bewusstsein Petrarcas berühmter Klage ob der eigenen, »mittleren Zeit« zu gedenken.54 Trotz der pessimistischen Einstellung gegenüber der eigenen55 und höchster Erwartungen an eine künftige Zeit erkannten Generationen von Renaissanceforschern in dem von Petrarca geäußerten Bewusstsein ein Novum. Das bewusste Unglück, in einer Zeit des Verfalls zu leben, wird so zum Movens hin zu einer neuen Zeit, die als Wiederherstellung eines verlorenen Glückes am Horizont erscheint. Tief im Spätmittelalter, das überall im restlichen Europa noch herrsche,56 liege also der Same für eine Modernität, der sich im Zuge der Verbreitung des neuen, humanistischen Geistes gleichsam metahistorisch zum epochalen Stamm eines neuen Saeculums entwickle.57 Dieser Geist bestimme die Haltung der Humanisten
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war wohl weitgehend ein Krisenbewußtsein, das zwar bereits eine Kenntnis einer Eigenständigkeit besaß, sich jedoch nicht gegenüber der unmittelbaren Vergangenheit abzugrenzen versuchte, sondern Verwirklichung in einer Erneuerung nach einem bestimmten Vorbild sah, das als mustergültig galt. Der ›Allgemeinrahmen‹ des göttlichen Heilsplans blieb gewahrt; aber innerhalb dieses Rahmens wurde eine Wende bewußt angestrebt. Dieser Charakter des Eigenbewußtseins konnte von der weiteren historischen Forschung, gerade wegen der postulierten allgemeinen Rahmenvorstellungen, aber auch wegen der weitgehend normierten, biblisch-theologischen Sprache dieser Zeit, nicht übernommen werden […].« Petrarca, Francesco: Epistula metrica XXI (III 33). In: ders.: Poesie Latine. Hrsg. von Guido Martellotti und Enrico Bianchi. Turin 1976, S. 180: »In medium sordes, in nostrum turpia tempus / Confluxisse vides« [In der Mitte, in unserer Zeit siehst Du, dass Schmutz und Unflat zusammengeflossen sind]. Zu weiteren einschlägigen Stellen sowie deren Bedeutung für Petrarcas Geschichtsvorstellung siehe nach wie vor Theodore E. Mommsen: Petrarch’s Conception of the ›Dark Ages’. In: Speculum 17 (1942), H. 2, S. 226–242. Vgl. Schlobach, Jochen: Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. Studien zur bildlichen Sprache der Geschichtsreflexion in Frankreich der Renaissance bis zur Frühaufklärung. München 1980, S. 65–70. Vgl. zusammenfassend Graus: Epochenbewusstsein im Spätmittelalter (wie Anm. 53), S. 162: »Dem Spätmittelalter (13.–15. Jahrhundert) wurde relativ selten der Charakter einer ›epochalen‹ Wende zugesprochen: In größerem Ausmaß dürfte bloß die italienische Geschichtsschreibung grundlegende Änderungen in dieser Zeit gesucht haben, gefolgt von einigen Historikern der Renaissance (Jacob Burckhardt).« Vgl. Weisinger, Herbert: Ideas of History During the Renaissance. In: Journal of the History of Ideas 6 (1945), H. 4, S. 415–435; ders.: Renaissance Accounts of the Revival of Learn ing. In: Studies in Philology 45 (1948), H. 2, S. 105–118; Simone, Franco: La Coscienza della Rinascita negli umanisti francesi. Roma 1949; Buck, August: Das Geschichtsdenken der Renaissance. Krefeld 1957 (Schriften und Vorträge des Petrarca-Instituts Köln 9); ders.: Renaissance. Krise und Neubeginn [zuerst 1977]. In: ders.: Studia humanitatis. Gesammelte Aufsätze 1973–1980. Hrsg. von Bodo Guthmüller, Karl Kohut und Oskar Roth. Wiesbaden 1981, S. 9–22; ders.: Der Epochenwandel von der Renaissance zum Barock in den
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auch weiterhin und bis zu einem solchen Grade, dass das Bewusstsein selbst – wie etwa bei Paul Joachimsen – als das epochemachende Signum zu gelten habe: »Wenn irgend etwas die Menschen der Renaissance verbindet, so ist es der Gedanke, einer neuen Zeit anzugehören.«58 Die Belege, die Joachimsen zur Bekräftigung seiner These anführt, entstammen einer sich in Norditalien ausbildenden Historiographie. Das metahistorische Bewusstsein, das heißt das reflektierte Verhältnis zur Geschichte, bilde das eigentlich Neue in der Geschichte, dass aus einer künftigen Zeit im Bewusstsein der eigenen Zeit die Neuzeit mache; oder anders: Die geschichtliche Sonderstellung als intentionaler Beweggrund und intendiertes Resultat sei Selbstverständnis, Inhalt und Programm des Humanismus. Das Bewusstsein, um das es hier geht, ist also in einem doppelten Sinne epochal: auf Epoche bezogen und Epoche machend. Das Hereintragen einer historischen Differenz in den Umgang mit den kulturellen Leistungen einer als vorbildlich bewerteten Antike und eines als barbarisch verschrienen Mittelalters erfordert geradezu die Sammlung und Katalogisierung, die Wiederherstellung eines Erbes, das zu pflegen oder gar zu überbieten die große kulturpolitische Herausforderung bilde. In diesem großangelegten Versuch der ›imitatio‹ bzw. ›aemulatio‹59 hat Eugenio Garin den einen wesentlichen Zug der Renaissancekultur erkannt, der andere besteht in der Ausrichtung einer Wissenschaft oder eines Wissens vom Menschen, das sich von den Idealen der ›vita contemplativa‹ weg bewege und hin auf ein ›ziviles‹ Verständnis der menschlichen Grundnatur: Der Humanismus ist »un modo nuovo di intendere la funzione stessa della cultura nella formazione dell’uomo, in tutti i rapporti umani, nella organizzazione della vita civile, nell’uso umano delle forze della natura. In questo senso mi parvero sommamente indicative le discussioni sul valore della vita pratica, e la funzione in essa dell’uomo di studio e del pensatore, l’esigenza di ragionare la vita politica,
romanischen Literaturen [zuerst 1984]. In: ders.: Studien zu Humanismus und Renaissance. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1981–1990. Wiesbaden 1991, S. 429–450. 58 Joachimsen, Paul: Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus. Leipzig, Berlin 1910, S. 24. Die Rolle, die Joachimsen Petrarca zuspricht, könnte nicht zentraler sein (ebd. S. 15): »Die Geschichte des Humanismus beginnt mit Petrarka. Mit ihm beginnt auch die humanistische Geschichtschreibung. Nicht als ob er viel oder auch nur vorzugsweise Geschichtliches geschrieben hätte. Aber er schafft die neuen Gattungen und den neuen Stil.« 59 Zur Theorie der Imitation und der Spannung zwischen Nachahmung und Wettstreit bereits bei Petrarca vgl. Gmelin, Hans: Das Prinzip der Imitatio, 1. Teil. In: Romanische Forschungen 46 (1932), H. 1, S. 83–192, hier S. 118–127. Zur Beziehung von Novitätsgedanke, ›imitatio‹ und ›aemulatio‹ vgl. Müller, Jan-Dirk: ›Alt‹ und ›neu‹ in der Epochenerfahrung um 1500. Ansätze zur kulturgeschichtlichen Periodisierung in frühneuhochdeutschen Texten. In: Traditionswandel und Traditionsverhalten. Hrsg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1991, S. 121–144, hier S. 131–133.
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di determinarne gli scopi e il senso, ... Il carattere mondano dell’Umanesimo non e certo una novità o una scoperta; ma con questa definita ›praticità‹ esso usciva dal piano retorico delle nozioni vaghe e veniva ad acquistare volto preciso...; per questa... strada si giunge a cogliere il nesso profondo che unisce la nuova ›filologia‹ alla nuova scienza, e che spiega il trapasso frequente dei cultori dell’una all’altra. E si può anche tentare di affrontare su basi nuove il problema non solo delle origini, ma anche della consistenza effettiva della cultura del Rinascimento.«60
Es sind im Wesentlichen diese Grundlagen, auf welchen Delio Cantimori mit explizitem Bezug auf Garin eine weit über das bezeichnete ›Quattrocento‹ hinausreichende Epoche entwirft. Seine »età umanistica« erstreckt sich von diesen Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.61 Ihre Identität beruht auf einem Programm, Interesse oder Bedürfnis, das gleichzeitig epistemisch als auch praktisch, gleichzeitig rezeptiv urteilend als auch produktiv ist. Die Frühe Neuzeit erhält so einen Inhalt, der sich nicht auf die bloße Betonung von Heterogenität, Transitorik und Kontingenz beschränkt, sondern in der Erweiterung des Fächerkanons durch die ›studia humanitatis‹ ein Ereignis entdeckt, in dessen Folge sich charakteristische Erörterungen der pragmatischen Dimension von Wissen, ein charakteristisches philologisches und historisches Interesse sowie eine charakte-
60 Bei dem zitierten Passus handelt es sich um eine Montage von Zitaten, die Cantimori »der Kürze halber« und ohne Quellenangabe nicht näher bestimmten »Studien und Untersuchungen« Garins zum Humanismus entnimmt; Cantimori, Delio: Burckhardt e Garin. In: ders.: Studi di storia. Torino 1959, S. 311–314, hier S. 313: »eine neue Art, die eigentliche Funktion der Kultur in der Bildung des Menschen, in allen menschlichen Beziehungen, in der Organisation des zivilen Lebens, im menschlichen Gebrauch der natürlichen Kräfte zu verstehen. In diesem Sinn erscheinen mir sowohl die Diskussionen bezüglich des Werts praktischen Lebens und die Rolle, die der Gelehrte und der Denker darin spielt, sowie das Bedürfnis, das politische Leben zu reflektieren und dessen Ziele und Richtung zu bestimmen, äußerst bezeichnend… Sicher, der mondäne Charakter des Humanismus ist weder Neuheit, noch Entdeckung; mit der so definierten ›Praktizität‹ aber tritt er aus einem rhetorischen Feld ungenauer Vorstellungen und erhält eine präzise Kontur…; auf diesem… Weg gelangen wir dahin, den tieferen Zusammenhang, der die neue Philologie mit der neuen Wissenschaft verbindet, und den häufigen Übergang der Gelehrten von der einen zur anderen zu verstehen. Und so können wir auf neuen Grundlagen versuchen, das Problem nicht nur des Ursprungs, sondern auch der effektiven Konsistenz der RenaissanceKultur in Angriff zu nehmen.« 61 Cantimori konkretisiert: »in letteratura dal Petrarca al Goethe, nella storia della Chiesa dallo scisma d’Occidente alle secolarizzazioni, nella storia economico-sociale dai comuni e dal precapitalismo mercantile alla rivoluzione industriale, nella storia politica dalla morte dell’imperatore Carlo IV alla rivoluzione francese« [in der Literatur von Petrarca bis Goethe, in der Kirchengeschichte vom Abendländischen Schisma bis zur Säkularisation, in der Wirtschaftsgeschichte von den Stadtstaaten und dem merkantilen Präkapitalismus bis zur Industriellen Revolution, in der Staatsgeschichte vom Tod Karl IV. bis zur Französischen Revolution]; Cantimori, Delio: La periodizzazione del Rinascimento. In: ders.: Studi di storia (wie Anm. 60), S. 340–365, hier S. 361.
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ristische Pflege der Ausdrucksmittel und -techniken62 mit Ereignissen, Strukturen und Prozessen der Allgemeinen Geschichte verbinden lassen: Ein so beschriebener und begriffener Humanismus äußert sich nicht bloß in gepflegter Latinität, sondern sowohl in allen Bereichen der Kunst- und Wissenschaftsgeschichte als auch in manifesten Veränderungen, Reformen oder auch Revolutionen der Staats- und Kirchengeschichte. Die humanistischen Ideale und Ziele sind mit Sicherheit nicht von allen, wohl nicht einmal von den meisten Gelehrten und Künstlern unserer Makroepoche geteilt worden, von der gesamten Population ganz zu schweigen. Die epochale Bedeutung des Humanismus ist hiervon nur mittelbar betroffen. In einem Projekt, das sich der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit widmet, ist eine solche Priorisierung naheliegend, wenn nicht gar zwingend. Ungeachtet der schieren Anzahl ›eigentlich‹ humanistischer Akteure und Werke bildet das von Garin skizzierte Bild nichtsdestotrotz eine Grundlage, und zwar eine entscheidende: Der Humanismus stellt eine Option dar, die zu berücksichtigen in Wissenschaften und Künsten als unvermeidlich erscheint, das heißt die »kreativen Eliten«63 müssen sich zu den selbstbewusst auftretenden ›Erneuerern‹ verhalten. Der viel berufene neue Geist stellt eine Haltung dar, die nicht nur als solche wahrgenommen und identifiziert, sondern an welcher die jeweilige kulturelle Leistung bemessen wird. Ob affirmativ oder ablehnend, die gelehrte und künstlerische Tätigkeit ist so immer auch Ausdruck einer Entscheidung hinsichtlich des neuen Ideals eines antikisierenden Wahren, Schönen und Guten, eines Ideals, das den Renaissance-Humanismus auszeichnet. Im Zuge der Expansion des »italienischen Modells«, wie es sich im Florenz des 15. Jahrhunderts ausbildet, wird es in den europäischen Regionen, die dieser Humanismus erreicht, nicht mehr möglich sein, weder in den ›litterae‹, noch in der bildenden Kunst sowohl die philologische als auch die historische Herangehensweise zu ignorieren, und dies nicht zuletzt auch in der nicht seltenen Verdammung des neuen Geistes, den dieses Programm transportiert. Das Festhalten am Primat eines scholastischen Wissenschaftsverständnisses sowie der Vorwurf der Idolatrie, der gegen pagane Inhalte des Humanismus erhoben wird, sind nicht einfach Fortbe-
62 Ein aufschlussreichen Einblick in den Zusammenhang von Rhetorik, Poetik und Geschichtsschreibung, etwa bei einer so wichtigen Figur wie Coluccio Salutati, gewährt Struever, Nancy: The Language of History in the Renaissance. Rhetoric and Historical Consciousness in Florentine Humanism. Princeton 1970, S. 40–100. 63 Ich verwende den Begriff hier im Sinne Burkes für Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Musiker, Naturwissenschaftler und Humanisten; zur quantitativen Zusammensetzung der von Burke untersuchten Population vgl. Burke, Peter: Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung (1972). Berlin 1984, S. 303–309.
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stehen einer Tradition, sondern Reaktionen auf einen Ungeist der Jetztzeit, dessen Novität den Akteuren bewusst und, nicht zuletzt aufgrund dieser Novität, suspekt ist. Nicht anders verhält es sich mit dem Erweis methodologischer und ontologischer Defizite des antiken Wissenschaftsverständnisses, wie sie – mit ganz unterschiedlicher Begründung – in der Folge von Neuerern wie Paracelsus, Bacon oder Descartes erhoben werden. Die selbstbewusste, mitunter aggressiv behauptete Überwindung einer falschen Naturphilosophie bemisst die eigene Novität an den Leistungen der Alten, wiederum nicht zuletzt, indem sie antike Autoritäten durch andere antike Autoritäten widerlegt.64 Dass der ›Mensch‹ des Humanismus wohl kaum alle Menschen, sondern das Ideal einer Elite bezeichnet, liegt also auf der Hand.65 Die Haltung erscheint als programmatisch; der Erneuerungswille selbst als unvereinbar mit dem Bildungsbegriff mittelalterlicher Scholaren, die – aller Rede von einer ›karolingischen‹ oder ›ottonischen Renaissance‹ zum Trotz – von einem solchen Bewusstsein weit entfernt sind, das heißt von einem dringenden und dringlichem Bedürfnis,66 sowohl einer Kultur goldener, bisweilen silberner Latinität als auch einem rhetorisch idealisierten »sermo als operativen Instrument zwischenmenschlicher Kommunikation«67 zu
64 Vgl. hierzu die beiden reichhaltigen Bände Welche Antike? Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock. Hrsg. von Ulrich Heinen. Wiesbaden 2011. 65 Vgl. Burke: Die Renaissance in Italien (wie Anm. 63), S. 41–84. 66 Zum Bewusstsein der neuen Leitfunktion der schönen Künste und rhetorischen Wissenschaften im ›zivilen‹ Humanismus vgl. den Dialog von Palmieri, Matteo: Vita civile (1429, gedr. 1528). Hrsg. von Gino Belloni. Florenz 1982, S. 44–47. 67 Vgl. die hervorragende Darstellung von Vasoli, Cesare: L’humanisme rhétorique en Italie au XVe siècle. In: Histoire de la rhétorique dans l’Europe moderne (1450–1950). Hrsg. von Marc Fumaroli. Paris 1999, S. 45–129, hier S. 46: »la vision humaniste du sermo en tant qu’instrument opératoire de la communication humaine, valable surtout dans le domaine des rapports ›interhumains‹, par sa capacité de persuasion (qui comporte une mise en valeur de la rhétorique et de ses techniques) et par son efficacité à ordonner les notions de ceux qui opèrent dans la ›société civile‹, qui vaquent à ses officia et à ses negotia ou en remémorent les événements historiques. À l’évidence, ceux qui adhèrent à cette conviction s’intéressent davantage à la nature historique du langage et à ses rapports avec les transformations des institutions, des sociétés et des cultures. Ils seront également sensibles au problème de la corruption du langage et à la nécessite d’un retour aux grands paradigmes linguistiques et stylistiques du passé classique.« [die humanistische Vorstellung von ›sermo‹ als operativem Instrument menschlicher Kommunikation empfiehlt sich insbesondere im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen durch persuasive Kraft (die eine Aufwertung der Rhetorik und deren Techniken voraussetzt) und Effektivität beim Ordnen der Begriffe all derjenigen, die in der ›Zivilgesellschaft‹ tätig sind, sich um ›officia‹ und ›negotia‹ kümmern oder historische Ereignisse im Gedächtnis bewahren. Aus naheliegenden Gründen interessieren sich diejenigen, die einer solchen Überzeugung anhängen, stärker für die historische Natur der Sprache und deren Beziehung zu den Transformationen der Institutionen, Gesellschaften und Kulturen. Auch sind sie sensibilisiert für das Problem des Sprachzerfalls und für die
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neuem Leben verhelfen zu müssen.68 Zwar können wir auch schon in der philologischen und kritischen Praxis des Mittelalters Forderungen begegnen, die Reinheit der Sprache zu wahren, Neues nach Maßgabe des Alten zu beurteilen und nach ebensolcher Maßgabe hervorzubringen,69 die Praxis tritt jedoch nicht in programmatische Konkurrenz zu den Hegemonialansprüchen universitärer Scholastik. Mit Étienne Gilson können wir zurecht von einer »Mutation des dominanten Typus einer Kultur sprechen«, konkret: einer Akzentverlagerung, die den Wandel von einer »aetas aristoteliana« zu einer »aetas ciceroniana« markiert.70 Die Vorstellung eines unverfälschten Altertums, dessen ideale Verkörperung für viele Cicero darstellt, bedeutet die Historisierung dieser Vergangenheit und gleichzeitig die Behauptung von deren Überzeitlichkeit. Erasmus, der wie kein anderer einer Paradoxie zur Eleganz zu verhelfen weiß, unterzieht das gängige Verständnis von ›alt‹ und ›neu‹ einer bezeichnenden Revision. Das Alte ist nicht vom Alter und das Neue nicht von der Jetztzeit abhängig; das Notwendigkeit, zu den großen linguistischen und stilistischen Paradigmen der klassischen Vergangenheit zurückzukehren.] 68 Nitze, William A.: The So-Called Twelfth Century Renaissance. In: Speculum 23/3 (1948), S. 464–471, hier S. 464 und 466: »It is true, the Latin words renovatio, even renascentia, occur in mediaeval times, but there was attached to them no such ›self-awareness‹ as the sixteenth century had. […] The Middle Ages never knew that they were mediaeval. […] In reality they considered themselves ›modern‹ in that to them Christianity was the coping-stone of the Roman arch and Antiquity a part (a substantial one, to be sure) of its structure.« – Zu dieser Frage, und mit affirmativen Bezug auf Nitze, vgl. Haug, Walter: Die Zwerge auf den Schultern der Riesen. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (wie Anm. 23), S. 165–194, hier S. 171f. 69 Vgl. die zusammenfassende Bestimmung eines »alten Modells« philologischer Praxis vor dem 16. Jahrhundert bei Jaumann, Herbert: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden, New York 1995, S. 102–104. 70 Gilson, Étienne: Le Message de l’humanisme. In: Culture et politique en France à l’époque de l’humanisme et de la Renaissance. Hrsg. von Franco Simone. Torino 1974, S. 3–9, hier S. 4: »Dans les œuvres de type scolastique, ou comme on dit moins exactement, médiéval, le nom propre de l’auteur le plus fréquemment cité est celui d’Aristote; c’est encore l’aetas aristoteliana; dans celles du type que nous nommerons ›humaniste‹, le nom qui revient sans cesse est celui de Cicéron; c’est déjà l’aetas ciceroniana. En même temps que ce changement porte sur des personnes, il signifie ce que, dans notre jargon moderne, nous appelons une mutation dans le type dominant d’une culture. La scolastique des XIIIe et XIVe siècle avait établi la prédominance de la philosophie, la culture intellectuelle des XVe et XVIe siècles marque la revanche des Belles-Lettres sur la philosophie.« [In den Werken eines scholastischen oder – wie man gemeinhin, jedoch ungenauer sagt – ›mittelalterlichen‹ Typs ist der am häufigsten erwähnte Eigenname ›Aristoteles‹; es ist dies noch die ›aetas aristoteliana‹; in denjenigen des Typs, den wir ›humanistisch‹ nennen wollen, heißt der Eigenname, dem wir unaufhörlich begegnen, ›Cicero‹; es ist dies schon die ›aetas ciceroniana‹. Da diese Veränderung Personen betrifft, bedeutet sie, was wir in unserem modernen Jargon eine Mutation des dominanten Typus einer Kultur nennen. Die Scholastik des 13. und 14. Jh.s hatten die Vorherrschaft der Philosophie etabliert, die intellektuelle Kultur des 15. und 16. Jh.s hingegen markiert die Revanche der ›litterae‹ gegen diese Philosophie.]
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Neue ist vielmehr Abfall vom Wahren, wofür der scholastische Umgang mit dem Altertum die Verantwortung trägt: »Novum est pueris ad Grammaticam instituendis inculcare modos significandi, praelegere delira glossemata, quae nihil aliud doceant quam impure loqui. Novum est adolescentem ad Philosophiae, Juris, Medicinae, Theologiae studium recipi, qui ob inscitiam sermonis nihil intelligat in vetustis auctoribus. Novum est à Theologiae adytis excludi, nisi qui diu sudarit in Averroë & Aristotele. Novum est adolescentibus Philosophiae Candidatis inculcari nugas Sophisticas, & commentitias quasdam difficultates, meras ingeniorum cruces. Novum est in publicis scholis aliud responderi secundum viam Thomistarum & Scotistarum, Nominalium & Realium.«71
Die Wiederentdeckung der Antike erscheint im Selbstverständnis der frühen Humanisten als eine Abkehr von einem Umgang mit antiken Stoffen, der zwischen einer zu tradierenden Vergangenheit und der tatsächlich tradierten nicht zu unterscheiden weiß. Allen voran in den Scholastikern sehen die Verfechter einer ebenso würdevollen, wahrhaft als auch natürlichen Latinität sowie deren idealisierten Ursprungs in einer attischen Klassik die Usurpatoren einer Antike, deren eigentliche Bedeutung sie mit ihrer Ignoranz übertünchen. Wer im Handel mit Geisteswaren die eigentlichen Besitzverhältnisse verkennt, der wird als Kommentator den wahren Wert nicht zu bestimmen, noch die originale Schöpferkraft als Idee und Anhalt eigener Produktivität zu befördern wissen:72 »Daß Averroes Aristoteles allen anderen vorzieht, ist ja damit zu erklären, daß er sich die Aufgabe gestellt hat, seine Werke zu kommentieren, und sie dadurch gewissermaßen zu seinen eigenen macht. Auch wenn Aristoteles’ Werke durchaus lobenswert sind, so ist es doch verdächtig, wenn gerade er sie lobt; denn schon ein altes Sprichwort sagt: ›Ein jeder Kaufmann pflegt seine eigene Ware zu loben.‹ Es gibt Menschen, die sich scheuen, etwas Eigenes zu schreiben, und da sie
71 Erasmus von Rotterdam, Desiderius: Adagia, IV, 5, 1 (›Ne bos quidem pereat‹). In: ders.: Opera omnia emendatoria et avctoria. Hrsg. von Jean LeClerc. Bd. 2. Leiden 1703, Sp. 1052 E-F: »Das Neue nämlich ist, Kindern, die Grammatik zu lernen haben, Bedeutungsmodi einzutrichtern und verrückte Kunstwörter vorzutragen, die ihnen nichts anderes beibringen, als fehlerhaft zu schwätzen. Das Neue ist, Jünglinge, die aufgrund ihrer Unkenntnis der Sprache nichts von antiken Autoren zu verstehen vermögen, zum Studium der Philosophie, des Rechts, der Medizin und der Theologie zuzulassen. Das Neue ist, wer nicht genügend lange über Averroes und Aristoteles geschwitzt hat, vom Allerheiligsten der Theologie fern zu halten. Das Neue ist, jugendliche Kandidaten der Philosophie sophistische Flausen, konstruierte Schwierigkeiten und bloß eingebildete Denkprobleme aufzunötigen. Das Neue ist, in öffentlichen Schulen nach Thomistischer oder Scotistischer, nach Nominalistischer oder Realistischer Methode jeweils etwas anderes zur Antwort zu geben.« 72 Zur ideellen, platonischen Umbildung der ›imitatio‹, wie sie bei Poliziano und Erasmus zum Ausdruck kommt, vgl. Fumaroli, Marc: L’âge de l’éloquence. Rhétorique et ›res literaria‹ de la Renaissance au seuil de l’époque classique. Genève 1980, S. 81–84.
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unbedingt schreiben wollen, Kommentare zu Werken anderer verfassen; wie die, welche nichts von Architektur verstehen, machen sie es sich zur Aufgabe, Wände zu weißen, und erhoffen sich dadurch Ruhm, den sie nicht durch sich selbst oder mit Hilfe anderer, sondern nur dadurch erlangen können, dass sie vor allen anderen die Autoren derjenigen Werke, die sie kommentieren, leidenschaftlich, überschwenglich und stets maßlos übertrieben loben.«73
Es ist also mangelnde philologische Distanz, sich dort noch in Kontinuität zu wähnen, wo längst Unverständnis herrscht, und so die unerreichten Vorzüge des Vorbilds durch unreflektierte Aneignung nicht zu erkennen.74 Der Wert, den die Antike erhält, ist also gleichzeitig Ausdruck einer Alteritätserfahrung, die zur respektvollen Distanz anhält, als auch Ansporn,
73 Petrarca, Francesco: De sui ipsius et multorum ignorantia / Über seine und vieler anderer Unwissenheit. Lat.-dt. Übers. von Klaus Kubusch. Hamburg 1993, S. 114f. 74 Garin, Eugenio: Interpretazioni del Rinascimento. In: ders.: Medioevo e Rinascimento. Studi e ricerche. Bari 1961, S. 90–107, hier S. 106f.: »La quale [la filologia come nuova filosofia], proprio perché restaurazione dell’antico e scoperta dell’antico, fu posizione dell’antico come altro da noi, amorosamente ricostruito, ma proprio per questo non più confuso con noi: definizione di quello e di noi, scoperta dell’oggetto e del verace rapporto di noi con esso, con quel mondo storico che l’uomo pone ed a cui si oppone, e in rapporto al quale si viene scoprendo e formando. Proprio qui si opera quel consapevole distacco di cui tanto erano orgogliosi gli umanisti: il distacco del critico, che alla scuola dei classici non va per confondersi con essi, ma per definirsi in rapporto con essi. […] Il mito rinascimentale dell’antico, proprio nell’atto in cui lo definisce nei suoi caratteri, segna la morte dell’antico. Per questo fra antichità e Medioevo non v’è rottura, o ve n’è assai meno che non fra Medioevo e Rinascimento; perché solo il Rinascimento, o meglio la filologia umanistica si è resa cosciente di una rottura che il Medioevo aveva pur maturato portandola all’esasperazione. E qui, proprio a questo punto, si affermavano le esigenze più vive della nostra cultura: nella preoccupazione di definirci attraverso la definizione dell’altro; nell’acquisizione del senso della storia che è senso del tempo; nel vedere la storia e il tempo come dimensioni proprie della vita dell’uomo; […].« [Eben weil sie /die Philologie als neue Philosophie/ Wiederherstellung und Entdeckung war, war sie auch Setzung des Antiken als etwas uns Fremdem, liebevoll rekonstruiert zwar, doch eben gerade darum nicht mehr mit uns verschmolzen: Grenzziehung zwischen jenem und uns, Entdeckung des Objekts und unseres wahren Verhältnisses zu diesem, zu dieser historischen Welt, die der Mensch setzt und sich ihr entgegensetzt, und im Verhältnis zu welcher er sich entdeckt und bildet. Eben hier vollzieht sich diese bewusste Distanznahme, auf welche die Humanisten so stolz waren, die Distanznahme des Kritikers, der nicht in die Schule der Klassiker geht, um mit diesen zu verschmelzen, sondern um sich im Verhältnis zu ihnen selbst zu bestimmen. /…/ Eben in dem Moment, in welchem die Renaissance den Charakter dieses Mythos bestimmt, unterzeichnet dieser Renaissance-Mythos das Todesurteil des Antiken. Es gab deshalb zwischen Mittelalter und Renaissance keinen Bruch, oder zumindest einen geringeren Bruch als zwischen Mittelter und Renaissance. Nur die Renaissance, oder besser: die humanistische Philologie nämlich war sich eines solchen Bruches bewusst, eines Bruches, den das Mittelalter reifen ließ, indem es zur Krise führte. Und eben an diesem Punkt gewinnen die dringlichsten Forderungen unserer Kultur ihre affirmative Kraft: in der Bemühung, sich durch die Bestimmung des anderen selbst zu bestimmen; in der Gewinnung eines Sinnes für die Geschichte, der Sinn für die Zeit ist; in der Erkenntnis, dass Geschichte und Zeit dem Leben des Menschen eigene Dimensionen sind; (…).]
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sich durch rekonstruktive, philologische Tätigkeit ins Verhältnis zu setzen, in ein Verhältnis nicht etwa unreflektierter Identität, sondern der ›similitudo‹.75 Unter den Federn so prominenter Autoren wie Petrarca oder Erasmus werden ›alt‹ und ›neu‹ zu normativen Prädikaten, die sich in dem philosophisch-rhetorischen Bildungsideal des ciceronischen ›bonum et honestum‹ ein Kriterium für den Umgang mit der Tradition geben. Zwischen einem bloßen Fortleben und einer echten, zur Imitation anhaltenden Tradition gilt es also zu scheiden, oder – in der Lexik der Zeit – zwischen einer »maniera vecchia« und einer »maniera antica«, wobei nur letztere der »maniera moderna« als Vorbild dienen darf.76 Wie diese Imitation zu leisten und der damit verbundenen Modernitätsfrage zu entsprechen sei, diese Fragen sind – sei es nun im Ciceronianismus-Streit, im ›Paragone‹ oder in der ›Querelle‹77 – Gegenstand ebenso markanter, wie auch typischer Debatten der gesamten Epoche. Antworten aber vermag nur ein gewandeltes Verständnis von Geschichte zu geben: Nicht chronologische Anordnung von Ereignissen zwecks Bildung zeitlicher Kontinua, noch rein deskriptive Wiedergabe ausgewählter historischer Ereignisse, nicht Wiederkehr des Ewiggleichen, noch Realiensammlung zum besseren Verständnis der Bibel sowie anderer autoritativer Texte, nicht Heilsgeschichte, noch prophetische Weltreichslehre, sondern Kanon.78 Das huma-
75 Vgl. Achermann, Eric: Unähnliche Gleichungen. ›Aemulatio‹, ›imitatio‹ und die Politik der Nachahmung. In: Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Hrsg. von Jan-Dirk Müller, Ulrich Pfisterer, Anna Kathrin Bleuler und Fabian Jonietz. Berlin 2011 (Pluralisierung und Autorität, 27), S. 35–73. 76 Mit Bezug auf Leonardo vgl. Panofsky: Renaissance and Renascences (wie Anm. 4), S. 203f. 77 Vgl. die Beiträge in: Diskurse der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hrsg. von Herbert Jaumann. Berlin, New York 2011; darin: Robert, Jörg: Die CiceronianismusDebatte, S. 1–54; Disselkamp, Martin: Parameter der Antiqui-Moderni-Thematik in der Frühen Neuzeit, S. 157–177; Achermann, Eric: Das Prinzip des Vorrangs. Zur Bedeutung des ›Paragone delle arti‹ für die Entwicklung der Künste, S. 179–209. 78 ›Kanon‹ hier in der Bedeutung von »Maßstab auch – übertragen – jede Norm, vollendete Gestalt, jedes erstrebenswerte Ziel«; Szabó, Árpád: Art. »Kanon«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4 (wie Anm. 45), Sp. 688–689, hier Sp. 688. Zur Bildung solcher Kanons vgl. paradigmatisch Schmitt, Christian: Zur Rezeption antiken Sprachdenkens in der Renaissancephilologie. In: Die Antike-Rezeption in den Wissenschaften während der Renaissance. Hrsg. von August Buck und Klaus Heitmann. Weinheim 1983 (DFG. Mitteilung der Kommission für Humanismusforschung 10), S. 75–101. – Es versteht sich von selbst, dass der hier verwendete Kanon-Begriff nicht mit dem heute noch geläufigen Begriff des Schul- oder Bildungskanons des 19. Jahrhunderts verwechselt werden kann; vgl. dazu etwa Rosenberg, Rainer: Art. »Kanon«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2 (2000), S. 224–227, hier S. 226: »Von der Herausbildung eines Kanons der Literaturwissenschaft kann erst mit dem Aufkommen der modernen Nationalliteratur‑Ge schichtsschreibung die Rede sein.«
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nistische Geschichtsverständnis ist primär und vorzüglich kanonisch. Es ergänzt nicht nur existierende Geschichtskonzepte, sondern scheidet, verwirft, empfiehlt, pflegt und konstruiert so eine Vergangenheit, die immer auch Maßstab der eigenen Zeit ist. Als überzeitlicher Maßstab, der sich ›verzeitlicht‹ in der Antike ausgeprägt habe, inhäriert dem Kanon aber eine Spannung, die eine zyklische Betrachtung von Geschichte unterminieren und sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts als ›movens‹ bei der Ausbildung des Fortschrittmodells erweisen wird.79 Es wird die Verbindung von humanistischer Wertfrage und naturalistischem Entwicklungsgedanken sein, die diesem neuen Geschichtsverständnis zum Durchbruch verhilft: »Es unterscheidet den neuzeitlichen Fortschrittsbegriff von seinen religiösen Herkunftsbedeutungen, daß er das stets zu erwartende Ende der Weltzeit in eine offene Zukunft verwandelt. Terminologisch wird der geistliche ›profectus‹ von einem weltlichen ›progressus‹ verdrängt oder abgelöst. Dieser Vorgang erstreckt sich über die ganze frühe Neuzeit. Die Renaissance brachte zwar das Bewußtsein einer neuen Zeit hervor, aber noch nicht das des Fortschreitens in eine bessere Zukunft, solange das Mittelalter als dunkle Zwischenzeit erschien, über die hinweg das Altertum als Vorbild betrachtet wurde. Erst die wachsende Naturerkenntnis, bei der die Autorität der Alten durch autonomen Vernunftgebrauch verdrängt wurde, erschloß eine progressive Auslegung der historischen Zeit. Die Natur bleibe sich gleich, aber ihre Entdeckung werde methodisch vorangetrieben und damit ihre Beherrschung.«80
Der Kanon ist durch die ganze Epoche der Frühen Neuzeit hindurch sowohl gesammelte historische Repräsentation als auch Norm zur Kon stitution und Hierarchisierung dieser Sammlung. Ob die Dekadenz der Jetztzeit beklagt wird oder enorme Fortschritte bejubelt werden, das Vertrauen in die Messbarkeit ist hüben wie drüben gegeben, und es gründet auf einem klassizistischen, antiken Korpus von Autoren und Künstlern, 79 Zur Bildung des Fortschrittsgedankens aus den Aporien der renaissancistischen Zyklentheorie vgl. Schlobach: Zyklentheorie und Epochenmetaphorik (wie Anm. 55), S. 272–303. Zur Herausbildung einer Idee des Fortschritts auf der Grundlage der immanenten Widersprüche kanonischer Kriterien vgl. Jauß, Hans Robert: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹. Einleitung zu: Charles Perrault: Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. München 1964, S. 8–81. Zur Vorgeschichte der großen ›Querelle‹ des 17. und frühen 18. Jahrhunderts in den Querelen der Renaissance vgl. Baron, Hans: The Querelle of the Ancients and the Moderns as a Problem for Renaissance Scholarship. In: Journal of the History of Ideas 20 (1959), S. 3–22; Buck, August: Die ›Querelle des Anciens et des Modernes‹ im italienischen Selbstverständnis der Renaissance und des Barock. In: ders.: Studia humanitatis (wie Anm. 57), S. 109–123; ders.: Vorgeschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Mittelalter und Renaissance. In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 20 (1958), H. 3, S. 527–541. 80 Koselleck, Reinhart: Art. »Fortschritt« in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2 (1975), S. 351–423, hier S. 371.
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welches das Vergleichen ermöglicht. Mag es auch unterschiedliche Vorlieben geben, die das Korpus hierarchisch strukturieren, mag es auch neuere oder gar zeitgenössische Autoren und Künstler geben, die über die Alten gestellt werden, der Bezug auf ›klassische‹ Autoritäten ist in allen diesen Erörterungen und Debatten vorausgesetzt. Die selegierende, emendierende, castigierende und imitierende Tätigkeit, welche die neue Philologie und den philologisierenden Umgang mit historischen Zeugnissen auszeichnet, steht zwar im Zeichen der Authentizität des Überlieferten;81 diese Authentizität beschränkt sich aber nicht auf das Problem der Echtheit gewisser Texte und Kunstdenkmäler (noch deren Teile), sondern wird selbst hinsichtlich der dargestellten Inhalte in Frage gestellt, mehr noch auf eine überzeitliche Musterhaftigkeit verpflichtet. Es geht dem Renaissance-Humanisten nicht um historische Bedeutung um der Geschichte willen, sondern um eine vorbildhafte Vergangenheit in Hinsicht auf eine rhetorische, künstlerische und ethische Praxis.82 Die kanonische Vorbildlichkeit antiker Muster beschränkt sich jedoch nicht auf den Bereich der ›litterae‹ und humanistisch geprägter Künste (Malerei, Bildhauerei, Architektur). Sie erfasst auf der Grundlage des weit 81 Zur philologischen Kritik als Unterscheidung von echten und unechten Zeugnissen der Antike sowie einer differenzierten Unterscheidung zwischen mittelalterlicher und humanistischer Praxis vgl. Schmidt, Paul Gerhard: Kritische Philologie und pseudoantike Literatur. In: Die Antike-Rezeption in den Wissenschaften während der Renaissance (wie Anm. 78), S. 117–128. 82 Meuthen, Erich: Humanismus und Geschichtsunterricht. In: Humanismus und Historiographie. Rundgespräche und Kolloquien. Hrsg. von August Buck. Weinheim 1991, S. 6f.: »Man kann den allgemeinen Bildungswert der Geschichte, wie ihn der Renaissance-Humanismus schätzte, in ihrer Funktion als ›Magistra vitae‹, als Lehrmeisterin für die praktische Lebensgestaltung bestimmen. Das war antik, war u.a. Cicero und gehört somit in den Prozeß der Antike-Rezeption. Man wird einwenden, auch dem Mittelalter sei diese Aufgabe der Geschichte nicht fremd gewesen, mag dem wohl auch unter dem Aspekt abendländischer Kontinuität zustimmen, die das Mittelalter nicht überspringt, wie die Humanisten es gerne taten, sondern es einbinden in einen im Grunde nie ganz unterbrochenen Zusammenhang, möchte das aber in diesem Falle gleichwohl nur etwas verhalten tun; denn für die konkrete Lebensgestaltung war im Mittelalter doch nicht die geschichtliche Erfahrung maßgebend, sondern die göttliche Offenbarung, die allenfalls mittelbar durch die Geschichte wirkte. Erst dadurch wurde sie Heilsgeschichte, nicht schon durch ihre Ereignisse als solche. Die unmittelbare Lehrfähigkeit, im besonderen profangeschichtlicher ›exempla‹, weist auf die beginnende Säkularisierung des abendländischen Geschichtsverständnisses hin. Diese, nun gleichsam autonome, Bildungsaufgabe, welche die Geschichte damit erhielt, hätte – so sollte man meinen – zur Konstituierung einer ebenso autonomen Bildungsinstanz Historia führen sollen. Das war jedoch nicht der Fall. Als übergeordnete Bildungsautorität sah der Humanismus vielmehr die Sprache an, und zwar in deren gültiger Gestaltung durch die klassischen antiken Autoren.« Zur grundlegend rhetorischen Geschichtsauffassung vgl. Keßler, Eckhard: Die Ausbildung der Theorie der Geschichtsschreibung im Humanismus und in der Renaissance unter dem Einfluss der wiederentdeckten Antike. In: Die AntikeRezeption in den Wissenschaften während der Renaissance (wie Anm. 78), S. 29–49.
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gefassten, an Quintilian angelehnten Begriffs des ›grammaticus‹83 auch so hochsensible Bereiche wie die Tradierung der Hl. Schriften sowie des römischen Rechts, die sich nun kritischen, hermeneutischen und historischen Er- und Abwägungen ausgesetzt sehen,84 und macht auch vor demjenigen nicht halt, was wir heute als Naturwissenschaften bezeichnen und gleichsam als Antipoden der schönen Künste betrachten. Auch hier lässt sich eine Abwendung von – oder zumindest eine kritische Einstellung zu – der scholastischen Praxis beobachten, welche die Naturphilosophie als untergeordnete Teile des aristotelischen Korpus im Rahmen der Artistenfakultät ansiedelt. Den heftig geführten ›dispute delle arti‹ hinsichtlich der Vorzüge des Rechts über die Medizin85 schließen sich bald ähnlich geführte Präeminenzdebatten zu einzelnen Wissenschaften und Künsten an, wobei die Dignität der eigenen Disziplin aus dem Glanz der von den Schlacken der Kommentierung befreiten ursprünglichen Gestalt antiker Autoritäten erstrahlen soll. Es sind so zentrale Figuren wie Regiomontanus, Copernicus und Galilei in der Astronomie,86 wie Luca Pacioli, Niccolò Tartaglia, Girolamo Cardano oder François Viète in der Mathematik87 sowie Antonio Benivieni, Andreas Vesalius und nochmals Cardano in der Medi83 Zur Extension von ›grammaticus‹ vgl. Jaumann: Critica (wie Anm. 69), S. 114–126; zu Scaliger, Edition medizinischer Klassiker und Polymathie, ebd. S. 158–181. 84 Gaukroger, Stephen: The Emergence of a Scientific Culture. Science and the Shaping of Modernity 1210–1685. Oxford 2006, S. 139–148. Zur Rechtskommentierung vgl. Troje, Hans Erich: Alciats Methode der Kommentierung des ›corpus iuris civilis‹. In: Der Kommentar in der Renaissance. Hrsg. von August Buck und Otto Herding. Boppard 1975 (DFG. Mitteilung der Kommission für Humanismusforschung 1), S. 47–61. Zur Entwicklung der Gesetzesinterpretation im 16. Jh. vgl. Schröder, Jan: Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule (1500–1850). München 2001, S. 48–78. Zur Bibelkritik vgl. Jaumann, Herbert: Bibelkritik und Literaturkritik in der frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 49/2 (1997), S. 123– 134, insbesondere S. 129–132; ders.: Critica (wie Anm. 69), S. 138–147; sowie nach wie vor Berger, Samuel: La Bible au XVIe siècle. Études sur les origines de la critique biblique. Paris 1879. Neudr. Genf 1969, zu Erasmus S. 60–70; Massaut, Jean-Pierre: Critique et tradition à la veille de la Réforme en France, étude suivie de textes inédits traduits et annotés. Paris 1974, zu Erasmus’ Kontroverse mit Lefèvre d’Étaples, S. 61–66. Zu Vives’ Bibelhumanismus schließlich vgl. Parello, Vincent: La apologética antijudía de Juan Luis Vives (1543). Entre fe y razón. In: Mélanges de la Casa de Velázquez 38 (2008), H. 2, S. 171–187. 85 Vgl. La Disputa delle arti nel Quattrocento. Testi di Giovanni Baldi, Leonardo Bruni, Poggio Bracciolini, Giovanni d’Arezzio, Bernardo Ilicino, Niccoletto Vernia, Antonio de’ Ferrariis detto il Galateo. Hrsg. von Eugenio Garin. Roma 1982. 86 Vgl. Westman, Robert S.: Proof, Poetics, and Patronage. Copernicus’s Preface to ›De revolutionibus‹. In: Reappraisals of the Scientific Revolution. Hrsg. von David C. Lindberg und Robert S. Westman. Cambridge 1990, S. 167–205. 87 Mit Blick auf den Humanismus vgl. Rose, Paul Lawrence: Humanist Culture and Renaissance Mathematics. The Italian Libraries of the ›Quattrocento‹. In: Studies in the Renaissance 20 (1973), S. 46–105; ders.: The Italian Renaissance of Mathematics. Studies on Humanists and Mathematics from Petrarch to Galileo. Genève 1975.
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zin,88 die in gut humanistischer Manier die Autorität antiker Vorbilder für sich reklamieren. Überall begegnen wir derselben Strategie, nämlich der selbstbewussten Verteidigung der eigenen Würde (›dignitas‹) durch den Erweis von Anciennität (›nobilitas‹) und Nutzen (›utilitas‹). Es mag nicht überraschen, dass in diesem Konkurrenzkampf das kontemplative Wissensideal (etwa bei den Florentiner Neuplatonikern), das auf die überzeitlichen Prinzipien von Theologie und Metaphysik zielt, ebenso für die eigenen argumentativen Ziele eingesetzt wird wie die Berufung auf antike Figuren, die von einer praktischen Nutzung naturwissenschaftlicher und mathematischer Erkenntnis Zeugnis ablegen. Am prominentesten dürfte dies in der Rehabilitierung der Mechanik zum Ausdruck kommen, die mit Verweise auf Archimedes89 dem Konzept einer ›gemischten Mathematik‹ als reiner und angewandter Lehre Ansehen verleiht.90 88 Zur Entwicklung vgl. Baader, Gerhard: Medizinische Theorie und Praxis zwischen Arabismus und Renaissancehumanismus. In: Der Humanismus und die oberen Fakultäten. Hrsg. von Gundolf Keil, Bernd Moeller und Winfried Trusen. Weinheim 1987 (DFG. Mitteilung der Kommission für Humanismusforschung 14), S. 185–213; ders.: Die Antikerezeption in der Entwicklung der medizinischen Wissenschaft während der Renaissance. In: Humanismus und Medizin. Hrsg. von Rudolf Schmitz und Gundolf Keil. (DFG. Mitteilung der Kommission für Humanismusforschung 11). Weinheim 1984, S. 51–66. Hinsichtlich der Rekonstruktion eines antiken medizinischen Wissens, namentlich einer genuin Galenischen Medizin bei Andreas Vesalius, vgl. Cunningham, Andrew: The Anatomical Renaissance. The Resurrection of the Anatomical Projects of the Ancients. Aldershot 1997. Zur Favorisierung Hippokratischer Medizin bei Cardano vgl. Siraisi, Nancy G.: Cardano, Hippocrates, and Criticism of Galen. In: Girolamo Cardano. Philosoph, Naturforscher, Arzt. Hrsg. von Eckhard Keßler. Wiesbaden 1994, S. 131–155; dies.: Cardano and the History of Medicine. In: Girolamo Cardano. Le opere, le fonti, la vita. Hrsg. von Marialuisa Baldi und Guido Canziani. Mailand 1999, S. 341–362, insbesondere S. 350–352. Vgl. auch dies.: The Clock and the Mirror. Girolamo Cardano and Renaissance Medicine. Princeton, N.J. 1997, S. 95: »Hence what distinguished Renaissance anatomy from its medieval antecedents was a notable enhancement of both practice and textual foundation, the latter both ancient and modern.« 89 Zur exemplarischen Ehrenrettung von Archimedes’ technischen Meisterleistungen gegen Plutarchs Abwertung vgl. Farrington, Benjamin: Science and Politics in the Ancient World. London 21965, S. 26–32; Thuillier, Pierre: Les passions du savoir. Essais sur les dimensions culturelles de la science. Paris 1988, S. 44–51. – Zum Verhältnis von Geometrie, Arithmetik sowie deren technische Operationalisierbarkeit vgl. Achermann, Eric: ›Denn Gott treibt immer Geometrie.‹ Zur politischen Bedeutung des Verhältnisses von Geometrie und Arithmetik in der Frühen Neuzeit. In: Wort und Zahl, Palabra y número. Hrsg. von Christoph Strosetzki. Heidelberg 2015, S. 11–55. 90 Die Bedeutung eines gleichzeitig theoretischen als auch praktischen Verständnisses von Mathematik im Hinblick auf die ›wissenschaftliche Revolution‹ des 17. Jahrhunderts ist umstritten; vgl. paradigmatisch die Positionen von Dear, Peter: Discipline and Experience. The Mathematical Way in the Scientific Revolution. Chicago 1995, S. 124–126; Gaukroger: The Emergence of a Scientific Culture (wie Anm. 84), S. 404–411. Zum Beitrag des Humanismus, der Wiederentdeckung Archimedes’ und der Hinwendung zur Experimentierkunst, für die Entwicklung einer mathematisch naturwissenschaftlichen Methode und für die Reform des aristotelischen Wissenschaftsbegriffs, allen voran bei Zabarella, vgl. Randall,
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4. Paradoxe Enden Die Antike ist also Vorbild – Muster, Modell und Maßstab. Eine solche Antike drückt der Epoche ›Frühe Neuzeit‹ sicherlich ihren Stempel auf. Genügt diese alles andere als neue Erkenntnis der Renaissanceforschung aber, um eine Bewegung, die von Petrarca ausgeht oder sich zumindest auf Petrarca bezieht, aufgrund eines gewandelten Verständnisses von Geschichte und eines damit einhergehenden Selbstverständnisses für all die kommenden Jahrhunderte bis zur Französischen oder Industriellen Revolution als identitätsstiftend und somit Epoche machend zu behaupten? Bevor die Frage beantwortet werden kann, muss eine andere gestellt werden, nämlich die nach dem Ende dieser Frühen Neuzeit. Die Untersuchung der Anfänge erfreut sich in der Geschichte größerer Beliebtheit als diejenige der Enden. ›Geburt‹, ›Entstehung‹, ›Genese‹ finden sich allenthalben; sie sind heute beliebte und werbewirksame Bestandteile so manchen Titels, während die Proklamation eines Endes von Seiten der Wissenschaft mit Skepsis betrachtet wird. Ob nun Gibbon oder Spengler, Untergangsszenarien haftet etwas Raunendes an. Und wie schnell führen sich die Debatten des Feuilletons – das Ende der Geschichte, das Ende der Moderne, das Ende des Buches, das Ende des Kapitalismus – nicht selbst ihrem meist wohlverdienten Ende zu? Geschichte in einem engeren, wissenschaftlichen Sinne hingegen scheint das Interesse an den Anfängen gleichsam ›aus der Sache selbst‹ zu beflügeln: Zur Erklärung von Ereignissen sind Ursachen ergiebiger als das Verschwinden einer Wirklichkeit. Während nämlich Anfänge sich in manifesten Ereignissen äußern, machen sich Enden durch das Fehlen gewisser Ereignistypen ›bemerkbar‹. Vielleicht ist dies der Grund, dass an die Stelle der Rede vom Ende vorzugsweise die Rede von der Krise tritt. Diese geht einher mit der bereits konstatierten Janusköpfigkeit von Geburt und Tod, welche die Forschung zum Übergang von Spätmittelalter zu Früher Neuzeit so stark und lang anhaltend geprägt hat. Grund für die Debatte war und ist die Wertung, die Prädikaten wie ›früh‹ und ›spät‹ inhäriert: ›Früh‹ verweist auf das Künftige voraus, ›spät‹ hingegen auf das Vergangene zurück. Wer das epochale Prädikat ›spät‹ verpasst kriegt, der steht am Ende einer Zeit, ihm ist keine Zukunft beschieden. Im Gegensatz zu den Endzeiten, die auf kausale Faktoren zurückgeführt werden, hat die Forschung zu den Krisenzeiten
John Herman jr.: The School of Padua and the Emergence of Modern Science. Padova 1961, S. 66f.; im Zusammenhang zur Herausbildung einer induktiven Methode vgl. Dear, Peter: Discipline and Experience. The Mathematical Way in the Scientific Revolution (1995, wie oben), vor allem S. 26–28.
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eine Tendenz, kausale Argumente durch funktionale abzulösen, das heißt den Fortbestand gewisser Ereignistypen als residual zu betrachten, deren zunehmende Dysfunktionalität wenn nicht zum Verschwinden, so doch zu Bedeutungs- und Wirkungslosigkeit in Bezug auf ihre ursprüngliche Funktion führen. ›Frühe Neuzeit‹ steht in einem semantischen Verhältnis zu ›Neuzeit‹, und zwar ›tout court‹, da sich die Rede von einer ›Späten Neuzeit‹ nicht eingebürgert hat. Der Grund hierfür dürfte simpel sein: Über das Ende der Neuzeit, ja ob es ein solches überhaupt geben kann, darüber herrscht alles andere als Einigkeit. Ganz anders verhält es sich da mit dem Anfang der Neuzeit, wobei der Ausdruck ›Neuzeit‹ hier die Neuzeit nach der Frühen Neuzeit bezeichnet. Ein überraschend hohes Maß an Konsens lässt sich, wenn nicht in den Spezialgeschichten, so doch in der Allgemeinen Geschichte, in Bezug auf Markierungen wie ›Französische Revolution‹ oder auch ›um 1800‹ ausmachen. Die Frage drängt sich auf: Wie verhält sich die skizzierte ›età umanistica‹ zu ihrem Ende? Für Cantimori, wir haben es gesehen, geht dieses Ende mit Namen, Ereignissen und Prozessen wie »Goethe«, »Säkularisierung« sowie »Französische« und »Industrielle Revolution« einher.91 Eine zweite Frage betrifft das Verhältnis der Makroepoche Frühe Neuzeit zu den epochalen Einschnitten, die in der Trias ›Renaissance, Barock und Aufklärung‹ impliziert sind; eine dritte Frage schließlich, wie sowohl Makroepoche als auch periodische Gliederungsvorschläge auf der genannten unteren Ebene – und es stehen zahlreiche weitere Unterebenen wie Rokoko, Merkantilismus, Scientific Revolution, Sturm und Drang, Neologie, Lessing-Zeit etc. im Angebot – sich zum Raum verhalten. Es ist hier nicht der Ort, auf alle diese Teilprobleme bei der Erfassung der Frühen Neuzeit einzugehen, doch kann die dritte Frage vielleicht eine erste Antwort auf die beiden anderen Fragen liefern: Es ist die kulturelle Exportfähigkeit, die Italien zum Modell macht. In hunderten von Einzeluntersuchungen wurde nachgewiesen, wie humanistischer Geist und Renaissance-Kunst die kulturellen Zentren, das heißt Städte und Höfe, weiter Teile Europas erobert.92 Dies geschieht bei Leibe nicht auf einen Schlag, ebenso wenig wie es mit gleicher Intensität
91 Vgl. Cantimori: La periodizzazione del Rinascimento (Zitat wie Anm. 61), S. 361. 92 Für einen Überblick, vgl. Witt, Ronald G.: The Humanist Movement. In: Handbook of European History. 1400–1600. Late Middle Ages, Renaissance and Reformation. Hrsg. von Thomas A. Brady jr., Heiko A. Obermann und James D. Tracy. Bd. 2. Visions, Programs and Outcomes. Leiden, New York, Köln 1995, S. 93–119, hier S. 108–119. Vgl. auch die klassische Untersuchung von Lübke, Wilhelm: Grundriss der Kunstgeschichte. Bd. 3. Die Kunst der Renaissance in Italien und im Norden. Vollst. neubearb. von Max Smernau. 12. Aufl. Stuttgart 1903.
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geschieht. Nichtsdestoweniger erweist sich der Modellcharakter als probates Mittel, Periodisierungsfragen als abhängig von der geschilderten Strahlkraft zu verstehen. Der Hegemonialanspruch einer Leitkultur bemisst sich an deren Exportüberschuss. Für die Frühe Neuzeit können wir beobachten, wie das Modell Italien vom Modell Spanien (in dessen Wirkung auf den sogenannten französischen Präklassizismus) abgelöst wird, und dieses seinerseits von einem Modell Frankreich, das ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts praktisch alle Fürstenhöfe, die bereits bestehenden und die sich neu ausbildenden Akademien sowie die Konversationskultur der städtischen Eliten prägt. Nach wie vor aus selber Perspektive markieren Voltaires Lettres philosophiques (auch Lettres Anglaises) exemplarisch den Beginn einer neuen Konkurrenz zwischen einem britischen und einem kontinentaleuropäischen Paradigma, ein Befund, dessen Auswirkung auf Einteilungskriterien wie Schulen, Traditionen und andere -ismen – etwa in der Philosophiegeschichte – bis heute zu beobachten ist. Voltaire verdanken wir denn auch den wohl pointiertesten Angriff gegen eine allzu selbstbewusst auftretende Modellhaftigkeit, genauer gegen das damit einhergehende Gefühl kultureller Überwertigkeit. Seinen Landsleuten hält er vor, Englands wissenschaftliche Leistungen zu ignorieren, und dies obwohl das Ausland bereits seit längerem erkenne, dass der Import französischer Kulturware einer ruinösen, kostspieligen, jedoch im Grunde ebenso überflüssigen wie wertlosen Schaumschlägerei der Raffinesse gelte:93 »Frankreich als Schlagsahne Europas«.94 Es ist auch diese neue Konkurrenzsituation, die ab 1750 eine, wenn nicht zwei Generationen deutscher Schriftsteller, Leser und Künstler dazu anhält, die genialische Art der Engländer gegen die ›Diktatur‹ des französischen Geschmacks zu stellen. Dass Autoren und Künstler des deutschsprachigen Raums, deren Werke ab diesem Zeitpunkt überhaupt und zum ersten Mal in anderen europäischen Ländern als deutsche wahrgenommen und auch bis zum Jahrhundertende mit einem merklich ansteigenden Interesse rezipiert werden, selbst nicht ein Modell Deutschland ausbilden, hängt wohl damit zusam-
93 Leigh, John: Voltaire and the Myth of England. In: Cambridge Companion to Voltaire. Hrsg. von Nicholas Cronk. Cambridge 2009, S. 79–91. 94 Voltaire: Lettre au Père Tournemin (1735). In: ders.: Œuvres complètes. Mélanges littéraires. Paris 1825, S. 68: »C’est une chose deplorable qu’il ne soit jamais sorti un bon livre des universités de France, […] tandis que l’université de Cambridge produit tous les jours des livres admirables […] : aussi ce n’est pas sans raison que les étrangers habiles ne regardent la France que comme la créme fouettée de l’Europe.« [Es ist eine bedauernswerte Tatsache, dass nie ein gutes Buch aus einer französischen Universität erschienen ist, /…/ während die Universität Cambridge jeden Tag bewundernswerte Bücher hervorbringt /…/; so ist es auch nicht erstaunlich, dass die gescheiten unter den Ausländern Frankreich bloß als Schlagsahne Europas betrachten.]
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men, dass sich gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts der humanistische Kanon auflöst. Germaine de Staëls De l’Allemagne, die erste große Monographie, die das Gesamt deutscher Kultur, Kunst und Gesellschaft zur Darstellung zu bringen versucht,95 dokumentiert gleichzeitig die Zurückdrängung einer normativen Poetik durch eine deskriptive Ästhetik, was schließlich das Ende des humanistischen oder den Anfang eines nationalliterarischen, auf die Vorstellung einer eigenen Klassik ausgerichteten Kanons markiert.96 Mit dem Siegeszug der Ästhetik geht der Schwanengesang auf die ›imitatio‹ einher sowie die Bestimmung einer nationalen Kultur, deren Identität weder durch staatliche, höfische oder akademische Repräsentation, noch durch die Verschiedenheit der Vernakularsprachen definiert wird, sondern durch das Verhältnis von nationaler und individueller Originalität: »Les Français hommes d’esprit, lorsqu’ils voyagent, n’aiment point à rencontrer, parmi les étrangers, l’esprit français, et recherchent sur-tout les hommes qui réunissent l’originalité nationale à l’originalité individuelle: Les marchandes de modes, en France, envoient aux colonies, dans l’Allemagne et dans le nord, ce qu’elles appellent vulgairement le fonds de boutique; et cependant elles recherchent avec le plus grand soin les habits nationaux de ces mêmes pays, et les regardent avec raison comme des modèles très élégants. Ce qui est vrai pour la parure l’est également pour l’esprit. Nous avons une cargaison de madrigaux, de calembourgs, de vaudevilles, que nous faisons passer à l’étranger, quand on n’en fait plus rien en France; mais les Français eux-mêmes n’estiment dans les littératures étrangères que les beautés indigènes. Il n’y a point de nature, point de vie dans l’imitation; et l’on pourroit appliquer, en général, à tous ces esprits, à tous ces ouvrages imités du français, l’éloge que Roland, dans l’Arioste, fait de sa jument qu’il traîne après lui: Elle réunit, dit-il, toutes les qualités imaginables; mais elle a pourtant un défaut, c’est qu’elle est morte.«97
95 Zum Kulturtransfer vgl. die Beiträge in: Germaine de Staël und ihr erstes deutsches Publikum. Literaturpolitik und Kulturtransfer um 1800. Hrsg. von Gerhard R. Kaiser. Heidelberg 2008. 96 Gumbrecht, Hans Ulrich: ›Phoenix from the Ashes‹ or: From Canon to Classic. In: New Literary History 20 (1988), H. 1, S. 141–163, hier S. 150: »Napoleon’s Minister of Police was in error when he accused Mme de Stael of wanting to populate the literary canon of the French nation with German language authors as ›models‹ for imitation. Her book is interesting not because it wished to negate and replace a traditional canon with a new one, but rather because De l’Allemagne belongs among those writings of the early nineteenth century that are situated between normative poetology and philosophical aesthetics, and concern themselves with, among other things, the dissolution of basic structures of the canon as a social institution.« 97 Staël, Germaine de: De l’Allemagne, Bd. 1. [Paris 1810]. London 1813, S. 89f.: »Wenn geistreiche Franzosen reisen, begegnen sie bei Ausländern nur ungern dem französischen Esprit; sie suchen vielmehr Menschen, die nationale Originalität mit individueller Originalität vereinen. In die Kolonien, nach Deutschland und in den Norden schicken Frankreichs Putzmacherinnen, was sie in der Sprache des Volkes ›Ladenhüter‹ nennen. Dennoch suchen
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Wir haben es mit Beginn des 19. Jahrhunderts mit einem Paradox zu tun, nämlich der Ausbildung eines Neuhumanismus, der das Ende der humanistischen Epoche besiegelt. Er tut dies auf allen Ebenen der ›litterae‹, von deren Sprachlichkeit bis hin zu deren ästhetischer Bewertung und kulturpolitischer Nutzung. Die Diglossie, die grob gesprochen das Spannungsverhältnis von Gelehrten- und Alltagssprache von der karolingischen Renaissance um 800 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestimmt, wird durch die zunehmende Dominanz ›lebender‹ Nationalsprachen verdrängt. In der Frühen Neuzeit muss die kulturelle Diffusion, die wir den Begriffen ›Modell‹, ›Export‹ und ›Konkurrenz‹ genauer zu bestimmen versucht haben, im Spannungsverhältnis von Latein als Schul-, Gelehrten- und internationaler Kommunikationssprache zu den jeweiligen Distinktions- und Modesprachen Italienisch, Spanisch, Französisch und Englisch betrachtet werden. Es ist bezeichnend, dass die meisten der großen Neuerer, die als epochemachend gehandelt werden – also: Petrarca, Boccaccio, Melanchthon, Bacon, Galilei, Descartes, Pascale, Hobbes, Spinoza, Bayle, Newton, Locke, Thomasius, Leibniz, Wolff – Werke sowohl in Latein als auch in einer der Vernakularsprachen verfasst haben. Natürlich können auch hier andere Namen dagegen gestellt werden: Im Humanismus des 16. Jahrhunderts publizieren so prominente Vertreter des Humanismus wie Erasmus, Vives oder Lipsius ausschließlich auf Latein, während viele Dichter des 17., gar die meisten des 18. Jahrhunderts trotz höchsten Respekts für die lateinischen Musterautoren, ausschließlich in ihrer Muttersprache veröffentlichen. Und nicht zuletzt sind hier auch Autoren wie Shakespeare oder Grimmelshausen zu nennen, über deren tatsächliches Bildungsgepäck auch heute noch eifrig debattiert wird. Latein aber bleibt, gegen alle Angriffe und bisweilen auftretenden Reformversuche, die wichtigste Gebrauchssprache der Gelehrten.98 Wie Jürgen Leonhardt eindrücklich nachgezeichnet hat, wird die praktische und kanonische Ausrichtung hu-
sie mit größter Sorgfalt in eben diesen Ländern nach nationaler Tracht und schätzen diese zurecht als sehr elegante Modelle. Was für die Zierde gilt, gilt für den Geist. Wir finden da eine Wagenladung Liedchen, Kalauer, Gassenhauer, die wir ins Ausland schaffen, sobald wir damit in Frankreich nichts mehr anzufangen wissen. Selbst aber schätzen die Franzosen an den ausländischen Literaturen einzig die eingeborenen Schönheiten. In der Imitation ist keine Natur, kein Leben, ja, man könnte im Allgemeinen auf all diesen Esprit, all diese Werke, die aus dem Französischen imitiert werden, das Loblied singen, das Ariosts Orlando auf seine Stute anstimmt, die er hinter sich herschleift: ›Sie vereint‹, sagt er, ›alle erdenklichen Vorzüge, und doch hat sie einen Makel, sie ist tot.‹« 98 Vgl. Vollhardt, Friedrich: Der deutsche Parnaß im späten 18. Jahrhundert. Die Eigenperspektive der Epoche am Beispiel der Rezeption antiker Modelle. In: Zukunft der Literatur – Literatur der Zukunft. Gegenwartsliteratur und Literaturwissenschaft. Hrsg. von Reto Sorg, Adrian Mettauer und Wolfgang Proß. Paderborn 2003, S. 139–154.
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manistischer philologischer Bildung zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch das gewandelte Bildungsverständnis des Neuhumanismus verdrängt: »Die Zeit um 1800 brachte […] in der Geschichte der lateinischen Sprache einen entscheidenden Wendepunkt. Das eigentlich Bemerkenswerte an dieser Wende ist jedoch nicht, dass Latein seinen Status als aktiv gebrauchte Sprache verlor, sondern dass es danach nicht, wie man doch hätte erwarten müssen, an den Rand gedrängt wurde. Im Gegenteil: Es gewann geradezu noch einmal eine neue Dynamik als Bildungssprache ohne praktischen Anwendungsbezug. […] Paradoxerweise bedeutete gerade die faktische Kontinuität der Stundenverteilung im Lehrplan einen Paradigmenwechsel der Bildungsvorstellung, wie er extremer kaum gedacht werden kann. Das international kopierte Erfolgsmodell eines Gymnasiums, das Latein als Bildungsgut ungeachtet seines fehlenden Nutzwertes im Alltag in den Mittelpunkt stellte, verlieh dem Lateinischen letztlich sogar eine noch breitere globale Präsenz als zuvor. Latein wurde jetzt auch in Kanada, in Australien und in vielen anderen Regionen der europäisch dominierten Welt gelehrt. Letztlich lernten nicht weniger, sondern mehr Menschen Latein als zuvor. Es fällt schwer, in der gesamten Weltgeschichte einen Parallelfall zu finden, wo eine Sprache, die von kaum jemand gesprochen oder geschrieben wurde, eine so große Bedeutung für die ganze Gesellschaft hatte.«99
So bleiben denn »die antike lateinische und vor allem die antike griechische Sprache und Literatur […] doch aufgrund der allgemeinen Modellhaftigkeit, die man der Antike [zuerkennt], das Anschauungs- und Übungsmaterial, mit dessen Hilfe sprachliche Bildung am besten zu erwerben« ist.100 Zentrale Figuren der Bildungsreform wie August Wilhelm Schlegel, Friedrich August Wolf und Wilhelm von Humboldt, allesamt Verfechter eines neuhumanistischen Bildungsprogramms, formen jedoch »die alte praktische Ausrichtung des Sprachhumanismus […] in eine Art Sprachbetrachtungshumanismus« um, der sich nun mit grundlegend ästhetischer Einstellung der Antike zuwendet, nämlich »dass gerade die zweckfreie, nicht auf eine Berufsfertigkeit gerichtete Erkenntnis die eigentliche Menschenbildung sei.«101 Die Überzeitlichkeit kanonischer, vielleicht korrekter: klassischer Autoren beruht also nicht mehr auf Modellhaftigkeit im Zeichen der ›imitatio‹, sondern auf einer Vorstellung von Bildung als Propädeutikum zum besseren Verständnis des eigenen Ortes in einer fortan auch immer als national gedachten Kulturentwicklung. Von Diglossie kann zu Beginn des
99 Leonhardt, Jürgen: Latein. Geschichte einer Weltsprache. München 2009, S. 260. 100 Leonhardt, ebd., S. 261. 101 Ebd. – Zur Ästhetisierung der ›classici‹ zu Klassikern und der Verabschiedung einer Vorstellung von ›imitatio‹ vgl. die knappen und gleichzeitig luziden Ausführungen von Thomé, Horst: Art. »Klassik1«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (wie Anm. 78), S. 266–270, vor allem S. 267f.
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18. Jahrhunderts nicht mehr die Rede sein. Die Entwicklung der lateinischen Sprache zu einem »Anschauungsmodell« kann ohne die Entwicklung eines neuen Nationalbewusstseins, welches das nachrevolutionäre Europa bestimmt, nicht verstanden werden. Sicher, wir dürfen nicht annehmen, dass Petrarcas lebendiger Dialog mit dem verehrten Cicero dem gesamten Zeitalter des Humanismus unverändert Modell gestanden hat, doch lässt sich zu Ende des 18. Jahrhunderts behaupten, dass das Bewusstsein der zeitlichen Differenz gegenüber der Antike, das den Humanismus prägt, nicht mehr als Maßstab und Anhalt eines kulturellen Wettbewerbs dient, sondern es nun vielmehr als Aufgabe des Historismus erscheint,102 die Eigengesetzlichkeit vergangener Kulturen sowie der jeweiligen Beziehungen von Sprache, Kunst und Philosophie zu politischen, rechtlichen und religiösen Institutionen zu erforschen.103
102 Leonhardt: Latein. Geschichte einer Weltsprache (wie Anm. 99), S. 264f.: »Insgesamt zeichnen sich die Jahrzehnte zwischen etwa 1770 und 1840 dadurch aus, dass – zum ersten Mal in der europäischen Geschichte überhaupt – ein breites Interesse für historische Sprachen und Literaturen bestand. In eben diesem Zeitraum verlor Latein endgültig seine Stellung als aktiv gebrauchte Sprache. Da aber Latein gleichzeitig eine alte Sprache war, wurde sie in gleichem Maße, wie sie aus der zeitgenössischen Kommunikationswelt verschwand, als historisches Objekt wieder interessant. Genau zu dem Zeitpunkt, an dem sie nicht mehr zeitloses Modell humanistischer Sprachvollkommenheit und auch nicht mehr die unverzichtbare lingua franca Europas sein konnte, wurde sie im Zuge eines neuen historischen Bewusstseins als wichtigste historische Sprache Europas neu entdeckt.« Zu Meyers Konzipierung der Frühen Neuzeit vgl. Richter, Myriam: Richard M. Meyers Literaturgeschichtsschreibung und die frühe Neuzeit. In: Entdeckung der frühen Neuzeit. Konstruktionen einer Epoche der Literatur und Sprachgeschichte seit 1750. Hrsg. von Marcel Lepper und Dirk Werle. Stuttgart 2011, S. 101–128. 103 Zur maßgeblichen Rolle, die Herder in der Herausbildung dieser Vorstellung spielt, vgl. Proß, Wolfgang: Die Begründung der Geschichte aus der Natur. Herders Konzept von ›Gesetzen‹ in der Geschichte. In: Wissenschaft als kulturelle Praxis. Hrsg. von Hans Erich Bödeker, Peter Hanns Reill und Jürgen Schlumbohm. Göttingen 1999, S. 187–225; ders.: ›Natur‹ und ›Geschichte‹ in Herders ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹. In: Herder, Johann Gottfried: Werke. Hrsg. von dems. Bd. 3.1. München 2002, S. 839–1041, hier vor allem S. 1007–1041; Fulda, Daniel: Wissenschaft als Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin, New York 1996, S. 191–227; Ameriks, Karl: Die Schlüsselrolle des ›Selbstgefühls‹ in der ästhetischen und historischen Wende der Philosophie. In: Anatomie der Subjektivität. Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Selbstgefühl. Hrsg. von Thomas Grundmann, Frank Hofmann, Catrin Misselborn, Violetta L. Waibel und Véronique Zanetti. Frankfurt a. M. 2005, S. 389–416, hier S. 400: »Herders Werk ist bahnbrechend, wenn er betont, dass die antike (und selbst die vor-athenische) Kunst und das Denken dieser Zeit auf ihre eigene Weise bemerkenswert waren und nicht bloß eine Form der Vormoderne oder der ›Vorsokratik‹ darstellten. Verschiedene Epochen und verschiedene Wortführer, die die Prinzipien der jeweiligen Epochen herauskristallisierten, schienen unterschiedlich zu denken, nicht aber notwendig ›besser‹ oder ›schlechter‹ als andere in irgendeinem Sinne, der einschließen würde, dem gleichen Ziel näher zu kommen.«
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Die Spannung zwischen der kanonischen Modellhaftigkeit des humanistischen Programms und den auf- sowie gegeneinander folgenden Modellen kultureller Diffusion erlaubt es, die umstrittene Frage nach der Vitalität der Rhetorik und deren angeblichem Ende auf dem Hintergrund der Konkurrenz von neuhumanistischer und naturwissenschaftlich-technischer Bildung erneut und sinnvoll zu stellen. Als praktische Anweisung, als präzeptiver Anhalt zu einer sprachlichen Fertigkeit ist die Rhetorik im 19. Jahrhundert nicht mehr primär durch das ›aptum‹ als wichtigster Instanz des ciceronianischen Sprach- und Kommunikationsverständnisses geprägt,104 sondern in einem höheren Maße durch einen Bildungsgedanken, der eine bewusst geschichtsträchtige Tradition als kulturelle Entfaltung des Geistes in seinen authentischen, das heißt sowohl ursprünglichen als auch voll ›ausgebildeten‹, Manifestationen vor sich hinträgt. Die rhetorische Bildung des Neuhumanismus darf nicht, wie es häufig geschieht, in derjenigen karikierenden Verzerrung gesehen werden, die eine szientistisch orientierte ›Geschichte der Sieger‹ von ihr zeichnet. Die Rhetorik verschwindet nicht – weder als Praxis (wie könnte sie auch), noch als Regelwerk – aus der europäischen Bildungslandschaft.105 Gilt es auch bei der Untersuchung der neu bestimmten oder auch neu entstehenden Schulund Studienfächer die großen Unterschiede in den einzelnen staatlichen Bildungsprogrammen zu beachten, so erscheint aber die Funktion der Rhetorik grundlegend modifiziert. Sehr allgemein gesprochen lässt sich die Dominanz einer sowohl ästhetischen als auch historistischen Betrachtungsweise im Bereich der vormaligen ›studia humanitatis‹ ausmachen, die sich an der Regellosigkeit wahrer genialischer Schöpfungen orientiert und diesen notwendig individuellen Charakter des Kunstwerks auf dem Hintergrund einer nationalen, oder durch die Idee des Nationalen geprägten, Kulturgeschichte reflektiert. Mit der grundlegenden Soziabilität des rhetorischen Bildungsgedankens, der Normativität antiker Kultur und
104 Zur Zentralität des ›aptum‹-Begriffs im ciceronianischen Rednerideal vgl. Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 150–155; zur Bedeutung des ›decorum‹ im Rednerideal, und zwar bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vgl. Robling, Franz-Hubert: Redner und Rhetorik. Studie zur Begriffs- und Ideengeschichte des Rednerideals. Hamburg 2007, insbesondere S. 229–249. 105 Für die massive Präsenz eines rhetorischen Kurrikulums im Frankreich des 19. Jahrhunderts vgl. Douay-Soublin, Françoise: La rhétorique en France au XIXe siècle à travers ses pratiques et ses institutions. Restauration, renaissance, remise en cause. In: Histoire de la rhétorique dans Europe moderne 1450–1950 (wie Anm. 67), S. 1071–1214; zur weiterhin sehr intensiv gepflegten rhetorischen Bildung in Deutschland vgl. Jäger, Georg: Der Deutschunterricht auf Gymnasien 1780 bis 1850. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 47/1 (1973), S. 120–147.
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der Wiederherstellung einer vergangenen Hochkultur erscheint eine solche Betrachtungsweise nicht mehr vereinbar: »Der Neuhumanismus hat mit dem Humanismus gemeinsam, daß er die Antike gleichermaßen in normativer wie in historischer Perspektive sieht. Aber neu ist, daß ihm die normative Perspektive unmittelbar mit der historischen zusammenfällt. Die dem Altertum zugeschriebene Vollendung individueller Bildung, durch die es normative Geltung erlangt, ist gerade mit der extremen Individualität und damit Geschichtlichkeit des Altertums identisch. Die Menschen der Gegenwart sollen daraus lernen, daß es ihnen aufgegeben ist, ihre eigene Individualität und damit ihre eigene Geschichtlichkeit auszubilden. Das klassische Altertum wird klassisches Demonstrationsobjekt historischen Denkens, Klassizität zum Inbegriff von Historizität. Es ist evident, daß diese Vorstellung von Klassizität sich auf Dauer mit den immanenten Konsequenzen historischen Denkens nicht vereinbaren läßt. Der Schritt zur vollständigen Historisierung der Antike wird daher schon bald getan. Die Gegenwartsbedeutung des griechisch-römischen Altertums besteht fortan allein darin, daß es den bis zur Gegenwart führenden geschichtlichen Prozeß wesentlich geprägt hat und insoweit auch in der Gegenwart fortlebt. Die antike Kultur erscheint als historische Grundlage aller gegenwärtigen Bildung. Die Normativität des Altertums ist damit endgültig in dessen Geschichtlichkeit aufgehoben.«106
Es scheinen zwei gegensätzliche Konsequenzen zu sein, die sich aus der Einsicht in die Unerlernbarkeit von Dichtung107 für den humanistischen Kanon ergeben: Auf der einen Seite die Heroisierung der Rhetorik als einer Rhetorik der Tat, die nicht nur nicht aus Büchern gelernt, sondern dem Buchstaben (der ›littera‹) geradezu feind ist;108 auf der anderen Seite die zunehmende Grammatikalisierung des klassischen Sprachunterrichts.109 Mit der Historisierung geht eine Individualisierung der Autoren und Künstler als Klassiker und genialische Heroen einher, deren Leistungen 106 Muhlack, Ulrich: Klassische Philologie zwischen Humanismus und Neuhumanismus. In: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Hrsg. von Rudolf Vierhaus. Göttingen 1985, S. 93–199, hier S. 98. 107 Bosse, Heinrich: Dichter kann man nicht bilden. Zur Veränderung der Schulrhetorik nach 1770. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 10 (1978), S. 80–125. 108 Vgl. hierzu die luzide Analyse von Göttert, Karl-Heinz: Wider den toten Buchstaben. Zur Problemgeschichte eines Topos. In: Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kulturund Mediengeschichte der Stimme. Hrsg. von Friedrich Kittler, Thomas Macho und Sigrid Weigel. Berlin 2002 (2. Aufl. 2008), S. 93–113, namentlich zu Herder, Adam Müller und Gustav Adolf von Seckendorf, S. 100–107. Vgl. auch zur Entwicklung der Kanzelrhetorik die Favorisierung des Inspirationsgedankens, der gegen das heidnische rhetorische System gehalten wird, Bowman, Frank Paul: Le Discours sur l’Éloquence sacrée à l’Époque romantique. Rhétorique, apologétique, herméneutique (1777–1851). Genève 1980, S. 65 und S. 88. 109 Vgl. Leonhardt: Latein (wie Anm. 99), S. 270: »Die Entstehung dieser grammatischen Werke hängt natürlich damit zusammen, dass der aktive Gebrauch des Lateinischen und damit die tägliche Übung im Hören, Sprechen und Schreiben verloren gegangen waren. Wo dies der Fall ist, sind die Grammatiker gefragt […].«
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sich nicht am klassizistischen Konzept der Überzeitlichkeit des Wahren, Guten und Schönen, sondern in Konkurrenz dazu an kulturgeschichtlichen Entwicklungskonzepten einer sich in ihren Leistungen entfaltenden nationalen Bildungskraft misst.110 Die Imitierbarkeit ist damit in weite Ferne gerückt. Aus der »Produzentenausbildung« des humanistischen Kanons wird so eine »Konsumentenerziehung«,111 die auf den positiven Einfluss ausgewählter National-Klassiker auf die Geschmacksbildung und die kulturelle Selbstverortung der Schüler vertraut. Die vielbeschworene Bildung nimmt ihren Ausgangspunkt also nicht mehr im Dialog mit Autoren und Künstlern, sondern in der Rekonstruktion historischer Verhältnisse als befördernde, mitunter auch hinderliche Bedingungen, wobei die nach Räumen und Zeiten, gar nach Stämmen und Rassen unterschiedenen Kulturen als wesentliche Bestimmungsfaktoren sowohl der Menschen als auch der Werke dialektisch mitbedacht werden müssen. Die Individualität der Klassiker bildet sich letztlich mit und gegen den herrschenden Zeitgeist aus, die ihnen einen nationalen, nicht mehr universalistischen Charakter verleihen.112 So steht denn auch am Ende der ›età umanistica‹ im Bildungskanon des 19. Jahrhunderts eine Rhetorik, die nicht mehr dem ciceronianischen Bildungsideal verpflichtet ist.113 Dieses hatte sich mit bemerkenswerter
110 Zur Verbindung von Literaturgeschichtsschreibung und Evolutionstheorie siehe Hoeges, Dirk: Literatur und Evolution. Studien zur französischen Literaturkritik im 19. Jahrhundert. Taine, Brunetière, Hennequin, Guyau. Heidelberg 1980, insbesondere S. 51–93; Stierstorfer, Klaus: Robert Chambers (1802–1871). Wie die Literaturgeschichtsschreibung die Evolutionstheorie erfand. In: Literaturgeschichte. Theorien-Probleme-Praktiken. Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. Hrsg. von Matthias Buschmeier, Walter Erhart und Kai Kauffmann. Berlin, New York 2014, S. 215–230. 111 Weimar, Klaus: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989, S. 153. 112 Vgl. etwa Meyer, Richard M.: Principien der wissenschaftlichen Periodenbildung. Mit besonderer Rücksicht auf die Litteraturgeschichte. In: Euphorion 8 (1901), S. 1–42, hier S. 36: »Ich fasse die Nation selbst als Schöpfer ihrer Litteratur auf, wobei ich unter ›Nation‹ nichts anderes verstehe als die Summe aller jener Kräfte, Traditionen, Anregungen, Erschwerungen, mit denen jeder einzelne litterarisch thätige Angehörige zu rechnen hat. Diese in großartiger historischer Kontinuität verbürgte ideale, aber in ihren Äußerungen durchaus konkrete ›Nation‹ erlebt fortwährend den stetigen Strom der Veränderungen an sich selbst; und somit ändern sich auch unaufhörlich die Äußerungen ihrer Kraft. Sie dokumentiert sich in all den zahllosen künstlerischen oder politischen, socialen, wissenschaftlichen Anläufen, die wir zu verzeichnen haben. Die Träger aller dieser Einzelbewegungen sind die Individualitäten. Wir können es nicht bestreiten, daß sie für uns allerdings immer geschlossene, nebeneinanderliegende, auf keinen Generalnenner zu bringende Einheiten sind; individuum est ineffabile. Aber soviel wir können, geben wir ihnen doch eine höhere Einheit, indem wir sie eben sämtlich als Emanationen des nationalen Geistes auffassen.« 113 Um die Person Ciceros und seine ethische Vorbildhaftigkeit entwickelt sich gar ein Disput, der in Mommsens berühmten Wort nur eines der zahlreichen Sprachrohre findet; Momm-
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Konstanz während vier Jahrhunderten gegen einseitige Spezialisierung der Philologie sowie gegen die immer wieder zu beobachtenden Angriffe auf eine reine, ›sachvergessene‹ Wortdrechselei behauptet.114 ›Rhetorik‹ steht fortan für eine ostentativ kunstvolle Sprachbeherrschung, nicht aber für eine natürliche, durch Übung zur Gewohnheit gewordene Sprachfähigkeit. Die rhetorische Rede ist in diesem Selbstverständnis nicht mehr der Universalität humanistischer Ideale verpflichtet, die in bemerkenswerter Parallele zum Bedeutungsverlust des Lateins bald zu einem sowohl elitären als auch partikulären Bildungsausweis verkommen, bald der Reaktion wider die inkriminierte Einseitigkeit eines naturwissenschaftlich-technischen Bildungsbegriffs dienen. Mit Wilhelm Kühlmann können den zwei Säulen des Humanismus, Latinität und Rhetorikideal, »Immunität gegen nationale Sonderentwicklungen und soziopragmatische Anpassungszwänge« attestiert werden, wobei beide »nach einer letzten akademischen Verengung eines vormals universalen Funktionsspektrums […] nur noch als Gegenstand des Historikers und Philologen, allenfalls noch als spielerisches Exercitium bzw. Lektürevergnügen des geschichtsbewussten Liebhabers« in Erscheinung treten.115 Es ist also durchaus bezeichnend, dass Niethammer seine Wortprägung ›Humanismus‹ direkt auf die bildungspolitische Bedrohung des ›Philan-
sen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3. Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Weidmann, Leipzig 1856, S. 572: »Als Staatsmann ohne Einsicht, Ansicht und Absicht, hat er nach einander als Demokrat, als Aristokrat und als Werkzeug der Monarchen figurirt und ist nie mehr gewesen als ein kurzsichtiger Egoist.« Dies heißt jedoch nicht, dass Cicero auch als Gegenstand einer neuen, kulturgeschichtlichen Forschung seine Verteidiger erhält: Abeken, Bernhard Rudolf: Cicero in seinen Briefen. Ein Leitfaden durch dieselben, mit Hinweisung auf die Zeit, in denen sie geschrieben wurden. Hannover 1835 S. IV: »und da sich einmal in sehr vielen eine gewisse Abneigung gegen Cicero festgesetzt hat, ja ein Dünkel aufgekommen ist, in welchem sie mit frevelndem Leichtsinn von den Schwächen des großen Mannes, namentlich seiner Eitelkeit, reden, dann wegwerfend im Allgemeinen über ihn urtheilen: […]. Derselbe erscheint ihnen nirgends als ein Ganzes, nicht in der Beleuchtung seiner Zeit und Umgebung.« 114 Zu den (humanistischen) Invektiven wider eine falsch verstandene Pedanterie der ›grammatici‹ vgl. Kühlmann, Wilhelm: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982, S. 285– 318. Vgl. dagegen die Schilderung des »philologischen Ethos« in der Lachmann-Ära bei Kolk, Rainer: Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart, Weimar 1994, S. 48–114, hier S. 74–79, sowie die damit verbundene Verwissenschaftlichung der Lehrerausbildung in den philologischen Fächern, ebd., S. 58. 115 Mit Bezug auf das Latein vgl. Kühlmann, Wilhelm: Nationalliteratur und Latinität. Zum Problem der Zweisprachigkeit in der frühneuzeitlichen Literaturbewegung Deutschlands. In: Nation und Literatur im Europa der frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber. Tübingen 1989, S. 164–206, hier S. 168f.
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thropinismus‹ münzt.116 In dessen Erfolg nämlich erkennt er den Grund für die Aufgabe des universalistischen Bildungsanspruchs der ›litterae‹. Niethammer bedient damit nicht etwa bloß den erzhumanistischen Topos des Niedergangs der Rhetorik,117 sondern liefert vielmehr eine bemerkenswert luzide Diagnose der nunmehr feindlichen Wahrnehmung eines bedrohten humanistischen Zeitalters: »In der Zeit des Wiederaufblühens der Wissenschaften in Teutschland, welche auch den öffentlichen Lehranstalten ihre im Ganzen noch bis auf den heutigen Tag erhaltne Grundform gegeben hat, in jener Zeit, wo die alten Sprachen noch als die einzigen Sprachen der Cultur und insofern als ausschließende Bedingung aller Bildung galten, wo jene Sprachen überdies oft selbst die ganze Summe des Wissens bei den Lehrern ausmachten, – war es natürlich und selbst nothwendig, daß in dem Erziehungsunterricht für alle, die auf Bildung Anspruch machten, ein Uebergewicht auf die Erlernung jener alten Sprachen gelegt wurde. […] […] Gleichwohl mußte schon die immer häufiger werdende Ausartung jener Anstalten, die den ganzen Unterricht mehr und mehr in ein bloßes mechanisches Erlernen der alten Sprachen verwandelten, zuletzt einen Widerwillen gegen dieselben erregen, der in dem Grade zunehmen mußte, in welche die Einsicht lebendiger wurde, daß das Studium der alten Sprachen nicht Zweck an und für sich selbst, sondern nur Vorübung und Mittel seyn solle, die vollendetsten Meisterwerke der Cultur mit der Leichtigkeit, der der Genuße eines Kunstwertes und die davon zu erlangende Bildung fordert, lesen und studiren zu können. Da nun, dieser Einsicht gerade entgegen, die Schulen immer mehr über dem bloßen Mittel den Zweck selbst zu vergessen schienen, die Sprachen nur um der Sprachen willen trieben, und hie und da ihren ganzen Unterricht in ein mechanisches Wort= und Buchstabenwesen ausarten ließen, so mußte der lästige und nutzlose Zwang des Sprachunterrichts nur so verhaßter, und eben deshalb eine Erlösung davon als erste Bedingung einer gründlichen Reform des Erziehungsunterrichts betrachtet werden. In diesem Hasse lag einer der ersten Keime des Philanthropinismus.«118
Dass ein solcher Hass auf dem Boden des Philanthropinismus gewachsen sei, dafür besteht für Niethammer kein Zweifel. Die neue Pädagogik fuße auf einer aggressiven Zivilisationskritik, deren anti-humanistischen Züge zum Greifen sind. Die neue, ebenso literatur- wie konversationsvergessene Pädagogik119 stellt mit Rousseau die wenig geselligen Vorzüge 116 Zur Kontroverse zwischen Philanthropismus und Neuhumanismus vgl. Nieser, Bruno: Aufklärung und Bildung. Studien zur Entstehung und gesellschaftlichen Bedeutung von Bildungskonzeptionen in Frankreich und Deutschland im Jahrhundert der Aufklärung. Weinheim 1992, S. 152–212. 117 Zu Tacitus’ Vorstellung des Niedergangs einer ›zivilen‹ Rhetorik vgl. Fumaroli: L’âge de l’éloquence (wie Anm. 72), S. 63–70. 118 Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit (1808, wie Anm. 45), S. 13f. 119 Zu Rousseaus Einschätzung einer negativen Wirkung von ›littérature et savoir‹ in der Er-
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eines Robinson Crusoe120 gegen ›sermo‹ und ›salon‹, deren liberalen, bisweilen libertären Leitvorstellungen der ›urbanitas‹, des ›decorum‹ und der ›honnêteté‹ über unseren gesamten Zeitraum zu Castigliones Cortegiano121 und Montaignes Essais122 (also Anfang und Ende des 16. Jahrhunderts)
ziehung vgl. Hamilton, James F.: Literature and the Natural Man in Rousseau’s ›Emile‹. In: Literature and History in the Age of Ideas. Essays on the French Enlightenment. Columbus 1975, S. 195–206. Zur deutschen Rezeption der Rousseauschen Pädagogik vgl. Voßkamp, Wilhelm: ›Un livre Paradoxal‹. J.-J. Rousseaus ›Emile‹ in der deutschen Diskussion um 1800. In: Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Hrsg. von Herbert Jaumann. Berlin, New York 1994, S. 101–114; zum Einfluss von Rousseaus Schriften in Deutschland, namentlich im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts vgl. Mounier, Jacques: La Réception J. J. Rousseau en Allemagne au XVIIIe siècle. In: Aufklärungen. Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert. Bd. 1. Hrsg. von Gerhard Sauder und Jochen Schlobach. Heidelberg 1986, S. 167–180, insbesondere S. 172–179. 120 Rousseau, Jean-Jacques: Émile ou de l’éducation. In: ders.: Œuvres complètes. Bd. 4. Hrsg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond. Paris 1969, S. 454f.: »Puis qu’il nous faut absolument des livres, il en existe un qui fournit à mon gré le plus heureux traitté d’éducation naturelle. Ce livre sera le prémier que lira mon Emile; seul il composera durant longtems toute sa bibliotheque, et il y tiendra toujours une place distinguée. Il sera le texte auquel tous nos entretiens sur les sciences naturelles ne serviront que de commentaire. […] Quel est donc ce merveilleux livre? Est-ce Aristote, est-ce Pline, est-ce Buffon? Non; c’est Robinson Crusöé.« [Da wir unbedingt Bücher brauchen, so gibt es eines, das m.E. die glücklichste Abhandlung zu einer natürlichen Erziehung liefert. Dieses Buch wird das erste sein, das mein Emil liest; alleine wird es während langer Zeit die gesamte Bibliothek bilden und darin immer einen ausgezeichneten Platz einnehmen. Es wird ein Text sein, dem alle unsere Unterredungen zu den Naturwissenschaften als Kommentar dienen. Welches ist dieses wunderbare Buch? Aristoteles, Plinius, Buffon? Nein, es ist Robinson Crusoe.] – Die direkte Verbindung zum deutschen Philanthropinismus stellt etwa ein Rousseau-Verehrer wie Campe her, wenn er sein eigenes Unterfangen mit dem »abgeschiedenen großen Geiste« Rousseaus adelt; Campe, Joachim Heinrich: Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder. Hrsg. von Alwin Binder und Heinrich Richartz. Stuttgart 1981, S. 8. 121 Zur enormen Wirkung des Libro del Cortegiano auf Hof, Salon und die Ideale der Konversation vgl. Magendie, Maurice: La Politesse Mondaine et les théories de l’honnêteté, en France, au XVIIe siècle, de 1600 à 1660. Bd. 1. Paris 1925, S. 305–338; Manley, Lawrence: Convention 1500–1750. Harvard 1980, S. 113–117; Beetz, Manfred: Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990, insbesondere S. 49f. und S. 246–249; Ley, Klaus: Castiglione und die Höflichkeit: Zur Rezeption des Cortegiano im deutschen Sprachraum vom 16. bis zum 18. Jahrhundert: In: Beiträge zur Aufnahme der italienischen und spanischen Literatur in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. Hrsg. von Alberto Martino. Amsterdam 1990, S. 3–91; Scaglione, Aldo: Courtliness, Chivalry, and Courtesy from Ottonian Germany to the Italian Renaissance. Berkeley 1991, S. 279–304; Hinz, Manfred: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992; Fumaroli, Marc: Trois institutions littéraires. Paris 1994, S. 111–210; Burke, Peter: Die Geschicke des ›Hofmann‹. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten. Berlin 1996. 122 Zu den Konversationsidealen einer asystematischen, mondänen Philosophie in der Tradition Montaignes vgl. Boase, Alan M.: The Fortunes of Montaigne. A History of the Essays in France, 1580–1669. New York 1970; Tétel, Marcel: The Humanistic Situation. Montaigne
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zurückverfolgt werden können. Sicherlich kann auch die Hierarchisierung kultureller Leistungen in Hinsicht auf die Bewältigung lebensnotwendiger Aufgaben auf eine ihr eigene Tradition verweisen, die hinter derjenigen geselliger Ideale wohl nur wenige Jahrzehnte zurückbleibt. Von d’Alemberts Discours préliminaire zur Encyclopédie123 können wir den Bogen zu Francis Bacon (also Anfang des 17. Jahrhunderts) und dessen maßgeblichen Einfluss auf das Programm der Royal Society124 als wesentliche Träger eines utilitaristischen Wissenschaftsprogramms schlagen. Wären wir auch bereit, mit Borkenau Bacons Haltung als »absolute[n] Empirismus« zu verstehen, der einem »reinen Praktizismus« entspricht und »das Problem der Normen grundsätzlich ausschaltet«,125 so kommt jedoch weder diese Einschätzung, noch die tatsächliche Favorisierung der Nützlichkeit in Bacons Denken, noch die hier behauptete Identität von »scientia« et »potentia«126 der rousseauschen Abrechnung mit der eigenen, verzärtelten Zeit im Besonderen sowie der Zivilisation im Allgemeinen gleich. Rousseaus mangelndes Vertrauen in die optimierende Wirkung der Wissenschaften und Künste steht nicht mehr bloß im Zeichen einer weit verbreiteten Luxuskritik127 und der damit einhergehenden ökonomischen Bestimmung eigentlicher Werte – Diskussionen, die im Anschluss an Mandevilles Paradoxon der Bienen-
and Castiglione. In: The Sixteenth Century Journal 10/3 (1979), S. 69–84; Fumaroli, Marc: Le Protée français et ses moralistes. In: ders.: La diplomatie de l’esprit. De Montaigne à La Fontaine. Paris 1994, S. 341–375; ders.: De l’Âge de l’éloquence à l’Âge de la conversation. La conversion de la rhétorique humaniste dans la France du XVIIe siècle. In: Art de la lettre, Art de la conversation. Hrsg. von Bernard Bray und Christoph Strosetzki. Paris 1995, S. 25–59. 123 Vgl. hierzu Darnton, Robert: Philosophers Trim the Tree of Knowledge. The Epistemo logical Strategy of the ›Encyclopédie‹. In: ders.: The Great Cat Massacre. And Other Episodes in French Cultural History. New York 1984, S. 191–214; Malherbe, Michel: Bacon, ›l’Encyclopédie‹ et la Revolution. In: Études philosophiques 3 (1985), S. 387–404. 124 Vgl. Gaukroger, Stephen: Francis Bacon and the Transformation of Early-modern Philosophy. Cambridge 2001, S. 2–5. 125 Vgl. Borkenau, Franz: Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode. Paris 1934. Neudr. Darmstadt 1971, S. 91. – Gegen eine solche Sicht steht eine Forschung, welche die Abhängigkeit Bacons vom humanistisch-rhetorischen Bildungsprogramm hervorhebt; vgl. Gaukroger: Francis Bacon and the Transformation of Early-modern Philosophy (wie Anm. 124), S. 37–67. 126 Bacon, Francis: Novum Organum, Pars Secunda quae dicitur Novum Organum, Aphorismi de interpretatione naturae et regno hominis, I, 3. In: ders.: The Works. Hrsg. von James Spedding, Robert Leslie Ellis und Douglas Denon Heath. Bd. 1. London 1858, S. 157: »Scientia et potentia humana in idem coincidunt, quia ignoratio causae destituit effectum.« [Menschliche Wissenschaft und menschliche Macht fallen in Eins, denn die Unkenntnis der Ursache gibt die Wirkung preis.] 127 Vgl. Galliani, Renato: Le débat en France sur le luxe. Voltaire ou Rousseau? In: Studies on Voltaire 161 (1976), S. 205–217; Rétat, Pierre: Luxe. In: Dix-huitième siècle 26 (1994), S. 79–88.
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fabel von einiger Brisanz waren –,128 sondern basiert auf der prinzipiellen Infragestellung einer Grundannahme, welche die ›età umanistica‹ und also die Frühe Neuzeit auszeichnet: die selbstverständliche Verbindung von Wohlfahrt und ›sociabilitas‹, von individueller Erfüllung und ›socialitas‹. Bei allen Unterschieden, die sich in den Verhältnisbestimmungen des Einzelnen zur Gesellschaft finden, begegnen wir weder im Fortleben von Ciceros Gesetzes- und Pflichtenlehre,129 noch in der modernen Naturrechtsentwicklung seit Grotius,130 noch im Neoepikuräismus eines Machiavelli oder Hobbes,131 noch im Neostoizismus eines Lipsius oder Charron,132 und schon gar nicht in der Thomasianischen Liebesethik,133 einer solchen »Radikalität«, das »Naturhafte« des Menschen zu denken.134 Die Radikalität hat eine anthropologische Grundlegung der Sittlichkeit zum Ziel, nämlich die Konzipierung eines »Etat primitif«. Für Kant trägt dieser geradezu Newtonsche Züge,135 verhelfe er doch die Natur des Menschen vor aller Zeitlichkeit und sozialen Relativität in dessen reiner Autarkie zu bestimmen.136 128 Vgl. Euchner, Walter: Versuch über Mandevilles Bienenfabel [zuerst 1968]. In: ders.: Egoismus und Gemeinwohl. Studien zur Geschichte der bürgerlichen Philosophie. Frankfurt a. M. 1973, S. 74–131. 129 Vgl. Kaufmann, Sebastian: Die stoisch-ciceronische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau. In: Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Hrsg. von Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt und Bernhard Zimmermann, Bd. 1. Berlin, New York 2008, S. 229–292, hier S. 274–286. 130 Vgl. Schneewind, Jerome B.: The Invention of Autonomy. A History of Modern Moral Philosophy. Cambridge 1998, S. 58–140. 131 Vgl. Ludwig, Bernd: Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts. Zu Thomas Hobbes’ philosophischer Entwicklung von ›De Cive‹ zum ›Leviathan‹ im Pariser Exil 1640– 1651. Frankfurt a. M. 1998, S. 401–454; Wilson, Catherine: Epicureanism at the Origins of Modernity. Oxford 2008, S. 178–199; dies.: Epicureanism in Early Modern Philosophy. In: The Cambridge Companion to Epicureanism. Hrsg. von James Warren. Cambridge 2009, S. 266–286. 132 Vgl. Abel, Günter: Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik. Berlin, New York 1978, besonders S. 99–113. 133 Vgl. dazu Schneiders, Werner: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim 1971, vor allem S. 62–116 sowie S. 239–281. Zur Rousseau-Kritik auf Grundlage des Geselligkeitsideals vgl. Vollhardt, Friedrich: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001, S. 317–336. 134 Kobusch, Theo: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. Darmstadt 1997, S. 118. 135 Vgl. hierzu Cassirer, Ernst: Kant und Rousseau (1939). In: ders.: Rousseau, Kant, Goethe. Hrsg. von Rainer A. Bast. Hamburg 1991, S. 3–63, hier vor allem S. 20–22. 136 Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes, Préface. In: ders.: Œuvres complètes. Bd. 3. Hrsg. von Jean Starobinski. Paris 1964, S. 122: »et comment l’homme viendra-t-il à bout de se voir tel que l’a formé la Nature, à travers
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Radikalität, ein prononcierter Hang zur Paradoxie sowie sicherlich auch immanente Aporien lassen Rousseaus Gesellschaftstheorie als Katalysator politischer Dialektik erscheinen,137 die den Antagonismus von Natur und Freiheit in der paradoxen Preisgabe natürlicher Willkür zugunsten der Erhaltung eines konstitutiven Moments des Naturzustandes aufhebt, dem Moment der Gleichheit. Gegen den absoluten tritt der empirische Mensch an, der – sozial bedingt wie er nun mal ist – sich die Lösung des Antagonismus gleichsam zur zweiten Natur und damit zu einer essentiellen Aufgabe macht: »Il y a donc un ›état de nature‹ qui est contraire à ›la nature de l’homme‹ et qui est inférieur à l’état social où se réalise l’homme essentiel.«138 Aus der Einwilligung des Einzelnen in den einen allgemeinen Willen, entsteht die »öffentliche Person« als lebendiges und belebendes Prinzip der Gemeinschaft.139 Sowohl das geschilderte humanistische Ideal
tous les changements que la succession des temps et des choses a dû produire dans sa constitution originelle, et de démêler ce qu’il tient de son propre fonds d’avec ce que les circonstances et ses progrès ont ajouté ou changé à son Etat primitif?« [und wie bewältigte der Mensch die Aufgabe, sich durch all die Veränderungen hindurch, welche die Folge der Zeiten und der Dinge in seiner ursprünglichen Konstitution bewirkt haben so zu sehen, wie ihn die Natur geformt hat, und dasjenige, was er aus seinem eigenen Grund hat, von demjenigen zu trennen, was die Umstände und seine Entwicklung zu seinem ursprünglichen Zustand hinzu addiert bzw. verändert haben?] 137 Zur diesbezüglichen Bedeutung Rousseaus vgl. Kondylis, Panajotis: Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802. Stuttgart 1979, S. 117–129; was Konsequenzen hinsichtlich der Antike-Rezeption betrifft, vgl. die Ausführungen zu Hölderlins Platon-Rezeption (ebd., S. 299–304). 138 Gueroult, Martial: Nature humaine et état de nature chez Rousseau, Kant et Fichte. In: Revue philosophique de la France et de l’étranger 131 (1941), S. 379–397, hier S. 388: »Es gibt also einen Naturzustand, welcher der Natur des Menschen entgegengesetzt und welcher dem Gesellschaftszustand, in dem der essentielle Mensch sich verwirklicht, untergeordnet ist.« 139 Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social; ou, principes du droit politique, I, 6. In: ders.: Œuvres complètes. Bd. 3. Hrsg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond. Paris 1964, S. 351: »À l’instant, au lieu de la personne particuliere de chaque contractant, cet acte d’association produit un corps moral et collectif composé d’autant de membres que l’assemblée a de voix, lequel reçoit de ce même acte son unité, son moi commun, sa vie et sa volonté. Cette personne publique qui se forme ainsi par l’union de toutes les autres prenait autrefois le nom de Cité, et prend maintenant celui de République ou de corps politique, lequel est appelé par ses membres Etat quand il est passif, Souverain quand il est actif, Puissance en le comparant à ses semblables.« [Gleichzeitig bildet der Akt der Vergesellschaftung anstelle der Einzelperson eines jeden Vertragspartners einen moralischen und kollektiven Körper, der aus ebenso vielen Gliedern zusammengesetzt ist, wie die Versammlung Stimmen hat, der durch eben diesen Akt seine Einheit erhält, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen. Diese öffentliche Person, die sich durch die Vereinigung aller anderen Personen formt, hieß vormals ›civitas‹ und heißt heute ›Republik‹ oder ›politischer Körper‹, den seine Glieder, wenn er passiv ist, ›Staat‹ nennen, wenn aktiv, ›Souverän‹, wenn mit seinesgleichen verglichen, ›Macht‹.]
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der ›socialitas‹ als auch die Pufendorfsche Leitidee der ›sociabilitas‹,140 sowohl Grotius’ humanistischer Rekurs auf die Exemplarität antiker Erkenntnis141 als auch Lockes kreationistische Einsetzung unbedingter, unveräußerlicher Gleichheit und Unabhängigkeit142 beruhten allesamt auf einer Anthropologie, die den Menschen im Naturzustand nicht bar jeglicher Relationalität sowie jeglichen moralischen Urteils- und Gefühlsvermögens dachten. Sie erkannten vielmehr, sei es im geselligen, häuslichen Umgang, sei es in primitiven Formen gesellschaftlicher Organisation, ein natürliches Habitat, aus dem sich durch das Austarieren von Sympathie und Selbsterhaltungstrieb durch positive Gesetzgebung einer überlebensfähigen, das Leben der Bürger schützenden politische Gesellschaft entwickelt. Und sogar in Hobbes ›bellum omnium contra omnes‹ finden wir zwar die Negation natürlicher Soziabilität, gleichzeitig aber auch eine grundlegende soziale Relationalität, die sich in natürlicher Feindseligkeit und Aggressivität aus dem Primat der Selbsterhaltung heraus äußert.143 Die Vorstellung einer radikalen Autarkie des Naturmenschen setzt bei Rousseau hingegen die Entäußerung (›aliénation‹) einer vorbegrifflichen Unbeschränktheit und damit auch eine notwendig Entfremdung für eine jede Form der Vergesellschaftung voraus, die in den Konzepten des ›contrat social‹ und des ›citoyen‹ nur bedingt ihre Aufhebung finden.144
140 Vgl. zu beiden Medick, Hans: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith. Göttingen 1973, S. 40–108. 141 Grotius, Hugo: Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens (1625), Vorrede, § 46. Hrsg. und übers. von Walter Schätzel. Tübingen 1950, S. 41: »Die Geschichte hat für unser Vorhaben einen zweifachen Nutzen; sie bietet Beispiele und Grundsätze [exempla et iudicia]. Die ersten haben um so mehr Wert, je besser die Zeit und das Volk ist, dem sie entlehnt sind. Deshalb haben wir die aus der alten griechischen und römischen Geschichte vorzugsweise berücksichtigt. Auch die Richtersprüche sind nicht zu verachten; namentlich, wenn sie übereinstimmen. Denn das Naturrecht [ius naturae] wird, wie wir bemerkt haben, dadurch einigermaßen bewiesen, und für das Völkerrecht [ius gentium] gibt es auch keinen anderen Beweis.« 142 Locke, John: Two Treatises of Government (1690), II, 2, 6. Hrsg. von Peter Laselett. 2. Aufl. Cambridge 1967, S. 289: »The State of Nature has a Law of Nature to govern it, which obliges every one: And Reason, which is that Law, teaches all Mankind, who will but consult it, that being all equal and independent, no one ought to harm another in his Life, Health, Liberty, or Possessions. For men being all the Workmanship of one Omnipotent, and infinitely wise Maker; All the Servants of one Sovereign Master, sent into the World by his order and about his business; they are his Property, whose Workmanship they are, made to last during his, not one anothers Pleasure.« 143 Hobbes, Thomas: Leviathan, or The Matter, Forme, and Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill (1651), I, 12. Hrsg. von William George Pogson Smith. Oxford 1909, S. 94–98. 144 Vgl. Gilliard, Francois: État de nature et liberté dans la pensée de Jean-Jacques Rousseau. In: Études sur le Contrat social de Jean-Jacques Rousseau. Paris 1964 (Publications de l’Uni-
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Spätestens mit Rousseau vollzieht sich der Bruch mit einer Naturrechtstradition, die bis auf die spanische Spätscholastik zurückreicht. Er vollzieht sich auf dem Hintergrund eben dieser Tradition, die Rousseau bestens vertraut ist und zu welcher er sich bisweilen auch durchaus affirmativ äußert.145 Er besteht in der Radikalisierung und Verabsolutierung eines Zustandes »ohne jeglichen Beistand von anderen Menschen«, der bei Pufendorf als lediglich einer der drei »modi« des »status naturalis« erscheint.146 Die Behauptung aber, dass der Mensch als Naturwesen sich ›per definitionem‹ jeglichen moralischen Urteils entziehe, wirft die Frage auf, ob es jenseits der Konvention oder des Kontrakts ohne logischen Widerspruch überhaupt eine übergeordnete Instanz geben kann, die einer moralischen Begründung positiven Rechts zu dienen vermag.147 Wolfgang Proß erkennt in der Erosion dieser letztlich normativen Anthropologie des Naturrechts einen epochalen Vorgang, dessen Wirkung auf das gesamte Naturverständnis nicht folgenreicher sein könnte: »Erst gegen Ende der angesetzten Periode [i.e. 1600–1800] verursachen die Ausdifferenzierungen – der Sieg des ›Konventionalismus‹ über das Naturrecht, der dem Historismus den Weg ebnet, und die Entwicklung neuer naturwissenschaftlicher Modelle […] – die Auflösung dieser »routinisierten« Beziehung der beiden Bereiche [i.e. Naturrecht und Naturwissenschaften]. Eine neue Einheit sollten sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in dem wissenschaftlich viel weniger präzisierbaren […] Begriff ›organischer Entwicklung‹ finden, der trotz des dominant historisch-evolutionären Aspekts auch die systematisierende Tradition des 18. Jahrhunderts fortführt: Comtes ›positive Philosophie‹ und ihre Parallele von ›sozialer Physik‹ und Physiologie ist ein Musterbeispiel dieser Tendenz.«148
Dem Neuhumanisten, dies steht fest, kommt in seinem Selbstverständnis nicht mehr die Aufgabe zu, die Avantgarde einer auf die praktische Melioversité de Dijon 30), S. 111–118; Bénichou, Paul: Réflexion sur l’idée de nature chez Rousseau. In: Pensée de Rousseau. Hrsg. von Gérard Genette und Tzvetan Todorov. Paris 1984, S. 147–161. 145 Vgl. hierzu die klassische Untersuchung von Derathé, Robert: Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps. Paris 1950, zum Einfluss Pufendorfs, dessen Naturzustandstheorem und Vertragslehre, vor allem S. 142–145 und S. 209–216. 146 Pufendorf, Samuel: De Officio Hominis et Civis juxta Legem Naturalem (1673) II, 1, § 3. Erfurt 1678, S. 214f.: »sine ullo adminiculo ab aliis hominibus«. – Vgl. hierzu Medick: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft (wie Anm. 140), S. 49. 147 So die einflussreiche Interpretation von Rousseaus ursprünglicher Absicht und die Kritik an den tiefgreifenden Inkonsequenzen, die den Contrat social auszeichnen, bei Vaughan, Charles Edwyn: The Political Writings of Jean-Jacques Rousseau. Bd. 1. Cambridge 1915, S. 441–444. 148 Proß, Wolfgang: ›Natur‹, Naturrecht und Geschichte. Zur Entwicklung der Naturwissenschaften und der sozialen Selbstinterpretation im Zeitalter des Naturrechts (1600–1800). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 3 (1978), S. 38–67, hier S. 47f.
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rierung menschlicher Umstände zielenden Bildung zu sein, sondern vielmehr ein Bollwerk gegen die Gefahren, die einer Kultur der Vergangenheit durch eine am naturwissenschaftlichen Ideal orientierte technische Vereinnahmung sowie szientistische ›Entgeistung‹ des Menschen in der Jetztzeit erwächst. Die soziale Physik, die Darwinsche Soziallehre, der Marxsche Determinismus, sie alle trachten in den Augen der Neuhumanisten durch ihre Forderung nach Wissenschaftlichkeit, den modernen Menschen der Hoffnung zu berauben, in den ›studia humanitatis‹ auch nur ein Geringes zur Lösung der Menschheitsfrage beitragen zu können. Hauptsächlich wird es der Historismus sein, der mit mehr oder minder großen Konzessionen an die Adresse einer strengeren Methodologie die historische und gesellschaftliche Bedingtheit des Individuums zu demonstrieren trachtet, um nicht zuletzt der Ideologie einer naturwissenschaftlich-technischen Beherrschbarkeit die Grenzen zu weisen. So kommt ihm aber auch, und zwar auf dem Hintergrund eines neuhumanistischen Idealismus, gleichzeitig die Aufgabe zu, im Wechselspiel der Kräfte die menschliche Freiheit in ihrer psychologischen Realität trotz aller und gegen alle historische Beschränktheit zu behaupten: »Denn jede tote und lebendige Kraft wirkt nach den Gesetzen ihrer Natur, und alles, was geschieht, steht, dem Raum und der Zeit nach, in unzertrennlichem Zusammenhange. In diesem erscheint die Geschichte, wie mannigfaltig und lebendig sie sich auch vor unserem Blicke bewegt, doch wie ein totes, unabänderlichen Gesetzen folgendes, und durch mechanische Kräfte getriebenes Uhrwerk. Denn eine Begebenheit erzeugt die andere. Maß und Beschaffenheit jeder Wirkung wird durch ihre Ursache gegeben, und selbst der frei scheinende Wille des Menschen findet seine Bestimmung in Umständen, die längst vor seiner Geburt, ja vor dem Werden der Nation, der er angehört, unabänderlich angelegt waren. Aus jedem einzelnen Moment die ganze Reihe der Vergangenheit, und selbst der Zukunft berechnen zu können, scheint nicht in sich, sondern nur wegen mangelnder Kenntnis einer Menge von Zwischengliedern unmöglich. Allein es ist längst erkannt, daß das ausschließende Verfolgen dieses Weges gerade abführen würde von der Einsicht in die wahrhaft schaffenden Kräfte, daß in jedem Wirken, bei dem Lebendiges im Spiel ist, gerade das Hauptelement sich aller Berechnung entzieht, und daß jenes scheinbar mechanische Bestimmen doch ursprünglich frei wirkenden Impulsen gehorcht.«149
Natürlich begegnen wir in der Kunst, der Historiographie und den großen Theorieentwürfen der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, ganz ebenso
149 Humboldt, Wilhelm von: Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Darmstadt 1960, S. 585–606, hier S. 597f.
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wie bei Rousseau selbst,150 allenthalben der klassischen Antike: römisch republikanische Tugenden, ins Prinzipielle gesteigerte antike Kunstideale, zur Allegorie verklärte Mythologeme u.a.m. Dies darf uns jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Antike nicht mehr als die einzige, noch als die überzeitlich normative Bezugsgröße, sondern als ein Element unter anderen einer dialektischen Geschichtsauffassung sowie als Reservoir eines die Gesellschaft auch ästhetisch prägenden Historismus fungiert: Nicht als Vorbild zur Imitation und Aemulation, sondern als uneinholbare, in ihrer Historizität autonome Epoche, deren Wirkung nur mittelbar durch eine ›reine‹ historische Erkenntnis als verlorene Totalität unter Anwendung ›vereinigungsphilosophischer‹ Denkfiguren Einsichten in das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, von Individuum und Gesellschaft verspricht.151 Normativ ist eine solche Geschichte einzig durch die Erkenntnis in den tragischen Widerstreit von Freiheit und Bedingtheit, eine Erkenntnis gleichwohl, die in einem – von der wissenschaftlichen Betrachtung strikt getrennten – parteipolitischen Handlungsfeld zum Fortschritt beizutragen verspricht.152
5. Allgemeine Geschichte Was jeweils als epochale Einheit verstanden wird, dies hängt zum einen und ganz entschieden vom Forschungsinteresse ab. Wer die Frühe Neuzeit in der Literatur-, Philosophie-, Technik- oder Klimageschichte untersucht, wird seinen Blick auf andere Gegenstände richten, als wer sich der Verfassungs- oder Religionsgeschichte zuwendet. Und wer Grundzüge der Frühen Neuzeit für einen Band Diskurse der Gelehrtenkultur darzustellen versucht, der wird seinen Ausgangspunkt wohl eher im Renaissance-Humanismus wählen als in der Entwicklung der modernen Algebra, ganz zu schweigen vom neuzeitlichen Reisewesen, so wichtig beide im Übrigen sind.
150 Vgl. Leigh, Ralph Alexander: Jean-Jacques Rousseau and the Myth of Antiquity in the Eighteenth Century. In: Classical Influences on Western Thought 1650–1870. Hrsg. von Robert R. Bolgar. Cambridge 1979, S. 155–168. 151 Zur Bedeutung des Historismus und dessen Verhältnis zu Humanismus bzw. Aufklärung vgl. Muhlack, Ulrich: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991, S. 412–435; zur Auflösung des humanistischen Ideals vgl. Koselleck, Reinhart: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: ders.: Vergangene Zukunft. 8. Aufl. Frankfurt/M. 2013, S. 38–67. 152 Rüsen, Jörn: Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur. Frankfurt/M. 1993, S. 165–176.
