Rekonstruktive Paar- und Familienforschung [1. Aufl.] 9783658306670, 9783658306687

Der Band führt anhand verschiedener Studien in eine Paar- und Familienforschung ein, in der über einen rekonstruktionslo

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German Pages VIII, 360 [365] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VIII
Vorbemerkungen und Aufbau (Dorett Funcke)....Pages 1-8
Zu Merkmalen der Familie der neuen Mittelschichtkultur (Olaf Behrend)....Pages 9-42
Familiale Vergemeinschaftung oder Betreuungsarrangement? (Sascha Liebermann, Hendrik Muijsson)....Pages 43-81
Zur Aufgabe der Neupositionierung des Vaters beim Übergang zur Elternschaft (Jörg Fertsch-Röver)....Pages 83-129
Zur Bedeutung der Herkunft für Vereinbarkeitsarrangements (Franziska Krüger)....Pages 131-174
Die kulturelle Norm der Kernfamilie – Habitusrekonstruktion und Deutungsmusteranalyse (Dorett Funcke)....Pages 175-222
Der Zwang zur Erziehung und die a-pädagogische Haltung moderner Eltern (Kai-Olaf Maiwald)....Pages 223-260
Der Schüleraustausch als familiale Selbstzumutung (Andreas Wernet)....Pages 261-290
Fallrekonstruktive Familienforschung auf der Grundlage einer Jugendamtsakte (Karl Friedrich, Tobias Franzheld)....Pages 291-313
Familie und Staat: Zur Entwicklung des Familienleitbildes in Deutschland im Familienrecht (Stefan Kutzner)....Pages 315-355
Back Matter ....Pages 357-360
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Rekonstruktive Paar- und Familienforschung [1. Aufl.]
 9783658306670, 9783658306687

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Studientexte zur Soziologie

Dorett Funcke Hrsg.

Rekonstruktive Paar- und Familienforschung

Studientexte zur Soziologie Reihe herausgegeben von Dorett Funcke, Institut für Soziologie, FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland Frank Hillebrandt, Institut für Soziologie, FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland Uwe Vormbusch, Institut für Soziologie, FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland Sylvia Marlene Wilz, Institut für Soziologie, FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland

Die „Studientexte zur Soziologie“ wollen eine größere Öffentlichkeit für Themen, Theorien und Perspektiven der Soziologie interessieren. Die Reihe soll in klassische und aktuelle soziologische Diskussionen einführen und Perspektiven auf das soziale Handeln von Individuen und den Prozess der Gesellschaft eröffnen. In langjähriger Lehre erprobt, sind die Studientexte als Grundlagentexte in Universitätsseminaren, zum Selbststudium oder für eine wissenschaftliche Weiterbildung auch außerhalb einer Hochschule geeignet. Wichtige Merkmale sind eine verständliche Sprache und eine unaufdringliche, aber lenkende Didaktik, die zum eigenständigen soziologischen Denken anregt. Herausgegeben vom Institut für Soziologie der FernUniversität in Hagen, repräsentiert durch Dorett Funcke, Frank Hillebrandt, Uwe Vormbusch, Sylvia Marlene Wilz, FernUniversität in Hagen, Deutschland

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12376

Dorett Funcke (Hrsg.)

Rekonstruktive Paarund Familienforschung

Hrsg. Dorett Funcke Institut für Soziologie FernUniversität in Hagen Hagen, Deutschland

Studientexte zur Soziologie ISBN 978-3-658-30667-0 ISBN 978-3-658-30668-7  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30668-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Dorett Funcke Zu Merkmalen der Familie der neuen Mittelschichtkultur . . . . . . . . . . . . 9 Olaf Behrend Familiale Vergemeinschaftung oder Betreuungsarrangement?. . . . . . . . . 43 Sascha Liebermann und Hendrik Muijsson Zur Aufgabe der Neupositionierung des Vaters beim Übergang zur Elternschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Jörg Fertsch-Röver Zur Bedeutung der Herkunft für Vereinbarkeitsarrangements. . . . . . . . . 131 Franziska Krüger Die kulturelle Norm der Kernfamilie – Habitusrekonstruktion und Deutungsmusteranalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Dorett Funcke Der Zwang zur Erziehung und die a-pädagogische Haltung moderner Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Kai-Olaf Maiwald Der Schüleraustausch als familiale Selbstzumutung . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Andreas Wernet Fallrekonstruktive Familienforschung auf der Grundlage einer Jugendamtsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Karl Friedrich und Tobias Franzheld

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Inhaltsverzeichnis

Familie und Staat: Zur Entwicklung des Familienleitbildes in Deutschland im Familienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Stefan Kutzner Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Über die Herausgeberin Dorett Funcke, Dr.; Professorin für Mikrosoziologie an der FernUniversität in Hagen; Arbeitsschwerpunkte: Bildungsprozesse und Sozialisation, Paar- und Familiensoziologie, Methodologie erfahrungswissenschaftlicher Forschung, Rekonstruktive Verfahren der Sozial- und Kulturforschung; einschlägige Publikationen: „Ursprünge und Kontinuität der Kernfamilie. Eine Einführung in die Familiensoziologie“ (gemeinsam mit Bruno Hildenbrand, Springer 2018), „Familie – eine riskante Angelegenheit? Gesellschaftliche Veränderungsdynamiken und ihre Folgen (mit Sascha Bachmann) (In: Familiendynamik 1/2020)

Autorenverzeichnis Olaf Behrend  Universität Siegen, Siegen, Deutschland Jörg Fertsch-Röver  Julius-Maximilians-Universität Deutschland

Würzburg,

Würzburg,

Tobias Franzheld  Universität Koblenz-Landau, Koblenz, Deutschland Karl Friedrich Bohler  Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland Dorett Funcke  FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland Franziska Krüger  FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Stefan Kutzner  Universität Siegen, Siegen, Deutschland Sascha Liebermann  Alanus Hochschule, Alfter, Deutschland Kai-Olaf Maiwald  Goethe Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland Hendrik Muijsson  Alanus Hochschule, Alfter, Deutschland Andreas Wernet  Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland

Vorbemerkungen und Aufbau Dorett Funcke

Der Band führt anhand verschiedener Studien in eine Paar- und Familienforschung ein, in der über einen rekonstruktionslogischen Zugang Themenbereiche bearbeitet werden, die diese beiden zentralen Sozialisationsinstanzen betreffen. Inhaltlich werden in den Beiträgen Fragen behandelt, die den sozialen Wandel im Bereich der Familie betreffen (Olaf Behrend), Familie als Gegenstand sozialpolitischer Diskussionen untersuchen (Sascha Liebermann/Hendrik Muijsson) und an die Vereinbarkeitsthematik von Beruf und Familie anschließen (Franziska Krüger), die die Krisen- und Bildungsprozesse im Übergang zur Elternschaft visieren (Jörg Fertsch-Röver), in den Bereich der alternativen Familienformen hineinführen (Dorett Funcke), die gegenwärtige Erziehungspraxis im Anschluss an eine theoretisch vernachlässigte Dimension der Familie diskutieren (Kai-Olaf Maiwald) und Autonomiebildungsprozesse in der Familie berühren (Andreas Wernet). Des Weiteren wird Familie als Gegenstand der Kinder- und Jugendhilfe untersucht (Karl Friedrich Bohler/Tobias Franzheld) sowie vor dem Hintergrund familienrechtlicher Entwicklungen (Stefan Kutzner). Das Basso Continuo der Beiträge, die sich in ihren jeweiligen Schwerpunktsetzungen unterscheiden, ist ihr rekonstruktionslogischer Zugriff auf die Forschungsgegenstände Paar und Familie. Blicken wir auf die heutige Paar- und Familienforschung, so muss man konstatieren, dass zunehmend, wenn es um diese beiden sozialen privaten Lebensformen geht, Fragen im Fokus stehen, die den demografischen Wandel betreffen, die soziale Ungleichheit oder die Entwicklung von Haushaltsgrößen. Es wird dann mit großen FallD. Funcke (*)  FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Funcke (Hrsg.), Rekonstruktive Paar- und Familienforschung, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30668-7_1

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zahlen gearbeitet, die über standardisierte Erhebungen gewonnen und mit standardisierten Methoden überprüft werden. Im Schatten der Aufmerksamkeit bleiben Zusammenhänge, die sich nicht über statistisch messbare Korrelationen erfassen lassen. Noch wenig bekannt und kaum erforscht sind Fragen, wie im Studienbrief in den Beiträgen behandelt, danach, wie Paare und Familie auf der konkreten Handlungsebene mit neuen und auch seit langem bekannten Handlungsanforderungen umgehen, welche Lösungen sie dafür finden und welche Konsequenzen aus diesen Lösungen wiederum resultieren. Um derartige Fragen zu behandeln, bedarf es eines mikrosoziologischen Ansatzes, der im weitesten Sinne einem interaktionstheoretischem Paradigma verpflichtet ist und über einen rekonstruktionslogischen Zugriff verfügt, sodass Analysen durchgeführt werden können, die in der Lage sind, aufzuzeigen, wie Paare und Familien sich zu Handlungszumutungen in ein Verhältnis setzen, unter welchen vorgefundenen Bedingungen sie das tun und welche Folgen für sozialisatorische Prozesse im Allgemeinen daraus resultieren. Das Gemeinsame der vorliegenden Beiträge ist eine methodische Perspektive, die bei der Erschließung von Paaren und Familien an folgenden Leitkriterien orientiert ist: Grundlage der Datenanalyse sind „natürliche“ Protokolle; gemeint sind damit alle Datensorten, die die soziale Wirklichkeit der Analyse über eine Notation zugänglich machen. Es handelt sich hierbei um ganz unterschiedliche Protokolltypen. In den Beiträgen wird die Datenbasis gebildet durch Notate von nichtstandardisierten Paar- und Familieninterviews (vgl. Fertsch-Röver, Funcke, Maiwald, Wernet), Genogramme (vgl. Krüger, Funcke), Jugendamtsakten (vgl. Bohler/Franzheld), durch Notate aus einer Plenardebatte im Deutschen Bundestag (vgl. Liebermann/Muijsson) und Gesetzestexte (vgl. Kutzner). Das Ziel der Datenanalyse ist immer die methodische Entzifferung von Sinnstrukturen nach intersubjektiv überprüfbaren Kriterien der Geltung. Das rekonstruktive Moment wird dabei durch drei ineinander verwobene methodische Schritte vollzogen: durch Sequenzanalyse, Einzelfallrekonstruktion und Strukturgeneralisierung. Mithilfe dieser Basisoperationen können in der Interpretation sowohl subjektivistische Reduktionen vermieden werden als auch ein Rückfall in ein subsumtionslogisches Vorgehen, mit dem eine empirische Realität vorgefassten Begriffen zugeordnet, aber nicht in ihrer Spezifizität erschlossen werden kann. Ein Paar oder eine Familie über einen rekonstruktionslogischen Zugang in ihrer Spezifität zu erschließen, bedeutet herauszuarbeiten, wie ein Allgemeines im Besonderen repräsentiert ist bzw. wie Paare und Familien eine spezifische Wirklichkeit im Kontext allgemeiner Bedingungen konstruiert haben. Zentral für die mikrologische Entzifferung des im Allgemeinen eingewobenen Besonderen im Vollzug einer Rekonstruktionshermeneutik ist der Begriff der objektiven

Vorbemerkungen und Aufbau

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Möglichkeit. Er bezieht sich auf die dem Handelnden zur Verfügung stehenden Alternativen. Diese sind in der rekonstruktiv verfahrenden Analyse Gegenstand hypothetischer Entwürfe vor deren Hintergrund die fallspezifische Selektivität sich in der Fallstruktur empirisch realisiert. Rekonstruktionsanalysen zielen nicht darauf, Singuläres oder Individuelles zu erfassen, sondern darauf, über einen Prozess der „reflektierenden Abstraktion“ (Piaget) komplexe Zusammenhänge schlüssig durch Theoriebildung zu verdichten. Die Analysen, die im Anschluss an eine Rekonstruktionsmethodologie durchgeführt werden, sind getragen von methodologischen Grundbegriffen und methodischen Verfahren wie: latente und manifeste Sinnstruktur, regelgeleitetes Handeln, Unterscheidung zwischen Protokoll und Text, Fallstruktur, Strukturgeneralisierung, Sequenzanalyse etc. Die Studien aus dem Bereich der Paar- und Familienforschung mit einem rekonstruktionslogischen Zugang, die im Band versammelt sind, orientieren sich an diesen Begriffen und Hintergrundüberzeugungen, werden aber im Einzelnen nicht immer explizit erläutert (hierzu siehe Funcke/Loer 2018). Was die Beiträge aber untereinander sortiert, auch wenn sie verschiedene Forschungsfragen behandeln und das rekonstruktive Moment auf unterschiedliche Weise zum Leuchten bringen, ist der Fokus auf das Paar bzw. die Familie als Gegenstände einer materialfundierten Forschungspraxis, die über die methodologischen Grundlagen eines rekonstruktiven Ansatzes verfügt. Zu den Beiträgen im Überblick: Der Band wird eröffnet mit einem Beitrag von Olaf Behrend. Herausgearbeitet werden basierend auf Ergebnissen einer langjährigen Forschungspraxis des Autors Merkmale einer neuen Familienformation: die Familie der neuen Mittelschichtkultur. Zunächst geht es in einem ersten Teil um eine theoretische Verortung von Familienkultur allgemein. Es wird eine historisch-begriffliche Rahmung gegeben, welche, mit Emmanuel Todd, Heidi Keller und Erik H. Erikson, die Kernfamilie immer eingebettet in eine konkrete Familienkultur begreift, welche eine bestimmte Form der Lebensbewältigung und entsprechende Sozialisationsweisen und -ziele hervorbringt. Vor diesem Hintergrund werden dann Aspekte der heutigen bzw. neuen Mittelschichtkultur fokussiert. Erstens die gesellschaftlich-diskursive Entwertung des Paares, gefolgt von der wechselseitigen Zunahme der Kindzentriertheit. Drittens werden Planung und Organisiertheit des Familienlebens thematisiert, schließlich auch die Fokussierung der Eltern auf formale Bildung, welche wiederum einer ins Leere laufenden Karrierelogik Ausdruck verschafft. Diese Merkmale sind empirisch in Ergebnissen von Fallrekonstruktionen verankert. Als Datenmaterial hat der Autor Interviews mit Eltern und Audio- bzw. Videoprotokolle des familiären Zusammenseins analysiert; aber auch Kunstwerke, insbesondere Filme und Fernsehserien, und schließlich politische und akademische Diskurse,

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deren ­Verschiebungen und Konjunkturen. In dem Beitrag werden die genannten Merkmale exemplarisch an ausgewählten Materialstellen bzw. -analysen dargestellt. Im Fazit werden Befunde zum Wandel der Familie in einen weiteren gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt. In dem Beitrag von Sascha Liebermann und Hendrik Muijsson geht es um sozialpolitische Veränderungen in der Familienpolitik und ihre Folgen für das familiale Handeln. Die Autoren konstatieren, dass „die partikulare familiale Vergemeinschaftung noch stärker Vergesellschaftungsdynamiken unterworfen wird, als es bisher der Fall war“ (vgl. hier im Band S. 39). Will Familie sich als soziales Strukturgebilde mit ihren typischen Eigenschaften entfalten, dann müssen diese auch von der politischen Vergemeinschaftung, in der sie lebt, verstanden und respektiert werden. Den Analysen der Autoren zufolge mehren sich die Hinweise darauf, dass dieses Verständnis schon länger im Umbruch begriffen ist. In dem Beitrag wird dieser Umbruch auf der Basis dreier zu analysierender Materialtypen rekonstruiert. Zuerst wird das im Jahr 2007 eingeführte Elterngeld als Ausdruck dieses Umbruchs in seinen normativen Grundzügen untersucht, um darauffolgend Deutungsmuster zu Familie in der Bundestagsdebatte zur Einführung des Betreuungsgeldes im Jahr 2012 zu analysieren. Abschließend werden Auszüge aus der Rekonstruktion eines Interviews mit Eltern eines zweijährigen Kindes präsentiert. Diese Analysen zeigen, dass mit der Arbeitsmarktpolitik gemäß dem Paradigma der „Aktivierung“ die normative Stellung von Erwerbsarbeit als größtmöglichem Beitrag zum Gemeinwohl endgültig zementiert zu sein scheint. Infolgedessen hat sich Familienpolitik zur Fortsetzung von Arbeitsmarktpolitik mit anderen Mitteln verwandelt. Obwohl Eltern im ersten Lebensjahr nach der Geburt ihres Kindes vom Staat alimentiert werden (Elterngeld), erweist sich diese Alimentierung als eine Belohnung für vorausgegangene Erwerbstätigkeit. Nicht Elternschaft als solche wird damit unterstützt, vielmehr sind es erwerbstätige Eltern, die eine besondere Unterstützung erfahren. Dem entspricht der forcierte Ausbau außerhäuslicher Betreuungsmöglichkeiten, die Ausweitung von Betreuungszeiten sowie die Absenkung des Betreuungsalters, ohne dass gleichzeitig Eltern unterstützt werden, die länger für ihre Kinder zuhause bleiben wollen, ohne erwerbstätig zu sein. Der Umbruch zeigt sich also darin, dass es keine die Eigensinnigkeit familialer Sozialbeziehungen angemessen repräsentierenden Deutungsmuster gibt. Vielmehr erscheinen diffuse Sozialbeziehungen vorwiegend als spezifische gesehen zu werden, als gingen sie in vertragsförmigen Vergesellschaftungsbeziehungen auf. Die Vermischung zweier fundamental unterschiedlicher Beziehungslogiken zugunsten der von Vertragsbeziehungen existiert über politische Differenzen hinweg und manifestiert sich konkret in familialer Praxis.

Vorbemerkungen und Aufbau

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Jörg Fertsch-Röver rekonstruiert in seinem Beitrag den Übergang zur Elternschaft, der mit weitreichenden Veränderungen für ein Paar verbunden ist und von beiden Partnern eine innerfamiliäre Neuausrichtung bzw. Neupositionierung erfordert. Das Gelingen dieser Neupositionierung ist sowohl für das Paar als auch für die Entwicklung des Kindes von zentraler Bedeutung, weil vor dem Hintergrund eines strukturtheoretischen Modells von Familie es darauf ankommt, dass die Eltern Grundkonstellationen einer ödipalen Strukturdynamik realisieren, die dem Kind Bezogenheit und Abgrenzung ermöglichen, ohne es dabei in Loyalitätskonflikte zu ziehen. Neuere Strömungen innerhalb der Psychoanalyse fassen den Übergang zur Elternschaft unter dem Begriff der Triangulierung bzw. Triadifizierung. Die dabei zugrunde gelegten Triangulierungsmodelle zeichnen sich durch eine weitgehend synchrone Betrachtungsweise auf die familiale Triade aus, innerhalb derer sich Form und Notwendigkeit der Neuausrichtung nur unzureichend rekonstruieren lassen. Vor diesem Hintergrund zielt der vorliegende Beitrag auf die Frage, worin die Neupositionierung der werdenden Eltern – hier speziell der werdenden Väter – und die damit verbundenen Schwierigkeiten bestehen. Anhand der Sequenzanalyse von Interviews mit werdenden Vätern während der Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes werden mit der Methode der Objektiven Hermeneutik in drei kontrastierenden Fällen die jeweiligen Neupositionierungen der Väter und die damit verbundenen Schwierigkeiten rekonstruiert und daraus Rückschlüsse auf die Triangulierungsaufgabe des Vaters gezogen. Im Beitrag von Franziska Krüger wird die Bedeutung von intergenerationalen Transmissionsprozessen für das Vereinbarkeitsarrangement von ­ost-westdeutschen Paaren untersucht. Auf Basis eines Falles, dem Paar Hübner, wird herausgearbeitet, wie die familialen Sozialisationsbedingungen im Kontext der unterschiedlichen Herkunft aus der DDR und der BRD die innerfamiliale Arbeitsteilung des Paares prägt. Mithilfe des methodischen Verfahrens der Genogrammanalyse werden die familialen Herkunftsmilieus des Paares sequenzanalytisch rekonstruiert. Über die Fallanalyse kann so aufgezeigt werden, dass die unterschiedliche Herkunft aus der DDR und der BRD keine Rückschlüsse auf verschiedene habitualisierte Arbeitsteilungsmuster zulässt. Vielmehr wird deutlich, dass familien- und milieuspezifische Sozialisationsbedingungen in die Untersuchung zu integrieren sind, wenn es um die Frage geht, warum das allgemeine Handlungsproblem, Beruf und Familie zu vereinbaren, auf eine bestimmte Art und Weise gelöst wird. In dem Beitrag von Dorett Funcke geht es um eine unkonventionelle Familienform, die gleichgeschlechtliche Familie, und die Frage: Welche sozialisatorischen Voraussetzungen führen dazu, dass trotz Geltung der Norm der Kernfamilie, die

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im ausgewählten Fall sich im Vollzug von Deutungen empirisch manifestiert, von dieser Regelstruktur abgewichen wird. Die Abweichung zeigt sich in der Wahl einer anonymen Samenspende und darin, dass die Nachwuchssozialisation vom Muster der Kernfamilie abgetrennt ist. Grundlage der Fallrekonstruktionsanalyse sind das Genogramm und eine ausgewählte Sequenzstelle aus dem Interview. Der Beitrag schließt mit allgemeinen Überlegungen zur sozialen Wirklichkeit von alternativen Familien und mit familientheoretischen Reflexionen. Kai-Olaf Maiwald thematisiert in seinem Beitrag den Zwang zur Erziehung und die a-pädagogische Haltung moderner Eltern. In der Einschätzung der Entwicklung und der gegenwärtigen Praxis der Eltern-Kind-Beziehungen dominiert in den Sozialwissenschaften ein weitgehend positives Bild: Der Erziehungsstil habe sich „vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt“ gewandelt, körperliche Züchtigungen sind allgemein geächtet, der Umgang miteinander irgendwie „demokratischer“, die Eltern seien orientiert an einer „verantworteten Elternschaft“, das Familienleben gestalte sich „kindzentriert“. Dabei wird eine eher unharmonische Seite des Familienlebens ausgeblendet, die aber in der Alltagswahrnehmung durchaus dazugehört und vermutlich mit einer nicht hintergehbaren Asymmetrie in der Beziehung und einer ihr immanenten Spannung zwischen Autonomie und Heteronomie zu tun hat. Die Asymmetrie im familialen Generationenverhältnis spielt in der Familienforschung kaum eine Rolle; insbesondere ist ihr grundlegender Stellenwert theoretisch unterbestimmt. Im Anschluss an Überlegungen Andreas Wernets wird in einer exemplarischen Analyse einer Mutter-Sohn-Interaktion gezeigt, dass Eltern-Kind-Beziehungen ohne die Einnahme einer positionalen Differenz, die immer auch eine Machtdifferenz ist, nicht denkbar sind. Die interaktive Selbstpositionierung des Kindes als hilfsbedürftig weist dem Elternteil kehrseitig eine Position zu, die zwischen Gewährung und Versagung der Bedürfnisbefriedigung entscheiden muss und dabei vor der Anforderung steht, die normativen Grundlagen dieser Entscheidung in der Interaktion präsent zu machen. Die Analyse weist darüber hinaus darauf hin, dass diesem Zwang zu Erziehung in der gegenwärtigen Erziehungspraxis mit einer „a-pädagogischen“ Haltung begegnet werden kann, die dazu führt, dass die objektive Inanspruchnahme der Erziehungsposition auf paradoxe Weise mit einer Selbstdistanzierung von dieser Inanspruchnahme verbunden ist. Andreas Wernet behandelt in seinem Beitrag am Beispiel des sozialen Phänomens „Schüleraustausch“ die Adoleszenzkrise nicht primär als Krise des jugendlichen Subjekts, sondern als Krise der familialen Interaktion. Der Schüleraustausch, also der Auslandsaufenthalt von Schülerinnen und Schülern für ein (oder ein halbes) Schuljahr, hat sich für viele Familien zu einer

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s­elbstverständlichen Option entwickelt. In dem Beitrag wird dieses Phänomen einer genaueren Betrachtung unterzogen. Zunächst entwickelt der Autor die These, dass der Schüleraustausch als eine „familiale Selbstzumutung“ verstanden werden kann. Die institutionalisierte Praxis als solche und das mit ihr verbundene Werte- und Distinktionsmuster setzt die Familien unter einen in ihre Binnenbeziehungen intervenierenden Entscheidungsdruck. Daran anschließend erfolgt eine Fallrekonstruktion, die eine familiale Konstellation in den Blick nimmt, die sowohl ökonomisch als auch kulturell für einen Schüleraustausch prädestiniert zu sein scheint. In der Analyse zeigt sich dann, dass diese naheliegende Option von erheblichen familialen Spannungen begleitet ist. Im Anschluss an diese Fallrekonstruktion schlägt der Autor vor, den Schüleraustausch als Ausdruck eines unscheinbar und hintergründig operierenden gesellschaftlichen Eingriffs in die familiale Autonomie zu interpretieren. Der Band schließt mit einem Beitrag von Stefan Kutzner zur Entwicklung des Familienleitbildes in Deutschland im Familienrecht. Das Familienrecht hat in familiären Beziehungen eine erhebliche Bedeutung, sowohl für die Paar- wie auch für die Eltern-Kind-Beziehungen. Insbesondere trifft das für grundlegende Konflikte in Familien zu wie der Scheidung, der Regulierung der Scheidungsfolgen, bei Unterhalts- und Erbkonflikten, und bei Gewaltfällen in Familien. So sind im jeweiligen Familienrecht implizite Familienideale enthalten, Deutungsmuster, die auch gleichzeitig die gesellschaftlich herrschenden Normen und Werte hinsichtlich des familiären Lebens ausdrücken. Ebenso dokumentiert das Familienrecht, welche Interventionsmöglichkeiten gegenüber der Familie sich der Staat zuerkennt und welche möglichen innerfamilialen Konflikte er unterstellt. In dem Beitrag wird das Familienbild (Deutungsmuster) in Preußen am Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Familienbild in der Bundesrepublik Deutschland, wie es sich im Grundgesetz und im gegenwärtigen Familienrecht (2016) ausdrückt, verglichen. Paragrafen, in denen die Beziehungen zwischen Staat und Familie, zwischen den Eheleuten wie zwischen Eltern und Kindern reguliert werden, werden sequenzanalytisch auf der Grundlage der Methodologie der Objektiven Hermeneutik untersucht, um die spezifischen Deutungsmuster zu Ehe und Familie in Preußen wie in der Bundesrepublik Deutschland zutage zu fördern. Es zeigen sich folgende Unterschiede: Der preußische Staat gibt sowohl den Eheleuten wie Eltern und Kindern sehr konkret ausformulierte Normen vor, wohingegen der bundesdeutsche Staat ein allgemeines Konsensideal für die Ehe- wie für die Eltern-Kind-Beziehungen formuliert. Gemeinsam ist in beiden Staaten, dass ein Misstrauen gegenüber der Autonomie der Menschen in der Gestaltung ihres familiären Lebens besteht, wobei dieses Misstrauen in

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der Bundesrepublik Deutschland viel eingeschränkter ausgeprägt ist und sich nicht auf die Ehebeziehungen, sondern sich auf die Ausübung der Elternschaft beschränkt.

Literatur Funcke, Dorett, und Thomas Loer. 2018. Vom Fall zur Theorie – Auf dem Pfad der rekonstruktiven Sozialforschung. Wiesbaden: VS Springer.

Zu Merkmalen der Familie der neuen Mittelschichtkultur Olaf Behrend

1 Vorbemerkungen In den letzten ca. 40 Jahren hat sich nach und nach die Familie der neuen Mittelschichtkultur in Deutschland, aber auch anderswo, als gesellschaftlich prägend1 etabliert, die in zentralen Punkten von der in Resten bürgerlichen Familie des „golden age of marriage“ (d. h. der alten Mittelschicht) unterschieden werden kann und muss. Nachfolgend geht es darum, charakteristische Merkmale dieser neuen Familienformation herauszuarbeiten. Ich möchte mich auf die folgenden Merkmale konzentrieren: i) Abnahme des kulturellen bzw. gesellschaftlichen Stellenwertes des Paares und ii) wechselseitige Zunahme der Kindzentriertheit; iii) Zunahme der Planung des Familienlebens sowie iv) starke formale Bildungsfokussierung der Eltern. Als Konsequenz haben diese Aspekte einen innerfamiliären Unmittelbarkeits- und Spontanitätsverlust sowie Vergemeinschaftungsabbau zur Folge – und damit einhergehend eine

1Die

Familie der herrschenden Klasse, d. h. der oligarchisch vernetzten, neofeudalen Oberschicht wäre nochmals gesondert zu betrachten, weil sie das ökonomische Leitmotiv unserer Zeit vorgibt, zu dem die neue Mittelschichtkultur in einem Entsprechungsverhältnis steht. Zur Familie der unteren Mittelschicht und Unterschicht s. Lutz (Hg.) (2012); in fallrekonstruktiver Hinsicht: Behrend (2015).

O. Behrend (*)  Universität Siegen, Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Funcke (Hrsg.), Rekonstruktive Paar- und Familienforschung, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30668-7_2

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O. Behrend

Tendenz zur lebenspraktischen Isolation der Familien bei gleichzeitiger Zunahme der gesellschaftlichen Organisation des Inneren der Familie. Ich greife in der nachfolgenden Darstellung u. a. auf Ergebnisse meiner kontinuierlichen Forschung der letzten etwa acht Jahre zurück. Die Daten, auf die nachfolgend kursorisch bzw. illustrierend referiert wird, entstammen zahlreichen hermeneutischen Forschungs- und Abschlussarbeiten. Aber auch Analysen von Filmen2 und Fernsehserien sowie politischen und akademischen Diskursen, deren Verschiebungen wie Konjunkturen sind in die Thesen eingeflossen. Aus einer methodisch interessierten Sicht ist es zentral, dass ein zusammenhängendes synthetisches Verständnis eines kulturellen Phänomens, wie hier das des familiären Lebens in der neuen Mittelschichtkultur, nicht allein aus Einzelfallrekonstruktionen (anhand von Interviews oder familiären Interaktionen) hervorgehen kann. Dies zu behaupten und womöglich zu prätendieren, solches methodisch formalisieren zu können, scheint mir vermessen. Denn es bedarf i) (theoretischer) Vorannahmen und Verankerungen (die im Verlauf des Forschens und Nachdenkens revidiert, verändert und v. a. erweitert werden) als auch ii) Daten, die auf anderen Ebenen aggregiert sind als der des Einzelfalls (Individuum oder Familie) und der untersuchten Kultur Ausdruck verleihen. Auf diesem Wege kann, ganz im weberschen Sinne, eine synthetische wie idealtypische Integration einzelner, u. a. fallrekonstruktiv eröffneter Erkenntnisse zu einer zusammenhängenden Einsicht in kulturelle Phänomene gelingen. Dieser Prozess endet nicht (etwa nach drei Jahren Projektlaufzeit); er kommt vielmehr zu empirischer wie auch theoretischer Sättigung in einer Konstellation, die den Gegenstand erschließt (Adorno 1966: 166), und schlägt dann um in weiterführende Fragen. Zentral ist es also, verschiedene Gegenstandsebenen in der Datenauswahl zu berücksichtigen, und die Ergebnisse der Datenanalysen als Konstellationen zu begreifen, die den untersuchten Gegenstand begreiflich machen. Eine Beschränkung auf einen Datentyp (Interviews etwa) führt entsprechend zu Einschränkungen.3 Die konzeptuelle Integration einzelner Gegenstandsebenen erfolgt, das scheint mir noch wichtig, inhaltlich unter Rückgriff auf einen generischen Kulturbegriff, den ich hier im ethnologischen Sinne verwende, d. h. alle materiellen wie geistigen Hervorbringungen und alle Praktiken zählen zu einer Kultur. Der vorliegende Text bringt einen Forschungsstand zum Ausdruck, der bei Leibe noch nicht

2Für

gemeinsame Filmseminare und darüber hinausgehende Diskussionen möchte ich an dieser Stelle Jochen Schäfers herzlich danken. 3Die Engführung der ‚qualitativen‘ Sozialforschung auf Interviews problematisieren auch andere Autoren, insbesondere Ulrich Oevermann (s. etwa 2004).

Zu Merkmalen der Familie der neuen Mittelschichtkultur

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im Zustand der Sättigung angelangt ist. Es werden nachfolgend die zentralen Begriffe aufgeworfen und einige Thesen zu Zusammenhängen angezeigt. Neue Mittelschichtkultur scheint mir der angemessene Begriff für den sich in den Auswertungen herauskristallisierenden Zusammenhang zu sein, weil die familiäre Praxis und deren Begründung i) weitreichende Unterschiede zur alten Mittelschichtkultur aufweist, die nachfolgend deutlich werden sollten, und zugleich ii) die lange Zeit gesellschaftlich relevante Arbeiterfamilie seit spätestens den frühen 90er Jahren keine kulturell tragende Rolle mehr spielt und daher nicht mehr auf die Kultur der ‚alten‘ Mittelschichtfamilie (und damit die ganze Gesellschaft) einwirkt, was zuvor lange Zeit folgenreich der Fall war. Damit einhergehend, dass das Arbeitermilieu als eigenständige Kultur (mit einer entsprechenden Familie als Zentrum) schon länger weitgehend verschwunden ist4, gewann die sich bildende ‚neue‘ Mittelschichtkultur nach und nach gesellschaftliche Hegemonie in Sachen Familie und Erziehung (was mit Abitur und Studium als kulturellem Normalfall der Bildungsbiografie der insbesondere urbanen neuen Mittelschicht einhergeht). Die hegemonialen Grenzziehungen richten sich entsprechend, sehr grob gesehen, gegen die Nichtstudierten, die untere Mittelschicht, die Reste des Arbeitermilieus bzw. die (neue) Unterschicht und deren aus Sicht der Mittelschichtkultur devianten Familienformen.5 Der Begriff der neuen Mittelschichtkultur wird von mir nicht in einem sozioökonomisch engen Sinne (der Einkommensgrenzen oder Berufsgruppen) verwendet. Er wird eben vielmehr kulturell begriffen.6

4Es

gibt natürlich nach wie vor viele Arbeiterinnen und Arbeiter, die oft auch geringqualifizierte Tätigkeiten verrichten. Sie sind, oft auch migrationsbedingt, sehr unterschiedlicher kultureller Herkunft, und konstituieren keine eigenständige (Arbeiter-) Kultur mehr. Deren Zugehörigkeit zur (neuen) Unterschicht ist insofern wesentlich residual durch Exklusion aus der neuen Mitteschicht bestimmt. Diese Exklusion funktioniert auch ökonomisch, aber vor allem kulturell; Bildungsabschlüsse sind ein wichtiger Aspekt. 5Ferdinand Mounts Studie „The subversive family“ (1982/1992) handelt u. a. von der in Großbritannien bereits in den sechziger Jahren beginnenden kulturellen Attacke der ‚progressiven‘ Mittelschicht auf die Werte der Arbeiterfamilie. 6Für eine Bestimmung des sozioökonomischen Wandels, der im Hintergrund den hier beschriebenen Phänomenen korrespondiert siehe: Christoph Deutschmann (2008a). Zentral für den Wandel sind i) die Zunahme der Fokussierung auf Statussicherung der bereits aufgestiegenen Familien und ii) die Abnahme der Aufstiegsmöglichkeiten für die noch nicht aufgestiegenen Familien der Unterschicht, die oft (vor einer oder zwei Generationen) eingewandert sind. Die Orientierung auf Statussicherung hat die Abwendung von der Leistungsorientierung bei gleichzeitiger Zuwendung zur inhaltlich entkernten Karriereorientierung zur Folge, was einen wesentlichen Beitrag zur Entpolitisierung darstellt.

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2 Theoretische Rahmung Familien erscheinen in ihrem historischen Vorlauf sehr unterschiedlich. Insofern ist eine deskriptive Theorie, die auf Einheitlichkeit einer Definition zielt, wie allenthalben betont, nicht möglich. Typischer Weise (s. Nave-Herz 2009: 15) werden folgende drei Aspekte zur Unterscheidung der Familie „von anderen Lebensformen“ angeführt: i) die „biologisch-soziale Doppelnatur aufgrund der Übernahme der Reproduktions- und […] Sozialisationsfunktion“; ii) „ein besonderes Kooperations- und Solidaritätsverhältnis“ und iii) die Generationendifferenzierung (ebd.). Diese Bestimmung stellt bereits eine gewisse Engführung dar. Typischer Weise ausgespart bleibt die Thematisierung der Familie als dem Ort der Bildung von Handlungssubjektivität und Identität. Auch werden die internen Beziehungen und die zu anderen nicht ventiliert. Die drei genannten Punkte bestimmen eher das haltgebende Moment von Familie, welches eine zentrale Dimension der Familialität darstellt; Familialität bezeichnet den Zusammenhang von Eigenschaften, der von der konkreten Erscheinungsweise von Familien abstrahiert werden kann; ein Stamm kann Familialität vermitteln, eine Kernfamilie auch.7 Vielmehr sind für ein theoretisches Verständnis von Familie folgende fünf Aspekte zentral. Der Fokus wäre zu richten auf: 1) das Paar und dessen Zustandekommen; 2) die vom Paar erzeugte Kernfamilie und deren interne Interaktion (Familienleben) und damit zentral zusammenhängend: 3) der Grad an Eingebettetheit bzw. Abgegrenzheit der Kernfamilie von der weiteren Familie (bzw. der umgebenden Sesshaftigkeitsgruppe und weiteren Vergemeinschaftungsformen bis hin zur Gesellschaft); 4) das Verhältnis der Geschwister zur vorhergehenden Generation (den Eltern bzw. den ‚Alten‘ allgemein) und untereinander und den 5) manifesten Erziehungszielen und latenten Sozialisationsfolgen. Die Ebenen können hier nicht alle diskutiert werden. Zu allen fünf Punkten ließen sich viele Autoren angeben, die Wichtiges geleistet haben. Ausgehend vom ersten Punkt kann man festhalten, dass es (bei aller Verschiedenheit der Erscheinungsweise von Familie) naturwüchsig immer ein (potenziell autonomes) Paar gab bzw. gibt, welches Kinder bekommt. Kulturen

7Die

Erscheinungsformen von Familien waren und sind sehr unterschiedlich. Gemeinsam ist allen Kulturen, dass die Alten (i. d. R. das Elternpaar und weitere Erwachsene) den Jungen emotionalen Halt (Liebe) und Identifikation, d. h. auch Zugehörigkeit, ermöglichen. Ferner erziehen und sozialisieren die Alten die Kinder auf die jeweiligen Kulturziele hin. Diesen Zusammenhang von Liebe und Identifikation, Zugehörigkeit und kultureller Tradierung (der je gültigen Werte) kann man als Familialität bezeichnen.

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13

regelten und regeln aber sehr unterschiedlich den Stellenwert des Paares und darüber vermittelt das Verhältnis der Kernfamilie zur weiteren Verwandtschaft8, zur Gemeinschaft, der die Familie angehört sowie, sofern vorhanden, zur Gesellschaft. Bei aller Unterschiedlichkeit gilt, dass in allen Kulturen aus einem Paar, das Kinder bekommt, die Eltern werden, die (trotz teilweise sehr weitreichender Integration in Clan oder Stamm) für das Kind verantwortlich sind. Was dies für die Erziehung der Kinder, sofern eine solche explizit stattfindet, heißt, ist sehr unterschiedlich. In vielen Kulturen, u. a. dokumentierten archaischen und traditionellen Kulturen, wurde das Autonomie- und Absonderungspotenzial, welches dem bzw. der Paardynamik potenziell immer innewohnt, ausgebremst.9 In manchen Fällen, wie dem (mittel-) europäischen, wurde die Absonderung

8George P. Murdock stellte in seinem Werk „social structure“ (1949: 2 und 23 f.) fest, „the nuclear family is a universal grouping“. In allen für Murdock analysierbaren, d. h. hinreichend dokumentierten Kulturen (n = 192), ist die Kernfamilie gegeben. 47 dieser Kulturen bestehen nur aus Kernfamilien, 53 haben polygame (aber nicht erweiterte) Familien, die restlichen 92 Kulturen betten die Kernfamilie in eine Form der erweiterten Familie ein. René König (1974: 143) hebt vor diesem Hintergrund darauf ab, dass die frühen Paarbeziehungen der primär um Kernfamilien organisierten, akephalen Kulturen hinsichtlich Geschlechterordnung tendenziell egalitär erschienen. 9Am Anfang des Homo Sapiens steht aus heutiger anthropologischer Sicht die undifferenzierte Kernfamilie, d.  h. ein wandernder Verwandtschaftszusammenhang, der sich um eine oder mehrere Kernfamilien pragmatisch (d. h. alle die es gibt, können dazugehören, bis es zu viele werden) organisiert (d. h. die Positionen Murdocks und Westmarcks gelten heute als belegt). Sesshafte Kulturen bildeten angesichts von auftauchendem Besitz und Verteilungsproblemen (Erbschaft) komplexere Formen der Binnendifferenzierung und entsprechend auch komplexere Familienformen aus, die dann aus Emmanuel Todds Sicht in einem gewissen Entwicklungsverhältnis zueinander stehen. Bezogen auf Komplexität und Wichtigkeit der Familienbeziehungen steht die Kultur der endogamen kommunalen Familie (v. a. in arabischen Ländern verbreitet) am Ende der Entwicklung – mit dem höchsten Stellenwert der Familie und dem größten Maß an Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Die schlichteste Familienkultur ist aus dieser Sicht die der Kernfamilie, welche vor allem in Westeuropa, quasi am Rand der eurasischen Platte, überdauert hat (und in Nordamerika kulturell dominant geworden ist). Je rudimentärer der Grad der familiären Differenzierung desto anpassungsbereiter (oder ausgelieferter) sind die Familien gegenüber äußeren Gegebenheiten. Die einfachste Familienkultur gäbe es lt. Todd heute in den USA, die der der undifferenzierten Familie des Homo Sapiens sehr nahe käme. Siehe zu Todds Familienmodell: 1985, 2011 und 2018, darin zur Übersicht 56-61; sowie seine Deutung der zeitgenössischen Auflösung der Familienformen hin zum einfachen Modell des frühen Homo Sapiens bei Beharrung der kulturellen Werte, die einst von den verschiedenen Familienformen erzeugt worden sein.

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aber auch gefördert, insbesondere durch die katholische Kirche.10 Das kann man evolutionär begründen: Die Absonderung des Paares stellte in vielen archaischen Kulturen ein Risiko für die Überlebenssicherung dar, was in vielen Mythen, welche Paarbildung und Absonderung des verliebten Paares negativ thematisieren, dokumentiert ist.11 Ein Extrembeispiel wären die historischen Polareskimos, die das erwachsene Individuum nach einigen Jahren geradezu zum Verlassen seiner jeweiligen Paarbeziehung auffordern.12 Das andere Extrem stellt diesbezüglich idealtypisch die bürgerliche Kultur dar, weil sie quasi die Absonderung und Freisetzung des Paares in die (damit auch erst vollumfänglich konstituierte) Privatsphäre quasi forderte – und damit Öffentlichkeit erzeugte und die Sphäre des Politischen (und damit der gleichen Rechte) potenziell auf alle ausdehnte. Die bürgerliche Konstituierung des Paares als eine Person ermöglichte sozialisatorisch ferner den Bildungsprozess des Subjekts als Prozess der ausgeprägten Individuierung, welcher das Kind befähigt, aus der Familie heraus als Individuum in die Gesellschaft entlassen zu werden. Die Ab- und Auflösung der bürgerlichen Kultur als gesellschaftlich dominanter, sich selbst gewisser Kultur ab Ende des 19. Jhd. (mit dem Katalysator des Ersten Weltkriegs), ist ein Prozess, der zum Mittelstand bzw. zur Mittelschicht als dominante Kultur führte.13 Der zentrale Indikator für die Bildung der Mittelschicht ist der erste demografische Übergang, in Westeuropa Ende des 19. Jhd., in Deutschland etwas später, vor dem Ersten Weltkrieg. Wenn man Parsons

10S.

auch Goody (2000); Funcke/Hildenbrand (2018). ist die zeitgenössische fiktionale Thematisierung u. a. dieses Handlungsproblems in dem Roman „Das Vogelmädchen und der Mann, der der Sonne folgte“ (1997) von Velma Wallis, die zur first nation der Gwich’in (Nordalaska) gehört. 12S. Jean Malaurie (1979: 111 und 132). Zu den Rechten des Grundherren bzw. zur Hufenverfassung als Mittler zwischen Familienverhältnissen und den landwirtschaftlichen Bedingungen siehe: Funcke/Hildenbrand (2018: 106). 13Der Mittelstand und seine bürgerlichen Vorläufermilieus leisteten, so der Historiker Hagen Schulze, den wesentlichen Beitrag zur Bildung der deutschen Nation nach 1871 und wurden vom Erstem Weltkrieg (Kriegsanleihen) und der Inflation am stärksten getroffen, weil sie relativ am meisten (oft alles) an Ersparnissen verloren hatten; die Oberschicht konnte manches (Immobilienbesitz) retten; die Arbeiter hatten nichts zu verlieren, s. (3: 18). U. a. daher fiel es dem Mittelstand, als dem naturwüchsigen Träger von Parlamentarismus und liberalem Individualismus, so schwer, gegenüber der konservativen Revolution im Allgemeinen und der Hitlerbewegung im Besonderen eine eigene Position zu artikulieren. 11Interessant

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Familientheorie der vierziger und fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts als Idealtypus der alten Mittelschichtkultur begreift, so wird deutlich, dass diese noch recht viele Elemente der bürgerlichen Familie – stichwortartig: Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit, Etablierung diesbezüglicher Sphären (expressive und instrumentelle Rolle) als geschlechtsspezifische, familiäre Sozialisation unter starkem Bezug auf die gesellschaftliche Ordnung und deren Reproduktion – beibehielt und verallgemeinerte. Die bäuerliche Familie wie die Arbeiterfamilie liefen lange Zeit in einem gewissen Sinne parallel zur bürgerlichen Gesellschaft: Sie repräsentierten traditionelle Familienformen, deren Sozialisation auf Handlungsautonomie ausgerichtet war (s. Keller 2011, Kap. 8). Beide Kulturen haben immer auch auf die ‚Individuierungsbremse getreten‘ und vielmehr Kooperationsfähigkeit unter Gleichen erzeugt.14 Eine viel zu wenig gewürdigte Leistung der alten Mittelschicht kann man darin sehen, nicht nur viele Arbeiterfamilien und Individuen bäuerlicher Herkunft integriert zu haben, sondern auch eine gesellschaftliche Verzahnung der bürgerlichen wie der traditionellen Sozialisationen zugelassen zu haben. So bildeten eine gewisse Zeit lang (ca. 1920 bis ca. 1980) individuierte Subjektivität (der bürgerlichen Familie) und traditionelle Kooperationsfähigkeit (der bäuerlichen und Arbeiterfamilie) gesellschaftlich gleichermaßen anerkannte und geteilte Sozialisationsziele und damit den Kern der gesellschaftlichen Sittlichkeitsordnung (die milieuspezifisch unterschiedlich gewichtet waren). Diese Zeit, die mit dem Industriekapitalismus korrespondierte, ist abgelaufen. Die heutige Formation wäre dann die, die durch die neue Mittelschichtkultur geprägt ist, deren Sozialisation nicht mehr praktisch zu Kooperationsfähigkeit führt, sondern andere Sozialisationsergebnisse hervorbringt, welche Entsprechungen zur Dynamik der finanzialisierten Ökonomie und der Orientierung auf Statussicherung (als einer Folge der Finanzialisierung) aufweisen dürfte. Soweit zur theoretischen Rahmung. Der von mir verfolgte Ansatz versteht Kulturen als wesentlich von Familien getragen und erzeugt. Die Eltern müssen auf die sich wandelnde Umwelt reagieren, sie können sich dem Wandel anpassen oder ihn offensiv gestalten, ggf. sich auch über diesen hinwegsetzen. Dieser Ansatz wurde nach meinem Dafürhalten für die Familiensoziologie vor allem von Emmanuel Todd fruchtbar gemacht, aber natürlich auch, auf ganz anderer Ebene, von Erik H. Erikson (theoretisch wie methodisch geht es mir auch darum, diese

14S.

Piagets Studie „Das moralische Urteil beim Kinde“ (1932/1979), zu dem die Datenerhebung, insbesondere die zum Murmelspiel, im Genfer und Neuenburger Arbeitermilieu Ende der 20er oder Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts erfolgte.

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beiden Betrachtungsweisen zusammenzuführen). Erikson hat Familien auf die von ihnen verfolgten Sozialisationsziele und deren latenten Sozialisationsfolgen für die Kinder hin untersucht, und diesen Zusammenhang wiederum als Grundlage und Ausdruck der Kultur verstanden, der die Familien angehören und die diese eben wesentlich reproduzieren (und hin und wieder transformieren). Heidi Keller (2011, 2015) und der Forschungszusammenhang der kulturvergleichenden Sozialisationsforschung untersuchen vergleichbares, ohne m. W. auf Erikson zu rekurrieren. Eriksons bekannteste Schriften in dieser Hinsicht sind seine Studien zu den first nations der Sioux (Kap. 3) und der Yurok (Kap. 4), veröffentlicht in „Kindheit und Gesellschaft“.15 Interessant ist, dass er erstmals diesen Ansatz nach meinem Kenntnisstand auf die deutsche Familie und deren Kultur bezog; im nämlichen Werk befindet sich die Studie: „Die Legende von Hitlers Kindheit“ (Kap. 9).16

3 Merkmale der neuen Mittelschichtkultur 3.1 Abnahme des kulturellen Stellenwertes des Paares…17 Die neue Mittelschichtkultur weist vor dem Hintergrund der theoretischen Rahmung gegenüber der alten Mittelschichtkultur deutliche Veränderungen auf. Erstens und zentral scheint die kulturelle Abnahme des Stellenwertes des Paares. Den Verlust des Stellenwertes des Paares kann man methodisch besehen nicht in Interviews direkt abfragen oder direkt abgreifen. Denn es handelt sich eben um ein kulturelles Merkmal, welches vor allem über kulturelle Ausdrucksgestalten (Kunstwerke, insb. Filme oder Romane)18 begriffen werden muss,

15„Jäger

über der Prärie“ (1950/19849: 110–161) und „Die Fischer am Lachsfluss“ (ebd., 162–182). 16(Ebd.:  320–352). Diesem Beitrag liegt die Vorgängerversion „Hitler’s imagery and German youth“ (1942) zugrunde. Die letztgenannte Studie Eriksons ist im Kontext seiner Beratungstätigkeit für das Office of Strategic Services (OSS, der Vorgängereinrichtung der Central Intelligence Agency, CIA) entstanden. Der interessante erste Text dieser Reihe, „On Nazi Mentality“, geshrieben 1940 für den OSS, findet sich in Schlein (1987). 17Mein herzlicher Dank gilt der Herausgeberin für ihre Kritik einer ersten Version des Textes, die insbesondere für dieses Unterkapitel wichtig war. 18Michel Houellebecqs zweiter Roman, „Elementarteilchen“ (1997), wäre hier exemplarisch zu nennen, s. dazu Nicole Köck (2002).

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wiewohl die Abnahme des kulturellen Stellenwerts des Paares sich auch in der Paarpraxis bzw. Paarbeziehung niederschlägt. Dieser Prozess der Abnahme des kulturellen Stellenwertes des Paares wie des Paar-Seins ist im Zuge der Enttraditionalisierung schon lange im Gange. Der familiensoziologische Diskurs thematisiert dieses Phänomen auch seit vierzig Jahren, allerdings unter der Perspektive der Entkoppelung von Liebesbeziehung (bzw. Ehe) und Familie oder als gesellschaftliche Differenzierung (Tyrell 1979). Im Kern wird die Entkoppelung daran festgemacht, dass die Bereitschaft des Partners, die Beziehung aufzulösen, steige, „wenn der andere die in ihn gesetzten Glückserwartungen nicht erfüllt“ (s. Schütze 1994: 91). Meines Erachtens ist in dieser Thematisierungsweise bereits der hier thematische kulturelle Wandel vollzogen, indem individuelles Handeln gar nicht mehr als kulturelles Phänomen eingeordnet wird. Den Grund für diese Sichtweise würde ich in der Dominanz der deskriptiven Individualisierungstheorie bzw. der These von der Pluralisierung der Lebensformen sehen, die beide den Blick für tiefenstrukturell nach wie vor sehr einheitliche kulturelle Phänomene bis heute sehr wirksam verbaut haben. Der kulturelle Bedeutungsverlust des Paares spiegelt sich erstens im politischen wie akademischen Diskurs. So sind Paare diskursiv (akademisch und politisch) meist nur als (zukünftige) Eltern und Berufstätige thematisch. Das Paar als autonome Praxis und Ausgangspunkt einer möglichen neuen Kernfamilien findet sich hingegen kaum. Allein die sozialpolitisch zentrale Formulierung „Kinderarmut“ spricht diesbezüglich Bände. Es sind immer die Familien, d. h. ein Paar (zusammen oder getrennt) als Eltern, die arm sind.19 Weiterhin ist die Einführung der „Ehe für alle“, die in den meisten europäischen Ländern erfolgte, streng genommen auch Ausdruck des diskursiv wie politisch schwindenden Verständnisses des zentralen Stellenwertes des Paares für die jeweilige Kultur, bzw. eben Ausdruck eines massiven Kulturwandels.20 Akademisch fügt sich hierzu drittens, dass die leitenden Theorien in den pädagogischen Fächern, die den Bildungsprozess des Subjekts zum Gegenstand haben, keine mehr sind, die Familien bzw. Familialität zum selbstverständlichen Ausgangspunkt nehmen. So wird ein theoretischer Triadismus (eine Abstraktion ausgehend von der paarbegründeten Familie) von manchen Autoren als problematisch angesehen

19S.

zur öffentlichen und politischen Wahrnehmung sowie diskursiven Konstruktion des Paares im Kontext der Einführung des Elternzeit- und Elterngeldgesetzes Behrend 2013. 20Es wäre hier an Sigmund Freuds (1905) bzw. Sándor Ferenczis verstreute Hinweise zu erinnern, dass Paarbildung streng genommen Zweigeschlechtlichkeit impliziert; s. dazu auch Reimut Reiche (1990, Kap. 1).

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(s. Speck 2018, Sutterlüty/Mühlbacher 2018). Das Argument soll u. a. sein, dass wegen der gesellschaftlichen Pluralisierung der Lebensformen die Theoriebildung eben diese Pluralisierung berücksichtigen müsse und man u. a. daher nicht Triaden als Grundform der Sozialisation in der Theoriebildung nehmen könne. Ohne auf die Argumentation detailliert eingehen zu können, scheint mir an dieser paradigmatischen Position im hiesigen Argumentzusammenhang zentral, dass sie Theorien, die den evolutionären Normalfall der sexuellen (zweigeschlechtlichen) Reproduktion als Ausgangspunkt nehmen, mit Argumenten auf ­normativ-gesellschaftlicher Ebene kritisiert. An die Stelle der Konzeptualisierung von Familie treten Konzepte, die i) das Bindungsverhalten, ii) Entwicklungsaufgaben, iii) Kinderwunsch und iv) gesellschaftliche Geschlechterstereotypisierungen zum Gegenstand haben. Hinzu kommt v) der Rational-Choice-Ansatz, der generell Handeln gemäß der Theorie der rationalen Wahl modelliert. Schließlich ist in dieser Aufzählung zu nennen, dass der Begriff der Familie familiensoziologisch in der Regel als Haushaltsform begriffen wird, und eben darüber dann die Pluralisierung der Lebensformen (eigentlich eben: Haushaltsformen) festgestellt wird. Familie wird in diesem klassifikatorischen Denken zu einer Unterkategorie von „privaten Lebensformen“ (s. Meyer 20147: 413). Ich würde die Debatte um „Triadismus“ vor dem angezeigten theoretischen Hintergrund als grundsätzlich philosophisch betrachten, weil es (bisher) keine Kultur gibt, in der nicht als Normalfall Paare Kinder bekommen, und diese Paare als Eltern für diese Kinder Relevanz hatten. Wie groß die Relevanz ist, wie stark die Absonderung des Paares kulturell ausfiel oder wie viel diese dann an Erziehungsmacht innehatten, wären weitere Fragen und Dimensionen einer Theorie der Familialität. Allerdings besitzt die Triadismuskritik einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf andere Diskurse, etwa den juristischen, und die Rechtsprechung. Hier kann nun nicht der Ort sein, diese Konzepte im Einzelnen zu diskutieren. Das ihnen Gemeinsame kann man darin sehen, dass Theorien, die das Paar zentral setzen, d. h. Theorien der Familie (im Kontext von Theorien der Lebenspraxis) in den Bildungs- wie Sozialwissenschaften weniger vorkommen, seltener gelehrt werden, d. h. nicht en vogue sind.21 Lehrstühle der Familiensoziologie werden u. a. solche der Gender Studies, worin eine stärkere Thematisierung von Paar und Familie aus gesellschaftstheoretischer Sicht zum Ausdruck kommt – und damit

21Zur

Forderung aus feministischer und individualisierungstheoretischer Sicht, das Konzept der Familie zu vermeiden und, wenn überhaupt, von „doing family“ oder „familiären Praktiken“ zu reden, s. Edwards et al. (2012), die die Forderung nach der Abschaffung des Familienbegriffs problematisieren, allerdings in anderen Hinsichten als hier.

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auch die anhaltende Tendenz der stärkeren diskursiven Vergesellschaftung von Familie.22 Auf der Ebene der konkreten Familien und Paare, d. h. auch konkreter Interviewpartner, muss man deskriptiv natürlich und trivialerweise feststellen, dass es nach wie vor Erwachsene gibt, die zusammen leben. Die Paarbildung, Paarpraxis und Familiengründung ist seit und mit der Erosion der Orientierung an kulturellen Geschlechterrollen zunehmend eine autonome wie krisenhafte Einzelleistung des jeweiligen Paares geworden (s. hierzu Maiwald 2009). Die Begriffsbildung Kai-Olaf Maiwalds von der heutigen „Selbst-Institutionalisierung“ des Paares (wegen des Wegfalls des auf traditionellen Geschlechterrollen beruhenden, kulturell institutionalisierten Paares), ist diesbezüglich interessant: Sie benennt einmal treffend, dass es die beiden Erwachsenen sind, die ihr Paar-Sein allein realisieren müssen, es gibt keine entsprechende kulturelle ­ Erwartung. Zum anderen aber suggeriert sie, dass es keine gesellschaftlichen Erwartungen an Paare gäbe, wenn man den Institutionenbegriff an eine überindividuelle Allgemeinheit gebunden begreift. Hier könnte man einwenden bzw. spezifizieren, dass die heutige kulturelle Institutionalisierung des Paares nach wie vor auf gesellschaftlichen Anforderungen beruht, die aber primär an die einzelnen Individuen gerichtet sind, die als Paar zusammen kommen, was in gewisser Weise gegen das Paar als Einheit gerichtet ist. Diese Anforderungen sind vor allem: individuelle Karriere machen und (vor allem als Mutter) Arbeiten gehen. Die Realisierung eines ‚Kinderwunsches‘ ist eine Ausnahme. Wegen dieser gewandelten, tendenziell paradoxen Institutionalisierung des Paares als ­Nicht-Paar reden wir nicht mehr vom ‚einfach so Kinderkriegen‘, sondern vom ‚Kinderwunsch‘. Wer einfach so Kinder bekommt, gilt als zu ‚doof‘ zum Verhüten und unterläuft in dieser Hinsicht die hohen Rationalitätsstandards der neuen Mitteschichtkultur. Die theoretische These wäre dann, dass das kulturelle Modell des Zusammenlebens der beiden Erwachsenen darin besteht, kein Paar in

22Wenn

man Ferdinand Tönnies hinsichtlich ‚seiner‘ beiden Begriffe, Gemeinschaft und Gesellschaft, konsultiert, thematisiert er in Schriften und vielen Beiträgen immer wieder, dass Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung nicht dichotom zu verstehen seien, es vielmehr Mischungsverhältnisse gebe, um deren Verhältnisbestimmung es der Soziologie zu tun sei. In „Kritik der öffentlichen Meinung“ (1922: 225) gibt er eine ganze Liste von Tendenzbestimmungen, die grundsätzlich von Vergemeinschaftungen zur Vergesellschaftung führen. Tönnies sieht gegenläufig aber auch die Möglichkeit, dass Gesellschaft auch wieder organisch werden und sich eine „neue Sitte“ bilden könne, also der gegenläufige Weg vom Vergesellschafteten zur Vergemeinschaftung möglich sei (1924: 44).

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einem engeren Sinne zu sein, sondern zwei Einzelpersonen, die zur individuellen Interessensverfolgung (Kinderwunsch realisieren) phasenweise zusammen sind. Weiterhin kann man anführen, dass sich einer familiären Praxis im engeren Sinne ein beträchtlicher Anteil der Leute entzieht, in dem er keine Paarbeziehung unterhält, keine Kinder bekommt, also an der generationalen Reproduktion des Lebens nicht direkt (durch Zeugung) teilnimmt. Gesellschaftlich sind solche „privaten Lebensformen“ akzeptiert.23 Subjektiv hingegen sind die Konsequenzen nicht ‚einfach so‘ akzeptabel; Kinderlosigkeit und Singleexistenz werden in der Regel mental bzw. biografisch aufgearbeitet. Kinderlose gab es schon immer, genauso wie es Möglichkeiten gab oder gibt, auch ohne eigene Kinder an der generationalen Reproduktion des Lebens mittelbar teilzuhaben und mitzuwirken, institutionalisiert oder individuell.24 Die empirische Pluralisierung der „Lebensformen“ macht nun aber die Familiengründung zur reinen Privatangelegenheit und kann sie in die Nähe einer Konsumentscheidung rücken: manche halten Hunde, andere Kinder. D. h. die evolutionäre Selbstverständlichkeit von Zeugung,

23S.

die Leitbildforschung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, etwa: Schneider et al. (Hg.): 2015. 24S. etwa Erik Erikson, der bezogen auf die siebte epigenetische Krise, die der zeugenden Fähigkeit bzw. Generativität (vs. Stagnation), insbesondere den Prozess der libidinösen Besetzung der Angehörigen der nächsten Generation als Charakteristika dieser Krise hervorhebt: „Die Fähigkeit zu erzeugen und hervorzubringen ist daher primär das Interesse daran, die nächste Generation zu begründen und zu führen. Es gibt selbstverständlich Menschen, die, sei es aus Missgeschick, sei es aufgrund spezieller und genuiner Begabungen in anderen Richtungen, diesen Trieb nicht auf die eigene Nachkommenschaft anwenden, sondern auf andere Formen altruistischer Interessen und schöpferischer Tätigkeiten, die ihre Art von Elterngefühlen völlig in Anspruch nehmen. Und tatsächlich soll der Begriff der zeugenden Fähigkeit sowohl die Produktivität wie die schöpferische Begabung umfassen, die sie aber beide nicht als Bezeichnungen einer Entwicklungskrise ersetzen können. Denn die Fähigkeit, sich selbst in der Begegnung der Körper und Seelen hinzugeben, führt zu einer allmählichen Ausdehnung der Ich-Interessen und zu einer libidinösen Besetzung dessen, was erzeugt wird. Wo diese Bereicherung vollständig misslingt, findet eine Regression auf ein zwanghaftes Bedürfnis nach Pseudointimität statt, oft mit einem durchdringenden Gefühl der Stagnation, Langeweile und zwischenmenschlichen Verarmung. Die Menschen beginnen dann oft, sich selbst zu verwöhnen, als wären sie ihr eigenes – oder eines anderen – eines und einziges Kind, und wo die Bedingungen es begünstigen, wird eine frühe körperliche oder psychologische Invalidität zum Vehikel des Interesses an sich selbst“ (kursiv im Original, OB) (1968: 141). Erikson gab vor 50 Jahren einen interessanten Ausblick auf Phänomene der libidinösen Selbstbesetzung und IchBezogenheit, die selbstredend nicht nur auf Kinderlose beschränkt sind (worauf Erikson im weiteren Textverlauf auch selbst hinweist).

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Empfängnis und Familiengründung ist gesellschaftlich bzw. kulturell zumindest auf Ebenen der diesbezüglichen akademischen Diskurse und ihrer Rezipienten (aus u. a. der Politik) aufgebrochen. Das hat bereits Folgen für die Leute (Familien wie Kinderlose), die diesen Diskursen ausgesetzt sind. Weiterhin sind die seit Jahrzehnten stabil hohen Trennungs- und Scheidungszahlen (s. bspw. Peuckert 2002: 308 ff.; Familienreport 2017: 18 und 43 f.) von insbesondere Paaren, die auch Eltern sind, eine Ausdrucksgestalt des kulturellen Bedeutungsverlustes des Paares. Das steht nicht im Widerspruch zur bekannten These von Nave-Herz et al., die die hohen Scheidungsraten mit einer sehr hohen subjektiven Bedeutung von Beziehung an sich bzw. „idealer Partnerschaft“ erklären. (1990: 65). Diese Erklärung bezeugt die Unterordnung der Paarbeziehung (und damit der Ehe) unter individuelle Ideale der Verliebtheit und des individuellen Glücks. Es handelt sich um eine Unterordnung, welche viele Personen selbstredend auch ein zweites oder drittes Mal zu einem Eheschluss führen kann. Insofern muss man die häufig geäußerte Feststellung, dass die Ehe weiterhin einen hohen Stellenwert besitze, dahin gehend ergänzen, dass die subjektive Bedeutung der Ehe sich für viele Personen stark gewandelt hat. Der Gegenstand Trennung bzw. Scheidung ist zu komplex, um hier angemessen aufgegriffen zu werden. Scheidung bzw. Trennung der Eltern ist hinsichtlich der neuen Mittelschichtkultur dennoch aus fallrekonstruktiver Sicht ­aufschluss- wie folgenreich. Denn weil ein Scheidungs- bzw. Trennungskind25 zu sein, seit Mitte der siebziger Jahre ein gesellschaftlich normalisierter Erfahrungsgehalt ist, wird die Trennungs- bzw. Scheidungserfahrung kaum thematisiert. Es handelt sich aber um einen zentralen biografischen Erfahrungsgehalt vor allem deshalb, weil, selbst wenn die Beziehungen zu beiden Eltern individuell bestehen bleiben, die Familie als Form der Sesshaftigkeit und identitätsstiftender Lebensraum aus Sicht der Kinder mit der Trennung des Elternpaares implodiert und verschwindet. Scheidungskinder schildern in Interviews (als junge Erwachsene) auf unterschiedliche Weise irgendwann, so meine Forschungserfahrung, immer

25Trennungskinder

sind pragmatisch besehen solche Kinder, deren Eltern sich trennen, die aber nicht verheiratet waren. Deren statistische Erfassung ist sehr schwierig; im siebten Familienbericht des BMFSFJ (2006, S. 116) wird darauf verwiesen, dass etwa ein Fünftel der Kinder in Deutschland „Erfahrungen in anderen Formen familialer Organisation machen“, also Scheidungs- bzw. Trennungskinder sind. Aktuellere Zahlen für Scheidungen bringen zum Ausdruck, dass aktuell zw. 80.000 und 90.000 Paare mit Kindern jährlich geschieden werden (s. eine Presseerklärung des BiB; URL: https://www.bib.bund.de/DE/ Fakten/Fakt/L141-Ehescheidungen-Kinderzahl-ab-1960.html).

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eine finale bzw. die Auflösungsszene der Familie und kommen im Interview oft an dieser Stelle auch nach Jahren ins Schleudern und Brechen in Tränen aus. Dieses empirische Phänomen zeigt ex negativo für eine Theorie der Familie, dass es aus Sicht der Kinder das Paar und dessen affektiv begründetes Zusammensein ist, welches i) das Familienmilieu erzeugt, dessen Auflösung durch die Trennung der Eltern die Kinder betrauern, und ii) das Epizentrum der Familie ausmacht (und nicht primär die E ­ ltern-Kind-Beziehungen). Das ist u. a. so, weil die Kinder aus der Paarbeziehung ausgeschlossen sind und somit das Paar der Träger der Eltern-Kind-Beziehung ist. Angesichts der genannten Phänomene, die auf eine diskursive und kulturelle Reduzierung des Paars auf individuelle Elternschaft verweisen, stellt sich freilich für die Praxis der Familien der neuen Mittelschicht die Frage, inwieweit das Paar in seiner Dynamik eigentlich noch das Zentrum der Familie bildet, was für die bürgerliche Familie und die von dieser abgeleiteten alten Mittelschichtkultur (inkl. Parsons) noch der Fall war. Die These ist nun die, dass anstelle des Primats des gattenzentrierten Paares das Primat der Kindzentriertheit (als Epizentrum der Familie) tritt (Yvonne Schütze deutet diesen Wandel 1994 bereits interessant an, s. S. 97 f.). Dieses Primat der Kindzentriertheit bildet das Kraftfeld des kulturellen Wandels und hat das Potenzial, bis zu einem gewissen Grad Familienleben in einem alten Sinne als Lebenspraxis aufzulösen. Anstelle des letzteren tritt eine verstärkte Planung der Lebensführung, insbesondere die der des Kindes durch die Eltern. Die Inhalte dieser Planung machen das Kind verstärkt zum Selbstobjekt der Eltern (s. Seiffge-Krenke 2014: 91), mit der Konsequenz einer längeren „Beelterung“, die dazu führen kann, dass Eltern als „Identitätsbremse“ der Kinder wirken. Der kulturelle Hintergrund dieser Dimension des Wandels der Generationenbeziehungen ist der, dass Eltern tendenziell ihr Kind projektiv verplanen wollen, sie aber für das Kind weniger für das Austragen von Konflikten zur Verfügung stehen, weil sie eine erwachsene Position gegenüber Kindern weniger einnehmen, weil dies zur Konsequenz hätte, die Kinder als Selbstobjektive aufgeben zu müssen, weil man realisiert, dass Kinder auch Autonome sind.