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Was jeweils als epochale Einheit verstanden wird, hängt zum anderen davon ab, wie wir die historischen Gegenstände als gegeben erachten, das heißt, ob unsere Einstellung vorzugsweise auf Ereignisse, Strukturen oder Prozesse geht.153 Wer Ereignisse erklärt, wird sich zur Erklärung eben dieser Ereignisse auf Zusammenhänge beziehen, wer hingegen Strukturen analysiert, der exemplifiziert oder plausibilisiert Relationen anhand von Ereignissen, wer schließlich Prozesse nachzeichnet, der behandelt Ereignisse als Momente in einem Prozess der Herausbildung neuer oder veränderter Strukturen. Dass es vornehmlich Prozesse sind und waren, die für die jeweiligen Epochen als identitätsstiftend vermutet werden, erscheint auf den ersten Blick naheliegend. Hieraus lässt sich unter anderem die Geläufigkeit der Unterscheidung von ›Früh‑‹, ›Hoch‑‹ und ›Spät‑‹ erklären, die zur Binnendifferenzierung an die Epochen herangetragen werden. Die Prozesse artikulieren sich in Ereignissen, die als Auslöser einer Krise wahrgenommen werden und Veränderungen bedingen (Frühphase); gewisse Veränderungen bewähren sich als Ausweg aus der Krise und bilden eine mehr oder minder stabile Struktur aus (Hochphase), die im weiteren historischen Verlauf unter dem Druck neu hinzutretender, der stabilen Ordnung zuwiderlaufenden Ereignisse erodiert (Spätphase) und schließlich ihrerseits zur Krise und damit Ausgangspunkt einer neuen Epoche mutiert. Bei aller Kritik an teleologischen Geschichtsvorstellungen scheint eine solche tripartite Artikulation bei der Beschreibung einer dynamischen Herausbildung von Identität unvermeidbar, es sei denn, man geht von eigentlichen ›Brüchen‹ zwischen zeitlichen ›Kontinenten‹ aus, denen – um im Bild zu bleiben – keine ›Drift‹ folgt.154 Das Problem liegt nicht so 153 Vgl. etwa Koselleck, Reinhart: Vorwort. In: Studien zum Beginn der modernen Welt. Hrsg. von dems. Stuttgart 1977, S. 5–7, hier S. 6: »Der Beginn der Neuzeit ist ein vielschichtig abgefächerter Vorgang, je nachdem ob die Ereignisse und Ereigniszusammenhänge oder ob soziale ökonomische oder politische Strukturen und deren Wandel in den Blick gerückt werden.« Und er folgert daraus: »Eine strikt parallel verlaufende Periodisierung aller Lebensbereiche stößt jedenfalls auf Einwände, die nicht ohne weiteres durch synchrone Zuordnung aus der Welt geschafft werden können.« 154 Für einen ebenso unscharfen wie wirren, jedoch durchaus symptomatischen Entwurf desjenigen, worum es hier geht, vgl. Gehring, Petra: Foucault. Die Philosophie im Archiv. Frankfurt/M. 2004, S. 51: »Was ist so besonders an dem Bild, das Foucault von den klassischen und modernen ›Diskursen‹ und auch von jenem ›Diskurs‹ der Menschen- bzw. Sozialwissenschaften zeichnet? Die historische Vergangenheit erscheint plötzlich in verändertem Licht. Unter dem Ordnungsgesichtspunkt betrachtet verwandelt sich gleichsam die Beschaffenheit der Geschichte: Man sieht eigentümlich fremde, nur zeitweilig stabile Ordnungen der Wahrheit – Ordnungen der wissenschaftlichen Rede, Denksysteme –, die sich in plötzlichen Umbrüchen verändern. Neue, ebenfalls eigentümlich fremde Ordnungen tauchen auf, aber auch diese erscheinen in sich stabil wiederum lediglich in der Form einer ›Epoche‹. Mit jedem Ordnungswechsel […] ändert sich weit mehr als der Kenntnisstand eines Fachgebiets. Es ändert sich ein ganzes Wirklichkeitsmuster. Und es ändern sich
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sehr darin, dass wir den Dingen in der Zeit einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss geben, sondern vielmehr darin, dass wir durch die Verbindung mit den Lebensaltern (jung, erwachsen, alt), mit der Pflanzenwelt (dem Wachsen, Blühen und Welken), mit den Jahreszeiten (insbesondere Frühling und Herbst), am häufigsten aber mit Geburt und Tod eine unverhohlene Wertung verleihen, die geschichtlichen Ereignissen Leistungen attestieren, die im Wesentlichen bald in einer ›produktiven Dynamik‹, bald in anhaltender Wirkung bestehen. Die Vorstellungen, die diesen zugegebenermaßen nur schwer vermeidbaren Ausdrucksweisen inhärieren, lassen sich in neuerer Zeit in funktionalistischen Argumentationsfiguren wiederfinden. In Anlehnung an die Biologie werden historische Ereignisse gleichsam als organische Bestandteile verstanden, die den jeweiligen Zustand als Resultat von Adaptionsvorgängen erscheinen lassen. Eine solche Sicht, die sowohl evolutions- als auch systemtheoretischen Ansätzen eigen ist,155 führt notwendig dazu, die Frage nach der kausalen Erklärung des Auftretens von Ereignissen zu einer Frage nach der Überlebensfähigkeit historischer, insbesondere sozialer Faktoren umzuformulieren. Sie läuft Gefahr, die jeweilige Wirklichkeit unter dem notwendig anachronistischen Gesichtspunkt evolutionären Erfolgs zu beurteilen und historische Relevanz mit Persistenz und Zukunftsträchtigkeit zu identifizieren. Wer Geschichte prozessual zu erklären versucht, der scheint sich dem Faktum nicht entziehen zu können, dass Ereignisse nicht nur Vergangenheit in sich tragen, sondern – wie bereits Leibniz und
auch die Art und Weise der Zugriffe, unter denen Wirklichkeiten ihre spezifische Gestalt gewinnen. Es ändert sich eine ganze Welt.« 155 Luhmann, Niklas: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie. In: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Hrsg. von Hans-Ulrich Gumbrecht und Ursula Link-Heer. Frankfurt/M. 1985, S. 11–33, hier S. 24: »Wir haben mit der Ablehnung von ›Entwicklungstheorien‹ begonnen, die in der Epochensequenz selbst ein historisches ›Gesetz‹ sehen, und sei es ein ›Individualgesetz‹, nach dem sich der historische ›Prozeß‹ richtet. Auf Umwegen über Evolutionstheorie und evolutionäre Errungenschaften sind wir dann aber zu ganz ähnlichen Vorstellungen gekommen.« Es liegt denn auch nahe, dass aus einer solchen Sicht Epochen nicht der Erfassung vergangener Zeiten (oder ähnlichen Illusionen dienen), sondern Momente der Selbstbeschreibung in ihrer Wirkung auf aktuell gedachte Kommunikationsprozesse darstellen (ebd. 26): »Man könnte demnach Geschichtsverlaufsdarstellungen und Epocheneinteilungen als eine Art Volksglauben der Intellektuellen abtun, der sich bei näherem Zusehen in Nebel auflöst. Damit wäre jedoch das Faktum des weitreichenden morphogenetischen Strukturwandels übersehen, der Geschichtserfahrung als Differenzerfahrung aufzwingt; und es wäre verkannt, in welchem Maße solche Selbstbeschreibungen, die Differenzerfahrungen artikulieren und überartikulieren, als Fakten in den Geschichtsverlauf eingehen und in ihm weiterwirken. Selbstbeschreibungen sind weder nach Vollzug oder Unterlassung noch nach Inhalten frei wählbar, und eben das gibt ihnen ihre soziale Funktion. Sie haben Verstärkereffekte im Kommunikationprozeß, die auf der Differenz beruhen, die sie artikulieren.«
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mit ihm die Historiker des 18. Jahrhunderts wussten – mit der Zukunft »schwanger« gehen.156 Wer Geschichte prozessual zu erklären versucht, der denkt sich jedoch bald einmal eine Handlung aus, die nicht nur Ursachen und Wirkungen, sondern auch, dramentheoretisch gesprochen, ›Katastrophen‹ kennt. Die Konzentration auf Handlungen aber ist nur demjenigen möglich, der diese von der Bühne zu unterscheiden, der also Entscheidungen auf dem Hintergrund situativer Bedingungen im Wechselspiel von Erfolg und Misserfolg zu verstehen vermag.157 Dies gilt insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, für eine wissenssoziologisch orientierte Geschichtsschreibung, die nicht nur auf die Lösungen jeweiliger Probleme, sondern auch auf die Auflösung nunmehr obsolet erscheinender Traditionen fokussiert. Eine solche Handlung ist denn auch immer von einer doppelten ›Temporalperspektive‹ geprägt: »Will man das Auflösevermögen einer Wissenschaft über ihre grundlegenden Problemstellungen und über ihre Metaphorik [hier ist Blumenberg gemeint] hinaustreiben, wird ihre Geschichte zur operativen Ressource, vielleicht zur einzigen dann noch Struktur gebenden Ressource. Zugleich wird man, ganz anders als bei normalen nichttemporalisierten Wahrheitsfeststellungen, an die Gegenwart rückgebunden. Das erfordert es, zwei verschiedene Temporalperspektiven zu unterscheiden, also den einfachen Rückblick auf Geschichte zu differenzieren. Man muß einerseits die vergangenen Gegenwarten erkennen, das heißt eine Theorielage der Vergangenheit auf den Kontext beziehen können, der für sie Gegenwart war.
156 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Nouveaux essais sur l’entendement humain (um 1705/gedr. 1765), Vorrede. In: ders.: Die philosophischen Schriften. Hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bd. 5. Berlin 1882, S. 48: »On peut même dire [que] le present est gros de l’avenir et chargé du passé« [Wir können sogar sagen, dass /…/ die Gegenwart mit der Zukunft schwanger und mit der Vergangenheit beladen ist]. – Mit Bezug auf die Göttinger Historiker vgl. Claproth, Johann: Der gegenwärtige Zustand der Göttingischen Universität, in Zweenen Briefen an einen vornehmen Herrn im Reiche, Zweyter Brief. Göttingen 1748, S. 77: »Man siehet einen Historicum nicht bloß für ein Aufschlagebuch an, wovon man die Schlachten und Belagerungen, die Geburths- und Sterbetage der Großen erfahren kann. Er muß uns die Welt kennen lehren; die verborgenen Ursachen der Wirkungen ausspühren, und in dem Vergangenen das Künftige zeigen.« 157 Vgl. Luhmann, Niklas: Zeit und Handlung. Eine vergessene Theorie. In: ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. 2. Aufl. Opladen 1991, S. 101–125, hier S. 121: »Der Gedanke selbst ist historisch geworden und hat darin seine formulierte, tradierbare Identität. Man kann ihn jederzeit zur Kenntnis nehmen. Das macht ihn nicht relevant. Man muß mit hinzunehmen, daß er sich in seiner Zeit nicht durchsetzen konnte, weil er die zeittheoretischen und die handlungstheoretischen Kontexte, die Bestimmung von Zeit über Bewegung und die Bestimmung von Handlung über Person, nicht vermitteln konnte. Erst die Relation von Idee und (aufnahmebereitem bzw. nicht aufnahmebereitem) semantischem Kontext macht einen Rückgriff interessant. Denn dadurch wird die feststehende Aussage zum Problem, für das in einem veränderten Theoriekontext Lösungen gesucht werden können.«
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Nur so kommt man zu einer Rerelationierung von Idee und Kontext. Man muß andererseits die gegenwärtige Vergangenheit aktualisieren können, das heißt darüber urteilen können, was für die Gegenwart erledigte bzw. rekurrenzfähige Vergangenheit ist. Die erkenntnistheoretische Relevanz von Wissenschaftsgeschichte ergibt sich […] erst daraus, daß man beide Temporalperspektiven trennt und aufeinander bezieht.«158
Doch nicht nur mit der Schwierigkeit einer doppelten Temporalität sieht sich Geschichtsschreibung konfrontiert, sondern auch mit einer doppelten Räumlichkeit. Wer Ereignisse von Kontexten zu unterscheiden trachtet, der braucht Relevanzkriterien, die gewisse Ereignisse und Ereignistypen gleichsam unter der Wahrnehmungsschwelle der Ereignishaftigkeit verorten, andere hingegen als dynamische vor dem Bühnenhintergrund einer »unbewegten Geschichte« abheben und als eigentliche Handlungselemente erkennen. Das Dilemma, das in dieser dramatischen Disposition steckt, ist Geschichte in ihrem modernen Verständnis eigen: ›Geschichte‹ bedeutet bald die Erzählung zeitlich geordneter Ereignisse in diachroner Folge, bald aber auch die Schilderung als ereignisarm erachteter Umstände in ihrem synchronen Beieinanderstehen. Die Vermittlung zwischen Geschichte als Bewegung und »unbewegter Geschichte« dürfe als die zentrale Krux im Zentrum geschichtstheoretischer Entwürfe der Nachkriegszeit verstanden werden, die neben ein Konzept der Geschichte des »Nacheinander[s]«, die »das Moment der Zeit als das maßgebende« versteht,159 eine Geschichte des Raums stellt, um so mit Bezug auf geographische Bedingungen die von den Sozialwissenschaften vorgegebenen Begriffe wie Milieu, Mentalität, Klasse, Produktionsbedingungen etc. als eigentliche Beharrungskräfte historischer Stabilität in den Blick zu nehmen.160 158 Luhmann: Zeit und Handlung (wie Anm. 157), S. 121. 159 Droysen, Johann Gustav: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hrsg. von Rudolf Hübner. Darmstadt 1974, S. 326. 160 Vgl. die einflussreiche Skizzierung einer Geohistorik, wie sie von Braudel entwickelt und in der Schule der »Annales« fortgesetzt wurde; Braudel, Fernand: La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II. (1949), Bd. 1. Paris 1966, S. 21: »Tout concourt […] à travers l’espace et le temps, à faire surgir une histoire au ralenti, révélation des valeurs permanentes. La géographie à la fin cesse d’être un but en soi pour devenir un moyen. Elle aide à retrouver les plus lentes des réalités structurales, à organiser une mise en perspective selon la ligne de fuite de la plus longue durée. La géographie, à laquelle nous pouvons comme à l’histoire tout demander, privilégie ainsi une histoire quasi immobile, à condition évidemment de suivre ses leçons, d’accepter ses divisions et ses catégories.« [Durch Raum und Zeit hindurch fügt sich alles, um eine Geschichte in Zeitlupe auferstehen zu lassen, eine Offenbarung beständiger Werte. Die Geographie ist hier nicht mehr Ziel an sich, sondern Mittel. Sie hilft die langsamsten der strukturellen Wirklichkeiten zu entdecken und eine Perspektivierung entlang der Fluchtline längster Dauer einzurichten. Die Geographie, die wir ebenso wie die Geschichte auf alles hin befragen können, privilegiert so eine gleichsam unbewegte Geschichte, immer vorausgesetzt wir beherzigen ihre Lehren,
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Egal welcher Geschichtsmethode und welcher Bindestrichgeschichte man sich verpflichtet fühlt, die Untersuchung und Darstellung von Ereignissen, Strukturen und Prozessen, ganz zu schweigen von deren Relationierung in Epochen, ist von einem Erkenntnisinteresse geleitet, das trivialerweise fokussiert und selegiert. Hierbei handelt es sich nicht primär um ein moralisches Kriterium, auch wenn gewisse Debatten das Gegenteil vermuten lassen. Wer sich für die Gelehrtenkultur interessiert, ist nicht zwangsläufig jemand, der Ungelehrte (wer auch immer gemeint sein möge) verachtet. Und ebenso stößt, wer den Humanismus als gesamteuropäisches Programm in seinen wesentlichsten Zügen nachzuzeichnen versucht, nicht zu allererst auf Olympia Fulvia Morata. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass das Selbstverständnis des Gros der Humanisten sich nicht in der Abgrenzung gegen Ungelehrte sowie nicht selten auch gegen Frauen artikuliert.161 Es ist jedoch gerade der Vorteil einer Reflexion über Epochen, dass zum einen die Beschränktheit des Blickfeldes ins Bewusstsein rückt, dass zum anderen Epochenvorstellungen ihren Fluchtpunkt in, häufig wohl bloß dumpf geahnten, Holismen haben. Dieser Anspruch aber, die historische Erfassung umfassender und die historische Kenntnis erkenntnisreicher zu machen, dürfte für die Praxis historischer Forschung ein durchaus gewichtiges Plus einer epochalen Betrachtungsweise darstellen.162 Ganz im Gegensatz zu dem bereits zitierten Argument von Roloff,
akzeptieren ihre Unterteilungen und Kategorien.] – Zur Problematik mit Bezug auf die Frühe Neuzeit vgl. Mathieu, Jon: »Ihre Geschichte besteht darin, keine zu haben.« Die Alpen der Frühen Neuzeit im Spannungsfeld wissenschaftlicher Disziplinen. In: Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft (wie Anm. 11), S. 109–126. 161 Vgl. etwa Mittag, Martina: Gendered Spaces. Wandel des ›Weiblichen‹ im englischen Diskurs der Frühen Neuzeit. Tübingen 2002, insbesondere S. 232–236. Zur Beziehung von Humanismus und Geschlechterfrage vgl. Delumeau, Jean: La Civilisation de la Renaissance. 2. Aufl. Paris 1984 [zuerst 1967], S. 376–399. – Zur sogenannten ›Querelle des femmes‹ in der Gelehrtenkultur vgl. Traninger, Anita: Wandelbare Orte. Zur Rhetorizität und ›Toposhaftigkeit‹ der ›Querelle des femmes‹ bei Cornelius Agrippa (1486–1535) und Lucrezia Marinella (1571–1653). In: Heißer Streit und kalte Ordnung. Epochen der ›Querelle des femmes‹ zwischen Mittelalter und Gegenwart. Hrsg. von Friederike Hassauer. Göttingen 2008, S. 182–205 (sowie weitere Beiträge in diesem Band); Opitz-Belakhal, Claudia: Gleichheit der Geschlechter oder Anarchie? Zum Gleichheitsdiskurs in der französischen ›querelle des femmes‹ und in der politischen Theorie um 1600. In: Geschlechterstreit am Beginn der europäischen Moderne. Die Querelle des Femmes. Hrsg. von Gisela Engel, Friederike Hassauer, Brita Rang und Heide Wunder. Königstein/Ts. 2004, S. 307–329. – Zur Bildungsfrage: Fietze, Katharina: Frauenbildungskonzepte im Renaissance-Humanismus. In: Geschichte der Mädchen und Frauenbildung. Bd. 1. Vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Hrsg. von Elke Kleinau und Claudia Opitz. Frankfurt/M., New York 1996, S. 122–134; dies.: Frauenbildung in der ›Querelle des femmes‹. In: ebd., S. 237–251; Bejick, Urte: Deutsche Humanistinnen. In: ebd., S. 151–171. 162 Dass die epochale Betrachtungsweise uns geradezu zur Reflexion über die Grundannahmen unseres jeweiligen Geschichtsverständnisses zwingt, darin gehe ich, sowohl was die
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liegt der Nutzen von Periodisierungsfragen eben gerade darin, das »Surrogat von Begriffen […], die an und für sich zur Bezeichnung geistiger Bewegung, politischer oder philosophischer Phänomene, religiöser bzw. kirchengeschichtlicher Ereignisse stimmen«, durchaus auch auf »literarische Erscheinungen« zu applizieren, und umgekehrt, diejenigen Veränderungen, die wir in der Literatur- oder einer beliebig anderen -geschichte auszumachen glauben, ins Verhältnis zu Veränderungen der benannten Bereiche zu setzen. Von der ›Epoche der Gegenreformation‹, dem ›Zeitalter der Elektrifizierung‹, ›des Naturrechts‹, ›des wirtschaftlichen Interventionismus‹, ›des Sezessionskriegs‹ zu sprechen, lohnt nur dann, wenn man Totalitäten zu erfassen versucht, die über Religion, Physik, Rechtswissenschaft, Ökonomie, Militärgeschichte hinausweisen und andere Bereiche mitbestimmen. Wer eine Dominante behauptet, der braucht hierbei auf Befindlichkeiten – gleichviel ob Ängste, Autonomie einzubüßen, oder Gelüste, Autonomie zu erwerben – einzelner Fächer und Forschungsinteressen und deren traditionelle Demarkationen keine Rücksicht zu nehmen. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, das (notwendig relative) historische Gewicht des jeweiligen Zeitalter-Prädikats nachzuweisen und dessen Plausibilität zu begründen. Gemeinhin beurteilen Historiker und Historikerinnen die Qualität der thesenhaft behaupteten Prozesse, die eine Epoche zu einer Epoche machen und ihre Einheit konstituieren, nach einem bestimmten Grad der Dominanz.163 Dies belegen nicht zuletzt unzählige Debatten. Nur schon zu verstehen, was eine solche historische Dominante zu leisten hat, ist aber alles andere als einfach. Aus Sicht der Allgemeinen Geschichte geht unsere Erwartung wohl immer auf Prozesse, die möglichst umfassend, möglichst radikal und möglichst prägnant das Gesamt der Lebens- und Denkwelt bestimmen, das heißt, die möglichst viele und möglichst pro-
Diagnose der Problematik als auch die Desiderate an eine künftige Forschung betrifft, mit den meisten der von Nünning gelisteten Punkte einig; vgl. Nünning: Grundbegriffe der Literaturgeschichtsschreibung (wie Anm. 9), S. 14f. und S. 18f. 163 Vgl. hierzu bereits Kamlah, Wilhelm: Vom telelogischen Selbstverständnis zum historischen Verständnis der Neuzeit als Zeitalter (1957/1969). In: Absolutismus. Hrsg. von Walther Hubatsch. Darmstadt 1973, S. 202–222, hier S. 206: »›Zeitalter‹ von ›bloßen Zeitabschnitten‹ zu unterscheiden, ist gleichwohl in der Geschichtswissenschaft nach wie vor üblich und auch ohne Schwierigkeiten folgendermaßen möglich: Der Musikhistoriker spricht z. B. vom ›Generalbaßzeitalter‹. Dabei denkt er keineswegs an eine relevante Einteilung der Universalgeschichte […] und nicht einmal der europäischen Gesamtgeschichte. Sondern im räumlich und thematisch begrenzten Blick lediglich auf die europäische Musikgeschichte stellt er fest, daß sich der Generalbaß als Element der musikalischen Komposition und der Musizierpraxis zu einer bestimmten Zeit zur Vorherrschaft durchsetzt, diese Vorherrschaft eine Zeitlang behauptet und dann wieder einbüßt.«
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minente Phänomene eines Zeitraums in ein erklärendes Verhältnis zu besagten Prozessen setzen. 5.1. Sozialdisziplinierung Folgen wir Wolfgang Reinhard, so sind es namentlich drei Prozesse, welche die Geschichtswissenschaft für Zusammenhang und Prägung sowohl vieler als auch bedeutender Ereignisse und Charakteristiken der Frühen Neuzeit als dominant ausgemacht hat: Sozialdisziplinierung, Konfessionalisierung und Modernisierung.164 Das Konzept der Sozialdisziplinierung scheint in der Tat so manches mitzubringen, was die Vorstellung einer solchen Dominante zu explizieren vermag. »Ausgangspunkt« der Sozialdisziplinierung sei, so Winfried Schulze in seiner einflussreichen Darstellung von Gerhard Oestreichs bahnbrechenden Überlegungen, nämlich »der Wunsch und der Wille nach Ordnung auf allen Gebieten des menschlichen Daseins«, wobei sich Wunsch und Wille in ganz Europa beobachten ließen: »›Sozialdisziplinierung‹ ist eine idealtypische Begriffsbildung, die historische Ereignisse des geistigen und materiellen Lebens, religiös-ethische Vorstellungen sowie die rechtliche und ökonomisch-soziale Wirklichkeit auf einen abstrakten Nenner bringt. Sozialdisziplinierung faßt verschiedene wohlbekannte Erscheinungen zusammen und wird als der gemeinsame Begriff für einen grundlegenden, einheitlichen Vorgang angewendet, der zwar Einzelerscheinungen beobachtet, diese aber als Varianten eines Gesamtphänomens sieht. Es ist kein Begriff für eine nationale Tradition oder für das absolutistisch-monarchische Denken allein, obwohl mit beiden eng verbunden. Es handelt sich um einen europäischen Vorgang, der auf Probleme und Lösungsversuche verweist, die allen Gesellschaften gemeinsam sind. Dieser gesamteuropäische Zeitgeist wie die gesamteuropäische Realität muß auch den Hintergrund für jede Beschäftigung mit den nationalen Literaturen bilden.«165
Zwar gehört die Rede vom idealtypischen Charakter fundamentaler oder fundierender Begriffe in der historiographischen Literatur zu Epochen zum festen argumentativen Bestand, doch ist es im Einzelnen oft schwer zu ermitteln, was denn genau die Webersche Vokabel zu bedeuten hat. Die zitierte Bestimmung von ›Sozialdisziplinierung‹ liefert uns erste wertvolle Hinweise: Es handelt sich um einen »einheitlichen Vorgang«; dieser äußert
164 Vgl. Reinhard, Wolfgang: Sozialdisziplinierung, Konfessionalisierung, Modernisierung. Ein historiographischer Diskurs. In: Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft (wie Anm. 11), S. 39–55. 165 Schulze, Winfried: Gerhard Oestreichs Begriff ›Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit‹. In: Zeitschrift für Historische Forschung 14 (1987), S. 165–302, hier S. 265f.
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sich in beobachtbaren Ereignissen (»wohlbekannte Erscheinungen«); diese ihrerseits können als Varianten eines »Gesamtphänomens« verstanden werden. ›Idealtypus‹ impliziert nichts weniger, als dass der Typus ideal, dessen Varianten hingegen real, das heißt singuläre Ereignisse oder Instanzen dieses Typus sind. Bekanntlich hat Max Weber nicht nur den Begriff des ›Idealtypus‹ geprägt, sondern auch die Abgrenzung des Idealtypus gegenüber der beobachtbaren historischen Wirklichkeit mit aller Deutlichkeit hervorgehoben: »Dieses Gedankenbild vereinigt bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge. Inhaltlich trägt diese Konstruktion den Charakter einer Utopie an sich, die durch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist. Ihr Verhältnis zu den empirisch gegebenen Tatsachen des Lebens besteht lediglich darin, daß da, wo Zusammenhänge der in jener Konstruktion abstrakt dargestellten Art […] in der Wirklichkeit als in irgend einem Grade wirksam festgestellt sind oder vermutet werden, wir uns die Eigenart dieses Zusammenhangs an einem Idealtypus pragmatisch veranschaulichen und verständlich machen können. Diese Möglichkeit kann sowohl heuristisch wie für die Darstellung von Wert, ja unentbehrlich sein. Für die Forschung will der idealtypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine »Hypothese«, aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen.«166
Zusammenhänge werden anhand von Idealtypen »pragmatisch« auf die Vorstellung einer umfassenden historischen Wirklichkeit hin »veranschaulicht«. Die Wirksamkeit solcher Zusammenhänge bedarf zu ihrer mutmaßlichen Feststellung ›gesetzhafter‹ Annahmen – Weber geht es an dieser Stelle um Gesetze des Marktes. Geschichtswissenschaft ist Weber zwar nicht »Gesetzeswissenschaft«, sondern »Wirklichkeitswissenschaft«; dennoch zielt sie auf »erklärende Erkenntnis« und »kausale Erklärung« ab und verwendet hierfür »nomologisches Wissen, d. h. allgemeine Begriffe und Erfahrungsregeln von idealtypischem Charakter«.167 Will man es nicht bei dem »in irgend einem Grade wirksam« belassen, so ist man gezwungen, diese gesetzhaften Annahmen wohl oder übel zu qualifizieren: Drücken sie notwendig, in der Regel oder bloß unter gewissen Umständen das Verhältnis von Ursache und Wirkung aus, die Ereignisse über ihre Zurechnung zu gewissen Ereignistypen mit Ereignissen anderer Typen korrelieren?
166 Weber, Max: Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904). In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. 6. Aufl. Tübingen 1985, S. 146–214, hier S. 190. 167 Rossi, Pietro: Vom Historismus zur historischen Sozialwissenschaft. Heidelberger Max WeberVorlesungen 1985. Frankfurt/M. 1987, S. 51.
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Die Frage drängt sich auf, ob das Konzept der Sozialdisziplinierung eine solche nomologische Qualität mitbringt, ob also hinter der bloßen Bezeichnung eines allgemeinen Prozesses regelhafte Annahmen vermutet werden können, die einen bestimmbaren »Grad« an Wirksamkeit gewisser, typisierter Ereignisse auf andere zufriedenstellend erklären lassen. Im Gegensatz zu Oestreich scheinen Webers Überlegungen auszuschließen,168 dass der Nachweis einer solchen Wirksamkeit durch ein »zeitgenössisches Epochenbewusstsein«169 geleistet werden könne, da dieses bestenfalls als Indiz, nicht aber als Ursache beobachtbarer Wirkungen fungieren kann. Bewusstsein ist für Weber Bestandteil von »als ob«-Konstruktionen, die Sinnorientierung historischen Handlungen unterstellen, ungeachtet ob ein solches Bewusstsein sich historisch artikuliert.170 Tatsächlich würde die »gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit« in dem Moment gegenstandslos, wo der Idealtypus selbst nicht auf bewusstseinsunabhängigen Elementen der Wirklichkeit beruhte, sondern mit historisch beobachtbaren Gedanken oder Vorstellungen identisch wäre. Genau dies scheint aber Oestreich vorzuschweben, wenn er sich gegen die Webersche Dominante der ›Rationalisierung‹ ausspricht und sein Konzept der Sozialdisziplinierung »als Fundamentalvorgang, als Grundtatsache und als Leitidee«171 dagegen hält.
168 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Hrsg. von Johannes Winckelmann. 5. Aufl. Tübingen 1980 [1921/22], S. 4: »Es verhüllen vorgeschobene ›Motive‹ und ›Verdrängungen‹ (d.h. zunächst: nicht eingestandene Motive) oft genug gerade dem Handelnden selbst den wirklichen Zusammenhang der Ausrichtung seines Handelns derart, daß auch subjektiv aufrichtige Selbstzeugnisse nur relativen Wert haben. In diesem Fall steht die Soziologie vor der Aufgabe, diesen Zusammenhang zu ermitteln und deutend festzustellen, obwohl er nicht, oder meist: nicht voll, als in concreto ›gemeint‹ ins Bewußtsein gehoben wurde: ein Grenzfall der Sinndeutung.« 169 Schulze: Gerhard Oestreichs Begriff ›Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit‹ (wie Anm. 165), S. 266: »›Sozialdisziplinierung‹ bezeichnet also ein historisches Epochenverständnis, das sich zugleich auf das zeitgenössische Epochenbewußtsein einer fortschreitenden Disziplinierung berufen kann.« 170 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 168), S. 10f.: »Nur gelegentlich, und bei massenhaft gleichartigem Handeln oft nur von Einzelnen, wird ein (sei es rationaler, sei es irrationaler) Sinn des Handelns in das Bewußtsein gehoben. Wirklich effektiv, d.h. voll bewußt und klar, sinnhaftes Handeln ist in der Realität stets nur ein Grenzfall. Auf diesen Tatbestand wird jede historische und soziologische Betrachtung bei Analyse der Realität stets Rücksicht zu nehmen haben. Aber das darf nicht hindern, daß die Soziologie ihre Begriffe durch Klassifikation des möglichen ›gemeinten Sinns‹ bildet, also so, als ob das Handeln tatsächlich bewußt sinnorientiert verliefe. Den Abstand gegen die Realität hat sie jederzeit, wenn es sich um die Betrachtung dieser in ihrer Konkretheit handelt, in Betracht zu ziehen und nach Maß und Art festzustellen.« 171 Oestreich, Gerhard: Strukturprobleme des europäischen Absolutismus. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55 (1968), H. 3, S. 329–347, hier S. 337f.
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Oestreich positioniert sich sowohl gegen eine »sozialhistorische« als auch gegen eine als »ältere« bezeichnete Forschung zur Herausbildung moderner Staatsgebilde, sei seine Sozialdisziplinierung doch von »tiefdringender und bedeutsamer gesellschaftlicher Wirkung [auf ] die geistigmoralische und psychologische Strukturveränderung des politischen, militärischen, wirtschaftlichen Menschen«.172 Indem er gegen ›mechanische‹ Erklärungen eine soziale und psychologische Erklärungsebene favorisiert, scheint Oestreich denn auch die nomologischen Voraussetzungen idealtypischer Erklärungen unter expliziter Bezugnahmen auf das Individuum aufzugeben.173 Diese kritische Abwendung von Weber dürfte einem Missverständnis unterliegen,174 das wohl aus einer Unschärfe der Weberschen Begrifflichkeit resultiert. Die ›Idealität‹ scheint nämlich bisweilen nicht eine forschungsleitende Kategorie, sondern die bloß approximative Leistungsfähigkeit einer bestimmten gesetzhaften Annahme und der davon abhängigen Erklärungen zu bezeichnen: Die Gesetze, welche die Erklärungen fundieren, vermögen nicht alle Umstände zu berücksichtigen, die einen Einfluss auf die beobachtbaren Ereignisse haben. Ein solches Problem ist aber jeder spezialwissenschaftlichen Anwendung von Gesetzen auf die Wirklichkeit eigen, ja, sie lässt sich auch für die Physik behaupten: Steine, gemeint sind ganz konkrete Steine, fallen nun mal einzig dann, wenn andere Faktoren als die Gravitation dies nicht verhindern.175 Der Typus, der uns in Webers Begrifflichkeit als »Grenzbegriff« entgegentritt,176 wäre also ein Normalfall, der sich genau dann mit kalkulierbarer Genauigkeit ereignen würde, wenn alle anderen kausalrelevanten Faktoren eliminiert wären. Auf die historische Wirklichkeit bezogen, heißt das: nie.
172 Oestreich: Strukturprobleme (wie Anm. 171), S. 338. 173 Ebd. 174 Vgl. Reinhard: Sozialdisziplinierung, Konfessionalisierung, Modernisierung (wie Anm. 164), S. 42. 175 Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob wir nomologische Annahmen auf Komponenten (der wirkenden Ursachen oder Kräfte) oder auf Resultanten, die tatsächlich beobachtbaren Vorgänge, beziehen; vgl. hierzu Schrenk, Markus: Interfering with Nomological Necessity. In: Philosophical Quarterly 61/244 (2011), S. 577–597, hier S. 595. Eine nicht-komponentielle Betrachtungsweise führt zwangsweigerlich zu einer starken Betonung der Rahmenbedingungen, die ursächliche Erklärungen stark relativiert; vgl. Cartwright, Nancy: How the Laws of Physics Lie. Oxford 1983, S. 59. 176 Weber: Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (wie Anm. 166), S. 194: »Er [der Idealtypus] ist ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die ›eigentliche‹ Wirklichkeit ist, welches noch viel weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen, in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird.«
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Ohne die Annahme einer zugrundeliegenden Regelhaftigkeit, sei diese nun implizit oder explizit formuliert, erscheint der Erfolg von Oestreichs Konzept der Sozialdisziplinierung jedoch schwer erklärbar. Mag die Rede von Gesetzen im Bereich der Geschichte höchst kontrovers geführt werden,177 so drängt sich – angesichts der behaupteten Dominanz (»als Fundamentalvorgang«) – die Frage nach der nomologischen Qualität auf. Tatsächlich lässt sich nämlich eine Kausalrelation von Ereignistypen ausmachen, die folgender Argumentationsfigur entspricht: Politische Zentralisierung, verwaltungstechnische Systematisierung und – mit Max Weber – ökonomische Rationalisierung verdrängen traditional sittliche Wertvorstellungen sowie gewohnte, ›grosso modo‹ feudale Beziehungen; das so entstehende Kontroll-Vakuum für den Einzelnen wird durch eine proportional zu diesem Vorgang zunehmende Interiorisierung von ›ordinierten‹ und ›ordinierenden‹ Tugendvorstellungen gefüllt, welche die aus den engen, gleichsam nachbarschaftlichen Banden befreiten Individuen zur Selbstdisziplinierung anhalten.178 Mit dieser Erklärung glaubt Oestreich den Einseitigkeiten derjenigen Forschung zur Frühen Neuzeit begegnen zu können, die in der Herausbildung des Verwaltungsstaates die Dominante erkennen, sowie einer neueren sozialgeschichtlichen Forschung, die sich für die Herausbildung eines monarchischen Ethos entscheiden und dieses als hochwirksames Residuum einer nur angeblich überkommenen feudalkonservativen, und also anti-absolutistischen Ständeordnung behandeln. Für Oestreich hingegen ist Sozialdisziplinierung »das politische und soziale Ergebnis des monarchischen Absolutismus.«179
177 Die Frage wird in der Geschichtswissenschaft meist unter dem Gesichtspunkt einer spezifischen Differenz zu den Naturwissenschaften und deren angeblich ausschließlich nomologischen Erklärungsmodus diskutiert. Dabei wird übersehen, dass der Begriff ›Gesetz‹ ganz generell wissenschaftstheoretisch höchst umstritten ist. Aus Allgemeinaussagen nämlich lassen sich keine Gesetzesbegriffe gewinnen, ohne dabei zirkulär zu verfahren. Zudem ist es oftmals unmöglich, die Relevanz eines Gesetzes zur Erklärung eines Ereignisses zu begründen, unzählige korrekte Allgemeinaussagen schließlich werden nie mit einem Gesetzesbegriff in Verbindung gebracht; vgl. hierzu: Jakob, Christian: Wissenschaftstheoretische Grundlagen sozial- und geschichtswissenschaftlicher Erklärungen. Bern 2008, S. 44–64. 178 Oestreich: Strukturprobleme (wie Anm. 171), S. 343: »Der Mensch wurde in seinem Wollen und seiner Äußerung diszipliniert. Er suchte die Selbstbeherrschung als höchstes Ziel zu erreichen. Und er disziplinierte sogar die Natur in den kunstvoll beschnittenen Hecken und Bäumen der barocken Schloßparkanlagen und Gärten.« 179 Oestreich, ebd., S. 338. Dies unterscheidet ihn von anderen Theoretikern der Sozialdisziplinierung wie Norbert Elias oder Michel Foucault. Was Gemeinsamkeiten und Unterschiede betrifft vgl. Burke, Peter: Zivilisation, Disziplin, Unordnung. Fallstudien zu Geschichte und Gesellschaftstheorie. In: Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft (wie Anm. 11), S. 57–70.
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5.2. Konfessionalisierung Gegen Oestreich und Weber treten die Verfechter der ›Konfessionalisierung‹ an, die ihr eigenes Konzept nicht als bloßen Bestandteil oder »Etappe«180 der Sozialdisziplinierung bzw. Rationalisierung verstanden sehen möchten. Gemeinsam mit den Konzepten der Sozialdisziplinierung und Rationalisierung ist dem Konzept der Konfessionalisierung das Telos auf die Herausbildung des modernen Individuums, dessen Wurzeln seit Weber und Troeltsch nicht selten in der protestantischen Steigerung »des christlichen Personalismus«181 entdeckt werden. Dass Konfessionalisierung als Typus konjunktiver kausaler Ereignisse182 in das Konzept der Sozialdisziplinierung integriert werden könnte, wird nicht eigentlich bestritten; worum es geht, ist vielmehr die Dominanz des Erklärungsanspruchs: Ist der vorherrschende Prozess die konfessionelle Teilung Europas oder aber die Herausbildung einer sowohl sozialen als auch psychischen Disposition, die den Bedürfnissen eines frühmodernen Staatswesens entsprechen kann? Die Konkurrenz der beiden Erklärungsansätze lässt sich also auf eine einfache Frage reduzieren, nämlich: Ist Selbstdisziplinierung bzw. Konfessionalisierung primär Ursache oder Folge? Oestreich zufolge ist Sozialdisziplinierung »Ergebnis des monarchischen Absolutismus«, wird dann aber selbst zur Ursache eines sozialen Verhaltens, das Lebenswelt und Ideologie der sozialen Akteure beherrscht oder doch zumindest markant mitbestimmt. Folgen wir Wolfgang Reinhard, so ist die Konfessionalisierung hingegen »nichts anderes als die erste Phase der von Gerhard Oestreich so genannten ›Sozialdisziplinierung‹. Wer machtpolitischen Ehrgeiz besitzt in Europa, kommt also gar nicht darum herum, Konfessionalisierungspolitik zu betreiben.«183
180 Reinhard: Sozialdisziplinierung, Konfessionalisierung, Modernisierung (wie Anm. 164), S. 48. 181 Reinhard, ebd., S. 49. Reinhard bezieht sich hier auf Weber. Stark ausgeprägt ist diese These bei Troeltsch, der Interiorität, Spiritualität und Individualität bei Luther gegen äußerliche Zwangsvorstellungen der Katholiken in Anschlag bringt; vgl. etwa Troeltsch, Ernst: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912). In: ders.: Gesammelte Schriften. 3. Aufl. Tübingen 1923, S. 454 und 515. 182 Jakob: Wissenschaftstheoretische Grundlagen sozial- und geschichtswissenschaftlicher Erklärungen (wie Anm. 177), S. 183. 183 Reinhard, Wolfgang: Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters. In: Zeitschrift für Historische Forschung 10 (1983), S. 257–277, hier S. 268; im weiteren Verlauf (S. 276f.) präzisiert Reinhard: »Widerstand gegen Maßnahmen, die durch ihre Bedeutung für das ewige Heil des betroffenen Untertanen legitimiert sind, ist nicht nur gegenüber Obrigkeit und Öffentlichkeit, sondern je länger desto mehr gegenüber dem eigenen Gewissen kaum mehr vertretbar! Auf diese Weise findet übrigens ein latenter Widerspruch in der bekannten Abhandlung von Gerhard Oestreich seine Auflösung: Wie ist absolutistische ›Sozialdisziplinierung‹ möglich, wenn dem ›Staat‹
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Der Anlass ist politisches Kalkül, Religion das Mittel, die Folge schließlich Sozialdisziplinierung. Das auslösende Moment der Hauptphase der Sozialdisziplinierung, als Ergebnis der Herausbildung des Absolutismus, ist demnach in der Konjunktion der beiden Faktoren ›Durchsetzung monarchischer Macht‹ und ›Instrumentalisierung der Konfession‹ zu finden. Dem scheinen jedoch eine ganze Reihe von Äußerungen zu widersprechen, wie sie in den Schriften Heinz Schillings, des anderen Hauptvertreters der Konfessionalisierungsthese, zu finden sind. Gegen Winfried Schulzes Bedenken »›Konfession‹ als unverzichtbare Grundkategorie einer gesellschaftsgeschichtlich ausgerichteten Frühneuzeitforschung anzusetzen«, gibt er zu bedenken: »Auch auf dem Höhepunkt der Konfessionalisierung lassen sich Einzelabläufe und Einzelstrukturen sehr wohl ohne die Kategorie ›Konfession‹ analysieren. Mir ging und geht es aber um das frühneuzeitliche Gesellschaftssystem insgesamt sowie um die ihm spezifischen Struktur- und Entwicklungsprinzipien. Hierbei sind, so meine ich, im Unterschied zur säkular-modernen Welt des 19. und 20. Jahrhunderts religions- und kirchengeschichtliche Phänomene stets zentral zu beachten.«184
Das »stets zentral zu beachten« gilt sowohl dem »Gesellschaftssystem insgesamt« als auch allen »spezifischen Struktur- und Entwicklungsprinzipien«, was heißt, dass das Vernachlässigen der Konfessionskategorie nur gerade dann erlaubt oder möglich erscheint, wenn das Ganze aus dem Blick gerät, wenn also höchst partikuläre Untersuchungen ohne strukturelle oder entwicklungsgeschichtliche Relevanz angestellt und somit keinerlei zentrale und prinzipielle Ansprüche erhoben werden. Die unzertrennbare Einheit zwischen religiöser Regulierung und der hauptsächlichen Entwicklung frühneuzeitlicher Geschichte könnte also für die Vertreter der Konfessionalisierungsthese nicht enger sein. Worin aber
der dazu erforderliche administrative Apparat nur in unzureichendem Umfang zur Verfügung steht und überdies lokale Autonomien die unmittelbare Beeinflussung der Untertanen durch die Zentrale erschweren? […] Meines Erachtens füllt die Kirche diese Lücke. Sie stellt ihren Apparat zur Verfügung und ermöglicht den Konsens der Betroffenen. Auf diese Weise wird ›Konfessionalisierung‹ zur ersten Phase der ›Sozialdisziplinierung‹.« Reinhard gibt jedoch zu bedenken, dass »der heutige Historiker [sich] bei der Beurteilung der vom werdenden modernen Staat betriebenen Konfessionalisierungspolitik vor dem Irrtum einer kurzschlüssigen Instrumentalisierung des Gesamtprozesses in Acht nehmen« muss, und zwar weil »das fürstliche Kirchenregiment nämlich nicht nur auf das Interesse, sondern auch auf das Gewissen des Fürsten« gründet, und somit sei »[h]istorisch interessant […] vielmehr gerade das Faktum, wie der ›gottselige Fürst‹ es fertigbringt, seinen Interessen zu dienen, indem er seinem Gewissen folgt!« 184 Schilling, Heinz: Die Konfessionalisierung im Reich. In: Historische Zeitschrift 246 (1988), H. 1, S. 1–45, hier S. 4f.
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bestehen diese ›Entwicklungsprinzipien‹? Betrachten wir die Debatten, so wird bald deutlich, dass der eigentliche Anspruch auf einen Modernisierungsbeitrag der einzelnen Konfessionen zielt, namentlich der Gegenreformation, die lange als eigentliche Modernisierungsbremse galt. Als Antwort auf eine Sicht, die Modernisierung immer gegen eine ›per definitionem‹ tradierte und institutionalisierte Religion stattfinden lässt, werden konfessionellen Strategien nun ihrerseits eben die Leistungen zugemutet, die sie aus Sicht der liberalen Geschichtsschreibungen des 19. Jahrhunderts zu verhindern suchten. Religion und religiöse Debatten erscheinen nicht mehr als Hindernis in einem lange währenden, im Wesentlichen aber linearen Prozess der Säkularisierung eines modernen Europas,185 sondern vielmehr als deren Katalysator. Dabei werden – bewusst oder unbewusst – Wertungskriterien bemüht, die wohl kaum im Interesse einer wertfreien Betrachtung der Geschichte sein dürften, kriegt die konstatierte Modernität doch immer einiges von dem Glanz revitalisierender Kräfte ab. 5.3. Modernisierung und Modernitätsbewusstsein Um die Frühe Neuzeit zu erfassen, erscheint es unabdingbar, nach dem Verhältnis von ›Neuzeit‹ und ›Modernität‹ bzw. ›Modernisierung‹ zu fragen. Die Positionen, die sich in dieser weitverzweigten und thematisch äußerst heterogenen Debatte ausgebildet haben, können auf dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Konfessionalisierung auf die Frage zurückgeführt werden, ob die Faktoren, die zur Modernisierung führen, selbst modernistisch oder nicht vielmehr traditional sind. Für diejenigen, die ›Modernisierung‹ an den Begriff der ›Säkularisierung‹ gekoppelt sehen, erscheint die Behauptung paradox, dass es just religiöse Anliegen waren, die als eigentliche Katalysatoren des Modernisierungsprozesses erachtet werden müssen. An die Stelle einer solchen Einschätzung tritt die Ansicht, dass die in einer älteren Forschungstradition beobachte Opposition von traditional und modern nur eine angebliche sei, da Modernisierung vielmehr, und zwar korrekt, aus einer zunehmend als unvereinbar empfundenen Koexistenz traditionaler Überzeugungen
185 Zu alternativen Verlaufskurven von Säkularisierungsprozessen in der Frühen Neuzeit vgl. Pott, Sandra: Säkularisierung. Prozessbegriff für die Wissenschafts- und Literaturgeschichte. In: Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. Hrsg. von Lutz Raphael und Heinz-Elmar Tenorth. München 2006, S. 223–238, hier S. 236f.; zu den diesbezüglich grundlegenden methodologischen Annahmen vgl. Danneberg, Lutz: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen. In: ebd., S. 193–221.
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und politischer Notwendigkeiten heraus verstanden werden müsse, wobei die apologetische Bewältigung dieser Spannung innerkonfessionell ausgetragen werde und selbst wesentlicher, wenn nicht der zentrale Faktor einer konfessionellen Beförderung der Moderne sei. Diese Sicht äußert sich wohl am prominentesten in einer Frage, die in der Historiographie der Moderne seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht wegzudenken ist, und sowohl bei einem Michelet als auch einem Burckhardt als Kriterium für Modernität schlechthin erscheint: Individualität. Hierbei wird oft übersehen, dass Individualismus selbst ein politisches Schlagwort des nachrevolutionären Denkens sowie des gesamten 19. Jahrhunderts ist.186 Aus dieser Sicht erscheint sowohl für die kirchlichen Verurteilungen als auch für die liberale Befürwortung die nur schwer kontrollierbare Kategorie ›Individualisierung‹ als Signum der Moderne. Dass diese Sicht nicht der tatsächlichen Entwicklung der Frühen Neuzeit entspricht, ist ein Verdienst der Konfessionalisierungsforschung. Ihrer Ansicht nach bildet sich das moderne Individuum nicht einfach gegen kirchliche Zwänge oder gegen eine, wie auch immer geartete, christliche Morallehre aus, sondern wird von gewissen Vertretern der Kirche als probates Mittel erachtet, im konfessionellen Konkurrenzkampf zu bestehen: »Zur Regel wird eine in die Staatskirche integrierte neue individualistische Frömmigkeit. Pietas, und das bedeutet hier eine zeitgemäße (individualistische) Frömmigkeit, ist und bleibt Grundwert des absolutistischen Staates. Denn es sind gerade die Fürsten, die entsprechende reformtheologische Neuansätze aufgreifen und durchsetzen, und es sind in der Regel die politischen Gegenkräfte, die (geistlichen) Landstände, die an den traditionalistischen ›orthodoxen‹ Frömmigkeitsformen festhalten.«187
So finden wir denn die Behauptung eines maßgeblich religiösen, theologischen und kirchlichen Einflusses auf den sich ausbildenden Individualismus allenthalben, hin und wieder auch mit höchster Widersprüchlichkeit.188
186 Vgl. hierzu Lukes, Steven: Individualism [1973]. Neuausg. Oxford 2006, insbesondere S. 19–47. 187 Breuer, Dieter: Absolutistische Staatsreform und neue Frömmigkeitsformen. In: Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland. Hrsg. von dems. Amsterdam 1984, S. 5–25, hier S. 8. 188 Vgl. etwa Dülmen, Richard van: Die Entdeckung des Individuums 1500–1800. Frankfurt/M. 1997, S. 62: »Individualität bzw. das Bewußtsein von der eigenen Person ist keine Naturanlage, sondern das Produkt einer sozialen ›Erziehung‹, wobei die zunächst äußerlichen Normen in einem längeren Prozeß, der nicht auf die frühe Neuzeit beschränkt blieb, alle sozialen Schichten erfaßte und nicht ohne Brüche verlief, ›verinnerlicht‹ wurden. Was viele ursprünglich unterließen, weil es verboten war, mieden sie später mehr oder weniger aus freien Stücken. Die anerzogene Einsicht in das richtige gesellschaftliche Verhalten
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Ganz generell lässt sich beobachten, dass die These von der zunehmenden Ausbildung des Individuums an einem Problem laboriert, nämlich der Bestimmung derjenigen Minimalanforderungen, die wir zur Vergabe des Attributs ›individuell‹ voraussetzen.189 Ob und welche Individualität modern ist, ob wir heute Individuen sind, wie viel Individualität nötig ist, um tatsächlich modern zu sein, diese und noch manche andere Frage lassen es zumindest zweifelhaft erscheinen, ob ›Individualität‹ als Schlagwort tatsächlich für eine sinnvolle Untersuchung der Neuzeit nutzbar gemacht werden kann. Nur schon anhand der Titel monographischer Untersuchungen lässt sich die ›Geburt des Individuums‹ auf praktisch jedes Jahrzehnt zwischen dem 11. und dem 20. Jahrhundert datieren. Die historische Forschung, die sich in ihren großen Methodendebatten mit einiger Skepsis zu den theoretischen oder auch atheoretischen Grundlagen kulturgeschichtlicher Entwürfe ausgelassen hat, reagiert nicht zuletzt gegen die Behauptung eines sich befreienden, selbstermächtigenden Individuums, wie es Michelet, Burckhardt oder auch Dilthey vorschwebte. Die beliebige Interpretierbarkeit psycho-sozialer Kategorien wie ›Individualität‹ und ›Subjektivität‹ sollten, so wurde gefordert, auf manifeste, mitunter auch quantitativ bestimmbare Daten zurückgebunden werden, wie sie beispielsweise eine expandierende Marktwirtschaft, eine zunehmende politische Partizipation oder die staatsrechtliche Entkoppelung von Kirche und Staat liefern. Einer solchen Forschung geht es hauptsächlich um Veränderunsteuerte das eigene Leben. Der Disziplinierungsprozeß nahm keine Rücksicht auf die alte Autonomie des Menschen, schuf aber Voraussetzungen für die Idee einer neuen Autonomie (Menschenwürde), eine reflexive Autonomie, die allerdings ebenso wie die alte gesellschaftlich vermittelt blieb.« – Wieso eine »anerzogene Einsicht« in richtiges gesellschaftliches Verhalten individueller oder interiorer sein sollte als traditionale Sitten und deren Anerziehung, bleibt hier und anderswo ungeklärt. Überhaupt kann van Dülmens populäre Einführung als negatives Beispiel für sehr vieles genannt werden, lässt sie doch praktisch keinen Gemeinplatz aus, und bedient dabei mit heiterem Gleichmut Sozialdisziplinierung nicht minder als Konfessionalisierung und Modernisierung. So können wir etwa den maßgeblichen Einfluss des Protestantismus (»die meisten waren Protestanten«) auf die Praxis der Autobiographie (als prominenten Ort individualistischer Betätigungen) bewundern, um gleich anschließend längere Ausführung zu Benvenuto Cellini, Hermann von Weinsberg, den Kardinal Retz zu lesen, die alle wohl etwas katholischer als Rousseau protestantisch gewesen sein dürften (S. 84–94). Auch lernen wir, dass Montaigne und Teresa von Ávila gleichsam katholische Ausnahmen gegen die Grundregel, dass »allgemein Protestanten im Vergleich zu den Katholiken ein erhöhtes Maß an Selbstreflexion zugeschrieben wird«, da gerade die »katholische Tradition […] darin eine menschliche Eitelkeit« sah (S. 33). Trotz dieser protestantischen Befähigung steht aber fest (S. 36), dass Dürer eingebunden bleibt, »sowohl in die politische Kultur Nürnbergs als auch in das christliche Weltbild, wie es die Reformation geformt hatte, die kein ›autonomes‹ Individuum kannten.« [sic!]; et passim. 189 Vgl. hierzu Achermann, Eric: Art. »Individuality«. In: Autobiography/Autofiction. An International and Interdisciplinary Handbook. Hrsg. von Martina Wagner-Egelhaaf. Berlin [im Druck].
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gen von Rahmenbedingungen, die den autonomen Akteur und selbstreflektierten Entscheidungsträger ermöglichen oder gar erfordern, mehr als dass sie umgekehrt die veränderten Rahmenbedingungen als das Resultat der Emanzipation und Autonomisierung der zu ihrer eigentlichen, essentiellen Bestimmung gelangenden bürgerlichen Subjekte erachtet. Was hier als Individuum übrigbleibt, ist nicht ›Mensch minus die Ketten, die ihn binden‹, sondern die Bezeichnung für einen bestimmten Radius an Handlungsmöglichkeiten, die dem Menschen im jeweiligen historischen Kontext zukommen. Die Modernitätsauffassung selbst erscheint aus einer solchen Perspektive als Kategorie, die ihren Ermöglichungsgrund erst in den Modernitätserfahrungen, oder auch nur schon in der Propagation von Modernitätsidealen, des 19. Jahrhunderts findet. Verstehen wir aber Modernität als eine überzeitliche Kategorie, so folgt daraus, dass der immer schon mitgedachte Emanzipationsanspruch der Modernisierung die Identität von Epochen und ihre relative Autonomie in Frage stellt. Die Bilanzierung des Beitrags der jeweiligen Zeit erfolgt immer im Hinblick auf eine Zielvorgabe, die zur Relativierung eben dieser Zeit und damit zur Überantwortung der Epochenidentität an evolutionäre Kontinuität bedeutet. Sie gelangt letztlich zu einer ›longue durée‹, die Entwicklungen hinsichtlich der als modern erachteten politischen und wirtschaftlichen Verfassung »möglicherweise bereits um das Jahr 1000« beginnen lässt.190 Dass eine solche Perspektive mit den Erfahrungsmöglichkeiten vergangener Zeiten nicht kompatibel ist, liegt auf der Hand: eine epochale Betrachtungsweise ist eben nicht eine evolutionäre. Aus Warte der Epochengeschichte wäre es sinnvoller, die so fruchtbare Forschung zur Sozialdisziplinierung und Konfessionalisierung von der Modernisierungsfrage abzukoppeln und auf deren Wirkung für die verschiedenen Bereiche der Lebens- und Denkwelt hin zu befragen. Erfolgversprechender als die Bemessung des jeweiligen Modernisierungsbeitrags erscheint in dieser Hinsicht die bereits skizzierte, hauptsächlich von Koselleck vertretene metahistorische Betrachtungsweise, die Fragen nach der Modernität an die tatsächlich zu beobachtenden Modernitätsauffassungen der jeweiligen Zeit bindet. Modern sind Zeiten, die von einem Modernitätsbewusstsein geprägt sind, wobei grundlegende Veränderungen hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von ›modern‹ und ›nicht-modern‹ bzw. von ›neu‹ und ›alt‹ die eigentlichen Epochengrenzen oder -schwellen innerhalb der Zeiten markieren, in denen eine Moderni-
190 Reinhard: Sozialdisziplinierung, Konfessionalisierung, Modernisierung (wie Anm. 164), S. 51.
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tätsauffassung prominent auftritt. Mit ›Bewusstsein‹ ist jedoch ein Problem angesprochen, dass durchaus kontrovers behandelt wird. Insbesondere Blumenberg scheint bei seiner Urteilsbegründung unter allen Indizien, die er in seine »differentiellen Betrachtungen« mit einfließen lässt, just die explizite Bezeugung nicht gelten zu lassen: »Es gibt keine Zeugen von Epochenumbrüchen. Die Epochenwende ist ein unmerklicher Limes, an kein prägnantes Datum oder Ereignis evident gebunden. Aber in einer differentiellen Betrachtung markiert sich eine Schwelle, die als entweder noch nicht erreichte oder schon überschrittene ermittelt werden kann.«191
Unbestreitbar und auch unbestritten ist, dass die Vorstellung einer Epoche, oder zumindest deren sprachliche Bezeugung, das Ergebnis einer nachträglichen Operation ist. So sind Epochennamen wie ›Renaissance‹,192 ›Barock‹193 und erst recht ›Frühe Neuzeit‹194 Namen, die erst lange Zeit nach dem mutmaßlichen Ende der von ihnen bezeichneten Epoche in Umlauf gekommen sind. Sie sind also von historisch Interessierten zur Bezeichnung eines Zeitraums gewählt und bestimmt worden, weil oder damit dieser als Einheit erachtet wurde bzw. werde. Im Gegensatz zu ›Aufklärung‹, ›Romantik‹ oder ›Realismus‹ sind die genannten Bezeichnungen als Elemente einer eigentlichen Programmatik nicht selbst Ereignis der Epoche. Wieso sollte es sich, contra Koselleck, bei ›Moderne‹ anders verhalten? Für eine Epochentheorie der Frühen Neuzeit erscheint die Frage nach dem Bewusstsein unvermeidlich, die Antwort jedoch schwierig. Mögen Schlagwörter epochaler Selbstbeschreibung auch hin und wieder als unabdingbare Voraussetzung für die Identität einer Epoche erachtet werden, so kann das hierhin ausgedrückte Bewusstsein der Eigenheit, Eigentümlichkeit und Eigenständigkeit der eigenen Zeit weder schlechthin mit einer Epoche identifiziert, noch als Kronzeuge für die Angemessenheit einer Epochenkonstruktion angeführt werden. Dafür gibt es, wie ich glaube, drei gute Gründe. Der erste ist banal: Zu allen einigermaßen gut doku191 Blumenberg, Hans: Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner. Frankfurt/M. 1976, S. 20. 192 Vgl. z. B. Ferguson: The Renaissance in Historical Thought (wie Anm. 23); Ullmann, Berthold Louis: Renaissance. The Word and the Underlying Concept. In: Studies in Philology 49 (1952), S. 105–118; Buck, August: Die italienische Renaissance aus der Sicht des 20. Jahrhunderts In: Studien zu Humanismus und Renaissance (wie Anm. 57), S. 60–80, hier S. 67f. 193 Vgl. Wellek, René: The Concept of Baroque in Literary Scholarship. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 5(1946), H. 2, S. 77–109; Moser, Walter: Art. »Barock«. In: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, S. 578–618, hier S. 578–580. 194 Vgl. Mieck: Die Frühe Neuzeit. Definitionsprobleme, Methodendiskussion und Forschungstendenzen (wie Anm. 11), S. 17–23.
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mentierten Zeiten, die mir bekannt sind, lässt sich ein solches Bewusstsein finden. Die Zeit, in der wir leben, unterscheidet sich für viele von uns auf erstaunlich dramatische Weise von allen vorangegangenen Zeiten; Menschen scheinen dazu zu neigen, ihre eigene Zeit als ganz außergewöhnlich (im Guten wie im Schlechten) zu beurteilen. Der zweite Grund ist gewichtiger: Bewusstsein, das wir mit einigem Recht als die Ursache von Mitteilungen vermuten, stellt sicherlich eine wichtige, wenn nicht gar notwendige Voraussetzung für Interpretationen dar, doch handelt es sich bei der Konstruktion von Epochen und deren Verwendung zur näheren Bestimmung und Relationierung von Ereignissen nicht um Interpretationen im eigentlichen Sinn. Wer nicht davon ausgeht, dass jede Erklärung Interpretation oder schlichtweg ›alles Interpretation ist‹, der dürfte Geschichtsschreibung wohl kaum als Interpretation vergangener Zeit auffassen, da Geschichte bestenfalls metaphorisch zu uns ›spricht‹. Historische Ereignisse bedeuten als historische nichts,195 sie zeigen an, sie zeigen meinetwegen auch auf, oder sie werden als Ausdruck von und für etwas erachtet. Ebenso wenig wie ein Apfel seine Apfelhaftigkeit oder die Röte im Gesicht Verlegenheit, Fieber, Zorn, Wut oder Scham bedeutet, sondern als Exemplar oder Symptom für dies und jenes und noch vieles andere steht, ebenso wenig bedeuten ein Stuhl ›Rokoko‹ oder eine Friedensfeier ›Barock‹. Auch die riesige Masse textueller Zeugnisse bedeutet nichts, was deren Historizität beträfe, sondern sie bedeuten in dem genannten engeren Sinn dasjenige, was mitgeteilt wird oder mitgeteilt werden soll, und dieses war und ist nicht ›dieser Satz bedeutet, dass er Barock ist‹, ›diese Stelle bedeutet Renaissance‹, ›dieser Brief bedeutet seine Zugehörigkeit zu einer vergangenen Zeit‹ und dergleichen mehr. Alle diese sinnlosen Sätze erscheinen jedoch einigermaßen sinnvoll, wenn wir ›bedeuten‹ durch einen Ausdruck symptomatischen Verweisens ersetzen: ›Der Satz, die Stelle, der Brief sind Anzeichen für, Ausdruck von, Hinweis auf‹ – und zwar von, für und auf etwas, das wir als zeittypisch erachten. Eine Diagnose ist keine Interpretation. Das Bewusstsein, in einer ganz eigenen Zeit zu leben, sowie die beabsichtigte Mitteilung diese Bewusstseins, sind historische Ereignisse, die als intrinsische Symptome in einem zu klärenden Verhältnis zu
195 Es sei hier nur am Rand daran erinnert, dass die Konfusion zwischen ›Bedeutung haben‹ (jmd. etwas bedeuten) und ›bedeutend sein‹ (ein zentrale Funktion in Hinsicht auf etwas erfüllen) aufgrund dieser Polysemie zu Irritationen führt: ›Die Geschichte soll keine Bedeutung haben, was fällt dem ein!‹ Nein, geschichtliche Ereignisse bedeuten als geschichtliche nichts, da Geschichte keine Geschichten erzählt, auch wenn wir diese gerne lesen. Und natürlich gibt es Texte und Bilder aus vergangener Zeit, die etwas bedeuten, doch tun sie dies nicht, weil sie historisch sind, noch einzig demjenigen, der sie historisch betrachtet, sondern weil sie als Sätze und Bilder etwas bedeuten.
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metahistorischen Äußerungen stehen, das heißt Indizien, nicht aber notwendige oder gar hinreichende Bedingungen von ›Epochalität‹. Der dritte Grund schließlich besteht darin, dass zwar das Bewusstsein der Eigenheit der eigenen Zeit verbreitet ist, die Eigenständigkeit jedoch den Akteuren bis auf eher seltene prophetische, eschatologische sowie apokalyptische Ausnahmen als unbekannte erscheinen muss. Eine Epoche hat aber eine bestimmte Dauer; aus naheliegenden Gründen hat sie erst dann eine Dauer, wenn wir ein Ende mitdenken. Fragen wir nach der Identität einer Epoche, so setzt dies nicht nur die Kenntnis des Anfangs, sondern auch diejenige des Endes voraus. Der Mensch kann also Bewusstsein eines Epochenumbruchs haben und dieses äußern, doch bildet dieses noch keine Epoche. Nichtsdestotrotz sind aber Erörterungen, Erwägungen, Debatten und Programme, welche die Zeitlichkeit der eigenen Zeit zum Gegenstand haben, gewichtige Indizien dafür, dass ›merkliche Limes‹ intersubjektiv be- und verhandelt werden und in ihrer Möglichkeit, ihrer Art des Gegebenseins ausgelegt werden. Dass einer Äußerung ihre Historizität als zu entziffernde Mitteilung nicht eingeschrieben ist, heißt also ganz und gar nicht, dass Äußerungen sich nicht explizit zur Historizität verhalten können. Doch auch der umgekehrte Schluss wäre unrichtig, der aus der expliziten Thematisierung eines historischen Bewusstseins die ausgedrückte Historizität zur Dominanten eines Prozesses erhebt. Koselleck geht es nämlich nicht um Epochen, sondern um Epochenumbrüche. Es ist ihm nicht um die heute geläufige Bedeutung von ›epoche‹ für Zeitdauer zu tun, sondern um die Etymologie von ›¦B@PZ‹ als Zeitpunkt des Innehaltens,196 eine Bedeutung, die Handbücher gerne anführen und die uns in der Phänomenologie auch heute noch begegnet. In der Reflexion auf Zeit wird die Zeit quasi angehalten und es eröffnet sich eine neue Zeit, in deren Raum, wie Koselleck mit Bezug auf Chladenius festhält, der Mensch seine Erfahrung im Zeichen eines neuen Zeitbewusstseins oder -gefühls macht: »Der Erfahrungsraum der Zeitgenossen bleibt das erkenntnistheoretische Zentrum aller Geschichte.«197 Die historischen Momente, die Koselleck subtil auf ihre metahistorische Reflexion hin untersucht hat, wären wohl kaum epochal zu nennen, gewönnen wir nicht den Eindruck, dass der darin ausgedrückte Bewusstseinswandel sich nicht in zahlreichen und auch wichtigen Bereichen bemerkbar machte. Die bewusste Auseinandersetzung 196 Vgl. Fetscher, Justus: Art. »Zeitalter/Epoche«. In: Ästhetische Grundbegriffe. Hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius u. a., Bd. 6. Stuttgart, Weimar 2005, S. 774–810, hier S. 779f. 197 Koselleck, Reinhart: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1979, S. 176–207, hier S. 185.
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mit der eigenen Zeitlichkeit dürfte so bloß ein, wenn auch wesentlicher und entscheidender Faktor sein, den es bei der Herausbildung einer – in den Worten Kosellecks – »Theorie möglicher Geschichte« zu beobachten gilt.198 So rekurrieren die vorliegenden Überlegungen zur Epoche ›Frühe Neuzeit‹ als einer ›età umanistica‹ ganz massiv auf Etiketten, die ihrer ursprünglichen Bedeutung nach Formen der Zeiterfahrung galten: ›Renaissance‹, ›Querelle des Anciens et des Modernes‹, ›Revolution‹ – und ohne beträchtlich Mühe ließen sich ›Reformation‹ und ›Aufklärung‹ hinzuaddieren. Was wir hier vorfinden, ist jedoch nicht nur die Markierung eines neu eröffneten Erfahrungsraums, sondern die programmatische, mitunter aggressive Einforderung einer Neubewertung fremder und eigener Zeiten. Der Humanismus definiert sich durch die konsequente Befolgung eines Programms, welches das eigene Tun und Denken ins Verhältnis zu einer Vorzeit setzt und dieses Verhältnis über das bloße Bewusstsein zeitlicher Differenz hinaus immer auch programmatisch und produktionsbezogen auf die Jetztzeit hin erörtert. Programme aber werden formuliert, nicht weil sie herrschen, sondern weil sie Anspruch auf Herrschaft anmelden. Nicht als Position sind sie epochal, sondern als Indizien für Interessen, Sorgen, Nöte, von Heilsversprechen und Problemanalyse, von Kämpfen und Widerständen, von Orientierungsverlust und Sinnangeboten. Kosellecks metahistorische Sicht auf die Geschichte erweist sich als ein geeigneter Ausgangspunkt, um die Geschichte der Gelehrtenkultur als eine Geschichte der Historizität von Gelehrsamkeit zu denken. Die historischen Großereignisse – die Erfindung des Buchdrucks (um 1450), die Entdeckung Amerikas (1492) sowie der Beginn der Reformation (1517) – erweisen sich aus dieser Warte nicht etwa als historische Epiphänomene, die etwa als kausalursächlich begründete Folgen eines gewandelten historischen Bewusstseins zu erachten wären, sondern als parallele, konjunktive Ursachen. Zusammen mit dem geschilderten Bewusstseinswandel tragen sie durchaus zentral zur konkreten historischen Realisierung desjenigen bei, was wir Frühe Neuzeit nennen: Ohne die allmähliche Verdrängung des Manuskripthandels durch das Buch und der konstitutiven Funktion des Objekts ›Buch‹ für eine veränderte Wirklichkeitswahrnehmung199 198 Koselleck, ebd. S. 206. 199 Vgl. etwa die systemtheoretisch orientierte Untersuchung von Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt/M. 1991, insbesondere S. 362–389 und S. 560–591. Zur Bedeutung des Buchdrucks im Hinblick auf Wissensverbreitung und Gelehrtenrepublik vgl. Müller, Jan-Dirk: Medialität. Frühe Neuzeit und Medienwandel. In: Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung. Beiträge zur Identität der Germanistik. Hrsg. von Kathrin Stegbauer, Herfried Vögel und Michael Waltenberger. Berlin 2004, S. 49–70; ders.: Eine Revolution des Informationswesens. In: Eine neue Geschichte der deutschen Lite-
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wäre die Diffusion des frühneuzeitlichen Wissens, die internationale Vernetzung des Humanismus und die Vorstellung eines von den Leitkulturen ausgehenden Kulturexports in seinem tatsächlichen Verlauf nicht vorstellbar; ohne die Erweiterung des geographischen Raums durch die Entdeckungen wäre die Frage nach dem Verhältnis der eigenen, griechischrömischen Vergangenheit zur ›primitiven‹ Geschichte der neu entdeckten Welten nicht gestellt, wäre die als eigen erachtete mythologische Tradition nicht als Ausdruck eines kindlichen Stadiums der Menschheitsgeschichte in ein auf Fortschritt angelegtes historisches Denken in der ›Querelle‹ überführt worden;200 ohne die Reformation schließlich wären die gesamten, kirchen- und staatspolitischen Veränderungen nicht eingetreten, die wir im Vorausgehenden unter dem Schlagwort der ›Konfessionalisierung‹ diskutiert haben. Aufgabe einer epochalen Betrachtung der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit muss es also sein, sowohl das Bewusstsein als auch die Programme wissenssoziologisch sowie kulturgeschichtlich auf Verbindungen zu den Kategorien und Forschungsbereichen der Allgemeinen Geschichte, der Sozialdisziplinierung nicht minder als der Konfessionalisierung, hin zu befragen.201 Diese und andere Verbindungen sind in ihrer Synchronizität Gegenstand von Epochengeschichte. Mag sich Foucault auch, nicht zu-
ratur. Hrsg. von David E. Wellberry u. a. Berlin 2007, S. 267–279. Zu Medienrevolution und historischem Bewusstsein vgl. Wolf, Jürgen: Von geschriebenen Drucken und gedruckten Handschriften. Irritierende Beobachtungen zur zeitgenössischen Wahrnehmung des Buchdrucks in der 2. Hälfte des 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts. In: Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Andreas Gardt, Mireille Schnyder und dems. Berlin, Boston 2011, S. 3–21. 200 Vgl. hierzu Gisi, Lucas Marco: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2007, S. 114–149. – Mit Ausnahme der politischen und rechtlichen Literatur Spaniens scheint das Thema ›Neue Welt‹ im Renaissance-Humanismus eher marginal gewesen zu sein; so konstatiert Hassinger »das relativ geringe Amerika-Interesse bei Geschichtsschreibern und Literaten«; Hassinger, Erich: Die Rezeption der Neuen Welt durch den französischen Späthumanismus (1550–1620). In: Humanismus und Neue Welt. Hrsg. von Wolfgang Reinhard. Weinheim 1987 (DFG. Mitteilung der Kommission für Humanismusforschung 15), S. 89–132, hier S. 123. Auch Repräsentationen in den bildenden Künsten gehen selten auf direkte Erfahrungen der Konquistadoren und Exploratoren zurück, sondern liefern stark allegorisierte Darstellungen; wo sie sich jedoch auf Autopsie berufen können, seien sie »von Dilettanten und entsprechend unkünstlerisch«; vgl. Falk, Tilman: Frühe Rezeption der Neuen Welt in der graphischen Kunst. In: Humanismus und Neue Welt, ebd., S. 37–64, hier S. 63. 201 Vgl. hierzu die hervorragende Darstellung solcher Verbindungen zwischen Kunstgeschichte und Elias’schen Zivilisationsprozess, Sozialdisziplinierung, Konfessionalisierung, Foucaultscher Macht- und Bourdieuscher Kapitaltheorie bei Heinen, Ulrich: Argument, Kunst, Affekt. Bildverständnisse einer Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit. In: Die Frühe Neuzeit als Epoche (wie Anm. 23), S. 165–234, hier vor allem S. 167–203.
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letzt in seinen Untersuchungen zur Frühen Neuzeit,202 in so vielem geirrt haben, so hat Les mots et les choses mit seiner provokativen These einer absoluten, inkommunikablen Eigenständigkeit der jeweiligen ›épistémè‹ doch zumindest das Problem in den Blick so manchen Forschers und so mancher Forscherin gerückt, dass neben der evolutionären Betrachtungsweise von Geschichte die Frage nach den jeweiligen Konfigurationen eine Frage vorzüglicher Bedeutung ist. Es gilt heute wohl als unbestritten, dass die Rhetorisierung des Bildungskurrikulums, die naturrechtliche Begründung der Morallehre, die Mathematisierung der Naturwissenschaften u. a. nicht bloß auf die Absicht, interne und systematische Kohärenz herzustellen, sondern auch auf ihre ›externalistischen‹ Ursachen, Wirkungen und Anlässe hin untersucht werden dürfen. Einer epochalen Betrachtung geht es also ›per definitionem‹ um den Nachweis, dass Dinge, die auf den ersten Blick vermeintlich nichts miteinander zu tun haben, bei genauerer Betrachtung über ein gemeinsames ›tertium‹ verfügen, sei es eine Parallelität der Entwicklung, eine Strukturanalogie oder gar eine gemeinsame konstitutive Basis. Natürlich können solche Thesen – und wie oft sind sie es nicht? – überzogen oder schlicht falsch sein, das heißt auf irrig eruierten Tatsachen oder logisch fehlerhaften Schlüssen beruhen; die eigentliche Gefahr aber, vor der wir uns hüten müssen, liegt nicht im gelegentlichen Entgleisen, sondern darin, dass der erfolgreich vertriebene Geist der Geschichte durch die Hintertür diskursiver Allüren als ein herrschender zurückgerufen wird. Kurt Flasch hat ganz zu Recht eine Haltung inkriminiert, die aus Epochenvorstellungen eigentliche Diktaturen sowohl der Bedeutungen als auch der Möglichkeit des Bedeutens macht. Diese Ermahnung ist gerade für die Modernisierungsthese, nicht minder aber bei der Betonung von Alterität zu beherzigen. Die Bilanzierung der jeweiligen Modernität findet nämlich in einer ebenso unkritischen wie pauschalen Negation der Möglichkeit des Gleichbleibens ihr Pendant, das sowohl aus historiographischer als auch wissenschaftstheoretischer Sicht zur unhaltbaren Annahme einer ›apriorischen‹ Unvergleichbarkeit und Inkommunikabilität über alle Epochengrenzen hinweg verleitet: »Es klingt wie methodische Sorgfalt, zu sagen, man müsse sich vor Modernisierungen hüten, aber wenn man, in Erwartung von Zahlensymbolik, die Säulen eines Kirchenraums zählt und dann einen Deutungsschlüssel einsetzt, der ›mittelalterlich‹ sein soll, indem man nämlich erklärt, die Zahl Sieben oder Zwölf bedeute ›im Mittelalter‹ dies oder das, so bleibt das Resultat höchst zweifelhaft.
202 Unter vielen vgl. Maclean, Ian: Foucault’s Renaissance Episteme Reassessed. An Aristotelian Counterblast. In: Journal of the History of Ideas 59/1 (1998), S. 149–166.
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[…] Das Ergebnis ist ein ›mittelalterlicher‹ oder vielmehr ein reklerikalisierter, ein medievalisierter Dante. Viele neuere Auslegungen machen mittelalterliche Dichtungen frömmer, um nicht zu sagen: bigotter als sie im Text selbst sind. Sie reduzieren den Weltgehalt, den Erfahrungsstoff, den die mittelalterliche Religiosität noch enthielt.«203
Flaschs Kritik ist berechtigt. Kann aber aus dem inkriminierten Fehlverhalten tatsächlich gefolgert werden, dass Epochenvorstellungen notwendig ideologisch geprägt sind, oder auch nur schon hierfür anfälliger wären als andere historische Kategorien?204 Die Kommentierungsfehler scheinen darin zu gründen, dass aus einer Vielzahl historischer Ereignisse eine Vorstellung hinsichtlich eines Zeitraums gewonnen wurde und diese Vorstellung anschließend einer kausalursächlichen Verwendung zur Erklärung eines besonderen Ereignisses dient. Eine Erklärung der Art, ›x bedeutet hier y, weil Dante ein mittelalterlicher Autor ist‹, ist aber – ganz egal um welches x und y es sich handelt – unzulässig. Es sind Kenntnisse tatsächlicher oder mutmaßlicher Ereignisse, die Epochenvorstellungen begründen, und dieses Verhältnis kann nicht einfach umgedreht werden. Versuchen wir aus einer Epochenvorstellung heraus das Auftreten von Ereignissen ursächlich zu begründen, so sind unsere Argumente entweder zirkulär (das heißt sie betreffen eben die Ereignisse, die der Begründung einer Epoche dienten), oder aber sie beziehen sich auf Ereignisse, die in noch keinem reflektierten Zusammenhang zur Epochenvorstellung stehen. Wird ein solcher Zusammenhang nun einfach unterstellt, so geschieht dies wohl aus der Überzeugung heraus, dass, was für jene Ereignisse gilt, auch für diese zu gelten habe. Nur wer davon ausgeht, dass eine Epochenvorstellung alle historischen Ereignisse eines bestimmten Zeitraums ›durchherrsche‹, kann einen solchen nun finalursächlichen Schluss voraussetzen, nämlich: ›x bedeutet hier y, damit Dante sich in eine Vorstellung, die ich von seiner Zeit habe, fügen kann‹. Der Geist der Zeit (oder etwas Ähnliches) wird zum eigentlichen Ausgangs- und Zielpunkt aller Ereignisse erhoben. Eine solche Epochenvorstellung ist – wie Flasch an anderer Stelle scharfsinnig gegen Heidegger bemerkt – mehr als problematisch, nämlich eine »Monarchie der Epochengestalt«, oder eben eine »Diktatur«.205
203 Flasch, Kurt: Epoche. In: ders.: Philosophie hat Geschichte, Bd. 1.: Historische Philosophie. Beschreibung einer Denkart. Frankfurt/M. 2003, S. 129–153, hier S. 143. 204 Flasch, ebd., S. 142: »Sie [die Epochen] enthalten Wertungen und Idealisierungen, Anschwärzung und Anpreisung; sie sind selbst ideologische Produkte oder jedenfalls extrem anfällig für Ideologisierung. Die besten Beispiele sind […] ›Mittelalter‹ und ›Neuzeit‹.« 205 Flasch, Kurt: Philosophie und Epochenbewußtsein. In: ders.: Philosophie hat Geschichte (wie Anm. 203), S. 154–168, hier S. 157.
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Das stipulierte ›Wesen‹ einer Epoche macht aus jedem Einzelereignis ein Wesensmerkmal, aus jedem Teil einer Kugel einen kugeligen Teil. Es gibt aber keinen Grund das Ackern des Bauern aus dem Friaul, das Takeln des Matrosen aus Genua und die Andacht wohlbehüteter Klosterelevinnen aus Venedig als von einer Renaissance-Zeit geprägte Einzelerscheinungen um 1490 zu erachten, wobei diese Prägungen von demselben Geist ›durchherrscht‹ würden, der Picos Oratio de hominis dignitate erfüllt. Eine solche Behauptung läuft zwangsweigerlich auf einen Trivialholismus hinaus, dessen ganze explikative Kraft auf einem stets vorausgesetzten und eben nicht erwiesenen, meist auch nicht annähernd qualifizierten ›Zusammenhang‹ resultiert. Natürlich ist es richtig, dass das Mittelalterbild vieler Leser und Leserinnen nach wie vor eher von Viollet-Le-Duc oder ominösen Hexenprozessen geprägt ist als von echteren Monumenten und nachweis bareren Ereignissen, doch heißt dies weder, dass mit dem Verschwinden des Epochennamens ›Mittelalter‹ die Dinge sich besserten, noch dass wir alle versucht wären, uns Thomas von Aquin an einem Ritterturnier zu imaginieren. Bei den von Flasch angeführten Fällen irriger Kommentierung handelt es sich zuerst einmal um nichts weiter als um die Reifikation einer mehr oder minder richtig erkannten Eigenschaft mittelalterlicher Hermeneutik, die aufgrund einer supponierten Totalitätsvorstellung unkritisch zur Bedeutungsklärung einer unbestimmten Anzahl sprachlicher Ereignisse einer präsupponierten zeitlichen Totalität herangezogen wird. Anschaulich kritisiert Flasch derartige Geschichtsbilder als »monochrom«.206 Es überrascht denn auch nicht, dass solche und ähnliche Erfahrungen Flasch zu einer harschen Kritik an der Konfessionalisierungsthese ge- oder verführt haben, wie sie Jörg Traeger in seinem Renaissance und Religion entfalte. Traeger behaupte, so Flasch, gegen den angeblichen Mainstream, der ein mittelalterliches Christentum durch eine renaissancistische Pagankultur ersetzt sehen möchte, nun seinerseits den »Katholizismus« (welch Anachronismus!) als durch und durch dominant: »Es hat mehrere Versuche gegeben, die christliche Seele der Renaissance zu behaupten. Traeger hat sich mit der Geschichte des Renaissancekonzeptes aber nur so weit befaßt, als er sich einen bequemen Gegner verschaffen wollte; die Burckhardt-Präzisierung, die seit mehr als hundert Jahren im Gang ist, ist ihm entgangen; er kennt nicht die internationale Forschung, nicht einmal die Korrekturen, die Garin und Vasoli, Kaegi und Kristeller, Saitta und Di Napoli an diesem Bild längst vorgenommen haben, und schmeichelt sich wegen nicht vorhandener Originalität.«207
206 Flasch, Kurt: Kontinuität und Tradition. In: ders.: Philosophie hat Geschichte (wie Anm. 203), hier S. 170. 207 Flasch, Kurt: Ein dicker Franziskaner aus Mainz klaute den Ring der Gottesmutter. Und
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Mag das Urteil auch angesichts der, nebenbei explizit gewürdigten, Leistung Traegers ungerecht erscheinen, so legt Flaschs gekonnt polemische Verve den Finger auf den wunden Punkt: Eine These wird nicht dadurch geadelt, dass im revisionistischen Furor an die Stelle einer Einseitigkeit eine neue gesetzt wird. »Wichtiger« nämlich »ist der Prozeß der Differenzierung.«208 Vergangene Zeiten dürften in einem Punkt den jetzigen ähnlich sein: Wo jemand ›ja‹ sagt, gibt es meist auch jemanden, der ›nein‹ sagt. Geschichte besteht nicht aus herrschenden Ansichten, allgemeinen Praktiken, anstandsloser Befolgung gegebener oder auch nachträglich entdeckter Gesetze, sondern im Widerspiel von Positionen, Haltungen und Interessen. Für die Bestimmung einer Epoche sind es gleichsam die Brennpunkte, die uns Orientierung geben, denn hierauf richten sich die Strahlen zeitgenössischer Aufmerksamkeit und hieraus entsteht Hitze. Dominant sind nicht Positionen, nicht Haltungen, sondern Probleme und Fragen. In den nagenden Fragen drücken sich nicht zuletzt auch das Bedürfnis nach Sinn, die alltäglichen Sorgen und die existentiellen Ängste aus.209
6. Postliminarien Gegen einen, in seinen Augen platonischen, Einheitsbegriff hat bereits Aristoteles mit guten Gründen opponiert, indem er die diskrete Vielheit in der Einheit von Gebilden wie Staaten oder Familien betont.210 Weder der Begriff ›Epoche‹, noch die mit dem jeweiligen Epochennamen verbundenen Vorstellungen dürfen dazu dienen, die ganze Variabilität, Heterogenität und Gegensätzlichkeit einer historischen Wirklichkeit sowie die Unzahl jeweils möglicher Ereignisse per Dekret aus der Welt zu schaffen.
protestantische Kunsthistoriker stahlen den Katholiken ihre Bilder. Jörg Traeger will mit Raphaels Verlobung Mariens den heidnischen Geist aus der Renaissance vertreiben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 4. 1998, S. 38. 208 Flasch, ebd. 209 Vgl. hierzu das Standardwerk von Delumeau, Jean: La Peur en Occident (XIVe-XVIIIe siècles). Une cité assiégée. Paris 1978. 210 Aristoteles: Politik, II, 5, 1263b30–35. Übers. von Eugen Rolfes, hrsg. von Günther Bien. 4. Aufl. Hamburg 1981, S. 41: »Freilich muß das Haus und muß der Staat in einem gewissen Sinne eins sein, aber sie dürfen es nicht ganz und gar sein. Es gibt einen Grad der Einheit, bei dem der Staat nicht mehr bestehen würde, und es gibt einen Grad, bei dem er zwar noch Staat bliebe, aber nahe daran wäre, es nicht mehr zu sein, wo er dann ein schlechter Staat würde, ähnlich wie wenn man die Symphonie zur Monotonie oder den Rhythmus zum Einzeltakt machte.«
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6.1. Modelle, Kategorien, Felder Der in den vorausgehenden Kapiteln verwendete Begriff des ›Modells‹ fordert keine Einheit, die jede Planke eines Schiffes in einen direkten Bezug zum Hirn des Kapitäns setzte. Er beruht vielmehr auf der Vorstellung der Diffusion von Ideen, Praktiken und Haltungen. Dies hat den Vorteil, dass Bewertungen hinsichtlich eines künftigen evolutionären Erfolgs durch das Ermessen einer jeweils als gegenwärtig gedachten Konkurrenzsituation alter vertrauter und neuer Angebote ersetzt wird. Dies hat aber auch den Nachteil, dass ›Diffusion‹ wohl selbst ein ziemlich diffuser Begriff ist. Er muss dahingehend näher bestimmt werden, dass sich das Verhältnis exportierter und importierter Kulturgüter unter einer stets vom jeweiligen Habitus geprägten Praxis des Unterscheidens von Eigenem und Fremden bemisst.211 Den Status, Modell zu sein, nicht modelliert zu werden, erreicht eine Kultur, wenn sie zum einen exportiert, zum anderen die exportierten Güter in ihrer Herkunft identifiziert werden und sie zum dritten sozialen Distinktionszwecken dienen. Das Modellkonzept resultiert also nicht aus dem Ermessen einer sich als überwertig gerierenden Kultur, sondern aus einer beobachtbaren sozialen Praxis des Kulturkonsums. Dem Modellkonzept inhäriert so die Aufgabe, sowohl die Quantität der importierten Kulturgüter als auch die Intensität der Wirkung dieser Güter auf eine Gesellschaft zu bedenken. Es gilt nach der Größe, dem sozialen Gewicht sowie dem Ethos des jeweiligen Publikums zu fragen.212 Es gibt keine Regeln, die es erlaubten, einen bestimmten Grad des Wandels von vornherein und für allemal zu definieren, um daran gemessen eine richtige von einer falschen Identitätsannahme zu scheiden.213 Hinsichtlich der Identität ist Raum nicht ohne Zeit zu denken, ebenso wenig wie Diffusion ohne die Kategorie der Distribution auskommt. Es sind dies die beiden grundlegenden Kategorien, die das Raumkonzept der hier entwickelten Epochentheorie konstituieren. Gehen wir von der hoffentlich mehrheitsfähigen Ansicht aus, dass Epochen durch zeitliche und räumliche
211 Zum hier verwendeten Habitus-Begriff vgl. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M. 1987, S. 101–105. 212 Als exemplarisch sei hier die gelungene Anwendung der Bourdieuschen Feldtheorie zur Analyse der sozialen Stratifizierung des Publikums im Frankreichs des klassischen Zeitalters genannt; Viala, Alain: Naissance de l’écrivain. Sociologie de la littérature à l’âge classique. Paris 1985, S. 123–175. 213 Vgl. hierzu Nida-Rümelin, Martine: Der Blick von innen. Zur transtemporalen Identität bewusstseinsfähiger Wesen. Frankfurt/M. 2006, S. 101: »es gibt Anwendungsfälle [von Termini], in denen das Zutreffen oder Nichtzutreffen nur willkürlich bestimmbar ist. Eine erste hier vertretene These lautet: Der Begriff der Identität von Objekten über die Zeit hinweg hat keine scharfen Grenzen, wenn er auf Gegenstände ohne Bewusstsein angewendet wird.«
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Grenzen (mögen diese auch noch so ausgedehnt oder approximativ sein) identifiziert werden, so stellt sich die Frage nach den Kategorien, deren Spannungsverhältnis die zeitliche Koordinate näher bestimmt. Sind die Kategorien, in welchen der historische Raum gedacht wird, die Distribution als raumerfüllend sowie die Diffusion, als raumergreifend, so lassen sich aus Sicht der Zeit anhaltende Wirklichkeiten als Persistenz, transitorische Veränderungen als Wandel bezeichnen. Die Begriffe sind miteinander verschränkt: Distribution und Persistenz sind statisch, Diffusion und Wandel dynamisch. ›Diffusion‹ bezeichnet also Veränderung hinsichtlich des Raumes, ›Distribution‹ hingegen eine gleichbleibende Situation, nämlich als Konfiguration, Konstellation oder Struktur. Die vier Kategorien sind verschränkt, bedingen sich jedoch nicht gegenseitig; sie stehen nicht in einer ursächlichen Beziehung zu einander, sondern dienen der perspektivischen Erfassung von Geschichte. Die skizzierte Matrix erlaubt es, die geschilderte metahistorische Reflexion als zeitliche Dimension eines gleichbleibenden oder sich wandelnden Raums zu denken, in welchem soziale Akteure ihre Erfahrungen machen und ihren Tätigkeiten nachgehen. Zudem erlaubt sie, die Identität einer Epoche im Spannungsverhältnis von Raum und Zeit zu bestimmen. Sind Raum und Zeit also gleichsam die Koordinaten, Distribution und Persistenz sowie Diffusion und Wandel hingegen die statischen bzw. dynamischen Kategorien zur Bestimmung der Identität einer Epoche, so gilt es schließlich nach den Ursachen sozialer und kultureller Stabilität und Mobilität zu fragen. Was das Verhältnis der distribuierten und diffundierten Güter zur gesellschaftlichen Organisation sowie die Erklärung sozialer Interessen im Hinblick auf das Festhalten am Alten bzw. der Forderung nach Neuem betrifft, die dem Urteil oder der Konsumhaltung von ›alt‹ und ›neu‹ unterzogen werden, empfiehlt sich Bourdieus Feldtheorie, und dies nicht zuletzt für eine geschichtliche Untersuchung der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur.214 Jenseits ausschließlich quantitativer oder qualitativer Bestimmungen ermöglicht Bourdieus Begriff des ›Kapitals‹, genauer: multipler Kapitalformen, soziale, in ihrem jeweiligen Feld geltende Werte als Mittel und Ziel in manifesten Konkurrenzkämpfen zu beobachten. Wertvoll ist letztlich, was eine Zunahme an erfolgsversprechenden Mitteln in der Bewältigung des Lebens, das heißt im sozialen Kampf bemisst: »Ein Kapital oder eine Kapitalsorte ist das, was in einem bestimmten Feld zugleich als Waffe und als umkämpftes Objekt wirksam ist, das, was es seinem
214 Zur Anwendung von Bourdieus Feldtheorie in der Frühneuzeit-Forschung, insbesondere in den Forschungsvorhaben Barbara Stollberg-Rilingers, vgl. Heinen: Argument, Kunst, Affekt (wie Anm. 201), S. 194–203.
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Besitzer erlaubt, Macht oder Einfluß auszuüben, also in einem bestimmten Feld zu existieren und nicht bloß eine ›quantité négligeable‹ zu sein.«215
In dem Ringen um Kapital mit dem Ziel hierarchischer Verbesserung lassen sich Bezugspunkte und »objektive Relationen« ausmachen, deren »Distribution« die jeweilige gesellschaftliche Struktur vorgibt.216 Für die hier zur Diskussion stehende Gelehrtenkultur sowie für die Bestimmung der Frühen Neuzeit als ›età umanistica‹ drängt sich eine Untersuchung der jeweiligen Relationen zwischen den umstrittenen Positionen sowie deren konkurrierender Kapitalvorstellung sowohl als inhärente Wertevorstellung der Gelehrtenrepublik217 als auch in Abgrenzung zu anderen Feldern geradezu auf.218 Dominant ist, was den größten Wert hat. Einer solchen Sicht widerspricht ein systemtheoretischer Ansatz in wesentlichen Punkten. Es erscheint geradezu als Paradox, dass die prozessorientierte Soziologie Luhmanns für die ältere Geschichte recht selten, die strukturorientierte Soziologie Bourdieus aber zunehmend Anwendung findet. Der Grund 215 Bourdieu, Pierre und Loïc J. D. Wacquant: Die Ziele der reflexiven Soziologie. ChicagoSeminar, Winter 1987. In: dies.: Reflexive Anthropologie. Frankfurt/M. 1996, S. 95–249, hier S. 128. 216 Ebd., S. 127: »Diese Positionen sind in ihrer Existenz und auch in den Determinierungen, denen die auf ihnen befindlichen Akteure oder Institutionen unterliegen, objektiv definiert, und zwar durch ihre aktuelle und potentielle Situation (situs) in der Struktur der Distribution der verschiedenen Arten von Macht (oder Kapital), deren Besitz über den Zugang zu den in diesem Feld auf dem Spiel stehenden spezifischen Profiten entscheidet, und damit auch durch ihre objektive Relation zu anderen Positionen (herrschend, abhängig, homolog usw.).« 217 Zu den Wertvorstellungen, dem ›Ethos‹ sowie den Praktiken der Gelehrtenrepublik vgl. Jaumann, Herbert: Respublica litteraria/Republic of letters. Concept and Perspectives of Research. In: Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. Wiesbaden 2001, S. 11–19. – Zu den Repräsentationsansprüchen einer sich etablierenden humanistischen Gelehrtenkaste in der ›res publica literaria‹ vgl. Fumaroli, Marc: La République des Lettres italienne et française (XVe-XVIe siècles). In: Rome et Paris – Capitales de la République européenne des Lettres. Hamburg 1999 (Ars Rhetorica 9), S. 21–40. – Zur Entwicklung und Bedeutung des Begriffs vgl. ders.: La République des Lettres redécouverte. In: Il vocabolario della ›République des Lettres‹. Terminologia filosofica e storia della filosofia. Problemi di metodo. Hrsg. von Marta Fattori. Florenz 1997 (Lessico intellettuale europeo 70), S. 41–56; Jaumann, Herbert: Respublica Literaria als politische Metapher. Die Bedeutung der Res Publica in Europa vom Humanismus zum XVIII. Jahrhundert. In: Les premiers siècles de la République des Lettres. Hrsg. von Marc Fumaroli. Paris 2005, S. 69–88. – Zum humanistischen Selbstverständnis der ›politia literaria‹ vgl. Buck, August: Humanistische Lebensformen. Die Rolle der italienischen Humanisten in der zeitgenössischen Gesellschaft. Basel 1981 (Vorträge der Aeneas-Silvius-Stiftung 18), S. 17f. 218 Zum Verhältnis der ›res publica litteraria‹ zur ›res publica christiana‹ vgl. Fumaroli, Marc: Das Vermächtnis der europäischen République des lettres. In: Die europäische République des lettres in der Zeit der Weimarer Klassik. Hrsg. von Michael Knoche und Lea Ritter-Santini. Göttingen 2007, S. 12–30, hier insbesondere S. 17–25.
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hierfür liegt wohl darin, dass die gesamte Luhmannsche Soziologie in ihrer Entwicklungsperspektive auf den Begriff der funktionalen Ausdifferenzierung hin angelegt ist, und dass in eben dieser funktionalen Ausdifferenzierung dann auch der Ausweis des jeweiligen Grades an Modernisierung sowie der Schlusspunkt eines adaptiven Vorgangs begründet liegt. Luhmanns Geschichte ist eine Geschichte, die primär solche Vorgänge registriert und den Grad der Ausdifferenzierung bilanziert.219 6.2. Objekte und Konstrukte Epochen sind Konstrukte,220 aber keine Interpretationen. Es ist da kein Geist der Geschichte, der zu uns spricht, um uns seine Lebensalter zu bedeuten, und den wir zu verstehen hätten. Epochen sind Konstrukte, doch sind sie es in erdenklich trivialster Weise: Der Ausdruck für eine Epoche ist – wie vermutlich jeder sprachliche Ausdruck – von Menschen gemacht und von diesen geprägt.221 Es liegt auf der Hand, dass es nicht diese triviale Konstruktivität einer Epoche ist, sondern eine weit prominentere, welche die Befürworter konstruktivistischer Epochentheorien im Sinn haben, die der Epoche ein ›fundamentum in re‹ absprechen. Auf den ersten Blick scheint die Annahme durch die schiere Größe desjenigen gestützt zu werden, was wir mit Epochennamen zu bezeichnen pflegen. Größe und Komplexität ihrerseits verleiten dazu, die Größe der Anstrengung auf Seiten der Beobachter als Ausweis der Konstruktivität zu erachten: Der Aufwand, der mit der nicht-Spontaneität der Vorstellung einhergeht, verleitet dazu, in der Arbeit selbst das eigentliche Fundament von Epochen zu vermuten. Sowohl diese Annahme als auch die Annahme, dass zunehmende Komplexität notwendig zu einer Abnahme an Wirklichkeitsbezug führt, sind falsch. Die oftmals gehörte Behauptung, Epochen seien 219 Bezeichnend setzt Plumpe den Anfang seiner systemtheoretisch informierten Epochengeschichte der Literatur auf 1770 an, da ja ältere Literatursysteme oder literarische Systeme (falls diese überhaupt als Teilsysteme von irgendetwas zu betrachten sind) sich nicht auf die »Leitdifferenz« literarischer Kommunikation »interessant/langweilig« reduzieren ließen; und ebenso bezeichnend endet die eigentliche Epochengeschichte mit der Avantgarde um 1930, da damit ja die Möglichkeiten funktionaler Ausdifferenzierung ausgereizt seien; vgl. Plumpe: Epochen moderner Literatur (wie Anm. 36), S. 232. 220 Vgl. Titzmann, Michael: Art. »Epoche«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (vgl. Anm. 20), S. 477: »Epochen sind theoretische Konstrukte der Geschichtsschreibung: Produkte von Periodisierungs-Hypothesen, durch die ein historischer Zeitraum in TeilZeiträume zerlegt wird.« 221 Boghossian bezeichnet dies als die »ganz gewöhnliche Vorstellung sozialer Konstruktion«; Boghossian, Paul: Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus. Berlin 2013, S. 23.
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›per se‹ nicht oder weniger ›objektiv‹ als andere Vorstellungen, ist nur schwer verständlich. Epochenvorstellungen beziehen sich auf Ereignisse und deren Beziehungen untereinander; mehr Objektbezogenheit geht nicht. Gewiss, unsere Vorstellungen von Ereignissen und Beziehungen sind mutmaßlich, das heißt die Qualität unserer Mutmaßungen hängt von der Richtigkeit unseres Wissens, der Überprüfbarkeit unserer Belege sowie der Widerspruchsfreiheit und Kohärenz unserer Argumente ab. Als großangelegte ›Entwürfe‹ sind Epochenvorstellungen aufgrund des Umfangs der bezeichneten Regionen und Perioden anfälliger für Irrtümer, Fehlbeurteilungen und ideologische Verzerrungen als andere synthetische Leistungen unseres Verstandes. So außergewöhnlich aber ist das nicht: Auch wer von der ›Erde‹ oder vom ›Himmel‹ spricht, der hat es mit sehr großen und sehr komplexen Gegenständen zu tun, und in der Regel dürfte einiges von demjenigen, was er oder sie sich unter ›Erde‹ und ›Himmel‹ vorstellt, falsch, irrig oder doch zumindest lückenhaft sein. Trivialerweise werden mangelhafte Vorstellungen eines Gegenstandes jedoch erst durch Hinwendung zu dem Gegenstand selbst in ihrer Mangelhaftigkeit erkannt. Wie so oft sollten wir also Gegenstand, Vorstellung und Ausdruck nicht verwechseln: Epochennamen sind objektiv in ihrer Funktion, Ereignisse und deren Beziehung in ihrem geschichtlichen Sein und ihrer geschichtlichen Entwicklung zu bezeichnen; als Ausdrücke, und nur als solche, sind sie konstruiert, da sie nicht als Gegenstand gegeben, sondern als Namen zur Bezeichnung von Epochen geprägt oder als bereits existente zu einer solchen Verwendung bestimmt wurden; sie beziehen sich schließlich auf höchst komplexe Gebilde, die sich entweder als bloße Konstrukte entpuppen (und folglich Irrtum, Lüge, Fiktion oder dergleichen sind), oder aber bis auf Weiteres für Vorstellungen stehen, die als Ganzes sowie in ihren Teilen und Beziehungen als real, das heißt auf der Erkenntnis eines bewusstseinsunabhängig existierenden Gegenstandes basierend erachtet werden. Der Verdacht, dass es sich bei Epochen notwendig um Konstrukte prominenter, nicht trivialer Art handelt, hat auf einen zweiten Blick sicherlich auch damit zu tun, dass hier eine Umkehrung des Verhältnisses von Genese und Benennung vorzuliegen scheint.222 Fragen wir bei der Erörterung von Identitätsproblemen gemeinhin danach, inwiefern ein Gegenstand x1 zu einer bestimmten Zeit t1 derselbe Gegenstand sei wie x2 zur Zeit t2, so ist bei Epochen die Dauer selbst nicht das Trennende,
222 Hacking spricht hier von »genetic fallacy«; Hacking, Ian: Two Kinds of ›New Historicism‹ for Philosophers (1988). In: ders.: Historical Ontology. Cambridge/Mass. 2004, S. 51–72, hier S. 63.
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welche das Persistieren zum Problem der Identitätsbestimmung macht. Persistenz scheint vielmehr gerade dasjenige zu sein, was hier behauptet wird, und zwar als das Vereinende, welches letztlich Gegenstände unter der Illusion ihres Gleichbleibens betrachtet oder repräsentiert. Der Verdacht liegt nahe, der performative Akt des Benennens schaffe so eine Identität, deren Existenz einzig aus dem Akt des Benennens hervorgeht. Die These, dass Epochen Resultate eines solchen »making up« sind,223 lässt sich, wie ich glaube, einzig auf die nicht triviale Ansicht zurückführen, dass Ereignisse und Beziehungen, welche die Identität einer Epoche bilden, vor unserer selegierenden und korrelierenden Tätigkeit irgendwie nicht existierten. Einiges spricht gegen eine solche Ansicht: Die Verwendung eines Epochenausdrucks, wir haben es gesehen, zeigt in erster Linie an, dass eine mehr oder weniger klar begrenzte Zeitdauer in einem mehr oder weniger klar begrenzten Raum als Einheit wahrgenommen oder erachtet wird und dass diese Identität einen Namen verdient. Diese Einheit der Epoche aber besteht nun ganz und gar nicht aus Teilen und Beziehungen zwischen diesen Teilen, die Historiker und Historikerinnen erfinden oder auch nur schon zu erfinden glauben. Weder Ereignisse, noch deren strukturelle Verbindungen werden auf dieselbe Weise hervorgebracht, wie es – um hier Hackings Beispiel zu verwenden – ein Handschuh wird.224 Wir haben es vielmehr mit einem Verfahren zu tun, das analog zur Bestimmung von Konstellationen in der Anordnung einzelner Lichtpunkte ein Bild erkennt. Unsere Wahrnehmung stützt sich hierbei auf Dinge, die da sind225 und darüber hinaus an einem Ort und in Distanz zu anderen Orten sind, die wir als einzelne und zusammen bei aller Subjektivität 223 Ein Begriff, den Hacking exemplarisch und kritisch zur Untersuchung von Konzepten mutmaßlich devianten Verhaltens eingeführt hat; Hacking, Ian: Making Up People (1983). In: ders.: Historical Ontology (wie Anm. 222), S. 99–114. 224 Hacking, ebd., S. 106f. 225 Haack, Susan: Die Welt des Unschuldigen Realismus. Das Eine und das Viele, Das Reale und das Imaginäre, Das Natürliche und das Soziale. In: Der Neue Realismus. Hrsg. von Markus Gabriel. Frankfurt/M. 2014, S. 76–109, hier S. 94: »Obwohl der Unschuldige Realismus die Vielfalt von Vokabularen anerkennt, in denen die Welt teilweise beschrieben werden kann, lehnt er den ehemals modischen magischen Sprachidealismus emphatisch ab, dem zufolge wir den Großen Bären oder den Pazifischen Ozean durch ihre Benennung erzeugt haben. Sicher, wir hätten diese Ansammlung von Sternen auch anders nennen können oder eine andere Gruppe von Sternen zusammenfassen können; wir hätten dem Pazifischen Ozean einen anderen Namen geben können oder den Teil des Ozeans, in dem unser Stamm fischt, als das ›Große Graue Wasser‹ bezeichnen können etc.; aber diese Sterne und dieses Gewässer gab es ohnehin, und es hätte sie sogar dann gegeben, wenn es niemals menschliche Wesen oder menschliche Sprachen gegeben hätte. Sicher, bevor es so etwas wie die deutsche Sprache gab, hat der Satz ›es gibt viele Inseln im Pazifischen Ozean‹ nicht existiert und war folglich nicht wahr; trotzdem gab es schon lange bevor es die deutsche Sprache gab, viele Inseln im Pazifischen Ozean.«
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unseres Standpunkts nicht als von uns hervorgebrachte, sondern als Ausdruck unserer realen Position und unseren realen Seins zu anderen realen Positionen und deren realen Seins erachten. Hierbei ist eine ungeheure Anzahl von Konstellationen möglich, die sich aus der Selektion und Korrelation wahrgenommener Sterne ergeben könnte, wobei jedoch klar ist, dass einige Anordnungen alles andere als sinnfällig und wohl kaum noch als Stern-›Bilder‹ bezeichnet würden. Geschichte kommt ohne Realität nicht aus, und dies ungeachtet des Einspruchs des ›new historicism‹, der es augenscheinlich geschafft hat, in fast schon rekordverdächtiger Zeit selbst Geschichte zu werden. Nicht von einer doppelten Kontingenz von Ereignis und Beobachtung des Ereignisses gilt es auszugehen, sondern vielmehr von der Ereignishaftigkeit von Ereignissen, die als vergangene notwendig sind. Historische Thesen und Theorien ganz ebenso wie deren Verifikation und Falsifikation rekurrieren massiv auf historische Quellen. Das heißt nicht, und dies gilt für alle Wissenschaften, dass historisches Wissen ein für alle Mal ›fest stehe‹; jede noch so sicher gewähnte Erkenntnis ist revidierbar, präzisierbar, ergänzbar und rekontextualisierbar. Historische Forschung ergeht sich nicht zuletzt darin, Ereignisse und ihre Erklärung als bloß vermeintliche und irrige zu diskreditieren und ihnen den Status historischer Fiktionen (der Vergangenheit oder Jetztzeit) zuzusprechen. Umso mehr mag es denn erstaunen, der apodiktischen Formulierung einer Geschichtstheorie zu begegnen, welche die Beziehung zwischen Realität und Epoche kappt: »Die Geschichtstheorie der letzten Jahrzehnte hat den Epochenbegriff radikal entontologisiert. Nicht der Welt der historischen Erscheinungen wird eine Geschichtsepoche wie die Frühe Neuzeit mehr zugezählt, sondern der Welt des Wissens; nicht in der Wirklichkeit wird sie aufgesucht, sondern in den Köpfen, wo sie die Wahrnehmung vergangener Wirklichkeiten strukturiert. Diese antiessentialistische Sicht des Epochenbegriffs ist heute in allen historisch arbeitenden Disziplinen etabliert. Keine Einigkeit herrscht hingegen über die Frage, welcher Status dem Epochenbegriff Frühe Neuzeit statt dessen zuzuschreiben ist: welchen Faktoren er sein Zustandekommen verdankt und welche Geltung er beanspruchen darf.«226
Ganz unabhängig davon, dass das Entontologisieren sich just zu einem Zeitpunkt in der Geschichtstheorie durchzusetzen scheint, wo ontologische Fragen in der Philosophie ein beträchtlich gesteigertes Interesse erhalten, bleibt unklar, was das »Entontologisieren« hier anrichten soll. Sind Epochen Kopfgeburten, und wenn ja, sind sie dies in anderer Weise als
226 Dürr, Renate, Gisela Engel und Johannes Süßmann: Einleitung. In: Eigene und fremde Frühe Neuzeiten. Genese und Geltung eines Epochenbegriffs. München 2003, S. 1.
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etwa dasjenige, was wir mit Ausdrücken wie ›Klima‹, ›Bundestag‹, ›Fahrgastrecht‹ oder ›Pappbecher‹ bezeichnen? Es ist wohl wahr, dass ›Klima‹ nur in unserer Rede und unserer Schrift existiert, doch ist es mehr als fraglich, dass dies auch für das Klima gilt. Und es ist ebenso wahr, dass Vorstellungen nur im Kopf existieren, doch sind solche Vorstellungen, falls sie keinen Objekten, Prozessen oder Eigenschaften in der Welt entsprechen, Irrtümer, Lügen oder Fiktionen; fiktiv nämlich werden Gegenstände und Ereignisse genannt, die entweder nicht existieren oder nicht existiert haben. Das Klima aber scheint bis auf weiteres zu existieren, und dies ungeachtet der Tatsache, dass unter dieser Bezeichnung eine unüberschaubare Menge von Ereignissen subsumiert wird und auch ganz unterschiedliche Vorstellungen von Klima in den Köpfen existieren. Und auch ein Pappbecher existiert, ungeachtet des Umstandes, dass von dessen Wahrnehmung, dessen Identifikation, dessen Vorstellung und dessen Bezeichnung trivialerweise nichts übrig bliebe, wären unsere Köpfe nicht. Aussagen wie die zitierte sind nur dann verständlich, wenn sie einem radikalen Idealismus ›à la‹ Berkeley in Hinblick auf ein allgemeines Erkenntnisproblem oder einer besonderen Skepsis gegenüber Epochen geschuldet sind, die zu ›entontologisieren‹ sich im Gegensatz zum Gros möglicher Referenten beliebig anderer Begriff lohnte. Zwar ließe sich aus der Folge des zitierten Passus die Vermutung ziehen, es lohne sich tatsächlich, und dies weil der »Begriff« der ›Frühen Neuzeit‹ ganz ebenso wie andere Epochennamen hauptsächlich zur Wahrung akademischer »Besitzstände« diene.227 Falls nun die Frühe Neuzeit tatsächlich nur in unseren Köpfen und dort hauptsächlich zur Wahrung von Besitzständen existierte, so erschiene es durchaus nachvollziehbar und gar empfehlenswert, die Frühe Neuzeit sowie andere Epochenvorstellungen aus unserer wissenschaftlichen Praxis zu verbannen. Das sehen die Verfasser der zitierten Zeilen jedoch anders: Die interessegeleiteten Epochenvorstellungen sollen nun ihrerseits als Gegenstände historischer Erkenntnis untersucht werden, und zwar als Gegenstände sozial-psychologischer Art, die es sich auf ihre Genese hin und als Teile einer »Erinnerungskultur« nun tatsächlich zu untersuchen lohne. Einmal von unserer Naivität befreit bezeichneten wir also ›sensu stricto‹ nichts, was die Frühe Neuzeit direkt beträfe, wenn wir ›Frühe Neuzeit‹ sagten, sondern vielmehr eine unter vielen Vorstellung zur Frühen Neuzeit, die selbst immer ›bloß‹ eine historische ist. Die historische Vorstellung aber sei im Gegensatz zu Gegenständen aktueller und naiver Vorstellungen als historische Vorstellung ein Gegenstand, dessen Untersuchung Erkenntnisgewinn verspreche. Was historisch nichts taugt, ver227 Dürr, Engel und Süßmann: Einleitung (wie Anm. 226), S. 1.
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spricht metahistorisch Erkenntnis. Es ist jedoch zu befürchten, dass auch diese Meta-Forschung Vorstellungen hervorbringt, die einzig in unseren Köpfen existieren. Aller Wahrscheinlichkeit nach dürften sich diese neuen Deponien akademischer Erinnerungslandschaften bald als der Erkenntnis hinderliche ontologische Altlasten erweisen; die Sanierung bleibt künftigen Generationen vorbehalten. 6.3. Epochen als Ermöglichungsgrund historischen Verstehens Wie die Dinge uns erscheinen, hängt in einem hohen Maße von unseren Einstellungen ab, doch hängt hiervon wohl kaum ab, ob es die Dinge gibt. Diese Einstellungen kennen unzählige Variablen; sie stehen in Beziehung zu unseren Interessen, unseren bewussten und unbewussten Vorlieben, unserer eigenen Lebensgeschichte etc. Mit Karl Mannheim lassen sich Einstellungen als Vorgaben paraphrasieren, durch welche quellengestützte Fakten in einen »Sinnzusammenhang […] eingestellt werden«.228 Doch nicht um den eigenen Einstellungen einen noch größeren Raum zu gewähren, sorgen wir uns um Epochen, sondern um eine Grundlage für eine möglichst objektive Erfahrung und ein möglichst objektives Verständnis historischer Ereignisse und damit auch fremder Einstellungen zu gewinnen. Die Epoche bietet, um es technischer auszudrücken, einen Rahmen, der uns Inferenzen ermöglicht und damit Aussagen zu Absichten, Interessen, Meinungen u.a.m. historischer Akteure. Inferierbarkeit in Bezug auf Handlungen bewahrt uns nicht nur in unserem Alltag vor radikalem Solipsismus, sondern stellt auch für historisches Verstehen eine notwendige Voraussetzung dar. Einzig weil – und immer auch wenn – wir den Verdacht haben, dass relevante Bedingungen für das Verstehen historischer Ereignisse sich im Verlauf der Zeit geändert haben, versuchen wir durch die Benennung von Epochen, diese Bedingungen mit Hinsicht auf Dominanten zu bestimmen, um eine ganze Reihe anderer Ereignisse zumindest ›ceteris paribus‹ behandeln zu können.229 Die Grundlage des Verstehens bildet unsere Fähigkeit, anstelle von Schlüsse zu ziehen, was wiederum erfordert, dass wir allgemeine Prinzipien des Schließens stillschweigend voraussetzen und diese in Verbindung mit unserem allgemeinen Weltwis-
228 Mannheim, Karl: Das Problem einer Soziologie des Wissens (1925). In: ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Hrsg. von Kurt H. Wolff. Neuwied, Berlin 1964, S. 308–387, hier S. 357. 229 Vgl. Jakob: Wissenschaftstheoretische Grundlagen sozial- und geschichtswissenschaftlicher Erklärungen (wie Anm. 177), S 114; Bartelborth, Thomas: Erklären. Berlin, New York 2007, S. 60–63.
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sen dazu verwenden, Ereignisse aus ihren Ursachen heraus zu erklären. Indem wir gleichbleibende Bedingungen von sich verändernden zu scheiden versuchen, präsupponieren und modellieren wir Vorstellungen von einer vergangenen Wirklichkeit, die gerne als ›Bezugsrahmen‹ bezeichnet wird. Der Rahmen steht für den Verdacht, dass die ›Umstände‹ sich geändert haben oder sich geändert haben könnten und dass diese mutmaßlichen Veränderungen einen hinreichenden Grund darstellen, Zeugnisse – soweit möglich – nicht wertend, sondern in ihren Wertungen zu betrachten. Er eröffnet einen ›Raum‹, worin Ereignisse als historische Ereignisse und also aus einem anderen als dem eigenen Standort betrachtet werden, und zwar mit dem Ziel, dadurch jene Geltungen von Zeugnissen erfassbar und erklärbar machen zu können, die sie für Zeitgenossen gleichsam als Insassen eines ›Rahmens‹ hatten. Ein solcher Rahmen liefert vorerst jedoch nur eine Metapher für die ebenfalls etwas metaphorischen ›Kontexte‹, die meist bloß den von Flasch zu Recht monierten Appell an »methodische Sorgfalt« in Erinnerung rufen sollen. Ein solcher Hinweis liefert keine Basis, sondern lässt sich auf die einfache Anleitung reduzieren, ›die Umstände zu berücksichtigen‹. Welche Umstände zu berücksichtigen sind und inwiefern sie es sind, ist damit nicht gesagt. In seiner Behandlung der Epochenfrage hat Hans Blumenberg den Versuch unternommen, diesen Rahmen transzendental zu begründen. Im Gegensatz zu Flasch versteht er die Vorstellung historischer Zeiträume nicht negativ als eine Einladung zu unzulässigen Simplifikationen, sondern vielmehr positiv als Ermöglichungsgrund historischer Erfahrung: »Denn das Problem der Epoche muß von der Frage nach der Möglichkeit ihrer Erfahrung her aufgerollt werden. Alle Veränderung, aller Wechsel vom Alten zum Neuen sind nur dadurch für uns zugänglich, daß sie sich […] auf einen konstanten Bezugsrahmen beziehen lassen, durch den die Erfordernisse definiert werden können, denen an einer identischen ›Stelle‹ zu genügen ist. Daß das Neue in der Geschichte nicht das jeweils Beliebige sein kann, sondern unter einer Strenge vorgegebener Erwartungen und Bedürfnisse steht, ist die Bedingung dafür, daß wir überhaupt so etwas wie ›Erkenntnis‹ von der Geschichte haben können. Der Begriff der ›Umbesetzung‹ bezeichnet implikativ das Minimum an Identität, das noch in der bewegtesten Bewegung der Geschichte muß aufgefunden oder zumindest vorausgesetzt und gesucht werden können. Für den Fall der Systeme von Welt- und Menschenansicht (Goethe) bedeutet ›Umbesetzung‹, daß differente Aussagen als Antworten auf identische Fragen verstanden werden können.«230
Blumenberg, dies wird deutlich, geht es nicht darum »the myth of the framework«231 weiterzuspinnen, den Popper zum Gegenstand seiner Kritik 230 Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle (wie Anm. 191), S. 17. 231 Popper, Karl: The Myth of the Framework. In: ders.: The Myth of the Framework. In Defence
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gemacht hat. Für Blumenberg ist dieser Rahmen vielmehr streng gefügt aus »Erwartungen und Bedürfnissen«, die so neben, oder besser: unter dem dynamisch Ereignishaften der Geschichte Bezugspunkte darstellen und den Wandel »zugänglich« machen. Der Rahmen erlaube es, »Erfordernisse« zu lokalisieren und so »Stellen« zu bezeichnen, denen die sich ändernden Elemente »genügen«, oder eben nicht genügen. Kurz, die Fragen verhalten sich verglichen mit den Antworten stabiler, da sie unmittelbarer in einer Anthropologie der Bedürfnisse gründen.232 Die Frage, ob zitierte Dokumente sowie fortbestehende Monumente (in welcher Form auch immer) in derjenigen Geltung, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt hatten, aufgrund einer überzeitlichen Richtigkeit weiterhin gelten, ist schlicht keine Frage, auf welche es der Geschichtswissenschaft als Geschichtswissenschaft ankommt. Weder hat die Geschichtswissenschaft einen absoluten Relativismus aller Werte und Erkenntnisse zu behaupten, noch geht sie von einer überzeitlichen Werthaftigkeit aus; ihr kommt jedoch die äußerst anspruchsvolle Aufgabe zu, dokumentierte Ereignisse zu erklären, indem sie diese zu anderen in Beziehung setzt. Da Ereignisse und ihre Beziehungen sich nun mal wandeln, dürfte der Nutzen von Epochen darin bestehen, dem »Anhalt von Orientierungen« nachzugehen, also die von Blumberg zitierte Frage des Pragmatisten »What genuine guidance does it give?« nicht nur für die Metaphorologie, sondern auch für die gesamte Epochenproblematik zu stellen.233 Der Preis aber, den wir hierfür bezahlen, liegt in einer recht voraussetzungsreichen Verpflichtung auf eine Anthropologie, die den Menschen als dasjenige Mängelwesen versteht, das ohne eine solche Orientierung nicht auszukommen vermag. Das Bedürfnis nach Wertorientierung gewinnt in einer solchen Anthropologie vielleicht zu sehr die Überhand über eine ebenso plausible Anthropologie, die von einer nicht minder basalen, zutiefst menschlichen Lust an Erkenntnis ausginge.234 of Science and Rationality. Hrsg. von M. A. Notturno. London, New York 1994, S. 33–64, hier S. 33f. Poppers Kritik gilt »frameworks«, die – aufgrund von »standards of mutual understanding which are unrealistically high« – als relativistische Hindernisse gegen die Möglichkeit des Verstehens ohne eine vorgängig gemeinsame Grundlage der Verständigung vorgebracht werden. Im Gegensatz hierzu verwendet Blumenberg »Bezugsrahmen« als eine Grundbedingung, die Verstehen trotz einer zeitlich und räumlich zerdehnten Kommunikationssituation ermöglicht. 232 Vgl. dazu Gabriel, Gottfried: Kategoriale Unterscheidung und ›absolute Metaphern‹. Zur systematischen Bedeutung von Begriffsgeschichte und Metaphorologie. In: Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie. Hrsg. von Anselm Haverkamp und Dirk Mende. Frankfurt/M. 2009, S. 65–84, hier S. 82f. 233 Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), S. 7–142, hier, S. 20. 234 Vgl. die Kritik von Gabriel: Kategoriale Unterscheidung und ›absolute Metaphern‹ (wie
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Mögen nun ›prima facie‹ zahlreiche Aussagen an Interessen gebunden sein, die uns u. U. schon längst nicht mehr leiten oder antreiben, so folgt daraus weder, dass wir die Interessen nicht nachvollziehen können, noch dass die Unterschiedlichkeit der Interessen es verunmöglicht, Aussagen und Denken vergangener Epochen zu verstehen. Alterität, wie auch immer wir sie verstehen, kann wohl kaum als Grund für Unverstehbarkeit herhalten, Alterität muss vielmehr als notwendige Voraussetzung erachtet werden, dass wir überhaupt verstehen wollen. Die Skepsis, die gelegentlich gegen die Möglichkeit, verstehen zu können, ins Feld geführt wird, gründet gemeinhin nicht etwa darin, dass wir etwas verstehen können, sondern vielmehr im Zweifel darüber, ob dasjenige, was wir verstehen, dem Gegenstand, den wir verstehen wollen, angemessen ist bzw. ob wir hinreichende Gründe benennen zu können glauben, dass wir einen Gegenstand angemessen verstanden haben. Dass ein Jeder und eine Jede in irgendeinem Sinne anders versteht, da er oder sie aus einer anderen Position und damit auch aus einer anderen Geschichte heraus ein bestimmtes Etwas versteht, ist erst dann eine beunruhigende Vorstellung, wenn ›das Gleiche verstehen‹ (was auch immer dies heißt) mit Verstehen schlechthin gleichgesetzt wird. Mitteilungen gründen in der Absicht, Anderen ein eigenes Anliegen zu vermitteln, und können somit – weder als Ziel noch als Voraussetzung – in der Gleichheit eben dieses Anliegens bestehen, da ein solches nur verstanden werden kann, wenn es als fremdes verstanden wird. Was jedoch klar scheint, ist, dass aus Sicht der Geschichtswissenschaft diese Anliegen für die Geschichtswissenschaftlerinnen und Geschichtswissenschaftler nicht mehr den Anleitungscharakter haben, den sie einmal hatten, sondern dass dieser Anleitungscharakter einer oder mehrerer Epochengrenzen zum Opfer gefallen ist. Historische Ereignisse zu verstehen, setzt nicht nur die Kenntnis von Ereignissen voraus, sondern auch begründete Vermutungen bezüglich der Interessen, die historische Akteure verfolgen, handle es sich nun um Individuen oder Gruppen. Um solche Vermutungen zu begründen, bedienen wir uns – berechtigterweise, wie ich glaube – »invarianter Generalisierungen«235, und wir tun dies gemeinhin ›ceteris paribus‹: Wir schließen basierend auf der impliziten Voraussetzung, dass Ereignisse auf normhafte Erwartungen hin erklärt werden können, immer vorausgesetzt, es interferieren keine relevanten Faktoren, die veranlassen, dass die zu erwarten-
Anm. 232), S. 83: »Dies gilt für die Rhetorik überhaupt, die Blumenberg zu stark an die Anthropologie bindet. […] Dagegen ist eine epistemische Rehabilitierung von Metaphorik und Rhetorik insgesamt zu setzen.« 235 Bartelborth: Erklären (wie Anm. 229), S. 93.