3.2 … und wechselseitige Zunahme der Kindzentriertheit Kindzentriertheit wird filmisch sehr schön in „Hedi Schneider steckt fest“ (2015) von Sonja Heiss dargestellt. Der Film handelt von einem urbanen Paar, Uli und Hedi, das man der progressiven Fraktion der neuen Mittelschichtkultur zurechnen

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kann, welches einen gemeinsamen Sohn hat: Finn, schätzungsweise acht Jahre alt. Hedi arbeitet in einem großen Online-Reisebüro ohne direkten Kundenkontakt. Uli, der in der ARGE arbeitet und dort für Gehörlose zuständig ist, will kündigen und mit der Familie als Entwicklungshelfer nach Afrika gehen. Im Rahmen der Konkretisierung dieser Pläne bekommt Hedi plötzlich Panikattacken und bildet eine Angststörung aus. Hedi kann daher nicht mehr im Reisebüro arbeiten, Uli bleibt doch bei der ARGE, geht insgeheim ein Verhältnis mit einer gehörlosen Klientin ein. Die Familie versucht die Krise zu bewältigen, verbringt die Sommerferien allein an einem einsamen See in Finnland, an dem der Film endet. Ohne hier näher auf den Plot einzugehen, zeigt eine frühe (ca. 8 min und 47 s bis 9:40) wie besonders sinnfällige Szene die Familie beim Spielen. Zunächst sieht man Mutter und Sohn mit Wachsmalstiften in einem leeren Pizzakarton kritzeln. Beide sind verkleidet und haben bunte Gewänder an, außerdem hat die Mutter einen Strohhut aufgesetzt. Beide sitzen vor ihrem Indianerzelt, welches auf einer kleinen Grünfläche in einem eher kleinen Hofareal vor einem Bauzaun aufgestellt ist (der Film spielt in Frankfurt am Main). Es könnte ein Sonntagnachmittag sein. Der Vater beugt sich aus dem Off nun auch zum Pizzakarton, hat einen Wachsstift in der Hand und fragt, ob er auch malen dürfte. Finn verneint dies und gibt dem Vater den Auftrag, jagen zu gehen. Uli will nicht („Sorry, aber ich hab draußen jetzt meinen Pfeil und Bogen verloren gerade“). Hedi schließt sich dem Sohn an: „Ja aber Du musst schon ein Tier nach Hause bringen, sonst funktioniert ja das ganze System nicht“. Finn: „ich seh‘, schon eins, da!“, Hedi: „ich auch“. Der Vater steht auf und geht zu einem Stofffaultier, welches vor einem kleinen Baum liegt. Uli spielt also mit und erlegt das Faultier mit einem Schlag mit einem kurzen, dicken Ast auf den Kopf des Tieres. Die Mutter hält dem Sohn dabei die Augen zu, dass er die Tötung nicht ansehen muss. Der Vater kommt zurück: „So, es gibt Faultier“. Finn widerspricht, dass der Vater das Tier nicht wirklich getötet habe. Die Eltern beteuern dies hingegen. Hedi bindet dann das Faultier auf eine Wäscheleinenspindel. Währenddessen reibt Finn zwei Wachsmalstifte aneinander, sodass es aussieht, als ob er Feuer machen würde. Hedi: „Danke Sohn, Du hast gut gelernt in den letzten Jahren, bald kannst Du auf eigenen Beinen stehen“. Uli hat sich wieder abgewendet, liegt auf den Ellenbogen gestützt im Zelt (vom Zuschauer abgewandt, liest etwas oder schaut auf sein Handy). Hedi nimmt das Faultier und kommt mit Finn in das Zelt, der Sohn springt auf den Schoß des Vaters, der mittlerweile wieder sitzt. Insbesondere die Eltern, aber auch Finn spielen jetzt, dass sie das Faultier essen. Hedi und Uli betonen sehr stark, dass es erstaunlich gut schmecke. Der Sohn schaut fragend zu den Eltern nach oben.

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Man kann diese Szenen auf vielen Ebenen ausdeuten. Familiendynamisch solidarisiert sich die Mutter mit dem Sohn, in dem sie den Vater erstmal nicht mitkritzeln lässt. Danach unterstützt sie den Wunsch des Sohnes, den Vater auf die Jagd zu schicken. D. h. in der Situation ist zunächst die Mutter-Kind-Dyade bzw. Symbiose aktualisiert, was mit dem gemeinsamen Essen aufgelöst wird. Hier ist eher das Kind etwas ausgeschlossen, empfindet seine Eltern in der künstlichen Betonung des wohlschmeckenden Faultiers als übertrieben ‚kindisch‘ und peinlich. Auf einer anderen Ebene ist die Szene aber auch eine Illustration der Ausführungen der Entwicklungspsychologin Heidi Keller (2015: 6 f.) zur heutigen Sozialisation in der Mittelschichtkultur. Letztere führe u. a. zu früher „psychischer Autonomie“ der Kinder bei Vernachlässigung von deren praktischer Handlungsautonomie (welche wiederum in traditionellen Sozialisationen im Fokus stehe). Charakteristisch für die psychische Autonomie sei u. a., dass die Wünsche der Kinder (Hobbies, Wochenendaktivitäten, Konsumwünsche, Ferienziele der Familie) von den Eltern schon früh stark abgefragt und berücksichtigt würden.26 Diese Wünsche aber können sich die Kinder oft nicht selbst erfüllen, weshalb sie in gesteigertem Maße hinsichtlich der handelnden Realisierung ihrer Wünsche von den Eltern abhängig seien. D. h. die psychische Autonomie der heutigen Kinder ist vordergründig, de facto sind sie oft abhängiger von den Eltern als Generationen zuvor, was wiederum zu einer starken praktischen Elternzentriertheit auch der schon größeren Kinder führt (weil die Eltern für die Kinder Sachen machen). In der geschilderten Szene erfolgt dieser Vorgang auf der spielerischen Ebene: Die Mutter macht sich zum Erfüllungsgehilfen des Wunsches des Sohnes dabei, den Vater auf die Jagd zu schicken. Kind- und wechselseitige Elternzentriertheit ergeben im Zusammenspiel einen Abschottungsmechanismus, der für die Familie der neuen Mittelschichtkultur zentral ist.27 Zugleich wird in diesem Muster ein soziologisches Charakteristikum der neuen Mittelschichtkultur deutlich, das im Diskurs der vergleichenden Entwicklungspsychologie fehlt: Die heutige Isolation der urbanen Mittelschicht-

26Dornes (2012, S. 303 f.) subsumiert den Aspekt des Phänomens, dass Kinder Entscheidungen treffen bzw. gut heißen sollen, die eigentlich die Eltern treffen müssen, unter das Konzept der Parentifizierung, was meines Erachtens der Dynamik nur partiell gerecht wird. 27Der us-amerikanische Film „Captain Fantastic“ (2016) von Matt Ross treibt den isolatorischen Mechanismus sektenprotestantisch radikalisiert auf die Spitze.

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familie, die in der geringen lebensweltlichen Vergemeinschaftung der Familien begründet ist. Die nischenartige Grünfläche, auf der die Szene angesiedelt ist, bringt dies zum Ausdruck: Einsam in der Stadt, wie im Dschungel. Zugleich sind alle um ein Familienleben bemüht, aber interessanterweise kehren sich die typischen Rollen um: Am meisten bemühen sich die Eltern, mit ihrem bzw. für ihr Kind Spielen zu spielen. Finn ist eher Zuschauer und vor allem unmittelbar der ‚Bestimmer‘ über die Eltern und was diese spielen bzw. machen sollen. D. h. der narzisstische Wunsch der Eltern nach Nähe zum Kind tritt in den Vordergrund, die Eltern wollen etwas vom Kind, das Kind wird so eher Selbstobjekt der inneren Realität der Eltern als Subjekt in der äußeren Handlungsrealität der Lebenspraxis der Familie. Die geschilderte Dynamik wird in nachfolgenden Äußerungen Frau Bingens, Mutter eines zweijährigen Kindes, auch erkennbar. Der Kontext ist, dass die Tochter allmählich gegenüber der Partnerin – interviewt wurden eine Mutter und ihre Partnerin28 – zutraulicher werde: „Ja. Das ist eigentlich so //mhm// das klappt ganz gut mit der Aufteilung und sie ist nun auch so weit, dass sie auch mehr zu meiner Partnerin, noch mehr den Kontakt einfordert und nicht zu sehr auf mich bezogen ist, sodass sie jetzt auch mit ihr // mhm// da auch die körperliche Nähe sucht jetzt und nicht immer zu mir kommt. Auch wenn man mit ihr toben will, das war dann im letzten Jahr eher schwieriger. Sie ist dann sehr auf mich fixiert gewesen. Aber ansonsten //ähm// wenn ich nicht da bin, ist das gar kein Problem.“

Das Kind ist hier einmal als kompetenter Träger von ‚Agency‘ („noch mehr Kontakt einfordert“) thematisch. Zuschreibungen von zum Teil noch nicht vorhandenen Kompetenzen sind für den Sozialisationsprozess im Allgemeinen typisch und notwendig, weil letzterer sowohl auf der Überforderung der Kinder als auch auf der überschüssigen Ausdeutung durch andere, insbesondere der Eltern, beruht, dass letztere die Handlungen ersterer als ‚intentionaler‘ auffassen, als diese Handlungen der Kinder faktisch sind. Allerdings ist „Kontakt

28Die

folgenden Interviewausschnitte stammen aus verschiedenen Lehrforschungsseminaren und Abschlussarbeiten. Die erhobenen Interviews stammen hauptsächlich aus dem Siegerland, Sauerland, Oberhessischen, Köln-Bonner Raum und dem Rheinland, sowie teilweise aus dem Rhein-Main- und Ruhrgebiet. Im nachfolgend zitierten Interview sind eine Mutter und deren Partnerin befragt worden. So genannte Regenbogenfamilien scheinen mir paradigmatisch für die neue Mittelschichtkultur zu sein, d. h. die angeführten Phänomene sind in ihnen besonders zugespitzt und ausdrucksstark verkörpert.

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einfordern“ nun eine eigentümliche Ausdrucksweise, der aus der typischen Zuschreibung eines diffusen Wunsches („das Kind will…“) planvolles rationales Handeln macht. Kontakt einfordern kann man etwa (letztlich rechtlich) von totalen Institutionen, die den Kontakt mit Insassen oder Angehörigen erschweren oder ablehnen. Damit wird dem Kind strategisches Handlungsvermögen zugeschrieben, was eine übertriebene aber für die neue Mittelschichtkultur durchaus typische Selbstständigkeitsbetonung bezogen auf kleine Kinder darstellt, die ähnlich auch Heidi Keller konstatiert (2015: 25). Das kleine, emotional bedürftige wie abhängige Mädchen wird so tendenziell zu einem bereits souverän Handelnden erklärt. Zweitens wird in dieser Interviewpassage das Kind auch zum begehrten Objekt, mit dem „man“, d. h. die Erwachsenen manchmal toben wollen. Beides zusammengenommen bringt zum Ausdruck, dass „nicht mehr die Erziehung durch die Erwachsenen, sondern das Bedürfnis- und Beziehungsleben des Kindes im Mittelpunkt der Familiendynamik steht“, wie der Kinderund Jugendlichenpsychoanalytiker Frank Dammasch (2013: 21) ausführt. Wobei angesichts des Ausgeführten zu ergänzen wäre, dass das Bedürfnis- und Beziehungsleben des Kindes selbst zur primär unbewussten Projektionsfläche und damit Objekt der Eltern bzw. Erwachsenen wird; bewusst äußert sich der projektive Vorgang vor allem in Planungs- und Organisationsbemühungen der Eltern.

3.3 Zunahme von Planung und Organisiertheit des Familienlebens Denn man kann der oben zitierten Passage objektiv hermeneutisch entnehmen (die detaillierte Rekonstruktion würde hier den Rahmen sprengen), dass die Partnerinnen ein Modell von, grob gesagt, ‚gleicher wie gerechter Aufteilung von Elternschaft‘ vertreten, welches in einer abstrakten Gerechtigkeitsprämisse gründet, die sich allerdings nicht nur in der gerechten Verteilung der häuslichen Aufgaben erschöpft, beide erheben vielmehr einen Anspruch auf die gleichen Anteile an der Zuwendung des Kindes.29

29Dorett

Funcke diskutiert ebenfalls den hohen Stellenwert einer gerechten wie sich ergänzenden Aufgabenteilung zwischen der Mutter und ihrer Partnerin in ihrer Analyse einer ‚Regenbogenfamilie‘ zweier Frauen, (2011: 211). S. ferner Funckes theoretische Überlegungen zu spezifischen Dynamiken und relevanten typologischen Dimensionen von homoerotischen weiblichen Beziehungen, die ein Kind bekommen (2018: 103ff.). Zu

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Die thematische Tochter ist zum Zeitpunkt des Interviews zwei Jahre alt. Im Alter von zwei Jahren ist die symbiotische Bindung an die Mutter, durch i) die generelle kognitive Weiterentwicklung und ii) krisenhafte Einsicht des Kindes, nicht die Mutter zu sein (Reiche 1990: 48), zunehmend um die Suche nach einem bzw. dem Dritten (Triangulierung) erweitert. Diese Öffnung wird nun als gut klappende Aufteilung thematisiert, der davorliegende symbiotische Zustand hingegen als ungleich und latent problematisch. D. h. hier werden sprachlich tendenziell die Verhältnisse umgekehrt: Es sind nicht mehr Kinder, die ihre emotionalen Bedürfnisse an die Eltern herntragen, sondern Erwachsene wollen ihre Wünsche an den Kindern befriedigen. Interessant ist aber auch, dass das Diffuse30 des Familienlebens als krisenhafte Lebenspraxis streng genommen anhand des Interviews kaum mehr rekonstruierbar ist. Das setzt sich in der kurz danach folgenden Passage fort: „Also anfangs hatte meine Frau einen Monat Elternzeit und mich am Wochenbett begleitet, hat sich viel ums Kind mitgekümmert. Da würd ich behaupten, es war, ja, fast fifty fifty. Wobei ich halt durch das Stillen, ja, mehr den ja Hauptpart hatte in der Versorgung des Kindes.“

Anstelle eines Ausdrucks von Praxis bzw. der Schilderung der Unmittelbarkeit von Familienleben und die Freude wie die Sorge um dieses, insbesondere in der Phase der nachgeburtlichen Familienkonstituierung, die ja in dem Ausschnitt des Interviews thematisch ist, tritt deren Darstellung in Begriffen von Planung und Betreuung.

den gravierenden Folgen von Samenspende, künstlicher Befruchtung und reproduktionsmedizinischem Eingriff s. Gerhard Amendt (1986); der Autor hat ferner eine polemische aber auch sehr grundsätzliche Diskussion und Kritik homosexueller Elternschaft (2002) vorgelegt, die wichtige wie interessante Fragen aufwirft, die heute im akademischen Betrieb tabuisiert scheinen. 30Die Bestimmung von familiären Beziehungen als diffuse verwende ich in der Tradition Parsons und der strukturalen Familiensoziologie. Für eine Unterscheidung von sechs Dimensionen der diffusen Sozialbeziehung s. Hildenbrand (2002). Der Gegenbegriff ist der der spezifischen Sozialbeziehung, der den i. e. S. rollenförmigen Beziehungen (u. a. vertragliches Handeln) vorbehalten ist.

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Entsprechend dazu wird mit der Unterbringung im Kindergarten bzw. einer Krippe diese zum Lebenszentrum der Tochter, um die die weitere Betreuung zu Hause organisiert wird: „ sie ist seit sie eins ist bei der, also in der Betreuung und //ahm// wir teilen uns das. Sie macht sie morgens fertig, bringt sie hin und ich hol sie ab, mach, kümmere mich nachmittags um sie, und jetzt ist es auch so, dass wir uns das abends teilen, mit dem ins Bett bringen.“

Deutlich wird in dieser Passage, neben der sprachlichen Versachlichung der Mutter-Tochter Beziehung, erneut der Gleichheitsanspruch („dass wir uns das abends teilen“). Eine wirkliche Veränderung der Beteiligten durch die Geburt und die Erweiterung zur Triade bzw. Familie kann man nicht abgreifen; Widersprüchliches und Krisenhaftes ist nicht zu erkennen. Die Beziehungen tendieren vielmehr dazu, primär und wesentlich gut organisiert und „partnerschaftlich“ zu sein – was übrigens auch der aktuelle Familienreport des BMFJSF (2017: 64) als zentrale Charakteristika für Elternschaft heute konstatiert. Dessen Thesen kann man auch als kulturelle Ausdrucksgestalt begreifen, denn Partnerschaftlichkeit ist eine Eigenschaft, die Paaren hilft den Alltag zu bewältigen und ggf. als Eltern eine Zeit lang zusammenzubleiben, sie stellt aber keine Grundlage für eine Paarbeziehung dar. Die Befragten haben, möchte ich unterstellen, auch diffuse Interaktionen zu Hause, weil Kinder solche erzwingen. Aber das Diffuse wie Krisenhafte ist aus der Darstellung tendenziell getilgt, in dem zu Hause zu einem Ort der Betreuung wird. Betreuer haben primär rollenförmige Beziehungen zu den Betreuten. Methodisch könnte man innehalten und einwenden, dass die vorgetragenen, recht weitreichenden Thesen auf die Lebenspraxis der Befragten allein von der sprachlichen Ausdrucksgestalt (und nicht von Interaktionsprotokollen) getragen werden. Das ist richtig. Die Darstellung des familiären Alltags im Interview ist aber insofern aussagekräftig, als erfahrungsgemäß die Rede über Alltag und Lebenspraxis in einem Interview anhand von Relevanzstrukturen und Thematisierungsweisen erfolgt, die auch der Gestaltung des Alltag resp. der Lebenspraxis entsprechen, weil es sich bei beiden Datentypen um gültige Ausdrucksgestalten der befragten Person als Lebenspraxis handelt, die verschiedene Ebenen der Analyse konstituieren.31

31Familiäre

Interaktionsdaten weisen den Unterschied zu Interviews auf, dass die latente Sinnstruktur der sozialisatorischen Interaktion anhand ihrer Protokollierung rekonstruiert

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Zum Kontrast wäre hier anzumerken, dass jemand Neurotisches, der das Lebendige, Leid- wie Lustvolle der familiären Lebenspraxis, habituell nicht schildern will und kann, und auf Distanz zu bringen sucht, sich anders ausdrücken würde als Frau Bingen: An den Rändern des Interviews, also an unscheinbaren Stellen, wäre die diffuse Familienpraxis indirekt auffindbar. So etwa bei einer fast vierzigjährigen, religiös (Sektenprotestantismus) gebundenen Mutter, Frau May, die verheiratet ist, zwei Kinder (sechs und drei Jahre alt) hat, zum Zeitpunkt des Interviews wieder zwei Tage die Woche als Erzieherin arbeitet und sich selbst primär als „Hausfrau“ begreift. Frau May versteht unter ­Hausfrau-Sein, sich um die Familie zu kümmern, was für sie auch heißt, genügend Zeit für die Führung eines Haushalts zu haben, diesen also in Ordnung halten zu können. Sie antwortet vor diesem Hintergrund auf die Frage, ob sie wegen der vergleichsweise langen Zeit, die sie zu Hause geblieben ist nach der Geburt der Kinder, von anderen Müttern diskriminiert werde: „Ne so direkt nicht, so direkt nicht nö aber man hat immer so das Gefühl weil alle anderen halt früher wieder arbeiten gehen und dann hat man vielleicht manchmal einfach nur das Gefühl, hm, die denken vielleicht auch ich mach mir `n faulen Lenz zuhause ähm aber gesagt hat es eigentlich keiner, nein.“

Interessant ist hier, wie die gesellschaftliche Erwartung der Teilnahme der Mutter am Arbeitsprozess möglichst bald nach der Geburt, den protestantischen Habitus („faulen Lenz“) der Befragten beschäftigt und ihr ein tendenziell schlechtes Gewissen ob ihres manifest abweichenden Verhaltens bereitet. Frau May, deshalb betrachte ich sie, thematisiert, wie Frau Bingen, auch nicht explizit die Lebendigkeit und Krisenhaftigkeit des Familienlebens. Vielmehr geht es auch bei ihr, die ich als Grenzfall der neuen Mittelschichtkultur betrachten würde, da sie in Resten zu einem traditionell gebunden Milieu gehört, viel um Organisation. In ihrer Rede wird aber doch deutlich, dass sie Lebendigkeit und Krisenhaftigkeit erreichen: Interviewer: Wie habt ihr das geregelt als ähm das erste Kind kam? Hattest du Elternzeit?

werden kann, was für die Rekonstruktion von Protokollen von Interviews mit einem oder beiden Eltern nicht gilt, weil die Kinder am social act der Sozialisation und damit auch an der Erzeugung von dessen latenter Sinnstruktur material beteiligt sind.

30

O. Behrend Frau May: „…die ersten drei Monate waren wir dann beide zuhause mit dem Baby, was auch gut war weil es eine ganz neue Lebenssituation war (lacht) ähm wo man dachte im Nachhinein: man konnte sich nicht vorstellen wie’s so wird und dass es schon eine gute Zeit auch, genau und dann ist der wieder arbeiten gegangen und ich bin halt drei Jahre zuhause gewesen…“

Frau May verklausuliert hier die interessierende unmittelbare Erfahrung als residual hinzukommende („…schon eine gute Zeit auch…“) und bringt mit dem Lachen indirekt zum Ausdruck, dass diese gemeinsame Zeit als Familie ihr, bei aller Krisenhaftigkeit und Planungsunmöglichkeit, gefiel. Solche oder ähnliche Stellen betrachte ich als Indikatoren für Lebendigkeit bzw. Diffusität. Bei Eltern der neuen Mittelschichtkultur findet man, so meine dauerhafte Beobachtung, solche Ausdrucksgestalten in Interviews interessanter Weise kaum. Das Diffuse, was i. e. S. ja auch libidinöse Bindungen und darüber vermittelt Abhängigkeit von anderen umfasst, wird in Interviews kaum mehr sichtbar, es scheint zumindest mental bei befragten jungen Eltern (d. h. in deren Selbstpräsentation) wegorganisiert. Der Schluss, der aus dieser Beobachtung folgt, besteht darin zu behaupten, dass die familiären Handlungsabläufe der neuen Mittelschichtkultur einer habitualisierten Haltung folgen, die primär auf rationale Planung abzielt und diffuses Familienleben nach dem Motto ‚einfach so‘ entsprechend abwertet und zurück drängt. Diffuses Familienleben kann (oder konnte) man bisher als ein Moment und eine Grundlage von Lebenspraxis betrachten. Wenn diese Praxisform in Interviews wenig Ausdruck findet, und umfänglich rationalen Planungsvorstellungen weicht, könnte man den Schluss riskieren, dass solches auch für den praktischen Alltag gelten könnte. D. h. Lebendigkeit wird auch praktisch zunehmend verplant, wegorganisiert und negativ bewertet.32 Dies hat u. a. die Konsequenz, dass Eltern heute oft lieber arbeiten gehen, weil dies aus ihrer Sicht weniger anstrengend ist, als die eigenen Kinder zu „betreuen“, womit sie dann auch der gesellschaftlichen Erwartung nachkommen, dass alle arbeiten sollen, auch Eltern von kleinen Kindern. In dieser Hinsicht ist ferner interessant, dass Frau Bingen aus Geschlechtlichkeit – als weiterer elementarer Dimension der Lebenspraxis, welches real als zweigeschlechtlicher Zusammenhang der „Geschlechterspannung“ (Reiche 1990) erscheint – diskursiv ein ebenfalls organisierbares Gestaltungsmaterial macht, nämlich für die Realisierung

32Der

Ansatz des „Doing Gender“ fokussiert in gewisser Weise genau diese Entwicklung deskriptiv, Familie nicht mehr als Selbstverständlichkeit zu betrachten sondern als rationale Herstellungsleistung (s. Jurczyk 2014: 52).

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von „Vielfalt“ im Planungskontext optimaler kindlicher Entwicklung. Dazu nachfolgende Passage zum neuen „Tagesvater“, zu dem die Tochter zur werktäglichen Betreuung gebracht wird: „… wir waren erst bei einer Tagesmutter, und wir haben jetzt nicht explizit nach einem Tagesvater gesucht. //mhm// Es spielte auch für uns keine Rolle. //mhm// wir mussten halt die Tagesmutter wechseln, aus organisatorischen Gründen, und haben dann //mhm// da wir Vegetarier sind, nach einem einer vegetarischen Tagesmutter Schrägstrich Tagesvater gesucht und dann hatte er neu aufgemacht, und dann hatten wir uns sehr gefreut, mal einen vegetarischen, vegetarische Tagesbetreuung zu finden. Und dass er auch noch ein Mann ist, war eher noch so ein Bonus, aber wir haben ihn jetzt nicht bezüglich seines Geschlechts ausgesucht. Es war eher noch so ein Punkt, wo ich gesagt hab: ‚ja gut, dass ist dann noch einmal mehr Vielfalt, und dann lernt sie nochmal eine Betreuungsperson als Mann kennen, und das ist nochmal eine Bereicherung‘, aber nicht dafür da (..) um irgendetwas zu kompensieren oder auszugleichen, weil es da nichts zu kompensieren gibt.“

Die Schilderung als ganze bringt u. a. erneut die Überlagerung der Lebensrealität durch den Wunsch nach optimaler Planung zum Ausdruck. Das Kind wird zum Planungsadressat und zum Selbstobjekt der Partnerinnen. Die in der Rede auch erscheinende Lebensrealität wird dabei zu einer Art Konsumraum, in dem man Vielfalt anhand von Merkmalsdimensionen zusammenstellen kann – inklusive eines „Bonus“. Erwachsene mit viel Kontakt zu Kindern gehören in diesem Raum zur Kategorie der „Betreuungspersonen“, worunter die beiden Befragten streng genommen auch fallen müssten. Grundsätzlich könnte man folgern, dass in der neuen Mittelschichtkultur die erfahrungsbasierte soziale Konstruktion von Wirklichkeit zurückgedrängt wird von einer primär subjektiven Konstruktion, die v. a. aus den elterlichen Wünschen bezüglich ihres Kindes (bzw. ihrer Kinder) besteht, und darüber vermittelt heutigen kulturellen Idealen bzw. Ideologien der Karrierelogik wie des Konsumerismus (Streeck 2012) folgt. Die auch solchen Wünschen und ihrer Befriedung konstitutionslogisch vorgängige Lebensrealität (Realitätsprinzip) gerät aus dem subjektiven Blickfeld, was für sich wiederum ein interessanter und jüngst wenig erforschter Vorgang ist.33 Man könnte die These bilden, dass solche Sozialisationen einen Verlust an erfahrungsbasiertem sozialem Realitätsbezug für die betreffenden Kinder mit sich bringen, womit die familiär gebildete

33Der

Phänomenkreis der „Versozialwissenschaftlichung“ kommt dem hier angezeigten Phänomen in manchen Hinsichten nahe; s. Oevermann (1988).

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Subjektivität offener wäre für die so genannte virtuelle Realität, wie sie die technischen Neurungen (Internet, Smartphone) eröffnen, welche man als massive Verhinderer von authentischen Erfahrungen begreifen kann, was einen sich selbst verstärkenden Kreislauf darstellt. Den Sinn dieser kulturellen Dynamik könnte man weiterhin in politisch-ökonomischen Hinsichten ausdeuten.

3.4 Bildung? Karrierewege offenhalten Die zentrale planungsmäßige Optimierungsdimension ist heutzutage bekanntermaßen Bildung, operationalisiert allerdings nicht in Inhalten, sondern im Bildungsabschluss, vorgängig in Noten. So räsoniert Frau Schneider, eine Mutter, geboren Mitte der Siebziger Jahre, die man einem sektenprotestantischem, in Resten traditionell geprägten Milieu des Mittelgebirgsraum zurechnen kann, über die eigenen Schulerfahrungen im Vergleich zu denen ihrer Kinder: „Die schulische Bildung war schon wichtig, aber nicht so super streng. Meine Mutter sagt immer, ich wäre jetzt strenger bei meinen Kindern, dass ich sage: ‚Du musst die Hausaufgaben aber sofort machen und erst dann wird gespielt‘, so war das bei uns nicht. Also da hat sie uns schon mehr Freiraum gelassen irgendwie, warum auch immer. Es war schon wichtig, aber nicht (…) nicht übermäßig, genau.“

Frau Schneider reflektiert die heutige Situation als eine veränderte. In der Kindheit der Befragten waren die Eltern nicht so streng in Sachen Schulbildung und Hausaufgaben. Heute hingegen sei die Wichtigkeit der Schule „übermäßig“. D. h. die gesellschaftliche Wertigkeit letzterer erscheint ihr zu hoch. Dem kann sie sich aber nicht entziehen, sie übt auf ihre Kinder auch den hinterfragten Druck aus. Die Befragte kommt bezüglich einer Frage nach dem Stellenwert von gesellschaftlichen Normen nochmals auf die formale Bildung, die ihre Kinder genießen, ausführlich zurück. Sie thematisiert zunächst, dass je älter die Kinder werden, die Erwartungen wichtiger und von ihr mehr berücksichtigt werden. „Zum Beispiel unsere Schule ist jetzt dann blöd, aber dass die Schulform manchmal nicht so passt auf die Kinder oder dass da vieles (..) ja du musst da halt reinpassen, egal wie musst du reinpassen und ähm du wirst nur nach den Noten beurteilt, alles andere wie das Kind ist, wird gar nicht gesehen, also oder man hat einen schlechten Tag, dann läuft die Note halt schlecht, dann ist schon direkt (.) ähm ja (.) keine Ahnung der NC verdorben. Wo ich dann manchmal denke, das find ich so schade, dass das so vorgegeben ist, dass es da nicht so viele Ausweichmöglichkeiten gibt,

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wo ich mein Kind jetzt reinquetschen muss und sagen muss: ‚Ist egal Du musst jetzt üben, auch wenn es Dir nicht gut geht, weil morgen muss das sitzen, was willst Du machen, Du hast Kopfschmerzen, egal es muss, weil Du musst da eine gute Note haben‘, dieser Druck dann ähm: ‚Du musst die gute Note haben, denn Du kannst es nicht mehr wiederholen. Es ist dann rum. Und Du wirst von den anderen eben nur nach deinen Noten beurteilt‘…“

Frau Schneider schildert, sicher etwas dramatisierend und zuspitzend, die Situation, dass die zentrale Dimension, um die es in der Schule gehe, die Note sei. Die gesellschaftliche Erwartung an die Mutter bzw. die Eltern lautet: „Dein Kind muss eine gute Note haben“. Die befragte Mutter mobilisiert keine Argumente gegen die geschilderte Situation. Man könnte sagen, dass eine ausgeprägte Außengeleitetheit hier zum Ausdruck kommt. Interessant ist, dass die Befragte in dem Interview ihr ältestes Kind beschreibt, welches zum Zeitpunkt des Interviews (Sommer 2018) die dritte Klasse besucht und neun Jahre alt ist. Berufsbiografisch kann man den Angehörigen des Jahrgangs 2009 wegen des dauerhaften wie fortgeschrittenen Schrumpfens der absoluten Größe der Geburtskohorten (welches man auch als deutsche Antwort auf die Krise der Arbeitsgesellschaft lesen kann) schon heute ziemlich unriskant die besten beruflichen Aussichten seit Jahrzehnten prognostizieren. D. h. objektiv müssten sich die Eltern der Angehörigen dieses Jahrgangs vor dem Hintergrund der antizipierbaren Arbeitsmarktsituation keine sonderlichen Sorgen hinsichtlich beruflicher Integration ihrer Kinder machen. Zehntausende Lehrstellen sind schon heute unbesetzt. Deutliche Gehaltszuwächse von Ausbildungsberufen stehen bevor, ganz zu schweigen von den lebensrelevanten Berufen mit Studienabschluss (Professionen). Nun ist seitens der Eltern aber immer noch das Gegenteil der Fall, d. h. Sorgen und „Bildungspanik“, wie Heinz Bude (2011) dieses Phänomen treffend betitelt und beschrieben hat, halten an. Warum? Die Passage bringt insgesamt eine Ambivalenz der Befragten gegenüber dem Druck und der Strenge zum Ausdruck, die sie selbst reproduziert. D. h. sie erlebt die Bildungssituation ihres Sohnes als schlecht aber alternativlos. Sich über die äußeren Kriterien der Noten hinwegzusetzen und etwa Inhalte zu Kriterien von Bildungsprozessen zu erklären, sich daran zu orientieren und neigungsbasierte Möglichkeiten der Bildung zu benennen, wäre ja rein logisch eine einfach zu formulierende Alternative. Diese hat aber keine kulturelle Bindungskraft. Die gesellschaftliche Entwicklung geht in eine andere Richtung; in Langform: Ich als Elternteil lehne zwar die formalen Bildungserwartungen ab, will aber nicht durch mein Tun daran schuld sein, dass mein Kind eingeschränkte Karrierechancen hat. Deshalb müssen so lange wie möglich alle Karrieremöglichkeiten für die Kinder offen gehalten werden.

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Die Konsequenz aus dieser Situation für die Kinder beschreibt sie mit folgender Beobachtung: „Die Kinder sind erst so, ich hab das jetzt schon immer gemerkt, die sind so wissbegierig und freuen sich auf die Schule, wollen gerne hin und dann wird denen das so schnell genommen und schon auch durch diesen Druck. Dieses: ‚Aber eigentlich interessiert mich das mehr, aber das ist jetzt egal, ich muss das nämlich jetzt auswendig lernen und das‘ ähm, dann musst du aber dich ja reinfügen, weil klar du willst, dass dein Kind in der Gesellschaft klar kommt und dann lässt man sich da schon beeinflussen und sagt: ‚und mach! Mach!‘, weil man aber für sein Kind das Beste aber will, eigentlich ja nicht für andere, also dass da so wenig Freiraum zum Beispiel dann ist.“

Der Druck zerstöre, so Frau Schneider, den Kindern die Freude am Lernen und auf die Schule. Die Schule wird zur Bewertungseinrichtung, die sicherstellt, so die Implikation, dass Kinder in „der Gesellschaft“ klarkommen. In dieser Sicht ist weiterhin der Konkurrenzkampf (den Frau Schneider kritisiert), an dem sich die Eltern vermittels ihrer Kinder beteiligen, Ausdruck ihrer Isoliertheit und erlebten Alternativlosigkeit. Die Isoliertheit ist hier auch eine kulturell wie politisch entstandene und begründete, da es keine relevanten Diskurse (etwa politische oder akademische) gibt, die die thematischen Probleme i) der starken Formalisierung und damit inhaltlichen Auflösung von Bildung und ii) der Berufswahl (Orientierung an Karriere und hohem Einkommen oder an Neigung, Fähigkeiten und Passungen in Institutionen u. ä.) ernsthaft in einer Weise ventilieren würden, dass die Diskurse für Frau Schneider eine Gültigkeit besäßen. Der subjektive ‚Ausweg‘ dieser Mutter, wie anderer Eltern der neuen Mittelschichtkultur, aus dieser Leere besteht dann wiederum darin, das Kind zum Selbstobjekt zu machen: Das Offenhalten der antizipierten Karrieremöglichkeiten des Kindes wird hier, in gewisser Weise auch gegen den Willen der Mutter, zum Maßstab gelungener Elternschaft.

4 Fazit Die vorgestellten Befunde und Deutungsansätze haben sich erstens auf das Eltern-Kind-Verhältnis und die Binnenstruktur der Familie bezogen. Angehörige der neuen Mittelschichtkultur überhöhen ihre Kinder einerseits hinsichtlich Entscheidungsbeteiligung und Mitsprache. Zur Erfüllung der ihnen eröffneten Möglichkeiten brauchen die Kinder dann aber die Unterstützung der Eltern. Weiterhin werden Kinder heute zu Selbstobjekten der Eltern insbesondere

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dann, wenn die Eltern außer zu ihren Kindern keinen weiteren authentischen Erfahrungszusammenhang, etwa eine Paarbeziehung, (und damit keine weitere Sinnstiftungsquelle) unterhalten. Entsprechend ist praktische libidinöse Abhängigkeit von anderen, eine Bedingung für diffuses Familienleben, auch kein kultureller Wert mehr, sondern eher zu vermeiden. Das gilt nicht nur für die Paar- sondern auch für die Eltern-Kind-Beziehung: Elternschaft heute bedeutet, in Kindern ‚Agency-Träger‘ zu sehen, denen man viel psychische Autonomie zuschreibt, handlungspraktisch aber wenig Freiraum lässt. Die Familie wird in dieser Sichtweise vor allem ausgehend von dem Kind bzw. den Kindern verplant und organisiert, sodass ein unmittelbares Familienleben überlagert und zurückdrängt wird, was als eine Konsequenz die Zunahme der gemeinschaftlichen Isolation von Familien zeitigt. Vertreter der deutschen Soziologie haben in den siebziger Jahren im Zuge der Diskussion um den Funktionsverlust bzw. Funktionswandel der Familie bereits von einer „kleinfamilialen Isolierung“ bzw. der gesellschaftlichen „Igelstellung“ und „Vereinzelung“ der Kleinfamilie gesprochen (s. etwa Eisermann 1978, 127 f.). In gewisser Hinsicht trifft diese Diagnose, die vor einer ganz anderen Diskurslage entstanden ist, heute erst zu bzw. ist heute vermehrt zutreffend (wiewohl auch Parsons diese Diagnose schon für die alte Mittelschicht der USA abgab). Die Isolierung muss man allerdings weniger auf Gesellschaft als auf Vergemeinschaftung und Lebenspraxis beziehen. Bezogen darauf sind die Familien der neuen Mittelschichtkultur neo-tribal isoliert, quasi ihr je ‚eigener Stamm‘. Beziehungen unterhält man zu anderen Familien primär rollenförmig-instrumentell bzw. zweckrational und weniger als Vergemeinschaftung. Eine latente Sozialisationsfolge dessen ist, dass Kinder und Jugendliche heute sehr organisationstauglich, dafür aber wenig autonom handlungsfähig die Herkunftsfamilie verlassen. Fasst man zweitens das kulturelle Verhältnis von Familie zur Gesellschaft ins Auge, so kann man sagen, dass Familien heute auf diskursiver aber auch organisationaler Ebene (Ausbau der Kinderbetreuung) viel mehr gesellschaftlich integriert sind als in früheren Jahrzehnten. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Familien recht klar und unideologisch als autonome Träger bzw. Fundamente von Gemeinschaft diskursiv rekonstruiert und daher gesellschaftlich wie politisch im Großen und Ganzen in Ruhe gelassen.34 Heute sind Familien nach wie vor die Fundamente von Gemeinschaft (und Gesellschaft), aber sie werden als solche nicht mehr diskursiv betrachtet. Sie sollen viel mehr gesellschaftlich

34S.

exemplarisch Helmut Schelskys Studie zur Nachkriegsfamilie (19542).

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in Dienst genommen und aktiviert werden. Dies wird u. a. in der ‚Arbeitspflicht‘ der Eltern, der oben angezeigten Bildungsorientierung und der starken Organisation des Alltags, in dem Kinder hinsichtlich Bildungsoptimierung vor allem verplant werden, deutlich; aber auch in der Kinderzentriertheit (die anstelle der Familienzentriertheit der alten Mittelschicht getreten ist). Die stärkere Vergesellschaftung von Familie, insbesondere der Ausbau der Kinderbetreuung, wird in der neuen Mittelschichtkultur von den Eltern als Entlastung aufgegriffen. Damit ist Familie als autonome (Ferdinand Mount hätte gesagt: als subversive) Praxis zumindest derzeit kulturell angezählt bis kaltgestellt. Dies hat Folgen in politischer wie kultureller Hinsicht, von denen ich eine abschließend knapp und sehr holzschnittartig anreißen möchte. Ich möchte abschließend das Schwinden sowohl des politischen Denkens als auch des politischen Urteilens der Eltern der neuen Mittelschichtkultur betrachten. Dies begreife ich als Folge des dargelegten Wandels der neuen Mittelschichtkultur. Die familiäre Veränderung scheint mir zentral als ein Erklärungsstrang der anhaltenden Krise von Politik und öffentlichem Diskurs. Für die Konstitution der Öffentlichkeit bzw. des Ideals der Öffentlichkeit ist die Sphäre der familiären Privatheit eine zentrale Vorbedingung gewesen. Das Zentrum der Privatheit bilden in dieser Hinsicht urteilsfähige Erwachsene als Eltern, die sich mit ihren Kindern familiär über Politik (aber auch andere realitätshaltige Zusammenhänge) auseinandersetzen. D. h. Familien, auch die der unteren Schichten, waren in dieser Hinsicht ein Ausgangspunkt politischen Denkens und Handelns. Der Zusammenhang von Familie und Gesellschaft war vor diesem Hintergrund, folgt man der (sicher auch idealisierenden) These Parsons (1954, 84), ein mehr geordneter und reziproker, denn die Organisation der Gesellschaft fußte u. a. auf Berufsrollen und damit Leistungsorientierung, welche der Idee nach wesentlich auch in der Familie vermittelt wurden. Den Zusammenhang von Familie und Gesellschaft sehen heute Eltern der Mittelschicht in den erwähnten kindzentrierten Aspekten Bildungsoptimierung und Karriereorientierung erschöpft. Politik und Öffentlichkeit sind in dieser Sicht heute nicht mehr Ausdruck von politischer Vergemeinschaftung, sondern vergesellschaftete Felder und als solche faktisch vor allem akzeptierte Spielräume manipulativen Handelns und individueller Karriereverfolgung. Diesem Wandel entspricht die gesellschaftliche Formation der global finanzialisierten Ökonomie, die nicht mehr auf einer kollektiven Praxis der Kooperation, Leistung und Sachhaltigkeit beruht. Eine produktive, d. h. gemischte Ökonomie hängt von einer solchen kollektiven Praxis ab. Kooperation, Leistung und Sachhaltigkeit sind die zentralen Sozialisationsziele bzw. latenten Sozialisationsfolgen der oben bereits erwähnten, einst hegemonialen Verbindung aus alter Mittelschichtfamilie und Arbeiterfamilie gewesen. Die finanzialisierte

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Ökonomie beruht hingegen im Kern auf der Logik des „free ride“ (des Trittbrettfahrens) des Rentiers35 (welchen alle klassischen Ökonomen verhindern wollten) und hat als Sozialisationsziele strategisches Handeln, Karriereorientierung und Erfolgs- statt Leistungsorientierung (Neckel 2008) zur Grundlage.36 Individuell kann eine sehr kleine Minderheit (Oberschicht, obere Mittelschicht) von diesem ‚Gesellschaftsmodell‘ profitieren, für sie geht die Rechnung auf. Die Mehrheit (d. h. auch die meisten Angehörigen der neuen Mittelschichtkultur), darf man vermuten, hofft darauf, dass sie oder ihre Kinder einst von diesem Modell werden profitieren können – oder versucht in Form von Statussicherung nicht zu den Verlierern dieses ‚Spiels‘ zu werden. Die schlichte Logik des Trittbrettfahrens wird, dies muss man hier benennen, medial und diskursiv ideologisch abgesichert; die ökonomischen bzw. sozialwissenschaftlichen Fachbereiche der Hochschulen übernehmen diesbezüglich eine zentrale wie zweifelhafte Aufgabe. Vor dem Hintergrund dieses, aus der Alltagsperspektive ja recht opaken Zusammenhangs von letztlich recht einfachen Gründen, kann man den Eindruck gewinnen, dass viele Eltern zu Hause nicht mehr diskutieren; sie wollen von Politik bzw. der res publica nicht mehr allzu viel wissen. Kindzentriert bemühen sie sich vielmehr darum, Karrierechancen ihrer Kinder und, sofern vorhanden, ihre sozialen Netzwerke für diese offen zu halten. Der in diesem Tun auffindbare Aspekt von Realitätswahrnehmung bezieht sich auf Statussicherung. Entsprechend spielen praktische Aufrechterhaltung der Segregation und Wahrung von Startvorteilen vermutlich für viele Eltern eine wichtigere Rolle als politische Diskussionen zu Hause.37 Abstrakt-moralische Positionierungen, die recht eigentlich folgenlos bleiben, treten an deren Stelle. Eine Folge dieses

35Zum

ökonomischen „free ride“ des Rentiers und der Ausrichtung finanzialisierter Ökonomien auf diesen siehe Michael Hudson (2015: XVI und vor allem 298 f.). Zum gleichen Problem bezogen auf die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft siehe Christoph Deutschmann (2008b, Kap. 10). 36Zweitens fußt unsere Gesellschaft auch auf der globalen Ungleichheitsordnung, die einem „free ride“ der Industriegesellschaften im globalen Maßstab entspricht; mit den USA als mächtigstem Trittbrettfahrer. Siehe zum ökonomischen wie finanziellen „free ride“ der USA im globalen Maßstab auch Michael Hudson (1972/2003). 37S. auch nochmals Bude (2011). Die ‚alte‘ Aufstiegsorientierung ist etwas anderes als Karriereorientierung und Statussicherung, weil sie erstens auf einer Bezugnahme auf die soziale Realität und deren klassenspezifischen Struktur fußte und zweitens in ihr Chancenstrukturen immer klassenspezifisch vor dem Hintergrund der Vergemeinschaftetheit der jeweiligen Familie wahrgenommen wurden („die da oben“ – „wir hier unten“).

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Vorgangs muss man darin sehen, dass soziale Ungleichheit für viele Eltern keine politische Realität und damit kein politisches Handlungsproblem mehr darstellt. Soziale Ungleichheit wird in dieser Sicht (wenn überhaupt) als Unterfunktion des Bildungssystems wahrgenommen. Letzteres wird dann bestenfalls zum Adressat der Forderung nach mehr Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit. Diese Sichtweise propagieren seit Jahrzehnten weite Teile des akademischen Diskurses. Damit wird aus sozialer Ungleichheit, die zwar vom Bildungssystem reproduziert wird, aber dem Bildungssystem vorgängig ist, ein Steuerungs- bzw. Organisationsproblem – eben insbesondere des Bildungssystems38, und aus Politik (manipulierbares) Steuerungshandeln und ein Karrierefeld. An dieser Fehlwahrnehmung (und der Überforderung des Bildungssystems angesichts der überzogenen Verantwortungszuschreibung) wird sich erst dann etwas ändern, wenn die neue Mittelschichtkultur ihre kulturelle Dominanz verliert, oder der gesellschaftlichen Realität wieder breiteren Raum einräumt und sich entsprechend hinsichtlich ihrer zentralen sozialisatorischen Ziele verändert. Eine solche Veränderung müsste v. a. eine Kritik der Meritokratie als leitender gesellschaftlicher Ideologie zum Ausgangspunkt haben, weil das meritokratische Prinzip den Elitenangehörigen eine Legitimation zur Verantwortungsentbindung bedeutet (Lasch 1995; Kap. 2). Angesichts der metaphysischen Leere möchte die neue Mittelschicht aber auch zu dieser Elite gehören – oder (als Zweitbestes) zumindest Statussicherung für die eigenen Kinder betreiben. Die latenten Folgen der Sozialisation in der neuen Mittelschicht, welche Kinder ‚produziert‘, denen praktische Kooperativität und Solidarität als Aspekte einer realen Lebenspraxis außerhalb kindzentrierter Zweierkonstellationen nur wenig bekannt zu sein scheinen, und die statt dessen die korrespondierenden Werte als moralisch wertvolle aber eben abstrakte Bildungsinhalte lernen sollen, weisen nun die beschriebenen funktionalen Passungen zum „free ride“ der finanzialisierten Ökonomie und einer zugehörigen Mentalität auf. Damit schlösse sich die holzschnittartige Rekonstruktion des derzeitigen Kreislaufs der neuen Mittelschicht aus Familienkultur, gesellschaftlichen Erwartungen, Sozialisationszielen und latenten Sozialisationsfolgen.

38Zur

frühen Kritik dieses ‚Wahrnehmungstricks‘ siehe Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron (1988) sowie für die USA Christopher Jencks et al. (1972).

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Familiale Vergemeinschaftung oder Betreuungsarrangement? Deutungsmuster zu Familie in der öffentlichen Diskussion und bei Eltern eines zweijährigen Kindes Sascha Liebermann und Hendrik Muijsson 1 Einleitung Familien und ihren lebenspraktischen Herausforderungen mangelt es nicht an sozialpolitischer Aufmerksamkeit. Die Frage, wie sie gefördert oder unterstützt werden können und welche Ziele damit verbunden sein sollen, zeichnet die sozialpolitischen Diskussionen aus, seitdem Familie als Sozialform zu ihrem Gegenstand geworden ist. Wurde zu Zeiten traditionaler Lebensführung noch selbstverständlich davon ausgegangen, dass Kinder ohnehin zu einer Gattenbeziehung dazu gehören, und es deswegen keiner besonderen sozialpolitischen Unterstützung bedarf, um Familien zu fördern, dominieren mittlerweile bevölkerungspolitische Ziele dieses Terrain. Auf die damit verbundenen sozialingenieurialen Denkansätze wurde schon vor einigen Jahren zurecht hingewiesen (Butterwegge et al. 2005/2008: 99 f.). Ebenso viel diskutiert wurde in den vergangenen Jahren die unbefriedigende Situation hinsichtlich der „Vereinbarkeit“ von Familie und Beruf, da vor allem Mütter von der damit einhergehenden Doppelbelastung betroffen seien (Jürgens 2003: 253). Entsprechend wurden alternative Arbeitszeitmodelle (Jurcyk 2004) entworfen, die in der „Rush-

S. Liebermann (*) · H. Muijsson  Alanus Hochschule, Alfter, Deutschland E-Mail: [email protected] H. Muijsson E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Funcke (Hrsg.), Rekonstruktive Paar- und Familienforschung, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30668-7_3

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hour des Lebens“ (Achter Familienbericht 2012: 1; Bujard/Panova 2014) Eltern mehr Zeit für das Familienleben lassen sollen. Dass es dieses Spannungsverhältnis gibt, ist zumindest in der Forschungsliteratur keine ganz junge Entdeckung, bedenkt man, welch große Aufmerksamkeit Arlie Hochschilds Buch „The Time Bind“ (Hochschild 1997) schon in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erhielt und das auch ins Deutsche übersetzt wurde. Die dort vertretene These, dass der Arbeitsplatz dabei sei, die Familie als Quelle umfassender Sinnstiftung zu ersetzen, wurde innerhalb der deutschsprachigen Forschung immer wieder aufgegriffen und teils in einen kapitalismuskritischen Erklärungsrahmen eingefügt. So könne, laut Wolfgang Streeck, die Ausweitung der weiblichen Erwerbstätigkeit, bei gleichzeitiger „Flexibilisierung der Familienverhältnisse“ (Streeck 2011: 6) nicht nur als eine reine Befreiungsgeschichte, sondern eben auch als eine flächendeckende „Landnahme“ (ebd.: 1, als Zitat von Rosa Luxemburg) durch den Arbeitsmarkt verstanden werden, die familiäres Leben beinahe verunmögliche. Dies auszugleichen habe der Staat durch eine daran ausgerichtete Familienpolitik übernommen, womit sich schleichend ein Prozess vollziehe, den man als „Sozialisation der physischen Reproduktion einer Gesellschaft“ analytisch auf den Punkt bringen könne (ebd.: 1). All diese Diagnosen treffen wichtige Aspekte heutigen Familienlebens und thematisieren ebenso bedeutsame sozialpolitische Verschiebungen. Es mangelt ihnen jedoch häufig an einer präzisen Bestimmung der Eigensinnigkeit von Familie, vor deren Hintergrund dann genauer herausgearbeitet werden könnte, woher die Spannung zwischen Familie und Beruf rührt, weshalb es als semantische Verschleierung gelten kann, dies nur als eine Frage der „Vereinbarkeit“ zu verhandeln. Selbst Streeck bleibt im zitierten Beitrag bei einer Analyse der Wechselwirkungen zwischen Arbeitsmarkt und Familienpolitik stehen, ohne eine solche analytische Bestimmung der strukturellen Besonderheit von Familie vorzunehmen. Durch diesen Mangel wird sie dann doch wieder auf ihre Reproduktionsfunktion reduziert. In der Forschungsliteratur sowie der öffentlichen Diskussion dominiert eine Betrachtung, die den Mangel an organisatorischen Mitteln zur Bewältigung der je spezifischen Herausforderungen des Berufs- und Familienlebens als das Grundproblem gegenwärtigen Familienlebens ins Zentrum rückt. Die zur Maxime gewordene „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ signalisiert, dass eine mehr oder minder reibungslose Organisation möglich wäre, wenn eine entsprechende Infrastruktur (außerhäusliche Betreuung) und passende Arbeitszeitmodelle vorhanden wären (vgl. als Überblick Jürgens 2003). Dabei wäre zuerst einmal die Frage zu stellen, ob diese Diagnose die Sache trifft, ob die Friktionen beider Handlungssphären überhaupt durch organisatorische Abstimmung entschärft werden können und um welchen Preis

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das möglich ist. Liegen die Gründe für das Spannungsverhältnis jedoch nicht in einem organisatorischen Dilemma, sondern eher im spezifischen Beziehungsgefüge von Familie, dann wäre die Spannung organisatorisch nicht auflösbar, vielmehr gehörte sie zum Leben dazu. Folglich müssten dann wiederum sozialpolitische Lösungen in einer anderen Richtung gesucht werden, z. B. in Richtung eines Bedingungslosen Grundeinkommens, als es bislang geschieht. In unserem Beitrag werden wir diesem Fragekomplex nachgehen, indem wir zuerst die sozialpolitischen Veränderungen und ihre Folgen für familiales Handeln darlegen. Dann werden wir auf eine normative Verschiebung in der Familienpolitik zu sprechen kommen, die derjenigen in der Arbeitsmarktpolitik korrespondiert, hierbei geht es um die Substitution des Erziehungs- durch das Elterngeld, das zum Januar 2007 eingeführt wurde. Nachdem wir diese Entwicklung dargelegt haben, werden wir anhand der Plenardebatte im Deutschen Bundestag über die Einführung des Betreuungsgeldes Deutungsmuster (Oevermann 2001a: 38 ff.) zu Familie rekonstruieren, um dann im Anschluss anhand ausgewählter Stellen aus einem Interview mit Eltern, die sich mit dieser Problematik auseinandersetzen mussten, zu untersuchen, welche Deutungsmuster zu familialem Handeln dort zu finden sind und ob es Korrespondenzen zwischen den verschiedenen Phänomenen gibt.

2 Aktivierende Sozialpolitik und Familie Die bundesdeutsche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik machte sich mit der Agenda 2010 eine Maxime zu eigen, die in anderen Ländern wie z. B. den USA oder der Schweiz schon früher bestimmend geworden war: Workfare statt Welfare oder wie es zwei bekannte deutsche Sozialwissenschaftler ausdrückten „(fast) jeder Arbeitsplatz ist besser als keiner…“ (Streeck/Heinze 1999: 41) sollte dazu führen, die Zahl der Bezieher von Leistungen von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe ebenso zu reduzieren wie die Bezugsdauer. Schon damals allerdings lagen Studien vor (z. B. Gebauer et al. 2002, später dann Gebauer 2007, Fehr/Vobruba 2011), die eine Verharrungstendenz im Leistungsbezug nicht belegen konnten und die Annahme, es gebe eine allgemein zu konstatierende Armuts- bzw. Arbeitslosigkeitsfalle in dieser strikten Auslegung für unhaltbar erklärten. Zwar wurde die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik unter der Regierung Schröder anders ausgerichtet, es handelte sich aber entgegen einer oft anzutreffenden Deutung im Wesentlichen um eine Verschärfung der Bezugsbedingungen von Arbeitslosengeld insbesondere des Arbeitslosengeldes II, da dem Ziel einer Reintegration von Leistungsbeziehern in den Arbeitsmarkt lediglich noch mehr Gewicht gegeben wurde und die Sanktionsmöglichkeiten

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ausgeweitet wurden. Mehr als bisher schon bestärkte dies den Stellenwert von Erwerbsarbeitstätigkeit gemäß dem Motto, Arbeit sei besser als Arbeitslosigkeit. Es ist für diese Zeit und bis heute symptomatisch, wie sehr in der öffentlichen Diskussion über Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik herausgehoben wird, wie wichtig „hart arbeitende Menschen“ seien. Erwerbstätigkeit wurde bis in Wahlslogans und Maximen hinein beinahe zum Selbstzweck erhoben und nicht mehr zuerst daran gemessen, ob für die Entstehung von Gütern und Dienstleistungen menschliche Arbeitskraft erforderlich ist oder diese nicht durch Automaten substituiert werden könne.1 Von dieser Deutung zeugen nicht nur Wahlslogans der vergangenen Jahrzehnte wie „Sozial ist, was Arbeit schafft“ (CDU 2002), „Arbeit soll das Land regieren“ (PDS 2002), „Arbeit hat Vorfahrt“ (FDP NRW 2005), „Brüder, zur Sonne durch Arbeit!“ (Bündnis 90/Die Grünen 2002) oder jüngst „Zukunft in Arbeit“ (SPD 2019) und viele andere mehr. Deutlich wird an allen Varianten, dass die normative Aufladung von Erwerbstätigkeit den Konsens der deutschen Öffentlichkeit wiedergab. Im Zuge dieser folgenreichen Deutung von Erwerbstätigkeit, die damit zum vorrangigen Beitrag zum Gemeinwohl avancierte, transformierte sich Familienpolitik zu einer Fortführung der Arbeitsmarktpolitik, wie wir noch am Elterngeld darlegen werden. Besonders deutlich zeigt sich diese Entwicklung in ihrer Widersprüchlichkeit später im Achten Familienbericht der Bundesregierung, der den Titel „Zeit für Familie“ (BMFSJ 2012) trägt. Zwar wird darin konstatiert, dass Familien zu wenig Zeitsouveränität haben und es daher anderer Arbeitszeitmodelle bedürfe, um den Herausforderungen von Familie gerecht werden zu können. Er gipfelt jedoch zugleich in Empfehlungen zum Ausbau von Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten (BMFSJ 2012: 137 f.), deren Nutzung letztendlich wieder zur Folge hat, dass weniger Zeit für Familie verbleibt. Diese Vorschläge entsprechen einem Deutungsmuster von familialem Handeln, das wir anhand des Plenarprotokolls der Bundestagsdebatte zum Betreuungsgeld herausarbeiten konnten, in dem die „Wahlfreiheit“ der Eltern – oder wie im Familienbericht

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geht hierbei nicht um die Frage, ob eine solche Substituierung in jedem Fall praktisch vernünftig wäre, also tatsächlich dazu beitrüge, eine sachgemäße Lösung für ein Handlungsproblem darzustellen, das lässt sich nur am jeweiligen Fall beurteilen. Vielmehr geht es um das besondere Phänomen, dass der Stellenwert von Arbeitsplätzen, damit auch der Arbeitsmarktpolitik, nicht mehr damit in Verbindung gebracht wird, ob sie zur Bereitstellung von Gütern- und Dienstleistungen unabdingbar sind und in welchem Umfang sie überhaupt benötigt werden.

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genannt: „Zeitsouveränität“ – ins Zentrum gestellt und Familie zuvörderst als Aggregat von Individualinteressen verstanden wird. Einher geht dies mit der Adultisierung von Kindern, darauf werden wir ebenfalls noch zu sprechen kommen. Wir können hier, im Vorgriff auf die noch darzulegenden Ergebnisse, schon festhalten, dass durch diesen Schritt die partikulare familiale Vergemeinschaftung noch stärker Vergesellschaftungsdynamiken unterworfen wird, als es bisher der Fall war.

3 Zur Umdeutung von Elternschaft durch das Elterngeld Wie stark die normativen Implikationen des Erwerbsgebots in die alltägliche Lebensführung eingreifen, wird an der Konstruktion des Elterngeldes besonders deutlich. Um zu verstehen, worum es dabei geht, muss seine normative Struktur in Augenschein genommen werden. Zum ersten Januar 2007 trat das Elterngeld in Kraft und hat seitdem zwar verschiedene Veränderungen erfahren, seine Grundstruktur ist indes erhalten geblieben. Worin besteht sie? Bis zur Einführung des Elterngeldes konnte ein Elternteil, Vater oder Mutter, sofern das gemeinsame, addierte Netto-Einkommen eine bestimmte Höhe nicht überschritt, pro Kind das sogenannte „Erziehungsgeld“ beantragen, welches sich zuletzt auf 450 € für ein Jahr beziehungsweise 300 € für zwei Jahre belief (BMFSFJ 2006: 13). Das Erziehungsgeld war keine Lohnersatzleistung, sondern eine „einkommensabhängige Familienleistung für Eltern mit und ohne Erwerbstätigkeit“ (BMFSFJ 2006: 7). Der Empfänger durfte bis zu 30 h in der Woche erwerbstätig sein (ebd.: 15), das ist auch im Elterngeld vorgesehen. Obwohl das Erziehungsgeld nicht definierte, welcher Elternteil es beanspruchen durfte, wurde es als „Mütterfalle“ (Emma 1997) bezeichnet, weil es Mütter auf die Hausfrauentätigkeit vermeintlich festlegte. Auch wenn der Betrag nicht hoch war und keinesfalls den Verzicht auf Erwerbstätigkeit beider Elternteile für den Bezugszeitraum ermöglichte, es sei denn, sie verfügten über erhebliches Sparvermögen, stellte die Pauschalisierung der Leistung Eltern als Eltern gleich und förderte sie nicht relativ zu ihrem Erwerbserfolg. Davon profitierten niedrigere Einkommen stärker als höhere. Mit der Einführung des Elterngeldes hat sich die normative Struktur verschoben. Mit dem Bundeselterngeldgesetz wurde eine Leistung eingeführt, die in zwei Formen bereitgestellt wird, als Pauschalbetrag für alle, die vor dem Bezug der Leistung nicht erwerbstätig waren und als Lohnersatzleistung (allerdings finanziert aus Steuermitteln) mit unterschiedlichen Ersatzraten (zwischen 65 bis 100 %) (BMFSFJ 2018).

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Worin besteht nun die Umdeutung und welche Folgen zeitigt das lebenspraktisch? Würde hier nur die finanzielle und nicht die normative Seite betrachtet, müsste konstatiert werden, dass das Elterngeld es durchaus erleichtert, für eine gewisse Zeit sogar ganz auf Erwerbstätigkeit zu verzichten. Das setzt allerdings ein zuvor erzieltes Nettoeinkommen voraus, welches zu einer Höhe des Elterngeldzahlbetrages führt, der erlaubt, damit bzw. in Kombination mit Rücklagen die Lebenshaltungskosten zu decken. Das Elterngeld vollzieht in seiner Höhe also eine spezifische Selektion nach Erwerbserfolg. Erwerbstätigkeit wird damit nicht nur pekuniär, sie wird auch normativ prämiert. Im Unterschied zum Erziehungsgeld steht das Elterngeld also vielmehr für eine qualitative Bevölkerungspolitik (2005/2018:  260  ff.). Besserverdiener werden besser, Schlechterverdiener schlechter gestellt (das ändert sich durch die ansteigende Ersatzrate nur geringfügig). Auf Arbeitslosengeld II wird das Elterngeld vollständig angerechnet. Bald schon wurde kritisiert, dass diese Leistung soziale Ungleichheit verstärke, statt ihr entgegenzuwirken (Wimbauer et al. 2008). Für unsere Fragestellung weitreichender ist aber neben der bevölkerungspolitischen Dimension die Bewertung von Familie als solcher. Als Lohnersatzleistung steht das Elterngeld für eine normative Vorrangstellung von Erwerbstätigkeit, die im Falle der Elternschaft zu einem Vorteil führt. Es wird also nicht das Elternsein als solches familienpolitisch unterstützt, wie es noch für das Erziehungsgeld gegolten hat, sondern Eltern werden im Verhältnis zu Erwerbstätigkeit und Erwerbserfolg betrachtet. Das Elterngeld sendet eine andere normative Botschaft, wenn es als Belohnung für vorangehenden Erwerbserfolg gestaltet und damit ein bestimmtes Handeln prämiert wird. Eltern handeln demzufolge dann in Übereinstimmung mit dieser normativen Bewertung, wenn sie nach Ablauf des Gewährungszeitraums wieder erwerbstätig werden.2 Familienpolitik erweist sich so als Fortsetzung von Arbeitsmarktpolitik, der zuvor noch bestehende Schutzraum wird aufgehoben.

2Es

geht hierbei nicht darum, dass in irgendeiner Form Zwang auf Eltern ausgeübt wird oder sie nicht mehr in der Lage sind, sich gegen die rasche Rückkehr in Erwerbstätigkeit zu entscheiden. Doch die normative Konstruktion des Elterngeldes verschiebt die Rechtfertigungsverpflichtung für ihr Handeln explizit. Wer wieder in Erwerbstätigkeit zurückkehrt, folgt dem normativen Konsens, den der Gesetzgeber im Elterngeld zum Ausdruck bringt. Wer sich dagegen entscheidet, handelt ihm entgegen und weicht damit vom erwünschten Handeln ab.

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Nun ist nicht der normative Vorrang von Erwerbstätigkeit das bemerkenswerte an dieser Entwicklung, es ist vielmehr ein Charakteristikum des Wohlfahrtsstaates in seiner heutigen Verfasstheit, dass sich beinahe alle Leistungen im System sozialer Sicherung von Erwerbsarbeit ausgehend begründen und deswegen zu ihr zurückführen sollen. Das Erwerbsgebot bildet das normative Zentrum des Sozialstaats heutiger Prägung. Es müssen Ansprüche auf Leistungen erworben werden (Rente, Arbeitslosengeld I), die wiederum nicht unbedingt gewährt werden, sondern mit dem Ziel der Rückführung in Erwerbstätigkeit verbunden sind (Arbeitslosengeld I). Für steuerfinanzierte Leistungen gilt das umso mehr, wie z. B. im Falle des Arbeitslosengeldes II. Dauerhafte Gewährung von Leistungen ist nur für den Fall der Erwerbsunfähigkeit vorgesehen, doch selbst für sie gilt, dass der Anspruch regelmäßig überprüft wird. Es ist nicht vermessen, angesichts der Konstruktion des Elterngeldes durch den Gesetzgeber von einer Zwei-Klassen-Politik zu sprechen, wenn die Leistungshöhe sich nicht am Umstand, Eltern geworden zu sein, orientiert, sondern am Erwerbserfolg. Damit wird Elternschaft nicht mehr als eigenständige Strukturdynamik gewürdigt, sie wird stattdessen ins Verhältnis zum Erwerbserfolg gesetzt und auf diesem Wege als eigensinnige Realität degradiert. Während in der normativen Konstruktion des Elterngeldes vor allem die Klassifizierung des Elternseins relativ zu Erwerbstätigkeit zum Ausdruck kommt, wollen wir im Folgenden darlegen, wie sich die Deutungsmuster zu familialer Vergemeinschaftung in der öffentlichen Diskussion darstellen. Da es uns darum geht aufzuzeigen, worin das Entsprechungsverhältnis der Deutungen von Familie in verschiedenen Zusammenhängen besteht, greifen wir im Folgenden auf eine Plenardebatte im Deutschen Bundestag zum „Betreuungsgeld“ zurück.

4 Familiale Vergemeinschaftung oder Wahlmöglichkeit? Eine Plenardebatte im Deutschen Bundestag Das Kinderförderungsgesetz (BMFSJ 2008) diente dazu, die verfügbare Anzahl an Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahren zu erhöhen, um Eltern schon früher den Wiedereinstieg in Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Aus dieser Entwicklung entstand der Vorschlag, „eine monatliche Zahlung“, die dann als Betreuungsgeld (Deutscher Bundestag 2012a: 22306 ff.; BGBl 2013: 254) bezeichnet wurde, denjenigen Eltern zur Verfügung zu stellen, die keine frühkindliche Förderung in Tageseinrichtungen oder in Kindertagespflege in Anspruch

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nahmen.3 Zuerst betrug des Betreuungsgeld 100 €, wurde später auf 150 € erhöht, bevor das Bundesverfassungsgericht es für nichtig erklärte (BVerfG 2015).4 Es deckte den Zeitraum nach Auslaufen des Elterngeldes bis zum Erreichen des Alters ab, das zum Besuch eines Kindergartens befähigt, stand also vom 15. bis zum 36. Lebensmonats zur Verfügung. Vorgesehen war keineswegs, dass nur Eltern es in Anspruch nehmen konnten, die sich zu Hause um ihre Kinder kümmern, es stand gleichermaßen zur Verfügung, wenn beide Eltern voll erwerbstätig waren und den Betrag dazu nutzten, eine private Tagesbetreuung zu finanzieren. Lediglich die Inanspruchnahme einer öffentlichen Betreuung bei Bezug des Betreuungsgeldes wurde ausgeschlossen (BGBl 2013). Da Eltern also in vollem Umfange erwerbstätig sein konnten (BMFSJ 2013), erscheint die Kritik, es handele sich um eine „Herdprämie“, abwegig. Nun könnte man hier einwenden, dass mit dem Betreuungsgeld gerade ein Gegengewicht zum erwerbsorientierten Elterngeld geschaffen wurde. Das gilt jedoch nur, solange lediglich darauf geblickt wird, unter welchen Bedingungen das Betreuungsgeld bezogen werden konnte. Wird jedoch berücksichtigt, wer von dieser Leistung einen Vorteil hatte, dann fällt auf, wie unattraktiv es gerade für Haushalte mit niedrigem Einkommen war, die Leistung zu beziehen, wenn nicht schon ein ausreichendes Haushaltseinkommen vorhanden war. Gerade deswegen kam es eher Haushalten mit höherem Einkommen zugute, die, ganz wie beim Elterngeld, es relativ gesehen weniger benötigten. Das Betreuungsgeld war sogar niedriger angesetzt als der Basissatz des Elterngeldes, das lässt sich als Bewertung der Entscheidung verstehen, für ein Kind nach dem ersten und bis zum dritten Geburtstag, zu Hause

3Wie

angespannt die Diskussion in dieser Frage ist, lässt sich auch an der Vermeidung von Begriffen erkennen, die bei näherer Betrachtung gar nicht unangemessen sind. So bezeichnet der Begriff Fremdbetreuung in zweierlei Hinsicht treffend, worum es bei der außerhäuslichen Betreuung geht, und zwar um Fremdheit im Sinne der Innen-Außen-Differenzierung der familialen Triade und im Sinne der sie bestimmenden Sozialbeziehung. Im Unterschied zur Binnenlogik der familialen Triade, die durch diffuse Sozialbeziehungen charakterisiert ist, in der die Personen um ihrer selbst willen Anerkennung finden, folgt eine Betreuungseinrichtung den Erfordernissen spezifischer Sozialbeziehungen, in denen die Personen austauschbar sind, ohne die Qualität der Dienstleistung zu beeinträchtigen. Es scheint auch in der Bindungsforschung, die sich mit den Fragen der außerhäuslichen Betreuung viel befasst hat, diese kategoriale Differenzierung von Beziehungen nicht genügend berücksichtigt zu werden. Dabei wäre das wichtig, um zu verstehen, worin sich die Erfahrungen unterscheiden, die Kindern in den jeweiligen Beziehungsgefügen machen können. 4Das Betreuungsgeld wurde im Jahr 2015 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt, da die Leistung von den Ländern hätte erbracht werden müssen und der Bund daher keine Gesetzgebungskompetenz hatte.