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den Ergebnisse eben nicht eintreten.236 In der Wissenschaftstheorie sind solche ›ceteris paribus‹-Argumente mehr als umstritten, machen sie doch Gesetze, welche Projektionen ermöglichen, eben gerade zu Aussagen, welche aufhören, Gesetze zu sein. Aufgrund der nicht restlos explizierbaren, regelhaften Elimination von Ausnahmebedingungen seien sie für Kausalerklärungen nicht eigentlich nutzbar.237 Wie wir uns auch immer gegenüber der Gesetzhaftigkeit von Gesetzen verhalten, als Zugang zu unserer Praxis des Präsupponierens erscheinen sie in der geminderten Form von Regelhaftigkeiten unverzichtbar. Nicht zuletzt zwingen sie uns in unserer Betrachtung der Geschichte, Relevanzannahmen zu begründen. Epochen können so als Inferenzgrundlagen, wenn auch immer vorläufige, erachtet werden, die dazu dienen, Normalitätsvorstellungen in epistemischer und pragmatischer Hinsicht zu artikulieren: Ein historisch und geographisch beschränkter Raum wird ausgelotet, das heißt doxatische Annahmen auf ihre Stärke und Häufigkeit hin bestimmt, dominante von eher randständigen Ansichten unterschieden, Erwartungen auf Ideologien zurückgeführt und das Zusammenspiel von äußeren Zwängen und den aus allen möglichen Überzeugungen hervorgehenden Absichten untersucht. Für historische Zusammenhänge nämlich gilt, was auch gemeinhin gelten mag: »the world is a messy place, and we need to invoke idealizations and approximations in order to describe it.«238
236 Spohn, Wolfgang: Law and Dynamics of Belief. In: Ceteris Paribus Laws. Hrsg. von Johan Earman, Clark Glymour und Sandra Mitchell. Dordrecht 2002, S. 97–118, hier S. 107– 111. Bartelborth: Erklären (wie Anm. 229), S. 62: »Insbesondere in den Sozialwissenschaften erwarten wir viele Einschränkungen durch C[eteris]P[aribus]-Bedingungen. In realen Situationen werden wir kaum psychische oder soziale Effekte in Reinkultur erleben, sondern oft eine Überlagerung von vielen Faktoren vorfinden. Dann benötigen wir starke CP-Klauseln für unsere Gesetze.« 237 Vgl. Schrenks Vorschlag eines ›downgrading‹ unserer nomologischen Ansprüche; Schrenk, Markus: Interfering with Nomological Necessity. In: Philosophical Quarterly 61/244 (2011), S. 577–597. 238 Lipton, Peter: ›All Else Being Equal‹. In: Philosophy 74 (1999), S. 155–168, hier S. 155.
II. Themenfelder 1. Theologie und Religion
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Wunderzeichen am Himmel und auf Erden Der frühneuzeitliche Prodigiendiskurs und dessen medientechnische Bedingungen* Der lateinische Terminus prodigium, der in der Frühen Neuzeit meist mit dem Wort Wunderzeichen (daneben auch mit Anzeichen, Drohzeichen, Mirakel, Vorzeichen, Warnzeichen, Wunderwerck, Zornzeichen u. dgl.) verdeutscht wurde, ist, trotz oder wegen seiner bis in die Antike zurückreichenden Geschichte, wenig prägnant.1 Im Folgenden soll, ohne auf die auch in der Frühen Neuzeit noch nicht abgeschlossene Wort- und Definitionsgeschichte näher einzugehen, unter prodigium / prodigia alles das gefasst werden, was als ungewohntes und deshalb Verwunderung auslösendes Phänomen am Himmel und auf Erden wahrgenommen wurde: prodigii mensura, est erroris magnitudo, wie Georg Stengel* schreibt.2 Quellenschriften, die der Zeit von beinahe drei Jahrhunderten zwischen Gutenberg und Zedler im deutschen Sprachraum erschienen3, bilden Hauptfundus und Leitfaden der folgenden Darlegungen. Doch sollen dabei auch solche Werke bedacht werden, welche zwar nicht im deutschen Raum entstanden sind, wohl aber stark in ihn hineinwirkten. Unter kommunikationsstrategischen Gesichtspunkten sind drei Quellensorten
* 1
2 3
Martin Scharfe in freundschaftlicher Verehrung zugedacht. Darüber geben zahllose Lexikon-Artikel Auskunft, u. a.: Beyer, Jürgen: Art. »Prodigien«. In: Enzyklopädie des Märchens 10 (2002), Sp. 1378–1388. – Distelrath, Götz: Art. »Prodigium«. In: Der Neue Pauly, Enzyklopädie der Antike 10 (2001), Sp. 369f. – Peuckert, Will-Erich: Art. »Vorzeichen, Prodigia«. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 8 (1937). Sp. 1730–1760. – Am wichtigsten für unsere Zwecke immer noch der Artikel »Wunder-Zeichen, Lat. Prodigia«. In Zedlers Universal-Lexicon, Bd. 59 (1751), Sp. 2149–2166. prodigii mensura, est erroris magnitudo, heißt es bei Georg Stengel*, S. 3, Sc. 26. Übers. vgl. unten, Anm. 37. Dazu das Quellenverzeichnis im Anhang. Die Namen der Autoren, die im Quellenverzeichnis im Anhang zu diesem Beitrag mit ihren einschlägigen Titeln aufgeführt sind, sind im laufenden Text selbst mit Asterisk (*) ausgezeichnet, um die Anführung der vollen Titel in Haupttext und Anmerkung zu vermeiden.
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zu unterscheiden: Flugblätter, Flugschriften und Bücher, die verschiedene Funktionen erfüllten und einander medientechnisch ergänzten. Regionalbezogene politische und konfessionelle Kalküle gingen in die Zurichtung der Publikationen ebenso ein wie Sprachwahl, Entscheidungen zur Illustration oder einer episodisch-narrativen Exemplifizierung. Eine Rekonstruktion des frühneuzeitlichen Prodigiendiskurses in medienhistorischer Perspektive wurde bislang noch nicht versucht. Es gibt jedoch wichtige Forschungsvorgaben, die durch empirische Ermittlungen und aspektspezifische Problemklärungen meinen Rekonstruktionsversuch erst ermöglicht haben. Solche Vorgaben bieten namentlich Barbara Bauer4, Klaus Bergdolt/Walter Ludwig5, Till Holger Borchert/Joshua P. Waterman6, Lorraine Daston/Katharine Park7, Irene Ewinkel8, Wolfgang Harms9, Wolfram Hogrebe10, Franz Mauelshagen11, Paul Michel12, Ru-
4 Bauer, Barbara: Die Rolle des Hofastrologen und Hofmathematicus als fürstlicher Berater. In: Höfischer Humanismus. Hrsg. von August Buck. Weinheim 1989, S. 93–117. – Dies.: Die Krise der Reformation. Johann Jacob Wicks Chronik außergewöhnlicher Natur- und Himmelserscheinungen. In: Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450–1780). Hrsg. von Harms, Wolfgang, Alfred Messerli. Basel 2002, S. 193–236. – Dies.: Die Bulle ›contra astrologiam iudicianam‹ von Sixtus V., das astrologische Schrifttum protestantischer Autoren und die Astrologiekritik der Jesuiten. Thesen über einen vermuteten Zusammenhang. In: Bergdolt/Ludwig (wie Anm. 5), S. 143–222. 5 Bergdolt, Klaus, Walther Ludwig (Hrsg.): Zukunftsvoraussagen in der Renaissance. Wiesbaden 2009 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, 23). 6 Borchert, Till-Holger, Joshua P. Waterman: The Book of Miracles. Das Wunderzeichenbuch. Le Livre des Miracles. Faksimile des Augsburger Manuskripts aus der Collection of Mickey Cartin. 2 Bde. [Faksimile und Kommentarband] Köln 2013. 7 Daston, Lorraine, KatharinePark: Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750. Aus d. Engl. von Sebastian Wohlfeil und Christa Krüger. Berlin: Eichborn 2002. (Zuerst engl.: Wonders and the Order of Nature 1150–1750. New York 1998). 8 Ewinkel, Irene: De monstris. Deutung und Funktion von Wundergeburten auf Flugblättern im Deutschland des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1995 (Frühe Neuzeit, 23). 9 Harms, Wolfgang, Alfred Messerli (Hrsg.): Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450–1700). Basel 2002. – Harms, Wolfgang, Michael Schilling (Hrsg.): Die Sammlung der Zentralbibliothek Zürich. Kommentierte Ausgabe: Die Wickiana. 2 Bde. Tübingen 1997–2005 (Deutsche Illustrierte Flugblätter des 16. Jahrhunderts, 6/7). 10 Hogrebe, Wolfram (Hrsg.): Mantik. Profile prognostischen Wissens in Wissenschaft und Kultur. Würzburg 2005. 11 Mauelshagen, Franz: Wunderkammer auf Papier. Die Wickiana zwischen Reformation und Volksglaube. Epfendorf 2011 (Frühneuzeit-Forschungen, 15). – Ders.: Netzwerke des Nachrichtenaustauschs. Für einen Paradigmenwechsel in der Erforschung der ›neuen Zeitungen‹. In: Johannes Burkhardt, Christine Werkstetter (Hrsg.): Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. München 2005 (Historische Zeitschrift, Beih. 41), S. 409–425. 12 Michel, Paul (Hrsg.): Spinnenfuß & Krötenbauch. Genese und Symbolik von Kompositwesen. Zürich 2013 (Schriften zur Symbolforschung, 16).
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dolf Schenda13, Michael Schilling14, Bruno Weber15 und Johann Heinrich Zedler16. Die Gesamtmasse der Quellen lässt sich nur ungenau angeben. Es ist von etwa tausend bis zweitausend Flublättern, 200–600 Flugschriften und ungefähr 60–100 Büchern auszugehen. Das Quellenverzeichnis am Ende des vorliegenden Beitrages präsentiert lediglich die autopsierte prodigienbezogene Flugschriften- und Buch-Literatur17. Autoren, die im Verzeichnis mit ihren einschlägigen Titeln aufgeführt sind, sind im fortlaufenden Text sowie in den Anmerkungen mit Asterisk (*) ausgezeichnet, um die wiederholte Anführung der Titel zu vermeiden. Forschungsliteratur wird nur in den Anmerkungen sowie im Gesamtverzeichnis der Forschungsliteratur am Ende dieses Bandes geboten.
1. Einleitung Das frühneuzeitliche Prodigieninteresse bewegte sich in einem szientifisch-vielwisserischen Raum unfester Kontur zwischen artes liberales und artes mechanicae, jenem Raum, der seit dem Spätmittelalter auch mit dem schillernden Titel der artes incertae bedacht wurde. Zu diesen artes incertae zählte man Astrologie/Astronomie, Dämonologie, Divination, Hermetik, Hieroglyphik, Historik und Historiographie, Schwarze und Weiße Magie (samt Zauberei und Hexerei), Mantik, Metereologie, Physiognomik (samt Chiromantie), Traumdeutung, Zoologie (vor allem Embryologie, Teratologie, Primatenlehre). Auf längere Sicht erwies sich dies große bewegte Gemenge von kirchlich beargwöhnten curiositas-Anstrengungen und akademisch nicht akkreditiertem Wissensbemühungen als Grundsuppe jener Naturwissenschaften, welche an Schulen und Universitäten noch keinen systemischen und praktischen Ort hatten, die aber – außerinstitutionell und 13 Schenda, Rudolf: Die deutschen Prodigiensammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. IV. Frankfurt/M. 1963, Sp. 637–710. 14 Schilling, Michael: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700. Tübingen 1990. 15 Weber, Bruno: Wunderzeichen und Winkeldrucker 1543–1585. Einblattdrucke aus der Sammlung Wickiana in der Zentralbibliothek Zürich. Zürich 1972. 16 Zedler, Johann Heinrich (Hrsg.): Universal-Lexicon, 64 Bde. Halle, Leipzig 1715–1750. [digit.] Darin verschiedene Artikel. 17 An dieser Stelle sei dankbar die enorme Digitalisierungsarbeit erwähnt, die die deutschen (nebst anderen europäischen) Altbestandsbibliotheken seit einigen Jahren leisten. Was da nun an frühneuzeitlichen Rara und Rarissima zu finden und in Sekundenbruchteilen auf den heimischen PC-Bildschirm zu holen ist, eröffnet unbekannte Übersichten und Einsichten und damit auch neue Forschungsterrains, die bis Ende des 20. Jahrhunderts niemand erahnte.
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sozusagen vom Rande her – in Sodalitäten und allerlei Akademien der Sozietätsbewegung18, teilweise auch an Fürstenhöfen (in alchemistischen Laboratorien sowie optischen und technologischen Experimentierstätten) allmählich Platz griffen. Gab es seit dem 12. Jahrhundert unter Kirchenleuten die Befürchtung, die Zeit der Sakralwunder, die Zeit jener mirabilia, welche als signa sanctitatis galten, schwinde oder sei gar schon vorüber19, so lässt sich der Aufstieg der prodigiösen Naturwunder als Gegenbewegung gegen diesen mirabilia‑Schwund lesen. Dies Gegeneinander von Heiligenmirakel und Naturmirakel grundierte die konfessionelle Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Protestanten (vor allem Lutheranern) im 16. und 17. Jahrhundert.20 Den antiken Prodigiendiskurs21, der durch Cicero*, Obsequens*, Palæphatus*, Plinius*, Valerius Maximus* u. a. markiert war, im 15. Jahrhundert wieder aufzunehmen22, gab es eine Reihe von Motiven, unter denen generalisierend fünf zu nennen sind, die die christliche Mirakel-Tradition gründlich durcheinanderbrachten: die Veränderung des Kosmosmodells (Copernicus, Galilei u. a.); die Veränderung des Erdmodells (Vespucci, Columbus u. a.); die Veränderung des Geschichtsmodells (Bibelkritik, Homerkritik, Mythenkritik); die Veränderung des Wahrnehmungsmodells (namentlich auf dem Gebiet der Optik) und vor allem die Veränderung des Kommunikationsmodells durch Bild- und Buchdruck und deren Folgemedien. Das Interesse an der Veränderung von Wunderdingen und ihres zeichenhaften Potentials ging durch alle Schichten der Bevölkerung aller europäischen Länder und aller Konfessionen; doch beteiligten sich nicht alle gleich stark an der Prodigienpublizistik. Wenn viele der Publikationen aus heutiger Sicht reichlich naiv, platt, frömmlerisch oder effekthascherisch anmu-
18 Vgl. Berns, Jörg Jochen: Zur Tradition der deutschen Sozietätsbewegung im 17. Jahrhundert. In: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Hrsg. von Martin Bircher u. Ferdinnd van Ingen. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 7), S. 53–73. 19 Dazu Schreiner, Klaus : »Discrimen veri ac falsi«. Ansätze und Formen der Kritik in der Heiligen- und Reliquienverehrung des Mittelalters. In: Archiv für Kulturgeschichte 48 (1996), S. 1–53, hier S. 20f. – Ders..: Zum Wahrheitsverständnis im Heiligen- und Reliquienwesen des Mittelalters. In: Saeculum. Jb.f. Universalgeschichte 17 (1966), S. 131–169. 20 Vgl. Ewinkel: De monstris (wie Anm. 8), S. 39ff. 21 Dazu Steinhauser, Karl: Der Prodigienglaube und das Prodigienwesen der Griechen. Ravensburg 1911. – Luterbacher, Franz: Der Prodigienglaube und Prodigienstil der Römer. Eine historisch-philologische Abhandlung. Burgdorf 1880. ND Darmstadt 1967. 22 Dröse, Albrecht: Von Vorzeichen und Zwischenwesen. Transformationen antiker Prodigiendeutung bei Brant und Luther. In: Grenzen der Antike. Die Produktivität von Grenzen in Transformationsprozessen. Hrsg. von Anna Heinze, Sebastian Möckel und Werner Röcke. Berlin 2014, S. 117–144.
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ten, so ist doch andererseits zu betonen, dass auch viele ›Intellektuelle‹, d. h. Gelehrte, Künstler und Theologen aller Konfessionen, brieflich (also gemeinhin nicht öffentlich) an dem Prodigiendiskurs teilnahmen. Das gilt für so unterschiedliche Köpfe wie Johann Valentin Andreae, Johann Arndt*, Francis Bacon*, Heinrich Bullinger, Girolamo Cardano*, Giambattista Della Porta, Martin Delrio*, Albrecht Dürer, Baptista Fulgosus, Athanasius Kircher*, Martin Luther*, Philipp Melanchthon*, Johannes Nauclerus, Paracelsus*, Johann Jacob Wick u. a. Bezeugt wird dies auch durch die thematische Streuung der in der Frühen Neuzeit zusammengetragenen fürstlichen und stadtbürgerlichen Sammlungen von Einblattdrucken zu prodigiösen Themen in Augsburg, Coburg, Dresden, Gotha, München, Nürnberg, Wien, Wolfenbüttel, Zürich und anderswo.
2. Prodigienarten Auf die Frage, welche Prodigienarten man in der frühneuzeitlichen Verunsicherungssituation23 denn beobachtete, kann zunächst schon unser Quellenverzeichnis (am Schluss) Auskunft geben. Denn Umfang und Detailreichtum der dort aufgelisteten Titel verraten viel über empirische Spannweite und Absichten ihrer Autoren. Hier einleitend aber sollen ein Prodigien-Katalog und drei programmatische Titelbilder Auskunft geben, an deren terminologischer und ikonographischer Vielfalt zugleich die damaligen Systematisierungsschwierigkeiten kenntlich werden. 2.1 Ein exemplarischer Katalog findet sich 1566 bei Christoph Irenæus*24: »Die Rutte aber oder Zornzeichen so Gott auffsteckt seind In der Lufft Parelia / viel Sonnen vnd Monden zugleich / grosse Eclypsos vnnd Finsterniss / Cometen / Staupbesen / Chasmata / Fewer glut oder klufft / Fewer flammen / Fewer stralen / Fewer- schissen / Fewerbrunst / Fewrige kugeln / fewer vnd Blutregen / Fewrige Schwert / Fewrige Creutz vnd andere Fewrige vnd Blutige zeichen vnd dergleichen. Jtem / Kriegsrüstung / Hereskrafft / Feldschlachten / Rennen / Treffen / Schlagen / Jemerlich krachen / Rasseln / Prasseln / Gedresch / Gedümmel /
23 Zur Verunsicherungssituation allgemein Michel (wie Anm. 12). Darin für unseren Problemzusammenhang besonders wichtig die Einführung des Herausgebers: S. 9–52. 24 Irenæus*: WasserSpiegel, Bl. Bijv-Biijr.
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Geschrey / Weheklagen / Ruffen / Winseln / Heulen in Lufften als etwa in einer Niderlage oder Feldschlachte. Etlicher Vogel grosse versamlung / die als zwey heer / wie in einer feldschlacht ein treffen miteinander thun / vnd einander allmachen oder ermorden. Jtem / Vngewonliche schreckliche grausame vngewitter / mit Donnern / Plitzen / Schlagen / Hageln / Schlossen / Graupen / Steinregen / etc. Jtem / Solche regen da frösche / Krotten oder Lurcken [d. i. Lurchen] vnd ander geschmeis mit fallen. Jtem / vngeheuer Sturm vnd Reissende winde / Sausen vnd prausen / Wüten vnnd Toben / Reissen vnd Schmeissen / als wolt der Wind alles vber einen hauffen stürtzen / grosse Baume aus der Erden mit Wurtzel vnd alles cum impetu mit grosser macht reisset / zu boden schlegt / zuschmettert vnd ein seltzam wunderlich Regiment in Geholtzen vnd Welden hat / Heuser / Gebew / vnnd spiitzen zu boden schlegt / vbereinander würfft vnd lest offt ansehen / als solt alles von des windes wüten vnd reissen vber einen hauffen vnd zu boden gehen. Auff erden vbermessige Ergiessung / Auslauffung vnd schwemmung der gewesser. Erschröckliche verwandlung der wasser oder ströme in blut vnd blutstropffen / so nicht naturlicher weise in etlichen dingen sich ereugen. Schreckliche vnd schedliche Erdbeben / Dauon offt die grundfeste der gebew erschottern / Stedte / Dörffer vnnd Heuser eingehen vnd versincken / wie die Historien bezeugen. Vngehewre seltzame Monstra / Hesliche misgeburt an Menschen vnd Vihe. Creutz vnd vngewonliche zeichen an Kleidern / Vnsinniger / Torichter vnd Rasender Hunde / in einander fallen / die einander grimmig zureissen. Grosse hauffen Hewschrecken / Schlangen / Nottern [Nattern] vnd der gleichen vnd andere Prodigia portenta Wunder vnd Zornzeichen / so vber natürlich oder wider den natürlichen vnd gemeinen lauff vnd gebrauch der Creaturn geschehen / ergehen / vnd sich zutragen. Solch Zeichen vnd Wunder / geschehen vnd ergehn aber nicht / wie die tolle Welt / Hans Vnuernunfft / vnd Claus Sorgenfrey / dauon vrteilt / krakelt vnd plaudert / on alles gefehr / plump oder zufelliger weise / Sondern aus sonderlichem rat / schickung / oder ja zulassung vnd verhengnis Gottes / Der nicht allein ein Schöpffer vnd Regierer aller Creaturn ist / der kan [Biij recto] sie entdecken / temperirn / verstellen / oder vorstellen lassen / seines freyen willens oder gefallens.«
Aus dieser Auflistung folgert der Pfarrer: »Vnd ob etliche fürgeben solche zeichen kommen her / vnd haben jren vrsprung aus natürlichen vrsachen / oder werden natürlicher weise geursachet. Lieber mensch / las gleich sein / das etliche zum theil sich verursachen / von den Constellationibus zusamenfügung vnd wirckung etlicher stern vnd planeten oder andern natürlichen vrsachen. So wil doch Gott das wir sie auch ansehen sollen / als sonderliche Zornzeichen / Busprediger vnd Warner / damit vns Gott neben seinem wort zukünfftige vnd fürstehende straff vmb vnser sünde willen / drawet vnd zeiget / Wie D. Luther schreibt [margin.: 2. Ger. Jenens. 114] / So viel grawsamer zeichen / so bisher beide an himel vnd auff Erden / geschehen sind / zeigen an das ein Gros vngluck vnd ein treffliche verenderung in Deutschland verhanden sey / wie wol wir vns leider wenig dran keren.«
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Bedenkenswert ist hier nicht nur die ebenso reiche wie diffuse Wunderzeichenmenge, die Irenæus notdürftig nach Ursprungsarten sortiert, sondern auch seine Folgerung: Wenngleich viele der Zeichen aus »natürlichen vrsachen« erklärbar seien, so wolle Gott doch, »das wir sie auch ansehen sollen / als sonderliche Zornzeichen«. Damit macht er − und viele fromme Autoren argumentierten damals wie er − die moralisch-frömmigkeitstheologische Effizienz der Zeichenerscheinungen gefeit gegen naturwissenschaftliche Ernüchterungsversuche. Was so gerettet wird, ist eine Schreckdidaktik, die mit Schreckbildern25 operiert. Der Schrecken der Bilder (territio imaginalis) wird, wie unten noch genauer darzulegen sein wird, physisch effektiv. 2.2 Titelblätter und Titelbilder Bei Flugschriften und Büchern, die den deutschen Prodigiendiskurs bestimmten, wurden die umfänglichen Verbalinformationen der Titeleien nicht selten durch Titelbilder komplettiert.26 Drei Beispiele mögen das verdeutlichen: das Titelblatt einer Obsequens-Ausgabe von 1551; der Titelholzschnitt einer Grünpeck-Flugschrift von 1507; schließlich der Titelholzschnitt des berühmten Prodigiorum ac Ostentorum Chronicon (1557) von Konrad Lycosthenes. Seiner Einfachheit wegen einprägsam ist der Titelholzschnitt der 1552 von Lycosthenes veranstalteten Obsequens-Ausgabe [Abb. 1]. In quadratischem Rahmen präsentiert er auf zwei Ebenen acht Prodigien: vier vor irdischer Landschaftskulisse und vier auf himmlischer Wolkenebene. Unten (v. l. n. r.) ein am Rücken verwachsenes Paar; daneben ein Zwillingspaar mit gemeinsamem Kopf; dann ein windhundartiges Tier mit Hals und Kopf eines Storchenvogels; und schließlich ein mit einem Stierkopf verwachsener Pferdeleib. Darüber in der Himmelszone ein Mond-Gesicht mit doppeltem Strahlenkranz; zwei menschengesichtige, voneinander ab-
25 Vgl Berns, Jörg Jochen: Bildterror. Wirkungsintentionen und Wirksamkeitsgrenzen von Schreckbildern, insbesondere in der Frühen Neuzeit. In: Die Bildlichkeit symbolischer Akte. Hrsg. von Barbara Stollberg-Rilinger und Thomas Weißbrich. Münster 2010 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Schriftenreihe des SFB 469, 28), S. 127–154. 26 Titelbilder bieten Cocles* (1546), Dasypodius* (1588), Fichtelberger* (1693), Fincel*, Bd. 3, Gretzer* (1584), Grünpeck* (1507, 1508, 1522), Leucht* (1614), Libertus* (ca. 1503), Licetus* (1634, 1665), Lycosthenes* (1557), Lycosthenes / Herold* (1557), Mennel* (1508), Obsequens* (1552), Praetorius* (1666), Reinzer* (1712), Schinbain* (1578), Stengel* (1647) und Wolff* (1600). − Es könnte aufschlussreich sein, die mnemotechnischen Interessen dieser Titelbilder herauszuarbeiten.
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Abb. 1: Bildtitelblatt zu Julius Obsequens, Prodigiorum Liber. Basel: Oporinus, 1552. – Anonymer Holzschnitt [BSB München, digit.].
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gewandte Mondsicheln; ein doppelt geschwänzter Komet und schließlich ein sterngekröntes Sonnengesicht, das sich in zwei einander zugewandte Gesichtsprofile spaltet. Das ist alles. Die in ihrer kombinatorischen Regelhaftigkeit evidente monstrositas ist ebenso lehrhaft einfach wie die der dann im Textcorpus selbst zusammengestellten Livius-Anekdoten. (Dazu unten mehr.) Der didaktische Anspruch des Titelholzschnitts zielt darauf, den Leser dazu zu befähigen, in Kenntnis der monstrositas-Regeln selbständig Prodigien am Himmel und auf Erden zu identifizieren und somit die Zeichen der Zeit zu erkennen. Schwieriger ist zu ermitteln, was Joseph Grünpeck* 1507 mit seinem zeichenreichen Titelholzschnitt dem Rezipienten mitteilen wollte. Der vielstudierte Mann27 (1473–1552), der als Priester, Mediziner, Astrologe, Historiograph und gekrönter Poet in Diensten Kaiser Maximilians I. stand, publizierte eine Fülle von Flugschriften zu prodigiösen Phänomenen seiner Zeit. Ihres politischen Anspruchs wegen ist seine Flugchrift Ein newe außlegung der seltzamen wunderzaichen vnd wunderpurden so ain zeyther im reich als vorpoten des Almechtigen gottes / auffmannende auffrüstig zeseinn wider die feindt christi vnd des hailigen reichs erschinen sein an al Kůrfürsten vnd Fürsten so auff dem reichstag zů Costnitz versamelt seinn gewesen [Abb. 2] besonders bemerkenswert. Die an die 1507 in Konstanz versammelten Reichsfürsten adressierte Flugschrift sieht Deutschland im Zentrum göttlicher Drohungen: »Wiewol die Ewig waißhait dye haimlichen bedeuttungen der seltzamen wunderzaichenn vnd wunderpurden [Wundergeburten] / so yetz Ain zeither vnder der reygirunng deß aller durchleuchtigsten [...] herrn Maximilianus Römischen kunigs etc. vnßers Allergenedigsten herrens / am himel vnd auff erden erschinen seyn / Jn irem göttlichen gemüt verschlossen kainen sündigen menschen nie grüntlich zewissen verhengt hat yedoch auß den gelegenhaiten vnd vmbstenden der töglichenn geschickten auch auß den alten historien vnd haimlichen offenwarungen mag clerlichen ab genomen werden das sy am maisten vber die tewtsch nacion / Als das haupt der christenhait sollen erfült werden. Wan so wir flaissig al historien der iuden haiden vnd christen überlesen finden wir so offt solch wunderzaichen am himel oder auff der erden erschinen seyn / Jn der selbigen gegend alweg ain grosse verenderung nach gevol[g]t hat / die weil dan die nach volgenden wunderzaichen Am maisten in den gegenden des reichs erschinen sein on zweyffel die bedewtungen werdert ůber das vollenden [...].« 28
27 Zu Grünpecks Wunderzeichen-Flugschriften Slattery, Sarah: Astrologie, Wunderzeichen und Propaganda. Die Flugschriften des Humanisten Joseph Grünpeck. In: Bergdolt /Ludwig: Zukunftsvoraussagen in der Renaissance (wie Anm. 4), S. 329–348. 28 Grünpeck*, Ein newe außlegung, Scan 3.
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Abb. 2: Bildtitelblatt zu Joseph Grünpeck, Ein newe außlegung der seltzamen wunderzaichen. Augsburg 1507. – Anonymer Holzschnitt [BSB München, digit.]
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Grünpecks Titelholzschnitt zeigt in einer nur auf den ersten Blick idyllisch anmutenden Vordergrundszene eine Mutter mit missbildetem Kind, rechts einen Gehenkten an einem Baum, links von Felssturz zerschmetterte Leiber, im Hintergrund die Silhouette einer befestigten Stadt; und über diesem locus terribilis ein Unwetter von sonderbaren Dingen: Steine unterschiedlicher Größe, Speere, dann aber sakrale Geräte wie Kreuze und Doppelkreuze, Monstranzen, Signete der aus der Passionsandacht bekannten Arma Christi29 – hier bestehend aus Geißelsäule, Rute, Kreuzesnägeln, einer Schwammstab und Lanze umfangenden Dornenkrone, daneben die Silberlinge, die Judas zum Lohn für seinen Verrat erhielt – ; und schließlich bricht links aus dem Gewölk eine Schar von Panzerreitern hervor. Wie diese Vielfalt von Signa zu ordnen wäre, ist unklar. Gewiss bilden die Arma Christi einen verständlichen Zeichenset, aber warum purzeln sie in kunterbuntem Durcheinander gemeinsam mit anderen geweihten und profanen Gegenständen aus dem Himmel? Und wie korreliert dies metereologische Geprassel mit den Schreckereignisse auf Erden? Grünpeck nennt im Text seiner Flugschrift für alle Himmelszeichen Erscheinungsdaten und lokale Zeugen, stellt Vermutungen an, was jedes Phänomen für sich bedeuten könnte, erklärt aber nicht, weshalb er sie im Titelholzschnitt kombiniert und wie sie denn, über ihre prinzipielle Warnfunktion hinaus, real oder symbolisch zusammenstimmen könnten. Größere Ordnungsangebote verspricht der Titelholzschnitt zu dem Prodigiorum Ac Ostentorum Chronicon (1557) des in Basel tätigen Philologen und Enzyklopädisten Konrad Lycosthenes [Abb. 3], das gleichzeitig auch in deutschsprachiger Version30 erschien und in beiden Formen vielfach aufgelegt wurde. Er zeigt in sechzehn Bildzellen, die in eine Säulenarchitektur einsortiert sind, Prodigia-Arten, die in den oberen und unteren Weltregionen (in superioribus & his inferioribus mundi regionibus) auftreten: In der obersten Bildzeile werden Himmelsereignisse visualisiert (v. l. n. r.): eine Überschwemmungskatastrophe; ein in den Wolken agierendes ritterliches Heer; ein Komet und schließlich ein gebäudezerstörendes Unwetter. In der zweitobersten Bildzeile ganz links ein in der Nabelgegend zusammengewachsenes Kinderpaar31; ganz rechts eine Harpyie (d. h. ein mythisches Zwitterwesen von Mensch und Vogel); in der zweituntersten Zeile ganz links ein Zentaur (d. h. ein mythisches Zwitterwesen von Mensch und Pferd); ganz rechts ein menschenähnliches Wesen, das 29 Berliner, Rudolf: Arma Christi. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, 3. Folge, 6 (1955), S. 35–152. – Suckale, Robert: Arma Christi. Überlegungen zur Zeichenhaftigkeit mittelalterlicher Andachtsbilder. In: Städel-Jahruch N.F. 6 (1977), S. 15–58. 30 Lycosthenes*, übers. von J. Herold*, 1557. 31 Ähnliche Einblattdrucke bei Ewinkel: De monstris (wie Anm. 8), Bildanhang.
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Abb. 3: Bildtitelblatt zu Conrad Lycosthenes, Prodigiorum Ac Ostentorum Chronicon. Basel: Heinrich Petri, 1557. – Anonymer Holzschnitt [BSB München, digit.]
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durch Flugblattpublikationen in ganz Europa bekannte ›Krakauer Monstrum‹, aus dessen Leib außer dem animalisch verzerrten Kopf an Brust und Bauch und Ellenbogen weitere tierische Köpfe wachsen.32 In der untersten Bildzeile dann eine von einem Erdbeben erschütterte Stadt; ein Wassermann (halb Fisch, halb Mönch); eine doppelgeschwänzte Seenixe und endlich eine Hydra (eine vielköpfige Schlange). Das Zentrum des Bildes bildet ein der Säulenarchitektur vorgeblendeter Tondo, der, gemäß der Johannes-Apokalypse, den auf dem Regenbogen thronenden Weltenrichter Christus mit Lilie und Schwert präsentiert. Der Tondo überschneidet vier Bildszenen, welche die wichtigsten Heilsmomente der Vita Christi zeigen, von links oben im Uhrzeigersinn: Christi Geburt; Christus am Kreuz; Auferstehung aus dem Grabe und endlich die Himmelfahrt. So weisen Prodigia und biblische Sakralwunder gemeinsam auf das Jüngste Gericht . Im Widerspruch zur strikten architektonischen Ordnungsvorgabe ist also auch auf diesem Titelbild eine Heterogenität der Bildsignets auffällig. Metereologisches steht neben Teratologischem, biblisch Sakrales neben Zwittergestalten der klassischen Mythologie. Es scheint nachgerade so, als sollten sich mythologische und teratologische Monstrositas wechselseitig legitimieren33. Die Rätselhaftigkeit der graphischen und schriftlichen Mitteilungen des Lycosthenes-Titelblatts wird auch nicht gemindert, wenn man Augustins klassische Definition (De civitate dei, lib. XXI, cap. 8, N°. 5.534) danebenstellt: »Sicut ergo nun fuit impossibile Deo, quas voluit, instituere; sic ei non est impossibile, in quidquid voluerit, quas instituit, mutare naturas. Unde illorum quoque miraculorum multitudo silvescit, quae monstra, ostenta, portenta, prodigia nuncupantur; [...] Monstra sane dicta perhibent a monstrando, quod aliquid significando demonstrent; et ostenta ab ostendendo; et prodigia, quod porro dicant, id est futura praedicant.«35
32 Vgl. Daston/Park: Wunder und die Ordnung der Natur (Anm. 7), S. 218f., Ewinkel (wie Anm. 8), Abb. 40 und 107. 33 Die detailliertesten Darlegungen zur Verwandtschaft von biologisch monströsen und pagan-mythischen Erscheinungen bietet 1647 der Jesuit Georg Stengel*. Prodigiendiskurs und Mythologiediskurs laufen im frühneuzeitlichen Europa nicht nur nebeneinander her, sondern überschneiden einander und verflechten sich. Zum Mythologiediskurs allgemein Berns, Jörg Jochen: Mythographie und Mythenkritik in der Frühen Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung des deutschsprachigen Raumes. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hrsg. von Herbert Jaumann. Berlin, New York 2011, S. 85–165. 34 Migne PL 51, Sp. 722. 35 Zu Deutsch: »Wie es Gott nicht unmöglich war, Naturen so zu bilden, wie es ihm beliebte, ist es ihm ebensowenig unmöglich, die von ihm gebildeten Naturen beliebig umzuwandeln. Daher auch die dichtgesäte Menge von unheimlichen Vorzeichen, die man monstra,
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Augustins Erklärung war aus mehreren Gründen für die Transposition einer pagan griechisch-römischen Prodigienlehre in eine christliche Prodigienlehre richtungsweisend. Am wichtigsten war dabei seine Behauptung, die natürlichen Daten der Schöpfung stünden nicht fest; Gott könne sie jederzeit ändern. Aus diesem Vermögen Gottes, die Schöpfung verändernd fortzusetzen, ergebe sich die Vielfalt der miracula, nämlich monstra, ostenta, portenta, prodigia. Unter diesen Mirakel-Arten wiederum sind die prodigia frömmigkeitsdidaktisch wichtig insofern, als sie Künftiges ankündigen. Laut Auskunft von Katalogen und Titelgrafiken treten Wunderzeichen also gemeinhin in einem Gemenge auf, dessen einzelne Codes zwar bekannt und deshalb dechiffrierbar sind, deren Zusammenfügung aber Absurdität produziert. Just solche Absurdität ist aber Beweis dafür, dass niemand anderes als eben Gott der Autor des Zeichengemenges sein kann: So erklärt beispielsweise Melanchthon* im Rahmen seiner ›Papstesel‹Flugschrift (1523) – auf die noch in anderem Zusammenhang zurückzukommen sein wird – die im monströsen Eselsfötus kombinierten Zeichen [vgl. Abb.10] seien derart greulich, »das nicht muglich were eynigem menschen solchs zuertichten, Sondern man sagen muß, das gott selb disen greuel also abcontrofeyt habe.«36 Ähnlich pronociert 1647 der Jesuit Georg Stengel*: »Itaque quo magis deviat, magis est monstrum; & prodigij mensura est erroris magnitudo.«37 Gott wird somit zum Autor einer Schreckbildnerei erklärt, deren Schrecklichkeit menschliche Phantasiemöglichkeiten übersteigt. Es wäre geradezu vermessen, die göttliche Greuel zu deuten. Gerechtfertigt sind menschliche Deutungsversuche allenfalls dann, wenn sie die Auslegungstechnik biblischer Exempla adaptieren. So reich und so diffus die schriftlichen und bildlichen Prodigienauflistungen sind, ist doch aber bemerkenswert, dass sich auf bestimmte Prodigienarten, wie sich an den Publikationsthemen und -mengen ablesen lässt, ein unterschiedlich starkes Öffentlichkeitsinteresse richtete. So bildete sich in der Zeitspanne vom späten 15. bis frühen 18. Jahrhundert zunehmend eine Interessenhierarchie heraus, die hier nur anzudeuten ist. Wenn man nämlich die thematische Gewichtung bei Prodigien-Fluglätostenta, portenta, prodigia nennt [...]. ›Monstra‹ heißen sie von ›monstrare‹: zeigen, weil sie etwas durch ein Zeichen anzeigen, ›ostenta‹ von ›ostendere‹: hinweisen, ›portenta‹ von ›portendere‹: ankündigen, also als bevorstehend ankündigen, ›prodigia‹ von ›porro dicere‹: im voraus sagen, also die Zukunft voraussagen.« In: Augustinus: Aurelius Augustinus Vom Gottestaat (De civitate dei). Aus d. Lateinischen übers. von Wilhelm Thimme, eingel. u. komm. von Carl Andresen. München 1977/1978, S. 697. 36 Melanchthon* (ed. Berns), S. 179. 37 Stengel*, S. 3 / Scan 26. »Je mehr also etwas abweicht, desto monströser ist es; denn das Maß des Prodigiösen ist die Größe der Abweichung.«
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tern und -Flugschriften, aber auch bei Buchtiteln quantifiziert, so sind zwei Prodigienarten publizistisch besonders stark vertreten: Kometen und Missgeburten. Das ist insofern bemerkenswert, als es sich hier um jene beiden Phänomengruppen handelt, welche am frühesten außermagisch und außertheologisch akademische Beachtung auf sich zogen und zu Herausbildung eigener Wissenszweige in Astronomie und Medizin führten. Generell ist zu konstatieren, dass Himmelsprodigien breitere Aufmerksamkeit fanden als irdische Prodigien, was dadurch bedingt gewesen sein dürfte, dass Himmelssensationen leichter von Kollektiven und potentiell von jedermann wahrgenommen werden konnten, während irdische Absonderlichkeiten – ein Kind mit zwei Köpfen, ein Vogel mit vier Beinen, ein von Schriftzeichen überzogener Fisch – ihres lokalen Auftretens wegen immer nur von wenigen Menschen in Augenschein genommen werden konnten. Das hatte medienpraktische Folgen: Irdische Prodigien und zumal Monstra waren zuvorderst deshalb abbildungsbedürftig, weil sie singulär an bestimmtem Ort vorhanden waren, sodass sie nur per Druckgraphik einem größeren Publikum vorgestellt werden konnten. Himmelsprodigien konnten, Erdprodigien mussten publizistisch aufbereitet werden. Himmelsprodigien bieten eine Art von himmlischem Theater, das nur in einer bestimmten dispositiven Ordnung wahrnehmbar ist. Adressaten prodigiöser Himmelsbotschaften sind immer bestimmte Menschen: ein einzelner Mensch, eine besondere Menschengruppe, z. B. eine Fürstenversammlung oder die Einwohnerschaft einer Kommune. Der Adressat weiß sich von dem göttlichen Zeichenproduzenten gesehen und ausersehen, und zwar schon kraft der Tatsache, dass er es ist, der die rasch vergänglichen Zeichen sieht, ja überhaupt sehen kann, an seinem Ort, während sie anderswo nicht gesehen werden können. Die Kinästhesie der himmlischen Zeichenkonglomerate erzwingt bestimmte psychische und physische Reaktionsweisen. Denn die Zeichen im himmlischen Wahrnehmungsraum verformen sich, wechseln ihre Lichtverhältnisse und interagieren. Sie sind unvorhersehbar, erscheinen plötzlich und unerwartet, sind nur kurzfristig und nur von einem bestimmten Platz unterm Himmel aus wahrnehmbar. Gewiss sind nicht alle Arten von Himmelsprodigien in gleicher Weise kurzlebig und flüchtig. Abnorme Sonnen- oder Mondveränderungen, aber auch Kometen sind meist stundenlang von großen Gebieten aus zu beobachten, Halo- und Nordlichtphänomene ebenfalls. Gewitter- und Regenbögen, auch wolkenabhängige Lichtstrahlbrechungen, unter welchen Lichtkreuze38 besondere Aufmerksamkeit fanden, sind hingegen standort38 Zum Phänomen der Lichtkreuze, die als Varianten der Kreuzesvision Kaiser Constantins
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Abb. 4: Hieb- und Stichwaffen in Wolken über Landschaft. Anonyme Holzschnittillustration aus Julius Obsequens, Prodigiorum Liber. Basel: Oporinus, 1552, S. 112. [BSB München, digit.]
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Abb. 5: Kämpfende Heere und kämpfende Löwen im Himmel zwischen Felsformationen, 1557. – Anonymer kolorierter Holzschnitt. [Wickiana Zürich; Fotovorlage: Bruno Weber, Wunderzeichen und Winkeldrucker , Zürich 1972, S. 58]
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Abb. 6: Kämpfende Kriegsschiffe im Wolkenhimmel über dem Meer bei Stralsund, 1665. – Anonymer Leipziger Kupferstecher [HAB Wolfenbüttel, Fotovorlage: Harms, Bd. I, Tübingen 1985, S. 429]
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Abb. 7: Riesige Uhr im Wolkenhimmel über Leipzig, 1562. – Kolorierter Holzschnitt von Hans Wolf Glaser, Nürnberg. [UB Zürich, Fotovorlage: Walter L. Strauss, Bd. I, New York 1975, S. 374]
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bedingt nur kurzzeitig sichtbar. Generell ist deshalb zu konstatieren, dass erdnahe Erscheinungen kinetisch und damit theatralisch eindrücklicher waren als erdferne wie Sonne, Mond und Sterne. Besonders selten und befremdlich weil phantastisch waren theatrale Himmelsphänomene, die keine Naturgegenstände oder sakralen Zeichen, sondern Artifizielles und Technisches ins Spiel brachten, beispielsweise Waffen [vgl. Abb. 4] oder auch ganze Militärformationen wie Ritter- oder Landsknechtsheere [ Abb. 5] und in Meeresnähe auch Kriegsflotten [Abb. 6], die in Wolkenzonen sich Schlachten lieferten. Selbst frei im Himmel schwebende gigantische Räderuhren will man gesehen haben [Abb. 7]. Zu den irdischen Prodigien zählten, wie dargelegt, auch Erdbeben, Überschwemmungen, massenhaftes Auftreten von Fröschen, Nattern, Mäusen, Vögeln oder Heuschrecken. Dass aber bei den irdischen Prodigien doch Monstren oder »Wundergeburten«, (d. h. teratologische Devianzen bei Mensch und Tier, gelegentlich auch bei Pflanzen) in Einblattdrucken vordringliche Beachtung39 fanden, war der Tatsache geschuldet, dass zum einen Probleme von Sexualität und Vermehrung tabuisiert waren und dass die Mensch-Tier-Grenze nicht so strikt galt wie in späteren Jahrhunderten. Die Geburt von missbildeten Kindern galt vielfach als Sündenindiz der Eltern und insbesondere der Mütter. Die Bezichtigungen reichten bis in Zonen des Sexualverkehrs mit Tieren oder Dämonen und spielten in Hexenprozessen eine wichtige Rolle.40 2.3 Zur Mensch-Tier-Grenze Die Mensch-Tier-Grenze wurde im 15. bis 17. Jahrhundert bei Begegnung mit bislang unbekannten Primatenarten immer wieder hinterfragt und neu justiert. Man diskutierte diese Frage aber nicht nur im Zusammenhang des eurozentrischen Expansionismus unter Kriterien der Versklavbarkeit und Missionierbarkeit, nicht nur als Problem des Exotismus, sondern auch als inneres Problem, als inversen Exotismus. Denn da begegneten nicht allein die ›Erdrandbewohner‹41, die seit Plinius und vermehrt seit dem zu erkennen sind, beispielsweise Leucht*, Viridarium, Bd. 2, Sc. 38f., S. 228f.; Sc. 51f., S. 242f.; Sc. 57f., S. 247f. – Zur Bedeutung der Kreuzesvision für den frühneuzeitlichen Wunderdiskurs Staubach, Nikolaus: In hoc signo vinces. Wundererklärung und Wunderkritik im vormodernen Wissensdiskurs. In: Frühmittelalterliche Studien 43 (2009), S. 1–52. 39 Dazu sehr aspektreich und gut dokumentiert Ewinkel (wie Anm. 8). 40 Vgl. beispielsweise Delrio*, Buch V; Goltwurm*, Teil VI. 41 Dazu Perrig, Alexander: Erdrandsiedler oder die schrecklichen Nachkommen Chams. In: Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Hrsg. von Thomas Koebner und Gerhart Pickerodt. Frankfurt/M. 1987, S. 31–88. – Pochat, Götz: Das Fremde im Mittelalter. Würzburg 1997.
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15. Jahrhundert in der Reiseliteratur eine große Rolle spielten, sondern auch alle vom europäischen Durchschnittstyp abweichenden Formen von Menschhaftigkeit42, wie beispielsweise relativ kleine Menschen (»Zwerge«, »Pygmäen«) oder relativ große (»Riesen«), Hermaphroditen, ›Haarmenschen‹ u. a., die man nicht selten in fürstliches Personal aufnahm oder im Porträt in »Wunderkammern« einsortierte. Dass die Diskussion um die Abgrenzbarkeit von Menschheit und Tierheit gerade in der Frühen Neuzeit merklich anschwoll, hat Gründe. Eine wichtige Denk- oder Verdachtsfigur war die, dass es zwischen dem äußersten Außen und dem innersten Innern der von Europa aus wahrgenommenen Welt eine spiegelbildliche Entsprechung gebe. Wo der Europäer (und das Christentum) samt seiner Lebenswelt als Maß galten, erschienen die in anderen Erdteilen heimischen Menschen und Tiere als deviant. Deviant konnten indes auch – unter bestimmten Bedingungen – die eigenen europäischen Menschen- und Tierkinder erscheinen. Dann nämlich, wenn sie der Durchschnittsnorm europäischer Menschen- und Tierphysignomik nicht entsprachen. Dass man eine Entsprechung von Exotismus und Endotismus, von exterioren und interioren Phänomenen noch bis ins 20. Jahrhundert hinein sah, zeigen beispielsweise Bezeichnungen wie »Mongolismus« oder »siamesische Zwillinge« für schon intrauterin auftretende Fehlbildungen an Menschenkindern. Die mediocritas-Maxime der klassischen Tugendlehre, der jedes Extrem als Teufelsverfallenheit galt, war es, die ein Spiegelungsverhältnis von Exteriorem und Interiorem, von Erdrandbewohnern und europäischen Uterusbewohnern, wahrzunehmen nicht nur ermöglichte, sondern erzwang. Wo die Götter der nichtchristlichen Völker den Christen allemal als Teufel gelten – gemäß Psalm 96, 5: omnes dii gentium daemonia – konnten und mussten beispielsweise die Amerikafahrer im Kult der Indios ihre eigenen aus den europäischen Kirchen bekannten Teufelsbildnisse wiederfinden43. Die Mensch-Tier-Grenze wurde indes nicht allein in empirischer Auseinandersetzung mit der Fauna und der Götterwelt der ›Neuen Welten‹ und deren Abgleichung mit den teratologischen Phänomenen im ureigensten Innern Europas, bis in den Uterus hinein, verfolgt und diskutiert. Vielmehr wurde diese Mensch-Tier-Grenze nicht von ungefähr auch in der Physiognomik des 16. Jahrhunderts planmäßig destabilisiert, wenn
42 Vgl. dazu die Titelblattikonographie der Neuen Welt-Beschreibung von allerley Wunderbarlichen Menschen (1666) des Johann Praetorius*. 43 Man vergleiche dazu Merians Graphiken in Americae Libri Quinque. Fünff Bücher von der Newen Welt. Frankfurt/M.: Siegmund Feyerabend/Dietrich de Bry, 1590–1600, passim.
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beispielsweise Giambattista Della Porta44 den Kopf eines Menschen mit dem eines Löwen, andere mit solchen eines Esels, einer Eule, eines Ochsen, eines Raben u. a. vergleicht.
3. Prodigienpublizistik 3.0 Die Autoren Fragt man nach sozialer Herkunft, Bildungsstand und beruflichem Status der Autoren45, die sich mit Prodigienproblemen befassten, so fällt zunächst auf, dass keine adeligen, sondern (neben wenigen Stadtschreibern und Chirurgen) fast ausschließlich akademisch gebildete bürgerliche Autoren das Wort nahmen; und unter diesen vor allem Theologen (aller Konfessionen)46, daneben aber auch Ärzte, Mathematici / Physici und Astronomen / Astrologen. Das politische Amt des Zukunftsdeuters, das sich vor allem im antiken Rom entwickelt hatte, fand in der Institution der Hofastrologen und Mathematici – zu nennen wären für der kaiserlichen Hof Maximilians I.47 beispielsweise Sebastian Brant48, Joseph Grünpeck*, Jacob Mennel* und Johannes Nauclerus – eine Fortsetzung. Die theologischen Prodigienautoren waren als Pfarrer sowohl auf dem Lande wie in Städten, gelegentlich auch bei Hofe anzutreffen. Sie artikulierten sich vor allem in Warnpredigten49, aber auch als Historiker. 44 Della Porta, Giambattista: DE HVMANA PHYSIOGNOMIA […] LIBRI IIII. Hannover: Guilielmus Antonius, Petrus Fischer, M. D. XCIII. 45 Zum Soziogramm von Flugblattautoren vgl. Schilling: Bildpublizistik der frühen Neuzeit (wie Anm. 14), S. 12–17. 46 Mindestens 24 protestantische (meist lutherische) Pfarrer sind unter den Autoren, nämlich Angelus*, Arndt*, Babst*, Caesius*, Camerarius*, Colerus*, Creutzer*, Duben*, Goltwurm*, Herrenschmid*, Hocker*, Irenaeus*, Lavater*, Licetus*, Luther*, Marbach*, Melanchthon*, Osiander*, Reinhold*, Rudolph*, Schleusinger*, Scultetus*, Stymmelius* und Theobald*. 47 Zur politischen Bedeutung der Prodigieninterpretation am Hof Maximilians Laureys, Marc: Die Bewertung der Prodigien und die Rezeption des Julius Obsequens im Humanismus des 16. Jahrhunderts. In: Hogrebe: Mantik (wie Anm. 10), S. 201–224, hier S. 203–205. 48 Dazu Wuttke, Dieter: Sebastian Brants Verhältnis zu Wunderdeutung und Astrologie. In: Festschrift Hugo Moser zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Werner Besch. Berlin 1974 (Studien z. dt. Sprache u. Lit. d. MA), S. 272–286; ders.: Erzaugur des Heiligen Römischen Reiches: Sebastian Brant deutet siamesische Tiergeburten. In: Humanistica Lovaniensia 43 (1994), S. 106–131. 49 Hierbei ist auffällig, wie nahe Prodigienpredigten und Feuerpredigten nach Argumentationshaushalt und rhetorischem Duktus einander verwandt sind. Zu Feuerpredigten vgl. Allemeyer, Marie Luisa: Fewersnoth und Flammenschwert. Stadtbrände in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2007.
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Mathematici / Physici / Astronomi50 waren hingegen zumeist als ›groß städtisch‹-kommunale oder fürstliche Bedienstete tätig. Von den in unserem Quellenverzeichnis aufgelisteten Autoren gehörten zu dieser Gruppe mindestens neunzehn Personen, namlich Acronius*, Bauhin*, Bosch*, Cardano*, Dasypodius*, Fincel*, Grünpeck*, Kircher*, Leowitz*, Lemnius*, Licetus*, Meurer*, Paracelsus*, Peucer*, Posner*, Ruf*, Schenck von Grafenberg*, Schinbain* und Weinrich*. Eine ansehnliche Riege! Sie zeigt, wie ernstlich empirische Naturwahrnehmung bereits erbauliche Naturbetrachtung, wo nicht verdrängt, so doch mit neuen Fragen konfrontiert. An Prodigien interessierte Ärzte waren vor allem an Universitäten, aber auch in Städten anzutreffen. Sie wurden als wissenschaftliche Fachleute für Genetik und in diesem Zusammenhang als teratologisch kompetente Deuter von körperlichen Fehlbildungen bei menschlichen und tierischen Geburten wichtig, so z. B. Cardano*, Posner*. Sie artikulierten sich fast ausschließlich in lateinischer Sprache, zogen zur Erweiterung ihrer empirischen Kompetenz selbst aber durchaus auch populäre Flugblattdarstellungen heran und ließen es zu, dass ihre gelehrten Abhandlungen von geschäftstüchtigen Verlegern in Volkssprachen übersetzt und erweitert werden, wie etwa an Lemnius* oder Posner* zu studieren ist. Die Autoren waren indes im Rahmen des Prodigienalarmismus nicht die einzigen und wohl auch nicht die wichtigsten Akteure. 3.1 Medienpraktische Kooperationen und Interaktionen Die prodigienpublizistische Produktion war, vor allem bei Einblattdrucken und Flugschriften, durch hohe Arbeitsteiligkeit gekennzeichnet. Augenzeugen als mündliche oder schriftliche Berichterstatter, textbearbeitende Redakteure oder Reimschmiede, Graphiker, Buchdrucker und Buchhändler hatten dabei in besonderer Weise zu kooperieren51 und sich allesamt einer Präventivzensur52 zu stellen. Dass ihre Interessen nicht allemal gleiche Ursachen hatten und nicht in die gleiche Richtung zielten, konnte zu Spannungen führen, die auch die Flugblattgestaltung selbst beeinflusste. 50 Im 16. Jh. wurden die drei Titel noch synonym gebraucht, mit Tycho Brahe (1546–1601) und Johannes Kepler (1571–1630) setzte sich der Titel (kaiserlicher) Mathematicus durch. Vgl. Barbara Bauer: Die Rolle des Hofastrologen und Hofmathematicus (wie Amm. 4), S. 93–117. 51 Dazu Michael Schilling: Bildpublizistik der frühen Neuzeit (wie Anm. 14); Bruno Weber: Wunderzeichen und Winkeldrucker 1543–1585 (wie Anm. 15). 52 Zur Präventivzensur von Druckgraphiken vgl. Jörg Jochen Berns (Hrsg.): Von Strittigkeit der Bilder. Texte des deutschen Bildstreits im 16. Jahrhundert, 2 Bde. Berlin, New York: De Gruyter 2014 (Frühe Neuzeit, 184, 1.2), hier Bd. 2, Nachwort, S. 1197–1211.
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Der Befund, dass von etlichen Prodigienphänomenen (nicht selten über Jahrzehnte hin) unterschiedliche graphische Darstellungen gefertigt wurden, bezeugt dies53. Damit nun aus dem situativ unterschiedlichen Zeichenempfang eine Flugblatt-, Flugschriften- oder gar Buchpublikation resultieren kann, wird von den Augenzeugen himmlischer Prodigien ein anderes Verhalten verlangt als von solchen irdischer Wunderzeichen. Denn dem Himmelsbetrachter obliegt es, die Zeichen am Himmel, die ihm an seinem Ort – ähnlich einer Vision54 oder Apparitio55 – widerfuhren, kundzutun und zu promulgieren: Er muss nach Empfang der flüchtigen Erscheinung anderen eine Beschreibung, eine Ekphrasis des bewegten Bildes liefern. Diese ist Voraussetzung für die Publikation. Die – sei es mündliche, sei es schriftliche, gelegentlich auch zeichnerische – Bildbeschreibung liefert der Augenzeuge, der oft namentlich genannt und in seinem sozialen Rang gekennzeichnet wird, sonst aber zufällig und ungeschult ist, an Fachleute, die sie dann druckgraphisch und/oder druckschriftlich umsetzen. Zwar gibt es viele Prodigienpublikationen, die ohne Bilder auskommen56, die also pur verbale Mitteilung blieben und lediglich verschriftlicht wurden. Größeres Aufsehen und besseren Erlös aber versprachen Publikationen, die bildliche und schriftliche Mitteilungen kombinierten. Einblattdrucke sind gemeinhin emblemartig dreigeteilt nach Inscriptio, Imago und Subscriptio. Der Graphiker hatte die verbale Beschreibung, gelegentlich auch eine zeichnerische Skizze57 des Prodigiumsempfängers oder auch die sprachlich elaborierte Subscriptio eines Redakteurs zu visualisieren. In diesem Transpositionsakt vom gesprochenen Wort ins ge53 Als prominente Beispiele dürfen das lutherische Mönchskalb und Melanchthons Papstesel, aber auch das Himmelstheater aus dem Sernftal, ein Priesterschwein und Dürers monströser Wildschweinfötus gelten. Verschiedene Beispiele auch im Kommentarband von Borchert/Waterman: The Book of Miracles (wie Anm. 6) und bei Bruno Weber: Wunderzeichen und Winkeldrucker 1543–1585 (wie Anm. 15). 54 Dazu ausführlich Dinzelbacher, Peter: Revelationes. Turnhout 1991 (Institut d’Études Médiévales. Typologie des Sources du Moyen Åge, 57). Siehe auch Ganz, David: Medien der Offenbarung. Visionsdarstellungen im Mittelalter. Berlin 2008. 55 Dazu Berns, Jörg Jochen: Himmelsmaschinen / Höllenmaschinen. Zur Technologie der Ewigkeit. Berlin 2007, besonders S. 189–251. 56 So z. B. die Schriften von Angelus*, Cæsius*, Delrio*, Fincel*, Frytschius*, Goltwurm* u. v. a. 57 Der Artikel »Wolcken« im Zedler (1748) berichtet von der phantasiefördernden Kraft bewegter Gewölkformationen: Dergleichen aber eigentlich nichts in der That vorgestellet wurde, sondern es waren nichts anders, als zerrissene Stücken Wolcken, wovon man aber mit Verwunderung sahe, wie der einfältige Pöbel schleunigst diese und eine andere Gestalt, auch nur mit Kreide auf einen Pfal oder Bret, zuweilen ins Schieferbuch abzeichnete, und hernach mit der Einbildung, was noch fehlete, supplirte.
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druckte Bild ließ sich nicht vermeiden, dass die Kinesis des prodigiösen himmlischen Bildgeschehens stillgestellt wurde. Plötzlichkeit, Kürze und Vergänglichkeit der theatralen Bildbewegung wurden aufgehoben. In manchen Drucken ist aber die performative Beweglichkeit und szenische Sukzession des prodigiösen Vorgangs dadurch angedeutet, dass mehrere Bildzonen durch Gewölkwülste umzirkt und hintereinandergeschaltet werden [vgl. Abb. 8]; wobei die Einhaltung der Leserichtung und manchmal auch die Einfügung von Zahlen [vgl. Abb. 9] die Bildfolge kenntlich hält. Auch durch den Suscriptiotext können Starrheit und Unbeweglichkeit des graphischen Flugblattbildes – zumindest teilweise – kompensiert werden, wenn die zeitliche Sukzession der Zeicheninteraktion reportagehaft oder bänkelsängerisch-balladesk58 bewusst gemacht wird. Bei der publizistischen Aufbereitung irdischer Prodigia hingegen sind solche Umständlichkeiten nicht zu beachten. Ein Erdbeben, eine Überschwemmung oder ein Kalb mit zwei Köpfen graphisch zu veranschaulichen bedarf es keiner großen Zeugenbemühung. Wie derlei aussehe und auszusehen habe, wussten die Graphiker ebenso wie die Graphikrezipienten aus eigener Anschauung oder aus bildlichen Darstellungskonventionen. Die Beobachtung eines prodigiösen Einzelphänomens stand also am Beginn der Fertigung eines Flugblatts oder einer Flugschrift. An der Pub likation waren nicht nur und oft wohl nicht einmal primär der Prodigienbeobachter, sondern die technischen Produzenten, d. h. Graphiker und Drucker, interessiert. Sie waren ihres Broterwerbs wegen darauf angewiesen. Das galt zumal für die Spezialgraphiker und ›Briefmaler‹59, deren Existenz bedroht war, weil mit dem Vordringen der Reformation und dem Zusammenbruch von Heiligenverehrung und Wallfahrtsbräuchen die Heiligenbildproduktion ruiniert wurde. Angesichts dessen konnte es nicht nur willkommen, sondern existenznotwendig sein, andere massenträchtige Graphikthemen und Mirakel neuer Art zu finden oder auch zu erfinden. Angesichts der durch Arbeitsteiligkeit bedingten Interessendivergenzen der Produzenten von Prodigienflugblättern und -flugschriften ist davon auszugehen, dass die graphischen Darstellungen von verschiedenartigen prodigiösen Phänomenen in unterschiedlichem Grade wahrscheinlich oder wahr sind. Eine graphische Monsterdarstellung, beispielsweise ein Fötus mit zwei Leibern und einem Kopf, konnte und musste realistisch sein; das teilt sich auch heutigen Betrachtern noch mit. Völlig anders steht es indes
58 Vgl. den Subscriptio-Text des Einblattdrucks (Abb. 8). 59 Dazu Bruno Weber (wie Anm. 15), S. 32–40, und Michael Schilling (wie Anm. 14), S. 13–14, 201–214.
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Abb. 8: Wolkengerahmte Wunderzeichen über Gravenhage und Willisau, 1647. – Anonymer Holzschnitt, Nachdruck von Bartholome Schnell in Hohenems, 1647. – [Einblattdruckslg., BSB München, digit.]
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Abb. 9: Drachen und Gebäude in den Wolken über Lanerstat (Lonnerstadt) bei Nürnberg, 1558. – Kolorierter Holzschnitt von »HW« [Wickiana Zürich; Fotovorlage: Bruno Weber, Wunderzeichen und Winkeldrucker , Zürich 1972, S. 82]
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um Wahrheitsanspruch und Glaubwürdigkeit der graphischen Darstellung von bestimmten aus Wolken- und Lichtkinetik gebildeten Himmelsprodigien. Denn da macht die Graphik Bewegtes zu Unbewegtem, Obskures zu Klarem, Diffuses zu scharf Profiliertem, kurz: Wahrscheinliches zu Wahrem. Zu konstatieren und schwer zu erklären ist, dass die europäischen und zumal die deutschen Menschen des 16./17. Jahrhunderts am Himmel in Höhe der Wolken und in diesen selbst Dinge sahen, die schon seit dem 18. Jahrhundert dort nicht mehr gesehen wurden und heute erst recht nicht mehr gesehen werden. Obschon das so ist, wäre es falsch, den Einblattdruckproduzenten zu unterstellen, sie hätten aus freien Stücken erfunden oder erlogen, was sie doch messerscharf per Holzschnitten oder Kupferstich sichtbar machten. Just die Schärfe ihrer Darstellungen von später nie mehr Gesehenen drängt zu der Behauptung, dass sie darstellten, was sie zu sehen befürchteten, mehr noch: was sie sehen mussten. Die beteiligten Personen – nämlich der Augenzeuge, der angesichts eines kinetischen Wolken-Licht-Arrangements eigene Erinnerungen und Assoziationen mobilisierte, die er einem Pfarrer, dem sogleich etwelche ähnliche biblischen Himmelsereignisse einfielen, mitteilte; oder die er vielleicht einem Flugblattredakteur metaphernreich schilderte, worauf diesem gleich irgendwelche ähnlichen Sensationsmeldungen ins Gedächtnis kamen; sowie endlich der Bildkünstler, der die Verbalmitteilungen in Kenntnis zahlreicher thematisch verwandter Darstellungen graphisch umsetzte – sie alle ergänzten, bestärkten und steigerten sich wechselseitig zu einer Verbildungs-Leistung, wie sie schärfer und damit veristischer nicht sein konnte. Bei dieser kollektiven und kooperativen Leistung spielte die noch junge Drucktechnik eine entscheidende Rolle insofern, als sie viele Menschen über weite Distanzen hin mit suggestiven Bildinformationen versah, durch die die Betrachter ihre eigene Wiedererkennungs-Kompetenz gesteigert sehen mochten. 3.2 Zur Nutzung der Prodigienbilder Zu bedenken ist dabei noch, dass die gemeine Bevölkerung im 16. und 17. Jahrhundert nicht nur analphabetisch schriftfremd war, sondern dass sie auch bildfremd insofern war, als sie artifiziell elaborierte Bilddarstellungen nur selten zu Gesicht bekam und dann, wenn das doch einmal der Fall war, deshalb leicht deren illusionistischer Suggestion erlag. Der tirolische Arzt Hippolyt Guarinonius macht das 1610 eindrücklich klar: »Außerleßne schöne Kupferstich, so gleich einem tuschwerck mit weiß und schwartz gar zierlich gestochen, und darinnen allerley, wie doch im mahlwerck
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ausser der farb gar künstlich angezeigt, und eins auß dem andern fürgebracht wird, das die Menschlichen augen dermassen einnimbt, das manicher nicht allein seines leyds und kummers, sonder auch der nothwendigen geschäften im fürüber gehen, so wol als seiner selbst vergißt, mit einem breyten offnen Maul, soliche ansehent betrachtet, und sich hart davon scheyden thut, Seytemal sein gemüt und gedancken durch die auß dem Gemähl scheinenden sachen, balt gen Himmel, bald durch wilde Bürg, jetzt durch Wälder, durch Wiesen und Acker, jetzt auf dem Meer, wider auf den Seen und Wasserstramen [Wasserströmen], widerumb auf dem Feld, über ein kleins in Kriegßwesen, und in kleiner zeit durch ein gantzen jammer unterschiedlicher örtern herumb fahrt, in jedem sich ein weil aufhalten, und sein Gemüt ergötzen thut, sonderlich da der seltzamen schönen Historien und Geschichten, oder der wolgesetzten geflügel oder Thier, [...] die scheinenden, glantzenden Wolcken, Luft, und dergleichen mehr künstlich angezeigt werden. Wann aber auch soliche vorgesagte ding mit den Farben gemahlen, und zierlich von und auß einander gescheyden sein, erst wird das Gemüt eingenommen, gefasst und dermassen sehr verzuckt, das man nicht allein, alles leyds und der geschäften vergessen thut, sonder auch bißweylen speiß und tranck nicht achtet, und wegen ansehen eines Gemähls, an einem Hauß oder sonsten in den Kirchen, der Mensch gleichsamb seiner selbsten nicht wahr nimbt, und wol so balt, mit den Füssen hin und herwider anstoßt, oder sonst mit gantzem Leib, an ein Eck oder Maur unachtsam anfehrt, oder auch die fürüber gehenden übersicht.«60
Die Prodigienbildproduktion kompensierte nicht allein die durch den Rückgang der Heiligenbildproduktion bedingten Verdienstausfälle der Graphiker, sondern auch den generellen Bildentzug, welchen das ›normale‹ Kirchenvolk durch das Vordringen des Protestantismus hatte hinnehmen müssen. Denn oft wurden in protestantischen Kirchengebäuden keine Bilder mehr geduldet.61 Nicht geklärt – und in der Forschung bislang nicht hinlänglich erörtert62 – ist damit freilich die Frage, auf welche Weise denn diese Mirakelblätter neuer Art genutzt und verwahrt wurden. Anders als Heiligenbildchen konnten sie ja doch im Hause keine Verwendung finden, konnten im ›Gotteswinkel‹ der Stube, über der Tür oder über dem
60 Guarinonius, Hippolytus: Die Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts. Ingolstatt 1610. Neudruck hrsg. von Elmar Locher, Bozen 1993, S. 185. Auch bei Berns (Hrsg.): Von Strittigkeit der Bilder (wie Anm. 49), S. 1026. 61 Zur Bildbeseitigung s. Norbert Schnitzler: Ikonoklasmus − Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklasisches Handeln während des 15. und 16. Jahrhunderts. München 1996. − Siehe auch Berns, Jörg Jochen: Der deutsche Bildstreit des 16. Jahrhunderts. Hinweise zu Kontur und Binnenstruktur. Im vorliegenden Band, S. 213–261. 62 Dazu trotz des vielversprechenden Titels leider nichts bei Griese, Sabine: Gebrauchsformen und Gebrauchsräume von Einblattdrucken des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. In: Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien. Hrsg. von Volker Honemann, Sabine Griese, Falk Eisermann und Marcus Ostermann. Tübingen 2000, S. 371–396.
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Bett keinen Trost spenden. Denn ihre Botschaft war doch alles andere als tröstlich. Sie war schrecklich. Ging es womöglich darum, einen individuell, punktuell erlittenen Schreck zu kollektivieren und im Kollektiv zu neutralisieren? Oder ging es darum, die individuell erfahrene Schreckbotschaft zu einer Warnung ans Kollektiv zu machen, bei der der primäre Schreckbotschaftsempfänger in die Rolle eines Visionärs schlüpfen konnte? Zu bedenken ist angesichts des Analphabetenanteils der Gesamtbevölkerung, dass die Flugblattexte in der Regel nicht allein gelesen, sondern zumeist vorgelesen werden mussten. Die Pictura fungierte beim gemeinschaftlichen Rezeptionsakt als Hauptattraktion des Blattes, die Textelemente (Inscriptio und Subscriptio) aber perspektivierten die Bildbotschaft politisch, moralisch, frömmigkeitsdidaktisch und gelegentlich auch naturwissenschaftlich. Die frömmelnde Sprache vieler Flugblattexte zwang den Vorleser in die Rolle eines pfäffischen Akteurs oder, wie die Texte etlicher anderer Flugblätter mit der Bemerkung »Zu singen nach der Weise von ...« signalisieren, in die eines Zeitungssingers – was dann auch ein Hinweis auf und eine Vorgabe für den heimischen Gebrauch des Blattes sein mochte: den nämlich, dass es mit Gesang vorzuweisen sei; wobei der Gesang die mnemonische Wirkung der Pictura festigte. Der Erwerb eines Flugblatts auf dem Markt oder bei fliegenden Händlern war, wie dann auch die Zusammenstellung von mehreren oder vielen Blättern, die Voraussetzung für die Fertigung von Flugschriften. Diese ermöglichten und versuchten eine höhere reflektorische Bearbeitung, welche, etwa in Strafpredigten63, frömmigkeitsdidaktischer Art sein konnte. Sie konnte aber auch durch Vergleich mehrerer gleichartiger Text- und Bild-Informationen zu naturwissenschaftlichen Erklärungsversuchen veranlassen. Beide, die Flublätter und Flugschriften, stellten so gemeinsam den empirischen Fundus, aus dem Bücher entstehen konnten.
4. Zur Theologie der Prodigien 4.0 Der Gott der Prodigien Wer ist nun aber jener prodigienreiche Gott, den der frühneuzeitliche Christ in Deutschland sich ausdenkt, weil er ihn braucht? Die Christlichkeit dieses Gottes ist dubios insofern, als seine biblische Beglaubigung
63 Solche Straf- und Warnpredigten bieten: Colerus* (1551), Creutzer*, Gretzer*, Herrenschmid* (1626), Leucht* (1583), Libertus*, Osiander* (1601), Reinhold* und Scultetus«.
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eher der Blutrünstigkeit des alttestamentlichen Jahwe als der neutestamentlichen Liebestheologie Jesu verpflichtet ist. Auch kleben ihm noch allerlei Unzulänglichkeiten der griechisch-römischen Göttersippschaften an. Nur deshalb nämlich kann er sich der Signa der antiken Mantik bedienen, die dann allerdings durch Signa des Alten Testaments und Signa des christlichen Rituals (Kreuze, Arma Christi, Monstranzen64) ergänzt werden. Unterstellt ist damit freilich, dass die Prodigien immer schon, zumindest in ihrem Grundbestand, dieselben waren, auch wenn sie von paganen Völkern falschen Göttern zugeschrieben worden waren. Unbezweifelt bleibt deshalb auch der zwingende Zusammenhang von Prodigium und Folgeereignis, gleichviel, ob er sich im antiken Rom, im alttestamentlichen Sodom und Gomorrah oder im frühneuzeitlichen Konstanz hergestellt hatte. Erinnert werden muss angesichts solcher Geschichts- und Theologemklitterung, dass bis ins 18. Jahrhundert hinein die Daten des antiken Mythos samt denen der Göttersippschaft der homerischen, hesiodschen und vergilschen Epik nicht als schlechthin falsch, sondern nur als Verzerrungen alttesstamentlicher Daten galten; als diabolisch initiierte Verzerrungen nämlich, deren verborgene Wahrheit zu retten sei, sofern sie anhand des wahren christlichen Wissens entzerrt würden65. Wer also ist dieser Gott, der da, um sich undeutlich zu verdeutlichen, Prodigien produziert? Aus prodigiösen Szenarien, wie sie die Einblattdrucke und die Exempellisten der Prodigien-chroniken zeigen, kommt jedenfalls kein Trost. Mitnichten können sie zu Orten der Sehnsucht oder zu Ausgangspunkten kontemplativer Betrachtung werden, aber freilich auch nicht zu Inszenierungsorten trügerischer Versprechen. Wohl aber bieten sie eine Warnungs- und Drohungstopik. Als solche eröffnet das Betrachten von ungewohnt Greulichem, Schrecklichem eine gewisse Chance zu Reflexion, zu Erkenntnis eigener Verfehlung und zu Hinwendung zu deren Korrektur. Das gilt allerdings nicht für die Prodigienflugschriften Melanchthons und Luthers. Sie nämlich hatten das dubiose Verdienst, prodigiöse Zeichen als Waffe im Kampf gegen die Papstkirche in Anschlag gebracht und damit gebräuchlich gemacht zu haben.
64 Vgl. den Titelholzschnitt von Grünpecks Flugschrift Ein newe außlegung, Abb. 2. 65 Dazu Berns, Jörg Jochen: Mythographie und Mythenkritik in der Frühen Neuzeit. Unter besonderer Brücksichtigung des deutschsprachigen Raumes. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hrsg. von Herbert Jaumann. Berlin, New York 2011, S. 85–155, und ders.: Art. »Mythos / Mythologie«. In: Der Neue Pauly, Supplement 9: Renaissance-Humanismus. Hrsg. von Manfred Landfester. Stuttgart, Weimar 2014, Sp. 657–670.
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Abb. 10: Bildtitelblatt zu Philipp Melanchthons Flugschrift Bapstesel (Augsburg: Heinrich Steiner, 1523); monströser Eselsfötus, der 1496 in Rom aus dem Tiber gezogen worden sein soll. – Holzschnitt nach Lucas Cranach d. Ä. [Foto: Kunstbibl. Berlin]
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Abb. 11: Bildtitelblatt zu Martin Luthers Flugschrift Das Münnichskalb zu Freiberg (Augsburg: Heinrich Steiner, 1523). – Holzschnitt nach Lucas Cranach d. Ä. [Foto: Kunstbibl. Berlin]
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4.1 Melanchthon & Luther Die Publikation der frühreformatorischen Doppelflugschrift unter dem Titel: Deuttung der zwo grewlichen Figuren Bapstesels zu Rom vnd Munchkalbst zu Freyberg in Meyssen funden Philippus Melanchthon Doct Martinus luther Wittemberg M.D.xxiij.66 hatte exzeptionelle Musterfunktion gewinnen können, aus mehreren Gründen. Zunächst natürlich der Stellung ihrer Autoren wegen; dann aber auch ihrer konfessionspolitischen Stoßrichtung wegen: als Kampfschrift gegen den römischen Papst und seine Kirche, die damit als monströs und als Kreaturen des Antichrist denunziert wurden.67 Sie erschien in vielen Auflagen, und ihre beiden Teile wurden oft auch getrennt gedruckt. Ihre Titelholzschnitte [Abb. 10 und 11], die aus der Werkstatt Lucas Cranachs d. Ä. kamen, wurden bis ins 18. Jahrhundert ungezählte Male als Einzelblätter nachgedruckt, wurden als Illustrationen (auch als Kupferstiche) in Bücher integriert und wurden auch variiert. Das Gemeinschaftswerk führte detailreich vor, wie Prodigien in einer aktuellen Auseinandersetzung denunziatorisch zu nutzen seien; führte vor, dass Gott der Autor dieser Monsterzeichen sei, die nun durch rechte Deutung der rechten Sache nutzbar zu machen seien. Für Gottes Autorschaft sprächen zwei Gründe: zum einen habe Gott »alweg [etwa: immer schon] sein gnade oder zorn durch etliche zeichen [...] furgebildet«68; zum anderen seien in diesem konkreten Fall die Zeichen derart greulich, »das nicht muglich were eynigem menschen solchs zuertichten, Sondern man sagen muß, das gott selb disen greuel also abcontrofeyt habe.«69 Der politische Adressat solcher Zeichen (und ihrer Deuter) ist jedoch nicht jedermann – jedermann ist lediglich und immerhin als Zeuge aufgerufen –, sondern, wie Luther ausführt, »sonderlich die herschaften« oder doch ein politisches Kollektiv: »So mag solch wunder nicht einen man oder person, sondern muß eingantzen haufen. eyn regiment viler personen bedeuten, wie aller wunder und gesicht art ist yn der [heiligen] schrift.«70 Auch gilt nicht je66 Text bei Luther WA, Bd. 11, S. 370–385; auch bei Berns (Hrsg.): Von Strittigkeit der Bilder (wie Anm. 52), Bd. 1, S. 177–190. 67 Vgl. Albrecht Dröse: Von Vorzeichen und Zwischenwesen. In: Grenzen der Antike (2014), wie Anm. 22. – Ewinkel (wie Anm. 8), S. 39–46. – Michael Schilling (wie Anm. 14), S. 62f. – Borchert/Waterman (wie. Anm. 4), Kommentarband S. 34–39. 68 Melanchthon, in: Berns (Hrsg.): Von Strittigkeit der Bilder (wie Anm. 52), S. 179. 69 Melanchthon, ebda. 70 Luther: Deutung des Mönchskalbs zu Freiberg, bei Berns (Hrsg.): Von Strittigkeit der Bilder (wie Anm. 52), S. 183–190, hier S. 189. – Ähnlich argumentiert auch Paracelsus* in seiner Philosophia Sagax. Je größer die soziale Wirkmächtigkeit einer Institution oder eines Menschen sei, desto eher würden diese mit Praesagia (Vorzeichen) versorgt: »Als ein Exempel: Wils ein Statt thun / so wird’s scheinbarer als von einem Dorff / ein Landt scheinbarer als ein Statt / grosse Herren / Fürsten / mehr als der gemeine Mann / Keyser / Könige
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des Prodigium überall, sondern es gibt einen strikten Lokalbezug: »Denn Gott allwege seyne zeychen an den orten schafft, da yr bedeutung heym ist«.71 Da der Eselsfötus in Rom aus der Tiber gezogen wurde, muss er sich auf das päpstliche Rom bzw. den römischen Papst beziehen, wie sich der in Deutschland vorgefundene Kalbsfötus auf Deutschland beziehen muß: Denn da »der gemeinen deutung nach yn allen wunderzeichen« gewiß sei, »das da durch ein groß unfall und verenderung zukünftig Gott zu verstehen gibt, der sich auch gewißlich deutschland versehen mag.«72 Überdies mehrten sich derlei Zeichen als Indizien dafür, dass der »Jungst tag« nahe sei: »Denn der zeichen bißher vil auf einander fallen und gleich alle welt in einer grossen woge steht.«73 Galten sonst Prodigien als enigmatische Warnzeichen, deren eigentümliche Kraft sich gerade in ihrer nicht ausschöpfbaren Vieldeutigkeit erwies, so haben nun Melanchthon und Luther kein Problem damit, die monströsen Zeichen so strikt und passgenau auf ihre theologischen und institutionellen Gegner zu beziehen, dass kein Rest mehr bleibt. In diesem Sinne konstatiert Melanchthon: »Also sehen wir, das dise figur mit der gantzen prophecey als Daniel viij. uber eyn kompt vnd beyde des Bapstums nicht umb ein har fehlen«74 Was die Papsteseldeutung mit der Mönchskalbdeutung aufs engste verknüpft, ist die biblizistische Deutungsfolie, die beide aus der Danielsprophetie gewinnen: aus dem 8. Kapitel, in welchem Daniels (schwer verständliche) Vision vom Widder und Ziegenbock beschrieben ist. So wird die alttestamentliche Tiervisionsszene zum typologischen Schlüssel, der beiden Fötenerscheinungen, während deren biologich-teratologische Erklärbarkeit von den Wittenbergern mit keinem Satz bedacht wird. Daniels Tiere Widder und Ziegenbock werden überdies noch durch Hiobs (41,7) Leviathan (für den Papstesel) und durch Aarons Goldenes Kalb (2. Mose 32, 4) flankiert, was den typologischen Beziehungsreichtum zwar vermehrt, aber auch verunklärt. Der Prodigiengott ist, wie auch die Darlegungen von Luther und Melanchthon bezeugen, ein schrecklicher, schreckfreudiger Gott, dessen Zuwendung zum schreckhaften Menschen sich in heilsamem Schreckein-
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aber mehr. Dann dermassen ist der Mensch geschaffen / daß sein Geburt vnd Sterben / Thun vnd Lassen / alle seine Werck vnd Wandel durch Vorboten angezeigt werden.« Theo phrastus Paracelsus: Bücher und Schriften, Bd. V. Hrsg. von Johannes Huser, Teil 10, Basel: Conrad Waldkirch, 1591, S. 192. Melanchthon: bei Berns (Hrsg.): Von Strittigkeit der Bilder (wie Anm. 52), S. 182. Luther, bei Berns (Hrsg.): Von Strittigkeit der Bilder (wie Anm. 52) , S. 185. Luther, ebda. Melanchthon, bei Berns (Hrsg.), Von Strittigkeit der Bilder (wie Anm. 52), S. 181f.
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jagen erweist. Welche psychische Disposition diese Schreckdidaktik beim Menschen voraussetzt, welche Rolle dabei eine genuine Hässlichkeit spielt und wie sich der göttliche Schreckstratege dabei womöglich des Teufels als dienstbarem Terrorspezialisten bedient, das sind Fragen, die die frühneuzeitliche Schrecktheologie gerne erörtert und variantenreich beantwortet.
4.2 Schrecktheologie Die Seelendiätetik der Prodigien meint das Einjagen eines heilsamen Schrecks. Heilsam ist ein Schreck dann, wenn er dem Erschreckten (und anhaltend Erschrockenen) eine Selbstkorrektur – nämlich Abbruch oder gar Rücknahme einer begonnenen Aktion − ermöglicht. Die Schreckpotenz eines Prodigiums besteht in seiner Unerwartetheit, zugleich jedoch auch in der jähen Erkenntnis, dass das Ich, das dieses Prodigiums ansichtig wird, gemeint sei, ja erkannt sei. Denn der, der des schrecklichen Zeichens ansichtig wird, weiß sich zugleich gesehen. Im Innewerden des Gemeintseins liegt der Schreck. In diesem Zusammenhang ist erhellend, dass die zur gleichen Zeit praktizierte juristische Schreckdidaktik psychologisch ganz analog verfuhr. Man baute ebenfalls auf die Imagination des Schreckadressaten, wenn man in Inquisitionsprozessen eine territio der oder des Angeklagten mittels Vorweisen von Folterinstrumenten anstrebte: »wenn dem Inquisiten der Scharffrichter mit denen peinlichen Instrumenten vorgestellet, [...] als sollte und wolter er ihn würcklich angreiffen, gedrohet wird, welcher jedoch solchenfalls noch unangegriffen zu lassen. [...] Wenn nun gleich diese blosse Schreckung, weil sie den Leib nicht peiniget, eigentlich keine Tortur ist; so hat sie doch zum öfftern mit der Tortur selbst gleiche Würckung.«75
Von Pfarrern freilich ließ man sich weniger leicht erschrecken, weil der Schreckwert der Instrumente, die sie vorzuweisen hatten, geringer war. Deshalb wurden viele Verfasser von Prodigienpredigten nicht müde, alle jene zu rügen, die sich nicht mehr erschrecken lassen: Sie seien in der Wohligkeit ihres sündhafen ›epikureischen‹ Lebens schreckresistent geworden, keinem Gott und nicht einmal einem Pfarrer mehr zugänglich76. 75 Zedler, Bd. 35 (1742), Art. »Schrecken, Schreck, Schreckung«, Sp. 1113f. 76 Der protestantische Pfarrer Angelus* klagt: »Die Epicureische Rott thut den Zeichen nicht die Ehr / daß sie darum auffstehen / ich geschweige / denen nachdencken oder nachlesen sollte.« (Scan 91) – »Irer etliche / die gar zu Naseweiß seyn / haltens nicht für Zeichen / sondern sagen mit dürren Worten / es gehe natürlicher Weise zu / dürffen auch wol solche jre Meynung mit vielen Argumenten beweisen.« (Scan 95). – Vgl. auch Goltwurm*, 1557, Scan 10, und Osiander*, 1601, Scan 10.
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In der Tat ergab sich ein grundlegendes Problem der frühneuzeitlichen Prodigienpublizistik aus der Frage, wie denn ein im Nu des individuellen Innewerdens erfahrener Schreck überindividuell vermittelbar und womöglich gar in Wort und/oder Bild perpetuierbar, speicherbar und damit wiederholbar gemacht werden könne. Diese wahrnehmungspsychologische und medienstrategische Frage stellte sich in Konsequenz der Gutenbergschen Revolution neu, ja im Grunde erstmals in dieser Schärfe. Und sie stellte sich dem berichterstattenden Augenzeugen anders als dem Flugblattgraphiker, dem Redaktor einer Neuen Zeytung anders als dem theologischen Verfasser einer Mahnpredigt, dem Historiker anders als dem Enzyklopädisten. Überdies war dabei zu beachten, dass die Schreckpotenz von himmlischen und irdischen Prodigien unterschiedlich groß war. Mehr noch als die anderen elementischen Räume war (und ist) der himmlische Luftraum Raum der Zumutungen Denn der himmlisch-überirdische Raum mag zwar schön sein, vor allem aber ist er schrecklich – schrecklich schlechthin. Gegen nichts nämlich können sich Erdenbewohner schlechter schützen als gegen himmlische Attacken. Im Himmel wohnen die Götter seit je, weil sie von dort her am besten Schrecken verbreiten können. Der absconde Gott, der hinter dem Himmelsprospekt lauert und vor ihm durch Bilder Schrecken verbreitet, agiert mit Bilddrohnen aus heiterem Himmel, um jeden, der nicht auf seinem technischen Niveau ist, zum Terroristen erklären. Mittels welchen Signalements das geschehen kann, zeigen Titelbilder und Flugblätter, indem sie dem Betrachter Absurdes und Hässliches zumuten. Die Versicherung, ein bestimmtes Phänomen sei ›erschröcklich‹, die sich in den Inscriptiones unzähliger Einblattdrucke findet, löst ja bei dem Leser keinen Schrecken aus. Anders ist es mit dem Inerscheinungtreten des ungewohnten Phänomens selbst – beispielsweise eines Monstrums – und vermittelt auch mit seiner Abbildung. Denn grundsätzlich ist alles Prodigiöse hässlich, weil in der Frühen Neuzeit alles Missratene, Abartige, Deviante als hässlich gilt. Die Darstellung von Deviantem, wie es die Prodigientexte und -bilder offerieren, ist ihrem Gestus nach grausam, latent sadistisch. und schlägt so auf den Darstellenden selbst zurück. In dem Maße, in dem er sich an der Grausamkeit weidet, verhässlicht sie ihn. Verhässlicht sie auch Gott? Oder setzt der den Teufel als seinen Spezialisten fürs Hässliche ein? Nicht von ungefähr sind Prodigienlust und Höllenlust, wie sie sich in der gleichzeitigen Höllenmalerei77 der Breughel, Bosch u.a. und durchgän-
77 Vgl. Arasse, Daniel: Bildnisse des Teufels. Mit einem Essay von Georges Bataille. (Aus d. Französ. von G. H. H.). Berlin 2012. – Berns, Jörg Jochen: Himmelsmaschinen / Höllenmaschinen (wie Anm. 55).
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gig in den frühneuzeitlichen Darstellungen der Versuchung des Hl. Antonius78 realisieren, eng verschwistert. Beide, die Prodigien- wie die Höllendarstellung, sind durch keine kirchliche Observanz und keine liturgische Tradition reglementiert. Was aber die Teufels- und Höllenmaler zeigen, hat mit dem moralisch-policeylichen Alarmismus von Prodigienpredigern nur wenig gemein: Wo die Maler die Freiheit zum Hässlichen als Erweiterung des Phantasieraums demonstrieren, emphatisieren die Prodigienfrömmler grausam Grausames und beschwören einen terroristischen Gott. Damit stellt sich die Frage nach der prodigiösen Energie des Teufels. 4.3 Zur prodigiösen Energie des Teufels Hinsichtlich der Hässlichkeits- und Grausamkeitsqualitäten, die dem Prodigienglauben inhärent sind, muss nach den Wirkungsmöglichkeiten des Teufels gefragt werden. Das wird in der frühneuzeitlichen Prodigienliteratur nicht von ungefähr ausführlich, aber konfessionell mit unterschiedlicher Stoßrichtung erörtert. Über die Konfessionsgrenzen hinweg ist man sich einig, dass der Teufel selbst (als gottgeschaffene Kreatur) nicht wirklich wundermächtig ist, sondern in bestimmten Zusammenhängen die Erlaubnis oder auch den Befehl erhält, Wunder zu vollbringen und Wunderzeichen zu setzen. Das alles wußten und lehrten freilich auch schon die Kirchenväter, auf die man sich gerne beruft. Indes ist das insofern eine vordergründige Argumentation, als Häss lichkeit und Schrecklichkeit von Prodigien ja mittelbar also doch von Gott veranlasst sind und von dem Teufel als Hässlichkeitsspezialisten lediglich umgesetzt werden müssen. Der Teufel selbst ist als monströses Kompositwesen – sofern er, was er nicht muss, in sinnlich wahrnehmbarer Gestalt auftritt – prodigiös. Mit Daniel Arasse zu reden: »Die überkommene Gestalt des Teufelsungeheuers zeigt sich ebenso bindend wie wirksam. Sie dient dazu, ein ›Bildnis‹ für die Niedrigkeit des Anderen, für den Anderen gegenüber Gott und den Andren gegenüber dem Menschen, für den Feind also zu entwerfen, zugleich aber erlaubt sie die Erinnerung daran, dass es möglich ist, ihn zu besiegen, das heißt, die Gemeinschaft der Erwählten nicht
78 Vgl.zu diesem Sujet den abbildungsreichen Ausstellungskatalog: Schrecken und Lust. Die Versuchung des heiligen Antonius von Hieronymus Bosch bis Max Ernst. Hrsg. von Michael Philipp. Bucerius Kunstforum Hamburg. München 2008. – Berns, Jörg Jochen: Antonius Abbas. Der Heilige der Imagination und seine Entdeckung durch die Maler des 15. bis 17. Jahrhunderts. In: Die Jagd auf die Nymphe Echo. Zur Technisierung der Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von dems. Bremen 2011, S. 335–372.
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zu verlassen, sofern man nur dem nicht folgt, der sie [...] verlassen hat79, der Diabolos.«80
Vier Hinweise dafür, dass Teufel mirakelfähig seien und Wunderzeichen wirken könnten, sieht Jodocus Hocker*. Der lutheranische Pfarrer und Teufelsspezialist behauptet in seinem zweibändigen Werk Der Teufel selb, dass 1. durch falsche Propheten und Zauberer Gott oder der Teufel angerufen und in ihr Handeln eingebunden werden könnten; dass 2. die Teufel als »Naturkündige Geister« in der Lage seien, »viel Wunderliche dinge aus der Natur zu wircken«, die dem gemeinen Mann unverständlich seien; »Zum dritten / geschehen auch Wunder vnd Zeichen / von dem Teuffel vnd seinem Gesinde / durch Gespenst vnd verblendung. Welche sich oben her wol ansehn lassen / als sein sie warhafftige Wunderwerck / sind aber in der Warheit nichts anders / denn eitel betrug vnd lauter spiegelfechten / Damit der Menschen sinne der massen geeffet [nachgeäfft] vnd betrogen werden / das sie meinen sie sehen / hören oder fülen dis oder das / das doch mit warheit nichts / sondern nur ein geplerr vnd gespenst des Teuffels ist.«81
Als eine 4. Art teuflischer Wunderzeichen gelten Hocker solche, die auf »eitel betrug« basieren, nämlich »solche Zeichen / welche nicht warhafftiglich geschehn / sondern durch kunst vnd behendigkeit also zugericht werden / das der gemeine Man anders nicht wehnet / denn es sey etwas / das doch nicht ist.«82 Die vier Punkte machen kenntlich, welche Arten von Wissen und Technik als teuflisch zu perhorreszieren waren: (schwarze) Magie; die außeruniversitär aufsteigenden Wissenschaften der Alchemie und Signaturenlehre; Wahrnehmungskritik und Ansätze von Psychiatrie; Sinnestäuschung und Illusionismus (beispielsweise durch Automaten und künstlich verlebendigte Sakralfiguren83). Dass Teufel seit altersher mit künstlich belebten Götterskulpturen operiert hätten, um Juden und Christen vom wahren Gott abzubringen, erläutern Hocker*, Goltwurm*, Angelus*, Arndt*, Paracelsus* am Baaloder Bel-Kult der Babylonier84 sowie an der Tradition der antiken Orakel,
79 Gemeint ist hier natürlich der Fall Lucifers. 80 Arasse: Bildnisse des Teufels (wie Anm. 77), S. 23. 81 Hocker*, Bd. II, Scan 35 / S. 20. 82 ebda., Scan 73 / S. 58. 83 Vgl. dazu Tripps, Johannes: Das handelnde Bildwerk in der Gotik. Forschungen zu den Bedeutungsschichten und der Funktion des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Hoch- und Spätgotik. Berlin 1998. – AUTOMATEN in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Grubmüller und Markus Stock. Wiesbaden 2003 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, 17) . 84 Arndt*, in Berns (Hrsg.): Von Strittigkeit der Bilder (wie Anm. 52), S. 937: »Hat der leidige
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um diese dann als Vorformen des katholischen Bilderkults und der Wallfahrtspraxis auszugeben.85 Die Wunderzeichen-Debatte bietet nicht von ungefähr just dort, wo sie diabolische Wirkungsmöglichkeiten diskutiert, konfessionstheologischen Streithähnen die Chance, jeweils den konfessionellen Widerpart und den von ihm favorisierten Mirakel- und Prodigientyp zu verteufeln. Gegen Bezichtigungen, wie sie angesichts von Heiligen-, Ablass-, Wallfahrts- und Gnadenbildwundern vor allem von lutherischen Pfarrern – eben Angelus*, Arndt*, Goltwurm*, Hocker* u.a. – gegen die Papstkirche vorgebracht wurden, verwahrten sich katholische Theologen wie Valentin Leucht* und Wilhelm Gumppenberg* mit vielbändigen Exempelsammlungen, um ein Gegengewicht gegen protestantische Prodigien-Kataloge zu schaffen. So wird die mit Heiligenkult verbundene traditionelle Wunderzeichenlehre reanimiert und nochmals breit und fast triumphal ins Feld geführt, wenn der bayerische Jesuit Gumppenberg* in den drei Bänden seines ›Marianischen Atlaß‹ nicht weniger als zwölfhundert wundertätige Marienbildnisse nach Herkunft, Ort, Wirkung und kultischem Status in kleinen Erzählungen vorstellt86; oder wenn der am Frankfurter Dom tätige, auch als oberster kaiserlicher Bücherkommissar der Frankfurter Buchmesse87 bekannte Teufel, der alles gute verderbet, auch seine fasche Magos, und seine Zeuberischen Samen mit unter geseet ; und seinen verfluchten Magis auch geleret , durch Zauberey bewegende zumachen, das Volck damit in Abgötterey zu verfüren. Daher hat seinen uhrsprung der verfluchte Abgott der Babylonier, der Bell, Baal, welcher bey tausent und sechs hundert Jaren, so lange die Babylonische Monarchia gestanden, für den rechten, wahren Gott gehalten, unter den Heiden. Denn es hat der Teufel dem König Nino eingeben , das er das bild seines Vaters Beli sollte aufrichten, und dasselbe, umb mehres ansehens willen, bewegent machen, als wenn es lebete. Dieses hat Ninus durch Zauberey zuwegen gebracht, und den Teufel in dasselbe Bildt beschworen, derselbe bewegte es, gab Red und Antwort aus jm, so oft man es fragte.« – Ähnlich auch Goltwurm*, Scan 555f., Hocker* II, Scan 74f. 85 So heißt es beispielsweise bei Angelus*, S. 43 [recte 53]: »Vnnd dieweil im Bapstumb bey dem Heiligthumb der Heyligen / vnd Ablaßkirchen / auff Anruffung der Jungfrawen Marien / oder anderer Heyligen / an den Örtern / da vorgeben worden / daß sie sollten gnädig seyn / offt Wunderwercke geschehen sind / vnnd aber die Anruffung der verstorbenen Heyligen auch eine lautere Abgötterey ist wider das erste vnnd ander Gebott / sollen wir es dafür halten / weil sie zur Bestettigung deß falschen Gottesdienstes geschehen seyn / daß es auch nicht Göttliche / sondern Teufflische Wercke seyn / wenn den Leuten ist geholffen worden.« – Vgl. auch Berns (Hrsg.): Von Strittigkeit der Bilder (wie Anm 52), dort Stellennachweise zu Baal und Beel im Namensverzeichnis. 86 Gumppenberg konstatiert in der »Vorred« zu Bd. I, dass die Wundertätigkeit der Marienbildnisse statistisch erhärtet sei (Scan 14): »Welcher aber vermaint / daß keine Wunderthätige Mariae-Bilder bey den Catholischen zufinden / bey welchen Gott durch Vorbitt Mariae wunderliche Gnaden verleyhe / der glaubet zugleich daß so vil hundet tausend / ja so vil Million der Catholischen / so vil hundert Jahr hero alle entweders betrogen haben / oder betrogen seyen worden.« 87 Dazu Brückner, Wolfgang: Der Kaiserliche Bücherkommissar Valentin Leucht. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens II (1961), Sp. 97–180.
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Valentin Leucht* in seinen acht Lustgarten-Bänden einen traditionellen Mirakel-Begriff in Anschlag bringt, indem er, von der Bibel ausgehend, auf alle Heiligenwunder (samt Hostienwundern, Reliquienwunder, Bildwunder etc.) zurückgreift88. Sein Mirakel-Begriff wird dadurch allerdings so weit, dass er diffus wird. Erkenntniskritische, imaginationskritische oder naturwissenschaftliche Interessen hat er nicht. Erwähnt sei aber, dass er am Ende von Band 1 etwa 50 Historien von jüdischen Hostienfreveln kolportiert, die allesamt in Lynchjustiz an den jüdischen ›Tätern‹ oder in umfassenden Pogromen an jüdischen Gemeinden ihre wundersame Rechtfertigung finden. Bemerkenswert ist ferner, dass in Bd. 2 alle erdenklichen Legenden um die acheiropoietischen Christus-Bildnisse nacherzählt werden und dass in Bd. 6 vergebliche Bemühungen Luthers und Calvins, sich durch eigene Wunderzeichen auszuzeichnen, nicht ohne Hohn vorgestellt werden. Theoretisch ambitionierter sind hingegen die Wunderlehren von Jesuiten wie Martin Delrio* und Georg Stengel*. Der als Dämonologe hochberühmte Delrio* fragt nach den Einwirkungsmöglichkeiten des Teufels auf die menschlichen Sinne und die Imagination (Buch 3) sowie nach seinen revelatio-Möglichkeiten im Rahmen von divinatio, d. h. nach den Chancen von dämonischen Offenbarungen im Rahmen von Wahrsagerei und Schadenszauber (Buch 4). Er baut damit eine systemische Brücke zum Hexereiproblem und befeuert die Hexenverfolgung (Buch 6). Georg Stengel* hingegen, der ein halbes Jahrhundert nach Delrio schreibt, ist nicht mehr auf Hexenverfolgung erpicht. Vielmehr erweist er sich mit seiner Abhandlung De Monstris Et Monstrosis [d. h. Widernatürlichkeiten] unter alle den frömmelnden und pathetisch mahnenden Prodigienerklärern nicht nur als fromm und gelehrt, sondern als scharfsinnig, ja witzig. Er eröffnet seine Erörterung mit der weitreichenden Frage, weshalb überhaupt von Monstern zu handeln sei – Cur de Monstris agendum?89 – , und beantwortet sie mit dem Hinweis, dass deshalb, weil alles Widernatürliche nur mit Gottes Willen überhaupt auftreten könne, es schon seiner Seltenheit wegen meditationswürdig sei und zur Kontemplation anhalte. Als monströs gilt ihm jeder Natureffekt, der durch Abweichung von der rechten und gewöhnlichen Gegebenheit entsteht. Je mehr etwas
88 In der Dedicatio zu Bd. 3 weist Leucht potentielle Einwände zurück (Scan 7): »Möchte aber jemand sagen / die Miracula vnd Wunderzeichen seyndt jetzt nicht mehr vonnöten / es ist genug daß wir das Wort / das Euangelium / den Gleuben haben / vnnd daß Christus hat Wunderwerck gethan? Antwort: Sie seyndt vonnöten / damit das Wort / das Euangelum / der Glaub an Christum / immer zu confirmirt / bestätiget / die Allmächtigkeit Gottes erkandt [...] werden.« 89 Stengel*, S. 1 / Scan 24.
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abweiche, desto mehr sei es als Monstrum zu bezeichnen. Denn Maßstab des Prodigiösen sei die Größe der Abweichung.90 Er entwickelt eine differenzierte religions- und kultgeschichtliche monstrositas-Lehre, in deren Rahmen er mythische Ungeheuer der heidnischen Antike umstandslos neben monströse Gestalten des Alten Testaments stellt. War das Motiv der Verwandtschaft von Mythologie und Teratologie schon vor ihm gelegentlich angesprochen worden, so kommt ihm doch das Verdienst seiner systematischen Entfaltung zu. Er befragt monströse Wesen der klassischen Mythologie mit nachgerade entmythologisierendem Interesse auf Herkunft und Funktion; so z. B. den Phoenix, Scylla & Charybdis, die Sirenen, Einhorn, Sphinx und Centauren (Cap. II). Er erörtert, ob und mit welchem Interesse Gott Monströses schaffe (Cap. III); er stellt fest dass Gott das Universum mit extremen Geschöpfen wie Zwergen und Riesen schmücke (Cap. IV); er fragt nach dem Anteil von Imagination bei monströsen Bildungen (Cap. V); fragt nach dem moralischen Nutzen von Monstra als »signa Dei« zwecks Mahnung und Heilung (Cap. VI); und in diesem Zusammenhang auch nach diabolischen Zeichen (Cap. VII); er fragt nach körperlichen Gebrechen als göttlicher Strafe (Cap VIII, IX); fragt nach der Qualität der Salzsäule (statua salis), zu der Lots Weib angesichts des Untergangs von Sodom und Gomorrha erstarrte, und nach Nabuchodonosor (Nebukadnezar), der in eine Bestie verwandelt wurde (Cap. X), nach den körperlichen Verwandlungen etlicher Heiligen (Cap. XI) und dann endlich nach den Motiven monströser Transfigurationen des Teufels, bei denen er vier unterschieden wissen will: Versuchung, Schreckenserregung, Bestrafung und Verbergen der eigenen Missgestalt.91 Auch Stengels Teufel handelt freilich letztlich nicht auf eigene Faust.92 Alles in allem sind die theologischen Leitlinien des Interesses an Prodigien, gleichviel ob sie Gott und seine Heiligen oder den Teufel und seine Magier in den Vordergrund rücken, nicht eben zukunftsfreudig oder gar mutig.
90 Stengel*, S. 2f. / Scan 25f.: »Est igitur Monstrum universim aliquid praeter naturam aditum, aut procreatum; vel, ut in scholis loquuntur, est effectus naturae, quis deviat a recta consuetaque secundum speciem, dispositione. Itaque quo magis deviat, magis est monstrum; & prodigii mensura, est erroris magnitudo.« 91 »Quarta monstrorum caussa diabolus se transfigurans, ut probet, terreat, puniat, & suam deformitatem detegat.« Stengel*, S. 384 / Scan 407. 92 »Malus daemon, simia Dei, producit & ipse monstra, Deo jubente, vel permittente; sed longe alsio fine. Id enim Deus facit, ut potentiam suam ostendat.« Stengel*, ebda.
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5. Prodigienhistoriographie Das frühneuzeitliche Prodigienschrifttum kennt zwei Hauptinteressen, die literarisch formprägend wurden: ein historisches Interesse und eines, das enzyklopädisch systemorientiert war. Beide Interessenrichtungen traten bei etlichen Autoren, ja selbst in einzelnen Werken auch kombiniert auf; und zwar zumeist so, dass einer systematischen Verortung eine historisch auflistende Phänomensammlung angefügt wurde.93 Christliche Geschichtsauffassung und Chronologie folgten auch in der Frühen Neuzeit wie bereits im Mittelalter noch biblischen Daten, die mit solchen der griechisch-römischen Epik und Historiographie verflochten oder zusammengeführt wurden. Weltzeit, Schöpfungszeit und Menschheitszeit waren dabei eins, waren in ihrem völker- und herrschaftsgenealogischen, europafixierten Raster so dicht, dass alle Daten namentlich belegbar, alle geschichtskonstitutiven Ereignisarten in biblischer und paganer Historie exemplarisch abrufbar waren. Die Teleologie, der christliche Finalismus, das auf eine mehr oder minder berechenbare Endzeit ausgerichtete Geschichtsbewusstsein war von der Kirche (oder den Kirchen) immer wieder reklamierbar und gehörte nachgerade zur propagandistischen Konstitution jedweder theologisch tiefer greifenden Erneuerung. So konnten und mussten Prodigien im Raum der Reformation als Endzeitsignale eigener Art wahrgenommen werden und eine im christlichen Abendland bislang nicht in vergleichbarer Intensität gepflegte, formenreiche Historiographie neuen Typs hervorbringen. Das Skandalon der Konfessionsspaltung löste, offen oder insgeheim auf allen Seiten, nicht nur Aggression, sondern auch Bedrückung, sublimes Schuldbewusstsein hinsichtlich eigenen Versagens und schließlich Angst aus. Prodigienorientierte Geschichtsmusterung mochte in diesem diffusen Zusammenhang eine Perpetuierung und Legitimierung individueller und kollektiver Angst bewirken, ließ sich vor allem aber einer Ergründung und Erklärung dieser Angst dienlich machen. Denn als entlastend, wenn nicht gar als tröstlich konnte empfunden werden, dass sich die Tradition der göttlichen Wunderzeichensprache bis an die Wurzeln der eigenen Geschichtsvorstellung – in christlich-patristischer, alttestamentlich-jüdischer und selbst noch paganmythischer Frühe – verfolgen und ins gemeinschaftliche Bewusstsein heben ließ. Die von vielen Gelehrten und ängstigungsfreudigen Predigern unternommene Anstrengung erwirkte eine Selbstpositionierung im final beschleunigten Zeitenlauf und ermöglichte damit ineins eine Aufwertung der eigenen Person, die so zum Propheten, wenn nicht gar zum Endzeit93 So z. B. bei Acronius*, Babst*, Frytschius*,
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beobachter nobilitiert wurde. Man profitierte von einem kollektiven, weil nicht mehr arkanen, sondern öffentlichen Visionarismus, der mit einem mehr oder minder wohlfeilen Alarmismus einherging. Die Endzeiterwartung ist konstitutiv für die Prodigienwahrnehmung und -beschreibung aller Autoren des 16. Jahrhunderts.
5.1 Die erstaunliche Karriere der Obsequens-Schrift Das historiographische Interesse fand seinen Prototyp in dem spätantiken Opusculum ›Liber prodigiorum‹ (auch ›Liber de prodigiis‹ / ›Buch der Vorzeichen‹) des Julius Obsequens (4. Jh. n. Chr.). Schwer erklärlich ist, dass dieses fragmentarische Schriftchen eines biographisch nicht fassbaren Autors, ein Schriftchen, dessen Spur durchs Mittelalter mangels handschriftlicher Zeugnisse sich nicht nachzeichnen ließ, in der frühneuzeitlichen Historiographie ausserordentlich effektvoll wurde.94 Die einzige Handschrift, auf der der von Aldus Manutius veranstaltete Erstdruck (Venedig 1508) basierte, ging bei oder nach der Drucklegung verloren. So dass die zahlreichen Drucke, die hernach verbreitet wurden – 29 allein im 16. Jahrhundert! –, sich einzig auf diese Ausgabe beziehen können.95 Das Büchlein bietet in zeitlicher Sukzession eine aus 72, meist nur wenige Zeilen umfassenden Abschnitten bestehende Faktenauflistung für die Zeitstrecke von 199 bis 11 v. Chr. Dabei werden jeweils zunächst der Erscheinungszeitraum, dann prodigiöse Phänomene in bunter Reihe (z. B. ein fünfbeiniges Kalb; ein Unwetter, das Politiker- oder Götterskulpturen umstürzt; ein Komet, eine Sonnenfinsternis u. dgl.) aufgezählt und abschließend dann politische Ereignisse (der Tod eines Politikers, eine militärische Niederlage, eine Hungersnot u. dgl.) aufgeführt. So theoriearm und lakonisch die Faktenpräsentation der Schrift erscheint, wurde sie doch für frühneuzeitliche Prodigieninteressenten in mannigfaltiger Hinsicht anregend. Aus ihr nämlich konnten sie lernen, dass ein Prodigienhistoriker nicht selbst Augenzeuge des dynamischen Phänomenzusammenhangs sein müsse, ja dass es ihm zur Realisierung eines wie immer gearteten theo-
94 Laureys: Die Bewertung der Prodigien, in: Hogrebe: Mantik (wie Anm. 10), S. 201–224, warnt davor, die Wirkung der frühneuzeitlichen Obsequens-Editionen zu überschätzen; allerdings lässt er deren Illustrationsdidaktik und die Urteilssammlung von Oudendorp* (Scan 57–59) unbeachtet. 95 Vgl. Alex Nice: Text, Commentary, and Bibliography of Julius Obsequens Book of Prodigies, Liber Prodigiorum. 2010. In: www.alexthenice. com/obsequens/ [Abruf: 13.7.2015]. – Die philologisch reichste frühneuzeitliche Ausgabe ist die von Frans Oudendorp* (Leiden 1720).
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logischen Demonstrationszusammenhanges geboten sei, aus komplexeren Geschichtsdarstellungen – beispielsweise solchen von Livius96 – Vorfälle zu selegieren und nach seinen Gesichtspunkten auf eine (neue) Reihe zu bringen. Somit verfuhr Prodigienhistoriographie von Anfang an selektiv pointillistisch und war ihrem Wesen nach additiv kombinatorisch. Das bestätigt variantenreich auch die frühneuzeitliche Prodigienhistoriographie: Da gibt es etliche Schriften, die das Obsequens-Modell in Gänze imitieren und einen Prodigien-Catalogus schon im Titel annoncieren97, andere versprechen Chroniken98, wieder andere Geschichten99, noch andere Zeitbüchlein, Historische Spiegel, Historische Discurse, auch Practica oder Prognostica. Etliche beschränken sich auf eine annalistische Auflistung bestimmter Prodigienarten wie beispielsweise auf die von Kometen100, von Monstra101, von Kriegen und Siegen102; wieder andere spezialisieren sich auf Wunderzeichenerscheinungen in einem engen Zeitraum, der ihnen selbst nahe ist, oder auf solche, die in einem begrenzten Gebiet (einer Stadt, einem Territorium) zu beobachten waren. Über solche Einflüsse hinaus wuchs dem Obsequens-Text im deutschsprachigen Raum aber besondere Bedeutung zu. Das lässt sich an drei frühneuzeitliche Ausgaben des Liber prodigiorum ablesen, die das Interesse an Obsequens steuerten: die von Beatus Rhenanus* (1514), Konrad Lycosthenes* (1552) und Frans Oudendorp* (1720). Der Straßburger Humanist Beatus Rhenanus* bot seine knapp 20 Seiten starke Obsequens-Ausgabe103 in Straßburg ohne Vorwort und Kommentar in einem Sammelbändchen, das auch den Traktat De viris illustribus in re militari von Plinius Secundus und Suetons Abhandlung De claris Grammaticis, & Rhetoribus enthielt. Die Ausgabe des Leidener Historikers Frans Oudendorp* von 1720 war dann lange die philologisch maßgebliche, weil sie das
96 Obsequens entnahm seine Exempla Livius, vgl. Rosenberger, Veit: Gezähmte Götter. Das Prodigienwesen der römischen Republik. Stuttgart 1998 (Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien, 27); Schmidt, Peter Leberecht: Iulius Obsequens und das Problem der Livius Epitome. Ein Beitrag zur Geschichte der lateinischen Prodigienliteratur. Wiesbaden 1968 (Akademie der Wiss. u. Literatur, Abh. d. Geistes- u. Sozialwiss. Klasse 5, 1968); Luterbacher, Franz: Der Prodigienglaube und Prodigienstil der Römer. Burgdorf 1880. 97 So z. B. Duben*, Frytschius*, Gesner*, Irenæus* und Licetus*. 98 So zwei anonyme Schreiber, aber auch Cæsius, Lycosthenes (1557), Lycosthenes/Herold. 99 Nämlich Angelus, Colerus, Schinbain, Sorbinus und Stymmelius. 100 So Cæsius, Dasypodius, Leowitz, Meurer, Praetorius (1578), Schinbain, Schleusinger. 101 Nämlich Bauhin, Bosch, Irenæus (1585), Lemnius, Licetus, Posner, Ruff, Schenck von Grafenberg, Stengel, Weinrich. 102 Leucht*: Speculum Historicum (1599). 103 Beatus Rhenanus*, fol. XXIIIv-XXXVv.
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bis dahin akkumulierte Kommentarwissen in einem Buch präsentierte, das nun fast 340 Seiten zählte. Wirkungsgeschichtlich am wichtigsten aber wurde die Ausgabe, die zwischen diesen kargen und oppulenten Ausgaben 1552 erschienen war, nämlich die, die der Basler Historiker und Philologe Conrad Lycosthenes* in der eigentlichen Hochphase des Prodigiendiskurses vorgelegt hatte. Sie konnte für die Obsequens-Rezeption so bedeutsam werden, weil Lycosthenes zwei gravierende Eingriffe vornahm: Er ›vollendete‹ den fragmentarischen Originaltext, und er stattete ihn mit Holzschnitten aus. Was bedeutete das? Die fragmentarische Obsequens-Sammlung von 72 Kapiteln, die sich auf den Zeitraum von 199–11 v. Chr. bezogen, erweiterte er um 50 Kapitel auf den Zeitraum »ab urbe condita usque ad Augustum Caesarem«, d. h. auf einen Gesamtzeitraum von 737–9 v. Chr. Lycosthenes begründete sein Vorgehen damit, dass es wichtig sei, in der so prodigienreichen Gegenwart historische Vergleiche anstellen zu können.104 Für seine Ergänzungsarbeiten am historischen Textfragment habe er sich an antike Historiker gehalten. 105 Ist schon die Behauptung, die Wunderzeichen der eigenen christlichen Gegenwart seien in Kenntnis der vorchristlichen römischen Prodigia besser zu verstehen, zumutungsvoll, so gilt das erst recht für die Holzschnittbebilderung, die Lycosthenes seiner Ausgabe angedeihen ließ. Insgesamt 55 Holzschnitte von einer (unbekannten) Hand lieferte, vermutlich in Verabredung mit Lycosthenes, die Basler Offizin von Johann Oporinus. 17 davon werden innerhalb des Buches mehrfach – bis zu fünf Mal! – verwendet, und zwar nach dem Prinzip, das auch schon bei früheren illustrierten Drucken106 zu beobachten ist: dass nämlich gleiche oder ähnliche Situationen mit ein und demselben Ikon bedacht werden. Das Bild wird dadurch zum stempelartigen Signet, zum Element einer Bilderschrift, die bestimmte Teile im Innern des Buches verknüpft und die Betrachtermnemonik stärkt. Erstaunlich ist die Unbedenklichkeit, mit der Lycosthenes antike Texte, die doch selbst nie illustriert waren, mit modernen Bildern
104 »IULII autem Obsequentis Prodigiorum librum, cuius fragmentum tantum extabat, eo libentius hoc tempore edere volui, ut gentilium prodigia cum his quae nostro tempore divinitus eduntur, conferrentur: & expenderetur deinde ex rerum eventu, horrenda illa signa semper aliquid imminentium malorum hominibus portentdisse, quo aliorum tantem exemplo moniti, evitandorum periculorum rationes eo diligentius iniremus.« Obsequens, ed. Lycosthenes* (1552), Scan 22, vgl. auch Scan 10. 105 »Restitui autem libellum quantum fieri potuit, Titi Livij, Dionysij Halicarnassei, Orosij, Eutropii, atque aliorum quorundam probatissimorum autorum auxilio, ita ut nihil plane deese videatur: adjiciens quinquginta prioribus capitibus.« Obsequens, ed. Lycosthenes* (1552), Scan 22. 106 Z. B. in Hartmann Schedels Weltchronik.
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begleitet und damit interpretiert. Die Modernität wird zumal bei Gebäudedarstellungen deutlich, wenn etwa ein brennender Himmel über der Silhouette einer gotischen Stadt gezeigt wird, obwohl es doch, laut Textausweis107, um eine römische Stadt in vorchristlicher Zeit geht. Bedenkenlos ist damit unterstellt, dass die Prodigia wie auch das kulturelle Umfeld, in dem sie auftreten, immer gleich gewesen und geblieben seien. Und dass folglich auch die menschlichen Reaktionen – auf etlichen Holzschnitten sind gestikulierende Himmelsbetrachter dargestellt108 – immer identisch gewesen seien. Was die Bebilderung somit leistet, ist Geschichtseliminierung im Interesse der Gewinnung eines ikonischen Codes, der jederzeit anwendbar ist. Dass es darum in der Tat ging, zeigt sich an der Bildausstattung eines weiteren, sehr viel umfänglicheren Prodigienbuches, das Lycosthenes* fünf Jahre später ebenfalls in Basel, nun aber bei einer anderen Offizin, publizierte, das Prodigiorum Ac Ostentorum Chronicon (Titel der gleichzeitigen deutschsprachigen Ausgabe von Johann Herold*: Wunderwerck Oder Gottes unergründtliches vorbilden). Das Werk ist mit Holzschnitten von verschiedenen Händen reich bestückt, doch finden auch viele Holzschnitte des Obsequens-Druckes von 1552 nun abermals Verwendung, etliche davon als seitenverkehrte Nachschnitte. Es wäre eine eigne Untersuchung wert zu überprüfen, wie die Bildsignete der Obsequens-Ausgabe von 1552 auch in andere illustrierte Prodigienwerke des 16. und 17. Jahrhunderts, in Bücher, Flugschriften und selbst in Flugblätter ausstrahlten, wie sie modifiziert und womöglich auch umfunktioniert wurden. Dass Illustrationen generell für die Prodigienliteratur sehr wichtig waren, ergibt sich aus dem Befund, dass 27 der im Anhang aufgelisteten 99 Quellenschriften (also mehr als ein Viertel) illustriert sind. In welchem Grade die dort auftretenden Illustrationssysteme miteinander verwandt sind, wäre zu klären.
5.2 Endzeitannäherung Ein eigentümliches, von den Autoren oft selbst betontes Merkmal der frühneuzeitlichen Prodigienhistoriographie ist die kontinuierliche Verringerung der Abstände des Auftretens von prodigiösen Phänomenen.109 Der
107 Obsequens, ed. Lycosthenes* (1552), S. 10 / Scan 41. 108 Z. B. S. 25 / Scan 56; S. 64 / Scan 97; S. 71 / Scan 104. 109 Der altgläubige Priester Grünpeck* erklärt 1522 [Aviijvf.]: »niemants mag andert reden / das nye kain zeit verschinen sey / darinnen so vil wunderbarlich / erschrocklich / seltzam zaichen am hymel vnd auf der erden erschynen sein / als wir yetz in vnsern tagen mit grossem erschrecken / erzittern / vnd erderpidnen [Erdbeben] gewonet sein zů sehen / aber was
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Hinweis auf diese beschleunigte Approximation an das Telos dient den Autoren zwar als diffus alarmierende Warnung an die wie immer ›sündige‹ Bevölkerung; unter der Hand aber dient er ebenso der Selbstauszeichnung des Warners. Schließlich ist er es doch, der die Finalakzeleration des Zeitenlaufs erkennt und auf den sie also auch zuläuft, bis das Eintreten des Jüngsten Gerichts ihn vollends bestätigen und auszeichnen wird. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass von etlichen Autoren behauptet wird110, Gott reagiere mit seiner Warnzeichenakkumulation auf eine Sünden- und Lasterakkumulation der Menschen, wie sie insbesondere im Reich oder in einzelnen seiner Territorien zu beobachten seien: nämlich auf Trunksucht, Fluchen, Kleideraufwand, üppige Feste, ausschweifende Sexualität u. dgl. Unversehens erweist sich so, dass Gott mit seinem Drohzeichenaufwand just auf die nämlichen Sittendevianzen reagiert, die zur gleichen Zeit die weltlichen Obrigkeiten mit Policey-Erlassen111 bekämpfen. Die göttlichen Warnzeichen dienen mithin einer (Re-)Stabilisierung der Policey als ›guter Ordnung‹.
6. Zur systemischen Verortung von Prodigien Die Orte, die Prodigien in wissenschaftlichen Systemen zugewiesen werden, können recht unterschiedlich sein, so unterschiedlich wie die Systeme selbst. Aufmerksamkeit verdienen diese Ortszuweisungen insofern, als sie verraten, aus welchem Erkenntnisinteresse Prodigienneugier erwuchs und in welche Interessenrichtung sie sich entwickelte. Gewiss kann in diesem Artikel keine Systemgeschichte geboten werden112, immerhin aber lassen got oder die natur darmit mainen / kann von kainem fluß der sinreichigkait / von kainer menig der verstendikait von kainer macht der außlegung begriffen werden / dann diß darff ich von mir selbst (als vil mir von got ist gnad verlihen / himlische oder menschliche ding mit aufmerckung / verstendigkeit / oder außlegung zů begreiffen) veriehen / das die wunderzaichen so in kurtz vergangner zeyt / nemlich die Form / figur / vnd gestalt tragen des Creütz vnd der andern waffen des leyden Christi [arma Christi] / vnd tropffenweiß vom himel in die leynen klaider gefallen sein.« − Auch der lutherische Pfarrer Fincel* stellt 1556 in der Vorrede zu Bd. I [Scan 36] fest: »so man alle historia durch lieset / wird man nirgents finden / das jemals so viel Wunderzeichen auff einander gangen weren / als jtziger zeit / das auch kaum eins dem andern raum lesset / ehe eins vergehet kompt ein anders / das one zweiffel gott etwas grossen im sinne hat.« 110 So von Grünpeck* 1522. 111 Dazu Weber, Matthias: Die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Historische Einführung und Edition. Frankfurt/M. 2002 (Ius Commune, Sonderh. 146). – Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bde. 1–10. Hrsg. von Karl Härter und Michael Stolleis. Frankfurt/M. 1996ff. 112 Da sollte man eher zur Überblicksdarstellung von Daston/Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750 greifen (wie Anm. 7).
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sich einige prominente Modelle herausgreifen, an denen jeweils exemplarisch das Problem der systemischen Verortung extrapoliert werden kann. Bei Delrio* beispielsweise wurde oben schon ersichtlich, dass Wunder und Wunderzeichen in einem psychodämonologischen Modell von imaginatio und divinatio ihren unheilschwangeren Ort finden müssen. Sein Sozietätsbruder Stengel* hingegen hat ein positives, nachgerade optimistisches Verhältnis zu allen Formen von prodigiöser monstrositas, die sich in einer von Gott gewollten und von ihm – direkt oder mittelbar – gesteuerten Devianzdynamik äussert: einer Dynamik, die es Stengel erlaubt, alttestamentliche mit klassisch-mythologischen und gegenwärtigen monstrositas-Prodigien zu wechselseitiger Erhellung zu verknüpfen. Komplexer noch, aber durchaus positiv ist das Verhältnis des Iatrophilosophen Paracelsus* zu allen Arten von Naturzeichen auf Erden und am Himmel, die er in etlichen Flugschriften113, systematisch aber vor allem in seiner voluminösen, 1537 fertiggestellten Philosophia Sagax vorstellt. Auch die paracelsische Bildlehre, die die Kunstfertigkeit der Natur als die einer Fabricatrix feiert, hat ihr Deutungszentrum im Signalement von monstrositas: »So die Natur will ein Weissagung thun von einem ding / wie es soll ergehen / so nimbt sie sich in der Contrafetung ab / vnd handlet auff Malerisch oder Bildhawerisch / vnnd formiert ein Monstrum, das demselbigen Werck gleich ist vnnd sein wirdt / vnnd wirdt so wol vnnd so gleich getroffen / als ein Bildt das sich selbs im Spiegel abconterfetet / ohn alle Handt / vnnd Hinzuthuung der Menschen. Also ist die Natur ein Fabricatrix, die da den rechten Grundt vnnd die recht kunst kan / der Abcontrafetung / mehr dann alle Künst vermögen. Nuhn ist nicht minder / da soll vnnd muß ein Kunst sein / das Donum zu verstehen: Dann nicht ein jedlicher der da das ansicht / der verstehets / allein die Kunst / vnnd das [235] Wissen. Wiewol das ist / daß die Natur kein gewisse Außlegung in solche Monstris geben hatt / noch davon Regel gemacht / sondern es ligt am Glück viel. Das ist aber wol wahr / das in der Schnell ein Verstandt darauß genommen wirdt / der nicht fehlt: So vertrawt jhm aber doch keiner mehr selbs: dieweil es ohn Kunst zugeht / vertrawt jhm selbs keiner / damit so wirdts auß der Achtung gelassen. Aber am letzten so kommt die rechte Form herfür / von deren das Monstrum abgenommen ist: Das ist ein Kunst / contrafeht den / oder das / das noch nicht dasselbig ist / vnnd aber werden soll vnnd muß.«114
Paracelsus will in einem Monstrum ein von der Natur quasi malerisch oder bildhauerisch formiertes Gebilde sehen, das allerdings dem mensch113 Dazu Benzenhöfer, Udo: Die prognostischen und mantischen Schriften des Paracelsus. In: Hogrebe, Wolfram (Hrsg.): Mantik (wie Anm.10), S. 189–199. Benzenhöfer nimmt insgesamt acht Flugschriften in den Blick, stellt sie aber nicht in den systematischen, erkenntnislogischen Kontext der großen Werke. 114 Paracelsus*, Huser-Ausgabe, Bd. V. Teil 10, S. 234f.
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lichen Betrachter ohne besondere Begabung (donum) an Kunst und Wissen nicht verständlich sei. Zwar halte der spontane Primäreindruck eine Deutung bereit; da dem aber niemand traue, bleibe diese Deutungsmöglichkeit missachtet. Gleichwohl zeige sich letztlich »die rechte Form«, aus der das Monstrum entstand, von selbst. So erweise sich, dass monstrositas dasjenige kenntlich mache, was an sich selbst noch keine Identität hat, sie aber erlangen soll und muss. Das Monstrum hat somit vorausweisende Enthüllungskraft. Ähnlich, jedoch mit anderer Akzentuierung, argumentiert Francis Bacon*. In seinem Novum Organon (1620)115 bietet er einen Kleintraktat (Aphorismus 29) zur Bedeutung von natürlichen (monodica, singulären) Wundern und künstlichen Wundern (miracula), in welchem er die Frage erörtert, was beide zur Naturerkenntnis beitragen könnten. Geeignet dazu seien beide, so führt er aus und steht dabei Paracelsus nicht fern, weil sie den Intellekt gegen den üblichen Trott gefeit machten.116 Denn wer die Wege der Natur kenne, könne leichter deren Abwege erkennen, wie auch umgekehrt Kenntnis der Abwege die rechten Wege leichter erkennen lasse.117 Das führt ihn weiter zu Spekulationen über Naturoptimierung. Denn natürliche Wunder könnten anders als künstliche besser in operative Praxis überführt werden, weil neue Arten (species) hervorzubringen ungleich schwieriger sei als bekannte Arten durch Variation in ungewöhnliche zu verändern. Der Übergang von natürlichen Miracula zu künstlichen Miracula sei leicht. Denn wenn man die Natur in ihrer Vielfalt einmal begriffen habe, sei es nicht schwierig, sie auch künstlich dahin zu bringen, wohin sie auch schon gelegentlich von selbst abirrte. Bacon redet damit einer künstlich zu erzielenden Naturaberration das Wort, die gezielter Züchtung durch Kreuzung von verschiedenartigen Kreaturen nahekommt118, wie sie vor ihm schon Giovanbattista Della Porta (1589) propagiert hatte.119 Es wäre gewiss ergiebig, noch andere enzyklopädische oder enzyklopädieähnliche Werke wie die von Cardano*, Della Porta, Kircher, Knorr von Rosenroth oder Reinzer* auf ihr systematisches Prodigieninteresse zu befragen. Das kann aber in diesem Handbuchartikel nicht geschehen. Insgesamt lässt sich auch so konstatieren, dass mit der Integration von
115 Bacon*, Novum Organon, Pars 2, Aphorismus 29. In der Ausgabe von Wolfgang Krohn Teilbd. 2, S. 110–113. 116 »quia rectificant intellectum adversus consueta.« A.a.O, S. 410. 117 »Qui enim vias naturae noverit, is deviationes etiam facilius observabit. At rursus, qui deviationes noverit, is accuratius vias describet.« Ebda. 118 Dazu dann Aphorismus 30, ebda. 119 Vgl. Berns, Jörg Jochen: Naturmagie als Medienwissenschaft: Della Porta, Harsdörffer, Knorr von Rosenroth. In: Morgen-Glantz 18 (2008), S. 13–28.
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Prodigien-Kapiteln in größere systemische Zusammenhänge die Eklatanz und Vielfalt der Prodigienphänomene selbst schon schwindet und an neue, vor allem naturwissenschaftliche Felder angebunden oder in sie überführt wird. So ebbte der Prodigiendiskurs, der Ende des 15. Jahrhunderts einsetzte und im 16. Jahrhundert Heftigkeit und Dichte gewann, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts deutlich ab. Angesichts neuer Empirie (des Sichtbarwerdens neuer Sterne, neuer Welten, neuer Menschen- und Tierrassen) verloren biblizistische wie auch pagan-antike Vorgaben (Plinius!) ihre Überzeugungskraft. Der teleologische Druck war, wie gerade auch am Rückgang der Prodigienflugblätter ablesbar ist, geschwunden. Die Weltzeitberechnungen (Chronologien) hatten sich verändert; ihre biblizistische Ausrichtung wurde zurückgenommen. Das Wissenschaftssystem hatte sich, nicht zuletzt aufgrund der Impulse der außeruniversitären Akademiebewegung, neu konturiert. Und die Schrecken hatten sich auf andere Objekte verlagert. Insgesamt erwiesen sich die theologisch ängstlichen und erkenntnistheoretisch konservativen Voraussetzungen wie erst recht der empirische Radius des Prodigiendenkens als nicht groß und nicht elastisch genug, neuen wissenschaftlichen, phänomenologischen und technologischen Kriterien standzuhalten oder sie gar zu bestätigen. Trotzdem darf man dem Prodigiendiskurs, auch wenn oder vielmehr gerade weil er ein geschichtlich transitorisches, recht kurzlebiges Ereignis war, zugutehalten, dass er bestimmte Phänomene, die er aus seinem Kanon entließ, wichtig machen half, sodass er so doch auch zur Ausbildung eigener Forschungsdiziplinen beitrug. Das gilt für Teratologie und Genetik, für Meteorologie, insbesondere Kometenlehre und Wolkenlehre. Das gilt aber auch für die Wahrnehmungspsychologie. Denn angesichts (angeblich) prodigiöser Phänomene stellten doch einige Autoren die radikale, theologisch abgründige Frage nach dem intersubjektiven Realitäts- und Wahrheitsanspruch der wahrgenommenen oder kolportierten Wunderzeichen und deren womöglich nur subjektiven phantasmatisch-imaginären Konditionen. So gibt der Jesuit Franciscus Reinzer* zu bedenken: »ist auch nicht zulaugnen / das unterweilen daß blöde Gesicht / die Forcht / und Einbildung schuld daran haben könne / das man vermeyne / man sehe diß oder jenes Wunder-Zeichen.«120 Und 1751 heißt es endlich in Zedlers* Artikel über »Wunder-Zeichen«: »Heutiges Tages, nachdem man die natürlichen Begebenheiten genauer untersuchet, weiß man von solchen Wunder-Zeichen nichts mehr.«121
120 Reinzer*, S. 143. 121 Zedler* (wie Anm. 1), Sp. 2151.
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Quellenverzeichnis Das Verzeichnis führt nur autopsierte Titel auf, nennt die Lebensdaten der Autoren, gibt den Umfang der Quellen nach Scans (Sc.) an, vermerkt evtl. Illustrationen und weist jeweils mindestens einen Standort nach. Acronius, Johannes (ca. 1520–1564): Miraculorum Quorundam Et Eorundem effectuum descriptio, per Iohannem Acronium Frisium Mathematicum Basiliensem. [Titelholzschnitt]. – Basel: Jacob Parcus, 1561. [67 Scans, BSB München, digit.] Angelus, Andreas (1561–1598): WiderNatur vnd Wunderbuch. Darin so wol in gemein von Wunderwercken des Himmels / Luffts / Wassers vnd Erden / als insonderheit von allen widernatürlichen wunderlichen Geschichten grössern theils Europae, fürnemlich der Churfürstlichen Brandenburgischen Marck, vom Jahr 490. biß auff 1597. ablauffendes Jahr beschehen / gehandelt wird, [...] Mit fleiß zusammen getragen / durch M. Andream Angelum zu Straußberg / inn Brandenburgischer Mittelmarck Pfarherr. – Frankfurt/M.: Johann Collitz /Paul Brachfeld, 1597. [299 Scans; BSB München, digit.] [Anonymus] Chronica New: Manicherley Historien unnd besondere geschichten Kürtzlich begreyffend. Von dem Jar der geburt unsers seligmachers Jesu Christi biß in das M.D. und xxviij. Erlengeret. Augsburg 1528. [89 Scans; BSB München, digit.] [Anonymus] Chronica Darinn auff das kürtzest begriffen die namhafftigsten geschichten so sich von der geburt Christi under allen Römischen Kaysern sonderlich inn Teutscher Nation biß auf diß gegenwürtig M.D. und XLII. Jar verlauffen haben. Augsburg 1542. [225 Scans; Staatl. Bibl. Regensburg, digit.] [Anonymus] Practica auff das jar nach Cristi gepurt .M.ccccc. vnd zwai jar. vnd weret xx. jar nach einander. Vnd ist gemacht worden durch groß maister d‹ sternseher von Caldea auß babilonia. [Titelholzschnitt] – anonym, o.O. [München: Hans Schobser], 1502. [illustr.; 21 Scans; BSB München, digit.] Arndt, Johann (1555–1621): IKONOGRAPHIA. Gründtlicher vnd Christlicher Bericht Von Bildern [...]. – Halberstadt o. J. [1597?]. [Auch in: Berns: Strittigkeit der Bilder, N° 55, S. 923–971.] Bacon, Francis (1561–1626): Novum Organon / Neues Organum. Lateinisch – deutsch. Hrsg. von Wolfgang Krohn, 2 Teilbde. – Hamburg 1990. Babst, Michael (1540–1603): Wetterspiegel / Oder Nützliche vnnd eigentliche Erzehlung / woher / wie / vnnd warumb / die Donnerwetter / Plitze / Hagel / vnd allerley vngewönliche Witterung entspringen [...]. Dem einfeltigen Leser zum nützlichen vnterricht mit fleiß auß der heiligen Lerer / vnnd der Naturkündiger Bücher / beschrieben Durch Michaelem Babst von Rochlitz / Pfarhern zu Morhorn / vnter der Superintendentz Freyberg. – Leipzig 1589. [130 Scans; Regensburg, Staatl. Bibliothek, digit.] Bauhin, Caspar (1560–1624): Caspari Bauhini Basilensis De Hermaphroditorum monstrosorumque partuum Natura ex Theologorum, Jureconsultorum, Medicorum, Philosophorum & Rabbinorum sententia Libri Duo hactenus non editi: plane Philologici, infinitis exemplis illustrati: omnium facultatum Studiosis, lectu ut jucundissimi, sic & utilissimi. – Oppenheim: Hieronymus Gallerus / Johann-Theodor de Bry, 1614. [illustr.; 691 Scans; Regensburg, Staatl. Bibliothek, digit.] Beatus Rhenanus (1485–1547) (ed.): C. Plinii Secundi Novocomensis De viris illustribus in Re militari, & administranda Rep. | Suetonii Tranquilli De claris Gramma-
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ticis, & Rhetoribus. | Iulii Obsequentis Prodigiorum liber. – Straßburg: Matthias Schürer, 1514. [91 Scans; BSB München, digit.] Belot, Jean (15./16. Jh.): Les Œuvres De MeJean Belot […] Contenant La Chiromacie, Physionomie, l’Art de Memoire de Raymund Lulle; Traité des Divinations, Augures & Songes; Les Sciences Steganographiques, Paulines, Armadelles & Lullistes; L’Art des doctement Prescher & Haranguer, &c. Derniere Edition […]. – Rouen: Pierre Amiot, 1688. [illustr.; 485 Scans; BSB München, digit.] Boaistuau, Pierre (1520–1566): Histoires Prodigieuses Et Memorables, Extraictes De Plusieurs Fameux Autheurs, Grecs & Latins, sacres & prophanes, divisées en six Livres. […]. – Paris: Gabriel Buon, 1598. [illustr.; 1300 Scans; Paris, Bibl. Nationale, digit.] Bosch, Johannes Lonæus van den (1514–1585): Concordia Medicorum Et Physicorum De Humano Conceptu, Atque Fœtus Corporatura, Incremento, Animatione, Mora In Utero Ac navitate: Præterea de Centauris, Satyris atque monstris reliquis & Dæmonum concubitu, CXXI. thesibus publice Novemb. disputandis compræhensa. Præside D. Joanne Lonæo Boscio Medicinæ Ac Mathematices Professore Ordinario atque M. Andrea Helepyro Monachiensi, respondere pro viribus parato. – Ingolstadt: Ex Officina Typographica Wolfgangii Ederi. Anno M. D. XXCII. [43 Scans; BSB München; digit.] Cæsius, Georg (1543–1604): Chronick / oder ordenliche verzeichnuß vnnd beschreibung aller Cometen / von der algemeinen Sündflut / nach erschaffung der Welt 1656. biß auff dis gegenwertiges jtztlauffends nach Christi vnsers Herrn vnd Seligmachers Geburt 1579. Jar / vnd was darauff für zufell / straffen vnd verenderungen erfolget / von Kriegen / Theurung / Pestilentz / etc. [...]. – Nürnberg: Valentin Fuhrmann, 1579. [299 Scans; BSB München, digit.] Camerarius, Joachim (1500–1574): Ioachimi Camerarii Norica Sive De Ostentis Libri Duo. Cum Præfatione Phil. Melan[chthonis]. – Wittenberg: Georg Rhau, 1532. [129 Scans; BSB München, digit.] [spätere Ausgabe. → Lycosthenes, Konrad (1552)] Cardano, Geronimo (1501–1576): Offenbarung Der Natur Vnd der Natürlichen Dingen / auch mancherley wunderbarlichen vnd subtilen Würckungen. Durch [...] Hieronymum Cardanum / der Artzney Doctorn zu Meyland in Latein beschrieben: [...] Jetz newlich gemeinem Vatterlandt zu gutem in die verstendliche Teutsche zungen gebracht / Durch Hulderichum Frölich von Plawen. – Basel: Sebastian Henricpetri, 1559. [illustr.; 866 Scans; BSB München, digit.] Cicero, Marcus Tullius (106–43 v. Chr.): De divinatione / Über die Wahrsagung. Lateinisch – Deutsch. Hrsg. von Christoph Schäublin. – 3., überarb. Aufl. Berlin 2014. Cocles, Bartollomeo della Rocca (1467–1504): Phisionomy vnd Chiromanty. – Augsburg: Heinrich Steiner, 1546. [illustr.; 269 Scans; BSB München, digit.] Colerus, Jacob (1537–1612): Doct. Iacobi Coleri Probst zu Berlin Eigentlicher Bericht / Von den seltzamen vnd zu vnserer Zeit vnerhörten / Wunderwercken vnd Geschichten / so sich newlicher zeit in der Marck Brandenburg zugetragen / vnd verlauffen haben / vnd noch teglich geschehen. Nemlich / wie die Engel etlichen Menschen sichtiglich erscheinen / vnd sie zur Buß vermahnen. Desgleichen / wie sich auch der Teufel hin vnd wieder sehen lesset / allerhand Materien auff die Gassen vnd Wege strewet / die Menschen leiblich besitzet / vnd sie jemmerlich plaget / vnd vngewönliche dinge durch sie redet vnd handelt. Hierbey wird auch ein sonderlich Wunderzeichen vnd gesicht am Himmel gemeltet / Welches M. Ioachimus Wollinus Pfarrherr zu Zossen /
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inn einem schreiben an obgemelten Herrn D. Iacobum Colerum gedencket. – Erfurt: Martin Wittel / Paul Brachfelt, 1595. [37 Scans; BSB München, digit.] Colerus, Jacob: Notwendige Erinnerung / auff dz schreckliche Fewerzeichen / So den 10. Septembris deß jetzlauffenden 1580. Jahrs am Himmel gesehen worden / sampt einer gründlichen gewissen Rechnung aus Gottes Wort / daß das Ende der Welt vnd der Jüngste tag nahe für der Thüren. [Lat. Gebet; Titelholzschnitt; Bibelspruch Lk 21] – Berlin 1581. [41 Scans; BSB München, digit.] Creutzer, Peter (15./16. Jh.): Außlegung [...] uber den erschröcklichen Cometen so im Westrich und umbligenden grenzen erschinen. – Nürnberg 1528. [Mikrofiche München 1994] Dannewaldt, Matthias, (publ. 1664–1681): Ein Historischer Discurs / so von vielen Seculis her / auff Cometische Erscheinunen sich begeben / Jngleichen Deroselben kürtzliche Betrachtung / vnd was etwa der im Decembr. dieses 1664. Jahrs entstandene Comet vor muthmaßliche Bedeutung nach sich ziehen möchte. Mit beygefügten Abrissen / wie er zu Augspurg / Nürnberg / Hamurg / und allhier zu Leipzig gesehen worden. Darbey auch der / annoch als eine Göttliche Zorn-Ruthe am Himmel stehende anderwertige Comet kürtzlich berühret. Durch Matthiam Dannewaldt / der Astronomiae Liebhabern. – Leipzig: Christian Kirchner, 1664. [illustr.; 37 Scans; BSB München, digit.] Das Wunderzeichenbuch. Faksimile des Augsburger Manuskripts. Collection of Mickey Cartin, 2 Bde. Hrsg. von Till Holger Borchert und Joshua P. Waterman. – Köln: Taschen, 2013. Dasypodius, Conrad (1531–1601): Von Cometen / vnd jhrer würckung / Durch M. Cunradum Dasypodium beschriben. [Titelholzschnitt] – Straßburg, bey Niclauß Wyriot. Anno M. D. LXXVIII. [illustr.; 45 Scans; BSB München, digit.] Delrio S.J., Martin, (1551–1606): Disquisitionum Magicarum Libri Sex. Quibus Continetur Accurata Curiosarum Artium, Et Vanarum Superstitionum confutatio, utilis Theologis, Iurisconsultis, Medicis, Philologis. – Mainz: Peter Henning, 1617. [Berns, priv.] Duben, Benedict (16./17. Jh.): Catalogus Prodigiorum Rerumque Aliquot Mirabilium, Quae Paullo ante, in, & post Nativitatem Domini ac Salvatoris nostri Iesu Christi acciderunt. Ex Optimis Quibusque diversorum autorum monumentis variis collectis a M. Benedicto Dubeno Lucense. […] – Wittenberg: M. Georg Müller, 1591. [189 Scans; ULB Sachsen-Anhalt; digit.] Feyerabend, Sigismunnd (1528–1590) (Hrsg.): Theatrum Diabolorum, Das ist: Ein Sehr Nützliches, verstendiges Buch / darauß ein jeder Christ / sonderlich vnd fleissig zu lernen / wie daß wir in dieser Welt / nicht mit Keysern / Königen / Fürsten vnd Herren / oder andern Potentaten / sondern mit dem aller mechtigsten Fürsten dieser Welt / dem Teuffel zukempffen vnd zustreiten [...]. [Holzschnitt-Titelvignette] – Frankfurt/M.: Peter Schmid/Hieronymus Feyerabend, 1569. [1119 Scans; BSB München, digit.] Fichtelberger (Pseudonym Melisander, 17. Jh.): HEU! Schrecken! Von Heuschrecken / So Dieses Anno 1693. Jahr im Augusto, erstlich im Egrischen Creyß der Cron Böhmen / dann auch an andern Orten / Wolcken-weiße eingefallen. [Titelholzschnitt] Vorgestellet von Melissandro Fichtelbergern. – St. Annaberg: David Nicolai, 1693. [33 Scans; ULB Halle/Sachsen-Anhalt, digit.] Fincel, Hiob (†1582): Wunderzeichen. Warhafftige beschreibung vnd gründlich verzeichnus schrecklicher Wunderzeichen vnd Geschichten / die von dem Jar an M.D.XVII bis auff jtziges Jar M.D.LVI. geschehen vnd ergangen sind / nach der Jarzal. Durch
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Jobum Ficelium. || Apoca. 14. Fürchtet Gott / vnd gebet jm die Ehre / denn die zeit seines Gerichts ist komen / vnd betet an / den / der gemacht hat Himel vnd Erden / vnd das Meer / vnd die Wasserbrunnen. – Jena: Christian Rödinger, M. D. LVI. [3 Bde., Jena 1556, 1559 u. 1562] [455 Scans; BSB München, digit.] Frytschius, Marcus (16. Jh.): Meteororum, Hoc Est, Impressionum Aerarium Et mirabilia naturae operum, loci fere omnes, Methodo Dialectica conscripti, & singulari quadam cura diligentiaque in eum ordinem digesti ac distributi, A M. Marco Frytschio Laubano Hexapolensi: Lusaciae superioris alumno. | Item: Catalogus Prodigiorum Atque Ostentorum, tam coelo quam terra, in poenam sclerum ac magnarum in Mundo vicißitudinum significationem, iam inde ab initio divinitus exhibitorum, ab eodem conscriptus. – Nürnberg: Johannes Montanus/Ulrich Neuber, 1555. [671 Scans; BSB München, digit.] Garzoni, Tommaso (1549?–1589): Il Serraglio De gli Stupori del Mondo, Di Tomaso Garzoni Da Bagnavallo: Diviso in Diece Appartamenti, secondo gli vari, & ammirabili oggetti. Cioè di Mostri, Prodigii, Prestigii, Sorti, Oracoli, Sibille, Sogni, Cvriosita‹ Astrologica, Miracoli in Genere, e Maraviglie in Spetie, Narrate da’più celebri Scittori, e descritte da’ più famosi Historici, e Poeti, le quali talhora occorono, considerandosi la loro. – Venezia: Ambrosio Dei, 1613. Goltwurm, Caspar, (1524–1559): Wunderwerck vnd Wunderzeichen Buch. Darinne alle fürnemste Göttliche / Geistliche / Himlische / Elementische / Jrdische vnd Teuflische wunderwerck / so in solchem allem von anfang der Welt schöpfung biß auff vnser jetzige zeit / zugetragen vnd begeben haben / kürtzlich vnnd ordentlich verfasset sein / Der gestalt vor nie gedruckt worden. Caspart Goltwurm Athesinus. – Frankfurt/M.: David Zephelius, 1557. [618 Scans; BSB München, digit.] Gretzer, Wolfgang (16. Jh.): Christliche Betrachtung vnd getrewe erinnerung Etzlicher fürnemen erschrecklichen Geschichte / Wunderzeichen / Krieg /Thewrung / Pestilentz / vnd andern Plagen so sich von dem 72. Bis auff das 84. Jare (Jnhalts einer vorlängst außgegangenen Prognosticon) begeben vnd zugetragen. [Titelhozschnittt (Gerichtsszene des Jüngsten Tages] Gestellet durch Wolffgangum Gretzer / Modist vnd deutschen Schreiber / aus dem Fürstenthumb Steyer von Bruck an der Muer. M. D. LXXXIIII. – Bautzen: Michael Wollrab, 1584. [21 Scans; UB Halle, digit.] Grünpeck, Joseph (1473–1532): Ein newe außlegung der seltzamen wundertzaichen vnd wunderpürden so ain zeyther im reich als vorpoten des Almechtigen gottes / auffmannende auffrüstig zeseinn wider die feindt christi vnd des hailigen reichs erschinen sein an al Kurfürsten vnd Fürsten so auff dem reichstag zu Costnitz versamelt seinn gewesen von ainem Erwirdigen briester hern Josephen Grünpecken beschehen. [Titelholzschnitt]. – Augsburg 1507. [9 Scans; BSB München, digit.] Grünpeck, Joseph: Ein spiegel der natürlichen himlischen vnd prophetischen sehungen aller trübsalen / angst / vnd not / die vber alle stende / geschlechte / vnd gemaynden der Cristenheyt / sunderar so dem Kresen vnder geworffen sein / vnd in dem sibenden Clima begriffen / in kurtzen tagen geen werden. [Titelholzschnitt]. – Nürnberg: Georg Stuchs, 1508. [illustr.; 37 Scans, BSB München, digit.] Grünpeck, Joseph: Ein nützliche betrachtung der Natürlichen / hymlischen / vnd prophetischen / ansehungen aller trübsalen / angst / vnd not / die über alle stände / geschlechte / vnd gemainden der Christenhait / in kurtzen tagen geen werden. [Titelholzschnitt] Jch haim such vber dises volck / in waffen / in hunger / vnd in pestilentz. Sprecht der herr got Jsrahel. Jeremie xxvij. Anno Domini 1522. – Ausburg: Hans Schönsperger, 1522. [55 Scans; BSB München, digit.]
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Gumppenberg, Wilhelm, S. J. (1609–1675): Marianischer Atlaß / Von Anfang vnd Vrsprung Zwölffhundert Wunderthätiger Maria-Bilder. Beschrien in Latein Von P.P. Guilielmo Gumppenberg. Anjetzo Durch R. P. Maximilianum Wartenberg in das Teutsch versetzt / beede der Societet Jesu. 4 Bde. – München: Johann Hermann von Gelder/Sebastian Rauch, 1673. [Lateinische EA: Ingolstadt: Haenlin, 1657] [Bd. I: 637 Scans; II: 381; III: 343; IV: 391; BSB München, digit.] Herold → Lycosthenes/Herold Herrenschmid, Jacob (1578–1641): D. O. M. S. ΣНΜΕΙΟΣΚΟΠΙΑ CHRISTIANA Oder Geistliche vnd Christliche Betrachtung der Wunderzeichen vnd nicht gewönlicher ding / die sich im nechst vergangenen Wunderjahr hin vnd wider ausser vnd jnner Teutschland / am Himmel / Erden / Meer vnd Wasserwogen / Winden / Wettern / Bergen vnd andern Geschöpffen zugetragen; Neben kurtzen doch Schriftlichen Bericht Was solche für bedeutung / gut oder böß auff den Rücken mit sich führen / Predigsweiß Auff den andern Advents-Sontag vorgehalten Durch Jacobum Herrenschmid Oetingensem, Pfarrern vnd Superintendenten zu Zimmern. – Nürnberg: Simon Halbmayer, 1626. [32 Scans; BS München, digit.] Herrenschmid, Jacob: D. O. M. S. Multiplici Rheticus sub imagine Janus, Sive Strenographiae Rheticae, Pars prima & secnda Sub variis Animalium, Gemmarum, Emblematum, Symbolorum, Historiarum, Exemplorum hieroglyphicorum involucris, ex S. Scriptura, Patribus, Theologis, Politicis, Poëtis orphicis, etc. studiose repraesentate, & nunc manus missa a Jacobo Herrenschmidt Oettingense, Ecclesiae Monasterii Cimmeranae in Rhetia Pastore & Superintendente. – Nürnberg: Simon Halbmayer, 1625. [191 Scans; BSB München, digit.] Hocker, Jodocus (†1566): Der Teufel selbs / Das ist / Warhafftiger / bestendiger vnd wolgegündter bericht von den Teufeln / Was sie sein / Woher sie gekomen / Und was sie teglich wircken. Darbey Jre grosse Tyranney / macht vnd gewalt. Jtem / Auch jre behendigkeit / List vnd gantze triegerey / auffs vleissigst vnd eigentlichst beschrieben wird. Jtem / Was von erzeuberungen / verblendungen / gifftwercke / vnd sonst vil vnd mancherley geplerren des Teufels zu halten sey. Vnd / wie man Zeuberey straffen sol. Alles trewlich vnd ordentlich aus Gottes wort vnd vieler Gelerten Bücher / alt vnd new / zusamen gezogen / vnd in vnterschidenen Capita verfasset / Durch Jodoocum Hockerium Ossnaburgensem / Gewesen Prediger der Kirchen Gottes zu Lemgaw. Bd. I. – Ursel: Nicolaus Henricus, 1568. [438 Scans; BSB München, digit.] Hocker, Jodocus: Ander Theil des Buchs / Der Teufel selbst /Darin vermelt von falschen Wunderzeichen / erdichteten miraculen / verzeuberungen / verblendungen / gifftwercke / vnd sonst mancherley geplerren des Teuffels / Vnd was davon zuhalten sey / Vnd wie viel in dem allen der Teuffel kan. Jtem / Von Zeuberey / Vnd wie weit sich der Hexen wercke strecken / Vnd wie die Zeuberey zu straffen sey. – Ursel: Nicolaus Henricus, 1568. [347 Scans; BSB München, digit.] Irenæus, Christopher (ca. 1522-ca. 1595): De Monstris. Von seltzamen Wundergeburten. I. Was ein Monstrum oder Wundergeburt sey. II. Erzelung etlich hundert Wundergeburt / nach ordnung der Jarzal. III. Welches das aller grewlichste Monstrum sey. IIII. Wer der Schöpffer der Wundergeburten sey. V. Woher sie sic verursachen vnd jren Vrsprung haben. VI. Das sie Straffen der Sünden sein. VII. Was sie bedeuten nd drauff erfolget. M. Christophorus Irenæus. Anno M. D. LXXXIIII. – Ursel: Nicolaus Henricus, 1584. [712 Scans; BSB München, digit.] Irenæus, Christopher: Prognosticon Aus Gottes Wort nötige Erinnerung / Vnd Christliche Busspredigt zu dieser letzten bösen Zeit An hohe nd nider Standes Deutsches Landes. Auff den Cometen / so von Martini des 1577. Jars / biss zum Eyngang des 1588. Jars
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gesehen. Sampt Erzelung vieler Cometen vnd anderer schrecklicher Zeichen / vnd was allwegen darauff erfolget. M. Christoph. Ireneus. Anno M. D. LXXVIII. – s.l. 1578. [224 Scans; BSB München, digit.] Irenæus, Christopher: WasserSpiegel Ergiessung der wasser sind anzusehen. Als ein 1 ZornSpiegel. 2. CreutzSpiegel. 3 TrostSpiegel. Mit einer Vorrede D. Mar. Lutheri Anno 1536. gestelt. M. Christoph. Ireneus. – Eisleben: Andreas Petri, 1566. [558 Scans; BSB München, digit.] Kircher S.J., Athanasius (1602–1680): Athanasii Kircheri Soc. Iesu Diatribe. De prodigiosis Crucibus quae tam supra vestes hominum, quam res alias, non pridem post ultimum incendium Vesuvii Montis Neapoli comparuerunt. – Roma: Blasius Deversinus, 1661. [155 Scans; BSB München, digit.] Lavater, Ludwig (1524–1586): Cometarum Omnium Fere Catalogus, Qui Ab Augusto, Quo Imperante Christus natus est, usque ad hunc 1556. annum apparuerunt, ex variis historicis collectus. – Zürich: Andreas & Jacob Gesner, 1556. [81 Scans; BSB München, digit.] Lemnius, Levinus (1505–1568): Levini Lemnii Medici Zirizæi | Occulta Naturæ Miracula, ac varia rerum documenta, probabili ratione atque artificis coniectura duobus libris explicata, quae studioso avidoque Lectori non tam usui sunt futura, quam oblectamento. – Antwerpen: Guilelmus Simon, 1561. [383 Scans; Staats- u. Stadtbibl. Augsburg, digit.] Leowitz, Cyprian (1514–1574): De Coniunctionibus Magnis Insignioribus Superiorum planetarum, Solis defectionibus, & Cometis, in quarta Monarchia, cum eorundem effectuum historica expositione. | His Ad Calcem Accessit Prognosticon ab Anno 1564, in viginti sequentes annos. | Auctore Cypriano Leovitio Leonicia, Bohemo, Hradecense, Mathematico. – Lauingen a. d. Donau: Emanuel Salczer, 1564. [117 Scans; BSB München, digit.] Leucht, Valentin (ca. 1550–1609): Ein Christliche Catholische / in Gottes Wort wolgegründte Predigt / von dem ernsten bald kommenden Jüngstengericht / vorhergehenden erschröcklichen Zeichen / welcher der mehrer theil allbereit geschehen / die letzten aber täglich grausam mit gewalt erfolgen / gehöret vnd gesehen werden / Vnd was das Jüngstegericht sey / wie es an demselben zugehen werde / etc. Allen Teutschen Christen zur ernsten warnunge / vnd trewhertzigen vermanunge zur Buß gestellet vnd gepredigt: Durch M. Valentinum Leuchthium / jetziger zeit Pfarrherr der Stifftkirchen S. Severi in Erffordt. – Mainz: Caspar Behem, 1583. [74 Scans; BSB München, digit.] Leucht, Valentin: Speculum Histor. Miracul. Praeliorum Et Victoriarum. Das ist / Historischer Spiegel / on den denckwirdigen Miraculn der fürnemsten Schlachten / vnd wunderbarlichen von Gott erhaltenen Victorien / von anfan der Welt / biß auff jetzt lauffendes Jahr continuirt: Sampt erzehlung der siegreichen Eroberung der HauptVestung Raab inn Hungarn / etc. Auß H. Schrifft / vnd den Annalius Caesaris Cardinalis Baronij, zusammen bracht / vnd etlicher massen mit Annotationibus moralibus erkläret. Durch D. Valentinum Leuchtium. [...]. – Mainz: Johannes Albinus / Nicolaus Steinius, 1599. [558 Scans, 8°; BSB München, digit.] Leucht, Valentin: Viridarium Regium Illustrium miraculorum et historiarum Daß ist Königlicher Lustgart, Darin die aller vortrefflichsten Miraculn und Historien, so Gott zu allen Zeiten an berümbten orten bey heiligen sachen Fürnemlich Den H: Bildern, den wunderbarlich Erscheinungen, der Liberalitet der herliche Victorien, Den wundern der Reinen Jungfrawen Mariæ vnd anderer Heiligen, auch den hohen Thugenden der keuschen Jungfrawschafft vnd freyheiten der Priesterschaft etc. Zu bestettigung deß wahren glaubens großmechtig gewirckt, Begriffen vnd befunden
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werden, Allen vnd ieden sehr nütz: lieblich vnd angenehm zu lesen vnd davon zu Discuriren. Jn acht Bücher außgetheilt mit Argumentis et Notis erkleret vnd etlich schönen figuren vnd Kupfferstücken illustrirt. Auß H. schrifft vnd den besten AVCTOREN Besonder aber auß den ANNALIBUS ECCLESIASTICIS vnd BARONY getzogen. [...]. 8 Bde. – Mainz, Köln: Johannes Gymnicus, 1614. [illustr.; Bd. I: 215 Scans; II: 253; III: 207; IV: 161; V: 105; VI: 73; VII: 247; VIII: 45; BSB München, digit.] Libertus (?): Uslegung vnd betütnus der crutz so yetzo fallen / durch den hochwirdien fürsten vnd herenn hern Libertum Bischoff zu Gerice zesamen gelesen vnd beschriben. [Titelholzschnitt: Kreuzdarstellungen in Rot] Das sind die wunderbarlichen Zaichen die gefallen synd vff den zehenden tag nach des heilgen crütz erfündung. – o. O. u. J. [Straßburg, ca. 1503] [illustr.; 29 Scans; BSB München, digit.] Licetus, Fortunius (1577–1667): De Monstris. Ex recensione Gerardi Blasii, M.D. & P.P. Qui Monstra quaedam nova & rariora ex recentiorum scriptis addidit. Editio Novissima. Iconibus illustrata. – Amsterdam: Andreas Frisius, 1665. [illustr.; 372 Scans; UB Heidelberg, digit.] Lichtenberger, Johannes (ca. 1426-ca.1475): pronosticatio zu theutsch. Eyn schöne seltzen vnd vor nit mer gehorte Pronosticatio die vßdruckt was glücks vnd vngelucks die größe Coniunction vnd die Eclipsis gewest synt Jn dyeßen gegenwirdigen nd zukünfftigen Jaren beduten vnd antzeygen vnd wirt weren etwan vyl iare. – o. O. u. J. [Heidelberg, nach 1488] [illustr.; 95 Scans; BSB München, digit.] Luther, Martin (1483–1546): Deuttung des munnchskalbs Zu Freyerg Martin Luthers. Teil II aus dem Gesamttitel: Deuttung der zwo grewlichen | Figuren Bapstesels zu Rom vnd Munchkalbs |zu freyberg jn Meyssen funden | Philippus Melanchthon | Doct. Martinus luther. – Wittemberg M.D. xxiij. In: Martin Luther, WA 11 (hrsg, von Paul Pietsch), S. 380–385. Lycosthenes, Konrad (1518–1561): Prodigiorum Ac Ostentorum Chronicon, Quae praeter naturae ordinem, motum, Et Operationem, Et In Superioribus & his inferioribus mundi regionibus, ab exordio mundi usque ad haec nostra tempora, acciderunt. Quod portentorum genus non temere evenire solet, sed humano generi exhibitum, severitatem iramque Dei adversus scelera, atque magnas in mundo vicissitudines portendit. Partim ex probatis fideique dignis authoribus Graecis, atque Latinis; partim etiam ex multorum annorum propria oservatione, summa fide, studio, ac sedulitate, adiectis etiam rerum omnium veris imaginibus, Conscriptum per Conradum Lycosthenem Rubeaquensem. [Titelholzschnitt]. – Basel: Heinrich Petri, 1557. [illustr.; 698 Scans; BSB München, digit.] [Lycosthenes/Herold:] Lycosthenes, Konrad / übers. von Johann Herold: Wunderwerck Oder Gottes unergründtliches vorbilden / das er inn seinen geschöpffen allen / so Geystlichen / so leyblichen / in Fewr / Lufft / Wasser / Erden / auch auß den selben vier vrhaben / inn eingfügten stuck dem Mentschen / in Gflügel / Vieh / Thier / Visch / Gwürm / vor anbegin der weldt / biß zu vnserer diser zeit / erscheinen / hören / rieven lassen. Zu gwiser anmhanung seiner Herrlicheit / zu abschröckung sündlichs lebens. Oder aber sonst verhängt hatt / den Ausserwölten zu übung vnd Christlichem nachsinnen / den bösen zur straaff jres vnglaubens / mit sonder wunderbarer geheymnus vnd bedeüttung.| Alles mit schönen Abbildungen gezierdt / vnd an den Leser einer Vorrede / inn dero / der entscheydt / hafft / betrug / fug vnd vrtel so hierinnen zu erlernen vnd zuhaben / in kürtze / eygentlich fürgeschriben vnd abgemalt. [Titelholzschnitt wie in d. lat. Vorlage] Auß Herrn Conrad Lycosthenes Latinisch zusammen getragner beschreybung / mit grossem fleiß / durch
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Johann Herold / vffs treüwlichst inn vier Bücher gezogen vnnd Verteütscht. – Basel: Heinrich Petri, 1557. [illustr.; 599 Scans; BSB München, digit.] [Lycosthenes (ed.)/Camerarius/Obsequens/Vergilius] Lycosthenes, Konrad (Hrsg.): Iulii Obsequentis Prodigiorum Liber, ab Urbe condita usque ad Augustum , cuius tantum extabat Fragmentum, nunc demum Historiarum beneficio, per Conradum Lycosthenem Rubeaquensem, integritati suae restitutus. Polidori Vergilij Vrbinatis der Prodigijs libri III. Ioachmi Camerarij Paberg. de Ostentis libri II. – Basel: Oporinus 1552. [illustr.; 281 Scans; BSB München, digit.] Marbach, Johann (1521–1581): Von Mirackeln vnd Wunderzeichen. Wie man sie auß vnnd nach Gottes Wort / für waar oder falsch / erkennen soll. | Sampt Grundtlicher widerlegung 20 Wunderzeichens / so vor einem Jar Canisius / wie er vermeint / an einem besessnen Jungfrewlin gewürcket / wie solches L. Martin Eysengrein / im Buch des Tittel / Vnser L. Fraw zu Alten Oetting / sehr prächtig beschreibet. | Allen frommen Christen / sonderlich im Beyerlandt vnnd zu Augspurg / zu sonderm trost vnd sterckung ihres waaren recht vhr alten Christlichen Glaubens / wider des Antichristischen Bapstumbs / diser zeit durch die Mammelucken nnd Jesuiten / ernewte Abgötterey / geschriben | Durch H. Johann Marbach der H. Schrifft Doctor / zu Straßburg. M.D.LXXI. – o. O. 1571. [307 Scans; BSB München, digit.] Melanchthon, Philipp (1497–1560): Der Bapstesel durch Philippen Melanchthon deutet. Teil I aus dem Gesamttitel: Deuttung der zwo grewlichen | Figuren Bapstesels zu Rom vnd Munchkalbs | zu freyberg jn Meyssen funden | Philippus Melanchthon | Doct. Martinus luther. – Wittemberg | M.D. xxiij. In: Martin Luther, WA 11 (hrsg. von Paul Pietsch), S. 370–379. Mennel, Jacob (ca. 1460-ca. 1524): De signis, portentis atque prodigiis tam antiquis quam novis cum eorundem typis et figuris. Hs. – Freiburg i. Br. 1503 (dediziert Kaiser Maximilian I.) [60 Scans; ÖNB Wien (Slg. Schloß Ambras), digit.] Meurer, Wolfgang (1513–1565): Wolfgangi Meureri V. CL. Commentarii Metereologici, Et Recondita Erudione Referti, & ex solidis Philosophiæ Aristotelicæ fundamentis deducti, ac demum in gratiam utilitatemque Studiosorum Philosophiæ naturalis editi opera & studio Christophori Meuereri Artis Medicæ Licentiati, Et Mathematum Professoris Academiæ Lips. [...]. – Leipzig: Valentin Voegelin, 1592. [illustr.; 483 Scans; BSB München, digit.] Nausea, Friedrich (ca. 1496–1552): Libri mirabilium septem. – Köln: Peter Quentell, 1532. [illustr.; 173 Scans; BSB München, digit.] Obsequens, Julius, (4. Jh. n. Chr.) → wichtigste frühneuzeitliche Ausgaben: Beatus Rhenanus* (ed. 1514); Lycosthenes* (ed. 1552); Oudendorp* (ed. 1720). Osiander, Andreas (1496–1552)/Hans Sachs (1494–1556) (Hrsg.): Ein wunderliche weissagung / von dem Bapstumb / wie es yhm bis an das ende der welt gehen sol / ynn figuren odder gemelde begriffen / gefunden zu Nurmberg / ym Cartheuser kloster / vnd ist seer alt. – Ein vorred / Andreas Osianders. Mit gutter verstendtlicher auslegung / durch gelerte leut / erklert. Wilche / Hans Sachs yn Deudsche reymen gefasset / nd darzu gesetzt hat. Jm. M. D. xxvij. Jare. – Wittenberg 1527. [illustr.; 37 Scans; BSB München, digit.] Osiander, Andreas: Kurtze vnd Einfältige Predigt / Vom Erdbidem. Auff den 14. Sontag nach Trinitatis. Gehalten Duch Andream Osiandrum D. Abbt zu Adelberg / im Hertzogthumb Würtenberg. – Tübingen: Georg Gruppenbach, 1601. [25 Scans; BSB München, digit.] Oudendorp, Frans (1696–1761) (Hrsg.): Julii Obsequentis Quae Supersunt Ex Libro De Prodigiis. Cum Animadversionibus Joannis Schefferi, Et Supplementis Conradi
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Lycosthenis. Curante Francisco Oudendorpii. – Leiden: Samuel Luchtmans, 1720. [348 Scans; BSB München, digit.] Palæphatus (ca. 4. Jh. v. Chr.): Libellus Palaephati Graeci Authoris quo aliquot ueteres fabulae, unde tractae sint, narratur, studiosis hominibus apprime utilis. – Wien: Leonard Alantsee, 1514. [39 Scans; BSB München, digit.] Paracelsus (1493–1541): Practica D. Theophrasti Paracelsi / gemacht auff Europa / anzufahen in dem nechstkunfftigen Dreyssigsten Jar / Biß auff das Vier vnd Dreyssigst nachvolgend. [Titelholzschnitt] – Nürnberg: Friedrich Peypus, 1529. [29 Scans; BSB München, digit.] Paracelsus: Von den wunderbarlichen / vbernatürlichen zeychen / so inn vier jaren einander nach / imm hymmel / gewülcke vnd lufft / ersehen / Von sternen / Regenbögen / Fewrregen / Plutregen / Wilde thierer / Tracken schiesn / wiesen / Fewrin mann / mit sempt ander dergleychen. Auch außlegung der zweyen Cometen / so biß her yrrig außgelegt seynd. Durch den Hochgelerten / Doctorem Paracelsum. – o. O. 1534. [BSB München, digit.] (Vgl auch die Ausgabe in der Sudhoff-Edition, Bd. I, 9.) Paracelsus: Astronomia Magna: Oder Die gantze Philosophia sagax der grossen vnd kleinen Welt / des [...] bewerten teutschen Philosophen vnd Medici / Philippi Theophrasti Bombast / genannt Paracelsi magni. Darinn er lehrt des gantzen natürlichen Liechts vnd astronomischen geheimnussen der grossen vnd kleinen Welt / vnd deren rechten brauch vnd mißbrauch / Zu dem andern die Mysteria des Himlischen Liechts / Zu dem dritten / das vermögen des Glaubens / Vnd zum vierdten / was die Geister durch den Menschen wircken / etc. Vor nie in Truck außgangen. – Frankfurt/M.: Sigismund Feyerabend, 1571. – [367 Scans; BSB München, digit.; auch in der Ausgabe von Johannes Huser (Hrsg.): Theophrastus Paracelsus, Bücher und Schriften, 6 Bde. Basel 1591; hier Bd. V, Teil 10 ] Peucer, Caspar (1525–1602): Commentarius De Praecipuis Generibus Divinationum, In Quo A Prophetijs autoritate, divina tradditis, & a Physicis coniecturis, discernuntur artes & imposturae Diabolicae, atque observationes natae ex superstitione & cum hac coniunctae: Et monstrantur fontes ac causae Physicorum praedictionum: Diabolicae vero ac superstitiosae confutatae damnantur ea serie, quam taella praefixa ostendit. Recens editus [...]. Autore Casparo Peucero D. – Wittenberg: Johannes Lufft, 1580. [1017 Scans; BSB München, digit.] Posner, Caspar (1626–1700): M. Caspar Posneri Curiöser Tractat Von denen MißGeburthen / Erster und Ander Theil / Aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzet Von M. M. – Dresden/Leipzig: Johann Christoph Miethe, 1702. [85 Scans; BSB München, digit.] Praetorius, Johannes (1630–1680): Anthropodemus Plutonicus. Das ist / Eine neue Welt-beschreibung von allerley Wunderbahren Menschen; [...] Auctore M. Johanne Praetorio, Zetlinga-Palaeo-Marchita, P. L. C. – Magdeburg: Johann Lüderwald, 1666. [897 Scans; Univ. u. Landesbibl. Sachsen-Anhalt, digit.] Praetorius, Johannes (1537–1616): De Cometis, Qui Antea Visi Sunt, Et De Eo, Qui Novissime Mense Novembri Apparuit, narratio, scripta ad Amplissimum Prudentissimumque Reipub. Noribergensis Senatum, A Ioohanne Praetorio Ioachimico, Reip. Noribergensis Astronomo, & Mathematum Professore in schola Altorfiana. – Nürnberg: Catharina Gerlachin, & Haeredum Iohannis Montani, 1578. [29 Scans; BSB München, digit.] Rabus, Jacob (1545–1587): Christlicher vnd wolgegründter Gegenbericht Von Mirackeln vnnd wunderzaichen / wie man dieselbigen auß Gottes wort / nd nach Catholischer allgemeiner warhait rechtgeschaffen erkennen vnnd vrtheilen soll.| Wider die vnge-
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gründte / Ehrrürige Lasterschrifft / welche JohannMarpach Superintendent zu Straßburg / wider die wunderwerck der lieben Heyligen Gottes im Bapstumb newlicher zeyt in offentlichen Truck hat lassen außgehn. Durch Jacobum Rabus / catholischer / vnwürdiger Priester / vnd Hofprediger zu München. [...]. – Dillingen: Sebald Mayer, 1573. [401 Scans; SB München, digit.] Reinhold, Gottfried (1596–1639): TEPATOΛΟΓΙΑ ΠΡΟΦΗΤIKΗ De Sanguineis Igneisque Prodigiis. heologischer Vnterricht / Von denen Blutigen vd Fewrigen WunderZeichen / Aus heilger öttlicher Schrifft der emeine Gottes vorgetragen [...] Durch Gottfried Reinholden / Predigern in der Churf. Sächs. Begränuüs- vnd DomKirchen zu Freybergk. Jm Jahr Christi 1637. [...] – Freiberg: Georg Beuther, 1637. [25 Scans; Univ.- u. Landesbibl. Sachsen-Anhalt, digit.] Reinzer S.J., Franciscus (1661–1708): METEOROLOGIA PHILOSOPHICO-POLITICA, Das ist: Philosophische und Politische Beschreib- und Erklärung der Meteorischen / oder in der obern Lufft erzeugten Dinge; Jn Zwölff zerschiednen Aus Metereologischen Fragen / und Politischen Schluß-Reden bestehenden; wie auch mit zugleich untermischten schönen Sinn-Bildern gezierten Abtheilungen Sonderbahren Fleisses ehedem verfasst Durch Den Ehrw. P. FRANCISCUM REINZER, S.J. AA. LL. & Phil. D. & Prof. Ord. in Gymn. Lincensi &c. Anjetzo aber Wegen der darinnen enthaltnen raren und anmuthigen Materien / curiosen Gemüthern zu Gefallen / und zu nutzlicher Ergötzung / nebst erstgedachten Authoris Vor-Ansprach an den Leser / aus dem Lateinischen in das Teutsche übersetzt. – Augspurg / Jn Verlegung Jeremiae Wolffen / Kunsthändlern. Gedruckt bey Peter Detleffsen / 1712. [illustr.; 443 Scans; Univ. u. Landesbibl. Düsseldorf, digit.] (Lateinische EA: Augsburg 1697) Rudolph, Valentin (16. Jh.): Zeitbüchlein. Darinnen gründtlich / auffs kürtzest vnd einfeltigste / angezogen / Was nach Christi vnsers Seligmachers Gnadenreichen Geburt / 1501 bis auff das 1586. Jhar / an Kriegen / Thewrenzeitten / Zeichen am Himmel vnd Erden / Hagel / Vngewitter / Sturmwinden / Erdbidemen / Dürrungen / Nässungen / Reichß / Kreiß vnd Landtagen / Synodis / Visitationen / Persecutionen der Theologen / Colloquiis / Heyraten / Disputationen / Geburten / vnd tödtlichen Abgängen Hoher Personen / Sterben / Zügen / Misswachsunge der Früchte / etc. berfallung grosser Städte / vnd Verenderung der Regiment / etc. ergangen / vnd inwendig 85. Jharen / sich begeben vnd zugetragen. | Colligieret durch Valentinum Rudolphum / Buttstadiensem / Kirch vnd Schueldiener zu Buttelstadt. Anno 1586. – Erfurt: Georg Baumann, 1586. [161 Scans; BSB München, digit.] Ruff, Jacob (1505–1558): De Conceptu Et Generatione Hominis, Et Iis Quae Circa haec potissimum con syderantur, Libri sex, congesti opera Iacobi Rueff Chirurgi Tigurini. [...] – Zürich: Christoph Froschauer, 1554. [illustr.; 223 Scans; BSB München, digit.] Scaliger, Julius Caesar (1484–1558): Exotericarum Exercitationum Liber XV. De Subtilitate, Ad Hieronymum Cardanum. – Hannover 1570. [Berns, priv.] Schenck von Grafenberg, Johann Georg (1531–1598): Monstrorum Historia Memorabilis, Monstrorum Humanorum Partuum Miracula, Stupendis Conformationum Formulis ab utero materno enata, vivis exemplis, observationius, & picturis, referens. Accessis Analogicum Argumentum De Monstris Brutis. [...]. – Frankfurt/M.: Matthias Becker/Theodor de Bry, 1611. [illustr.; 50 Scans; BSB München, digit.] Schinbain [Tibianus], Johann Georg (1541–1611): Sternen oder CometenBuch / Jn welchem die fürnemmsten Cometen / deren bey 180. so hin vnd her / vor vnd nach Christi Geburt / an dem Firmament erschienen / sampt andern Meteorologicis / so sic in Lüfften zugetraen: Was auch gleich in jedem Jar besunder / für Effect oder
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würckung darauff gefolget / Beschriben vnd in Teutsche Rhytmos gestellet / Durch Johann Görgen Schinbain von Freyburg im Breyßgaw / diser zeit Lateinischer vnd Catholischer / deß löblichen Römischen Reichs Statt Byberach / Schulmaistern. [Holzschnitt-Titelvignette] – Ingolstadt: David Sartorius, 1578. [illustr.; 158 Scans; BSB München, digit.] Schleusinger, Eberhard (15./16. Jh.): Tractatus de Cometis – o. O. u. J. [Beromünster, nach 1472]. [38 Scans; BSB München, digit.] Scultetus, Abraham (1566–1624): Warnung Für der Warsagerey der Zäuberer vnd Sterngucker / verfast in zwoen Predigten [...]. – Neustadt a. d. Hardt: Niclas Schramm, 1608. [41 Scans; BSB München, digit.] Sorbinus, Arnaldus (1532–1606): Arnaldi Sorbini Tholosanarum Theologi, & Regii Ecclesiastae, Tractatus de Monstris, quae a temporibus Constantini hucusque ortum habuerunt, ac iis, quae circa eorum tempora misere acciderunt, ex Historiarum, cum Graecarum, tum Latinarum testimoniis [...]. – Paris: Hieronymus de Marne/ Gulielmus Cavellat, 1570. [illustr., 303 Scans; BSB München, digit.] Spretter, Johannes (†1543): Was von anruffen der heilgen / deren eer / anbetten der bilder / Christenlichem vnd heidischem wallen / wunderzeichen böser vnd gůter / erscheinen der abgestorbnen / Hexen vnd zaubereyen etc. zůhalten / vnd wie darmit zů handelen sey etc. Joannes Spreterus. Job. 17. Die nacht hon in tag verkört / widerumb den tag in nacht / Nach finsternuß hoff ich das liecht etc. – Ulm: Hans Varnier, 1537. [58 Scans; SBB Berlin, digit.] Stengel, Georg, S. J. (1584–1651): De Monstris Et Monstrosis, Quam Mirabilis, Bonus, Et Iustus, In Mundo Administrando, Sit Deus, Monstrantibus. Authore Georgio Stengelio Soc. Iesu Theologo. [Titelkupfer]. – Ingolstadt: Gregor Hänlin/Johann Wagner, 1647. [713 Scans; BSB München, digit.] Stymmelius, Christopher (1525–1588): Locus de miraculis ecclesiae Dei, breviter expositus. – Wittenberg: Krafft d.Ä., 1564. [141 Scans; BSB München, digit.] Stymmelius, Christopher: Kurtzer Vnterricht von Wunderwercken Christophori Stymmelii D. so in Göttlicher Schrifft vnd andern Historien beschrieben sind. – Franckfurt/ Oder: Johann Eichorn, 1567. [207 Bl; Microfiche Saur, 1991] Theobald, Zacharias (1584–1624): Arcana Naturae Das ist: Sonderliche geheimnus der Natur / so wol aus glaubwirdigen Autoribus, als aus aigner erfahrung zusamen getragen Durch [...] M. Zachariam Theobaldum, Pfarrern Zum Kraftshof. – Nürnberg: Lochner, 1627. [204 Scans; BSB München, digit.] Tibianus → Schinbain Torella, Gaspar (?): Iudicium Universale De Portentis, Praesagiis, Et Ostentis Rerum Admirabilium. Ac Solis Et Lunae Defectionibus, Atque Cometis. Autore Gaspare Torella Valentino, Episcopo Sanctae Iustae. Promulgante Anselmo Stoeckelio [...], Consiliario Ducali Bavarico. [...] – Tegernsee: Typographia Tegernseensis, 1578. [58 Scans; BSB München, digit.] Valerius Maximus (1. Jh. v.–1. Jh. n. Chr.): Valerij Maximi Romane vrbis iurisperitissimi factorum et dictorum memorabilium / ad Tiberium Cesarem libri Nouem / Nunc nouiter emendati. – Leipzig 1501. [247 Scans; BSB München, digit.] Vergilius, Polydorus (1470–1555): Polydorii Vergilii Urbinatis Dialogorum de Prodigiis libri tres, ab ipso autore iam denuo exquisitiore cura recogniti. – Basel: Johann Bebel/Michael Isengrin, 1533. [139 Scans; BSB München, digit.] Virdung, Hans (1463–1538): Practica Teütsch Etlich Jar werende Von dem kunstrichen wolgelerten der Philosophi / Astronomi / Astrologi / vnd Mathematick. etc. meyster Hansen virdung von Hasfurt / vß der grossen Coniunction der dryer obersten Planeten
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Saturn in Jovis vnd Martis gezogen / Von der zukunfft eins neüwen Propheten / vnd anderer grosser geschicht / die durch genante Coniunctio bezeichnet werden / Gemaht zu eren dess Durchleuchtigsten Hochgebornen Fürsten vnd herren Herr Philipsen Pfaltzgraven bym Rhyn [...]. – Straßburg: Matthias Hüpfuff, 1503. [illustr.; 52 Scans; HAB Wolfenbüttel, digit.] Virdung, Hans: Practica Teütsch | Uber die neüwe erschröckliche: vor nie gesehen: coniunction / oder zusammenvereinigung der Planeten Jm Jare M CCCCC XXIIII zukünfftig. Zu ehren dem Großmechtigsten / vnüberwintlichen herren der welt / dem götlichen Käyser vnd Römischen König etc. Carolo V. Vnd auch etlicher Churfürsten [...] Vnder welcher beschirmung der werckmeinster diesser Practica nemlich Meinster Johann Virdung vonn Haßfurt Mathematicus erneret wirt. | Diß Practica wirdt weren bey den Fiertzig jaren ongeverlich. [Holzschnitt: Kaiserliches Wappen]. – Oppenheim 1522. [illustr.; 40 Scans; UB Heidelberg, digit.] Weinrich, Martin, (1548–1609): De Ortu Monstrorum Commentarius. in quo essentia differentiae, causae & affectiones mirabilium animalium explicantur, Autore Martino Weinrichio, Vratisl. – Leipzig: Heinrich Osthusius, 1595. [749 Scans; Staatl. Bibl. Regensburg, digit.] Wimpina, Konrad (1460–1531): Farrago Miscellaneorum [...]. – Köln 1531. [darin Bl. 65r–90v: Opusculum De Signis & insomnijs, eorumque interpretationibus.] [93 Scans; BSB München, digit.] Wolff, Johannes (1537–1600): Iohan. Wolfii I. C. Lectionum Memorabilium Et Reconditarum Centenaria XVI. | Habet Hic Lector Doctorum Ecclesiae, Vatum, Politicorum, Philosophorum, Historicorum, aliorumque sapientium & eruditorum pia, gravia, mira, arcana, & stupenda, iucunda simul & utilia, dicta, scripta, atque facta; Vaticinia; Vaticinia item, vota, omina, mysteria, Hieroglyphica, miracula, visiones, antiquitates, monumenta, testimonia, exempla virtutum, vitiorum, abusuum; typos insuper, picturas, atque imagines: Sed Et Ipsius Coeli Ac Naturae Horrenda Signa, Ostenta, Monstra, atque Portenta […]. – Lauingen a. d. Donau: Leonhard Rheinmichel, 1600. [illustr.; 1055 Scans; BSB München, digit.]
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Libertinage érudit, Dissimulation, Nikodemismus Zur Erforschung gelehrter Devianz 1. Intus ut libet, foris ut moris est Der Arzt Guy Patin (1601–1672) verfasste um 1650 eine handschriftlich überlieferte Anweisung an seinen Sohn, wie er sich als Mediziner in Paris vorzugsweise verhalten solle.1 Diese lebenspraktischen Ratschläge betreffen ganz allgemein standesspezifisches Verhalten und geben speziellen Rat, wann und wie er seinen Lohn von den Patienten eintreiben solle. Besonders ausführlich äußert sich Patin dazu, wie er bei seiner Arbeit drohenden Gefahren aus dem Weg gehen könne. Patin rät seinem Sohn ausdrücklich, sich mit seinen Patienten auf keine verfänglichen Gespräche einzulassen und – falls doch unvermeidlich – stets positiv zu antworten.2 Fragen der Religion möge er grundsätzlich meiden, ebenso Personen, die derartige Fragen diskutierten, denn seine Profession sei die Medizin und nicht die Theologie.3 In einer Stadt wie Paris sei das freilich leichter gesagt als getan, denn wahre Christen seien hier noch seltener als anderswo und die Mehrzahl der Pariser schlicht Frömmler.4 Offene Kritik an diesen Übelständen 1 Diese Préceptes particuliers d’un Medecin à son fils finden sich in den so genannten Papiers de Patin: Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. 7071, S. 91–97. Diese Passage wurde erstmals ediert von Pintard, René: La Mothe le Vayer, Gassendi, Guy Patin. Etudes de biographie et de critique, suivies de textes inédits de Guy Patin. Paris 1943, S. 63–69; vgl. nun auch die Online-Edition des gesamten Kodex von Jean-Pierre Cavaillé und Cécile Soudan (URL: http://www.patin.ehess.fr). 2 Papiers de Patin, S. 93: »N’y parlez que de ce vous regarde. Des controverses de Religion, des matieres d’Estat, des nouvelles de la guerre, de l’ambition, de l’avarice, de l’hypocrisie, des Jesuites, de la cabale des autres moines, nihil ad te haec singula.«; S. 95: »Quand on vous parlera de quelqu’un de vos compagnons, soit pour mariage, soit pour scavoir vostre sentiment touchant son erudition ou pour autre cause, n’en dite jamais que du bien (quand mesme il y auroit du mal et que vous le sçauriez).« 3 Papiers de Patin, S. 93: »Votre profession n’estant pas de Theologie, ne vous meslez de ces differens de Religion que fort prudemment.« 4 Papiers de Patin, S. 93: »Paris en sa populace et en sa bourgeoisie est toute bigote, et mesme ce vice monte plus haut, plures etiam supremi generis occupavit, si bien que la pluspart des
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verbiete sich jedoch von selbst, da Kritik aufgrund der Unwissenheit der Mitmenschen auf ihn zurückfallen werde.5 Vielmehr sei es besser, trotz aller inneren Distanz die äußeren Riten zu vollziehen – ja, er solle es in Sachen Religion wie die Italiener halten: Intus ut libet, foris ut moris est.6 Diese wenigen Zeilen aus den in Wien aufbewahrten Papiers de Patin umreißen schlaglichtartig die Rolle und Funktion von Vorsicht und Verstellung in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur. Bezeichnenderweise hat man die betreffende Epoche, die tradionell als Späthumanismus gefasst wurde, in der Forschung sowohl ein âge libertin als auch ein Zeitalter der Verstellung und des Geheimnisses genannt.7 Das Phänomen des ›Gelehrtenlibertinismus‹ (libertinage érudit), das im Folgenden in Zentrum steht, zeigt sich dabei von Anfang an mit höfischer Klugheitslehre (Dissimulation) und religiös-ritueller Indifferenz (Nikodemismus) verwoben. Alle drei Begriffe sollen daher im Folgenden interessieren. An dem kurzen Quellenbeispiel aus den Papiers de Patin lassen sich allerdings in sehr deutlicher Weise die methodischen Widerspenstigkeiten bei der Beschäftigung mit dem Phänomen Libertinage verdeutlichen – zeigen sie doch eine deutliche Diskrepanz zwischen dem modernen Forschungsbegriff und der historischen Selbstzuschreibung. Zunächst lesen sich die wenigen Zeilen geradezu als Quintessenz dessen, was man seit 1943 mit René Pintard als libertinage érudit bezeichnet hat – einer geistigen Haltung der inneren Distanzierung von vorherrschenden Normen also, die in bestimmten gelehrten Zirkeln von Paris in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts geblüht habe.8 Dieser ›Gelehrtenlibertinismus‹ unterläuft Normen und grenzt sich elitär von den gewöhnlichen Menschen (»peuple
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grands ou sont bigots ou sont libertins, qui sont deux extremitez odieuses. De gens de bien et de vrais chrestiens, il y en a fort peu. Le nombre est fort petit à Paris comme ailleurs,« Papiers de Patin, S. 93: »Un medecin qui se bandera contre la superstition et la bigotterie du peuple de Paris, sera incontinent decrié par le peuple ignorant et par la bourgeoisie bigotte, par la faction loyolitique, par les cafards et le hypocrites encapuchonnez qui ne regardent le monde qu’au travers d’une piece de drap, par un tas de Prestres peu scavans, mesmes par les plus hupez qui ont serment à la cabale des hypocrites. C’est pourquoy, Audi, vide, tace, si vis vivere in pace.« Papiers de Patin, S. 93: »Si dans l’exercice externe de la Religion quelque chose vous desplaist, n’en dites mot, cachez vostre maltalent en n’en parlez point: croyez en ce que vous devez et laissez là le reste sans causer aucun scandale. Intus ut libet, foris ut moris est, practiquez ce bon mot des Italiens.« Vgl. Reichler, Claude: L’âge libertin. Paris 1987; Snyder, Jon R.: Dissimulation and the Culture of Secrecy in Early Modern Europe. Berkeley, Los Angeles, London 2009; Jütte, Daniel: Das Zeitalter des Geheimnisses. Juden, Christen und die Ökonomie des Geheimen (1400–1800). Göttingen 2012. Neben Pintard: La Mothe le Vayer, Gassendi, Guy Patin (1943, wie Anm. 1) vgl. vor allem seine umfangreiche Studie Pintard, René: Le libertinage érudit dans la première moitié du XVIIe siècle. 2 Bde. Paris 1943 (ND Genf 1983 u. 2000).
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ignorant«9) ab, die eine solche innere Freiheit nur missverstehen würden. Schon aus diesem Grunde werden bestimmte Gedanken auch nur bedingt offen ausgesprochen, geschweige denn gedruckt, so dass viele Äußerungen und Schriften in den Bereich der Klandestinität fallen. Der libertinage érudit agiert also in kleinen, wohlinformierten Zirkeln und sozusagen im Untergrund.10 Pintard edierte 1943 nicht zuletzt die zitierte Passage von Patin, um seine These zu untermauern, man könne und müsse einen Gelehrten wie Guy Patin zum libertinage érudit zählen.11 In dieser Einschätzung ist ihm eigentlich die gesamte Forschung gefolgt, unter Zitation der genannten Lebensdevise.12 Doch steht dies in starker Spannung zu der Tatsache, dass auch Patin explizit von »libertins« spricht, damit allerdings eine Haltung bezeichnet, von der er sich deutlich distanziert. Patins Analyse der religiösen Bigotterie in Paris kulminiert in der Aussage, es werde umso schlimmer, je höher man gesellschaftlich aufsteige: Die Mächtigen seien entweder »bigots« oder »libertins«, beide Extreme möge sein Sohn auf alle Fälle meiden.13 Patin sah sich also offenbar selbst nicht als libertin und verwendet den Begriff im Gegenteil als negative Kategorie. Wo man ihn als ›(gelehrten) Libertin‹ bezeichnet, kommt also ein Forschungsbegriff zur Anwendung, nicht aber der Begriffsgebrauch der Quellen. Diese offenkundige Diskrepanz zwischen historischem Quellenbegriff und modernem analytischen Forschungsterminus stellt für die wichtige und fruchtbare Forschung zum Libertinismus bis heute eine Hauptschwierigkeit dar und muss hier entsprechend berücksichtigt werden. Der älteren Forschung schien es zunächst plausibel, direkte Bezüge zwischen Quellenbegriff und Forschungsterminus anzunehmen: Der Begriff des libertin wurde häufig für Gelehrte verwendet, die sich von den strikten religiösen und kirchlichen Regeln lösten. Neben Patin im Paris des 17. Jahrhunderts ließ sich auch eine immer größer werdende Gruppe von meist hofnahen Gelehrten in Paris und den anderen europäischen Metropolen mit dem 9 Papiers de Patin, S. 93. 10 Vgl. Burke, Peter: A Map of the Underground. Clandestine Communication in Early Modern Europe. In: Jean Bodins Colloquium Heptaplomeres. Hrsg. von Günter Gawlick und Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1996, S. 59–72; Kriminelle – Freidenker – Alchemisten. Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Martin Mulsow. Köln, Weimar, Wien 2014. 11 Vgl. Pintard: Le libertinage érudit (wie Anm. 8), S. 322. 12 Vgl. etwa Adam, Antoine: Les libertins au XVIIe siècle. Paris 1964, S. 156; Reichler: L’âge libertin, S. 22; Foucault, Didier: Histoire du libertinage. Des goliards au marquis de Sade. Paris 2007, S. 254. 13 Papiers de Patin, S. 93: »la pluspart des grands ou sont bigots ou sont libertins, qui sont deux extremitez odieuses. [...] Ne soyez ny superstitieux ny libertin, mais evitez sagement ces rencontres de contention«.
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Terminus in Verbindung bringen. In der älteren Forschung entstand somit der Eindruck, es handele sich bei den libertins um eine kohärente Gruppe. In der Tat fällt es oft nicht schwer, auch in den frühneuzeitlichen Quellen die vermeintlich bestätigende Bezeichnung als libertin zu finden. In der Regel handelte es sich zwar um Fremdbeschreibungen und nicht um Selbstbezeichnungen. Doch da der zeitgenössische Libertinagebegriff ursprünglich soziale und religiöse Devianz bezeichnete, implizierte er eine gewisse Unerhörtheit und besaß Diffamierungspotential. Es ließ sich also leicht argumentieren, dass Selbstbezeichnungen aus Vorsicht vermieden wurden.14 Ein knapper vorgreifender Blick auf Quellenbegriff und Forschungsgeschichte zeigt jedoch sehr deutlich, dass eine direkte Korrelation kaum gegeben sein kann. Sowohl die Geschichte des Begriffes von libertini / libertins (wie diejenige von dissimulatio und vergleichbaren Termini) als auch die Forschungsgeschichte zum libertinage – insbesondere zum libertinage érudit – erweisen sich jeweils als vielschichtig und komplex. Der Begriff des libertinage besitzt bereits in der Frühen Neuzeit eine gewisse Mehrdeutigkeit. Zedlers Universal-Lexicon legt 1738 eine mehrschichtige Definition vor, die zunächst in breiter Weise Normabweichung ins Zentrum stellt und damit bis heute eine gewisse Gültigkeit beanspruchen kann: »Libertiner pflegt man im gemeinen Leben alle diejenigen zu nennen, welche in Glaubens-Sachen oder in andern Dingen, sich an keine ordentliche Richtschur binden lassen, sondern alles nach ihrem eigenen Gutdünken thun und statuiren wollen«.15 Libertinismus liegt folglich immer dann vor, wenn von gesellschaftlichen Normen abgewichen wird, wobei religiösen Normen eine besonders wichtige Rolle zukommt. Doch fügt Zedler sogleich andere Ebenen neben der religiösen oder gar gelehrten Freiheit hinzu, wie etwa moralische Zügellosigkeit. Cotgrave gibt 1611 in seinem französisch-englischen Wörterbuch als Übersetzung sowohl Epikurismus (»Epicurisme«) als auch moralische Zügellosigkeit (»sensualitie, licentousnesse, dissolutenesse«) an.16 Schon früh wurde deshalb zwischen einem theoretischen (libertinage d’esprit) und einem praktischen Liberti-
14 Allgemein hat man schon seit Pintard angesichts der latenten Verfolgung eine Hermeneutik des Lesens »zwischen den Zeilen« veranschlagt, Pintard: Le libertinage érudit (wie Anm. 8), S. 121; vgl. dazu grundlegend Strauss, Leo: Persecution and the Art of Writing. New York 1952 (ND Chicago 1988); Leo Strauss. Art d’écrire, politique, philosophie. Texte de 1941. Hrsg. von Laurent Jaffro. Paris 2001. 15 Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 17 (1738), Sp. 793. 16 A Dictionarie of the French and English tongues. Compiled by Randle Cotgrave. London 1611, o. S.
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nismus (libertinage de moeurs) unterschieden.17 Der Begriff ist also unklar gefüllt. Er kann als Invektive schon aufgrund seiner verweisenden und relationalen Natur je nach Standpunkt eines historischen Akteurs ganz unterschiedliche Standpunkte als Normabweichung definieren.18 Schon deshalb kann etwa Patin seinen Sohn zum Normbruch raten und gleichzeitig andere pejorativ als Libertin bezeichnen. Auf dieses durchaus breite frühneuzeitliche Bedeutungsspektrum wurde allerdings von der modernen Forschung in sehr selektiver Weise zugegriffen. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war dem Begriff des Libertinage eine zweite Karriere als Forschungsterminus beschieden. Seine anhaltende Faszination hat eine nun überhundertjährige Forschungsgeschichte hervorgebracht, die allerdings sehr heterogen ist: Einerseits liegen Studien und Anthologien vor, die den Begriff aufnehmen und eine gewisse Kohärenz relevanter Praktiken und Standpunkte postulieren, also letztlich nach wie vor ›Libertiner‹ als eine soziale Gruppe ansehen. Gleichzeitig ist aber von anderer Seite immer wieder der Versuch unternommen worden, diese Kohärenz oder gar die schlichte Existenz des Phänomens in Zweifel zu ziehen und es als rein diskursives ›Phantom‹ zu entlarven. Diese Diskussion resultiert zunächst offensichtlich aus dem breiten Bedeutungsspektrum des Begriffs in den Quellen und seiner polemischen Natur, die ja meist zu Fremdzuschreibungen führte. Doch genauso wesentlich scheint das Erbe von Nationalerzählungen und die Überschneidung mit weiteren, stark identitär besetzen Forschungsfragen: Die Forschung zum Libertinage tangiert das Bild vom Ancien Régime und von der Rolle der Gelehrten für die Moderne.19 Genauer besehen konturiert sie impli17 So etwa auch der vorletzte der fünf Einträge bei Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 17 (1738), Sp. 794. 18 Die Forschung hat sich deshalb seit jeher daran abgearbeitet, das komplexe semantische Feld zu beschreiben; vgl. dazu Libertin! Usage d’une invective aux XVIe et XVIIe siècles. Hrsg. von Thomas Berns u. a. Paris 2013. Aus der älteren Forschung seien genannt Schneider, Gerhard: Der Libertin. Zur Geistes- und Sozialgeschichte des Bürgertums im 16. und 17. Jahrhundert. Stuttgart 1970 (unveränderter ND 2000); Margolin, Jean-Claude: Libertins, libertinisme, et »libertinage« au XVIe siècle. In: Aspects du libertinisme au XVIe siècle. Hrsg. von Marcel Bataillon. Paris 1974, S. 1–33; Delon, Michel: Débauche, Libertinage, Libertin. In: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820. Hrsg. von Rolf Reichardt und Hans-Jürgen Lüsebrink, Heft 13. München 1992, S. 1–43. 19 Einen bestechenden Überblick über diese historiographischen Verwicklungen bietet vornehmlich für Frankreich Cavaillé, Jean-Pierre: Libertinage, irréligion, incroyance, athéisme dans l’Europe de la première modernité (XVIe-XVIIe siècles). Une approche critique des tendances actuelles de la recherche (1998–2002). In: Les Dossiers du Grihl (URL: http://dossiersgrihl.revues.org/279). Dazu auch Stenzel, Hartmut: Ein Gelehrter zwischen humanistischer Tradition, Politik und Öffentlichkeit. Gabriel Naudé und die Probleme des »Libertinage érudit«. In: Intellektuelle in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Jutta Held. München 2002, S. 170–192, S. 176: »Sicherlich ist es so, dass in der die Position
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zit den sich wandelnden Einfluss von Religion in der Frühen Neuzeit, denn libertinage wurde vielfach in die Nähe von irréligion und Atheismus gerückt (was dem zeitgenössischen Gebrauch allerdings nur teilweise entspricht). Die Anfälligkeit dieses Forschungsfeldes für identitätsstiftende narrative Konstruktionen liegt also auf der Hand.20 Die Behandlung der frühneuzeitlichen Diskurse muss deshalb mit einer Reflexion über die jeweiligen modernen Forschungskontexte verknüpft werden, die auch die ähnlichen, wenngleich schwächeren Befunde für die Termini Dissimulation und Nikodemismus einbezieht. Libertinage, Dissimulation und Nikodemismus zeigen nicht nur deutliche inhaltliche Überschneidungen, sondern auch strukturelle Ähnlichkeiten. In allen drei Fällen spiegeln sich sozusagen Grenzarbeiten, was zeitgenössisch mach-, denk- und sagbar war.21 Um die verschiedenen Konzepte aus der Forschungsgeschichte her zu erklären, scheint es von Nutzen zu sein, den Libertismus in den Vordergrund zu stellen, da sich an ihm die größte Diskussion entzündet hat. Dissimulation und Nikodemismus sollen dann nur am Rande behandelt werden. Der Schwerpunkt der Diskussion des libertinage érudit liegt dabei auf Frankreich, denn zum einen ist libertinage ein französischer Neologismus aus dem frühen 17. Jahrhundert, zum anderen ist libertinage érudit als Forschungsterminus ursprünglich in der französischen Forschung konzipiert worden und dort zunächst vor allem auf französische Gelehrte angewandt worden.22
2. Die Gelehrten, die Verkehrten Der Terminus »libertinage érudit« ist nicht in den frühneuzeitlichen Quellen belegt, sondern geht zurück auf die magistrale Arbeit von René Pintard aus dem Jahr 1943.23 Pintard befasste sich in dieser Studie mit französi-
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Pintards prägenden Entwicklung der Libertinismusforschung die laizistischen Traditionen der dritten Republik eine wichtige Rolle gespielt haben.« Was für das Mittelalter beschrieben wurde, lässt sich leicht auf die Frühe Neuzeit transponieren, vgl. Weltecke, Dorothea: ›Quod lex christiana impedit addiscere‹. Gelehrte zwischen religiöser Verdächtigung und religionskritischer Heroik. In: Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter. Hrsg. von Frank Rexroth. Ostfildern 2010, S. 153–184. Darauf hat jüngst immer wieder Jean-Pierre Cavaillé hingewiesen, der dafür den Terminus »espaces d’acceptabilité« ins Spiel gebracht hat; vgl. Cavaillé, Jean-Pierre: Les frontières de l’inacceptable. Pour un réexamen de l’histoire de l’incrédulité. In: Les dossiers du Grihl (URL: http://dossiersgrihl.revues.org/4746). Einleitend dazu Godard de Donville, Louise: Libertinage. In: Dictionnaire du Grand Siècle. Hrsg. von François Bluche. 2., korr. Ausgabe. Paris 2005, S. 873 f; Walther, Gerrit: Art. »Libertin«. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7. Stuttgart 2005, Sp. 877–890. Vgl. Pintard: Le libertinage érudit (wie Anm. 8). Pintard bemerkt dazu im Vorwort der
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schen, vornehmlich Pariser Gelehrten aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, darunter auch zentral mit dem bereits genannten Guy Patin. Was diese Fälle zusammenhält, ist eine curiositas Neuem gegenüber und Aufgeschlossenheit für unorthodoxe Methodologien – aber auch eine gewisse Laxheit gegenüber moralischen und religiösen Engstirnigkeiten. Somit fallen diese Gelehrten unter die zitierte spätere Zedlersche Definition. Grob gesagt untersuchte Pintard minutiös ein Netzwerk von Gelehrten, als dessen wichtiger Knotenpunkt die sogenannte Tétrade fungierte, bestehend aus Gabriel Naudé (1600–1653), dem Bibliothekar von Kardinal Mazarin, sowie aus Pierre Gassendi (1592–1655), François La Mothe Le Vayer (1588–1672) und Elie Diodati (1576–1661). Es geht somit um Gelehrte, die sich fern der traditionellen universitären Pfade in den neuen wissenschaftlichen Zirkeln der Akademien trafen. Von zentraler Bedeutung ist für Pintard die Akademie der Gebrüder Jacques und Pierre Dupuy, kurz meist Cabinet Dupuy genannt.24 Nach deren Ende sieht Pintard das Anliegen dieser Gruppierung zunächst als gescheitert an. Für Pintard sind die libertins érudits also letztlich eine kleine Gruppe, die räumlich wie zeitlich recht eingeschränkt bleibt, die im Kontext des erstarkenden Absolutismus aufscheint und recht schnell wieder verschwindet. Seither hat sich jedoch weit über Frankreich hinaus eine breite Diskussion über Formen des Gelehrtenlibertinismus entwickelt. Trotz einiger Modifikationen und Erweiterungen hat sich dieser Forschungsbegriff, der die Nähe von Gelehrtheit und Devianz unterstreicht, weitgehend durchsetzen können. Allerdings ist bei Pintard und seinen Nachfolgern nicht immer deutlich geklärt, wie sich die beiden Begriffe libertinage und érudit zueinander verhalten: Geht es um die Anwendung des Libertinagebegriffs mit seinen Kriterien auf den Bereich der Gelehrten, ist der Gelehrtenlibertinismus also nur die Konkretisierung auf eine bestimmte Personengruppe? Oder ist der Gelehrtenlibertinismus ein Spezialfall des breiten Bedeutungsspektrums von Libertinage, gibt es also spezifische Praktiken und Nuancen der Gelehrten, die sich von anderen Formen des Libertinismus unterscheiden? Gibt es gar eine gewisse Korrelation zwischen Gelehrsamkeit und Libertinage?
Neuausgabe von 1983, S. XVII: »A défaut d’une appellation que j’aurais aimé trouver dans le vocabulaire du XVIIe siècle, je me suis résigne à »libertinage érudit«, en m’efforçant de compenser le vague (et l’insolite) de cette étiquette générale par une analyse aussi minutieuse que possible des éléments très variés qu’elle recouvrait.« 24 Vgl. Delatour, Jérôme: Le cabinet des frères Dupuy. In: Revue d’histoire des facultés de droit et de la science juridique 25–26 (2005), S. 157–200; dort durchaus kritisch über das Cabinet als Hort des Libertinismus, S. 186–192.
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Um dies klären zu können, ist es hilfreich, genauer auf die Forschungsgeschichte einzugehen. Pintard war keineswegs der erste, der sich mit dem Phänomen des Libertinismus in Frankreich beschäftigt hatte. Vorangegangen waren bereits eine Reihe von französischen Arbeiten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, die je auf ihre Weise das Phänomen des Libertinage für Frankreich im 17. Jahrhundert beschrieben hatten. In diesen frühen Studien erscheinen die Libertins als exzeptionell, als eine Randerscheinung und Kehrseite des ansonsten überaus konformen Grand Siècle.25 Doch wurde diese Bewertung schnell problematisiert, wobei zwei durchaus gegenläufige Tendenzen zu beobachten sind: Zum einen hielt man an einer vereinfachten Sicht des 17. Jahrhunderts fest, in dem alle fromm und königstreu gewesen wären. Doch zum anderen wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr clandestine Schriften aufgefunden, die das idealisierte Bild Frankreichs im Ancien Régime in Frage stellten. Stellvertretend sei nur die Entdeckung der Historiettes von Gédéon Tallemant des Réaux (1619–1692) genannt, in denen durchaus satirisch sowohl Adelige als auch Gelehrte porträtiert wurden. Tallemant des Réaux hatte seine um 1660 verfassten Historiettes anscheinend niemals drucken lassen, und zwischenzeitlich waren sie völlig in Vergessenheit geraten. Ihre Publikation zwischen 1834 und 1836 löste, obwohl es sich um eine um die gewagtesten Stellen bereinigte Version handelte, einen wahren Sturm der Entrüstung aus.26 Zeitgleich kam es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert zu Säuberungsaktionen der Bibliotheksbestände, wie etwa die Einrichtung des sogenannten Enfer in der Pariser Nationalbibliothek. Übereifrige Bibliothekare sortierten systematisch anrüchige »libertine« Literatur in den öffentlichen Bibliotheken in Sonderbestände aus, die gewöhnlichen Benutzern unzugänglich waren.27 Vor diesem Hintergrund entstanden die ersten zaghaften Studien zum Libertinismus im Grand Siècle. Kontrovers war schon damals die Frage, 25 So der Titel von Gaiffe, Félix: L’Envers du Grand Siècle. Etude historique et anecdotique. Paris 1924. Vgl. Cavaillé, Jean-Pierre: Les libertins. L’envers du Grand Siècle. In: Libertinage et philosophie au XVIIe siècle 7 (2003), S. 291–319. 26 Vgl. Lallemand, Marie-Gabrielle: 1834. Les Historiettes de Tallemand des Reaux font scandale. In: Elseneur 15–16 (2002), S. 173–190. 27 Entgegen älterer Annahmen lagen dafür wohl keine politischen Vorgaben vor, vgl. das Beispiel der französischen Nationalbibliothek Quignard, Marie-Françoise: L’Enfer de la Bibliothèque. Éros au secret. Paris 2007. – Das weite Feld der libertinen Literatur kann hier nur am Rande Erwähnung finden; vgl. dazu einleitend Darnton, Robert: Denkende Wollust oder die sexuelle Aufklärung der Aufklärung. In: Denkende Wollust, Frankfurt/M. 1996, S. 1–43; Pascal, Pia: Les livres de l’enfer, 2 Bde. Paris 1998; McKenna, Anthony: Molière, dramaturge libertin. Paris 2005; Philosophien des Fleisches. Das Theater der Libertinage zwischen Kunst und Wissenschaft (1680–1759). Hrsg. von Ludger Schwarte. Hildesheim 2008.
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was Libertinage sei und vor allem wer unter die Libertins zu rechnen sei. Schon Jacques Denis sah eine deutliche Nähe zum Skeptizismus und René Grousset erblickte historische Vorläufer der Aufklärung.28 Während François-Tommy Perrens Libertinage mit »libre pensée« gleichsetzte und somit vor allem auf einen theoretischen Libertinismus abhob,29 verfocht hingegen Frédéric Lachèvre einen Libertinagebegriff, der zusätzlich auch die moralische Verfehlung umfasste.30 Für Lachèvre war das Kriterium ein »esprit fort doublé d’un débauché«.31 Das bot sich umso mehr an, als Lachèvre als Ausgangspunkt seiner umfangreichen Studien den Prozess um den Dichter Théophile de Viau (1590–1626) nahm, der aufgrund seiner obzönen Dichtungen und seines fragwürdigen Lebenswandels 1623 in absentia zum Tode verurteilt wurde und nur unter dem Schutz mächtiger Patrone wenig später eines natürlichen Todes starb. Lachèvre nahm sich mit Théophile de Viau also den Fall vor, den auch schon der Jesuit François Garasse (1584–1631) als Paradebeispiel für einen religionskritischen und sittenlosen Libertin denunziert hatte.32 In der älteren Forschung und besonders bei Lachèvre ist somit deutlich die starke Abhängigkeit von den frühneuzeitlichen polemischen Schriften zu bemerken, deren Wertungen (etwa die des Theologen Garasse) fast unreflektiert übernommen wurden. Die überwiegend negative Einstellung gegenüber ihrem Untersuchungsobjekt lässt sich deutlich an Lachèvre aufzeigen: Er pries das »résultat heureux«, durch die Verurteilung von Théophile de Viau sei eine größere Durchsetzung des Libertinage um 150 Jahre hinausgezögert worden.33 Antoine Adam bemerkte 1935 hingegen, ohne den Prozess gegen Théophile hätte sich die Aufklärung schon 130 Jahre früher durchsetzen können.34 Gleichwohl meinte sich auch Adam für die 28 Denis, Jacques: Sceptiques ou libertins de la première moitié du XVIIe siècle. Gassendi, Gabriel Naudé, Guy-Patin, Lamothe-Levayer, Cyrano de Bergerac. Caen 1884 ; Grousset, René: Oeuvres posthumes. Essais et poésies. Paris 1886. 29 Perrens, François-Tommy: Les Libertins en France au XVIIe siècle. Paris 1896 (ND New York 1973). 30 Lachèvre, Frédéric: Le libertinage au XVIIe siècle, 11 Bde. Paris 1909–1928 (ND Genève 1968); ähnlich auch Busson, Henri: La pensée religieuse française de Charron à Pascal. Paris 1933. 31 Lachèvre: Libertinage, Bd. 1, S. XXIII: »Un libertin est un homme aimant le plaisir, tous les plaisirs, sacrifiant à la bonne chère, le plus souvent de mauvaises mœurs, raillant la religion, n’ayant autre Dieu que la Nature, niant l’immortalité de l’âme et dégagé des erreurs populaires. En un mot c’est un esprit fort doublé d’un débauché.« 32 Cavaillé hat Lachèvre zu Recht einen »Garasse redivivus« genannt, vgl. Cavaillé: Les libertins. L’envers du Grand Siècle (2003, wie Anm. 25), S. 313. 33 Lachèvre: Libertinage, Bd. 1, S. XVI: »Soyons donc indulgents au Jésuite et au Procureur général, serviteurs du Pape et du Roi, reconnaissons le résultat heureux de leur initiative, elle a retardé de cent cinquante ans l’avènement du libertinage.« 34 Adam, Antoine: Théophile de Viau et la libre pensée française en 1620. Paris 1935 (ND
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Anrüchigkeit von Théophile de Viaus Versen geradezu entschuldigen zu müssen.35 Pintards Studie, 1939 abgeschlossen, wenn auch erst 1943 erschienen, war vor allem eine enorme Syntheseleistung der älteren Forschungen.36 Pintard konnte auf einen nicht unumstrittenen, jedoch eingeführten Forschungsbegriff aufbauen,37 den er als Libertinage érudit nochmals auf den Bereich der Gelehrten zuspitzte. Pintard sah sich besonders in der Nachfolge von Perrens38 und etablierte einen Gelehrtenlibertinismus als eigenständiges Phänomen, das seinen Platz im Grand Siècle hatte, positivierte ihn und löste zudem spezifische methodische Probleme. Die Studie von Pintard ist vielleicht schon deshalb so wirkmächtig geworden, weil er den überaus suggestiven Terminus des Gelehrtenlibertinismus geprägt hat und in seiner Studie geradezu enzyklopädisch die wissenschaftlichen Netzwerke um das Zentrum Paris beleuchtet hat. Auch Pintard konzentrierte sich zwar auf die schon vor ihm behandelten bekannten Fälle, und selbst die Beschränkung auf die erste Hälfte des 17. Jahrhundert war durch seine Vorgänger präfiguriert. Pintards Studie steht dennoch stellvertretend für einen Wendepunkt in der Behandlung des Libertinismus, der langfristig gesehen die Positivierung dieses Phänomens vorantrieb und den Begriff des Libertin seiner ursprünglich pejorativen Konnotation entkleidete. Die Bezeichnung des Libertin erschien im Folgenden immer weniger als verunglimpfende Invektive, sondern geradezu als Adelung einer richtungsweisenden Tendenz, die als Spätfolge des Humanismus und als Vorgeschichte der Aufklärung verstanden werden konnte. Pintard bezog sich nicht mehr ausschließlich auf die frühneuzeitlichen Invektiven, sondern legte den Fokus auf die inkriminierten Schriften Genève 2008), S. 431: »La revolution qui s’est faite dans les esprits vers 1750 aurait pu se produire cent-trente ans plus tôt.« 35 Adam: Théophile de Viau, S. 8: »Et ce n’est pas non plus notre faute s’il nous a fallu parler de vices infâmes et parfois reproduire des textes répugnants.« 36 Vgl. dazu auch das Vorwort zum Reprint aus dem Jahr 1983, in dem Pintard auf die Veröffentlichungsumstände seines Buches, das er bereits 1939 abgeschlossen hatte, eingeht. Dieses Vorwort, das sich auch forschungsgeschichtlich mit der Rezeption seines Ansatzes beschäftigt, erschien bereits in: XVIIe siècle 32 (1980), S. 131–161. 37 Vgl. dazu das Urteil von Hess, Gerhard: Pierre Gassend. Der französische Späthumanismus und das Problem von Wissen und Glauben. Jena, Leipzig 1939, S. 33: »Perrens Versuch, die Geschichte der ›libertins‹ im 17. Jh. zu schreiben, ist, trotz der verfehlten Anwendung seines Begriffs, von methodischer Bedeutung, weil er die eben dargestellten Ansprüche des verweltlichten Menschen gegenüber der überkommenen Rechtgläubigkeit, eben den ›Humanismus‹ als Einheit sah. Die meisten, die nach ihm den Begriff in der Anwendung benutzten, die Perrens ihm gegeben hatte, bedachten diesen wichtigen Ansatz nicht und tragen die Schuld daran, daß das Wort ›libertins‹, gedankenlos gebraucht, kaum eine feste, soziologisch oder religiös oder geistesgeschichtlich bedeutsame Vorstellung erweckt«. 38 Pintard: Le Libertinage érudit (wie Anm. 8), S. XVI.
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und die soziale Vernetzung ihrer Autoren, um das Phänomen des libertinage besser fassen zu können.39 Diese methodologische Neuausrichtung hat sich in der Folgezeit verstärkt. Das derart etablierte Konzept des libertinage érudit wirkte zunächst auf die französische Forschung, was langfristig zu einer Neubewertung des Grand Siècle führte. Die konkreten Bezeichnungen mögen dabei je nach Autor changieren, doch lässt sich seit Pintards Studie häufig die grundsätzliche Unterscheidung eines libertinage érudit von einem libertinage flamboyant wiederfinden. So unterschied Adam zwischen libertinage érudit und libertinage scandaleux, Claude Reichler zwischen einem libertinage philosophique und einem libertinage mondain.40 Sie alle perpetuieren damit die Unterscheidung zwischen einem libertinage d’esprit und einem libertinage de moeurs. Die Forschung zum Libertinismus hat sich seitdem intensiviert. Während das Phänomen des libertinage érudit bei Pintard räumlich wie zeitlich begrenzt war, erfolgte eine deutliche Ausweitung des Forschungsgegenstandes. Als Ausläufer des Humanismus und besonders als Vorgeschichte der Aufklärung ließen sich die Ausführungen von Pintard an weitere europäische Forschungstraditionen anschließen, die ähnliche Phänomene als Skeptizismus, Pyrrhonismus oder Atheismus untersuchten.41 Besondere Aufmerksamkeit fand die Vorläufer- und Vorbildfunktion italienischer Gelehrter, wie sie etwa auch schon bei Patins Anweisung an seinen Sohn insinuiert wird.42 Insgesamt wurde der libertinage érudit nicht mehr als rein französisches, sondern als europäisches Phänomen der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur ausgewiesen.43 Besondere Aufmerksamkeit erhielt 39 Gleichwohl wird man Cavaillé zustimmen müssen, dass es auch Pintard keineswegs um eine sozial- oder kulturgeschichtliche Einordnung seiner »libertins érudit« gegangen ist; auch noch heute gilt deshalb das Urteil »l’histoire sociale du libertinage reste à faire«. Dieses Lamento ist durchaus schon älter, auch Lachèvre formuliert in seinem letzten Band seiner gewaltigen Libertinage au XVIIe siècle, Bd. 11, S. XLV: »L’histoire du libertinage au XVIIe siècle est encore tout entière à faire.« 40 Vgl. Adam: Les libertins au XVIIe siècle (wie Anm. 12), S. 7–31; Reichler: L’âge libertin (wie Anm. 7), S. 9. 41 Stellvertretend seien genannt: Spink, John S.: French Free-Thought from Gassendi to Voltaire. London 1960; Popkin, Richard H.: The History of Scepticism. From Savonarola to Bayle. Erweiterte Neuausgabe der Ausgabe von 1979. Oxford 2003; Paganini, Gianni: Clandestine Philosophy Before and After the Beginning of the Enlightenment. In: Departure for Modern Europe. A Handbook of Early Modern Philosophy (1400–1700). Hrsg. von Hubertus Busche. Hamburg 2011, S. 976–985. 42 Gregory, Tullio: ›Libertinage érudit‹ in Seventeenth-Century France and Italy. The Critique of Ethics and Religion. In: British Journal for the History of Philosophy 6 (1998), S. 323–349. 43 Das wurde vor allem aus Italien geäußert: Il libertinismo in Europa. Hrsg. von Sergio Bertelli. Milano, Napoli 1980.
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der Libertinismus von Seiten der Literaturwissenschaft, aber auch von Seiten der Philosophiehistoriker. Anthologien44, Zeitschriften und Reihen,45 Gesamtüberblicke und Einzelstudien stehen mittlerweile in großer Zahl zur Verfügung.46 Besonders in der italienischen Forschung zeigen sich Verbindung zu anderen Forschungsfeldern, die einer älteren Häresiegeschichte entwachsen waren. Hier wären die Arbeiten von Delio Cantimori, Antonio Rotondò und vor allem von Carlo Ginzburg zu nennen, und auch jüngere Studien heißen weiterhin »Eretici e libertini«.47 Ginzburgs Studie über den gebürtigen Mainzer Otto Brunfels (1488–1534) vereint zudem schon im Titel die Begriffe Nikodemismus und Dissimulation.48 Demgegenüber pflegt die deutsche Forschung ein eher zwiespältiges Verhältnis zum Gelehrtenlibertinismus. Meist bleibt der französische Terminus libertinage érudit unübersetzt stehen. Der Romanist Gerhard Schneider legte bereits 1970 eine Arbeit vor, die die komplexe französische Begriffsgeschichte in eine lineare semantische Begriffstransformation aufzulösen versuchte.49 Martin Mulsow hat die wichtige Frage gestellt, ob es auch im Reich einen Gelehrtenlibertinismus, wie ihn Pintard für Paris dargestellt hatte, überhaupt habe geben können.50 Einerseits spricht 44 So etwa Libertins du XVIIe siècle. Hrsg. von Jacques Prévot, 2. Bde. Paris 1998, 2004; Libertini italiani. Letteratura e idee tra XVII e XVIII secolo. Hrsg. von Alberto Beniscelli. Milano 2011. 45 Zu nennen wären hier vor allem La Lettre Clandestine und Libertinage et philosophie au XVIIe siècle, aber ebenfalls auch die vielen Publikationen, die mittlerweile im Internet publiziert werden, etwa von der französischen Forschergruppe Grihl (URL: http://dossiersgrihl. revues.org). 46 Vgl. dazu insgesamt die sehr hilfreiche Bibliographie, die Jean-Pierre Cavaillé seit Jahren zur Verfügung stellt und fortlaufend aktualisiert: Bibliographie : Libertinage, libre pensée, irréligion, athéisme, anticléricalisme. In: Les Dossiers du Grihl (URL: http://dossiersgrihl. revues.org/632). 47 Vgl. vor allem Cantimori, Delio: Eretici italiani del Cinquecento. Ricerche storice. Firenze 1939. 2. Aufl. Torino 1967; Rotondò, Antonio: Studi e ricerche di storia ereticale del Cinquecento. Torino 1974. So auch noch im Titel von Addante, Luca: Eretici e libertini nel Cinquecento italiano. Roma 2010. 48 Ginzburg, Carlo: Il nicodemismo. Simulazione e dissimulazione religiosa nell‹ Europa del `500. Torino 1970. 49 Schneider, Gerhard: Der Libertin. Zur Geistes- und Sozialgeschichte des Bürgertums im 16. und 17. Jahrhundert. Stuttgart 1970 (unveränderter ND 2000); bezeichnenderweise bezieht er sich kaum auf das Reich. 50 Zu Formen des Libertinismus im Reich vgl. Mulsow, Martin: Libertinismus in Deutschland? Stile der Subversion im 17. Jahrhundert zwischen Politik, Religion und Literatur. In: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 37–71; Mulsow, Martin: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2007; Mulsow, Martin: Expertenkulturen, Wissenskulturen und die Risiken der Kommunikation. In: Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. Hrsg. von Björn Reich. München 2012, S. 249–268.
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die überregionale Verflechtung der frühneuzeitlichen Gelehrten für diese These, andererseits unterscheiden sich die sozialen Verhältnisse doch wiederum recht stark. Jüngst hat Herbert Jaumann im Fall von Matthias Knutzen (1646-nach 1674) vorgeschlagen, dessen ›wilde‹ Variante religionskritischer Äußerungen in Anlehnung an das Konzept von Pintard als libertinisme sauvage zu bezeichnen.51
3. Libertin / Dissimulation / Nikodemismus Um dem forschungsgeschichtlichen Abriss zum Libertinage érudit methodologische Überlegungen und Hinweise auf neuere Forschungsrichtungen beiseite stellen zu können, muss zunächst noch einmal genauer auf den Quellenbegriff des Libertin eingegangen werden, dessen Unschärfe sich viele Diskussionen verdanken. Wie bereits gesehen, darf man nicht mit einem klaren Begriffsfeld rechnen, vielmehr erinnert vieles an ein »essentially contested concept«, also an einen Begriff, der eine allgemein geteilte Kernbedeutung besitzt, jedoch aufgrund seiner Aufgeladenheit auch künftig umstritten bleiben wird.52 Dies ist kein reines Problem der modernen Forschung, gab es doch schon ab dem 16. Jahrhundert ein erhebliches Bedeutungs- und Anwendungsspektrum der Termini libertin / libertinage / libertinisme. Libertinage ist ein Oberbegriff, der erst um 1600 entstand. Er hat unterschiedliche Wurzeln, wie schon frühneuzeitliche Wörterbücher zeigen.53 Zedlers Universal-Lexicon bietet etwa fünf verschiedene Definitionen. Zunächst umreißt die bereits zitierte erste Definition die Kernbedeutung, die in ihrer Betonung eines Normbruchs prägend wirkte. Unter eine solche Definition fallen nicht nur Patin und die anderen von Pintard beschriebenen libertins érudits. Auch adelige ›Freigeisterei‹54 wie die des Earl of Rochester (1647–1680) oder eines Marquis de Sade (1740–1814) lassen sich darunter fassen; selbst Königin Christina von Schweden (1626–1689), um wenigstens einen weiblichen Fall zu erwähnen. Zedlers Universal-Lexicon bietet jedoch auch andere, ältere Bedeutungsebenen: Es nennt den schon
51 Jaumann, Herbert: »Wilder Libertinismus«? Der Fall Matthias Knutzen. In: Kriminelle – Freidenker – Alchemisten. Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Martin Mulsow. Köln, Weimar, Wien 2014, S. 457–478. 52 Vgl. dazu Gallie, Walter Bryce: Essentially contested concepts. In: Proceedings of the Aristotelian Society 56 (1956), S. 167–198. 53 Für Beispiel aus französischen Wörterbüchern vgl. Delon: Débauche, Libertinage, Libertin, S. 1–45. 54 So die einzige dt. Entsprechung . In: Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 4 (1878), Sp. 109.
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in der Antike belegten Rechtsterminus libertinus, der freigelassene Sklaven bezeichnet. Damit verwandt ist die Erwähnung von libertini in der biblischen Apostelgeschichte, wo gewisse »Freigelassene« als Verfolger von Stephanus und somit als Mörder des ersten christlichen Märtyrers genannt werden. Wichtiger erscheint jedoch der Verweis im Zedler auf eine ältere Bedeutungsebene aus dem 16. Jahrhundert: »Libertiner, so nennte man gewisse Fanaticos, welche sich im Jahre 1525 in Holland und Brabant hervor thaten.«55 Um bestimmte Gruppierungen am Rande des reformatorischen Spektrums zu bezeichnen, die Zedler als »Fanaticos« fasst, benutzen der Genfer Reformator Jean Calvin und auch Guillaume Farel den Begriff libertin. Interessanterweise handelt es sich dabei um Fremdbezeichnungen, denn die so titulierten Personen bezeichneten sich laut Calvin selbst als Spirituelz.56 Calvin belässt es in seinem Traktat Contre la secte phantastique et furieuse des Libertins qui se nomment Spirituelz (1545) nicht bei der Charakterisierung solcher Libertins, er nennt auch Namen, allen voran Antoine Pocquet und Thiery Quintin, und zitiert aus deren Schriften.57 Da sich diese Schriften jedoch nicht erhalten haben, ist eine genauere Rekonstruktion dieser libertins nur über Calvin möglich.58 Calvins Traktat steht nicht nur in einem aktuellen polemischen Kontext, sondern verrät deutlich ältere häresiologische Traditionen, wenn er die Libertins mit frühkirchlichen Häretikern vergleicht und mit der neutestamentlichen Warnung vor den ›falschen Lehrern‹ in Verbindung bringt.59 Warum Calvin den Begriff der libertins geprägt hat, ist in der Forschung jedoch umstritten. Man mag Anleihen an spätmittelalterliche Traktate gegen die »Brüder vom freien Geiste« vermuten, die häufig als libertini bezeichnet wurden.60 Luce Albert 55 Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 17 (1738), Sp. 794. 56 An anderer Stelle steht freilich »Libertin« als Selbstbezeichnung für die Anhänger von Quintin, so in Calvins Traktat gegen die Täufer: Brieve instruction pour armer tous bons fideles contre les erreurs de la secte des anabaptistes. In: Ioannis Calvini scripta didactica et polemica, Bd. 2. Hrsg. von Mirjam van Veen. Genève 2007, S. 38: »Ceste secte se nomme des libertins.«; Calvin-Studienausgabe. Hrsg. von Eberhard Busch u. a., Bd. 3. Neukirchen-Vluyn 1999, S. 286; 57 Ediert in: Iohannis Calvini Opera. Scripta didactica et polemica, Bd. 1. Hrsg. von Mirjam van Veen. Genève 2005; Calvin-Studienausgabe, Bd. 4, S. 248–355. 58 Vgl. dazu Albert, Luce: »J’appelle ce brouillon un cocq à l’asne«. Reconstruction d’un texte libertin transmis par Calvin. In: Bulletin de la Société de l’Histoire du Protestantisme Français 155 (2009), S. 55–76. Vieles spricht dafür, dass Calvin wohl recht genau zitiert hat; dennoch haben wir nicht mehr als diese Fremdzitate; vgl. dazu Veen, Mirjam van: Introduction. In: Iohannis Calvini Opera. Scripta didactica et polemica, Bd. 1, S. 22. 59 Vgl. dazu Kap. 1 und 2 des Traktats. In: Scripta didactica et polemica, Bd. 1, S. 47–50, Calvin-Studienausgabe, Bd. 4, S. 252–257. 60 Calvin selbst nennt weder Rückverweise auf die Brüder vom freien Geist noch auf die neutestamentlichen Libertini, wie das später etwa Garasse tun wird. Zu den Brüdern vom
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macht zudem darauf aufmerksam, dass Calvin als Reformator, der selbst von katholischer Seite als Häretiker gebrandmarkt wurde, einen Alternativbegriff für Abweichler suchte.61 Auch die Libertins bei Calvin sind also Normbrecher, haben jedoch mit Religionskritik oder gar Atheismus wenig zu tun. Es handelt sich vielmehr um religiöse Individualisten, die auf mystische Traditionen zurückgriffen, eine Vergottung des Menschen propagierten und keiner Institution Kirche mehr bedurften. In ihnen steigert sich Klerikerkritik zu einer Kirchenkritik, die kirchliche Normen und Riten als nachrangig ansieht. Die von Calvin apostrophierten Libertins sind also keineswegs Skeptiker und religiöse Unter-, sondern gerade »religiöse Übererfüller«.62 Diese häresiologische Aufladung des Begriffs Libertin hat sich in kontroverstheologischen Debatten der Frühen Neuzeit über alle konfessionellen Grenzen hinweg als Invektive etablieren können. Sie diffamiert zumeist weniger eine klar umrissene Sekte oder Gruppe als vielmehr eine religiöse Haltung, die man als Spiritualismus bezeichnen kann.63 Aus diesem häresiologischen Erbe erklärt sich, dass auch der Begriff Libertin von Anfang an nicht nur für religiöse, sondern eben auch für moralische und politische Devianz steht, da diese Ebenen bereits im mittelalterlichen Häresiediskurs verknüpft waren.64 Von Anfang an besitzt der Begriff Libertinage also eine Spannweite, die von Spiritualisten bis hin zu Marquis de Sade und mithin von religiösen Übererfüllern bis hin zu a- oder antireligiösen Freigeistern reicht, deren Normbrüche deutlich stärker moralische oder politische Charakteristik aufweisen. Im Französischen zeigt sich entsprechend eine deutliche semantische Nähe zwischen libertinage und débauche, was die Nähe zum moralischen Normbruch unterstreicht. Doch auch hier gibt es eine gewisse semantische Ambivalenz. Denn auch débauche kann als honnête débauche einen positi-
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freien Geist vgl. Lerner, Robert E.: The heresy of the free spirit in the later Middle Ages. Berkeley 1972. Albert, Luce: Jean Calvin et le libertin spirituel. De l’archetype à l’alter ego. In: Libertin! Usage d’une invective aux XVIe et XVIIe siècles. Hrsg. von Thomas Berns u. a. Paris 2013, S. 83–99. Vgl. zu diesem Begriff Eißner, Daniel: Fromme Devianz. Pietistische Handwerker als religiöse Übererfüller. In: Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz im konfessionellen Zeitalter. Hrsg. von Eric Piltz und Gerd Schwerhoff. Berlin 2015, S. 333–351. Zum Spiritualismus und seinen Abgrenzungsschwierigkeiten vgl. McLaughlin, R. Emmet: Spiritualism. Schwenckfeld and Franck and their Early Modern Resonances. In: A companion to Anabaptism and Spiritualism. 1521–1700. Hrsg. von John D. Roth und James M. Stayer. Leiden 2007, S. 119–161. Vgl. dazu Hergemöller, Bernd-Ulrich: Krötenkuß und schwarzer Kater: Ketzerei, Götzendienst und Unzucht in der inquisitorischen Phantasie des 13. Jahrhunderts. Warendorf 1996.
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ven Klang haben.65 Damit kann eine höfische Vergnügung gemeint sein, die nicht notwenigerweise moralische Handlungserwartungen untergräbt. Die Nähe zu höfischen Diskursen zeigt besonders deutlich die Überschneidungen zum Bedeutungsfeld der simulatio und dissimulatio. Die Begriffe Simulation und Dissimulation stammen ursprünglich aus der rhetorischen Tradition, wo sie die Differenz zwischen Gesagtem und Gedachtem bezeichnen. In breiter Bedeutung verweisen diese Begriffe auf komplexe Diskurse zu moralischen Fragen.66 Gegen die Tradition eines rigoristischen Lügenverbots, das sich in der christlichen Tradition bis zu Augustinus zurückverfolgen lässt, wird in frühneuzeitlichen Traktaten ins Feld geführt, dass es unter bestimmten Umständen erlaubt, ja sogar geboten sei, seinem Gegenüber etwas vorzumachen (simulatio) oder vorzuenthalten (dissimulatio). Nicht die direkte Lüge steht hier im Zentrum, sondern die Notlüge und das bewusste Verschweigen – und zwar im Dienste eines höheren Zwecks.67 Bei der dissimulatio honesta geht es um den pragmatischen und opportunen Umgang mit der Wahrheit. Zu finden sind diese Empfehlungen im Kontext der politischen Theorie, wo dem Herrscher das bewusste Verschweigen und Täuschen als Tugend angeraten wird.68 Ebenso häufig finden wir entsprechende Empfehlungen allgemein im höfischen Kontext, in dem es auch für den Höfling opportun erscheint, nicht alles immer sagen und zeigen zu sollen.69 Jenseits verschiedener Kontexte sind entsprechende Phänomene auch in Wechselwirkung mit einem
65 Vgl. Delon: Débauche, Libertinage, Libertin (wie Anm. 18), S. 4. 66 Geitner, Ursula: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992; Hinz, Manfred: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992; Danneberg, Lutz: Aufrichtigkeit und Verstellung im 17. Jahrhundert. Dissimulatio, simulatio und Lügen als debitum morale et sociale. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Claudia Benthien und Steffen Martus. Tübingen 2006, S. 45–92. 67 Zagorin, Perez: Ways of Lying. Dissimulation, Persecution, and Conformity in Early Modern Europe. Cambridge, Mass. 1990; On the Edge of Truth and Honesty. Principles and Strategies of Fraud and Deceit in the Early Modern Period. Hrsg. von Toon van Houdt u. a. Leiden 2002; Krumme Touren. Anthropologie kommunikativer Umwege. Hrsg. von Wolfgang Reinhard. Wien 2007; Snyder: Dissimulation (wie Anm. 7). 68 So klassisch bei Machiavelli, Niccolò: Il Principe. Roma 1532; aber auch etwa bei Lipsius, Justus: Politica, Buch IV, 14. In: Six Books of Politics and Political Instruction. Hrsg. von Jan Waszink. Assen 2004, S. 511. 69 Vgl. stellvertretend Castiglione, Baldassare: Il Libro del Cortegiano. Firenze 1528, deutsch: Das Buch vom Hofmann. Bremen 1960; Accetto, Torquato: Della dissimulazione onesta. Napoli 1641, deutsch: Von der ehrenwerten Verhehlung. Berlin 1995; Gracián, Baltasar: Oráculo manual y arte de prudencia. Huesca 1647, deutsch: Handorakel und Kunst der Weltklugheit (Übers. Arthur Schopenhauer). Stuttgart 1986.
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gelehrten Diskurs über Dissimulation zu denken, der insbesondere auch auf gelehrte Praktiken abgefärbt hat.70 Nikodemismus bezeichnet den besonderen Fall der religiösen und nicht zuletzt rituellen Dissimulation. Der Begriff bezieht sich auf die im Johannesevangelium erwähnte Figur des Juden Nikodemus, der zu der Gruppe der jüdischen Pharisäer gehört und nur bei Nacht zu Jesus geht (Joh 3,1). Wer sich wie Nikodemus verhält, will also nach außen anders erscheinen, als er im Verborgenen handelt. Dieser Nikodemus wird im Johannesevangelium noch zwei weitere Male genannt: Zum einen ist es Nikodemus, der sich – wenn auch recht indirekt – für Jesus im Hohenrat einsetzt (Joh 7,50). Zum anderen ist es ebenfalls Nikodemus, der den gekreuzigten Jesus ehrenvoll bestatten hilft (Joh 19,39). Nikodemus ist also von einer gewissen Ambivalenz charakterisiert, die auch den Begriff des Nikodemismus auszeichnet. Wie auch schon im Falle des Libertin wurde der Begriff des Nikodemismus nicht zuletzt von Calvin in der gelehrten theologischen Debatte etabliert.71 Im Kontext der reformatorischen Auseinandersetzungen prangerte Calvin diejenigen an, die nur im Geheimen der neuen reformatorischen Idee anhingen, doch öffentlich weiter zur Messe gingen. Interessanterweise äußert sich Calvin auch dazu, wer besonders anfällig sei für Nikodemismus, und macht vier einflussreiche Elitegruppen aus. An erster Stelle sieht Calvin die Gruppe der Kleriker, die aus Bequemlichkeit und rein materiellen Gründen in den alten Strukturen verharren und nicht die aus Calvins Sicht nötige Reformation der Kirche vollziehen. An zweiter Stelle sieht er die Höflinge, die sich so sehr der dissimulatio honesta verschrieben haben, dass ihnen der Ernst fehle, moralisch richtig zu handeln. Ebenso verhalte es sich mit der dritten Gruppe, den Gelehrten, die sich
70 Cavaillé, Jean-Pierre: Dis/Simulations. Jules-César Vanini, François La Mothe Le Vayer, Gabriel Naudé, Louis Machon et Torquato Accetto. Religion, morale et politique au XVIIe siècle. Paris 2002. 71 Wieder ist es eine Polemik, die sehr stark begriffsgeschichtlich wirkte; vgl. Excuse de Iehan Calvin à messieurs les nicodemites sur la complainte qu’ilz font de sa trop grand´ rigeur. Genève 1544, Calvin-Studienausgabe, Bd. 3, S. 222–265. – Zum weiteren Feld des Nikodemismus vgl. im Kontext der Waldenser: Audisio, Gabriel: Preachers by Night. The Waldensian Barbes (15th–16th Centuries). Leiden, Boston 2007; vgl. ebenfalls zum Vorwurf in England und speziell gegen Jesuiten: Somerville, Johann P.: The ›New Art of Lying‹. Equivocation, Mental Reservation, and Casuistry. In: Conscience and Casuistry in Early modern Europe. Hrsg. von Edmund Leites. Cambridge 1988, S. 159–184; Walsham, Alexandra: Church Papists. Catholicism, conformity and confessional polemic in early modern England. Woodbridge 1999; Tutino, Stefania: Between Nicodemism and ›honest‹ dissimulation. The Society of Jesus in England. In: Historical Research 79 (2006), S. 534–553; Tutino, Stefania Nothing But the Truth? Hermeneutics and Morality in the Doctrines of Equivocation and Mental Reservation in Early Modern Europe. In: Renaissance Quaterly 64 (2011), S. 115–155.
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lieber anpassten und jedes politische Handeln als zu gefährlich einstuften. Abschließend geht Calvin noch auf die Kaufleute ein, denen er aufgrund ihrer Geschäftsorientierung unlautere Absichten unterstellt.72 Wie sehr der ganze Aufbau von Calvins Traktat in alten Traditionen steht, kann hier nicht weiter behandelt werden. Festzuhalten ist allerdings der schon von Calvin geäußerte Vorwurf, die Gelehrten seien besonders anfällig für Nikodemismus, also für religiöse Dissimulation – und somit für die Praktiken, die dann später in der Forschung unter dem Stichwort Libertinage zusammengefasst wurden.