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zu bleiben. Von daher kann die Einführung des Betreuungsgeldes in Kombination mit dem Ausbau der Betreuungsinfrastruktur für Kinder nicht als Abschwächung, sondern sogar eher als Verstärkung des Erwerbsgebots betrachtet werden. Schon die Konstruktion des Betreuungsgeldes lässt also erkennen, dass die Leistung selbst zwar ein Gegengewicht zur Erwerbsorientierung des Bundeselterngeldgesetzes hätte bilden können, durch seine Ausgestaltung jedoch tatsächlich kein Gegengewicht bot. Vielmehr zeigt das Betreuungsgeld ebenso wie das Elterngeld deutlich, was wir nun anhand der Plenardiskussion herausarbeiten wollen, dass Elternschaft nämlich nicht vor allem als Verantwortung im Zusammenhang einer familialen Vergemeinschaftung zu verstehen ist, sondern unter dem Gesichtspunkt der Ermöglichung von „Wahlfreiheit“. Der Individualcharakter einer Entscheidung wird damit betont, ganz gleich, welche Folgen daraus für die Besonderheit diffuser Sozialbeziehungen (Oevermann 2001b: 80 ff.) resultieren.5 Weil es in der Plenardebatte zum Betreuungsgeld zentral um die Frage ging, wie Familie gedeutet wird, also eine grundsätzliche Frage zu klären war, eignet sich dieses Dokument besonders gut, um die verschiedenen Deutungsmuster zu rekonstruieren. Die Redner waren in der Logik des parlamentarischen Interessenstreits dazu aufgefordert, ihre unterschiedlichen Positionen auf Gemeinsamkeiten und Differenzen auszuloten und zuzuspitzen. Über die Einführung des Betreuungsgeldes wurde im Jahr 2012 zweimal im Deutschen Bundestag debattiert, uns dient die erste Debatte (Deutscher Bundestag 2012a) als Datenbasis für die Rekonstruktion der Begründungen für bzw. gegen die Einführung des Betreuungsgeldes, aus der zweiten zitieren wir nur zu illustrativen Zwecken. In der Debatte, die wir hier nur ausschnittsweise untersuchen, finden sich verschiedene Argumentationsstränge, die kurz dargelegt werden sollen, bevor wir uns Äußerungen detailliert anschauen.

4.1 Argumentationsstränge in der Plenardebatte Diejenigen, welche gegen das Betreuungsgeld Stellung bezogen – SPD, Bündnis 90/Die Grünen, die Linke und Teile der FDP –, folgen dabei im Wesentlichen

5Dafür

beispielhaft ist die extrem defensive Argumentation Markus Grübels (CDU), einem Befürworter des Betreuungsgeldes: „Die erste Bindung eines Kindes ist in der Regel die an die Eltern oder an eine feste Bezugsperson, ob es Oma oder Opa ist. Diese familiennahe oder familiäre Betreuung ist der institutionellen Betreuung zumindest gleichwertig“ (Deutscher Bundestag 2012a: 22323).

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zwei Argumentationslinien. Das Betreuungsgeld, so die erste Argumentationslinie, stelle aufgrund seiner geringen Höhe nur für diejenigen einen finanziellen Vorteil dar, die in Teilzeit im Niedriglohnbereich erwerbstätig oder gar erwerbslos seien. Als Folge blieben diese Empfängergruppen dann am häufigsten zu Hause und enthielten ihren Kindern die Kindertagesstätte (Kita)6 vor. Das begünstige eine rückschrittliche Entwicklung durch falsche „Anreize“.7 Die Abgeordnete Dagmar Ziegler (SPD) formuliert diese Kritik wie folgt: „Auf der einen Seite legen Sie für vier Jahre ein 400-Millionen-Euro-Programm auf, um die Sprachförderung in den Kitas voranzutreiben, um vor allem etwas für Kinder von Migranten zu tun, auf der anderen Seite wollen Sie noch mehr Geld ausschütten, um diese von den Angeboten wegzulocken“ (Deutscher Bundestag 2012a: 22309).

Mit dieser Äußerung hebt die Abgeordnete heraus, dass zwei Leistungen im Gegensatz zueinander stehen, auf der einen Seite die Ausgaben für Sprachförderung „für Kinder von Migranten“, deren Zweck die Teilnahme am öffentlichen Leben ist. Auf der anderen hingegen stehe das Betreuungsgeld. Doch worin liegt die Entgegensetzung? Sie kann nur im Ziel der beiden Vorhaben liegen. Während das erste allgemein auf Sprachförderung verweist, die den Zweck haben muss, dass Kinder in ihren Bildungsprozessen und der Wahrnehmung von Möglichkeiten unterstützt statt durch Sprachdefizite behindert werden, wird dem zweiten Vorhaben auf besondere Weise die gegenteilige Wirkung attestiert. Mithilfe der Ausgaben, die „noch“ höher seien als die ersten, was durchaus als Kritik am ersten Vorhaben verstanden werden kann, schreibt sie dem Betreuungsgeld eine direkte Wirkung auf Kinder zu, nicht auf ihre Eltern. Es ziele darauf, die Kinder „von den Angeboten wegzulocken“. Was fällt hieran auf?

6Der

Ausdruck „Kindertagesstätte“ wäre selbst eine Analyse wert, worauf Dorett Funcke hingewiesen hat. Wir greifen hier und in der Folge im ganzen Beitrag auf ihn zurück, da er sich als Oberbegriff für Kindergärten und Kinderkrippen eingebürgert hat, obwohl die Verwendung keineswegs konsistent und klar ist, sogar regionale Unterschiede aufweist. Allgemeiner könnte statt von Kita von außerhäuslicher Betreuung gesprochen werden, wobei dann immer zu spezifizieren wäre, um welche Form es geht, denn „Tagespflege“ gehört ebenfalls dazu. 7Illustrativ hierfür die Abgeordnete Sylvia Canel (FDP): „Ein Betreuungsgeld würde vor allem für Mütter mit niedriger Bildung einen Anreiz darstellen, dem Arbeitsmarkt länger fernzubleiben. Bei ihren relativ niedrigen Gehältern fielen die vorgesehenen 150 € für private Kinderbetreuung stärker ins Gewicht“ (Deutscher Bundestag 2012b: 25091).

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Die Abgeordnete Ziegler bringt eine Deutung von Handeln und Handlungsmotivierung zum Ausdruck, die von zweierlei ausgeht. Erstens setzt sie voraus, dass die Entscheidung für oder gegen Handlungsmöglichkeiten – denn mehr als das ist die Einführung einer Leistung wie des Betreuungsgeldes nicht – sich maßgeblich daran orientiert, welche pekuniären Vorteile sie mit sich bringt. Verspricht eine Leistung zusätzliche Einnahmen, wird sie in Anspruch genommen, ganz gleich, was darüber hinaus Folgen der Entscheidung wären. Damit lässt sie andere Gründe für bzw. gegen eine Inanspruchnahme außen vor. Zweitens behauptet sie, dass die Mittel für das Betreuungsgeld gezielt, aber nicht offen, dafür eingesetzt werden („um…zu“, Finalsatz), ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Sie wirft den Befürwortern vor, nicht mit offenen Karten zu spielen, denn weggelockt werden muss jemand nur dann von etwas, wenn dieses etwas für ihn attraktiv ist, worin auch immer die Attraktivität bestehen mag. Folglich wird mit dem Betreuungsgeld nicht nur ein Angebot unterbreitet, sondern es auch der Praxis überlassen, wie sie dazu steht. Das Angebot ist laut Ziegler gar kein Angebot, das angenommen oder ausgeschlagen werden kann. Vielmehr handelt es sich um eine lenkende Intervention, die dazu führen soll, bislang Bevorzugtes aufzugeben zugunsten einer – von Zieglers Warte aus betrachtet – schlechteren Alternative. Erfolgreich kann der Versuch des Weglockens nur sein, wenn der betreffenden Praxis etwas angeboten wird, das sie als attraktiver erachtet. Beide Handlungsmotivierungen – Geld als „Anreiz“ und strategisches Weglocken – folgen jedoch sich ausschließenden Annahmen. Wenn Geld ein sicheres Instrument ist, um Menschen zu einem bestimmten Handeln zu bewegen, das impliziert Zieglers Äußerung, dann bedarf es keiner Lock-Strategie, es könnte einfach offen angeboten werden, der Erfolg wäre sicher. Das setzt sowohl voraus, dass die Praxis Handlungsoptionen abwägen kann und dann die für sie attraktivere ergreift, als auch, dass sie tatsächlich in ihrer Entscheidung frei ist. Ohnehin wird sie, das ist die Annahme Zieglers, für zusätzliches Geld votieren. Oder aber Geld ist kein sicheres Instrument dafür, bestimmte Entscheidungen herbeizuführen, weil andere Handlungsmotivierungen gleichbedeutend sind. Dann müsste auf Wegen, die der abwägenden Vernunft der Lebenspraxis nicht zugänglich wären, dafür gesorgt werden, sie zu einer bestimmten Entscheidung zu bewegen, die sie von sich aus nicht ergreifen würde. Dieses Vorgehen kann zurecht als manipulativ bezeichnet werden. Gehen wir von einer Praxis aus, deren Urteils- und Entscheidungsfähigkeit nicht eingeschränkt ist, muss ein solches Vorgehen als aussichtslos erscheinen. Ziegler hingegen ist sich des Erfolges der Lock-Strategie sicher. Hier nun muss noch hinzugezogen werden, dass die Abgeordnete Ziegler gar nicht die Eltern als Opfer der Lockaktion ausmacht, sie hat die Kinder im Alter zwischen einem und drei Jahren im Auge, die davon betroffen seien. Da Kinder

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in diesem Alter noch nicht in der Lage sind, Handlungsmöglichkeiten mit ihren Folgen über das Hier und Jetzt einer Nahumgebung hinaus zu erwägen und sich impulsiv mit der Welt um sie herum befassen, ist es in gewissem Rahmen möglich, sie von einer sie beschäftigenden Sache „wegzulocken“. Hier nun gerät die Äußerung der Abgeordneten vollends auf Abwege, denn das Betreuungsgeld richtet sich an Eltern, die alle Entscheidungen für ihre Kinder treffen und zu erwägen hätten, wie sie zum Betreuungsgeld stehen. Kinder im betreffenden Alter würden weder verstehen, was es mit der Leistung auf sich hat, noch hat Geld irgendeine konkretisierbare Bedeutung für sie. Hat die Abgeordnete also doch die Eltern im Sinn? Vom wörtlichen Gehalt der Äußerung her ist das nicht möglich, könnte mit viel Wohlwollen indes so umgedeutet werden, dass sie wohl die Eltern im Auge gehabt haben müsste. Weshalb spricht sie das nicht aus? Das Betreuungsgeld würde dementsprechend also die Eltern weglocken. Weil es eine solche Wirkung hätte und sie diese nicht haben wollte, votiert sie dagegen. Ihre Argumentation dafür ist an dieser Stelle nicht nur verunglückt, sie ist widersprüchlich und operiert mit einigen Annahmen, die sich widersprechen oder nicht haltbar sind. Darüber hinaus fällt auf, dass sich Sozialpolitik offenbar nicht darauf beschränken soll, Angebote (Handlungsmöglichkeiten) vorzuhalten, auf deren Attraktivität vertraut wird und über die die Lebenspraxis selbstbestimmt befindet. Dann wäre es so, dass Eltern sich für das Betreuungsgeld entscheiden könnten und die Lebensphase des Kindes ab dem ersten und bis zum dritten Lebensjahr ohne Inanspruchnahme einer öffentlichen Einrichtung bewältigen. Wie oben schon erwähnt, sah das Betreuungsgeld nicht vor, dass Eltern auf Erwerbstätigkeit verzichten. Das reicht Ziegler jedoch nicht, sie will, dass bestimmte Optionen nicht nur angeboten, sondern auch gewählt werden, obwohl weder die Einführung noch der Verzicht auf ein Betreuungsgeld das garantieren kann. Es geht also darum, nicht nur Handlungsmöglichkeiten zu schaffen bzw. schon bestehende durch sozialpolitische Unterstützung zu fördern, es sollen Entscheidungen herbeigeführt werden. Damit müsste sie die Pluralität der Lebensführung letztlich untergraben, obwohl das gar nicht möglich ist, solange nicht auf Verbote bzw. sanktionierbare Pflichten gesetzt wird. Ziegler argumentiert damit ganz im Sinne dessen, was „aktivierende Sozialpolitik“ sich einst vornahm, eine bestimmte Form der Lebensführung zu prämieren und andere Formen zu degradieren, obwohl damit nicht gewährleistet werden kann, dass Handlungsoptionen tatsächlich ergriffen werden. Eine Konsequenz aus dieser Deutung ist, die Verantwortung von Eltern für das Aufwachsen ihrer Kinder möglichst einzuschränken. Weiterhin wird in dieser Argumentationslinie von Kritikern des Betreuungsgeldes zu bedenken gegeben, dass Kinder, die zwischen dem ersten und dritten

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Lebensjahr zuhause versorgt werden, nicht in den Genuss der Vorteile gelangen, die eine Kita biete. Stattdessen seien sie dem Nachteil einer Erziehung durch größtenteils gering gebildete Eltern ausgesetzt. Eine Betreuung vor dem dritten Lebensjahr fördere die sozialen und kognitiven Fähigkeiten und bereite die Kinder dadurch schon früh auf Herausforderungen des Arbeitsmarktes vor.8 Signifikant ist bei dieser Argumentation, wie Fitness für den Arbeitsmarkt zum Maßstab für ein gelingendes Leben schlechthin erhoben wird, womit sie das einzig relevante Kriterium für die positive Beurteilung der Kindertagesstätten zu sein scheint. Keine Aufmerksamkeit wird in dieser Argumentationslinie dem Umstand gewidmet, dass die Fähigkeit, emotional stabile Beziehungen einzugehen eines verlässlichen Lebenszusammenhangs bedarf, in dem entsprechende Erfahrungen gemacht werden können. Hierfür ist die familiale Struktur maßgeblich, denn nur in ihr erfolgt die Hinwendung zum Kind im Sinne einer diffusen Sozialbeziehung, also um der Person selbst willen, ohne dass die Beziehung mit einer Befristung versehen wäre. Salopp ausgedrückt sind Eltern in einem 24-7-365-Dienst, also den ganzen Tag, die ganze Woche, das ganze Jahr bis zum Abschluss der Adoleszenzkrise – und selbst darüber hinaus bleibt die familiale Dynamik erhalten. Sie sind die einzigen dauerhaft verfügbaren und verlässlichen Personen mit umfassender Verantwortung. Es ist gerade diese bedingungslose Hinwendung, die für Bildungsprozesse entscheidend ist; um so gravierender sind die Folgen, wenn in der familialen Dynamik diese Hinwendung mit Bedingungen versehen wird. In einfachster Form sind die Gelingensvoraussetzungen für solche Bildungsprozesse dort gegeben, wo Eltern nicht durch lebensgeschichtliche Traumatisierungen erheblich beeinträchtigt sind. Es geht also um eine gewisse Haltung, die durch ungünstige Lebensumstände zwar erschwert werden kann, unmöglich ist sie deswegen nicht. Diese Haltung kommt dann am besten zur Geltung, wenn ausreichend Zeit dafür vorhanden ist, Erfahrungen mit den Kindern zu ermöglichen. Günstige Handlungsbedingungen sind also förderlich, was in der hier rekonstruierten Argumentationslinie vollkommen ausgeblendet

8Ralph

Lenkert (Die Linke) kann hier stellvertretend zitiert werden, auch seines gewählten Zitats wegen: „Ich zitiere den Nobelpreisträger für Ökonomie James J. Heckman: Eine geradezu traumhafte Rendite erwirtschaftet langfristig jeder Euro, der in die frühe Förderung von Kindern – also noch vor der Schulzeit – investiert wird. Heckman wies nach: weniger Schulabbrecher, weniger Teenagerschwangerschaften, weniger Kriminalität. Und stattdessen: höhere Bildungsabschlüsse, mehr Produktivität und bessere Gesundheit. Das seien laut Heckman die messbaren Erfolge einer verantwortungsvollen Bildungspolitik“ (Deutscher Bundestag 2012a: 22320).

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wird. Es wird damit auch übergangen, was schon länger in der Sozialisationsforschung thematisiert wird, dass die durch Vollerwerbstätigkeit weitgehende Abwesenheit der Väter unter der Woche problematisch ist – ganz besonders in den ersten Lebensjahren (vgl. beispielsweise Steinhardt et al. 2006, Opondo et al. 2016). Wenn eine Strukturposition – hier also die des Vaters – nur wenig zur Geltung kommen kann, schränkt dieser Umstand die lebendige Entfaltung der familialen Triade ein. Die zweite Argumentationslinie, welche vor allem von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke verfolgt wird, akzentuiert etwas anderes. Hierbei wird davon ausgegangen, dass selbst eine Familie mit idealen Bedingungen – hoher Bildungsgrad, beide Eltern im Beruf, finanziell gut ausgestatteter Hintergrund – durch die U3-Betreuung in der Kindertagesstätte optimiert werden könne.9 Außerhäusliche Betreuung ist hiernach keine Ersatzbetreuung, die unter bestimmten Umständen nötig oder unumgänglich werden kann, sondern ein Standardinstrument, um die Entwicklung eines Kindes bezüglich seiner Funktionalität für den Arbeitsmarkt zu bewerkstelligen. In dieser Argumentation wird ebenfalls jeglicher Unterschied zwischen der Betreuung durch Eltern und der durch professionelle Kräfte negiert. Während diese Hinwendung sich durch die Paarbeziehung der Eltern konstituiert und von ihr getragen wird, es geht um das Kind als ganze Person mit all ihren Bedürfnissen, stellt ein Betreuungsverhältnis eine Beziehung dar, die aufgrund der Rollenförmigkeit aufseiten der Erzieher mit der elterlichen nicht vergleichbar ist.10 An diesem Punkt der Argumentation in der Plenardebatte hat die Familie als eigenlogische

9Diana

Golze (Die Linke) ist dafür exemplarisch: „Ja, auch ich habe für mich den Anspruch, meine Kinder zu erziehen und zu bilden. Aber ich bin ehrlich genug, zuzugeben, dass ich meinen Kindern beim besten Willen nicht das bieten kann, was ihnen das Zusammensein mit gleichaltrigen Kindern bieten kann und was ihnen eine qualifizierte, gut ausgestattete Kita bieten kann“ (Deutscher Bundestag 2012b: 25000). 10Die Unterscheidung diffuser von spezifischen Sozialbeziehungen ist eine handlungslogische, d. h. sie unterscheiden sich danach, ob die in die Beziehungen involvierten Personen im Zentrum stehen oder ob sie nur einer Aufgabe zu dienen haben, die diese Beziehung konstituiert. Im ersten Fall werden die Personen bedingungslos angenommen, im zweiten werden sie daran gemessen, ob sie zur Bewältigung einer durch die spezifische Sozialbeziehung definierten Aufgabe beitragen können oder nicht. Nicht differenzieren zu können zwischen den konstitutiven Voraussetzungen für die Erfahrung des Gelingens dieser bedingungslosen Hinwendung und dem praktisch anzutreffenden, aber folgenreichen Fall des Unterlaufens dieser Bedingungen finden sich auf instruktive Weise in Ausführungen des Wirtschaftswissenschaftlers Dominik Enste, die auf ein ähnliches Phänomen

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Primärgruppe, welche für eine gelingende Sozialisation zunächst wesentlich ist, aufgehört zu existieren und könnte im Grunde vollständig ersetzt werden. Was die Unterstützer des Gesetzentwurfs angeht, so hatten wir zu Beginn unserer Untersuchung damit gerechnet, ein nahezu gegensätzliches Deutungsmuster zu finden, zumindest bei den Vertretern der CDU, einer Partei, zu deren Selbstbild es seit ihrer Gründung gehörte, für den Schutz von Familie besonders einzutreten. Dies war erstaunlicherweise nicht der Fall. Wie die Befürworter des Betreuungsgelds die Eigendynamik familialer Vergemeinschaftung aus den Augen verloren und mit der Fokussierung auf Wahlfreiheit einer individualistischen Verkürzung das Wort redeten, so sehr überrascht die Haltung der Abgeordneten Bär, die für das Betreuungsgeld das Wort ergriff. Sie sprach für die Fraktion von CDU/CSU darüber, dass es in Deutschland keine Einheitsfamilie gebe, womit sie offenbar auf unterschiedliche Familienkonstellationen Bezug nimmt, also die sogenannte klassische Familie (Kernfamilie), P ­ atchwork-Familien oder auch gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern. In folgender Passage wird ihre Haltung deutlich: „Ich würde mich freuen, wenn wir alle uns einmal bei uns, in unserem Land, umschauen würden, wenn wir die Augen öffnen und sehen würden, welch bunte Mischung an Familien wir haben. Es gibt nicht die Einheitsfamilie in Deutschland. Ich denke, da sind wir uns alle einig. Wenn wir uns alle einig sind, dass es in Deutschland nicht die Einheitsfamilie gibt, dann frage ich mich, warum man eine Einheitslösung, ein Einheitsmodell in diesem Land möchte?“ (Deutscher Bundestag 2012a: 22306).

Sie beginnt mit einer Vorhaltung, in die sie sich einbezieht, was eine Art Selbstimmunisierung zur Folge hat, kann ihr doch niemand vorwerfen, sich über die anderen Abgeordneten zu stellen. Die Immunisierung verpufft jedoch, weil die Voraussetzung dafür, einen Appell an andere (und sich selbst) richten zu können,

verweisen, wie wir es in den hier untersuchten Datentypen antreffen. Enstes Äußerung im Rahmen einer Expertenanhörung ist wie folgt protokolliert: „Eine völlige Bedingungslosigkeit gibt es vielleicht in der Familie, manchmal noch bedingungslose Liebe – danach sehnen wir uns alle – und selbst die ist meistens nicht gegeben, denn die Eltern lieben ihr Kind vor allem dann, wenn es zurücklächelt. Insofern ist auch dort eine gewisse Reziprozität vorhanden. Und diese ist dann eben auch in der Form der Bedürftigkeit bei diesem Einkommen [Transferleistungen mit Bedürftigkeitsprüfung, SL] Voraussetzung“ (vgl. Liebermann 2018: 19 FN 9).

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ist, etwas erkannt zu haben, dessen die anderen nicht bzw. noch nicht gewahr geworden sind. Damit hebt sie sich wiederum heraus. Die Abgeordnete Bär will damit also gerade auf etwas aufmerksam machen, was den anderen entgangen ist. Was ist es, das den anderen entgangen sein soll? Es gebe „nicht die Einheitsfamilie“, darin seien sich, so ihre Annahme, „alle einig“. Doch, was ist eine „Einheitsfamilie“ und was macht der bestimmte Artikel daraus? Der erste Teil des Kompositums hebt die Einheitlichkeit dort heraus, wo Vielfalt der Fall sein könnte, so z. B. wenn von Einheitsbrei oder Einheitskleidung die Rede ist. Einheitsmeinungen bezeugen, dass es keine Pluralität gibt. Bär streicht damit also die Verschiedenheit heraus, wenn sie sagt, es gebe keine „Einheits“-Familie. Sie redet damit der Verteidigung von Vielfalt das Wort, denn jede konkrete Lebenspraxis ist für sich anerkennungswürdig, allen kommt die gleiche Wertigkeit zu. Damit bringt Bär ein Prinzip liberal-demokratisch verfasster Staaten zum Ausdruck, in denen die Gleichwertigkeit allen Lebens im Zentrum steht in Absehung von konkreten Besonderheiten. Wenn die Betonung von Vielfalt nicht schlicht zur Negierung von Gemeinsamkeiten führen soll, dann wäre zu bestimmen, was denn Familie im Allgemeinen ausmacht, denn immerhin nimmt der Begriff in Anspruch, dass es etwas Gemeinsames gibt. Von daher könnte dann zwar nicht von einer Einheitsfamilie gesprochen werden, aber von sie alle gleichermaßen auszeichnenden konstitutiven Eigenheiten, die mit der besonderen Art der Sozialbeziehungen zu tun haben, die für Familie charakteristisch sind. Aus ihr erwachsen ganz bestimmte Handlungsprobleme, die eine Familie als Familie bewältigen muss, wenn sie bestehen können soll. Hier könnte nun Bärs These aufgenommen werden, dass es keine Einheitslösungen geben kann, wenn denn die Vielfalt sich daran bestimmt, wie einzelne Familien mit diesen Handlungsproblemen umgehen. Ihr Umgang muss sich aber daran messen lassen, ob er den Eigenheiten gerecht wird oder nicht. So sehr der Staat nicht die Aufgabe hat, Familien vorzuschreiben, wie sie zu leben haben, darauf spielt Bär an, so sehr kommt ihm jedoch die Aufgabe zu, Bedingungen dafür zu schaffen bzw. nicht zu unterminieren, die die familiale Triade benötigt, um sich möglichst gut entfalten zu können. Die Verschiedenheit ins Feld zu führen, wie die Abgeordnete Bär es tut, wäre dann sinnvoll, wenn angesichts einer zu treffenden Gestaltungsentscheidung, hier im Feld der Sozialpolitik, darauf hingewiesen werden sollte, dass Lösungsmöglichkeiten dieser Vielfalt entsprechen müssten. Ein solcher Hinweis wäre allerdings trivial, würde er doch lediglich zum Ausdruck bringen, was für die Verfasstheit einer Demokratie den Normalfall darstellt. In den Augen der Sprecherin verdient es die Verschiedenheit offenbar jedoch, herausgehoben zu werden. Wird aber tatsächlich sozialpolitisch vorgeschrieben, wie eine Familie zu leben hat, sodass ernsthaft behauptet werden könnte, auf diesem Wege würde „die Ein-

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heitsfamilie“ geschaffen? Da es keine Pflicht zur außerhäuslichen Betreuung vor Eintritt des Schulalters gibt, wird den Eltern diesbezüglich auch nichts vorgeschrieben. Einzig könnte eingewandt werden, dass eine Familie Einkommen benötigt, um Entscheidungen so treffen zu können, wie sie ihr gemäß sind, die Handlungsfreiräume also von ausreichendem Einkommen abhängen. In der Zuspitzung, um die es der Abgeordneten Bär offenbar geht, stellt sie der „Einheitslösung“ ein propagiertes „Einheitsmodell“ an die Seite. Sie treibt ihre Zuspitzung dadurch weiter, denn nicht nur werde eine Lösung für ein bestimmtes Handlungsproblem angeboten (hier: außerhäusliche Betreuung), es werde damit zugleich ein Lebensmodell verpflichtend eingeführt. Ein Modell ist eine von jeder konkreten Ausgestaltung abstrahierende Form, die für verschiedene zu konkretisierende Fälle eine Vorlage bzw. – im Falle der Wissenschaft – eine allgemeine Erklärung bereitstellt. Würde die Lebenspraxis unter ein solches Modell subsumiert werden, wäre das in der Tat bedenklich, eine Zerstörung ihrer Individuiertheit. Doch, so muss hier gefragt werden, gäbe es überhaupt Möglichkeiten dazu, ein solches „Modell“ durchzusetzen? Die Vorstellung, es könnte so sein, setzt einen allmächtigen Staat voraus, der bis in die kleinste Pore der Lebenspraxis hinein gestalten könnte. Würde die Lebenspraxis sich selbst nach einem solchen Modell richten, würde sie sich diesem subsumieren und damit ihre Autonomie selbst schwächen. Das wäre als solches erklärungsbedürftig. Mit dieser Übersteigerung von Einheitslösung zu Einheitsmodell erreicht die Abgeordnete Bär zwar eine polemische Zuspitzung, zugleich allerdings verschiebt sie den Fokus, um den es nun gehen soll. Eine Einheitslösung, die nicht verpflichtend ist, sondern Eltern darin freilässt zu bestimmen, wie sie sich entscheiden wollen, schränkt sie nicht ein. Erst wenn daraus eine Verpflichtung würde, könnte von einer Einschränkung die Rede sein.11 In der folgenden Passage führt sie diese Argumentation fort: „Ich freue mich, dass wir die Gelegenheit haben, heute darüber zu diskutieren. Ich freue mich auch, dass wir den Eltern, die Modelle leben wollen, die Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht goutieren, sagen können, dass auch ihr Lebensentwurf von uns eine Wertschätzung erhält.“ (ebd.)

11Das

ist z. B. genau der Fall mit dem Elterngeld, allerdings auch nur mittelbar durch seine Konstruktion. Nach Auslaufen des Elterngeldes müssen Eltern nicht wieder erwerbstätig werden, das Maß ihrer Selbstbestimmung hängt allerdings davon ab, wie hoch ihr Einkommen ist, denn nur diejenigen, die ausreichend Einkommen erzielen, können sich erlauben, in den ersten Lebensjahren zu Hause zu bleiben. Den anderen fehlen schlicht die Möglichkeiten.

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Bär bringt hier zwei Dinge zusammen, die nicht zusammengehören. Auf der einen Seite spricht sie von „Modellen“, die Eltern „leben“ wollen, auf der anderen von deren Lebensentwurf. Modelle sind Generalisierungen, die von konkreten, die Individuierung einer Praxis betreffenden, Konstellationen abstrahieren. Sie dienen dazu, allgemeine Aussagen machen zu können und erlauben gerade deswegen keine, für die konkrete Praxis angemessenen Entscheidungen. Sollte sie sich dennoch an ihnen orientieren, gäbe sie ihre Autonomie preis. Ein Lebensentwurf hingegen ist an die konkrete Perspektivität einer Praxis gebunden, macht gerade ihre Einzigartigkeit aus und kann deswegen nicht zum Modell für andere werden. Wie lässt sich dieser Widerspruch aufheben? Bär betont, indem sie dafür plädiert, verschiedene „Modelle“ anzuerkennen, die Vielfalt, wie sie es schon zuvor getan hatte. Dabei vermischt sie allerdings zwei verschiedene Ebenen, die der allgemeinen Zusammenhänge, also die Modellebene, mit der der konkreten Praxis. Was auf den ersten Blick plausibel erscheint, erweist sich auf den zweiten jedoch als eine Dementierung der Differenzen von Familien-Modellen. Sie macht sich zwar dafür stark, verschiedene Formen anzuerkennen, geht dabei aber soweit, dass sie die elementare familiale Triade mit den abgeleiteten Formen gleichsetzt, wodurch sie deren konkrete Herausforderungen tilgt. Genau dies macht aber die Unterschiede zwischen ihnen aus, auf die gegebenenfalls der Gesetzgeber unterschiedliche Antworten finden muss, um z. B. das Kindeswohl zu schützen.12 Bär tilgt sie, wenn sie alle Modelle zu einzigartigen Praxisformen erhebt. Inwiefern sind nun diese anderen Formen abgeleitete? Familienformen wie Patchwork, Alleinerziehende oder gar Familien, in deren Zentrum ein gleichgeschlechtliches Paar steht, sind Familiengebilde, die nicht für sich stehen können, sondern auf die elementare Struktur der auf Zweigeschlechtlichkeit beruhenden familialen Triade zurückgehen, in der leibliche Eltern die Position der Gatten besetzen. Noch im Ausdruck Patchwork-Familie wird dies deutlich, denn die „patches“ werden zu einem großen Stück zusammengefügt, als patches haben sie zuvor schon existiert. Das Bild ist insofern allerdings schief, als die „patches“ Vorgeschichten haben, die zu ihnen notwendig hinzugehören, in das neu zusammengesetzte Ganze gehen diese Vorgeschichten mit ihren Hand-

12Hierher gehören z. B. Bestimmungen darüber, unter welchen Bedingungen Adoptionen stattfinden können, ob Leihmutterschaft erlaubt wird, ob Kinder, die aus einer Samenspende hervorgegangen sind, ein Recht auf Kenntnis des Spenders haben usw. All diese Fragen erhalten ihre Relevanz daher, dass mit diesen Familienkonstellationen besondere Herausforderungen bzw. besondere Folgen für das jeweilige Leben verbunden sind.

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lungsfolgen ein. Es entsteht also zwar eine neue Triade, sie ist jedoch stets mit den Folgen der gescheiterten vorangegangenen konfrontiert. Insofern sind sie wie die anderen Familienformen abgeleitete Gebilde (Funcke und Hildenbrand 2009). Ähnlich verhält es sich mit der Situation von Alleinerziehenden, da die Ein-Eltern-Familie als Ausgangskonstellation immer eine Paarbeziehung hat, ­ sei es auch, dass sie nur äußerst kurz bestand. Alleinerziehend zu sein ist also ebenso Ergebnis eines Scheiterns dieser Paarbeziehung, wobei von Scheitern hier nicht im Sinne einer moralischen Bewertung gesprochen wird. Scheitern bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die für eine Paarbeziehung als diffuser Sozialbeziehung konstitutive Unendlichkeitsfiktion sich nicht erfüllt hat. Bei gleichgeschlechtlichen Paarbeziehungen ist die Konstellation noch einmal anders, da sie aus sich heraus alleine keine Kinder hervorbringen können. Die triadische Struktur muss mindestens um eine vierte Position erweitert werden, mittels deren Hilfe der Kinderwunsch erst erfüllt werden kann. Das macht sie teils mit Adoptivfamilien vergleichbar. Wenn heute, wie sogar im Achten Familienbericht der Bundesregierung von der Vielfalt familialer Lebensformen gesprochen wird, werden die konstitutiven Strukturen der familialen Triade schlichtweg ausgeblendet. Wenn die Abgeordnete Bär lediglich darauf hinweisen wollte, dass Familien in verschiedenen Konstellationen existieren, wäre das eine Banalität, die nur dann eine argumentative Kraft hätte entfalten können, wenn zuvor behauptet worden wäre, dass es diese Konstellationen nicht gäbe bzw. sie nicht erwünscht wären. Wie verhalten sich diese Zusammenhänge nun zur „Wahlfreiheit“, das entscheidende Schlagwort in der Plenardebatte? Wahlfreiheit ist darin in zweierlei Hinsicht relevant, zum einen bezogen auf die Familienform, zum anderen bezogen auf die „Betreuungsform“. Familienformen – oder wie Bär meint „Modelle“ – lassen sich insofern nicht wählen, als es – wie schon eingeführt – eine elementare triadische Struktur gibt, die für Familie und den Prozess der Sozialisation konstitutiv ist. Sie kann sich, wie geschildert, in verschiedenen Konstellationen zeigen, bleibt aber die Grundstruktur, von der aus sich dann die besonderen Herausforderungen, vor denen solche Familien stehen, erklären (Funcke/Hildenbrand 2009). Diesbezüglich von Wahlfreiheit zu sprechen würde zum einen behaupten, über diese elementaren Strukturen könnte frei verfügt werden, was auf der anderen Seite bedeutet, die krisenhafte Seite aus dem Leben zu tilgen, die im Scheitern einer Paarbeziehung liegt aus dem dann die anderen Konstellationen erst hervorgehen. „Wahlfreiheit“ in diesem Sinne suggeriert, dass es solche Krisen als Ausdruck des Scheiterns gar nicht gibt. Hierin stimmt mit dem Widerspruch überein, den wir in Bärs Ausführungen oben erkannt haben.

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Wie sieht es mit der anderen Wahlfreiheit aus, die sich auf „Betreuungsformen“ bezieht, also die Wahlfreiheit zwischen der häuslichen und der außerhäuslichen Betreuung? Wahlfreiheit hebt heraus, dass derjenige, der vor Handlungsalternativen steht, frei wählen kann. Von der Seite der Selektion aus betrachtet, trifft dies zu, wie ist es aber mit den Folgen der Entscheidung? Sofern jemand Entscheidungen trifft, die nur ihn selbst betreffen, kann Wahlfreiheit bedeuten, dass verschiedene Handlungsoptionen gleichermaßen infrage kommen und ihm keine davon nahegelegt oder aufgedrängt wird. Um sich in diesem Sinne frei entscheiden zu können, müssen selbstverständlich bestimmte Voraussetzungen gegeben sein, z. B. in Gestalt der politischen Ordnung, einer Infrastruktur usw. Allerdings gilt auch bei solchen Entscheidungen, dass sie nur in dem Sinne frei sind, sofern sie nicht Interessen anderer tangieren, die Handlungsspielräume sind allerdings relativ weit. Im vorliegenden Fall der „Wahlfreiheit“ zwischen häuslicher und außerhäuslicher Betreuung verhält sich das ganz anders. Die Gründe dafür liegen in der sozialisatorischen Bedeutung, die familiale, diffuse Sozialbeziehungen für die Entwicklung eines Kindes haben. Sie sind die Basis für verlässliche vorbehaltlose Zuwendung, in der eine Anerkennung der ganzen Person um ihrer selbst willen zum Ausdruck kommt. Dies trifft ebenso für die Seite der Eltern zu, denn sie müssen in ihre Position zuerst einmal hineinfinden, das setzt voraus, Erfahrung mit den neuen Herausforderungen machen zu können, was wiederum voraussetzt, kontinuierlich ins Offene und auf den anderen gerichtet, handeln zu können. Elternschaft ist mit transformatorischen Erfahrungen verbunden, sowohl bezogen auf sozialisatorische Ablösungsprozesse (Oevermann 2014) als auch auf die stetige Veränderung des Kindes im Zuge dieser Prozesse. Das betrifft das Ringen miteinander wie das Verständnis füreinander. Wir können dies allgemein so ausdrücken, dass Elternschaft insbesondere in den ersten Lebensjahren heißt, sich der mit der Geburt eintretenden, strukturell überfordernden Fremdbestimmung durch die impulsiv artikulierten Bedürfnisse des Kindes zu stellen. Diese strukturelle Überforderung im Sinne einer Dauerbereitschaft der Eltern zeigt sich für Mütter und Väter allerdings nicht in derselben Weise. Denn während Mütter durch die Erfahrung der Schwangerschaft qua Leiberfahrung auf diesen Umbruch vorbereitet werden, bleibt er für Väter vergleichsweise abstrakt. Mütter machen durch das Voranschreiten der Schwangerschaft die verschiedensten leibgebundenen Erfahrungen bezogen auf das Muttersein, Vätern hingegen fehlen diese Erfahrungen. Obwohl für beide Eltern die Geburt eine Zäsur darstellt, sind Mütter viel mehr darauf vorbereitet, sich vorbehaltlos dem Kind zuzuwenden als Väter (Fertsch-Röver 2018).

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Wie also der Säugling erst durch die Erfahrung einer verlässlichen Verfügbarkeit in der familialen Triade ein Urvertrauen ausbildet, so ist für das Hineinfinden in die Elternposition Erfahrung gleichermaßen notwendig. Das heißt aber zu Beginn noch mehr als später, gemeinsame Erfahrungen mit dem Kind zu machen, was wiederum voraussetzt, dass Eltern sich diese Zeit nehmen bzw. nehmen können. Diesbezüglich von Wahlfreiheit zu sprechen, würde also bedeuten, die eigendynamische Struktur der familialen Triade zu übergehen, so als seien diese Erfahrungen plan- und terminierbar durch „quality time“.13 Dabei steht diese Vorstellung gerade für die Planbarkeit von Erfahrungen und damit diametral dem entgegen, was in diffusen Sozialbeziehungen gefordert ist, wenn sie lebendig sein sollen. Wahlfreiheit leugnet genau diesen Zusammenhang, sie tilgt, dass es eben einen grundlegenden Unterschied macht, ob solche Erfahrungen miteinander gemacht werden oder nicht. In der Plenardebatte fällt auf, wie stark verschiedene Argumentationsebenen miteinander vermischt werden, die auseinander zu halten wären: die ethisch-praktische im Sinne einer Respektierung verschiedener Familien­ konstellationen auf der einen, die analytische im Sinne einer Erklärung dessen, was die Eigendynamik von Familie konstituiert auf der anderen. Obwohl es nun einfach wäre, die ethische und die analytische Dimension auseinanderzuhalten, geschieht dies in der Debatte nicht. Damit wird es allerdings unmöglich, zwischen konstitutiven Voraussetzungen für das Gelingen familialer Beziehungen und spezifischen Eigenheiten besonderer Familienkonstellationen zu unterscheiden. Das ist insofern folgenreich, als sowohl die Eigendynamik von Familie als herausgehobener Ort von Sozialisation als auch die Eigendynamik von Bildungsprozessen aus dem Blick gerät. Familienpolitik auf Wahlfreiheit zu konzentrieren, anerkennt zwar auf der einen Seite die Vielfalt der Lebensentwürfe, Eltern nicht vorzuschreiben, wie sie mit der Aufgabe Elternschaft umzugehen haben, auf der anderen jedoch ist sie ein Symptom dafür, die familiale Vergemeinschaftung zu behandeln, als konstituiere sie sich aus Individualinteressen. Diffuse Sozialbeziehungen, in deren Zentrum immer die Anerkennung der ganzen Person um ihrer selbst willen steht, wird

13Treffend charakterisiert Arlie Hochschild dieses Konzept (Hochschild 2002: 62 f.), das suggeriert, diffuse Sozialbeziehungen könnten durch terminliche Planung am Leben erhalten werden. In ihren Ausführungen wird deutlich, wie nicht terminierbare, diffuse Sozialbeziehungen und terminierbare, spezifische miteinander im Dauerkonflikt liegen, sofern Eltern erwerbstätig sind, was durch die Maxime von der „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ verdeckt wird.

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zu einem Aggregat spezifischer Sozialbeziehungen verwandelt, als wären Eltern durch andere „Bezugspersonen“ umstandslos substituierbar, ohne dass die familiale Triade dadurch in Mitleidenschaft gezogen würde.

5 Familiale Vergemeinschaftung oder Betreuung? Eine exemplarische Analyse Nachdem wir rekonstruiert haben, welche Deutungsmuster zu Familie sich in der Plenardebatte des Deutschen Bundestages zum Betreuungsgeld gezeigt haben, werden wir nachfolgend eine Sequenz aus einem Interview mit einem Elternpaar analysieren, um der Frage nachzugehen, ob sich die oben herauspräparierte Deutung familialer Sozialbeziehungen in der Praxis von Familien wiederfindet. Zum Zeitpunkt des Interviews waren die Eltern Mitte Dreißig, lebten in einer westdeutschen Großstadt zusammen, waren aber nicht verheiratet, ihr Kind war zwei Jahre alt. Die Mutter (H) war in einem Unternehmen angestellt, das Dienstleistungen im Bereich Public Relations, der Vater (M) in einem Unternehmen, das IT-Dienstleistungen anbietet. Für die Analyse haben wir eine Sequenz herausgesucht, in der die Frage danach, welche Herausforderungen Elternschaft mit sich bringt und wie das hier betreffende Paar damit umgeht, Gegenstand ist. Wir beginnen die Analyse der Sequenz (innerhalb der Verschriftung auf Seite 8, Zeilennummer 193, Min. 17:50) mit der Frage des Interviewers danach, ob denn H sich hätte vorstellen können, nach der Geburt des Kindes in Elternzeit zu gehen bzw. diese auszuschöpfen. I: ach so ich muss au# =äh= wärs denn für Dich auch zumindest theoretisch in äh in Frage gekommen äh die vollen drei Jahre ganz auszusteigen? (.)14

Nach der Klärung eines auf vorangehende Ausführungen zurückgehenden Missverständnisses („ach so“) setzt der Interviewer erneut an, bricht ab und setzt

14Verschriftungslegende:

(.): Mikropause; (..): deutliche Pause bis 2 Sek.; (2 Sek.): Pause ab 2  s;    : gleichzeitig gesprochen; -Wort-: schnell gesprochen;  = Wort = : gedehnt gesprochen; mhm: Zustimmung; hmhm: Ablehnung; hm: Nachdenken; ?Wort?: unsichere Verschriftung; (unv.): unverständlich; (lachend Wort): Sprachfärbung; (hustet): nichtsprachliche Handlung; 10 Punkt: leise gesprochen; 14 Punkt: laut gesprochen; #: Abbruch; _: Verschleifung; hh: deutliches Atmen;’: Auslassung; Fett: Betonung.

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noch einmal an. Wie der Konjunktiv II („wäre“) deutlich macht, geht es um eine Handlungsmöglichkeit, die in der Vergangenheit liegt und nicht ergriffen wurde. Dass es sich um eine Möglichkeit handeln muss, die für H nur unter besonderen Bedingungen infrage gekommen wäre, macht die nähere Bestimmung „theoretisch“ deutlich. Wenn sie schon praktisch nicht infrage kam, dann könnte sie ja „zumindest theoretisch“ einmal erwogen worden sein. Es scheint hier aber schon klar, dass es nie eine Option für sie gewesen ist, wie die defensive Frage des Interviewers anklingen lässt. Wenn I nun genau an dieser Stelle nachhakt, stellt er Hs Entschiedenheit in der Sache infrage, um in Erfahrung zu bringen, ob es nicht doch denkbar gewesen wäre. Was nun in der Frage vermeintlich radikal klingt, als werde da etwas ausgereizt – „die vollen drei Jahre ganz auszusteigen“ –, entspricht in Deutschland lediglich den durch den Gesetzgeber definierten Möglichkeiten. Es bedarf keines persönlichen Mutes oder besonderer Beharrlichkeit, um diesen Schritt zu gehen, vielmehr handelt es sich um einen institutionalisierten Anspruch. Was veranlasst I dann zu dieser Betonung? Zwei Lesarten bieten sich hier besonders an. Zum einen, bezogen auf H persönlich, muss diese Option im Verlauf des Interviews als so abwegig erschienen sein, dass I in Erfahrung bringen möchte, weshalb. Zum anderen wäre es möglich, dass in der öffentlichen Bewertung diese Option als maximales Ausreizen gedeutet wird, die volle Inanspruchnahme eben nicht als erstrebenswert gilt und deswegen von I als etwas Besonderes herausgehoben wird. Die bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres geltende Elternzeit überbrückt die Zeit nach der Geburt eines Kindes bis zum offiziellen Eintrittsalter in den Kindergarten in Deutschland, dessen Besuch freiwillig ist. Laut entwicklungspsychologischem Konsens15 beginnen Kinder im Durchschnitt um das Alter von drei Jahren herum, mit Gleichaltrigen und nicht nur nebeneinander her zu spielen. Von daher lässt sich sagen, dass der durchschnittliche Entwicklungsstand eines Kindes in diesem Alter es begünstigt, dann die außerhäusliche, mehrstündige Betreuung zu beginnen. In der Praxis zeigt sich allerdings, worauf die verschiedenen Eingewöhnungskonzepte hinweisen, wie schwierig dieser Übergang für Kinder ist, ohne dass sich die mit diesem Schritt verbundenen Veränderungen

15Wobei

der Zeitpunkt hier nur als Durchschnitt zu verstehen ist, denn in der Praxis, wenn Eltern darüber befinden müssen, ob ihr Kind schon vom Entwicklungsstand und affektiv für den Kindergarten bereit ist, gibt es kein pauschales Kriterium. Letztlich entscheidet es sich daran, ob das Kind tatsächlich bereit ist, im Kindergarten zu verbleiben, ohne dass der Verbleib durch abrupte Trennung mehr oder weniger erzwungen werden muss. Erfahrungen zeigen, dass die Altersspanne hierfür zwischen zweieinhalb und viereinhalb Jahren liegt.

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gleich zu Beginn zeigen müssen. Angesichts dieser Unwägbarkeit und der für ein Gelingen dieses Übergangs großen Bedeutung des Entwicklungsstandes erweist es sich als äußerst hilfreich, dass der Kindergartenbesuch in Deutschland nicht verpflichtend ist.16 Seit Inkrafttreten des Kinderförderungsgesetzes wird dieser Freiraum konterkariert durch eine gegenläufige Bewertung, denn seitdem es politisch gewollt ist, die außerhäusliche Betreuung schon vor dem dritten Lebensjahr zu beginnen und zugleich das Elterngeld als Prämie für Erwerbserfolg in der einfachsten Form nach 12 bzw. 14 Monaten ausläuft, hat dies zu einer Delegitimierung des früher üblichen, heute hingegen als ungewöhnlich spät erscheinenden Besuchs des Kindergartens ab dem dritten Lebensjahr geführt.17 Verstärkt wird diese Entwicklung normativ durch die Entscheidung des Gesetzgebers, einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem ersten Lebensjahr einzuführen. Wenn hier der Interviewer also die Ausschöpfung der „vollen drei Jahre“ Elternzeit anspricht, so gibt er damit auf der einen Seite ein bis noch vor wenigen Jahren fest etabliertes Deutungsmuster dazu zu erkennen, wann die außerhäusliche Betreuung gemäß dem geltenden Konsens einsetzen konnte, zugleich signalisiert er jedoch, schon verstanden zu haben, dass dies mittlerweile anders gesehen wird und deswegen womöglich für H nicht infrage kommt.

16Ganz

anders sieht es diesbezüglich mit der Schulpflicht aus, die – wie z. B. in Nordrhein-Westfalen – den Normalfall für den Schuleintritt im sechsten Lebensjahr festlegt und nur auf ausdrückliche Indizierung eines nicht entsprechenden Entwicklungsstandes eine Rückstellung vorsieht. Hier nimmt die rigide Standardisierung des Eintrittsalters keine Rücksicht auf die erheblichen Entwicklungsdifferenzen zwischen Kindern der gleichen Alterskohorte. 17Das zeigt sich auch daran, dass die Betreuungsquoten pro Alterskohorte erheblich zugenommen haben, besonders stark bei Kindern im Alter von zwei Jahren: „In den einzelnen Altersjahren der unter 3-Jährigen sind die Betreuungsquoten sehr unterschiedlich. Mit einem Anteil von 2,0 % bundesweit hatte die Kindertagesbetreuung bei Kindern unter 1 Jahr eine vergleichsweise geringe Bedeutung. Dagegen haben die Eltern von 36,3 % der 1-Jährigen ein Angebot der Kindertagesbetreuung in Anspruch genommen, bei den 2-Jährigen waren es 62,9 %. Seit dem 1. August 2013 gibt es für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einen bundesweiten Rechtsanspruch auf einen öffentlich geförderten Betreuungsplatz.“ (Statistisches Bundesamt 2018). Verstärkt wird die praktische Wirkung durch den Effekt der U3-Betreuung, dass Kinder, die nun schon mit zwei Jahren oder jünger die Kita besuchen, in die Plätze, die für Kinder ab dem dritten Lebensjahr vorgesehen sind, hineinwachsen. Wird bei der Einführung von ­ U3-Betreuungsplätzen auf diesen Effekt nicht geachtet und die Anzahl der Plätze nicht erhöht, haben Kinder, die erst mit drei Jahren den Kindergarten besuchen sollen, das Nachsehen.

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(.) [und (H: nee)] (.) [wieso nich? (H: nee wär)]

Zwar hat der Interviewer die Frage schon vorgetragen, sodass H ermuntert sein könnte zu antworten, was durch die sehr kurze Sprechpause begünstigt wird. Beschlossen ist der Interakt allerdings noch nicht, denn I fährt fort. Die Höflichkeit hätte geboten abzuwarten, bis I zu Ende gesprochen hat, doch offenbar drängt es H dazu, Stellung zu beziehen. Mit der kolloquialen Verneinung („nee“) formuliert sie ihre Antwort in größtmöglicher Deutlichkeit, so kann kein Zweifel aufkommen, wie sie dazu steht. Nicht nur ist sie sich in der Antwort sicher, sondern sie muss alsbald auch ausgesprochen werden. Entweder ist das einer habituellen Ungeduld geschuldet oder es ist die Sache, um die es geht, die sie zu einer Antwort geradezu drängt. Auf die Rückfrage Is antwortet sie sogleich im Konjunktiv II („wäre“) im Sinne von „nee wär für mich nicht in Frage gekommen“ bzw. „nee wär es nicht“, ohne den Satz zu vollenden. Warum aber im Konjunktiv und nicht im Indikativ, denn schließlich ist es für sie tatsächlich nicht infrage gekommen? Ist daran zu erkennen, dass sie die Möglichkeit als Möglichkeit noch wahrnimmt und sie nicht für ganz abwegig erklären muss, sich dennoch aber gegen sie entschieden hat? H: nich weil ähm (..) ich mein d# ziemlich lange

Der Interakt war noch nicht abgeschlossen ihrerseits, es folgt noch eine Begründung dafür, weshalb es nicht infrage gekommen ist, länger „auszusteigen“. Bevor die Begründung nach der Konjunktion gefüllt wird, folgt eine Suchbewegung („ähm“), an die eine auffällige Pause anschließt. Der ursprüngliche Satzplan wird aufgegeben, was insofern überrascht, als ihre Ablehnung der Option, drei Jahre in Elternzeit zu gehen, prompt erfolgte, von daher müsste es sich um einen klaren Fall handeln. Verbunden ist die prompte Zurückweisung jedoch nicht mit einer klaren Begründung, wie es zu erwarten gewesen wäre, denn dann hätte sie diese hier einfach vorbringen können. Also erfolgt die Zurückweisung eher impulsiv, das Thema ist affektiv besetzt. Es scheint sich demnach eher um eine deutlich gefühlte, aber nicht reflektierte Ablehnung zu handeln, zu deren Erläuterung sich H aber nun durch den Beginn eines Kausalsatzes sprachlich verpflichtet hat. Dem kommt sie nach und sagt, dass sie den Zeitraum von drei Jahren für den Verbleib mit ihrem Kind zu Hause beträchtlich findet, offensichtlich zu beträchtlich, da sie die Ablehnung mit der Dauer begründet. Was auch immer sie dazu noch ausführen mag, festzuhalten ist, dass sich hier eine tiefsitzende Ablehnung Bahn bricht.

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Weshalb empfindet sie diesen Zeitraum als „ziemlich lange“? Dafür lägen folgende Begründungen nahe. H könnte sich a) so sehr mit ihrem Beruf und ihrer konkreten Aufgabe identifizieren, dass es undenkbar ist, sie für die Dauer von drei Jahren aufzugeben; sie könnte b) unabhängig von ihrer Identifikation mit ihrem Beruf sich den vermeintlich hermetischen Gesetzen des Arbeitsmarktes fügen, denen zufolge die Chancen, nach einer dreijährigen Auszeit wieder dort einsteigen zu können, wo sie aufgehört hat, sehr ungewiss sind; oder sie könnte c) eine starke Abneigung gegen die dreijährige Elternzeit haben, weil ihr die damit einhergehende Nähe zu ihrem Kind zu weit geht. Während a) dafür hätte sprechen können, aus beruflichen Gründen auf Kinder zu verzichten, um in ihrem Streben nicht eingeschränkt zu sein, wäre es im Fall von c) die emotionale Beanspruchung und Fremdbestimmung, mit der ein solcher Verzicht begründbar gewesen wäre. Die Option b) hingegen wäre anderen Charakters, sie ist abstrakter. Zum einen würde H auf eine tatsächlich unwägbare Offenheit der Zukunft reagieren, denn wie ihre berufliche Situation sich nach der Elternzeit tatsächlich darstellte, kann sie nicht wissen. Zum anderen hätte sie gerade deswegen aus gutem Grund sich für die Elternzeit entscheiden können, weil selbst, wenn sie im Erwerbsleben bliebe, sie nicht wüsste, wo sie in Zukunft stehen wird. Deswegen hätte sie der abstrakten Sorge die konkrete Bedürftigkeit ihres Kindes vorziehen können, denn die gemeinsame Zeit in den ersten Lebensjahren kann nicht nachgeholt werden. Wie fährt sie mit ihrer Äußerung fort? auch ich find das auch zum für das Kind ziemlich lang

Nun hatte H schon gesagt, dass es ziemlich lange sei, drei Jahre zu Hause zu bleiben, wobei sich die Frage stellte, in Relation wozu dies ein langer Zeitraum ist. Wenn ein Kind diese Zeit im Schonraum der Familie benötigt, bis es so weit ist, eine Einrichtung zu besuchen, dann ist die Zeit nicht „lang“, sie wäre vielmehr notwendig und angemessen. Aus Sicht dessen jedoch, für den diese notwendige Zeit zu lange ist, stellt sich das entsprechend anders dar. Hieran wird deutlich, dass eine der größten Herausforderungen von Elternschaft darin besteht, Entscheidungen am Entwicklungsprozess und -stand des Kindes auszurichten. Darüber hinaus wird deutlich, wie wichtig es ist, die analytische und die praktische Betrachtung dieser Frage zu differenzieren. Für den Entwicklungsprozess des Kindes wäre es, analytisch betrachtet, förderlich, solange im Schonraum der Familie verbleiben zu können, wie es für es wichtig ist. Praktisch hingegen ist dies nur dann sinnvoll, wenn Mutter oder Vater dies auch zu leisten in der Lage sind, ohne von der Herausforderung aufgerieben oder überfordert zu werden. Wenn nun letzteres der Fall wäre, würde sich die Entscheidung, schon

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früher eine außerhäusliche Betreuung in Anspruch zu nehmen, für Eltern wie Kind als angesichts der konkreten Lage als sinnvoll erweisen, obgleich es für das Kind nicht ideal wäre und Entbehrungen mit sich brächte. In dieser Äußerung nun geht es nicht mehr darum, was diese Zeit für H bedeutet, es geht nun um die Perspektive des Kindes. Die Äußerung geht ihr nicht leicht von den Lippen, wie schon zuvor wechselt sie mehrfach den Satzplan. Was ist nun ihr Maßstab dafür, die Zeit „für das Kind ziemlich lang“ zu finden? Eine mögliche Begründung hierfür kann nun keine arbeitsmarktpolitische sein, denn sie ist für das Kind nicht von Belang. Was bliebe dann für eine Herleitung? Wenn das Kind entweder dem Verbleib zu Hause oder dem Beisammensein mit den Eltern oder beidem überdrüssig wäre, dann wäre dies ein Grund dafür, früher eine außerhäusliche Betreuung in Anspruch zu nehmen. Solch eine Deutung ist nun allerdings zu voraussetzungsvoll, um plausibel zu sein, zeichnet sich die Phase der frühen Kindheit doch gerade dadurch aus, dass Kinder die Nähe zu den Eltern in der Regel ausgesprochen stark suchen. Wird eine andere Familie besucht, um Kindern die Gelegenheit zum Austausch zu geben, ist es noch weit über den Eintritt in den Kindergarten hinaus so, dass sie nicht alleine in einer fremden Umgebung verbleiben wollen. Weil für ein Kleinkind die Welt vor allem aus Unvertrautem besteht und die Begegnung mit diesem Unvertrauten krisenhaft ist, findet es die für die Exploration des Unvertrauten nötige Sicherheit gerade in der ihm vertrauten Person, zuerst einmal in den Eltern.18 H schließt dementsprechend wohl eher aus ihrem Empfinden auf das des Kindes und sinnt ihm einen Entwicklungsstand an, den es erst erheblich später erreichen wird. also man geht sich n bisschen gegenseitich aufn Sack als# ich find er braucht halt auch andere Kinder als ähm (..)

Sie setzt ihre Äußerung mit einer Generalisierung fort, die zugleich eine Abstrahierung von der konkreten Beziehung darstellt („man“). Sie spricht nicht mehr über sich und ihr Kind, sondern über die Mutter-Kind-Relation im Allgemeinen. „Sich gegenseitig auf den Sack gehen“ setzt zunächst einmal voraus, dass die Betreffenden sich als Personen mit beschränkter Duldsamkeit begegnen,

18Wir

gehen hier von dem Fall aus, durch den sich die familiale Triade auf einfachste Weise realisiert und der aus diesem Gefüge diffuser Sozialbeziehungen naheliegend ist. Für davon abgeleitete Konstellationen der familialen Triade müssten besondere Herausforderungen beachtet werden, die sich dann stellen, wenn diese einfachste Realisierung aus welchen Gründen auch immer nicht möglich oder gar schon gescheitert ist.

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d. h. die Verbindung zwischen ihnen kann überstrapaziert werden, was sich darin äußert, den anderen in seiner Nähe nicht mehr aushalten zu können. Es geht in dieser Ausdrucksweise nicht darum, Differenzen oder divergente Interessen zu markieren, das wäre nicht ungewöhnlich, sondern um das Gegenüber als ganze Person. In welcher Art von Beziehung kann so ein Fall eintreten? Wenn in einer Gattenbeziehung das Phänomen auftritt, sich gegenseitig „auf den Sack“ zu gehen, dann wäre dies ausreichend Grund dafür, sich zu fragen, ob es nicht besser wäre, getrennte Wege zu gehen. Hs Ausdruck ist eine drastische Form der Zurückweisung, besagt sie doch, dass der andere nicht mehr auszuhalten ist. Was schon unter Erwachsenen eine Geringschätzung zum Ausdruck bringt, die stärker ist als in der Wendung „Du gehst mir auf die Nerven“, wird angesichts des vorliegenden Falles zu einer eklatant asymmetrischen Zurückweisung. Das Kind ist existenziell auf die Nähe angewiesen und erkennt im Gegenüber noch gar nicht eine Person, die überfordert sein kann und Rückzugsmöglichkeiten benötigt, geschweige denn ist es schon in der Lage, „genervt“ zu sein. Eine Erfahrung, die H vor Augen haben könnte, ist die mit starken Gefühlen verbundene Reaktion von Kleinkindern auf die Zurückweisung ihrer Wünsche. Denn eine solche Zurückweisung ist insofern eine Krise, als das Kind zwischen der Zurückweisung des Wunsches und der Zurückweisung seiner ganzen Person nicht differenzieren kann. Doch ist es des Gegenübers dann gerade nicht überdrüssig, sondern wünscht um so mehr seine Zuwendung. Wut und Verzweiflung sind dann Ausdruck eines Gefühls der umfassenden Zurückweisung, die durch Zuwendung aufgehoben werden kann. H hingegen nimmt an, für das Kind stelle es sich genauso dar, wie für sie. H bringt also zweierlei zum Ausdruck, zum einen eine eklatante Zurückweisung der ganzen Person des Kindes, die bei aller Anspannung im Alltag des Familienlebens und der gerade mit Kleinkindern nicht selten auftretenden temporären Überforderung überrascht. H relativiert sie bislang nicht, sondern spricht sie ungeschminkt aus. Zum anderen stellt sie ihr Kind auf eine Stufe mit sich, so als könne es schon Differenzierungen in Sozialbeziehungen vornehmen und würde mit jemandem auf gleicher Stufe Entscheidungen treffen, obwohl es jedoch gerade von dieser Person existenziell abhängig ist. Für das Kind gibt es keine Alternative zur Mutter (und dem Vater) bezogen auf die Konstellation der familialen Triade. Die Äußerung setzt H fort, indem sie ein neues Thema einführt. Jetzt geht es darum, welche Bedeutung es für das Kind hat, mit anderen Kindern Zeit zu verbringen. In der Sequenz der Äußerung erscheint dies wie eine Schlussfolgerung aus dem ersten Teil. H setzt auch so an („als#“, als abgebrochenes „also“), ohne dass es sich um einen Schluss handelt. Wenn nun beide Sachverhalte unabhängig

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voneinander sind, wie kann daraus eine Schlussfolgerung werden? Wenn für H die Nähe zu ihrem Kind im Alltag im Allgemeinen eine Überforderungskonstellation darstellt, der sie sich nicht gewachsen sieht und auf diese deswegen mit einer schroffen Zurückweisung des Kindes antwortet, dann läge es nahe, sich aus dieser Nähekonstellation in irgendeiner Form zumindest temporär zurückzuziehen. H markiert, dass ihr Kind andere Kinder „brauche“, als ihre Einschätzung („ich find“). Offenbar erfüllen andere Kinder für K eine spezifische, benennbare Funktion, es braucht sie „als“ etwas. Wie gelangt sie zu dieser Deutung? Hat sie beobachtet, dass ihm Kinder fehlen? Greift sie auf ihre Erfahrung zurück? Dafür spricht die Verwendung des Verbs in der illokutiven Position nicht, denn Äußerungen, die auf eine Einschätzung zurückgehen („ich finde“), entsprechen einem Urteil mit wenig materialer Sättigung, das also nicht auf Erfahrung beruht. Wozu bzw. wofür K die Kinder braucht, liegt H offenbar nicht auf der Zunge, denn sie unterbricht sich durch eine deutliche Pause, sie muss überlegen. als ähm (.) weiß ich nich also wie mal sagen

H kann den Satz nicht sinnvoll fortführen, sucht nach einer Formulierung, die angemessen ist für das, was sie sagen will. Aber worauf will sie hinaus? In der von ihr eingeführten Konstruktion, braucht K andere Kinder als etwas, sie werden dadurch zu einem Mittel für einen Zweck. Selbst in der abgeschwächten Form, in der jemand gebraucht wird, weil man selbst in einer persönlichen Krise ist, ist die Ausdrucksweise missverständlich, weil sie eine Mittel-Zweck-Relation anzeigt. Zumindest zeitweise wird das gegenüber „als“ etwas Bestimmtes gebraucht und nicht um seiner selbst willen. Die modale Deutung einer sich auf die ganze Person richtenden Beziehung als Mittel-Zweck-Relation ist daher zerstörerisch, weil es in ihr gerade nicht mehr um die Person als ganze geht. Was hier problematisch ist, wäre in spezifischen Sozialbeziehungen hingegen selbstverständlich, um diese aber geht es hier nicht. Womöglich spürt H die Drastik ihrer Aussage, weshalb sie sie nicht fortsetzt. Hs Deutung ist in verschiedener Hinsicht aufschlussreich. Als erstes fällt die Umdeutung diffuser Sozialbeziehungen in spezifische auf, in der Menschen nicht mehr um ihrer selbst willen einbezogen sind. Zweitens schreibt sie K etwas zu, das aufgrund seines Alters unzutreffend ist, gerade dadurch allerdings auf H schließen lässt. Denn Kinder können relativ lange, weit in das Grundschulalter hinein, diffuse von spezifischen Sozialbeziehungen nicht unterscheiden, sie deuten alle Sozialbeziehungen als diffuse und betrachten ihr Gegenüber nicht bezogen auf einen Zweck, den sie mit ihm gemeinsam erreichen können, wie es

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z. B. für Kollegialbeziehungen gilt. Wir haben es in Hs Äußerung also mit dem interessanten Fall zu tun, dass Kategorien und Deutungen vom Entwicklungsstand eines Erwachsenen auf Kinder übertragen werden, ohne dass Erfahrungen, die H mit K macht, dazu führen, diese Deutung zu revidieren.19 H macht also zweierlei: Sie spricht über K wie über ein gleichrangiges Gegenüber („auf den Sack gehen“) und deutet damit die Beziehung zwischen ihr und ihm folgenreich um, als wäre es eine naheliegende Lösung, sich aus dem Weg zu gehen. Des Weiteren sieht sie diffuse Sozialbeziehungen als etwas, das man sich zunutze macht („braucht“), was wiederum dem entspricht, diffuse Sozialbeziehungen als spezifische zu betrachten, so als gehe es gar nicht um die besondere Beziehung zu H. Wie fährt sie nun fort? als Input also (.) er geht da total gerne hin zu den andern Kindern also (.)

Obwohl sie zuvor kurz innehält, so, als brauche sie eine Verfertigungspause beim Sprechen, fährt sie ganz konsistent im Rahmen ihrer bisherigen Deutung fort. Als „Input“ brauche K andere Kinder, so als müsse er befüllt werden. Input ist eine aus zweckgerichteten Handlungszusammenhängen stammende Bezeichnung dafür, etwas einer Verarbeitung zuzuführen, so in Wertschöpfungsketten und der Datenverarbeitung, die in die Umgangssprache Eingang gefunden hat. Genauso wird die Bezeichnung verwendet, wenn im Rahmen von Weiterbildungsveranstaltungen ein Input gegeben werden soll durch einen Referenten. Übertragen wir nun die Rede vom Input auf ein zweijähriges Kind, scheint H der Auffassung zu sein, dass es ganz bestimmter Inhalte oder Vermittlungsformen der Inhalte bedürfe, damit ein Kind dazu angeregt wird, sich mit der Welt um sich herum zu befassen. Doch aufgrund seines Entwicklungstandes ist die Welt als solche insgesamt und ständig etwas Anregendes, sofern die Erkundung durch die verlässliche Zuwendung durch die Eltern unterstützt wird. Wieder überträgt H die Erwachsenenperspektive auf K, denn die Suche nach Anregungen, welche dabei helfen sollen, geistig Neues entstehen zu lassen, kann nur vor dem

19Diese

Negierung des kindlichen Entwicklungsstandes hat sich als Phänomen in anderen Interviews ebenso gezeigt und ist häufig in Rechtfertigungen von Eltern dafür zu finden, ihre Kinder schon vor dem dritten Lebensjahr außerhäuslich betreuen zu lassen (Reinhard/ Schumann 2017: 147). Heidi Keller weist hierauf ebenso hin, wenn sie aus der Interaktion einer Mutter mit ihrem Säugling zitiert, in der dem Säugling das Gefühl zugeschrieben wird, manchmal auch „Zeit für sich“ zu brauchen (Keller 2011: 71 f.).