4. »On est toujours le libertin de quelqu’un« Zwei methodische Debatten bestimmten in der Folge von Pintards Arbeit die sich immer stärker intensivierende Forschung. Zum einen wurde nachdrücklich die Frage nach einer genaueren inhaltlichen Abgrenzung des Phänomens des gelehrten Libertinismus gestellt, das sich mit Ausweitung der entsprechenden Forschung zunehmend auszudehnen schien. Da verschiedenste Formen von Antiklerikalismus, Unglauben und politischer Subversion als Libertinage deklariert werden konnten, führte dies zwangsläufig zu einer Inflation dieser Zuschreibung. Und tatsächlich ist es in nur wenigen Fällen bei Gelehrten schwierig, die vermeintlich bestätigende Zuschreibung als Libertin in der frühneuzeitlichen Polemik zu entdecken. Das zeigte weiter oben schon das Beispiel von Guy Patin – der selbst darauf bedacht war, sich von diesem Vorwurf wieder freizusprechen. Die scheinbare Kongruenz zwischen Quellenbegriff und Forschungsterminus dürfte jedoch nicht in semantischer Genauigkeit, sondern vor allem im wahrlich ubiquitären Gebrauch der Invektive in der frühneuzeitlichen Publizistik zu suchen sein. Wie unklar die Grenzen des Phänomens gezogen wurden, wird deutlich, wenn man beispielweise den Fall des Prinzen Henri II. von Bourbon-Condé (1588–1646) diskutiert: Dieser Prinz von Geblüt wurde aufgrund seines Lebenswandels und vielleicht auch wegen seiner engen Verbindungen zu bestimmten Gelehrtenkreisen bezichtigt, ein Libertin zu sein.73 Das hinderte ihn aber keineswegs in einer Schrift, die man schnell mit ihm in Verbindung brachte, selber seinen Gegner einen Libertin zu zeihen.74 Mit Pintard könnte man freilich einwenden, 72 Vgl. Excuse de Iean Calvin à messieurs les nicodemites, Bl. 6–14, Calvin Studienausgabe, Bd. 3, S. 231–241. 73 Vgl. dazu Tallemant des Reaux: Historiettes. Hrsg. von Antonie Adam, Bd. 1. Paris 1960, S. 417–422. 74 Gemeint sind die anonym erschienene Schrift aus dem Umfeld des Jansenismusstreits:
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im ersten Fall handle es sich genaugenommen um libertinage flamboyant und nur im zweiten Fall im strengen Sinne um libertinage érudit. Festzuhalten gilt aber, dass die Zuschreibung nur unter Einbeziehung des Kontextes und vielfach auch nur situativ zu verstehen ist. Die undeutliche Bestimmung des Begriffs wurde schließlich problematisch, da sich unterschiedliche Forschungsinteressen mit ihm verknüpften. In der Debatte um eine genauere inhaltliche Bestimmung des von den Quellen allzu großzügig gebrauchen Begriffs wies Françoise CharlesDaubert schließlich zu Recht darauf hin, dass libertinage érudit ein forschungsgeschichtliches »étiquette générale«, ja ein »boutade célèbre« sei: Man müsse unter diesem Etikett schlicht das verstehen, was Pintard in seinem Buch beschrieben habe.75 So gesehen erscheint der ›Gelehrtenlibertinismus‹ weniger als ein klar umrissenes historisches Phänomen, sondern eher als ein historiographisch gewachsenes Forschungsfeld. Die Suche nach einer klärenden Abgrenzung setzte ein zweites methodisches Problem auf die Tagesordnung, das langfristig zu einem veränderten Zugriff führen sollte. Die ständige Ausweitung des Konzepts der libertinage wurde offenbar auch vom Fehlen eines klaren Gegenbegriffs begünstigt. Dass die Gruppe der Libertins immer größer und zahlreicher erschien, beruhte zu weiten Teilen auf der unhinterfragten Annahme eines konformen Grand Siècle.76 Sobald jedoch nach den Standpunkten derjenigen gefragt wurde, die anderen libertinage zuschrieben, hatte man den Begriff als relationales Phänomen entlarvt: Seine Komplexität und Vielschichtigkeit verwiesen nicht nur auf ein breites Feld normabweichender Praktiken und Standpunkte, sondern auch auf ein in sich komplexes Feld verschiedener »Orthodoxien« und Normansprüche. Schon Pintard selbst hatte diese Tatsache benannt, als er vierzig Jahre nach dem Erscheinen von Le Libertinage érudit abermals auf das Problem zu sprechen kam, wie man den Begriff des Libertinage sinnvoll abgrenzen könne.77 Er erinnerte in diesem Zusammenhang an einen Ausspruch des französischern PhilosoRemarques Chrestiennes et Catholiques sur le livre de la Frequente Communion. Paris 1644, S. 10f. Dort heißt es, der Jansenist Antoine Arnauld handle »en faveur des Athées & Li bertins«. 75 Charles-Daubert, Françoise: Le »libertinage érudit«. Problèmes de définition. In: Libertinage et Philosophie au XVIIe siècle 1 (1996), S. 11–25, S. 17: »Ainsi, s’il faullait définir le libertinage érudit, on serait réduit à paraphraser une boutade célèbre: le libertinage érudit, c’est ce dont parle le livre de R. Pintard.« Ausführlicher dazu auch Charles-Daubert, Françoise: Les libertins érudits en France au XVIIe siècle. Paris 1998. 76 Vgl. Houdard, Sophie: Le Grand Siècle ou le Siècle des Saints: une fausse perspective. In: Littératures classiques 76 (2011), S. 147–154. 77 Pintard: Le libertinage érudit (wie Anm. 8), S. XIV: »Première difficulté, pour l’historien du libertinage: la définition de son objet, du domaine qu’il va explorer, de la terminologie qu’il emploiera et du même coup de sa méthode.«
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phiehistorikers Emile Brehier: »on est toujours le libertin de quelqu’un«.78 Auch für die Neuausgabe aus dem Jahr 1983 bot Pintard also keine klare Definition des Phänomens. Das Verständnis von libertinage als relationalem Begriff eröffnete jedoch neue Perspektiven, die nunmehr die Entwicklung neuer Fluchtpunkte erlaubten.79 Wie von Louise Godard de Donville mit Nachdruck herausgestellt wurde, muss die pejorativ gemeinte Zuschreibung von libertinage aus der Tradition der Häresiologie hergeleitet werden.80 Im frühen 17. Jahrhundert kann man in der theologischen Apologetik regelrecht die Textsorte Contre les libertins ausmachen.81 Godard de Donville untersuchte besonders die Polemik des Jesuiten François Garasse, dessen Doctrine curieuse Théophile de Viau als den Libertin par excellence vorstellte. Sie zeichnete nach, wie wenig Garasse auf den konkreten Fall des Théophile de Viau selbst als vielmehr auf ältere Versatzstücke der christlichen Polemik aufbauen konnte, die weit ins Mittelalter zurückgriff.82 Zu dieser Tradition gehört auch die über seine religiöse Integrität hinausgreifende Charakterisierung des Gegners. Godard de Donville kann nachweisen, dass Garasse hier den Prototyp eines Libertin entwirft, der nicht nur religiös und moralisch, sondern eben auch politisch anstößig ist. So verstanden, können die Konstruktionen historischer Polemiker erforscht werden, bleiben aber an sich »Phantom«, da kein Zeitgenosse den entworfenen Konstrukten vollständig entsprochen haben dürfte. Die Nähe zum Häresiediskurs verweist auch auf parallele methodologische Debatten in diesem Forschungsfeld, auf dem liebgewonnene Gewissheiten längst abgebaut wurden: Zu nennen wäre etwa die Frage nach Entstehung und Konsistenz einer katharischen Kirche, die aktuell meist nicht mehr als einheitliches Phänomen wahrgenommen wird.83 Wie so häufig bei Invektiven, sagt die Verwendung mehr
78 Pintard: Le libertinage érudit, S. XV. 79 Pintard: Le libertinage érudit, S. XV: »il suffit de comparer le façons dont un Garasse, un Guy Patin, un Pascal ou un Bayle emploient le mot pour constater combien en sont relatives, en degré et en nature, les significations.« Dazu auch Cavaillé, Jean-Pierre: Pour un usage critique des catégories en histoire. In: Faire des sciences sociales. Bd. 1: Critiquer. Hrsg. von Pascale Haag und Cyril Lemieux. Paris 2012, S. 122–147. 80 Godard de Donville, Louise: Le Libertin des origines à 1665. Un produit des apologètes. Paris 1989; Godard de Donville, Louise: L’invention du »libertin« en 1623 et ses conséquences sur la lecture des textes. In: Libertinage et philosophie au XVIIe siècle 6 (2002), S. 7–17. 81 Neben dem bereits erwähnten Garasse wäre vor allem Mersenne zu nennen: Garasse, François: La doctrine curieuse des beaux esprits de ce temps, ou prentendus tels. Paris 1623; Mersenne, Marin: L’impiété des déistes, athées et libertins de ce temps. Paris 1624. 82 Interessanterweise kann sie eine direkte Verbindung zwischen der Nennung der »Libertini« in der Apostelgeschichte über die Auslegungstradition von Beda Venerabilis bis zu Garasse nachweisen; vgl. Godard de Donville: L’invention (2002, wie Anm. 80), S. 9. 83 Ähnliches ließe sich zu den Täufern oder zum Pietismus sagen. Unter Aufarbeitung der
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über den Ankläger als über den Angeklagten aus. Auch ein weiterer, aus der Häresieforschung hinlänglich bekannter Umstand trifft zu: Wer über Devianz forscht, kann dies nicht tun, ohne genauer über Orthodoxie zu handeln. Eine Geschichte des Libertinage érudit müsste letztlich auch eine Geschichte der frühneuzeitlichen »Orthodoxien« schreiben.84 Diese Probleme führten zu einer weiteren methodischen Umorientierung in der Erforschung des Gelehrtenlibertinismus, die wegweisend bleibt: Man suchte nicht mehr nach einem festen Inhalt des Phänomens, sondern nahm nun bestimmte, einander überlagernde Abgrenzungen in den Blick. Der Akzent der Forschung verlagerte sich weg von der Identifizierung von konkreten Personengruppen und hin zur Beschreibung bestimmter Praktiken. Knapp zusammengefasst, hinterfragten Forschungen, die sich aus der älteren Auseinandersetzung mit den positiven Bewertungen von Säkularismus und Intellektualismus speisen, nochmals beide Begriffsbestandteile des libertinage érudit: Wiederholt geriet die Grenze zwischen libertinage und Religion und die Grenze zwischen libertinage érudit und libertinage de moeurs in den Blick. Im Rahmen der ersteren Thematik wurden verschiedene Aspekte verfolgt. Da Libertinage als Abweichung oder Infragestellung von religiösen Normen gesehen wurde, stellte sich die Frage, wie weit eine solche Abweichung historisch gehen konnte.85 Kontrovers diskutiert wurde dies etwa in Reaktion auf die zweibändige Anthologie zu den Libertins du XVIIe siècle von Jacques Prévot.86 Prévot versammelte darin Theophile de Viau, Forschungsgeschichte vgl. hierzu Pegg, Mark Gregory: On Cathars, Albigenses, and good men of Languedoc. In: Journal of Medieval History 27 (2001), S. 181–195, bes. S. 192. Pegg sieht die Gefahr, vorschnell eine differente Religion unter dem Label Katharer zusammenzufassen und eine allzu kohärente Gruppe zu konstruieren; er kritisiert auch explizit die Versuche, noch in dem frühneuzeitlichen Müller Menocchio einen Katharer sehen zu wollen, wie es vorgeschlagen wurde von Del Col, Andrea: Dominico Scandella detto Menocchio: I processi dell’Inquisizione (1583–1599). Pordenone 1990, S. liii–lxxvi. Vgl. zur mittelalterlichen Forschung, die sich leicht auf die Frühe Neuzeit übertragen lässt, den Schlagabtausch zwischen Robert Moore und Peter Biller. In: Reviews in History (URL: http://www.history.ac.uk/reviews/review/1546). 84 So auch sehr treffend John Arnold in seiner Rezension von Peggs Buch The Corruption of Angels. In: H-France Review 1 (2001), S. 141: »What is a heretic? Heresy only exists where there is an orthodoxy to name it. The two are an inseparable binary, and ›heresy‹ is forever both a boundary and a fluctuating category. Keeping this conundrum in mind when studying heresy – particularly when thinking about how the primary materials upon which the historian depends construct the object under study – can be a harder task than it might appear.« 85 Allgemein zur Frage frühneuzeitlicher Heterodoxie: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hartmut Laufhütte und Michael Titzmann. Tübingen 2006; Quéval, Marie-Hélène: Orthodoxie et hétérodoxie. Libertinage et religion en Europe au temps des Lumières. Saint-Etienne 2010. 86 Libertins du XVIIe siècle. Hrsg. von Jacquet Prévot. 2. Bde. Paris 1998 u. 2004.
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Gabriel Naudé, Pierre Gassendi, François La Mothe Le Vayer, aber auch Cyrano de Bergerac oder Des Barreaux, er stellte also genau die Personengruppe zusammen, die man auf Pintard aufbauend als Libertins bezeichnen kann. Allerdings wies er deutlich auf die Grau- und Zwischenstufen zwischen Religiosität und Religionskritik hin, die in diesen Beispielen von Devianz zu finden sind. Jean-Pierre Cavaillé konterte dagegen scharf, dass man, folge man Prévots Darstellung, auch einen Ordensgelehrten wie Marin Mersenne, der die neben Garasse bekannteste Polemik gegen die Libertins des 17. Jahrhunderts verfasst hat, ebenfalls unter die Libertins zählen könne und müsse.87 Libertin und Libertinkritiker fallen also zusammen, oder anders formuliert: Libertinage wird zum Synonym für den frühneuzeitlichen Gelehrtenhabitus. Diese Kritik um die Bewertung von Prévot zeigt die weiterhin wirksame Debatte um die Existenz oder Nichtexistenz von Unglauben, die auch auf das Forschungsfeld des Libertinage überschwappte. Besonders für die französische Forschung scheint dabei Lucien Febvres Buch über Rabelais’ Religion wesentlich.88 Es war nahezu zeitgleich zu Pintards Studie erschienen und kann als Kontrapunkt gelten, da Febvre bekanntlich die Existenz von Unglauben in der Vormoderne sehr in Zweifel zog und damit auch das Phänomen eines religionskritischen Libertinage berührte. Forschungen zu libertinen Praktiken müssen entsprechend vor dem Hintergrund der fortgesetzten Debatte um die Existenz von Atheismus in der frühen Neuzeit gesehen werden, die auch über Frankreich hinaus kontrovers diskutiert wurde.89 Neuere Forschungen haben allerdings auch hier ältere Befunde revidiert: Wie mittlerweile als gesichert gelten kann, war die Existenz von
87 Vgl. Cavaillé: Le libertinage. L’envers du Grand Siècle (wie Anm. 25), S. 318; Cavaillé: Libertinage [...] Une approche critique des tendances actuelles (wie Anm. 19), Abschnitt 3: »Saint libertin ora pro nobis«. 88 Febvre, Lucien: Le problème de l’incroyance au 16e siècle. La religion de Rabelais. Paris 1942, deutsch: Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais. Mit einem Nachwort von Kurt Flasch. Stuttgart 2002. 89 Als gegensätzliche Pole in dieser Debatte dürfen gelten: Kors, Alan Charles: Atheism in France. 1650–1729, Bd. 1. Princeton 1990; Schröder, Winfried: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1998. Dazu vgl. die methodisch wichtige Erwiderung von Jaumann, Herbert: Wortlaut und Kontext. Überlegungen zur historischen Interpretation anhand von Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. In: Scientia poetica 6 (2002), S. 131–146; darauf wiederum bezugnehmend das Nachwort von Schröder in dessen Neuausgabe 2012, sowie Stockinger, Hermann E.: Die ›Bedrohung‹ des Atheismus: Kampf gegen Windmühlen? In: Departure for Modern Europe. A Handbook of Early Modern Philosophy (1400–1700). Hrsg. von Hubertus Busche. Hamburg 2011, S. 994–1012.
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religiösem Zweifel und Unglauben auch schon im Mittelalter sehr viel stärker verbreitet als bislang angenommen.90 Man suchte entsprechend nach trennschärferen Abgrenzungen, und Forscher, die an einem konzisen Begriff für das Phänomen Libertinage interessiert waren, warnten vor einem zu laxen Gebrauch dieses »etiquette générale«. In der jüngsten Forschung zeigt sich für Frankreich ein doppelter Versuch, die aufgezeigten Aporien zu vermeiden und dennoch das Phänomen Libertinismus und die entsprechenden Praktiken näher in den Blick zu nehmen: Didier Foucault schrieb eine Histoire du libertinage und eben nicht eine Geschichte der Libertins.91 Isabelle Moreau verfasste eine umfangreiche Studie über die Wechselwirkung von Denken und Schreibstil im Libertinismus.92 Alain Mothu und Jean-Pierre Cavaillé wurden nicht müde, den Terminus als solchen auf seine Tragfähigkeit weiterhin zu untersuchen. Sie fragten provokant, ob es nicht an der Zeit sei, auf die Begriffe libertin und libertinage zu verzichten, da sie zu sehr von der älteren häretischen Imprägnierung korrumpiert seien.93 Selbst Pintard habe durch seine Verengnung auf einen theoretischen Libertinismus nur zu einer halbherzigen Rehabilitierung der ehemals inkriminierten Gelehrten geführt. Pintards Zuspitzung sei letztlich dem Bedürfnis geschuldet, einen »guten« libertinage érudit von einem »anrüchigen« libertinage des moeurs abgrenzen zu wollen.94 Bei näherer Betrachtung der Einzelfälle zeige sich jedoch, dass auch der Libertinismus unter Gelehrten Formen des moralischen Libertinismus einschließe. Wiederholt ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass sich hier nicht nur das Erbe der frühneuzeitlichen Häresiologie, sondern auch dasjenige der älteren französischen Forschung zeige.95 90 Arnold, John H: Belief and unbelief in medieval Europe. London 2005; Weltecke, Dorothea: ›Der Narr spricht, es ist kein Gott‹. Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit. Frankfurt/M. 2010. 91 Foucault, Didier: Histoire du libertinage. Des goliards au marquis de Sade. Paris 2007. 92 Moreau, Isabelle: »Guérir du sot«. Les stratégies d’écriture des libertins à l’âge classique. Paris 2007. 93 Dazu die Diskussionsbeiträge unter dem Titel »Faut-il en finir avec les libertins?« und darin besonders den Beitrag von Alain Mothu. In: Les Dossiers du Grihl (URL: http://dossiersgrihl.revues.org/4490). 94 Damme, Stéphane van: Libertinage de moeurs/libertinage érudit. Le travail de la distinction. In: Libertinage et Philosophie au XVIIe siècle 8 (2004), S. 161–179; Houdard, Sophie: Vie de scandale et écriture de l’obscène: hypothèses sur le libertinage de moeurs au xviie siècle. In: Tangence 66 (2001), S. 48–66. 95 Vgl. Stenzel, Hartmut: Un lieu de mémoire français en danger. Libertinage et »siècle classique«. In: Romanische Forschungen 121 (2009), S. 203–226; Stenzel: Gabriel Naudé und die Probleme des »Libertinage érudit«, S. 175: »Bei der Verwendung dieses Begriffs, dessen historische wie inhaltliche Reichweite höchst umstritten ist, wird man sich allerdings vor jenem Substantialismus hüten müssen, mit dem er – mehr im Anschluß an Pintard denn von diesem selbst – als systematisierende Bezeichnung für eine philosophisch wie personell
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Cavaillé geht in seinen neueren Beiträgen soweit, ›Libertin‹ und ›Libertinage‹ nur noch in Anführungsstrichen zu gebrauchen, um auf die Diskrepanz zwischen Quellenbegriff und Zuschreibung hinzuweisen. Um dennoch die Aspekte der frühneuzeitlichen irréligion beschreiben zu können, erprobt er dafür Alternativbegriffe wie esprit fort und déniaisé.96 Sie sollen den Vorteil bieten, näher an Selbstbezeichnungen der Gelehrten zu kommen, da sie von der Gruppe der Gelehrten selbst benutzt wurden und im Gegensatz zum »libertin« nicht als diffamierende, sondern als eine wohlwollende, fast schon bewundernde Fremdbezeichnung verwendet wurden. Ein weiterer Versuch, über das Erbe der Häresiologie hinauszugelangen, liegt in der Suche nach älteren Wurzeln des Libertinage, die sich nicht auf Garasse und Calvin beziehen. Luca Addante hat beispielsweise einen Fall aus Siena ausfindig gemacht, wo 1525 die satirische Selbstbezeichnung als libertini nachweisbar ist.97 Teils wird eine solche rückwärtige Suche nach Vorläufern bis zu den Goliarden des 12. Jahrhunderts gezogen.98 Folgte man dieser Argumentation, so erscheint jedoch der von Calvin stammende und dann auch von anderen Theologen übernommene Bezug auf »religiöse Übererfüller« als völlige Anomalie, was durchaus fragwürdig erscheint.
5. »Oui, je suis un libertin, je l’avoue« Wie also sind Praktiken des Libertinage jenseits der Annahme einer einheitlichen Gruppe und Terminologie zu beschreiben? Welche Strategien lassen sich mit dieser Bezeichung in Verbindung bringen, vor allem mit den (durchaus nicht allzu zahlreichen) Selbstzuschreibungen? Generell wird man berücksichtigen müssen, dass die Verwendung des Begriffs libertin kaum je rein deskriptiv zu lesen ist, sondern performativen Charakter als klar umrissen erscheinende Gruppierung verwendet wird.« So auch Garber, Klaus: Wege in die Moderne. Historiographische, literarische und philosophische Studien aus dem Umkreis der alteuropäischen Arkadien-Utopie. Berlin 2012, S. 209. 96 Cavaillé, Jean-Pierre: Postures libertines. La culture des esprits forts. Toulouse 2011; Viele dieser Beiträge sind auch online in den Dossiers du Grihl (URL: http://dossiersgrihl. revues.org) erschienen. Jüngst hat Cavaillé die Abgrenzung und Überschneidungen hin zum Begriff der Déniaisés neu ausgelotet: Cavaillé, Jean-Pierre: Les Déniaisés. Irréligion et libertinage au début de l’époque moderne. Paris 2014, bes. S. 21–22. 97 Dazu Addante, Luca: Radicalismes politiques et religieux. Les libertins italiens au XVIe siècle. In: Libertin! Usage d’une invective aux XVIe et XVIIe siècles. Hrsg. v. Thomas Berns u. a. Paris 2013, S. 29–50. 98 Diesen Konnex hatte schon Jacques Le Goff hergestellt, vgl. Foucault, Didier: Histoire du libertinage (wie Anm. 12), S. 13. Ähnlich auch Godard de Donville: Le Libertin des origines à 1665 (wie Anm. 80), S. 37–47.
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hat und zumeist komplexe Akte der (Selbst-)Abgrenzung und Normenkritik auf Seiten der Autoren impliziert. Im gelehrten Milieu handelt es sich häufig um Spielarten eines gelehrten self-fashioning, das sowohl die Identität bestimmter Individuen wie deren Habitus als Gelehrte gegenüber ihrer Umwelt zu konstituieren sucht.99 In Selbstpositionierungen, die teils bewusst auf einen Status als Außenseiter verweisen und bisweilen auffällig spielerischen Charakter tragen, konnte das pejorative Etikett des libertin dann sogar positiviert werden. Ja, er sei ein Libertin, er gebe es zu – so etwa die wohl berühmteste Selbstzuschreibung als Libertin aus der Feder des Marquis de Sade, zu finden in einem Brief an seine Frau aus dem Jahr 1781.100 Diese Selbstzuschreibung als Libertin ist allerdings nicht nur recht spät, sondern stammt zudem von einem Adeligen. Auch in ihr wird jedoch mit der Selbstbezeichnung eigentlich nur gespielt, wenn man de Sades Brief als Ganzen liest: Er benutzt sein Geständnis nur, um sich geschickt wieder von dem Vorwurf freizusprechen. Folgt man de Sade, so mag man ihn zwar einen Libertin nennen, aber im Grunde sei er ein guter Christ. Er habe schließlich durchgängig alle nötige Nächstenliebe gezeigt.101 Zudem möge man doch bitte zwischen Denken und Handeln unterscheiden: Vorgestellt habe er sich sehr wohl alles Erdenkliche, doch davon umgesetzt nur weniges.102 Die Dichotomie zwischen Innen und Außen, die den Kern der Invektive Libertin ausmacht, spielt er somit zu seinen Gunsten aus. Dieses Beispiel ist in zweierlei Hinsicht interessant: Auch noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts gilt der Libertin als skandalös. Gleichzeitig lädt die Invektive im adeligen, höfischen Kontext zum gekonnten verbalen Spiel ein. Genaugenommen kokettiert Marquis de Sade mit der Selbstbezeichnung als Freigeist.
99 Greenblatt, Stephen: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare. Cambridge, Mass. 1990. 100 Brief von Marquis de Sade an seine Frau vom 20. Februar 1781, zitiert nach Lely, Gilbert: Vie du marquis de Sade. Paris 1989, S. 312. Vgl. dazu Reinhardt, Volker: De Sade oder die Vermessung des Bösen. Eine Biographie. München 2014, S. 174. 101 Zitiert nach Lely: Vie du marquis de Sade, S. 312: »Je suis un libertin, mais trois familles domiciliées dans votre quartier ont vécu cinq ans de mes aumônes, et je les ai sauvées des derniers excès de l’indigence. Je suis un libertin, mais j’ai sauvé un déserteur de la mort, abondonné par tout son régiment et par son colonel. Je suis un libertin, mais aux yeux de toute votre famille, à Évry, j’ai, au péril de ma vie, sauvé un enfant qui allait être écrasé sous les roues d’une charette emportée par des chevaux, et cela en m’y précipitant moi-même. Je suis un libertin, mais je n’ai jamais compromis la santé de ma femme.« 102 Zitiert nach Lely: Vie du marquis de Sade, S. 312: »Qui, je suis un libertin, je l’avoue: j’ai conçu tout ce qu’on peut concevoir dans ce genre-là, mais je n’ai sûrement pas fait tout ce que j’ai conçu et ne le ferai sûrement jamais. Je suis un libertin, mais je ne suis pas un criminel ni un meurtrier«.
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Vergleichbare Formen der polemischen Aneignung, die den gegnerischen Vorwurf zu neutralisieren suchen, finden wir jedoch auch schon deutlich früher. Jean-Pierre Cavaillé hat in letzter Zeit immer wieder solche frühen Selbstbezeichnungen thematisiert. Seine Beispiele stammen aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, konkret aus dem englischen Interregnum.103 Bei dem Spiritualisten Tobias Crisp (1600–1643) heißt es etwa: »To be called a Libertine, is the gloriousest title under heaven.«104 Diese Aussage ist wiederum eine Kontrafaktur des polemischen Ausdrucks »Li bertine«, denn es heißt dort weiter: »To be made free by Christ, in proper construction, is no other but this; to be made a Libertine by Christ: I doe not say, to be made a Libertine in the corrupt sence of it; but to be a Libertine in the true and proper sence of the word.« Ein »wahrer« Libertinismus wird hier gegen einen korrupten Libertinismus ins Feld geführt. Auch dieser »wahre« Libertinismus ist aus der Sicht kirchlicher Theologie abzulehnende Devianz, aus der Perspektive eines Crisp hingegen steht er für eine elitäre religiöse Position, die freilich geradezu das Gegenteil von Religionskritik oder Unglauben ist. Ganz vergleichbare Beispiele aus der konfessionellen Polemik ließen sich auch schon für das 16. Jahrhundert benennen. So spricht auch schon der Spiritualist Hendrik Niclaes, Gründer der sogenannten Familia Charitatis, um 1555 von den »wahren Freien«.105 Derartige Beispiele aus dem 16. und 17. Jahrhundert spiegeln nicht nur spiritualistische Entwürfe wider, wie sie Calvin in seinem Traktat Contre les libertins thematisiert hatte, sie dürfen in den genannten Fällen
103 Cavaillé, Jean-Pierre: Libertine and Libertinism. In: The Journal for Early Modern Cultural Studies 12 (2012), S. 12–36; ebenfalls erschienen als: Les usages polémiques des termes »libertine«, »libertinsm« en Grande-Bretagne aux XVIe et XVIIe siècles. In: Libertin! Usages d’une invective aux XVIe et XVIIe siècles. Hrsg. von Thomas Berns u. a. Paris 2013, S. 51–79. 104 Crisp, Tobias: Christ alone exalted. London 1643, S. 227; vgl. dazu auch Cavaillé: Libérer le libertinage. Une catégorie à l’épreuve des sources. In: Annales. Histoire, Sciences Sociales 64 (2009), S. 60. 105 Niclaes, Hendrik: Den Spiegel der gerechticheit. [Antwerpen 1555], Buch IV, Kap. 29, Bl. 55r: »Dat zyn warlick de gene die tho rechte vry zyn / se zyn dan wie se willen offte war dat se zyn: so vele offte weynich alser zyn / offte vnder wat natien van völckeren dat se ock zyn / idt zy dan onder Jödenen offte Christenen / vnder Torcken offte heydenen / offte vnder wat partyen / geschlachten / tungen offte spraken dat se ock zyn: Want die also genatuureert zyn tho alle Sachtmüdicheit der Lieffden / desuluen zyn de vprechte Vryen: Want sodanige hebben allen Leuen vnde Wanderinge in Gode / die de Lieffde suluest is: Want de Geist des warachtigen Wesens leydet se in alle Warheit«; vgl. dazu meinen Beitrag: Messbesuch für Anfänger und Fortgeschrittene. Zur Ambiguität der konfessionellen Zugehörigkeit. In: Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Andreas Pietsch und Barbara Stollberg-Rilinger. Gütersloh 2013, S. 239–267, bes. S. 256.
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sogar ihrerseits als direkte Reaktion von Spiritualisten auf Calvins Polemik gelten. Polemische Aneignungen der Invektive Libertin finden wir allerdings auch bei Gelehrten. Wiederum lässt sich dies gut am bereits eingangs zitierten Guy Patin aufzeigen: Patin lässt zwar keinen Zweifel daran aufkommen, nicht selbst als Libertin gelten zu wollen – obwohl er seinem Sohn zu allen Praktiken der Dissimulation und des Nikodemismus rät. Aufschlussreich sind jedoch auch Details, die erst aus der Publikationsgeschichte der handschriftlich überlieferten Papiers de Patin deutlich werden, denen die Rätschläge an seinen Sohn entnommen waren.106 Die Handschrift Patins wurde anscheinend um 1700 benutzt, um nochmals die besten Bonmots und Einschätzungen von besagtem Patin und dessen Bekannten Gabriel Naudé in den Druck zu geben. Diese Naudaeana et Patiniana bedienten die beliebte Gattung der Ana-Literatur, die eine Modeerscheinung unter den Gelehrten war und im Falle von Patin sogar mehrere Ausgaben und Auflagen erlebte.107 Vorangegangen waren Briefsammlungen, die nicht nur Patins langjährige Briefwechsel und Bekanntschaft mit anderen Gelehrten dokumentierten, sondern auch Patins scharfen Witz unter Beweis stellten und eine Nachfrage von Ana angefeuert haben dürften. Während in den gedruckten Naudaeana et Patiniana ganze Passagen aus Patins handschriftlichem Konvolut nahezu wortwörtlich übernommen wurden, sucht man dort Patins Anweisungen an seinen Sohn vergebens. Allerdings finden wir die Lebensdevise Intus ut libet, foris ut moris est, die in den handschriftlichen Papiers de Patin nicht nur im Kontext seines Sohnes, sondern gleich an mehreren Stellen genannt wird, auch in den gedruckten Naudaeana und Patiniana. Dort wird diese Lebensdevise im Kontext des italienischen Philosophen Cesare Cremonini (1550–1631) erwähnt.108 Für die Druckfassung wurde somit eine Stelle übernommen, die den Verweis auf Italien als Ursprung der von Patin empfohlenen Lebenshaltung näher erläutern hilft. Bezeichnenderweise wird die Lebensdevise aber nirgends direkt Patin zugeschrieben. Eine Nähe zwischen Libertinage 106 Zur Authentizität dieser Überlieferung vgl. Pintard: La Mothe le Vayer, Gassendi, Patin (wie Anm. 1), S. 51–53; deutlich kritischer Kristeller, Oscar: The Myth of Renaissance Atheism and the French Tradition of Free Thought. In: Journal of the History of Philosophy 6 (1968), S. 233–243; nun dazu Cavaillé, Jean-Pierre: The Italian Atheist Academics. A Myth of the French Pre-Enlightenment? In: Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur. Hrsg. von Friedrich Vollhardt. Berlin 2014, S. 39–50. 107 Zur Ana-Literatur vgl. Wild, Francine: Naissance du genre des Ana (1574–1712). Paris 2001, dort speziell zu Patin: S. 473–492. 108 Naudaeana et Patiniana, ou Singularitez remarquables, prises des conversations de Mess. Naudé & Patin. Paris 1701, S. 116.
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und Gelehrten wird also durchaus hergestellt, gleichzeitig aber sorgfältig nach Italien verlagert. Somit wird der Vorwurf einer libertinen Haltung zwar für die eigene Gruppe der Gelehrten in gewisser Weise angeeignet, doch gleichzeitig durch das ferne Italien distanziert. Patin schreibt also sehr wohl über gelehrte Libertins, er ist aber darauf bedacht, nicht selber als solcher zu erscheinen. Diese doppelbödige Nähe hat jedoch anscheinend immer wieder den frühneuzeitlichen Verdacht genährt, man müsse auch Patin zu den Libertins zählen. Sowohl die Herausgeber seiner Naudaeana et Patiniana als auch seiner Briefsammlungen versuchen wortreich, diesen Vorwurf zu zerstreuen.109 Ein zweites, in der Forschung häufig zitiertes Beispiel führt wiederum in den Kern des von Pintard benannten Kreises der Pariser Libertins érudits und wird wiederum von Patin überliefert. Er habe sich mit Gabriel Naudé und Pierre Gassendi zu einer débauche getroffen.110 Der implizite moralische Vorwurf eines feucht-fröhlichen Gelages mit weiteren Entgleisungen, der in dieser Benennung steckt, wird jedoch von Patin sofort wieder relativiert: Wie er schreibt, würden weder seine Gäste noch er selbst Alkohol vertragen; ihre débauche bestehe vielmehr darin, sich frei und offen zu äußern.111 In einer derartigen, wiederum mit dem Etikett des Libertin kokettierenden Aneignung wird die negativ besetzte Normabweichung und Unersättlichkeit des unmoralischen (vermutlich höfischen) Libertin zu Maßstab und Metapher für eine positiv besetzte Außergewöhnlichkeit und Wagemutigkeit des Gelehrten. Ein drittes Beispiel betrifft Jean-Jacques Bouchard (1606–1641), der ein Tagebuch eigener Art führte, in das er besonders anstößige Wörter oder Personen, die sich durch ihre Nennung kompromitiert fühlen konnten, nur verschlüsselt mit griechischen Buchstaben notierte.112 Diese Vor-
109 Naudaeana et Patiniana, S. 9; ähnlich auch in der Briefedition Lettres choisies de feu Mr. Guy Patin. Bd. 1, Cologne 1691, Bl. *6v. 110 Brief von Guy Patin an André Falconet vom 27.8.1648. In: Lettres de Gui Patin. Hrsg. von Paul Triaire, Bd. 1. Paris 1907, S. 616–618, S. 616: »M. Naudé, bibliothéquaire de M. le cardinal Mazarin, intime ami de M. Gassendy, comme il est le mien, nous engagez pour dimanche prochain […] nous trois en sa maison de Gentilly, à la charge que nous ne serons que nous trois, et que nous y ferons la débauche: mais Dieu sçait quelle débauche! M. Naudé ne boit naturellement que de l’eau, et n’a jamais goûté vin. M. Gassendy est si délicat qu’il n’en oseroit boire.« 111 Lettres de Gui Patin, S. 617: »néaumois ce sera une débauche, mais philosophique […], pour être tous trois, guéris du loup-garou et délivrés du mal des scrupules, qui est le tyran de consciences, nous irons peut-être jusque fort près du sanctuaire […] nous y parlames fort librement de tout, sans que personne en ait été scandalisé.« 112 Bouchard, Jean-Jacques: Journal. Hrsg. von Emanuele Kanceff. 2 Bde. Torino 1976 u. 1977; vgl. Cavaillé, Jean-Jacques: Atheismus und Homosexualität im Schatten der Römischen Kurie. Jean-Jacques Bouchard in Italien. In: Kriminelle – Freidenker – Alchemisten.
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sichtsmaßnahme zeigt einmal mehr die Anwendung von Verschleierungstaktiken. Doch hätte diese durchaus simple Verschlüsselung vor keinem anderen Gelehrten und erst recht vor keinem Inquisitor Bestand gehabt – allenfalls Dienstboten, so könnte man spekulieren, mochte man so von der Lektüre problematischer Stellen abhalten können. Es fragt sich also, wer hier am Dechiffrieren gehindert werden sollte bzw. welchen Wert diese Verschlüsselung de facto hatte. Letztlich erscheint sie als doppelbödige Verschleierungs- und Hervorhebungsmaßnahme, in der die Normüberschreitung sowohl kaschiert als auch demonstrativ als solche ausgewiesen wird. Stellt man abschließend nochmals die Frage nach dem Verhältnis von Gelehrten und Libertinage, so lassen sich durchaus Indienstnahmen einschlägiger Praktiken und Positionierungen für die Abgrenzung verschiedener gelehrter Habitus auffinden. Doch macht es kaum Sinn, solche Abgrenzungen unter Ausblendung weiterer Kontexte allein auf Dynamiken gelehrter Milieus zu beziehen. Festzuhalten gilt zunächst, dass Gelehrte besonders häufig der Verdacht und auch der Vorwurf traf, es mit den sozialen und religiösen Normen nicht allzu genau zu nehmen. Doch fällt auch ins Auge, dass die von der älteren Forschung als libertins érudits ausgewiesenen Gelehrten sich eben nicht in rein universitären Milieus bewegten, sondern vielmehr zwischen verschiedenen sozialen Kontexten zu lavieren hatten, was ihre komplexen Positionierungen durchaus mit bedingt. Man mag in diesem Zusammenhang an die grundsätzliche Normenkonkurrenz erinnern, die Hillard von Thiessen als Spezifikum der Vormoderne ausgemacht hat.113 In dem permanenten, meist sogar konfliktiven Nebeneinander unterschiedlicher Handlungserwartungen zeigt sich eine wachsende soziale Diversifizierung und Differenzierung im Verlauf der Frühen Neuzeit, die im städtischen und zumal höfischen Kontext, wie er etwa in Paris vorliegt, besonders deutlich hervorsticht.114 Gelehrte Milieus grenzen sich dabei einerseits von anderen Ständen ab, doch eignen sie sich deutlich auch
Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Martin Mulsow. Köln, Weimar, Wien 2014, S. 369–376; Cavaillé: Postures libertines, S. 191–204. 113 Thiessen, Hillard von: Normenkonkurrenz. Handlungsspielräume, Rollen, normativer Wandel und normative Kontinuität vom späten Mittelalter bis zum Übergang zur Moderne. In: Normenkonkurrenz in historischer Perspektive. Hrsg. von Arne Karsten und Hillard von Thiessen. Berlin 2015, S. 241–286; vgl. etwa zur Normkonkurrenz von Religion und Ehre: Schwerhoff, Gerd: Transzendenz ohne Gemeinsinn. Ein religiöser »Übererfüller« im 17. Jahrhundert. In: Die Verfassung des Politischen. Festschrift für Hans Vorländer. Hrsg. von André Brodocz u. a. Wiesbaden 2014, S. 45–62. 114 Am Beispiel des französischen Gelehrten Isaac de La Peyrère habe ich das zu zeigen versucht: Pietsch, Andreas: Isaac La Peyrère. Bibelkritik, Philosemitismus und Patronage in der Gelehrtenrepublik des 17. Jahrhunderts. Berlin 2012.
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höfisch defensive und elitär distinktive Verhaltensformen an, die Anleihen beim Adel machen.
6. Epilog Nikodemismus, Dissimulation wie auch Libertinage sind zunächst Quellenbegriffe, die aus einem polemischen, nicht zuletzt theologisch-konfessionellen Kontext der Diffamierung religiöser Gegner entstammen. Besonders die Bezeichnung als libertin fand nur schleichend in der Selbstdarstellung verschiedener, auch gelehrter Gruppen Verwendung. Ihr Gebrauch als analytischer Forschungsterminus erscheint angesichts der historischen Quellensprache zwar zunächst naheliegend. Sie erweist sich jedoch dort als weitgehend problematisch, wo das moderne Forschungskonzept des Libertinage mit Phänomenen der Religionskritik, des Skeptizismus und Atheismus korreliert wird. Sucht man nach religionskritischen Äußerungen in der frühen Neuzeit, so finden sich in den Quellen zwar häufig die Begriffe »libertin« oder »libertinage«, die für die Abweichung von religiösen Normen und Handlungserwartungen stehen. Ähnliches gilt auch für die Vorwürfe der Dissimulation und des Nikodemismus, die spezifische Praktiken eines solchen Libertinismus beschreiben. Doch wird man eine solche Korrelation mittlerweile als selektive Verengung des historischen Bedeutungsspektrums ansehen müssen. Generell kann man zwar den Normbruch als Bedeutungskern ausmachen, er beschränkt sich jedoch nicht allein auf den religiösen Bereich, sondern schließt auch soziale oder politische Devianz ein. Dies allein müsste noch nicht gegen seine Trennschärfe als Ausdruck für Religionskritik sprechen, denn es gehört zu einer langen häresiologischen Tradition, dem religiösen Abweichler auch soziale und politische Devianz zuzuschreiben. Entscheidender ist, dass die Zuschreibung religiöser Devianz keineswegs automatisch Religionskritik bedeuten muss. Devianz von der ›Orthodoxie‹ konnte in unterschiedliche, sogar diametral verschiedene Richtungen führen. Der Reformator Calvin führte im 16. Jahrhundert den Begriff des libertin in die kontroverstheologische Debatte ein, um damit individualistische religiöse Virtuosen zu bezeichnen. Diese Libertins spirituels waren eben keine religiösen Untererfüller, sondern ›religiöse Übererfüller‹. Das schließt weder aus, dass Calvin diese Libertins für geradezu gottlos halten musste, noch den Umstand, dass diese Spiritualisten ihrerseits sehr deutlich Kirchenkritik übten und religiöse Normen zugunsten persönlicher Religiosität missachteten. Das semantische Erbe des Konzepts Libertinage besitzt im Bezug auf Religion jedenfalls schon grundsätzlich eine semantische Doppelgesichtigkeit, die sich nicht allein auf Religionskritik verengen
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lässt. Libertinage ist forschunggeschichtlich häufig als Zwischenglied zwischen Humanismus und Radikalaufklärung aufgefasst worden.115 Es ließe sich aber genauso als Bindeglied von radikaler Reformation zu radikalem Pietismus – oder allgemeiner zu einer größeren religiösen Individualisierung verstehen, die ebenfalls als eine Genealogie moderner Säkularität erscheint.116 Diese Doppelgesichtigkeit ist in der Forschung durchaus gesehen worden, doch suchte man lange Zeit, die religiös konnotierte Bedeutung hinwegzuerklären. Zunächst versuchte man, die semantische Mehrdeutigkeit in eine zeitliche Bedeutungstransformation aufzulösen. Demnach habe es die Sektenbezeichnung Libertins spirituels sehr wohl für das 16. Jahrhundert gegeben. Ab dem 17. Jahrhundert habe jedoch die neue Bedeutung als Religionsskepsis und Religionskritik gegolten. Neuere Forschungen haben allerdings zur Genüge gezeigt, dass eine derart simplifizierte Aufeinanderfolge zu kurz greift. Es muss mit längeren gleichzeitigen Überlagerungen unterschiedlicher Bedeutungen gerechnet werden. Die Konkretisierung auf die Gelehrten, wie sie Pintard im libertinage érudit eingeführt hatte, brachte jedoch eine Fokussierung auf areligiösen Libertinismus mit sich. Die Konstruktion eines ausgewiesen religionskritischen Libertinage führte vor dem Hintergrund der französischen Debatte um die Existenz bzw. Nichtexistenz von Unglauben und religiösen Zweifel in der Vormoderne eher zu wenig fruchtbaren Debatten: Jede Kritik an dem Konzept eines libertinage érudit konnte vorschnell als ein Beharren auf der überholten Ansicht einer durch und durch religiösen Vormoderne abgetan werden, die noch keine Formen der Religionskritik kennen könne. In den letzten Jahren ist jedoch immer deutlicher herausgestellt worden, dass man eine solche Sicht auf die Vormoderne nicht wird halten können – sowohl das Bild des konformen Grand Siècle als auch einer durchkonfessionalisierten Gesellschaft im so genannten Konfessionellen Zeitalter wird aktuell immer brüchiger.117 An ihre Stelle ist 115 So etwa der Abschnitt From Libertinism to Radical Enlightenment. In: Departure for Modern Europe. A Handbook of Early Modern Philosophy (1400–1700) (2011, wie Anm. 89), S. 971–1027; Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720. Hamburg 2002; Israel, Jonathan I.: Radical Enlightentent. Philosophy and the Making of Modernity. 1650–1750. Oxford 2001; Israel, Jonathan I.: Enlightenment Contested. Modernity and the Emancipation of Man.1670–1752. Oxford 2006; Radikal aufklärung. Jonathan I. Israel und Martin Mulsow. Berlin 2014. 116 Neue Ansätze verspricht die noch junge Forschergruppe EMoDiR (Early Modern religious Dissents and Radicalism), die nicht zuletzt aus Mitgliedern der Pariser Forschergruppe Grihl entstanden ist. 117 Vgl. Greyerz, Kasper von, u. a.: Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Heidelberg 2003, darin auch Mulsow, Martin: Mehrfachkonversionen, politische Religion und Opportunismus
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einerseits die Einsicht getreten, dass es Formen des religiösen Zweifels und Unglaubens durchaus auch schon im Mittelalter gegeben hat und durchaus über die Grenzen der Gelehrten hinaus. Schon Carlo Ginzburg hatte mit dem Müller Menocchio für die von Pintard veranschlagte Zeit seines libertinage érudit einen Fall eines Ungelehrten vorgeführt, der sich seine ganz eigene Meinung in Sachen Religion machte.118 Neue Impulse in dieser Richtung geben auch die Arbeiten von Federico Barbierato, der venezianische Inquisitionsfälle ausgewertet hat und nachweist, dass Zweifel und Unglauben keineswegs nur eine Sache der Gelehrten waren.119 Andererseits ist immer stärker herausgearbeitet worden, dass offizielle religiöse und konfessionelle Positionen auch mit einer Vielfalt von Abweichungen konfrontiert waren, die sich zwar in Spannung zu den etablierten Instanzen befanden, sich selbst aber durchaus als religiös verstanden. Der ehemals starke Gegenbegriff einer konfessionellen Orthodoxie, die jede vermeintlich exzeptionelle Abweichung als Normbruch wahrnimmt und somit dem Lager der religionskritischen Libertins zurechnet, ist somit weggefallen; Abweichung ist nicht mehr nur außerhalb, sondern auch innerhalb konfessioneller Gruppen möglich. Man wird also Mothu und Cavaillé zustimmen können, dass es sinnvoller erscheint, auf den Begriff Libertinage künftig zu verzichten. Doch sollte die Forschung deshalb die wichtige und fruchtbare Beschreibung der Praktiken der Verstellung und der Vorsicht nicht unbedingt vernachlässigen. Ob es sich dabei als weiterführend erweist, wiederum auf Quellenbegriffe wie »déniaisé«, »esprit fort« oder »guérir du sot« zurückzugreifen, wird weiter zu diskutieren sein. In all diesen Fällen läuft man ein weiteres Mal Gefahr, den gegensätzlichen und sich dennoch stabilisierenden Stilisierungen der »Orthodoxien« einerseits und der Gelehrten andererseits aufzusitzen. Im Falle des Libertinage érudit zeigt sich diese Durchdringung und Indienstnahme deutlich: Auf der einen Seite stärkten die Orthodoxen rhetorisch ihre Legitimität, indem sie prätendierten, eine Mehrheit zu bilden, von der die wenigen, aber gefährlichen Verführer der einfachen Seelen abwichen. Die Devianten erscheinen daher als kleine Minderheit, im 17. Jahrhundert. Ein Plädoyer für eine Indifferentismusforschung, S. 132–150; Forgetting Faith? Negotiating Confessional Conflict in Early Modern Europe. Hrsg. von Isabel Karremann u. a. Berlin 2012; Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Andreas Pietsch und Barbara Stollberg-Rilinger. Gütersloh 2013; Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz im konfessionellen Zeitalter. Hrsg. von Eric Piltz und Gerd Schwerhoff. Berlin 2015. 118 Ginzburg, Carlo: Il formaggio e i vermi. Il cosmo di un mugnaio del `500. Torino 1976, deutsch: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Berlin 1990. 119 Barbierato, Federico: The inquisitor in the hat shop. Inquisition, forbidden books and unbelief in early modern Venice. Farnham 2012.
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die sich von der gläubigen Masse abhoben. Auf der anderen Seite wurde diese Konstruktion durch das elitäre self-fashioning der Gelehrten verstärkt, die sich ebenfalls als eine kleine, feine Elite verstanden und sich von den Ungelehrten (und teils von weiteren sozialen, religiösen oder politischen Gruppen) abgrenzten. Der zeitgenössische Diskurs um libertinage erweist sich insofern sowohl als Ort der Aushandlung religiöser und gelehrter Identität wie als Mechanismus der Herstellung gesellschaftlicher Differenzierung. Schon deswegen bleiben bestimmte Aspekte, Strategien und Hintergründe der mit dem Terminus des Libertinage anvisierten Phänomene jenseits der älteren Debatte wichtig. Das Phänomen des Unglaubens unter den Gelehrten genauer zu beschreiben, bleibt etwa ein wichtiges und reizvolles Desiderat. Es ist zu hoffen, dass in der Zukunft auch die bislang unterbelichteten Aspekte – etwa die Formen religiöser Ambiguität, Strategien gelehrter und ungelehrter Selbstpositionierung oder das Verhältnis moralischer, politischer und intellektueller Devianz – weitere Aufmerksamkeit finden.
Quellenverzeichnis Accetto, Torquato: Della dissimulazione onesta. Napoli: Giacomo Caffaro 1641. Deutsch: Von der ehrenwerten Verhehlung. Übers. von Marianne Schneider. Mit Vorworten von Giorgio Manganelli und Erläuterungen von Salvatore S. Nigro. Berlin: Wagenbach 1995. Bouchard, Jean-Jacques: Journal. Hrsg. von Emanuele Kanceff, 2 Bde. Torino 1976 u. 1977. Calvin, Jean: Excuse de Iehan Calvin à messieurs les nicodemites sur la complainte qu’ilz font de sa trop grand´ rigeur. Genf 1544. Calvin-Studienausgabe, Bd. 3, S. 222– 265. Calvin, Jean: Contre la secte phantastique et furieuse des Libertins qui se nomment Spirituelz. Genève 1545. Calvin-Studienausgabe, Bd, 4, S. 248–355. Calvin, Jean: Brieve instruction pour armer tous bons fideles contre les erreurs de la secte des anabaptistes. Genève 1544. Calvin-Studienausgabe, Bd. 3, S. 230–367. Castiglione, Baldassare: Il Libro del Cortegiano. Firenze 1528. Deutsch: Das Buch vom Hofmann. Bremen 1960. Condé, Henri II. de: Remarques Chrestiennes et Catholiques sur le livre de la Frequente Communion. Paris 1644. Cotgrave, Randle: A Dictionarie of the French and English tongues. London 1611. Crisp, Tobias: Christ alone exalted. London 1643. Garasse, François: La doctrine curieuse des beaux esprits de ce temps, ou prentendus tels. Paris 1623. Gracián, Baltasar: Oráculo manual y arte de prudencia. Huesca 1647. Deutsch: Hand orakel und Kunst der Weltklugheit. Stuttgart 1986.
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Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 4. Leipzig 1878. Libertins du XVIIe siècle. Hrsg. von Jacques Prévot, 2 Bde. Paris 1998 u. 2004. Libertini italiani. Letteratura e idee tra XVII e XVIII secolo. Hrsg. von Alberto Beniscelli. Milano 2011. Lipsius, Justus: Politicorum sive Civilis doctrinae libri sex. Antwerpen 1589. Machiavelli, Niccolò: Il Principe. Roma 1532. Mersenne, Marin: L’impiété des déistes, athées et libertins de ce temps. Paris 1624. Naudaeana et Patiniana, ou Singularitez remarquables, prises des conversations de Mess. Naudé & Patin. Paris 1701. Niclaes, Hendrik: Den Spiegel der gerechticheit. [Antwerpen 1555]. Lettres choisies de feu Mr. Guy Patin, Bd. 1. Cologne 1691. Lettres de Gui Patin. Hrsg. von Paul Triaire, Bd. 1. Paris 1907. Papiers de Patin, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. 7071. Teilediert in Pintard: La Mothe le Vayer, Gassendi, Guy Patin, S. 63–69; nun auch die Online edition des gesamten Kodex von Jean-Pierre Cavaillé und Cécile Soudan (URL: www.patin.ehess.fr). Tallemant des Reaux, Gédéon: Historiettes. Hrsg. von Antonie Adam, 2 Bde. Paris 1960. Deutsch: Salongeschichten. Hrsg. von Wolfgang Tschöke. Zürich 1996. Zedler, Johann Heinrich: Universal-Lexicon, Bd. 17. Leipzig 1738.
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Religio prudentum, eine frühneuzeitliche Gedankenfigur Eine Problemskizze Der »zehnte Theil« der von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier in Halle herausgegebenen moralischen Wochenschrift Der Mensch beginnt mit einem Artikel,1 der schlicht »Von der Religion der Klugen« überschrieben ist.2 Es hat den Anschein, dass im Jahre 1755, als das Heft erschien, eine Diskussion verabschiedet wurde, die gut einhundert Jahre zuvor eingesetzt und um die Jahrhundertwende ihren Höhepunkt erreicht hatte. Denn der anonyme Verfasser gedenkt eines Missverständnisses in Bezug auf den Gegenstand: »Insbesondere merke ich alles das an, was die so genannte große Religion, oder die Religion der Klugen, angehet. Ich will ihr diesen hochtrabenden Namen nicht durchaus absprechen; ich kan aber auch nicht leugnen, daß man sie bey den meisten die kleine Religion, oder die Religion der Thoren, nennen könne.«3 Der Verfasser gesteht die Existenz einer ›Religion der Klugen‹ zu. Doch ist diejenige ›Religion der Klugen‹ damit gerade nicht gemeint, die die Vertreter einer solchen dafür halten mögen und für die sie während der vorangegangenen Jahrzehnte eingetreten waren. Denn einer Prüfung durch die Vernunft – dem alleinigen Maßstab – halte sie nicht stand, vielmehr überführe eine solche Prüfung die Anhänger einer vermeintlichen Religio prudentum als »Thoren«: 1
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Der Mensch. Eine moralische Wochenschrift. Hrsg. von Lange, Samuel Gotthold, Georg Friedrich Meier, 12 Theile (1751–1756). Neu hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Martens, Wolfgang. Hildesheim u. a. 1992. Hier das 378. Stück. Hervorhebungen finden sich, auch im Folgenden soweit nicht anders gekennzeichnet, im Original. Zu den moralischen Wochenschriften siehe Martens, Wolfgang : Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1971, sowie Vollhardt, Friedrich : Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001, Periodische Erziehung des Menschengeschlechts: moralische Wochenschriften im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von Doms, Misia Sophia, Bernhard Walcher. Bern, Berlin 2012. »Von der Religion der Klugen«. In: Der Mensch (wie Fn 1).
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Ein Mensch, der seine Vorurtheile ableget, und sich nicht nach den Vorurtheilen anderer richtet, sie mögen bey einzelnen Personen oder bey dem ganzen Haufen angetroffen werden, ist ein wirklich grosser Mann, und der bekennet sich zu derjenigen Religion der Klugen, die diesen edlen Namen wirklich verdienet. Er bekennt sich nemlich zur christlichen Religion, und zu dem Worte des Höchsten, mit völliger Gewißheit und Ueberzeugung des Herzens.4
Bei der echten ›Religion der Klugen‹ handelt es sich – so darf man die hier vorgestellten Überlegungen zusammenfassen – um nichts anderes als ein von der Vernunft geprüftes Christentum. Damit sind wir in der Sphäre angekommen, in der die moralische Wochenzeitschrift Der Mensch ihren Ursprung hat: im orthodox geprägten Halle der Mitte des 18. Jahrhunderts. Allerdings wird hier die Geschichte eines Konzepts der ›Religion der Klugen‹ geradezu in ihr Gegenteil gewendet. Die ursprünglichen Vorzeichen werden umgekehrt. Religion ist auf Wahrheit ausgerichtet, und die Vernunft in ihrem rechten Gebrauch eine kompetente Ratgeberin – und als nur scheinbar vernünftig erweisen sich dem gegenüber dann die älteren Konzepte der Religio prudentum, die aus dem Geist des lutherisch-orthodoxen Christentums als unzulässig, ja töricht, zurückgewiesen werden: Kan ich aber das die Religion der Klugen nennen, vermöge welcher man sich nach der Denkungsart der Völkerschaften und deren Glauben richtet, der in jedem Lande anders ist? oder wenn man aus allen Meinungen eine eigene abziehet oder destilliret, von welcher man keinen Grund angeben kan, und vermöge welcher man nicht sowohl sucht besondere Wahrheiten zu haben, als vielmehr blos anders zu denken, als andere.5
Die Antwort lautet freilich nein. Und dennoch ist diese Passage aufschlussreich in Hinblick auf das genuine Programm einer Religio prudentum, nennt sie doch zwei wesentliche Bestandteile, denen unser weiteres Interesse wird gelten müssen. Zum einen wird auf die Überkonfessionalität6 und, noch mehr, auf die über die Grenzen der einzelnen positiven Religionen hinausgehenden ›Glaubensinhalte‹ verwiesen. Dieses geographisch-anthropologische Argument, dass alle Regionen und die in ihnen lebenden Völker eigene Glaubensartikel – nach Maßgabe vernünftiger Überlegung, die
4 Ebd. 5 Ebd. 6 Der Zusammenhang von Religio prudentum und Formen der Konfessionalisierung wird von Kai Bremer im vorausgehenden Band Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit angerissen, aber nicht weiter ausgeführt. Insofern lässt sich vorliegender Beitrag als eine Weiterführung oder Vertiefung der dort vorgestellten Überlegungen verstehen: vgl. Bremer, Kai: Konversionalisierung statt Konfessionalisierung? Bekehrung, Bekenntnis und das Politische in der Frühen Neuzeit. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Herbert Jaumann. Berlin 2011, S. 369–408, hier S. 380f.
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je unterschiedlich ausfallen kann – ausgebildet haben, ist althergebracht. Es findet sich beispielsweise an prominenter Stelle in Girolamo Cardanos Hauptwerk De Subtilitate im elften Buch.7 Bei Meier und Lange wird das Argument gleichsam umgedreht. War die ursprüngliche Intention doch, allen Völkern der Erde ihre eigene Religion zuzubilligen und darüber hinaus zu betonen, dass diese Religionen nicht in Bausch und Bogen – ohne jegliche Stützung durch Argumente – verworfen werden können, so wird hier in erster Linie das Moment der Falschheit betont. Wie sollten, so eine klassische Fragestellung der christlichen Apologetik, aus unwahren Religionen sich Wahrheiten gewinnen lassen? Dies ist schier unmöglich, kann doch aus dem Irrigen nie Wahrheit erwachsen. Zum anderen wird hier auf die Grenzen einer eklektischen Herangehensweise im Bereich der Religion verwiesen. Was in der Philosophie noch statthaft sein mag – wir werden darauf zurückkommen –, ist im Bereich der Theologie und Religion nicht opportun. Das auf den Apostel Paulus oder auch schon auf Horaz zurückgehende eklektische Motto ›Prüfe alles und behalte das Beste‹ kann für den Bereich der Religion nicht gelten, da eine Religion grundsätzlich ein geschlossenes System der Wahrheit vorstellt, das nicht in beliebige Einzelwahrheiten zerfällt, aus denen man wählen könnte. Beide Einwände, die in diesem Fall von Seiten der lutherischen Orthodoxie formuliert wurden, treffen auf das Konzept einer ›Religion der Klugen‹ zu, die sich weder geographisch noch zeitlich in ein enges Korsett von Vorschriften hätte zwängen lassen. Es ist in erster Linie, dem Ursprung nach, ein elitäres Konzept für eine kleine Elite, die zu Vernunfteinsichten fähig ist, die allerdings wenigen vorbehalten bleiben. Dementsprechend uneinheitlich ist das Phänomen zu Beginn. Von einem stringenten Konzept oder gar einer programmatisch-legitimierten Bewegung ist nicht zu sprechen.
1. Konturen eines Feindbildes Forscht man über Heterodoxien in der Frühen Neuzeit, ist man erfahrungsgemäß gut beraten, wenn man mit seiner Recherche auf Seiten des Gegners beginnt. Denn nicht selten sind es gerade die kontrovers-theologischen Streitschriften der Orthodoxie, die einem das Untersuchungsfeld am umfassendsten erschließen.8 So auch in diesem Fall: Das Phänomen 7
De subtilitate wurde zuerst 1550 in Nürnberg gedruckt. Vgl. dazu, auch zu den unterschiedlichen Ausgaben, Schütze, Ingo: Die Naturphilosophie in Girolamo Cardanos ›De subtilitate‹. München 2000. 8 Für einen ähnlich gelagerten Fall siehe nun Herbert Jaumann: »Wilder Libertinismus«? Der
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der Religio prudentum – der ›Religion der Klugen’ – ist, neben der Fragwürdigkeit ihrer tatsächlichen Existenz, in erster Linie ein Konstrukt der Orthodoxie, ein zunächst noch undeutliches Feindbild. Präzisere Konturen gewinnt dieses erst in dem Moment, in dem es als mögliche Gefahr erkannt wird und man beginnt, dagegen vorzugehen: und das heißt in unserem Falle, dagegen anzuschreiben und den Gegner namhaft zu machen. Der Zeitpunkt dieser Manifestation lässt sich eindeutig bestimmen. Es ist das Jahr 1701, in dem die Religio prudentum zuerst eine deutlichere Form erhält und als distinktes Phänomen beschrieben wird. Friedrich Ernst Kettner (1671–1722), Pastor und Superintendent im sächsischen Eckartsberga, unweit von Weimar gelegen, veröffentlichte am Beginn des 18. Jahrhunderts seine umfangreichen Exercitationes Historico-Theologicae De Religione Prudentum.9 Die in 78 Thesen unterschiedlicher Länge gegliederte und mit einem das Unternehmen rechtfertigenden Vorwort versehene Abhandlung steht ganz offensichtlich in der Gattungstradition des Elenchus und ist dem Schutz der Wahrheit verpflichtet.10 Martin Gierl fasst das Verfahren präzise zusammen:
Fall Matthias Knutzen. In: Kriminelle – Freidenker – Alchemisten. Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Mulsow, Martin, Michael Multhammer. Köln, Weimar, Wien 2014, S. 457–478. Jaumann schildert die Ausgangsbedingungen der Überlieferung des Gedankenguts dieses vermeintlich ersten deutschen Atheisten: »Wären die dramatischen Ereignisse im September des folgenden Jahrs 1674 in Jena nicht gewesen, wüssten wir wahrscheinlich wenig oder nichts von dem, was Knutzen zu sagen hatte. Wie es zu dieser Zeit und unter dergleichen Umständen häufig der Fall war, schulden wir die einzigen Aufzeichnungen, die wir von der radikalen Literatur besitzen, jenen unfreiwilligen Multiplikatoren, die aus ihr ausführlich und, als gewissenhafte Gelehrte, genau zitieren, um den Inhalt ihrer radikalen Schriften zu denunzieren und ihre Verfasser vor Gericht zu bringen. In diesem Fall haben wir dem angesehenen Jenaer Theologen und Universitätsrektor Johann Musäus (1631–1681) zu danken für seinen außergewöhnlich genauen Bericht über Knutzens Aktivitäten in der Universitätsstadt und für den nicht weniger sorgfältigen und ausführlichen Kommentar (von ca. 200 Quartseiten) über seine Theologie, mit Einschluss des vollständigen und korrekten Abdrucks dreier seiner Schriften.« Hier S. 461. Siehe ferner die materialreiche Edition der Schriften Knutzens, die das Moment der Überlieferung durch Gegnerschaft deutlich herausstellt: Matthias Knutzen: Schriften, Dokumente. Hrsg. von Winfried Schröder. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010. 9 Friedrich Ernst Kettner: Exercitationes Historico-Theologicae De Religione Prudentum. Jena: Johann Bielcke 1701. 10 Siehe hierzu Gierl, Martin: Historia literaria. Wissenschaft, Wissensordnung und Polemik im 18. Jahrhundert. In: Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Hrsg. von Syndikus, Anette, Friedrich Vollhardt. Berlin 2007, S. 113–127; sowie ders.: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte, 129).
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Das Officium elenchticum war institutionalisiert und offiziell geregelt in Streitverfahren umgesetzt. Geboten war vollständiges Refutieren, d. h. gegen jeden Text der Gegenseite war ein eigener Text zu setzen. Man widerlegte Paragraph für Paragraph, ja Satz für Satz. Die Gegenschrift frißt gewissermaßen die Ausgangsschrift auf. Die Einheit des Arguments ist also – das ist zu unterstreichen – nicht der Text, sondern der Streitzusammenhang. Vollzogen als Streiten ›Text gegen Text‹, also ›Mann gegen Mann‹ hieß das, zusammen mit den inkriminierten Irrlehren diejenigen öffentlich zu machen, die sie vertraten.11
Es handelt sich auch im vorliegenden Fall um eine minutiöse, ja bisweilen ausufernde Widerlegung von Thesen, die im weiteren Umfeld der Religio prudentum zu situieren sind. Denn darum kreisen alle Argumente, die, wie der Autor im Vorwort zu bedenken gibt, aus Traditionen stammen können, die auf den ersten Blick ganz unterschiedlich sind. Die eine, in sich geschlossene Schrift, die es zu widerlegen gilt, gibt es in vorliegendem Falle nicht, was sich auf Kettners Verfahren auswirkt. Naturalisten und Rationalisten können ebenso Vertreter einer ›Religion der Klugen‹ sein wie neue Arianer (»novi Arianismi«), Libertiner oder Anhänger Balthasar Bekkers.12 Wie man sieht, sind sowohl die Spanne der möglichen Kandidaten als auch die damit einhergehenden Anknüpfungspunkte weit gefächert. Im Folgenden ist Kettner daher auch bemüht, ein wenig Ordnung zu schaffen, Positionen zu sichten und ferner zu bewerten. Die ersten sieben Thesen sind abstrakter oder systematischer Natur. Sie behandeln Fragen nach dem Ursprung der Bezeichnung, die Einteilung der ›Religion der Klugen‹, ihre Gründe usw. In einem zweiten Schritt kommt wieder, wie schon in der eingangs vorgestellten Abhandlung, eine geographischhistorische Perspektive ins Spiel. Die Thesen acht bis siebzehn gliedern den Ursprung nach Gesichtspunkten der Herkunft: Frankreich (»Gallia«), Italien, Belgien, England, die Türken, die jüdische Herkunft, Vertreter der neuen Welt (»Severambes«) sowie Ägypten und das Reich Mitte, um die prominentesten zu nennen. Innerhalb dieser Aufstellung werden nun erstmals auch Vertreter beim Namen genannt: es ist eine veritable Fahndungsliste von Heterodoxen. Hugo Grotius als einer der Hauptvertreter
11 Gierl: Historia literaria (wie Fn 10), S. 117f. 12 Kettner: Exercitationes (wie Fn 9), Vorrede unpag. Mit Balthasar Bekker, der hier zu diesem frühen Punkt als einziger namentlich genannt wird, spielt Kettner auf das seinerzeit aufsehenerregende Werk De Betoverde Weereld an (in 4 Büchern, Amsterdam bei Daniel van den Dalen 1691–93, deutsch bereits Amsterdam 1693). Zur Publikationsgeschichte und der ideengeschichtlichen Einordnung siehe Nooijen, Annemarie: Balthasar Bekker und der Atheismusvorwurf. Zur Auseinandersetzung mit dem Spinozismus und dem Cartesianismus in der deutschen Debatte um die Betoverde Wereld. In: Nur Narr? Nur Dichter? Über die Beziehungen von Literatur und Philosophie. Hrsg. von Duhamel, Roland, Guillaume van Gemert. Würzburg 2008 (Deutsche Chronik, 56/57), S. 117–142.
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wird ebenso genannt wie Vanini, Hobbes und Pufendorf. Jean Bodin fehlt freilich auch nicht, prominente Sozinianer finden sich ebenso wie Machiavelli und Marc Anton. Dieser generellen Einschätzung über Herkunft und Reichweite der Religio prudentum folgt der eigentliche Akt der Widerlegung in einzelnen Abhandlungen. Die folgenden Thesen wenden sich dann – angelegt als kurze Einzeluntersuchungen – distinkten Autoren und ihren Werken zu. Erst hier werden diejenigen Eigenarten genannt, die der ›Religion der Klugen‹ konstitutiv angehören. Diese Eigenschaften sind disparaten Ursprungs, was wenig verwundern kann, ist eine eklektische Vorgehensweise für die Vertreter der Religio prudentum doch zwingend geboten. Sie bedienen sich aus sehr unterschiedlichen Systemzusammenhängen und formen daraus ein neues religiöses Überzeugungsgeflecht. Aus orthodoxer Sicht besteht schon hierin gerade ihr Kardinalfehler. Die Eklektik selbst erscheint dabei noch gar nicht als das vordringliche Problem oder dasjenige Moment, das es zu monieren gelte. Vielmehr wird die Wahl dessen, woraus sich die Religio prudentum bedient, kritisiert; denn gegen gelehrte Auswahl an sich spricht zunächst einmal nichts. Am deutlichsten artikuliert das Kettner in einer der lateinischen Abhandlung nachgeschobenen Erläuterung in deutscher Sprache, die als selbstständiger Druck erschienen ist. In seinem Schriftmäßig Bedencken / Von der Religione Eclectica, Oder Von derjenigen Religion /da ein Gelehrter aus allen Religionen das Beste wehlet / und sich entweder gar nicht / oder aber völlig zu der wahren Partey wendet von 170213 findet sich dazu ein eigener Abschnitt. Gewährsmann ist Kettner in seiner Argumentation der noch junge Johann Albert Fabricius (1668–1736) und dessen Disputation De Theologia eclectica, die er im Anschluss an seine eigenen Überlegungen mit abdrucken lässt. In These XI führt Kettner die Kriterien für das, woraus überhaupt legitimer weise auszuwählen sei, genauer aus: These XI. So man das Beste wehlen will / muß man zuvor deutlich erklären / was das Beste sey / damit man wisse ob es Wahrhafftig [!] das Beste. Item, man muß seine Meynung eröffnen / damit die Gelehrten urtheilen können / ob solche Meynung wahrhafftig die beste.14
Soweit die These. Was sich hier noch recht unparteiisch gibt – dasjenige Feld, aus dem ausgewählt werden kann, muss lediglich überprüfbar sein –, 13 Kettner, Friedrich Ernst: Schriftmäßig Bedencken / Von der Religione Eclectica, Oder Von derjenigen Religion /da ein Gelehrter aus allen Religionen das Beste wehlet / und sich entweder gar nicht / oder aber völlig zu der wahren Partey wendet. Zu mehrerer Erläuterung der vormals heraus gegebenen Exercitationum de Religione Prudentum. Jena 1702. 14 Ebd., S. 21.
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wird aber sofort eingeschränkt. Denn so offen und beliebig ist die Grundlage bei weitem nicht, wie sich dies anhand der These vermuten ließe. Macht man sich auf die Suche nach Wahrheit, verengt sich der Fokus sogleich enorm, denn: Das Beste ist / was mit der Heil. Göttlichen Schrift deutlich, klar und gründlich übereinkömmt. Dieweil aber ein ieder Ketzer meynet / seine Lehre komme mit der Schrift überein / so muß auch solches erwiesen werden.15
Die Heilige Schrift ist der Prüfstein, an dem sich Wahrheit zu erweisen habe. Damit scheidet ein Großteil der Grundlage der Religio prudentum aus. Diese hatte sich ja gerade auch an andere Quellen der Wahrheit herangewagt bzw. anderen Texten als der Heiligen Schrift die Möglichkeit zugestanden, Wahrheit zu transportieren, die ansonsten nur der (christlichen) Religion zukommen sollte. Es sind also die säkularen oder philosophischen Gegenentwürfe einer Moral, die Kettner hier als illegitime Basis verabschiedet. Es ist die alte und aus Sicht der orthodoxen Apologetik bewährte Vorstellung, dass niemals Wahres aus an sich Falschem extrahiert werden kann, wie bereits angesprochen wurde. Diese Argumentationsfigur findet sich z. B. schon in den 1670er Jahren bei Johann Müller (1598–1672), Hauptpastor in Hamburg, als einem ihrer besonders bemerkenswerten Vertreter, in dessen Atheismus Devictus.16 Gegen Hugo Grotius fragt Müller, »Ob es zu rathen sey daß man auß allen Religionen das beste auß lese, zusammen trage, und eine Religion daraus mache?«17 Die Antwort ist nein, denn »[a]uß den irrigen Religionen kann man nichts gutes nehmen [...].«18 Die »irrigen Religionen« sind demnach aber alle außer der eigenen. Sonst ergibt die ganze Argumentation keinen Sinn. Dieser argumentative Taschenspielertrick war indes von nicht zu unterschätzender Wirkung und zeitigte immer wieder schwerwiegende Folgen. Eine Lektüre der Schriften desjenigen, der angegriffen werden sollte, konnte man sich so ersparen, wie Michael Albrecht festhält.19 Eine wirkliche Auseinandersetzung mit Positionen kann in diesem Zusammenhang entfallen. So war gerade im Vergleich der Religionen diese restriktive 15 Ebd. 16 Müller, Johann: Atheismus Devictus / Das ist Ausführlicher Bericht Von Atheisten / Gottesverächtern / Schrifftschändern / Religionsspöttern / Epicurern / Ecebolisten / Kirchen und Prediger Feinden / Gewissenslosen Eydbrüchigen Leuten / und Verfolgern der Recht-Gläubigen Christen. Hamburg 1672. Eine 2. Auflage folgte 1685. 17 Zitiert nach Albrecht, Michael: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994 (Quaestiones, 5), S. 510. 18 Ebd. 19 Ebd.
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Annahme Garant dafür, die Überlegenheit der christlichen – und hier ist freilich einzig und allein die lutherische Variante gemeint – Religion zu garantieren. Nur innerhalb ihrer Grenzen, so die Konsequenz, könne eine gelehrte Auswahl stattfinden. Dass es sich hierbei allerdings weniger um eine wirkliche Selektion als um eine unterschiedliche Gewichtung bestimmter Aspekte handelt, muss nicht eigens betont werden. Die Vielgestaltigkeit der möglichen Auswahl, die dem Konzept der Religio prudentum zugrunde liegt, wird dadurch gerade wieder in ihr Gegenteil verkehrt: Anstatt das Beste aus allen Religionen und philosophischen Traditionen zusammenzutragen und zu einer neuen Synthese zu verbinden, wird erneut eine Regulierung gefordert, die nur wenig gelten lässt. Die Kernfrage in der Auseinandersetzung um die ›Religion der Klugen‹ lautet also: Woraus darf ausgewählt werden? War die ursprüngliche Antwort pluralistisch und für alle Traditionsseiten in einem ersten Schritt offen, versuchte die Orthodoxie das Feld für ihre eigenen Zwecke neu zu definieren und damit auch den künftigen Kampfplatz zu determinieren. Hier wurde eine ›Religion der Klugen‹ konstruiert, die im gleichen Atemzug wieder widerlegt und damit als unvernünftig verabschiedet wurde. Das Konzept wurde umgedeutet und der eigenen Einflusssphäre eingeschrieben. Klug ist demnach das, was die lutherische Orthodoxie seit jeher vertreten hat. Doch dabei blieb es nicht – eine Stellungnahme folgte prompt, und die Religio prudentum bekam unter diesem distinkten Namen erstmals in der breiteren Öffentlichkeit eine eigene Stimme. Bevor wir allerdings dazu kommen, schließt sich noch eine Frage an, die redlicher Weise gestellt werden muss, auch wenn ihre Beantwortung nicht unbedingt leicht fällt: Handelt es sich hierbei tatsächlich um einen genuinen, eigenständigen Diskurs der Frühen Neuzeit?20 Die Frage ist keineswegs trivial, führt sie doch ins Zentrum dessen, was wir als reale Gesprächs- und Streitszenarien in der Gelehrtenrepublik anzunehmen bereit sind. Mithin stellt sich die Frage: muss ein Diskurs unter einem bestimmten Namen laufen, das heißt, geht die konkrete Benennung zwangsläufig mit einem Diskurs einher, so dass dessen Gegenstandsbereich überhaupt erst abgesteckt ist oder reicht vielmehr das Vorhandensein bestimmter Themen- und Thesenbündel, die im Nachgang auf den Begriff gebracht werden? Plädierte man für erstere Variante, so müsste man feststellen, dass
20 Zur Erinnerung: Herbert Jaumann hatte im Vorwort des ersten Bandes des Handbuches Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit (wie Fn. 6) dessen Anlage wie folgt bestimmt: »Gegenstand des Buches sind orientierende, repräsentative Diskurse, deren Felder untereinander in Beziehung stehen und in denen Mitglieder der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur arbeiten und produzieren, d. h. nach deren Tagesordnungen und innerhalb von deren Grenzen eben die Gelehrtenkultur selbst prozediert.«
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Kettner mit seiner Schrift zum Diskursbegründer wird, denn eine derart deutliche und explizite Bezeichnung für das Phänomen gibt es zuvor – soweit ich sehe – nicht.21 Jedoch bliebe dann immer noch ungeklärt, worauf Kettners Schrift sich dann bezieht und gegen wen oder was sie sich in Stellung bringt. Sind es am Ende Einzeldiskurse, die gebündelt und miteinander in Beziehung gesetzt werden, oder ist das diskursive Gerüst längst vorhanden und nur noch nicht beschrieben? Es handelt sich hierbei wohl um keine Entweder-Oder-Entscheidung, es gilt den Einzelfall zu prüfen. Im vorliegenden Falle aber kann die Gegenschrift zu Kettners Entwurf weiteres Licht in die Strukturen und Funktionsmechanismen der Religio prudentum bringen – die Positionen, die dort vorgestellt werden, sind dabei durchaus bekannt, aber in neuer Kombination akzentuiert.
2. Eine Verteidigung der Religio prudentum Es ist wohl kein Zufall, dass eines der ersten positiven Statements zur Religio prudentum um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert als Verteidigungsschrift angelegt ist. Die unter dem kryptischen Pseudonym erschienene Schrift Freymüthige Gedancken / Einiger Sudländer oder Severambes über Den Statum Religionis in Teitschland / Worinnen fürnehmlich die Religio Prudentum defendirt und von denen Severambs approbirt wird / Herausgegeben von sJnCero ab arBore wurde bereits ein Jahr nach Kettners Abhandlung – also im Jahre 1701 – gedruckt. Ein Verleger findet sich auf dem Titelblatt ebenso wenig wie der Klarname des Autors oder ein Erscheinungsjahr. Die Schrift hat in der noch sehr spärlichen Forschung zum Gegenstand einige Aufmerksamkeit erfahren, so machen sie Michael Albrecht und darauf aufbauend Martin Mulsow zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen.22 Der in der Schrift artikulierte Grundgedanke ist, dass die Eklektik aus dem Bereich der Philosophie ebenso gut auf die Theologie oder gar die Religion an sich anzuwenden sei. Damit bezieht sie direkt Frontstellung gegen Kettners Abhandlung und unterminiert dessen These. Dies geschieht indes nicht direkt. Der anonyme Text kleidet seine Argumente in ein fiktives Religionsgespräch, dass einige Reisende in einer Kutsche führen. Sie sind als Fremde in Deutschland unterwegs und unterhalten 21 In Johann Müllers Atheismus Devictus (wie Fn. 16) hatte die ›Religion der Klugen‹ nur eine kleinere Nebenrolle im weiten Feld derer, die des Atheismus verdächtig waren. 22 Albrecht: Eklektik (wie Fn. 17), S. 510–525, bes. 514ff.; Mulsow, Martin: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720. Hamburg 2002, bes. S. 416–432.
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sich eben über den »Status religionis«. Eine erste Pointe stellt schon die Herkunft der Reisegesellschaft dar; denn es handelt sich um einige jener Sevarambes, die Kettner in seiner Abhandlung eigens als Vertreter einer ›Religion der Klugen‹ aufgeführt hatte. Diese melden sich nun selbst zu Wort, und können sich nur wundern über die in Deutschland kursierenden Argumente gegen eine ›Religion der Klugen‹. Nur so viel in aller Kürze zum Rahmen. Martin Mulsow hat die Vermutung geäußert, dass es sich beim Autor um einen gewissen Johann Christian Behmer handeln könnte, der sich hinter dem Pseudonym »Sincerus ab arbore« verbirgt.23 Behmer war zu besagter Zeit Student der Jurisprudenz in Erfurt, was insofern auf eine Nähe zum Thema24 oder gar die Kenntnis der Schriften Hugo Grotius schließen ließe – dem, nach Kettner, Hauptvertreter einer ›Religion der Klugen‹. Allem Anschein nach aber war der angehende Jurist nur wenig belesen, wie Martin Mulsow zeigen konnte. Seine Quellen kannte er nicht im Original.25 Wenngleich dieser Schrift auch zahlreiche Missverständnisse und falsche Deutungen zu Grunde liegen, so zeigt vorliegendes Beispiel doch, wie sich ein Diskurs über ein distinktes Phänomen konstituieren kann. »Dieser Kunstgriff [die Wendung zu einer utopischen Unterhaltung unter den ›Südländern‹, M. M.] sollte es ihm [Behmer] ermöglichen, den in Deutschland (und bei Kettner) pejorativ behandelten Begriff der ›religio prudentum‹ aus der Perspektive des unverdorbenen exotischen Volkes ins Affirmative zu wenden.«26 Damit war der Weg bereitet und Behmer legte nach. Zwei weitere Schriften zum Thema erschienen aus seiner Feder unter dem neuen Pseudonym »Ermeling« und schnürten das Bündel enger.27 23 Mulsow: Moderne aus dem Untergrund, S. 426f. 24 Der junge Jurist Behmer scheint ein fleißiger Leser der Schriften Christian Thomasius‹ gewesen zu sein und einen Großteil seiner Kenntnisse zur Religio prudentum aus diesen zu schöpfen. 25 Albrecht meint, Behmer habe die falsche Schreibung »Severambes« – das ›e‹ anstelle eines ›a‹– von Kettner übernommen, was auf eine Unkenntnis des utopischen Romans L’Histoire des Sevarambes von Denis Vairasse hindeute. Der Roman ersch. 1675 zuerst auf Engl., dann Paris 1677–1679 in 5 Bänden in der Übers. des Verf. Die Schlichtheit der Behauptung Albrechts ist wenig einleuchtend, wenn man die schwankende Orthografie generell und die Unsicherheiten bei der Wiedergabe von Titeln aus fremden Sprachen bedenkt, zumal wenn sie auch noch exotische Namen enthalten; und in diesem Fall begegnen auch immer wieder verschiedene Schreibungen des anonymen Verfassers Veiras (auch Veirasse oder Vairasse, wie bei Michael Albrecht [S. 514]), was auch noch mit versch. Namensformen im Engl. (eher Veiras) und in Frankreich (Vairasse) zusammenhängt. 26 Mulsow: Moderne aus dem Untergrund (wie Fn. 22), S. 429. 27 In kurzer Folge erscheinen vom gleichen Autor unter verändertem Pseudonym: Ermeling, Oßwaldt Heinrich, Med. Cult.: Bedencken Von der Religione Eclectica seu Prudentum, Da ein Gelehrter aus allen Religionen das Beste wehlet, und sich nicht völlig zu einer Parthey wendet. Prüffet alles, und das beste behaltet. I. Thess. 5. v. 21. Gedruckt im Jahr 1702. [o. O.]; sowie:
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Auf die tatsächliche ideengeschichtliche Validität kommt es gar nicht an. Hier werden Traditionszusammenhänge adaptiert und in der Kombination neu konzipiert. Ob man den Autoren, aus denen die Bausteine entnommen wurden, dabei gerecht wird – in den wenigsten Fällen trifft dies aus heutiger Sicht zu – kann problemlos hintangestellt werden.28 Wichtig ist alleine das neue Produkt. Dennoch: diese Wendung ins Positive geht einher mit einer neuen – wenn man so will – Programmatik. Inhaltliche Momente der Religio prudentum kamen bisher nicht zur Sprache. Das liegt allerdings in der Natur der Sache. Der Kampfplatz wird nicht von Inhalten oder bestimmten Lehren bevölkert, sondern ist eine reine Auseinandersetzung um die Rechtmäßigkeit einer Methodik oder, vorsichtiger ausgedrückt, von Formen legitimer Aneignung. Die Frage, was die ›Religion der Klugen‹ lehre, wonach man sich in seinem Glauben zu richten habe, wäre deshalb falsch gestellt. Der zentrale Streitpunkt ist vielmehr, ob die im Bereich der Philosophie zur Jahrhundertwende längst salonfähig gewordene Eklektik sich auf den Gegenstandsbereich der Religion im Allgemeinen und der Theologie im Besonderen übertragen lässt. Dieser Befund hat weitreichende Folgen für die künftige Beschäftigung der Forschung mit der Religio prudentum. Denn es scheint angebracht, zunächst einmal den Fokus enger zu stellen, um das spezifisch Neue dieser Gedankenfigur strenger in den Blick zu bekommen und nicht vorschnell Kontexte anzubinden – gerade im Hinblick auf den weiteren Verlauf der religionsphilosophischen Umwälzungen im 18. Jahrhundert –, die kein genuiner Teil des Phänomens sind.
3. Bestimmung des Feldes – Grenzen und Grenzziehungen in der zeitgenössischen Wahrnehmung Die Forschung zur Religio prudentum steht noch am Anfang. Ein sicheres Indiz für die geringe Beachtung, die das Phänomen oder der Problemkomplex bisher erfahrenen haben, ist das Fehlen entsprechender Einträge in den einschlägigen theologischen und philosophischen Lexika. Weder gibt es Lexikon-Artikel in der Theologischen Realenzyklopädie29, dem Lexikon Entdeckte Thorheit Der Nichtigen Schrift, welche intitulieret: Die Thorheit der Klugen [...] von Oßwaldt dt Heinrich Ermelingen. 1703 [o. O.]. 28 So ist etwa die Einordnung des Grotius als Eklektiker durchaus problematisch, wie Albrecht bemerkt: »Grotius wurde von seinen Kritikern ohne jeden stichhaltigen Beleg aus seinen Schriften zum ›Klugen‹ und zum Eklektiker gemacht.« Albrecht: Eklektik (wie Fn. 17), S. 510. 29 Theologische Realenzyklopädie. Studienausgabe. Hrsg. von Gerhard Müller. 36 Bände in 3
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für Theologie und Kirche30 oder in der neuesten Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart31. Auch das Historische Wörterbuch der Philosophie32 oder die Enzyklopädie Philosophie33 kennen die Religio prudentum nicht. Selbst den Registern der genannten Nachschlagewerke ist die ›Religion der Klugen‹ kein Eintrag wert.34 Einzig im Umkreis der Eklektik und dem Komplex der ›vernünftigen‹ oder ›natürlichen Religion‹ finden sich einige Fingerzeige. Dabei gelte es aber zu beachten, dass diese keineswegs mit der Religio prudentum gleichzusetzen sind, wenngleich sich auch Überschneidungen ergeben können. Ein erstrangiges Ziel künftiger Forschung wäre es demnach, Grenzen zu ziehen und mittels dieser Grenzziehungen zu einer distinkteren und damit historisch adäquateren Begriffsbestimmung zu kommen. Dies ist einzig aus einer frühneuzeitlichen Perspektive zu leisten, die die bereits verwässernden Sichtweisen und Bewertungen nicht übernimmt, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts unter dem Stichwort einer ›Vernunftreligion‹ durchsetzen, und dafür die Genese selbst in den Blick nimmt.35 Mit den Arbeiten von Michael Albrecht und Martin Mulsow ist also zuallererst die Ausgangsbasis für weitere Untersuchungen geschaffen worden. Und diese sind dringend geboten, will man über stereotype Dichotomien und im Vagen verbleibende Zuschreibungen hinauskommen. Während andere Bereiche heterodoxen Gedankenguts und deren Träger gut erforscht sind, ist die Beschäftigung mit der Elitenreligion – gerade in Deutschland – noch nicht sonderlich weit gediehen. Hierbei gilt es besonders, die polyvalenten Kontexte, an die man das Phänomen der ›Religion der Klugen‹ anschließen kann, sinnvoll einzuschränken. Konkretisieren lässt sich dies nur in der Analyse des historischen Materials. Drei Fragen stehen dabei meines Erachtens im Zentrum:
Teilen, dazu 4 Registerbände. Berlin 1993–2006. 30 Lexikon für Theologie und Kirche. Begründet von Michael Buchberger. Hrsg. von Walter Kaspar u. a. 11 Bde. Völlig neu bearb. Aufl. Freiburg i. Br. u. a. 3. Aufl. 1993–2001. 31 Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Hrsg. von Hans Dieter Betz u. a. 8 Bände und ein Registerband. 4. Aufl. Tübingen 1998–2007. 32 Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. 13 Bde. Basel 1971–2007. 33 Enzyklopädie Philosophie. Hrsg. von Hans Jörg Sandkühler. 3 Bde. Hamburg 2010. 34 Das gilt auch für verwandte, oder in ihrer Semantik identische Begriffe wie der religio eruditorum oder einer ›Religion der Gelehrten‹ und ähnlichen Spielarten. 35 So etwa bei [Meyern, Johann]: Die Religion der Klugen von dieser Welt, zu weiterem Nachsinnen mitgetheilt von Anonymo. Breslau 1769.
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1. Die Religio prudentum wird in der frühneuzeitlichen Apologetik gerne in die Nähe des Atheismus gerückt oder gar mit diesem gleichgesetzt.36 Von der dezidierten Leugnung Gottes kann indes keine Rede sein, selbst Behmer kennt die Autorität der Bibel an: Ein systematischer Atheismus liegt nicht vor. Es handelt sich also – wie so oft im zeitgenössischen Kontext – um eine pauschale Diffamierung mit Hilfe des Kampfbegriffs ›Atheismus‹. Zu fragen wäre in einem ersten Schritt nach den Abgrenzungen von den verschiedenen Arten des Atheismus-Begriffs, die im 17. Jahrhundert verhandelt wurden. Die Beschuldigung des Atheismus zielt im übrigen in eine andere Richtung, die genauer herauszuarbeiten wäre. Der Atheismus folge – so die Logik der Argumentation – in consequentiam notwendigerweise aus den geäußerten Positionen.37 Gerade hier muss man nun unterscheiden und unter vermeintlich verwandten Gedankenfiguren oder Konzepten differenzieren. Zu denken wäre einerseits an deistisch zu nennende Auffassungen von Religion, die sich ebenfalls an der Vernunft als Richtschnur orientieren,38 sowie andererseits an Formen und Ausprägungen einer ›natürlichen Religion‹,39 die als gemeinsame Basis allen (positiven oder geoffenbarten) Religionen zugrunde liegen soll. In beiden Fällen ergeben sich wohl Schnittmengen, ohne dass eine Identität mit der Religio prudentum zu konstatieren wäre. 2. Um der im vorangegangen Punkt angesprochenen Problematik gerecht zu werden, ist eine Aufarbeitung der ideengeschichtlichen Linien und die Prüfung von deren Validität wohl unumgänglich. Wir sehen die Positionen, um die in den polemischen Debatten gerungen wird, wie in der 36 So etwa bei folgender Disputation schon im Titel: Schwartz, Johann Henricus (resp.): Disputatio theologica de atheorum religione prudentum, quam dementer annuentendo et favente max. rev. theologorum ordine. Johann Petrus Grünenberg (praes.). Rostock 1702. 37 Zur Einteilung der verschiedenen Atheismusbegriffe in der Frühen Neuzeit siehe den Überblick bei Winfried Schröder: Einleitung, in: Reimmann, Jakob Friedrich: Historia universalis atheismi et atheorum falso et merito suspectorum [1725]. Mit einer Einleitung hrsg. von Winfried Schröder. Stuttgart-Bad Cannstatt 1992 (Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung. Abt. 2, Supplementa Bd. 1), S. 7–44, sowie ausführlich ders.: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998 (Quaestiones, 11). Ferner die fundierten Überlegungen bei Jaumann: »Wilder Libertinismus«? (wie Fn. 8). 38 Für einen ersten Zugriff auf die Tradition siehe Voigt, Christopher: Der englische Deismus in Deutschland: Eine Studie zur Rezeption englisch-deistischer Literatur in deutschen Zeitschriften und Kompendien des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003. 39 Einen Überblick über die komplizierte Gemengelage in der Frühen Neuzeit bietet nun Bultmann, Christoph: Natürliches Licht und natürliche Religion in der Religionsphilosophie der Aufklärung. In: Jahrbuch Aufklärung (Thema: Natur, hrsg. von Mulsow, Martin, Friedrich Vollhardt) 25 (2013). Hamburg 2014, S. 7–21. Dort auch weiterführende Literatur.
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frühneuzeitlichen Polemik (und wie noch heute) nicht unüblich, häufig nur mit Personennamen charakterisiert. Da werden beispielsweise Hugo Grotius, Lord Herbert oder John Toland als Vertreter oder gar Vorbilder genannt, ohne dass dabei auf bestimmte Äußerungen oder Philosopheme derselben zurückgegriffen würde. Diese inhaltliche Leerstelle aber gelte es herauszupräparieren, ideengeschichtlich im Hinblick auf die angesprochenen Philosopheme zu konkretisieren und dadurch erst zu füllen, um im Anschluss zu fragen, wo die Konvergenzen dieser doch ganz unterschiedlich argumentierenden Autoren wirklich liegen oder aber zumindest gesehen wurden. Denn es müssen beide Möglichkeiten in Betracht gezogen werden. So sind die aus unserer Sicht der Philosophiegeschichte heute als Missverständnisse oder Fehldeutungen angesehenen Rezeptionslinien unbedingt als reale Gegebenheiten anzusehen. Auch hier zählt nur die Eigenperspektive der Epoche. Und diese war keine national-deutsche, sondern im Selbstverständnis der Gelehrtenrepublik eine europäische Perspektive. Das hat zur Folge, dass auch diejenigen Diskurse berücksichtig werden müssen, die im deutschsprachigen Gebiet keine sonderliche Prominenz hatten. Zu denken wäre etwa an Überlegungen aus dem Bereich des Libertinismus, dem ähnlich schädliche Folgen zugesprochen wurden. Auch hier ist mit Überschneidungen zu rechnen.40 Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Zukünftige Forschung wird sich um die ideengeschichtlichen und diskursiven Verflechtungen kümmern müssen, ohne vorschnell in den Bereich allgemeiner Abstraktionen vorzudringen. 3. Ein dritter gewichtiger Punkt, der auf die beiden zuvor genannten aufsetzt, betrifft die weitere Rezeption der Religio prudentum im Übergang zur (Hoch-)Aufklärung. Zweifelsohne wurde das Konstrukt einer ›Religion der Klugen‹ von Gelehrten zur Kenntnis genommen. Inwiefern es dabei aber umgebildet und in andere Traditionszusammenhänge eingeschrieben wurde, bleibt noch zu klären. Als Hypothese könnte man die Öffnung des Konzepts im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts und die damit einhergehende semantische Umcodierung hin zu einer Religion der Vernünftigen annehmen. Aus einem elitären Projekt würde so ein genuin aufgeklärtes Programm, das die Fähigkeit zum Vernunftgebrauch als allgemeinmenschliches Vermögen zum Ausgangspunkt religionsphilosophischer Überlegungen macht.41 Von einer starren Übernahme der methodisch40 Siehe hierzu grundlegend René Pintard: Le libertinage érudit dans la première moitié du XVII siècle. Paris 1943. Neuausgabe Genève: Slatkine 1983, sowie Jean-Pierre Cavaillé: Dis/ simulations. Jules-César Vanini, François La Mothe Le Vayer, Gabriel Naudé, Louis Machon et Torquato Accetto. Religion, morale et politique au XVIIe siècle. Paris 2002. 41 Ich habe andernorts versucht eine dieser möglichen Übernahmen ein wenig näher zu
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programmatischen Grundzüge darf man wohl nicht ausgehen, vielmehr stellen sich die Fragen: Welche Punkte bzw. Argumente konnten integriert, welche mussten modifiziert und ›entschärft‹ werden und welche mussten gänzlich preisgegeben werden? Mit dieser Umstrukturierung des Gehalts entfernt man sich aber immer weiter von den ursprünglichen Ideen. Es wird also zu beschreiben sein, wie ferner die Hinzunahme von anderen, ähnlich gelagerten Gedankenfiguren zu einem neuen Amalgam vonstatten ging. Besonderes Augenmerk verdient in diesem Zusammenhang die Vorstellung, dass es so etwas wie eine »Religio duplex« (Jan Assmann) gibt oder gegeben habe.42 Die Religio duplex ist durch die Trennung zwischen einer esoterischen und einer exoterischen Religion gekennzeichnet. Erstere ist einer geistigen und auch herrschaftlichen Elite vorbehalten, während die zweite für die breite Masse des ungebildeten Volkes die eigentliche Religion bildet. Vorgebildet sieht Jan Assmann diese Trennung in den religiösen Vorstellungen der alten Ägypter, zumindest dergestalt, dass sie im Europa der Frühen Neuzeit solchermaßen rezipiert wurde. Die Überschneidungen zu bestimmten Formen der Religio prudentum sind offensichtlich, wenngleich die Ausgangsbasis eine andere ist: So werden beide Konzepte mit der These der Religion als Priesterbetrug, der einzig der Herrschaftssicherung diene und dadurch zum bloßen Machtinstrument degeneriert sei, in Verbindung gebracht. Aber auch diese Engführung müsste eigens an den jeweils zugrunde liegenden Prämissen geprüft werden, und der jeweilige Kontext müßte Beachtung finden. Die drei hier in den Fokus gerückten Fragekomplexe können keinen Anspruch auf Vollständigkeit in der Behandlung des Gegenstandes erheben, aber ich halte sie dennoch für die zentralen. Dies hat zweierlei Gründe mit unterschiedlicher Reichweite: Richtet man seinen Blick auf die Geistesgeschichte der Frühen Neuzeit vom Standpunkt des 18. Jahrhunderts aus zurück, wie es oft geschieht, so führt das nicht selten zu einem verzerrten Blick auf den Gegenstand. Begreiflich aber werden frühneuzeitliche Konzepte größtenteils erst in ihrer Genese. Das ist der diachronbeleuchten. Es handelt sich um den Versuch einer Umdeutung des anonym erschienen Traktates Ineptus Religiosus ad mores horum temporum descriptus [1652], den der junge Gotthold Ephraim Lessing in seiner Rettung des Inepti religiosi und seinen ungenannten Verfassers [1754] unternimmt. Dort, so meine These, versucht Lessing einen Text, der der Sphäre der Religion prudentum zuzuordnen ist, für seine eigenen religionsphilosophischen Überzeugungen dienstbar zu machen. Zum Ineptus Religiosus siehe Mulsow: Moderne aus dem Untergrund (wie Fn 22), S. S. 355–443. Zu Lessings Auseinandersetzung mit dem Text siehe Multhammer, Michael: Lessings ›Rettungen‹. Geschichte und Genese eines Denkstils. Berlin, Boston 2013, S. 201–263. 42 Assmann, Jan: Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung. Berlin 2010.
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systematische Punkt. Gleichzeitig gilt es aber auch immer eine synchrone, d. h. in den Verfahrensweisen der Gelehrtenrepublik transnationale und überkonfessionelle Perspektive einzunehmen, die sich um weite Kontexte bemüht. Dieses Vorgehen erfordert eine Ausweitung der Lektürebasis auf Bereiche und Publikationsorgane, die uns heute – in der historischen Perspektive – als randständig erscheinen mögen. Wenngleich dies mitunter auch zutreffen mag, so darf doch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass es gerade Diskussionen ›am Rand‹ der Gelehrtenrepublik sein können, die auf ihr Zentrum zurückwirken. Die fortschreitenden Forschungen zur historia literaria haben diesen Befund weiter erhärtet.43 Diese angemahnte Doppelung der Perspektive ist keine historiographische Quisquilie, sondern elementar für das adäquate Verständnis frühneuzeitlicher Gedankenfiguren.
43 Als erster Zugriff bietet sich an: Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Hrsg. von Frank Grundert, Friedrich Vollhardt. Berlin 2007.
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Der deutsche Bildstreit des 16. Jahrhunderts Hinweise zu Kontur und Binnenstruktur Die Verwendung von Bildern war in den monotheistischen, aus gemeinsamer abrahamitischer Wurzel hervorgegangenen Kulten und Kulturen − den jüdischen, christlichen und islamischen − seit jeher verpönt. Denn Monotheismus war und ist in dem Grade bildfeindlich, wie er auf heiligen Texten basiert und also textgeleitet ist. Das galt auch noch für die Kultpraxis des deutschsprachigen Raumes in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, die im 15. und 16. Jahrhundert jedoch stark erschüttert wurde. Bezeugt wird diese Erschütterung durch eine stattliche Anzahl von Streitschriften zur Bilderfrage. Allein während des 16. Jahrhunderts erschienen in diesem Raum rund 70 bis 150 Texte von etwa 60 bis 120 verschiedenen Autoren aus dem Gebiet des alten Reichs. Diese Texte1 sind teilweise durch jüngere Sammeleditionen zugänglich2 oder in Sammlungen von Kirchenordnungen auffindbar3; teilweise sind sie auch in jüngeren Werkausgaben einzelner Autoren4 greifbar. Etliche zitiert und erläutert die jüngere Forschungsliteratur zu Bilderstreit und Bildersturm, z. B. Dietrich Diederichs-Gottschalk5, Helmut Feld6, Christian Hecht7, Peter 1
Die Namen der Autoren, die im Quellenerzeichnis im Anhang zu diesem Beitrag mit ihren einschlägigen Titeln aufgeführt sind, sind im Text selbst mit Asterisk (*) ausgezeichnet, um die Anführung der vollen Titel in Haupttext und Anmerkung zu vermeiden. 2 Vgl. die Flugschrifteneditionen von Adolf Laube*, Hans-Joachim Köhler*, Cramer / Klemm* und zuletzt Berns*. Mit Berns* ist im folgenden immer gemeint: Von Strittigkeit der Bilder. Texte des deutschen Bildstreits im 16. Jahrhundert, 2 Bde. Berlin, New York: De Gruyter 2014 (Frühe Neuzeit, 184, 1.2), beide Bände sind durchpaginiert. 3 Vgl. die von Emil Sehling* (1902ff.) konzipierte Edition. 4 Z. B. von Bucer, Bullinger, Erasmus, Luther, Paracelsus, Zwingli u. a. 5 Diederichs-Gottschalk, Dietrich: Die protestantischen Schriftaltäre des 16. und 17. Jahrhunderts in Nordwestdeutschland. Regensburg 2005. 6 Feld, Helmut: Der Ikonoklasmus des Westens. Leiden u. a. 1990 (Studies in the History of Christian Thought, 41). 7 Hecht, Christian: Katholische Bildertheologie im Zeitalter von Gegenreformation und Barock. Studien zu Traktaten von Johannes Molanus, Gabriele Paleotti und anderen Autoren. Berlin 1997.
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Jezler8, Gertrud Litz9, Sergiusz Michalski10, Karl Möseneder11, Norbert Schnitzler12, Bob Scribner13, Margarete Stirm14, Martin Warnke15. Doch sind viele der einschlägigen Schriften bislang nur in den weit verstreuten frühneuzeitlichen Originalausgaben zu finden. Die Entstehungsmotive, Zusammenhänge und Dissenspunkte dieser Schriften sind Gegenstand der folgenden Darlegungen, bei denen starke Verkürzungen und Beschränkungen unvermeidlich sind. Denn es gibt zwar eine beachtlich breite Forschungsliteratur zu dem Phänomen Bildersturm und Bildkritik, doch wurde der Versuch, den deutschen Bildstreit als wahrnehmungskritische − auch sinnlichkeits-, theorie- und phantasiekritische − Auseinandersetzung medienspezifisch zu fassen, bisher nicht unternommen. Hier aber gilt es, den Bildstreit als Mediendebatte, deren kritisches Potential bis in unsere Gegenwart reicht, ernst zu nehmen.
Was war deutsch am deutschen Bildstreit? Der Bildstreit wurde von Autoren unterschiedlicher Herkunft unterschiedlichen Temperaments auf unterschiedlichem intellektuellen und stilistischen Niveau in originär deutschen Idiomen ausgetragen. In solchen Fällen, wo Texte zunächst lateinisch formuliert waren − beispielsweise bei Agrippa von Nettesheim* (1486–1535), Heinrich Bullinger* (1504–1575), Martin Chemnitz* (1522–1586) oder Desiderius Erasmus* von Rotterdam (1467–1536) −, entstanden bald deutsche Versionen. Sie
8 Bilderstreit. Kulturwandel in Zwinglis Reformation. Hrsg. von Altendorf, Hans-Dietrich, Peter Jezler. Zürich 1984. − Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? Hrsg. von Dupeux, Cécile, Peter Jezler, Peter, Jean Wirth. München 2000. 9 Litz, Gudrun: Die reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten. Tübingen 2007. 10 Michalski, Sergiusz: Die Ausbreitung des reformatorischen Bildersturms 1521–1537. In: Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille?, wie Anm. 8, S. 56–71. 11 Streit um Bilder. Von Byzanz bis Duchamp. Hrsg. von Karl Möseneder. Berlin 1997; ders.: Paracelsus und die Bilder. Über Glauben, Magie und Astrologie im Reformationszeitalter. Tübingen: Niemeyer 2009 (Frühe Neuzeit, Bd. 140). 12 Schnitzler, Norbert: Ikonoklasmus − Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln während des 15. und 16. Jahrhunderts. München 1996. 13 Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Bob Scribner. Wiesbaden 1990 (Wolfenbütteler Forschungen, 46). 14 Stirm, Margarete: Die Bilderfrage in der Reformation. Gütersloh 1977 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 45). 15 Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks. Hrsg. von Martin Warnke. München 1973.
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zeigen das dem Bildstreit innewohnende seelsorgerische, politische und verlegerische Interesse am deutschsprachigen Publikum. Die meisten Bildstreittexte entstanden jeweils fallbezogen, aus lokal akutem, zeitlich punktuellem Anlass. So artikulierte sich beispielsweise Andreas Bodenstein* von Karlstadt (ca. 1480–1541) während der Wittenberger Unruhen, wie dann auch Martin Luther* (1483–1546), der sich in Predigtserien und agitatorischen Flugschriften zu Wort meldete. Ulrich Zwingli* (1484–1531), Ludwig Hätzer* (vor 1500–1529) und Heinrich Bullinger* artikulierten sich in Zürcher Zusammenhängen, auf die dann der auch für Zürich zuständige Konstanzer Bischof Hugo* von Hohenlandenberg (1457–1530) antwortete. Martin Bucer* (1491–1551), Wolfgang Capito* (1478–1541) u. a. nahmen in den Straßburger Reformationswirren das Wort, andere in Frankfurt, Soest, Hildesheim, Münster oder sonstwo. Die ad hoc formulierten und lokal motivierten Verlautbarungen gewannen rasch Flügel, wenn es anderswo gesinnungsverwandte Bildgegner und Bildfreunde oder auch geschäftstüchtige Drucker gab, die für rasche Verbreitung sorgten. So gelang es Reformationsfreunden und -gegnern sich sprunghaft zu vernetzen. Es lässt sich zumeist nachprüfen, wann und wo jeweils bestimmte Predigten zu Flugschriften oder Schmähgedichte zu Flugblättern wurden. Oft lassen sich Anlässe für Nachdrucke an anderen Orten in scheinbar beliebigen Auflagen und Gegenschriften benennen. Auch lokale obrigkeitlich-policeyliche Verbote bestimmter Flugschriften lassen sich vielerorts noch nachweisen, in Ratsprotokollen und ähnlichem Schriftgut. Obwohl sich die Streitautoren nur selten explizit aufeinander beziehen, tun sie es aber oft implizit. So entstand durch Übernahme von thesenhaften Formeln, von Motiven und Argumenten eine innere Verkettung. Man kann unterstellen, dass alle Autoren, die in den Streit eingriffen, zumindest die Initialschrift Bodensteins und Luthers Antworten darauf zur Kenntnis genommen haben. Ein innerer Zusammenhang der gesamten Bildstreitliteratur ergab sich vorab schon dadurch, dass alle Autoren den gleichen Bildungsstandard und eine gemeinsame ideologische Ausgangsbasis hatten: in Bibel, Patristik, Canones, Liturgik, Kirchenhistoriographie (Eusebius, Cassiodor u. a.), antik-paganer Historiographie (Homer, Vergil, Strabo, Tacitus u. a.) und Philosophie. Der Etablierungskampf der unterschiedlichen protestantischen Fraktionen und der Behauptungskampf der romtreuen Altgläubigen begünstigte oder forderte ein Überspringen von Ort zu Ort, das die Bilderfrage nicht nur nebenbei einbezog, sondern sie ihrer kämpferischen Signifikanz wegen demonstrativ wichtig machte. Wo die Heiligenbilder schwanden, sahen sich die einen im Vormarsch, während Parteigänger Roms sich mühten, ganze Territorien mit Bildstationen zu überziehen und zu festigen.
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1576 behauptete Johann Fischart* (1546–1591) in seiner Abhandlung von des gemäls nuzbarkeit16, dass »nicht allein vor längst verschinenen jaren vil Hochgelehrte und erleuchte Männer von Philosophis, Historicis, Mathematicis und Poeten, sich haben gefunden, welche die rümliche könstlicheit des gemäles, durch ire wolberedenheit, als ein materi deren gemäs, hoch erhuben: Sondern es erzeigen sich auch bei noch gegenwärtiger lebzeit von tag zu tag in allerlei sprachen vil mehr solcher kunst verständige und geflissene Leut, die sie, beides irer von erfindungs zeiten her gehabter würde, und heutiger höchstgeprachter vollkommenheit, in zirlichen vorreden, gantzen orationen und vilen Büchern, zugleich schriftlich, und auch würklich, in scheinlichen bewärten proben, hoch einher tragen und ausher streichen.«
Fischart skizziert damit, von welchen Interessenstandpunkten aus Bildnerei in Geschichte und Gegenwart Beachtung fand, die sich schriftlich niederschlug. So breit das Panorama, das er entwirft, auch ist, bleibt doch erklärungsbedürftig, wieso Philosophen, Historiker, Mathematiker und Poeten, nicht aber Theologen unter den Interessenten erwähnt werden. Der Befund, dass es doch zumeist Theologen waren, die im deutschen Bildstreit das Wort nahmen, drängt zu der Frage, wen Fischart denn gemeint haben könnte. Man darf unterstellen, dass er, der weltgewandte, polyglotte Jurist (und sprachgewaltige Übersetzer von Rabelais und Bodin), die außerdeutsche lateinische, italienische und französische Fachliteratur kannte und also eine übernationale europäische Diskussionsbewegung meinte. Freilich gab es in der Frühen Neuzeit Ikonographie- und Ikonoklasmus-Traktate nicht allein im deutschen Sprachraum, sondern überall dort, wo Protestanten im Vormarsch waren17, also beispielsweise in Frankreich, den Niederlanden oder Großbritannien. Doch ist die Geschichte dieser Literatur hier nicht in die Erwägungen einzubeziehen. Die meisten Debattenteilnehmer waren es als Theologen gewohnt, sich bei schriftlichen Äußerungen der lateinischen Sprache zu bedienen. Im Bildstreit aber verhielten sie sich anders. Johann Eberlin* von Günzburg (ca. 1470–1533) − ein Franziskanertheologe, der sich dem lutherischen Protestantismus zugewandt hatte − erklärte 1521, weshalb viele Gelehrte sich nun der Volkssprache bedienten:
16 [Fischart, Johann / Tobias Stimmer:] Neue Künstliche Figuren Biblischer Historien / grüntlich von Tobias Stimmer gerissen: Vnd zu Gotsförchtiger ergetzung andächtiger hertzen / mit artigen Reimen begriffen / durch J. F. G. M. Zu Basel bei Thoma Gwarin. Anno. M.D.LXXVI. Fol. (*) ijr – (*)v. − Berns* N° 52. − Cramer/ Klemm*, S. 323–335. 17 Dazu Schnitzlers Kapitel »Bilderstürme der Reformationszeit – ein europäisches Phänomen«. In: Schnitzler, wie Anm.12, S. 145ff.
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»Erasmus, Luther vnd Hut[ten] vnd vyl andere vnderstond die rechte warheit in das volck zu bringen in teütscher sprach, vnd jederman warnen vor den falschen propheten in schaffs kleideren, in hoffnung, got werd seim armen teütschen volck die ougen auffthun.«18
Der vertikalen sozialen Durchlässigkeit der deutschsprachigen Streittexte entsprach eine horizontale ethnische Ausschließlichkeit: Wer die deutsche Sprache nicht beherrschte, war von der Debatte ausgeschlossen. Insofern kann von einer originär deutschen und gemeindeutschen Debatte in kulturpatriotischem Kommunikationsinteresse, das auch einen Aufwertungsprozess der deutschen Sprache in sich begriff, gesprochen werden. Erkennbar wird dadurch erstmals, welche medienspezifische, d. h. auf Bildverwendung, Bildwirkung und schließlich auch Bildtechnik bezogene Begriffskompetenz das Deutsch jener Zeit aus sich entwickeln konnte19. Hinzu kam das Faktum, dass Luther* tatsächlich in Auseinandersetzung mit der römischen Papstkirche den Spottitel ›deutscher Prophet‹ akzeptierte und militant patriotisch wendete20. So gab es im 16. einen sich verstärkenden Trend zur Deutschsprachigkeit, der sich in unterschiedlichen wissenschaftlichen und politischen Bereichen, je aktuellen Bedürfnissen folgend, unterschiedlich früh zeigte21. Der Übersetzer und Historiker Johannes Herold* (1514–67) beispielsweise deutet das an, wenn er 1554 dem außerhalb Deutschlands gelegentlich geäußerten Verdacht entgegentritt:
18 Eberlin von Günzburg, Johann: Warumb man Herr Erasmus von Roterodam in Teütsche sprach transferiert. Warumb doctor Luther vnd herr Vlrich vin Hutten teütsche schriben. Wie nutz vnd not es sy das sollich ding dem gemeinen man für kom. Der VIII. bundts gnoß. In: Johann Eberlin von Günzburg: Ausgewählte Schriften, Bd. I. Hrsg. von Ludwig Enders. Halle 1896, S. 79–88, hier S. 86. 19 Vgl. dazu das »Begriffs- und Sachverzeichnis« bei Berns*, S. 1295–1344. 20 So schreibt er 1531 in der Warnung an seine lieben Deutschen: »Aber weil jch der Deudschen Prophet bin (Denn solchen hoffertigen namen mus jch mir hinfurt selbs zu messen / meinen Papisten vnd Eseln zur lust vnd gefallen) So wil mir gleichwol / als einem trewen Lerer / gebüren meine lieben Deudschen zu warnen / fue jrem schaden vnd fahr [...]«, Luthers Werke. Hrsg. von Otto Clemen. 6., verb. Aufl., Bd. 2. Berlin 1967, S. 194–228, hier S. 208. 21 Vgl. dazu Klein, Wolf Peter: Die deutsche Sprache in der Gelehrsamkeit der frühen Neuzeit. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hrsg. von Herbert Jaumann. Berlin 2011, S. 465–516. − Kühlmann, Wilhelm: Nationalliteratur und Latinität. Zum Problem der Zweisprachigkeit in der frühneuzeitlichen Literaturbewegung in Deutschland. In: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber. Tübingen 1989, S. 164–206. − Berns, Jörg Jochen: Zur Entstehungsgeschichte der deutschsprachigen Philosophie. Im Nachwort zu dem Nachdruck von Justus Georg Schottelius: ETHICA Die Sittenkunst oder Wollebenskunst. Wolffenbüttel: Paul Weiß, 1669. Hrsg. von Jörg Jochen Berns. Bern, München 1980, S. 15–46.
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»dz vnser Vatterland nit auch der menschen habe / die in anerporner spraach alle lher möglichen vnd zuwissen würdige künsten fassen möchtend / oder zum Sternensehen / Erdmessen / Singen / einen Teütschen vnglürnig achten / weil das Rechnen ein grunduestin diser künsten / auffs höchst bey vns kommmen. Solt der Teütsch seine buchstaben / liebliche ahrt vnd den plůmen der rede / oder die eröhrterung seines vorhabens nit wissen einzůbilden / do doch schier aller Welten spraachen vnd künste /vnß Teütschen so gemein worden?«22
Autorenprofile Die Motive, sich in den Bildstreit einzulassen, waren vielfältig. Als bloße Voreingenommenheit für oder wider kultische Bildnutzung, als Ausfluss konfessioneller Parteiung oder sozialer Bindung lassen sie sich nicht hinlänglich erklären. Zwar gibt es unter den Bildverteidigern prominente kämpferische Altgläubige, die hohe kirchliche Ämter innehatten: so Berthold* Pürstinger23 (1465–1543), der Abt von Chiemsee, Hugo* von Hohenlandenberg24, der Bischof von Konstanz, Hieronymus Emser*25 (1478–1557), der Hofkaplan des Dresdener Kurfürsten, sodann der Ingolstädter Theologieprofessor Johannes Eck*26 (1486–1543), der Dominikanertheologe und Mainzer Großinquisitor Johannes Dietenberger*27 (1475–1537) oder der humanistische Schulreformer Hieronymus Gebwiler*28 (c. 1473–1541). Dagegen gibt es unter den Bildkritikern die richtungsweisenden Köpfe der protestantischen Lager: Martin Luther*29 und Philipp Melanchthon*30
22 Herold*, Johannes: Heydenwelt Vnd irer Götter anfängcklicher vrsprung. Basel: Heinrich Petri 1554, Bl. IVr. 23 Berthold* von Chiemsee: Teutsche Theologey. München: Schobser 1528. − Auszüge bei Berns*, N° 33. 24 Hugo* von Hohenlandenberg: Christenliche vnderrichtung [...] / die Bildtnüssen vnd das Opffer der Messz betreffend / [...] Straßburg 1524. −Köhler* Fiche 321. − Berns* N° 22. 25 Emser*, Hieronymus: Emsers vor||antwurtung, auff das ketzerische buch Andres Carolstats von abthueung der bilder [...] Leipzig: Martin Landsberg 1522. − Köhler* Fiche Nr. 2912. − Berns* N° 7. 26 Johannes Eck*: ENCHIRIDION. Handbüch||linn gemayner stell vnd Artickel / der yetz schwebenden neuwen leeren. [..] M.D.XXX. [VD 16 E 357; Digitalisat] . − Berns* N° 42. 27 Dietenberger, Johannes: Wie man die Heiligen ehren soll. Straßburg: Joh. Grüninger, 1524; ders.: Fragstuck an alle Christglaubigen [...] An die Löbliche Stadt Franckfurtt an dem Meyn. M. D. XXJX. − Köhler*, H.-J. Fiche 1027/ Nr. 2588..− Berns* N° 29 und 30. 28 Hieronymus Gebwiler*: Beschirmung des lobs vnd eren der hochgelobten hymelische künigin Marie / aller heiligen gottes / auch der wolan-gesetzten ordnungn der Christlichen kirchen wider die freuenlichen heiligenschmeher [...] Straßburg: Grüninger 1523. − Berns* N° 24. 29 Vgl. Berns* N° 8, 9, 11, 14 und 15. 30 Philipp Melanchthon: Der Bapstesel durch Philippen Melanchthon deutet. Teil I von: Deutung der zwo greulichen Figuren, Bapstesels zu Rom und Mönchkalbs zu Freiberg in Meissen funden.
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(1497–1560) in Wittenberg, Ulrich Zwingli*31 und Heinrich Bullinger*32 in Zürich, Martin Bucer*33 oder Wolfgang Capito*34 in Straßburg und Jean Calvin*35 (1509–1564) und Theodor Beza*36(1519–1605) in Genf. Doch sind deren Lager zunächst nicht als feste Verbände organisiert. In ihnen allen gärt es, sie alle produzieren in ihren theologischen und gemeindepolitischen Konsolidierungsprozessen Dissidenten, stigmatisieren
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Philippus Melanchthon. D. Martinus Luther. 1523. In: Martin Luther, WA 11, S. 370–379. − Berns* N° 10. Vgl. Berns* N° 19, 21 und 23. Heinrich Bullinger*: DE ORIGINE ERRORIS LIBRI DVO, HEINRYCHI BVLLINGERI. IN priore agitur de Dei ueri iusta inuocatione & cultu uero, de Deorum item falsorum religionibus & simulacrorum cultu erroneo. In posteriore disseritur de Institutione & ui sacrae Coenae domini, & de origine ac progressu Missae Papisticae [...]. Zürich: Froschauer 1539. − dt. Version von Philip Mertzig: DE ORIGINE ERRORIS ET DE CONCILIIS. Das ist: Vom Vrsprunng / Aufkommung / vnd Fürgang aller Jrrthumben / so je bey den Heiden / Juden vnnd Christen gewesen / vnd noch sind. [...] Heidelberg: Joh. Mayer 1574. − Berns* N° 34. [Martin Bucer:] Grund vnd vrsach auß gotlicherschriftt d‹ neüwerungen / an dem nachtmal des herren / so man die Mess nennet / Tauff / Feyrtagen / bildern vnd gesang / in der gemein Christi [...]. Straßburg: Köpfel 1524. − ders.: Das einigerlei Bild bei den Gotgläubigen (1530), bearb. von W. Neuser. In: MARTIN BUCERS DEUTSCHE SCHRIFTEN, hrsg. von Robert Stupperich, Bd. 4: Zur auswärtigen Wirksamkeit 1528–1533. (MARTINI BUCERI OPERA OMNIA, Series I, Deutsche Schriften, Bd.4) Gütersloh 1975, S. 161–184. − ders.: Kurtze schrifftliche erklärung für die kinder und angohnden [= Katechismus 1534]. Bearb. von Marijn de Kroon u. Hartmut Rudolph. In: Martin Bucers Katechismen aus den Jahren 1534, 1537, 1543. Hrsg. von Robert Stupperich (Martini Buceri opera omnia. Ser. I: Deutsche Schriften, Bd. 6, 3). Gütersloh 1987, S. 51–174. − Vgl. Berns* N° 26–28. [Wolfgang Capito / Desiderius Erasmus:] Von der kirchen lieblichen vereinigung, und von hinlegung diser zeit haltender spaltung in der glauben leer, geschriben durch den hochgelerten und witberiempten herren Des. Eras. von Roterdam. [...] Von befridung der kirchen [...] Doctor Wolfgang Capito. Getruckt in der loblichen stat Straßburg durch Mathiam Apiarium, im 1533. jar. − Berns* N° 35d. [Johannes Calvin:] Christianae religionis institutio totam fere pietatis summam et quicquid est in doctrina salutis cognitu necessarium complectens. Basel 1536. − ders. [anon. dt. Übers.]: Summa DEr wahren Christlichen Religion / die man nu viel Jar her im Königreich Franckreich mit Schwert vnd Fewr / auch endtlicher verjagung / vnder dem Namen der Lutherischen Lehr jämmerlich verfolget hat / welche der Teuffel nun mehr Calvinisch nennet. Auß den vier Büchern der Institution Herrn Johann Caluini mit seinen eignen Worten gezogen. Sampt der Vorrede deß authoris an den Großmechtigen König in Franckreich / Franciscum den ersten. Auß Frantzösischer vnd Lateinischer Sprach trewlich verteutscht. [Druckermarke] Gedruckt zu Herborn in der Graffschafft Nassaw / Catzenelnbogen / etc. durch Christoff Raben. M. D. LXXXVI. − Berns* N° 43. Theodoris Bezae Gründlicher Gegenbericht / Auff die zu Tübingen außgangene Schrifften / des Mümpelgartischen Gesprächs halben, welches im 1586. Jahr zwischen den Hochgelehrten, D. Iacobo Andreae / Probst und Cantzlern der Hohen Schul zu Tübingen /| vnd D. Theodoro Beza / Professorn vnd Pastorn der Kirchen zu Genff / gehalten worden. Auß dem Latein in rechtschaffen Teutsch / mit sonderem vleisse trewlich gebracht. Allen / so der Kirchen Fried und Ruhe von hertzen lieben vnd begeren / daneben an Listverschlagenen Calumnien kein gefallen tragen / zu lieb / vnd rettunge der Warheit / in truck verfertiget. Getruckt zu Basel Durch Conrad Waldkirch. M. D. LXXXVIII. − Berns* N° 53.