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Hintergrund eines routinisierten Ablaufs, also eines Alltags, etwas Besonderes sein. Ein solcher aber ist in der frühen Kindheit erst im Entstehen begriffen, das Neue dominiert. Entsprechend fährt H in ihrer Deutung fort, wenn sie feststellt, dass er gerne zu den anderen Kindern gehe. Dazu muss ergänzt werden, dass H nicht diejenige ist, die K zum Tagesvater bringt, das übernimmt Ks Vater (M), der unter der Woche erst nach Hause kommt, kurz bevor K zu Bett gebracht wird. Wie es nun K in der Kita ergeht, wie die Übergabe morgens verläuft, darüber ist sie nur mittelbar im Bilde und auf die Schilderungen Ms angewiesen. Angesichts des Alters des Kindes lässt sich auch nicht durch Gespräche in Erfahrung bringen, wie es ihm in der Kita ergeht, da Kinder in diesem Alter ihr Gefühlsleben nicht durch Verbalisierung eindeutig artikulieren und sehr in momentanen Empfindungen leben. Dennoch, obwohl wir nichts über sein Innenleben sagen können, ist Hs Deutung interessant, dass sie zum einen durch das Adverb ein Wohlempfinden betont („total gerne“), zum anderen K nicht selbst in die Kita geht, wie H behauptet, sondern von seinen Eltern dort angemeldet wurde und hingebracht wird. Sein Wohlempfinden, das H herausstellt, kann sie also nur aus etwas erschließen, nicht aber kann es von K artikuliert werden. Jedenfalls begründet H hier ihre Entscheidung zweifach, nämlich einmal aus der mütterlichen Draufsicht – er braucht den Input – und aus der Binnenperspektive Ks – er gehe gerne zu den anderen Kindern. Ks mögliches Verbleiben zuhause wird also im Ganzen nicht als völlig absurde Vorstellung betrachtet, sondern H fühlt sich schon dazu verpflichtet, die Entscheidung für eine frühe außerhäusliche Betreuung zu rechtfertigen. Die Begründungslast wiegt offenbar so schwer, dass sie logische Widersprüche in ihren Ausführungen stehen lassen kann, denn der Umstand, dass K gerne zu den anderen Kindern geht, spricht zum einen nicht gegen eine längere Betreuung zu Hause, denn Eltern können Kinder ohne Einrichtungen ebenso zusammenbringen. Sie spricht schon gar nicht für eine ausgedehnte Betreuungszeit (K allerdings ist von 7.30 bis 15 Uhr in der Kita). Zum anderen konnte bei der Entscheidung für eine frühe Fremdbetreuung nicht vorausgesehen werden, wie es K damit ergeht. H scheint hier einfach Belege für ihre Entscheidung zu sammeln, ohne zu bemerken, dass die angeführten Begründungen nicht notwendig dazu führen müssen, außerhäusliche Betreuung in Anspruch zu nehmen. und er braucht auch jeden Tag jemand

Diese Aussage könnte einfach die Reihung von Argumenten fortsetzen und entweder noch eine dritte Instanz einführen, die für K noch außer den anderen Kindern unabdingbar ist, da wäre dann der Tagesvater selber eine naheliegende

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Möglichkeit, oder den Kindern wird eine weitere, für K wichtige Funktion zugeschrieben. Weshalb H sich hier nicht einbezieht, denn sie könne er genauso „brauchen“, ist schleierhaft. Wenn sie so fortsetzte, hätte sie sich nun ganz darauf eingelassen, die Fremdbetreuung Ks aus dessen vermeintlicher Perspektive zu begründen. Damit vollzöge sie ein Ausweichmanöver, denn mit einiger Gewissheit kann sie nur über ihre eigenen Beweggründe für die Entscheidung sprechen. und wenn man sich jetz jeden Tag (.) äh von morgens bis abends irgendne Beschäftigung ausdenken muss

H lässt den Satz allerdings enden und fügt einen weiteren an. Dadurch allein verlagert sich die Gewichtung der Aussage des vorigen Satzes von „jemand“ auf „jeden Tag“. Durch die Gewichtung der Zeitangabe wird das Argument der „ziemlich lange[n]“ Zeit inhaltlich zwar nur wiederholt, sprachlich indes deutlich aufgeladen. Dadurch, dass die Zeitsequenzen immer griffiger und bildhafter dargestellt werden, erscheint die Zeit noch gedehnter und zähfließender. Von morgens bis abends – jeden Tag (zweimal) – drei Jahre (um die es ja geht) – eine reine Skandalisierung der Länge der zur Debatte stehenden Zeit – gefolgt von dem ersten Hinweis darauf, was denn nun H selbst an der Vorstellung des Zuhauseseins abstößt. Wenn man davon ausgeht, dass der Satz nicht mit einem inhaltlichen Bruch fortgesetzt werden wird (z. B. „…Beschäftigung ausdenken muss, dann ist das ein großer Spaß“), dann hebt H die Mühe heraus, die es bedeutet, sich mit K zu beschäftigen. Diese auffällig distanzierte Perspektive – K braucht jemanden, ganz gleich, wen – ist eng mit dem Bedeutungswechsel, den das Pronomen „jemand“ erfährt, verbunden. Denn „jemand“ steht nämlich nicht für einen neuen, noch zu qualifizierenden Dritten. Sie fasst darunter jeden, der sich mit K befasst, also sie selbst, die anderen Kinder, der Vater, der Tagesvater – es gibt keine qualitative Abgrenzung der Kategorie, irgendeiner muss eben zur Verfügung stehen. Langeweile zu empfinden ist K nicht nur möglich, es wird zu seinem grundsätzlichen Zustand erklärt, in den er ohne „Beschäftigung“ sofort zurückfällt. Entsprechend braucht K nicht vorrangig Eltern, sondern Beschäftiger bzw. Beschäftigung. Diejenigen, die diese Funktion erfüllen, würden sich dann individuell nur noch nach ihrer Fähigkeit unterscheiden, ihm diese Beschäftigung zu verschaffen. Damit ist der Unterschied zwischen familialen und ­nicht-familialen Beziehungen, zwischen Familie und Betreuung aufgelöst und zwar dahin gehend, dass Familie in die Oberkategorie „Betreuung“ eingerückt ist. Denn, jemanden zu beschäftigen heißt nicht, auf die Person als ganze einzugehen, sie muss lediglich mit Aufgaben versehen werden, die sie erledigen kann. In der Umgangssprache wird der Umstand, dass jemand beschäftigt werden müsse,

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durchaus abwertend gebraucht: „Lass‘ den das machen, dann ist der beschäftigt“ oder wenn von „Beschäftigungstherapie“ gesprochen wird.20 In beiden Fällen geht es weder um die Sinnhaftigkeit eines Vorhabens noch darum, etwas hervorzubringen, von dem auch andere etwas haben. Von daher ist die Aufgabe, jemandem eine Beschäftigung zu suchen, derart oberflächlich, dass sie in der Tat von nahezu jedem erfüllt werden könnte. Dies entspricht aber genau nicht der Reziprozität zwischen ganzen Menschen innerhalb der Eltern-Kind-Beziehung, in der Eltern gefordert sind, sich auf ihr Kind mit seinen Eigenheiten und Wünschen einzulassen, um seinen Entwicklungsprozess zu unterstützen und gemeinsame Erfahrungen zu machen, um es zu verstehen. Folgerichtig fährt H fort. find ich ja schon ziemlich und sich verabreden muss und weiß ich nich äh f hätt ich jetz halt schon ziemlich (.) langwierich gefunden

H äußert hier noch einmal, wie sie den Zwang, sich für K Beschäftigungen auszudenken, gefunden hätte und beschreibt mit dem Adverb „langwierig“ sowohl die gefühlt lange Dauer, die etwas beansprucht, als auch die damit verbundene Mühe. Wohlgemerkt ist nicht die bloße Tatsache, dass H hier eine Erfahrung von Fremdbestimmung schildert, die für Eltern nach der Geburt des ersten Kindes typisch ist, auffällig. Auffällig ist, woran sie diese festmacht, nämlich nicht an der Dauerbeanspruchung, die aus der Verantwortung für das Überleben und Wohlergehen des Kindes folgt, sondern an der an sich müßigen Beschäftigung mit dem Kind, die zu einer mühevollen Suche nach Beschäftigung für das Kind umgedeutet wird, die dann auch noch um die Schwierigkeit erweitert wird, dass die Beschäftigung durch andere Kinder erst durch Verabredungen organisiert werden muss. und dann zum andern hab ich ja auch studiert und ähm gearbeitet und ich find wenn ma# drei Jahre aussetzt (.) als Redakteurin dann ähm dann sind die ganzen Arbeitsproben auch total alt die man hat ich hätt ja auch wieder n neuen Job suchen müss# al# da wär hätt ich jetz viel viel schwerer noch gehabt wieder reinzukommen in

20Ganz

anders verhält es sich mit der reflexiven Formulierung „sich mit etwas beschäftigen“ oder „mit etwas beschäftigt sein“, die keine negative Konnotation hat. Wird hingegen der Umstand, „beschäftigt“ zu sein über inhaltlichen Sinn und Zweck eines Engagements gestellt, wird dieses damit entleert. Das geschieht z. B. in der Diskussion über den Stellenwert von Erwerbstätigkeit als Beschäftigung, wenn es heißt, Menschen brauchten eine Beschäftigung oder Aufgabe, als könnten sie diese sich nicht selbst suchen oder verschaffen.

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S. Liebermann und H. Muijsson den Job (I: mhm) als# ich find/des# ich hab ja auch relativ viel (.) weiß nich viele Praktika gemacht viel studiert und s Aus# im Ausland gewesen un# s wär dann alles son bisschen (.) weg gewesen (.)

Sie setzt die Reihung nun mit einer Begründung fort, die eine ganz andere Begründung einführt. Indem sie erklärt, dass alles, was sie für ihren Berufsweg bisher geleistet hat („Arbeitsproben“, „Praktika“, „studieren“, „Ausland“), nach einem Aussetzen von drei Jahren nichts mehr wert gewesen wäre, wenn sie denn die Elternzeit ausgeschöpft hätte. Dies schränkt sie allerdings durch den Zusatz „son bisschen“ dergestalt ein, dass die Behauptung erheblich an Gewicht verliert. Wie sehr bisher von ihr Geleistetes durch die Elternzeit entwertet worden wäre, ist selbst aus ihrer Einschätzung heraus nicht zu klären, handelt es sich lediglich um Mutmaßungen. Sie bemüht diese Sorge jedoch als Begründung für ihre Entscheidung, was immerhin deutlich macht, dass sie diese für begründungsbedürftig hält. Letztendlich kann man davon ausgehen, dass sie hier ganz authentisch ausdrückt, dass sie sich nicht detailliert darüber informiert hat, welche Auswirkungen der Ausstieg tatsächlich auf ihre Karriere gehabt hätte. Selbst wenn sie sich allerdings erkundigt hätte, wäre es nur möglich gewesen, unmittelbare Folgen auszuloten, nicht aber langfristige Auswirkungen. Das wird an dem von ihr gewählten Beispiel deutlich, sich eine neue Stelle suchen zu müssen, was dann allerdings unter anderen Vorzeichen (mit statt ohne Kind) der Fall gewesen wäre, wodurch sich zugleich die Prioritäten verschoben haben könnten und sich neue Möglichkeiten ergeben. Die Formulierung Hs und der Rückgriff auf die verbreiteten arbeitsmarktpolitischen Bedrängnisse, die sie als Begründung anführt, ist aufschlussreich. Bei H liegt weder eine innere Widerständigkeit gegen die vermeintlichen Ansprüche des Arbeitsmarktes vor, die jedoch aus Abstiegssorgen nicht zum Ausdruck kommt, noch dient die Begründung als Vorwand, um eine unterschwellige Ablehnung ihrer eigenen Mutterschaft zu verschleiern. Vielmehr verhält sie sich den vermeintlichen Ansprüchen und Zwängen gegenüber konform, weil sie das Besondere der Beziehungslogik zwischen ihr und ihrem Kind nicht wahrnimmt. Hier zeigt sich ein Deutungsmuster, in dem sich Familie in Betreuung aufgelöst hat, wodurch die besondere Beziehung von Eltern und Kind zueinander nicht realisiert wird, weswegen an ihrer statt irgendeine Beziehung treten kann. Entscheidend ist es, für Beschäftigung zu sorgen, damit K nicht langweilig wird. Von daher müssen aus dieser Perspektive bei einer Entscheidung, welche die familiale Praxis betrifft, also eben bei der Frage des vorübergehenden Berufsausstiegs, erst gar nicht konkrete Argumente, welche die eigenen Berufsaussichten betreffen, abgewogen werden, denn der Gegensatz zwischen Berufs- und

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Familienlogik scheint in seiner ganzen Drastik erst gar nicht auf. Damit ist die ganze Problematik nicht nur in ihrer praktischen Dimension, sondern eben auch hinsichtlich der Deutung auf ein reines Organisationsproblem reduziert.

6 Zusammenführung und Ausblick Wie unsere Analysen deutlich gemacht haben, zeigen die im Material herauspräparierten Deutungsmuster zu Familie in vielerlei Hinsicht Anzeichen dafür, dass das Verständnis für die Eigensinnigkeit familialer Beziehungen erodiert ist. Gezeigt hat sich dieses Phänomen in dreierlei Hinsicht. 1. Zuerst fiel auf, dass durch die unter dem Signum einer „aktivierenden Sozialpolitik“ eingeleiteten Veränderungen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik dazu führten, die Stellung von Erwerbsarbeit als größtmöglichem Beitrag zum Gemeinwohl weiter zu verstärken zulasten nicht-erwerbsförmiger Tätigkeiten. Die Ersetzung des Erziehungs- durch das Elterngeld sowie die kurzzeitige Bereitstellung des Betreuungsgeldes prämieren Erwerbstätigkeit und schaffen zwei Klassen von Eltern, was einer ungleich stärkeren normativen Degradierung von Haushaltstätigkeiten gleichkommt, als es bisher schon der Fall war. Erwerbsarbeit als ethisches Gebot, dem zu folgen sei, wird auf diese Weise zementiert, während gleichzeitig die familiale Triade in ihrer Eigensinnigkeit normativ herabgesetzt wird. Die gegenwärtige Sozialpolitik missachtet die Familie als Strukturgebilde, das sich, um lebendig existieren und nicht nur vegetieren zu können, durch Erfahrungsbildung entfalten können muss. Dazu benötigt es jedoch nicht nur entsprechende Freiräume, in denen sich dieser Eigensinnigkeit überlassen werden kann, damit alle Positionen der Triade auch tatsächlich durch Vollzug gefüllt werden können. Es bedarf auch einer normativen Anerkennung dieser Aufgabe durch das Gemeinwesen, die gegenwärtig allenfalls in warmen Worten und Sonntagsreden zum Ausdruck kommt.21

21Daran

ändert die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Deutschen Rentenversicherung nichts, denn die Inanspruchnahme der dadurch erzielten Rentenanwartschaften ist erst dann möglich, wenn die alltäglichen Herausforderungen von familialen Interaktionen der Vergangenheit angehören.

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2. In den Plenardebatten zum Betreuungsgeld zeigte sich deutlich, wie eingeschränkt der Blick auf Familie ist. Die Eigensinnigkeit diffuser Sozialbeziehungen in der familialen Triade, die besondere Verantwortung der Eltern für die Beziehungsdynamik und damit für den sozialisatorischen Bildungsprozess wird nicht (mehr) gesehen. Familiale Zuwendung, in deren Zentrum die ganze Person steht, die damit verbundene Dauerbereitschaft von Eltern, sich um ihre Kinder zu kümmern, wird auf die Bereitstellung von Betreuungsmöglichkeiten reduziert, so, als sei das „Betreuungspersonal“ – Familie gegen Erzieher – gegeneinander austauschbar. Sicherlich würden die Abgeordneten auf Rückfrage diese drastische Deutung zurückweisen und betonen, wie wichtig selbstverständlich die Eltern für die Kinder sind. Doch weshalb finden dann entsprechende Argumente keinen Eingang in die Debatte? Weshalb führen sie nicht zu entsprechenden sozialpolitischen Maßnahmen, die darauf hinauslaufen müssten, Eltern als Eltern darin zu unterstützen, sich der Aufgabe Elternschaft vorbehaltlos stellen zu können, ohne auf sie lenkend einzuwirken? Da all dies nicht in Ansätzen zu erkennen ist, muss daraus geschlossen werden, dass es nicht für wichtig erachtet wird. 3. Wie die ersten beiden, so zeigte auch der Fall H, dass die normative Entwertung von Familie nicht nur oberflächlich, womöglich gar auf rein ideologischer Ebene, verortet ist. Sie reicht vielmehr bis in die alltägliche Lebensführung hinein und manifestiert sich im Alltag, wenn nämlich die Logik der spezifischen Sozialbeziehungen die Wahrnehmung der ­Eltern-Kind-Beziehung derart dominiert, dass die Eigenheit letzterer unsichtbar wird. Das ändert freilich nichts daran, dass diese Eltern-Kind-Beziehung nach wie vor diffus und nicht spezifisch ist und von daher eigenlogische Ansprüche stellt, von deren Erfüllung das Gelingen sozialisatorischer Bildungsprozesse abhängt. Von daher, und dies deutlich zu machen war uns ein Anliegen, greifen die Argumentationen zu kurz, die zurecht kritisieren, dass Familienpolitik zum Anhängsel der Arbeitsmarktpolitik geworden ist, wenn sie nicht bestimmen, worin denn die Eigensinnigkeit von Familie besteht. Dafür gibt es jedoch schon länger instruktive und weitreichende Ausführungen (vgl. z. B. Allert 1998, Funcke/Hildenbrand 2018, Oevermann 2014), die dazu herangezogen und weiterentwickelt werden können. Es stellt auch eine grobe Vereinfachung dar, diese Entwicklung durch Marktzwänge, den Kapitalismus oder sonstige s­ ozio-ökonomische Wirkungszusammenhänge erklären zu wollen, die ein bestimmtes Handeln

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aufdrängen. Denn erklären könnte dies nicht, weshalb es vonseiten der Lebenspraxis in Gestalt der Eigensinnigkeit familialer Beziehungen keine Widerstände dagegen gibt, denn immerhin ist selbst im Fall von H ihre Wirkmächtigkeit noch erkennbar. Vielleicht müsste von den hier erreichten Befunden ausgehend die Erklärung geradezu in die andere Richtung weisen, dass nämlich nicht die häufig bemühte sogenannte Ökonomisierung der Lebensverhältnisse Grund für diese Entwicklungen ist (wie z. B. bei Streeck 2011), sondern vielmehr Prozesse der Enttraditionalisierung und Autonomisierung der Lebenspraxis zur Auflösung einst bewährter Deutungsmuster von Familie geführt haben. Dadurch entstand eine Art Deutungsleerstelle bezogen auf die Vergemeinschaftung Familie, die dann noch nicht durch eine neue Deutung gefüllt werden konnte. Zugleich traf der Zerfall eines einst bewährten Deutungsmusters auf eine ausgesprochen skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber Vergemeinschaftung im Allgemeinen, die unter dem Verdacht stand, das Individuum vor allem einzuschränken. Diese Haltung ist bis heute in öffentlichen Diskussionen über den Nationalstaat und das Verständnis von Staatsbürgerschaft zu erkennen, gelten sie doch nicht selten als überholte Konzepte. Dem widerspricht nicht der ausgesprochen verbreitete Paternalismus, wie er sich in öffentlichen Debatten immer wieder Bahn bricht und in Form eines Generalverdachts den Bürgern attestiert, mit der durch die Demokratie zugemuteten Mündigkeit nicht recht umgehen zu können. Eine Gegenbewegung gegen diesen Paternalismus wäre dann eine vergemeinschaftungslose bzw. -enthobene Deutung von Lebenspraxis, für die sich bestimmte Theoreme besonders anboten, dazu gehören dann solche wie der homo oeconomicus.

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Zur Aufgabe der Neupositionierung des Vaters beim Übergang zur Elternschaft Jörg Fertsch-Röver

1 Einleitung Die folgenden Materialanalysen stellen Auszüge aus dem Dissertationsprojekt (Fertsch-Röver 2017) des Autors dar. Bei dem Projekt wurden zwei miteinander verschränkte Fragestellungen verfolgt: Die erste betrifft die Frage, welche Triangulierungsaufgabe der Vater bzw. Mann beim Übergang zur Elternschaft zu leisten bzw. zu bewältigen hat, die zweite, ob und welche Aspekte von Transformationsprozessen im Sinne gelingender Erfahrungsaneignung sich am Untersuchungsgegenstand Übergang zur Vaterschaft rekonstruieren lassen. Für die folgenden Materialanalysen steht die erste Fragestellung im Mittelpunkt. Der Begriff der Triangulierung im Zusammenhang des Elternwerdens kommt vor allem aus der Psychoanalyse.1 Während bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein die Rolle und Bedeutung des Vaters in der frühkindlichen Entwicklung innerhalb der Psychoanalyse entweder wenig Beachtung fand oder der Vater vor allem als strafende Instanz thematisiert wurde (Mertens 1981: 92), gehen die unterschiedlichen Triangulierungskonzepte2 davon aus, dass der Vater

1Vor

allem Abelin hat diesen Begriff in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit seinem Konzept der frühen Triangulierung eingeführt Siehe Abelin 1971. 2Eine gute Übersicht über die unterschiedlichen Triangulierungskonzepte bieten Schon 1995, Dammasch und Metzger 1999, Ereky 2002 und Schrenker (2012). J. Fertsch-Röver (*)  Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Funcke (Hrsg.), Rekonstruktive Paar- und Familienforschung, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30668-7_4

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J. Fertsch-Röver

von Anfang an eine bedeutende Rolle für die Entwicklung des Kindes spielt. Diese Rollen reichen vom Befreier aus der ­Mutter-Kind-Symbiose (Stork 1986) bis hin zum wichtigen Alternativobjekt, das dem Kind noch mal einen anderen Zugang zur Realität vermittelt als die Mutter.3 Im Unterschied zu systemischen Ansätzen, in denen unter Triangulierung beispielsweise die Umleitung eines Paarkonfliktes auf das Kind verstanden wird, zielt der Begriff in der Psychoanalyse auf eine grundlegende Entwicklungsaufgabe des Kindes. Ganz allgemein gesprochen meint Triangulierung, dass das Kind das äußere Beziehungsdreieck so verinnerlicht, dass es die Fähigkeit entwickelt, „gleichzeitig eine Beziehung zu Mutter und Vater zu unterhalten, zu erkennen und zu akzeptieren, daß Mutter und Vater auch eine Beziehung zueinander haben, sowie alle drei Beziehungen zu verinnerlichen.“ (Schon 1995: 11) „Gelingt der Prozess der frühen Triangulierung“, wie Grieser schreibt, „so ist das Kind in der Lage, zwei Objekte zu besetzen, zu beiden gleichzeitig eine Beziehung zu haben und auch wahrzunehmen und zu ertragen, daß die beiden anderen, im Normalfall also Vater und Mutter, eine vom Kind unabhängige Beziehung zueinander haben. Die vom Kind unabhängige Beziehung zwischen der Mutter und dem Dritten ist eine Voraussetzung für das Gelingen der frühen Triangulierung.“ (Grieser 1998: 80) Mit einer gelingenden Triangulierung wird der Erwerb grundlegender Kompetenzen aufseiten des Kindes – sogenannte triadische Kompetenzen – in Verbindung gebracht: Vor allem für die mit einer Theory-of-Mind im Zusammenhang stehenden Kompetenzen wie die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, zur Empathie, zur Wahrnehmung seelischer Zustände bei sich und anderen (Fonagy 1998 und Bischof-Köhler 2011), zur Selbstreflexion4, aber auch für die Sprachentwicklung (Zollinger 2010, Schrenker 2012) und die Emotionsregulation (Herzog 1998) soll eine gelingende Triangulierung eine wichtige Rolle spielen. Die meisten vorliegenden Triangulierungstheorien bzw. -konzepte5 zeichnen sich durch eine weitgehend synchrone Betrachtungsweise der familialen Triade

3Zu

neueren Forschungsergebnissen zur Bedeutung des Vaters für die kindliche Entwicklung siehe Seiffge-Krenke 2016. 4„Der Vater und die Beziehung zwischen den Eltern legen so den Grundstein für die Entwicklung einer Repräsentanz und Anerkennung des Dritten, die für symbolisches Denken und hohe reflexive Kompetenz Voraussetzung ist.“ (Target und Fonagy 2003: 71) 5Neben Abelins Theorie der frühen Triangulierung wird häufig Bezug genommen auf die Konzepte von Rotmann (1978), Rohde-Dachser (1987), Ermann (1989), Figdor (1991), Buchholz (1993), Schon (1995), Herzog (1998), Klitzing (1998), Dammasch (2000) und Metzger (2000).

Zur Aufgabe der Neupositionierung …

85

aus, wie beispielsweise bei Rohde-Dachser (1987), die eines der elaboriertesten Modelle der familialen Triade formuliert hat. Sie nennt als Kriterien für eine vollständige Dreieckskonstellation und damit für eine gelungene Triangulierung folgende fünf Punkte: Die Dreieckskonstellation ist vollständig, „wenn 1. die drei Pole der Struktur klar voneinander differenziert sind (d. h., Vater, Mutter und Kind müssen sich als voneinander getrennte Individuen wahrnehmen und erleben), 2. zwischen allen drei Polen […] reziproke Beziehungen bestehen, 3. alle drei Beteiligten diese Situation billigen, 4. alle drei Relationen des Dreiecks überwiegend positiv getönt sind oder doch zu diesem Zustand hin tendieren und 5. jede der drei Relationen bei allen Beteiligten mental repräsentiert ist […]“ (780 f.). Dieses Modell einer vollständigen familialen Triade beschreibt eine Art Endzustand einer gelungenen Triangulierung, in dem die grundlegende Entwicklungsdifferenz zwischen Kind und Eltern bereits aufgehoben ist. Zum einen lässt sich daher in diesem Rahmen nicht mehr die Entwicklungsaufgabe sowohl des Kindes als auch der Eltern formulieren. Zum anderen – und das gilt für die allermeisten Triangulierungskonzepte – bleibt unklar, worin eigentlich die grundlegenden Herausforderungen der Beziehungsgestaltung innerhalb der familialen Triade begründet liegen, außer dass das Hinzukommen eines Dritten zur Paardyade eine Komplexitätserhöhung bedeutet.6 Die Rekonstruktion der

6Das

gilt auch für den Ansatz der Lausanner Forschungsgruppe um Elisabeth FivazDepeursinge und Antoinette Corboz-Warnery (2001), die das äußerst interessante Lausanner Trilogspiel als Untersuchungsdesign entwickelt haben. Gegenüber den klassischen Ansätzen aus der systemischen Familientherapie hat die Gruppe zwar ein erweitertes Verständnis von Triangulierung, indem sie darunter auch gelingende Muster der Interaktion zu dritt fassen, doch der Begriff der „Kooperativen Allianz“ (ebenda) bzw. der „Zwei-für-einen-Allianz“ (Fivaz-Depeursinge 2009), der für Formen der gelingenden Triangulierung steht, zeigt eine synchrone und harmonistische Sichtweise auf die familiale Triade, in der das für das Kind – aber auch für die Eltern – konstitutionslogisch Konflikthafte von gelingenden Triangulierungsprozessen von vornherein getilgt ist. So spricht Fivaz-Depeursinge von „­Zwei-für-einen-Allianzen“, wenn folgende vier Bedingungen erfüllt sind: „1. Alle drei Partner nehmen an dem Spiel teil; 2. Alle spielen zuverlässig ihre Rollen und beteiligen sich aktiv; 3. Alle spielen dasselbe Spiel oder, anders gesagt, haben einen gemeinsamen Fokus; 4. Am Schluss sind alle in harmonischem Einklang miteinander, indem sie Vergnügen teilen“ (ebenda: 137). Dennoch sind das von der Gruppe entwickelte Untersuchungsdesign und die damit generierten Ergebnisse außerordentlich aufschlussreich und gewinnbringend. Das gewonnene Datenmaterial würde zudem die Möglichkeit eröffnen, bestimmte Grundannahmen des hier zugrunde gelegten Ansatzes der ödipalen Triade von Ulrich Oevermann zu überprüfen.

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Triangulierungsaufgabe erfordert deshalb auch eine diachrone7 Betrachtungsweise der familialen Triade, die neben den Gemeinsamkeiten der beiden Beziehungstypen der Gatten- und der Eltern-Kind-Beziehung auch deren Differenzen in den Blick nimmt und von der Situation ausgeht, dass das Kind sich die Fähigkeit zur Triangulierung und die damit verbundenen Kompetenzen erst noch aneignen muss – und dies eben dadurch, dass die Eltern familiäre Interaktionsstrukturen etablieren, die die Entwicklung triadischer Kompetenzen und damit die Autonomieentwicklung aufseiten des Kindes befördern. Von daher benötigen wir für die Bestimmung der Triangulierungsaufgabe der Eltern ein Triangulierungsmodell, das die grundlegenden familialen Konstellationen beschreibt, die die für die gelingende Autonomieentwicklung des Kindes notwendigen Dynamiken innerhalb der Familie generieren. Ein solches Modell hat Ulrich Oevermann (2001 und 2014) mit seinem Modell der ödipalen Triade vorgelegt. Anhand dieses Modells soll im Folgenden die Triangulierungsaufgabe der Eltern skizziert werden, um im Anschluss ausgewählte Sequenzen aus den Interviews mit drei werdenden Vätern während der Schwangerschaft und etwa drei Monate nach der Geburt des Kindes daraufhin zu betrachten, wie sich eine gelingende Triangulierung in den Interviews abbildet, welche Schwierigkeiten dabei zu erkennen sind und was für eine Neupositionierung der Übergang zur Elternschaft von den Vätern verlangt.

2 Familiale Grundkonstellationen: Die ödipale Triade Ulrich Oevermann hat in Anknüpfung an Freuds Entwicklungstheorie und Parsons´ Bestimmung der Kernfamilie (Parsons 1964/1999) ein sogenanntes Modell der ödipalen Triade entwickelt, das den Strukturkern von Familie als sozialisatorischer Praxis skizziert. Ohne das Modell hier ausführlich darstellen zu können, sollen kurz die drei Strukturkonstellationen (s. Abb. 1, 2 und 3) benannt werden, die Oevermann für die Entwicklung des Kindes als grundlegend ausweist:8

7Ich

danke Thomas Loer für den Hinweis, dass der von mir in diesem Zusammenhang vorher verwendete Begriff der asynchronen Betrachtungsweise als Gegenbegriff zur synchronen nicht ganz passend ist. 8Die grafische Darstellung der drei Strukturkonstellationen erfolgt hier auch – wie bei Oevermann – aus der positionalen Perspektive des Kindes. Siehe Oevermann 2001, S. 90.

Zur Aufgabe der Neupositionierung …

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Abb. 1   Strukturkonstellation 1a Strukturkonstellation 1b

Abb. 2   Strukturkonstellation 2

Abb. 3   Strukturkonstellation 3

„Jede Position befindet sich in der Situation, diesen Ausschließlichkeitsanspruch auf den Inhaber einer der beiden anderen Positionen mit einem Dritten teilen zu müssen.„“ (Oevermann 2001, 89) „Jede Position befindet sich in der Situation, die beiden sich widersprechenden Ausschließlichkeitsansprüche der Inhaber der beiden anderen

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Positionen gleichzeitig auf sich zu ziehen und nicht abweisen zu können.“ (ebenda) „Jede Position befindet sich in der Situation, aus der Dyade mit Ausschließlichkeitsanspruch, die die Inhaber der beiden anderen Positionen miteinander haben, ausgeschlossen zu sein.“ (ebenda) Grundlegend für das Verständnis der Dynamik dieser drei Strukturkonstellationen ist die Bestimmung von familialen Beziehungen als diffuse Sozialbeziehungen im Unterschied zu spezifischen Sozialbeziehungen. Die Struktureigenschaft diffuser Sozialbeziehungen lässt sich in vier Dimensionen zerlegen, die zugleich die strukturellen Gemeinsamkeiten der die ödipale Triade konstituierenden Dyaden beschreiben: 1) Unkündbarkeit: alle familialen Dyaden sind – im Unterschied bspw. zu Vertragsbeziehungen – auf Unbefristetheit hin angelegt; das heißt, selbst im Falle ihrer faktischen Trennung ist damit nicht ihre strukturelle Unbefristetheit aufgehoben; 2) Körperbasis: „Für diese Dyaden ist eine Körperbasis konstitutiv und für deren Gelingen, dass dieses Konstitutionsverhältnis von den Beteiligten anerkannt ist“; 3) Vertrauensbildung auf der Grundlage der Bedingungslosigkeit durch praktischen Vollzug: „Vertrauen stellt sich in diffusen Sozialbeziehungen dadurch her, dass es bedingungslos vollzogen wird“; und 4) generalisierte wechselseitige Affektbesetzung: „Die wechselseitige Bindung in diesen Beziehungen beruht auf einer generalisierten wechselseitigen Affektbesetzung, die lange Zeiten der Trennung überdauert“ (ebenda 88). „Diese vier Struktureigenschaften fügen sich zu dem zusammen, was man die Nicht-Substituierbarkeit des Personals in diffusen Sozialbeziehungen nennen kann“ (ebenda) und was genau den Unterschied zu spezifischen Sozialbeziehungen markiert, in denen sich Personen als Rollenträger, Vertragspartner oder Marktteilnehmer begegnen. In diesen Funktionen sind sie nämlich prinzipiell austauschbar. Neben diesen strukturellen Gemeinsamkeiten von familialen Beziehungen haben wir es innerhalb der Kernfamilie dennoch mit zwei gegensätzlichen Typen von familialen Dyaden zu tun: „Für den ersten Typ, die Gattenbeziehung, ist konstitutiv, dass die Körperbasis eine sexualisierte sein muss in dem Sinne, dass die libidinöse Reziprozität des Sexualverkehrs darin die vorherrschende Praxis sein sollte. Für den anderen Typus, die Eltern-Kind-Beziehung, ist das Gegenteil der Fall, jegliche sexuelle Praxis gilt als Missbrauch und ist tabu. Die Partner dieser Beziehung sind die Inzestuösen und dem Inzest-Tabu Unterliegenden ersten Grades.“ (ebenda 88/89) Die Verzahnung dieser beiden – bezogen auf die Sexualität – gegensätzlichen Dyadentypen in der Gestalt der Kernfamilie führt aufgrund der gleichzeitigen

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Gemeinsamkeit der Diffusität aller drei Dyaden dazu, dass – wie oben grafisch dargestellt – „jede Position in dieser Triade in einer dreifachen, jeweils eigenständigen und nicht auf die beiden anderen Modi rückführbaren Weise sich in der Wechselbeziehung zu den beiden anderen Positionen in einer Spannung der sich widersprechenden Ausschließlichkeit befindet, aus der eine nicht stillstellbare Dynamik entborgen wird.“ (ebenda 89) Diese Gleichzeitigkeit von Aufeinanderbezogensein und sich widersprechender Ausschließlichkeit innerhalb der familialen Triade führt zu drei grundlegenden Strukturdynamiken, die die Entwicklung des Kindes zu einem autonomen Subjekt vorantreiben: Die erste Dynamik entspringt aus der Erfahrung des Kindes, den jeweils präferierten Elternteil mit dem anderen Elternteil teilen zu müssen (Strukturkonstellation 1). Diese Konstellation erzwingt aus der Sicht des Kindes eine Ablösungsdynamik bzw. verhindert, dass das Kind im symbiotischen Beziehungsmodus verharrt. Die zweite Dynamik entsteht, weil das Kind mit den widersprüchlichen, weil jeweils einen Ausschließlichkeitsanspruch erhebenden Anforderungen „des weiblichen und mütterlichen Praxismodells einerseits und des männlichen und väterlichen Modells andererseits konfrontiert“ (ebenda 98) wird (Strukturkonstellation 2). Dadurch entsteht für das Kind ein unausweichlicher Entscheidungskonflikt, weil diese Entscheidung „tendenziell mit einer Abkehr von einem geliebten „Objekt“ in einer der beiden Dyaden verbunden ist und deshalb auch Schuld mit sich bringt.“ (ebenda) Die subjektive Aneignung dieser Schuld ist einer der ersten Schritte zu einem verantwortlichen und eigenständigen Handeln. Schließlich entwickelt sich die dritte Dynamik aus der Erfahrung des Kindes, aus der Gattenbeziehung gänzlich ausgeschlossen zu sein (Strukturkonstellation 3). Um so lebendiger das Kind dabei die affektive Solidarität und das sexuelle Begehren in der Gattenbeziehung erfährt, um so schmerzhafter muss es diesen Ausschluss einerseits erleben. Andererseits verfügt es damit gleichzeitig über ein um so deutlicher konturiertes und attraktiveres Vorbild dafür, wie es später als Erwachsener selbst eine Beziehung mit einem heterosexuellen Partner leben kann. Dadurch entsteht ein großer Anreiz für das Kind, erwachsen zu werden. Man sieht bereits an dieser Stelle, dass jede der drei genannten Strukturkonstellationen ihre Dynamik nur entfalten kann, wenn es nicht zu einer Verfestigung der wechselseitigen Ausschließlichkeitsansprüche innerhalb einer praktizierten Dyade kommt. Das bedeutet, eine praktizierte Dyade muss sich auch immer wieder relativ leicht von dem jeweils ausgeschlossenen Dritten stören lassen bzw. muss für diesen Dritten offengehalten werden, ansonsten wäre dieser Dritte sehr schnell von einem permanenten Ausschluss bedroht. So kann sich die Dynamik der Strukturkonstellation 1 (a und b) und damit die

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Erfahrung des Kindes9, einen geliebten Elternteil mit dem jeweils anderen Elternteil teilen zu müssen, nur dann einstellen, wenn nicht einer der beiden Eltern in einer praktizierten Dyade mit dem Kind versucht, von sich aus – eben aufgrund einer gestörten Paarbeziehung – den Partner aus der Eltern-Kind-Beziehung auszuschließen und eine Exklusiv-Beziehung zu dem Kind aufzubauen, in dem dieses zum Partnerersatz wird. Ebenso kann die in Strukturkonstellation 2 dargestellte Entscheidungssituation ihre für das Kind autonomiefördernde Dynamik nur dann entfalten, wenn das Kind von den Eltern nicht – wie es nicht selten im Falle einer bevorstehenden Scheidung vorkommt – in die tendenziell traumatisierende Situation gebracht wird, sich wirklich zwischen einem Elternteil entscheiden zu müssen. Vielmehr müssen die im Laufe der Entwicklung des Kindes von seiner Seite ausgebildeten und auch wechselnden Präferenzen für jeweils einen Elternteil gleichzeitig vonseiten beider Eltern von deren unkündbaren Hingabe an das Kind begleitet bzw. getragen sein. Das heißt, der vom Kind etwas vernachlässigte Elternteil darf sich deshalb nicht seinerseits vom Kind abwenden, da das Kind sonst in eine zu große Abhängigkeit zum bevorzugten Elternteil geraten oder in Loyalitätskonflikte gebracht würde. Dies ist aber nur auf der Grundlage einer funktionierenden Gattenbeziehung möglich, da ansonsten die Eltern anfangen, untereinander um die Zuneigung des Kindes zu konkurrieren und dabei jeweils den anderen Elternteil gegenüber dem Kind abzuwerten. Ebenso kann die den Ausschluss des Kindes aus der Gattenbeziehung darstellende Strukturkonstellation 3 nur dann ihre Dynamik vollgültig entfalten, wenn diese Gattenbeziehung durch Praxis so gefüllt bzw. lebendig ist, dass sie den Versuchen vonseiten des Kindes, den gegengeschlechtlichen Elternteil vor dem Hintergrund sexueller Fantasien für sich zu gewinnen, keine Angriffsfläche bietet. Gleichzeitig muss natürlich mit diesem konsequenten Ausschluss des Kindes aus der auf Sexualität basierenden Paarbeziehung die bedingungslose Hinwendung beider Elternteile zum Kind auf der Ebene der ­Eltern-Kind-Beziehung einhergehen. Ansonsten hätte sich die familiale Triade als solche noch gar nicht konstituiert bzw. hätte das Paar den Übergang zur Familie (noch) gar nicht vollzogen. Alle drei Strukturkonstellationen können also ihre für das Kind autonomiefördernde Dynamik nur unter der Bedingung einer funktionierenden Gattenbeziehung entfalten. Dabei kommt der Gattenbeziehung die entscheidende

9Ich

betrachte die drei Strukturkonstellationen zunächst nur von der Position des Kindes aus, weil aus meiner Sicht – entgegen der Auffassung von Oevermann – diese Konstellationen für die Elternpositionen nur eingeschränkt Gültigkeit haben. Zur ausführlichen Begründung siehe ­Fertsch-Röver 2017: 29–56.

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Funktion zu, einer Verfestigung bzw. Verabsolutierung einer Eltern-Kind-Dyade entgegen zu wirken und damit ein Auseinanderfallen der familialen Triade zu verhindern. Diese Funktion wird erfüllt, wenn aufgrund einer lebendigen und durch Praxis gefüllten Gattenbeziehung die Eltern nicht um die Zuneigung des Kindes konkurrieren müssen und sie damit dem Kind gleichzeitig auch keine Angriffsfläche hinsichtlich seiner Versuche bieten, einen Elternteil im Sinne der Ausschließlichkeitslogik ganz für sich zu gewinnen. Die Skizzierung der drei Grunddynamiken zeigt also, dass die Ausschließlichkeitslogik in bzw. zwischen den beiden Eltern-Kind-Dyaden erheblich abgemildert sein muss, damit sich innerhalb der ödipalen Triade die für das Kind autonomiefördernde Strukturdynamik vollständig entfalten kann. Da auch Oevermann selbst an einer Stelle10 einer funktionierenden, lebendigen Gattenbeziehung eine ganz entscheidende Funktion für eine voll ausgebildete ödipale Strukturdynamik zuweist, stellt sich die Frage, ob die zentralen, die Autonomie des Kindes befördernden Strukturdynamiken sich innerhalb einer synchronen Betrachtungsweise11 auf die familiale Triade angemessen beschreiben lassen, in der diese Dynamiken vor allem in einem für alle Dyaden gleichermaßen geltenden wechselseitigen und damit sich widersprechenden Ausschließlichkeitsanspruch verankert werden. Oder ob für ein ausreichendes Verständnis und eine angemessene Beschreibung der ödipalen Strukturdynamik eher eine – auch bei Oevermann vorhandene – diachrone Sichtweise, die die Unterschiede der beiden Dyadentypen (Gatten- und Eltern-KindBeziehung) stärker herausarbeitet, in den Vordergrund gestellt werden muss.

10„Von

hierher gesehen wird die Bedeutung der affektiven Solidarität zwischen den Gatten für die Sozialisation des Kindes drastisch deutlich. Es macht nämlich einen Unterschied ums Ganze, ob man sich als Elternteil in eine praktizierte Dyade zwischen dem Kind und dem Gatten, respektive anderen Elternteil hineindrängt, ohne die Gattenbeziehung mobilisiert zu haben, oder vermittelt über die Aktualisierung der Gattenbeziehung. Das ist genau der Unterschied zwischen einer Familiendynamik, in der die Eltern sich gewissermaßen mit der Munitionskiste der gelungenen Beziehung zum Kind bekriegen, und einer Familiendynamik, in der die Eltern sich den Kindern immer auf dem Hintergrund der Erfahrung einer lebendigen Gattenbeziehung, also ödipal unter der Bedingung der Markierung der Potenzialität der Gattenbeziehung gegenüber dem Kind [Kurs. Herv. v. Verf.] – und das heißt: in lebendig gehaltener Gattenaffektivität – auch dyadisch zuwenden. Im ersten Fall konkurrieren die Eltern als Eltern miteinander, ohne sich als Gatten thematisieren zu können, im zweiten Fall sehen sie sich, wenn sie mit den Kindern interagieren, nicht nur als Eltern, sondern immer auch zugleich als Gatten.“ (ebenda: 94) 11Eine synchrone Betrachtungsweise der familialen Triade, die die Position der Eltern und die des Kindes in erster Linie als symmetrische konzipieren und Differenzen in den Hintergrund stellen, zeichnet vor allem die systemische Sichtweise aus.

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Anders formuliert geht es bei dieser Frage um den Geltungsbereich bzw. die Reichweite des Ausschließlichkeitsparadigmas – also das, was Oevermann die Generalisierung des Monogamie-Arguments nennt – bei der Bestimmung der zentralen Strukturdynamik der ödipalen Triade. Denn dass Oevermann diese Dynamik vor allem in der Ausschließlichkeitslogik diffuser Sozialbeziehungen verortet, zeigt noch mal folgendes Zitat: „Es sollte noch einmal die zentrale Prämisse über den Ausschließlichkeitsanspruch diffuser Dyaden betont werden, die hinter dieser ganzen Argumentation steht. Sie impliziert eine Art Generalisierung des „Monogamie“-Arguments: Dyaden erfüllen ihr zufolge ihre Funktion und ihr Strukturmodell idealtypisch immer nur dann, wenn sie einen Dritten aus der aktuellen Reziprozität ihres Vollzugs ausschließen. Das ist bei den basalen Aktualisierungen der beiden Grundtypen von Dyaden, der ­Eltern-Kind-Beziehung und der Gattenbeziehung auch tatsächlich der Fall: In den jeweils ganz anderen Verschmelzungen der akuten Symbiose und der akuten Verliebtheit.“ (ebenda: 97)

Für die Bestimmung der Triangulierungsaufgabe der Eltern, hier des Vaters, hat die Frage, ob der wechselseitige Ausschließlichkeitsanspruch – und damit der Ausschluss des jeweiligen Dritten(!) – für beide Dyadentypen gleichermaßen gilt, eine zentrale Bedeutung. Denn aus der synchronen Betrachtungsweise auf die familiale Triade lässt sich nur schwer erkennen bzw. ableiten, welche Transformationsleistung das Paar beim Übergang zur Elternschaft leisten muss, um dem Kind die dynamischen Strukturen zur Verfügung zu stellen, die seine Entwicklung zu einem autonomen Subjekt befördern. Danach scheint es ausreichend, dass jedes Mitglied der familialen Triade der gleichen Ausschließlichkeitslogik folgt und eine für das Kind schädliche Verabsolutierung einer der drei Dyaden allein durch die Gegenseitigkeit der Ansprüche verhindert wird: „Die Verabsolutierung einer diffusen Einzelbeziehung ruft zwangsläufig die Gegenreaktion der anderen Beziehungen hervor, die mit gleichem Ausschließlichkeitsanspruch gefordert werden. Daher wird die Ausschließlichkeitstendenz jeder Einzelbeziehung durch jene der anderen Beziehungen automatisch [!] eingegrenzt.“ (Oevermann/Konau 1980: 37). Aus dieser synchronen Betrachtungsweise heraus lässt sich keine Triangulierungsaufgabe für die Eltern im Übergang zur Elternschaft formulieren, an der sie auch scheitern können. Deshalb soll anhand der folgenden Sequenzanalysen aus mit drei werdenden und dann gewordenen Vätern geführten Interviews gezeigt werden, dass die Konstituierung der ödipalen Strukturdynamik von beiden Eltern eine Neuausrichtung bzw. Neupositionierung erfordert. Diese Neupositionierung – so zeigen die

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Sequenzanalysen – erfordert vom Vater eine Doppelbewegung: eine Ausrichtungsund eine Abgrenzungs- bzw. Dezentrierungsbewegung.

3 Sequenzanalysen Im Rahmen der Untersuchung wurden mit drei Vätern12 jeweils zwei Interviews durchgeführt – das erste Interview im dritten Trimenon der Schwangerschaft, das zweite Interview zwischen dem dritten und fünften Monat nach der Geburt des Kindes –, die sequenzanalytisch mit der Methode der Objektiven Hermeneutik ausgewertet wurden. Die Väter wurden alleine interviewt, um ihnen Raum zu geben, auch als krisenhaft erlebte Aspekte des Vaterwerdens zu thematisieren. Die Interviews wurden sehr offen geführt. Neben der allgemeinen Frage nach Veränderungen während der Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes gab es einzelne Themenbereiche13, die der Interviewer ansprach, sofern die (werdenden) Väter dies nicht von sich aus taten. Ansonsten wurde bewusst die offene Form des Interviews beibehalten, damit sich darin ausreichend abbilden kann, was die Männer im Zusammenhang mit dem Vaterwerden beschäftigt und wie sie dies thematisieren.14 Methodische Bedenken, ob sich Triangulierungsprozesse überhaupt in Interviews hinreichend niederschlagen und anhand dieses Materials rekonstruiert werden können, haben sich im Verlauf der Sequenzanalysen als gegenstandslos erwiesen. Dass der Zugang zu Triangulierungsprozessen und sogenannten triadischen Kompetenzen aufseiten der Eltern über Interviews sogar besser gelingen kann, als über Beobachtungen, zeigen die Ergebnisse der beiden groß angelegten prospektiven Longitudinalstudien der Forschungsgruppe um Kai von Klitzing. Diese stellte fest: „Die triadischen Konstellationen waren auf der Ebene der [in Interviews erhobenen; Anm. d. Verf.] elterlichen Repräsentationen stabiler als auf der Ebene des beobachtbaren Interaktionsverhaltens. Sie sagten zudem die Entwicklungen besser voraus als die Ergebnisse der frühen Interaktionsbeobachtungen.“ (Klitzing 2002: 877).

12Die Väter

wurden in einem Geburtsvorbereitungskurs für die Untersuchung gewonnen. gehörten folgende Themen: Erwünschtheit der Schwangerschaft, Partnerschaft, berufliche Situation, Geburt des Kindes und Beziehung zum Kind. 14Am Ende des ersten Interviews wurden noch biografische Daten der Interviewees erfragt, auf die hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden kann. 13Dazu

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4 Erstes Interview mit Herrn Maus (1–2)  I: „* Ja.* (.) Okay, also mich würde halt sehr interessieren (.) was sich seit der Schwangerschaft beziehungsweise seit der Aussicht Vater zu werden für Sie bisher verändert hat?“15 (3)  V: „Mhm (….) es is, äh, im Moment isses sag mal für mich noch schwer zu greifen einfach, …“ Der Interviewer zielt mit seiner Eingangsfrage auf mögliche eingetretene Veränderungen bzw. Erfahrungen im Erleben des werdenden Vaters von dem Zeitpunkt ab, an dem die Schwangerschaft festgestellt wurde, bis heute, also dem Zeitpunkt des Interviews. Bezieht man in der Antwort des Interviewee das Subjekt des Satzes, das Personalpronomen es, auf die Eingangsfrage, muss sich dieses auf das Vaterwerden beziehen. Es ist hier also erst einmal allgemein das Vaterwerden – und die dadurch möglicherweise induzierten Veränderungen –, was für Herrn Maus noch schwer zu greifen ist. Dies überrascht zunächst nicht, da die Schwangerschaft für den Mann – im Unterschied zur Frau – erst mal eine abstrakte, nicht leibgebundene Fremderfahrung ist, so lange das Kind nicht geboren ist. Schaut man sich weiter an, in welcher Form der propositionale Gehalt der Aussage hier realisiert wird, fällt auf, dass der Interviewee die Aussage des Schwergreifenkönnens mit zwei bzw. drei Relativierungen versieht: „im Moment“, „sag mal“ und „für mich“. Während die letzte Relativierung „für mich“ angemessen erscheint, da der Interviewer ja nach den persönlichen Erfahrungen von Herrn Maus fragt und nicht nach allgemeinen Aussagen bzw. Meinungen zum Vaterwerden, ist dagegen die zeitliche Relativierung „im Moment“ im vorliegenden Zusammenhang erklärungsbedürftig, zumal sie dem Interviewee anscheinend wichtig ist, da er seine Aussage abbricht, um das „im Moment“ an den Anfang zu stellen – und damit zu betonen –, obwohl er seine Aussage auch ohne diese Korrektur hätte grammatisch korrekt zu Ende führen können: „Es ist im Moment sag mal für mich noch schwer zu greifen.“ Die zeitliche Bestimmung

15Notation

der Interviews: (.) = einsekündige Pause (1 Punkt = 1  s); | = sehr kurze Pause, d.h. merkliche Unterbrechung des Sprechflusses; [ ] = gleichzeitig gesprochene Redeteile; (I: …) = Vom Interviewer eingeschobene Bemerkung; ( ) = nicht zu entziffernde Bandaufnahme; (Wort) = fragliche Entzifferung der Bandaufnahme; ----- = unterstrichen: vom Sprecher betontes Wort; ! ! = Anfang und Ende eines laut gesprochenen Redeteils; * * = Anfang und Ende eines leise gesprochenen Redeteils; wi- = Wortabbruch.

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„im Moment“ ist immer auf den kurzen Zeitpunkt der Gegenwart, auf das gegenwärtige Erleben, auf den Augenblick bezogen. Sie impliziert, dass es im nächsten Moment schon ganz anders sein kann. Das heißt, eine stärkere zeitliche Einschränkung bzw. Relativierung einer Aussage als durch die Zeitdeixis „im Moment“ ist kaum möglich. Diese Relativierung macht aber angesichts des fortgeschrittenen Stadiums der Schwangerschaft in zweifacher Hinsicht zunächst keinen Sinn: Einmal weil der Interviewer sich mit seiner Frage nach möglichen Veränderungen explizit auf den Zeitraum von der Feststellung der Schwangerschaft bis zur aktuellen Gegenwart bezieht. Da das Interview vier Wochen vor dem offiziellen Geburtstermin stattfindet, kann man davon ausgehen, dass der Interviewee seit mindestens sechs Monaten weiß, dass er Vater werden wird. Diese Zeit wird aber durch die Einschränkung der Nicht-Greifbarkeit auf den aktuellen Moment ausgeblendet bzw. auf diesen Moment verkürzt. Zum anderen suggeriert der Interviewee mit der Relativierung „im Moment“, dass das Vaterwerden schon im nächsten Moment für ihn greifbarer werden könnte. Dann stellt sich aber die Frage, wodurch sich die Konkretisierung des Vaterwerdens plötzlich einstellen sollte, wenn dies auch nach acht bis neun Monaten Schwangerschaft für den Interviewee noch nicht der Fall ist. Die Einschränkung der erlebten Abstraktheit der Schwangerschaft auf den aktuellen Moment lässt sich also nicht aus der Sache selbst ableiten. Von daher muss die zeitliche Relativierung an dieser Stelle eine legitimatorische Funktion haben. Herr Maus muss die Abstraktheit, in der sich bisher die Schwangerschaft für ihn darstellt, zu einem kurzen Moment relativieren, weil dies anscheinend nicht seinen Normvorstellungen eines lebendigen und empathischen Vaters entspricht. Noch deutlicher wird dies, wenn man die Zeitdeixis „im Moment“ durch die dem hier vorliegenden Sachverhalt angemessenere zeitliche Präposition „bisher“ ersetzen würde: „Bisher ist es für mich noch schwer zu greifen“. In dieser Formulierung würde auf den vergangenen, bis in die Gegenwart hineinreichenden Erfahrungszeitraum Bezug genommen. Für diesen Zeitraum würde dann eindeutig die Abstraktheit des Vaterwerdens festgestellt. Dabei würde aber gleichzeitig offengelassen, ob und wann sich die Konkretion des Vaterwerdens einstellen wird. Das heißt, die Verwendung der zeitlichen Präposition „bisher“ wäre hier Ausdruck einer souveränen Haltung gegenüber der offenen Zukunft, die der Interviewee anscheinend nicht einnehmen kann. Dass der Interviewee die bisherige Abstraktheit des Vaterwerdens nicht einfach feststellen kann, drückt sich auch in der zweiten Relativierung aus – dem „sag mal“. Diese Wendung ist eine verkürzte Form für „sag ich mal“. Die ausdrückliche Explizierung der Grundform jeglichen Sprechhandelns, des Sagens, bedeutet zunächst eine Hervorhebung der Sprechhandlung, durch die diese etwas zusätzlich Verbindliches oder Beschwörendes erhält. Das gleich im

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Anschluss verwendete „mal“ – als Abkürzung für „einmal“ – hebt diese Verbindlichkeit aber wieder ein Stück weit auf, weil „einmal“ die Möglichkeit eines „anderen Mals“ präsupponiert und damit dem Vollzug des Sagens eine gewisse Willkür oder Beliebigkeit gibt. „Man kann [deshalb; der Verf.] sagen, dass durch das »mal« die Selbst-Explikation einer Sprechhandlung des »Sagens« den Charakter eines »Einen Vorschlag Machen« bzw. »Etwas Vorschlagen« erhält“ (Oevermann 1993: 145). Indem Herr Maus seiner Aussage sprachpragmatisch den Status eines Vorschlages zukommen lässt, signalisiert er, dass er auf diese Aussage nicht verbindlich festgelegt werden möchte. Es lässt sich daher als erste Fallstrukturhypothese formulieren, dass für Herrn Maus die Schwangerschaft seiner Frau auch vier Wochen vor dem erwarteten Geburtstermin noch eine abstrakte Fremderfahrung ist, die bei ihm bisher zu keinem greifbaren Veränderungsprozess geführt hat. Gleichzeitig kann er die Abstraktheit, in der sich die Schwangerschaft für ihn darstellt, nicht souverän feststellen, sondern hält sie aus irgendeinem Grund für legitimationsbedürftig. Der Interviewee beschließt nun seine Feststellung mit der Wendung „einfach“. Als adverbiale Bestimmung hat das „einfach“ hier die Bedeutung von „ganz einfach“ bzw. „kurzum“. Es soll deutlich machen, dass die mit diesem Partikel versehene Aussage nicht weiter analysierbar ist, bzw. nicht weiter hinterfragt werden kann. Der Sprecher markiert damit, dass er seine Aussage für nicht weiter begründungsbedürftig, sondern in irgendeinem Sinne für selbstevident hält. Insofern hat das „einfach“ hier nicht eine gesprächseröffnende, sondern tendenziell eine gesprächsabschließende Funktion. Dies steht nun im merkwürdigen Widerspruch zu der oben rekonstruierten und deutlich erkennbaren Tendenz des Interviewees, sein Erleben der Schwangerschaft für begründungsbedürftig zu halten. Indem die vom Interviewee vorgenommenen Relativierungen seiner Aussage explizit den Status von etwas Vorläufigen geben, drücken sie einen Zweifel bzw. einen Vorbehalt gegenüber der eigenen Formulierung aus. Dagegen markiert der Interviewee mit der Verwendung des Modalpartikels „einfach“ den Anspruch, die Frage des Interviewers klar und abschließend beantwortet zu haben. Da die adverbiale Bestimmung „einfach“ am Ende der Aussage steht und nicht, wie es der Satzaufbau fordern würde, vor dem Verb, kann man als vorläufige Hypothese formulieren, dass die Schwierigkeiten, die Herr Maus mit der Feststellung der Abstraktheit des Vaterwerdens hat und die in dem deutlichen Zögern gleich zu Beginn und in den vorgebrachten Relativierungen manifest werden, durch den nachgeschobenen Partikel „einfach“ nachträglich wieder relativiert bzw. rückgängig gemacht werden sollen. Anders gesagt: Der Interviewee versucht damit, seine Unsicherheit bezüglich des Erlebens der Schwangerschaft in eine souveräne Haltung umzustilisieren.

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(3–4)  V: „…, einfach deshalb, weil …“ Herr Maus knüpft nun in Form einer Wiederholung direkt an das „einfach“ an und leitet damit eine Begründung für seine Feststellung ein. Dies ist an sich schon bemerkenswert, da ja das erste „einfach“ gerade zum Inhalt hatte, dass der Interviewee eine weitere Begründung für die Nichtgreifbarkeit des Vaterwerdens nicht für nötig hält. Indem Herr Maus also direkt im Anschluss an die behauptete Selbstevidenz seiner Aussage doch noch eine Begründung für diese Aussage ankündigt, relativiert er sofort wieder diesen Anspruch auf Selbstevidenz und zeigt sich in der Feststellung der Abstraktheit der Schwangerschaft doch nicht so souverän, wie es die Verwendung des „einfach“ suggerieren sollte. Es zeichnet sich also bereits an dieser Stelle ab, dass Herr Maus für sich bisher keine klare Position gegenüber dem eigenen Vaterwerden einnehmen kann. Was könnte nun von Herrn Maus als angekündigte basale und damit evidente Begründung für das bisherige Nichtgreifenkönnen des Vaterwerdens genannt werden? Der mit Abstand zwingendste und plausibelste Grund zu diesem Zeitpunkt wäre hier wohl die Tatsache, dass das Kind noch nicht geboren ist. Stattdessen fährt der Interviewee wie folgt fort: (3–4)  V  : „…, einfach deshalb, weil, äh, gestern Abend haben wir uns drüber unterhalten, dass es, auf der einen Seite ist die Schwangerschaft jetzt so ziemlich im letzten Stadium, …“ Anstatt die Ankündigung, den sozusagen auf der Hand liegenden Grund zu nennen, einzulösen, leitet Herr Maus zu einer Erzählung ein, die sich auf ein Ereignis vom Vortage bezieht. Selbst wenn man annimmt, dass hier kein thematischer Wechsel erfolgt, sondern die eingeleitete Erzählung der besseren Illustration des angekündigten Grundes dienen soll, kann man allein schon aufgrund der Struktur der Äußerung sagen, dass die vom Interviewee behauptete Selbstevidenz der Nichtgreifbarkeit des Vaterwerdens spätestens hier vollständig konterkariert wird. Während nämlich schon das zögerliche „äh“ und der vollständige Satzabbruch der behaupteten Einfachheit bzw. Klarheit des angekündigten Grundes widersprechen, zeigt spätestens der Versuch, die vermeintlich klare und offensichtliche Begründung für die Abstraktheit des Vaterwerdens noch einmal durch eine weitschweifige Erzählung zu illustrieren, dass diese Begründung für Herrn Maus in dieser Klarheit gar nicht vorliegt bzw. er große Schwierigkeiten hat, sie zu benennen. Nach der Einleitung zu der Erzählung über das Gespräch vom Vorabend erfolgt wieder ein Abbruch. Statt die Erzählung fortzusetzen thematisiert

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Herr Maus die Schwangerschaft innerhalb der formalen Struktur einer ­Pro-und-Kontra-Argumentation (Adversativopposition: „Auf der einen Seite …“). Bereits darin drückt sich eine Distanz zum Geschehen aus, die über die – gleich zu Anfang festgestellte – strukturelle Abstraktheit des Vaterwerdens hinausgeht. Denn der Interviewee gibt hier eine argumentative Ausführung über etwas, was ihm existenziell sehr nahegehen müsste. Diese Distanz findet sich auch in der Formulierung „… ist die Schwangerschaft jetzt so ziemlich im letzten Stadium …“ wieder. Hier nimmt der Interviewee gegenüber der Schwangerschaft seiner Frau tendenziell die objektivierende Perspektive des Arztes ein, der die Schwangerschaft vor allem unter dem Blickwinkel eines biologischen Entwicklungsprozesses betrachtet. Darüber hinaus erhält die Schwangerschaft durch die Wendung „im letzten Stadium“ eine negative Konnotation. „Im letzten Stadium“ muss sich immer auf einen Entwicklungsprozess beziehen, der zum einen einen erkennbaren Anfang und ein erkennbares Ende hat und in seiner Entwicklungsbewegung einer gewissen Eigenlogik folgt. Dies trifft auf die Schwangerschaft noch zu. Zum anderen weist diese Formulierung aber auf den kurz bevorstehenden und endgültigen (!) Abschluss dieser Entwicklung hin, denn eine Steigerungsform des Adjektivs „letzten“ gibt es nicht. Hinter dem „Letzten“ kann nicht noch ein anderes „Letztes“ kommen. Auch das „Allerletzte“ ist nur ein Pleonasmus, der die Endgültigkeit des Letzten noch einmal in dramatisch übersteigerter Form zum Ausdruck bringt, ohne ihr inhaltlich etwas Neues hinzuzufügen. Innerhalb der Sequenzialität des Lebens stellt der Abschluss eines Entwicklungsprozesses aber gleichzeitig immer auch einen Übergang zu etwas Neuem dar, was in dem hier vorliegenden Falle des Übergangs von der Schwangerschaft zur Geburt des Kindes ganz augenscheinlich ist. Dieses Neue ist nun in der Formulierung „im letzten Stadium“ in keiner Weise thematisch. Anders gesagt: Das Ende des Entwicklungsprozesses der Schwangerschaft wird hier nicht im Hinblick auf seine zukunftseröffnende Dimension thematisiert, vielmehr erscheint in dieser Formulierung die Zukunft endgültig geschlossen.16 Kontrastiv dazu wäre zum Beispiel die Formulierung „Die Geburt steht kurz

16Das

würde auch erklären, warum diese Wendung in erster Linie für die Beschreibung des Entwicklungsstandes einer Krankheit gebraucht wird. Siehe dazu: Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 1995 und DUDEN, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 1999 und BROCKHAUS WAHRIG Deutsches Wörterbuch, 1983.

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bevor“ denkbar. Hier wäre das Ende der Schwangerschaft im Hinblick auf das sich dadurch eröffnende Neue thematisiert, auf die Geburt des neuen Lebens, also auf das Eigentliche, worauf der Entwicklungsprozess der Schwangerschaft von vornherein verweist. Denn gerade für den Vater, dem im Unterschied zur Mutter die leibliche Anbindung an den Fötus während der Schwangerschaft fehlt, kann die Schwangerschaft nur eine notwendige Vorphase sein, mit deren Abschluss durch die Geburt das neue Leben eigentlich erst beginnt. In der Formulierung von Herrn Maus dagegen schließt sich mit dem Ende der Schwangerschaft bzw. mit der Geburt des Kindes die Zukunft. Endgültig wird die Zukunft einer Lebenspraxis mit deren Tod geschlossen. Die Sequenzialität des Lebens kommt hier zu ihrem Ende. Die Wendung „… ist die Schwangerschaft jetzt so ziemlich im letzten Stadium, …“ deutet also daraufhin, dass Herr Maus die Geburt des Kindes – die basalste Form der Erzeugung des Neuen und damit der Eröffnung von Zukunft – als etwas Bedrohliches erlebt, was sich nicht abwenden lässt. (5–6)  V  : „…, die Tina kriegt jetzt ja im spätestens, ja, Mitte September das Baby,…“. Herr Maus konkretisiert nun zeitlich seine Aussage hinsichtlich des letzten Stadiums der Schwangerschaft. Dabei fällt auf, dass in der Formulierung des Interviewee ausschließlich seine Frau das Baby bekommt. In dieser Formulierung ist in keiner Weise antizipiert, dass dieses Baby auch das Baby von Herrn Maus sein wird. Dies wird deutlicher, wenn man die Aussage mit anderen möglichen Formulierungen kontrastiert: Herr Maus hätte z. B. statt „die Tina“ „meine Frau“ sagen können. Dann wäre der Bezug zum Kind indirekt über die Gattenbeziehung hergestellt gewesen, ohne den Unterschied zu ignorieren, dass nur die Frau das Kind gebären kann. Oder der Interviewee hätte eine neutrale Formulierung wie „Das Kind soll spätestens Mitte September zur Welt kommen“ wählen können. Insofern drückt sich in der Form der Aussage auch hier eine gewisse Distanzierung von Herrn Maus zur Schwangerschaft seiner Frau aus. Diese Distanzierung bezieht sich allerdings hier nicht nur auf das kommende Kind, sondern auch auf die Gattenbeziehung. Die bisherige Rekonstruktion hat ergeben, dass für Herrn Maus die bevorstehende Geburt des gemeinsamen Kindes mit Ängsten verbunden ist, die er sich aber anscheinend nicht offen eingestehen kann. Das „Nichtgreifenkönnen“ drückt vor diesem Hintergrund auch eine diffuse Besorgnis von Herrn Maus aus, wie sich für ihn wohl das Leben nach der Geburt des Kindes verändern wird. Gleichzeitig ist auch eine Distanz in der Gattenbeziehung zu erkennen, sodass auch eine

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über die Gattenbeziehung vermittelte lebendige Thematisierung der Schwangerschaft als Vorbereitung auf die zukünftige Vaterschaft bisher nicht sichtbar ist. Es ist also bei diesem werdenden Vater weder eine Ausrichtungsbewegung hin zum kommenden Kind noch zu seiner Frau zu erkennen. Herr Maus (I/35-41):   „… es wird gesagt, ehm, (.) du übernimmst ne wahnsinnige Verantwortung halt einfach und äh, du bist jetzt mit mal, (.) äh, nicht mehr | in Anführungsstrichen | mh für dich allein verantwortlich, sondern neben deiner Frau auch für das Kind halt als solches; aber ich bin auf der anderen Seite von jeher (.) aus, aus meiner Sicht jemand gewesen, der durchaus bereit gewesen ist Verantwortung zu übernehmen, ohne sich äh, konkret jetzt da Sorgen drum zu machen oder Gedanken drum zu machen, …“Wir brechen an dieser Stelle die Feinanalyse ab und gehen im Rahmen des ersten Interviews noch auf eine Sequenz ein, die Auskunft über die Selbstpositionierung von Herrn Maus innerhalb der zukünftigen familialen Triade gibt. Diese Aussage von Herrn Maus stellt – auf der propositionalen Ebene – den Versuch dar, sich als Dritten, der Verantwortung für die gesamte Familie übernimmt, zu positionieren. Doch in der pragmatischen Ausführung gelingt diese Selbstpositionierung nicht. Zunächst bekommt durch die Gegenüberstellung von öffentlicher Meinung („es wird gesagt“) und seiner Selbsteinschätzung bzw. Selbsterklärung („aber ich bin auf der anderen Seite …“) seine Aussage den Charakter einer öffentlichen Stellungnahme. Dieser Charakter wird noch durch die Wendung „jemand …, der durchaus bereit gewesen ist Verantwortung zu übernehmen“ unterstrichen, denn eine solche Formulierung macht nur Sinn im Kontext öffentlichen Handelns, wenn jemand Verantwortung qua eines Amtes oder einer Funktion innehat und somit eine formale Verantwortung trägt, die sich nicht nur auf das eigene Handeln beschränkt, sondern auf den ganzen Arbeitsbereich, für den derjenige zuständig ist. Der Sprechakt „Ich bin bereit, diese Verantwortung zu übernehmen“ kann deshalb in einem solchen Kontext durchaus eine Deklaration im Sinne eines illokutionären Aktes sein. Bezogen auf die Familie bzw. konkreter auf das Vaterwerden würde eine deklarative Formulierung wie „Ich bin bereit, für unser gemeinsames Kind Verantwortung zu übernehmen“ dagegen keinen Sinn machen, weil die Verantwortung als Vater zum einen sich nicht durch eine Position innerhalb einer formalen Organisation konstituiert, sondern durch das Handeln in einer diffusen Sozialbeziehung – hier konkret

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durch den Zeugungsakt. Zum anderen ist das Innehaben der Verantwortung – wenn das Kind bereits gezeugt ist – nicht mehr Gegenstand einer Entscheidung, sondern hat sich mit dem Sexualakt konstituiert, der zur Befruchtung der Eizelle geführt hat. Gegenstand einer Entscheidung ist dann nur noch, ob diese Verantwortung wahrgenommen, also in der Praxis ausgefüllt wird. Wir können also sagen, dass Herr Maus mit seiner Formulierung nur den formalen Teil der Vaterschaft17 anerkennt. Und selbst das – und damit kommen wir zum nächsten Aspekt – noch nicht konkret für das kommende Kind, da er nur über seine Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme in der Vergangenheit spricht. Der formale Charakter seiner Verantwortungsübernahme wird auch daran deutlich, dass er darin nicht konkret sein zukünftiges Kind anspricht, sondern „das Kind halt als solches“. Sich auf etwas „als solches“ beziehen, bedeutet immer eine Abstraktion vom Konkreten bzw. dessen Typisierung. Deshalb würde man diese Formulierung auch niemals im Zusammenhang mit einem Eigennamen (einer Person) verwenden. Daraus lässt sich schließen, dass Herr Maus große Schwierigkeiten hat, die Vaterposition als ganze Person auszufüllen und sich auf das zukünftige Kind auszurichten. Die defensive bzw. abwehrende Haltung gegenüber dem erwarteten Kind wird auch daran deutlich, dass er von einer Bereitschaft spricht, Verantwortung zu übernehmen. Damit wird klar, dass er diese Verantwortung als eine von außen an ihn herangetragene und nicht als eine selbstbestimmte bzw. selbstgewollte erlebt. Diese defensive Positionierung und Ausrichtung erhält durch das Konzilianz anzeigende „durchaus“ fast schon groteske Züge, weil sich damit die intendierte Selbstpositionierung des Interviewee in ihr Gegenteil verkehrt: Indem er seine Verantwortung als Vater, die er zu diesem Zeitpunkt bereits vollständig inne hat, als etwas darstellt, das er großzügig („durchaus“) bereit ist zu übernehmen, zeigt er gerade, dass er sehr unsicher darüber ist, ob er diese Verantwortung ausfüllen kann. Es ist im gesamten ersten Interview mit Herrn Maus weder eine positive Ausrichtung auf das kommende Kind noch eine stärkere Bezugnahme auf seine Frau erkennbar, sodass auch die ödipale Triade als neu entstehende Struktur im Übergang zur Vaterschaft bisher bei ihm nicht repräsentiert ist. Es stellt sich die Frage, ob sich dies mit der Geburt des Kindes ändert.