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sie, stoßen sie aus oder liquidieren sie gar. Das zeigt sich beispielsweise, wenn das Wittenberger Lager seinen Andreas Bodenstein* von Karlstadt37, das Zürcher Lager seinen Ludwig Hätzer*38 , das Straßburger Lager seine Thomas Murner*39 (1475–1537) und etliche Wiedertäufer hat. Daneben oder dazwischen gibt es aber skeptisch-eigenwillige Autoren, die sich keinem dieser Lager zurechnen lassen, da sie sich die Option offen halten wollen, zwischen ihnen zu wechseln oder allen zu opponieren. Dazu wären zuvörderst Paracelsus*40 (c. 1493–1541) und Albrecht Dürer*41 (1471–1528) zu rechnen (der gelegentlich als Kryptolutheraner verdächtigt wurde), und ferner wären Agrippa von Nettesheim*42, Sebastian Franck*43
37 [Andreas Bondenstein von Karlstadt:] Von abtuhung der Bylder/ Vnd das keyn Betdler vnther den Christen seyn soll. Carolstatt. in der Christlichen statt Wittenberg. Wittenberg 1522. [ND Nürnberg1979] − Berns*, N° 6. − Cramer / Klemm*, S. 9–35. 38 [Ludwig Hätzer:] Ein vrteil gottes vnsers eegemahels / wie man sich mit allen götzen vnd bildnussen halten sol / vß der heiligen gschrifft gezogen durch Ludwig Hätzer. Zürich: Chrph. Froschauer, 1523. − [ders.:] Acta oder geschicht wie es vff dem gesprech d‹ 26. 27. vnnd 28. tagen Wynmonadts / in der Christenlichen Statt Zürich / vor eim Ersamen gseßnen grossen vnd kleinen Radt / och in bysin mer dann 500. priesteren / vnd vil anderer biderber lüten / ergangen ist: Anbetreffend die götzen vnd die Meß. Anno M.D.XXIII. jar. || O Got erlöß doe gfangnen.||/ Getruckt in der Christenlichen statt Zürich / durch Christophorum Froschouer. − Berns* N° 17 und 18. 39 Thomas Murner. Deutsche Schriften mit den Holzschnitten der Erstdrucke, 9 Bde. Hrsg. von Franz Schulz. Berlin, Leipzig 1918–1931. 40 [Paracelsus i.e. Philippus Theophrastus Bombast von Hohenheim:] LIBER DE IMAGINIBVS In: Neundter Theil Der Bücher vnd Schrifften des Edlen / Hochgelehrten vnd Bewehrten PHILOSOPHI vnd MEDICI, PHILIPPI THEOPHRASTI Bombast von Hohenheim / PARACELSI genannt: Jetzt auffs new auß den Originalien [...] an tag geben: Durch IOHANNEM HVSERVM BRISGOICVM [...]. Basel: Conrad Waldkirch 1590, S. 369–393. − [ders.:] LIBER DE SVPERSTITIONIBVS ET CEREMONIIS. THEOPHRASTVS. Huser-Ausg. Bd. 9, S. 225–240. − [ders.:] De septem punctis idolatriae christianae. In: Paracelsus. Sämtliche Werke, 8 Bde. Hrsg. von Kurt Goldammer. Wiesbaden 1955–1995; hier II. Abteilung, Bd. 3, S. 1–57. − [ders.:] Liber de imaginibus idolatriae. Goldammer-Ausg., II. Abtlg., Bd. 3, S. 277–286. − Berns* N° 36–39. 41 Albrecht Dürer. Schriftlicher Nachlaß, 3 Bde. Hrsg. von Hans Rupprich. Berlin 1956–69. − Berns*, N° 4 u.5. 42 [Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim:] De incertitdine et vanitate scientiarum et artium, atque excellentia verbi Dei, declamatio. Paris: Joh. Petrus 1531. − HENRICI CORNELII AGRIPPÆ Ungewißheit Und Eitelkeit Aller Künste und Wissenschafften / auch Wie selbige dem Menschlichen Geschlechte mehr schädlich als nutzlich sind. [...] Aus dem Lateinischen ins Teutsche übersetzt. Cölln / 1713. − ders.: Apologia adversus calumnias propter declamationem de vanitate scientiarum & excellentia verbi Dei, sibi per aliquos Lovanienses theologistas intentatas: Quaerela super calumnia, ob eandem Declamationem […] Coloniae: Cervicornus 1533. − Berns* N° 41. 43 [Sebastian Franck:] Chronica, Zeytbuch vnd geschychtbibel von anbegyn biß inn diß gegenwertig A. D. xxxj. jar. [...] Anno M. D. XXXI. [Straßburg: Balthasar Beck 1531] − ders.: Paradoxa Ducenta octoginta / Das ist / CC.LXXX. Wunderred / vnd gleichsam Rhäterschafft / auß der H. Schrifft [...]. Ulm s. a. [ca. 1534]. − Berns* N° 44 und 45.
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(1499–1542), Caspar von Schwenckfeld*44 (1489–1561) und einige andere dazu zu zählen. Selbst Desiderius Erasmus* von Rotterdam45, dessen Schriften nicht von ungefähr teilweise auf den Index Romanus gerieten, und der prophetische Grantler Hippolyt Guarinonius*46 aus Tirol (1571–1654) wären hier als Autoren anzuführen, die Reserven gegen das Lagerdenken zeigten. Auffällig ist, dass in der deutschen Bilddebatte nur drei Künstler das Wort nahmen: Albrecht Dürer*, der Graphiker Matthis Quad*47 (1557–1613) und der Maler und Graphiker Heinrich Vogtherr d. Ä.48 (1490–1536); ansonsten waren die deutschen Maler, Graphiker und Bildhauer − Dürer bedauert das explizit! − sprachlos. Ein gewisses Maß an empirischer Kunstkenntnis wird immerhin bei Johann Fischart* deutlich, der eine Einleitung und Texte zu Bibelillustrationen seines Landmanns To44 [Schwenckfeld von Ossig, Caspar:] Lehrhafte Missiven oder Sendbrieff, die er in zeit seines Lebens, vom XXV. Jare an biß auff das LV. [...] geschrieben. o. O. [Frankfurt/M.?] 1566. − Berns* N° 50. 45 Erasmus von Rotterdam, Desiderius: Enchiridion oder handbüchlin eins Christenlichen und Ritterlichen lebens, in latin beschriben durch Doctor Erasmum von Roterdam. Und newlich durch Joannem Adelphum doctor und statartzet zu Schaffhusen vertütschet. [Übers. von Johannes Adelphus]. Basel: Adam Petri 1520. − Ders.: Ein schön buch Wie man Gott bitten / loben vnd dancken soll / gemacht zu Latin durch den hochgelarten doctor Erasmum von Roterodam / nüwlich / so vil müglich was zu gemeinem nutz vertütschet. − Getruckt zu Basell / durch Ioan. || Froben. Im Ior 1525. − Ders.: Explanatio Symboli Apostolorum, in: Desiderii Erasmi Roterodami Opera Omnia […] Tom. V, Lugduni Batavorum: Petrus van der Aa, MDCIV. − Ders.: Von der kirchen lieblichen vereinigung, und von hinlegung diser zeit haltender spaltung in der glauben leer, geschriben durch den hochgelerten und witberiempten herren Des. Eras. von Roterdam. [...] Von befridung der kirchen an den hochwürdigsten etc. Ertzbischof und Churfürsten zu Mentz und Magedenburg etc. Doctor Wolfgang Capito. – Getruckt in der loblichen stat Straßburg durch Mathiam Apiarium, im 1533. jar. − Berns* N° 35a-d. − Vgl. Giese, Rachel: Erasmus and the Fine Arts. In: Journal of Modern History 7 (1935), S. 257–279. − Panofsky, Erwin: Erasmus and the Visual Arts. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 32 (1969), S. 200–227. 46 Guarinonius, Hippolytus: Die Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts. In sieben vnterschiedlich Bücher vnd vnmeidenliche Hauptstucken [...] abgetheilt. [...]. Ingolstadt: Andreas Angemayr 1610. − Berns* N° 58. 47 Quad von Kinckelbach, Matthias: Teutscher Nation Herligkeit. Ein außfuhrliche beschreibung des gegenwertigen / alten / vnd vhralten Standts Germaniae [...] Gedruckt zu Cöln am Rhein. In verlegung Wilhelm Lutzenkirchen. Im Jahr M.DC.IX. − Cramer / Klemm*, S. 336–348. − Berns* N° 57. 48 Heinrich Vogtherr: Ein Frembdes vnd wunderbarliches Kunstbüchlin / allen Molern / Bildschnitzern / Goldtschmiden / Steynmetzen / Waffen / vnd Messerschmiden hochnützlich zugebrauchen / Dergleichen vor nie keines gesehen / oder in den Truck kommen ist. Straßburg: Christian Müller, 1572. [EA Straßburg 1538] [BSB München, Digit.] − Vogtherr klagt, dass »jetz zu vnser zeiten in gantzer Teütscher nation / allen subtilen vnnd freyen Künste / ein merckliche verkleynerung vnnd abbruch« durch Arbeitslosigkeit und Abwanderung der künstlerischen Fachkräfte widerfahren sei. Dagegen sei durch thematische Umorientierung, zu der er Vorschläge macht, anzukämpfen, »damit die Kunst widerumb in ein auffgang / vnnd seinern rechten wirden vnd ehren komme«. (Bl. Aij).
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bias Stimmer bot. Auch Hippolyt Guarinonius*, der katholische Arzt aus Hall in Tirol, stellt in seinem Buch kunstpraktische Kenntnisse unter Beweis, wie er sie als dilettierender Maler von Sakralbildern erworben hatte. Die grosse Mehrheit der Bildstreit-Autoren aber verfügte über erstaunlich geringe Kenntnisse von Praxis und Geschichte der Bildenden Künste in Europa oder auch nur in Deutschland, mehr noch: Sie brachten kein Interesse dafür auf. Für eine Teilnahme am deutschen Bildstreit waren solche Kenntnisse nicht erforderlich. Es ging um anderes. Um was denn aber?
Motive des Bildstreits Wenn die Bildskepsis im Deutschland des 16. Jahrhunderts vehement anstieg und militant wurde, so gab es dafür verschiedene, einander teils widersprechende, teils verstärkende Beweggründe49. Drei seien besonders hervorgehoben: ein frömmigkeitslogischer, ein technologischer und ein politischer. Frömmigkeitslogisch ermöglichte ein Set von Neuerungen eine Wende von der priesterlich geleiteten, liturgisch strukturierten Gottesdienstpraxis hin zu einer ›wilden‹, unstrukturierten Heilserwerbspraxis, in welcher statt Reliquien nun Bilder eine treibende Rolle spielten. Ergeben hatte sich dies daraus, dass neben den Fernwallfahrten (nach Jerusalem, Rom, Santiago de Compostela etc.) Nahwallfahrten in deutschen Landen sich seit dem 13. Jahrhundert rapide vermehrt und vernetzt hatten. Ihr Zahl ging in die Hunderte, und sie brachten eine Vermehrung wundermächtiger Gnadenbilder mit sich. Ein Netz von Pilgerorten überzog das Land und schwächte insofern die lokale kirchliche Gewalt, als jedermann nun pilgern konnte. Nicht unbeträchtliche Teile der Bevölkerung strebten ohne priesterliches Zutun, aus eigenem Antrieb zu den Pilgerorten, um bei den dortigen Heiltümern, vor allem aber bei mirakelerprobten Gnadenbildern, selbst ihr Heil zu suchen. Auch die erst im späten 15. Jahrhundert einsetzende Nutzung des Rosenkranzes − als eines Instrumentes zur Imaginationssteuerung und Heilsakkumulation − leistete einer individuellen, von priesterlicher Steuerung und Betreuung nicht abhängigen Heilserwerbspraxis Vorschub50.
49 Dazu Jezler, Peter, Elke Jezler, Christine Göttler: Warum ein Bilderstreit? Der Kampf gegen die Götzen in Zürich als Beispiel. In: Bilderstreit: Kulturwandel in Zwinglis Reformation (1984), S. 83–102, und Norbert Schnitzler: Ikonoklasmus − Bildersturm (1996), wie Anm. 12, passim. 50 Vgl. Berns, Jörg Jochen: Rosarium und Bilddrift. Zur präcinematischen Bedeutung des Rosen-
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Eine technologische Delegitimation priesterlicher Heilsverwaltung ergab sich aus der technischen Reproduzierbarkeit von Bildern und Lettern und damit aus deren massenhafter Verbreitung. Die seit dem 13. Jahrhundert sich zunehmend verbreitenden Pilgerzeichen, die das Wallfahrtsbild verkleinert reproduzierten, wurden an der Wende zum 15. Jahrhundert durch Holzschnitt- und Metallschnittreproduktionen ergänzt und teilweise ersetzt. In Reproduktionen wurden Gnadenbilder individuell erwerbbar und häuslich-privat nutzbar. Die so ermöglichte Vermehrung und Dislozierung brachte eine Desakralisierung des singulären Gnadenbildes, eine tendenzielle Neutralisierung seiner Mirakelpotenz mit sich. Wenn − wie bereits ein Beispiel des 13. Jahrhunderts lehrt − das Staunen vor dem miraculum des Gnadenbildes vom Staunen über das mirabile seiner Reproduzierbarkeit51 abgelöst wurde, dann ist daraus bereits die radikale Umwertungsbewegung ablesbar, die die folgenden Jahrhunderte bestimmen wird. Die Tendenz, die auf dem Feld der Bildlichkeit kenntlich wurde, wiederholte sich verstärkend auf dem der Schrift. Durch den Letterndruck zerging das priesterliche Zugriffsmonopol auf die Bibel. So war die lutherische Propagierung eines ›allgemeinen Priestertums‹ medientechnisch unterfüttert. Luther selbst war der Auffassung, dass der Buchdruck ein Gottesgeschenk sei, das die Reformation ermöglichte: »DOctor Martinus Luther sprach / Die Druckerey ist Summum et postremum donum durch welches Gott die Sache des Euangelij fort treibet / Es ist die letzte Flamme für dem ausleschen der Welt / Sie ist Gott lob am ende. Sancti patres dormientes desiderarunt videre hunc diem revelati Euangelij.«52
Die Notwendigkeit, die frömmigkeitsstrategische Debatte mit einer medienstrategischen zu verknüpfen, war folglich unabweisbar. Ein drittes Motiv des Bildstreits bestand in der seit dem 15. Jahrhundert zunehmenden Ablösung kirchlicher Fürsorgeinstitutionen durch das weltlich kommunale oder territoriale Reglementierungs- und Steuerungswesen: die Policey53. Die sozialen Spannungen, die sich in den städtischen Kommunen aus starker Zuwanderung von unprivilegierten Arbeitskräf-
kranzgebetes. In: Der Rosenkranz. Andacht – Geschichte – Kunst. Hrsg. von Urs-Beat Frei, Fredy Bühler. Bern 2003, S. 302–319. 51 Dazu Berns*, Nachwort S.1065–1213, hier S. 1127–1130. 52 [Martin Luther:] Tischreden oder Colloqvia Doct. Mart Luthers / So er in vielen Jaren ... gefüret. Ed. Johannes Aurifaber, Eisleben: Urban Gaubisch 1566 [ND 1981], Bl. 626r. 53 Vgl. Blickle, Peter: Gute Policey als Politik im 16. Jahrhundert. Die Entstehung des öffentlichen Raumes in Oberdeutschland. Frankfurt/M. 2003. − Knemeyer, Franz-Ludwig: Art. »Polizei«. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Brunner, Otto, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 4. Stuttgart 1978, S. 875–898.
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ten ergaben, konnten durch kirchliches Allmosen- und Spitalwesen nicht mehr ausgeglichen werden und wurden deshalb durch ein ›Zucht und Ordnung‹ intendierendes weltliches, policeylich-politisches Erlasswesen reglementiert54. Auch bei der Aufsicht über die Bildausstattung von Kirchen, kommunalen Gebäuden, Straßen und Plätzen löste die Policey als Instrument der weltlichen Obrigkeit die Kirche ab. Bild- und Buchzensur wurden policeyliche Obliegenheiten. In Anbetracht dessen ist nicht erstaunlich, dass Bildverteidiger ebenso wie Bildkritiker auf Gehör bei der Obrigkeit rechneten und diese zur Verteidigung ihrer Sache anriefen. Alle diese Motive führten gemeinsam zu einer ambivalenten, nicht selten sogar strikt kontradiktorischen Bewertung von frömmigkeitspsychologischer Bildnutzung. Denn steigerten sie auf der einen Seite individuelle Fixierung auf bestimmte Bilder (in Bilderdienst und Mirakelwunsch), so ermöglichten sie doch auf der anderen Seite auch individuelle Befreiung von dem Gefühl, durch Bilder überwacht und gebannt zu sein. Mancherorts konnten beide Einstellungen sich an denselben Bildobjekten wechselseitig aufschaukeln und dann zu Gewaltakten führen. Denn viele mochten von den altvertrauten Bildern nicht lassen und mochten sie sich nicht nehmen lassen, während andere, die sich just an diesen alten Bildern stumpf gesehen hatten und ihrer überdrüssig waren, Wünsche nach anderen Kommunikations- und Frömmigkeitsmedien geltend machten.
Politische Dimensionen von Bildschutz und Bildbeseitigung Wenn Erkenntnisinteresse und Lehrziele des Bildstreits genuin theologisch waren, so ist doch auffällig, wie entschieden auf politische Dignität gedrungen wurde. Die weltliche Obrigkeit hatte sich kraft ihres gottgegebenen ›Liebesamtes‹ in den Streit zu mischen. Sie galt den Streitenden aller Konfessionen und Fraktionen als Appellinstanz. Vor allem drei Motive waren es, derentwegen man die kommunale oder territoriale Obrigkeit anrief: a) zum Schutz vor seelengefährdenden Bildern (Obszönitätsproblem); b) zum Schutze des Eigentums an kostbaren Bildwerken (Kirchenraubproblem) und c) zum Schutz vor Aufruhr (Anarchieproblem).
54 Dazu Schnitzler, wie Anm. 12, S. 148: »Stärker als durch konfessionelle Prägungen − mit der unterschiedliche theologische Einstellungen zur Bilderfrag korrespondieren − wurde das Verhalten der Akteure offensichtlich durch politische und soziale Konstellationen innerhalb der städtischen Gesellschaft bestimmt. Städte mit ausgeprägten genossenschaftlichen Traditionen und erhöhter sozialer Mobilität (aufstiegswillige homines novi) verfügten naturgemäß über ein wesentlich günstigeres Klima für die Verbreitung reformatorischer Forderungen als patrizisch geprägte Städte wie Nürnberg [...].«
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Zunächst etwas ausführlicher zum Obszönitätsproblem. So sehr es unter radikalen Bildgegnern (beispielsweise bei Paracelsus oder Bucer) als ausgemacht galt, dass Bilder per se seelengefährdend seien, sofern sie glauben machten, sie seien Aufenthaltsort von oder zumindest Vermittlungsmedium zu jener heiligen Personage, welche in ihnen dargestellt ist, so gab es doch unter den diversen Bildarten solche, die in besonderem Maße als seelenvergiftend galten: erotisch affizierende Menschendarstellungen. Es muss im 16. Jahrhundert europaweit eine Debatte zur Obszönität von Bildwerken gegeben haben55; eine Debatte, deren Dimensionen noch nicht erforscht sind, deren Spuren sich aber auch in der deutschen Bildstreitdebatte finden, so z. B. wenn Geiler von Kaysersberg*, Johannes Butzbach*, Hieronymus Emser*, Erasmus* von Rotterdam, Agrippa von Nettesheim* und Hippolyt Guarinonius* »geile«, »bubische«, »unkeusche«, »schamlose«, »schantbare«, »hurische« Bilder bemerkt haben wollen. Dabei ging es zuvörderst um das Signalement verschiedener Arten von Nacktheit und deren Darstellung, sodann aber auch um artifiziellen Illusionismus überhaupt. Zu unterscheiden waren mythologische Nacktheit der antiken Götterbilder, kindliche Nacktheit, paradiesische Nacktheit, armutsbedingte Nacktheit. Besonders heikel aber war das Problem der Darstellbarkeit der Nacktheit christlicher Sakralpersonen: der Nacktheit Christi als Kind, als Gekreuzigter, als Toter; die Nacktheit der stillenden Muttergottes (Maria lactans), die Nacktheit der Märtyrer u. ä. mehr. Guarinonius* sah in der zunehmenden Beliebtheit mythologischer Nacktheitsdarstellungen ein hinterhältiges Unterfangen protestantischer Heiligenbildgegner56, gegen die er ein Eingreifen der Obrigkeit forderte. 55 Diese Debatte um erotisch affizierende Bilder ist noch nicht hinlänglich rekonstruiert, doch finden sich grundlegende Hinweise bei Pallaver, Günther: Das Ende der schamlosen Zeit. Die Verdrängung der Sexualität in der frühen Neuzeit am Beispiel Tirols. Wien 1987, und Steinberg, Leo: The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion. Chicago, London 1996. 56 »Allhier ein jeder verstendiger gar leicht erachten und schätzen kan, was von jenem Gesellen zu halten, welche die guten, keuschen, Gottseligen Gemähln, die uns an Zucht und Ehr, an tugent und frombkeit, eyfer und andacht mahnen und antreiben, in ihren Kirchen, Heusern, Zimmern, ja vor ihren Augen nicht leyden mügen, sonder treuloß und verlogner weiß, für Abgöttisch schelten und außschreyen, Die nackenden Weibs oder Manns gemähln aber, die Gottlosen, Heydnischen, verfluchten, Hürischen, entblösten Venus Götzen und Bilder: Das nackent blind Hurenkind Cupido, die nackenden Pallades, Iunones, Fortunas, die nackende Göttin, so sich waschen und baden, und ein jede besondere Leibsgebärden zu mehrer anzeigung thun, die abentheurischen unkeuschen Satyros, die Heydnischen Huren und Ehebrecherin Latonam, Ledam, weliche von dem Abgott Iove in gestalt eines Schwans beschlafen, und anderer tausenten Kebß- und unschambaren Weiber gemähl, die mügen diese Gesellen wol allenthalben leyden, die seynd nicht Abgöttisch, die sein wol recht und billich, die sein wol lustig, bässierlich und ehrlich.« Zitat nach Berns*, S. 1029f.
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Subtiler argumentierte Erasmus. Denn dieser sah erotische Attraktivität und sexuelle Anzüglichkeit von Heiligendarstellungen dann als gegeben an, wenn diese illusionistisch, in physiognomisch-naturalistischer Portraitähnlichkeit nach menschlichen Modellen dargestellt wurden, die selbst unkeusch lebten57. Aufgrund ähnlicher Erfahrungen empfahl Hieronymus Emser*, möglichst schlichte, einfache Heiligenbildnisse, wie sie vordem und zum Teil auch noch zu seinen Lebzeiten in Gebrauch gewesen seien, zu nutzen, statt sie durch neue, artifiziell ambitioniertere Darstellungen zu ersetzen58. Mithin ging es in der Obszönitätsdebatte um eine Abwehr ›moderner‹ Kunst, die als meditationshinderlich empfunden wurde, da sie Aufstieg und Absprung in bildlose Kontemplation, wie sie auch Geiler von Kaysersberg* schon gefordert hatte59, vereitle. Dieser hielt die Obrigkeit für verpflichtet, über die Wahl der Bildthemen (unter strikter Vermeidung von erotisch affizierenden Darstellungen) zu wachen: »wo vernünftige gotzförchtige oberkeiten sind, es sey in den klösteren oder hye auß [hier draußen], herren und frauen in iren heußren, da thut man alle semliche gegenwürf [im Sínne von solche Darstellungen] ab weg, da durch die ougen der jungen kind, oder ander unschuldiger personen, schantbare bild und unschaffene fantaseyen, die reinen hertzen möchten verwüsten, und ynen schamliche bild eintragen.«60
Der Ruf nach einer obrigkeitlichen Zensur, die in Klöster und vom öffentlichen Raum bis in Privathäuser vordringen solle, wird somit interiorisati57 Erasmus erklärt 1524 in seiner Gebetslehre Modus orandi Deum: »Demnach das ouch die heiligen nit dergestalt anzöigt, und gebyldet syen die jn zympte, Sidt der moler so er entwerfen will die jungkfrow muter, oder Agatham, nimpt er das vorbyld [exemplum] etwa von einer schandbaren dirnen, und so er Christum oder Paulum abryssen wil, setzet er für sich |etwan ein truncknen oder ein buben, Wann es sind etliche byld die do meer reytzent zu der geylheit, dann zu der geistlicheit, und die selben werden doch von uns verduldet oder nachgelassen, sidt wir sehent meer übels entston mögen im abthun, dann im erhalten.« Zitat nach einer deutschen Übersetzung von 1525; Berns*, S. 537. 58 »so haben die alten, wie ich in vil alten Clostern und stiftkirchen gesehen, gar schlechte [schlichte] bild in die kirchen gestelt, nit auß gebrechen [i. S. v. Unvermögen] der kunst (dann vor zeyten gleych so wol kunstliche maler gewest, wie wol sie nit so gar gemeyn [i. S. v. häufig], als sie itzo seyn) [...] Darumb so wer es vil besser, wir volgeten in dem den alten nach und hetten gantz schlechte bilder in den kirchen, damit vil uncost erspart, Gott und die liben heiligen mher geehret wurden, dann mit diser nauen weyß [neuen Weise] die wir itzo furhaben.« Hieronymus Emser*, zit. nach Berns* N° 7, S. 160f. 59 Geiler erklärt 1503 in seinem Seelenparadies zur Frage »Wie man bild brauchen soll«: »du solt die bild des leidens Christi und der lieben hailigen darumb nit gantz von dir werfen. sonder du solt sy brauchen, als ainer der ein laiter braucht. wenn der an das end kumpt, von des wegen er die laite[r] aufgestigen ist. so lasset er die laiter ston, und zeücht sy nit mit im hinauf, also solt du auch thun.« Zitat bei Berns*, S. 59. 60 Aus Johann Geiler von Kaysersberg Seelenparadies (1503), bei Berns* S. 61f.
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onspsychologisch begründet: nämlich durch Hinweis darauf, dass äußere Bilder sich als innere im Herzen festzusetzen vermöchten. Wenn Geiler insbesondere auf erotisch verfängliche Darstellungen verweist, die Kinder und andere »unschuldige Personen« behelligen könnten, so unterstellt er damit zugleich, dass im Prozess des Erwachsenwerdens die Unschuld sozusagen von selbst abhanden komme, sodass ein aufgrund von Abstumpfung gefahrlos gewordenes Betrachten verfänglicher Bilder möglich werde. Es fragt sich allerdings, welcherart Bildnerei denn in der Obszönitätsdebatte näherhin gemeint gewesen sein könnte, wenn es nicht nur um Nacktheitsdarstellungen ging. Konkrete Bildbeispiele werden leider nicht angeführt. Denkbar wäre indes, dass alle Arten der Illusionserzeugung mittels geometrischer und/oder farblicher Perspektivierung, jede Art artifizieller Räumlichkeitsvortäuschung, also jede Form von Verismus bekämpft wurden. Und zwar deshalb, weil sie eine Faszination auslösten, die den Betrachter so nachhaltig beschäftigte, dass sie ihn nicht mehr freiließ, sondern am Artefakt ›kleben‹ ließ. Da allgemein galt, dass Sakralbilder ausschließlich der Didaktik, der Erinnerung und – als Transfermedium – der Meditation nützen sollten, sah man im 16. Jahrhundert namentlich zwei Gefahren, die diesen Nutzen untergraben könnten: erstens die Fixierung von Andacht auf ein einziges, ganz bestimmtes Bild und zweitens die Vereitelung von Andacht durch ein Überangebot von Bildern61. Die Fixierung auf ein einzelnes Bild wurde sowohl von altgläubigen wie von protestantischen Theologen perhorresziert. Überhaupt wurde befürchtet, dass der Betrachter dann vom äußeren Bildwerk zum inneren nicht mehr vordringen könne, daß also Meditation verhindert werde. Es galt unter allen Umständen, ein ›Kleben am Bild‹ zu vermeiden. So schreibt Bodenstein*: »Ich wil dir dein hertz, o Pfaff, o Monich, bald rüren, und beschlissen, dastu an bildern klebst, und hast eynen warhafftigen abtgot [Abgott] an dem bild das menschen hende gemacht haben.« Der Befund, dass ein Beter vor einem von Menschenhand
61 Während des 16. Jahrhunderts gibt es verschiedenenorts Verfügungen, den Bildandrang in Sakralgebäuden zu mindern oder zu verhindern. Denn vermögende Privatpersonen wie Adelige, vor allem aber Gilden, Zünfte und Bruderschaften füllten die Seitenkapellen und Wände der kommunalen Kirchen mit Stiftungsbildern, irritierten durch solche Bildmassierung zugleich aber die visuelle Orientierung von Andachtswilligen. Einen Überblick über die Innenausstattung von Kirchen um 1500 gibt Suckale, Robert: Der mittelalterliche Kirchenbau im Gebrauch und als Ort der Bilder. In: ders.: Stil und Funktion. Ausgewählte Schriften zur Kunst des Mittelalters. Hrsg. von Peter Schmidt, Gregor Wedeking. München, Berlin 2008, S. 391–406; vgl. zur Auswirkung des Bildandrangs auch Jezler, Peter, Elke Jezler, Christine Göttler: Warum ein Bilderstreit? Der Kampf gegen die ›Götzen‹ in Zürich als Beispiel. In: Bilderstreit. Kulturwandel in Zwinglis Reformatio (1984), S. 83–102, hier besonders S. 86f..
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gemachten Bildnis betet und sich im Gebetsakt von dem Artefakt nicht befreit, wird als wichtiges Indiz von Idolatrie genommen. Paracelsus* beispielsweise erklärt, es gebüre sich nicht, vor Bildern »von holz oder stein« zu beten. Eingeprägt (»imprimirt«) würden dann nämlich diese Bilder, nicht aber »gott, der durch sie figurirt wird; wann was einem vor den augen ist, dasselbig lauft dem im sinn umb. also mag keiner volkomben und rein sein in seinem gebett, der da vor den bildern bettet, dann das materialische lauft ihm vor und nit der geist. aus dem folgt hernach, daß durch sein imaginirn geborn werden mirakel und dergleichen«.
Paracelsus bestreitet schon allein die Möglichkeit, von einer physischen Darstellung zu dem »figurirten« Dargestellten zu gelangen. Das sinnlich aufgenommene, »imprimirte« Bild verhindere die Hinwendung zum unsinnlichen Heiligen, hintertreibe die (spirituelle) Reinheit des Gebets. Die Mirakel aber, die materiellen Bildern zugeschrieben würden, seien durch Imagination (durch individuelle und kollektive Autosuggestion) hervorgerufen. Ähnlich argumentiert Johann Arndt*: »Wer ein Bilde anschauet, der sehe zu, das sein Gemüte nicht am Bilde hangen bleibe, sondern zu Gott und Christo sich ergebe. Denn wie dein Glaube aus Gott seinen uhrsprung nemen mus: also mus er sich in Gott wider enden, und in keinem Bilde oder Gemehlde, auff das du nicht mit dem vergenglichen vergehest, und zuschanden werdest.«62
Martin Bucer* verstärkt diese Argumentation unter Hinweis auf den Bilderdienst. Kirchenbilder würden nur aufgrund der Unterstellung, sie seien gottgefällig, eigens hergestellt: »das ist, man neigt sich vor jn, entdeckt [i. S. v. entblösst] das haubt, falt für jn auf die knewe [Knie], [...] man verheist fert [Fahrten, i. S. v. Wallfahrten] zu jn, man opfert jn, man zierd und schmucket sye, bauet jn heuser, gerems [i. S. v. Gitterwerk] und kefig, und was darf es wort, was je abgöttischen bildern geschehen ist, das geschicht auch disen. Darumb sye vilen nit mer nichtige götzen seind, sonder greuliche abgötter, an den sich das arm volck verderbt.«63
Dem widersprechen der Fürstbischof Hugo* von Hohenlandenberg und der Fürstabt Berthold* von Chiemsee. Hugo* erklärt: »Also hören wir, wiewol dise außwendigen zeychen, als neygen, knyen, betten etc. vor disen bildern leiplich geschehen, bleibt doch unser gemüt da nit kleben, son-
62 Arndt Bl. 47r, bei Berns* S. 969. 63 Bucer: Grund vnd vrsach auß gotlicher schrift [...] (1524), ed. Stupperich, Bd. I, S. 269. − Berns* N° 26, S. 365.
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der es erhebt sich uber sich in die himmelischen unsichtbaren bildner, bedenckt, betrachtet, und schauet geystlich an, alles das so durch die auff erdtrich gschehen ist, welche die bildnüssen bedeüten und anzeygen.«64
Und Berthold*: »Daneben mögen wir die heyling pitten, daz sy uns von got gnad und hayl erwerben […]. Dergestallt bleibt unser gepet und andacht nit an der wand noch am pilde, sonder es wirt erhebt [erhoben] ubersich zu got und zu seinen himlischen pilden, das seind die lieben heyling.«65
Strittig ist zwischen den Autoren − wie die Zitatreihe lehrt − die Möglichkeit, vom ›irdischen‹, sinnlich rezipierten Bildwerk her in ›himmlische‹, unsinnliche Zonen zu gelangen. Erasmus hält es für verfänglich, vor Bildern zu beten, und Paracelsus fordert, physisch-artifizielle Bildwerke ganz aus dem Spiel zu lassen, da man sie, wenn man sich einmal auf sie eingelassen hat, nicht mehr los werde. Geiler* fordert, physische und imaginative Bilder instrumentell − wie eine Leiter − zu benutzen und sie in der meditativen bildlosen Andacht unter sich zu lassen. Hugo* und Berthold* aber behaupten, durch Nutzung von irdischen Bildwerken seien himmlische Bilder zu erreichen; und diese Position haben sie mit den meisten Altgläubigen gemein. Ungeklärt bleibt dabei, wie denn dies Verhältnis von irdischen und himmlischen Bildern zu denken sei: Ob etwa das irdische Bildwerk als unbewegtes Ding im imaginativ kinetischen himmlischen Bild aufgehoben und sozusagen verflüssigt werde. Und ob dabei unterstellt werde, dass der durch das irdische Bildwerk − das dann gleich einer Relaisstation funktionierte − adressierte Heilige (oder Gott), sozusagen hinter dem Bildwerk, sich bereit halte, den betenden Meditanden zu empfangen. Wäre dem so, dann hätte das irdische Bildwerk nicht nur Leiter- und Relaisfunktion, sondern es wirkte wie eine Membran; und zwar insofern, als nicht nur der Mensch von sich aus durch das Bild mit dem Heiligen, sondern auch der Heilige von sich aus durch das Bild mit dem Menschen Verbindung aufnehmen könnte. Wie stark die Faszination sein konnte, die moderne, illusionistisch konstruierte Bildwerke auslösen zu können, macht Guarinonius* deutlich: Das illusionistische »mahlwerck« nehme »die Menschlichen augen dermassen ein, das manicher nicht allein seines leyds und kummers, sonder auch der nothwendigen geschäften im fürüber gehen, so wol als seiner selbst vergißt, mit einem breyten offnen Maul, soliche ansehent be-
64 Hugo* von Hohenlandenberg, Bl. Fij verso; bei Berns* N° 22, S. 315. − Johannes Dietenberger* übernimmt diese Passage noch 1524 wortwörtlich! Vgl. Berns* N° 29, S. 420. 65 Berthold* Pürstinger, bei Berns* N° 33, S. 476.
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trachtet, und sich hart davon scheyden thut, Seytemal sein gemüt und gedancken durch die auß dem Gemähl scheinenden sachen, balt gen Himmel, bald durch wilde Bürg, jetzt durch Wälder, durch Wiesen und Acker, jetzt auf dem Meer, wider auf den Seen und Wasserstramen [Wasserströmen], widerumb auf dem Feld, über ein kleins in Kriegßwesen, und in kleiner zeit durch ein gantzen jammer unterschiedlicher örtern herumb fahrt, [...] Wann aber auch soliche vorgesagte ding mit den Farben gemahlen, und zierlich von und auß einander gescheyden sein, erst wird das Gemüt eingenommen, gefasst und dermassen sehr verzuckt, das man nicht allein, alles leyds und der geschäften vergessen thut, sonder auch bißweylen speiß und tranck nicht achtet, und wegen ansehen eines Gemähls, an einem Hauß oder sonsten in den Kirchen, der Mensch gleichsamb seiner selbsten nicht wahr nimbt, und wol so balt, mit den Füssen hin und herwider anstoßt, oder sonst mit gantzem Leib, an ein Eck oder Maur unachtsam anfehrt, oder auch die fürüber gehenden übersicht.«66
Materieller Wert der Bilder Nach häufiger Auffassung hat die Obrigkeit dafür zu sorgen, dass der materielle Wert der Bildwerke respektiert und der Eigentumsvorbehalt privater oder korporativer Bildstifter geschützt wird. So machte Zwingli in Zürich der Vorschlag, dass Privatpersonen die von ihnen gefertigten oder gestifteten Bildwerke binnen einer gesetzten Frist wieder aus der Kirche entfernen und an sich nehmen sollten67. Viel diskutiert war im Bildstreit auch die Frage, ob sakrales Bildwerk und liturgisches Gerät in Edelmetall oder in preiswerten Materialien wie Ton oder Holz gefertigt werden sollten. Oft wird darauf verwiesen, dass eine kostspielige Ausstattung der Armenfürsorge Abbruch tue. In diesem Sinne lehnen Bodenstein, aber auch schon Geiler von Kaysersberg*68 aufwendiges Bildwerk ab. Doch finden sich auch Befürworter einer glanzvollen Ausstattung wie beispielsweise der altgläubige Johannes Cochlaeus*69:
66 Guarinonius*, Cap. X; bei Berns* N° 58, S. 1026f. 67 Der Vorschlag lautet: »Das sonderpersonen [i. S. v. Privatpersonen], wo die bilder gemacht oder habint lassen machen und in die kilchen thun, dieselben bild in acht tagen wider uß den kilchen söllint nemen und by inen selbs behalten.« Huldrich Zwinglis Sämtliche Werke, Bd. III, S. 116; bei Berns* S. 282. 68 »so sind wir so narrecht und goucklecht [närrisch und gauklerisch], und gond mit dem buppenwerck umb, die heiliglin zu zieren, und vergessen damit, unser hertzen zu zieren und uf zu mützen, das da vor allen dingen sol bereit und geziert sein, dem herren zu einer wonung«: Johann Geiler von Kaysersberg: Seelenparadies (1503), zit. bei Berns*, N° 3, S. 64. 69 Cochlaeus*: Von altem gebrauch des Betens in Christicher Kirche. Ingolstadt 1544; bei Berns* N° 47, S.740f.
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»Einem schlecht gemalten oder hültzenem Crucifix, das villeicht nur einen heller oder pfennig gesteet, sol ich eben so grosse ehr thun, als einem grossen oder kunstreichen Crucifix von Golt silber oder Edelgestain gemacht, welchs villeicht mehr dann Tausent gulden kostet. Denn die ehr und das gebet richten wir nicht auf das holtz, golt, oder stein, auch nicht auf die kunstreichen arbeit, sonder allein auf Christum, der hierin bedeut wirt. Yedoch ist solcher unkosten, so in kunst oder materien auf die bilde gewendt wirt, gar nicht vergeblich zu achten, wo es in guter und rechter mainung geschicht. Thustu es umb rhums und eitler ehr willen, so hastu deinen lohn hie empfangen [...] Thustu es aber Gott oder seinen heyligen zu höherm lob ehr und preyß, auf das sie dest herrlicher gelobt und geehrt dardurch werden, fürwar es wirt dir unbelonet nicht bleiben.«
Grundsätzlich, so Colchlaeus, sei zwar ein seinem Material nach weniger wertvolles Bild andachtspsychologisch genauso effektiv wie ein kostspieliges. Doch wüssten Gott und die Heiligen gleichwohl den mit höherem materiellen Aufwand zu erzielenden Zuwachs an Herrlichkeit zu schätzen und belohnten ihn auch. Insofern ist auch in diesem Fall, ähnlich wie beim Ablass70, die Mehrung des Heilsschatzes selbst durch Einsatz von Geld zu erzielen.
Schutz vor Aufruhr Neben dem Eigentumsschutz oblag der Obrigkeit der Schutz des inneren Friedens. Sie hatte ihr gottgegebenes pazifizierendes Gewaltmonopol da zu behaupten, wo Bildbeseitigung zum Indiz oder Ausgangspunkt einer Beseitigung von (kirchlichen) Herrschaftszeichen führte, wo also die Bildkritik sich zum anarchischen Bildersturm auswuchs und zur Auflehnung gegen Herrschaft überhaupt sich zu erweitern drohte. Selbst Andreas Bodenstein*, der doch von Luther* und seinem Anhang als Bilderstürmer par excellence perhorresziert wurde, wendet sich in seiner Fanalschrift Von abtuhung der Bylder (1522) an die Obrigkeit: »Bilder sollen die Obirste auch abthun und zu der peen [Pein, i.S.v. Strafe] richten oder urteiln, dazu sie die [heilige] schrift urtheilet. [...] Hetten aber unßere Obirste yren gottlichen rath und beschluß vollendet und die pubische [bübischen] und verfurische [verführerischen] klotzer [Klötze, i.S.v. Skulpturen] auß den kirchen zu geburlicher strafe gejaget, musten wir sie loben, wie der h. geist Etzechiam lobet, welcher bilder zerriben [...].«71
70 Dazu Paulus, Nikolaus: Geschichte des Ablasses am Ausgang der Mittelalters. Hrsg. von Thomas Lentes. 2. Aufl. Darmstadt 2000, S. 379ff. 71 Bodenstein*, Bl. Dr; bei Berns* S. 110.
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Hinsichtlich der Beseitigung erotisch anstößiger Skulpturen aus dem kirchlichen Raum denkt Bodenstein der Obrigkeit weniger ein Recht, als vielmehr eine Pflicht zu, die er biblizistisch begründet. Luther schwankte bei Beurteilung der Bilderfrage. Zum einen sah er die Notwendigkeit, Bilder zu beseitigen, wo sie idolatrisch missbraucht wurden. Zum andern sah er in einer vom »Pöfel« selbst ausgehenden Bildbeseitigung einen aufrührerischen Akt. Das Problem lag für ihn bei der Interaktion von Volk und Obrigkeit. So sagt er im März 1522 in einer Predigt: »Wo aber bilder weren, die wir anbeten wolten, dieselbigen bilder sol man zerbrechen und abethun, doch nit mit eim sturm und frevel, sondern sollen der Oberkeit solchs zu thun befehlen.«72
Dem Volk wird hier nachgerade ein besonderes Sensorium für Bildmissbrauch zugestanden, das indes nicht zu selbstermächtigtem Handeln, sondern lediglich zu einem Appell an die Obrigkeit führen solle. Schärfer wird Luther* 1525 in seiner Flugschrift Wider die himmlischen Propheten: »Wo man das zulesst, das der poffel on öberkeyt die bilde stürmet, so mus man auch zulassen, das eyn iglicher zufare und töde die ehebrecher, mörder, ungehorsam etc.«73 Er warnt also vor Selbstjustiz. Falls Bilder beseitigt werden müssten, so solle das nach göttlichem Willen nicht »vom pofel on öberkeyt, sondern durch die öberkeyt mit dem volck gethan« werden, »auf das der hund nicht lerne an den rymen das leder fressen, das ist, an den bilden sich gewene zu rotten auch wider die öberkeyt.«74 Auch Martin Bucer* lehrt, einzig der Obrigkeit stehe es zu, »thätlich alle solche greuel der götzen und bilder abzuthun, obgleich noch vil in der gemein seind, den solichs mißfallet. Sy sollen je amptleut gottes sein und also regieren.«75 Dem Privatmann hingegen sei die Bildbeseitigung untersagt: »dieweil du das schwerdt nit treist [trägst], nit gesetzet bist zur oberkeit, als wenig gepürt dir auch, jm [nämlich dem Bildverehrer] sein götzen zu stürtzen oder zu nemen.«76
Auch Heinrich Bullinger* gab die Bildbeseitigung als Pflicht der Obrigkeit aus.77
72 Luther*: Wider die himmlischen ..., bei Berns* S. 171. 73 Luther*: Wider die himmlischen ..., bei Berns* S. 224. 74 Luther*: Wider die himmlischen ..., bei Berns* S. 225. 75 Bucer*: Grund und ursach, bei Berns* S. 365. 76 Bucer*: Grund und ursach, bei Berns* S. 366. 77 Bullinger*, bei Berns* S. 515,
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Bildherrschaft und Bildbedürftigkeit der Obrigkeit Wenn einige Bildstreitautoren jedwede Bildbeseitigung als Insurrektion, als Initialpunkt von Aufruhr werten, so setzen sie damit die Obrigkeit als eigentlichen Bildherren, als Bildlegitimator und letztlich auch als Bildeigner. Doch ist die Obrigkeit zugleich abhängig vom Bild. Dass sie bildbedürftig ist, erweist sich in der Performanz des Herrschaftszeremoniells (das seinerseits dem Bischofszeremoniell nachgeformt ist78). Der princeps ist zur Behauptung seiner (gottgegebenen) Macht auf Inszenierung angewiesen. Er bedarf des herrscherlichen Zeremoniells, um sich überhaupt − dem populus sowohl wie auch anderen Fürsten gegenüber − ansichtig zu machen. In diesem Zusammenhang kommt dem Herrscherportrait eine besondere Funktion zu. Es kann − in Rechtsakten, insbesondere in diplomatischen Zusammenhängen − den Herrscher aktiv und passiv vertreten: aktiv insofern, als es den Herrscher anwesend macht; passiv insofern, als ihm alle jene Ehrenzeichen erwiesen werden müssen, die sonst einem in corpore präsenten Herrscher zu erweisen sind79. Die zeremoniellrechtliche Bildbedürftigkeit fürstlicher Herrschaftsbehauptung brachte eine sonderbare, historisch verquere Argumentation mit sich: den Hinweis nämlich, dass man Gott und den Heiligen jene Bildnutzung nicht vorenthalten dürfe, die man einem Fürsten und seinem Hofstaat zugestehe. Verquer ist sie insofern, als sie das fürstliche Bildzeremoniell zum Vorbild (und Nötigungsmittel) für den sakralen Bildkult macht und damit das rechts- und kultgenetische Verhältnis von deus und rex, von sakraler Liturgie und höfischem Zeremoniell nicht nur verkennt, sondern schlicht verkehrt.
Die Macht des populus Es fragt sich nun aber, welche Rolle denn dem Volk − dem populus, pöbel, pöfel, poffel, püffel − hinsichtlich der Wertung, Anschaffung oder Abschaffung von (Sakral-)Bildern zukam und wie diese Rolle sich vor der
78 Dazu Berns, Jörg Jochen: Luthers Papstkritik als Zeremoniellkritik. Zur Bedeutung des päpstlichen Zeremoniells für das fürstliche Hofzeremoniell der Frühen Neuzeit. In: Zeremoniell als höfische Ästhetik. Hrsg. von Berns, Jörg Jochen, Thomas Rahn. Tübingen 1995 (Frühe Neuzeit, 25), S. 157–173. 79 Dazu Winkler, Hubert: Bildnis und Gebrauch. Zum Umgang mit dem fürstlichen Bildnis in der frühen Neuzeit. Wien 1993. − Berns, Jörg Jochen: ›Dies Bildnis ist bezaubernd schön‹. Magie und Realistik höfischer Porträtkunst in der Frühen Neuzeit. In: Kultur zwischen Bürgertum und Volk. Hrsg. von Jutta Held. Berlin 1983, S. 44–65.
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und gegen die Weisungsmacht der geistlichen und weltlichen Obrigkeit behauptete. Generell gilt: In Bildverehrung und Bildzerstörung steckt ein plebiszitäres Moment. Denn in beiden Fällen handelt es sich um nonliturgische (vor- und außerliturgische) Aktivitäten. Der etablierten Kirche können beide Aktionsformen nicht recht sein. Sie widersprechen ihrem Alleinanspruch auf Heilsvermittlung und Zensur. Denn Bildverehrung und Bildzerstörung sind Akte plebiszitärer Eigenkompetenz, Selbstermächtigung und Selbstbehauptung und damit die denkbar höchsten Formen von BildWahr-Nehmung. Beide, Verehrung wie Zerstörung (Ikonodulium und Ikonoklasmus), sind die einander notwendig bedingenden Extreme von Bildwürdigung. Ernster kann man Bilder nicht nehmen, als dass man sie anbetet oder zerstört. Freilich können Bildverehrung und Bildzerstörung nicht allein, nicht isoliert von einer Einzelperson inszeniert werden. Vielmehr bedarf es dazu einer Suggestionsgemeinschaft, eines Glaubens- und Beglaubigungskollektivs. Der plebiszitär-gemeinschaftliche Umgang mit dem Bild ist eine nonliturgische Energieimputation, die (zunächst) keines Priesters bedarf. Ja, der Priester wird oft nicht einmal geduldet, weil er die Wunder- oder Verführungsmächtigkeit des Bildes nicht verwalten und nicht mit seiner Sakramentsfähigkeit verbinden kann. Diese Machtäußerung des populus hat Tradition, hat sie doch den gleichen theologischen Status und folgt sie doch dem gleichen kirchenrechtlichen Verfahren wie die seit dem 10. Jahrhundert übliche Heiligsprechung. In beiden Fällen leistet der populus (quasi als vox dei) die Entdeckung der Eminenz eines Bildes (und seines Ortes) oder eines Heiligen und beweist sie durch Promulgation und Akkumulation von Mirakeln.
Die Qualitäten der umstrittenen Bilder Das Grundproblem des deutschen (wie überhaupt eines jeden) christlichen Bildstreits ist das Verhältnis von Sprache und Bild. Die radikalen Bildkritiker − beispielsweise Bodenstein*, Bucer*, Zwingli*, Bullinger*, zeitweilig auch Franck* und Paracelsus* − lehnen eine Bildverwendung in glaubensdidaktischen Zusammenhängen grundsätzlich ab. Jenseits solcher radikalen Bildablehnung behaupten sich zwei generelle Bildarten, über die sich die übrigen Autoren trefflich streiten: die Gnadenbilder und die Historiabilder. Die Gnadenbilder sind frömmigkeitspsychologisch ›heiß‹, die Historiabilder ›kalt‹. Die Gnadenbilder sind gottgegeben, acheiropoietisch (non manufactum, d. h. nicht von Menschenhand gemacht), und sie sind mirakulös. Die Historiabilder hingegen sind von
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Menschenhand gemacht (manufactum, cheiropoietisch) und werden (angeblich) zur Verständnisoptimierung der wort- und schriftvermittelten christlichen Lehre mnemonisch und didaktisch eingesetzt. Angesichts der acheiropoietischen Gnadenbilder verliert der Betrachter seine Selbstmächtigkeit, angesichts der cheiropoietischen Historiabilder aber behauptet er sie. Die Entscheidung der Frage, ob die gottgegebenen acheiropoietischen Bilder älter seien als die menschengegebenen Historiabilder, hängt von der Vorentscheidung ab, was man denn überhaupt als Bild bezeichnen will. Wenn man den kreativen Gott selbst als Bildkünstler und seine Kreaturen als Bilder qualifiziert − wie das beispielsweise der Laacher Mönch Johannes Butzbach*80, aber auch der Straßburger Reformator Martin Bucer*81 und der anonyme protestantische Autor eines Eiconoclasta-Poems*82 tun −, dann sind solche acheiropoietischen Bilder freilich unübersteigbar alt. Zieht man aber die handgemachten Historia- und Memoriabilder des Alten Testaments (welche Martin Chemnitz*83 und Johann Arndt*84 fokussieren) oder die der griechisch-römischen Frühe (wie sie Plinius in seiner ›Kunstgeschichte‹, dem 35. Buch seiner Naturalis Historia85, kenntlich macht) in Betracht, dann sind diese die menschheitsgeschichtlich frühesten. Wenn der Jesuit Jacob Gretser* 1625 in seinem Syntagma de imaginibus non manufactis alle Schöpfungsdinge für acheiropoietisch erklärt86, dann ist der Mensch als Bildermacher strikt auf die primären Bilder der Schöpfung (oder Natur) verpflichtet, seine Bilder sind per se immer nur sekundär. Dann ist alle menschliche Kunst nur Naturnachahmung. Und die gelingt, laut Augustinus87 und dann auch laut Dürer*, am besten, indem die Mathematik bemüht wird, da Gott ja, wie es im Buch der Weisheit
80 Butzbach*: De praeclaris picturae professoribus (1505); bei Berns* N° 2, S. 42ff. 81 Bucer*: Das einigerlei Bild bei den Gottgläubigen an orten, da sie verehrt, nit mögen geduldet werden. (1530); bei Berns*, N° 27 S. 374. 82 (Anonymus*:) Eiconoclasta. Dialogus oder Gespräch von den Götzen, 1597; bei Berns* N° 54, S. 910. 83 Martin Chemnitz*: Von den Bildern; 1573/1576; bei Berns* N° 51. 84 Johann Arndt*: Ikonographia; 1597; bei Berns* N° 55. 85 C. Plinii Secundi Naturalis Historia Libri XXXVII. Eine Kunstgeschichte entwickelt Plinius in Buch XXXV. 86 Gretser*: »Uχειροπο\ητον generatim dici potest omne illud, quod manu humana factum non est, sed Divina vel Angelica virtute: quo sensu Universum hoc χειροπο\ητον recte appellaveris, quandoquidem sine ullius humanae manus adminiculo conditum est: DEUS enim dixit, & omnia facta sunt«, S. 311 [Generell kann man als Acheiropoieton alles das bezeichnen, was nicht von menschlicher Hand, sondern durch göttliche oder engelhafte Kraft gemacht ist. In diesem Sinne kann man das Universum zu Recht acheiropoietisch nennen, denn es ist ohne irgendwelches menschliche Zutun gestaltet worden: Denn GOTT sprach, und alles war gemacht]. 87 Vgl. Augustinus: De libero arbitrio. In: Migne PL XXXII, Sp. 1263.
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(21, 11) heißt, »omnia in mensura, et numero, et pondere«88 geschaffen hat. Denn unter allen Geschöpfen vermag einzig der Mensch vermöge seiner lux interior das lumen numerorum, die numerositas, die aus allen Schöpfungsdingen leuchtet, zu erkennen. Sie konstituiert seine Fähigkeit, die göttliche Schöpfung zu verstehen und womöglich nachzuahmen oder gar zu komplettieren89.
Gnadenbilder Lässt man als acheiropoietisch im engeren (kunsthistorischen) Sinne nur jene Bilder gelten (und auch Gretser tut das dann), welche durch Kontakt mit Christi Antlitz oder Leib entstanden oder die zumindest durch Wunder entstanden seien und ihre eigene übermenschliche Qualität durch Wunderwirkung unter Beweis stellten, dann ist das spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Bildaufkommen wiederum anders einzuschätzen. In den Horizont der Acheiropoiesis geraten dann alle Arten von gottgesandten Bildwerken, zuvörderst Gnadenbilder des Mandylion-, Vera Icon- und Lukasmadonnen-Typs. Sie sind allesamt nicht biblisch, aber legendär beglaubigt: durch die Abgar-, Veronica-, Hämorrhoissa-, Nikodemus- und Lukas-Legenden90. Da in diesen Legenden aber neutestamentliches Personal agiert − Christus selbst, das von ihm geheilte blutflüssige Weib (griech. »Hämorrhoissa«), Maria, Lukas, Nikodemus − gelten die Bilder, die sie so oder so geprägt und autorisiert haben sollen, als mindestens so alt wie die Schriftzeugnisse des Neuen Testaments. Ihre Authentizität dürfte demzufolge gar die der Schriftzeugnisse des NT übersteigen, wenn gilt, dass Christus sich selbst verbildlicht hätte, während er sich doch unstreitig nie selbst verschriftlicht hat. Protestanten wie Heinrich Bullinger* erklären den Kult um derlei wunderlich entstandene Wunderbilder für faulen Zauber und Priestertrug91. 88 »nach Maß, Zahl und Gewicht«. 89 Dazu Hardt, Manfred: Die Zahl in der Divina Commedia. Frankfurt/M. 1973, S. 17ff. 90 Zu den Quellen immer noch unverzichtbar Ernst von Dobschütz: Christusbilder. Untersuchungen zur christlichen Legende, 2 Bde. Leipzig 1899. 91 »Und gleich wie vorzeiten vil wunderbarliche dingen von der Diana gesaget wurden, daß Bild der Diana zu Epheso were oben vom Jupiter herab geschicket worden, wie auch Lucas in der ApostelGeschicht [Apg 19, 24–40] meldet: Also erdenckt man viel ungereimts ding von dem Bild der heiligen Jungfrawen Maria, gleich wie auch von ihren Capellen. Das eine Bild, sagen sie, haben die Engel vom Aufgang in Nidergang bracht. Das ander haben die Engel entweder gemacht, oder gebessert, oder geweihet, oder für der Feinden gewalt behütet. Item, das Bild Maria hat S. Lucas gemahlet, das hat ein ander Heilig geschnitzelt, das ist von den Engeln gefunden und offenbaret, das ist von ihm selber wunderlich also worden: Item, sie geben auß, aber fälschlich, es seyen etliche Bilder Marie vom Himmel herabkommen. Weiter sagen sie, haben etliche Bilder Christi und der Heiligen geweynet,
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In den Horizont acheiropoietischer Gnadenbildlichkeit gehören dann auch die ›sekundären Gnadenbilder‹92, nämlich die Pilgerzeichen, Bildnisspiegel, Blickenden Bilder, sakralen Einblattdrucke, Votivbilder bis hin zu natur- oder gottgegebenen Meditations-, Lern- und Warnbildern wie Signaturen und Prodigien. Bemerkenswert ist dabei, dass auch und gerade protestantische Autoren für naturgegebenen Imagines wie Signaturen und Prodigien eine Form von Acheiropoiesis unterstellen, eine göttliche Bildsprache, die sie polemisch gegen die Mirakelpropagierung der traditionellen Gnadenbilder in Anschlag bringen93.
Historiabilder Das Konzept der Historiabilder, das als Gegenkonzept zu den Gnadenbildern gelten darf, wird im deutschen Bildstreit des 16. Jahrhunderts zwar von Luther und Lutheranern wie Chemnitz* und Arndt* propagiert, es fußt aber auf älteren Optionen. Dass seit dem 4. Jahrhundert bereits im europäischen Christentum bildliche Visualisierung von Märtyrerviten und biblischen Historien gefordert wurde, entsprach einem didaktischen Bedürfnis. So heißt es in vielzitierten Versen des Aurelius Prudentius (348–ca. 405) bezüglich eines Bildes, das den Märtyrer Cassian darstellte: »Historiam pictura refert, quae tradita libris, || Veram vetusti temporis monstrat fidem,« etc. [Das Gemälde gibt die Geschichte wieder, was durch Bücher überliefert ist, zeigt es der alten Zeit getreu, usw.]94 Zwei Jahrhunderte später erklärte Gregor der Große95: »Aliud est enim picturam adorare, aliud per picturae historiam quid sit adorandum addiscere. Nam quod legentibus scriptura, hoc idiotis praestat pictura cernentibus.«96 Demnach soll das Gemälde nicht angebetet werden, vielmehr soll es durch Darstellung von historia kenntlich machen, was anzubeten sei.
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etliche Blut geschwitzet, etliche nicht wöllen mit Farben außgestrichen sein, etliche habe man nicht können von ihrem ort hinweg thun: Und das noch mehr ist, wenden sie für, wie das etliche sich an ihren Feinden gerochen, etliche einen hellen glantz von sich geben, etliche geredt, etliche zukünfftig ding verkündigt sollen haben.« Bullinger: Vom Ursprung aller Irrthumben, S. 311; bei Berns* N° 34, S. 522. Zu den ›sekundären Gnadenbildern‹ Berns*, Nachwort, S. 1126–1151. Dazu Berns*, Nachwort S. 1148f.; vgl. die differenzierten Darlegungen von Irene Ewinkel: De monstris. Deutung und Funktion von Wundergeburten im Deutschland des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1995 (Frühe Neuzeit, 23), S. 30ff. Prudentius Clemens, Aurelius: Opera, ed. Theodor Pulmannus et Victor Giselinus. Antwerpen 1564, S. 157. Vgl. Gregorius* Magnus (N° 60 a und b). In der Übersetzung Hugos* von Hohenlandenberg (N° 22): »Es ist ein anders das gemeld anbeten. Ein anders ist es durch die geschicht des gemeldts lernen und erfaren, was man
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Deutlicher noch fordert rund zwei Jahrhunderte später Carolus Magnus in den Libri Carolini: »nos nihil in imaginibus spernamus praeter adorationem, quippe qui in basilicis sanctorum imagines non ad adorandum, sed ad memoriam rerum gestarum et venustatem parietum habere permittimus.«97
Der bedeutendste mittelalterliche Liturgiker Guillelmus Durandus* (1230–1296), von dem weiter unten ausführlicher die Rede sein wird, greift im Bildkapitel seines Rationale Ende des 13. Jahrhunderts die Formulierung Gregors des Großen auf, dass durch die im Gemälde dargestellte Geschichte zu lernen sei, und lehrt, dass Bilder »ad memoriam et recordationem rerum olim gestarum« [zu Gedenken und Vergegenwärtigung einstiger Geschehnisse] schätzenswert seien.98 Herrschte demnach in der mittelalterlichen Kirche die Ansicht vor, eine Verpflichtung der Bildnerei auf verschriftlichte historia und res gestae gewähre Schutz vor Idolatrie, so konnten Luther und seine Anhänger im 16. Jahrhundert diese Argumentationslinie aufgreifen und für ihre Zwecke weiter ausziehen. Nach lutheranischem Verständnis − wie es durch Schriften von Luther* selbst, von Chemnitz*, Arndt* oder Gedik* entwickelt wird − haben Historia-Bilder einen geschichtlich weit zurückreichenden und thematisch weit ausgreifenden Radius. Sie stellen sich in eine empirische und theologisch-theoretische Tradition, welche mit Eusebius99 (260–339), Aurelius Prudentius (348-ca.410), Gregorius Magnus (ca. 450–604), den Libri Carolini100 (794) und Guillelmus Durandus* die tausend Jahre vom 3. bis zum 13. Jahrhundert überspannt. Als thematische Sujets kennen sie Historia-Bilder aus alttestamentlicher und griechisch-römischer Frühe, die sie als ›weltlich‹, als ›politisch‹ oder auch als ›bürgerlich‹ bezeichnen. Pagan-antike Bilder, welche Schlachten darstellen, verdiente Politiker, Militärs, Tyrannenmörder, aber auch Rhetoren, Poeten und Philosophen in plastischen Portraits ehren. Als erste historische Bil-
sol anbeten. Dann warzuo die geschrifft nütz ist denen die sy lesen, darzu dienet den ungelerten das gemeldt, so sy es anschauent.« 97 »Wir verwerfen an den Bildern nichts ausser ihrer Anbetung, wie wir ja in den Kirchen Heiligenbilder nicht zur Anbetung, sondern zur Erinnerung an die Geschichten und zur Zierde der Wände zulassen.« 98 Durandus* (1497), I, iii. Vgl. Faupel-Drevs, wie Anm. 117, S. 380f. 99 Eusebius*, Pamphilius (260–339): Ecclesiatica historia. Straßburg: Georg Husner 1500. Deutsch: Kirchengeschichte. In: Eusebius Werke, Bd. 2, Teil 1. Hrsg. von Eduard Schwarz und Theodor Mommsen. 5. Aufl. Berlin 1952. 100 Kirchenpolitische, im Auftrag Karls d. Gr. entstandene bildkritische Denkschrift; vgl. die Ausgabe: Opus Caroli regis contra synodum (Libri Carolini*). Hrsg. von Ann Freeman unter Mitwirkung von Paul Meyvaert. Hannover 1998 (MGH, Concilia, Bd. 2, Suppl. 1).
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der des Christentums gelten ihnen jene, welche Tertullian, Eusebius und Prudentius anführen: z. B. die Skulpturengruppe von Christus und der Hämorrhoissa, daneben bestimmte Apostelbildnisse, dann aber seit dem späten 4. Jahrhundert vor allem die Märtyrerbildnisse. Präsentationsorte sind nicht nur kirchliche Räume, sondern auch öffentliche und private Gebäude, die innen und außen Bilder zeigen sollen. Als historisch dürfen sie dann gelten, wenn sie durch biblische oder auch allgemein anerkannte außerbiblische Historien beglaubigt sind, die schriftlich fixiert sind. Es ist demnach die schriftliche Mitteilung, die die Bilddarstellung bestimmt. Das aber heißt, dass hinsichtlich der Wahrheit und Richtigkeit der Bilder das Wort den Primat hat und dass der Maler selbst literat, d. h. ein pictor doctus sein muss oder zumindest einen gelehrten Unterweiser haben muss. Ziel der historischen Bilder ist didaktische Vertiefung und Belebung von Historie durch Imprägnierung des Gedächtnisses, aktuale Erinnerungsevokation und besseres Verstehen historischer Ereignisse.
Zur Gregorsformel In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass das im deutschen Bildstreit am häufigsten bemühte und zugleich umstrittenste Väter-Zitat die oben schon erwähnte ›Gregorsformel‹ ist: »Nam quod legentibus scriptura, hoc idiotis praestat pictura cernentibus.« Als Befürworter dieser Formel treten nach Durandus* so unterschiedliche Autoren wie Geiler von Kaysersberg*101, Emser*, Bertold* Pürstinger102, aber mit gewissen Modifizierungen auch Luther* und Arndt* auf. 101 1503 hielt Geiler* von Kaysersberg es noch für ausgemacht: »die stuck des glauben, die einem menschen offenlichen not seynd zu wissen, soll das gemein volck auch leren [i. S. v. lernen] durch anschauung der bild und geschichten, die an allen orten in den kirchen gemalet seind. Als da seynd die bild der menschwerdung, des lebens, leidens Christi, ouch ander der gleichen geschichten. Das sind die geschriften und bücher der gemeinen leygen, in denen sy den glauben sollend leeren [i. S. v. lernen].« Bei Berns N° 3, S. 60. 102 Berthold*, der Bischof von Chiemsee, verteidigt 1528 Gregors Formel nochmals ausführlich: »Wie wir nit anpeten die schrift oder puech [Bücher], dorin das evangeli steet, sonder Jhesum christum von dem das Evangeli laut[e]t, also sollen wir nit anpeten das pild, so den herren bedeyt [bedeutet], sonder wir peten an unsern herren und waren gott, des pildnuß da gemalet steet. Also hat der gross lerer gregorius gelobt den pischof zu marsilia umb das er gepoten het die pilde nit anzepeten und jne daneben gestraft, daz er die pild zerprochen het und spricht. Es ist ain anders, gemäl anzepeten, dann durch des gemäls hystorien [Historien] lernen was anzepeten sey. Was die schrift gibt den gelerten, dasselb gibt das gemäl den ungelerten, dieselben sehen im gemäl, wem sy sollen nachvoligen. Die nit lesen können, mögen lesen am gemäl, dasselb wirt sonderlich gehalten für des gemainen volckhs letzen [i. S. v. Hilfe, Schutz]. Doch daz daselbs [i. S. v. dabei] des menschen gemüt ubersich zu gott und nit undersich zum pild oder zu andern leiblichen dingen getzogen
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Während Melanchthon*103, Bodenstein*104, Bucer*105, Bullinger*106 und Franck*107 die Formel auf unterschiedliche Weise kritisieren. werde, wie dann gemainklich unvernünftig leut nur umb iren aigen zeitlichen nutz die pild eren oder kirchfart [i. S. v. Wallfahrt] geen.« Bei Berns* N° 33, S. 474. 103 Die protestantische Kritik an Gregor d. Gr. wurde durch Philipp Melanchthon geprägt. Der nämlich hatte bereits 1518 in seiner Wittenberger Antrittsvorlesung De corrigendis adolescentiae studiis behauptet, »das Ersterben der römischen Bildung im 6. Jahrhundert hinge mit der Schriftstellerei Gregors des Großen zusammen, den er abschätzig als den ›Vortänzer und Stabhalter einer vergehenden Theologie‹ bezeichnete.« (Benrath, Gustav Adolf: Das Verständnis der Kirchengeschichte in der Reformationszeit. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformation. Hrsg. von Grenzmann, Ludger, Karl Stackmann. Stuttgart 1984, S. 97–109, hier S. 100). Melanchthon datierte den Beginn der Verfallsgeschichte der Kirche auf das 6. Jahrhundert und forderte eine Korrektur der seither eingetretenen Irrtümer, aufdass Kirchengeschichte wieder Heilsgeschichte werden könne. 104 1522 machte Bodenstein in seiner Flugschrift Von abtuhung der Bylder die Formel Gregors zum Angelpunkt des Angriffs auf kultische Bildverwendung in der Kirche: »Gregorius der Bapst, hat seiner bebstlicher art nit vergessen, und den bildern die ehere geben, die gott seinem wort geben hat, und spricht, das bildnis, der Leyhen bucher seind. [...] Christus spricht. Mein schefflin horen meine stüm. [Jo 10, 27] Ehr sagt nit. Sye sehen meine, oder der heyligen, bilder. [...] Sage mhyr lieber Gregori, oder laß mirs ymand sagen. Waß kunden doch leyhen auß bildern guts lernen? Du must ye sprechen. das man eytel fleischlich leben und leyden darauß lernet, und das sie nit weider furen dan yns fleisch, ferner mogen sie nit brengen.« (Berns* N° 6, S. 99) Bodenstein war wohl der erste, der den Verdacht artikulierte, dass, was da als Bilddidaxe für Analphabeten propagiert wurde, lediglich ein Vorenthalten schriftgeleiteter Selbsterziehung und Mündigkeit bezwecke: »Ich mercke aber, warumb die Bebst soliche bucher den Leyhen fur gelegt haben. Sye haben vermerckt, wan sie die schefflein, yhn [in] die bucher furten, yhr grempell marckt [Krempelmarkt] wurd nicht zunhemen. Und man wurt wellen wissen was gottlich oder ungottlich, recht oder unrecht ist.« (Berns*, S. 99) Dieser Verdacht hatte freilich erst entstehen und ausgesprochen werden können, als aufgrund der Gutenbergischen Erfindung Buchbesitz und Lesefähigkeit deutlich gestiegen waren. 105 Martin Bucer hält es aus psychologischen Erwägungen durchaus nicht für gleichgültig, ob man durch Wort oder Bild lernt. So schreibt er 1524: »Mit dem wort gottes sol man den leyen, nit mit stummenden blöchern [Blöcken], steinen und gemelden leren, wie bey den alten, dann das götzen werck auch nit lang gestanden ist. Es ist ein fleischliche, fliegende andacht, die nit dann durch ansehen der bilder erwechst, bistu Christen, so hör das wort würt dich zu allem guten zu bewegen, übrig gnug sein.« Bei Berns*, N° 26, S. 367. 106 Heinrich Bullingers Kritik an der Gregorsformel zielt auf die Frage der Bilddidaktik. Da Bilder ja erst nach vorheriger Unterrichtung durch das Wort überhaupt etwas lehren könnten, sei der Primat des Wortes unbezweifelbar: »Es kann nichts närrischer erdacht werden, dann daß etliche sagen, die Götzen, und unlebendige Gemähle lehren die Leut. − Was sihet man an unseren Bildern und Gemählen anderst, wann die Form und Materiam? Sprichst du aber, die Form oder Gestalt bedeute und lehre etwas, Wolan, [...] so saget uns, wen lehren die Bilder, den Verständigen oder den Unverständigen? Den Unverständigen können sie warlich nicht underrichten, es sey dann einer bey ihm, der ihm solches außlegt. Dann der Unerfahren kan nicht wissen, was das Bild Marie, oder CHRISTI am Creutz bedeutet. So ist es unvonnöten, daß der Verständig von der Wandt lehrne, das er zuvor auß dem wort GOTTES gelehrnet hat. Lieber, mit was für Farben können die fürnemmesten Geheimnussen unserer Religion abgemahlet werden, Mit welchem Pinsel oder Mahlstab, wilt du die Kraft der Erlösung, die Herrligkeit des ewigen Lebens, die nachfolgung der Thugenden, und den gehorsam gegen dem wort Gottes, abconterfeyhen?« Bei Berns*N° 34, S. 509. 107 Noch schärfer ist 1531 die Kritik Sebastian Francks an Gregors Formel: »Dazumal brach
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Alle diese Einlassungen weisen darauf hin, dass die Gregorsformel im Bildstreit so wichtig werden konnte, weil sie das Schrift-Bild-Verhältnis betrifft. Wenn von lectio und scriptura der Bilder (oder doch eines bestimmten Bildtyps) die Rede ist, so heißt das zunächst, dass Bilder zu lesen seien. Diese Behauptung drängt zu Klärung weiterer Fragen: zunächst zu der, ob Bildlektüre im Vergleich zu Schriftlektüre eine Lektüre minderen Rangs sei; sodann die Frage, ob die mittels Bildlektüre zu erbringende Dechiffrierleistung von einer vorgängigen verbalen (mündlichen und vermittelt einer schriftlichen) Bilderklärung abhängig sei. Komplizierter noch wird die Relation von Bild- und Schriftlektüre, wenn die Gregorsformel in etlichen Texten − z. B. von Agrippa von Nettesheim*, Bullinger*, Erasmus*, Chemnitz*, Fischart*, Arndt* oder Guarinonius* − mit der Simonidesformel kombiniert wird: wenn also die Formel, dass Bilder Bücher der Laien seien, mit der ut pictura poesis-Formel (die besagt, dass Bilder als stumme Rede und Rede als tönende Bilder zu verstehen seien108) zusammentrifft.
Bild und Liturgie Die Tatsache, dass es im Deutschland des 16. Jahrhunderts keine formal und theoretisch selbständige Bildkritik (wohl aber Bildzensur oder Bildersturm als deren Äußerungen) gab, drängt zu der Frage, in welchem Rahmen solche Kritik sich überhaupt begründen konnte. Obwohl die Bilder in der christlich-mittelalterlichen Tradition als adiaphor, d. h. als für den Glauben nicht notwendig109, galten, lässt sich aber doch zeigen, herfür der feind der gottseligkeit Gregorius Magnus, der kam darein zwischen kugel und zil, hielt das Christenlich fürnemen dem bischof hoch für arg [i. S. v. verargte], und will die bilder nun verfechten, als der leyen bücher, die in der kirchen steen, nit das mans anbet, oder einich ehr empiet [entbiete], sunder zu leren fürgestelt, das die leyen daraus, als aus jren büchern studieren. Auf dise weiß laßt er die bildtnus zu, aber das mans anbet, sol man in allweg verhüten. Sihe mein leser, er setzt uns wein für, und verbeüt ihn, wir sollen nüchtern sein, gibt uns die karten in die hand, und verbeüt, wir sollen mit nichten spilen, stelt die götzen daher, und sollen nicht mit [i. S. v. damit, mit ihnen] huren.« (Bei Berns* N° 44, S. 683) Franck ist − ähnlich wie Paracelsus − der Auffassung, dass Bilder per se Medien der Abgötterei seien, deren schädliche Wirkung sich nicht durch verbale Ermahnungen aufhalten lasse. 108 Zur Herkunft der (oft irrig allein mit dem Namen Horazens verbundenen) Formel ut pictura poiesis von Simonides von Keos vgl. Berns: Rosarium und Bilddrift. Zur präcinematischen Bedeutung des Rosenkranzgebetes. In: Der Rosenkranz. Andacht – Geschichte – Kunst (2003), wie Anm. 49, S. 593. 109 Dazu Reimund B. Sdzuj: Adiaphorie und Kunst. Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit, 107). Vgl. auch Luthers Stellungnahmen zur Adiaphorie in seinen Predigten vom 11. und 12. März 1522, (WA 10, III); s. Berns*, N° 9.
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dass Bilder in der Liturgie eine wichtige Rolle spielten. Sodass auch der Bildstreit seinen begründenden Rahmen in einem Liturgiestreit hatte − die deutschen Texte des 16. Jahrhunderts verwenden meist den Terminus ›Ceremonien‹. In den seit mosaischen Zeiten und seit der apostolischen Frühe des Christentums vorhandenen liturgischen Vorschriften und Bräuchen, die teils mündlich, teils schriftlich tradiert waren, waren zuvorderst die Formen des eucharistischen ›irdischen‹ Gottesdienstes geregelt. Diese sollten die Liturgie des himmlischen Gottesdienstes − wie er in der Ezechielsvision [Ez 1, 10] und im Abendmahl vorgegeben war − spiegeln. Der junge, noch vorreformatorische Luther* war schon (oder noch) radikal genug, mit dieser großen Tradition zu brechen. In einer Passage seiner RömerbriefVorlesung des Winters 1515/16 behauptete er, alle liturgische Bindungen seien zugleich mit dem Alten Testament hinfällig geworden: »Quare ad novam legem non pertinet [...] illas vel illas Ecclesias aedificare aut sic ornare aut sic cantare. Deinde nec organa nec altarium decora, calices, imagines et omnia, quae nunc in templis habentur. Tandem nec necesse est sacerdotes et religiosos radi aut distinctis habitibus incedere, sicut in lege veteri. Quia haec omnia sunt umbra et signa rerum et puerilia.«110
Dass Luther sich später zur Stabilisierung seiner Reformation durchaus gehalten sah, etliche zeremonielle Regeln zu übernehmen111 und eigene zu erlassen, ist – wie Reinhold Wex112 gezeigt hat – für die protestantische Liturgieliteratur richtungsweisend geworden. Exemplarisch wird dies aus Simon Gediks Liturgietraktat Von Bildern vnd Altarn In den Evangelischen Kirchen Augspurgischer Confession (1597) deutlich. Denn wie Luther und Arndt verteidigt Gedik* die Verwendung von Bildern im Kirchenraum, wenn er, ähnlich wie die altgläubigen Emser, Hugo oder Berthold, die Auffassung vertritt: »Dass die Bilder den Christlichen glauben nicht verhindern, sondern zur zierde, zur Gedechtniß, zur erinnerung, ohne superstition und aberglauben, ohn Ab-
110 »es gehört nicht zum Neuen Gesetz [...], jene oder jene Kirchen zu bauen oder auf bestimmte Weise zu schmücken oder auch auf bestimmte Weise zu singen; und im Übrigen auch weder Orgeln noch Altarschmuck, noch Geschirr, Bilder und alles, was sie jetzt in den Gotteshäusern haben. Denn dies alles sind nur Schatten und Schemen der Dinge und Kindereien.« 111 Vgl. beispielsweisen seine ›Deutsche Messe‹ (WA 19). 112 Was Reinhold Wex am Beispiel von Luthers Predigt zur Einweihung der Torgauer Schlosskirche (5. Okt. 1544, s. WA 49) herausgearbeitet hat, wäre durch weitere Exempelstudien, insbesondere an der Quellengattung der konsistorialen Kirchenordnungen, die mit der der weltlichen Policeyordnungen eng verwandt ist, zu erhärten.
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götterey und falschen Gottesdienst, wol mögen behalten werden, so wol in der Kirchen als daheim in den Heusern, ist klar und offenbar.«113
Das bekannteste, auch für das 16. Jahrhundert wichtigste Liturgiewerk war indes eines, das zu der Zeit, als sich die konfessionelle Spaltung in Deutschland verfestigte, bereits zweieinhalb Jahrhunderte alt war: das Ende des 13. Jahrhunderts niedergeschriebene Rationale divinorum officiorum des Guillelmus Durandus* (ca. 1235–1296). Wichtigster liturgiesystematischer Referenztext des Bildstreits war es in zweierlei Hinsicht: Zum einen quantitativ, denn das Rationale war dank der Menge seiner mittelalterlichen Handschriften, vor allem aber dank der mehr als siebzig unterschiedlichen Druckausgaben, die dann im 150jährigen Zeitraum seit Gutenbergs Erfindung bis 1600 erschienen, der bestverbreitete zeremonielle Lehrtext114. Zum andern war dieses Buch das erste seiner Art, das versucht hatte, den liturgisch-performativen Ort der Bilder systematisch zu bestimmen115. Die Lehrschrift des Durandus bot in acht Büchern »die vollendetste Zusammenfassung alles dessen, was das Mittelalter über Liturgie wußte«116, und lieferte implizit so etwas wie eine Ästhetik der Liturgie, an der sich die deutschen Kontroversautoren des 16. Jahrhunderts abarbeiten konnten. Gerade aufgrund seiner Bilderlehre, die in einem umfänglichen Kapitel, nämlich I, 3: De picturis cortinis et ornamentis ecclesie117, geboten wurde, war es neben der Bibel das wichtigste Referenzwerk des Bildstreits,
113 Gedik*, bei Berns* N° 56, S. 991. 114 Zu den Daten vgl. Sauer, Joseph: Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Auffassung des Mittelalters. Mit Berücksichtigung von Honorius Augustodunensis, Sicardus und Durandus. 2., verbesserte Aufl. Freiburg i. Br. 1924. Einen neueren kritischen Nachweis der Handschriften und Drucke gibt es nicht. Nach Ausweis der Exemplare in den Bibliotheken von Basel, Berlin, Marburg, München und Wolfenbüttel waren die wichtigsten Druckorte des Rationale Straßburg, Leiden, Venedig, Antwerpen, Dillingen und Basel. 115 Thomas Lentes hat unlängst nachdrücklich auf die systemische Bedeutung von Liturgie und insbesondere des Lehrbuchs des Durandus für die Funktionsgeschichte mittelalterlicher Sakralbilder hingewiesen. Es wäre einbringlich, seine Thesen und Problemperspektivierungen in den frühneuzeitlichen Raum zu verlängern und dabei die Konfessionsspaltung in die divergenten Liturgieentwicklungen hinein zu verfolgen; s. Lentes, Thomas: Ereignis und Repräsentation. Ein Diskussionsbeitrag zum Verhältnis von Liturgie und Bild im Mittelalter. In: Die Bildlichkeit symbolischer Akte. Hrsg. von Stollberg-Rilinger, Barbara, Thomas Weißbrich. Münster 2010, S. 155–184. 116 Sauer: Symbolik des Kirchengebäudes (1924), wie Anm. 113, S. 28f. 117 Faupel-Drevs hat dieses Kapitel ins Deutsche übertragen, s. Faupel-Drevs, Kirstin: Vom rechten Gebrauch der Bilder im liturgischen Raum. Mittelalterliche Funktionsbestimmungen bildender Kunst im ›Rationale divinorum officiorum‹ des Durenadus von Mende (1230/31– 1296). Leiden, Boston, Köln 2000 (Studies in the History of the Christian Thought, Vol. 89), S. 380ff. Die lateinische Fassung zitiere ich nach der Inkunabel Basel: Michael Wenssler, 1476 (UB Düsseldorf, Sign.: GW 9110, Digitalisat), S. 9ff.
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zwar nicht explizit (der Titel wird nur relativ selten, z. B. bei Sebastian Franck, Martin Chemnitz und Simon Gedik, erwähnt), desto nachhaltiger aber implizit. Denn es präformierte die Bildstreittexte durch gelehrte Hinweise auf Kirchenväter und Konzilsbeschlüsse sowie durch viele kultpraktische Erklärungen und Direktiven. Durandus hatte eine Spur gezogen, in der sich hernach viele Autoren, kritisch oder affirmativ, hielten. Insofern hat der deutsche Bildstreit des 16. Jahrhunderts eine mittelalterliche Ausgangsbasis. Wie überhaupt die Bilderfrage kein originäres Problem des Reformationszeitalters war, wohl aber eines, das durch Medieninnovationen und Konfessionsspaltung militante Schärfe erhielt. Der Kirchenschmuck, zu dem neben der Ausstattung des Äußeren vor allem die bildliche Ausstattung des Kircheninneren gehört, hat laut Durandus einer durchgängigen Symbolik zu gehorchen, um das Heilige auf verschiedenen Rezeptionsebenen zu vergegenwärtigen.118 Er unterstellt einen universalen Symbolismus, in welchem jede res ihren sinnstiftenden Platz und unverwechselbaren Zweck hat. Die künstlichen Bilder (und Architekturen) haben diesen Symbolismus zu respektieren und sinnfällig zu machen: »die Kunst findet in der Liturgie ihre eigentliche Erfüllung«119, indes nur mittelbar. Denn wenn Durandus Bildern im Kirchenraum didaktische Funktion zuspricht, so ist ihnen damit keine liturgische Funktion im engeren Sinne zugestanden. Für die Praxis der Messe als Kern aller Liturgie sind Bilder nicht unverzichtbar. Messe und Stundengebet waren ja keine Bildrituale, aber die Kirche als Performanzraum der Liturgie war seit dem 10. Jahrhundert zunehmend Bilderraum120: »die Auratisierung des Raumes durch das Bild war sozusagen der performative Rahmen des Rituals. Im Performanzraum als Bildraum konnten sich Ritual und Bild dann in vielfältiger Weise aufeinander beziehen, so dass man mit Fug von einer Allianz von Liturgie und Bild sprechen kann.«121
Obschon Durandus die psychologische und erkenntnispraktische Notwendigkeit des Bildlichen sieht, so sieht er in ihm doch auch die immer latente Gefahr einer Verführung zum Götzendienst122. Wie später auch für Luther stehen auch für ihn nicht Bilder als Bilder im Problemzentrum, sondern Einstellung und Nutzungspraxis der Bildbetrachter. Da ihm Bil118 Dazu Faupel-Drevs, wie Anm. 117, S. 364ff. 119 Faupel-Drevs, wie Anm. 117, S. 364. 120 Siehe Lentes: Ereignis und Repräsentation (2010), wie Anm. 114, S. 162. 121 Lentes: Ereignis und Repräsentation (2010), wie Anm. 114, S. 181. 122 In der deutschen Übersetzung des ›Bilderkapitels‹ Rationale III, 3 (De picturis cortinis et ornamentis ecclesie) bei Faupel-Drevs, wie Anm. 117, S. 382, im lateinischen Druck von Basel 1476 S. 10a: »Possent namque simplices et infirmi per nimium et indiscretum usum facile ad ydolatriam trahi.«
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der selbst als schriftanaloge Zeichen gelten, müssen sie lesbar sein. Der Bildleseakt hat memoria-Animation, innere Bildbewegung, Glaubenslehre und Meditationseröffnung zu gewährleisten. Da geht es zum einen um das Problem der Erzeugung von inneren Bilder durch künstliche äußere Bilder123, aber vor allem um Bildarten und Bildsujets: vom Hahn auf dem Kirchturm über die »ymago« des Erlösers in verschiedenen Situationen (den Thronenden, den Gekreuzigten, auf dem Schoße der Mutter, mit Johannes dem Täufer, als Lamm u. a. m.), um Engelsdarstellungen, um die Bildnisse der gesamten Heiligenhierarchie, Paradiesdarstellung und dgl. bis hin zur Dekoration von Altar, Chor und Wänden, die Funktion von Tapisserien und Vorhängen, Reliquaren, Leuchtern, Abendmahlsgerät und Standkreuzen, Schätzen der Kirche (bis hin zu Straußeneiern!). Es wäre eine eigene Studie wert, den Einfluss des Rationale auf die frühneuzeitliche Liturgieliteratur aufzudecken. 1537 weist der altgläubige Paulus Bachmann* in seinem Liturgielehrbuch die Zeremonienkritik der protestantischen Seite zurück und bedient sich dabei ganz ähnlicher Argumente, wie sie von den altgläubigen Bildverteidigern vorgebracht wurden. Wenn er von »Vrsach / vnd Entschüldigung / eusserlicher Zirheit von Silber / Goldt / Seyden / Gewandt / Orgelschlahen/ Liecht brennen / Glocken leuten etc. So mann brauchet inn vnd zu Göttlichen Ampten« handelt, macht er kenntlich, dass auch die Bilderfrage eine Frage der Liturgie ist. Bachmann weitet die Gregorsformel auf die gesamte sinnlich-äußerliche Seite des Gottesdienstes aus: »Nicht das mann domit wölle Gott beugelich [i. S. v. geneigt] oder sanfftmütig machen / [...] Sonder solche Ceremonien geschehen vmb der groben kleinverstendigen einfeldigen schwachen Christen willen in den selbigen andacht zuerwecken jhre trege hertzen vnd hinfallende gemüte zuerheben zuerfrischen.124 − Also ziehen wir durch die Ceremonien nicht Gott an vns / Sondern vns an Gott.«125
Paracelsus hingegen ist radikaler Liturgiegegner. Er markiert den Zusammenhang von Bild und Zeremonie, um beide zu verwerfen. Die Zeremonie komme erst durchs Bild zu sich selbst, sie destruiere die Innerlichkeit, d. h. den Glauben, der nur durch das verkündigte Wort im Herzen seinen Platz habe. Zeremonien und Bilder seien im Unterschied zum Wort im Herzen vergänglich, ja »tödlich« (im Doppelsinn von sterblich und todbringend):
123 Faupel-Drevs, wie Anm. 117, S. 382. 124 Bachmann*, Bl. D 3v. 125 Bachmann*, Bl. D 4r.
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»Drumb der den rechten Glauben haben will, der soll ihn nit also nemen, nicht auß den Ceremonien, nicht auß den Bildern, nicht auß den Gemälden, etc. Sondern er soll ihn nemen auß Christo, ohn alle Mittel. Drumb so ist das Wort do, das dich lehrnen [lehren] soll, in dem kanst du kein Bildt, Gemäld, Ceremonien finden, als allein den Einigen Geist.«126
Wenn die Liturgiekritik als Bildkritik sich im 16. Jahrhundert bekanntlich nicht gänzlich durchsetzen konnte, so deshalb nicht, weil christlicher Gottesdienst als gemeindliche Veranstaltung ohne Liturgie als sinnlichperformative Inszenierung nicht auskommen konnte. Die aber hat immer auch selbst bildlichen Charakter. Liturgie ist bewegtes Bild127, ist Performanz, ist symmetrieorientierte Choreographie, die sich in bestimmten Handlungsverläufen zum bildbesetzten, zumindest aber kreuzbesetzten, Altar (der mensa als Ereignisort der Eucharistie) oder den architektonischen ›Hauptstücken‹ der Innenraumausstattung (Altar, Kanzel, Orgel) darstellt. So verzichteten die Protestanten auf Dauer weder auf Bilder, noch auf Liturgie. Zur praktischen Umrüstung der traditionellen Kirchen in lutheranische findet sich in den Kirchenordnungen reiches Material.128
Buchzensur und Bildzensur Die Geschichte der Bildzensur ist, anders als die der Buchzensur, nur dürftig erforscht.129 Doch solange es Bilder gab, gab es auch Bildzensur. (Auch Bildersturm war und ist eine Form von Bildzensur!) Wo es um kultisch verwendete Bilder ging, war Zensur immer auch Mittel zur Korrektur des Kultes selbst, das zu dessen Stabilisierung oder auch Veränderung eingesetzt werden konnte. Verschiedene Kulte verschiedener Sozietäten (religiöser, politischer und sonstwie ideologischer Art) bekämpften einander − damals wie heute − durch Bildzensur. So ächtete und entmachtete das 126 Paracelsus*: Liber de Superstitionibus et Ceremoniis; bei Berns* N° 37, S. 586. 127 Groen, Basilius J.: Der Stellenwert heiliger Bilder in der christlichen Liturgie. In: Religion als Bild. Bild als Religion. Hrsg. von Dohmen, Christoph, Christoph Wagner. Regensburg 2012, S. 83–101, hier S. 95: »Man könnte sagen, dass die Liturgie selbst eine Ikone ist. Wenn die Gläubigen die Liturgie feiern, sind sie Träger/innen des Bildes Gottes.« 128 Sehling*, Emil, u. a. (Hrsg.): Evngelische Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Leipzig 1902ff. (bisher 22 Bde.). 129 Dazu Andersson, Christiane: The censorship of Images in Nurenberg, 1521–1527. In: Dürer and his culture. Hrsg. von Eichberger, Dagmar, Charles Zika. Cambridge 1998, S. 164–178. − Hecht: Katholische Bildertheologie im Zeitalter der Gegenreformation und Barock (1997), wie Anm. 7. − Pallaver, Günther: Das Ende der schamlosen Zeit (1987), wie Anm. 54, dort die Anm. 47. − Schilling, Michael: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700. Tübingen 1990.
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Christentum bei seiner Etablierung bekanntlich alle früheren und gleichzeitig rivalisierenden nichtchristlichen Kulte. In besonderer Weise bekamen das in der Übergangsphase von Mittelalter zu Früher Neuzeit viele jüdische Gemeinden zu spüren. Für den Zeitraum 1350–1520 ließen sich etwa dreißig Synagogenzerstörungen, vor allem in süddeutschen Kommunen, nachweisen. Man vertrieb oder tötete die jüdischen Mitbürger, raubte deren Besitztümer, zerstörte die liturgischen Geräte und die Kultgebäude der jüdischen Gemeinden, um sie durch christliche Bild- und Architektursetzung zu »entsühnen«130. Die beiden letzten spektakulären Beispiele lieferten 1519 Regensburg131 und 1520 Rothenburg ob der Tauber132, wo jeweils Synagogenzerstörungen vorgenommen wurden, um »entsühnende« Marienheiligtümer zu schaffen, marianische Gnadenbilder zu installieren und Marienwallfahrten zu inszenieren. Bilder können geächtet werden, indem man sie als Medien minderen spirituellen oder intellektuellen Ranges schmäht. Das kann aber auch geschehen, indem man beispielsweise Heiligenskulpturen als Puppenkram oder Dockenvolck verspottet, wie Sebastian Franck oder Martin Chemnitz es tun. Eine praktische Verhöhnung von Heiligenbildern durch Schmähgesten ist indes imaginationspsychologisch heikel. Denn indem beispielsweise ein Kruzifix durch den Strassendreck geschleift wird − wie das polemische Gedichte und grafische Darstellungen demonstrierten −, wird es gleich einem lebenden menschlichen Delinquenten behandelt, d. h. das Bild wird magisch aufgeladen. Theologisch noch verfänglicher ist, wenn Bilder pauschal als Teufelsmedien bezeichnet werden. Verbreitet ist − wie bei Paracelsus, Bullinger, Arndt, aber auch schon bei dem Kirchenvater Athanasius133 nachzulesen − die These, dass der Teufel, um überhaupt in Erscheinung treten zu können, sich jeweils eines bestimmten Bildes als
130 Dazu die Aufsätze in dem Sammelband von Maria − Tochter Sion? Mariologie, Marienfrömmigkeit und Judenfeindschaft. Hrsg. von Heil, Johannes, Kampling, Rainer. Paderborn 2001. − Röckelein, Hedwig: Marienverehrung und Judenfeindlichkeit in Mittelalter und früher Neuzeit. In: Maria in der Welt. Marienverehrung im Kontext der Sozialgeschichte, 10.–18. Jahrhundert. Hrsg. von Opitz, Claudia, Hedwig Röckelein, Gabriele Signori, Guy P. Marchal. Zürich 1993, S. 279–307. 131 Vgl. Stahl, Gerlinde: Die Wallfahrt zur Schönen Maria in Regensburg. Regensburg 1968. 132 Vgl. Schnurrer, Ludwig: Rothenburg als Wallfahrtsstadt des Spätmittelalters. In: Die oberdeutschen Reichsstädte und ihre Heiligenkulte. Hrsg. von Klaus Herbers. Tübingen 2005 (Jakobus-Studien, 16), S. 69–100. 133 Genauer dazu Berns, Jörg Jochen: Antonius Abbas. Der Heilige der Imagination und seine Entdeckung durch die Maler des 15. bis 17. Jahrhunderts. In: Die Jagd auf die Nymphe Echo. Zur Technisierung der Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von demselben. Bremen 2011 (Presse und Geschichte, Neue Beiträge, 53), S. 335–372.
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seines Scheinleibs bedienen müsse, der dann als Automat oder Orakel tätig werde. So erklärt Paracelsus*: »Dann die Bilderkunst gehet auß der Magica. Und ist sich dessen nicht zuverwundern, das die Chaldeer und Assyrier Bilder gemacht, die sich bewegt, geredt, und Zeichen gethan haben: Aber solches haben sie mehr durch die Nigromantiam, und Zauberey, dann durch die Natürlich Kunst Magica zu wegen gebracht.«134
Und Chemnitz* erklärt, unter Berufung auf Augustinus (De civitate dei, Lib. VIII, cap. XXIII): »daß die sichtbarliche und begreifliche Bilder seyen gleich wie Leiber der Götter. Es seyen aber in jhnen etliche herzu berufene Geister [spiritus invitati], die etwas vermögen, entweder zu schaden, oder etliche Begierde zu erfüllen der jenigen, von welchen jnen Göttliche Ehre, und Werck deß Gottesdienst erzeiget werden.«135
Die traditionell unterstellte dämonische Energie von Bildwerken war es, die im Bildstreit auch deren erotische Qualität noch tingierte und im Widerstreit von Bildnisliebe und Bildnisphobie fortwirkte, wie ihn Bodenstein* thematisierte136. Ein Bilderverbot ist nur effektiv, sofern es eine Instanz gibt, die es in Gesetzes- oder Erlassform publik machen, durchsetzen und überwachen kann. Das kann sowohl die kirchliche wie die weltliche Obrigkeit sein. Sie können auch beide zusammenwirken. War bis ins 16. Jahrhundert für Bilder und Lektüre der Gemeindepfarrer innerhalb seines Kirchsprengels zuständig, so wurde angesichts erweiterter Kommunikation und medientechnischer Beschleunigung zunehmend die höhere Instanz, der Bischof oder die Theologische Fakultät einer Universität, zur Zensurinstanz. Bis endlich aufgrund der gesamteuropäischen Zentrierung des Handels mit Druckerzeugnissen in der Frankfurter Buchmesse auch die Zensur in der
134 Paracelsus*: Liber de Imaginibus; bei Berns* N° 36, S. 558. 135 Chemnitz*: Von den Bildern; bei Berns* N° 51, S. 787. 136 »Und weiß, das gott bey nir so klein ist, als gros mein forcht ist gegen den Ölfratzen. [...] Derwegen soll ich kein bilde forchten, gleich wie ich keynes soll eheren. Aber (gott klag ichs) mein hertz ist von Jugend auf yn ehererbiethung und wolachtung der bildnis erzogen und aufgewachßen. und ist mir ein schedliche forcht eingetragen, der ich mich gern wolt endletigen, und kan nit. Alßo stehn ich in forcht, das ich keynen olgotzen dorft verbrennen. Ich hette sorg der Teufels narr mocht mich beleydigen. Wie wol ich die schrift (an einem teyl [i. S. v. einerseits]) hab, und weiß, das Bilder nicht [nichts] vermogen, haben auch weder leben, bluth, nach geyst. Jdoch helt mich forcht am andern teyl [i. S. v. andererseits], und macht, das ich mich vor eynem gemalten teufel, vor eynem schatwen [Schatten], vor eynem gereusch eines leychten bletlins forcht, und flihe das, das ich menlich [männlich, i. S. v. mannhaft] solt suchen.« Bodenstein*, Bl. Civv; Berns*, S. 109.
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zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zentriert werden konnte. Das gewährleisteten die Kaiserliche Bücherkommission sowie die Römische Indexkongregation, die seit 1559 (bis 1966) den Index Librorum Prohibitorum herausgab und und kontinuierlich fortschrieb. Ob diese kaiserlichen und päpstlichen Zensurinstitutionen auch Bilder indizierten, ist nicht bekannt. In der ersten Druckausgabe des Index von 1559137 ist davon jedenfalls nicht die Rede. (Wohl aber sind dort viele unserer Bildkultkritiker aufgeführt, nämlich Agrippa von Nettesheim, Bodenstein, Bullinger, Calvin, Erasmus, Gebwiler, Hätzer, Hedio, Hutten, Jud, Luther, Melanchthon, Schwenckfeld und Zwingli.) Eine gemeinsame Zensur für Bücher und Bilder sah aber bereits im Mai 1521 das kaiserliche Wormser Edikt138 vor, das angesichts der durch den Buch- und Bilddruck gegebenen publizistischen Macht Luthers und der lutherischen Partei auch erstmals eine Präventivzensur verfügte.139 Künftig dürfe, heißt es da, nichts mehr »on wissen vnd willen des Ordinarien desselben Orts / oder seins Substituten vnd verordneten / mit zulassung der Facultet in der Hailigen Geschrifft einer der negstgelegenen Vniversitet« gedruckt werden.140 In die gleiche Richtung zielt dann auch die am 3.12.1563 unter Leitung des Bologneser Kardinals Gabriele Paleotti (1522–1597) gefasste Entschließung des Tridentinums: »Dise dinge daß sie deß da [desto] treulicher gehalten werden, hat der Heilige Synod beschlossen, daß niemand gebür jergend [irgend] an einem ort, oder in der Kirchen, sie sey auch befreyet wie sie wöllen, jergend ein ungewönliches Bild [insolita imago] zu setzen und aufzurichten, oder verschaffen, daß aufgericht werde, es sey dann von dem Bischof gebillicht worden.«141
Paleotti, der auch als Kunsttheoretiker hervorgetreten ist142, bemühte sich hernach in den neunziger Jahren, »einen durchsetzbaren Index für Bilder einzuführen oder wenigstens den bereits etablierten Bücherindex auch auf
137 Vgl. Index Avctorum, et Librorvm (Rom 1559), in alphabetischer Auflistung. 138 Vgl. Wormser Edikt (Einblattdruck, 1521; Digitalisat Stadtbibliothek Worms). 139 Im Wormser Edikt heisst es (gegen Ende), alle Schriften Luthers und überhaupt alle Publikationen in Schrift und Bild, die »wider Bapst / Prelaten / Fürsten / hohe schulen vnd derselben Faculteten vnd ander Ersame Personen« gerichtet sind, seien zu vernichten: »Deß gleichen gepieten wir ernstlich bei angezaigten peenen / allen den so zu der Justicy / verordent vnd gesetzt sein / das sy alle yetzgemelte schrifften Bücher zedel / vnd malerey / so bißher gemacht sein / vnd hinfüro geschriben / gedruckt / vnd gemalet werden / [...] annemen / zerreissen vnd mit offenlichen Feür verbrennen.« 140 Zum Verhältnis von Text und Bildzensur mit instruktiven Zitaten vgl. auch Schilling: Bildpublizistik der frühen Neuzeit (1990), wie Anm. 129, bes. S. 154–169. 141 Im Wortlaut der deutschen Version von Nigrinus, die der kritischen Stellungnahme von Martin Chemnitz vorangestellt ist (Berns* N° 51, S. 777f.) . 142 Siehe Paleotti* (1594).
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Bilder anzuwenden.«143 Tatsächlich gab es zu dieser Zeit auch anderweitige Versuche, aufgrund der traditionellen Analogisierung von Bild und Buch (wie sie ja auch die Gregorsformel propagierte) mittels des Bücherindex auch Bilder zu indizieren.144 Denn es war die Druckrevolution, die wie bei den Büchern auch bei den Bilddrucken die Einrichtung einer Zentralzensur möglich und dringlich machte. Im weltlich-obrigkeitlichen Bereich suchte man, in Konsequenz des Wormser Edikts, mittels der Reichspoliceyordnung (RPO), die seit 1530 als Rahmenordnung für die Policeyerlasse der verschiedenen Reichsstände fungierte, Bildzensur und Buchzensur ebenfalls zu koordinieren. In ihren Fassungen von 1548 und 1577 bot die RPO in Zusammenhang mit der Buchzensur auch Vorschriften für eine Bildzensur. So heisst es 1548: »Ferner setzen / ordnen und wöllen wir [nämlich die »Römische Keyserliche Maiestat«] / das […] nichts schmelichs / Pasquillisch oder anderer weiß […] gedicht / geschrieben / inn Truck bracht / gemahlet / geschnitzt / gegossen oder gemacht / Sonder wo solche und dergleichen Bücher / Schrifften / gemelde / Abgüß / geschnitz und gemechts / imm Truck oder sunst vorhanden weren / oder künfftiglich außgiengen und an tag kämen / das dieselben nit feylgehabt / gekaufft / umbgetragen noch außgebreyt / Sonder den verkäuffern genommen / und soviel möglich undergedruckt werden / und soll nit alleyn der Verkauffer oder Feylhaber / sonder auch der Kauffer und andere / bei denen solliche Bücher / schmeschrifften oder gemälts / Pasquils oder anderer weiß / sie seien geschrieben / gemalet oder getruckt befunden / gefengklich angenommen / gütlich / oder wo es die notturfft erfordert peinlich / wo ime solche Bücher / gemeld oder schrifft herkommen / gefragt […]« werden.145
Die Fassung der RPO von 1577 (die dann bis zum Ende des alten Reiches 1806 in Kraft blieb) verschärfte die früheren Fassungen in einigen überwachungspragmatischen Punkten: Jedes Druckerzeugnis – auch ein gedrucktes »gemält« also – sollte einer behördlichen Präventivzensur unterworfen werden; jedes Buch sollte die Namen von Autor, Drucker und Druckort anführen, und Drucker sollten künftig nur noch in Residenz-, Universitäts- und Reichsstädten tätig sein.146 War damit gewiss eine bessere Überwachbarkeit auch der Bilddrucke gewährleistet, so ist doch unbekannt, ob und gegebenenfalls auf welchen Wegen und in welchem Umfang es 143 Hecht: Katholische Bildertheologie im Zeitalter von Gegenreformation und Barock (1997), wie Anm. 7, S. 41. 144 Dazu Reusch, Friedrich Heinrich: Der Index der verbotenen Bücher. Ein Beitrag zur Kirchenund Literaturgeschichte. 2 Bde. Bonn 1883/1885, hier Bd. 2, S. 223–279, bes. S. 262. 145 Zitiert nach der Edition von Weber, Matthias: Die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Historische Einführung und Edition. Frankfurt/M. 2002 (IUS COMMUNE, Sonderheft 146), S. 209. 146 Ebd., S. 265f.
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tatsächlich gelang, eine private Verwendung privat erworbener Bilder an privatem Ort zu kontrollieren und gegebenenfalls auch zu bestrafen. Bei Bildern in kirchlichen Räumen (aller Konfessionen) griff die Zensur indes durch: Missliebige Bilder wurden entfernt. Ikonoklasmus war hier lediglich eine Extremform der Bildzensur, die viele Varianten kannte. Dafür, dass es seitens der geistlichen wie der weltlichen Obrigkeit großes Interesse gab, auch privaten Bildbesitz zu überwachen, finden sich einige Hinweise. So forderte bereits 1503 Geiler von Kaysersberg* in Straßburg: »Darumb wo vernünftige gotzforchtige oberkeiten sind, es sey in den klösteren oder hye auß [hier ausserhalb], herren und frauen in iren heußren, da thut man alle semliche gegenwürf [i. S. v. Objekte, Gegenstände] ab weg, da durch die ougen der jungen kind, oder ander unschuldiger personen, schantbare bild und unschaffne fantaseyen, die reinen hertzen möchten verwüsten, und ynen schamliche bild ein tragen.«147
1539 will Heinrich Bullinger* in Zürich die omnipräsent gewordenen Bilder omnipräsenter Zensur unterwerfen: »Begebe es sich aber, daß du den Bildern daheim in deinem Hauß, oder auff einem offenen Platz zuvil zulegest, soltestu darumb nicht meinen, als billigten wir solches. Darumb wann du das Gemähle in deinem Hauß mißbrauchest, halte ich gäntzlich darfür, daß dasselbig Gemäle aus deiner Behausung abgeschafft […] werden sol.«148
1603 verfügt ein Synodaldekret des Bistums Brixen: »Diejenigen, die leichtfertige und unzüchtige Bilder verkaufen, erwerben oder bei sich aufbewahren, sollen strengstens bestraft werden.«149 Erfasst wurden von der Bildzensur also, wie schon im Buchzensur-Artikel der RPO gefordet, nicht nur die Produzenten der Bilder, sondern auch deren Verkäufer, Käufer und privaten Nutzer. In welchen Fällen eine Beseitigung von Bildern unternommen werden sollte, lehrt das Synodaldekret ebenfalls − auf denkbar schwammige Weise: 147 Johann Geiler von Kaysersberg: Dis schön buch genant seelen Paradiß (1503), hrsg. von Gerhard Bauer, Bd. III. Berlin 1991, S. 473; Berns* N° 3, S. 61f. 148 Im Wortlaut der lateinischen Ausgabe: »Proinde si in foro aut in aedibus tuis pictura abuteris vel propter has quicquam in legem dei peccas, & e foro & e privatis domibus illas tollendas, atque legem dei, imo quodvis vitae officium illis praeferendum esse censeo.« In: Bullinger: De Origine Erroris Libri Duo […]. Basel 1539, S. 133. 149 »Item qui petulantes, & obscoenas imagines […] vendiderint, emerint, vel apud se retinuerint, in eos severissimè animadvertatur.« In: [Christophorus Andrea Episcopus Brixinensis, ed.:] Decreta in dioecesana Synodo Brixinae anno […] 1603 sancita et promulgata. Innsbruck 1603, S. 2f., zit. nach Pallaver: Das Ende der schamlosen Zeit (1987), wie Anm. 54, S. 132, Anm. 47.
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»Von Kirchen und anderen frommen Orten. § 15: Zerschlissene, unschöne, zudringliche, unzüchtige, fremde, neue, abergläubische und andere Bilder, die die Gemüter der Gläubigen verstören und beleidigen, sollen von allen heiligen Orten entfernt werden.«150
Dass Bildvernichtungen zumeist nicht spontan und nicht isoliert stattfanden, sondern nach einem rituellen Verfahren in Verbindung mit Zerstörung anderer liturgischer Objekte und Strukturen einherliefen, erklärt sich aus der zeremoniellen Tradition mittelalterlicher Bücherverbrennungen. Auch hier kulminierte »die Hierarchie der Vernichtungsarten« im Feuer151 und fand die »Exekution [der Bücher] als Inszenierung«152 statt. Freilich war Bildvernichtung spektakulärer als Büchervernichtung. Da beide aber, die Bücher wie die Bilder, der Liturgie dienlich sein konnten, mussten sie in liturgiekritischem Interesse auch gemeinsam vernichtet werden.153 Es ging bei alledem um die Verhinderung einer Rückkehr zu alten Mess- und Liturgieformen durch Vernichtung ihrer Schrift- und Bild-Medien, daneben auch ihres Altargeräts, Messornats und gelegentlich auch der Orgeln und Glocken.
150 Originalwortlaut: »Imagines lacerae, indecorae, procaces, obscoenas, ignotae, novae, superstitiosae, alique; omnia quae fidelium mentes distrahunt aut offendunt, ex omnibus locis sacris eijciantur.« In: [Christophorus Andrea Episcopus Brixinensis, ed.:] Decreta in dioecesana Synodo Brixinae anno […] 1603 sancita et promulgata. Innsbruck 1603, S. 55. Zit. nach Pallaver, wie Anm. 54, S. 133. 151 Werner, Thomas: Den Irrtum liquidieren. Bücherverbrennung im Mittelalter. Göttingen 2007, S. 79ff. 152 Werner, ebd., S. 107ff. 153 Dazu Germann, Martin: Der Untergang der mittelalterlichen Bibliotheken Zürichs. Der Büchersturm von 1525. In: Bilderstreit. Kulturwandel in Zwinglis Reformation (1984), wie Anm. 8, S. 103–107. − In Zürich fand auf Betreiben Zwinglis im Oktober 1525 ein Büchersturm in Zusammenhang mit dem Bildersturm statt. Da vernichtete man pergamentene Mess- und Chorbücher, »damit sy uß gedechtnuß der mentschen kament.« Der Zürcher Chronist Gerold Edlibach (1454–1530) weiss zu melden: »Item in dissen tagen giengen die verordnneten über alle liberigen Zürich, in das Münster und über andre liberigen in den pfarkilchen und clöstren, und nammend daruß alle bücher, die sy fundent. Item die glertten, die sich der bücher verstundent, die mentend, daß sy mit 10 000 guldin nüt gemachet werrendderrn was ein grosser huff, die alle verkouft, zurrissen und zurzerrt wurden und keinß gantz bleib etc.« (Alle Zitate bei Germann, S. 104.) Anderorts fand Ähnliches statt. Auch die Histori von der Beurischen ufrur, das anonyme Gedicht eines altgläubigen Polemikers (ca. 1527), bezeugt das, wenn es Kirchenstürmern die Drohung in den Mund legt: »Dann das ist unser gmein losantz [i. S. v. Losung] | Das wir kein götzen lassen gantz | Ob es schon thut dem Keyser wee | Darzu den andren Fürsten mee| Ligt wenig dran, der Christlich bundt | Würt bleyben vor ihn all gesundt| Die bücher wöln wir nymme leyden | Da mit sie theten hochfart dreyben | Mit lesen, schreyen darzu blerren | Ihr maul wöln wir ihn jetz versperren«, Berns* N° 31, S. 440.
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Zur kunstgeschichtlichen Bedeutung des deutschen Bildstreits Im Unterschied zur italienischen Kunsttraktatistik der Renaissance fanden die Texte des deutschen Bildstreits (wie schon ihre Editionsgeschichte zeigt) in der Kunstgeschichte bis heute nur marginale Beachtung. Das hat mannigfache Gründe, die zumeist in der knapp zweihundertjährigen Institutionalisierungsgeschichte des Fachs Kunstgeschichte selbst aufzusuchen wären. Zu erinnern wäre indes, dass im deutschen Bildstreit ein Geschichtsmodell problembestimmend war, das aus der damals geltenden Historiographie übernommen war: In dem (in ganz Europa bis an die Schwelle des 18. Jahrhunderts geltenden) biblizistischen Geschichtsbild, das historia mundi und Menschheitsgeschichte von der Schaffung der Welt bis zum Jüngsten Tage in einem etwa sechs- bis achttausendjährigen Raum zusammenhält und als Einheit teleologisch perspektiviert, musste auch die Mediengeschichte des Bildes ihren Platz finden. Als numinose Initiatoren von Bildkunst galten Gott und Teufel. Noch im Bildstreit des 16. Jahrhunderts wurden sie, sozusagen arbeitsteilig, für verschiedene Möglichkeiten von Bildnerei verantwortlich gemacht und gegeneinander gestellt. Jenseits dessen muss es aber, so wissen unsere Bildstreitautoren, auch immer schon menschliche Akteure gegeben haben, die entweder als Handlanger und Vollstrecker oder als Imitatoren göttlicher und teuflischer Bildnerei im Rahmen von Religion tätig geworden waren. Zur Ermittlung und Klassifizierung dieser menschlichen Bildakteure genügte im Bildstreit eine Unterscheidung von drei Religionsformationen: der jüdischen, heidnischen und christlichen. Zwischen diesen sah man eine Spannung wirksam, die wesentlich aus ihrer je eigenen Bildverwendung resultierte. Das aus der Bibel und vermittelt auch aus dem augustinischen Geschichtsbild abgeleitete triadische Modell fungierte zugleich als Erkenntnismodell, Geschichtsmodell und Kultmodell. Es bietet nachgerade eine Archäologie und Etappengeschichte liturgischer Bildverwendung. Seine Übersichtlichkeit und klassifikatorische Handhabbarkeit gerieten im 16. Jahrhundert dann aber zusehends an Grenzen. Das lässt sich an Verlautbarungen von etlichen Autoren verfolgen: namentlich bei Hieronymus Emser, Hugo von Hohenlandenberg, Paracelsus, Sebastian Franck, Heinrich Bullinger, Martin Chemnitz und Johann Arndt. Sie explizieren das triadische Modell als Grundstruktur von Bildgeschichte variantenreich. Wenn die Auslegung biblischer Geschichte will, dass es ursprünglich nur einen Gott gab, der von allen Menschen erkannt und anerkannt wurde, dann ist jede Form von Heidentum nur als polytheistische Devianz
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von diesem (jüdischen) Monotheos denkbar. Wenn ferner die christliche Bibel in ihrer heilsgeschichtlichen Verschränkung von Altem und Neuem Testament will, dass dieser ursprünglich jüdische Monotheismus in Christus seine messianische Bestätigung und im dreieinigen Gott seine Vollendung gefunden habe, dann erscheint der jüdische Monotheismus als defizitär. Für die Bildgeschichte ergeben sich daraus Möglichkeiten und Schwierigkeiten: Die Unterschiedlichkeit der vielen Polytheismen und die eklatante Verschiedenartigkeit ihrer Kultbilder konnte im 16. Jahrhundert durch eine biblizistisch beschränkte Geschichtssicht nicht mehr zulänglich erklärt werden. Im Wahrnehmungshorizont des Alten Testaments hatten ägyptischer und babylonischer Polytheismus gelegen, in dem des Neuen Testaments dann noch griechischer und römischer Polytheismus. Das Aussehen ihrer Gottheiten und Götterbilder war, wie Ausgrabungen im 16. Jahrhundert immer deutlicher erwiesen, so verschieden, dass nur Ignorante noch ihre Einheit behaupten konnten. Wenn sich zunehmend die Schönheit der griechischen und römischen Götterbildnisse vor dem eigenen Empfinden behauptete, so musste man die antiken Schriftstellerzeugnisse − zuvörderst das 35. Buch der Naturalis Historia des Plinius, aber auch Ciceros kritischen Gesprächstraktat De natura deorum − damit in Verbindung setzen. Und wenn man dann gar den germanischen Polytheismus bedachte, wie er in der erst 1426 wiederentdeckten Germania des Tacitus beschrieben war, und daneben den indianischen Polytheismus stellte, wie ihn Columbus, Vespucci und schließlich Hans Staden schilderten und fleißige deutsche Graphiker ins Bild setzten154, dann verlor das pauschale Reden von ›den‹ Heiden analytische Kraft. Hinzu kam eine weitere Schwierigkeit, wenn man − mit Paracelsus, Johann Arndt und anderen − in bestimmten Mythen und in der Magia angeblich doch ›heidnischer‹ Kulturen ein wenn nicht vorbiblisches, so doch außerbiblisches Wissen, eine prisca philosophia und sapientia naturalis sah, die das alttestamentliche Wissen ergänzte oder womöglich sogar fundierte. Der erste unter den deutschen Streitautoren, der mittels des triadischen Modells eine Art von Weltkunstgeschichte zu konstruieren suchte, war Hieronymus Emser*, der 1522 in seiner zitataufwendig-gelehrten Antwort auf Bodensteins Flugschrift Von abtuhung der Bylder weit ausholte. Er behauptet, gemäß der Folge von »dreyerley Secten, nämlich Juden, Heiden und Christen« seien auch drei Arten von Bildern entstanden, 154 Vgl. AMERICAE Libri Quinque / Fünff Bücher Von der neuwen Welt. Frankfurt/M.: Sigmund Feyerabend / Dietrich de Bry 1590–1600 [ND o. O. u. J., ca. 1976]. − Sixel, Friedrich W.: Die deutsche Vorstellung vom Indianer in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Bonn 1963.