17Diesen

formalen Teil gibt es natürlich auch im Sinne der gesetzlichen Verantwortung, aber er konstituiert nicht bzw. nicht in erster Linie die Beziehung zwischen Vater und Kind. Deshalb wäre die obige Formulierung allenfalls angemessen, wenn es nur um diesen formalen Teil der Verantwortung als Vater geht, beispielsweise wenn ein Mann formal die Vaterschaft für ein nicht-leibliches Kind anerkennt.

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5 Zweites Interview mit Herrn Maus Im Unterschied zur etwas ausführlicheren Analyse des ersten Interviews soll im zweiten Interview mit Herrn Maus, das im vierten Monat nach der Geburt durchgeführt wurde, nur noch darauf fokussiert werden, ob zum einen das Vaterwerden bzw. Vatergewordensein nun für Herr Maus greifbarer geworden ist und zum anderen wie er sich nun innerhalb der ödipalen Triade positioniert. (1–5)  I : „Ja also, wie ich Sie das letzte Mal | beim letzten Interview | die erste Frage hatte ich Sie ja so nach den Veränderungen (V: Mhm) gefragt durch die Schwangerschaft und da hatten Sie geantwortet, es ist noch schwer greifbar (V: Mhm), also die Schwangerschaft und auch die Veränderungen, die damit zusammenhängen. (.) Ich würd einfach fragen, wie ist es denn jetzt? Gibt’s Sachen die, ist es jetzt greifbarer geworden oder (.) Der Interviewer nimmt hier in der Eingangsfrage direkten Bezug auf die Eingangsfrage des ersten Interviews und auf die damalige erste Antwort von Herrn Maus, dass es für ihn noch schwer zu greifen sei. Durch diese Vergegenwärtigung der Anfangssequenz des ersten Interviews, deren Sinngehalt sich im Verlauf der weiteren Interviewanalyse als verdichteter Ausdruck für das Erleben von Herrn Maus angesichts der Schwangerschaft seiner Frau erwies, und durch die daran anschließende Frage, ob es – die Vaterschaft – jetzt – wo das Kind auf der Welt ist – für Herrn Maus greifbarer geworden ist, eröffnet der Interviewer das zweite Interview mit zwei miteinander zusammenhängenden Fragestellungen: Zum einen geht es um die Frage nach der Abstraktheit bzw. Konkretion des Vaterwerdens („… ist es jetzt greifbarer geworden …“) und zum anderen um mögliche Veränderungen durch die Geburt des Kindes („… wie ist es denn jetzt?“), also um die Kontrastierung des Erlebens von Herrn Maus vor und nach der Geburt und somit – darin verknüpfen sich beide Fragestellungen – um die Frage, ist für Herrn Maus die Vaterschaft durch die Geburt des Kindes konkreter geworden? (6)  V: RÄUSPERT SICH „Es ist ohne Zweifel greifbarer geworden.“ Herr Maus übernimmt hier wieder die eher abstrakte Ausdrucksweise aus dem ersten Interview, an die der Interviewer in seiner Frage anknüpft, ohne dieser eine erkennbare konkrete Lebendigkeit entgegenzusetzen. Stattdessen verbleibt er zunächst weiterhin in der Abstraktion: „Es ist ohne Zweifel greifbarer geworden“.

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Das „ohne Zweifel“ ist eine formelle Emphase, die eher in einer Verlautbarung oder öffentlichen Stellungnahme zu finden ist. In diese Richtung geht auch die anschließende Formulierung: (6–7) 

V: „Kann man eigentlich alles äh kann man gar nicht anders sagen …“

Die Wendung „kann man gar nicht anders sagen“ benutzt man, wenn das Urteil, auf das sich diese Wendung bezieht, als normenkonform ausgewiesen werden soll bzw. die Normenkonformität im Vordergrund steht. Gleichzeitig hat sie die Form eines Zugeständnisses. Die Normenkonformität drückt sich auch darin aus, dass die beiden Formulierungen „ohne Zweifel“ und „kann man gar nicht anders sagen“ abschließenden Charakter haben. Das heißt, wie schon im ersten Interview benutzt der Interviewee gleich zu Beginn Formulierungen, die tendenziell ein Gespräch eher abschließen als es zu eröffnen, da sie jegliche Fraglichkeit, die einen Ansatzpunkt für weiteres Nachfragen sein könnte, von vornherein ausschließen. Man hat auch hier den Eindruck, Herr Maus muss mit diesen Formulierungen sein Urteil sofort gegen jeden möglichen Zweifel abdichten. Dies ist um so auffälliger, als er bis zu dieser Sequenzstelle konkret noch gar nicht viel gesagt, sondern nur sehr abstrakt auf die Eingangsfrage geantwortet hat. (7–8)  V  : „… denn es ist (..) KURZES RÄUSPERN tatsächlich so, dass es ein ein ein ganz entscheidender Einschnitt irgendwo im eigenen Leben ist;“ Das einleitende „denn es ist“ kündigt eine Spezifizierung des abstrakten Urteils an. Das Adverb „tatsächlich“ zeigt die Bezugnahme auf eine Erwartung des Interviewee an: Es hat sich bestätigt, was er entweder über das Vaterwerden gehört oder/und selber erwartet hat. Gleichzeitig steckt in dieser Bestätigung auch ein Moment der Überraschung: man hat es zwar vorher gehört oder man hat es sich vorher so vorgestellt, aber wenn es dann „tatsächlich“ eintritt, hat es doch noch ein anderes Gewicht bzw. eine andere Qualität. Als Spezifizierung bzw. Begründung für die oben behauptete vermehrte Greifbarkeit führt der Interviewee nun an, „dass es ein ganz entscheidender Einschnitt irgendwo im eigenen Leben ist“. Zum einen bleibt auch in dieser Formulierung das, was „ohne Zweifel greifbarer geworden ist“, zunächst noch relativ allgemein. Zum anderen hat diese Wendung etwas – fast schon lehrhaft – Bilanzierendes, was angesichts der Aktualität der Krise und ihrer Konkretion befremdlich wirkt: Der Interviewee ist erst seit etwa drei Monaten Vater eines Kindes und thematisiert diese Tatsache bereits auf der Ebene einer bilanzierenden

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Lebenseinsicht. Darin drückt sich – auch nachdem das Kind nun auf der Welt und die Vaterschaft konkret geworden ist – weiterhin eine Distanz zum Geschehen bzw. ganz konkret auch gegenüber dem Kind aus. Die Vaterschaft – und damit auch das Kind – werden als „tiefer Einschnitt im eigenen Leben“ betrachtet bzw. erlebt. Einschnitte sind etwas, was wir erleiden und nicht aktiv gestalten. Sie sind zudem mehr oder weniger schmerzhaft. Wir verwenden diese Redewendung deshalb normalerweise im Zusammenhang mit negativen Schicksalsschlägen, die die positive Kontinuitätserwartung auf der Basis des bisherigen Lebens jäh unterbricht. Im Zusammenhang mit einer überraschend positiven Lebensveränderung sprechen wir nicht von einem tiefen Einschnitt, sondern beispielsweise von Wendepunkten, Neubeginn, großer Veränderung etc. Die sprachliche Ausdrucksgestalt zeigt also sehr deutlich, dass sich die negative Erwartungsausrichtung gegenüber dem Vaterwerden aus dem ersten Interview auch nach der Geburt des Kindes fortsetzt. Zugespitzt formuliert erlebt Herr Maus die Geburt des Kindes als bedrohlichen Schicksalsschlag, der die Kontinuitätserwartung auf der Basis seines bisherigen Lebens sichtlich bedroht. Die explizite Formulierung, dass die Geburt des Kindes bzw. das Vatergewordensein einen tiefen Einschnitt im eigenen Leben darstellt, bringt gleichzeitig die Ausrichtung und damit Selbstpositionierung von Herrn Maus prägnant zum Ausdruck: es ist weder eine personalisierte Bezugnahme auf das Kind noch auf seine Frau erkennbar. Stattdessen verbleibt er in einer egozentrischen, auf mögliche Bedrohungen fokussierten Ausrichtung. Wie im ersten Interview gelingt es Herrn Maus auch hier nicht, sein Erleben des Vaterwerdens bzw. Vaterseins in eine authentische Ausdrucksgestalt zu bringen. Statt seine Ängste offen und konkret zu formulieren, wählt er eine abstrakte, bilanzierende Redewendung, die gleichwohl auf der latenten Bedeutungsebene seine Ängste signifikant zum Ausdruck bringt. Die scheinbare Prägnanz, die das Bild des entscheidenden Einschnitts vermittelt, wird durch das „irgendwo“ gleich wieder konterkariert, weil sich damit der tiefe Einschnitt im Diffusen verliert. Die zweisekündige Pause und der dreimal wiederholte unbestimmte Artikel „ein“ zeigen ja eine Suchbewegung des Interviewee nach der richtigen Formulierung an, die aber wieder in einer Kompromissbildung endet, mit der er versucht, das Geschehen trotz seiner Ängste auf Distanz zu bringen. (8–10)  V  : „…; also, das was, Dinge, die man die man früher für sich entschieden hat, als man nur für sich selber noch verantwortlich gewesen ist äh, die äh | sind jetzt äh immer unter Berücksichtigung des Babys letztendlich ne.“

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Der „entscheidende Einschnitt“, also die Geburt des Kindes, wird hier – wie bereits im ersten Interview – vor allem unter dem Gesichtspunkt der erweiterten Verantwortung thematisiert. Wie im ersten Interview ist aber auch hier sehr deutlich die defensive Ausrichtung dieser Verantwortungsübernahme erkennbar. Diese Verantwortung wird nicht voller Stolz aktiv übernommen, sondern ist eine erzwungene, die vor allem als Einschränkung erlebt wird. Das drückt sich sehr klar in der Formulierung „unter Berücksichtigung“ aus. In der Formulierung „… immer unter Berücksichtigung des Babys …“ zeigt die Betonung des „immer“ noch einmal deutlich die Belastung an, als die der Interviewee die erzwungene Rücksichtnahme auf das Kind empfindet. Gleichzeitig wird durch die Wendung „unter Berücksichtigung“ das Kind von einem primären lebendigen Gegenüber zu einem Umstand verwandelt, da diese Formulierung sich nur auf Sachverhalte oder eben Umstände, aber nicht auf ganze Personen beziehen kann. Das „letztendlich“ ist hier doppelt motiviert: Einmal im Sinne des schon im ersten Interview rekonstruierten generellen Sprachstils des Interviewee, der auf ein sich abdichten gegenüber neuen Erfahrungen zielt, und zum anderen im Sinne einer Bilanzierung. Aus Sicht von Herrn Maus muss – unterm Strich gesehen – jetzt bei allem Rücksicht auf das Baby genommen werden. Es lässt sich bereits an dieser Stelle feststellen, dass bei Herrn Maus auch nach Geburt des Kindes keine Veränderung in Richtung einer Konkretion des Vaterwerdens stattgefunden hat. Die unmittelbare Suggestivität der sinnlichen Präsenz des Kindes hat bei ihm keinen Transformationsprozess ausgelöst. Im Gegenteil: vielmehr muss das Kind in seiner sinnlichen Präsenz und konkreten Bedürftigkeit innerlich von ihm abgewehrt werden. Daran wird auch deutlich, dass das Kind nicht deshalb für diesen Vater abstrakt bleibt, weil es ihn noch nicht adressieren kann, sondern weil – umgekehrt – der Vater eine mögliche Adressierung abwehren muss. Es ist deutlich geworden, dass Herr Maus seine Erwartungsausrichtung, an der sich die Selbstpositionierung zum Prozess des Vaterwerdens ablesen lässt, nicht in eine klare und prägnante Ausdrucksgestalt für sich bringen kann. Seine Erwartungsausrichtung gegenüber dem Vaterwerden bildet sich stattdessen vor allem auf der latenten Ebene der sprachlich generierten Ausdrucksgestalten ab. Diese zeichnet sich durch eine defensive Grundrichtung, durch eine fehlende personale Bezugnahme auf die Mitglieder der familialen Triade, durch den Versuch der inhaltlichen und zeitlichen Eingrenzung des Vaterwerdens und durch eine fehlende Prägnanz aus. Im Kontrast mit den beiden folgenden Interviews mit einem anderen (werdenden) Vater, der als Beispiel für eine gelingende Triangulierung und für ein

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Gelingen des Transformationsprozesses im Übergang zur Vaterschaft gelten kann, werden diese Punkte noch deutlicher.

6 Erstes Interview mit Herrn Polzin (1–3)   I : „ Ja, mich würde einfach interessieren, was sich für Sie seit der Schwangerschaft beziehungsweise seit der Aussicht, bald Vater zu werden, | verändert hat? Ob ´s da irgendwelche Veränderungen gab?“ (4–5)  V: „Verändert im Sinne jetzt (.) familiären Sinne oder verändert auf die Zukunft gesehen oder einfach generell alles?“ Der werdende Vater möchte zunächst die Fraglichkeit weiter spezifizieren. Dabei nimmt er eine Unterscheidung zwischen Familie und Zukunft vor. Da Familie und Zukunft sich nicht per se ausschließen, muss geklärt werden, warum Herr Polzin hier eine Opposition aufbaut. Zunächst bringt er damit zum Ausdruck, dass die Familie hier nicht Gegenstand von Zukunftsüberlegungen ist. Dann können sich die mit dem Vaterwerden antizipierten Veränderungen nur auf seine Person beziehen. Da er aber natürlich zur Familie gehört, kann mit diesen Veränderungen eigentlich nur seine berufliche Zukunft gemeint sein. Das würde bedeuten, dass er hier folgende Unterscheidung vornimmt: Während die berufliche Entwicklung Gegenstand einer Planung ist, die sich durch das Vaterwerden noch mal verändern kann, ist die Familie kein Gegenstand einer solchen Planung. Herr Polzin fragt also sinngemäß zurück: „Meinen Sie meine berufliche Zukunft oder unser familiäres Zusammenleben?“ Damit lässt Herr Polzin erkennen, dass er – zumindest nach dieser ersten Sequenz – gestaltsicher zwischen dem Bereich diffuser und dem Bereich spezifischer Sozialbeziehungen unterscheiden kann. Die Familie ist der Bereich der unmittelbaren und spontanen Begegnung zwischen ganzen Personen. Hier stehen Fragen der zweckrationalen Planung und Zielerreichung nicht im Vordergrund, während diese Form der Planung für die berufliche Karriere angemessen ist. Mit der Frage, „… oder einfach generell alles?“ fragt der Interviewee – sozusagen als dritte Möglichkeit, auf die Frage des Interviewers zu antworten –, ob er einfach unstrukturiert, also was ihm spontan einfällt, über eingetretene Veränderungen erzählen soll bzw. kann. Wir können daraus schließen, dass Herr Polzin keine Angst hat, sich im Interview frei zu äußern. Anderenfalls würde er sich mehr bemühen, das Gesprächsthema zu kontrollieren.

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(6–7)   I : „Ja beides. Also| einfach auch was Ihre Erwartungen betrifft, aber auch, was sich jetzt schon vielleicht geändert hat?“ An der Antwort zeigt sich, dass der Interviewer die Frage von Herrn Polzin so verstanden hat, ob er über Veränderungen, die schon eingetreten sind, oder über solche, die er noch erwartet, sprechen soll. (8–9)   V  : „Also das, was ich mir vorher vorgestellt habe, das ist auch bisher eigentlich so im Großen und Ganzen eingetreten.“ Der Interviewee nimmt jetzt die letzte Frage bzw. Antwort des Interviewers auf, nämlich die Unterscheidung von bisher eingetretenen Veränderungen und von Veränderungen, die der Interviewee für die Zukunft erwartet. Zunächst wird an der Antwort deutlich, dass Herr Polzin während der Schwangerschaft bis zum Zeitpunkt des Interviews keine Überraschung und insofern nicht wirklich etwas Neues erfahren hat. Wir können daraus zunächst schließen, dass also auch für diesen Interviewee das Vaterwerden während der Schwangerschaft noch abstrakt bleibt. Zum anderen macht die Äußerung sehr deutlich, dass Herr Polzin mit Erwartungen, also mit einer Erwartungsausrichtung in die Schwangerschaft seiner Frau gegangen ist. Aufgrund der Abgeklärtheit, die in dieser Antwort zum Ausdruck kommt, stellt sich die Frage, ob diese Abgeklärtheit hier eventuell im Dienste einer Abwehr von Ängsten stehen könnte, also ob es sich hier um eine Pseudo-Abgeklärtheit handelt, die der Kontrolle eigener Ungewissheiten und Befürchtungen dient. Gegen diese Lesart sprechen aber zwei Punkte in dieser sprachlichen Ausdrucksgestalt: zum einen die adverbiale Bestimmung „bisher“. Sie zeigt nämlich an, dass der Interviewee sehr genau differenziert zwischen dem, was bisher war, und dem, was noch kommen kann. Der Interviewee kann also klar benennen, dass bisher kaum etwas Unerwartetes eingetreten ist, ohne auszuschließen, dass dies aber noch passieren kann. Darin drückt sich eine erfahrungsoffene Haltung aus. Denn ansonsten würde der Interviewee den Eintritt des Erwarteten wahrscheinlich zu einer generellen Erfahrung pauschalisieren. Der zweite Punkt betrifft die Wendung „im Großen und Ganzen“. Damit zeigt Herr Polzin an, dass er auch nicht mit einer hundertprozentigen Übereinstimmung zwischen seinen Erwartungen und der tatsächlichen Entwicklung gerechnet hat, sondern dass er weiß bzw. zulassen kann, dass sich die mit dem Vaterwerden verbundenen Veränderungen während der Schwangerschaft nicht vollständig antizipieren lassen. Das Adverb „eigentlich“ im Sinne von im Grunde genommen

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oder genau besehen drückt ja auch noch mal eine explizite Prüfung bzw. einen diesbezüglichen Abgleich zwischen Erwartungen und eingetretenen Ereignissen aus, den der Interviewee vorgenommen hat. Das spricht auch dafür, dass Herr Polzin offen für diesen Vergleich ist und sich nicht davor fürchtet, dass etwas Überraschendes passiert. (9–10)  V: „Ja man kann also kaum sagen, dass das jetzt irgendwie | groß jetzt ´ne Überraschung für mich gewesen wäre, (I: Mhm) wie das ganze jetzt so abläuft [I: Mhm].“ Auch bei dieser Äußerung lässt sich zeigen, dass hier nicht eine pseudoabgeklärte Haltung des werdenden Vaters zum Ausdruck kommt, der sich von dem bevorstehenden Ereignis, Vater zu werden, nicht beeindrucken lässt, sondern dass hier erneut eine autonome und erfahrungsoffene Haltung des Interviewee erkennbar ist. Mit der Formulierung „Ja man kann also kaum sagen“ kündigt Herr Polzin zum einen eine Zuspitzung bzw. Pointierung seiner vorherigen Aussage an, zum anderen nimmt er mit dieser Wendung auf eine allgemeine Erwartungshaltung gegenüber dem Vaterwerden Bezug – im Sinne von: „Obwohl allgemein gesagt wird, dass Vaterwerden eine große Veränderung bedeutet, konnte ich bisher – beim besten Willen – nichts Überraschendes feststellen.“ Darin wird deutlich, dass er – von seiner Erwartungsausrichtung her – zumindest mit Überraschungen im Zusammenhang mit der Schwangerschaft seiner Frau gerechnet hat. Wir können also an dieser Stelle bereits festhalten, dass sich Herr Polzin als erfahrungsoffen und gleichzeitig mit einer klaren Erwartungsausrichtung zeigt. Die zu erkennende Abgeklärtheit bezieht sich nicht darauf, dass Herr Polzin das Vaterwerden als Routinevorgang betrachtet, sondern lässt sich eher damit erklären, dass er auf seine eigenen Erfahrungen vertraut und sich nicht daran orientiert, was vielleicht allgemein über das Vaterwerden gesagt wird. In der darauffolgenden Aussage taucht dann doch noch ein überraschendes Moment für Herrn Polzin auf, in dem sich bereits eine gelingende Triangulierung andeutet: (10–13)   V: „Ja also genau so hab ich mir das im Prinzip vorgestellt; und | das Einzige was ma (.) also was ich persönlich halt auch gemerkt hab is,dass dann doch irgendwann so das | Gefühl zustande kommt, ehmm (.) dass man doch jetzt | wirklich ´ne Familie hat irgendwann, ja, …“ Mit der Formulierung „was ich persönlich halt auch gemerkt hab is, dass dann doch“ nimmt Herr Polzin wieder auf eine gesellschaftlich oder in seinem

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Bekanntenkreis kommunizierte Erwartung Bezug, eben dass sich ein Familiengefühl schon während der Schwangerschaft einstellt. Das adversative „doch“ zeigt an, dass Herr Polzin dieser allgemeinen Erwartung gegenüber skeptisch war und nicht damit gerechnet hat, dass sich bei ihm ein solches Gefühl schon während der Schwangerschaft seiner Frau einstellt. Das passt zum rekonstruierten Erfahrungshabitus dieses Vaters, der vor allem auf sinnlich-konkrete, am eigenen Leib zu spürende Erfahrungsgegenstände ausgerichtet ist. Umso bedeutsamer ist vor diesem Hintergrund, dass Herr Polzin bei sich eine Veränderung wahrnimmt, die ja nicht auf einem diskreten, sinnlich erfahrbaren Ereignis beruht, sondern allenfalls auf nur mittelbar erfahrbaren Veränderungen in seinem direkten Umfeld – insbesondere bei seiner Frau. Daraus lässt sich schließen, dass das bis dahin relativ abstrakte Datum „Vater werden“ bei ihm auf eine solche Resonanzstruktur stößt, dass er die eigene Vaterschaft nicht nur kognitiv, sondern auch emotional zu antizipieren beginnt. Die Gestalt dieser Resonanzstruktur lässt sich daran erkennen, wie der Interviewee sich in seiner Antizipation von Familie positioniert. Hier ist bemerkenswert, dass Herr Polzin davon spricht, „dass man doch jetzt wirklich irgendwann eine Familie hat“ und nicht „eine Familie ist“. Mit der letzteren Formulierung würde er zwar das neu entstehende Gesamtgebilde darstellen, dem er auch angehört, ohne aber seine Positionierung innerhalb dieses Gebildes kenntlich zu machen. Mit der Formulierung „eine Familie haben“ nimmt er dagegen innerhalb des Gebildes eine Differenzierung vor, die gleichzeitig mit einer Selbstpositionierung seinerseits verbunden ist: Denn durch das „haben“ stellt der Interviewee innerhalb des Gesamtgebildes Familie ein Gegenüberverhältnis her, das sich nur auf seine Frau und das Kind beziehen kann. Das bedeutet, er sieht Mutter und Kind als eine Einheit, der er gegenübersteht, ohne sich jedoch – und das ist genauso wichtig – aus dem Gesamtgebilde auszuschließen. Das heißt, Herr Polzin antizipiert hier schon seine zukünftige Position als Dritter, der der zunächst exklusiveren Mutter-Kind-Dyade gegenübersteht und für die er dann zu sorgen hat. Die in dieser Ausdrucksgestalt zu erkennende Gleichzeitigkeit von einem Gegenüber- und einem Einschlussverhältnis zeigt sich auch in einer kurz darauffolgenden Formulierung des Interviewee: (17–19)  V: „Ja also ich denke gerade, (.) von dem Gesichtspunkt aus, dass man dann (.) im Endeffekt drei Personen über die Runden bringen muss, …“ Herr Polzin fühlt sich für die Versorgung von Mutter und Kind verantwortlich und gleichzeitig bezieht er sich in diese Versorgung mit ein. Damit positioniert

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er sich ganz anders, als dies Herr Maus im ersten Interview getan hat, als dieser auch die Vaterschaft unter dem Aspekt der erweiterten Verantwortung thematisierte („… du bist jetzt mit mal, (.) äh, nicht mehr | in Anführungsstrichen | mh für dich allein verantwortlich, sondern neben deiner Frau auch für das Kind halt als solches …“): Während aus der Perspektive von Herrn Maus mit der antizipierten Geburt des Kindes einfach eine weitere – aber in der Abstraktion verbleibende – Person hinzukommt, für die er sich in die Verantwortung genommen sieht, ohne dass sich daraus aber ein neues soziales Gebilde konstituiert, bzw. ohne dass sich dadurch etwas an seiner Vereinzelung ändert, positioniert sich Herr Polzin innerhalb der familialen Triade gleichzeitig als Mitglied (horizontal) und als Verantwortlicher gegenüber Mutter und Kind (vertikal). Da diese Struktur in der Äußerung des Interviewee gleich zu Beginn des zweiten Interviews noch prägnanter zum Ausdruck kommt, soll sie anhand dieser Ausdrucksgestalt weiter expliziert werden.

7 Zweites Interview mit Herrn Polzin (1–5)  I : „Gut. Ja also in dem | unserm ersten Gespräch da | hatten Sie auf meine Eingangsfrage nach den | Veränderungen im Laufe der Schwangerschaft | geantwortet, dass sich so im Großen und Ganzen alles so entwickelt hätte, wie Sie ´s vorgestellt haben. (V: Mhm) Mich würde jetzt interessieren, ob´s jetzt seit das Kind da ist irgendeine Erfahrung gab, die Sie so nicht erwartet haben?“ Der Interviewer greift die erste spontane und aussagekräftige Äußerung von Herrn Polzin auf die Eingangsfrage im ersten Interview auf – dass sich aus seiner Sicht im Verlauf der Schwangerschaft bis dahin alles weitgehend so entwickelt hatte, wie er es erwartet hatte – und fragt, ob für den Interviewee seit der Geburt des Kindes nun etwas Überraschendes, eine neue Erfahrung eingetreten ist. (6–9)  V  : „Ja, die gibt´s ganz sicher, und zwar ist das die, von | vom Tag der Schwangerschaft an, wo man weiß, die Frau ist schwanger, bis zu dem Tag, wo man beide nach Hause holt, hat sich nicht viel geändert. (I: Mhm, mhm) ! Aber an dem Tag, wo man sie beide zu Hause hat!, da ändert sich´s ganze Leben.“ Unter dem Gesichtspunkt der ödipalen Strukturdynamik ist diese Sequenz bzw. Ausdrucksgestalt außerordentlich prägnant. Indem der Interviewee davon

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spricht, beide – also Mutter und Kind – nach Hause zu holen, behandelt er die Mutter-Kind-Dyade als Einheit, der er gegenübersteht. Dieses Gegenüberstehen ist aber nicht ein Außenvorstehen, da der Interviewee ja aktiv beide zu sich in sein Lebenszentrum (nach Hause) holt. Das heißt, hier haben wir – allerdings in einer noch ausgeprägteren Ausdrucksgestalt – erneut die bereits im ersten Interview rekonstruierte Doppelstruktur vorliegen: Der Interviewee positioniert sich der Mutter-Kind-Dyade als ein Gegenüber, worin sowohl die Anerkennung der Besonderheit dieser Beziehung zum Ausdruck kommt als auch seine Positionierung als Dritter, der sich für beide verantwortlich fühlt, und gleichzeitig bezieht er sich in die neu entstehende Triade mit ein. Diese Selbsteinbeziehung ist mit dem Nach-Hause-Holen bereits deutlich erkennbar – denn sonst würde er beide nicht in sein Lebenszentrum holen – und wird mit dem Zu-Hause-Haben dann schließlich vollzogen. Man kann sagen, dass wir hier in einer äußerst prägnanten und sehr verdichteten Ausdrucksgestalt die Triangulierungsbewegung selbst vor uns liegen haben, die der Vater beim Übergang zur Elternschaft vollziehen muss – nämlich in die dritte Position zu rücken, ohne sich aus der Triade auszuschließen. Wir können deshalb festhalten, dass Herrn Polzin der Übergang zur Vaterschaft vollständig gelingt in dem Sinne, dass er sich den Anforderungen der ödipalen Strukturdynamik entsprechend in eine Doppelpositionierung bringen kann: zum einen als DRITTER, der für die Mutter-Kind-Dyade Verantwortung übernimmt, und zum anderen als ZWEITER – nämlich in der direkten Beziehung zum Kind und in der Beziehung zu seiner Frau –, in der er den anderen Mitgliedern der Triade gleichgestellt ist. Indem der Interviewee noch mal eine Unterscheidung zwischen „nach Hause holen“ und „zu Hause haben“ macht18, zeigt er, wie stark er über eine mittige Positionalität verfügt. Während für Herrn Maus die Veränderung durch das

18Dass

für Herrn Polzin die umfassende Veränderung seines Lebens interessanter Weise nicht mit der Geburt des Kindes einsetzt, sondern wenn man Mutter und Kind zu Hause hat, lässt sich wohl darauf zurückführen, dass der Aufenthalt im Krankenhaus für die neu entstandene Familie noch eine Art Moratorium darstellt. Die Eltern erhalten noch Unterstützung bei der Versorgung des Kindes und haben jederzeit einen Ansprechpartner, falls sie bezüglich des Umgangs mit dem Kind in irgendeinem Punkt unsicher sind. Zudem ist das Zusammensein mit dem Kind noch stark von den Tagesabläufen im Krankenhaus geprägt. Die Eltern sind also in dieser Zeit noch nicht allein verantwortlich für das Kind und noch nicht allein auf sich gestellt bei der Versorgung des Kindes. Dies ändert sich schlagartig, wenn die Eltern mit dem Kind das Krankenhaus verlassen haben und zu Hause angekommen sind.

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geborene Kind „ein ganz entscheidender Einschnitt irgendwo im eigenen Leben“ war, dieser also die Krise und sein Erleben nicht verorten konnte, erfährt Herr Polzin die Krise des Vaterwerdens am konkreten Ort der Alltagspraxis – seinem Zuhause. Das ist sein äußerer und innerer Bezugspunkt, von dem aus er die Lebenspraxis wahrnimmt und von dem aus er die Krise bestimmen kann. Wie gestaltsicher Herr Polzin die Veränderungen durch das Vaterwerden erfasst, zeigt sich auch in seiner Formulierung „da ändert sich das ganze Leben“. Während bei Herrn Maus in Wendungen wie „Einschnitt“ und „unter Berücksichtigung“ der Versuch erkennbar ist, diese Veränderungen möglichst einzugrenzen, bringt Herr Polzin mit seiner Formulierung prägnant das Umfassende und zeitlich Unbegrenzte dieser Veränderung zum Ausdruck. Wir sehen also, dass hier eine klare Ausrichtung (Positionalität) mit einer prägnanten Abbildung der Krise durch den Interviewee einhergeht. Das ist, so muss man annehmen, kein Zufall. Denn erst durch die starke Verankerung in eine positionale Mitte mit einem Erwartungszentrum, auf die bzw. das hin der Interviewee jede neue Erfahrung beziehen kann, kann sich das krisenhafte Neue in einer prägnanten Gestalt abbilden. Die Bedeutung der hier klar erkennbaren Positionalität sowohl für die konkret zu bewältigende Triangulierungsaufgabe als auch für die Erfahrungsaneignung allgemein soll durch eine kontrastive Formulierung deutlich gemacht werden. Wenn wir in der Äußerung von Herrn Polzin die Positionalität anzeigenden ‚Marker‘ probehalber weglassen, könnte sich daraus folgende Formulierung ergeben: „Vom Tag der Schwangerschaft, wo man weiß, die Frau ist schwanger, bis zu dem Tag, an dem man zur Entbindung ins Krankenhaus muss, hat sich nicht viel geändert. Aber ab dem Tag, an dem das Kind auf der Welt ist, ändert sich das ganze Leben.“

In dieser Äußerung ist zwar auch noch eine klare Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem die Krise eintritt, erkennbar, es fehlt aber eine Positionierung sowohl gegenüber der Krise selbst als auch innerhalb der neu entstehenden familialen Triade. Dadurch zeichnet sich nicht deutlich ab, wie der Sprecher dieser Äußerung die bezeichnete Veränderung erlebt. Das liegt daran, dass hier weder eine personale Bezugnahme auf die anderen Mitglieder der Triade vorgenommen wird noch das Krisenhafte auf eine positionale Mitte hin bezogen wird. Bei Herrn Polzin fand diese personale Bezugnahme über „sie beide nach Hause holen“ und „sie beide zu Hause haben“ statt. Damit hat er sowohl Mutter und Kind als Adressaten der Bezugnahme markiert als auch die Art der Bezugnahme. Denn in beiden Wendungen drückt sich zum einen eine fürsorgliche Bezugnahme aus und zum

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anderen die Hereinnahme von Mutter/Frau und Kind in das eigene Lebenszentrum. Letzteres würde wohl nicht in dieser Weise formuliert, wenn diese Hereinnahme nicht eine positive wäre. Die obige Ausdrucksgestalt von Herrn Polzin impliziert aber noch einen weiteren zentralen Aspekt einer gelingenden Triangulierung beim Übergang zur Vaterschaft: Wie oben in den Ausführungen zur ödipalen Triade angedeutet, verlangt der Übergang zur Elternschaft vom Vater19 sowohl eine Ausrichtungs- als auch eine Abgrenzungs- bzw. Dezentrierungsbewegung. Eine neue Ausrichtungsbewegung muss er bezogen auf das neu hinzugekommene Kind vollziehen, um eine personalisierte bzw. diffuse Beziehung zum Kind aufzubauen. Gleichzeitig muss er zum einen diese Beziehung zum Kind mit der Mutter teilen, zum anderen steht nun die Gattenbeziehung in Konkurrenz mit den beiden Eltern-Kind-Beziehungen. Und schließlich zeichnet sich – zumindest anfänglich – die Mutter-Kind-Beziehung durch eine gewisse Exklusivität aus. Alle drei Neukonstellationen erfordern vom Vater eine Denzentrierungsleistung, damit er weder in einen Konkurrenzkampf zur Mutter oder gegenüber dem Kind tritt noch sich aus der Triade zurückzieht. Diese Doppelbewegung von Ausrichtung und Dezentrierung ist auch in der prägnanten Ausdrucksgestalt von Herrn Polzin erkennbar: Die Ausrichtungsbewegung drückt sich in dem Einrücken von Mutter/ Frau und Kind ins Lebenszentrum des Interviewee („nach Hause holen“ und „zu Hause haben“) aus. Und diese Ausrichtung ist vollständig, wie die abschließende Formulierung „da ändert sich ´s ganze Leben“ zeigt. Indem er Mutter und Kind als Einheit anspricht („beide“), nimmt er dagegen eine Dezentrierung der eigenen Position vor. Denn darin steckt implizit die Anerkennung, dass es nun neben der bisherigen Gattenbeziehung eine weitere Exklusivbeziehung gibt, der er auch zunächst den Vorrang einräumt. Diese Dezentrierungsbewegung bringt den Interviewee also in die Position des Dritten. Beide Bewegungen zusammen stellen im Kern die Triangulierungsanforderung dar, die der Mann beim Übergang zur Elternschaft bewältigen muss. Bei Herrn Maus ließen sich weder Anzeichen für eine Ausrichtungs- noch für eine Dezentrierungsbewegung vorfinden. Stattdessen stießen wir an mehreren Stellen auf eine Abwehrbewegung gegenüber dem Kind und einem Verbleiben in der Vereinzelung. Um die Bedeutung dieser beiden Bewegungen zu unterstreichen und um deutlich zu machen, dass es sich hier nicht einfach um zwei

19Diese

beiden Bewegungen müssen auch von der Mutter vollzogen werden, nur dass sie aufgrund ihrer leiblichen Eingebundenheit in das Austragen des Kindes von einer anderen Position als der Vater kommt. Darauf gehen wir am Ende noch kurz ein.

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Aspekte einer Bewegung handelt, soll im Folgenden noch kurz auf ein paar Interviewsequenzen mit dem dritten Vater eingegangen werden, da sich in diesem Fall zeigen lässt, dass hier zwar eine starke Ausrichtung auf das Kind stattfindet, aber aufgrund einer fehlenden Dezentrierungsbewegung sich eine Konkurrenzdynamik gegenüber der Mutter entwickelt.

8 Erstes Interview mit Herrn Michels Herr Michels antwortet auf die Eingangsfrage, was sich für ihn seit der Schwangerschaft bzw. seit der Aussicht, bald Vater zu werden, verändert hat, wie folgt: (4/5)  V: „(..) *Ja * STIMMBÄNDER WECKENDES RÄUSPERN Auf was beziehen sie das jetzt? Auf (..) äh | ja| das Gefühl oder | das Leben allgemein? oder?“ (6–8)  I: „Also alles (V: Alles) LACHT () was er- erst mal (V: ()) Ihnen wichtig ist. Also ruhig an äußerlichen Veränderungen auch, aber auch so vom | von ihrem | ja Gefühlsleben oder | was sie so empfinden.“ (9/10)  V: „(.) Ja zum einen isses äh | für mich ´n wahnsinniges Glücksgefühl gewesen, wie ich das erfahren hab, dass es dann tatsächlich funktioniert hat (.).“ Die Nachfrage des Interviewee bestätigt auch hier, dass das Vaterwerden für den Mann zunächst eine abstrakte Erfahrung darstellt – zum einen wegen der Nachfrage an sich, zum anderen aufgrund des Inhaltes der Nachfrage. Von der Mutter würden wir eine solche Nachfrage nicht erwarten, da sie die Schwangerschaft in einer Unmittelbarkeit und Totalität erlebt, die sich kaum überbieten lässt. Sie erlebt den sich entwickelnden Fötus – zumindest ab dem siebten Schwangerschaftsmonat – sowohl im viszeralen als auch im äußeren Wahrnehmungsmodus. Deshalb würde eine solche Nachfrage wie oben vonseiten der Frau eine merkwürdige Distanz zum eigenen Körper bzw. Leib zum Ausdruck bringen. Herr Michels sagt nun, dass es für ihn ein „wahnsinniges Glücksgefühl“ gewesen ist, als er von der Schwangerschaft seiner Frau erfahren hat. Die Wendung „dass es dann tatsächlich funktioniert hat“ zeigt dabei an, dass beide Partner die Schwangerschaft herbeiführen wollten und überrascht waren, dass diese so schnell eingetreten ist. Hier ist also schon eine erste Ausrichtung auf das Kind erkennbar.

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(11)  I: „Ehm war also demnach ´n Wunschkind? Weil sie (V: Ja) sagten, dass es tatsächlich“. (12–15)  V: „[Ja] (jetzt) sagen wir mal so, wir hatten | gesagt im Dezember wir legen ´s drauf an oder Mitte Dezember (.) und *na ja es hat dann halt gleich funktioniert * und | damit haben wir beide nicht gerechnet und waren halt total baff.“ Die Formulierung des Interviewee „wir hatten gesagt im Dezember wir legen ´s drauf an“ drückt die positive Grundausrichtung auf das Elternwerden aus – also dessen Gewünschtsein –, auch wenn es bei beiden Bedenken bezüglich dieser umfassenden Lebensveränderung geben sollte. Denn wäre es umgekehrt, wäre das Elternwerden aus Sicht des Paares etwas zu Vermeidendes, das man aber beim Geschlechtsverkehr ohne Verhütungsmittel in Kauf nimmt, dann hätte der Interview eher eine Formulierung wie „wir lassen es drauf ankommen“ gewählt. Interessant ist hier außerdem, dass Herr Michels zum Zeitpunkt der Feststellung der Schwangerschaft noch ganz von der Achse der Gattenbeziehung sein Erleben schildert. Das wird daran deutlich, dass er in seine Formulierungen seine Partnerin selbstverständlich mit einbezieht. Hier ist sozusagen noch das kommende Kind in der Position des Dritten. Dies ändert sich, sobald auch für den Vater der Fötus spürbar wird, wie die folgenden Sequenzen zeigen werden. (31–35)  V  : „Und (.) ja ich versuch halt (.) sag ich mal von denen | Momenten, wo wir ´s wussten, dass Andrea schwanger ist, (ab-) ja richtig alles aufzunehmen. (I: Mhm) So vom | ersten Strampeln, das kleinere erste Fühlen des Strampelns, war ´s jetzt nur ´ne Blähung oder war ´s tatsächlich BEIDE LACHEN äh der Kleine und so; (.) ich war jetzt auch bis auf | zweimal immer beim Arzt, (ich mein) bei der Ärztin mit und so.“ Auch in dieser Formulierung „wo wir ´s wussten, dass Andrea schwanger ist“ wird die Schwangerschaft von der gemeinsamen Paarbeziehung aus thematisiert. Gleichzeitig wird hier aber bereits ein außergewöhnlich großes Interesse des Vaters am Fötus erkennbar, das sich im weiteren Verlauf immer deutlicher abzeichnet. Der Interviewer fragt direkt im Anschluss – bezogen auf die Vorsorgeuntersuchungen – nach: (36–37) 

I: „Also war ihnen das selber auch wichtig, äh da mitzugehen oder?“

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Worauf Herr Michels antwortet: (38–43)   V: „Ja. (I: Ja) Mhm. Ja, (ich) sag mal so, ich (glaub) ich (hätt) bei Andrea auch mehr oder weniger, sag ich mal, (.) hätt ich es ihr eher auch versucht einzureden, dass ich da (mitzugehen), wenn (wir), also mitgehe, wenn sie was dagegen hät- gehabt hätte, aber sie | sie find ´s auch absolut okay. (..) Und, ja für mich ist das immer wieder spannend da | bei der Frauenärztin, sei es | Ultraschall oder einfach nur tasten oder | erklärt zu bekommen, (.) was da jetzt gerade abläuft oder was da jetzt komisch war *oder so*, oder auf was das beruhte dieses Komische.“ Die Nachdrücklichkeit des Interesses des Interviewees am Fötus im Bauch der Mutter geht so weit, dass im Falle, dass seine Frau ihn nicht bei den Vorsorgeuntersuchungen hätte dabei haben wollen, er sozusagen darauf bestanden hätte mitzukommen. Schon hier deutet sich an, dass Herr Michels einen ähnlich direkten und intensiven Zugang zum ungeborenen Kind sucht, wie ihn die Mutter hat und damit die Exklusivität der Mutter-Kind-Dyade nicht anerkennt bzw. übergeht. In der darauffolgenden Sequenz wird dies noch deutlicher: (44–54)       

I: „Haben sie da schon | mal was gefühlt oder?“  : „Jaja, ich bin permanent am Fühlen.“ V I: „LACHT Und und spürt man da was oder?“ V: „Ja, der ist also sehr aktiv. Also seit (.) PFFF zwei Monaten so ungefähr | dreht er sich und | dann sieht man dann mal den Bauch total verschoben und so, das find ich schon ziemlich stack. (.)Und wenn er Schluckauf hat so, also wir nehmen an, dass es Schluckauf ist, weil ´s ´n monoto- also so ´n rhythmisches (), und (..) ja das (.) das soll nicht einfach so an mir vorbeigehen. Da möcht ich mich auch noch in | fünf, sechs Jahren dran erinnern oder in zehn Jahren. Und deswegen versuche ich da jeden Moment (.) auch zu genießen und | ja, sei es nur einfach auf ´em Bett liegen und einfach mal die Hand draufhalten oder mit dem Ohr [I: Mhm] am Bauch () *oder so*. Das find ich halt absolut stack, dass sich da drin (.) aus so ´ner kleinen Zelle | da was grade bewegt.“

Zum einen fällt auf, dass Herr Michels den Fötus bereits jetzt schon stark personalisiert: „der ist also sehr aktiv“, „seit zwei Monaten so ungefähr dreht er sich“, „wenn er Schluckauf hat“. Zum anderen ist in dieser relativ langen Sequenz seine Frau, also die werdende Mutter, verschwunden. Denn es ist ja der Bauch seiner Frau, über den er hier spricht und über den er versucht,

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Kontakt zum Kind aufzunehmen. Das findet in dieser Sequenz aber in keiner Formulierung des Interviewee einen Niederschlag. Vielmehr wird der Bauch nur losgelöst von seiner Frau thematisiert. Zum anderen konstelliert sich ja in den Situationen, in denen Herr Michels den Bewegungen des Kindes im Bauch seiner Frau nachspürt („sei es nur einfach auf ´em Bett liegen und einfach mal die Hand draufhalten oder mit dem Ohr am Bauch“) eine intime Dreiersituation. Auch dies findet in den Formulierungen von Herrn Michels keinerlei Resonanz. Stattdessen ist er scheinbar vollständig auf das Kind fokussiert. Die Struktur der ödipalen Triade stellt er in diesen Momenten also nicht her bzw. bildet sie nicht in sich ab. Vor diesem Hintergrund wird noch deutlicher, dass das seine Frau einbeziehende „wir“ („… also wir nehmen an, dass es Schluckauf ist …“) nicht auf ein gemeinsames Erleben zielt, sondern eine andere Bedeutung hat. Indem Herr Michels bei der Beantwortung der Frage, ob es sich bei den rhythmischen Bewegungen um ein Schluckauf des Fötus handelt, auf ein „wir nehmen an“ rekurriert, stellt er sich bezüglich der Kompetenz, diese Frage zu beantworten, auf die gleiche Stufe wie seine Frau. Das ist insofern bemerkenswert, als seiner Frau ja nicht nur – wie ihm – die Außenwahrnehmung des Fötus zur Verfügung steht, sondern vor allem die Viszerozeption. Sie kann also im Zweifelsfall wesentlich besser einschätzen, ob es sich bei den besagten Bewegungen um ein Schluckauf handelt oder nicht. Diese Differenz im Zugang zum Fötus wird in der Formulierung von Herrn Michels, also dem einschließenden „wir“, nivelliert. Es lässt sich deshalb als Fallstrukturhypothese formulieren, dass Herr Michels, seitdem das Kind für ihn im Bauch der Mutter wahrnehmbar ist, eine sehr starke Fokusausrichtung auf das Kind vollzieht und dabei nicht nur die Besonderheit der Mutter-Kind-Dyade ignoriert, sondern seine Frau zum Verschwinden bringt. In den Dreierkonstellationen, in denen er – zwangsläufig – Kontakt zum Kind aufnimmt, stellt er nicht die Struktur der ödipalen Triade her, sondern sucht eine exklusive Nähe zum Kind unter Ausschluss seiner Frau. Diese Dynamik tritt nach der Geburt des Kindes noch deutlicher zutage. Um dies zu zeigen, sollen noch zum Abschluss drei Sequenzen aus dem zweiten Interview mit Herrn Michels wiedergegeben werden.

9 Zweites Interview mit Herrn Michels Der Interviewer bezieht sich als Einstieg auf das im ersten Interview von Herrn Michels genannte Glücksgefühl und fragt, ob sich seine Erwartungen diesbezüglich erfüllt haben oder ob es auch Erfahrungen gab, die nicht so schön waren. Herr Michels antwortet darauf:

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(6)  V  : „Also auf den Kleinen bezogen war (.) is er an für sich über´s Ziel drüber hinausgeschossen.“ Der Interviewee möchte wohl sagen, dass bezogen auf das Kind („den Kleinen“) seine Erwartungen (noch) übertroffen worden sind. Irritierend ist nun, dass Herr Michels das Übertreffen seiner Erwartungen als eine Aktivität des Kindes darstellt. Denn ansonsten hätte er so etwas sagen müssen wie „Bezogen auf den Kleinen sind meine Erwartungen übertroffen worden“. In seiner Formulierung führt aber die Aktivität des Kindes dazu, dass es über das Ziel hinausschießt. Dieses Ziel können hier nur die Erwartungen von Herrn Michels an das Kind sein, sonst wäre seine Äußerung keine Antwort auf die Eingangsfrage. Wörtlich genommen sagt Herr Michels also mit seiner Äußerung, dass sein Sohn aktiv versucht hat, Herrn Michels Erwartungen zu erfüllen und dabei über dieses Ziel sogar noch hinausgeschossen ist. Wir haben hier also eine Projektion des Interviewee vorliegen, für die es sowohl im ersten als auch zweiten Interview weitere Hinweise gibt. Zusammengefasst lässt sich diese Projektion so formulieren, dass Herr Michels in das Kind einen ebenso großen Wunsch nach einer engen Vater-Sohn-Beziehung projiziert, wie er ihn selber verspürt. Neben der Position des Spielgefährten nimmt auch Herr Michels die Position des Versorgers ein: (20–26)  V  : „und dann einfach mh (.) ja von | j- jemandn zu haben, für den sich das jetzt diese ganze Rackerei im Büro oder so absolut lohnt, mh. Das ist nicht einfach nur äh jetzt nur weil ´s Spaß macht, sondern auch weil | ´n gewisses Pfl- | kein unangenehmes Pflichtgefühl irgendwie dahinter ist. (I: Mhm) (..) Und (.) ja deswegen | isses an für sich in der Richtung HOLT TIEF LUFT schöner geworden, *sagen wir mal so*. !Oder | dieses Ersehnte! Hat sich bestätigt. (I: Mhm mhm) Weiß jetzt nicht, ob das dasselbe ist, aber |fü- mh (.)“ Dabei fällt aber auf, dass sich die Einnahme der Versorgerposition – im Unterschied zu Herrn Polzin – hier zunächst nur auf das Kind beschränkt und nicht die Frau mit einbezieht. Denn kontrastiv zu seiner Äußerung wäre ja denkbar, dass er sich als Versorger der ganzen Familie positioniert – also seine Frau miteinbezieht. Das würde bedeuten, dass er in die Position des Dritten rückt, der Verantwortung sowohl für das Kind als auch die Mutter übernimmt. Es gibt in beiden Interviews mit Herrn Michels keine einzige Ausdrucksgestalt, in der er sich in dem Gefüge der neu entstehenden bzw. entstandenen Familie als Dritter positionieren würde. Dritte werden im Laufe beider Interviews

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vielmehr an einigen Stellen als beglaubigende Zeugen der eigenen Erlebens- und Sichtweise eingeführt – so auch in der folgenden Sequenz, die deutlich zeigt, dass Herr Michels mit seiner Frau um den exklusiven Zugang zum Kind konkurriert: (108–110)  I: „Und | haben Sie schon so das Gefühl, dass Sie | auch schon so | ´nen Bezug herstellen können | zum Hennes? Oder wann, wenn Sie ´s haben, hatten Sie das gleich oder hat ´s ´n bisschen gedauert?“ (111–117)   V: „Also da find ich | da muss ich die Aussage von Andrea dann nehmen, weil | ich hab ´s gar nicht so gemerkt oder (.) ja oder für mich war ´s selbstverständlich. Weil Andrea war ja bettlägerig die ersten anderthalb Wochen, sprich ich hab alles gemacht. Ich hab | Andrea auf Toilette geholfen, ich hab den Kleinen gepflegt, ich hab Essen gekocht und | hab eingekauft, Wohnung gemacht und | *also* voll Programm. (I: Mhm) Und nach ´ner Woche war Andrea nervlich fertig, weil | sie Angst hatte, dass | sie nie die | Verbindung so zum Hennes herstellen kann wie ich. (I: Mhm) Es wird an dieser Stelle ein Konflikt zwischen den Eltern um die Beziehung zum Kind sichtbar. Aus der Darstellung von Herrn Michels können wir entnehmen, dass seine Frau in ihrem Erleben sozusagen zusehen musste, wie selbstverständlich ihr Mann von Anfang an ein inniges Verhältnis zum gemeinsamen Kind hat bzw. pflegt, während sie dies nicht in der gleichen Weise hat und auch aufgrund ihrer Bettlägerigkeit nicht viel tun kann, um eine ebenso innige Beziehung zum Kind aufzubauen. Der Konflikt zeigt sich in einer Verkehrung der Mutter- und Vaterposition: während normalerweise aufgrund der leiblichen Fundierung die Mutter-Kind-Beziehung wie selbstverständlich gegeben ist und die Vater-KindBeziehung erst aufgebaut werden muss, ist es bei diesem Elternpaar scheinbar genau umgekehrt. Für den Vater ist die Beziehung zum Kind naturwüchsig gleich da, während die Mutter das Gefühl hat, sie muss diese erst herstellen. Nun führt Herr Michels als Erklärung für diese Positionsvertauschung die Tatsache der Bettlägerigkeit seiner Frau und die damit verbundene Übernahme aller Versorgungsaufgaben durch ihn an. Bei genauerer Betrachtung erweist sich dieser Erklärungsversuch jedoch als wenig überzeugend. Denn zum einen entspricht die beschriebene Pflegekonstellation im Prinzip der Situation im Krankenhaus nach der Entbindung. Auch hier übernehmen die Pflegekräfte oder die Angehörigen in den ersten Tagen alle Versorgungsaufgaben, während die Mutter – sofern sie das will und dies auch gelingt – für das Stillen des Kindes zuständig ist. Dies lässt aber in aller Regel die Mütter nicht um ihre Beziehung zum Kind fürchten. Zum anderen folgt aus den von Herrn Michels aufgezählten Versorgungsaufgaben

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überhaupt nicht zwingend eine bessere bzw. innigere Beziehung zum Kind. Essen kochen, einkaufen, Wohnung sauber machen etc. berühren die Beziehung zu einem Säugling in keiner Weise. Nur beim Wickeln, Anziehen, Herumtragen – und natürlich bei der frei von Versorgungsaufgaben stattfindenden Kommunikation – findet eine Beziehungsgestaltung statt. Letztere kann aber auch zwischen der bettlägerigen Mutter und dem Säugling stattfinden. Und dass die anderen genannten Tätigkeiten stärker zu einem Beziehungsaufbau als das Stillen beitragen, ist kaum anzunehmen. Die scheinbare Vertauschung der Vater- und Mutterposition kann also nicht in der anfänglichen Pflegesituation begründet sein. Vielmehr drückt sich wohl in der Gestaltung und im Erleben der Pflegesituation durch beide Eltern eine tieferliegende Dynamik aus, die in der weiteren Sequenzanalyse sichtbar wird: (117–121)  V  : „Weil sie hatte bis zu dem Zeitpunkt Hennes noch kein eines Mal gewickelt, sie hat äh ihm sag ich mal nur die Brust gegeben, ich mein | das ist auch ´ne Leistung v- vom körperlichen Anstrengung her, aber | mh zu dem, was ´n | Kind also an Zeit beansprucht, isses halt nur die Brust gegeben, sag ich mal. Und | da war an für sich bei mir (.) gleich die Verbindung da.“ Durch das einleitende „Weil“ kennzeichnet Herr Michels die folgenden Ausführungen als Erklärung für die Ängste seiner Frau. „Sie hatte bis zu dem Zeitpunkt Hennes noch kein eines Mal gewickelt“ enthält unterschwellig, aber eindeutig einen Vorwurf gegenüber seiner Frau, der – wenn sie wirklich bettlägerig war – völlig unangemessen ist. Das wäre so, als ob man über einen krankgeschriebenen Angestellten sagt, er habe während seiner Krankschreibung keinen einzigen Tag gearbeitet, und ihm damit mangelndes Engagement vorwirft. Angemessen wäre deshalb gewesen, wenn Herr Michels gesagt hätte: „Sie konnte bis zu dem Zeitpunkt Hennes kein einziges Mal wickeln.“ Der unterschwellige Vorwurf bezieht sich auf ein fehlendes Engagement. Da in der Aussage von Herrn Michels ganz offensichtlich nicht eine gerechtere Aufteilung der Versorgungsaufgaben zwischen den Eltern das Thema ist, sondern das Engagement für das Kind und damit für den Beziehungsaufbau zum Kind, kann der implizite Vorwurf an seine Frau nur lauten, dass sie selbst daran schuld ist, wenn sie keine bessere Beziehung zum gemeinsamen Kind hat, da sie zu wenig dafür getan hat. Das kommt in der nächsten Sequenz noch deutlicher zum Ausdruck, wenn Herr Michels sagt, „sie hat äh ihm sag ich mal nur die Brust gegeben, ich mein | das ist auch ´ne Leistung v- vom körperlichen Anstrengung her, aber | mh zu dem, was ´n | Kind also an Zeit beansprucht, isses halt nur die Brust gegeben, sag ich mal“.

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Der Interviewee wertet mit dieser Äußerung genau das ab, was gerade eine innige Beziehung zwischen Mutter und Kind stiftet und was gerade eine grundlegende, weil leiblich fundierte Differenz zwischen der Mutter-Kind- und der Vater-KindBeziehung ausmacht: die Fähigkeit, das Kind zu stillen. Dabei wertet er das Stillen der Mutter in doppelter Weise ab: einmal unter dem Gesichtspunkt, dass der zeitliche Aufwand, der damit verbunden ist, nicht mit seinem zeitlichen Aufwand für das Kind mithalten kann, zum anderen indem er das Stillen auf eine rein körperliche Leistung reduziert und dabei den beziehungsstiftenden Aspekt eliminiert. Hier wiederholt sich in zugespitzter Form, was sich schon im ersten Interview andeutete, als der Interviewee beschrieb, wie er die Bewegungen des Kindes im Bauch der Mutter verfolgte und der Eindruck entstand, er nehme die Mutter dabei nur als eine Art Brutmaschine wahr, die sein Kind austrägt: hier wird die Mutter zu einer bloßen Versorgungsstation degradiert. Spiegelbildlich zur Abwertung des Stillens seiner Frau wertet Herr Michels die eigene Tätigkeit des Wickelns, die er bis dahin exklusiv ausgeübt hat, auf. Gleichzeitig eröffnet er einen Leistungswettbewerb („das ist auch ´ne Leistung“) zwischen sich und seiner Frau, der aus Sicht des Interviewee nach der Logik abläuft, wer mehr Zeit und Engagement für das Kind aufwendet, bekommt den Zuschlag der besseren bzw. innigeren Beziehung zum Kind. Auch wenn nicht ausgeschlossen ist, dass die Mutter in dieser Anfangssituation tatsächlich Probleme mit dem Beziehungsaufbau zum Kind hatte – zum Beispiel aufgrund einer postpartalen Depression –, wird spätestens an dieser Stelle sehr deutlich, dass Herr Michels aktiv um die Mutterposition mit seiner Frau konkurriert. Wir können deshalb festhalten, dass Herr Michels mit seiner Frau um die bessere Beziehung zum gemeinsamen Kind konkurriert und dabei tendenziell selbst die Mutterposition besetzen will. Die Eigenständigkeit und Besonderheit der Mutter-Kind-Beziehung kann er nicht in sich abbilden. Das würde voraussetzen bzw. implizieren, dass er innerhalb der ödipalen Triade in die Position des Dritten treten kann, was im gesamten Interview nicht der Fall ist. Vielmehr hat sich sehr deutlich abgezeichnet, dass er eine Exklusivbeziehung zu seinem Kind sucht. Auch die Gattenbeziehung verblasst vor dem Hintergrund dieser Dynamik und findet kaum noch in den Ausdrucksgestalten des Interviewee einen Niederschlag.

10 Resümee Die Analysen einzelner Sequenzen aus den Interviews haben gezeigt, dass die drei interviewten Männer den Übergang zur Vaterschaft sehr unterschiedlich bewältigen. Vor dem Hintergrund des dargestellten Modells der ödipalen Triade

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wurde deutlich, dass diese Unterschiede vor allem darin zum Ausdruck kommen, wie sich die werdenden und gewordenen Väter innerhalb der ödipalen Triade und ihrer Strukturdynamik positionieren und dass diese Positionierung entscheidend für die Erzeugung einer familiären Dynamik ist, die die Autonomieentwicklung des Kindes ermöglicht und vorantreibt. Mit dieser Positionierung – so war deutlich erkennbar – war jeweils auch eine unterschiedliche Ausrichtung auf das Kind und die Partnerin verbunden. Bei Herrn Maus sind wir auf viele Hinweise gestoßen, dass er das Kind als Bedrohung erlebt und das Vaterwerden bei ihm vor allem Ängste auslöst, die er sich aber nicht eingestehen kann, die er also abwehrt. Deshalb findet bei ihm auch keine offene Ausrichtung auf das Kind statt. Das Kind bleibt für ihn im ersten Interview abstrakt und gewinnt auch im zweiten Interview – nach seiner Geburt – kaum an Konkretion. Gleichzeitig führt der Übergang zur Elternschaft bei ihm auch nicht zu einer engeren Bindung an seine Frau, sodass wir zu dem Ergebnis kamen, dass Herr Maus die ödipale Triade als Grundstruktur von Familie für sich nicht abbilden kann und er sich innerhalb dieser Triade eher vereinzelt, also sich tendenziell aus dieser ausschließt (Abb. 4). Herr Michels dagegen suchte schon sehr früh – also schon während der Schwangerschaft – den Kontakt zum Kind und hat dementsprechend von Anfang an eine enge Bindung zu seinem Sohn. Er zeigte also bereits im ersten Interview eine starke Ausrichtung auf das Kind. Gleichzeitig gab es hier bereits erste Anzeichen, dass Herr Michels mit seiner Frau um die Mutterposition – also um eine Exklusivbeziehung zum gemeinsamen Kind – konkurriert. Diese Tendenz, eine Exklusiv-Beziehung zum Kind aufzubauen, wurde dann im zweiten Interview deutlich erkennbar. Von daher ergab die Sequenzanalyse der beiden Interviews, dass Herr Michels zwar problemlos eine enge Bindung zu seinem Sohn aufbaut und somit diesen Teil der Vaterschaft sehr gut ausfüllt, dass er dabei aber

Abb. 4   Triangulierung Herr Maus

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nicht die Exklusivität der Mutter-Kind-Beziehung anerkennen kann, sondern versucht, selbst die Mutter-Position einzunehmen, was auf eine Störung auf der Ebene der Gattenbeziehung hinwies. Bezüglich der ödipalen Triade wurde hier also deutlich, dass Herr Michels deren Struktur nur fragmentiert – nämlich ohne eine starke Gattenbeziehung und ohne Anerkennung der Mutter-Kind-Dyade – in sich abbilden kann. Der dafür notwendige Positionswechsel von der zweiten in die Position des Dritten innerhalb der familialen Strukturdynamik wurde deshalb von diesem Interviewee an keiner Stelle in den beiden Interviews vollzogen. Diese fehlende Dezentrierung zeigt sich dann auch in der Form der Ausrichtung auf das Kind: es gibt viele Stellen in beiden Interviews – die hier nicht alle angeführt werden konnten –, die deutlich darauf hinweisen, dass dieser Vater vor allem Vertrauter und Spielgefährte für seinen Sohn sein möchte und dabei eine nicht altersgemäße Reziprozität in die Vater-Sohn-Beziehung projiziert (Abb. 5). Herr Polzin erwies sich dagegen in verschiedenen Hinsichten als idealtypischer Fall, insofern er die Strukturdynamik der ödipalen Triade vollständig und gestaltsicher erfasst hat und in verschiedenen Ausdrucksgestalten abbilden konnte. Dies kam vor allem darin prägnant zum Ausdruck, dass er sich – unter Anerkennung der Exklusivität der Mutter-Kind-Dyade – in die Position des Dritten begeben hat, ohne sich dabei aus der Triade auszuschließen, sondern – im Gegenteil – die Triade als Ganzes, also unter Einschluss seiner Person, als Struktur abbilden konnte. Die Ergebnisse der Interviewanalysen legen nahe, dass die Dezentrierungsleistung für den werdenden Vater darin besteht, von der zweiten Position, die er

Abb. 5   Triangulierung Herr Michels

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Abb. 6   Triangulierung Herr Polzin

innerhalb der Gattendyade innehatte und auch noch hat, in die dritte Position innerhalb des familialen Gesamtgefüges zu rücken bei gleichzeitiger Ausrichtung auf das Kind, die Partnerin und die Mutter-Kind-Dyade. Dass der Vater die Position des Dritten einnehmen muss, wird von fast allen Triangulierungstheorien implizit anerkannt, indem hier wie selbstverständlich der Vater durchgehend als Dritter bezeichnet wird – doch ohne den Wechsel als solchen und die damit verbundenen Konsequenzen auszubuchstabieren (Abb. 6). Auch stimmen alle Triangulierungsmodelle darin überein, dass es darum geht, den Dritten nicht auszuschließen. Doch beide Elternteile nähern sich dieser Aufgabe von entgegengesetzten Positionen her: die Frau von der naturwüchsigen Mutter-Kind-Symbiose, der Mann von der Abstraktheit der Vaterschaft her. Deshalb stellt sich ihnen – positiv formuliert – die Triangulierungsaufgabe inhaltlich jeweils ganz unterschiedlich: Der Vater muss eine Ausschlusserfahrung bewältigen, die Mutter eine Versuchungssituation.20 Das bedeutet auch, dass bei beiden beim Übergang zur Elternschaft auch jeweils andere Strukturdynamiken der ödipalen Triade aus der eigenen Kindheit reaktualisiert werden: Die Exklusivität der Mutter-Kind-Dyade reaktualisiert beim Mann – so ist zu vermuten – die strukturhomologe Erfahrung des Ausgeschlossenseins aus der elterlichen Paarbeziehung und damit den Verzicht auf das Primärobjekt. Je nachdem

20Die

bisherigen und folgenden Modellüberlegungen orientieren sich hier an dem Fall, dass die Mutter- und die Vaterposition von den leiblichen Eltern eingenommen wird. Damit sollen andere Familienkonstellationen nicht ausgeschlossen werden. Vielmehr ist es einer der Aufgaben einer rekonstruktiven Familienforschung, der Frage nachzugehen, inwieweit die Strukturdynamik der ödipalen Triade, die kein normatives Familienmodell,

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wie gut er diese Erfahrung – abhängig von Zuwendung und Sicherheit gewährleistenden Eltern-Kind-Beziehungen und von einer positiven Identifizierung mit dem eigenen Vater – verarbeiten konnte, wird es ihm gelingen, in der Triade zu bleiben, bei gleichzeitiger Anerkennung der Besonderheit der Mutter-KindBeziehung. Bei der Frau dagegen besteht eine Strukturhomologie zwischen der Versuchungssituation – nämlich den Beitrag des Mannes zur Geburt des Kindes zu vernachlässigen, um in der Symbiose mit dem Kind zu verbleiben – und der Erfahrung mit ihrem eigenen Vater. Das heißt, die Anerkennung des Beitrags ihres Mannes zur Elternschaft hängt wesentlich davon ab, inwieweit es ihr als Kind gelungen ist, eine positive Beziehung zum Vater aufzubauen, also sich dem Vater anzunähern, sodass sie die Symbiose mit der Mutter verlassen konnte.21 Zudem wird – meinem Kenntnisstand nach – dabei übersehen, dass die mit dem Kind einhergehende Verschiebung hin zu einem Ungleichgewicht zwischen den beiden Gatten nicht allein auf der biologisch fundierten Exklusivität der Mutter-Kind-Dyade beruht, sondern hier noch die strukturellen Unterschiede zwischen der Gatten- und der Eltern-Kind-Beziehung mit ins Spiel kommen. Es sind vor allem zwei Unterschiede, die der Eltern-Kind-Beziehung gegenüber der Gattenbeziehung ein stärkeres Gewicht verleihen bzw. letztere etwas in den Hintergrund drängen und damit die Ausschlusserfahrung des Mannes/Vaters verstärken: zum einen die faktische Unkündbarkeit der Eltern-Kind-Beziehung und zum anderen ihre Asymmetrie bezüglich der Reziprozität. Diese beiden Unterschiede setzen sich sozusagen auf die biologisch fundierte Exklusivität der Mutter-Kind-Dyade noch drauf. Dadurch verstärken sie diese Exklusivität, obwohl sie eigentlich für beide Eltern gelten.

sondern eine elementare Strukturgesetzlichkeit hinsichtlich des Sozialisationsprozesses zu beschreiben versucht, auch für andere Familienkonstellationen gilt. So stellt sich beispielsweise bei gleichgeschlechtlichen weiblichen Paaren die Frage, wie sie mit der Differenz umgehen, dass nur eine Partnerin das Kind austragen und gebären kann, oder die Frage, wie mit der Vaterposition umgegangen wird. Dorett Funcke (2008, 2011) hat zu Fällen von gleichgeschlechtlichen weiblichen Paarbeziehungen, die die jeweiligen Kinder mit Hilfe von Fremdsamenspende bekommen haben, zwei sehr instruktive Fallrekonstruktionen durchgeführt, die deutlich zeigen, dass auch in diesen Konstellationen die Strukturgesetzlichkeit der ödipalen Triade wirksam ist. 21Vergleiche dazu auch Reimut Reiches Ausführungen zum ersten der drei Gesetze der Sexualität nach Hartmann, dem Gesetz der allgemeinen bipolaren Zweigeschlechtlichkeit: Danach muss der Junge eine maskulin-aggressive Bewegung von der Mutter weg vollziehen, während das Mädchen eine feminin-masochistische Bewegung zum Vater hin vollziehen muss (siehe Reiche 2000: 44).

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Schließlich – worauf an dieser Stelle nicht mehr ausführlich eingegangen werden kann22 – folgen Gatten- und Eltern-Kind-Beziehung hinsichtlich des jeweiligen Umgangs mit dem Dritten einer unterschiedlichen bzw. gegensätzlichen Handlungslogik: Während der Ausschluss des Kindes aus der Gattendyade darauf beruht, dass die auf Sexualität beruhende Paarbeziehung allgemein einen Dritten auf der Paarebene grundsätzlich nicht verträgt bzw. diesen von ihrem Selbstverständnis her von vornherein ausschließt und darauf, dass im Speziellen dieser Dritte – aufgrund des Inzesttabus, das jegliche sexuelle Praxis zwischen Eltern und Kindern als Missbrauch definiert – schon gar nicht das Kind sein kann, ist dagegen die ­Eltern-Kind-Beziehung von vornherein auf eine Dreiheit verwiesen, da das Kind immer von zwei Eltern gezeugt worden ist. Hier ist der Ausschluss eines Elternteils aus einer aktualisierten Eltern-Kind-Dyade allein darin begründet, dass sich zwei diffuse Dyaden nicht gleichzeitig aktualisieren lassen. Das heißt, hier gilt der Ausschluss des Dritten bzw. des anderen Elternteils nur für die Phase des aktuellen Vollzugs einer diffusen Dyade, und zwar deshalb, weil für diffuse Sozialbeziehungen konstitutiv ist, dass man sich als ganze Menschen begegnet und nicht als Rollenträger und von daher diese Begegnungen bzw. Aktualisierungen unteilbar sind. In diesem Sinne gilt das von Oevermann aufgestellte Ausschließlichkeitsparadigma, dass diffuse Dyaden generell „einen Dritten aus der aktuellen Reziprozität ihres Vollzugs ausschließen“ (ebenda 97), natürlich auch für die Aktualisierung der Gattenbeziehung. Denn die Eltern können ihre Gattenbeziehung auch nur aktualisieren, wenn sie die ElternKind-Beziehung für diesen Moment still stellen, also das Kind aus dieser Aktualisierung ausschließen. Doch ist dieser Ausschluss in der Hinsicht ein vorübergehender, als das Kind davon ausgehen kann, dass die Eltern irgendwann wieder aus der Aktualisierung der Gattenbeziehung heraustreten und sich dem Kind als Eltern zuwenden, also mit dem Kind eine neue Eltern-Kind-Dyade eingehen bzw. diese aktualisieren. Dennoch besteht – im konstitutionslogischen Normalfall – für das Kind keinerlei Aussicht, jemals in eine partnerschaftliche Dyade mit einem Elternteil involviert zu sein. Die Permanenz dieses Ausschlusses wird deshalb durch die Aktualisierung einer Eltern-Kind-Dyade nicht wirklich aufgehoben, sondern tritt nur in den Hintergrund, während bei einem Wechsel von einer Eltern-Kind-Dyade zur anderen Eltern-Kind-Dyade tatsächlich der Ausschluss des einen Elternteils aufgehoben ist.

22Siehe

hierzu Fertsch-Röver 2017: 29–56

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Eine gelingende Triangulierung, die innerhalb der familialen Triade die drei zu Anfang skizzierten Grundkonstellationen herstellt, erfordert also von den Eltern, dass sie beide familialen Beziehungsmodi – die Gatten- und die ­Eltern-Kind-Beziehung –, die bezüglich des Umgangs mit dem Dritten gegensätzlichen Handlungslogiken folgen und die sich beide deshalb auch nicht gleichzeitig aktualisieren lassen, in der täglichen familialen Interaktion gleichermaßen vollgültig zur Ausprägung bringen. Das bedeutet, dass der in einer aktualisierten Dyade mit dem Kind sich befindende Elternteil immer den temporär ausgeschlossenen Elternteil als Gatten und als Elternteil mitrepräsentiert, um den vorübergehenden Charakter dieses Ausschlusses zu markieren. Deshalb muss aus meiner Sicht die Dynamik der ödipalen Triade in der widersprüchlichen Einheit von Paar- und Eltern-Kind-Beziehung verankert werden.

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Zur Aufgabe der Neupositionierung …

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Zur Bedeutung der Herkunft für Vereinbarkeitsarrangements Genogrammanalyse eines ost-westdeutschen Paares Franziska Krüger 1 Einleitung Gesellschaftliche Transformationsprozesse sowie veränderte Familien- und Geschlechterbilder wirken in das moderne Paar- und Familienleben hinein, wodurch Familien in der heutigen Zeit vor neuen Herausforderungen stehen. Im Zuge struktureller und kultureller Veränderungen im modernen Arbeits- und Privatleben werden Normalerwerbsbiografien brüchig, geschlechtsspezifische Arbeitsteilungsmuster antiquiert und biografische Ausgestaltungsspielräume diverser. Damit in Zusammenhang stehende Herausforderungen offenbaren sich vor allem dann, wenn berufliche mit privaten Interessen abzustimmen sind. Dies betrifft in hohem Maße Paare, die aufgrund einer Familiengründung dazu aufgefordert sind, Erwerbs- und Familienarbeit zu vereinbaren. Vor dem Hintergrund der gestiegenen Bildungs- und Erwerbsexpansion von Frauen nach Ende des Zweiten Weltkriegs bei einer gleichzeitigen Enttraditionalisierung von Geschlechterrollen erfährt die Vereinbarkeitsproblematik eine individuell zu lösende Dringlichkeit. Dazu schreibt Maiwald: „Der entscheidende Punkt ist, dass es im Unterschied zur bürgerlichen Familie heute im Normalfall nicht eine, sondern zwei Berufskarrieren gibt. Man muss sehen, dass damit nicht nur ein logistisches Problem verbunden ist, ein gestiegener Aufwand an Planung und Absprache. Vielmehr gilt es die beiden Karrieren und Berufsorientierungen in einen gemeinsamen Kooperationsmodus zu integrieren.“ (Maiwald 2013: 916 f.).

F. Krüger (*)  FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Funcke (Hrsg.), Rekonstruktive Paar- und Familienforschung, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30668-7_5

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F. Krüger

Ausgestaltungsprozesse zur Vereinbarung der beruflichen und familialen Lebenssphäre sind somit Gegenstand paarbezogener Entscheidungsprozesse und inhärenter Bestandteil heutiger Paarbiografien. Diese paarbezogenen Ausgestaltungsprozesse eines Vereinbarkeitsarrangements stehen im Zentrum des Beitrages. Im öffentlichen und politischen Diskurs nimmt die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine zentrale Position ein, spielen unter anderem volkswirtschaftliche und demografische Interessen nach einem Wirtschaftswachstum durch die Integration beider Geschlechter in den Arbeitsmarkt und nach einer höheren Geburtenrate eine Rolle. Ebenso werden Argumente angeführt, die die Gerechtigkeit beider Geschlechter und von Paaren mit Kindern gegenüber kinderlosen Paaren betonen. Denn die Frage nach der Vereinbarkeit flankiert zum einen das Thema der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, nach der ein ungleiches Engagement im beruflichen und familialen Bereich von Männern und Frauen ungleiche finanzielle und berufliche Folgen sowie die Reproduktion normativer Geschlechterbilder nach sich zieht. Zum anderen steht mit Familiengründung die generelle Frage für Paare im Raum, wie sie sich künftig im Privat- und Arbeitsleben organisieren. Das unterscheidet sie von kinderlosen Paaren, die entlastet sind von der Frage, wie ihre Kinder zu betreuen sind und damit befreit, die widersprüchliche Logik der beruflichen und familialen Sphäre aufzulösen, die sich vor allem als eine Zeitproblematik1 herauskristallisiert. Eltern stehen somit vor der Herausforderung, zweckrationale und ökonomische Interessen mit Bedürfnissen, die sich aus einer Eltern-KindBeziehung speisen, miteinander in Einklang zu bringen. Damit verflochten sind individuelle Wünsche, die sich auf die Realisierung des eigenen Lebensentwurfes gründen, und Entscheidungen zur Lösung der Vereinbarkeitsproblematik beeinflussen. Für Paare mit Kind(ern) bilden verschiedene arbeitsteilige Modelle zur Ausgestaltung ihres Vereinbarkeitsarrangements eine Orientierungsfolie, die vom männlichen Versorgermodell in Form der Hausfrauenehe über das ­Ernährer-Zuverdienerin-Modell bis hin zum Doppelversorgermodell mit binnenzentrierter oder staatlicher Kinderbetreuung reichen.2 Ohne an dieser Stelle

1Sowohl

bezogen auf das tägliche Ausbalancieren als auch die Lebensphase, in der oftmals berufliche Karriere und Familiengründung zusammenfallen. 2Diese Modelle sind einem Überblick über die sozio-historische Entwicklung der beruflich-familialen Praxis von Paaren entnommen, die Pfau-Effinger (1998) für Finnland, die Niederlande und Westdeutschland vergleicht.

Zur Bedeutung der Herkunft für Vereinbarkeitsarrangements

133

detaillierter auf die historische Verwurzelung und Bedeutung der Modelle einzugehen, welches ich in Kap. 2 nachholen werde, soll der Sachverhalt betont werden, dass fernab fester Handlungserwartungen und -muster Vereinbarkeitslösungen zu finden sind, die den Bedürfnissen einer Familie im Kontext sozialstruktureller, kultureller und individual-sozialisatorischer Rahmenbedingungen gerecht werden. Vereinbarkeitslösungen, so meine These, sind eine vom Paar erbrachte Leistung in einem aufeinander bezogenen, selbstreferenziellen Entscheidungsprozess. Es gibt keine festen Gestaltungsvorgaben, jedoch rechtliche, normative und individuelle im Sinne sozialisatorischer sowie lebensweltlicher Rahmenbedingungen, innerhalb derer Paare in einem gemeinsamen Entscheidungsfindungsprozess ein für sie tragfähiges Modell zur Vereinbarkeit entwickeln und aufrechterhalten müssen. Folgeprobleme aus den individuellen Lösungen der Paare als Konsequenzen ihrer Vereinbarkeitspraxis wirken wiederum auf ihr Handeln und Deuten zurück und erfordern ein permanentes Neujustieren und Rechtfertigen ihres Vereinbarkeitsarrangements. Wie gestaltet das Paar die Betreuung seines Nachwuchses in Abhängigkeit vom Alter des Kindes? Wer geht ab wann und in welchem Umfang einer Erwerbsarbeit nach? Wie organisiert das Paar anfallende Aufgaben im Haushalt? Und wie gestaltet es die gemeinsam zur Verfügung stehende Familienzeit? Die Lösung dieser Folgeprobleme ist fernab fester Handlungsmuster individuell zu erbringen. Wie sich Paare mit Kind(ern) der allgemeinen Vereinbarkeitsproblematik stellen und zu einem Vereinbarkeitsarrangement finden, erfährt bei Paaren mit einer unterschiedlichen Sozialisation in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik und der früheren Bundesrepublik Deutschland eine besondere Färbung. Denn ost-westdeutsche Paare bringen unterschiedliche herkunftsbezogene Sozialisationshintergründe in ihre Paarbeziehung und die beruflich-familiale Praxis ein, in deren Kontext sich der gemeinsame Problemlöseprozess des Paares zur Vereinbarung der beiden Lebensbereiche aufspannt. Als Sonderfall der deutsch-deutschen Geschichte vermag die Bedeutung habitualisierter Prägemuster für die Vereinbarkeitspraxis von ost-westdeutschen Paaren über die familialen Herkunftsmilieus rekonstruiert werden. Den Zusammenhang von sozialisatorischen Dispositionen und paarspezifischen Vereinbarkeitsarrangements kann der bisherige Forschungsstand o­ st-westspezifischer Paar- und Familienforschung nicht klären.3 Ziel des Beitrages ist es, auf Basis

3Es sei an dieser Stelle auf die vertiefenden Ausführungen zum Forschungsstand (Kap. 2) und den verschiedenen Erklärungsansätzen (Kap. 3) in der ost-westspezifischen Paar- und Familienforschung verwiesen. Darin werden zentrale Befunde und bestehende Desiderate reflektiert.

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einer ersten Fallrekonstruktion eine Hypothese darüber aufzustellen, wie paarspezifische Lösungen des Vereinbarkeitsproblems in intergenerationale Transmissionsprozesse eingebunden sind. Grundlage bildet die Analyse familienbiografischer Daten eines Falles, dem ost-westdeutschen Paar Claudia und Heiko Hübner.4 Das Herzstück der Fallrekonstruktion stellt die Genogrammanalyse als ein bewährtes Auswertungsinstrument einer b­ iografisch-intergenerationalen Paarund Familienforschung dar (vgl. Funcke 2018; Hildenbrand 2005a/2015; Schierbaum 2017). Über die Darstellung des rekonstruktiven Vorgehens soll die Logik der hermeneutischen Forschungspraxis veranschaulicht werden. Die forschungsleitende Fragestellung lautet: Aus welchen sozialisatorischen Herkunftsmilieus stammt das Paar Hübner, die dafür disponieren, ein Doppelversorgermodell mit externer Betreuung der Kinder in den alten Bundesländern auszugestalten? Um die Frage zu beantworten, arbeite ich aufbauend auf einer sozio-historischen Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes sowie einer ­ Reflexion der Erklärungsansätze ost-west-spezifischer Paar- und Familienforschung konzeptionelle Anschlussmöglichkeiten an Theorien der Sozialisation für meine Forschungsarbeit heraus. Im Anschluss an die Darstellung der methodischen Einbettung der Fallrekonstruktion geht es im empirischen Teil des Beitrages darum, auf Basis familiengeschichtlicher Erzählungen von Claudia und Heiko dessen individuelle Sozialisationshintergründe zu rekonstruieren und die Fragestellung über eine erste Fallstrukturhypothese zu beantworten. Im Schluss und Ausblick werden die Ergebnisse zusammengefasst sowie die weiteren Schritte des Auswertungsprozesses skizziert.

2 Beruflich-familiale Praxis in sozio-historischer Perspektive Im Folgenden soll es nicht Anliegen sein, die Entwicklung der Familienmodelle in Deutschland in einer umfassenden chronologischen Abhandlung zu rezipieren. Hierfür verweise ich auf einführende Standardwerke der Familiensoziologie (Nave-Herz 2004/2013; Reinhard 1995; Rosenbaum 1974, 1987; Weber-Kellermann 1992). Vielmehr zielt meine sozio-historische Betrachtung der ­ beruflich-familialen Praxis im Kontext zeithistorischer Entwicklungen in Deutschland darauf, die beiden Argumente herauszuarbeiten, dass erstens das

4Alle

Namen wurden durch Pseudonyme ersetzt.

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Vereinbarkeitsproblem ein modernes Phänomen im Zuge der zunehmenden erwerbsförmigen Integration der Frau in den Arbeitsmarkt darstellt und zweitens zeitgeschichtlich unterschiedliche gesamtgesellschaftliche sowie subjektive Umgangsweisen mit dem Vereinbarkeitsproblem gefunden wurden, die sich bis heute in differenten Handlungs- und Einstellungsmustern der Bürger aus den neuen und alten Bundesländern widerspiegeln. Industrialisierung und ihre Folgen für die beruflich-familiale Praxis Ein Blick auf die historische Entwicklung der Arbeitsteilung von Paaren verdeutlicht, dass in der vorindustriellen Zeit ein auf den Haushalt zentrierter Familientyp, das familienökonomische Modell, bei dem alle Familienmitglieder, zu denen auch der Nachwuchs zählt, gleichermaßen zum Haushaltseinkommen durch Arbeit im eigenen Betrieb oder außerhäusliche Lohnarbeit beitrugen, am weitesten verbreitet war. Durch die typischerweise räumliche Kongruenz von beruflichem und privatem Lebensraum sowie der fehlenden Einschätzung von Kindheit als einer eigenständigen Lebensphase mit besonderen Bedürfnissen stellte sich noch keine Vereinbarkeitsfrage. Erst im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert entstand eine Separierung von Berufs- und Privatsphäre, in deren Folge sich, abhängig von der geografischen und milieuweltlichen Herkunft des Einzelnen, eine geschlechtsspezifische Zuständigkeitsnorm von Erwerbsarbeit und Haus- sowie Familienarbeit etablierte (vgl. Nave-Herz 2004/2013: 43 ff.). Das sogenannte männliche Versorgermodell in Form der Hausfrauenehe sieht dementsprechend den Ehemann als Familienernährer in der Verantwortung, das Einkommen der Familie zu sichern, während die Ehefrau für Haushalt und Kinderbetreuung zuständig ist. Die Vorstellung von einer Komplementarität der Geschlechter sowie von der Kindheit als eigenständige Lebens- und Entwicklungsphase, derer speziellen, insbesondere mütterlichen Zuwendung es bedürfe, ist dem bürgerlichen Familienideal entlehnt, wie es sich im 20. Jahrhundert milieuübergreifend zum normativen Familienbild herausbildete – unabhängig von der individuellen Möglichkeit einer Realisierung dieser Idealvorstellung (vgl. Funcke 2013; Nave-Herz 2004/2013: 54 f.). Denn de facto blieb bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts das männliche Versorgermodell ein nicht-erreichbares Ideal nicht-bürgerlicher Familien, die auf das Einkommen der Ehefrau zur Existenzsicherung angewiesen waren. Seit der Industrialisierung zeichnet sich zudem ein tief greifender Wandel im Privatleben ab. Im Rahmen großzügigerer Wohnverhältnisse, die eine „Intimisierung“ (Nave-Herz 2004/2013: 55) der familialen Sphäre erlaubten, und einer Ausrichtung am Lebensstil des Adels bildeten sich binnenfamiliale Strukturen heraus. In diesem Zusammenhang verlagerte sich die Primärsozialisation in die Kernfamilie, wodurch eine ganz-

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heitliche Emotionalisierung von Elternschaft, Sozialisation, Ehe und Kindheit befördert wurde. Zwei deutsche Regime – zwei deutsche Familienkulturen Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich die Familienrealitäten in der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland durch eine unterschiedliche Ausrichtung der Geschlechter- und Familienpolitik in entgegengesetzte Richtungen. Während der deutsche Wohlfahrtsstaat der 1950er und 1960er Jahre mit seinem christlich-konservativen Wertekanon ein arbeitsteiliges Arrangement im Sinne eines bürgerlichen Familienmodells mit ­nicht-erwerbstätiger Hausfrau und Mutter und männlichem Alleinverdiener protegierte (vgl. Böhm 2015: 20), dominierte in der DDR das sozialistische Familienbild mit erwerbstätiger Mutter. Getragen vom Wirtschaftsaufschwung setzte sich in der Bundesrepublik das ‚männliche‘ Normalarbeitsverhältnis5 im Rahmen des Ein-Ernährer-Modells für Ehepaare durch (vgl. ebd.: 33 ff.). Unter dem Vorzeichen traditioneller Geschlechterrollen wurden Frauen eine Berufsorientierung und der Wunsch nach einer lebenslangen, kontinuierlichen und aufstiegsorientierten Erwerbsarbeit im Gegensatz zum männlichen Geschlecht abgesprochen (vgl. Hausen 1997: 24). Dies hatte nicht nur zur Folge, dass Frauen ungleiche Chancen auf Qualifikation, Entlohnung und beruflichen Aufstieg zukamen, sondern es resultierte aus diesen normativen und ­politisch-rechtlich gestützten Überzeugungen auch ein spezifisches gesellschaftliches Bild, wie Ehe, Familie und die Sorge um den Nachwuchs auszugestalten sei. Die Tragweite dessen spiegelt sich auch darin wider, dass es noch in den 1960er Jahren für Frauen erfolgsversprechender galt, Aufstiegschancen über die Partnerwahl als über eine selbstständige Erwerbsarbeit zu generieren (vgl. ebd.: 25). Zudem war bis zum Eherechtsreformgesetz 1976 für Frauen eine Erwerbsarbeit nur vorgesehen, wenn sich diese mit ihren ehelichen und häuslichen Pflichten vereinbaren ließ (vgl. Bundesminister der Justiz 1976). Seitdem vollzog sich in der BRD im Kontext von weiblicher Bildungsexpansion, Tertiarisierung und einem erhöhten Arbeitskräftebedarf am Arbeitsmarkt eine Modifizierung des männlichen Versorgermodells hin zum Vereinbarkeitsmodell der Versorgerehe, in welchem Frauen einer eingeschränkten beruflichen Beschäftigung ergänzend

5Unter

dem Normalarbeitsverhältnis sei im Folgenden unter Bezugnahme auf Gildemeister & Robert (2008) die Arbeitsform „einer lebenslangen, kontinuierlichen, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung auf der Basis eines erlernten Berufs und vor dem Hintergrund einer Arbeitsteilung im Privaten“ (ebd.: 286) zu verstehen.

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zu ihrer primären Verantwortung für die Familienarbeit nachgehen. Trotz einer zunehmenden Diversifizierung beruflich-familialer Praktiken erwiesen sich das traditionell mütterzentrierte Erziehungsbild, die Ablehnung außerhäuslicher Kleinkindbetreuung6, die mangelhafte Betreuungsinfrastruktur sowie der geschlechtersegregierte Ausbildungs- und Arbeitsmarkt als Modernisierungsblockade für die Herausbildung eines egalitären Vereinbarkeitsmodells. In der DDR wurde 1949 verfassungsrechtlich die Gleichstellung der Frau gegenüber dem Mann verankert. Ziel war es einen Wandel getreu dem Leitsatz „vom Ideal der Hausfrau und Mutter hin zur berufstätigen Mutter“ (Cromm 1998: 401) einzuleiten und über eine uneingeschränkte Teilnahme am Arbeitsmarkt sowie ökonomische Unabhängigkeit die Gleichberechtigung von Frauen zu fundieren. Weibliche Erwerbstätigkeit war jedoch nicht nur eine ideologisch vertretene Maxime der DDR-Politik, sondern vielmehr volkswirtschaftliche und für die Familie existenzsichernde Notwendigkeit.7 Für Frauen, die dringend als Arbeitskraft benötigt wurden, eröffneten sich darüber neue Möglichkeiten zur Qualifizierung und Lebensplanung, doch blieben Ausbildungs- und Arbeitsmarkt grundsätzlich geschlechtersegregiert (vgl. Mayer/Solga 2010: 6).8 In Anbetracht sinkender Geburtenzahlen und Eheschließungen sowie steigender Scheidungsraten seit den 1970er Jahren erließ die Regierung vereinbarkeitsfördernde und pronatalistische Maßnahmen9 für verheiratete Paare und Paare mit Kindern.10 Im Allgemeinen setzte sich das Doppel-Verdiener-Modell mit 6Die

Akzeptanz einer partnerschaftlichen Aufgabenteilung und weiblichen Berufsorientierung ist bis heute bei Frauen grundsätzlich höher als bei Männern, zeigen sich Männer demgegenüber nur insofern aufgeschlossen, als weibliche Erwerbsarbeit nicht mit Einschränkungen ihrer Berufstätigkeit einhergehen dürfe (vgl. Beck 1986: 169; Rupp 2006:50 f.; Rinken 2010:102; Wenzel 2011: 69). 7Berufliche und ökonomische Selbstständigkeit von Frauen war zudem vor dem Hintergrund bedeutsam, dass kein rechtlicher Anspruch auf Unterhaltszahlungen im Falle einer Scheidung existierte (vgl. Nave-Herz 2004/2013: 63). 8Ursächlich hierfür sind die Doppelbelastung von Frauen in Erwerbs- und Familienarbeit (vgl. Böllert 1993:118 f.; Kreyenfeld/Geisler 2006: 338), die einen Aufstieg in höher qualifizierte und Leitungspositionen bremste, sowie die institutionelle Steuerung von Ausbildungs- und Berufswahl (vgl. Rinken 2010: 73) zu nennen. 91972 werden zinslose Ehekredite und die bevorzugte Wohnungsraumvergabe für frischverheiratete Paare sowie eine Verlängerung der bezahlten Freistellung für Frauen nach der Geburt beschlossen, die 1986 auf ein Jahr und in ihrem Anspruch nach auf den Mann erweitert wird (vgl. Drasch 2011: 175). 10Die Maßnahmen unterstützten auch Alleinerziehende, welche in der DDR quantitativ häufiger vertreten waren als in der BRD (vgl. Rinken 2010).

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externer Kinderbetreuung als normative Leitgröße familialer Praxis in der DDR durch. Mütterliche Vollzeiterwerbstätigkeit und außerhäusliche Kinderbetreuung erfuhren aufgrund ihrer großen Verbreitung in der DDR eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz (vgl. Kreyenfeld/Geisler 2006: 333; Rinken 2010: 76 f.). Die Realisierung eines umfassenden, flexiblen und weitestgehend kostenlosen Kinderbetreuungssystems für Kinder im Vorschul- und Schulalter ermöglichte die hohe weibliche Erwerbsquote11.12 So besuchten 1989 80 % der unter ­Drei-Jährigen13 und 95 % der Kinder im Kindergartenalter staatliche Betreuungseinrichtungen (vgl. Geisler/Kreyenfeld 2005: 3). Trotz der unterschiedlichen Familienpolitik und Familienrealitäten in der BRD und der DDR lässt sich für beide deutsche Staaten die Manifestierung einer strukturellen und kulturellen Geschlechterungleichheit hinsichtlich der Vereinbarkeitsfrage konstatieren, die sich in der Geschlechtersegregation am Ausbildungsund Arbeitsmarkt, dem traditionellen Mütterbild und der Dethematisierung von Väterlichkeit ausdrückt (vgl. Rinken 2010: 138). Waren in der Bundesrepublik Frauen qua ihrer biologischen Natur auf den binnenfamilialen Raum verwiesen, so verblieb auch in der DDR die Hauptverantwortung für Haushalt und Kindererziehung trotz Erwerbstätigkeit bei den Frauen14 (vgl. Böllert 1993: 118 f.; Kreyenfeld/Geisler 2006: 338). Das modernisierte Frauenbild in der Arbeitswelt stand konträr zu einem traditionell verwurzelten Frauenbild15 im privaten Lebens111989

lag die weibliche Erwerbsquote in der DDR bei 89 %, in der BRD im Vergleich dazu bei 56 % (vgl. Geisler 2010: 11). 12Die Kehrseite dieser staatlichen Angebote an Familien spiegelt sich in der Stigmatisierung von Frauen wider, welche sich einer externen Betreuung ihrer Kinder widersetzten und zuhause blieben und damit als kleinbürgerlich und ihr Verhalten für die Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft als gefährdend galten (vgl. Rinken 2010: 189). 13Im Vergleich dazu besuchten 1988 nur 5 % der unter Vier-Jährigen in der BRD eine Krippe (vgl. Böllert 1993: 115). 14Die fortbestehende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist unter anderem auf die irrtümliche Annahme seitens der Regierung zurückzuführen, demnach sich die ökonomische und öffentliche Gleichberechtigung von Männern und Frauen automatisch im Privatbereich fortsetzen würde. Eine aktive politische Lenkung blieb deshalb aus (vgl. Kröplin 1999: 190.) 15Das traditionelle Frauenbild war vor allem noch im Einstellungs- und Handlungsmuster der Männer verankert (vgl. Böllert 1993: 116). Auch die Dethematisierung von fortbestehenden Geschlechterungleichheiten, die verbreitete Ansicht natürlich fundierter Geschlechterdifferenzen und die fehlende politische Gestaltung einer geschlechtergerechten Arbeitsaufteilung, insbesondere mit Fokus auf den familialen Lebensbereich, bewahrten die ungleiche Arbeitsaufteilung und beförderten im Handeln und Denken eine Reproduktion von Geschlechterstereotypen (vgl. Rinken 2010: 82 f.).

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bereich. Die Doppelbelastung, die aus der Aufgabe resultiert, beide Lebensbereiche alltagspraktisch zu vereinbaren, war in beiden deutschen Staaten primär weiblich (vgl. Behnke 2012: 22). Annäherung und Differenzen seit der Wiedervereinigung Der im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands ausgelöste gesellschaftliche Transformationsprozess bedeutete nicht nur eine Umstrukturierung der wirtschaftlichen und politischen Ordnung in den neuen Bundesländern, sondern auch der privaten Lebensführung ihrer Bürger. Der gesellschaftliche Umbruch spiegelt sich eindrücklich in den sinkenden Heirats-, Scheidungs- und Geburtenraten nach 1989 wider. Besonders die weibliche Lebenswirklichkeit war vor dem Hintergrund einer gestiegenen Arbeitslosigkeit, von der primär Frauen in den neuen Bundesländern betroffen waren (vgl. Mayer/Solga 2010: 7, 9), und dem Abbau in der Betreuungsinfrastruktur einem tief greifenden Wandel ausgesetzt: Im Kontrast zu den fortbestehenden, selbstverständlichen Erwerbsansprüchen und der institutionell konsolidierten Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Mutterschaft in der DDR erlebten Frauen nun einen „Verdrängungsdruck aus dem Arbeitsmarkt“ (Sopp 1997: 136) und strukturelle Hindernisse einer doppelten Orientierung auf Beruf und Familie. In den knapp 30 Jahren seit der Wiedervereinigung Deutschlands zeichnet sich kein einheitliches Muster familial-beruflicher Ausgestaltungsweisen ab, gab es sowohl Annäherungen als auch differente und teils divergierende Entwicklungen. Fortbestehende Ost-West-Differenzen widerlegen jedoch die nach der Wende diskutierte Annahme nach einer Anpassung, Homogenisierung oder Konvergenz (u. a. Büttner/Lutz 1990; Mau 1994). Vielmehr spiegelt die gestiegene Zahl nichtehelicher Geburten16 (vgl. Kreyenfeld/Konietzka 2008: 131 ff.; Rinken 2010: 110; Schneider 2008: 19), das weiterhin jüngere Alter von Frauen bei Erstgeburt17 und die niedrigere Zahl kinderloser Paare in den neuen Bundesländern Beharrungstendenzen wider. Insbesondere die höhere Akzeptanz und Realisierung mütterlicher Erwerbstätigkeit18 und außerhäuslicher Kinder16Schneider et al. (2012: 30 f.) weisen darauf hin, dass diese Differenz schon vor der Teilung Deutschlands bestand und sich in der DDR verstärkt habe. 17Das durchschnittliche Alter von Frauen bei Erstgeburt lag 1975 in der DDR bei 22,3 Jahren und in 2010 bei 27,4 Jahren, demgegenüber waren Frauen in der BRD durchschnittlich 24,8 Jahre alt im Jahr 1975 (diese Ziffer bezieht sich nur auf verheiratete Frauen) und 29,2 Jahre 2010 (vgl. bpb 2012). 18So

fassen Kreyenfeld & Konietzka die Entwicklungen in der Nachwendezeit folgendermaßen zusammen: „Ostdeutsche Mütter waren 1991 genauso wie 2004 dreimal so häufig vollerwerbstätig wie westdeutsche Mütter“ (ebd. 2008: 134). Die Berechnungen

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betreuung19 sowie die höhere Wertschätzung von Kindern prägt als ‚DDR-Erbe‘ das Denkmuster der Bürger in den neuen Bundesländern und markiert einen wesentlichen Unterschied zu der nach wie vor ausgeprägten Orientierung am modernisierten Versorgermodell von Eltern in den alten Bundesländern.20 Obgleich Differenzen bestehen bleiben, gewinnt eine Ausrichtung am ‚ostdeutschen‘ Vereinbarkeitsmodell unter Aufrechterhaltung der weiblichen Berufstätigkeit politisch und normativ an Relevanz. Seit der Jahrtausendwende zielen familienpolitische Regelungen auf eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie der Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt. Maßgeblich hierfür ist die Reform der Elternzeit, welche bereits 1992 auf eine 36-monatige Freistellung erweitert und 2001 mit der Möglichkeit, eine Berufstätigkeit bis zu 30 Wochenstunden parallel auszuüben, ergänzt wurde (vgl. Drasch 2011: 174). 2007 wurde ein Gesetz zur einkommensabhängigen Auszahlung von Elterngeld und zum Ausbau der Kinderbetreuungsinfrastruktur ratifiziert, das seit 2013 mit dem Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Zwei- bis Dreijährige einhergeht (vgl. Ahrens 2017: 249). Die Reform des Bundeselterngeldes- und Elternzeitgesetzes im Jahr 201521 setzt durch die Deckelung der Höhe und Dauer der Elterngeldauszahlung Anreize für einen zügigen beruflichen Wiedereinstieg. Zudem räumt es Paaren Handlungsspielräume für eine individuelle Aufteilung

beziehen sich auf Angaben zur tatsächlichen Wochenarbeitszeit von Frauen im Alter von 18 bis 45 Jahren, die ein Kind im Alter von 1 bis 15 Jahren im Privathaushalt haben. Eine Vollzeit-Beschäftigung definiert sich über einen Arbeitszeitumfang von mindestens 30 Wochenstunden. 19Die Betreuungsquote liegt demnach in den neuen Bundesländern insbesondere für Kinder unter drei Jahren und zwischen sechs und zehn Jahren um mehr als ein Dreifaches höher als in den alten Bundesländern und entspricht mehrheitlich Ganztagsbetreuungsplätzen (vgl. Krapf 2010: 14). 20Im Rahmen international vergleichender Wohlfahrtstaatsforschung kristallisiert sich der familialistisch ausgerichtete Wohlfahrtsstaat Deutschland mit seinen sozialpolitischen Rahmenbedingungen des Ehegattensplittings, der relativ langen Dauer der Elternzeit, der Mitversicherung nichterwerbstätiger Ehefrauen in der gesetzlichen Krankenversicherung und der Hinterbliebenenversorgung als förderlich für ein Fortbestehen eines geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungsmusters heraus (vgl. Kreyenfeld/Geisler 2006: 335 ff.). 21Da für meine Untersuchung der Zeitraum ab 2015 irrelevant ist, bedingt durch den Erhebungszeitpunkt meiner Studie, gehe ich an dieser Stelle nicht weiter auf Vor- und Nachteile der Reformen sowie ihrer Auswirkungen auf Vereinbarkeitspraktiken ein. Dafür verweise ich auf die Aufsätze von Ahrens (2017) und Blome (2017).

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von Erwerbs- und Familienarbeit fernab traditioneller Muster ein, da die Reform eine Verlängerung der Bezugsdauer um zwei Monate und eine individuelle Aufteilung vorsieht, sofern Väter für mindestens diesen Zeitraum die Betreuung übernehmen (vgl. ebd.). Doch geht Familiengründung häufig, insbesondere in den alten Bundesländern, mit einer Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse einher (vgl. Kaufmann 1994), welches verdeutlicht, dass trotz des insbesondere in der jüngeren Generation verbreiteten Ideals einer egalitären Arbeitsaufteilung Eltern sich in der konkreten Praxis in unterschiedlichem Umfang Haushalt und Kind zuwenden und die Realisierung weiblicher Erwerbsarbeit nachrangig zu der des Mannes ist (vgl. Koppetsch/Burkart 1999; Maiwald 2013; Schäfer 2003).

3 Reflexion ost-west-spezifischer Paar- und Familienforschung Die strukturelle Anpassung durch die politisch-rechtliche Vereinigung22 und die Übernahme des wirtschaftlichen Systems der sozialen Marktwirtschaft vermögen die unterschiedlichen Handlungs- und Einstellungsmuster, die sich auch in den jüngeren Kohorten reproduzieren, nicht (vollständig) aufzulösen. Wenn eine Erklärung für diese Entwicklung über die Bedeutung institutioneller Rahmenbedingungen und sozio-ökonomischer Faktoren nicht erschöpfend ist, dann rücken Erklärungsansätze zur kulturellen und sozialisatorischen Prägung beider Gesellschaften in den Vordergrund (u. a. Drasch 2011; Kreyenfeld/ Konietzka 2008; Trappe/Köppen 2014). Huinink et al. (2012) argumentieren dahin gehend, dass die intergenerationale Transmission von Werten und Einstellungen die Bereitschaft eines Individuums zur Anpassung an strukturelle Veränderungen begrenze und insofern einen langsamen Wandel induziere. Ergebnisse der Studie über das Gerechtigkeitsempfinden bezüglich der Arbeitsaufteilung bei ost- und westdeutschen Paaren mit und ohne Kinder von Trappe & Köppen (2014) bestärken diese Annahme. Sie fanden heraus, dass für das Gerechtigkeitsempfinden vor allem sozialisierte Geschlechterrollenvorstellungen sowie kulturelle Leitbilder entscheidend sind. Fortbestehende ­Ost-West-Unterschiede in der Wahrnehmung und Praxis der familiären Arbeitsteilung führen die beiden Autorinnen auf generationenübergreifende Tradierungen zurück. Auf

22Damit

ist „die Übernahme des westdeutschen Steuer- und Transfersystems und seiner familienpolitischen Regelungen […], welche stark auf das Familienmodell der männlichen Versorgerehe gerichtet waren“ (Kreyenfeld/Konietzka 2008: 123) gemeint.

142

F. Krüger

die Bedeutung von kulturellen Adaptions- und Sozialisationseffekten auf vereinbarkeitsbezogene Entscheidungsmuster weisen auch die Befunde aus einer Untersuchung von Grunow & Müller (2012) zu familienbedingten Erwerbsunterbrechungsmustern bei ostdeutschen, westdeutschen und ost-west-mobilen Frauen hin. Demnach würde sich das Rückkehrverhalten ost-west-mobiler Frauen, die in der DDR sozialisiert sind und im Westen ihre Familie gründen, bei längerem Verbleib im Westen den westdeutschen Standards annähern. Jedoch würde dieser Effekt unter der regionalspezifischen Bedingung einer hohen Betreuungs- sowie Arbeitslosenquote nivelliert. Das Ergebnis verdeutlicht die Wirkung habitualisierter Prägemuster im Rahmen der DDR-Sozialisation, welche in einer Passung mit strukturellen Faktoren aktiviert wird. Leider bleibt eine Analyse, wie das soziale Umfeld und der Partner die Entscheidungsfindung der Frauen beeinflusst, aus. Untersuchungen zur Wirkung des Geschlechterkontraktes (vgl. Pfau-Effinger 1993) und zu Leitbildern (vgl. Schäfer 2003; Schneider et al. 2018) verbindet die Annahme, dass kulturelle Leitbilder23 die Beziehung der Geschlechter zueinander und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung strukturierten. Die Wirkung kultureller und normativer Rollen- und Wertvorstellungen würde demnach den Einfluss wohlfahrtsstaatlicher Politik auf das faktische Handeln der Bürger modulieren (vgl. Drasch 2011: 180 f.) und aufgrund zweier fortbestehender Familienleitbilder in Ost und West zu differenten Entwicklungen führen (vgl. Schiefer/Naderi 2018). Schäfer appliziert diesen Ansatz auf o­st-westdeutsche Paare, deren Orientierung an Familienleitbildern sie über Erzählungen zum Zusammenleben des Paares rekonstruiert. Wesentlich ist ihr Befund eines „Beharrungsvermögen[s; F.K.] des ostdeutschen Geschlechterkontraktes“ (Schenk in Schäfer 2003: 83) bei einer gleichzeitigen Dethematisierung der unterschiedlichen Herkunft. Auch wenn es den Studien zur Erforschung von Leitbildern gelingt, Normen und Erwartungen als kulturelle Aspekte von Entscheidungen zu Elternschaft und Erwerbsarbeit in den Vordergrund zu rücken, so ist folgendes einzuwenden: Bei einem Leitbild handelt es sich um ein wissenschaftliches Konstrukt, das Zustimmungen zu Einstellungen und Praktiken in einem aggregierten Durchschnittswert zusammenfasst statt die subjektive Lebenswirklichkeit in seiner Vielseitigkeit und Widersprüchlichkeit zu erfassen.

23Leitbilder

begreifen die Autorinnen und Autoren als einen gesellschaftlichen Konsens hinsichtlich der Ausgestaltung von Familie und Elternschaft und als relativ unabhängig von institutionellen Rahmenbedingungen.

Zur Bedeutung der Herkunft für Vereinbarkeitsarrangements

143

Die rezipierten Forschungsansätze liefern zwar relevante Befunde für die eigene Untersuchung, jedoch schlage ich eine andere Vorgehensweise vor: Die herkunftsspezifische Bedeutung für die Ausgestaltung von Familien- und Erwerbsarbeit ist erstens als Teil heterogener Sozialisationsbedingungen neben familialen, milieuweltlichen, normativen und sozialstrukturellen Vorgaben herauszuarbeiten. Zweitens ist Herkunft im Zusammenhang mit der Transformation oder Reproduktion familienspezifischer Entscheidungsmuster im Zuge der genealogischen Abfolge zu analysieren. Und drittens muss die Paardyade in die Analyse einbezogen werden, in deren Kontext sich typischerweise jene Entscheidungsprozesse vollziehen. Wenn Herkunft als Teil der sozialisatorischen Prägung und Sozialisation als Prozess intergenerationaler Transmission von Deutungs- und Handlungsmustern verstanden werden, dann hat dies zur Konsequenz, dass die Bedeutung einer Ost-West-Sozialisation für Vereinbarkeitsarrangements in Zusammenhang mit der individuellen Bildungs- und Familiengeschichte zu untersuchen ist. An diese Überlegungen anknüpfend skizziere ich im nächsten Kapitel Sozialisationskonzepte, die Sozialisation an der Schnittstelle von Familie, Gesellschaftsstruktur und Sozialgeschichte definieren und auf denen meine empirische Arbeit basiert.

4 Konzeptionelle Anschlüsse Mit Ecarius (2010, 2013) lässt sich Familie als ein gesellschaftlicher Ort bestimmen, welcher über die wechselseitige Herausbildung, Tradierung und Modifizierung von Deutungs- und Handlungsmustern in familialer Interaktion sedimentierte Wissensbestände generiert, die sinn- und orientierungsstiftend sind. Die familiale Lebenswelt konstituiert sich wiederum in Verflechtung mit Sozialgeschichte, Gesellschaft und sozialen Milieus: „Eltern und Verwandte leben der jüngeren Generation bereits bestehende kulturelle Muster vor, in denen sich gesellschaftliche Strukturen, aber auch die Zugehörigkeit zu einem sozialen Milieu sowie die in der alltäglichen Lebensführung sedimentierten Interaktionsmuster widerspiegeln. Gleichzeitig vollzieht sich in der Familie die primäre Identitätsbildung der nachwachsenden Generation über intergenerationelle Interaktion und Muster der Anerkennung.“ (Ecarius 2010: 17)

144

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Kindern werden, so ist es in Oevermanns Theorie der Bildungsprozesse (2012)24 verankert, im Rahmen der familialen bzw. triadischen Interaktion kollektive Deutungen, Normalitätsvorstellungen und Wissensbestände angeboten, worüber sie einen sinnhaften Zugang zur Welt erhalten (vgl. Liebau 1987). Die Vermittlung einer objektiven Realität mit Regeln, wie Normen und Werten, sowie Sinnstrukturen, über welche sich die Fähigkeit zu einer moralischen, sprachlich-pragmatischen und logischen Urteilskraft herausbildet, charakterisiert Sozialisation (vgl. Abels/König 2010/2016: 144). Die Inkorporierung von Regeln des sozialen Handelns und handlungsleitenden Strukturen unterliegt einem familienspezifischen Selektionsprozess. Hier lassen sich die Annahmen von Oevermann und Ecarius verbinden: Über subjektive Sinnsetzungen kollektiver Deutungsangebote bilden sich familienspezifische Muster des Denkens und Handelns heraus, die in intergenerationalen Transmissionsprozessen transferiert werden. Familie bildet hierbei die primäre Sozialisationsinstanz, welche Oevermann als Triade aus Vater, Mutter und Kind mit den konstitutiven Elementen der Nicht-Ersetzbarkeit sowie Ganzheitlichkeit der Familienmitglieder beschreibt (vgl. Oevermann 2008: 50 f.). Der sich daraus ableitende Anspruch auf affektive sowie unbedingte Solidarität und Dauerhaftigkeit der Beziehung repräsentiert eine notwendige Voraussetzung für das Erlernen krisenbewältigender Interpretations- und Handlungsmuster, die aus der Bewährung an Konflikten hervorgehen (vgl. ebd.; Oevermann 2014: 42 ff.). Mit Oevermann (2008) und Hildenbrand (2005a/2015) ist die Perspektive durch die Einbeziehung der Großelterngeneration sinnvoll auf die Heptade zu erweitern. Für die erweiterte Betrachtung von Familie über mindestens drei Generationen sprechen zwei Argumente: Wenn Sozialisation die Erzeugung einer autonomen25 Lebenspraxis im Rahmen vollzogener Ablöseprozesse von den Eltern bedeutet (vgl. Liebau 1987: 126; Oevermann 2008: 51), dann ist erstens auch der Ablöseprozess der Elterngeneration von der nächst älteren Generation zu betrachten, um familienspezifische Muster in ihrer Dynamik zu erfassen (vgl. Hildenbrand 2005a/2015: 20; Oevermann 2008: 53 f.). Denn Bewältigungsmuster, Familienthemen und Interaktionsmuster, die sich „im familialen Mehrgenerationengefüge“ (Schierbaum 2017: 148) in Auseinandersetzung mit milieuweltlichen

24Erstveröffentlicht

1976 in: Hurrelmann, Klaus (Hg.), Sozialisation und Lebenslauf. Empirie und Methodik sozialwissenschaftlicher Persönlichkeitsforschung, Reinbek bei Hamburg: Rohwolt, 34–52. 25Unter autonom ist die Fähigkeit zur freien Entscheidung und damit zur Problemlösung zu verstehen.

Zur Bedeutung der Herkunft für Vereinbarkeitsarrangements

145

und gesellschaftlichen Prozessen herausbilden, reproduzieren und transformieren, zeichnen zweitens Erfahrungs- und Entwicklungsräume für die jüngste Generation vor, vor deren Hintergrund sich ihre Wirklichkeitskonstruktion entfaltet. Sozialisation befähigt unter Rekurs auf sedimentierte Erfahrungs- und Wissensbestände in Form von familial tradierten Handlungs- und Deutungsmustern zur Bewältigung von Handlungsproblemen26, die sich dem Individuum als krisenhaftes Moment im Sinne eines Entscheidungszwangs vor dem Hintergrund eines gegebenen Handlungsspielraums stellen (vgl. Oevermann 2002: 9).27 Eine solche Handlungsanforderung stellt das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf dar, welches Paare mit Kind(ern) sowohl praktisch im Handlungsvollzug als auch deutend zu lösen haben, ohne sich an verbindlichen Vorgaben orientieren zu können. In paarspezifische Ausgestaltungsprozesse fließen demzufolge erlernte und internalisierte Bewältigungsmuster aus der jeweiligen Herkunftsfamilie ein. Die familiale, milieuweltliche und geografische Herkunft aus der ehemaligen DDR und der früheren BRD mit ihren besonderen Familienkulturen – der doppelten Integration von Frauen in Beruf und Familie unter Externalisierung der Kinderbetreuung in der DDR und das geschlechtsspezifische Arbeitsteilungsmuster mit einer mutterzentrierten ­(Klein-)Kinderbetreuung in der BRD – dient in Form einer Erfahrungsaufschichtung als Orientierungsfolie und ggf. Begründungszusammenhang in paarspezifischen Entscheidungsprozessen. Mit Berger & Kellner (1965) und Maiwald (2013) wissen wir, dass Paare im Rahmen von interaktiv generierten Wirklichkeitskonstruktionen und Prozessen der Selbst-Institutionalisierung in der alltäglichen Lebenspraxis eine eigene soziale Ordnung mit normativen Überzeugungen aushandeln. Die unterschiedlich herkunftsbezogenen Sozialisationsbedingungen in ihrer handlungs- und deutungspraktischen Wirkungsmacht repräsentieren in diesem Zusammenhang sowohl eine Ressource als auch eine Zumutung für die Ausgestaltungsprozesse

26Im

Anschluss an Loer ist das Handlungsproblem als „analytische Kategorie, nicht als alltagspraktischer Ausdruck zu verstehen. In diesem Sinne ist jegliches Handeln Lösen eines ihm zugrundeliegenden Problems, Antwort auf eine ihm zugrundeliegende Frage.“ (Loer 2013: 11). 27Doch wird die Krise nicht immer manifest, verflüchtigt sich gar im Zuge der Entscheidungsfindung, wenn Subjekte auf erprobtes und krisenlösendes Handlungswissen zurückgreifen können (Garz/Raven 2015: 28 f.). Dieses Wissen steht uns als Erfahrungsund typisiertes Wissen über unsere Alltagswelt zur Verfügung (vgl. Berger/Luckmann 1969/2013: 44 f.).

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ost-westdeutscher Paare. Wie sie schließlich handelnd und deutend agieren, ist sowohl als Resultat bewusster Entscheidungs- und Auswahlprozesse, die sich dann in Form von Aushandlungen und Begründungen manifestieren28, als auch latenter Sinnstrukturen infolge internalisierter Werte- und Einstellungsmuster zu verstehen. Die Wirkung von latenten Strukturen des Handelns auf die faktische Arbeitsteilung von Paaren lässt sich mit Maiwald (2013) auf drei Ebenen untersuchen, von denen uns im Folgenden die ersten beiden im Rahmen der nachstehenden Genogrammanalyse interessieren: Einerseits geht es um in der Sozialisation inkorporierte und habitualisierte Neigungen und Zuständigkeiten. Andererseits bilden sich „unterschwellige Orientierungen des Handelns“ (ebd.: 914) heraus, welche implizit Vorstellungen und Handeln von Paaren strukturierten. Auf der dritten Ebene speist sich, wie schon angesprochen, aus den individuellen normativen Überzeugungen ein „gemeinsam geteilter Modus der Kooperation“ (ebd.: 916), der das alltägliche Miteinander von Paaren kennzeichnet.

5 Forschungshintergrund und methodisches Gerüst Die folgende Fallrekonstruktion habe ich im Rahmen meiner laufenden Promotionsarbeit zum Thema „Familiale Lebenswelten – Zur Bedeutung individueller Sozialisationshintergründe für die beruflich-familiale Praxis ­ost-westdeutscher Paare“ durchgeführt. An das Paar Hübner bin ich über eine Streuung meines Vorhabens in diversen sozialen Medien – hier kam mir das Schneeballprinzip zugute – herangetreten und habe es im Jahr 2015 zweimal interviewt. In den Paarinterviews ging es in einem Teil um den Prozess der Paar- und Familienbildung und der damit zusammenhängenden Frage nach der Bedeutung der Ost-West-Herkunft für paarbezogene Handlungs- und Deutungsmuster hinsichtlich der Vereinbarkeit familial-häuslicher und erwerbsbedingter Aufgaben. Die Gespräche folgten weitestgehend einer chronologischen Darstellung von paar- und familienbiografischen Ereignissen, gewährten aber auch ausreichend Raum für eigene thematische Akzentuierungen des Paares. In einem zweiten Teil habe ich in biografischen Erzählungen zur Familiengeschichte

28Rationalisierungen

und Plausibilisierungen vollziehen sich so erst im Nachgang als begründungsverpflichtendes Element des Entscheidungsprozesses und sind über Deutungen, Argumentationen und Interpretationen zu rekonstruieren.

Zur Bedeutung der Herkunft für Vereinbarkeitsarrangements

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Daten zur Herkunftsfamilie und zum eigenen Lebenslauf der Personen erhoben. Das darauf aufbauende Genogramm bildet (grafisch) die biografischen Ereignisdaten der Herkunftsfamilien des Paares über drei Generationen ab. Es stellt einen eigenen Datentyp fallrekonstruktiver Familienforschung (Hildenbrand 2005a, b/2015) dar. Die generationenübergreifende Beziehungs- und Familiengestalt in ihrer soziostrukturellen Einbettung sequenzanalytisch zu rekonstruieren, ermöglicht, Familienmuster und Familienthemen in ihrer Reproduktion und Transformation zu analysieren. Bei dem vorliegenden Fall geht es darum, die im Zuge der Sozialisation und individuellen Bildungsgeschichten des Paares generierten Strukturen zur Ausgestaltung des Erwerbs- und Familienlebens zu rekonstruieren, die das für die Herkunftsfamilie typische Entscheidungsmuster repräsentieren. Konkret leiten folgende Fragen die nachstehende Genogrammarbeit an: In welche elterlichen Arbeitsteilungsmuster ist das Paar sozialisiert? Welche diesbezüglichen Einstellungen und Überzeugungen hat es in seiner Sozialisation habitualisiert, denen es implizit im Handeln folgt? Welche milieuweltlichen und herkunftsspezifischen Bezüge zu Normen und Normalitätsvorstellungen in der Ausgestaltung von Erwerbs- und Familienarbeit sind als Sedimente in die herkunftsfamilialen Vereinbarkeitsmuster eingelagert? Genereller formuliert: Welche biografischen Dispositionen sind zu erkennen, mit denen das Paar Hübner ein Doppelversorgermodell mit externer Betreuung der Kinder in den alten Bundesländern ausgestaltet?

6 Fallanalyse29 6.1 Kurzportrait und Vereinbarkeitsarrangement des Paares Claudia (*1975, DDR) und Heiko (*1967, BRD) wachsen nicht weit voneinander entfernt in der Nähe der ehemaligen innerdeutschen Grenze auf und lernen sich Anfang 1990 über ein gemeinsames Hobby der männlichen Familienmitglieder beider Familien kennen. Zwei Jahre später werden sie ein Paar und heiraten 1995. Sie leben patrilokal im umgebauten Elternhaus von Heiko, das sie sich mit seinen Eltern bis zu deren Tod geteilt haben. Ihre beiden Kinder werden 1998 und 2004

29Zum

Zweck der Anonymisierung wurden weitestgehend alle Merkmale, die Rückschlüsse auf Personen zulassen, verfremdet.

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geboren. Korinna, das älteste Kind, bedarf wegen einer erblichen Erkrankung einer medikamentös-therapeutischen Betreuung. Nach der Geburt von Korinna unterbricht Claudia ihre Erwerbstätigkeit für zehn Monate und kehrt mit 25 Arbeitswochenstunden in ihren Beruf zurück. Korinna wird bis zu ihrem vierten Lebensjahr von einer Tagesmutter im Heimatort betreut. Danach besucht sie bis zur Einschulung einen heilpädagogischen Kindergarten im Arbeitsort des Paares. Zehn Wochen nach Timos Geburt setzt Claudia ihre Berufstätigkeit in einem Umfang von zehn Wochenstunden fort. Im ersten Lebensjahr teilen sich die Eltern in die Betreuung von Timo hinein, was aufgrund des Dreischichtbetriebes von Heikos Arbeitsstelle möglich ist. Heiko bleibt weiterhin in Vollzeit berufstätig. Bis Timo einen Ganztagsplatz im Kindergarten erhält30, setzt das Paar auf ein gekoppeltes Betreuungssystem aus Tagesmutter und Kindergarten. Im Zuge der Externalisierung der Betreuung des Sohnes erhöht Claudia ihre Arbeitszeit auf 25 Wochenstunden. Zu Timos Einschulung kehrt Claudia auf ihre Vollzeitstelle zurück.

6.2 Analyse der Herkunftsmilieus des Paares Die Daten für die Genogrammanalyse sind aus den beiden Paarinterviews zusammengetragen. Beginnen wir mit der Analyse von Claudias Familiengeschichte, da sie im Interview auch diejenige ist, die zuerst über ihre Herkunftsfamilie erzählt. Genogrammanalyse von Claudia Hübner Obgleich Claudia ihre Familiengeschichte ausgehend von ihrer Person erzählt, setzen wir in der Rekonstruktion in zeitlicher Chronologie bei den Großeltern an, um über die gedankenexperimentelle Entwicklung von Entscheidungs- und Handlungsspielräumen die tatsächlich getroffenen Entscheidungen, die sich in der Bildungsgeschichte der einzelnen Familienmitglieder materialisiert, zu analysieren und darüber Individuierungsprozesse von Claudia aus ihrem Herkunftsmilieu zu untersuchen. Unter Beachtung des inneren Kontextwissens stellen wir uns nun die Frage, vor welchem Sozialisationshintergrund es dazu kommt, dass die in der DDR aufgewachsene Claudia mit einem in der BRD sozialisierten Mann eine Familie

30Hierzu

liegt kein Datum vor.

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149

gründet und nach einem DDR-spezifischen Vereinbarkeitsmodell in ihrem westdeutschen Heimatort lebt? Wir setzen die Analyse bei den Eltern von Claudias Vater an. Sozialisationsmilieu von Klaus-Dieter: Klaus-Dieters Vater, Gerhard (*1927), stammt als zweitältestes Kind aus einer neun-köpfigen Familie aus dem Riesengebirge und gelangt im Zuge seiner Kriegsgefangenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in seine neue Heimat im heutigen Sachsen-Anhalt. In vorwärtsgewandter Suche nach neuen biografischen Gestaltungsmöglichkeiten gelingen Gerhard über die Aufnahme eines Studiums und das Kennenlernen seiner zukünftigen, ortsansässigen Ehefrau Gisela (*1929) Stabilisierungsleistungen. Über die matrilokale Ansiedlung auf einem gemeinsamen Grundstück mit Giselas Eltern schafft sich Gerhard eine lokale Verankerung und das junge Paar eine familiale Solidargemeinschaft sowie durch die ländlich-dörfliche Lebensweise mit Eigenanbau und Tierhaltung eine autonome, der Mangelwirtschaft in der Nachkriegszeit und der Lebensmittelknappheit zu DDR-Zeiten trotzende Lebenswelt. Gerhard und Gisela werden in der Landesproduktionsgenossenschaft (LPG)31 anstellig, Gerhard in einer leitenden Position in der Verwaltung und Gisela in geringem Umfang als saisonale Aushilfskraft in der Vieh- und Landwirtschaft. Nach der Heirat 1951 würde eine zügige Familiengründung der Eltern von ­Klaus-Dieter für eine am väterlichen Familienmilieu orientierte Realisierung eines ausgeprägten Familiensinns sprechen. Ließe sich das Paar Zeit für berufliche und paarbezogene Entwicklungsprozesse und die Herausbildung ökonomischen Kapitals, dann stünden Autonomiebestrebungen gegenüber Giselas Elternhaus im Vordergrund. Mit den 1952 und 1956 geborenen Kindern KlausDieter und Elisabeth bekunden Gerhard und Gisela ihre Familienorientierung ohne Verzicht auf Freiräume für Paarbildungsprozesse. Vater Klaus-Dieter: Im Rahmen des mehrgenerationalen Familiengefüges werden Klaus-Dieter und seine Schwester Elisabeth im familialen Binnenraum ohne Einbeziehung staatlicher Angebote durch die weiblichen Familienmitglieder sozialisiert. Der traditionelle Charakter der Betreuung widerläuft dem kollektiven

31Die

Transformation der Landwirtschaft durchlief in der DDR bzw. der sowjetischen Besatzungszone drei Phasen: Sie hat mit der Bodenreform 1945/46 begonnen, bei der Großgrundbesitzer und Großbauern zwangsenteignet wurden. Darauf folgte in den 1950er und 1960er Jahren eine Phase der Kollektivierung von Land durch weitere Enteignungen und Gründungen von Landesproduktionsgenossenschaften, die in der dritten Phase in auf Pflanzenanbau und Massentierhaltung spezialisierten Großbetrieben aufgingen (vgl. Geißler 1992/2014: 176 f.).

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Erziehungsanspruch des DDR-Systems und ist Ausdruck einer familienspezifischen Norm zur Wahrung der Binnenzentrierung. Auch die auf saisonale Aushilfstätigkeiten in der LPG begrenzte Arbeit seiner Mutter bezeugt das familiale Arrangement mit dem DDR-Regime zugunsten eines größtmöglichen Rückzugs ins Private. Über die Berufswahl von Klaus-Dieter wird ersichtlich werden, ob in Orientierung am ländlichen Milieu der Herkunftsfamilie das Familienthema in der Verstetigung über regionale Sesshaftigkeit liegt oder vielmehr der Anschluss an die Moderne handlungsleitend ist. Welche Entscheidung trifft Klaus-Dieter? Schauen wir uns dafür nachfolgend seine Berufswahl an. Klaus-Dieter erlernt im Heimatort einen Beruf in der Land- und Forstwirtschaft und bricht ein darauf aufbauendes Studium ab. In seiner Berufswahl spiegelt sich die Aufgabe wider, die Stabilisierung im sozialen und räumlichen Milieu zu reproduzieren und darüber die soziale Integration zu festigen, wie sie Klaus-Dieter gemäß seiner Strukturposition als ältestes Kind zukommt (vgl. McGoldrick/Gerson 1990: 50 ff.). Elisabeth als die Jüngere von beiden Geschwistern kann von dieser Erwartung befreit ihren beruflichen Werdegang gestalten. Sie zieht in eine nahegelegene Kleinstadt und eröffnet ein eigenes Geschäft. Über ihre berufliche Selbstständigkeit löst sie sich aus ihrem familialen Herkunftsmilieu heraus. Welche Partnerwahl ist vor dem sozialisatorischen Hintergrund von ­Klaus-Dieter zu erwarten? In einer milieuhomogenen und regionalen Wahl der Partnerin würde sich seine in Solidarität zur Herkunftsfamilie stehende Lebenspraxis fortsetzen. Wählt er sich eine Frau, die weder ortsansässig noch aus dem gleichen Milieu stammt, wäre das ein Indiz dafür, dass es bei der Partnerwahl darum geht, sich von seinem Herkunftsmilieu abzulösen. Bliebe er mit seiner Partnerin im Heimatort, könnte die patrilokale Wohnform des Paares als eine Bewahrung der lokalen Verankerung und als Verdichtung seines familialen Milieus gelesen werden. Klaus-Dieter heiratet 1975 Astrid (*1956). Betrachten wir im Folgenden, in welchem sozialisatorischen Milieu Astrid aufgewachsen ist (Abb. 1). Sozialisationsmilieu von Astrid: Als Älteste von insgesamt sieben Kindern entstammt Astrid, Claudias Mutter, einer dem produzierenden Arbeitermilieu zugehörigen und urban lebenden Familie. Ihre Eltern Walter (*1933) und Irmgard (*1932) sind beide berufstätig. Walter als Schreiner und Irmgard als Köchin. Sie leben einen für das Arbeitermilieu und die DDR typischen Lebensentwurf in doppelter Orientierung auf Erwerbsarbeit und Familiengründung. Zugleich bekundet die hohe Reproduktionsrate eine traditionelle Einstellung zu Familie. Mit dem beruflichen Wechsel von Walter in eine regierungsnahe Position im modernen Dienstleistungssektor, die eine Systemkonformität mit

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151

Abb. 1   Genogramm Claudia Hübner, eigene Darstellung

dem DDR-Regime impliziert, verbessert sich der soziale Status der Familie und darüber der familiale Entscheidungs- und Handlungsspielraum. Für Astrid, auf deren Lebensweg ich mich in der folgenden Analyse konzentrieren möchte, und ihre Geschwister bieten sich zwei Anschlussmöglichkeiten in ihrer Berufswahl: Orientiert sich Astrid am Arbeitermilieu der Eltern, dann würde sie an ihren Schulabschluss eine Ausbildung anschließen. Die Entscheidung für einen Beruf im handwerklichen oder gastronomischen Bereich spräche für eine positive Evaluation der elterlichen Berufe. Denkbar wäre aber auch, dass Astrid einen pflegerischen Beruf erlernt, denn sie ist als älteste Tochter in einem großen Familiengefüge mit der Aufgabe, für die jüngeren Geschwister zu sorgen, sozialisiert. Setzt Astrid hingegen an der beruflichen Umorientierung von ihrem Vater an, dann würde sie eine moderne Berufswahl treffen, die möglicherweise auch eine Nähe zum System der DDR impliziert. Schauen wir uns an, welche Entscheidungen Astrid und ihre Geschwister treffen. Während Astrid, die Älteste, und Ute, die Jüngste, Berufe wählen, die nicht an die unmittelbare proletarische Lebenswelt anschließen, entscheiden sich die anderen Geschwister für Berufe aus dem handwerklichen Bereich und dem Dienstleistungssektor. Beide Frauen absolvieren im Abschluss an die Erweiterte Oberschule (EOS) ein Studium.

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Ute bleibt als Staatsangestellte im Heimatort. Der Weg in höhere und systemnahe Berufspositionen wurde vermutlich durch Walters Anstellung beim Staatsapparat geebnet. Im Gegensatz zu der im beruflichen Werdegang der Geschwister angelegten milieuweltlichen Reproduktion vollziehen Astrid und Ute über den Erwerb von Bildungskapital (in Form des Abiturs) eine Transformationsbewegung aus dem elterlichen Milieu heraus. Astrids Berufswahl ist insofern als Vorwärtsbewegung in die Moderne in Orientierung an der väterlichen Figur zu lesen. Vergleichen wir die beiden Herkunftsmilieus von Klaus-Dieter und Astrid wird ersichtlich, dass sie aus Familien stammen, in denen sowohl die Väter als auch die Mütter erwerbstätig waren. Zugleich sind beide Herkunftsmilieus durch eine hohe Familienorientierung geprägt. Erst auf die Absicherung von Bildungskapital setzen Paar- und Familiengestaltungsprozesse ein, die sich zügig vollziehen. Den Herkunftsfamilien, die im Arbeitermilieu (Walter und Irmgard) und im bäuerlichen Milieu (Gerhard und Gisela) wurzeln, sind Adaptionsbemühungen an die moderne Arbeitswelt der DDR gemeinsam. In beiden familialen Herkunftsmilieus liegen ähnliche Lösungen für das Handlungsproblem, wie Beruf und Familie vereinbart werden können, vor. Vorstellbar ist, dass sich Astrid und Klaus-Dieter an den elterlichen Entscheidungsmustern orientieren. Dies würde sich darin ausdrücken, dass sie zügig im Anschluss an die Heirat Familie gründen, mindestens zwei Kinder bekommen und beide einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Sollte in der Lebensgestaltung des Paares der Fokus auf Astrids Bildungsaspirationen liegen, so wären wir nicht verwundert, ein Vereinbarkeitsarrangement vorzufinden, in dem Familienbildungsprozesse dem Berufseinstieg und beruflichen Engagement von Astrid nachgelagert sind. Demgemäß würden wir eine Vereinbarkeitsstrategie erwarten, die darauf ausgerichtet ist, Astrid die Ausgestaltung einer Berufskarriere zu ermöglichen. Ausdruck dessen wären zum Beispiel eine niedrigere Reproduktionszahl und eine außerhäusliche Betreuung des Nachwuchses. Kommen wir nun zu Klaus-Dieter und Astrid. Klaus-Dieter und Astrid: Das Paar lebt im Heimatort von Klaus-Dieter und bezieht einen Anbau, der zum Elternhaus von Klaus-Dieter gehört. Nach der Heirat des Paares im Jahre 1975 kommen drei Töchter zur Welt. Noch im gleichen Jahr der Heirat wird Claudia geboren, 1978 kommt Daniela zur Welt und 1984, nach einer Fehlgeburt, wird Sandra geboren.32 Astrid ist zum Zeitpunkt der Geburt ihres ersten Kindes 19 Jahre alt. Es ist nicht bekannt, in 32Astrids

Fehlgeburt und der erneute und dieses Mal geglückte Ansatz eines dritten Nachkommens bestärkt das Argument, dass das Reproduktionsverhalten von Klaus-Dieter und Astrid auf die Schließung einer bestimmten Familiengestalt strebt.

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welchem Z ­ eitraum Astrid studiert hat, jedoch lässt sich aufgrund des historischen Kontextes vermuten, dass im Zuge der zu DDR-Zeiten typischen Berufslenkung33 sie das Studium nahtlos an die Schullaufbahn angeschlossen hat. Dieser Annahme folgend, gehen wir im Weiteren davon aus, dass die Familiengründung des Paares und das Studium von Astrid zeitlich zusammenfallen. Im Anschluss an ihr Studium ist Astrid bis heute in der Verwaltungsleitung einer staatlichen Sozialeinrichtung anstellig. Dass trotz Mutterschaft berufliche Aspirationen nicht stillgelegt werden, entspricht nicht nur dem sozialisierten familialen Muster von ihrer Herkunftsfamilie, sondern auch der für weibliche Normalbiografien charakteristischen Synchronisation beider Lebensbereiche zu DDR-Zeiten. Mit der patrilokalen Ansiedlung in direkter Nähe zu Klaus-Dieters Eltern, der Heirat im jungen Alter und der für DDR-Verhältnisse untypisch hohen Reproduktionsrate von drei Kindern34 lässt sich die Vermutung bestätigen, dass sich in den Paar- und Familienbildungsprozessen von Klaus-Dieter und Astrid die sozialisatorischen Vereinbarkeitsmuster der Eltern reproduzieren und der ausgeprägte Familiensinn bewahrt wird. Was können wir zur Partnerwahl von Klaus-Dieter und Astrid sagen? Es gründen hier zwei Personen eine Beziehung, die milieuhomogen, jedoch in regional unterschiedlichen Kontexten aufgewachsen sind. Beide haben im Geschwistersystem die Strukturposition des bzw. der Ältesten inne und sind daher zumindest latent mit der Aufgabe konfrontiert, das Familienspezifische in der Ausgestaltung ihrer Lebenspraxis fortzusetzen. Für Klaus-Dieter besteht das Familienthema in der lokalen und milieuweltlichen Verankerung, welches er berufsbiografisch und in seiner Partnerwahl realisiert. Durch die mehrgenerationale Wohnform und die Heirat einer Frau, in deren Biografie die Aufgabe integriert ist, über die Aufnahme eines Studiums Bildungsprozesse zu vollziehen, gewinnt Klaus-Dieter nicht nur eine Partnerin, mit der familiale Beziehungen verdichtet und an familiensolidarische Werte angeschlossen werden kann, denn auch Astrid stammt aus einem Herkunftsmilieu mit einem hohen Maß an Familiensinn. Sondern er gewinnt durch Astrid, der Bildungsaufsteigerin, ein

33Die

Wahl von Ausbildung, Studium und Beruf war keine Entscheidung des Einzelnen, sondern wurde in der DDR staatlich in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft, der individuellen Eignung und den wirtschaftspolitischen Interessen gelenkt. 34Obwohl aufgrund umfassender familienpolitischer Unterstützungsmaßnahmen die Geburtenziffer 1980 auf 1,94 anstieg, lag die durchschnittliche Kinderanzahl pro Frau im Zeitraum von 1975 bis 1985 bei 1,54 und 1,73 und damit deutlich unter der Reproduktionsleistung von Klaus-Dieter und Astrid (vgl. Stat. Bundesamt 2012).