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»welche alle der materien nach, wenig ader gar keyn underscheid haben, dann sie gemeinlich alle, auß erd, gypß, steyn, holtz, meß, kupfer, bley, gold, silber, oder andern metallen formirt, Oder auf tucher, bapyr, oder tafeln gemalt werden, Aber in der bedeutung, gebrauch, meynung, und ankunft [i. S. v. Herkunft] sint sie gar mercklich underschiden.«155
Für jede der drei »Secten« macht Emser einen ersten Bildinventor namhaft. Für die Spezies der »judischen bilder« sei das der Adamsenkel Enos156 gewesen, der als erster den Namen Gottes angerufen habe und zugleich ein geschnitztes Gottesbild aufgestellt habe, das ihn an den Anzurufenden erinnern sollte. Auffällig ist zunächst der doppelte Appell, den die Analogsetzung von Gottesnamen und Gottesbild impliziert; sodann, dass es Emser offensichtlich darum geht, die kultische Notwendigkeit bildlicher Gottesdarstellung bereits für die früheste alttestamentliche Zeit anzusetzen. Die Historie von einem ersten Inventor »heydnischer bilder« spiegelt sodann diese jüdische Erfindergeschichte ins Dämonisch-Teuflische: König Ninus157 von Assyrien sei es gewesen, der seinem Vater Belus (alias Baal)158 zu Ehre und Gedächtnis ein Standbild auf den Marktplatz von 155 Emsers verantwurtung auf das ketzerische buch Andres Carolstats, fol. Aiijv, Berns* N° 7, S. 118f. 156 Der Adamsenkel Enos (Enoch, Enosch) wird Gen 4, 26 erwähnt, wo von der ersten Gottesanrufung die Rede ist, und Lk 3, 38, wo er im Stammbaum Jesu erwähnt wird. Hartmann Schedel berichtet von ihm: »Enos der sun Seth ist geporn im jc. v. iar [d. h. 105.] Seth. vnd im iiijc. xxv. [d. h. 425.] iar der werlt. vnd lebet ixc. v. [d. h. 905.] iar. diser Enos fieng zuerst an den namen des herren an ze rueffen. villeicht durch ettliche betliche wort die er funde.« Bl. IXv der Ausgabe: Schedel, Hartmann: buoch der Cronicken vnd gedechtnus wirdigen geschihten von anbegynn der werlt bis auf diese vnsere zeit. Nürnberg: A. Koberger u. a. 1493 [ND München 1965]. 157 Zu Ninus (Ninos, Nino u. a.) vgl. Augustinus: De civitate dei, lib. IV, cap. 6, der erklärt, Ninus sei der erste König gewesen, der aus purer Herrschaftsgier Krieg geführt habe. Bei Hartmann Schedel (Bl. XVIIIv) heißt es über ihn, er sei, als Sohn von König Belus, der zweite König der Assyrer gewesen »und erster eyniger herscher [...], der auß begirde der herschung seinen nahend wonenden krieg vnd aufrur machet und sie von wegen irer vnschickerlichkait zum krieg bald vndertruckt.« Er habe die Stadt Ninive gegründet und sie nach sich selbst benannt. Besonders wichtig in unserem Zusammenhang die Aussage, die Emser bestätigt: »Diser ninus was der erst erfinder der abgötterey. dann er machet ein pild seines gestorben vater Belo zu erleichterung seines smertzens vnd verlieh allen übeltattern die dar zu fluhen sicherheit vnd freyung vnd also ward das selb pild angepetet. nach dem selben machten andere den toten auch pild. darein dann die teüfel giengen vnd darauß antwurten. vnd also damit got gepürende ere erpietung erlangten. Den selben apgot mit seinem tempel zerstört darnach daniel der prophet do er gefangen gen Babilonia gefurt worden was.« − Vgl. auch Der Kleine Pauly 4, Sp. 133f., sowie Arno Borst: Der Turmbau von Babel, passim. 158 Vgl. Iud 2, 11–13; Soph 1, 4 u. ö.; Der Kleine Pauly 1, Sp. 791–795. − Hartmann Schedel bietet, auf Augustinus zurückgreifend, eine Verknüpfung der Erzählung vom Turmbau zu Babel und Baal-Mythos (fol. XVIIv): »Babilon was der anfang des reichs Nemroth, der
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Babylon habe setzen lassen, das Ehrerbietung erheischte und Verfolgte frei gemacht habe.159 Das erste der »Christenlichen bilder« schließlich muss freilich zugleich das »erste bild Christi« überhaupt sein: kein anderes als das Abgar-Portrait160 Christi (das Mandylion), ein acheiropoietisches Bildnis, das, wie das später berühmtere Schweißtuch der Veronica, einen Gesichtsabdruck geboten habe. Emser präsentiert also eine Trias von Erstbildern, die nachgerade prototypisch wurden: ein Gottesbildnis, ein Teufelsbildnis und ein Christusbildnis, drei kultisch benötigte Bilder, die biblisch und legendär beglaubigt waren. Auch wenn Emser dies triadische Geschichtskonstrukt nicht selbst erfunden hat, so hat er es doch als erster exponiert und in den deutschen Bildstreit eingebracht. Wo die biblischen Vorgaben nicht hinreichten, hat er Schriften Augustins konsultiert. Überdies hätte er in der Weltchronik Hartmann Schedels, die ja rund drei Jahrzehnte vor seiner Bildverteidigungsschrift erschienen war, viele seiner Darlegungen vorformuliert finden können. Emsers Bildergeschichte − und die seiner Nachfolger und Gegner161 − als unwissenschaftlich oder kunsthistoriographisch belanglos abzutun mit dem Hinweis, die Herkunft und Zusammenhänge der von ihm benutzten Quellen seien dubios, ist ebenso naheliegend wie unergiebig. Denn in Anbetracht der Frage, wieso er und seine Zeitgenossen derlei Konstruktionen zu ihrer Selbstverständigung benötigten, ist zuzugestehen, dass hier eine durchaus stimmige, umsichtige Anwort gegeben war. Mit dieser Lehre von den drei Bild(nutzungs)arten war fortan nämlich jeder Bildrezipient in der Lage, seine eigene Art von Bildnutzung (und dadurch vermittelt sich selbst) zu analysieren, während die Frage nach Material, Machart und Produzenten der Bilder beiseitegeschoben war.
nach zerstrewung der zungen [d. h. der Sprachverwirrung] gein Persiam zohe vnd das reich seinem sun Belo ließ. Aber Augustinus spricht, das nemroth von dannen verjagt sey, vnd das die sün assur selb reich auff jm. iijc v. [d. i. 1305] iar ingehabt haben. Diser belus sol haimlich oder verporgenlich geregirt haben. dann er het ain klaine herschafft vnd er was der erst den der jrsal der menschen einen got achtet. Mancherlay lewt haben in mancherlay weys genent. als bell, baal, baalim, belphegor, belzebub.« 159 In der christlichen Lehrtradition galt Ninus, der Sohn des Belus, seit Isidor von Sevilla († 636) als Erfinder der Götzenanbetung, wie auch in den späteren Enzyklopädien der Petrus Comestor, Vincent von Beauvais u.a. fortgeschrieben wurde. 160 Zu Abagarus (Abgar) vgl. Dobschütz, Ernst von: Christusbilder. Untersuchungen zur christlichen Legende, 2 Bde. Leipzig 1899, S. 40ff. − Belting, Hans: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990, S. 233–237. − Büchsel, Martin: Die Entstehung des Christusporträts. Bildarchäologie statt Bildhypnose. Mainz 2007, S. 60ff. 161 Am ausführlichsten äußert sich auf protestantischer Seite Heinrich Bullinger, der ebenfalls eine dreistufige Bildkultgeschichte entwickelt und zu beweisen sucht, dass der Bilderdienst der römischen Kirche eine Rückkehr zur heidnischen Idolatrie darstellt.
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Folgen und Folgerungen Der Bildstreit ebbte mit dem Dreißigjährigen Kriege ab. Die Stürme dieses Krieges vernichteten so viele sakrale und weltliche Kunstwerke, wie kein Bildersturm es vermocht hätte. Auch verlagerte sich das Interesse, wie Sandrarts monumentales kunsthistorisches Werk deutlich macht, das erst nach dem Dreißigjährigen Krieg erscheinen konnte162. Gleichwohl ist es sinnvoll, nach den Folgen des deutschen Bildstreits zu fragen. Zwei sehr verschiedene Problemperspektiven sollten dabei berücksichtigt werden: erstens die Nahfolgen im 17. Jahrhundert; zweitens die Vergleichbarkeit der Bildmedienrevolutionen von damals und heute. Zu den Nahfolgen Eine erste nahfristige Folge des Bildstreits erwies sich darin, dass beide, der Protestantismus ebenso wie der Katholizismus, nunmehr eigene Konzepte der Seelenzurichtung entwickelten, die sich in Medienwahl und ästhetischer Strategie hinsichtlich der ›Kirchenzier‹ unterschieden. Im protestantischen Bereich zeichnete sich bei Bildkonzeptionen eine Bevorzugung abstrakter Ordnungen ab, eine Favorisierung von schriftgebundener oder schriftähnlicher, diagrammatischer und symmetrisierender Schienung des Betrachterblicks, wie sie exemplarisch die ›Lutherischen Bekenntnisgemälde des 16. bis 18. Jahrhunderts‹163, die reformatorischen Lehrbilder zum Thema ›Gesetz und Evangelium‹164 oder ›Die protestantischen Schriftaltäre des 16. und 17. Jahrhunderts‹165 bieten. Dagegen wurde im katholischen Bereich eine ›Inszenierung des Sakralen‹ forciert, ein sinnliches Überwältigungskonzept, das sich beispielhaft in theatralischen Raum- und Ausstattungsprogrammen süddeutscher Barockkirchen zeigt166, die mit Pathos- und Überwältigungs-Ikonographien synästhetische Entzückens- und Schreckprägungen anstreben.
162 Sandrart, Joachim von: Teutsche Academie der Bau- Bild- und Mahlerey-Künste, 3 Bde. Nürnberg 1675–1680. 163 Brückner, Wolfgang: Lutherische Bekenntnisgemälde des 16. bis 18. Jahrhunderts. Die illustrierte Confessio Augustana. Regensburg 2007. − Scharfe, Martin: Evangelische Andachtsbilder Studien zu Intention und Funktion des Bildes in der Frömmigkeitsgeschichte, vornehmlich des schwäbischen Raumes. Stuttgart 1968. 164 Reinitzer, Heimo: Gesetz und Evangelium. Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und Wirkungsgeschichte, 2 Bde. Hamburg 2006. 165 Diederichs-Gottschalk: Die protestantischen Schriftaltäre des 16. und 17. Jahrhunderts (2005), wie Anm. 5. 166 Brossette, Ursula: Die Inszenierung des Sakralen. Das theatralische Raum- und Ausstattungs-
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Obwohl beide Verfahren ästhetisch und psychostrategisch stark differieren, zielen aber doch beide auf nachhaltige Wirkung im Gemüt der Rezipienten. Die protestantische Mnemonik setzt auf Geometrie und Verzeilung, die katholische auf ganzheitliche Impression und Schock. Beide Verfahren prägen auch andere visuelle Medien, so z. B. die frühneuzeitliche Didaktik von protestantischem und katholischem (Schul-)Theater, wie sich bis in Details von Spracheinsatz, Gestik, Choreographie, Bühnengestaltung und Illusionsmaschinerie zu erkennen gab. Daneben entstanden in bestimmten sozialen Sphären neue ikonische Medien, die keine oder doch nur schwache konfessionelle Profile zeigten. Das wirkungsmächtigste Beispiel stellte die höfische Sphäre mit ihren spezifischen Demonstrationsinteressen in Bild, Architektur und Fest, die allesamt durch ein überregionales Zeremoniell, das als »höfische Ästhetik«167 fungierte, reguliert waren. Zur näheren Kennzeichnung der ästhetischen Neutralisierungspotenz der höfischen Sphäre wäre die Differenz von kirchlich-liturgischem und höfischem Zeremoniell ebenso zu beachten wie die Differenz des performativen Insbildsetzens von Priester und Fürst. Vereinfachend lässt sich sagen: Es zeichnete eine Transmutation von Aurazonen ab, dergestalt, dass die mirakulös fundierte Aura von Sakralbildern in die politische Aura herrscherlicher Autorität und diese wiederum in die ästhetische Aura künstlerischer (Genie-)Ansprüche überführt werden konnte. Zu studieren ist dies namentlich an den Kunstkammersammlungen, die nach Entstehen, Ausstattung und Demonstrationsinteresse zuvorderst der höfischen Sphäre angehörten. Sie gehorchten höfischem Neutralisierungsverlangen, noch ehe sie in die bürgerliche Museumsbewegung integriert wurden. Auf die Bildfrage gewendet wäre zu klären, wie im Einzelfall und aufgrund welcher Kriterien Sakralbilder in Kunstkammern geraten konnten. Zu fragen wäre erst recht, was mit jenen Bildbetrachtern geschah, die sich in Kunstkammern mit Bildwerken konfrontiert sahen, welche vormals in Sakralgebäuden ihren angestammten funktionalen Ort gehabt hatten. Nicht nur die Bildwerke waren ja einer defunktionalisierenden Translation aus der Kirche ins Museum ausgesetzt, auch die Betrachter mussten seelisch umgerüstet werden, um diese Translation zu ertragen und womöglich zu goutieren.
programm süddeutscher Barockkirchen in seinem liturgischen und zeremoniellen Kontext, 2 Bde. Weimar 2002. 167 Dazu Berns, Jörg Jochen, Thomas Rahn (Hrsg.): Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 1995 (Frühe Neuzeit, 25).
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Zur Vergleichbarkeit verschiedener Bildmedienrevolutionen In der Tat ist die Beantwortung der Frage nach der historischen Eigentümlichkeit und der Fernwirkungskraft des frühneuzeitlichen Bildstreits eine, die psychologische und medienkritische Kriterien zu verbinden hat. Denn wenn der Bildstreit in seinem Zentrum Streit um Seelen war, Streit über die Frage, was Bilder in den Seelen ihrer Betrachter (die sich ihnen in einem liturgisch zugerüsteten Architekturambiente näherten) auszulösen vermöchten, dann muss dieses ja irgendwann verloren gegangen sein. Zu konstatieren ist jedenfalls: Ein ebenso eindringliches wie anhaltendes Interesse an dem, was es mit der Seele (im theologischen wie im psychologischen Sinn) auf sich habe und was sich in ihr tue, wenn sie mit Bildern konfrontiert ist, hat es nie zuvor und nie hernach − auch heute nicht! − gegeben. Dies Ernstnehmen der Betrachter, die bildbezogene SeelSorge, ist im Sog von reproduktiver Bildvermehrung, von Privatisierung, Dislozierung und musealer Inszenierung von Bildern abhanden gekommen. Der Betrachter ist theologisch wie psychologisch verwaist. Insofern ist die Translation ins Museum allemal ein Entsorgungsakt für Bild wie Betrachter. Dieser Streit war nicht allein und unmittelbar im frühneuzeitlichen Bildstreit angesprochen, aber er bildete dessen Hintergrund. Denn zu erinnern ist ja, dass seit dem 15. Jahrhundert nicht allein der Bilddruck, sondern auch die Bilder der Camera obscura artificialis168 oder die der zentralperspektivisch organisierten Illusionsbühne Sensation machten. Bezöge man die Frage der seelischen Entmachtung und Dislozierung weiter auf spätere Bildmedien, auf die neuen technischen Bilder der Fotos, Kinoleinwände, Bildschirme und Touchscreens, der Bildwurfmaschinen, die omnipräsent die visuelle Alltagsrealität überlagern und in den Hintergrund drängen, dann wäre herleitbar, was mit dem Bildstreit des 16. Jahrhunderts angesprochen und angefangen war: Ein Streit um die Aufdringlichkeit und Vordringlichkeit von immer neuen Bildmedien, der der Psyche zusetzt und ihr die Möglichkeit bestreitet, bei sich zu sein. Ein Streit, der nicht beendbar scheint.
168 Zur Camera obscura als vorfilmischem Medium vgl. Berns, Jörg Jochen: Obskure Kammern. Bemerkungen zur Genese der Kinolust. In: ders.: Die Jagd auf die Nymphe Echo. Zur Technisierung der Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit (Presse und Geschichte, Neue Beiträge, 53) Bremen 2011, S. 427–438. − Ders.: Film vor dem Film. Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Marburg 2000.
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Quellenverzeichnis [Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius:] De incertitdine et vanitate scientiarum et artium, atque excellentia verbi Dei, declamatio. Paris: Johann Petrus 1531. [Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius:] HENRICI CORNELII AGRIPPÆ Ungewißheit Und Eitelkeit Aller Künste und Wissenschafften / auch Wie selbige dem Menschlichen Geschlechte mehr schädlich als nutzlich sind. Ferner von eben diesem Autore zwey curieuse Tractätlein / als I. Von dem Vorzug und Fürtrefflichkeit des Weiblichen Geschlechts vor dem Männlichen. II. Von dem H. Ehestand. Aus dem Lateinischen ins Teutsche übersetzt. Köln 1713. AMERICAE Libri Quinque / Fünff Bücher Von der neuwen Welt. Frankfurt/M.: Sigmund Feyerabend / Dietrich de Bry 1590–1600. Andrada, Didacus: Concio habita ad Patres in concilio Tridentino congregatos. Brixen: Johannes Bapt. Bozolae 1562. ders.: Orthodoxarum explicationum libri decem, In quibus omnia ferè de religione capita, quae his temporibus ab haereticis in controversiam vocantur, apertè et dilucidè explicantur: Praesertim contra Martini Kemnicij petulantem audaciam [...]. Köln: Cholinus 1564. [Weitere Aufl. 1566, 1578, 1580 unter d. Titel: Defensio tridentina fidei catholicae] [Anonymus:] Eyn Warhafftig erschröcklich Histori von der Bewrischen vffrur [...] s. l., s. a. [ca. 1527]. ND mit Nachwort von Günter Scholz, Remseck 1990. − Berns* N° 31. [Arndt, Johann:] IKONOGRAPHIA. Gründtlicher vnd Christlicher Bericht / Von Bildern / jhrem vhrsprung / rechtem gebrauch vnd mißbrauch / im alten vnd newen Testament: Ob der mißbrauch die Bilder gar auffhebe: Was dieselbe für ein gezeugnuß in der Natur haben / in Geistlichen vnd Weltlichen Sachen: Von der Ceremonia oder Zeichen des Creutzes: Auch von der eusserlichen Reverentz vnd Ehrerbietung gegen dem hochgelobten Namen Jesu Christi / vnsers einigen Erlösers vnd Ehren-Königes. Durch Iohannem Arndten / Pfarrern der Kirchen S. Nicolaj zu Quedelburgk beschrieben. Liß mich recht / Denn prüff mich recht. Halberstadt: bey Georg Koten o. J. [1597?] Bachmann, Paulus: Von Ceremonien der Kirchen / das ist / Von eusserlichem dienste Gottes / oder von Leyplicher vbunge Göttlicher Ampter. [...]. Leipzig: Nicolaus Wolrab 1537. Berns, Jörg Jochen (Hrsg.): Von Strittigkeit der Bilder. Texte des deutschen Bildstreit im 16. Jahrhundert, 2 Bde. Berlin: De Gruyter 2014 (Frühe Neuzeit, 184). Berthold [Pürstinger] von Chiemsee: Theologia Teutsch. München: Schobser 1528. [Beza, Theodor:] Theodoris Bezae Gründlicher Gegenbericht / Auff die zu Tübingen außgangene Schrifften / des Mümpelgartischen Gesprächs halben, welches im 1586. Jahr zwischen den Hochgelehrten, D. Iacobo Andreae / Probst und Cantzlern der Hohen Schul zu Tübingen /| vnd D. Theodoro Beza / Professorn vnd Pastorn der Kirchen zu Genff / gehalten worden. Auß dem Latein in rechtschaffen Teutsch / mit sonderem vleisse trewlich gebracht. Allen / so der Kirchen Fried und Ruhe von hertzen lieben vnd begeren / daneben an Listverschlagenen Calumnien kein gefallen tragen / zu lieb / vnd rettunge der Warheit / in truck verfertiget. Basel: Conrad Waldkirch 1588. [Bodenstein von Karlstadt, Andreas:] Von abtuhung der Bylder/ Vnd das keyn Betdler vnther den Christen seyn soll. Carolstatt. in der Christlichen statt Wittenberg. Wittenberg 1522. ND Nürnberg 1979.
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Braun, Conrad: De Imaginibus. Mainz 1548. Bucer, Martin: Grund vnd vrsach auß gotlicherschriftt d‹ neüwerungen / an dem nachtmal des herren / so man die Mess nennet / Tauff / Feyrtagen / bildern vnd gesang / in der gemein Christi [...]. Straßburg: Köpfel 1524. ders.: Das einigerlei Bild bei den Gotgläubigen (1530), bearb. von W. Neuser. In: Martin Bucers deutsche Schriften. Hrsg. von Robert Stupperich, Bd. 4: Zur auswärtigen Wirksamkeit 1528–1533. Gütersloh 1975 (Martini Buceri opera omnia, Series I, Deutsche Schriften, Bd.4), S. 161–184. ders.: Kurtze schrifftliche erklärung für die kinder und angohnden [= Katechismus 1534]. Bearb. von Marijn de Kroon und Hartmut Rudolph. In: Martin Bucers Katechismen aus den Jahren 1534, 1537, 1543. Hrsg. von Robert. Stupperich (Martini Buceri opera omnia. Ser. I: Deutsche Schriften, Bd. 6, 3), Gütersloh 1987, S. 51–174. [Bullinger, Heinrich] DE ORIGINE ERRORIS LIBRI DVO, HEINRYCHI BVLLINGERI. IN priore agitur de Dei ueri iusta inuocatione & cultu uero, de Deorum item falsorum religionibus & simulacrorum cultu erroneo. In posteriore disseritur de Institutione & ui sacrae Coenae domini, & de origine ac progressu Missae Papisticae, contra uarias superstitiones pro religione uera antiqua & orthodoxa. IESVS. Hic est filius meus dilectus in quo placata est anima mea, ipsum audiit. [Druckermarke] TIGVRI IN OFFICINA FROSCHOVIANA MENSE MARTIO ANNO M. D. XXXIX. [Bullinger, Heinrich / übers. v. Philipp Mertzig:] DE ORIGINE ERRORIS ET DE CONCILIIS. Das ist: Vom Vrsprunng / Aufkommung vnd Fürgang aller Jrrthumben / so je bey den Heiden / Juden vnnd Christen gewesen / vnd noch sind. Deßgleichen von den Concilijs / mit was grossem nutz vnd frieden die heiligen Apostel Jesu Christi / das jre zu Jerusalem / auch mit was grossem schaden vnd verwirrung der Gläubigen / die Papisten jre Concilia nun vber die fünffhundert Jar lang gehalten haben / auß den warhafftigen Historien eine gegründte zusammen gezogene Erklärung / Erstlich durch den || Ehrwürdigen vnd Hochgelehrten Herren Heinrich Bullinger in Latein beschrieben / jetzo aber dem gemeinen / der Warheit begirigem Mann zu gutem getrewlich in hoch Teutsch versetzt / Durch Philips Mertzig Pfarrhern zu Heidelßheim. [Folgen drei Motti:] Tertullianus. Weder lange zeit / noch ansehen der Personen / noch Landesgebrauch / noch etwas anders kan der Warheit jhr recht nemmen. Augustinus. Der hat sich selber gar zu uerkerter weise lieb / der da wil / daß auch andere sollen jrren / damit sein Jrrthumb verborgen bleibt. Matth. 17. Das ist mein lieber Son / an welchem ich ein wolgefallen habe / den solt jhr hören / etc. Heidelberg [Johannes Mayer]. M. D. LXXIIII. [Butzbach, Johannes:] Libellus de praeclaris picturae professoribus / Büchlein von den berühmtesten Meistern der Malerei [1505]. − In: Berns* N° 2, S. 23–56 [Calvin, Johannes:] Christianae religionis institutio totam fere pietatis summam et quicquid est in doctrina salutis cognitu necessarium complectens. Basel 1536. − ders. [anon. deutsche Übers.]: Summa DEr wahren Christlichen Religion / die man nu viel Jar her im Königreich Franckreich mit Schwert vnd Fewr / auch endtlicher verjagung / vnder dem Namen der Lutherischen Lehr jämmerlich verfolget hat / welche der Teuffel nun mehr Calvinisch nennet. Auß den vier Büchern der Institution Herrn Johann Caluini mit seinen eignen Worten gezogen. Sampt der Vorrede deß authoris an den Großmechtigen König in Franckreich / Franciscum den ersten. Auß Frantzösischer vnd Lateinischer Sprach trewlich verteutscht [Druckermarke] Gedruckt zu
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Herborn in der Graffschafft Nassaw / Catzenelnbogen / etc. durch Christoff Raben. M. D. LXXXVI. [Capito, Wolfgang / Desiderius Erasmus:] Von der kirchen lieblichen vereinigung, und von hinlegung diser zeit haltender spaltung in der glauben leer, geschriben durch den hochgelerten und witberiempten herren Des. Eras. von Roterdam. [...] Von befridung der kirchen [...] Doctor Wolfgang Capito. Getruckt in der loblichen stat Straßburg durch Mathiam Apiarium, im 1533. jar. Carranza, Bartholomaeo: Summa Conciliorum et pontificum a Petro usque ad Julium tertium. Paris 1552. [Chemnitz, Martin / übers. v. Georg Nigrinus:] Examen, das ist, Erörterung Deß Trientischen Concilii, Durch [...] Martinum Chemnicium, im Latein beschrieben, und in vier Theil verfaßt [...] Auß dem Latein auffs treulichste verteutschet, durch Georgium Nigrinum, Pfarrherrn zu Giessen [...]. Frankfurt/M.: Siegmund Feuerabend, 1576. Cochlaeus, Johannes: Von altem gebrauch des Betens in Christicher Kirche. Ingolstadt 1544. − Berns* N°47. Concilium Tridentinum. Diariorum, Actorum, Epistularum, Tractatuum Nova Collectio, hrsg. von der Görresgesellschaft, 13 Bde. Freiburg i.Br. 1901–2001. [Zur Bilderfrage Bd. XIII / 2, hrsg. von Klaus Ganzer, Freiburg i. Br. 2001]. [Auch Digitalisat unter Documenta Catholica Omnia] Crabbe, Petrus: Concilia omnia, tam generalia, quam particularia, ab apostolorum temporibus in hunc usque diem. 4 Bde. Köln: Quentell, 1538. [Cramer/Klemm:] Bibliothek der Kunstliteratur, Bd. 1: Renaissance und Barock. Hrsg. von Thomas Cramer und Christian Klemm. Frankfurt/M. 1995 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 126). Delrio, Martino: Disquisitionum Magicarum Libri Sex. 2. Aufl. Mainz 1617. Dietenberger, Johannes: Wie man die Heiligen ehren soll. Straßburg: Johann Grüninger 1524. − Berns* N° 29. ders.: Fragstuck an alle Christglaubigen [...] An die Löbliche Stadt Franckfurtt an dem Meyn. M. D. XXJX. − Köhler*, H.-J. Fiche 1027/ Nr. 2588. − Berns* N° 30. Dürer (1966) DÜRER SCHRIFTLICHER NACHLASS. Hrsg. von Hans Rupprich, 3 Bde. Berlin 1966. Dürer (2000) Albrecht Dürer: Das Gesamtwerk. Hrsg. von Mark Lehmstedt.(Digitale Bibliothek, Bd. 28) 2. Ausgabe Berlin 2000. Durandus, Guillelmus: Rationale divinorum officiorum. Basel: Michael Wenssler, 1476. ders.: Guillelmi Duranti Rationale Divinorum Officiorum I-IV. (Corpus Christianorum, Continuatio medievalis, 140) Hrsg. von Anselme Davril u. Timothy Thibodeau. Turnhout 1995. Eberlin von Günzburg, Johann: Warumb man Herr Erasmus von Roterodam in Teütsche sprach transferiert. Warumb doctor Luther vnd herr Vlrich vin Hutten teütsche schriben. Wie nutz vnd not es sy das sollich ding dem gemeinen man für kom. Der VIII. bundts gnoß. In: Johann Eberlin von Günzburg, Ausgewählte Schriften, Bd. I. Hrsg. von Ludwig Enders. Halle 1896, S. 79–88. [17] Eck, Johannes: ENCHIRIDION. Handbüch||linn gemayner stell vnd Artickel / der yetz schwebenden neuwen leeren. [..] M.D.XXX. [VD 16 E 357; Digitalisat] − Berns* N° 42.
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[Emser, Hieronymus:] Emsers vor||antwurtung, auff das ketzerische buch Andres Carolstats von abthueung der bilder [...] Leipzig: Martin Landsberg 1522. − Köhler* Fiche Nr. 2912. − Berns* N° 7. Erasmus von Rotterdam, Desiderius: [übers. v. Johannes Adelphus] Enchiridion oder handbüchlin eins Christenlichen und Ritterlichen lebens, in latin beschriben durch Doctor Erasmum von Roterdam. Und newlich durch Joannem Adelphum doctor und statartzet zu Schaffhusen vertütschet. Basel: Adam Petri, 1520. − Berns* N° 35a. ders.: Ein schön buch Wie man Gott bitten / loben vnd dancken soll / gemacht zu Latin durch den hochgelarten doctor Erasmum von Roterodam / nüwlich / so vil müglich was zu gemeinem nutz vertütschet. Basel: Froben, 1525. − Berns* N° 35b. ders.: Explanatio Symboli Apostolorum, in: Desiderii Erasmi Roterodami Opera Omnia […] Tom. V, Lugduni Batavorum: Petrus van der Aa, MDCIV. − Berns* N° 35c. ders.: Von der kirchen lieblichen vereinigung, und von hinlegung diser zeit haltender spaltung in der glauben leer, geschriben durch den hochgelerten und witberiempten herren Des. Eras. von Roterdam. [...] Von befridung der kirchen an den hochwürdigsten etc. Ertzbischof und Churfürsten zu Mentz und Magedenburg etc. Doctor Wolfgang Capito. – Getruckt in der loblichen stat Straßburg durch Mathiam Apiarium, im 1533. jar. − Berns* N° 35d. [Fischart, Johann:] Neue Künstliche Figuren Biblischer Historien / grüntlich von Tobias Stimmer gerissen: Vnd zu Gotsförchtiger ergetzung andächtiger hertzen / mit artigen Reimen begriffen / durch J. F. G. M. Zu Basel bei Thoma Gwarin. Anno. MD.LXXVI. [Franck, Sebastian:] Chronica, Zeytbuch vnd geschychtbibel von anbegyn biß inn diß gegenwertig A. D. xxxj. jar. [...] Anno M. D. XXXI. [Straßburg: Balthasar Beck, 1531] − Berns* N° 44. ders.: PAradoxa Ducenta octoginta / Das ist / CC.LXXX. Wunderred / vnd gleichsam Rhäterschafft / auß der H. Schrifft [...]. Ulm s. a. [ca. 1534]. − Berns* N° 45. Gebwiler, Hieronymus: Beschirmung des lobs vnd eren der hochgelobten hymelische künigin Ma||rie / aller heiligen gottes / auch der wolangesetzten ordnungn der Christlichen kirchen wider die freuenlichen heiligenschmeher die da sprechen / Maria sei nit ein muter gottes / Maria sei ein frauw wie ein and‹ fraw / vnd hab nicht für vnß armen sünder zubitten. etc. − Straßburg: Grüninger, o. J. [1523?]. [Gedik, Simon:] Von Bildern vnd Altarn / Jn den Euangelischen Kirchen Augspurgischer Confession. WOlgegründterBe richt / sampt kurtzer Wiederlegung des newlich außgegangenen Zerbestischen Buchs / menniglich in diesen letzten gefehrlichen leufften / wieder die Caluinische Newrung der Bilder vnd Altarstürmer / zu wissen sehr nützlich vnd nötig. Gestellt durch SIMONEM GEDICCVM der heiligen Schrifft Doctorn / vnd Fürstlichen Magdeburgischen Hoffprediger / etc. [Holzschnittvignette mit Motto.] Begnadet mit Chur vnd Fürstlichen Priuilegien / etc. Zu Magdeburgk bey Johan Francken / Anno 1597. [Geiler von Kaysersberg, Johannes:] Wie man sich halten sol by eym sterbenden menschen. 1480/81, In: Geiler von Kaysersberg, Johannes: Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Bauer, I. Teil, Die deutschen Schriften, Erste Abteilung, Bde. I-III. Berlin, New York 1989–1991; hier: Bd. I, S. 1–13. − Berns* N° 3a. ders.: Ein ABC. Wie man sich schicken sol, zu einem kostlichen seligen tod. 1497, ed. Bauer, Bd. I, S. 97–110. − Berns* N° 3b. ders.: Dreieckecht-Spiegel. (Wohl vor 1500, Druck 1510). In: Dacheux, Léon: Un réformateur catholique a la fin du XVe siècle: Jean Geiler de Kaysersberg, prédi-
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cateur a la Cathedrale de Strasbourg 1478–1510. Etude sur sa vie et son temps. Paris, Strasbourg 1876, S.276f. − Berns* N° 3c. ders.: Evangelia mit uszlegung. (Wohl vor 1500, Druck 1517). In: Dacheux, S. 272f. − Berns* N° 3d. ders.: [Seelenparadies:] Dis schön buch genant der seelen Paradiß, von waren und volkummen tugenden sagend. 1503, ed. Bauer, Bd. III, S. 1–871. − Berns* N° 3e. ders.: [Der Berg des Schauens [1488], Ausgabe 1508:] Von dem berg des schauwens, Wie ain mensch kommen mög zu volkomner liebe gotes, Nach der mainung des christenlichen leerers Johannes von Gerson, etwan Cantzler zu Pariß Geprediget durch den hochgeleerten herren, herr Johannes Gayler von Kaisersperg, Doctor der hailigen geschrifft, prediger in unser frauwen münster tzu dem hohen styft der stat Stroßburg, doch mit andern worten, und etwann zuglegten außlegungen […] Und diese materi, hat der obgenant würdig hochgeleert herr doctor gepredigt zu Augspurg, in unser frawen Stifft, nach Christi unsers herren geburt, Tausent, vierhundert und achtundachtzig jar. 1508, ed. Bauer, Bd. II, S. 1ff. − Berns* N° 3f. [Goldast, Melchior, von Haiminsfeld:] Imperia Decreta De Cultu Imaginum in utroque Imperio Tam Orientis Quam Occidentis, Nunc primum collecta, recensita & Notis illustrata a Melchiore Haiminsfeldio Goldast, &c. Frankfurt a. M.: de Bry, 1608. Gregorius Magnus: Epistolarum Libri, ed. Migne PL 77: [Drei Briefe zur Bilderfrage:] Lib. IX, Epistola LII (an Secundinus); Lib. IX, Epistola CV (an Serenus): Lib. XI, Epistola XIII (an Serenus). − Berns* N° [60]. Gretser, Jacob: Syntagma de imaginibus non manufactis seu a S. Luca pictis. Paris 1625. [Guarinonius, Hippolytus:] Die Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts. In sieben vnterschiedliche Bücher vnd vnmeidenliche Hauptstucken / sampt einem lustigen Vortrab / abgetheilt. Neben vor- mit- vnd nachgehenden / so wol Natürlichen / als Christlich- vnd Politischen / darwider streitbaren Mittlen. Allen / so wol Geist- als Weltlichen / Gelehrt- vnd Vngelehrten / hoch vnd nidern StandsPersonen / überauß nutz vnd sehr notwendig / wie auch gar kurtzweilig zu lesen. Zu sondern Nutz / Glück / Heil / Wolfahrt / langen Gesondt / Zeitlich- vnd ewigen Leben / gantz Hochlöblicher Teutscher Nation / newlich ist gestellt Durch Hippolytum Guarinonium, Art. & Med. Doctorem, deß Königlichen Stiffts Hall im Ynthal / vnd daselbst F. F. Durchl. Durchl. Ertzhertzoginen zu Oesterreich / etc. Steyr / Cärnten / etc. Leib / vnd gemainer Statt beställten Physicum. MATTHAEI XXIIII. Wann jr den Grewel der Verwüstung sehen werdet / etc. Ingolstatt / Mit Röm. Key. Mayt. Freyheit / Getruckt bey Andreas Angermayr / im 1610. Jar. − Auszüge: Berns* N° 58. Reprint der Ingolstädter Ausgabe: Hrsg. von Elmar Locher im Auftrag der Südtiroler Autorenvereinigung und der Dokumentationsstelle für Neuere Südtiroler Literatur. Gefördert durch die Kulturabt. der Autonomen Provinz Bozen. 2 Bde. Bozen: edition sturzflüge 1993, 1994. [Hätzer, Ludwig:] Ein vrteil gottes vnsers eegemahels / wie man sich mit allen götzen vnd bildnussen halten sol / vß der heiligen gschrifft gezogen durch Ludwig Hätzer. Zürich: Christoph Froschauer, 1523. − Berns* N° 17. [ders.:] Acta oder geschicht wie es vff dem gesprech d‹ 26. 27. vnnd 28. tagen Wynmonadts / in der Christenlichen Statt Zürich / vor eim Ersamen gseßnen grossen vnd kleinen Radt / och in bysin mer dann 500. priesteren / vnd vil anderer biderber lüten / ergangen ist: Anbetreffend die götzen vnd die Meß. Anno M.D.XXIII. jar. || O Got erlöß doe gfangnen.||/ Getruckt in der Christenlichen statt Zürich / durch Christophorum Froschouer. − Berns* N° 18. Herold, Johannes: Heydenwelt Vnd irer Götter anfängcklicher vrsprung. Basel: Heinrich Petri, 1554.
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[Hugo von Hohenlandenberg:] Christenliche vnderrichtung des Hochwirdigen Fürsten vnd Herren / herren Hugo Bischoffen zu Costantz / die Bildtnüssen vnd das Opffer der Messz betreffend / Burgermeister vnd Rhat zu Zürch vff den ersten tag Junij diß vierundtzweintzigsten jars vbersendt. Straßburg 1524. Index Auctorum, et Librorum, qui ab Officio Sanctae Rom. et Vniversalis Inquisitionis caueri ab omnibus et singulis in universa Christiana Republica mandantur [...]. Romae 1559. Köhler, Hans-Joachim (Hrsg.): Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts. (1501– 1531). Leiden 1987. [1956 Microfiches] Köhler, Hans-Joachim (Hrsg.): Flugschriften des späteren 16. Jahrhunderts. Leiden 1990–2013. [Bisher in 23 Microfiche-Serien] Laube, Adolf (Hrsg.) Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Berlin 1997. Laube, Adolf (Hrsg.) Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), 2 Bde. Berlin 2000. [Libri Carolini] Opus Caroli Regis Contra Synodum. Hrsg. von Ann Freeman, u. Mitwirkung von Paul Meyvaert. Hannover 1998 (MGH Concilia, Tom. II, Suppl. I). [Luther, Martin:] D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. [= WA] 79 Bde., Weimar 1883–1929. ders.: Luthers Werke in Auswahl. 8 Bde. hrsg. von Otto Clemen. Bonn 1925–1930. ders.: Predigten des Jahres 1522: Dritte und vierte Predigt, 11./12. März 1522. In: WA 10, III (1905), S. 21–37. − Berns* N° 9. ders.: Tischreden Oder COLLOQVIA DOCT. Mart. Luthers / So er in vielen Jaren / gegen gelarten Leuten / auch frembden Gesten / vnd seinen Tischgesellen gefüret [...]. Ed. Johannes Aurifaber. Eisleben: Urban Gaubisch 1566. [ND 1981] ders.: Römerbrief-Vorlesung (1515/16). In: WA 56, S. 493f. − Berns* N° 8. ders.: Deutung des munchkalbs Zu Freyberg. In: WA 11, S. 380–385. − Berns* N° 11. ders.: Predigten über die zehn Gebote (1525). In: WA 16, S. 421–445. − Berns* N° 14. ders.: Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament. WA 18, S. 62–213. − Berns* N° 15. Molanus, Johannes: De picturis et imaginibus sacris. Löwen 1570. ND Paris 1996. [Murner, Thomas:] Thomas Murner. Deutsche Schriften mit den Holzschnitten der Erstdrucke, 9 Bde. Hrsg. von Franz Schultz; Berlin, Leipzig 1918–1931. Paleotti, Gabriele: De sacris et profanis imaginibus. Ingolstadt 1594. [EA 1582] [Paracelsus i.e. Philippus Theophrastus Bombast von Hohenheim:] LIBER DE SVPERSTITIONIBVS ET CEREMONIIS. THEOPHRASTVS. In: Neundter Theil Der Bücher vnd Schrifften des Edlen / Hochgelehrten vnd Bewehrten PHILOSOPHI vnd MEDICI, PHILIPPI THEOPHRASTI Bombast von Hohenheim / PARACELSI genannt: Jetzt auffs new auß den Originalien [...] an tag geben: Durch IOHANNEM HVSERVM BRISGOICVM [...]. Basel: Conrad Waldkirch, 1590, S. 225–240. [Plinius:] C. Plinii Secundi Naturalis Historia Libri XXXVII. [lat. – dt.]. Hrsg. u. übers. von Roderich König u. a., 37 Bde. Zürich 1990–2004. Prudentius Clemens, Aurelius: Opera. Ed. Theodor Pulmannus et Victor Giselinus. Antwerpen: Plantin, 1564. Quad von Kinckelbach, Matthias: Teutscher Nation Herligkeit. Ein außfuhrliche beschreibung des gegenwertigen / alten / vnd vhralten Standts Germaniae [...] Gedruckt zu Cöln am Rhein. In verlegung Wilhelm Lutzenkirchen. Im Jahr M.DC.IX. − Cramer / Klemm*, S. 336–348. − Berns* N° 57.
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[RPO] Weber, Matthias: Die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Historische Einführung und Edition. (IUS COMMUNE, Sonderheft 146) Frankfurt/M. 2002. Sandrart, Joachim von: Teutsche Academie der Bau- Bild- und Mahlerey-Künste, 3 Bde. Nürnberg 1675–1680. Schedel, Hartmann: buoch der Cronicken vnd gedechtnus wirdigen geschihten von anbegynn der werlt bis auf diese vnsere zeit. Nürnberg: A. Koberger u. a., 1493 [ND München 1965]. [Schottelius:] Justus Georg Schottelius: ETHICA Die Sittenkunst oder Wollebenskunst. Wolffenbüttel: Paul Weiß, 1669. [ND hrsg. von Jörg Jochen Berns. Bern, München 1980.] [Schwenckfeld von Ossig, Caspar:] Lehrhafte Missiven oder Sendbrieff, die er in zeit seines Lebens, vom XXV. Jare an biß auff das LV. [...] geschrieben. o.O. [Frankfurt/M. ?] 1566. − Berns* N° 50. Sehling, Emil u.a. (Hrsg.): Evangelische Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Leipzig 1902ff. [bisher 22 Bde.] Vogtherr, Heinrich: Ein Frembdes vnd wunderbarliches Kunstbüchlin / allen Molern / Bildschnitzern / Goldtschmiden / Steynmetzen / Waffen / vnd Messerschmiden hochnützlich zugebrauchen / Dergleichen vor nie keines gesehen / oder in den Truck kommen ist. Straßburg: Christian Müller, 1572. [EA Straßburg 1538] [BSB München, digit.] [Wormser Edikt] Der Römischen kaiserlichen Maiestat Edict wider Martin Luthers Bücher vnd Leere seiner anhenger Enthalter vnd nachfolger / vnd etlich ander schmeliche schriften. Auch gesatz der Truckerey. o. O. u. J. [Worms 1521]. [Zwingli, Ulrich:] Huldreich Zwinglis Sämtliche Werke. Hrsg. von Emil Egli u. a., 12 Bde. Berlin, Leipzig, Zürich 1905–1991.
2. Philosophie und Recht
Anita Traninger
Libertas philosophandi Libertas philosophandi wird entsprechend der Verwendung des Begriffs bei Spinoza und in deistischen Schriften des frühen 18. Jahrhunderts gemeinhin als eine Wendung gegen blinde Autoritätsgläubigkeit und eine Propagierung des ›Selbstdenkens‹ aufgefasst, wie es in der Aufklärung heißen würde, in der Regel im Zusammenhang mit einem religionskritischen Gestus. Der Begriff der libertas scholastica ist dagegen als Sammelbegriff für die korporativen Privilegien der alteuropäischen Universität identifiziert worden, die schlechterdings nichts mit der späteren libertas philosophandi zu tun hätten. In diesem Beitrag wird es darum gehen, die historische Verbindung zwischen den beiden Begriffen zu erweisen. Ausgangspunkt dafür ist der Befund, dass die Universitäten mit Blick auf ihre eigentliche wissenschaftliche Tätigkeit pragmatische Vorkehrungen trafen, die, auch wenn sie lange nicht auf den Begriff gebracht wurden, eine Redeund Argumentationsfreiheit innerhalb institutionell gezogener Grenzen ermöglichten.1 Es wird zu erweisen sein, dass Verwendungen des Begriffs libertas philosophandi vor Spinoza, insbesondere im Zusammenhang mit Autoren, die sich in eine ›Vorgeschichte‹ anti-autoritären Denkens vorzüglich einreihen lassen – Giordano Bruno und Tommaso Campanella sind die in der Forschungsliteratur benannten Beispiele –, präzise darauf Bezug nehmen. Frühneuzeitliche Verwendungen stehen durchweg in engem Zusammenhang mit den institutionellen Praktiken und Privilegien der Universitäten bzw. beziehen sich sogar konkret darauf. Ich werde auch zeigen, wie die frühe Rezeption der spinozistischen libertas philosophandi präzise
1
Die Betonung dieser Grenzen ist mir wichtig angesichts dessen, dass die Debatten um libertas philosophandi als »a tradition of philosophical anti-authoritarianism« gefasst wurden, wodurch die institutionelle Grundlegung dieser Freiheitsansprüche aus dem Blick gerät, vgl. dazu Maclean, Ian: The ›Sceptical Crisis‹ Reconsidered: Galen, Rational Medicine and the Libertas Philosophandi. In: Early Science and Medicine 11 (2006), No. 3, S. 247–274, das Zitat 247. Maclean fasst Wendungen wie ›libertas philosophandi‹, ›libere philosophare‹ oder ›philosophice loqui‹ als Instanzen einer Tradition kritischen Denkens auf, die er Richard Popkins These von der ›skeptischen Krise‹ entgegensetzt.
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auf die Anliegen und Normen einer universitären libertas philosophandi rekurrierte. Wer in der frühen Neuzeit libertas philosophandi für sich in Anspruch nimmt – und in der Regel handelt es sich um Appelle, dass libertas philosophandi gewährt werden müsse –, meint damit nicht die Denkfreiheit der Aufkärung. ›Libertas philosophandi‹ ist vor Spinoza kein Synonym für uneingeschränkte Autoritätenkritik und Meinungsfreiheit. Freiheit meint in der frühneuzeitlichen Auffassung der libertas philosophandi nicht Autonomie des Verstandes, sondern nach wie vor wesentlich ein korporatives Privileg. Es geht auch nicht um Denkfreiheit im Sinn einer Gedankenfreiheit, sondern um die Zulässigkeit von Äußerungen. In der frühen Neuzeit besteht Konsens darüber, dass nicht jeder zu jeder Zeit und vor jedem Publikum alles sagen darf. ›Libertas philosophandi‹ bezieht sich daher vor dem Ende des 17. Jahrhunderts auf einen genau abgezirkelten Bereich der Permission, der freilich, so legen es die nicht abreißenden Appelle und Debatten nahe, niemals vollkommen außer Streit stand. Diese Geschichte ist daher, wie zu erweisen sein wird, nicht zu erzählen als eine Abfolge von revolutionären Positionsnahmen und als Kampf mutiger Individuen gegen übermächtige Autoritäten. Vielmehr soll der Versuch unternommen werden, die Forderungen nach Denkfreiheit – im Sinn einer Freiheit der Äußerung – auch aus der Perspektive jener zu betrachten, die sie gewähren sollten. Es ist daher aus einer institutionengeschichtlichen Perspektive danach zu fragen, welche Denk- und Redefreiheiten wem zugestanden wurden, um Vorkommen der Wendung ›libertas philosophandi‹ nicht anachronistisch am Kampfbegriff Spinozas oder der Verfassungsformel der Wissenschaftsfreiheit aus dem 19. Jahrhundert zu messen, sondern mit Blick auf zeitgenössische Kontexte zu prüfen, was jeweils gemeint gewesen sein könnte.2
1. libertas scholastica Als im Hochmittelalter begonnen wurde, die Freiheitsrechte der Gemeinschaften von Scholaren zu definieren, die sich vor allem in Italien und Frankreich gebildet hatten, war die Freiheit der intellektuellen Tätigkeit
2
Das ist nichts anderes als Quentin Skinners Programm einer intellectual history, erstmals formuliert in Skinner, Quentin: Meaning and Understanding in the History of Ideas. In: History and Theory 8 (1969), S. 3–53. Vieles von dem, was gerade über ›libertas philosophandi‹ geschrieben, mehr aber noch in Nebenbemerkungen präsupponiert wurde, ist nachgerade ein Musterfall jener teleologisch perspektivierten Ideengeschichte, die Quentin Skinner so gründlich verabschieden wollte.
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kein vordringliches Anliegen. Als frei begriff sich zunächst die jeweilige Einung von Gelehrten zu einer universitas scholarum in ihrem Recht des freien Zusammenschlusses, der Selbstregulierung durch Satzung und Ein- und Ausschlussregelungen sowie in der Wahl ihrer Vertreter nach außen.3 Die Dignität der geistigen Tätigkeit reflektierte die Fassung der artes liberales als ›eines Freien würdig‹. Als Grundlagenfächer verschafften die artes liberales, wie Johannes von Salisbury im Metalogicon formulierte, darüber hinaus »dem Menschen die libertas […], sorgenfrei der Weisheit zu leben, […] so daß die Tätigkeit des Geistes hindernisloser den Aufstieg zur Philosophie beschreiten kann.«4 Die Authentica »Habita«, durch Friedrich Barbarossa 1158 gegeben, hielt von den Rechtsschulen in Bologna erbetene Privilegien fest, darunter Schutz und Sicherheit auf dem Weg zum und während des Aufenthalts am Studienort, das Verbot der Haftung für von Landsmännern gemachte Schulden und Vergehen sowie einen eigenen Gerichtsstand der Scholaren.5 Als die Pariser Scholaren 1229 im Gefolge von tätlichen Auseinandersetzungen aus der Stadt auszogen, pries ihnen Johannes von Garlandia die libertas scholastica an, die die von Papst Gregor IX. neu gegründete Universität von Toulouse gewährte – die Selbstverständlichkeit des Gebrauchs der Wendung weist auf ihre bereits etablierte Kurrenz hin. Zwar reiht Johannes unter die Vorzüge von Toulouse auch, dass dort die in Paris verbotenen Teile des Aristoteles gelesen werden dürften, doch ist dies eine spezifische Lizenz, die am Rande dessen steht, was der anzuwerbenden Gelehrtengemeinschaft angetragen wurde: Es handelt sich bei der libertas scholastica, die hier erstmals in dieser Form erwähnt wird, um »die Summe der ständischen Privilegien und Rechte […], die den Magistern und Scholaren als einzelnen wie der Gesamtheit ihrer Ge-
3 4
5
Schwinges, Rainer Christoph: Libertas scholastica im Mittelalter. In: Wissenschaftsfreiheit in Vergangenheit und Gegenwart. Hrsg. von Rainer A. Müller und Rainer Christoph Schwinges. Basel 2008, S. 1–16, hier 4–6. Zitiert in Boehm, Laetitia: Libertas scholastica und negotium scholare. Entstehung und Sozialprestige des akademischen Standes im Mittelalter. In: Universität und Gelehrtenstand 1400–1800. Büdinger Vorträge 1966. Hrsg. von Helmut Rössler und Günther Franz. Limburg/Lahn 1970, S. 15–61, hier 22, lat. Orig. 53, Anm. 18. Stelzer, Winfried: Zum Scholarenprivileg Friedrich Barbarossas (Authentica »Habita«). In: Deutsches Archiv für die Erforschung des Mittelalters 34 (1978), S. 121–165; Kibre, Pearl: Scholarly Privileges: Their Roman Origins and Medieval Expression. In: The American Historical Review 59 (1954), No. 3, S. 543–567, hier 549ff.; Classen, Peter: Libertas scolastica – Scholarenprivilegien – Akademische Freiheit im Mittelalter. In: ders.: Studium und Gesellschaft im Mittelalter. Hrsg. von Johannes Fried. Stuttgart 1983, S. 238–284, hier 248f. Zu den kirchlichen und kaiserlichen Machtinteressen, die die Gewährung der Privilegien jeweils motivierten Boehm: Libertas scholastica, in: Universität und Gelehrtenstand (1970), 43.
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nossenschaft zukommen.«6 Bereits zwischen 1217 und 1224 hatte Papst Honorius III. eine Reihe von Bullen zugunsten der Scholaren von Bologna erlassen, die deren ständische Privilegien unter dem Schlagwort der ›libertas scholarium‹ festschrieben.7 Die Gründungsbulle der Universität formulierte schließlich erstmals ein weiteres Freiheitsrecht, nämlich das einer licentia ubique docendi, das 1291/92 auch für Paris und Bologna bestätigt wurde. Die Frage der Reichweite dieser Privilegien stellte sich durchaus,8 doch wenn sie überhaupt spezifisch auf Fragen des Studiums gewendet wurden, dann wurden sie primär in einen Anspruch auf Nichtbehinderung der geistigen Tätigkeit umgemünzt, wie z.B. die Freiheit von die Konzentration störendem Lärm.9 In diesen frühen Regularien findet sich mithin keine Reflexion auf das, was auch nur im Entferntesten unter ›Wissenschaftsfreiheit‹ im modernen Sinn fallen könnte, also die Freiheit der Lehre oder das Recht der wissenschaftlichen Beschäftigung mit selbst gewählten Themen.10 Dennoch ist die langfristige Bedeutung der im 13. Jahrhundert eingeräumten Privilegien nicht zuletzt mit Blick auf die weitere Geschichte der libertas philosophandi selbst kaum zu überschätzen: Die rechtliche Stabilisierung transformierte die »stets gefährdete Minorität« der Magister und Scholaren in eine »privilegierte Gruppe mit hohem Anspruch«11 und stattete sie mit einer weitreichenden Immunität aus,12 die sie bis in die Aufklärung hinein zum mächtigen Akteur im Aushandlungsprozess über das Denk- und Sagbare machte. Es stimmt, dass diese korporativen Privilegien nichts oder nur entfernt mit modernen Auffassungen von Wissenschaftsfreiheit zu tun haben und dass das Ziehen einer Linie von der libertas scholastica zur libertas philoso-
6 Classen: Libertas scolastica (1983), 241–245. 7 Classen: Libertas scolastica (1983), 242f. Die Dokumente im Wortlaut in Rashdall, Hastings: The Universities of Europe in the Middle Ages. Hrsg. von F. M. Powicke und A. B. Emden, 3 Bde. Oxford 1936, Bd. 1, Appendix I, S. 585–588. 8 In der, so Classen: Libertas scolastica (1983), 246ff., ältesten und umfassendsten Darstellung der Rechte von Scholaren (Rebuffi, Pierre: De scholasticorum, bibliopolarum atque ceterorum universitatum omnium ministrorum iuartorumque privilegiis. Paris 1540, weitere Ausgaben mit variierenden Titeln) werden Privilegien wie die Feiertagsarbeit, die Nutzung von Kirchenräumen für die gelehrte Tätigkeit, Vorrechte im Mietrecht und in der Lebensmittelversorgung ebenso wie Ansprüche im Pfründen- und Prozessrecht genannt. 9 Kibre: Scholarly Privileges (1954), 560, zit. Bartolus; auch Classen: Libertas scolastica (1983), 247. 10 Denley, Peter: ›Medieval‹, ›Renaissance‹, ›Modern‹. Issues of Periodization in Italian University History. In: Renaissance Studies 27 (2013), No. 4, S. 487–503, hier 493; Kibre: Scholarly Privileges (1954), 566. 11 Classen: Libertas scolastica (1983), 252. 12 Boehm: Libertas scholastica, in: Universität und Gelehrtenstand (1970), 44.
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phandi im Sinne Spinozas zur Wissenschaftsfreiheit der Paulskirchenverfassung von 1849 (§ 152. »Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.«) auf den ersten Blick eine »Scheinkontinuität« herstellt.13 Das ist das Fazit, das die Forschung zur mittelalterlichen Universitätsgeschichte als Korporationsgeschichte durchweg zieht mit der Implikation, dass in der Sache nichts hinzuzufügen sei. Dennoch kennt die mittelalterliche und frühneuzeitliche Universität über die korporativen Privilegien hinaus Freiheitsregularien, die allerdings begrifflich lange nicht mit dem semantischen Feld der ›Freiheit‹ oder ›libertas‹ verknüpft werden. Es sind dies pragmatische Entlastungen in der universitären Lehr- und Disputationspraxis, die auf eine strikte Unterscheidung von Innen und Außen und analog dazu gefassten Sprechakten gründen.14 Dies erhält bereits im 16. Jahrhundert und damit lange vor der Aufklärung die Bezeichnung ›libertas philosophandi‹, und es soll im Folgenden gezeigt werden, dass die libertas philosophandi des 16. Jahrhunderts ein mittelalterliches Konzept auf den Begriff bringt, das zwar im 17. Jahrhundert insbesondere von Spinoza radikal transformiert wird, wobei aber selbst dort noch die kommunikationspragmatischen Setzungen der alten Vorstellung nachwirken.15
2. Disputative sive philosophice loqui Es sollte sich zunächst von selbst verstehen, dass eine fundamenterschütternde Autoritätenkritik nicht das Ziel der Theologen an den mittelalterlichen Universitäten war:
13 Schwinges: Libertas scholastica (2008), 2. Ferner: Thijssen, J. M. M. Hans: Censure and Heresy at the University of Paris 1200–1400. Philadelphia 1998, 226; Classen: Libertas scolastica (1983), 255. 14 Die Unterscheidung von ›Innen‹ und ›Außen‹ verweist auf ein asymmetrisches Begriffspaar im Sinne Reinhart Kosellecks, das auf das Freiheitsgefälle zwischen der Institution Universität und ihrer (gelehrten) Umwelt abstellt. Gemeint sind die Mitglieder der Institution – im Gegensatz zu allen anderen. Dass es keinen Sammelbegriff für diese zweite Gruppe gibt, lässt sie vielleicht eher als einen unmarked space im Sinne Spencer Browns erscheinen. Vgl. Koselleck, Reinhart: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 2006, S. 211–259; Spencer Brown, George: Laws of Form / Gesetze der Form, übers. von Thomas Wolf. Lübeck 1997. 15 Etwas überzogen erscheint es mir dagegen, die mittelalterliche Universität als Ort der puren Denkfeiheit zu feiern, der gegenüber sogar die aufklärerische Idee der Wissenschaftsfreiheit eine Einschränkung bedeute, vgl. Hoye, William J.: Wurzeln der Wissenschaftsfreiheit an der mittelalterlichen Universität. In: Wissenschaftsfreiheit. Hrsg. von Hans-Georg Babke. Frankfurt/M. u. a. 2010, S. 19–47, hier 20.
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»In den theologischen ›magistri‹ der Schulen hatte man nicht hartnäckige Gegner einer Glaubenswahrheit vor sich, die sich, wie die gleichzeitigen Häupter der volkstümlichen sozialreligiösen Bewegungen, sektenbildend und damit die Kirche existenziell bedrohend betätigten, sondern Männer, die sich mit Hilfe der Wissenschaft ihrer Zeit, der spekulativen Grammatik und der eng mit ihr verwandten Dialektik, die überlieferten Aussagen der Kirchenlehre und der Väter wirklich zu eigen zu machen versuchten. Die von ihnen auf diesem Wege gefundenen Lösungen wollten sie zwar entschieden und, wenn es sein mußte, auch hart verteidigen, sie zeigten sich aber nicht bereit, in jedem einzelnen Fall ihre Erkenntnisse zu einer persönlichen Existenzfrage zu machen.«16
Gegenstand der Theologie waren die Offenbarung (als Maß aller Dinge) und die opiniones oder sententiae, die die Kirchenväter und die großen Lehrer des Mittelalters dazu vorgelegt hatten. Sie wurden der Kritik unterzogen, aber nicht mit dem Ziel der Negation, sondern dem der Integration, getragen von der Überzeugung, dass kritische Befragung zunächst divergent erscheinender Positionen diese harmonisieren würde. Zugleich war die Disputation in den Universitäten das Vehikel der Ergründung der theologischen Graubereiche, d. h. es standen grundsätzlich auch dogmatisch brenzlige Fragen zur Verhandlung.17 Angesichts der Reihe von Häresieprozessen, allen voran den Verurteilungen von Paris 1277,18 kann an der dogmatischen Ernsthaftigkeit des Systems und der radikalen Beschränkung des Spielraums für deviante Äußerungen kein Zweifel bestehen. Doch bestimmte sich eine Häresie nicht allein über den Inhalt einer Aussage. Die gängige Definition der Häresie (gr. hairesis, lat. electio), wie sie u. a. von Gratian (gest. vor 1160) oder Robert Grosseteste (ca. 1175–1253) formuliert wurde, ist die einer Meinung, die im Gegensatz zur Heiligen Schrift steht und die öffentlich vertreten und starrköpfig verteidigt wird.19 Der entscheidende Aspekt daran ist das öffentliche und 16 Miethke, Jürgen: Theologenprozesse in der ersten Phase ihrer institutionellen Ausbildung: Die Verfahren gegen Peter Abaelard und Gilbert von Poitiers. In: Viator 6 (1975), S. 87– 116, hier 114. 17 Larsen, Andrew E.: The School of Heretics: Academic Condemnation at the University of Oxford 1277–1409. Leiden 2011, 9. 18 McLaughlin, Mary Martin: Intellectual Freedom and its Limitations in the University of Paris in the Thirteenth and Fourteenth Centuries. New York 1977; Bianchi, Luca: Censure et liberté intellectuelle à l’université de Paris (XIIIe-XIVe siècles). Paris 1999; Thijssen: Censure and Heresy (1998). 19 Larsen: The School of Heretics (2011), 6f. Die Hartnäckigkeit betont auch Thomas von Aquin als ausschlaggebende Qualität, die zur Häresie führt: »Et circa haec opinari falsum, hoc ipso inducit haeresim, maxime si pertinacia adiungatur.« Summa theologica, Iª q. 32 a. 4. – Zudem musste jemand die Aussagen inkriminieren und entsprechende Untersuchungen in Gang setzen, zum konkreten Vorgehen vgl. Koch, Josef: Philosophische und theologische Irrtumslisten von 1270–1329. Ein Beitrag zur Entwicklung der theologischen Zensuren. In: ders.: Kleine Schriften, Bd. 2. Rom 1973, S. 423–450, bes. 445–448.
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hartnäckige Verteidigen, und genau mit Blick darauf sah die universitäre Debattenkultur einen Sicherungsmechanismus auf der Ebene der Redepragmatik vor: Es wurde zwischen assertive und disputative getätigten Aussagen unterschieden, also solchen, die als definitive Behauptungen gewertet werden sollten (assertio) und solchen, die im Kontext der Disputation, also im weiteren im Zuge der Lehr- und Forschungstätigkeit innerhalb der Universität, getätigt wurden.20 Aussagen blieben gleichsam in Schwebe, bis ihnen der Status einer Assertion, einer behauptenden Wahrheitsaussage zugewiesen wurde und der Sprecher sich damit auf das Gesagte verpflichtete. Das heißt, es wurde eine Kalibrierung von Aussageformen vorgenommen, deren Spielraum sich daran bemaß, wo, gegenüber wem und mit welchem Grad an Überzeugung eine Position vertreten wurde. Die alte Universität gewährte mithin ihren geschworenen Mitgliedern bestimmte Freiheiten, die allerdings in ein präzises Raster von Äußerungskategorien eingepasst waren: »A master might venture almost any idea or opinion narrando, dubitando, inquirendo or querendo in presenting the arguments or doctrines of his philosophical authorities, he customarily used the terms recitare, disserere, declarare. Only when a personal and formal solution was reached did masters use the words asserere and determinare.«21 Die Universität Oxford verlangte beispielsweise allen ihren Magistri einen Eid (protestatio) ab, mit dem geschworen wurde, dass alle dogmatisch zweifelhaften Aussagen nur disputative gemacht würden. Diese protestatio war als revocatio conditionalis zu verstehen, sozusagen als vorsorglicher Widerruf, der im Fall eines Häresieverdachts durch eine revocatio actualis zu ergänzen war. Wichtig ist dabei, dass sich der Häresievorwurf gegen Ideen, nicht gegen Personen richtete; insofern kam die Person erst dann als solche ins Spiel, wenn die revocatio actualis verweigert wurde.22
20 Larsen: The School of Heretics (2011), 10; Larsen gründet seine Darstellung auf Thijssen: Censure and Heresy (1998), 30; McLaughlin: The Intellectual Freedom (1977), 197. Miethke, Jürgen: Bildungsstand und Freiheitsforderung (12. bis 14. Jahrhundert). In: Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert. Der Wirkungszusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich. Hrsg. von Johannes Fried. Sigmaringen 1991, S. 221–247, hier 240, spricht von einer »ganzen Hermeneutik«, die darauf abstellte, wann jemand beim Wort genommen werden müsse und zitiert Belege aus der Auseinandersetzung zwischen William von Ockham und Papst Johannes XXII. 21 McLaughlin: Intellectual Freedom (1977), 67. 22 Larsen: The School of Heretics (2011), 11. Vgl. auch Courtenay zur ungleichen Behandlung außeruniversitärer Sektierer (simplices), die hart bestraft wurden, und von Mitgliedern der Universität, deren Karrieren in der Regel von Häresievorwürfen und sogar -prozessen nicht nachhaltig berührt wurden: Courtenay, William: Inquiry and Inquisition: Academic Freedom in Medieval Universities. In: Church History 58 (1989), 168–181, hier 170, 180. Courtenay sieht im Fall des Jan Hus (um 1369–1415) den entscheidenden Wendepunkt für eine veränderte Haltung gegenüber der akademischen Freiheit: ebd. 181.
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Die Medialität der universitären Disputation arbeitete in ihrer Ephemerität der Vorläufigkeit und, letztlich, der Unverbindlichkeit des disputative Gesagten zu.23 Doch die Unterscheidung assertorisch und disputativ getätigter Aussagen konnte sich durchaus auch auf die außeruniversitäre Druckpublikation erstrecken. So stellt Marsilio Ficino seiner Theologia platonica folgende Klausel voran: »In omnibus quae aut hic aut alibi a me tractantur, tantum assertum esse volo quantum ab ecclesia comprobatur.« (»In allem, was ich hier und anderswo behandle, will ich nur soviel als behauptet verstanden wissen, als von der Kirche gebilligt wird.«).24 Das heißt, Ficino nimmt nicht für sich in Anspruch, dass alle seine Argumente auf der Linie der Kirche liegen; wo er aber abweicht, will er Behauptungen nicht zugerechnet bekommen. Das Argument wurde auch insofern gegenüber der Person privilegiert, als in der Disputation regelmäßig die Rolle von Respondent oder Opponent einzunehmen und damit je nach situativer Erfordernis für oder gegen eine Position zu argumentieren war.25 Diese standardmäßige und strikte Disjunktion von debattistischer Rolle und persönlicher Überzeugung ist ein weiterer Aspekt der Freiheitsthematik. Während die ältere Forschung in diesem Zusammenhang das Verhehlen tatsächlicher Meinungen aus Opportunitätsgründen vermutete und beklagte,26 kann mit guten Gründen die strikte Trennung von Person und Argument als Freiraum interpretiert werden, der vielmehr den Vortrag von Positionen ermöglichte und nicht unterband. Bazàn spricht davon, dass die Freiheit der Magister in der systematischen Infragestellung der Tradition bestand.27 Diese Frei-
23 Der Fokus der akademischen Häresieprozesse lag dementspechend auf den schriftlich getätigten Äußerungen, vgl. Courtenay: Inquiry and Inquisition (1989), 172. Kenneth Appold hat noch mit Blick auf Disputationen des 17. Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass sich der Freiheitsraum der Disputation nicht zuletzt daraus ergibt, dass »ihr mündlicher Ablauf für Außenstehende ›verborgen‹ blieb, denn diese bekamen nur die gedruckten Thesen zu sehen.« Appold, Kenneth G.: Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710. Tübingen 2004, 56. 24 Ficino, Marsilio: Platonic Theology, lat.-engl., 2 Bde., übers. von Michael J. B. Allen. Hrsg. von James Hankins. Cambridge, MA, London 2001–2002 (I Tatti Renaissance Library), 1 (meine Übersetzung: A.T.). 25 Zur Funktionenverteilung in der Disputation s. Bazàn, Bernardo C.: Les questions disputées, principalement dans les facultés de théologie. In: ders. u. a.: Les questions disputées et les questions quodlibétiques dans les facultés de théologie, de droit et de médecine. Turnhout 1985, S. 21–147, hier 39–42; Angelelli, Ignacio: The Techniques of Disputation in the History of Logic. In: The Journal of Philosophy 67 (1970), S. 800–815, hier 809. Zu den Typen von Disputationen s. Weijers, Olga: La ›disputatio‹ dans les facultés des arts au moyen âge. Turnhout 2002. 26 So z. B. Landgraf, Artur Michael: Schwankungen in der Lehre des Petrus Lombardus. In: Scholastik 31 (1956), S. 533–544. 27 Bazàn: Les questions disputées (1985), 141–144: »La liberté de l’auteur«, 141: »[…] ils
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heit manifestiere sich allerdings gerade nicht in einem Bruch mit derselben, sondern in der Integration der Tradition in Form einer Synthese, die präzise aus dem Infragestellen der Tradition resultiere.28 Die Methode der Scholastik ist in der Tat, wie es Mary McLaughlin formulierte, »[the pursuit of ] truth in the clash of ideas«, oder, wie es in einem anonymen Traktat in der Tradition der Logica modernorum heißt: »Dialectica est que colligit contradictionem ex probabilibus.«29 Ein weiterer, mit diesen pragmatischen Sicherungen verwandter, aber nicht mit ihnen identischer Aspekt ist die Unterscheidung von theologischer und philosophischer Argumentation. Disziplinär wurde zwischen Philosophie und Theologie unterschieden, d.h. zwischen der Glaubenswahrheit der Offenbarung, die sich dem menschlichen Verstand entzieht, und der menschlichen Rationalität. Die Pariser Universität verankerte die Unabhängigkeit dieser beiden Bereiche in ihren Statuten von 1255, und die pragmatische Autonomie der Philosophen wird mit dem Ausdruck ›philosophice loqui‹ auf den Begriff gebracht.30 jouissaient d’une grande liberté intellectuelle, qu’ils exerçaient précisément comme ›mise en question‹ de la tradition.« 28 Bazàn: Les questions disputées (1985), 42. 29 McLaughlin: Intellectual Freedom (1977), 36; De Rijk, L. M. (Hrsg.): Logica Modernorum. Bd. 1: On the Twelfth Century Theory of Fallacy. Assen 1962, 269. Zu den probabilia s. unten. Nach außen heißt dies Synkretismus, noch im Humanismus manifest in Pico della Mirandolas 900 Thesen, die nichts anderes unternahmen als eine concordia nicht allein zwischen Plato und Aristoteles, sondern auch zwischen den heidnischen Philosophen aufzuspüren. Es ist präzise die scholastische Methode, der Pico, der an der Universität von Paris hoch angesehen war, seinen Syntheseversuch unterwarf, s. die Ausgabe der Thesen von Farmer, Stephen A.: Syncretism in the West: Pico’s 900 Theses (1486). The Evolution of Traditional Religious and Philosophical Systems. With Text, Translation and Commentary. Tempe, AZ 1998. Die theologische Fakultät der Universität Paris weigerte sich trotz päpstlichen Befehls, Pico 1488 als Häretiker zu verurteilen mit der Begründung, dass er seine heterodoxen Positionen zu dem Zeitpunkt schon widerrufen hätte, s. Farge, James K.: Orthodoxy and Reform in Early Reformation France. The Faculty of Theology of Paris, 1500–1543. Leiden 1985, 221; Renaudet, Augustin: Préréforme et humanisme à Paris pendant les premières guerres d’Italie (1494–1517). Paris 21953, 127–129. 30 »The efforts of these masters of arts to separate the spheres of philosophy and theology, though still tentative, are nonetheless symptomatic of the growing independence of spirit that achieved its first great corporate expression in the faculty statutes of 1255. To this spirit the key is the phrase, ›speaking philosophically‹, by which masters in this as in the later period commonly refer to their aim and function.« McLaughlin: Intellectual Freedom (1977), 63. Vgl. Chartularium Universitatis Parisiensis. Hrsg. von H. Denifle und E. Châtelain, Bd. 1. Paris 1889, S. 279–285. Die Unterscheidung loquendo theologice / loquendo philosophice findet sich bereits in einem Manuskript aus der Zeit um 1240, das eine Art Orientierunghilfe für Studenten der artes in Barcelona darstellt, s. Bertelloni, Francisco: Loquendo philosophice – Loquendo theologice. Implicaciones ético-políticas en la Guía del estudiante de Barcelona. A propósito de una reciente publicación de C. Lafleur. In: Patristica et Mediaevalia 14 (1993), S. 21–40. Zit. aus Lafleur, Claude (mit Joanne Carrier): La ›Guide de l’étudiant‹ d’un maître anonyme de la Faculté des Arts de Paris au XIIIe siècle.
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Dass daraus freilich nicht zwei verschiedene Wahrheiten resultierten, hat der Bischof von Paris, Étienne Tempier, in der Verurteilung von 219 Thesen, die in der philosophischen Fakultät disputiert wurden, 1277 in aller Deutlichkeit dekretiert.31 Die Verurteilung von 1277 ist weithin als unabweisbarer Beleg für die Knechtung der Wissenschaft unter der Eisenfaust der Kirche gedeutet worden, die die Philosophie auf lange Sicht zur Magd der Theologie machte (philosophia ancilla theologiae).32 In der Tat scheinen die Definitionen des Verhältnisses von Theologie und Philosophie durchweg eine erkenntnishemmende Unterwürfigkeit zu dokumentieren. Doch befördert die Separierung der beiden Bereiche, die die Unantastbarkeit der Theologie befestigen soll, zugleich eine Lizenz der philosophischen Argumentation, die zwar nicht absolut galt, aber als Forderung formulierbar wurde.33 Die Naturphilosophie des Aristoteles wurde im 13. Jahrhundert mehrfach verboten (1210, 1215, 1231), und zwar stets mit Blick auf exzessive Bezugnahmen auf Aristoteles in der Theologie. Dem arbeiteten Bonaventura, Roger Bacon, Albertus Magnus und Thomas von Aquin entgegen, indem sie Aristoteles in ihre theologischen Überlegungen einbanden.34
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Édition critique provisoire du ms. Barcelona, Arxiu de la Corona d’Aragó. Ripoll 109ff. 134ra–158va. Québec 1992, 66. Chartularium Universitatis Parisiensis, Bd. 1 (1889), S. 543–558. Für eine inhaltliche Übersicht über die verurteilten Thesen s. Wippel, John F.: The Condemnations of 1270 and 1277 at Paris. In: The Journal of Medieval and Renaissance Studies 7 (1977), S. 169–201. Zum Kontext der Verurteilungen von 1277 vgl. De Libera, Alain: Raison et foi. Archéologie d’une crise d’Albert le Grand à Jean Paul II. Paris 2003, S. 191–220. Malcolm de Mowbray hat darauf hingewiesen, dass nicht allein die Ursprünge der Formel obskur sind, sondern dass sie auch für eine große Fortschrittsgeschichte der Wissenschaft funktionalisiert wurde, die entscheidend vom Abschütteln der Fesseln der Theologie geprägt sei. Die Einschätzungen, wann dieser ›Befreiungsschlag‹ erfolgt sei, gehen allerdings weit auseinander: Étienne Gilson datiert ihn auf das 13. Jahrhundert, Jonathan Israel auf das 17., vgl. De Mowbray, Malcolm: Philosophy as Handmaid of Theology: Biblical Exegesis in the Service of Scholarship. In: Traditio 59 (2004), S. 1–37, hier 1. Zit. Gilson, Étienne: Études de philosophie médiévale. Strasbourg 1921, S. 1–124; Israel, Jonathan: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650–1750. Oxford 2001, 10f. Zur jüngeren Interpretationsgeschichte der Formel s. auch Seckler, Max: »Philosophia ancilla theologiae«. Über die Ursprünge und den Sinn einer anstößig gewordenen Formel. In: Theologische Quartalschrift 171 (1991), S. 161–187. So z. B. in Williams von Ockham Dialogus von 1347, in dem die Rechtmäßigkeit der Verurteilungen von 1277 diskutiert wird. Die Figur des ›Magister‹ formuliert, dass rein philosophische Aussagen nicht zu verurteilen seien, weil jeder auf diesem Gebiet die Freiheit haben sollte, zu sagen, was er möchte (»quia in talibus quilibet esse debet liber ut libere dicat quid sibi placet«). William von Ockham: Dialogus, lat.-engl. Hrsg. von John Kilcullen, George Knysh, Volker Leppin, John Scott und Jan Ballweg. British Academy 2010, Teil 1, Buch 2, Kap. 24 (online-Ausgabe: http://www.britac.ac.uk/pubs/dialogus/ ockdial.html). De Mowbray: Philosophy as Handmaid of Theology (2004), 18.
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Thomas von Aquin (ca. 1225–1274) argumentiert, dass philosophische Argumente und Autoritäten in der Theologie einen Platz haben, sofern sie der Glaubenslehre nicht widersprechen. Nachdem aber, wie Aristoteles in den Analytica posteriora sagt, eine Wissenschaft ihre Prinzipien nicht von einer anderen Wissenschaft beziehen kann, kann die Theologie ihren Ausgang nicht von den Schriften der Philosophen nehmen.35 Die Theologie entscheidet letztgültig in Glaubensfragen, aber sie bestimmt nicht die Prinzipien der Philosophie; die Philosophie verfährt vielmehr entlang ihrer eigenen Methoden – allein ihre Schlussfolgerungen oder Ergebnisse können der Theologie nicht widersprechen. Auf ihrem eigenen Terrain war die Philosophie, auch wenn sie institutionenlogisch als ›untere Fakultät‹ für die methodische Grundlagenvermittlung zuständig war, keine Magd, vielmehr war sie ermächtigt, im Sinne des philosophice loqui nach ihren eigenen Regeln zu verfahren. Johannes Buridan (1300–1358) überliefert in einer Nebenbemerkung in seinen Quaestiones super octo physicorum libros Aristotelis, dass an der Universität von Paris neu zugelassene Magister der Philosophie einen Eid schwören mussten, dass sie keine rein theologischen Fragen disputieren würden. Wenn sie freilich eine Frage disputierten, die den Glauben oder die Theologie berühre, dann würden sie sie jederzeit im Sinne der Glaubenslehre entscheiden und alle Argumente, die dagegen sprächen, entkräften.36 Die Separierung der beiden Bereiche erscheint simpel, ist es aber nicht, weil diese im Weltentwurf, in der ›S-Welt‹, wie Rainer Specht sie nennt, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bis hin zu Descartes beständig aufeinander bezogen und de facto vermischt werden.37 Der Anlassfall, anhand dessen Buridan die Bereichsunterscheidung aufgreift, ist die Frage, ob es durch irgendeine Kraft ein Vakuum geben könne; in seiner Abwägung von Pro- und Contra-Argumenten referiert er die bejahende Antwort, dass Gott alle sublunare Materie auslöschen könne. In einer Welt, in der Glauben und Wissenschaft so tief wechselseitig durchdrungen
35 De Mowbray: Philosophy as Handmaid of Theology (2004), 26. 36 Buridan, Johannes: Quaestiones super octo physicorum libros Aristotelis. Paris 1509 (Reprint Frankfurt/M. 1964), IV, q. 8: »[…] omnes magistri cum incipiunt in artibus iurant quod nullam questionem pure theologicam disputabunt vtpote determinate vel de incarnatione et vltra iurant quod si contingat eos disputare vel determinare aliquam quaestionem, quae tangat fidem et philosophiam, eam pro fide determinabunt et rationes in oppositum dissoluent prout eis videbuntur dissolvende.« Den Hinweis auf Buridan entnehme ich Maier, Anneliese: Das Prinzip der doppelten Wahrheit. In: dies.: Metaphysische Hintergründe der spätscholastischen Naturphilosophie. Roma 1955 (d. i. dies.: Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik, Bd. IV.), S. 1–44, hier 4. 37 Specht, Rainer: Innovation und Folgelast. Beispiele aus der neueren Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, S. 93–98.
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sind, ist die Etablierung und Aufrechterhaltung einer sauberen Trennung von Religion und Wissenschaft keine triviale Angelegenheit, wie das beständige Wiederhochkochen des Problems vom Averroismusstreit in Paris bis zum Verbot des Cartesianismus in Leiden im 17. Jahrhundert (und darüber hinaus) belegt. Wo nun aber ihrer Überzeugung nach keine Glaubensfragen berührt waren, verfuhren Magistri der Philosophie nach dem Prinzip der probabilitas: Gelten konnte, was philosophisch beweisbar (probabilis) war, wenn man nach den Regeln der natürlichen Vernunft verfuhr (»naturaliter loquendo«).38 Der Wahrheit der Offenbarung auf dem Gebiet der Theologie stand damit die logische Beweisbarkeit und damit Probabilität von Aussagen auf dem Gebiet der Philosophie gegenüber. Unter diesem Signum standen alle Autoritäten zur Disposition, und es ist gerade Aristoteles, dessen in De caelo vorgetragene Lehrmeinung Buridan oder Nicolaus von Oresme kritisieren.39 Buridan geht dabei wie selbstverständlich davon aus, dass die Offenbarung vollumfänglich wahr und von seinen eigenen philosophischen Überlegungen schlicht nicht zu berühren sei. Philosophice zu denken heißt dagegen, so zu denken wie jemand ohne katholischen Glauben und nur auf Basis seines natürlichen Denkvermögens es tun würde. Unter diesem Vorzeichen ist für Buridan die Ewigkeit der Welt ebenso wie die Materialität und Vergänglichkeit der Seele beweisbar (probabilis).40 Für Buridan ist damit aber die Sache erledigt; es liegt außerhalb seiner Vorstellungskraft, die Offenbarung in Frage zu stellen, weil er mit seinen begrenzten menschlichen Mitteln auf ein anderes Ergebnis gekommen ist. Zugleich wurden freilich laufend Glaubensfragen in philosophische Überlegungen hineingezogen, wie ja auch Buridans Diskussion des Vakuums zeigt. »So wird man leicht die Beobachtung machen, daß Autoren des Hochmittelalters nichts dabei finden, einen wissenschaftlichen Gedankengang mit Argumenten zu komplettieren, die nach unserem Urteil in die Theologie gehören.«41 Man kann formulieren, dass die duplex veritas, auf die man sich freilich nicht im Sinne einer Doktrin berufen konnte,42 die aber durch den 38 Maier: Prinzip der doppelten Wahrheit (1955), 37. Zur Einengung des Begriffs des Probablen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Schüssler, Rudolf: Scholastic Probability as Rational Assertability: The Rise of Theories of Rational Disagreement. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 96 (2014), H. 2, S. 202–231. 39 Maier: Prinzip der doppelten Wahrheit (1955), 5, 9–13. 40 Maier: Prinzip der doppelten Wahrheit (1955), 27. 41 Specht: Innovation und Folgelast (1972), 69. 42 Vgl. Van Steenberghen, Fernand: Une légende tenace: la théorie de la double vérité. In: ders.: Introduction à l’étude de la philosophie médiévale. Louvain 1974, S. 555–570; Bianchi, Luca: Pour une histoire de la ›double vérité‹. Paris 2008.
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Freiheitsraum des philosophice loqui zweifelsohne gegeben war, im Lauf des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit »immer mehr zu einem Deckmantel [wurde], unter dem man glaubenswidrige Thesen verteidigen konnte, ohne sich offen zu ihnen bekennen zu müssen.«43 Man kann aber auch von der pejorativen Metapher des Deckmantels absehen und argumentieren, dass die Trennung von Theologie und Philosophie im Sinne einer ›unanticipated consequence‹ im Sinne Robert Mertons dazu beitrug, Freiräume des Denkens zu eröffnen, auch wenn die Trennung eigentlich die Unantastbarkeit der Theologie absichern sollte – wobei die daraus abgeleiteten Rechte natürlich stets prekär und Gegenstand teils harter Auseinandersetzung blieben.44 Die Frühe Neuzeit hindurch sollte sich immer wieder erweisen, dass die Definition und Separation der beiden Bereiche gerade nicht eine dauerhafte Befriedung des Konflikts zwischen Religion und Wissenschaft mit sich brachte. Vielmehr ergab sich daraus eine beständige Verhandlung über Ansprüche auf Kompetenzerweiterungen oder -beschneidungen. So unterscheidet Jacopo Zabarella (1535–1589) in einer anlässlich des Vorlesungsbeginns in der Naturphilosophie im November 1585 an der Universität Padua gehaltenen Rede (Oratio in exordio lectionis philosophiae) zwischen dem Glauben, der dem Menschen von Gott ›eingeflößt‹ und daher frei von Irrtum sei, und der Philosophie. Der Glaube sei die ›vera philosophia‹ und Gegenstand der Theologie. Die Philosophie dagegen gründe sich auf den menschlichen Verstand – soweit geht Zaba rella mit älteren Auffassungen konform. Doch mit Blick auf die Gegenstände der Philosophie nimmt er eine durchaus brisante Erweiterung vor, indem er ihr eine Zuständigkeit in menschlichen und göttlichen Dingen zuweist.45 Hieran zeigt sich abermals, dass die Rede von den zwei rationes 43 Maier: Prinzip der doppelten Wahrheit (1955), 43f. 44 Vgl. noch den sogenannten Hofmannstreit an der Universität Helmstedt um 1600, in dem der Theologe Daniel Hofmann die Philosophen genau mit Verweis auf die Geltungsbereiche der beiden Disziplinen in die Schranken weisen wollte, wegen seines mutwilligen Bruchs des akademischen Friedens aber letztlich selbst des Amtes enthoben wurde. Zu den Etappen und Akteuren des Streits vgl. die umfassende Studie Friedrich, Markus: Die Grenzen der Vernunft. Theologie, Philosophie und gelehrte Konflikte am Beispiel des Helmstedter Hofmannstreits und seiner Wirkungen auf das Luthertum um 1600. Göttingen 2004. Die Philosophen wehrten sich gegen Hofmanns Vorgehen, weil sie seine Argumente als Diffamierung der Philosophie auffassten, vgl. dazu Sparn, Walter: Doppelte Wahrheit? In: Zugang zur Theologie. Fundamentaltheologische Beiträge. Festschrift Wilfried Joest. Hrsg. von Friedrich Mildenberger und Joachim Track. Göttingen 1979, S. 53–78, bes. 59. 45 »Hinc orta est duplex ratio philosophandi, una ex principiis quae a divina bonitate sunt mentibus nostris infusa per fidem eaque vera philosophia dicenda est ac divinitus nobis tradita sapientia quae omni prorsus errore omnique deceptione vacat. […] Altera ratio est qum nos propositam habemus, humana iure nuncupata; tota namque humanis viribus nititur et eius principia, sive de naturalibus et humanis, sive etiam de divinis rebus loquamur, a sensibus deducta sunt, quocirca et imperfecta admodum est et aliquo errore non caret,
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philosophandi, wie Zabarella formuliert, keine Sachverhaltsbeschreibung, sondern Bezugspunkt für Aushandlungsprozesse ist, die trotz unterschiedlicher Formulierungen des Verhältnisses stets auf das Einfordern institutionell lizenzierter Denkfreiheit abzielen.
3. Die frühneuzeitliche Universität und ihre Dissidenten Mit Luther und den Anfängen der Reformation kehren wir zur doppelten Pragmatik theologischer Äußerungen zurück. Dass der Beginn der Reformation auf das engste mit universitären Praktiken verbunden war, ist ein bekanntes, aber in der Forschung nicht allzu breit reflektiertes Faktum.46 Darauf ist gleich zurückzukommen, denn es ist in diesem Kontext nicht das eben aufgerissene Raster der Freiheiten der Mitglieder der universitären Korporation, sondern die Wendung gegen das Papsttum hin zu einer Laientheologie, die bisher unter dem Signum der libertas philosophandi diskutiert wurde. Die von Martin Luther (1483–1546) ihren Ausgang nehmende religiöse Selbständigkeit ist zudem als früher Beleg für eine auf individueller Wahlfreiheit beruhenden Eklektik gelesen worden.47 Im Kontext dieses Beitrags kann es nur darum gehen, nach den historischen Konstellationen zu fragen, in denen Luthers Vorgehen zu situieren ist. Als Universitätsprofessor hat er 1517 Thesen zur Disputation veröffentlicht. Der präzise Ablauf des Geschehens ist oft erzählt worden, ein wenig beachteter Aspekt ist freilich, dass es die Universität war, die
nec per eam omnino discimus quid secundum veritatem asserendum credendumque sit, sed solum ad quos usque terminos ratio nos humana perducat.« Dal Pra, Mario (Hrsg.): Zabarella, Jacopo: una ›oratio‹ programmatica di G. Zabarella. In: Rivista critica di storia della filosofia 3 (1966), S. 286–290, hier 287. Zum Kontext Poppi, Antonino: Ricerche sulla teologia e la scienza nella Scuola padovana del Cinque e Seicento. Soveria Mannelli 2001. 46 Vgl. als eine der wenigen Ausnahmen und mit entsprechenden Literaturhinweisen die hervorragende Studie von Schubert, Anselm: Libertas Disputandi. Luther und die Leipziger Disputation als akademisches Streitgespräch. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 105 (2008), S. 411–442. 47 Albrecht, Michael: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, hier 24; Schneiders, Werner: Vernünftiger Zweifel und wahre Eklektik. Zur Entstehung des modernen Kritikbegriffs. In: Studia Leibnitiana 17 (1985), S. 143–161, hier 150. Auch Zenker, Kay: Denkfreiheit. Libertas philosophandi in der deutschen Aufklärung. Hamburg 2012, 36f., positioniert Luther am Beginn seiner ›Vorgeschichte‹ der Denkfreiheit, räumt aber ein, dass Luther den Begriff selbst nicht verwendet und er, wenn überhaupt, dann nur im Sinn einer geistigen Freiheit des Einzelnen angebracht wäre. Gegen die etablierte Vorstellung von der Reformation als revolutionäre, auf individuelle Freiheit abstellende Bewegung argumentiert insgesamt Dixon, C. Scott: Protestants: A History from Wittenberg to Pennsylvania, 1517–1740. Oxford 2010.
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zunächst für die Äußerung und Diskussion der Thesen einen Freiheitsraum bot: Luthers Thesen werden zunächst explizit von seinen inkriminierten Schriften ausgenommen. Nachträglich bestätigt Kardinal Cajetan in seinem Brief an Kurfürst Friedrich im Anschluss an Luthers Verhör in Augsburg 1518, dass die Wittenberger Thesen nur disputative gemeint gewesen seien, wohingegen die Aussagen gleichen Inhalts in Predigten, der Publizistik und hier wiederum insbesondere in der Volkssprache »affirmative et assertive […] posita« und deshalb zu inkriminieren seien.48 Die Thesen werden also dadurch, dass sie in anderen Textsorten und Medien außerhalb des Disputationskontexts wiederholt und natürlich auch reformuliert werden, Gegenstand der Untersuchung und der Verfolgung, während sie als debattistische Diskussionspunkte innerhalb der Universität zunächst tolerabel waren. Die Disputation in Leipzig im Sommer 1519, in der Luthers Professorenkollege Andreas Karlstadt (1486–1541) und Luther selbst gegen den Ingolstädter Theologen Johannes Eck (1486–1543) antraten, indiziert die Grenzen und das Ende der Verhandlung reformatorischer Positionen als freie wissenschaftliche Meinungsäußerung von Universitätsprofessoren. Die Entscheidungsmacht über den Verlauf der Veranstaltung lag beim Landesherrn, und zugleich liefen in Rom bereits Untersuchungen gegen Luther.49 Keiner der Disputanten war Mitglied der Universität Leipzig, heikle theologische Materien standen zur Debatte und die Leipziger Theologen weigerten sich, als Schiedsrichter zu agieren, was der Herzog auch einräumte. Ein Vertrag wurde daher unter den Kontrahenten am Vorabend des ersten Disputationstages – insgesamt verlief die Disputation über drei Wochen – verabredet.50 Man einigte sich, dass vier Notare ein Protokoll erstellen sollten, über das dann in Erfurt und Paris entschieden werden sollte, wobei die Frage dieser Richterschaft einer der zentralen Streitpunkte war und lange in Schwebe blieb.51 Die Penibilität, die auf die Vereinbarung verwendet wurde, ist aber nicht als Limitation zu verstehen:
48 Cajetan an Kurfürst Friedrich, 25. Oktober 1518, WA.Br 1, Nr. 110, S. 233–235, hier 234, Z. 70–74: »In causa vero tria affirmo. Primo, dicta Fratris Martini, licet in Conclusionibus sint disputative, in sermonibus tamen ab eo scriptis affirmative et assertive esse posita, et confirmata in vulgari Germanico, ut aiunt. Ea autem sunt partim contra doctrinam Apostolicae Sedis, partim vero damnabilia.« 49 Wie Classen: Libertas scolastica (1983), 271, betont, haben die späteren ›Religionsgespräche‹, die von den Kirchen und Fürsten einberufen wurden, nichts mit der Wissenschaftsfreiheit der Universität zu tun, vgl. dazu auch Fuchs, Thomas: Konfession und Gespräch. Typologie und Funktion der Religionsgespräche in der Reformationszeit. Köln, Weimar, Wien 1995. 50 Abgedruckt in WA.Br 1, S. 428–430. 51 Classen: Libertas scolastica (1983), 277f. zu den zahlreichen anderen Universitäten, die sich
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»Nach mittelalterlichem Verständnis schützten die strengen Regeln die Wahrheit selbst: die Wahrheit der kirchlichen Lehre, indem sie deren Infragestellung untersagten; die Wahrheit der Disputation, indem sie durch das Gebot der Latinizität, der sozialen Exklusivität und der Logizität Meinungsfreiheit und Durchsichtigkeit der Argumentation garantierten; und schließlich den Disputanten selbst, indem sie ihn der persönlichen Kritik und dem Häresieverdacht entzogen.«52
Auch jeder der Disputanten sollte ein Exemplar des kollationierten Protokolls erhalten, doch unter der Auflage, dass es nicht in den Druck gebracht oder sonst in Umlauf gebracht werden dürfe, außer, man habe sich auf einen Richter geeinigt und dieser habe ein Urteil vorgelegt. Das bedeutet, dass trotz der schriftlichen Protokollierung der starke pragmatische Rahmen der Disputation per Kontrakt aufrechterhalten und Assertion durch Publikation vermieden wurde. Als Luther 1518 die resolutiones seiner Disputation über den Ablass an Leo X. schickte, betonte er, dass er Kraft der apostolischen Autorität des Papstes das Recht habe, in einer Universität im Sinne der Gepflogenheiten aller Universitäten zu disputieren (»[.…] ius habere in publica schola dis putandi pro more omnium Universitatum«), über den Ablass ebenso wie über weit höhere Dinge. Seine Thesen seien für die Disputation geschrieben, nicht als Lehrsätze (»disputationes enim sunt, non doctrinae, non dogmata«).53 Luther berief sich mehrfach auf sein mit dem theologischen Doktorat erworbenes Recht, jede theologische Frage zu disputieren.54 Classen spricht hier von einer von Luther geforderten ›Disputierfreiheit‹,55 ein Schlagwort, das auch Anselm Schubert aufgreift, doch handelt es sich um nichts anderes als die oben angesprochene pragmatische Entlastung
ohne Aufforderung berufen sahen, ein Urteil zu fällen, während Erfurt ablehnte und Paris erst einmal Kostenersatz forderte. 52 Schubert: Libertas disputandi (2008), 418f. 53 WA 1, 528, Vorrede zu den Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute. Classen: Libertas scolastica (1983), 279. 54 Der genaue Umfang der mit dem Doktorenamt verbundenen Rechte stand zeitgenössisch durchaus zur Diskussion, vgl. Oberman, Heiko A.: Spätscholastik und Reformation, Bd. 2: Werden und Wertung der Reformation. Vom Wegestreit zum Glaubenskampf. 2. Aufl. Tübingen 1979, 189. Zu Luthers Transgression von ›Handlungslogiken‹ zwischen Thesen- und Briefform, Schriftlichkeit und Mündlichkeit bereits im Umfeld des Thesenanschlags, vgl. Kaufmann, Thomas: Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung. Tübingen 2012, 176–180. 55 Classen: Libertas scolastica (1983), 280. Fried, der die letzte Version von Classens mehrfach erweitertem Aufsatz herausgegeben hat, berichtet, dass Classen den Abschnitt zu Luther weiter ausführen hatte wollen und insbesondere über die Traditionslinie der ›Disputationsfreiheit‹ nachdachte: »Woher kommt eigentlich Luthers Argument der Disputationsfreiheit? In dieser Form ist es mir vorher unbekannt. Quodlibet-Disputationen? Verbot unzüchtiger Themen?« Ebd. 282, Anm. 135a.
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der Universitätsmitglieder (jedoch nicht um libertas philosophandi, weil wir uns ja auf dem Gebiet der Theologie bewegen). Bei Luther selbst findet sich, wie Anselm Schubert dokumentiert hat, an mehreren Stellen die Wendung ›libertas disputandi‹. Zu vernachlässigen sind die Passagen, wo damit ›freie Rede‹ im Gegensatz zum Ablesen vom Blatt gemeint ist. Die zweite Verwendung ist auf die Situation in Leipzig bezogen. Luther wollte in Leipzig ›frei disputieren‹, zugleich aber das Protokoll der christlichen Öffentlichkeit zur Beurteilung übergeben: »ut libere disputaretur et excerpta per notarius in publicum totius orbis iudicium ederentur« (WA 2, 392, 39). Schubert interpretiert, damit sei die Forderung Luthers gemeint, »die geplante Disputation solle frei (d. h. anders als im Mittelalter üblich), also ohne bestellte (und in seinem Fall womöglich parteiische) Richter gehalten werden; vielmehr solle sie bloß aufgeschrieben und das Protokoll der Öffentlichkeit zum Urteil übergeben werden.«56 Dass Richter eingesetzt werden sollten, entspricht der Besonderheit der Situation, nicht aber der hergebrachten Konvention der mittelalterlichen Universität: Die determinatio einer Disputation oblag vielmehr dem präsidierenden Magister, der auf Seiten des Respondenten stand.57 Es erscheint daher eher plausibel, dass Luther mit ›frei disputieren‹ hier meint, dass entsprechend den Gepflogenheiten (und den Vereinbarungen des Kontrakts) respondiert und opponiert werden sollte, bis alle Thesenreihen abgearbeitet waren.58 Dann aber – und das ist gewiss nicht nur unkonventionell, sondern kommt einem Bruch mit allen universitären Gepflogenheiten gleich – solle öffentlich über die Positionen befunden werden. Das ist im Verständnis der Zeit die Negation der universitären Freiheit, indem explorativ getätigte Aussagen in die politische Realität gespielt und die Konsequenzen nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern strategisch gesucht werden. Hier zeigen sich deutlich die Grenzen dieses korporativen Freiheitskonzepts: Sobald auf die lebensweltliche Durchsetzung gepocht wurde, waren die gewährten Privilegien mit einem Schlag kassiert. Es bedeutete freilich nicht, dass die protestantischen Denominationen im weiteren Ver-
56 Schubert: Libertas disputandi (2008), 421, Anm. 40. Vgl. zu Luthers durchaus widersprüchlichem Umgang mit Öffentlichkeit Kerlen, Dietrich: Assertio. Die Entwicklung von Luthers theologischem Anspruch und der Streit mit Erasmus von Rotterdam. Wiesbaden 1976, 110–115. 57 Maierù, Alfonso: University Training in Medieval Europe. Leiden, New York, Köln 1994, 65f.; Marti, Hanspeter: Art. »Disputation«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, Bd. 2. Tübingen 1994, Sp. 866–880, hier 866–869. 58 Nicht nachvollziehen kann ich Schuberts Einschätzung, dass bei Luther und seinen Zeitgenossen ›libertas disputandi‹ »nicht den modus disputationis, sondern die Freiheit des Ausdrucks in Abwesenheit von Richtern« meine. Schubert: Libertas disputandi (2008), 423, Anm. 54. Vgl. die gegenteilige Einschätzung bei Kerlen: Assertio (1976), 45–110.
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lauf des Jahrhunderts im Hinblick auf die Denkfreiheit neue Wege gingen: Vielmehr schrieben die Universitäten in den betreffenden Territorien genau das Muster von dogmatischer Präskription und pragmatischer Suspension von Zurechnung im Innen der gelehrten Institution Universität fort. Die frühneuzeitliche Universität sah sich, gerade im Zuge der religiösen Zersplitterung Europas im Gefolge der Reformation, auf den doppelten Nutzen für Kirche und Staat verpflichtet und war mit der Verfestigung der Denominationen in immer stärkerem Außmaß konfessionell gebunden.59 Doch ermöglichte das Instrument der Disputation weiterhin die Auseinandersetzung über eigentlich verbotene Lehren, die, wenn explizit gemacht, gerne zur exercitatio ingenii heruntergeschrieben und dadurch entschärft wurde. Es gilt weiterhin die pragmatische Entlastung des disputative loqui, sodass »in publicis disputationibus […] keinem gewehret [werde], seine contrariam sententiam oder opinionem argumentando furzubringen.«60 Man hatte soviel Zutrauen zu dem Verfahren, dass eigentlich verbotene Schriften, die man um nichts in der Welt publice in der Vorlesung behandelt wissen wollte, in der Disputation durchaus ihren Platz fanden. Als Thesen, die ja in der Regel vor der Disputation in den Druck gingen und dann verteidigt werden mussten, mochte man sie nicht zulassen – die Sprachregelung des disputative ist eben kein Fiktionskontrakt, und die Suspension der Behauptung offensichtlich doch zu labil, als dass der Sprechakt gänzlich entschärft gewesen wäre.61 Aber Opponenten in der Disputation, die die Thesen zu attackieren hatten und die ihre Punkte allein mündlich vortrugen, wurde mehr Freiheit eingeräumt. Die an vielen deutschen Universitäten verbotene Lehre des Ramus z.B. konnte von Opponenten durchaus zitiert werden: »Wir sint aber darumb nicht gemeinet, wenn in den disputationibus di opponenten etwas aus Rami oder dergleichen scribenten bücher wider die fürgelegte theses fürbringen,
59 Wolfgang E. J. Weber spricht von der Glaubensspaltung als einer der Wurzeln für eine ausgeprägte ›Novitätsfurcht‹ in den deutschen Ländern, während aber zugleich die »konfessionskirchliche Durchdringung und Transformation der Universität mit wissenschaftsfreiheitsfördernden Akzenten verbunden« gewesen sei, vgl. Weber, Wolfgang E. J.: Funktionale Freiheit und Novitätsfurcht. Zur Frage der Wissenschaftsfreiheit im 17. Jahrhundert. In: Wissenschaftsfreiheit in Vergangenheit und Gegenwart. Hrsg. von Rainer A. Müller und Rainer Christoph Schwinges. Basel 2008, S. 39–56, hier 41, 49. 60 Ebd., Anm. 62. 61 Dazu auch auch Marti, Hanspeter: Grenzen der Denkfreiheit in Dissertationen des frühen 18. Jahrhunderts. Theodor Ludwig Laus Scheitern an der juristischen Fakultät der Universität Königsberg. In: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Hrsg. von Helmut Zedelmaier und Martin Mulsow. Tübingen 2001, S. 295–306, hier 295. Thesen konnten z. B. in Halle von ordentlichen Professoren ohne Zensur in den Druck gegeben werden; sie waren lediglich gehalten, nichts gegen die Obrigkeit, die (evangelische) Religion und die guten Sitten zu formulieren, siehe ebd.
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dasselbe zu verhindern oder zu verbieten, denn dieweil durch dergleichen exercitia die ingenia der studirenden jugend excolirt und angetrieben, […] unsere dispositio nur dahin gerichtet, daß die Ramea nicht publice gelesen werden sollen.«62
4. Libertas philosophorum Es gab natürlich auch genuin antiautoritäre Positionsnahmen, die sich in die Idee der libertas philosophandi als Aufstand gegen blinde Autoritätsgläubigkeit zu fügen scheinen, die dezidiert auf die scholastische Wissenschaft Bezug nahmen und der Universität Denkfreiheit gerade absprachen. Lorenzo Valla (1405/07–1457) berief sich, wie es seinem modus operandi in Opposition gegen seine scholastischen Zeitgenossen entsprach, auf die Antike als Muster idealer Philosophie: Die zeitgenössischen Aristoteliker sprächen ihm, der keiner Sekte angehöre, die Freiheit ab, mit Aristoteles nicht übereinzustimmen (»recentes Peripatetici, qui mihi, nullius sectae homini, interdicunt libertate ab Aristotele dissentiendi«). Dabei zeichneten sich andere antike Schulen durch größere Anciennität aus und stimmten dabei keineswegs mit Aristoteles überein. Allerdings hätten in der Antike Philosophen die Freiheit gehabt, öffentlich zu vertreten, was ihre Überzeugung war, und zwar nicht nur gegen die Führer anderer Sekten, sondern auch gegen die ihrer eigenen – besonders dann, so sagt Valla in einer paradoxen Pointe, wenn sie keiner Sekte angehörten (»libertas semper philosophis fuit fortiter dicendi quae sentirent, nec solo contra principes aliarum sectarum sed etiam contra principem suae – quanto
62 Hammerstein, Notker: Konfessionseid und Lehrfreiheit. In: ders.: Geschichte als Arsenal. Ausgewählte Aufsätze zu Reich, Hof und Universitäten der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Michael Maaser und Gerrit Walther. Göttingen 2010, S. 113–133, hier 124. Zitate aus dem Urkundenbuch der Universität Wittenberg, Tl. 1: 1502–1611, bearb. von Walter Friedensburg. Magdeburg 1926, 425 und 676 nach Hammerstein, 124. Zur Entlastungsformel der exercitatio ingenii vgl. Traninger, Anita: Disputative, non assertive posita. Zur Pragmatik von Disputationsthesen. In: Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur. Hrsg. von Friedrich Vollhardt. Berlin 2014, S. 319–339, hier 330f. Zu den Kontroversen über den Ramismus in Deutschland Hotson, Howard: Commonplace Learning: Ramism and its German Ramifications, 1543–1630. Oxford 2007. Die Disputation war in diesem Sinne omnivor, als heterodoxe Positionen funktional gebändigt in die Diskussion eingespeist werden konnten; dennoch lag präzise darin, dass Opponenten Gelegenheit gegeben wurde, sich in der Vorbereitung eingehend mit verbotenen, letztlich aber vielleicht doch einleuchtenden Lehren auseinanderzusetzen, beträchtliches Gefahren- und damit Innovationspotential, so Mulsow, Martin: Der ausgescherte Opponent. Akademische Unfälle und Radikalisierung. In: ders., Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart, Weimar 2007, S. 191–215.
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magis his qui nulli sectae se addixerunt!«).63 Das heißt, Valla, der keiner Universität angehörte und dementsprechend aus dem institutionellen Außen attackiert, argumentiert nicht für eine wie immer geartete Reform der zeitgenössischen Bildungsinstitutionen, sondern setzt ihnen ein Idealbild einer aus der Antike herrührenden libertas philosophorum als radikal Anderes entgegen. Valla ist der erste, so der Befund von Michael Albrecht, der in der frühen Neuzeit eine solche radikal unabhängige Position für sich beanspruchte und eine Denkfreiheit aus der antiken Eklektik herleitete.64 Petrus Ramus (1515–1572), der ab 1551 am Collège de France Philosophie und Rhetorik lehrte, sah dagegen die Eklektik auf das Altertum beschränkt,65 und sein Antiaristotelismus manifestierte sich entsprechend zunächst in einer Methodenreform, die auf eine reformierte, an einem Nützlichkeitspostulat orientierte Dialektik abzielte. Sein Freund und Mitarbeiter Omer Talon (ca. 1510–1562), den Ramus seinen Bruder nannte, spezifizierte in einem Kommentar zu Ciceros Academica, worin die akademische Freiheit bestehe: Akademikern, insofern als sie richtige Männer seien, sei die Freiheit eigen, dass sie sich den Gesetzen und Regeln keines Menschen unterwürfen. Die folgenden Tugenden zeichne sie aus: »Bescheidenheit (modestia), weil sie über unsichere Sachverhalte kein eigenes Urteil fällen; Klugheit (prudentia), weil sie die Ursachen der Sachverhalte vergleichen und ausdrücken, was man gegen jede Meinung sagen kann, ohne ihre eigene Autorität anzuwenden; Weisheit (sapientia), weil sie die eine Wahrheit ihr ganzes Leben lang wie eine Göttin verehren und sie höher schätzen als die Zeugnisse aller Philosophen.«66
63 Valla, Lorenzo: Dialectical Disputations. Bd. 1,1. Hrsg. und übers. von Brian P. Copenhaver und Lodi Nauta. Cambridge, MA, London 2012: »Proemium«, 3f. Übertrieben erscheint mir die Einschätzung Zenkers auf der Grundlage von Vallas Plädoyer, dass die ›Denkfreiheit‹ in Italien »im Rahmen des Humanismus zu einem zentralen Thema geworden« sei. Zenker: Denkfreiheit (2012), 14f. 64 Albrecht: Eklektik (1994), 106. 65 Dazu auch Albrecht: Eklektik (1994), 119–125. 66 »Haec est Academicorum, id est verorum hominum (vtrumque enim tantundem valere existimo) propria et germana libertas, nullius hominis legibus et institutis in philosophia necessario parere; modestia, in rebus incertis iudicium suum nullum interponere; prudentia, causas rerum conferre, et quid in quamque sententiam dici possit, exprimere, nulla adhibita sua authoritate; sapientia, unicam veritatem in omni vita tanquam deam colere eamque pluris quam omnium Philosophorum testimonia aestimare«. Talon, Omer: Academia. Paris 1550, 20 (meine Übers., A.T.). Vgl. dazu Schmitt, Charles B.: Cicero Scepticus: A Study of the Influence of the Academica in the Renaissance. Den Haag 1972, 78–108, bes. 84, sowie Vasoli, Cesare: La prima polemica antiaristotelica di Pietro Ramo. In: Autour de Ramus: Le combat. Hrsg. von Kees Meerhof, Jean-Claude Moisan und Michel Magnien. Paris 2005, S. 47–105.
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Talon valorisiert hier ein ciceronianisch-skeptisches Gegenmodell zur vermeintlich blinden Aristoteles-Gefolgschaft der Scholastiker als Tugendlehre. Doch man kann sich gut vorstellen, dass auch Schulphilosophen, die hier attackiert werden sollen, sich diese Sätze problemlos als Selbstbeschreibung zu eigen gemacht hätten. Akademiker, sagt Talon, verhalten sich aber zu Aristotelikern wie Freie zu Sklaven. Ciceros in utramque partem disserere und Platons dialogischer Elenchus seien als Methoden der scholastischen Dialektik vorzuziehen.67 Doch institutionengeschichtlich hat sich bekanntlich eine solche Umstellung nicht vollzogen. Vielmehr wurde der Ramismus – ebenso wie im übrigen Vallas Philologie – in die Universitäten absorbiert, ohne dass deren dialektische Verfahren, insbesondere die Praxis des agonalen Debattenaustrags in der Disputation, von der Integration der neuen methodischen Ansätze substanziell berührt worden wären.
5. Die ersten Belege für die Wendung ›libertas philosophandi‹ Eine weithin geteilte Überzeugung war, dass Aristoteles zwar als Methodenautor unübertroffen sei, in Sachfragen durchaus aber auch geirrt habe. 1568 hält Juan Bautista Monllor, Professor für Logik an der Universität von Valencia, eine Rede über die Nützlichkeit der Analytiken des Aristoteles. Ausgerechnet dieser Text soll den Erstbeleg für die Wendung ›libertas philosophandi‹ enthalten, und zwar in einem Verständnis, das auf einer Linie mit der »von Valla und Ramus so energisch betonte[n] Idee der Freiheit des Philosophierens« stehen könnte.68 Auf diese Spur führt Hasso Jaeger mit folgender Formulierung: »Das Losungswort von der ›Libertas philosophandi‹ wurde daher gemeinsam mit der Weisung, die aus den Episteln des Horaz stammte, ›non iurare in verba magistri‹, in die akademische Lebensregel der Republica litteraria eingetragen. Weitab ausschließliches Privileg von Libertinisten, Einzelgängern oder philosophischen Avantgardisten zu sein, beriefen sich die Aristoteles-Kommentatoren und Übersetzer des Organon auf die gleichen Losungsworte.«69
67 Talon: Academia (1550), 13. Dazu meine Diskussion in Traninger, Anita: Taking Sides and the Prehistory of Impartiality. In: The Emergence of Impartiality. Hrsg. von Kathryn Murphy und Anita Traninger. Leiden, Boston 2014, S. 33–63, hier 55f. 68 Albrecht: Eklektik (1994), 137 formuliert dies als Frage, die für ihn nicht definitiv beantwortbar war, nachdem er kein Exemplar des Textes einsehen und sich auf die Beschreibung bei Hasso Jaeger, vgl. Anm. 69, verlassen musste. 69 Jaeger, Hasso H.-E.: Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik. In: Archiv für Begriffsgeschichte 18 (1974), S. 35–84, hier 61f.
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Monllor ist in der Tat selbst Aristoteliker, seine Paraphrase von Aristoteles’ Analytica Priora erschien 1593 bei Wechel in Frankfurt. Doch während Jaeger in seinem Urteil zuzustimmen ist, dass libertas philosophandi ganz offensichtlich von einem Schulphilosophen genauso als Parole verwendet wurde wie von den späteren Aufklärern, so ist es doch eine Präsupposition, die seine Aussage prägt und die ich nicht teile: dass beide darunter auch das gleiche verstehen würden. Der Begriff der libertas philosophandi, wie ihn ein Hochschullehrer wie Monllor in seiner feierlichen Universitätsrede anspricht, bezieht sich auf Praktiken der Universität, die nicht revolutionär oder gar anarchistisch eingefordert werden, sondern die im Rahmen von Statuten und Protokollen der Institution nicht nur denkbar sind, sondern bereits etablierte Verfahrensoptionen darstellen. Monllor schreibt sich zunächst jedoch in eine andere Kontinuitätsfiktion ein, indem er behauptet, die libertas philosophandi der Universitäten sei identisch mit der antiken Idee, dass nur der Freie der Philosophie würdig sei und umgekehrt die Philosophie der Freiheit bedürfe. Eine solche Begründung steht einem späthumanistischen Gelehrten wohl an, die Argumentation ex antiquitate ist eine bewährte Denkfigur im genus demonstrativum. Auch wenn die korporativen Freiheitsrechte umgekehrt nicht als solche figurieren, bilden sie doch den rechtlichen und pragmatischen Rahmen, auf den diese exhortationes bezogen sind. Für Monllor und die anderen Festredner und Apologeten des 16. und noch 17. Jahrhunderts geht es stets nur um das, was den Mitgliedern der Universität zu gewähren oder von ihnen zu verlangen sei. Der Ausgangspunkt für Monllors Einfordern der libertas philosophandi ist das wahrgenommene Kompetenzgefälle zwischen Aristoteles als Verfasser des Organon und Aristoteles als Naturwissenschaftler. Monllor trennt scharf zwischen dem unübertroffenen Logiker, an dessen zwei Bücher zum Syllogismus die Anläufe der ›Neuen‹ bei weitem nicht heranreichten, und dem Naturwissenschaftler aus De caelo und der Physik, der sich oftmals geirrt habe. In der Meteorologie habe er beispielsweise behauptet, dass die Donau in den Pyrenäen entspringe – dass Aristoteles hier irrt, weiß das lokale Publikum aus Erfahrung, und genau das ist es, was der Texttradition mithin entgegengesetzt wird. Im weiteren steht damit perspektivisch natürlich auch die Kosmologie zur Disposition.70 Vor diesem Hintergrund plädiert Monllor dafür, Aristoteles in der Naturphilosophie auf den Rang anderer Autoren herunterzustufen und seine Lehre im Vergleich mit an70 Monllor (Monlorius), Juan Bautista: De utilitate Analyseos sei Ratiocinationis Aristotelicae et Philosopho veritatem potius esse amplectandam, quam personarum delectum habendam. In: De Aristotelis doctrina orationes philosophicae tres. Frankfurt/M. 1591, 93f. Der Index hat dazu einen eigenen Eintrag: »Aristoteles in multis deceptus est.« Ebd. 138.
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deren zu diskutieren um zu sehen, was sich als richtig erweist. Zentral ist dabei, dass diese Gegenüberstellung der ›zwei Aristoteles‹ ein Problem ist, das präzise die beiden großen thematischen Blöcke des Curriculums der Artistenfakultät betrifft. Dort wurde in extenso auf der einen Seite die Dialektik gelehrt, auf der anderen Seite die Physik, die Schriften zur Kosmologie (De coelo et mundo), Meteorologie (Meteora) und Biologie (De generatione et corruptione) – die »Parva naturalia« als Gegenstück zu den »Parva logicalia«.71 Das heißt, auf dem Gebiet des ›prüfungsrelevanten Stoffs‹ der ersten Studienjahre zeigte sich Aristoteles zugleich als unerreichter arbiter in logicis und als mehr und mehr fragwürdig werdender Beobachter der Welt. Aristoteles sollte, obwohl seine Schriften Pflichtliteratur waren, die unbedingt und von allen gehört wurde, nicht aus dem Kanon aussortiert, aber in der Disputation der alten dialektischen Praxis des Autoritätenvergleichs unterzogen werden. Und mehr noch: An die Stelle einer sklavischen Gefolgschaft gegenüber allen seinen Lehrmeinungen sollte die imitatio der epistemischen Tugenden des Aristoteles treten: ein Nacheifern hinsichtlich der breiten und umfassenden Gelehrsamkeit, der immensen Arbeitsamkeit, des Eifers, der Sorgfalt – aber auch mit Blick auf seine Freiheit im Urteil und seine Urteilskraft beim Unterscheiden. Diese ›libertas philosophandi‹ sei die Wurzel der Philosophie.72 Monllors Aussagen unter ›Antiaristotelismus‹ zu subsumieren, verbietet sich von selbst; aber selbst als Beleg für einen wie immer gearteten Antiautoritarismus eignet sich Monllors Argument nicht. Es weist auf eine Problematik des universitären Systems hin, das die Aristotelischen Schriften, mit denen es sich anfangs gar nicht ohne Schwierigkeiten und Widerstände arrangierte, durch institutionelle Stabilisierung nachgerade kanonisch überhöht hatte. Zugleich pflegte man Praktiken, die die ständige debattistische Verhandlung der in der Lehre vermittelten Inhalte vorsahen. Die Universität kultivierte zugleich eine hochnormierte Lehre und eine Attitüde des methodischen Zweifels. Monllors Rede ist daher keine
71 Seifert, Arno: Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. Hrsg. von Notker Hammerstein. München 1996, S. 197–252, hier 210. Zit. Zarncke, Friedrich: Die Statutenbücher der Universität Leipzig aus den ersten 150 Jahren ihres Bestehens. Leipzig 1861, 417f.; Helssig, Rudolf: Die wissenschaftlichen Vorbedingungen für Bacclaureat in artibus und Magisterium im 1. Jahrhundert der Universität Leipzig. In: Beiträge zur Geschichte der Universität Leipzig im 15. Jahrhundert. Leipzig 1909. 72 »[…] eius variam & multiplicem doctrinam, inmensum laborem, studium, diligentiam, libertatem in iudicando, iudicium in discernendo imitatur. Hac namque libertate philosophandi nata fuit olim Philosophia, educata, aucta, & propagata.« Monllor: De utilitate (1591), 97.
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Attacke auf die Institution und ihre kanonischen Praktiken, sondern ein Appell in der Institution mit Blick auf das, was in ihren Grenzen möglich ist. Libertas philosophandi ist in diesem Sinn eine Verfahrensmaxime, die mit den praxeologischen Normen der Universität kompatibel ist, auch wenn sie, ernst genommen, deren Lehrkanon zu unterminieren imstande ist. Während Monllor auf die Problematik der Spannung zwischen der Kanonisierung des Aristoteles und der Kultur der zweifelnden Befragung hinweist, sind die beiden Beispiele, die Robert Sutton als Instanzen einer Vorgeschichte einer spinozistischen Denkfreiheit identifiziert hat, Giordano Bruno und Tommaso Campanella, mit dem gleichen Problem der naturwissenschaftlichen Defizienz des Aristoteles befasst, aber sogar noch stärker auf die reguläre Praxis der Universitäten gepolt.73 Giordano Bruno (1548–1600), der seit seiner Flucht aus Italien nach einer Häresieanklage 1576 und seiner darauf folgenden Exkommunikation als wandernder Philosoph durch Europa zog und wiederum regelmäßig mit seinen Gastgebern in Konflikt geriet, nimmt zweimal in seinen Schriften auf ›libertas philosophandi‹ Bezug. Beide Male geht es um eine Freiheit, die institutionell gewährt wird. Zu Pfingsten 1586 hatte Bruno am Collège de Cambrai in Paris eine Disputation angesetzt, für die er 120 Thesen gegen die Physik und De caelo des Aristoteles verfasste und in den Druck gab.74 Sein Student Jean Hennequin fungierte als Respondent, hielt die Einleitungsrede und sollte die Thesen verteidigen. Doch schon am ersten Tag der für drei Tage angesetzten Veranstaltung kam es zum Tumult, Bruno tauchte am Folgetag nicht mehr auf und setzte sich nach Deutschland ab. 1588 wendet er sich schließlich brieflich sowohl an König Henri III. als auch an den Rektor der Pariser Universität, Jean Filesac. Die Universität habe ihn, den Fremden, so schreibt er an den Rektor, gastfreundlich aufgenommen, und gleichsam als Gegengabe habe er ein paar Thesen hinterlassen, die den Aristoteles widerlegen. Nur weil er gewiss sein könne, dass in Paris der Wahrheit gegenüber dem Aristoteles der Vorzug gegeben werde, wage er dies überhaupt. Zudem sehe das Normalgebahren der Universität einen Modus vor, der gerade dann, wenn jemand eine neue Theorie vortragen möchte, umso mehr zu greifen habe: Wenn jemanden eine neue Theorie begeistere und geradezu dazu zwinge,
73 Sutton, Robert B.: The Phrase Libertas Philosophandi. In: Journal of the History of Ideas 14 (1953), No. 2, S. 310–316. 74 Bruno, Giordano: Centoventi articoli sulla natura e sull’universo contro i peripatetici. Centum et viginti articuli de natura et mundo adversus peripateticos. Hrsg. von Eugenio Canone. Pisa u. a. 2007. Zu zentralen Inhalten der Thesen (articuli) und zum Verlauf der Disputation kompakt Blum, Paul Richard: Giordano Bruno. München 1999, S. 103–111.
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dann möge es erlaubt sein, dass dieser philosophice auf dem Gebiet der Philosophie frei eine Meinung bilde und diese auch vortrage: »si qua (vel nova) ratio nos excitet atque cogat, cuicumque liceat philosophice in philosophia libere opinari, suamque promere sententiam.«75 Mehrere Aspekte dieser kompakten Wendung und des Aussagekontextes sind bemerkenswert: Zunächst geht es Bruno nicht darum, dass er überall und jederzeit frei seine Ansichten äußern kann. Vielmehr ist es der universitäre Kontext, in dem das im Folgenden Geforderte bzw. Gelobte seinen Platz hat. In genau diesem Sinn dankt Bruno bei seinem Abschied aus Wittenberg 1589 den dortigen Doktoren: Auch wenn seine Ideen eigenartig gewesen sein mögen, so hätten sie ihn doch wohlwollend aufgenommen und ihm libertas philosophandi gewährt.76 Was in Wittenberg ›alienum‹ heißt, wird im Schreiben an den Rektor von Paris mit einem der Schreckworte der Vormoderne belegt: ›novum‹. Es geht also nicht (mehr) um den Vergleich konkurrierender Autoritäten, sondern dezidiert um neue Ideen und Theorien (rationes). Ort, Art und Weise aber, denen der Vortrag dieses Neuen zu unterwerfen sei, sind klar eingegrenzt: »philosophice in philosophia«. Die Doppelung weist darauf hin, dass hier nicht allein das philosophische Argumentieren im Gegensatz zur und in Absetzung von der Theologie gemeint ist. ›Philosophice‹ verweist darüber hinaus, so würde ich behaupten, auf die pragmatische Rahmung der Disputation und die Schaffung eines freien, von Zurechnung entlasteten argumentativen Explorationsraums: ›Philosophice‹ nimmt hier anscheinend die Qualität von ›disputative‹ an.77 Mit den Beispielen des unbekannten Monllor und des hochprominenten Bruno zeigt sich, dass die Suche nach dem Erstbeleg für die Wendung libertas philosophandi nicht aufschlussreich ist: Wenn sie zur Sprache kommt, sind jeweils spezifische Nuancierungen zu beobachten, deren Zurechnung auf Langfristentwicklungen – im Sinn einer ›Vorgeschichte‹ zur ›eigentlichen‹ Denkfreiheit – durchweg problematisch ist. Das zeigt sich an 75 Bruno, Giordano: Opera latine conscripta. Hrsg. von Francesco Fiorentino, 3 Bde. Napoli 1879–1891 (Reprint Stuttgart-Bad Cannstatt 1962), Bd. 1, 1, S. 56–58, hier 57. 76 »Vos doctissimi, gravissimi, et morigeratissimi senatores non sprevistis, et studium meum, non a vestratum omnium studium prorsus alienum, non adeo improbastis, ut pateremini philosophicam libertatem, et vestrae humanitatis insignis specimen temerari.« Bruno: Opera latine conscripta, Bd. 1, 1, 23. 77 Anders Sutton: The Phrase Libertas Philosophandi (1953), 312, Anm. 14: »The context does not imply permission by someone or by inherent right, but probably refers to capacity and knowledge.« Dass Bruno auf eine institutionelle Tradition bezug nimmt, hat dagegen bereits Edward Peters hervorgehoben: »With Bruno, a name was finally put to a practice developed in the twelfth and thirteenth-century schools.« Peters, Edward: Libertas Inquirendi and the Vitium Curiositatis in Medieval Thought. In: ders.: Limits of Thought and Power in Medieval Europe. Aldershot u. a. 2001, IV, S. 89–98, hier 95.