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Mitglied für seine Familie, das einen höheren sozialen Status anstrebt und das angeheiratete Milieu mit Aspekten von Neuem konfrontiert, die ihm aber nicht ganz unbekannt sind, da auch Klaus-Dieter mit der Aufnahme eines Studiums Transformationsbewegungen zum Ausdruck gebracht hat. Das Muster, Fremde mit Bildungsaspirationen in das Verwandtschaftssystem einzugliedern, ist uns schon von Klaus-Dieters Eltern bekannt. So findet Gerhard, der Vater von Klaus-Dieter, nach seiner Entwurzelung aus seiner Heimat im Familiensystem von seiner Partnerin Gisela ein neues Zuhause und bringt über sein Studium Bildungskapital ein. Dieses Muster wiederholt sich in der nachfolgenden Generation: Auch Astrid, wie ihr Schwiegervater Gerhard ortsfremd und dem Habitus nach ein Bildungsaufsteiger, wird in das angeheiratete Familiensystem integriert. K ­ laus-Dieters Partnerwahl stellt eine weitere Säule in seinem Verstetigungsbestreben dar, die seinen Lebensentwurf fundiert. Für Astrid bedeutet die Partnerwahl, die Heimat zu verlassen und sich im angeheirateten Familienmilieu einzurichten. In ihrer räumlichen Mobilität drückt sich ein weiterer Schritt des Ablösungsprozesses von der Herkunftsfamilie aus. Dass sie in ein dichtes Familienmilieu im ländlichen Raum einheiratet, schafft für sie günstige Voraussetzungen, um in übersichtlichen Verhältnissen und mit der aktiven Unterstützung durch ­Klaus-Dieters Familie ihren Bildungsweg zu verfolgen. In der eigenen Herkunftsfamilie wäre dies nicht denkbar gewesen, da sie als erste Bildungsaufsteigerin der Familie ihrem familialen Herkunftsmilieu entwachsen ist. Zudem sind die elterlichen Ressourcen in Sozialisationsaufgaben für Astrids jüngere Geschwister gebunden. Mit der Heirat von Klaus-Dieter wählt sie ein Familienmilieu, das im Gegensatz zu ihren Eltern nicht mehr in Sozialisationsaufgaben gebunden ist, denn Klaus-Dieter und Elisabeth sind bereits volljährig, und Kapazitäten hat, um den mitgebrachten Bildungsauftrag einlösen zu können. Die stillgelegten Bildungsaspirationen von Klaus-Dieter, der sein Studium abgebrochen hat, schaffen darüber hinaus begünstigende Bedingungen für Astrids Bildungsweg: Erstens kann er seiner Partnerin solidarische Unterstützungsleistungen zukommen lassen, da er aus eigener biografischer Erfahrung einzuschätzen vermag, was es bedeutet, ein Studium aufzunehmen. Klaus-Dieter ist aber nicht nur vertraut mit Astrids Anliegen des Bildungsaufstiegs, sondern kann zweitens infolge seiner geregelten Berufstätigkeit Ressourcen – finanzieller wie zeitlicher Natur – mobilisieren. Die Heirat eines Mannes aus einem traditionellen Familienmilieu mit geschlechtsspezifischen Rollenvorstellungen hätte ihr hingegen den Bildungsaufstieg erschwert. Ihre Heiratsstrategie steht für eine Reproduktion des milieuspezifischen Familiensinns bei gleichzeitiger Verwirklichung des Bildungsaufstiegs.

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Sozialisationsmilieu von Claudia: Claudia und ihre jüngeren Schwestern Daniela (*1987) und Sandra (*1984) werden in ein mehrgenerationales Familiensystem hineingeboren, das im ländlichen Raum verankert ist. Sie wachsen mit berufstätigen Eltern auf. Bis zu ihrem fünften Lebensjahr wird Claudia von ihrer Großmutter Gisela zuhause betreut. Erst als ihre jüngere Schwester Sandra den Kindergarten besucht, wechselt auch sie in den Kindergarten. Ab ihrer Einschulung besucht Claudia den Schulhort, in dem Schulkinder im Anschluss an den Unterricht für einen vereinbarten Zeitraum unter Aufsicht bleiben und neben dem Erledigen von Hausaufgaben Zeit zum gemeinsamen Spielen haben. Das Familiensystem, in das Claudia sozialisiert wird, bewahrt über die lokale Einbindung ins Dorf und die verdichteten Familienverhältnisse einen familienspezifischen, mit dem traditionellen Lebensstil des dörflichen Lebensraumes in Einklang stehenden Familiensinn. Claudias nicht-zeitgemäße binnenfamiliale Betreuung über das Verwandtschaftssystem fügt sich in die binnenzentrierte, traditionelle Familienorientierung ein. Zugleich erfährt Claudia über ihre Eltern die Orientierung auf ein modernes, auf Berufstätigkeit ausgerichtetes Vereinbarkeitsmodell, wenn es um die Ausgestaltung von Familien- und Erwerbsarbeit geht. Welche Vermutungen lassen sich anstellen, wenn es darum geht, wie sich Claudia und ihre Schwestern zu ihren Sozialisationsbedingungen verhalten? Welche Entwicklungen sind zu erwarten? In der Gestaltung ihrer Lebenspraxis können sie einerseits an den mütterlichen Bildungsaufstieg anknüpfen. Das würde sich zum Beispiel in der Entscheidung zu studieren ausdrücken. Andererseits ist auch nicht auszuschließen, dass sie in starker Milieugebundenheit dem traditional-dörflichen Charakter ihres Elternhauses verbunden bleiben und sich berufsbiografisch stärker an dem Beruf ihres Vaters, der in der Forstwirtschaft beschäftigt ist, orientieren und einen praktischen Ausbildungsberuf wählen, beispielsweise einen aus dem Bereich der Garten- oder Tierpflege. Stellen Gerhard und Gisela, die Großeltern väterlicherseits, ein Vorbild für die Berufswahl dar, dann ist eine landwirtschaftliche Ausbildung vorstellbar. Vor dem Hintergrund der einsetzenden Transformationsprozesse im Zuge der deutschen Wiedervereinigung eröffnen sich zudem neue Möglichkeiten räumlicher Mobilität und beruflicher Lebensgestaltung, die Einfluss auf biografische Entscheidungsprozesse nehmen können. Wir wissen, dass Claudia in der Geschwisterreihe in der Position der Ältesten ist, die typischerweise mit einer elterlichen Vorbestimmung in der Gestaltung der Lebenspraxis einhergeht. Vor diesem Hintergrund können wir die Annahme aufstellen, dass ihr biografischer Werdegang erstens durch die Übernahme des elterlichen Bildungsauftrages und zweitens durch die selbstverständliche berufliche

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Orientierung bei gleichzeitiger Tradierung familiensolidarischer Werte gekennzeichnet sein wird. Bildungsbiografisch wären dann der Abschluss des Abiturs und die Aufnahme eines Studiums erwartbar. Ihre Partnerwahl betreffend könnte ihre Heiratsstrategie darauf ausgerichtet sein, einen Mann zu heiraten, der durch seine familienspezifische Sozialisation imstande ist, ihren Bildungsaufstieg zu unterstützen ohne auf die Bildung einer Familie zu verzichten. Als denkbar günstig für die Ausgestaltung dieser Aufgabe erwiese sich ein Partner, der mit Eltern aufgewachsen ist, die beide berufstätig waren und die Doppelbelastung von Beruf und Familie übersetzen können in Unterstützungsleistungen, die sie dem jungen Paar zukommen lassen. Wählt sie einen Partner, der aus Berufsbildungsprozessen freigesetzt und bereits berufstätig ist, stünden Ressourcen für ihren aufstrebenden Bildungsweg zur Verfügung. Wir würden ein Muster wiederfinden, mit dem Claudia an ihre Mutter anschließt. Eine andere denkbare Partnerwahl stellt die Heirat in ein bildungsbürgerliches Familienmilieu dar. Bevor wir die aufgezeigten Möglichkeiten der Partnerwahl mit der getroffenen Entscheidung von Claudia konfrontieren, indem wir über die Rekonstruktion des sozialisatorischen Milieus von Claudias Partner, Heiko, die Heiratsstrategie herausarbeiten, blicken wir kurz auf die Berufsbiografien von Claudia und ihren beiden Schwestern: Alle drei schließen die Schullaufbahn mit dem Abitur ab. 1997 absolviert Claudia ihr Studium zur Diplom-Verwaltungswirtin und arbeitet im Anschluss daran in der Kommunalverwaltung einer Großstadt im Nordwesten Deutschlands. Ihre Schwestern brechen ihre Ausbildungen und Studiengänge mehrfach ab, bevor sie sich beruflich festlegen und sich in räumlicher Nähe zu ihrer Herkunftsfamilie mit ihren Partnern niederlassen. Im Gegensatz zu Claudias kontinuierlichem Werdegang zeichnen sich die Lebensläufe der Schwestern durch Suchbewegungen sowohl in der Partner- als auch Berufswahl aus, welche als typisch für die Wendegeneration gelesen werden können. In Claudias Berufsbiografie kommt hingegen wie vermutet die handlungsleitende Orientierung am Bildungsweg ihrer Mutter zum Ausdruck. Gemäß der Position einer Ältesten im Geschwistergefüge realisiert sich in ihrer Lebenspraxis der von den Eltern delegierte Bildungsauftrag als Familienthema. Genogrammanalyse von Heiko Hübner Wie bei der Untersuchung von Claudias familialem Herkunftsmilieu gehen wir auch hier so vor, dass wir der Genogrammanalyse von Heiko eine Fragestellung voranstellen. Vor dem Hintergrund der bisherigen Analyse fragen wir uns, ob Claudia eine Partnerwahl getroffen hat, mit der es ihr gelingt, die von ihrer Mutter übernommene Aufgabe, Bildungsaspirationen und Familiengründung zu synchronisieren, einzulösen. Daher interessiert uns bei der Rekonstruktion von

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Heikos familialem Herkunftsmilieu, wie dieses die Aufgabe des jungen Paares, Erwerbs- und Familienarbeit zu vereinbaren, unterstützen kann und welche sozialisatorische Prägung Heiko erfahren hat, wenn es darum geht, familiale und berufliche Aufgaben miteinander abzustimmen. Beginnen wir wieder bei den Großeltern väterlicherseits, um ein familienspezifisches Orientierungs- und Entscheidungsmuster in seiner chronologischen Entwicklung zu rekonstruieren, welches aufzeigt, wie die familialen Ausgestaltungspraktiken zur Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit strukturiert sind. Großeltern väterlicherseits: Die Großeltern Hans und Alma35 bringen aus ihren ersten Ehen Kinder in ihre zweite Ehe ein. 1933 wird ihr Sohn Rolf, der Vater von Heiko, geboren. Die Heirat ist demnach nicht nur zweckmäßig darauf ausgerichtet, einen stabilen Sozialisationsrahmen für den aus der jeweils ersten Ehe stammenden Nachwuchs zu generieren. Vielmehr verbindet das gemeinsame Kind das Paar in seiner geteilten Liebe, Sorge und Verantwortung für dieses und fundiert dessen Liebesbund. Doch die Beziehung währt nicht lange. Die Scheidung des Ehepaares und der darauf folgende Wegzug von Hans widerlaufen dem Strukturmodell der familialen Triade und den dazugehörigen Merkmalen: Unkündbarkeit, ­ Nicht-Austauschbarkeit und bedingungsloser Solidarität (vgl. Funcke 2013; Hildenbrand 2005b; Oevermann 2008). Da der Vater fehlt und seine Mutter auf eine Wiederheirat verzichtet, bleibt die Strukturposition des Vaters unbesetzt. Rolf wächst fortan in einer dyadischen Interaktionsstruktur mit seiner Mutter auf und ist mit der strukturellen Abwesenheit eines väterlichen Vorbildes konfrontiert (vgl. Hildenbrand 2000: 175). Durch die fehlende Einbettung in eine sozialisatorische Interaktionstriade kann Rolf nicht die für die Individuierung aus der Herkunftsfamilie konstitutive Fähigkeit zur Perspektivübernahme ausbilden, denn dafür fehlt die Erfahrung, wie in der Familie die beiden einander wechselseitig ausschließenden, diffusen Beziehungstypen der Paarbeziehung und der Eltern-Kind-Beziehung als eine widersprüchliche Einheit gestaltet werden (vgl. Oevermann 2008: 50 ff.). Folgen wir diesen Überlegungen weiter, die auf Oevermanns sozialisationstheoretischen Annahmen beruhen, dann folgt daraus, dass durch Rolfs fehlende Erfahrung des krisenhaften Erlebens, aus der Paardyade als Kind ausgeschlossen zu werden, sich Ablösungsprozesse zur Herausbildung einer autonomen Lebenspraxis über alternative Entwicklungspfade36 vollziehen müssen. Für Rolfs Sozialisation werden demnach Fragen

35Die

Lebensdaten sind unbekannt. für die Vielfalt an Bewältigungsmustern, die sich bei Kindern mit abwesendem Vater herausbilden, ist der Aufsatz von Hildenbrand (2000), in dem er auf Basis von drei

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virulent, die sich darauf beziehen, wie die Abwesenheit von Hans kompensiert wird im Sinne einer symbolischen Repräsentanz der familialen Triade, wie sich die Ablösung aus der Mutter-Kind-Dyade unter der Bedingung des abwesenden Vaters gestaltet und wie Rolf ein Vaterbild ausbildet ohne ein bewährtes Modell sozialisatorisch erfahren zu haben. Ferner ist davon auszugehen, dass Rolfs Sozialisationskontext im Kontrast zum verbreiteten Familienmodell der Versorgerehe seines im dörflich-ländlichen Milieu liegenden Heimatortes steht. Diese Themen sind in Rolfs Sozialisation angelegt, ohne sie mit dem hier zur Verfügung stehenden Datenmaterial weiter ausführen zu können. Doch sind sie als Bestimmungshintergrund in der Rekonstruktion von Rolfs lebenspraktischen Entscheidungen zu reflektieren. Welche Entwicklungsmöglichkeiten sind im Kontext der vorgefundenen sozialisatorischen Rahmenbedingungen erwartbar? Einerseits könnte es in Rolfs Lebenspraxis darum gehen, sich aus der symbiotischen Interaktionsstruktur zu seiner Mutter herauszulösen. Dieses Bestreben ließe sich über eine räumliche Neuorientierung, eine Heirat in jungem Alter oder berufliche Aspirationen realisieren. Andererseits ist vorstellbar, dass Rolf in Solidarität zu seiner Mutter seinen Lebensweg gestaltet und die räumliche Nähe zu ihr wahrt. Verwurzelungsbestrebungen würden sich in seinem Verbleib im Herkunftsmilieu widerspiegeln, getragen von einer handwerklichen Ausbildung oder einer milieuhomogenen Partnerwahl (Abb. 2). Vater Rolf: Rolf bleibt zeitlebens in seinem Heimatdorf im Nordwesten wohnen. Nachdem er eine handwerkliche Ausbildung abbricht und sich mit Aushilfstätigkeiten in einem Bergwerk seinen Unterhalt verdient, erlernt er den Beruf des Drehers und wird in einem metallerzeugenden und -verarbeitenden Industrieunternehmen in einer nahegelegenen Stadt berufstätig. Auf eine erste Phase beruflicher Diskontinuität folgt eine berufliche Stabilisierung. Der Ausbildungsabschluss geschieht unter Anschluss an die moderne Berufswelt bei Verbleib im (Fach-)Arbeitermilieu. 1955 heiratet Rolf Marianne (*1939), die mit ihrer Familie in den Ort zugezogen ist. Im Privaten setzen sich Rolfs Verwurzelungs- und Stabilisierungsbestrebungen fort. Im Unterschied zu seinen Eltern, die nach einer gescheiterten Ehe noch einmal eine neue Familie gründen, bleibt Rolf mit Marianne ver-

Fällen die Bedeutung der sozialisatorischen Interaktionstriade für die persönliche Entwicklung des Kindes aufzeigt.

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Abb. 2   Genogramm Heiko Hübner, eigene Darstellung

heiratet. Trennung und Scheidung sind in dieser Generation keine Alternativen. Für die Sozialisation des Nachwuchses bedeutet das, einen Entwicklungsrahmen vorzufinden, in dem es stabil eine Mutter und einen Vater gibt, und Kinder nicht mit Halbgeschwistern um die Aufmerksamkeit der Eltern konkurrieren. Schauen wir uns nachfolgend den familienbiografischen Hintergrund von Marianne, Heikos Mutter, an. Großeltern mütterlicherseits: Gottfried37 und Erna (*1904), Heikos Großeltern mütterlicherseits, gelangen auf bzw. nach der Flucht im Zweiten Weltkrieg aus ihrem westpreußischen Heimatort in ein Dorf im Nordwesten Deutschlands.38 Gottfried absolviert eine Ausbildung zum Heizungsmonteur und es wird erinnert, dass er – vermutlich zur Zeit des Zweiten Weltkriegs- auf einem U-Boot gearbeitet hat. Aufgrund der fehlenden Spezifikation seines Berufes bei

37Die

Lebensdaten sind unbekannt. es sich um eine gemeinsame Flucht der Großeltern handelt ist nicht überliefert. Wohin die Reise sie direkt nach der Flucht führte, konnten sich die Vertriebenen oftmals nicht aussuchen. Ländlich gelegene Orte stellten jedoch ein typisches Auffangbecken für Heimatlose und Entwurzelte nach dem Zweiten Weltkrieg dar, die zu siebzig Prozent auf dem weniger von Kriegsschäden betroffenen Land untergebracht wurden (vgl. Kossert 2008: 48 ff.). 38Ob

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der Marine, wie beispielsweise der des Matrosen, ist im Kontext seiner Berufsausbildung denkbar, dass Gottfried für die Instandhaltung und Überwachung der Maschinen auf U-Booten verantwortlich war. Eine Berufstätigkeit von Erna wird nicht erinnert, weshalb im Rahmen des zeitgemäßen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungsmusters eine Zuständigkeit für Haushalt und Kinderbetreuung sehr wahrscheinlich ist. Von den drei noch in der westpreußischen Heimat geborenen Kindern überleben nur die beiden Kinder Edwin39 und Marianne. Im überschaubaren und sicheren Kontext der dörflichen Strukturen generieren die Großeltern einen Neuanfang für sich und ihre Kinder in der neuen Heimat. Heikos Mutter Marianne: Welche Sozialisationsbedingungen findet die Mutter von Heiko vor? Marianne erlebt durch die Erfahrung des Verlustes ihres jüngeren Bruders und der Flucht sowie dem anschließenden Neubeginn in der Fremde eine erschwerte Kindheit. Zugleich erleichtert ihr das junge Alter das Einleben in der Fremde – die Schule bietet ihr einen festen Rahmen und Möglichkeiten zum Erwerb von sozialem und Bildungskapital. Zu vermuten ist, dass Marianne in der Ausgestaltung ihrer Lebenspraxis daran anschließt und ihre Fluchtgeschichte im Bildungsaufstieg aufarbeitet. Diesen Zusammenhang hat Miethe (2010) in einer Untersuchung zu Personen mit Bildungsaufstieg aus Ost- und Westdeutschland anhand von Fallrekonstruktionen aufschlussreich herausgearbeitet. Ihrer Analyse zufolge würden Flucht und Vertreibung den Bildungsaufstieg fördern, weil die Akkumulation von Bildungskapital eine innerfamiliale Ressource zur Bewältigung von gesellschaftlichen Transformationsprozessen darstellt (vgl. ebd.: 142 ff.). Schließlich erfülle die Delegation von Bildungsaspirationen an die nächste Generation die wichtige Funktion, den Status der Familie zu bewahren. Doch Bildungsaufstiege führten indessen auch zu einer Lockerung tradierter Familienstrukturen und begünstigten eine Herauslösung aus dem familialen Herkunftsmilieu. Auch wenn sich die Ergebnisse auf formale akademische Bildungswege der untersuchten Personen beziehen, kann von einem ähnlichen Effekt auf niedrigerem Bildungsniveau ausgegangen werden. So spiegeln sich unabhängig vom formalen Bildungsgrad im Bildungsaufstieg subjektive Adaptionsleistungen im (bildungs-)biografischen Verlauf wider, die durch Flucht und Vertreibung induzierte Individuationsprozesse aus Familienzusammenhängen auszulösen vermögen. Bezogen auf den Lebensweg von Marianne würde dieser Werdegang des Weiteren die Vermutung nahelegen, dass ihr Bildungsaufstieg eine Berufsorientierung impliziert, die eine Transformation des traditionellen, binnen-

39Zu

ihm liegen keine weiteren Lebensdaten vor.

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zentrierten Frauenbildes, das sie in der Figur ihrer Mutter repräsentiert findet, in ein modernes Frauenbild auslösen würde. Wie gestalten sich nun Mariannes Berufsbildungsprozesse? Nach Abschluss der Volksschule arbeitet Marianne als gelernte Köchin für ein paar Jahre in einer gemeinsam mit ihrem Ehemann Rolf gepachteten Gaststätte. Sie wird auch als Bademeisterin tätig und ist schließlich infolge einer Qualifizierung für administrative Berufe, die gemeinhin in einer dreijährigen dualen Ausbildung im öffentlichen Dienst besteht, bis zu ihrer Verrentung in der Gemeindeverwaltung ihres Heimatortes angestellt. Ihre Berufsbiografie bekundet das in ihrer Lebenspraxis induzierte Autonomiebestreben qua Berufstätigkeit, das sich in einem Bildungsaufstieg ausdrückt. Fernab einer Festlegung auf den häuslichen Lebensbereich schließt sie nicht an die binnenzentrierte Orientierung ihrer Mutter an. Heikos Eltern Rolf und Marianne: Die 1955 geschlossene Ehe des 22-jährigen Rolfs und der 16-jährigen Marianne wirft die Frage nach dem Motiv für das junge Heiratsalter40 auf. Begründet sich die Heirat in einer Schwangerschaft oder dem Wunsch der beiden sich aus ihren instabilen Familienmilieus infolge von Entwurzelung und der Abwesenheit des Vaters herauszulösen? Gewinnt Rolf eine Partnerin für sein Familiensystem oder ist er nicht gerade aufgrund des jungen Alters von Marianne aufgefordert, sich verstärkt in ihr Familiengefüge zu integrieren? Die Kinder Anke und Heiko werden 1958 und 1967 geboren. Dass die Geburt von Anke drei Jahre auf die Heirat folgt, widerlegt die These eines in der Familiengründung veranlassten Ehebündnisses. Vielmehr spiegelt die zeitliche Chronologie der berufs- und familienbiografischen Ereignisse des Elternpaares ausbalancierte und strukturierte Ausgestaltungsprozesse wider, bei denen Berufsbildungsvollzüge der Familiengründung, die zudem erst mit Erreichen der Volljährigkeit realisiert werden, vorausgehen. Ihre Heiratsstrategie ist vor dem Hintergrund ihres jungen Heiratsalters als Autonomiebestreben im Rahmen von Ablösungsprozessen aus ihren familialen Herkunftskontexten zu deuten. Das von Rolf und Marianne realisierte Familienmuster steht im Einklang mit der kulturell für diese Jahrzehnte typischen ‚Normalfamilie‘ im Sinne der ehelich gerahmten ­Zwei-Kind-Familie mit einem Sohn und einer Tochter. Der ungewöhnlich hohe Altersabstand der beiden Kinder erfährt vor dem Hintergrund des jungen Heiratsalters und der damit nachzuholenden Bildungsprozesse sowie der Heraus-

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Ehemündigkeit in der BRD galt bis zur Gesetzeserlassung vom 1.1.1975 zur Neuregelung des Heiratsalters und der damit verbundenen Volljährigkeit für Männer mit 21 Jahren (ab 1975 mit 18 Jahren) und für Frauen mit 16 Jahren (ab 1975 mit 18 Jahren) (vgl. Schäfers 1976/1990: 118).

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forderung, in die Elternrolle hineinwachsen zu müssen, seinen fallspezifischen Sinn. Rolf bewährt sich in seiner Verantwortung als Ehemann und Vater von zwei Kindern. Darin drückt sich eine Transformation zur Lebenspraxis seines Vaters, Hans, aus. Rolf und Marianne bauen 1964 in ihrem Heimatort ein Haus für sich, in welches auch Mariannes Eltern Gottfried und Erna einziehen. Sie entscheiden sich durch die mehrgenerationale Wohnform für eine räumliche Nähe zu Mariannes Herkunftsfamilie. Vor dem Hintergrund der Berufstätigkeit von Marianne und Rolf stellt sich die Frage, wie ihre Kinder betreut werden. Es bestünde die Möglichkeit, Rolfs Mutter oder Mariannes Eltern in die Betreuung des Nachwuchses einzubinden. Aufgrund der räumlichen Nähe zu Mariannes Eltern liegt es nahe, dass Gottfried und Erna mit der Aufgabe betraut werden. Vor dem Hintergrund der zu dieser Zeit mangelhaft ausgebauten Betreuungsinfrastruktur ist von einer internen Lösung der Betreuungsfrage auszugehen. Tatsächlich übernimmt Großmutter Erna die Betreuung ihrer Enkelkinder. Das Paar, das aufgrund der doppelten Erwerbsorientierung dazu aufgefordert ist, eine Vereinbarkeitslösung fernab der klassischen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zu finden, generiert einen quasi-mütterlichen Sozialisationsrahmen für seine Kinder: Die binnenfamiliale Betreuung über ein weibliches Familienmitglied im vertrauten Wohnumfeld bleibt bewahrt. Autonomiebestrebungen gegenüber den Herkunftsfamilien, welche sich in dem jungen Heiratsalter ausdrücken, führen zu keiner Abkehr von den sozialisatorischen Wurzeln. Die mehrgenerationale Wohnform und die Einbeziehung von Erna in Betreuungsaufgaben spiegeln vielmehr die Wertschätzung familiensolidarischer Werte im Lebensentwurf von Rolf und Marianne wider. Sozialisationsmilieu von Heiko: In welches familiale Gefüge werden Heiko und seine Schwester Anke hineingeboren und welche sozialisatorische Prägung geht von ihm aus? Das Doppel-Verdiener-Modell ihrer Eltern, bei dem Erwerbsund Familienarbeit unter Auslagerung der Betreuungsaufgabe an familiale Dritte synchronisiert werden, bildet eine Orientierungsfolie für eine modernisierte Lösung der Vereinbarkeitsproblematik. Über ihre Mutter erfahren sie eine Transformation des mutterzentrierten in ein erwerbsbezogenes Frauenbild, das im Kontrast zum geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungsmuster ihrer Großeltern steht. Auch väterlicherseits vollzieht sich ein Wandel: Die diskontinuierlichen Paar- und Familiengestaltungsprozesse der Großelterngeneration setzen sich in Rolfs Lebenspraxis nicht fort. Über die Aufrechterhaltung der Gattenbeziehung (von Rolf und Marianne) und der Eltern-Kind-Beziehung (von Rolf und Marianne zu ihren Kindern) konstituieren sich stabile Sozialisationsbedingungen für Heiko und Anke, welche in der Einrichtung einer sozialisatorischen

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I­nteraktionstriade bestehen. Ihre Sozialisation ist zudem durch eine lokale Verankerung und die Einbettung in einen mehrgenerationalen Lebenszusammenhang geprägt. Welche Werdegänge der Geschwister sind in ihrem sozialisatorischen Milieu angelegt und welche Entscheidungen treffen Heiko und Anke tatsächlich? Bleiben sie im Heimatort, wäre die sozialisatorische Prägung auf ein enges milieuweltliches und familiales Gefüge handlungsleitend. Zudem käme in einem Schulabschluss mittlerer Reife41 und einer kaufmännischen oder technischen Ausbildung eine Verstetigung der milieuweltlichen Zugehörigkeit zum Angestellten- bzw. Facharbeitermilieu zum Ausdruck. Diesen Weg wählt Anke, die in Orientierung an der mütterlichen Berufsbiografie eine Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten ergreift. Gemäß der Strukturposition eines bzw. einer Ältesten im Geschwistersystem kommt ihr die Aufgabe der familienspezifischen Traditionsfortführung zu (vgl. McGoldrick/Gerson 1990: 50 ff.). Auch für Heiko stellt sich die biografische Herausforderung, sich zum Familienthema, das in der Verstetigung im Arbeiter- bzw. Angestelltenmilieu und im Heimatdorf besteht, in seiner Lebenspraxis zu verhalten. Vor dem Hintergrund, dass seine Schwester bereits die elterlichen Erwartungen nach einer Fortsetzung der Verstetigung in ihrem Lebensentwurf realisiert und er als jüngstes Geschwisterkind von dieser Aufgabe befreit seinen Lebensweg gestalten kann, ist vorstellbar, dass Heiko sich über geografische Mobilität und berufliche Aspirationen aus seinem dörflichen Herkunftsmilieu herauslöst. Demgemäß könnte er sich in einer Großstadt ansiedeln und ein Studium ergreifen. Wählt er ein Verwaltungs- oder Ingenieurstudium, dann schließt er an die berufliche Orientierung seiner Eltern an, indem er deren Berufsbilder als Vorlage für seinen Bildungsaufstieg nimmt. Studiert er hingegen auf Lehramt oder Jura, entscheidet er sich für eine klassische Profession mit hohem sozialen Prestige und beruflicher Stabilität, worin er sich von seinem Herkunftsmilieu abgrenzen würde. Bleibt Heiko hingegen seinem Heimatort treu und wählt einen Beruf seiner Eltern bzw. im Anschluss an seine Eltern, die über ihre Berufskarriere in die moderne Berufswelt vorstoßen, so würde auch in der Gestaltung seiner Lebenspraxis wie bei seiner Schwester die biografische Orientierung an seinen Eltern zur Geltung kommen, die in der Reproduktion der dörflichen Verwurzelung sowie der milieuweltlichen Lebensweise des ­Arbeiter-

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wird das Schulsystem neu in eine vierjährige Grundschule und eine fünfjährige Hauptschule bzw. eine weiterführende Schule und das Gymnasium gegliedert, wodurch sich die Vollzeitschulpflicht länderabhängig auf neun bzw. zehn Jahre erhöht (vgl. Baumert et al. 2003: 55 ff.). Am Begriff der Volksschule durfte festgehalten werden.

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bzw. Angestelltenmilieus besteht. Über die räumliche Nähe zur Herkunftsfamilie wäre wiederum das herkunftsfamiliale System verdichtet. Schauen wir uns nun Heikos Berufsbildungsprozesse an: Heiko wird als Elektroniker im Betriebskonzern seines Vaters berufstätig und wechselt in den 2000er Jahren in die dortige Verwaltung. Nicht ganz unwahrscheinlich ist, dass seine Berufswahl durch den beruflichen Werdegang seines Vaters geebnet wurde, welcher zwischenzeitlich als gelernter Dreher einen modernen Beruf ausgeübt hatte. Heiko verwirklicht berufsbiografisch in Orientierung an der väterlichen Figur eine Bewegung in die Moderne hinein. Im Übergang zu Verwaltungstätigkeiten findet der Wechsel in die moderne Berufswelt seinen Abschluss. Er vollzieht sich in Loyalität zum milieuweltlichen Kontext des handwerklichen Metiers. Erkennbar wird die stabilisierende Wirkung seiner Einbettung in familiale Bezüge für die Ausgestaltung seiner Lebenspraxis. Im nächsten Gliederungspunkt fasse ich die im Zuge der Rekonstruktion der familienbiografischen Daten gebildeten Hypothesen zusammen. Ziel ist es, über eine Kontrastierung der beiden herkunftsfamilialen Prägemuster von Claudia und Heiko eine Fallstrukturhypothese zu den Sozialisationsbedingungen des Paares herauszuarbeiten, demnach es ein Doppelversorgermodell mit externer Betreuung der Kinder in den alten Bundesländern ausgestaltet.

6.3 Fallstrukturhypothese – eine ergebniszentrierte Kontrastierung der Sozialisationshintergründe des Paares Hübner Die Fallstrukturhypothese stellt eine Antwort auf die forschungsleitende Fragestellung dar: Wie sind die herkunftsbezogenen Sozialisationshintergründe des Paares Hübner beschaffen, sodass es ein Vereinbarkeitsarrangement im Sinne des Doppel-Verdiener-Modells unter Externalisierung des Nachwuchses in den alten Bundesländern ausgestaltet? Unter Fallstruktur ist hier die Strukturgesetzmäßigkeit zu verstehen, die der Handlungspraxis des Paares zugrunde liegt, mit der es das allgemeine Handlungsproblem, Beruf und Familie zu vereinbaren, bewältigt. Vergegenwärtigen wir uns dafür noch einmal in einem ersten Schritt, welche Erkenntnisse zur sozialisatorischen Prägung des Paares wir aus der Analyse der beiden Genogramme gewonnen haben. Claudia erfährt durch ihre Position als Älteste in der Geschwisterreihe, die typischerweise mit der Bewahrung der familialen Praxis assoziiert wird, eine Vorbestimmung in der Gestaltung ihrer Lebenspraxis, die sich in der Übernahme des elterlichen Bildungsauftrages und

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einer selbstverständlichen beruflichen Orientierung bei gleichzeitiger Tradierung familiensolidarischer Werte ausdrückt. Sie wählt sich einen Partner, der nicht mehr in Bildungsprozesse gebunden ist und Ressourcen hat, ihren Bildungsaufstieg zu unterstützen. In Heikos Lebenspraxis ist das Familienthema der lokalen und sozialen Verankerung im Heimatort leitend, worüber biografische Stabilität generiert wird. Die dörfliche Lebensweise und die verdichteten Familienverhältnisse im Kontext der mehrgenerationalen Wohnform sind Ausdruck eines traditionellen Familiensinns, der sich in seinem Lebensentwurf auch über die Partnerwahl reproduziert. Die Offenheit für eine milieufremde Partnerin ist begründet in seiner familial verankerten Stabilisierung. Schauen wir uns in einem zweiten Schritt an, wie das Paar sein Vereinbarkeitsarrangement ausgestaltet: Claudia und Heiko gründen nach Abschluss ihrer Berufsbildungsprozesse und dem vollzogenen Berufseinstieg eine Familie. Nach kurzen familienbedingten Erwerbsunterbrechungen von zehn Monaten nach der ersten und von zehn Wochen nach der zweiten Geburt kehrt Claudia zuerst in Teilzeit und nach der Einschulung beider Kinder dann in Vollzeit in ihre berufliche Position zurück. Heiko bleibt auch in der Familiengründungsphase vollerwerbstätig. Dahin gehend entspricht ihre Arbeitsteilung einem traditionellen, geschlechtsspezifischen Muster. Doch verdeutlichen die kurzen Erwerbsunterbrechungen von Claudia und das langfristig installierte Doppel-Verdiener-Modell des Paares, dass sie Familienwunsch und Berufskarrieren miteinander vereinbaren. Mutterschaft und Erwerbstätigkeit schließen sich nicht aus. Wie lässt sich nun das Vereinbarkeitsarrangement von Claudia und Heiko vor dem Hintergrund ihrer sozialisatorischen Prägung interpretieren? Anhand der beiden Genogramme haben wir rekonstruiert, dass das Vereinbarkeitsarrangement des Paares die familienspezifische Synchronisation von Erwerbs- und Familienarbeit reproduziert. Claudia und Heiko tradieren die elterlichen Lösungen zur Vereinbarkeit beider Lebensbereiche, die in ihren beiden Herkunftsfamilien als Orientierungsmuster vorliegen. Handlungsleitend ist für beide ein erwerbsbezogenes Frauen- und Mutterbild. Während das Doppel-Verdiener-Modell von Heikos Eltern im Kontrast zum verbreiteten bürgerlichen Familienmodell in der BRD steht, durch welches Heiko in ein normabweichendes Orientierungsmuster habitualisiert ist, wird Claudia in ein historisch normtypisches Arbeitsteilungsmuster sozialisiert. Das Vereinbarkeitsarrangement des Paares erfährt vor dem Hintergrund des delegierten Bildungsauftrages von Claudia seine fallspezifische Besonderheit. In der Realisierung der sozialisatorisch vermittelten Bildungsaspirationen unter der Bedingung des Wegzugs wird ein familienspezifisches Muster erkennbar, das bei Astrid, der Mutter, und Claudia zutage tritt: Über ihre Bildungsaspirationen lösen sie sich aus ihren Herkunftsfamilien

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heraus, in welchen personelle Ressourcen aufgrund der Sozialisation von jüngeren Geschwistern nur begrenzt zur Verfügung stünden. Ihr Bildungsaufstieg gelingt über die Heirat in ein Familienmilieu, in welchem Unterstützungspotenziale mobilisiert werden können, da hier die Familienmitglieder nicht in Sozialisationsaufgaben gebunden sind. Die patrilokale Ansiedlung und infolge dessen die geografische Mobilität von Claudia – sowie ihrer Mutter – dienen dem Zwecke der Stabilisierung des eigenen Bildungs- und Berufsweges. Im angeheirateten Familienmilieu finden sie den Resonanzboden für ihr Bildungsstreben. Die Individuierung aus der Herkunftsfamilie markiert jedoch keine Entwurzelung, keinen Bruch. Die Partnerwahl gestaltet sich vielmehr in Fortsetzung des traditionellen Familiensinns zum Herkunftsmilieu und schafft darüber eine Verbundenheit zwischen den beiden Herkunftsfamilien von Claudia und Heiko. Die Heiratsstrategie von Mutter Astrid und Claudia sowie auch von Heikos Mutter Marianne, denen allen drei gemeinsam ist, nicht aus dem Heimatort ihres Partners zu entstammen, ist darauf ausgerichtet, sich über die lokal verwurzelten Partner einen Resonanzboden für die eigene Bildungs- und Berufsorientierung zu verschaffen. Auch in Großvater Gerhard, der in der Fremde heiratet und studiert, findet Claudia eine biografische Orientierungsfigur. In Claudias Lebenspraxis drücken sich Strukturierungsleistungen aus, die aus ihrer Sozialisation gemäß der Strukturposition einer Ältesten im Geschwistergefüge und aus ihrer Individuierung aus der Herkunftsfamilie resultieren. Bezogen auf die Fallstrukturbildung können wir festhalten, dass wir hier einen Fall vorfinden, bei dem ähnlich gelagerte Sozialisationshintergründe der Partner Herkunftsunterschiede zu nivellieren vermögen. Denn sowohl Claudia als auch Heiko haben in ihrer Sozialisation internalisiert, dass sich berufliche und familiale Interessen synchron realisieren lassen. Die übereinstimmende Akzeptanz von weiblicher Erwerbstätigkeit ist bei Claudia in der DDR-typischen Sozialisation eines erwerbsbezogenen Mutterbildes begründet. Bei Heiko ergibt sie sich aus milieutypischen Erfahrungen als Sohn einer Arbeiterfamilie mit erwerbstätigen Eltern. Dieses Zusammenspiel aus herkunfts- und milieubezogenen Prägeprozessen charakterisiert das Vereinbarkeitsarrangement des Paares. Aufgrund dessen sind weder konflikthafte Aushandlungsprozesse noch herkunftsspezifische Deutungen beim Paar zu erwarten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der geteilte Erfahrungsschatz von Heiko und Claudia zu einem gemeinsamen impliziten Verständnis beiträgt. Aufgrund der homogenen Wertestruktur ihrer Lebenspraxis wissen wir, dass sie sich in einem Arrangement zur Vereinbarung beruflicher und familialer Interessen eingerichtet haben, welches ihre jeweiligen Überzeugungen und Einstellungen nicht infrage stellt. Sollten Irritationen auftreten, dann sind diese in Auseinandersetzung mit dem sozialen

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Umfeld zu vermuten. So ist vorstellbar, dass Spannungen entstehen zwischen der Vereinbarkeitspraxis des Paares, die sich als typisch ostdeutsch charakterisieren lässt, und dem Familienbild des sozialen Umfeldes angesiedelt im ländlichen Raum Westdeutschlands, welches wahrscheinlich konservativer Natur ist. Im Hinblick auf die Teilfrage nach der Externalisierung der Betreuung des Nachwuchses lassen sich auf Basis der Genogramme nur Annahmen aufstellen, welche über eine sequenzanalytische Rekonstruktion von Deutungen aus Erzählungen des Paares zu überprüfen wären. Auf Basis der rekonstruierten Vereinbarkeitsmuster in den Herkunftsfamilien ist eine binnenzentrierte, an das weibliche Personal der Familie aufgetragene Betreuung von Korinna und Timo zu erwarten. Diese Aufgabe käme dann in der Logik des Falls den Großmüttern zu. Wie wir wissen, übertragen Claudia und Heiko diese Aufgabe an staatliche Instanzen. Es lässt sich vermuten, dass Astrid, Claudias Mutter, zur Geburt von Korinna und Timo aufgrund ihrer Berufstätigkeit für Betreuungsaufgaben nicht disponibel ist und die Väter von Heiko und Claudia gemäß der Habitualisierung auf weibliche Erziehung als Betreuer nicht in Betracht gezogen werden. Eine Betreuung durch Marianne, Heikos Mutter, die ein Jahr nach Korinnas Geburt im Jahr 1999 verstirbt, stellt keine Handlungsoption dar. Unsere These, mit der wir im Rahmen einer weiterführenden Fallrekonstruktion arbeiten würden, lautet schlussfolgernd, dass die Externalisierung der Betreuung eine notwendige Lösung zur Aufrechterhaltung der doppelten Berufsorientierung ist. Ein Indiz für diese Annahme sehen wir darin, dass die chronische Erkrankung von Korinna nicht dazu führt, dass Claudia ihre Erwerbsarbeit aufgibt. Ihr beruflicher Werdegang verdeutlicht hingegen die handlungsleitende Strukturierungskraft der Orientierung an einem modernen Frauen- und Mutterbild und die Einlösung des Bildungsauftrages als biografisches Lebensthema von Claudia. Auch sind weder Effekte einer kulturellen Adaption an westliche Standards, der Einfluss regionalspezifischer Besonderheiten, die sich in einer niedrigen Kinderbetreuungsdichte im Landkreis des Wohnortes ausdrücken, noch Einflüsse des sozialen Umfeldes, die einem traditionellen Mütterbild entsprechen sollten, auf das Vereinbarkeitsmuster des Paares erkennbar (Grunow/Müller 2012, siehe Kap. 3).

7 Schluss und Ausblick Der Beitrag zielte darauf, erstens dafür zu sensibilisieren, dass es ratsam erscheint, in der sozialwissenschaftlichen Forschung, die sich mit der Vereinbarkeitsthematik befasst, in der Analyse die Sozialisationsbedingungen als Einflussfaktor auf paarbezogene Vereinbarkeitsarrangements zu berück-

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sichtigen. Als methodischer Zugang hat sich das Genogramm im Rahmen einer hermeneutischen Rekonstruktionsmethodologie bewährt. Denn die Rekonstruktion der familialen Herkunftsmilieus ermöglicht, die Bedeutung habitualisierter Prägemuster für die Vereinbarkeitspraxis, im vorliegenden Fall von ost-westdeutschen Paaren, herauszuarbeiten. In diesem Zuge war es zweitens Ziel, einen Fall unter Berücksichtigung seiner ost-westspezifischen Herkunft aus einer intergenerationalen Perspektive zu untersuchen. Der Bezug zu Theorien, die Sozialisation als intergenerationale Transmission von Werte- und Orientierungsmustern konzipieren, welche als latente Sinnstrukturen auf die Vereinbarkeitspraxis von Paaren wirken, hat sich für die Analyse als ertragreich erwiesen. Die Fragestellung danach, aus welchen sozialisatorischen Herkunftsmilieus das Paar Hübner stammt, das dafür disponiert, ein Doppel-Versorger-Modell mit externer Betreuung der Kinder in den alten Bundesländern auszugestalten, kann auf Basis der Genogrammanalyse wie folgt beantwortet werden: Ähnlich gelagerte Sozialisationshintergründe von Heiko und Claudia ergeben sich aus der Fügung herkunfts- und milieuspezifischer Orientierungsmuster zur Ausgestaltung von Erwerbs- und Familienarbeit. In der Vereinbarkeitspraxis des Paares reproduzieren sich die elterlichen Arbeitsteilungsmuster. Die synchrone Ausgestaltung der beruflichen und familialen Lebenssphäre ist in den Bildungsaspirationen von Claudia und im erwerbsbezogenen Frauen- und Mutterbild beider Partner motiviert. Anhand der Rekonstruktion des Falles, hier basierend auf der Analyse der beiden familialen Herkunftsmilieus, lassen sich allgemein gültige Aussagen treffen, die eine von der Fallspezifik losgelöste Verallgemeinerung der Ergebnisse begründen. Die herausgearbeitete Fallstruktur des vorliegenden Falles zeigt auf, dass die Sozialisation in den unterschiedlichen Herkunftskontexten der DDR und BRD keine Rückschlüsse auf die Habitualisierung verschiedener Arbeitsteilungspraktiken zulässt. Vielmehr wirken milieuspezifische Faktoren in den sozialisierten Werte- und Orientierungsmustern strukturierend darauf ein, wie ost-westdeutsche Paare das allgemeine Handlungsproblem, Beruf und Familie zu vereinbaren, lösen. Wenn es also darum geht, die Bedeutung der unterschiedlichen Herkunft für paarspezifische Vereinbarkeitsarrangements von ost-westdeutschen Paaren herauszuarbeiten, dann zeigt uns die vorliegende Fallanalyse, dass eine Rekonstruktion familien- und milieuspezifischer Normen in die Untersuchung einzubeziehen ist. Zudem lässt sich auf Basis der Fallrekonstruktion sagen, dass sich die historisch gewachsene Bedeutung weiblicher Bildungsaspirationen und Berufsorientierung in der Ausgestaltung von Vereinbarkeitsarrangements materialisiert. Denn wir haben hier einen Fall, bei dem sich weibliche Bildungsaufstiege und mütterliche Erwerbsarbeit in beiden Herkunftsfamilien über verschiedene ­historisch-gesellschaftliche

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sowie familiale Lebenssituationen hinweg realisieren. In beiden familialen Milieus sind es Frauen, die über ihre Bildungs- und Erwerbsbiografie Individuierungsprozesse vollziehen und eine Transformation des Frauenbildes in den angeheirateten Familienmilieus anregen. Die entwickelte Fallstrukturhypothese ist an weiteren Materialsorten, die im Rahmen der Erhebung und Dokumentation erstellt werden, zu überprüfen, zu modifizieren und zu ergänzen. Um die Bedeutung herkunftsbezogener Sozialisationshintergründe sowie veränderter Geschlechternormen, in ihrer unterschiedlichen Ausprägung für die neuen und alten Bundesländer, für Vereinbarkeitsarrangements von Paaren zu untersuchen, ist die Analyse von sozialen Deutungsmustern, bei denen es sich um eine handlungsanleitende und auf intersubjektiv geteilten Überzeugungen beruhende Alltagstheorie handelt, aufschlussreich. Im Anschluss an Oevermann sind Deutungsmuster „immer als Antworten auf strukturelle Handlungsprobleme“ (Oevermann 2001: 23) und insofern als Ausdruck einer Bewältigung des allgemeinen Handlungsproblems der Vereinbarkeit aufzufassen. Hierfür bietet sich eine sequenzanalytische Auswertung thematisch relevanter Interviewstellen aus den Paarinterviews an. Wer was, wie und in welchem Umfang erzählt und umgekehrt wer zu welchem Thema schweigt, lässt Rückschlüsse auf Zuständigkeiten zu. Darüber gelingt eine Rekonstruktion der Handlungsorientierungen in der alltäglichen Praxis des Paares, die sich Maiwald (2013) zufolge als soziale Ordnung der Paarbeziehung materialisiert. Die Protokollierung von Beobachtungen im Rahmen der Interviews liefert zudem wichtige Informationen zur Interaktionsstruktur und -dynamik des Paares. Möglicherweise lassen sich auch Beobachtungen anstellen, die Rückschlüsse darauf zulassen, wie die interviewten Paare Erinnerungsstücke, die mit ihrer Sozialisation in der DDR und der früheren BRD in Verbindung stehen, in die gemeinsame familiale Lebenswelt integrieren. Die Existenz solcher Erinnerungsstücke ließe sich im Zusammenhang mit der Frage danach, wie sich die Partner*innen zu ihrer eigenen Herkunft verhalten, interpretieren.

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Die kulturelle Norm der Kernfamilie – Habitusrekonstruktion und Deutungsmusteranalyse Eine exemplarische Fallanalyse: „… aber es ist auch irgendwie durch meine Geschichte …“ Dorett Funcke 1 Einleitung Das Ziel dieses Beitrages ist, am Beispiel einer unkonventionellen Familie zu zeigen, wie ausgehend von einem Einzelfall und angeleitet durch eine Forschungsfrage über ein fallrekonstruktives Vorgehen theoretisch verwertbare Einsichten über eine spezifische familiale Lebensform gewonnen werden können. So liegt der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen darin, über eine Datenmaterialanalyse einen Einblick in den Teil des Forschungsprozesses zu geben, in dem es darum geht, Zusammenhänge zu erschließen, die die Perspektive der sozialen Konstruktion erster Ordnung überschreiten. Um diese ganz andere Abstraktionsebene im Forschungsprozess zu erreichen, die eben nicht darauf abstellt, die Subjektperspektive durch ein nachvollziehendes Verstehen paraphrasierend zu reproduzieren, bedarf es sowohl einer spezifischen Methodenpraxis als auch theoretischer Konzepte, mit denen eine Sortierung und theoretische Durchdringung des Datenmaterials gelingt. Bei den zwei zentralen theoretischen Dieser Beitrag ist als Erstpublikation in der Zeitschrift „Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung“ (2/2019) erschienen. D. Funcke (*)  FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Funcke (Hrsg.), Rekonstruktive Paar- und Familienforschung, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30668-7_6

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Konzepten, die sich für die hier zu verhandelnde Forschungsfrage als hilfreich erwiesen haben, um materiale Rekonstruktion und Theoriebildung miteinander zu verbinden, handelt es sich um das ­Deutungsmuster-Konzept und um das HabitusKonzept. Diese beiden Konzepte habe ich f­orschungspragmatisch-heuristisch verwendet, d. h. ich beziehe mich nicht auf genau die eine Variante oder den Ansatz von Deutungsmusteranalyse oder Habitusrekonstruktion. Für den Prozess der Datenanalyse hat diese „konzeptionelle Offenheit“ (vgl. Lüders 1991: 403) zur Folge, aus dem Material heraus zu erschließen, was ein Deutungsmuster ist und wie dieses mit einer Habitusformation zusammenhängt und zu erklären ist. Ein derart dosierter Theoriebezug kann davor schützen, die materialfundierte Bodenhaftung zu verlieren und so den Untersuchungsgegenstand durch die Explikation theoretischer Bestimmungselemente zu überformen. Im Folgenden werde ich deshalb nach einer Einführung in den Untersuchungsgegenstand (Kap. 2), der genauen Bestimmung der Analyseebene (Kap. 3) und einer familientheoretischen Skizze (Kap. 4) auch nicht mit Ausführungen fortfahren, die dokumentieren, welchem ­Deutungsmuster-Ansatz und welchem Habitus-Konzept ich mich verpflichtet fühle. Da es mir nicht um eine rigide Verwendung von theoretischem Vorwissen geht, werde ich davon absehen, Angaben über inhaltliche Bausteine1 von Deutungsmustern zu machen2 oder Merkmale zusammenzutragen, die den Habitus bestimmen3. Statt Definitionen zu formulieren, die verbindlich festlegen, was ein Deutungsmuster bzw. ein Habitus ist, arbeite ich mit „minimalen theoretischen Vorannahmen“ (Lüders 1991: 382), mit denen eine Deutungsmusteranalyse als auch eine Habitusrekonstruktion auskommen kann. Am Ende des Beitrages wird es nach der Fallrekonstruktion (Kap. 5) darum gehen, die Ergebnisse mit Blick auf die soziale Wirklichkeit von unkonventionellen Familienformen zusammenzufassen und mit daraus abgeleiteten familientheoretischen Reflexionen zu schließen.

1Eine

Überblicksdarstellung zu zentralen Bestimmungsstücken von Deutungsmustern vgl. Meuser/Sackmann 1992: 19; Wiezorek/Ummel 2017: 27 f. 2Im Vergleich zum Habituskonzept kann, wenn es um den Begriff Deutungsmuster geht, nicht auf eine Gründerfigur verwiesen werden. „Stattdessen entwickelte sich die Deutungsmusteranalyse eher unauffällig im Windschatten der Debatte um qualitative bzw. rekonstruktive Methodologien zu einer vor allem im hermeneutisch-orientierten Lager heimischen Forschungsperspektive“ (Lüders 1991: 377). Zur Karriere des Begriffs Deutungsmuster u. a. ebd.: 381 f.; Honegger 2001: 112, Fn.12. 3Zum Habitusbegriff von Bourdieu vgl. u. a. 1974: 125–158; 1976: 164 f.; 1987: 97 ff. Zur Unterscheidung von Habitus und Deutungsmuster vgl. Oevermann 2001a, b.

Die kulturelle Norm der Kernfamilie – Habitusrekonstruktion …

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2 Der Untersuchungsgegenstand: Die gleichgeschlechtliche Inseminationsfamilie Gegenstand der Untersuchung ist eine spezifische alternative Lebensform mit Kindern: Die gleichgeschlechtliche Inseminationsfamilie. Im Unterschied zu anderen Varianten unkonventioneller Familien wie z. B. die der Adoptiv-, der Stief- oder Pflegefamilie (vgl. Funcke/Hildenbrand 2009) besteht hier die Abweichung von den Sozialisationsbedingungen der Kernfamilie darin, dass ein homosexuelles Frauenpaar für die Sozialisation des Nachwuchses sorgt, der mithilfe einer Fremdsamenspende entstanden ist. Dieser sozialisatorische Entwicklungsrahmen, in dem keine sozialisatorische Interaktion ins Werk gesetzt werden kann, die im Biologischen ihre leibliche Entsprechung hat, stellt eine Lösung für das Handlungsproblem der homosexuellen Frauenpaare dar, sich den Kinderwunsch trotz der Unmöglichkeit einer gemeinsamen biologischen Zeugung zu erfüllen. Es fehlt die männliche Sexualität, um aus dem Paar eine Familie zu machen, in der aufruhend auf der biologischen Zeugung diese Einheit in den kulturellen Rahmen der Kernfamilie übersetzt werden kann. Die daraus resultierende Problemkonstellation, die alle weiblichen gleichgeschlechtlichen Paare vorfinden, ist, es muss geklärt werden, wie mit dem Samenspender, den sie für die Zeugung eines Kindes benötigen, umgegangen werden soll. An der Art und Weise, wie von den jeweils ganz verschiedenen Fällen, die dieser Familienform zugeordnet werden können, dieses Problem gelöst wird, werden wir erkennen können, welche Bedeutsamkeit der Figur des Vaters für das Aufwachsen des Kindes zugeschrieben wird. Es ist zu erwarten, dass alle Fälle, in denen sich der Untersuchungsgegenstand der Inseminationsfamilie manifestiert, diesbezüglich variieren, und dass die jeweilige Variation auch zurückzuführen ist auf die Einsozialisierung der Frauen in Deutungs- und Handlungsmuster ihres Herkunftsmilieus. Ich gehe also davon aus, dass unterschiedliche Lösungen, die wir in verschiedenen Typen von Inseminationsfamilien realisiert finden, auch mit den in den Sozialisationsmilieus der Frauen erworbenen Sozialisationskonzepten in Verbindung zu bringen sind. Diese Ausgangsüberlegung, dass das jeder gleichgeschlechtlichen Inseminationsfamilie zugehörige Thema der Samenspende unter der Berücksichtigung des jeweiligen sozialisatorischen Herkunftsmilieus der Frauen aufzuschließen ist, hat Konsequenzen für die empirische Analyse. Es wird ein methodischer Zugang benötigt, mit dem sich zum einen die Bedingungen für die Herausbildung von Dispositionen rekonstruieren lassen, die mitbestimmen, wie das Thema der Samenspende bewältigt wird und welche Deutungen dafür gewählt werden, die wiederum Folgen für die Sozialisation des Nachwuchses

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in der gleichgeschlechtlichen Frauenfamilie haben. Zum anderen muss dieser methodische Zugang neben der Fokussierung auf die sozialisatorischen Strukturbedingungen aber auch eine präzise Explikation der Sichtweise des Frauenpaares auf den Vorgang der Samenspende ermöglichen. Unter Sichtweise verstehe ich im Anschluss an den Soziologen Shibutani eine „Perspektive“, die eine „geordnete Sicht der eigenen Welt ist“ (1955: 563 f.). Eine solche Perspektive enthält Definitionen, die nicht einfach ad hoc gebildet werden, sondern sie ist Trägerin lebensgeschichtlich entwickelter und in Sozialisationsprozessen erworbenen Denk-, Deutungs- und Handlungsmuster, die die Wahrnehmung organisieren. Als Inspirationsquelle für die weitere Klärung des Zusammenhangs zwischen milieuspezifischen Sozialisationserfahrungen und der Herausbildung von Verhaltensmustern, die als Struktur darauf Einfluss nehmen, wie Handlungsprobleme, z. B. das der Samenspende, gelöst werden, eignet sich das theoretische Konzept des Habitus. „Gemäß diesem Konzept ist von der individuellen Habitusformation abhängig, was von den einzelnen Subjekten überhaupt wahrgenommen, gedacht und getan werden kann“ (Schallberger 2003: 27). Für die Analyse der Reflexionsprozesse, die in Bezug auf das Thema der Samenspende bei den Frauen in Gang kommen und die Überzeugungen enthalten, was ein angemessener Umgang mit diesem Handlungsproblem ist, eignet sich das theoretische Konzept des Deutungsmusteransatzes. Deutungsmuster sind keine „lose(n) Ensembles von unzusammenhängenden Interpretationen“ (Honegger 2001: 111), sondern sie sind „aus einer Vergemeinschaftung hervorgegangene Interpretationen einer Lebensweise“ (Zehentreiter 2001: 41). Das H ­ abitus-Konzept und der Deutungsmusteransatz müssen – wie hier gezeigt werden soll – „nicht notwendig als konkurrierende Konzepte begriffen werden“ (Meuser/Sackmann 1992: 23).4 Sondern sie werden als zwei theoretische Perspektiven miteinander verbunden, um sowohl über die Genese von Habitusformationen als auch die Rekonstruktion von Deutungsmustern „aus der Fülle empirischer Eindrücke Auswahlen zu treffen […] [und] Zusammenhänge […] sichtbar zu machen, die in der Alltagsperspektive der Teilnehmenden nicht zur Sprache kommen und in den Daten jeweils nur bruchstückhaft aufscheinen“ (Strübing et al. 2018: 93). Die andere Seite dieser beiden theoretischen Perspektiven sind die methodologischen Prinzipien und methodischen Schritte ihrer Untersuchung. Um zum Habitus vorzudringen eignet sich der methodische Zugang der

4„Über

mögliche Verschränkungen von Habitusformen und Deutungsmustern ist freilich nicht in Form einer theoretischen Modellkonstruktion zu entscheiden, sondern auf der Basis empirischer Forschung“ (ebd.).

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„­fallrekonstruktiven Familienforschung“ (Hildenbrand 2005). Zum einen wird die Familie hier als ein Milieuzusammenhang aufgefasst, innerhalb dessen sich individuelle Bildungsprozesse vollziehen. Zum anderen erscheint hier Familie als ein Ort sozialisatorischer Interaktion, aus der der Fall im Laufe seiner Bildungsgeschichte als autonomes Handlungssubjekt hervorgeht. Die Bewältigung von Handlungsproblemen ist aus diesem methodischen Ansatz heraus als das Resultat von Handlungsentscheidungen zu deuten, die Ergebnis milieuspezifisch geprägter Bewusstseinsformen und sozialisatorischer Interaktionserfahrungen sind. Zentrale Datenbasis für diesen methodischen Schritt bildet das Genogramm, das sequenzanalytisch nach den Prinzipien der Genogrammanalyse (vgl. Hildenbrand 2005) interpretiert wird. Bei einem Genogramm handelt es sich zunächst vor allem um ein grafisches Hilfsmittel, das die Familie im Überblick als Generationenzusammenhang zeigt: „Erfasst werden Geburts- und Todesdaten, Daten zu Heiraten und Trennungen bzw. Scheidungen sowie Außenbeziehungen, wenn diese bekannt sind, Stellung in der Geschwisterreihe, Fehl- oder Todgeburten und Abtreibungen, soweit bekannt, Ausbildung und Berufe, Umzüge, Krankheiten und Unfälle, Religion.“ (Hildenbrand 2012: 206) Genogramme als Forschungsmittel stellen „objektive Daten“ dar, die als Ergebnis von Entscheidungen in lebenspraktisch zu bewältigenden Krisen vor dem Hintergrund objektiv gegebener Möglichkeitsräume zu verstehen sind. Diese Möglichkeitsräume wie auch die sukzessiv getroffenen Entscheidungen werden Schritt für Schritt, also sequenzanalytisch, rekonstruiert. Die Analyse der im Genogramm festgehaltenen „objektiven Daten“ zeigt so einerseits, welche zentralen Bewährungsmöglichkeiten sich in der Auseinandersetzung mit so zentralen Lebensbereichen wie Familie, Beruf und Gemeinwohlbindung (Oevermann 2004b) auftun und andererseits, welche Entscheidungen vom Fall hervorgebracht werden. So wird durch den Rückgriff auf „objektive Daten“ möglich, lebensgeschichtlich prägende Entscheidungen als nicht zufällig, sondern aus bestimmten, benennbaren Motiven heraus zu erklären.5 Relevante Fragen, die die vorliegende Analyse anleiten, sind hier: Welche Lösungen liegen im Herkunftsmilieu bereit, um mit den Folgeproblemen einer Inseminationsfamilie, insbesondere was die Besetzung der

5Zur

Diskussion zu dem materiellen Stellenwert der Analyse objektiver Daten vgl. Wenzl und Wernet 2015, und auch Loer 2015 (insbes. S. 303–313). Thomas Loer hat aktuell (2019) darauf hingewiesen, dass es sinnvoll ist, „testierbare Daten“, so bezeichnet Loer die „objektiven Daten“, in der Abhängigkeit von der Fallbestimmung zu unterscheiden. Loer trifft die Unterscheidung zwischen „testierbaren Daten als Indikatoren für die ‚Hemmungen und die Chancen‘, denen eine Lebenspraxis ausgesetzt ist, und testierbaren Daten als Ausdrucksgestalten der untersuchten Lebenspraxis“ (Hervorh. im Original).

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Strukturposition des Vaters angeht, zurechtzukommen? Finden die Frauen in ihrem Sozialisationsmilieu Lösungen für vergleichbare Handlungsprobleme? Gehen diese Lösungen, die sie dort vorfinden, überhaupt in ihren Familienbildungsprozess ein? Reproduzieren die Frauen mit ihren getroffenen Lösungsentscheidungen, was die Figur des Vaters für Sozialisationsprozesse betrifft, eine Zugehörigkeit zu ihrem Herkunftsmilieu oder werden ganz andere Optionen, die sie z. B. auf Abstand zu ihrer Herkunftsfamilie bringt, im Vollzug als relevant deutlich? Um Deutungsmuster zu analysieren, bei denen es sich um „nichtbewusstes, implizites Wissen“ (Zehentreiter 2001: 40) handelt, wird hier auf das methodische Verfahren der Sequenzanalyse, dem „Herzstück der objektiven Hermeneutik“ (Oevermann 2004a: 203), zurückgegriffen. Äußerungen bzw. Sprechakte werden in ihrer sequenziellen Abfolge interpretiert. Da sich „die Struktur individuierter Handlungssysteme […] in der sequenziellen Anordnung ihrer Äußerungen [realisiert], [vermag] erst die Methodologie einer strengen Sequenzanalyse individuierte Strukturen aufzudecken“ (Oevermann 1979 et al.: 415). Der zentrale Datentyp ist hier das Interview aus dem ich eine Sequenzstelle ausgewählt habe, die von ihrem Inhalt her mutmaßen lässt, hier die fallspezifische Realisierung eines sozialen Deutungsmusters herausarbeiten zu können.6 Zentrale Fragen, die die Deutungsmusteranalyse anleiten, sind: Welche Urteile der Angemessenheit gehen in das Thema der Samenspende ein? Wie wird die Entscheidung gedeutet, durch die Wahl, sich den Kinderwunsch mithilfe einer Samenspende zu erfüllen, einen von der Kernfamilie abweichenden Rahmen für Sozialisationsprozesse eingerichtet zu haben?

3 Familientheoretische Einbettung des Untersuchungsgegenstandes Wir können – das ist keine neue Erkenntnis, wenn es um den sozialen Wandel der Familie geht (vgl. Funcke 2014, 2017a, 2019) – eine Zunahme an alternativen Familien- und Lebensformen jenseits des traditionalen Musters von Elternschaft beobachten. In gesteigertem Maße kommt er in der gleichgeschlechtlichen Eltern-

6Zur

25.

Unterscheidung von Deutungsmustern und latenten Sinnstrukturen vgl. Müller 2009:

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familie7 zum Ausdruck, da hier nicht nur soziale und biologische Elternschaft entkoppelt sind, sondern auch die Differenz der Geschlechter auf der Ebene des Paares bzw. der Eltern nicht gegeben ist, und die hier in Gestalt der gleichgeschlechtlichen Inseminationsfamilie als Fall in die Analyse eingegangen ist. Daraus ergibt sich die – auch für die theoretische Reflexion der Ergebnisse aus der Fallanalyse – relevante familiensoziologische Frage: Inwieweit hat in Anbetracht des skizzierten familialen Wandels ein strukturtheoretisches Modell von Familie noch seine empirische Relevanz, das einen Beschreibungszusammenhang enthält, der Bezug auf die Kernfamilie, in der sich die ödipale Triade manifestiert, nimmt? Bevor im Schlusskapitel auf diese Frage dann zusammenfassend eingegangen werden soll, wird es erst einmal darum gehen, das Strukturmodell von Familie, das diese als eine aus einem Verwandtschaftszusammenhang ausdifferenzierte Zwei-Generationenfamilie im Hinblick auf zentrale Struktureigenschaften beschreibt, zu skizzieren (vgl. Oevermann 2001b, 2014). Die Grundstruktur ist beschrieben durch Filiation und Konjugalität, also Eltern-Kind-Beziehung und (eheliche) Paarbeziehung. Der Zusammenhang von zwei Generationen und zwei verschiedenen Geschlechtern macht die Kernstruktur aus, wobei das Geschlechterverhältnis asymmetrisch-komplementär und das Generationsverhältnis hierarchisch organisiert ist, jedoch nicht im Sinne einer Machtbeziehung, sondern einer sozialisatorischen Verantwortungsbeziehung. Zu den idealtypischen Struktureigenschaften, an denen sich das familiale Zusammenleben ausrichtet, gehören Ansprüche an Dauerhaftigkeit, Exklusivität und Verbindlichkeit. Das Strukturmodell ist aber nicht auf diesen Beschreibungszusammenhang begrenzt. Sondern es beschreibt die Binnendynamik der Familie als einen Interaktionszusammenhang voneinander zusammengehörenden, sich aber wechselseitig ausschließenden Dyaden. Im Zentrum steht die Struktur der Triade. Zur Triade gehören insgesamt drei dyadische Beziehungen, die Vater-Kind-Beziehung, die Mutter-Kind-Beziehung und die Eltern- bzw. Paarbeziehung. Diese dyadischen

7Allerdings gibt es die gleichgeschlechtliche Elternfamilie nicht. Es können verschiedene Konstellationen unterschieden werden. Da gibt es z. B. den schwulen Vater mit einem adoptierten Kind, der in einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft lebt; das lesbische Paar, das mit Kindern aus einer früheren Ehe zusammenlebt; das gleichgeschlechtliche Paar, das ein Pflegekind aufgenommen hat; das gleichgeschlechtliche Frauenpaar, das sich den Kinderwunsch mithilfe eines bekannten oder unbekannten Mannes, der seinen Samen zur Verfügung gestellt hat, erfüllt hat; oder z. B. ein Lesben- und Schwulenpaar, das mit den gemeinsam gezeugten Kindern in einer sogenannten „­ Queer-Family“ entweder nach dem Modell einer Wohngemeinschaft zusammenlebt oder in getrennten Haushalten nach dem Prinzip des „Living Apart Together“.

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Beziehungen, die zusammen eine Einheit bilden, schließen sich aber durch ein Spezifikum, nämlich „diffuse“ Sozialbeziehungen zu sein, auch wechselseitig aus. Wer Teil einer Triade ist, z. B. als Mutter, als Vater oder als Kind, ist auch immer mit der Erfahrung konfrontiert, als Dazugehöriger gleichsam auch ein Ausgeschlossener zu sein. Denn das Diffuse, das das Spannungsmoment in die Triade hinein verlegt, besteht darin, in einer umfassenden Weise füreinander da zu sein. Die Beziehung, die man zueinander hat, ist nicht wie eine Rollenbeziehung auf spezifische Themen und Leistungen festgelegt. Die Herausforderung, vor der Familien stehen und worin ihre sozialisatorische Leistung besteht, ist, in der Einheit, eben der familialen Zusammengehörigkeit, die Unterschiedlichkeit der dyadischen Beziehungen zur Geltung zu bringen. Ulrich Oevermann hat dieses Modell von Familie mit der im Kern zentralen Struktur der ödipalen Triade in Folge ergänzt, und zwar um den Fokus der Heptade und so auf diese Weise, wenn es um eine strukturtheoretische Bestimmung von Familie geht, den Blick von den Eltern eines Kindes auf dessen Großeltern erweitert, wodurch insgesamt sieben Personen erfasst werden: „Diese Struktur besteht aus sieben distinkten Positionen, drei Generationsebenen, drei Positionen der ödipalen Triade, drei Dyaden innerhalb jeder ödipalen Triade und drei ödipalen Triaden.[…] Die Drei-GenerationenHeptade ist also die Minimalform einer in sich geschlossenen Sozialität und die ödipale Triade ist die Minimalform der sozialen Konstitution des Subjekts qua sozialisatorischer Praxis“ (Oevermann 2001b: 101). Bruno Hildenbrand hat Oevermanns Vorschlag in seinem Ansatz der Genogrammanalyse aufgenommen und die Intention aufgegriffen, dass individuelle Sozialisationsprozesse nur dann vollständig erfasst werden können, wenn anhand eines Genogramms mindestens drei Generationen rekonstruiert werden (aktuell Hildenbrand 2018). In Anbetracht des sozialen Wandels von Familie ist fraglich, ob ein derartiger Beschreibungszusammenhang, der auf die Zwei-Generationenfamilie mit den zentralen Achsen Geschlechter- und Generationendifferenz referiert, überhaupt noch eine explanatorische Kraft für eine empirische Familienforschung hat. Um diese familiensoziologische Frage zu beantworten, habe ich für diesen Beitrag einen Fall ausgewählt, der ein Beispiel dafür ist, wie in einem zuvor unbekannten Maße (vgl. hier Funcke 2013, insbes. S. 309–316) vom institutionellen Muster der Elternschaft, vom „Normalfall der Moderne“ – wie Tyrell (1979: 21) es ausdrückt –, abgewichen wird. Im Gegensatz zu anderen unkonventionellen Familienformen mit „fragmentierter Elternschaft“ bzw. „gebrochener Filiation“8

8In diesem Zusammenhang ist häufig auch von der „Erosion der b ­ io-sozialen Einheit von Familie und Verwandtschaft“ die Rede (Peuckert 2002: 207).