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einem weiteren Fall aus dem frühen 17. Jahrhundert, an Tommaso Campanellas Apologia pro Galileo, die ebenfalls manchen als älteste bekannte Belegstelle für die Wendung libertas philosophandi gilt.78 Tommaso Campanella (1568–1639), der in De gentilismo non retinendo für eine christliche Philosophie eintrat, die den Aristotelismus an den Universitäten ersetzen sollte, hielt es für zwingend notwendig, dass es erlaubt sein müsse, die Natur zu erforschen. Denn nachdem die christliche Religion ohne Zweifel wahr sei, habe sie von den Philosophen nichts zu befürchten. Und umgekehrt: Was der Offenbarung widerspricht, könne nicht den Namen Philosophie für sich beanspruchen.79 Darum geht es ihm in seiner Verteidigung des Galileo: Zu zeigen, dass Galileo der Offenbarung nicht widerspricht; und dass er den Aristotelikern in seiner Argumentation nicht folgen muss. Betrachten wir den Kontext und die Form von Campanellas Forderung genauer. Die Apologia schrieb Campanella, als er 1616 selbst in einem neapolitanischen Kerker einsaß, 1622 wurde die Schrift in Frankfurt publiziert. Anlass waren die Attacken gegen Galileos im Sidereus Nuncius (1610) vertretenen Heliozentrismus.80 Campanella nimmt sich eine Frage zur Beantwortung vor, die er im Duktus des scholastischen Utrum-an formuliert: Ob die Art zu philosophieren, die Galileo praktiziert, im Einklang mit der Heiligen Schrift steht oder ihr vielmehr widerspricht? (»Quaeritur ergo: Vtrum ratio philosophandi, quam Galileus celebrat, faueat sacris scripturis, an vero aduersetur?«).81 Die Form, die er der Diskussion gibt, ist dann auch jene der quaestio disputata: Auf das quaeritur utrum folgt die Auflistung der Gegenargumente, die traditionell mit dem Incipit ›videtur quod‹ eingeleitet wurde. Campanella führt dementsprechend elf Einwände auf, die gegen Galileo erhoben worden sind. Darauf folgen Argumente für Galileo – das scholastische ›sed contra‹ –, und es sind wiederum
78 So z. B. Zenker: Denkfreiheit (2012), 15. 79 Campanella, Tommaso: Atheismus triumphatus, seu contra Antichristianismum, &c. De gentilismo non retinendo: De praedestinatione, et auxiliis divinae gratiae cento Thomisticus. Paris 1636. Vgl. De Mowbray: Philosophy as Handmaid of Theology (2004), 30–32. 80 Mario Biagioli, der so aufschlussreich die institutionellen Kontexte des Falls Galileo und das Patronagesystem untersucht hat, berücksichtigt Campanellas Apologie nicht, vgl. Biagioli, Mario: Galileo, Courtier. The Practice of Science in the Culture of Absolutism. Chicago, London 1993. 81 Campanella, Tommaso: Apologia pro Galileo, mathematico florentino. Vbi disqviritvr, vtrvm ratio philosophandi, qvam Galilevs celebrat, faueat sacris scripturis, an aduersetur. Frankfurt/M. 1622, 6, sowie natürlich die Titelformulierung selbst. Moderne englische Übersetzung mit ausführlichem Kommentar: Campanella, Tommaso: A Defense of Galileo, the Mathematician from Florence. Which Is an Inquiry as to Whether the Philosophical View Advocated by Galileo Is in Agreement with, or Is Opposed to, the Sacred Scriptures. Übers. und eingel. von Richard J. Blackwell. Notre Dame, London 1994.
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elf, hier ergänzt um drei Hypothesen, die er als völlig im Einklang mit der Heiligen Schrift, den Gesetzen der Natur und der allgemeinen Meinung stehend deklariert. In Kapitel vier schließlich folgt das ›respondeo dicendum‹: Campanella antwortet auf die Argumente, die gegen Galileo vorgebracht wurden. Allein im fünften Kapitel weicht Campanella vom traditionellen Schema ab, indem er seine zuvor entfalteten Argumente für Galileo nochmals aufgreift um zu zeigen, warum sie eigentlich nicht zu widerlegen seien.82 Das Thema der libertas philosophandi kommt im Zuge der Diskussion der zweiten Hypothese und den zugehörigen assertiones auf. Dass die libertas philosophandi im Christentum am stärksten sei, gilt Campanella als erwiesen, und er erläutert den Begriff ganz selbstverständlich in zweifache Richtung: Zum einen können Philosophen keine Vorschriften und Normen auf Grundlage einer Meinung aufgedrückt werden, ganz so, also ob sie in der Heiligen Schrift festgeschrieben sei – zur Meinung eines einzelnen wird hier natürlich die Lehre des Heiden Aristoteles herabgeschrieben; zum anderen aber könne die Auslegung der Schrift nicht auf einen einzigen Sinn beschränkt werden – dies sei nicht nur irrational und schädlich, sondern auch frevelhaft.83 Nach dieser Auffassung ist in der libertas philosophandi also das Prärogativ der Philosophen ebenso einbegriffen wie die Lehrfreiheit der Theologen. Was Campanella als Referenzrahmen für Galileos Aussagen ansetzt, ist eine Schriftauslegung, deren Grenzen dort gezogen werden, wo sie anderen Bibelstellen widerspricht.84 Mir scheint, dass es keine radikal neue Epistemologie ist, die Campanella hier vertritt,85 sondern dass er vielmehr die Komponenten der alten universitären Privilegien, die nach Außen und im Innen wiederum 82 Vgl. zur Form der quaestio Marenbon, John: Later Medieval Philosophy (1150–1350). 2., rev. Aufl. London, New York 1991, S. 28–31. 83 »Si ergo libertas Philosophandi plus viget in Christianismo, quam in caeteris nationibus, vt probatum est; quicunque philosophantibus leges & metas praescribit ex proprio arbitratu, tamquam ex S. Scriptura decretis, non aliter sentiendum docens ac ipse sentit, & scripturas vni tantum sensui sui ipsius aut alterius philosophi subijcit [sic] & coarctat; is non modo irrationabiliter & perniciose, sed etiam impie se habet.« Campanella: Apologia pro Galileo, 27. Für die Polyvalenz der Schriftauslegung beruft sich Campanella auf Thomas von Aquin: Summa theologica, Iª q. 32 a. 4. 84 Damanti, Alfredo: Libertas philosophandi. Teologia e filosofia nella lettera alla Granduchessa Cristina di Lorena di Galileo Galilei. Roma 2010, 229, sieht in der Apologia das theologische Pendant zu Galileis Brief an die Großherzogin der Toskana, in dem Galilei – in der Volkssprache und die Verbreitung des Schreibens nicht nur billigend in Kauf nehmend – Naturphilosophie und Bibelexegese zusammenbringt und den Schrifttext zum Zeugnis der Kopernikanischen Astronomie macht, vgl. die Edition des Briefs mit ausführlichem Kommentar ebd. S. 397–474. 85 So Sutton, der die Apologia als erste Parteinahme für eine freie (natur-)wissenschaftliche Forschung liest und, korrespondierend dazu, Campanellas libertas philosophandi als begriff-
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nach Disziplinen distribuiert waren, zu einem ausgeweiteten und in dem Sinn auch neu nuancierten Begriff der libertas philosophandi montiert. Die Forderungen, die Campanella hier formuliert, sind natürlich aus Sicht der auf die Amtskirche verpflichteten Schulphilosophen eine Anmaßung: Ein ehemaliger Dominikanermönch, der wegen einer Häresieanklage im Kerker einsitzt und der Hinrichtung nur durch das Vorschützen geistiger Umnachtung entkommen ist, beansprucht für sich und für einen Hofmathematiker das Recht, wie die Theologen Schriftauslegungen abzugleichen, um eine Übereinstimmung mit einer durch keine bewährte Autorität und schon gar nicht durch den Aristoteles und seine Kommentatoren gedeckten ›Wahrheit‹ zu beweisen. Dass er für etwas eintrat, das sich in der Tat im Fortgang der Geschichte als die Wahrheit erweisen würde, soll nicht den Blick darauf verstellen, dass Campanellas Apologie die pragmatischen und institutionellen Konventionen formal aufrief und zugleich herausforderte, dass sie zeitgenössisch nicht anders als ein Ausdruck größter Hybris zu lesen war und so die strategischen Ziele der Gattung gründlich verfehlte.
6. Methodenkonkurrenz und die Grenzen der alten libertas philosophandi Aus der Perspektive der Universitäten besteht die Problematik der libertas philosophandi darin, dass sie per definitionem dazu einlädt, ihre Grenzen auszutesten. Durch die Isolierung nach außen lässt sie einiges zu: Wenn Monllor darauf besteht, Aristoteles im Vergleich mit Galen und Pythagoras zu diskutieren oder Bruno gegen Aristoteles’ kosmologische Schriften opponiert – dann ist beides im universitären Innen (aber, wie der Fall Brunos belegt, tragischerweise nicht im assertiv gepolten Außen) verkraftbar. Doch wenn eine beständig vorangetriebene Kritik und Korrektur des Aristoteles auf lange Sicht die Widerlegung des Philosophus denkbar macht und damit einen bedrohlichen Ausfall am Dreh- und Angelpunkt des Kanons greifbar werden lässt, scheint das Gesamtsystem in Gefahr, woraus sich die gleichsam instinktive Abwehrhaltung erklärt, die angesichts der evidenten Irrtümer des Aristoteles in Einzelfragen so überzogen anmutet.86
liches Komplement einer epistemologischen Innovation, vgl. Sutton: The Phrase Libertas Philosophandi (1953), 311. 86 Die Kautelen, mit denen ein Abweichen von Aristoteles in der Lehre belegt wurde, waren daher beträchtlich, vgl. z. B. die Ratio studiorum (1599) der Jesuiten, die dem Professor für Philosophie ein Abweichen von Aristoteles in wichtigen Punkten nur dann gewährte, wenn seine Lehre dem christlichen Glauben widerspricht oder aber wenn sich bereits eine andere
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Unabhängig von der Frage, ob theologische Probleme philosophisch diskutiert werden können (die, wie gezeigt, Campanella wieder aufgriff ), verschärfte sich das Problem angesichts der Möglichkeit eines alternativen philosophischen Systems aufgrund eingebauter Aporien, wie das Beispiel des niederländischen Cartesianismusstreits um 1640 belegen mag. Auch im reformierten Holland hielt man an der Idee fest, dass ›Wahrheit‹ nur via Offenbarung gegeben sei, der menschliche Verstand hingegen allenfalls Wahrscheinlichkeiten liefern könne. Zugleich freilich stützte man sich präzise auf die Aristotelische Philosophie, um genau die eigentlich außer Zweifel stehenden Glaubensinhalte argumentativ und konzeptionell zu fassen. Eine Erschütterung oder gar vernichtende Kritik des Aristotelismus würde, soviel war klar, die Theologie nicht unberührt lassen. Diese Schlüsselfunktion des Aristotelismus bildet den Hintergrund der Verurteilung des Cartesianismus im Jahr 1642 durch die Universität und den Magistrat von Utrecht, die auf drei Anklagepunkten beruhte: Der Cartesianismus sei mit der traditionellen Philosophie nicht vereinbar; Studenten werde durch den Unterricht in der neuen Methode die traditionelle Terminologie nicht vermittelt und damit der Zugang zu den Werken der großen Philosophen versperrt; und schließlich: gewisse Ideen, die aus Descartes’ Lehre folgen, seien falsch und absurd.87 Im Holland des 17. Jahrhunderts zeigt sich allerdings zugleich – vielleicht ein letztes Mal und entgegen dem, was die Verurteilung in Utrecht auf den ersten Blick suggeriert – die Integrationskraft, ja, Omnivorität des scholastischen Systems: Die Haltung vieler Universitätsprofessoren war weder strikte Ablehnung noch vollumfängliche Akzeptanz. Aber die erste Reaktion der Schulphilosophen war, René Descartes’ (1596–1650) Medi-
Meinung durchgesetzt habe. Das bedeutet, dass Aristoteles gerade nicht für unwiderlegbar gehalten wurde, dass aber – abgesehen von der Vereinbarkeit mit der Lehre der Kirche, die seit dem Mittelalter als Problem erkannt war – mindestens ein Wandel der endoxa gegeben sein müsse (und damit die konträre Meinung eines einzelnen nicht ausreiche), um Aristoteles auszuhebeln. Ratio studiorum et institutiones scholasticae societatis Jesu per Germaniam olim vigentes. Bd. 2: Ratio studiorum ann. 1586. 1599. 1832. Berlin 1887 (Monumenta Germaniae Paedagogica, 5), 328. Die wichtigere Debatte im Jesuitenorden betrifft aber die Zulässigkeit abweichender Meinungen in der Theologie, die als Opposition zwischen libertas opinandi und uniformitas doctrinae geführt wird, vgl. dazu Leinsle, Ulrich G.: Delectus opinionum. Traditionsbildung durch Auswahl in der frühen Jesuitentheologie. In: Im Spannungsfeld von Tradition und Innovation. Festschrift für Joseph Kardinal Ratzinger. Hrsg. von Georg Schmuttermayr u. a. Regensburg 1997, S. 159–175; ders. Dilinganae Disputationes. Der Lehrinhalt der gedruckten Disputationen an der Philosophischen Fakutlät der Universität Dillingen 1555–1648. Regensburg 2006, S. 48–62. 87 Verbeek, Theo: Tradition and Novelty: Descartes and Some Cartesians. In: The Rise of Modern Philosophy: The Tension between the New and Traditional Philosophies from Machiavelli to Leibniz. Hrsg. von Tom Sorell. Oxford 1993, S. 167–196, hier 167, 181f.
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tationes de prima philosophia (1641) in der Disputation zur Diskussion zu stellen. Es wurde damit ein Lehrgebäude in die aristotelische Methodik eingefädelt, das als Ersatz für den traditionellen Aristotelismus verstanden werden wollte und das folgerichtig eine Terminologie und Methode vorlegte, die mit der aristotelischen Schulphilosophie schlicht nicht kompatibel waren. Das Schlagwort, unter dem der Cartesianismus verhandelt wurde, war jenes der libertas philosophandi, und zwar nicht im Sinne von Descartes’ »liberté de iuger par moy«,88 sondern der geübten Praxis der Prüfung von Positionen in der Disputation – also der Verhandlung im Aristotelischen Methodenrahmen, den Descartes gerade zu negieren suchte.89 Adriaan Heereboord (1614–1661), Professor für Philosophie in Leiden, war einer der ersten, die die Philosophie Descartes’ in den Niederlanden lehrten. Für ihn gibt es nur eine Art des Umgangs mit der neuen Philosophie: Alle praeiudicia müssten verabschiedet und die Lehren aller Sekten einer Diskussion in utramque partem unterzogen werden.90 Darin bestand für Heereboord die ›Freiheit des Philosophierens‹: in der schonungslosen Konfrontation von opiniones in der Disputation.91 Descartes’ cogito und sein Anspruch, die ›eigentliche‹, durch Anciennität ausgezeichnete Philosophie gegenüber der ›Novation‹ der Aristoteliker vorzulegen,92 wird von Heereboord insofern einfach beiseite gewischt, als er Descartes in das System der Disputation einspeist. Die Autoritätenkonfrontation 88 Descartes, René: Discours de la méthode, AT VI, 5, Z. 16. Zit. bei Albrecht: Eklektik (1994), 223, Anm. 38. 89 Um Descartes in der Disputation zu verhandeln, musste man de facto grundlegende Setzungen seiner Philosophie – wie z. B. die Ablehnung des Syllogismus – dezidiert ignorieren, vgl. Scheib, Andreas: Die Libertas Philosophandi als Praktische Metaphysik? Ein Beispiel aus der frühen Descartes-Rezeption. In: Departure for Modern Europe. A Handbook of Early Modern Philosophy (1400–1700). Hrsg. von Hubertus Busche. Hamburg 2011, S. 409–423. Vgl. zu Descartes’ Ablehnung der Disputation selbst AT VI, 69, Z. 4–7. 90 Heereboord, Adriaan: Ad curatores epistola. In: ders.: Meletemata philosophica. Amsterdam 1655 (zuerst 1654), S. 1–20. In der Epistola trägt Heereboord Ideen aus seiner nicht überlieferten Antrittsvorlesung von 1641 vor. 91 Heereboord, Adriaan: Sermo academicus, de rectâ philosophicè disputandi ratione (1648). In: ders.: Meletemata philosophica, S. 29–38. Vgl. zu Heereboord: Albrecht: Eklektik (1994), S. 216–226, hier 224. Kein Professor seiner Zeit soll angeblich so viele Disputationen abgehalten haben wie Heereboord: vgl. Thijssen-Schoute, Caroline Louise: Nederlands Cartesianisme. Utrecht 1989, 116. 92 Siehe Verbeek: Tradition and Novelty (1993), 170f. Die Auswirkungen und Implikationen des Cartesianismus sind hier natürlich nicht einmal anzureißen, es mag der Verweis auf die einfache wie weitreichende Formel Werner Schneiders’ genügen: »[…] erst Descartes macht durch seinen Versuch, eine sichere, d. h. zweifelsfreie Erklärung der Wirklichkeit zu begründen, mit dem Zweifel ernst.« Schneiders: Vernünftiger Zweifel und wahre Eklektik (1985), 146. Es ist der umfassend und unausweichlich gewordene Zweifel, der das Bedürfnis nach dem Selbstdenken grundlegt.
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im Akt des Disputierens ist auch der ausschließliche Ort, an dem er die konkurrierenden Theorien dem iudicium seiner Studenten überlässt: »Indulsi Studiosis meis, nulli negandam, in disputando, ingenii & judicii libertatem, uti ipse sum liberior, sub libero ac Batavo aëre natus.«93 Seine eigenen Allianzen sind allerdings klar: Er stellt sich auf die Seite von Aristoteles, der selbst die Freiheit des Philosophierens praktiziert habe, und auf jene des Descartes, den er »als fleischgewordenen Inbegriff dieser Freiheit im Philosophieren« verehrte.94 Die Gegner sind die sklavischen Aristotelesverehrer. Es scheint mithin, als ob es Heereboord mindestens ebensosehr um das Prinzip der libertas philosophandi geht wie um Descartes’ Lehre als solche.95 Auch wenn schon allein der Umstand, dass diese Lehre Gegenstand von Debatten wurde, auf ein Interesse schließen lässt, so darf doch keine bedingungslose Unterstützung daraus abgeleitet werden. Diese libertas philosophandi war freilich keine Innovation, sondern entsprach dem, was Universitätsmitgliedern als Verhandlungsraum zugänglich war; und zugleich war sie in methodischer Hinsicht ›moderner‹ als der Cartesianismus: »This much is clear: the scholastic method of reviewing the opinions of relevant authorities before drawing a conclusion is perhaps in better agreement with modern scientific practice than the intuitive procedure of Descartes.«96 Dass Heereboord für und gegen Descartes disputieren ließ, gehört zum explorativen Charakter des Formats. Die Disputationsregeln unterbinden idealiter eine Identifikation mit opiniones, und doch machte er selbst aus seiner Faszination mit Descartes kein Hehl. Die Kontrarietät von Descartes’ antischolastischer Doktrin forderte die Parteinahme gleichsam heraus. In Utrecht, wo wie in Leiden und anderen Städten glühende Anhänger des Descartes gegen standhafte Verteidiger des Aristoteles auftraten, mischte sich Descartes durch Veröffentlichung eines Briefes an den Provinzial der Jesuiten, Dinet, 1642 von außen und öffentlich ein und heizte die Situation weiter auf. Das widersprach genau dem Prinzip der Befriedung bzw. Entemotionalisierung, die von der Disjunktion von persönlicher Überzeugung und Debattenposition in der Disputation erhofft wurde (und die natürlich in der Regel dennoch nicht gelang). Dass 93 Heereboord: Ad curatores epistola, 9. Thijssen-Schoute: Nederlands Cartesianisme (1989), 99. 94 Albrecht: Eklektik (1994), 222. 95 Albrecht: Eklektik (1994), 218. Vgl. auch die Disputationsthesen Pro libertate philosophandi. In: Meletemata philosophica, S. 330–333, wo Heereboord argumentiert, dass in der Disputation ausnahmslos alle Positionen, auch die des Aristoteles, zur Disposition stehen müssten. 96 Verbeek: Tradition and Novelty (1993), 180; sowie Verbeek, Theo: Descartes and the Dutch. Early Reactions to Cartesian Philosophy, 1637–1650. Carbondale-Edwardsville 1992.
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die Universität und der Magistrat von Utrecht die Veröffentlichung von Werken für oder gegen die Cartesische Philosophie untersagte, liegt dann auch nicht in den Inhalten, sondern in der Gefährdung des akademischen Friedens begründet.97 Die Kontroversen schwelten freilich weiter und Descartes selbst schaltete sich mehrfach mit – aus der Sicht der Schulmänner – schwerwiegenden Provokationen ein. 1656 sah sich die Synode von Südholland gezwungen, den Leidener Professoren die weitere Verbreitung des Cartesianismus zu untersagen, um die »Vermischung der Theologie mit der Philosophie und den Missbrauch der Freiheit des Philosophierens zum Nachteil der Schrift« zu unterbinden.98 In engem Zusammenhang mit dem Streit um Aristotelismus und Cartesianismus, der von vielfältigen Ausgleichsbemühungen begleitet war,99 ist das Interesse in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an der philosophia electiva oder eclectica zu sehen. Im Rückgriff auf Diogenes Laertius’ Erwähnung von Potamon von Alexandrien als des ersten eklektischen Philosophen wird die lange Geschichte einer Sekte konstruiert, die sich gerade durch das Fehlen einer verbindlichen Doktrin und durch eine Praxis des Wählens aus den Lehren anderer sectae auszeichne.100 Nun kann man 97 Die Literatur zum Carteisanismusstreit ist reich, vgl. neben den Genannten für eine kompakte Darstellung Beck, Andreas: Gisbert Voetius (1589–1676). Sein Theologieverständnis und seine Gotteslehre. Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte. Göttingen 2007, 60–90; Stewart, Michael A.: Libertas Philosophandi: From Natural to Speculative Philosophy. In: Australian Journal of Politics and History 40 (1994), S. 29–46, bes. 37ff. Für die Situation in Groningen de Mowbray, Malcolm: Libertas Philosophandi. Wijsbegeerte in Groningen rond 1650. In: Zeer kundige professoren: beoefening van de filosofie in Groningen van 1614 tot 1996. Hrsg. von Henri A. Krop, J. A. van Ruler und A. J. Vanderjagt. Hilversum 1997, S. 33–46. 98 »Ordre jegens de vermenginge van de Theologie met de Philosophie ende het misbruyck van de vryheyt int philosopheren tot naedeel van de Schrifture« (30. September 1656). In: Molhuysen, P.C.: Bronnen tot de geschiedenis der Leidsche Uuniversiteit 1574–1811. Den Haag 1913–1924, III, 55*–58*. 99 Vgl. Bohatec, Josef: Die cartesianische Scholastik in der Philosophie und reformierten Dogmatik des 17. Jahrhunderts. I. Entstehung, Eigenart, Geschichte und philosophische Ausprägung der cartesianischen Scholastik. Leipzig 1912. 100 Vgl. die Anfänge bei Lipsius, Justus: Manuductionis ad Stoicam Philosophiam Libri Tres. Leiden 1644 (zuerst 1604), I, dissertatio V, 22f.; Vossius, Gerhard Johannes: De Philosophorum Sectis Liber. Den Haag 1657, cap. 21, § 16. Zit. bei Schneider, Ulrich Johannes: Eclecticism and the History of Philosophy. In: History and the Disciplines. The Reclassification of Knowledge in Early Modern Europe. Hrsg. von Donald R. Kelley. Rochester 1997, S. 83–101. Dazu weiters Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983, Kap. V; ders.: In nullius verba iurare magistri. Über die Reichweite des Eklektizismus. In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Hrsg. von Wilfried Barner. München 1989, S. 297–310, Diskussionsbericht und Kommentar: S. 311–313; Holzhey, Helmut: Philosophie als Eklektik. In: Studia leibnitiana 15 (1983), S. 19–29; Dreitzel, Horst: Zur Entwicklung und Eigenart der ›Eklektischen
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sich fragen, welche philosophischen sectae (und nicht religiöse Denominationen) im 17. Jahrhundert überhaupt zur Wahl standen, und es wird rasch deutlich, dass die Idee einer secta electiva angesichts der Unvereinbarkeit der Systementwürfe von Aristoteles und Descartes an Momentum gewann101 – trotz der in der Philosophie beider dezidiert nicht angelegten Idee eines selektiven Zugriffs. Von hier aus entwickelt sich der Begriff der Kritik, der auf das Urteil des Einzelnen abstellt, das sich in den universitären Kontroversen um den Cartesianismus schon angedeutet hatte: Es geht bei der philosophia electiva nicht mehr um Versöhnung oder synkretistische Harmonisierung unterschiedlicher Lehren, sondern um das Wählen zwischen Sekten. Lange Zeit wurde eine solche Haltung gar nicht mit dem Begriff der Kritik belegt, vielmehr handelt es sich um eine »Tendenz ohne Namen oder vielmehr eine Tendenz mit vielen Namen.«102 Vom kollektiven Ausstreiten von Positionen verschiebt sich der Fokus hin zum individuellen Urteil, das natürlich in den unterschiedlichsten Hinsichten fehlgehen kann. Gebündelt wird diese Sorge um das Fehlurteil im – bei Heereboord schon angedeuteten – Vorurteilsdiskurs, der zwischen zwei Polen des Irrens aufgespannt ist: dem blinden Festhalten an Autoritäten (praeiudicium autoritatis) und dem ebenso blinden Vertrauen auf die rasch gefasste Meinung (praeiudicium praecipitationis). »Beim ersten Vorurteilstyp traut man seinem Urteil zu wenig, beim zweiten zu viel zu […].«103 Der Sicherungsmechanismus, der Philosophie‹. In: Zeitschrift für Historische Forschung 19 (1991), S. 281–343; Albrecht: Eklektik (1994), passim, sowie ebd. zu Vossius: 250–258; zu einer weiteren, wissensgeschichtlichen Auffassung der Eklektik als »Ensemble spezifisch gelagerter Ressourcen« s. Gierl, Martin: Befleckte Empfängnis. Pietistische Hermeneutik, Indifferentismus, Eklektik und die Konsolidierung pietistischer, orthodoxer und frühaufkärerischer Ansprüche und Ideen. In: Strukturen der deutschen Frühaufklärung 1680–1720. Hrsg. von Hans Erich Bödeker. Göttingen 2008, S. 119–146, und zum Verhältnis von Eklektik und Skepsis Mulsow, Martin: Eclecticism or Skepticism? A Problem of the Early Enlightenment. In: Journal of the History of Ideas 58 (1997), No. 3, S. 465–477. 101 Schneider: Eclecticism and the History of Philosophy (1997), 92. 102 Schneiders: Vernünftiger Zweifel und wahre Eklektik (1985), 145f. 103 Beetz, Manfred: Transparent gemachte Vorurteile. Zur Analyse der praejudicia auctoritatis et praecipitantiae in der Frühaufklärung. In: Rhetorik 3 (1983), S. 7–33, hier 14. Die Unterscheidung, allerdings unter dem Begriff des error, bereits bei Bacon, Francis: De dig nitate et augmentis scientiarum libri IX. In: The Works of Francis Bacon. Hrsg. von James Spedding, Robert Leslie Ellis und Douglas Denon Heath, 14 Bde. London 1857–1874 (Reprint Stuttgart-Bad Cannstatt 1963), Bd. I, S. 423–837, hier 457 und 461. Der Katalog der Vorurteile wuchert natürlich nachgerade polyhistorisch, so z. B. bei Baillet, Adrien: Jugemens des savans sur les principaux ouvrages des auteurs. Revûs, corrigés, & augmentés par M. De la Monnoye de l’Académie Françoise. Tome Premier. Paris 1722 (zuerst 1685), wo sich der Katalog der Wurzeln möglicher préjugés von den Autoritäten über Nationen bis zum Preis von Büchern erstreckt. Dem allseits gefeierten und geforderten Selbstdenken konnte man offenbar nicht trauen, allerorts konnte der urteilende Geist in die Irre geführt werden,
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in beide Richtungen regulierend wirken soll, ist forthin die Idealvorgabe der Unparteilichkeit: Gegenüber den Autoritäten möge man gleichmäßige Distanz wahren – das Schlagwort ist dann Eklektik –, und gegen die intellektuelle Selbstüberschätzung hilft die Prüfung des eigenen Urteils mit fremden Augen. Es wirkt wie ein Echo der oben zitierten Ketzerprozesse, dass man die Eklektik als Gegenmittel zur pertinacia versteht, das sture Festhalten an der einen oder anderen Position104 – man erinnere sich an die Hartnäckigkeit als definiens der hairesis. Drei der zentralen »Programmideen der Aufklärung« sind nach Norbert Hinske Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit.105 Sie sind untereinander konvertierbar, und doch scheint mir die Umstellung von kollektiver Wahrheitssuche auf individuelles Urteil die kaum zu überschätzende Wasserscheide in der Wissensgeschichte der Neuzeit zu sein. »Die geistige Operation mit dem höchsten Prestige in der frühen Aufklärung (oder im späten Späthumanismus) ist […] die Kultivierung des interessenfrei gedachten (»unpartheyischen«) Ingeniums, wie es mit dem bereits altmodischen Ausdruck noch immer heißt, also der Erkenntnis sichernden, ›Subjekt‹ und ›Realität‹ erst konstituierenden raison.« Diese lautlos arbeitende raison, deren Leitoperation die Kritik sei, kontrastiert Herbert Jaumann mit den »stark affektiven Arbeitsgeräusche[n] der Satire«; man könnte ihr aber mit gleichem Recht das Getöse der Disputation gegenüberstellen, den gleichermaßen affektiv aufgeladenen, medial dazu tatsächlich oral-auralen Meinungsstreit unter Anwesenden.106
7. Spinoza und das Schleifen der Grenze zwischen Innen und Außen Libertas philosophandi figuriert bis hierhin als gleichermaßen geübte wie umkämpfte akademische Praxis. Baruch de Spinozas (1632–1677) Tractatus theologico-politicus (1670) ist nun auch ein Plädoyer für libertas phi-
allenthalben waren Denkfehler zu befürchten, daher ist der Vorurteilsdiskurs nichts anderes als die Kehrseite der Maxime des Selbstdenkens. Vgl. Schneiders, Werner: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1983. 104 Beetz: Transparent gemachte Vorurteile (1983), 24. Die pertinacia steht auch im Fokus der Definition des Vorurteils: Es bestehe nicht so sehr im Fehlurteil oder in der vorgefassten Meinung, sondern am sturen Festhalten daran wider besseres Wissen, s. ebd. 8. 105 Hinske, Norbert: Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie. In: Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung. Hrsg. von Raffaele Ciafardone. Stuttgart 1990, S. 407–458, bes. 417–424, hier 417. 106 Jaumann, Herbert: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden, New York, Köln: Brill 1995, 225.
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losophandi – allerdings in einem radikal neuen Sinn. Spinozas Tractatus stellt einen Wendepunkt für die Semantik der Wendung dar. Seine These ist, wie der vollständige Titel anzeigt, »daß die Freiheit zu philosophieren nicht nur ohne Schaden für die Frömmigkeit und den Frieden im Staat zugestanden werden kann, sondern auch nicht aufgehoben werden kann, ohne zugleich den Frieden im Staat und die Frömmigkeit aufzuheben.«107 Spinozas Ansatz ist ein Beitrag zur alten Debatte des Verhältnisses von Philosophie und Theologie und stellt zugleich eine bis dahin ungekannte Radikalisierung dar. Er entwickelt seinen Begriff der libertas philosophandi vor dem Hintergrund, dass er die Bibel zu einem einfachen Text herabschreibt, der klare Vorgaben für ein moralisch richtiges Leben mache und Gehorsam fordere; nichts darin widerspreche der Vernunft, aber umgekehrt sei die Vernunft nicht an die Heilige Schrift gebunden: »So kam ich zu der festen Überzeugung, daß die Schrift die Vernunft völlig frei läßt und mit der Philosophie nichts gemein hat, daß vielmehr beide auf je eigenen Füßen stehen.«108 Daraus folgt, »daß einem jeden die Freiheit, selbst zu urteilen, und die Befugnis, die Grundlagen des Glaubens nach der eigenen Sinnesart auszulegen, gelassen werden muß und daß der Glaube eines jeden einzig nach dessen Werken zu beurteilen ist, ob diese nämlich fromm sind oder nicht.«109 Diese Idee legt Spinoza dem »philosophischen Leser«110 zur Prüfung vor. Denn obwohl die individuelle Urteilskraft gefordert ist, soll kein breiter Adressatenkreis angesprochen sein: »Das gemeine Volk, überhaupt alle, die mit ihm die gleichen Affekte teilen, lade ich also nicht ein, diese Seiten zu lesen. Lieber wünschte ich mir, sie beachteten dieses Buch überhaupt nicht, statt lästig zu werden, indem sie es, wie es ihre Art ist, verdreht auslegen, wovon sie selbst nichts haben und womit sie den anderen
107 Spinoza, Baruch de: Theologisch-politischer Traktat. Neu übers., hrsg. und mit Einl. und Amerkungen versehen von Wolfgang Bartuschat. Hamburg 2012 (Spinoza, Sämtliche Werke Bd. 3), 1. Vgl. den vollen Titel der Schrift von Spinoza: Tractatus Theologico-Politicus Continens Dissertationes aliquot, Quibus ostenditur Libertatem Philosophandi non tantum salva Pietate, & Reipublicae Pace posse concedi: sed eandem nisi cum Pace Reipublicae, ipsaque Pietate tolli non posse. Hamburg (recte: Amsterdam) 1670. 108 Spinoza: Theologisch-politischer Traktat, 10: » […] omnino mihi persuasi, Scripturam rationem absolute liberam relinquere, & nihil cum Philosophia commune habere, sed tamen hanc, quam illam proprio suo talo niti.« Spinoza: Tractatus Theologico-Politicus, Praefatio, fol. [(*)4v]. 109 Spinoza: Theologisch-politischer Traktat, 11: »unicuique sui judicii libertatem, & potestatem fundamenta fidei ex suo ingenio interpretandi relinquendam & fidem uniuscujusque ex solis operibus judicandam, num pia, an impia sit.« Spinoza: Tractatus Theologico-Politicus, Praefatio, fol. (**)r]. 110 Spinoza: Theologisch-politischer Traktat, 12; »Philosophe lector«, Spinoza: Tractatus Theologico-Politicus, Praefatio, fol. (**)r.
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nur schaden, denen, die freier philosophierten, stünde ihnen nicht die Meinung im Wege, die Vernunft müsse die Magd der Theologie sein.«111
Aber das Problem ist natürlich nicht das Denken als Vorgang der Interiorität, sondern die Äußerung – das wird im 16. und 20. Kapitel des Tractatus deutlich. Es geht darum, »zu untersuchen, wie weit diese Freiheit zu denken und zu sagen, was man denkt, sich in dem besten Staat erstreckt.«112 Bar tuschat sieht hier eine sehr weiche Auffassung des ›sentire‹ am Werk: »Als Freiheit bloß des Meinens, das sich vielleicht auf ein persönliches Überzeugtsein stützt, ist sie weit davon entfernt, schon eine vernünftige Einsicht zu sein, die einen Anspruch auf Wahrheit erheben könnte. Hier liegt kein Artikulationsmodus der Philosophie vor; es ist ein Modus des bloß Privaten, eine Privatansicht, die jedoch, sofern Spinoza mit ihr auch ein Sagen (dicere) verbindet, nicht der Sphäre des bloß Privaten und des inneren Überzeugtseins überlassen bleibt.«113 Zwar stimmt es, dass die freie Äußerung von Meinungen als allgemeines Recht als Grundbedingung für den ›besten Staat‹ gefasst wird. Zugleich legt die Terminologie aber keine »Spontaneität des Geistigen«114 nahe, sondern geregelte Prozesse der Urteilsbildung: sentire/sententia ist im Sprachgebrauch der Universitäten ein Synonym von opinari/opinio, der gerechtfertigten Meinung und des qualifizierten Urteils, nicht des ›bloßen‹, vielleicht gar emotionsgeleiteten Empfindens.115 Mehrfach distanziert Spinoza die vorgetragenen Überlegungen von einem affektgeleiteten vulgus, dieser sei mit den vorgelegten Fragen gar nicht zu befassen. Dennoch: Jeder könne »sagen und lehren […], was er will, ohne das Recht und die Autorität des Souveräns, d.h. den Frieden im Staat, in Gefahr zu bringen, unter der Voraussetzung nämlich, daß er es ihm überläßt, über alle Handlungen zu beschließen […].«116 ›Lehren‹ ist wiederum ein Wort, das
111 Spinoza: Theologisch-politischer Traktat, 13: »Vulgus ergo & omnes, qui cum vulgo iisdem affectibus conflictantur, ad haec legenda non invito, quin potius vellem, ut hunc librum prorsus negligant, quam eundem perverse, ut omnia solent, interpretando, molesti sint, & dum sibi nihil prosunt, aliis obsint, qui liberius philosopharentur, nisi hoc unum obstaret, quod putant rationem debere Theologiae ancillari; nam his hoc opus perquam utile fore confido.« Spinoza: Tractatus Theologico-Politicus, Praefatio, fol. (**)v. 112 Spinoza: Theologisch-politischer Traktat, 238: »libertas sentiendi, & quae unusquisque sentit, dicendi«, Spinoza: Tractatus Theologico-Politicus, 175. 113 Bartuschat, Wolfgang: Spinoza über libertas philosophandi in Religion und Politik. Halle/S. 2006 (IZEA-Vorträge, hrsg. vom Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, 2), 9. 114 Bartuschat: Spinoza über libertas philosophandi (2006), 9. 115 Spinozas Verwurzelung in der scholastischen Tradition hat bereits nachgewiesen Freuden thal, Jacob: Spinoza und die Scholastik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. Leipzig 1887, S. 83–138. 116 Spinoza: Theologisch-politischer Traktat, 309. Spinoza: Tractatus Theologico-Politicus, 227.
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auf den universitären Kontext zurückverweist und auf mehr abstellt als allein auf persönliche Meinungen. Die freie Meinungsäußerung zu unterbinden, hieße freilich, die Loyalität der Bürger zu unterminieren, indem ihnen eine dauernde Verstellung abverlangt wird: Heuchelei und Unredlichkeit werde so provoziert. Es sei daher »unmöglich, den Menschen die Freiheit, zu sagen, was sie denken, zu nehmen«.117 Jonathan Israels Auffassung ist, dass libertas philosophandi als ›freedom of thought‹ im weiten Sinn zu verstehen sei, also als Denkfreiheit, weil Spinozas Überlegungen nicht auf die Philosophie im engeren Sinn bezogen seien.118 In der Tat stellt sich Spinoza in zwei wesentlichen Hinsichten gegen die ältere Tradition der libertas philosophandi, greift dabei aber präzise die Terminologie und die Semantik der universitären Argumentationsfreiheiten auf: Er gesteht zum einen auch Ungelehrten iudicium und opinio zu und weitet die Fachausdrücke gelehrten Räsonnierens auf das Volk insgesamt aus; zum anderen gewährt er Gelehrten wie Ungelehrten ein absolutes und umfassendes Rederecht, alle Immunisierungen und Sicherungsmechanismen werden geschleift, alle auch noch so unqualifizierten, vorläufigen oder heterodoxen Meinungen werden unmittelbar auf ›Assertion‹ und mithin scharf gestellt. Hinsichtlich des Begriffs der libertas philosophandi ist es diese Umstellung von korporativ abgesicherter, durch mediale Mündlichkeit und institutionelle Ein- und Ausschlussverfahren gewährleisteter Debattenrechte auf individuelle, kritische, weder an Autoritäten noch institutionelle Zwänge gebundene Vernunft, die die ausschlaggebende Resemantisierung des Begriffs trägt.
8. Nach Spinoza: Denkfreiheit in der Universität Vieles war bis dahin im Latein der Gelehrtengemeinschaft der Universität und im ephemeren Medium der Mündlichkeit und insbesondere in der Funktion des Opponenten sagbar. Dass diese Sicherungsmechanismen zentral waren, darüber herrschte weithin Einigkeit, und Spinoza selbst for117 Spinoza: Theologisch-politischer Traktat, 312, das Zit. 316. Bemerkenswerterweise müsste genau dieser Typus von Dissimulation Spinoza selbst unterstellt werden, wenn man ihn auf der Grundlage seiner Schriften als Atheisten konstruieren wollte, wie dies z. B. Misrahi, Robert: L’athéisme et la liberté chez Spinoza. In: Revue internationale de philosophie 31 (1977), S. 217–230, tut. Vgl. die Kritik von Schröder, Winfried: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. StuttgartBad Cannstatt 1998, 38, Anm. 50. 118 Israel, Jonathan: Note on the Text and Translation. In: Spinoza, Benedict de: TheologicalPolitical Treatise. Hrsg. von Jonathan Israel, übers. von Michael Silverthorne und Jonathan Israel. Cambridge 2007, S. xlii–xlvi, hier xliv.
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muliert ja seine Vorbehalte gegenüber einer weiten Dissemination: Er will die Zugänglichkeit seines Texts ganz im Gegenteil klar limitiert wissen, damit nicht die Ungebildeten daraus eine Farce machen. Garant dieser Exklusivität ist nicht zuletzt die lateinische Sprache. Spinoza reklamiert damit paradoxerweise einen der Sicherungsmechanismen für sich, der traditionell der universitären Auseinandersetzung vorgeschaltet war. Für seine Zeitgenossen freilich war das zu wenig. Spinoza gehörte eben nicht in die Reihen der Korporationsmitglieder, er genoss nicht den Schutz der Institution – und selbst wenn er ihn genossen hätte, wäre er doch zu weit gegangen mit der Forderung nach uneingeschränkter Denkfreiheit. Es ist daher zu wenig, Spinozas Begriff der libertas philosophandi als Freiheit von Repression darzustellen.119 Es handelt sich vielmehr um eine radikale – wenn auch kommunikativ paradox vorgetragene – Entgrenzung eines alten Privilegs.120 An einer solchen Preisgabe angestammter Vorrechte konnte die Profession natürlich kein Interesse haben.121 Jakob Thomasius (1622–1684), der erste, der in Deutschland gleich im Jahr 1670 auf den Tractatus reagierte, stellte in seinem Programma adversus anonymum de libertate philosophandi, das an die Mitglieder der Leipziger Universität gerichtet war, präzise die Idee einer nicht restringierten Denk- und Redefreiheit ins Zentrum seiner Kritik.122 Bemerkenswert ist, dass Thomasius eingangs des Programma
119 So jüngst unter Rückgriff auf Isaiah Berlins Unterscheidung von ›positiver‹ und ›negativer‹ Freiheit und ohne Berücksichtigung der nicht-englischsprachigen Forschung Cook, J. Thomas: Libertas philosophandi and Freedom of Mind in Spinoza’s Tractatus Theologicopoliticus, in: Rollins College Faculty Online Publications 62 (2012) (http://scholarship.rollins. edu/as_facpub/62). 120 Bereits van Mansvelt, Regnerus: Adversus anonymum theologo-politicum liber singularis. Amsterdam 1674, weist darauf hin, dass dass Spinozas libertas philosophandi, etwas anderes bedeutet als das, was in den Universitäten darunter verstanden wurde, s. dazu Israel, Jonathan: The Early Dutch and German Reaction to the Tractatus Theologico-Politicus. Foreshadowing the Enlightenment’s More General Spinoza Reception? In: Spinoza’s ›Theological-Political Treatise‹. A Critical Guide. Hrsg. von Yitzhak Y. Melamed und Michael A. Rosenthal. Cambridge 2010, S. 72–100, hier 81f. 121 Dass Spinozas Begriff der libertas philosophandi inakzeptabel war, lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass der Ort der affirmativen Diskussion zunächst die ›littérature clandestine‹ war, s. Schröder, Winfried: Spinoza im Untergrund. Zur Rezeption seines Werks in der ›littérature clandestine‹. In: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte. Hrsg. von Hanna Delf, Julius H. Schoeps und Manfred Walther. Berlin 1994, S. 142–161. 122 »[…] perniciosissimum esse, libertatem omninò, h.e. nullis circumscriptam terminis, concedere.« Thomasius, Jakob: Programma adversus anonymum de libertate philosophandi. In: ders.: Dissertationes LXIII. Hrsg. von Christian Thomasius. Halle/S. 1693 (Reprint in Gesammelte Schriften, Bd. 6. Hildesheim 2003), S. 571–584, hier 578. Dazu Zenker, Kay: Spinoza und die Hallesche Frühaufklärung. In: Spinoza im Kontext. Voraussetzungen, Werk und Wirken eines radikalen Denkers. Hrsg. von Cis van Heertum und Frank Grunert. Halle/S. 2010, S. 59–86, hier 60; Zenker: Denkfreiheit (2012), 99; Israel: The Early Dutch
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herausstreicht, dass der Tractatus genauso gefährlich sei wie Edmund Dickinsons (1624–1707) Oratiuncula de philosophia liberanda (1655, gehalten im Merton College, Oxford, im Juli 1653), gegen die er 1665 bereits argumentiert habe.123 Dickinson verwehrt sich, wie viele vor ihm, gegen die Aristotelesgläubigkeit, aber er geht für Thomasius den einen Schritt zu weit: Nicht um eine Kritik oder Verbesserung des Aristoteles ist es ihm zu tun (deren Notwendigkeit Thomasius einräumt),124 sondern um dessen Verabschiedung. Im Raum steht das Gespenst der Auflösung aller Gewissheiten.125 Dickinsons kurze Rede, die natürlich brisant war und nicht umsonst in der Frankfurter Ausgabe dergestalt heruntergespielt wird, dass sie angeblich nur eingefügt wurde, damit der Rest des Bogens nicht leer bleibe (»ne vacarent subsequentias paginas«), steht aus heutiger Sicht kaum auf einer Stufe mit der Sprengkraft von Spinozas Tractatus theologico-politicus. Doch für Thomasius eröffnet sie den Blick in jenen schwarzen Abgrund der Beliebigkeit, der sich durch die Preisgabe des aristotelischen Systemfundaments auftut. Die Radikalität von Spinozas Fassung der libertas philosophandi war dagegen allgemein schockierend und zog entsprechend abwehrende Reaktionen auf sich. Doch der Tractatus fand trotz des Verbots 1674 rasch weite Verbreitung,126 wohl nicht zuletzt deshalb, weil sich der Aspekt der
and German Reaction (2010), 81; Sparn, Walter: Formalis Atheus? Die Krise der protestantischen Orthodoxie, gespiegelt in ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza. In: Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung. Hrsg. von Karlfried Gründer und Wilhelm SchmidtBiggemann. Heidelberg 1984, S. 27–63, bes. 31f. 123 Thomasius, Jakob: Programma adversus anonymum, 571. Vgl. Thomasius, Jakob: Programma adversus philosophos libertinos. Praescriptum promulgationi Lectionum publicarum Facultatis Philosophicae, Anno 1665. d. 4. Junii. In: ders.: Dissertationes LXIII (1693), S. 437–451. Dickinson, Edmund: Delphi phoenicizantes […]. Hic accessit Oratiouncula pro Philosophia liberanda. Frankfurt/M. 1669. 124 Thomasius, Jakob: Programma adversus philosophos libertinos, 441. 125 Zenker: Denkfreiheit (2012), 103. Vgl. die konzise Zusammenfassung der Argumente des Programma adversus libertinos bei Häfner, Ralph: Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590–1736). Tübingen 2003, 357ff. 126 Siehe Gawlick, Günter: Einleitung. In: Baruch de Spinoza: Theologisch-politischer Traktat. Übers. von Carl Gebhardt, hrsg. von Günter Gawlick. 2. Aufl. Hamburg 1984 (Spinoza, Sämtliche Werke 3), S. XI-XXX. Über die Frage der Bedeutung Spinozas für die deutsche Frühaufklärung wogt eine langjährige Debatte: Winfried Schröder betont die breite Ablehnung von Spinozas Radikalität und damit die Unfruchtbarkeit seiner Position, s. Schröder, Winfried: ›Die ungereimteste Meynung, die jemals von Menschen ersonnen worden.‹ Spinozismus in der deutschen Frühaufklärung? In: Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts. Zur Erinnerung an Hans-Christian Lucas. Hrsg von Eva Schürmann Norbert Waszek und Frank Weinreich. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 121–138; ders.: Spinoza in der deutschen Frühaufklärung. Würzburg 1987. Dagegen argumentiert Israel, Jonathan: Radical Enlightenment (2001); ders.: The Early Dutch and German Reaction (2010).
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ausschließlichen Delegation des Denkens an die individuelle ratio präzise in Anliegen fügte, die für die Frühaufklärung zentral waren. Zusammen mit Eklektik, Vorurteilskritik und Unparteilichkeit ist es dieses Selbstdenken, trotz der Vorbehalte gegenüber Spinozas vermeintlicher Beförderung religiöser Beliebigkeit als libertas philosophandi etikettiert, das das fundierende Begriffsraster der (Früh-)Aufklärung ausmacht.127 Schon Christian Thomasius (1655–1728), der die einschlägigen dissertationes des Vaters edierte, folgte diesem gerade noch in der Einschätzung der Gefahr des Spinozismus. Als Remedium gegen Autoritätsgläubigkeit und daraus resultierende Vorurteile empfahl sich auch aus seiner Sicht weiterhin die universitäre disputatio.128 Doch zugleich verschrieb sich der jüngere Thomasius dem Postulat der Freiheit von Autoritäten im Verbund mit dem Selbstdenken wie auch einer an Redefreiheit gekoppelten Denkfreiheit, die er in den Monatsgesprächen medial schriftlich und damit weit über den Universitätskontext hinaus öffentlich ausexerzierte. Trotz der Widerstände, die ihm dafür entgegenschlugen, zeichnet sich hier von einer Generation zur nächsten ein fundamentaler Habituswandel ab.129 Zentral ist der Kurzschluss von Eklektik und libertas philosophandi: »Eklektisch philosophieren heißt für Thomasius kritisch, nämlich in eigener Erkenntnisverantwortung zu philosophieren: das Bekenntnis zur Eklektik ist ein Bekenntnis zur Freiheit des Philosophierens.«130 Hier zeichnet sich nicht zuletzt die Recodierung des Begriffs der Eklektik vom selektiven Denken zum Selbstdenken ab, die in Denis Diderots (1713–1784) Enzyklopädieartikel rhetorisch forciert ausbuchstabiert werden wird: »L’éclectique est un philosophe qui foulant aux pieds le préjugé, la tradition, l’ancienneté, le consentement universel, l’autorité, en un mot tout ce qui subjugue la foule des esprits, ose penser de lui-même, remonter aux principes généraux les
127 Vgl. oben Anm. 105. 128 Marti, Hanspeter: Kommunikationsnormen der Disputation. Die Universität Halle und Christian Thomasius als Paradigmen des Wandels. In: Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Hrsg. von U. J. Schneider. Wiesbaden 2005, S. 317–344, hier 325. Dort auch zu den Änderungen, die Thomasius gegenüber dem traditionellen Verfahren vorsah. Zit. Thomasius, Christian: Introductio in philosophiam aulicam. Leipzig 1688 (Reprint Hildesheim 1993), in Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Hrsg. von Werner Schneiders, Bd. 1, 210. 129 Gawlick, Günter: Thomasius und die Denkfreiheit. In: Christian Thomasius 1655–1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hrsg. von Werner Schneiders. Hamburg 1989, S. 256–273; Zit. in Albrecht: Eklektik (1994), 20; Zenker: Denkfreiheit (2012), S. 159– 177. Zur Differenzierung von Freiheit von Autoritäten und Selbstdenken auch Schneiders: Vernünftiger Zweifel und wahre Eklektik (1985), 152. 130 Weiters Schneiders, Werner: Vorwort. In: Christian Thomasius: Einleitung zu der Vernunfft lehre. Halle 1691 (Reprint Hildesheim 1968), 5*.
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plus clairs, les examiner, les discuter, n’admettre rien que sur le témoignage de son expérience & de sa raison.«131
Doch auch wenn die Eklektik historisch wie in der interpretierenden Rückschau vielfach mit der libertas philosophandi in eins gesetzt wird,132 sind Semantik und Verhältnis der beiden Begriffe im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert alles andere als fixiert. Eine gleichsam als basso continuo vorgetragene Ablehnung Spinozas koppelte sich an variierende Gewichtungen und Bestimmungen, und der Ort dieser Reflexionen ist weiterhin in erster Linie die Universität. So legte Arnold Wesenfeld (1664–1727) in Frankfurt/Oder vier dissertationes zum Thema vor, in denen er argumentierte, dass es die Eklektik sei, die über eine Grundhaltung des Respekts gegenüber allen Lehren die libertas philosophandi reguliere.133 Christian Wolff (1679–1754) dagegen band die libertas philosophandi, so sie nicht licentia philosophandi sein wolle (also Freiheit, und nicht Frechheit des Philosophierens),134 an die Regulierungskraft der Methode – und zwar seiner Methode. Angesichts von Wolffs Verfolgung und Vertreibung durch die Hallenser Pietisten (1723) transportieren seine Freiheitsplädoyers zudem den älteren Sinn der professoralen Ansprüche auf ›Lehrfreiheit‹: »Mit seinem Plädoyer für die Freiheit zu philosophieren hat Wolff vielleicht doch nie eine andere Freiheit verteidigen wollen, als die seines Standes, nämlich des Philosophieprofessoren.«135 131 Diderot, Denis: Art. »Éclectisme«. In: ders.: Encyclopédie III (Lettres D-L). Hrsg. von John Lough und Jacques Proust. Paris 1976 (Diderot, Oeuvres complètes, Bd. 7), S. 36–112, hier 36. 132 So z. B. Kelley, Donald R.: Eclecticism and the History of Ideas. In: Journal of the History of Ideas 62 (2001), No. 4, S. 577–592, hier 581. 133 Wesenfeld, Arnold: Dissertationes Philosophicae Quatuor Materiae Selectioris de Philosophia Sectaria et Electiva. Frankfurt/O. 1694, darin: Dissertatio Tertia de natura Philosophiae Electivae, cap. II, § 7, S. 37–40. Dazu Schneider, Eclecticism and the History of Philosophy (1997), passim; Albrecht, Eklektik (1994), bes. 387–397. 134 Wolff, Christian: Von der rechten Erkänntniß der Academischen Freyheit (1731). In: ders.: Kleine Schriften und Einzelne Betrachtungen zur Verbesserung der Wissenschaften. Halle/S. 1755 (Reprint Hildesheim 1983), S. 456–470, hier 467. 135 Weber, Claude: ›Von der Freiheit zu philosophiren‹. Christian Wolffs Forderung einer libertas philosophandi als Bedingung und als Methode der Philosophie. In: Formen der Aufklärung und ihrer Rezeption. Expressions des Lumières et de leur réception. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ulrich Ricken. Hrsg. von Reinhard Bach, Roland Desné und Gerda Haßler. Tübingen 1999, S. 17–34, hier 31. Weber stellt auch die Frage, »ob es im im Sinne Wolffs überhaupt die Freiheit gibt, etwas anderes als ein Wolffianer zu sein« (ebd., 31). Vgl. Wolff, Christian: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache heraus gegeben. Frankfurt/M. 1726 (Reprint der 2. Aufl. Frankfurt/M. 1733, Hildesheim 1973), S. 124–149: »Von der Freyheit zu philosophiren, deren sich der Autor bedienet«. – Zum Kontext und Ablauf der Vertreibung aus Halle sind die Arbeiten zahlreich, vgl. mit Blick auf die libertas philosophandi Zenker: Denkfreiheit (2012), 241–259. Zur weiteren Geschichte des Konzepts der Lehrfreiheit in und nach der Aufklärung vgl. Müller, Rainer
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9. Autoritätenkonflikt als Obsoletheitsbeweis Spinozas eigentliche Hauptstoßrichtung, das Einfordern religiöser Freiheit, greift Anthony Collins (1676–1729), dessen Werk als Hochblüte des englischen Deismus gewertet wird, im 1713 anonym publizierten Discourse of Free-Thinking auf.136 Zunächst war Collins’ Freund John Toland (1670–1722), der dazu aufgerufen hatte, sich dem ›protestantischen Papsttum‹ zu widersetzen und sich selbst einen Freidenker nannte, als Autor vermutet worden.137 Collins konstruiert seinen Gegenstand vor diesem Hintergrund als etabliert, als mit Positionen und Vorzügen und vor allem einer Gegnerschaft ausgestattet, deren Einwände vorliegen und die Punkt für Punkt widerlegt werden können. In Abwesenheit der verbindlichen Orientierung an der Wahrheit der Offenbarung, so die deistische Grundposition, stehen deren Textzeugen von der Warte der natürlichen Religion aus auf dem Prüfstein: Bibelkritik als erste Christenpflicht.138 Vor diesem Hintergrund entwickelt Collins sein Konzept des ›free-thinking‹: »By FreeThinking then I mean, the Use of the Understanding in endeavouring to find out the Meaning of any Proposition whatsoever, in considering the nature of the Evidence for or against it, and in judging of it according to the seeming Force or Weakness of the Evidence.«139 Das scheint auf den ersten Blick nicht wirklich verschieden zu sein vom dialektischen Prüfmodus der Scholastik. Doch die Grundlegung der
A.: Von der ›Libertas philosophandi‹ zur ›Lehrfreiheit‹. Zur Wissenschaftsfreiheit im Zeitalter der Aufklärung. In: Wissenschaftsfreiheit in Vergangenheit und Gegenwart. Hrsg. von Rainer A. Müller und Rainer C. Schwinges. Basel 2008, S. 57–67. Für die Filiationen der deutschen Debatte um ›Denkfreiheit‹ im 18. Jahrhundert verweise ich auf die materialreiche Studie von Zenker: Denkfreiheit (2012), S. 159–536. 136 Isabel Rivers setzt beide Begriffe ohne weiteren Kommentar als Äquivalente: »[t]he movement known as freethinking or deism«, plädiert aber für ›freethinking‹ als den präziseren Terminus für den englischen Kontext, s. Rivers, Isabel: Reason, Grace, and Sentiment. A Study of the Language of Religion and Ethics in England 1660–1780, Bd. 2: Shaftesbury to Hume. Cambridge u. a. 2000, 7 und 9; vgl. ebd. 8, Anm. 2, für einen Überblick über die jüngere englischsprachige Forschung. Zum Kontext, zu Unterstützern und Kritikern auch Horstmann, Ute: Die Geschichte der Gedankenfreiheit in England. Am Beispiel von Anthony Collins: A Discourse of Free-Thinking. Königstein (Ts.) 1980 sowie Reventlow, Henning Graf: Bibelautorität und Geist der Moderne. Die Bedeutung des Bibelverständnisses für die geistesgeschichtliche und politische Entwicklung in England von der Reformation bis zur Aufklärung. Göttingen 1980, S. 582–593. 137 Zur ideengeschichtlichen Situierung und zur Veröffentlichungsgeschichte vgl. Gawlick, Günter: Einleitung. In: Anthony Collins: A Discourse of Free-Thinking. Faksimile-Neudruck der Erstausgabe London 1713 mit deutschem Paralleltext. Hrsg., übers. und eingel. von Günter Gawlick. Stuttgart-Bad Cannstatt 1965, S. (17)-(42). 138 Reventlow: Bibelautorität (1980), 515, charakterisiert so die Position Shaftesburys. 139 Collins: A Discourse of Free-Thinking, 5.
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Urteilsinstanz ist fundamental verschieden: »Besonders ausführlich verbreitet sich Collins über die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Priestern der verschiedenen Religionen auf der Welt über die jeweiligen Heiligen Schriften sowie innerhalb der christlichen Kirchen und Sekten über Umfang und Art des Kanons, ferner über die unterschiedlichen Auffassungen, die zwischen den Kirchen im Hinblick auf den Sinn der Schrift beständen, wobei sowohl auf die textkritischen Probleme wie auf die inhaltlichen Dunkelheiten und Auslegungsschwierigkeiten hingewiesen wird.«140 Die Konsequenz ist, sich auf keine Autorität zu verlassen: »thinking freely for our selves«.141 In Absenz einer letzten Garantie durch die Offenbarung ist der Urgrund des Beweises in der logischen Kohärenzprüfung von Aussagen unter der Bedingung der vorbehaltlosen Untersuchung (»impartial examination«, 16) aller Denkmöglichkeiten lokalisiert. Dass Autoritäten konkurrieren oder einander widersprechen, wird dabei nicht als Oberflächenphänomen gesehen, das sich bei kritischer, methodisch gestützter Prüfung (wie es die Scholastik vorsah) als tiefenstrukturelle Konkordanz erweisen würde. Vielmehr werden die unterschiedlichen Meinungen unterschiedlicher Autoritäten als Beweis dafür gelesen, dass keine davon die Wahrheit beanspruchen könne: »setting authorities against each other and destroying the reader’s confidence in them is the basic technique of the Discourse of Free-Thinking.«142 Die epistemologische Konstellation, die dieser deistischen Denkfreiheit zugrundeliegt, ist mithin nicht die Opposition zwischen Vernunft und Autoritäten, sondern individuelles Urteil vs. institutionell regulierte, in Sekten organisierte Religion. Die Gefahren, die im ›free-thinking‹ gesehen werden, adressiert Collins direkt. Die überwiegende Mehrheit seiner Entgegnungen ist eher pragmatisch als grundsätzlich gefasst. So entgegnet er auf den Vorwurf, dass der Aufruf zum Freidenken Menschen in Untersuchungen verwickle, zu denen sie nicht befähigt sind, dass es sich ja um ein Recht, nicht um eine Pflicht handle. Dass auf diese Weise endlose Meinungsverschiedenheiten entstünden, kontert er – mit Blick auf den endlosen Dissens, den der Meinungszwang der Sekten hervorgebracht hat – damit, dass er sich gern geschlagen gebe, wenn ihm jemand die Regel nenne, die keine Meinungsverschiedenheiten hervorruft. Die Gefahr des Atheismus drohe nur bei oberflächlichem Philosophieren, wenn man in die Materie nur tief genug eindringe, führe das freie Philosophieren vielmehr zur Religion zu-
140 Reventlow: Bibelautorität (1980), 589. 141 Collins: A Discourse of Free-Thinking, 98f. 142 Rivers: Reason, Grace, and Sentiment (2000), 21. Dort auch zur Situierung der freethinkers mit Blick auf Latitudinarier, Sozinianer, etc.
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rück.143 Man sieht, dass es pragmatische Gesichtspunkte sind, die Collins anführt, um Besorgnisse hinsichtlich des sozialen und politischen Krisenpotentials seines Vorschlags zu kontern. Der theoretische Kern seines Vorschlags hingegen, die Erhebung des Individuums zur Urteilsinstanz und die Preisgabe der Autoritäten aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit, werden als solche nicht ergründet. Die wissensgeschichtliche Verschiebung läuft hier von Synthese zur wechselseitigen Negation, von der Konfrontation von Positionen mit dem Ziel des Ermittelns der probablen Wahrheit zur Auffassung des Konträren als Index des allgemeinen Irrtums, dem nur durch Selbstdenken zu begegnen sei.
10. Traditionskonstruktion der Gedankenfreiheit Ein Gestus des »schon immer« wird zum festen Bestandteil von Selbstbeschreibungen der république des lettres, die, so das Diktum Pierre Bayles (1647–1706), ein »extrem freier Staat« (»un Etat extrêmement libre«) sei.144 Christian Gottfried Hoffmann (1692–1735), wiewohl kritisch gegenüber der Staatsmetaphorik, formuliert einen absoluten Freiheitsanspruch in einer Weise, die sich als Zustandsbeschreibung geriert, die aber, wie Herbert Jaumann gezeigt hat, klar in den Bereich der normativen Konstruktion der Gelehrtenrepublik fällt. Bemerkenswert daran ist, wie die emphatische Insistenz auf der Gedankenfreiheit so vorgetragen wird, als ob präzise die kommunikativen und pragmatischen Zwänge der Institutionen, denen diese Propagatoren regelmäßig angehören, nicht existierten:145 143 Collins: A Discourse of Free-Thinking, S. 100–105. Collins greift hier einen Gedanken Bacons auf: »[…] a little Philosophy inclineth Man’s Minde to Atheisme; But depth in Philosophy, bringeth Mens Mindes about to Religion«. Bacon, Francis: The Essayes of Counsels, Civill and Morall. Hrsg. von Michael Kiernan. Oxford 1985, XVI: »Of Atheisme«, S. 51–54, hier 51. Die deistische Position einer natürlichen Religion ist gleichsam der Nullpunkt, hinter den kaum jemand zurückgeht: Insbesondere mit Blick auf die Entstehung der Welt und die Schöpfungslehre erschien der Deismus noch Diderot und Voltaire als probabler als der Atheismus. Dies änderte sich erst Ende des 18. Jahrhunderts, als Laplace ein Weltsystem ohne die Systemstelle eines Gottes konstruiert habe (Schröder: Ursprünge des Atheismus [1998], 79–82) und schließlich mit d’Holbach »der Atheismus das subkulturelle Milieu der littérature clandestine [verließ] und an die Öffentlichkeit [trat].« (Schröder ebd., 87). Zur Rezeption Collins’ siehe Gawlick, Günter: Die ersten deutschen Reaktionen auf A. Collins’ »Discourse of Free-Thinking von 1713. In: Aufklärung 1 (1986), S. 9–25; Christopher Voigt: Der englische Deismus in Deutschland. Tübingen 2003. 144 Bayle, Pierre: Dictionaire historique et critique. 5. Aufl. Amsterdam u. a. 1740, Art. »Catius«, in Bd. 2, S. 101–103, hier 102 [rem. D]. 145 Jaumann, Herbert: Ratio clausa. Die Trennung von Erkenntnis und Kommunikation in gelehrten Abhandlungen zur Respublica literaria um 1700 und der europäische Kontext.
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»Der Verstand des Menschen läßt sich keine Gesetze vorschreiben, und es ist keine grössere Tyranney, als eine Herrschafft über den Verstand haben zu wollen. […] Die unschätzbare Freyheit des Verstandes, welche sich in einem ungebundenen Urtheile und freygelassenen Raisonnement zeiget, kan von niemandem in Zweiffel gezogen werden […].«146
»Hochgradig phantastisch« hat Herbert Jaumann diese als anthropologische Tatsachenbeschreibung maskierte Idealkonzeption der Gelehrsamkeit genannt.147 Diese freidenkende Gelehrtenrepublik situiert sich an einem institutionellen Nicht-Ort, indem sie sich zwar eine Staatsform gibt, gleichzeitig aber die Normen der hergebrachten Institutionen der Gelehrsamkeit dezidiert negiert. »Entscheidend ist wohl die Alternative, die mit dem Vernunftkonzept selbst in diesen Prozess hineinkommt und ihn spaltet; entscheidend ist die Aufspaltung in raison pure, für die untrügliche, dem Zweifel enthobene Erkenntnis, klar und eindeutig (Descartes), und in den ›Rest‹, die leidige Erdenschwere samt den Kategorien der alten Gelehrtenkultur, die etwas wie reine Vernunfterkenntnis nicht kannte […].«148 Die libertas philosophandi, seit dem Mittelalter Errungenschaft und stets in Aushandlung befindliches Privileg korporativ organisierter Gelehrsamkeit, wechselt jetzt auf die Seite dieser neuen Alternative: Sie ist nun Kennzeichen des reinen Vernunftgebrauchs, Synonym des autonomen Verstandes, der sich aus allen, in der polemischen Rückschau so kleingeistig, engstirnig und lächerlich wirkenden Beschränkungen befreit hat. Die Begriffsverwendung der ›libertas philosophandi‹ schwenkt im 18. Jahrhundert entsprechend um. Selbst dann, wenn sie, wie im Fall Thomasius’ oder Wolffs, in engem Zusammenhang mit der Tätigkeit innerhalb der Universitäten steht, ist der semantische Kern nun fest mit dem Selbstdenken und einer durch die ›Natur‹ der ratio gebotene intellektuelle Autonomie verkoppelt.
In: Res publica litteraria: Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, 2 Bde. Hrsg. von Sebastian Neumeister und Conrad Wiedemann. Wiesbaden 1987, S. 409–429, hier 419ff. Zu den Aporien und den Spannungen zwischen Ideal und Wirklichkeit der Gelehrtenrepublik weiters Jaumann, Herbert: Respublica litteraria/Republic of letters – Concept and Perspectives of Research. In: Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. Hrsg. von Herbert Jaumann. Wiesbaden 2001, S. 11–19. 146 Hoffmann, Christian Gottfried: Vorrede von der Libertate sentiendi in Republica Eruditorum. In: Aufrichtige und unpartheyische Gedancken über die wichtigsten Materien, welche in denen Journalen, Extracten und Monaths-Schrifften vorgetragen werden. Freyburg [i.e. Leipzig] 1714–1717, Viertes Stück, S. 299–310, hier 299. 147 Jaumann, Herbert: Frühe Aufklärung als historische Kritik. Pierre Bayle und Christian Thomasius. In: Frühaufklärung. Hrsg. von Sebastian Neumeister (1994), S. 149–170, hier 153. 148 Jaumann: Frühe Aufklärung als historische Kritik (1994), S. 151.
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11. Fazit Das Problem eines historischen Aufrisses von Positionen einer libertas philosophandi ist die Teleologie: Das Narrativ einer Befreiung von den Fesseln oppressiver Autoritäten, die rationales Urteilen unterbinden und die intellektuelle Knechtschaft des Menschen aus Eigennutz perpetuieren wollen, drängt sich genau dann auf, wenn sich die Historiographie die Polemiken und Kritikpunkte historischer Akteure zu eigen macht und letztlich parteiisch auftritt. Diese Parteilichkeit, so Winfried Schröder, ist aber nicht einmal das Hauptproblem, sondern es ist »die mythenträchtige Vermischung von Wertung und Deskription. […] Den Kern dieses Mythos bildet die Unterstellung einer wenn nicht breiten, so doch ununterbrochenen, durch die Epochen zu verfolgenden Heerstraße des heterodoxen Fortschritts seit der Antike«.149 Die libertas scholastica wird in einer solchen Erzählung zu einer uneigentlichen, weil sich ›nur‹ in korporativen Privilegien manifestierenden Freiheit,150 ihr Bezug zu späteren Diskussionen über eine libertas philosophandi als Kontinuitätsfiktion negiert. Umgekehrt werden all jene, die mit guten Gründen an Denkschulen, Institutionen und Habitus festhielten, als bornierte Verhinderer gezeichnet, die das Licht individueller Vernunft scheuten und sich uninspiriert und feig hinter Büchern und Regeln versteckten. Darstellungen und Diskussionen der libertas philosophandi war es oftmals darum zu tun, eine Vorgeschichte zu Spinozas Begriff bzw., im weiteren, zur aufklärerischen Maxime des Selbstdenkens zu konstruieren und nicht allein den Ausdruck, sondern die Idee bei früheren Denkern zu lokalisieren. Modellbildend ist hier Sutton, der mit Bruno und Campanella zwei Kandidaten aufweist, die wie Spinoza die Figur des Dissidenten verkörpern. In der Tat handelt es sich aber um eine anachronistische Archäologie, die die Befunde allein als Vorgeschichte zu sortieren vermag. So ist man dann bei Traditionskonstrukten, die genau die in polemischer Absicht vorgetragenen Ahnenreihen der freethinkers spiegeln. Umgekehrt ist die Feier der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universität als Freiheits-
149 Schröder, Ursprünge des Atheismus (1998), 24, formuliert dies mit Blick auf den »im übrigen nüchterne[n] Historiker« Robertson (vgl. Robertson, J. M.: A History of Freethought Ancient and Modern to the Period or the French Revolution, 2 Bde. 4. Aufl. London 1969) und Alec Mellors Histoire de l’anticléricalisme français. Tours 1966. 150 Notker Hammerstein hat darauf aufmerksam gemacht, dass Freiheit in historischer Perspektive nicht als absoluter Begriff gehandhabt werden kann; es ist nicht unplausibel, dass Gelehrte im 16. Jahrhundert sehr deutlich bestimmte Freiräume wahrnahmen und sich selbst »subjektiv frei und selbstbestimmt wähnten«, Hammerstein: Konfessionseid und Lehrfreiheit (2010), 113.
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ort151 gewiss insofern übertrieben, als es sich um ein rigides dogmatisches System handelte, in dem allein ausgewählten Akteuren eine streng abgezirkelte Diskursfreiheit eingeräumt wurden. Wie alle Regelwerke provozierte auch dieses Überschreitung, und wie alle institutionellen Regularien war es immer wieder Gegenstand von Subversion und Reaktion. Insgesamt waren Begriff und Terminus der libertas philosophandi bis Spinoza eine Angelegenheit der Universitäten, und es ist diese Konzeption, die für Spinozas die Bezugsgröße für seine radikale Freiheitsforderung bildet. Der Kurzschluss von libertas philosophandi, Eklektik, Autoritäten- und Vorurteilskritik unter der Maxime des Selbstdenkens schließlich ist es, der ab dem Ende des 17. Jahrhunderts das moderne Begriffsverständnis induziert.
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151 Vgl. oben Anm. 15.
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Philosophia perennis als christliche Einheits- und Universalwissenschaft Als der Vatikanische Bibliothekar Agostino Steuco (1496–1542) mit seinem monumentalen Traktat De perenni philosophia, der erstmals in Lyon 1540 erschien, dieser Tradition einer christlichen Einheits- und Universalwissenschaft1 den Namen gab, war ihm eine über einhundertjährige Debatte vorausgegangen. Schon bei den italienischen Humanisten Marsilio Ficino (1433–1499) und Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) wurde diese Tradition als »platonische Theologie« (theologia platonica)2 oder als »(ur-)alte Theologie« (prisca theologia)3 diskutiert. Bedingung dieser als christliche Einheits- und Universalwissenschaft verstandenen Tradition war, dass sie zwischen Theologie und Philosophie nicht trennte.4 Ihre Vertreter übernahmen die griechische Philosophie in einen christlichen Kontext, indem sie das Anliegen solcher alexandrinischer Kirchenväter wie Klemens oder Origenes aufgriffen, die vor allem die platonische Philosophie in eine »christliche Philosophie« zu überführen und zu überbieten versucht hatten.5 Sie gingen dabei von einer Übereinstimmung von Philosophie und monotheistischer Theologie, genauer: von mono-
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Eine erste philosophiehistorische Würdigung dieser Tradition in drei Abteilungen findet sich schon bei Ebert, Hermann: Augustinus Steuchus und seine Philosophia perennis. Ein kritischer Beitrag zur Geschichte der Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch 42 (1929), S. 342–356; 510–526; ebd. 43 (1930), S. 92–100. Vgl. darüber hinaus: Schmitt, Charles B.: Perennial Philosophy: From Agostino Steuco to Leibniz. In: Journal of the History of Ideas 27 (1966), S. 505–532, vor allem aber: Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Philosophia Perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt/M. 1998. Kristeller, Paul Oskar: Die Philosophie des Marsilio Ficino. Frankfurt/M. 1972, und ders.: Acht Philosophen der italienischen Renaissance. Petrarca. Valla. Ficino. Pico. Pomponazzi. Telesio. Patrizi. Bruno. Weinheim 1986, 33–46. Giovanni Pico della Mirandola: De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen. Lat.deutsch. Stuttgart 2001, hier S. 26; 54. Schmidt-Biggemann (wie Anm. 1), S. 49–61. Ausführlich hierzu Kobusch, Theo: Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität. Darmstadt 2006.
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theistischer Geisttheologie und einer Philosophie des Geistes aus, die vor diesem Hintergrund eine innere Tendenz zur platonischen-neuplatonischen Philosophie aufwies. Diese innere Tendenz zum Platonismus führte auch zu einer platonisierenden Relektüre der Philosophie des Aristoteles, die durch die Rezeption der pseudo-aristotelischen Schriften De mundo, die bereits im Mittelalter zirkulierte, und der Theologia Aristotelis, 1519 in Rom erstmals veröffentlicht von Nikolaus Castellanus († 1552), erleichtert wurde, die jedoch selbst neuplatonische Ursprünge aufwiesen.6 Da Philosophie in dieser Tradition verstanden wird als die menschliche Teilhabe an der Weisheit Gottes, erhält sie selbst heilswissenschaftlichen Charakter. Die ursprüngliche Weisheit der ersten Schöpfung erstreckt sich dabei als eine »translatio sapientiae« auf die älteste Philosophie, die der ersten Offenbarung am nächsten stand, und wird nach dem Sündenfall in der Geschichte der Philosophie wieder aufgerichtet. Die Ursprünge dieser frühneuzeitlichen Tradition der ›Philosophia perennis‹ lagen in den Kontroversen zwischen den Platonikern und Aristotelikern des 15. Jahrhunderts.
Die Kontroverse zwischen Platonikern und Aristotelikern im 15. Jahrhundert: Georgios Gemistos Plethon, Georgios Trapezuntios, Kardinal Bessarion7 Die Debatte zwischen Platonikern und Aristotelikern im 15. Jahrhundert, in der es im Kern um die Frage ging, welche Philosophie in einer größeren Übereinstimmung mit den Doktrinen des Christentums stehe, war Teil der neuen Begegnung zwischen der byzantinischen Kultur und dem lateinischen Westen im 15. Jahrhundert. Hierzu gehört zunächst nach der lateinischen die Rezeption der griechischen Antike, ihrer Philosophie und Literatur, die im griechisch sprechenden Byzanz lebendig geblieben war, dem lateinischen Westen jedoch nur fragmentarisch und durch Übersetzungen zugänglich war.8 Schon mit dem Vormarsch der Türken in den 6
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Pseudo-Aristotle in the Middle Ages: the Theology and other Texts. Hrsg. von Jill Kraye u. a.. London 1986; Frank, Günter: Der Aristotelismus der »Philosophia perennis«. Agostino Steuco, Nicolaus Castellanus, Francesco Patrizi, Ralph Cudworth. In: Der Aristotelismus an den europäischen Universitäten der frühen Neuzeit. Hrsg. von Rolf Darge u. a. Stuttgart 2010, S. 161–179. Vgl. zur einführenden Übersicht den Beitrag von Schulz, Peter: Georgios Gemistos Ple thon, Georgios Trapezuntios, Kardinal Bessarion. Die Kontroverse zwischen Platonikern und Aristotelikern im 15. Jahrhundert. In: Philosophen der Renaissance. Eine Einführung. Hrsg. von Paul Richard Blum. Darmstadt 1999, 22–32. Ausführlich hierzu: Graecogermania. Griechischstudien deutscher Humanisten. Hrsg. von
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Dardanellen 1365, vor allem aber im Umkreis des Falles von Konstantinopel am 29. Mai 1453 flohen viele griechisch sprechende Byzantiner nach Italien und gründeten Griechisch-Schulen. Eine besondere Bedeutung kam hierbei Florenz und einem seiner bedeutendsten Humanisten Coluccio Salutati (1331–1406), einem Freund und Schüler Francesco Petrarcas (1304–1374), zu. Es war vor allem sein Verdienst, mit Manuel Chrysoloras (1353–1415) den ersten Griechen aus Byzanz im Jahr 1396 offiziell nach Italien einzuladen, um am Florentiner Studium Griechisch zu unterrichten. Eine kaum zu überschätzende Bedeutung für diese Begegnung zwischen Ost und West spielten daneben die Reform- bzw. Unions-Konzilien in der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts (Ferrara/Florenz 1438/1443), letztlich gescheiterte Versuche einer Re-Union der orthodoxen und der lateinischen Kirche, auf denen es dennoch zu intensiven Begegnungen zwischen byzantinischen Gelehrten, die eine Fülle griechischer Texte und Manuskripte mit sich brachten, und italienischen Humanisten kam. Für das Florenz dieser Jahre kann man jedenfalls eine »gigantische Zirkulation von Texten« feststellen.9 Mitglied der byzantischen Delegation war als theologischer Berater des Kaisers Johannes VIII. auch der in Konstantinopel geborene neuplatonische Philosoph Georgios Gemistos Plethon (ca. 1360–1452), von Marsilio Ficino später als »zweiter Platon«10 gefeiert, der während seines Aufenthaltes Cosimo de’ Medici (1389–1464) bewegen konnte, eine neue »Platonische Akademie« zu gründen, an der er selber einige Zeit lehrte. Noch während seiner Florentiner Lehrjahre verfasste Plethon seine einflussreiche Schrift De differentiis Aristotelis et Platonis11, in deren programmatischer Dieter Harflinger. Weinheim, New York 1989; Landfester, Manfred: Art. »Humanismus« in: RGG 3 (4. Aufl. 2000), S. 1938–1942; Frank, Günter: Philipp Melanchthon und die europäische Kulturgeschichte. In: Fragmenta Melanchthoniana, Bd. 2. Hrsg. von Günter Frank, Sebastian Lalla. Ubstadt-Weier u. a. 2003, S. 133–146; Mondrain, Brigitte: Der Transfer griechischer Handschriften nach der Eroberung Konstantinopels. In: Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung, Themenheft Osmanische Expansion und europäischer Humanismus 20 (2005), S. 109–122; Helmrath, Johannes: Wege des Humanismus. Studien zur Praxis und Diffusion der Antikeleidenschaft im 15. Jahrhundert. Tübingen 2013; Frank, Günter: Art. »Christentum/Kirche« in: Der neue Pauly. Supplemente, Bd. 9 (2015), S. 214–231. 9 Rathmann, Thomas: Geschehen und Geschichten des Konstanzer Konzils. Chroniken, Lieder und Sprüche als Konstituenten eines Ereignisses. München 2000, S. 11–58; Helmrath, Johannes: Diffusion des Humanismus und Antikerezeption auf den Konzilien von Konstanz, Basel und Ferrara/Florenz. In: ders.: Wege des Humanismus (wie Anm. 8), S. 115–158. 10 Tambrun, Brigitte: Pléthon. Le retour de Platon. Paris: Vrin 2007, S. 29–31. 11 Diese Schrift findet sich in: Georgios Gemistos Plethon, Politik, Philosophie und Rhetorik im spätbyzantinischen Reich (1355–1452). In: Bibliothek der Griechischen Literatur, Bd. 25. Übers. und erl. von Wilhelm Blum. Stuttgart 1988, S. 112–142.
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Einleitung er seine Absicht darlegte, in Anlehnung an die Kirchenväter die Philosophie Platons zu erneuern und auf diese Weise den in der Theologie des Westens überschätzten Aristoteles zu entthronen. Plethons Einfluss auf die Platon-Renaissance in der Frühen Neuzeit insgesamt ist kaum zu überschätzen. Auch wenn es seine erklärte Absicht war, beide Philosophen unter der Frage gegenüberzustellen, welche Schriften in größerer Übereinstimmung mit den Doktrinen des Christentums stehe, ging es Plethon jedoch nicht einfachhin um eine Erneuerung der platonischen Theologie. In seinem später verfassten Traktat über die Gesetze12 (Fragmenta de legibus) hatte er vielmehr eine philosophische Lebensgemeinschaft beschrieben, die auf der Grundlage einer wiederbelebten antiken Religion entfaltet ist, die gleichermaßen Elemente des Zoroastrismus und der Tradition der Chaldäischen Orakel, deren Sammlung er selbst vorgelegt hatte13, einschloss. Plethons Traktat über die Gesetze ist zwar von seinem Gegenspieler Georgios Scholarios (um 1405-um 1473) verbrannt worden. Eine von diesem geschriebene Zusammenfassung ist jedoch von Kardinal Bessarion (1403–1472) überliefert.14 Plethon ging damit von einer Urreligion der Menschen aus, die aufgrund menschlicher Verfälschungen die unterschiedlichen Religionen seiner Zeit entstehen ließen.15 Plethons letztlich heterodoxes Plädoyer einer Erneuerung einer antiken-paganen Ursprungsreligion, die erst durch menschliche Verfälschungen die verschiedenen Religionen entstehen ließen, stieß auf heftige Kritik. Neben der erbitterten Feindschaft seines Hauptgegners Gennadios II. Scholarios, seit 1454 Patriarch von Konstantinopel, polemisierte gegen ihn und sein Modell einer antiken Ursprungsreligion der Kreter Georgios Trapezuntios (1396–1472)16 in seiner 1458 publizierten Schrift Compa-
12 Diese Schrift in: Georgios Gemistos Plethon: Fragmenta de legibus. In: Beyträge zur Geschichte und Literatur, vorzüglich aus den Schätzen der Königl. Hof- und Centralbibliothek zu München, Bd. 6 (1806), S. 227–272. 13 Oracles Chaldaiques. Recension de Georges Gémiste Pléthon. Hrsg. von Brigitte TambrunKrasker. Paris 1995. 14 Vgl. hierzu den Aufsatz von Debolt, Darien C.: George Gemistos Plethon on God: Heterodoxy in Defense of Orthodoxy: http://www.gu.edu/wcp/Papers/Medi/MediDebo.htm (letzter Zugriff: 08.04.2014). 15 Georgios Gemistos Plethon. (1355–1452). Reformpolitiker, Philosoph, Verehrer der alten Götter. Hrsg. von Blum, Wilhelm, Walter Seitter. Zürich 2005. 16 Über Georgios Trapezuntios vgl. neben der Einleitung bei Schulz (wie Anm. 7) Monfasani, John: George of Trebizond. A biography and a study of his rhetoric and logic. Leiden 1976; Hamann, Florian: Wie man Muslime vom Christentum überzeugt – Der mögliche Einfluss Georgs von Trapezunt auf Nikolaus von Kues und Enea Silvio Piccolomini. In: Renovatio et unitas – Nikolaus von Kues als Reformer. Hrsg. von Frank, Thomas, Norbert Winkler. Göttingen 2012, S. 205–237.
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ratio philosophorum Aristotelis et Platonis17, in der er Plethon und seinen Anhängern vorwarf, sie würden das Christentum unterminieren und ein neues Heidentum einführen. Wenn Trapezuntios jedoch die platonische Philosophie für die Fehler der orthodoxen Theologie verantwortlich macht, der die aristotelische Philosophie des römischen Katholizismus gegenüberstehe, wird deutlich, dass seine Kritik eher kirchenpolitischer denn sachlich-argumentativer Natur ist.18 Eine neuerliche Replik auf diese Plethon-Kritik Trapezuntios‹ erschien 1469 von dem byzantinischen Theologien und späteren Titular-Patriarchen von Konstantinopel Basilius Bessarion, der nach dem Konzil von Florenz zur römischen Kirche konvertiert war: »In calumniatorem Platonis«. Bessarion hatte sich selbst profunde Platon-Kenntnisse während seiner fünfjährigen Studien bei Plethon in Mistra erworben. Seine Platon-Schrift stellt nicht nur den Versuch dar, die platonische Philosophie mit den Lehren des Christentums zu harmonisieren. Seine in vier Bänden erschienene Darstellung der Philosophie Platons führte – nicht zuletzt aufgrund seines intensiven Kontakts zu führenden italienischen Humanisten, mit denen er in ständigem Briefwechsel stand – zu einer weitergehenden Platon-Renaissance. Auch wenn Bessarion die Unterschiede zwischen Aristoteles und Platon eher in »verba« denn in »sententia« sah, so sei – wie er im 2. Buch (3,5) ausführt – Platon doch mit seiner Trias vom Einen, dem Geist und der Seele der christlichen Trinitätslehre ziemlich nahe gekommen.19 Für diese Platon-Renaissance in Folge der Bemühungen Kardinal Bessarions wurde für die frühneuzeitliche Philosophie richtungsweisend die zwischen 1469 und 1474 verfasste und um das Corpus Hermeticum erweiterte Theologia Platonica des Marsilio Ficino.20 Damit war zwar die unmittelbare Debatte zwischen Aristotelikern und Platonikern um die Frage der jeweiligen Versöhnung mit der christlichen Theologie beendet und scheinbar in Richtung eines »Plato christianus« entschieden. Die damit verbundene Problematik jedoch, wie sie durch die immer weiter gehende Kenntnis der antiken, pagan-außerchristlichen Religionen (Zoroastrimus, Chaldäische Orakel, Hermetik) und philosophische Schulen (Aristotelismus, Platonismus, Stoa, Epikuräismus) durch 17 Georgius Trapezuntius: Comparationes philosophorum Aristotelis et Platonis. Venezia 1523 (ND Frankfurt/M. 1965). 18 Vgl. hierzu die Hinweise bei Schulz: Georgios Gemistos Plethon, Georgios Trapezuntios, Kardinal Bessarion (wie Anm. 7), S. 25 f. 19 Mohler, Ludwig: Kardinal Bessarion als Theologe, Humanist und Staatsmann, Bd. 2: Bessarionis In Calumniatorem Platonis libri IV. Paderborn 1927 (ND 1967), II, 3,5. 20 Marsilio Ficino: Platonic Theology. 6 Bände. Hrsg. von Michael J. B. Allen, James Hankins. Cambridge, Mass.: Harvard UP 2001–2006 (kritische Edition mit englischer Übersetzung).
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die humanistische Bewegung aufgeworfen wurde, schien damit nicht erledigt: wie sich nämlich die verschiedenen Religionen und philosophische Schulen zueinander verhalten und in Zusammenhang gebracht werden könnten mit einem Universalismus, wie ihn das Christentum vertrat. Diese Problematik bildete dann den Rahmen für das Konzept einer Universalwissenschaft eines Giovanni Pico della Mirandola, die nicht nur die Theologie, Philosophie und Magie umfasste, sondern auch deren mittelalterliche und islamische Interpreten sowie die jüdische Kabbala.
Pico della Mirandolas Konzept einer Universalwissenschaft Pico, der Bekanntschaft pflegte mit dem Florentiner Kreis und Ficino, hatte als 23-jähriger nach Studien in Padua, Florenz und Paris im Jahr 1486 seine berühmten neunhundert Thesen21 verfasst, in denen er alle bekannte Philosophien synthetisch im Rahmen einer Aussöhnung darstellen und in einer Disputation in Rom diskutieren wollte.22 Von den 402 ersten Thesen beschäftigen sich 115 mit scholastischen Gelehrten zwischen Albertus Magnus und Aegidius Romanus, 82 mit arabischen Aristotelikern von Averroes bis Ibn Bagia, 29 mit griechischen Peripatetikern von Theophrast bis Themistius, 99 mit griechischen Platonikern von Plotin bis Proklos, 14 mit Pythagoras, 6 mit chaldäischen Theologen, 10 mit Hermes Trismegistos, 47 mit Kabbalisten. Von den 498 verbleibenden Thesen beschäftigen sich 17 mit paradoxen versöhnenden Thesen, 80 Thesen mit Widersprüchen zur verbreiteten Philosophie, 71 mit paradoxen dogmatischen Thesen, 29 mit theologischen Thesen, 62 mit platonischen Thesen, 10 Thesen mit dem »Liber de Causis«, 11 mit mathematischen Konklusionen, 74 mit mathematischen Quästionen, 15 mit chaldäischen, 26 mit magischen, 31 mit orphischen und 72 mit kabbalistischen Thesen. Zur von Pico für den 7. Dezember 1486 geplanten Disputation in Rom, zu der er Gelehrte aus ganz Europa eingeladen und denen er auch die Reisekosten zugesagt hatte, ist es jedoch nicht gekommen.23 Nach 21 Giovanni Pico della Mirandola: Conclusiones nongentae. Le novecento Tesi dell’anno 1486. A cura di Albano Biondi. Firenze: Olschki 1995 (Studi pichiani, 1), Ristampa 2013. 22 Kristeller: Die Philosophie des Marsilio Ficino, 1986 (wie Anm. 2), S. 47–61; Toussaint, Stéphane: Giovanni Pico della Mirandola. In: Philosophen der Renaissance (wie Anm. 7), S. 65–76; Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Geschichte der christlichen Kabbala. 15. und 16. Jahrhundert. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012 (Clavis Pansophiae 10, 1), S. 70–130. 23 Vgl. hierzu die biographischen Hinweise im Nachwort zur Ausgabe De hominis dignitate (wie Anm. 3), S. 107–121, bei Toussaint: Giovanni Pico della Mirandola (wie Anm. 22), S. 65–68, sowie Schmidt-Biggemann: Geschichte der christlichen Kabbala (wie Anm. 22), S. 70–85.
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Bekanntwerden der 900 Thesen wurden 13 als häretisch indiziert. Als Pico sich schließlich in einer Apologia im darauffolgenden Jahr anschickte, die inkriminierten Thesen zu verteidigen, verwarf der Papst alle 900 Thesen. Das inhaltlich-systematische Interesse der Zusammenstellung seiner Thesen verdeutlicht Pico in einer von ihm selbst nicht publizierten, als Eröffnung der Disputation gedachten Rede, die als »oratio« überliefert ist und von seinem Neffen, der seinen Nachlass verwaltete, niedergeschrieben worden war. Seit der Straßburger Ausgabe von 1504 wird diese Rede unter dem Titel De dignitate hominis überliefert und wegen dessen ersten Teil, einem philosophisch-theologischen Traktat über die Würde des Menschen, seit Jacob Burckhardt als »edelste(s) Vermächtnis(se) jener Kulturepoche«24 bezeichnet. Im zweiten Teil seiner Rede Über die Würde des Menschen stellt Pico sein Konzept der Universalwissenschaft vor, das Theologie und griechische Philosophie einschließlich ihrer spätantiken, mittelalterlichen und arabischen Interpreten ebenso umfasst wie die Magie, jüdische Kabbala und die »alte Theologie« (prisca theologia), d. h. Zarathustra, Orpheus und Pythagoras. Kern dieser Universalwissenschaft ist die Idee einer »translatio sapientiae« der göttlichen Schöpfungsweisheit, denn – wie Pico ausführt – »alle Weisheit (habe sich) von den Barbaren zu den Griechen und von den Griechen zu uns verbreitet«25. So werde von Mose angenommen, dass er sehr nahe an der vollen Erkenntnis dieser Weisheit gewesen sei.26 Auch in der ›Prisca theologia‹ werde Vieles von dieser Ursprungsweisheit, wenn auch unter einem Schleier verborgen, sichtbar. Die griechischen Mystagogien seien Formen der Einweihung in die verborgenen Geheimnisse der Natur.27 Die Schriften Zarathustras, des Pythagoras und Platons stellten eine Schau des Guten, die Schriften der Chaldäer den Weg zur göttlichen Seligkeit (felicitas) dar. Aber auch alle philosophischen Schulen will Pico zusammenschauen, denn »jede einzelne Schule [...] besitzt (etwas), wodurch sie sich auszeichnet und was sie mit den übrigen nicht teilt«28. Was Pico hier vor Augen schwebt ist eine Universalwissenschaft, deren Würde in ihrer Anciennität besteht und die sich als eine »translatio sapientiae« über die Theologie der Alten und die griechische Philosophie bis in die eigene Zeit erstreckt. In dieser Universalwissenschaft sieht Pico auch eine Harmonie zwischen Platon und Aristoteles, deren bisherige Begründungs-
24 Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch [zuerst Basel 1860]. 11. Aufl. Stuttgart 1988 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 53), S. 258. 25 Giovanni Pico: De hominis dignitate (wie Anm. 3 ), S. 53. 26 Ebd., S. 27. 27 Ebd., S. 29. 28 Ebd., S. 51.
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versuche – genannt werden zwar lediglich spätantike Autoren wie Simplikios, Augustinus und Boethius, in Picos Blick waren jedoch unverkennbar auch die Kontroversen des 15. Jahrhunderts – er als gescheitert erachtet.29 Die Theologien der Alten sind danach verschiedene Erscheinungsformen dieser göttlichen Schöpfungsweisheit, die in den unterschiedlichen philosophischen Schulen in verschiedener Hinsicht begrifflich erfasst werden.
Außerbiblisch-pagane und bibelkonforme Chronologie der Universalwissenschaft: die Antiquitates des Annius von Viterbo Mit der wachsenden Kenntnis von (vermeintlich) antiken Quellen erwuchs die (scheinbare) Möglichkeit, eine biblische Universalgeschichte mit außerbiblischen Belegen zu konstruieren und zu harmonisieren, in der dann auch der »prisca Theologia« und der antiken Philosophie eine besondere Rolle zukommt. Dies war die geschichtliche Situation, in welcher der Dominikaner Johannes Annius (Nanni) von Viterbo (1437–1502) im Jahr 1498 seine berühmten Antiquitates veröffentlichte30, eine der berühmtesten Fälschungen der Zeit des Humanismus, die gleichwohl oder gerade deshalb nicht ihren Erfolg schmälerte. Bis zu ihrer Letztausgabe im Jahr 1612 erlebte sie immerhin 36 Auflagen. Annius fand und erfand neue Quellen, er verfertigte etruskische Grabinschriften, die er im Angesicht des Papstes wieder ausgrub. Vor allem aber trat er mit diesen 17 bislang unbekannten Geschichtsbüchern des Altertums an die Öffentlichkeit, die ihm angeblich zwei Dominikaner aus Armenien überbracht hätten. Annius’ Bemühen war bestimmt durch seinen Versuch einer Genealogie der ›translatio sapientiae‹ der ersten Schöpfungs-Offenbarung, die gleichzeitig bibel-
29 Ebd., S. 55. 30 Mir liegt die Ausgabe vor: Berosi sacerdoti Antiquitatum Italiae ac totius orbis libri quinque. Antwerpen 1552. Hier finden sich die fünf Bücher des Berosus auf den Seiten 35–209. Zu Annius‹ Antiquitates vgl. Ligota, Christopher R.: Annius of Viterbo and historical Method. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 50 (1987) S. 44–56; Grafton, Anthony: Defenders of the Text. The Tradition of Scholarship in an Age of Science, 1450–1800. Cambridge, Mass. 1991, S. 80–103, davon die deutsche Übersetzung: Protestant versus Prophet: Isaac Casaubon über Hermes Trismegistus. In: Das Ende des Hermetismus. Hrsg. von Martin Mulsow. Tübingen 2002, S. 284–303; Schmidt-Biggemann: Philosophia Perennis (wie Anm. 1), S. 665–677; ders.: Heilsgeschichtliche Inventionen. Annius von Viterbos Berosus und die historische Genealogie. In: Apokalypse und Philologie. Hrsg. von Hallacker, Anja, Boris Bayer. Göttingen 2007 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung, 2), S. 301–330, sowie die neuere Publikation von Lehr, Thomas: Was nach der Sintflut wirklich geschah. Die »Antiquitates« des Annius von Viterbo und ihre Rezeption in Deutschland im 16. Jahrhundert. Frankfurt/M. u. a. 2012.
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konform war. Vor allem in den fünf Büchern des chaldäischen Priesters und Astronomen Berosus, die Annius in einer lateinischen Übersetzung mit einem breiten Kommentar herausgab, ließ er diesen die Geschichte von der »Urzeit« bis zum Tode Alexanders dargelegen.31 Mit seinen Antiquitates, vor allem den fünf Büchern des chaldäischen Astrologen und Priesters Berosus, schwebte Annius eine lückenlose Chronologie der Weltgeschichte vor Augen, beginnend in der Schöpfung bis hin zur Gründung Trojas, die ebenso bibelkonform wie auch profangeschichtlich die eine und einzige ›translatio sapientiae‹ der ersten Schöpfung belegt. Mehr noch: Annius’ These kulminierte in der Überzeugung, dass der Ursprung allen Wissens bei den Söhnen Noahs zu finden sei und dies aus antiken paganen Quellen auch belegt werden könne.32 Die Idee dieser bibelkonformen und paganen Universalgeschichte ist so einfach wie genial zugleich: die ursprüngliche Weisheit der Schöpfung, an der Adam teilhatte, wird nach dem Sündenfall und der Sintflut durch Noah und seine Söhne gerettet. Diese und deren Enkel kolonisieren, wie das 4. Buch berichtet, die Welt. Moses etwa landet in Armenien und von hier aus erreicht die »translatio sapientiae« alle Völker, die Chaldäer (Babylonier), Assyrer, Ägypter, Libyer und Europäer. Diese Genealogie, die im 2. Buch dargelegt ist und im Einzelnen, d.h. den einzelnen Stammvätern nicht nachgezeichnet werden muss, ist jedoch letztlich nur die äußere, geschichtliche Voraussetzung für die eigentliche »translatio sapientiae«, um der es Annius von Viterbo ging. Der Inhalt dieser ursprünglichen, göttlichen Weisheit, die über Noah den Nachkommen überliefert ist, besteht im Sittengesetz, der Einehe, dem »cultus dei«, der Kenntnis der Geheimnisse der Natur, der Astrologie in ihren Entsprechungen zur Struktur des Kosmos sowie der Agrikultur als Signatur der göttlichen Dinge in der Welt. Mit Hams kam jedoch erneut das Böse in die Welt. Wie in Genesis (9, 20–27) berichtet, missbrauchte er die Lehren der Natur als Zauber. Seine schwarze Magie wurde so zum Grund des neuerlichen Verfalls der göttlichen Weisheit. Allerdings sei dieses Wissen bei den Priestern aller Welt zu finden, an prominenter Stelle bei dem Ägypter Hermes Trismegistos, der ein wichtiges Bindeglied in dieser Chronologie darstellt.33
31 Diese fünf Bücher finden sich ohne den weitäufigen Kommentar des Annius bei Lehr: Was nach der Sintflut wirklich geschah (wie Anm. 30), S. 368–383. 32 Berosus: Antiquitates (wie Anm. 30), S. 44 f.: »Verum quod ab Adam primo condito coe perint literae & disciplinae infusae, non est ex fide tantum, sed etiam historia gentilium & traditione Chaldaeorum qui se astronomiam & literas habuisse […]«. 33 Ebd., S. 96: »Nam Mercurius perfecta prudentia extitit, ut Diodorus in primo libro docet. Saturnus vero pater Osiridis Cameses perfecta physica et Magica floruit, a quibus et Zoroast & Magus appellatus est, uti Berosus & Hebraei atque catholici tradunt.«
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Die griechische Philosophie kommt in dieser Universalgeschichte allerdings schlecht weg. Da sie – so Annius – erst in eher jüngerer Zeit entstanden ist, habe sie keinen unmittelbaren Anteil an der ursprünglichen Weisheit. Im Gegenteil hätten die Griechen diese aus Neid durch ihre eigene Religion, durch ihre Rhetorik als bloßer Glanz schöner Rede ersetzt. Die »graecia mendax«34 bestand nach Annius darin, die ursprüngliche Weisheit durch »fabulas et nugas«35 ersetzt zu haben, während die Chaldäer die wahre und sichere Lehre überliefert hätten. Es ist klar, dass in der bibelkonformen Chronologie der Universalgeschichte Annius’ von Viterbo die griechische Antike insgesamt schlecht weg kommt. Es ist die mangelhafte Anciennität und die Umbesetzung der ursprünglichen göttlichen Weisheit in eine vermeintlich natürliche Rede der Philosophie, welche diese Antike von der ursprünglichen Weisheit trennte. Dies war sicherlich auch einer der Gründe dafür, dass die Antiquitates des Annius gerade auch im protestantischen Deutschland Karriere machen sollten. Denn ihre letzte Ausgabe erfuhren diese in Wittenberg im Jahr 1612. Dieser Erfolg innerhalb der protestantischen Geschichtsschreibung ist aber auch erklärlich, wenn man bedenkt, wie sehr es einer bibelzentrierten lutherischen Geschichtswissenschaft gelegen sein musste, sich an der biblischen Chronologie zu orientieren, die scheinbar auch durch pagane Quellen belegt sei. Um die schon bald aufkeimende Kritik an dieser Fälschung hatte sie sich jedenfalls – zumindest zunächst – nicht geschert.36
Philosophia perennis als theologisch-philosophische Einheits- und Universalwissenschaft: Agostino Steuco Als Steuco seinen monumentalen Traktat De perenni Philosophia verfasste, der erstmals 1540 in Basel erschienen war37, konnte er auf eine Fülle neu
34 Ebd., S. 477 f.; S. 498, u. ö. 35 Ebd., S. 42: »Quid autem ea differentia fuerit inter priscos Graecos et Chaldaeos, quod Graeci fabulas nugasque & errores seminaverunt, […]«. 36 Schon für den Humanisten Beatus Rhenanus (1485–1547), der sich in seinen 1531 erschienen Libri tres rerum Germanicarum auch mit den Antiquitates des Annius auseinandergesetzt hatte, wurde dieser zum Märchenerzähler und Berosus zur bloßen Fabel. Auch Gerardus Mercator (1512–1594) bestritt in seiner Chronologia von 1569 die Authentizität des Materials der berosianischen Urgeschichte. Vgl. die Hinweise bei Lehr: Was nach der Sintflut wirklich geschah (wie Anm. 30), S. 302–341. 37 Mir liegt die zweite Auflage vor: Augustini Steuchi Eugubini Episcopi Kisami Apost. S. Bibliothecarii, viri doctissimi, De perenni Philosophia Libri X. Basel 1542.
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erschlossener Quellen zurückgreifen, auf Ficinos Theologia platonica einschließlich des darin erhaltenen Corpus Hermeticum, auf die von Plethon überlieferten Chaldäischen Orakel, auf Pico della Mirandolas 900 Thesen der Vereinbarkeit aller Philosophie und Religionen sowie auf den Pseudo-Berosus der Antiquitates des Annius von Viterbo. Steuco entfaltete im Kontext der pseudo-berosianischen, scheinbar paganen Chronologie das Konzept einer theologisch-philosophischen Einheitswissenschaft, zu deren »Fürsten« er Platon und Aristoteles erklärte, denn deren Philosophie sei nichts anderes als die »Wissenschaft und die Verehrung Gottes«38. Kern dieser Einheitswissenschaft war Steucos Überzeugung, dass die zentralen Lehren des Christentums wie Trinität, Einheit Gottes, Schöpfung der Welt, Engel, Unsterblichkeit der Seele und das Ende der Welt philosophisch begründet sind. Im Kontext der zeitgenössischen und bibelkonformen Chronologie entfaltete er dabei ein dreifaches Geschichtsschema39: der »translatio« der ursprünglichen Offenbarung an Adam, die dem Logos aus dem Johannes-Evangelium entspricht; einer Verfallsgeschichte, begründet in der Zerstreuung der Völker und dem Verlust der alten Schriften, die gleichzeitig, wenn auch verdunkelt, bei den Chaldäern, Armeniern, Babyloniern, Assyrern, Ägyptern und Phöniziern erhalten blieben; sowie drittens schließlich in einer ersten Wiederentdeckung dieser Ursprungsweisheit in der paganen und christlichen Philosophie seit Platon, wie sie in der zweiten Wiederentdeckung der neuplatonischen Philosophie seiner Zeit erscheint. Die Nähe der vorchristlichen, heidnisch-antiken »translatio sapientiae« zur christlichen Offenbarungsreligion und zur Trinität entfaltete Steuco40 durch eine neuplatonische Geistmetaphysik: So hätten die Chaldäer die Macht des Vaters und des Sohnes erkannt, während die Juden, die ihre Weisheit von den Chaldäern empfingen, erkannt hätten, dass jener Geist, der erschafft, der Sohn Gottes sei. Dies habe auch die ägyptische Philosophie in seinem hervorragenden Priester Hermes Trismegistos gelehrt. Dieser schaffende Geist wurde nun jedoch – und das ist Skopus der Universalgeschichte Steucos – in der griechischen Philosophie als höchstes Gut (summum bonum) expliziert (Platon).41 Das erste 38 Ebd., Widmung an Paul III., Blatt *2: »Ipsa Philosophia id clarissime probat: quae cum supremum fructum, praemumque laborum, Sapientiam promittat, hanc Plato, & Aristoteles, philosophorum facile principes, non aliam denique nobis intelligendam proponunt, quam Scientiam, Cultumque Dei [...].« 39 Ebd. S. 3 f. 40 Ebd.: Widmung an Paul III., Blatt *2: »Ipsa Philosophia id clarissime probat: quae cum supremum fructum, praemumque laborum, Sapientiam promittat, hanc Plato, & Aristoteles, philosophorum facile principes, non aliam denique nobis intelligendam proponunt, quam Scientiam, Cultumque Dei [...].« 41 Ebd., S. 10 f.: »Eorum quae prolata sunt comprobatio, ex Theologia Graecorum & He-
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Buch endet mit Steucos Überzeugung, die griechische Philosophie habe die Kernideen der chaldäischen und ägyptischen Weisheit aufgenommen und nun als Wissenschaft vom höchsten Prinzip (Aristoteles) und vom höchsten Guten (Platon) expliziert. Gerade darin werde offenbar, dass Theologie und Philosophie untrennbar miteinander verbunden ist; Plotin bezeuge, dass die griechische (platonische) Philosophie nichts anderes sei als Auslegungen der alten Theologie.42 Damit stand Steuco jedoch vor der gleichen Herausforderung, die sich in der Debatte des 15. Jahrhunderts gezeigt hatte, die Konkordanz der platonischen mit der aristotelischen Theologie nachzuweisen. Dieses Problem diskutiert Steuco ausführlich im vierten Buch.43 Dabei stand er vor der Schwierigkeit, dass Aristoteles in seiner Schrift De coelo durchaus eine Art Pluralität von Göttern gelehrt, die er über den Gestirnen und – wie Steuco einräumen muss – über dem ersten Beweger angesiedelt hatte.44 Zur Lösung dieser Inkongruenzen bezog sich Steuco schließlich auf die pseudo-aristotelische Schrift De mundo, die seit Justin d. Märtyrer auch als »Kompendium der Philosophie« bezeichnet worden war. In dieser habe Aristoteles anders als in seinen anderen Schriften von einem universalen höchsten und einzigen Gott gesprochen.45
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braeorum. Cap. IIII. Verissimum autem esse, Magos haec de Patre ac Genitore Deo, & omnium rerum creatrice Intelligentia cognovisse, credidisse, praedicasse, eo maxime sit perspicuum, quod posteriores, qui sunt apud Graecos philosophati, duces, atque autores sequentes Chaldaeos, et Aegyptios, ad quos sese discendi causa Graeci recipiebant, principia rerum eodem atque illi ordine collocaverunt, Bonum primo in loco, deinceps Mentem constituentes. Siquidem iidem ipsi Chaldaei, Genitorem Deum non solum Patrem, sed etiam Bonum, ut apparet eodem loco, appellant: quod & Plato, et caeteri omnes usurparunt. Mentem quoque Graece νοῦς, secundo loco statuerunt.« Ebd., S. 94: »Coniungunt igitur dexteram, seseque exosculantur, vetus, & nova Theologia, & seculorum intervallis disiunctae, redeunt, ipsis philosophis autoribus, ad amplexum, mutuoque copulantur, & per manus philosophorum ducitur in sacrarium, domiciliumque suum veritas: cuius certum, verumque domicilium, est novissimus is adventus eius, ad quem omnia respondent. O beata palam tempora, quibus veritas haec, haec Theologia manifestissima de coelo refulsisit, quam philosophi videbant, & non videbant. Ocurrebat oculis, sed quia non erat, quantum postea luminosa, totaque lucis suae flumine prorumpens […]. Eadem igitur est vetus, ac nova Theologia: nec alium adoramus Deum autorem, principemque generis humani, atque illi. Siquidem & Plotinus affirmat sermones hos, nunc de magnis his principiis habitos, de Verbo, de Imagine summi Boni, de prima Causa, de Opifice, non esse novos, sed longe antiquissimos: quae nunc a nobis dicantur, esse quasi interpretiones eorum.« Ausführlich hierzu Frank: Der Aristotelismus der ›Philosophia perennis‹ (wie Anm. 6), bes. S. 161–168. De perenni Philosophia, S. 205: »Nam Platonem praeceptorem secutus, supra sideribus, in extrema vertigine mundi, id est, ut clarum est, supra primo mobili collocat hos Deos.« Ebd., S. 207: »Aristoteles in libro de Mundo, quem olim appellabant ut Iustinus martyr, philosophae eius compendium, quod ipse scripsit ad Alexandrum, Latinis Peripateticis obscurum, divine iuxta maiores, quos videbat sentiebatque esse sequendos, locutus est de Deo,
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Die pseudo-aristotelische Schrift De mundo46, die auch im Mittelalter unter dem Titel Apulei De Mundo kursierte47, lag in der frühen Neuzeit spätestens durch Drucke des Beraters des bayerischen Herzogs Willhelm IV., Leonhard von Eck aus Wolfseck (1480–1550), im Jahr 1519 sowie durch die Übersetzung von Guillaume Budé (1486–1540) vor, die 1533, mit einer Einleitung und Scholien von Simon Grynaeus (1493–1541) versehen, in Basel erschienen war. Zweifel an der Echtheit dieser Schrift hatte bereits Erasmus von Rotterdam (um 1467–1536) durch den Nachweis einer Athetese erhoben.48 Auch Philipp Melanchthon (1497–1560) hatte die Echtheit von De mundo in seiner fast zwei Jahrzehnte später publizierten Naturphilosophie in Zweifel gezogen.49 Diese Zweifel blieben jedoch zunächst ohne Folgen für die allgemeine Anerkennung dieser Schrift als einer aristotelischen. Insbesondere im 6. Kapitel, in dem der anonyme Autor von De mundo eine ausführliche Gotteslehre expliziert hatte, gelangen die theologischen Gedanken über die Welterhabenheit Gottes, seine Transzendenz und Immanenz nicht nur zu einer eindrucksvollen Synthese, sondern auch in eine große Nähe zu einem platonisch-neuplatonischen Gottesbegriff. Damit stand Steuco jedoch wiederum vor dem von ihm selbst aufgeworfenen Problem, wie die unverkennbar unterschiedlichen philosophischen Äußerungen des Aristoteles über Gott, die Götter und himmlischen Intelligenzen miteinander in Übereinstimmung zu bringen seien. Steucos Lösung dieses Problems ist eine Art lebensgeschichtlicher Argumentation, auf jeden Fall wenig spektakulär. Da er De mundo als ein zusammenfassendes Vermächtnis der aristotelischen Philosophie, mithin als dessen Spätwerk ansieht, wie es der überlieferte Titel Kompendium der Philosophie nahezulegen schien, unterstellt Steuco dem Stagiriten, unwissentliche Irrtümer korrgiert zu haben und nunmehr vernünftiger zu reden, d. h. die Einzigkeit Gottes zu lehren.50 Steuco übersteigert diese individuelle Anlonge quidem alia, atque ea quae in libris de Coelo, & Metaphysices, non amplius motus illos coelestes, ad quos affixae Intelligentiae, id est, Dii assideant moventes, introducens, sed universale dans summo, ac singulari Deo rerum gubernaculum.« 46 Strohm, Hans: Aristoteles, Meteorologie. Über die Welt (Werke in deutscher Übersetzung 12: Opuscula). Berlin 1970. 47 Schmitt, Charles B., Dilwyn Knox: Pseudo-Aristoteles Latinus. A Guide to Latin works, falsly attributed to Aristotle before 1500. London 1985. In der gegenwärtigen Forschung gilt De mundo als Schrift eines Anonymus, die auf die Zeit zwischen Plutarch und Apuleius zu datieren ist. 48 Vgl. die Nachweise bei Frank: Der Aristotelismus der ›Philosophia perennis‹ (wie Anm. 6), S. 165 f. 49 Melanchthon: Corpus Reformatorum 13, S. 213 f. 50 Steuco: De perenni Philosophia, S. 208 f.: »In compendio repetentes, quae multis retro annis dixissemus, si quid erroris ignaris excidisset, solemus corrigere, solemus emendatius loqui.
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Günter Frank
nahme sogar in eine allgemeine Beobachtung: Bei fast allen Philosophen und Schriftstellern würde man bemerken, dass sie ihre Lehrmeinungen im Alter verändert hätten. »Ja, du wirst sogar entdecken«, so Steuco, »dass die Sinne großer Philosophen sich in sechs Jahren verändern!«51 In Steucos Konzept der ›Philosophia perennis‹ als Einheits- und Universalwissenschaft kommt die Theologie der Alten und der Neuen zusammen und gelangt in der Geistphilosophie Platons und Aristoteles‹ an ihren Höhepunkt, d. h. ›Philosophia perennis‹ hat das gesamte Wissen des Altertums im Blick, wobei die griechische Philosophie (Platon und Aristoteles) eine wichtige Etappe in der Wiederherstellung der ursprünglichen Offenbarungs-Weisheit darstellt. In seiner Genealogie der ›translatio sapientiae‹ gelangt die Weisheit der Offenbarung über die alten Philosophen, die eher Theologen genannt würden, über Mose, Hermes Trismegistos zu Platon und Aristoteles, den Fürsten der vielen Philosophen und Akademien.52 Steuco kann diese Tradition auch als »Natürliche Theologie«53 bezeichnen und damit auf die bei Augustin54 belegte Einteilung der Theologie nach Marcus Terentius Varro verweisen, wie sie auch für die frühneuzeitliche
Sic fecit Aristoteles, quod antea retulerat de multis diis ab antiquis, nunc corrigit, sentiens id de singulari Deo.« 51 Ebd., S. 215: »Nam omnes propemodum Philosophos, omnes item scriptores, aliquid in dogmatis suis inveniens, si diu vixissent, postea demitasse. Saepe diversae sententiae fuerunt in senectute, atque in iuventa. Quin a sexennio variari animos magnorum philosophorum deprehendes.« 52 Ebd., S. 202. 53 Ebd.: »[...] multa de fontibus Theologiae naturalis (naturalem dico, non fictitiam, fabulosam, quam ratio, naturaque docet omnes homines) similiter atque alii loqui coactus est.« In die frühneuzeitliche philosophische Literatur gelangte der Begriff der ›Theologia naturalis‹ bekanntlich durch die Druckgeschichte des einflussreichen Traktats des katalanischen Philosophen Ramon Sibiuda (Raymond Sebond, Raimund von Sabunde): Liber naturae sive creaturarum aus dem Jahr 1436, der seit der Zweitauflage 1485 den Titel Theologia naturalis erhalten hatte. Steucos Konzept der ›Philosophia perennis‹ mit ihren beiden Seiten von Philosophie und Offenbarung ist demnach im Kern Natürliche Theologie. Vgl. ausführlich zu dieser Tradition der ›Theologia naturalis‹: Matzke, David: Die natürliche Theologie des Raymundus von Sabunde. Ein Beitrag zur Dogmengeschichte des 15. Jahrhunderts. Breslau 1846; Compayré, Gabriel: De R. Sabundo ac de theologiae naturalis libro. Paris 1872; Ci cchiti-Suriani, F.: Sopra R. Sabonda, teologo, filosofo e medico del secolo XV. L’Aquila 1889; Schenderlein, Johannes: Die philosophischen Anschauungen R. von Sabunde. Leipzig 1898; Feiereis, Konrad: Die Umprägung der natürlichen Theologie in Religionsphilosophie. Ein Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1965 (EThSt 18), bes. S. 6–10; De Puig Oliver, Jaume: Escriptura i actitud humanistica en el Liber Creaturarum de Ramón Sabunde. In: Revista Catalana de Teologia 3 (1978), S. 127–151; ders.: Les sources de la penseé philosophique de Raimond Sebond (Ramon Sibiuda). Paris 1994 (Études montaignistes, 17); ders.: La filosofia de Ramon Sibiuda. Barcelona 1997. Vgl. auch Walter Andreas Euler: Art. »Raimund von Sabunde«, in: Theologische Realenzyklopädie 28 (1997), S. 122–125. 54 Augustinus: De civitate Dei, IV,31.
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Tradition der ›Theologia naturalis‹ bedeutsam werden sollte. Die Dignität dieser Tradition besteht jedoch nach Steuco nicht weniger als bei Annius von Viterbo in ihrer Anciennität, mehr noch: Je näher das Wissen an diese Weisheit der Ursprungsoffenbarung heranreicht, desto größer ist ihre Wahrheit und Dignität. Deshalb seien – wie Steuco zum Ende des 1. Kapitels seines 1. Buches festhält – die Römer schlechter dran als die Griechen, weil sie das spätere Geschlecht und damit auch ärmer an Weisheit seien.55 Dennoch widmete er viele Kapitel seines 6. Buches der »Theologie der Römer« (Cicero, Seneca), in denen er nachzuweisen versuchte, dass sie die Theologie der Älteren verehrt und nachgeahmt hätten.
Rezeption der Philosophia perennis in der frühneuzeitlichen Tradition der ›Theologia naturalis‹ und ihre Kritik In der Frühen Neuzeit bildete die Grundidee der Philosophia perennis eine leitende Perspektive religionsphilosophischer Traktate wie De Veritate Fidei Christianae sowie der mit Johann Heinrich Alsted 1615 neu begründeten Tradition der ›Natürlichen Theologie‹. Schon der Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus (1478–1535) nahestehende katalanische Humanist und Philosoph Joan Luis Vives (1492-um 1540) hatte in seinem die Wahrheit der christlichen Religion begründenden Traktat56 sogar die Trinitätslehre in der vorbiblischen und paganen Philosophie zu entdecken gemeint. Ausdrücklich verweist Vives auf den Stoiker Zenon, der den λόγος als »fatum«, »necessitas« und »anima Iovis« bezeichnet habe, auf Platons Diktum vom »boni ipsius filium«57 sowie auf Hermes Trismegistos, bei dem Vieles über den Sohn Gottes zu finden sei58. Ausführlich wird die Dignität dieser Tradition in ihrer Anciennität in dem wohl einflussreichs-
55 Steuco: De perenni Philosophia, S. 6. 56 Vives, Ioannes Lodovicus Valentinus: De Veritate Fidei Christianae, Libri V. In quibus de Religionis nostrae fundamentis, contra Ethnicos Iudaeos, Agarenos, sive Mahumetanos, & perverse Christinos plurima exactissime disputantur. Basel 1543 (Erstausgabe posthum), dann auch Köln 1568, Leiden 1639, Lyon 1639 (diese zuletzt genannte Ausgabe liegt mir vor). Vgl. zum Folgenden auch die Hinweise in dem Beitrag des Vf.: Die Kirchenväter als Apologeten der natürlichen Theologie. In: Die Patristik in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Frank, Günter, Thomas Leinkauf, Markus Wriedt. Stuttgart-Bad Cannstatt 2006 (MelanchthonSchriften der Stadt Bretten, 10), S. 253–276. 57 Platon: Der Staat 6. 58 Vives: De veritate (wie Anm. 55), S. 221 f. Vives bezieht sich hier auf jene Stelle im 13. Buch des Corpus Hermeticum, in dem es heißt: »Tat: >Sage mir noch dies: wer ist derjenige, der die Wiedergeburt bewirkt?< Hermes: >Das Kind Gottes, der eine Mensch, nach dem Willen Gottes.