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besteht das Besondere der gleichgeschlechtlichen Inseminationsfamilie darin, dass der Bruch der Filiation bei der Zeugung des Kindes mit dem Einverständnis der Akteure herbeigeführt ist und dass sie sich nicht auf eine basale Dimension der Kernfamilie, die sexuelle Polarität der Geschlechter, fixieren lässt, da die Eltern ein gleichgeschlechtliches Paar bilden. Hinzu kommt, dass durch die künstliche Befruchtung, in dem vorliegenden Fall mithilfe einer anonymen Samenspende, der leibliche Vater unbekannt ist. Da diese empirische Familienform in ihrer äußeren Gestalt nicht mit dem Strukturmodell von Familie übereinstimmt, das neben den genannten Struktureigenschaften auch die Strukturmerkmale Heterosexualität und Konjugalität, also Filiation als blutsverwandtschaftliche Anbindung der Eltern an ihr Kind, als Kriterien der Familie benennt, ist die Frage zu beantworten: Haben wir hier ein Beispiel von Familie vorliegen, das allen Anlass für die Hypothese liefert, auch derart verschiedene Formen von Familie wie die der gleichgeschlechtlichen Inseminationsfamilie mithilfe des Konzepts der Kernfamilie mit dem Strukturmodell der Triade zu erschließen? Und: Taugt dieses theoretische Modell als heuristisches Suchmuster denn noch, „um sich darüber zu verständigen, von welchen Sachverhalten überhaupt die Rede sein muss, um das Geschäft der Familiensoziologie fortzusetzen“ (Kaufmann 2003: 528)?

4 Fallauswahl und Bestimmung der Analyseebene Im Zentrum der folgenden Fallrekonstruktion steht ein Fall, der zur Gruppe der Fälle von gleichgeschlechtlichen Inseminationsfamilien gehört, die sich für eine anonyme Samenspende entschieden haben und demzufolge alternativ zum Geschlechtsverkehr von vornherein auf alternative Fortpflanzungstechniken angewiesen waren. Weitere Strukturmerkmale dieses Falltypus sind, dass für alle diese Falle gilt, ohne einen männlichen Dritten als eine weitere, neben der lesbischen Partnerin der Mutter lebenspraktisch bedeutsame Elternfigur auszukommen. Der leibliche Vater wird durch die Wahl einer anonymen Samenspende maximal auf Distanz gehalten. Er ist nicht Teil der Familie, die im Kern von zwei Frauen gebildet wird. Diese Entscheidung, die Strukturposition des Vaters nicht mit dem Samenspender zu besetzen, bedeutet für das Kind, dass im Primärraum der Familie, in der es zwei Frauen gibt (die leibliche Mutter und deren lesbische Partnerin), Interaktionserfahrungen mit dem leiblichen Vater nicht vorgesehen sind. Das Kind kann nicht in praktischen Interaktionen mit dem Vater ein Konzept herausbilden, das beschreibt, was es heißt, einen ‚Vater‘ zu haben.

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In den Fokus der folgenden Fallrekonstruktion rücken in einem ersten Schritt die Sozialisationsmilieus der beiden Frauen. Da in diesem hier ausgewählten Fall beide Frauen jeweils ein Kind mit einer anonymen Samenspende zur Welt gebracht haben, ist beider Sozialisationsmilieu als Einflussgröße für den Umgang mit dem Thema der Samenspende in der Analyse zu berücksichtigen. Eine zentrale Ausgangsüberlegung für die Rekonstruktion des Zusammenhangs von Sozialisationsmilieu und dem zu lösenden Handlungsproblem, für eine Nachwuchssozialisation unter der Bedingung einer anonymen Samenspende zu sorgen, ist folgende: Da jede der beiden Frauen in ihrem Herkunftsmilieu bereits Problemlösungen für die Sozialisation des Nachwuchses vorfindet, ist zu rekonstruieren, in welches Verhältnis sie sich zu dem Vorgefundenen, d. h. ihren sozialisatorischen Entwicklungsbedingungen setzen. Mit Blick auf die familiale Sozialisation sind in der antizipatorischen Vorwegnahme möglicher Auseinandersetzungsweisen mit dem Vorgegebenen zwei kontrastierende Fallkonstellationen zu unterscheiden: Entweder reproduziert diese Lösung, eine anonyme Samenspende zu wählen, eine Primärkonstellation, die der jeweiligen Frau, an der die Insemination vorgenommen wird, aus ihrem Sozialisationsmilieu bekannt ist (A1: Homologie zur Herkunftsfamilie), oder diese Lösung steht für etwas Neues, das dann auch impliziert, alternativ zu ihren eigenen Sozialisationserfahrungen mit der Strukturposition des Vaters umzugehen (A2: Heterologie zur Herkunftsfamilie). Für die Fallrekonstruktion lassen sich aus diesen zwei möglichen Fallkonstellationen folgende Fragen ableiten: Mit welchen Argumenten wird die Abweichung von der kulturellen Norm der Kernfamilie9 soweit abgedichtet, dass eine Praxis realisiert werden kann, die die Zumutung enthält, dem Kind keine Interaktionserfahrungen mit dem leiblichen Vater zu ermöglichen? Durch welche interpretative Auslegung eines sozialen Deutungsmusters wird die praktische Negation der Norm nicht soweit zum Problem, dass auf die Praxis, eine Inseminationsfamilie zu bilden, in der es für das Kind den leiblichen Vater nicht gibt, verzichtet wird? Allgemein gilt für Fallkonstellationen dieser Art, die sich bei der von ihnen eingerichteten Sozialisationspraxis auf voreingerichtete Muster in ihrer Herkunftsfamilie berufen (können) (A1), dass mit Bezug auf diese Orientierungsvorgaben die Abweichung von der kulturellen Norm nicht derart zu einem Problem wird, dass sich gegen einen Entwicklungsrahmen ohne Vater entschieden wird. Wenn in Orientierung an der Sozialisationspraxis der Herkunftsfamilie das

9Zum

Konzept der Kernfamilie und zur theoretischen Bestimmung des Gegenstandes Familie ausführlicher in Funcke 2017b, insbesondere S. 138–142.

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Sozialisationsproblem mit der Samenspende so gelöst wird, dass sozialisatorische Ausgangslagen sich in der Nachfolgegeneration reproduzieren, dann steht diese Handlungsentscheidung auch für eine Vergemeinschaftung mit dem Herkunftsmilieu. Es wird im Verstoß gegen eine kulturelle Norm die Zugehörigkeit zur Herkunftsfamilie behauptet. Mit Blick auf die denkbar andere Fallkonstellation (A2), bei der die Entscheidung, Sozialisationsbedingungen ohne einen leiblichen Vater zu erzeugen, keineswegs eine Wiederholung von familialen Konstellationen des Herkunftsmilieus der Inseminationsmutter darstellt, ist zu fragen: Mit welchen Argumenten wird von der kulturell als positiv ausgezeichneten Norm abgewichen, gleichwohl in der Herkunftsfamilie der Inseminationsmutter diese Norm praktisch realisiert vorliegt? Es ist in der Fallrekonstruktion dann nach Deutungsmustern zu forschen, die erklären, dass diese doppelte Abweichung, einmal von der kulturellen Norm der Kernfamilie und zum anderen von den herkunftsfamiliären Vorgaben, nicht zum Problem für die Durchsetzung einer ganz anderen Sozialisationspraxis wird. Während es in der einen Fallkonstellation um eine Strukturerhaltung, um Kontinuität im Milieu geht (A1: Homologie zur Herkunftsfamilie), trotz unkonventioneller, von der Kernfamilie abweichender Ausgangsbedingungen für Sozialisationsprozesse, wird in der zweiten Fallkonstellation im Rahmen dieser unkonventionellen Ausgangsbedingungen auch eine neue, vom Herkunftsmilieu abweichende Lösung für die Sozialisation der neuen Generation gefunden (A2: Heterologie zur Herkunftsfamilie). Für die Fälle, die sich diesem Falltypus zuordnen lassen, erwarten wir Deutungen für den Umgang mit dem Problem der Samenspende, die auf diesen Bruch zum Herkunftsmilieu Bezug nehmen oder/ und der Norm der Kernfamilie thematisch Geltung verleihen.

5 Fallrekonstruktion 5.1 Habitusrekonstruktion Beginnen wir mit einigen objektiven Daten des Falles:10 Ina Hoffmann (*1968) und Wandula Fuertes (*1966) leben in einer deutschen Großstadt zusammen mit drei Kindern, die mit einer anonymen Samenspende gezeugt sind. Die Zeugung

10Namen

und Berufe sind sinnadäquat verfremdet.

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wurde in einer Kinderwunschklinik durchgeführt, die auch homosexuelle Frauen mit einer Fremdsamenspende inseminiert. Ina, die in Israel geboren wurde, hat zwei Kinder zur Welt gebracht. Als das erste Kind, der Sohn Joel, im Jahr 2000 geboren wurde, ist sie 32 Jahre alt. Vier Jahre später, im Jahr 2004, bringt Ina ihr zweites Kind, die Tochter Olivia zur Welt. Wandula, die eine deutsche Mutter und einen spanischen Vater hat und selbst in Spanien geboren wurde, bringt im Jahr 2002, da ist sie 36 Jahre alt, die Tochter Laila zur Welt. Beide Frauen waren ein halbes Jahr nach der Geburt ihrer Kinder zu Hause, danach in Teilzeit berufstätig. Wandula arbeitet als promovierte Naturwissenschaftlerin in einem Unternehmen der Finanzindustrie und Ina ist freiberuflich für eine religiöse Organisation tätig. Die Kinder sind vormittags in einer Kindereinrichtung untergebracht bzw. werden von einer Tagesmutter betreut. Das Paar lebt nicht in einer Eingetragenen Lebensgemeinschaft. Es gibt keinen gemeinsamen Familiennamen. Die Kinder tragen als Familiennamen jeweils den der leiblichen Mutter. Wir haben es mit einer Fallkonstellation zu tun, in der die Strukturposition des Vaters nicht mit dem Samenspender besetzt ist. Der leibliche Vater wird reduziert auf eine Substanz, die kommerziell gesteuert und unter Zuhilfenahme eines medizinischen Expertensystems zur Kinderzeugung genutzt wird. Des Weiteren ist dieser Fall dadurch charakterisiert, dass, aus der Perspektive der Kinder betrachtet, ein Entwicklungsrahmen eingerichtet wird, in dem Interaktionserfahrungen mit dem leiblichen Vater nicht gemacht werden können. Auch können Abstammungsfragen den Kindern gegenüber, was ihre biologische Herkunft väterlicherseits betrifft, nicht eindeutig geklärt werden, da Daten über den Vater durch die Anonymität der Samenspende den Frauen nicht zur Verfügung stehen. Der leibliche Vater des Kindes ist jeweils unbekannt (Abb. 1). Im Zentrum des folgenden Analyseschrittes steht als Datentyp das „Genogramm“. Da wir es mit einem Fall zu tun haben, in dem beide Frauen Mütter werden, sind die sozialisatorischen Herkunftsmilieus beider Frauen zu berücksichtigen, die Gegenstand der Genogrammanalysen sind. Ich beginne mit folgenden allgemeinen Ausgangsüberlegungen: Der Fall steht dafür, dass die Entscheidung, ein Kind mithilfe einer anonymen Samenspende zu bekommen, zur Folge hat, dass ein Ort des Aufwachsens erzeugt wird, in dem die Strukturposition des Vaters nicht wie im Modell der Kernfamilie mit dem leiblichen Vater besetzt ist. Was wir noch nicht wissen, ist, ob mit dieser Lösung eine Primärkonstellation aus den Herkunftsmilieus der beiden Frauen reproduziert wird (A1: Homologie zur Herkunftsfamilie) oder ob im Vergleich zur jeweiligen Herkunftsfamilie für die nachfolgende Generation ein alternativer Sozialisations-

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Abb. 1:   Genogramm Fuertes/Hoffmann

rahmen erzeugt wird (A2: Heterologie zur Herkunftsfamilie). Ich beginne mit der Genogrammanalyse derjenigen Frau, die als erste Mutter geworden ist. Ina Hoffmann (die biologische Mutter von Joel und Olivia): Als Ina 1968 in Israel zur Welt kommt, kann ihre Mutter aufgrund einer stationär zu behandelnden psychischen Erkrankung die elterliche Sorge nicht übernehmen. Inas leiblicher Vater ist unbekannt. Kurz nach der Geburt kommt sie in ein Waisenhaus. Nach anderthalb Jahren kommt ihre zukünftige Adoptivmutter als Betreuerin in dieses Waisenhaus und beginnt unter einem adoptivfamilialen Vorzeichen eine mutterähnliche Bindung zu Ina aufzubauen. Im Alter von zwei Jahren wird Ina von dieser Frau und ihrem Ehemann adoptiert. Mit einer Adoption erlöschen rechtlich die verwandtschaftlichen Beziehungen des Kindes zu den leiblichen Eltern. Die Adoptiveltern, die soziale Mutter und der soziale Vater, treten an die Stelle der leiblichen Eltern. Die „­Ursprungs“-Triade wird durch eine neue, sozial bestehende Triade in Gestalt der Adoptivfamilie ersetzt.11

11Zur

Adoptivfamilie als unkonventionelle Familie vgl. Funcke/Hildenbrand (2009, insbes. S. 132–166).

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Das Ehepaar, das keine eigenen Kinder hat, lebt in Israel, der Adoptivvater Hans seit Inas Geburt bereits 28 Jahre und die Adoptivmutter Waltraud seit acht Jahren. Zum Zeitpunkt der Gründung der Adoptivfamilie ist Waltraud 49 Jahre und Hans 53 Jahre alt, also in einem Alter, wo in anderen Familien die Kinder bereits wieder ausziehen und die Eltern Großeltern werden. Da den Adoptiveltern Hans und Waltraud jegliche Informationen zum leiblichen Vater von Ina fehlen und auch über die Mutter kaum etwas bekannt ist, und auch kein Kontakt zu ihr bzw. anderen Verwandten der Familie besteht, bleibt für Ina die eigene Herkunft im Unklaren. So findet sie einen „strukturelle[n] Ursprungskontext“ (Oevermann 2001a: 23) vor, der bestimmt ist durch einen abwesenden Vater, den Ausfall der leiblichen Mutter und einem völligen Fehlen an Informationen über ihre leibliche Abstammung; zumindest väterlicherseits. Aus der Adoptionsforschung ist bekannt, dass Adoptiveltern und Adoptivkinder spezifische, an diese Familienform gebundene Bewältigungsleistungen erbringen müssen, um ihr familiales Anderssein zu gestalten. Im Unterschied zur Kernfamilie, in der das leibliche Kind nur ein Elternpaar hat und das Mitgliedsein in der Familie selbstverständlich ist, sind alle Mitglieder in der Adoptivfamilie eingebunden in das „Leben mit doppelter Elternschaft“ (Hoffmann-Riem 1984: 143). Die Koexistenz eines anderen Elternpaares außerhalb der Adoptivfamilie – auch wenn wie im Falle von Ina der leibliche Vater unbekannt ist und sie auch mit einer abwesenden Mutter aufwächst – stellt die Adoptiveltern vor die Aufgabe einen Weg zu finden, den leiblichen Eltern ihres Adoptivkindes im eigenen Familienleben einen Platz zu geben. Diese Aufgabe werden Adoptiveltern spätestens dann zu lösen haben, wenn das Adoptivkind beginnt, nach seinem Herkommen, also seiner Abstammung zu fragen. Da Inas Adoptiveltern aber in Bezug auf den leiblichen Vater keine Daten zur Verfügung stehen und auch über die leibliche Mutter nur rudimentär Informationen vorhanden sind, werden sie vermutlich Schwierigkeiten damit gehabt haben, Ina, ihrem Adoptivkind, überzeugend und auch zu ihrer eigenen Zufriedenheit eine stimmige Erzählung über die signifikanten Anderen zu liefern, die ihre (Inas) Existenz verbürgen. Wie den Adoptiveltern diese Aufgabe gelungen ist und mit welchen Folgen, das wird sich ansatzweise an zentralen biografischen Entscheidungen Inas ablesen lassen. Der Adoptivvater Hans stammt ursprünglich aus Ostpreußen und wächst in einer jüdischen Familie auf. Der Vater ist von Beruf Kaufmann und arbeitet als Verkäufer in einem Geschäft. Von seiner Mutter ist nur bekannt, dass sie 1917 stirbt, da ist Hans zwei Jahre alt. Der Vater heiratet erneut. Weitere Kinder werden aber nicht geboren. Vermutlich hat die Familie in einer der Städte gelebt, in denen es wie z. B. in Königsberg, Memel, Tilsit und Allenstein neben dem Handel und Gewerbe auch größere jüdische Niederlassungen gegeben hat. Bis

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zum Ersten Weltkrieg lebt die Familie in einer wirtschaftlich prosperierenden und vom Frieden geprägten Zeit. Im Ersten Weltkrieg wird Ostpreußen durch seine gemeinsame Grenze mit Russland und seine vorgeschobene geografische Lage zu einem Schauplatz der Ostfront. Inwieweit die Familie vom Krieg betroffen war, lässt sich nicht rekonstruieren. Doch bekannt ist, dass nach 1918 die wirtschaftliche Lage Ostpreußens – vom übrigen Deutschland durch den sogenannten polnischen Korridor getrennt – schlecht war, und: die preußischen Juden waren mit einem Antisemitismus in bisher nicht bekanntem Maße konfrontiert. Amos Oz beschreibt die Lage so: „Niemand hat geahnt, was wirklich bevorstand, aber schon in den 20er Jahren wussten fast alle tief im Herzen, dass die Juden weder unter Stalin noch in Polen oder sonstwo in ganz Osteuropa eine Zukunft hatten, und deswegen verstärkte sich die Tendenz, ins Land Israel zu gehen“ (Oz 2002: 286). Die Frage ist, überlebt die Familie den Holocaust, kann sie einer Inhaftierung, dem Konzentrationslager und der Deportation ins Vernichtungslager entgehen, und wenn ja, wie können die einzelnen Familienmitglieder ihr Leben retten? Richtete sich doch die brutale Verfolgungs- und Vernichtungspolitik des nationalsozialistischen Staates neben den politisch Verfolgten in erster Linie gegen Juden, denen schrittweise die Bürgerrechte, wirtschaftliche Existenzmöglichkeiten und schließlich auch ihr Lebensrecht genommen wurde. Allen in dieser Familie hier gelingt es, Ostpreußen zu einem Zeitpunkt zu verlassen, bevor die Auswanderung nur noch unter großen lebensbedrohlichen Schwierigkeiten zu realisieren oder gar nicht mehr möglich war, da nach 1941 jede Emigration verboten wurde. Die ältere Schwester von Hans geht gemeinsam mit den Eltern nach Holland, sein älterer Bruder nach Argentinien. Hans emigriert im Jahr 1940, also kurz bevor ab Oktober 1941 Juden nicht mehr ausreisen durften. Er geht nach Palästina. Zu diesem Zeitpunkt ist er 25 Jahre alt und verfügt über einen Universitätsabschluss. Nach Palästina brachen damals allerdings die wenigsten Juden auf, da aufgrund der arabischen Unruhen zur Zeit der britischen Besatzungsmacht die Lage nicht ungefährlich war. In der Regel gingen nur die Juden nach Palästina, die einen eigenen, jüdischen Staat aufbauen wollten. Was macht Hans in Palästina? Wie gelingt es ihm, ohne über ein soziales Verwandtschaftsnetz zu verfügen, sich in einem fremden Land einzurichten, in dem 1947 „rund 100.000 Juden und 65.000 Nichtjuden: muslimische und christliche Araber, Armenier, Griechen, Briten und Angehörige vieler anderer Nationalitäten“ (Oz 2002: 498) lebten und Hebräisch noch dabei war, eine gesprochene Sprache zu werden? Ich mache es kurz: Er muss nicht berufsfremd arbeiten, was bei den Einwanderern nicht unüblich war. Er findet in einer zionistischen Behörde Arbeit. Und gleich zu Beginn seiner Ankunft gibt er sich einen neuen, einen jüdischen Namen. Ein biografischer Neubeginn wird markiert. Es geht um

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eine N ­ eu-Zuweisung von Identität, zu der das Selbstbild dazugehört, sich als ein Pionier eines Aufbaustaates zu begreifen. Nach seiner Ankunft in Palästina vergehen noch 22 Jahre bis er 1962 im Alter von 47 Jahren heiratet. Waltraud ist vier Jahre jünger, in Saarbrücken in einer deutsch-jüdischen Familie aufgewachsen und einen Monat vor Kriegsbeginn, im August 1939, nach Holland emigriert. Dort hat sie 20 Jahre an einer Hauswirtschaftsschule unterrichtet. Die Gründung eines eigenen Hausstandes in Zusammenhang mit einer Familiengründung erfolgt nicht. Im Alter von 40 Jahren trifft sie die Entscheidung, Holland zu verlassen und nach Palästina zu gehen. Was könnten die Gründe sein, 1960 in ein Land zu gehen, wo das Schlimmste zwar nach 1948/1949 überwunden war, Ben Gurion als Staatsgründer und Führer der Arbeiterpartei die Regierungsmacht innehatte, aber man „wie auf einem Vulkan lebte“ (Oz 2002: 284)? Eine Antwort auf diese Frage finden wir, wenn wir an dieser Stelle die Datensorte wechseln und ins Interview gehen. Ein Schlüsselereignis im Leben der Adoptivmutter ist die Erfahrung, nur Gerüchten zufolge zu wissen, dass ihre Mutter im Konzentrationslager Auschwitz umgekommen ist. „Das war so ein Thema, das ist von der Mutter irgendwie nie abgeschlossen worden, weil sie es nur gehört hat“, so Ina im Interview. Es handelt sich – wie Pauline Boss diese Art von traumatischen Verlusterfahrungen beschrieben hat – um einen „uneindeutigen Verlust“ (Boss 2008). Ein uneindeutiger Verlust, so Pauline Boss, „blockiert [die Wahrnehmung], die Emotionen sind erstarrt, und eine […] Fortsetzung individueller und familiärer Prozesse wird verhindert“ (Boss 2001 zit. nach Boss 2008: 46). Da Inas Adoptivmutter zu wenige Informationen zum Tod ihrer eigenen Mutter vorliegen, entsteht eine Situation der Ungewissheit; gleichwohl die Mutter physisch abwesend ist, ist sie psychisch präsent. Diese Gefühlserfahrung der Uneindeutigkeit ist vermutlich gepaart mit einer schuldmäßigen Verarbeitung. Sie wird sich fragen, warum sie das Wissen, das ihr zur Verfügung stand und ihr das Leben rettete – ist sie doch nach Holland emigriert –, nicht an die Mutter weitergegeben und auch für sie genutzt hat. Vor dem Hintergrund dieser Deutung erscheint der Weggang aus Holland im Alter von ca. 40 Jahren als Lösung, das Lebensthema des uneindeutigen Mutterverlustes und die damit verknüpfte Schuldproblematik direkt anzugehen. Waltraud geht nach Palästina, um am Aufbau eines Staates mitzuwirken, der das Leben der Mutter hätte retten können. Zwei Jahre später heiratet sie. Sie findet in Hans einen Ehemann, der als ein früher Pionier aus der israelischen Gründerzeit als der Erfahrenere von beiden ihr in dem fremden Land eine Orientierung geben kann. Als ein gleichgesinnter Gefährte wird er auch ihren familiengeschichtlichen Auftrag am Schuldkomplex zu arbeiten, mittragen können.

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Das sozialisatorische Milieu, das durch das Zusammentreffen der sozialkulturellen Lebenswelten von Hans und Waltraud gebildet wird und in das Ina im Alter von zwei Jahren kommt, ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet. Sie wächst mit einem Ersatz-Elternpaar auf. Dieses gründet eine Familie in einem hohen Lebensalter, in dem eigene Kinder nicht mehr möglich sind. Ihre Adoptivmutter leidet unter dem Trauma des uneindeutigen Mutterverlustes und einer „Überlebensschuld“ (vgl. Eckstaedt 1992: 27 f.). Es handelt sich um lebensprägende Schlüsselereignisse, die Entscheidungsaufschübe zur Folge haben. Blockiert ist lange Zeit die Integration in das neue Land – wie wir dem Interview entnehmen können („Bis heute fühlt sie sich aber nicht wohl […], die Sprache kann sie nicht so gut“, so Ina im Interview) – und die Gründung einer eigenen Familie. Die Adoptivmutter gehört zu einer Generation Holocaustüberlebender die beginnen, die kollektiv traumatisierenden Erfahrungen des Holocaust individuell und familial zu bearbeiten. Wie dynamisch wirksam und biografieprägend die Vergangenheit für diese Generation bleibt, zeigen die biografischen Fallrekonstruktionen von Gabriele Rosenthal (1997). Keineswegs werden die „Folgen der Vergangenheit […] in der Abfolge der Generationen […] schwächer, sondern sie werden in der dritten Generation sichtbarer: Deutlicher noch als ihre Eltern agieren die Enkel die Folgen der Vergangenheit aus“ (Rosenthal 2001: 16), „sie leisten weitere Schritte in der Trauerarbeit über die ermordeten Familienangehörigen“ (1999: 2). Wie hoch identifiziert Ina als Adoptivkind mit ihrem Ersatz-Milieu ist – ich werde gleich darauf zurückkommen –, zeigt ihre starke Identifikation mit diesem Erbe. Zum Adoptivvater: Er wächst ab dem Alter von zwei Jahren in einer Stieffamilie auf und beteiligt sich als Erwachsener am Aufbau eines jüdischen Staates. Ina wächst mit Adoptiveltern auf, die bedingt durch den Holocaust Brüche zu verarbeiten haben. Diese haben ihren Preis, da sie Neuanfänge auferlegen und Identitätsumschreibungen erzwingen. Partnerschaft und Familiengründung werden aufgeschoben. Die Lösung, die sie für diese Bewährungsaufgaben finden, ist eine späte Ehe und die Bildung einer Ersatzfamilie unter dem Vorzeichen der Adoption. Welche biografischen Entscheidungen sind vor dem Hintergrund dieses Sozialisationskontextes für Ina erwartbar? Hinsichtlich der ersten beruflichen Schritte ist anzunehmen, dass Ina – wie das in Israel üblich war – 24 Monate Militärdienst zu absolvieren hat. Ausgenommen vom Wehrdienst waren nur orthodoxe Juden, israelische Araber und alle nichtjüdischen, schwangeren oder verheirateten Frauen. Orientiert sie sich am Adoptivvater, so wäre eine wissenschaftliche Ausbildung denkbar, mit der sie – wie der Berufsabschluss des Adoptivvaters nahelegt – an hermeneutische Grundlagen anschließt. Über-

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raschen würde auch nicht, wenn sie an das weibliche Angebot mütterlicherseits anknüpft und z. B. Hauswirtschafterin, Kindererzieherin oder Sozialarbeiterin wird. Nicht auszuschließen ist ein Psychologiestudium, um das Lebensthema der Adoptivmutter rational zu verarbeiten. Ihr eigenes Thema der uneindeutigen biologischen Herkunft könnte auch die Entscheidung motivieren, an der Technischen Hochschule in Haifa ein Studium der Informatik aufzunehmen. Die Erfahrung der unklaren Abstammungsverhältnisse würde dann den Sinn in die Handlung tragen: Es ist besser, über klare Informationen zu verfügen, als über uneindeutige Abstammungskoordinaten. Alle anderen beruflichen Orientierungen, wie z. B. Fotografin zu werden oder einen landwirtschaftlichen Beruf zu erlernen, würden für eine Abgrenzung von den adoptivfamilialen Vorgaben stehen. Ina wählt folgenden Weg: Nach zwei Jahren Militärdienst beginnt sie im Alter von 20 Jahren Germanistik und Anglistik zu studieren. Mit dieser Entscheidung nähert sie sich den Herkunftsländern der Adoptiveltern über die Sprache an. 1994 dann, noch vor Ende des Studiums, macht sie einen Schritt, der überrascht. Sie geht für ein Jahr nach Ägypten. Vermutlich gehört sie einer Generation an, die keine Probleme mehr mit einer arabischen Bevölkerung hat. Aus der Perspektive der Adoptiveltern muss dieser Schritt im Kern eine Provokation enthalten und ihr Toleranzmaß auf die Probe gestellt haben. Dass Ina allerdings die Adoptiveltern mit Konflikt produzierenden Themen herausfordern kann, setzt voraus, dass sie Sicherheit in Form von unbedingter Solidarität im Familienmilieu erfahren konnte. Es ist auch zu vermuten, dass es den Adoptiveltern trotz des wenigen Wissens, das ihnen über die leiblichen Eltern zur Verfügung stand, überzeugend gelungen ist, auch wenn relevante Fragen nach dem Vater und der Mutter nicht eindeutig beantwortet und letzte, entscheidende Reste von Nichtwissen in Wissen nicht übersetzt werden konnten, ein stabiles soziales Ersatzmilieu einzurichten. 1995 konfrontiert Ina dann die Adoptiveltern mit einer weiteren Konfliktzumutung, die aufgrund ihres provokatorischen Gehalts verstörend auf die Adoptiveltern gewirkt haben muss. Sie geht nach Deutschland. Sie geht genau dorthin, wo das Verbrechen ersonnen worden ist und als Ereignis in der Biografie der Adoptivmutter soweit um sich greifen konnte, dass bis in die Gegenwart hinein kein thematischer Abschluss erreicht werden konnte. Was wird an diesen Entscheidungsschritten deutlich? Es scheint ihr darum zu gehen, auf der Basis der bestehenden und nicht in Zweifel gezogenen Mitgliedschaft zu einer Familie, der sie qua Adoption angehört, die soziale Verwandtschaft zur eigenen zu machen. Die abstammungsgemäß nicht selbstverständlich gegebene Familiengeschichte soll angeeignet werden. Die Form, die sie dafür wählt, nimmt Gestalt in der Figur der familiengeschichtlichen Pionierin an, die in rückwärtsgewandter Archivarbeit mit dem adoptivfamilialen Milieu ihr eigenes

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Bündnis schließt. Allerdings wird die Art der Auseinandersetzung, zu der dazugehört, nach Ägypten und Deutschland zu gehen, die Beziehung zu den Adoptiveltern stark belastet haben. Denn auch wenn diese Entscheidungen beinhalten, gegensätzliche Positionen durch Konfrontation zu integrieren und zu verändern, wird aus der Versöhnung ein unabschließbarer Prozess von Gegensätzen. In Deutschland, dann schon mit eigenen Kindern und einer gleichgeschlechtlichen Partnerin zusammenlebend, arbeitet sie als Freiberuflerin, vor allem in Zusammenarbeit mit einer jüdischen Organisation. Ich fasse zusammen vor dem Hintergrund der Frage: Wie verhält sich die Entscheidung, den Kinderwunsch in einer homosexuellen Paarbeziehung mit einer Frau über eine anonyme Samenspende zu erfüllen, zu den im Herkunftsmilieu vorliegenden Sozialisationslösungen? Organisiert ist die Beziehung zwischen den Generationen um das Thema des abwesenden Vaters. Reproduziert wird über die anonyme Samenspende eine Primärkonstellation, da Ina wie auch ihren ­ei-genen Kindern der leibliche Vater unbekannt ist. Es findet eine „Transmission zum Äquivalenten“ (vgl. Bertaux/Bertaux-Wiame 1991) statt. Das Äquivalente um das sich, wenn auch im Rahmen einer weiblichen Paarbeziehung, etwas wiederholt, ist die Einrichtung von Sozialisationsbedingungen, die den Nachwuchs mit der Erfahrung konfrontiert, mit einem physisch nicht anwesenden und auch nicht identifizierbaren Vater aufzuwachsen. Tradiert wird eine Abweichung von der kulturellen Norm der Kernfamilie derart, dass die Strukturposition des Vaters mit dem leiblichen Vater nicht besetzt ist. In der Wiederholung dieser sozialisatorischen Ausgangslage, auf alternativem Wege eine Familie zu gründen, ohne dass es einen leiblichen Vater gibt, drückt sich aber auch eine Zugehörigkeit zum adoptivfamilialen Milieu aus, dem Ina, vergleichbar auch mit den Schritten, die deutsche Sprache zu studieren und nach Deutschland zu gehen, ihre Loyalität bzw. Verbundenheit attestiert. Dass sie sich aber trotz des Vorhandenseins eines sozialen Vaters für eine anonyme Samenspende entscheidet und nicht für eine Adoption, um auch selbst leibliche Mutter zu werden, ist vor dem Hintergrund des bisherigen Fallwissens wie folgt zu erklären. Eine Familienneugründung im Rahmen einer Adoption würde für Ina bedeuten, sich neben dem unbekannten leiblichen Vater und dem sozialen Vater (Hans) mit einem weiteren, dann dritten Vater, hier zwar dann der ihres Adoptivkindes, auseinandersetzen zu müssen. Wir haben aber an den biografischen Schritten gesehen – deutlich zutage treten wird es auch in der Sequenzanalyse –, wie sehr Ina bereits mit ihrer eigenen Familiengeschichte beschäftigt ist und diese ihre Kräfte absorbiert. Einerseits geht von dem Nichtwissen um den leiblichen Vater eine Ambivalenzzumutung aus, die darin besteht, dauerhaft mit den nicht still zu stellenden Fragen die eigene Herkunft betreffend zu leben. Andererseits ist sie h­ ochidentifiziert mit der sozialen

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Mutter (Waltraud), der es selbst aufgrund lebensbiografischer Themen nicht gelungen ist, sich den Wunsch nach einem leiblichen Kind zu erfüllen, und den Ina jetzt, stellvertretend für die Adoptivmutter, quasi die Trägerfunktion für diesen Wunsch übernehmend, dann in der nachfolgenden Generation übernimmt. So stellen die anonyme Samenspende und die eigene leibliche Mutterschaft im Kontext einer homosexuellen Paarbeziehung geeignete Lösungen für die Handlungsprobleme dar, die sich aus der doppelten triadischen Situation, aus der fehlenden „Ursprungs“-Triade und der adoptivfamilialen Triade, ergeben. Diese Arbeit an den Themen, die ihr durch die Zeugungsfamilie und das soziale E ­ rsatz-Milieu auferlegt sind, hat für die nachfolgende Generation den Preis, dass auch ihr Interaktionserfahrungen mit dem leiblichen Vater verwehrt sind. Des Weiteren wachsen die Kinder von Ina mit einer Mutter auf, die sich die Aufgabe zu eigen gemacht hat, das Trauma der Adoptivmutter, das im durch die Katastrophe des Holocausts verursachten uneindeutigen Verlust der Mutter besteht, weiter kognitiv zu bearbeiten. Mit welcher Partnerin, die – wie wir bereits wissen – auch ein Kind zur Welt bringt, lebt sie zusammen? Sind auch hier Vorgaben aus der Herkunftsfamilie für die Lösung von Sozialisationsaufgaben orientierungswirksam (A1: Homologie zum Herkunftsmilieu) oder wird mit der Entscheidung für eine anonyme Samenspende eine alternative sozialisatorische Ausgangslage gewählt (A2: Heterologie zum Herkunftsmilieu)? Wandula Fuertes (die leibliche Mutter von Laila): Der Vater von Wandula, Lorenzo, stammt aus einer spanischen Familie mit bildungsbürgerlichem Hintergrund. Als ältester Sohn setzt er das naturwissenschaftliche Erbe seiner Familie fort. Er wird wie sein Vater Mathematiker und arbeitet nach einer Lebensphase beruflicher Karrieremobilität an einem naturwissenschaftlichen Forschungsinstitut in West-Deutschland. Als er nach Deutschland geht, im Jahr 1972, ist er seit sieben Jahren verheiratet und hat zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Das dritte Kind, eine Tochter, kommt ein Jahr nach dem Umzug der Familie in einer deutschen Großstadt zur Welt. Er ist verheiratet mit einer Frau, die aus einer deutschen Familie stammt. Malina ist vier Jahre jünger, hat eine erfahrungsbasierte Wissenschaft studiert und stammt wie ihr Ehemann Lorenzo aus einer Familie mit einer naturwissenschaftlichen Berufsorientierung. Aus ihrer eigenen Familie ist ihr das Thema Mobilität bekannt. 1946, da ist Malina fünf Jahre alt, zieht ihre Familie innerhalb Deutschlands um. Drei Jahre danach geht die Familie ins Ausland. Nicht ganz klar ist, als was der Vater von Malina in Deutschland gearbeitet hat. Nicht ganz auszuschließen ist, dass er als Naturwissenschaftler in nationalsozialistische Interessenvertretungen verstrickt gewesen ist. Die Biografiekarrieren der drei Geschwister zeigen, dass vermutlich für alle gleichermaßen die Aufgabe galt, früh einen eigenen Platz außerhalb

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der Herkunftsfamilie zu finden. Der älteste Bruder von Malina geht nach Kanada und arbeitet im Bankgeschäft, der jüngere Bruder lebt in Spanien und arbeitet in einem mittelständischen Unternehmen im Bereich Management. Die Jüngste, Malina, heiratet einen Spanier (Lorenzo) und reproduziert mit ihrer eigenen Familie das Mobilitätsverhalten. Wir haben es hier mit einem zentrifugalen Familienmilieu zu tun, das sich – wie wir gleich sehen werden – in der nachfolgenden Generation wiederholt. Zusammen haben Lorenzo und Malina – wie oben ausgeführt – drei Kinder. Alle drei Kinder kommen in einem anderen Land zur Welt. Die älteste Tochter, Wandula, die uns hier als die Partnerin von Ina interessiert, wird ein Jahr nach der Hochzeit in Spanien geboren. Ein Jahr später kommt Maik in Kanada zur Welt, vermutlich also während eines Aufenthalts, der für den Vater einen Karrieresprung bedeutet haben wird. 1963 erfolgt der Umzug in eine deutsche Universitätsstadt. Nach insgesamt sechs Jahren Wanderschaft situiert sich die Familie 1972 in Deutschland, in der Stadt, in der Malina, die Mutter von Wandula, geboren worden ist. Die Stadt, die Malina mit Erinnerungen aus der frühen Kindheit verbindet, wird ihr nach vielen Jahren, die sie zum Teil auch im Ausland verbracht hat, wahrscheinlich fremd und zugleich auch ganz vertraut gewesen sein. In dieser deutschen Stadt wird dann das dritte und jüngste Kind geboren. Die Familienmobilität und die Anzahl der Kinder legen die Vermutung nahe, dass die Mutter von Wandula, Malina, ihre eigene berufliche Karriere nicht weiter verfolgt hat. Innerhalb der Familie wird es nicht darum gegangen sein, sich als Paar wechselseitig in Wissenschaftsaspirationen zu unterstützen. Sondern die Familie wurde vermutlich nach dem bildungsbürgerlichen Modell organisiert, in dem die Frau die weitere Ausgestaltung ihrer Bildungskarriere unterlässt und als Gattin eines erfolgreichen Wissenschaftlers sich um den Familienhaushalt und die Erziehung der Kinder kümmert. Was wird aber aus den fachlichen Ambitionen von Malina, die zu einer Zeit studierte, als man infolge der Studentenbewegung der 60er und 70er Jahre begann, leidenschaftlich über die richtige Kindererziehung zu diskutieren? Besonders an den Universitäten wurden damals intensive Debatten über die kindlichen Bedürfnisse im familiären wie außerfamiliären Bereich geführt, und neben Kindergärtnern, Sozialpädagogen und Lehrern haben auch Eltern ihre tägliche Erziehungsarbeit einer Selbstkritik unterzogen. Die Pädagogik dieser Zeit war geprägt durch neue Reglementierungen und für die Erziehung gab es eine Vielzahl an Gebrauchsanweisungen. Der Mutter von Wandula werden die pädagogischen Mittel der behavioristischen und materialistischen Psychologie nicht fremd gewesen sein, und nicht ganz auszuschließen ist, dass sie ihre still gestellten Berufsansprüche auf die Familie umgelenkt und eine

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sehr anspruchsvolle, verwissenschaftliche Kindererziehung in der Fremde betrieben hat. Welche Konsequenzen ziehen nun die Kinder dieser Familie, die auch bedingt durch die vielen Umzüge mit dem Thema der prekären Zugehörigkeit konfrontiert sind, im Sinne von „nicht mehr ganz dort [zu sein], wo man herkommt [und] noch nicht ganz dort, wo man hingeht“ (Waldenfels 1997: 182)? Wenn wir auf die Lebensverläufe der Kinder blicken, so erkennt man zentrifugale Tendenzen, die von diesem Familienmilieu ausgehen: Der älteste und einzige Sohn der Familie, von dem zu erwarten gewesen wäre, dass er versucht, das naturwissenschaftliche Erbe des Großvaters oder Vaters anzutreten, geht auf Distanz. Weder reproduziert er das Betätigungsfeld der männlichen Vorgänger, noch versucht er dem Bewährungsdruck in einer Randexistenz standzuhalten (z. B. als Wissenschaftsjournalist). Der einzige Sohn begibt sich unter Preisgabe seines erworbenen Humankapitals in einen Kontext, in dem man naturwissenschaftliche Kenntnisse nicht verwerten kann, zudem weicht er in eine religiöse Gemeinschaft aus. Die beiden Töchter der Familie ziehen aus dem Familienmuster der prekären Zugehörigkeit die Konsequenz, daraus eine Lebensform zu machen. Die Jüngste stellt mit ihrer Orientierung nach Spanien das missing link zwischen dem Vater und seiner Herkunftsfamilie wieder her. Sie heiratet 2005 einen Spanier. Die Älteste, Wandula, wählt eine pioniermäßige Paarbeziehung, in der die Vergemeinschaftung auf einem technisch-instrumentell herbeigeführten Konstrukt von Elternschaft ohne Vaterschaft beruht. Sie entscheidet sich für eine sexualitätslose Zeugungsform, die ohne männlichen Sexualitätspartner auskommt. Der Erzeuger ihres Kindes (Laila) ist, wie bei den Kindern ihrer lesbischen Partnerin, auf eine Substanz, den Samen, reduziert, der ihr mithilfe medizinisch-technischer Methoden inseminiert wird. Wir können vermuten, dass ihre Eltern – bedingt durch ihre berufliche Sozialisation – der Lebensform ihrer jüngsten Tochter mit Verständnis begegnen konnten. Der Vater als Naturwissenschaftler war damit vertraut, etwas naturhaft Beiläufiges in die Stellung einer technisch rationalen Durchformung zu heben. Der Mutter, die zur Zeit der ersten Frauenbewegung studiert hat und die die emanzipatorischen Interessen der Reformbewegung kennt, sind vermutlich zumindest die Debatten über neue Zeugungstechnologien aus dieser Zeit bekannt. Diese wurden damals unter dem Etikett der Frauenbefreiung als Fortschritt in der reproduktiven Selbstbestimmung von Frauen verstanden. Schwanger zu werden, ohne ausweisbaren Mann, entsprach dem damaligen Zeitgeist, der in der Parole zum Ausdruck kam: „Mein Bauch gehört mir“. Welche zwei Lebenswelten werden durch den Paarzusammenschluss der beiden Frauen miteinander verbunden? Ina und Wandula kommen beide aus

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Familien, die sich mit dem Thema der Heimatlosigkeit bzw. der prekären Zugehörigkeit auskennen. Im Unterschied zu Ina, die in einer Adoptivfamilie aufgewachsen ist, verfügt Wandula über eine naturwüchsig gewachsene Zugehörigkeit zu ihrem Familienmilieu. Diese sozialisatorische Ausgangslage erweist sich als günstige Bedingungsvoraussetzung, um der Partnerschaft auf Dauer Stabilität zu geben, in der die Partnerin Ina stark mit familienbiografischen Themen beschäftigt ist. So erhält Ina mit Wandula eine Partnerin, die ihr für die rückwärtsgewandte Deutungsarbeit den Rücken stärkt und mit der im Interesse dieser familiengeschichtlichen Pionierarbeit Vertrauen gesichert werden kann. Auch kann Wandula durch ihre Einsozialisierung in ein Milieu, das vermutlich durch eine Verwissenschaftlichung der Kindererziehung geprägt ist, in dem emanzipatorische Interessen aus der Zeit der Reformbewegung präsent sind und in dem naturwissenschaftliches Denken einen Platz hat, zu einem verlässlichen Unterstützungsgaranten für das Projekt werden, sich den Kinderwunsch außerhalb einer Beziehung zu einem Mann über einen Zeugungsakt technischer Provinienz zu erfüllen. Mit Wandula bekommt sie aber auch einen Familienkontext, der den Familienentwurf einer technokratischen Vergemeinschaftung mit tragen kann. Wandula hingegen erhält in Ina eine Partnerin, die zum einen durch ihre Herkunft aus Israel die Möglichkeit mitbringt, sich eine neue Kultur zu erschließen. Zum anderen bietet Ina durch die uneindeutige Abstammung, durch den unklaren, dunklen Herkunftsgrund eine Geschichte, die wie alles Unbekannte durch fehlende gültige Auslegungsschemata im Bereich der Faszination bleibt: „Meine Geschichte“ – so Ina im Interview – „das ist irgendwie nicht so die glorreiche Geschichte“. Daraufhin sagt Wandula: „Aber eine sehr spannende Geschichte“.

5.2 Deutungsmusteranalyse Wie verhalten sich nun die beiden Frauen, wenn es um Entwicklungsbedingungen für ihren Nachwuchs geht? Mit welchen Deutungen wird, wenn überhaupt, von ihnen das krisenhafte Thema der Samenspende bearbeitet? Wie verhalten sie sich hinsichtlich möglicher Bedenken, den Kindern ein Aufwachsen unter den von ihnen gesetzten Rahmenbedingungen zuzumuten? Bevor dazu eine aussagekräftige Interviewstelle analysiert wird, sollen auf der Basis des bisherigen Fallwissens Mutmaßungen darüber angestellt werden, welche Begründungen, vielleicht auch Rechtfertigungen oder thematischen Bezüge sie geltend machen, die wiederum dazu führen, dass die praktische Abweichung von der kulturellen Norm der Kernfamilie nicht zum Problem für die unmittelbare Alltagspraxis

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wird. Im Falle von Wandula ist davon auszugehen, dass sie bedingt durch die sozialisatorische Prägung in ihrer Herkunftsfamilie vom Habitus her vielmehr und stärker als Ina Trägerin des sozialen Deutungsmusters der Kernfamilie ist. Zu vermuten ist, dass Wandula Formulierungen bzw. Äußerungen verwendet, die vom Inhalt her sich viel deutlicher und ungebrochener auf den Normbereich der Kernfamilie beziehen. Sie scheint eher als Ina geneigt zu sein, in relativ konservativen Bahnen zu denken und das Deutungsmuster der Kernfamilie zu teilen. Ina dagegen wird sich vermutlich kaum zu Äußerungen veranlasst sehen, in denen sie Deutungen realisiert, die zum Ausdruck bringen, das Deutungsmuster der Kernfamilie anzuerkennen. Zu erwarten ist, dass das, was von der Kernfamilie abweicht, von ihr nicht normalisiert wird über Deutungen, mit denen ausgedrückt wird, die Norm der Kernfamilie zu teilen. Diese Art der Normalisierung wird sich genau deshalb nicht Bahn brechen, da es für das inseminale Projekt mit dem unbekannten Vater eine Legitimationsbasis gibt, auf die sie sich berufen kann. Denn Ina findet in ihrem adoptivfamilialen Milieu eine Quelle für die Geltung eines Sozialisationsrahmens, in dem Abweichendes von der kulturellen Norm der Kernfamilie Normalität ist. Hinzu kommt noch, dass es in ihrer individuellen Bildungsgeschichte darum geht, sich mit der Adoptivfamilie zu vergemeinschaften. Diese Vergemeinschaftungsbestrebungen, in denen sich auch eine Zugehörigkeit und Loyalität zu ihrer Adoptivfamilie ausdrückt, unterbinden geradezu, dass Themenkomplexe, wie das der Samenspende, über Deutungen so normalisiert werden, dass sich darin die Geltung der Norm der Kernfamilie ausdrückt. Da es um die Akzeptanz ihres Ersatz-Milieus geht, würde ein Bewusstheitskontext, in dem die Norm der Kernfamilie gültig ihren Ausdruck findet, eine Kritik bzw. eine Abgrenzung von ihrem Sozialisationsmilieu bedeuten, in dem sie aufgewachsen ist. Derartiges ist vor dem Hintergrund der bisher herausgearbeiteten Fallstruktur aber nicht zu erwarten. Es ist weiterhin davon auszugehen, sollten die hier formulierten Vorüberlegungen stimmen, dass bei Ina, die von beiden Frauen habitusbedingt diejenige ist, die vermutlich auf radikale Distanz zum Deutungsmuster Kernfamilie geht, ethische Zweifel an dem Projekt der Samenspende gar nicht aufkommen bzw. sie bestrebt ist diese zu unterdrücken. Wenn es um Fragen der ethischen Vertretbarkeit geht bzw. um Fragen, die sich um den Aspekt der Zumutbarkeit drehen, dann ist zu erwarten, dass, wenn dann Wandula von beiden Frauen diejenige ist, die ein Bewusstsein für derart Problematisches hat, da sie, wenn unsere Vermutung stimmt, das soziale Deutungsmuster der Kernfamilie teilt. Ina hingegen wird schon allein durch die Wirkung des Prinzips, sich das adoptivfamiliale Milieu anzueignen, es zum Eigenen zu machen, völlig undurchlässig sein für Deutungen, die die Überzeugung beinhalten, ohne die Kenntnis des leiblichen Vaters aufzuwachsen sei

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etwas Problematisches. Die Anerkennung und kritiklose Akzeptanz ihres Herkunftsmilieus drückt sich dann darin aus, dass alternative Entwicklungsrahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern als etwas Problematisches, Fragwürdiges, Bezweifelbares unthematisch bleiben. Das Problem, dass die Kinder nicht nur ohne den leiblichen Vater aufwachsen, sondern einen Teil ihrer leiblichen Herkunft auch nicht genau bestimmen können, wird in Inas Bewusstheitskontext vermutlich gar keine Aufmerksamkeit erregen. Denn eine Normalisierung mit positivem Bezug zu ihrem Sozialisationsmilieu geht einher mit einer erfolgreichen Abdichtung gegen Reflexionen, durch die der Prozess der Nachwuchssozialisation unter der Bedingung einer anonymen Samenspende zu einem problematischen und erklärungsbedürftigen Thema wird. Eine höhere Sensibilität für das Krisenhafte, das der Samenspende anhaftet, ist eher auf der Seite von Wandula zu vermuten. Denn wenn Normalisierungen bei ihr mit Bezug zum Deutungsmuster der Kernfamilie erfolgen, dann erwachsen daraus im Abgleich mit der Inseminationsfamilie Irritationen bzw. Unvereinbarkeiten, die schon einmal eher zum ethischen Bedenken anstiften können, für die bei Ina die Grundlagen völlig fehlen. Aus der Analyse des Herkunftsmilieus von Wandula ist uns aber bekannt, dass sie in einem naturwissenschaftlichen Milieu einsozialisiert ist, das ihr wahrscheinlich auch einen Habitus hat angedeihen lassen, durch den potenziell Krisenhaftes über rationaltechnische Auslegungsschemata nicht zum Problem wird. So ist zu vermuten, dass im Bewusstheitskontext von Wandula der Prozess der Nachwuchssozialisation unter dem erklärungsbedürftigen Thema des abwesenden leiblichen Vaters zwar thematisch ist, allerdings nicht eingebettet in eine pragmatische Rahmung des Bedauerns, der Entschuldigung oder des Zweifels. Denn all das würde eine Rechtfertigung bedeuten, die wiederum die Hypothese widerlegen würde, dass im Fall von Wandula aus dem Habitus resultierende Auslegungsschemata am Wirken sind, die verunmöglichen, dass von der Norm der Kernfamilie abweichende Sozialisationsbedingungen als unverantwortlich und ethisch bezweifelbar gedeutet werden. Doch schauen wir uns jetzt die ausgewählte Interviewstelle an12:13 DF: Ja vielleicht dann noch ähm gehen wir mal zu der Samenspende. Macht man sich denn da so Gedanken auch also über Anlagen zum Beispiel (?)

12DF = Interviewerin;

W = Wandula; I = Ina konstitutionstheoretische, methodologische und forschungspraktische Ausführungen zur Methode der Objektiven Hermeneutik und ihrem zentralen Verfahren der Sequenzanalyse soll hier verzichtet werden.

13Auf

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Im Interaktionsverlauf, so wie er im transkribierten Interview dokumentiert ist, ist in der Regel Wandula diejenige, die zuerst spricht. Denkbar wäre, dass sie auch die Einzige ist, die sich überhaupt veranlasst sieht, sich zu dem angesprochenen Thema sprachlich ins Benehmen zu setzen. Es würde nicht überraschen, wenn Ina darauf gar nicht antwortet bzw. ein Schweigen bekundet oder wenn sie sich dazu mit einem Sprechakt äußert, der das Thema schnell zum Erliegen bringt mit z. B.: „Nein, darüber mache ich mir keine Gedanken“. Von Ina ist ein Antwortverhalten zu erwarten, das sie als die radikale Vertreterin einer Familienform ausweist, in der für Konzeptionelles, das an die Kernfamilie erinnert, kein Platz ist. Hier an dieser Sequenzstelle wird aber nun von der Interviewerin ein Thema, nämlich das der Samenspende, in einer Art und Weise angeschlagen, die traditionelle Konzepte virulent werden lässt. Die Interviewerin muss ein Gespür dafür haben, dass es sich um einen heiklen Sachverhalt handelt, der hier angesprochen wird; das wird an dreierlei ersichtlich. Das Adverb „vielleicht“ drückt für die Interviewees aus, dass auch etwas anderes gelten kann. Es suggeriert ihnen die Möglichkeit einer Alternative: „vielleicht auch nicht“. Das „ähm“ der Interviewerin verweist zweitens darauf, da die Rede nicht flüssig fortgesetzt wird und für eine Pause steht, die die Interviewerin benötigt, um nach einer passenden Formulierung zu suchen, dass er vermutlich antizipiert: hier wird Krisenhaftes angesprochen. Eine Reaktion auf die Mutmaßung, thematisch Problematisches zum Gegenstand der Rede zu machen, ist die Wahl des verallgemeinernden und konturenverwischenden Pronomens „man“. Die Interviewerin spricht aus der Perspektive des Allgemeinen und vermeidet so eine direkte persönliche Ansprache. Worin besteht aber nun genau das Krisenhafte? Mit der von der Interviewerin gelegten Spur, das, worüber man ins Räsonieren kommen könnte, wenn es um die Samenspende geht, beispielhaft am Sachverhalt der Anlagen zu illustrieren, enthält folgende Brisanz: Ist doch, wenn es um „Anlagen“ geht, der biologische Unterbau aufgerufen, der in ihrem Fall durch die anonyme Samenspende nicht mit den sozialisatorischen Verhältnissen deckungsgleich ist. Das Deszendente, das punktuell in der Zeugung vorliegt, verlängert sich nicht, da der Vater fehlt, in das Soziale hinein. Wenn nun die durch die Samenspende verursachte Deckungsungleichheit von biologischem Unterbau und familialer Sozialisationspraxis in ihrer Fantasie bei ihnen Gestalt im Thema „Anlagen“ einnimmt, dann heißt das, dass der biologische Vater bewusstseinsmäßig präsent ist. Da sie diesen aber nicht kennen, kann er nur, wenn es um „Anlagen“ geht, über die Merkmale des Kindes, die sich nicht auf die Mutter zurückführen lassen, bruchstückhaft rekonstruiert werden. Es ist kaum zu vermuten, dass Ina, die habitusbedingt – so die Fallstrukturhypothese – nicht dazu neigt, Widersprüchliches im ungebrochenen Anschluss an das Deutungsmuster der Kern-

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familie zu normalisieren, auf das von der Interviewerin angesprochene Thema positiv reagiert. Wenn, wie vermutet, ihre Normalisierung, die über das adoptivfamiliale Herkunftsmilieu läuft, gegen die von der Interviewerin angesonnene Abstammungsfrage abdichtet, dann kann, wenn die Hypothese funktioniert, im Bewusstheitskontext von Ina der biologische Vater keinen Platz haben. Demgemäß ist zu erwarten, dass nur Wandula reagiert, da sie diejenige ist, die fallspezifisch bedingt zu anderen, konservativeren Interpretationen des Deutungsmusters neigt. Ina könnte allenfalls, sollte sie sich sprachlich überhaupt dazu äußern, erklären, dass dieser Sachverhalt für sie bedeutungslos ist. W: Ja. (!) Bei Laila zum Beispiel war klar,

Wandula antwortet ohne die geringste Verzögerung. Offenbar handelt es sich bei dem Thema um eines, bei dem sie nicht den geringsten Zweifel hegt und über das sie sich so im Klaren ist, dass sie darüber gar nicht erst nachzudenken braucht. Weder benötigt sie eine Besinnungspause, noch verschafft sie sich eine Verzögerung, z. B. mit „äh“. Wandula scheint aber nicht nur nicht überrascht über die Frage, die sie bestätigend beantwortet („Ja“), sondern es scheint sie geradezu zu einer Antwort zu drängen, worauf das mit Emphase geäußerte „Ja“, das in der Verschriftlichung mit dem Ausrufezeichen markiert ist, verweist. Dass sie mit dem von der Interviewerin angesprochenen Thema überhaupt kein Problem hat, zeigt sich nicht nur darin, dass sie sofort mit einem Redebeitrag anschließt, sondern auch darin, dass sie das Ansinnen der Interviewerin bedient, eine Darstellung zu wählen, die beispielhaft einen abstrakten Zusammenhang illustriert. Aus der Möglichkeit, über Abstammungsfragen zu sprechen, wählt sie aus den möglichen Eltern-Kind-Beziehungen ihrer Inseminationsfamilie, in der sie lebt, diejenige aus, an der sich anlagenbezogene Thematiken mit Bezug zu ihr selbst am besten erläutern lassen. Das ist dann eben nicht ihre Beziehung zu Joel oder Olivia, sondern ihre eigene biologisch begründete ­Mutter-Kind-Beziehung. Demzufolge ist schlüssig, dass hier auch vom Vater, von dem ihr Kind abstammt, die Rede sein wird. Schon an dieser Stelle wird ersichtlich, wie präsent – zumindest für Wandula – der Samenspender als Mitglied einer E ­ ltern-Kind-Beziehung ist. Eine Fortsetzung des Satzes mit: ‚[…] dass sie auch vom Vater abstammt‘, würde uns nicht überraschen. Allerdings wissen wir aus anderen Sequenzstellen des Interviews, dass sie eher ein Fall von Inseminationsfamilie sind, der präsupponiert, zur Familie braucht es keinen Vater. dass sie, dass sie schon, also schon als Baby hat sie mir sehr geähnelt.

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Vom Samenspender als Vater des Kindes ist erst einmal nicht die Rede. Wir können allerdings vermuten, dass – wenn auch unausgesprochen – schon hier sprachlich ein Bezug zu ihm hergestellt werden sollte. Sie muss aber gemerkt haben, dass sie damit ihr Konzept von Familie, in dem die Partnerin als zweite Mutter die Familie vollständig komplettiert, desavourieren würde. Deshalb gerät sie auch ins Stocken („dass sie, dass sie“), verschafft sich Zeit und setzt mit dem zäsurierenden „also“ noch einmal neu an. Zentralthematisch wird zuerst die Mutter-Kind-Dyade. Herausgestellt wird die Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrer Tochter Laila. Das geschieht in Form einer Rückschau durch die sprachlich eine Vergangenheit repräsentiert wird, zu der die Erfahrung gehört, die in einen Gewissheitssatz gekleidet wird („war klar“), dass bereits früh („schon“) eine Ähnlichkeit zwischen ihnen ausgemacht werden konnte. Das heißt, die Ungewissheit zu der auch dazugehört, zu antizipieren, das Kind könnte nicht ihr, sondern mehr dem biologischen Vater ähneln, ist zu einem frühen Zeitpunkt beseitigt gewesen. Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass Abstammungsfragen sie von Anfang an beschäftigt haben bzw. die Bedeutung des Samenspenders als Vater des Kindes immer – zumindest in der frühen Vergangenheit – virulent war. Umso erklärungsbedürftiger ist, dass sie den Vater, der ja mit „Samen“ thematisch eingeführt war, wieder tilgt; es ist offenbar ein Tabuthema. Es darf darüber nicht gesprochen werden, da eine über die Sprache ausgedrückte Anerkennung der Norm der Kernfamilie, sobald diese durch Wandula erfolgt, Widerspruch und damit zusammenhängend auch einen Paarkonflikt hervorrufen könnte. Denn für Ina würde die Verlebendigung des Samenspenders als leiblichen Vater bedeuten, dass Wandula sie nicht in dem für sie wichtigen Lebensthema unterstützt: über die Bildung einer Familie mit unbekannten Vater ihre eigene unvollständige Herkunft zu normalisieren. Die Geltung der Norm der Kernfamilie darf nicht ausgedrückt werden, auch wenn sie implizit für beide gilt. Sie muss abgewehrt werden, um Inas Normalisierungsbemühungen, die sie hier auf Kosten der Kinder betreibt und diese für ihre Zwecke instrumentalisiert, nicht infrage zu stellen. Aber es gibt so’n paar Sachen. Zum Beispiel, dass sie so hellhäutig ist.

Mit „Aber“ wird eine Gegenbewegung eingeleitet, mit der ein Kontrast zum Ausdruck gebracht werden soll. Sie kündigt für die Interviewerin an, dass noch ein anderes Argument bedacht werden soll und dass dieser als Kontrast zu nennende Sachverhalt als nicht positiv einzuschätzen ist. Es handelt sich dabei um etwas, dass jetzt nicht mehr Teil einer Darstellung ist, die sich auf die Vergangenheit bezieht. Sondern durch den Wechsel vom Präteritum ins Präsens wird angezeigt, dass es um etwas in der unmittelbaren Gegenwart geht. Was das ist, wird durch

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das Syntagma „es gibt“, bei dem es sich um ein Aufmerksamkeitssignal handelt (vgl. Weinrich 2007: 398), für die Interviewerin auffällig präsentiert: „so’n paar Sachen“. In Langschrift formuliert heißt dieser Satz: Auch wenn schon früh die Abstammung von der biologischen Mutter klar war, gibt es ein Bündel von Merkmalen, die sich nicht auf diese zurückführen lassen. In Stellvertretung für die Pluralität an diesen nicht ihr zuzurechnenden Phänomenen, wird beispielhaft konkret das der Hellhäutigkeit herausgestellt. Einschließlich dieses Merkmals gibt es aber auch noch andere, die allgegenwärtig präsent sind. Das heißt, wenn sie auf Laila schaut, dann findet sie in ihr Anteile repräsentiert, die die Allgegenwärtigkeit der anderen Abstammungshälfte objektiv präsent halten. Das erklär ich dann immer damit, dass sie, sie, das muss von der väterlichen Familie kommen.

Für das, was sich von ihr als biologischer Mutter abhebt, sich von ihr unterscheidet, muss eine Prädikation gefunden werden. Diese Prädikation wird vom Modalverb „muss“ so modalisiert, dass Zwänge feststellend präsupponiert werden, welche die Geltung einer Prädikation verlangen, die wie eine gesetzgebende Kraft wirkt. Wenn Wandula auf Laila blickt, dann sieht sie wie auf einem Phantombild Bestandteile, die auf etwas anderes schließen lassen, das immer im Anblick von Laila mit präsent ist. Zieht man von diesem Phantombild die mütterlichen Anteile ab, dann kommen, wie die Hellhäutigkeit, Eigenschaften deutlich zutage, die der „väterlichen Familie“ zugesprochen werden müssen. Warum wählt sie nun aber nicht die Alternative, den Relativsatz wie eingeleitet mit der Formulierung abzuschließen: „dass sie auch vom Samenspender“ abstammt, oder: „das muss vom Samenspender kommen“? Mit dieser Wortwahl hätte sie zumindest die Bezeichnung „Vater“ vermieden und hätte sich auf relativ neutralem Terrain befunden. Auch wenn vermutlich Ina, die sich bisher noch nicht zu Wort gemeldet hat, dieser ganzen Thematik aus oben angeführten Gründen nichts abgewinnen kann, wäre das eine Alternative mit dem noch geringsten Konfliktpotenzial gewesen. Stattdessen bleibt die Zuordnung der ‚fremden‘ Bestandteile nicht beschränkt auf die primäre Bezugsperson des Vaters, sondern mit „väterlicher Familie“ wird gleichsam die ganze Abstammungsverwandtschaft des Vaters aufgerufen. Indem Wandula in dieser Form die helle Hautfarbe von Laila in Verbindung mit dem väterlichen Verwandtschaftssystem bringt, positioniert sie ihr Kind zu einer Linie von Menschen, die vor ihm da waren. Sie weist dem Kind eine Herkunftslinie und Herkunftsidentität zu, die eben nicht auf die mütterliche Linie beschränkt ist, und mit Inas Verwandtschaftsverhältnissen gleich gar nichts zu tun hat. Wir sehen hier ganz deutlich, wie Wandula, um

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phänotypische Merkmale zu ‚erklären‘, sich auf einen kulturellen Zusammenhang beruft, der sich schon in der frühesten Vergesellschaftung des Menschen durchgesetzt hat und sich – wie es Popitz einmal formuliert hat – wie ein „normatives Netz jedem über die Wiege“ legt (Popitz 2011: 117). Sie bringt die Wirksamkeit von derart allgemeinen Zugehörigkeitsnormen, die wir – zumindest in Westeuropa – mit dem Begriff der Familie verbinden durch das Modalverb „muss“ wie eine Kraft zur Geltung, die unabhängig von ihr wie ein Vorgegebenes wirkt. Das kommt insbesondere auch in der Verwendung eines assertorischen Sprechaktes zum Ausdruck: „das erklär ich“. Ihre Aussage, „das erklär ich immer mit der väterlichen Familie“ setzt voraus, dass sie als Erklärende über einen entsprechenden Begriff von Familie verfügt. Wandula legt sich, indem sie den assertorischen Sprechakt wählt, auf eine Überzeugung fest, die der Interviewerin sagt, dass die soziale Welt so beschaffen ist, dass hier mit einem genealogischen Ordnungsmuster, um z. B. die helle Haut von Laila zu erklären, argumentiert werden muss. Über die Sprache wird so auf die institutionelle Realität von Kernfamilie und Verwandtschaft verwiesen, die durch Wandula in diesem Sprechakt repräsentiert wird. Gleichwohl Wandula in der Praxis mit der Inseminationsfamilie faktisch gegen die Norm der Kernfamilie verstößt, wird deutlich, wie in ihrem Fall durch die Bezugnahme auf mit dem biologischen Unterbau verknüpfte kulturelle Normierungen ihre Geltung behalten, von ihr anerkannt und akzeptiert werden. DF: Aha.

Die Antwort von Wandula ruft bei der Interviewerin einen Aha-Effekt hervor. Mit der Interjektion wird zum einen ausgedrückt, dass aufseiten der Interviewerin ein Unverständnis beseitigt werden konnte und dass andererseits die Antwort die Interviewerin zugleich überrascht. Überrascht wird die Interviewerin darüber sein, dass Wandula nun doch auf ein traditional-genealogisches Konzept Bezug nimmt von dem die Interviewerin annahm, weshalb er bei der Formulierung der Frage auch Schwierigkeiten hatte, dass es gar nicht erst angesprochen werden darf. Und überraschend ist nun, dass es sprachlich doch zutage tritt. W: Das is, (.) aber man weiß es halt nicht. Es, ich seh’s halt so

Mit Verwendung des demonstrativen „das“ rückt sie die Erklärung, die Uneindeutigkeiten mit der Abstammungsverwandtschaft väterlicherseits plausibel machen soll, wieder auf Distanz. Die Distanzierung ist allerdings nicht darin motiviert, dass sie merkt, dass sie gerade dabei ist, eine Normalisierung über

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eine kulturelle Norm vorzunehmen. Sondern neutral gesehen („es“) – und darin ist sie wieder ganz Realistin – funktioniert ihre Referenz deshalb nicht ganz vollgültig, da durch die anonyme Samenspende eine eindeutige Zuordnung zur „väterlichen Familie“ nicht vorgenommen werden kann. Was bleibt, auch wenn sie äußere Merkmale, wie eine andere Hautfarbe, über Traditionales versucht zu normalisieren, ist ein Nicht-Wissen: „man weiß es halt nicht“. Bei diesem Nicht-Wissen handelt es sich – so wie Wandula es darstellt – um ein Faktum, das man einfach anerkennen und hinnehmen muss. Mit der Partikel „halt“ wird jede Erklärungsbedürftigkeit dieser Schlussfolgerung abgewiesen und das Festgestellte wird als nicht weiter kommentierungsbedürftig normalisiert. In der Äußerung steckt aber auch eine Ambivalenz: Wandula oszilliert nämlich zwischen einer nüchternen objektivierenden Tatsachenfeststellung einerseits und einer impliziten Rechtfertigung des festgestellten Sachverhalts andererseits, die zum Ausdruck kommt im Sprechakt: „Ich seh’s halt so“. Wir erwarten infolge die Darstellung einer Überzeugung, mit der sie ausdrückt, wie aus ihrer Perspektive sich die Dinge verhalten. jetzt bei den (.) Heterofamilien. ((atmet ein)) Wenn man nur die Mutter kennt oder nur den Vater, dann denkt man auch immer: (.) ‚Das Kind sieht ja voll aus wie die Mutter‘. Und dann sieht man irgendwann mal den Vater und denkt: ‚Ach ja stimmt. Eigentlich sieht das komplett aus wie der Vater‘.(.)

Sie setzt erst einmal eine Zäsur („jetzt“), mit der sie eine Entgegensetzung zum zuvor Thematisierten ankündigt. Es handelt sich dabei um das Vergleichsmodell der heterosexuellen Familie, das von ihr in einer respektlos-distanzierenden Rede („den [.] Heterofamilien“) herausgehoben wird. Das hörbare Einatmen und auch die kurze Pause („[.]“) zeigen an, dass Wandula allerdings zum einen kurz überlegen muss, bevor sie zu einem Schluss ansetzt, und dass zum anderen die Erläuterung auch mit einer gewissen Schwierigkeit verbunden ist, worauf das Einatmen als Ausdruck einer Anspannung schließen lässt. Vermutlich antizipiert sie, dass sie in der Normalisierung des Nicht-Wissens mithilfe einer Familienform, bei der in der Regel Phänotyp und Genotyp übereinstimmen, einer Täuschung unterliegt. Denn auch wenn sie ihrer Äußerung den Charakter einer generalisierenden Schlussfolgerung verleiht und damit aus der Perspektive des Allgemeinen spricht („sieht man“), ist ihre Argumentation doch nicht konsistent. Zum einen ist es in ihrem Fall ja gerade nicht so, dass Lailas Äußeres allen Anlass dazu gibt, sie sehe „ja voll aus wie die Mutter“. Vom Phänotyp her gesehen tritt bei Laila ganz offensichtlich noch eine andere Abstammungslinie zutage. Zum anderen ist in ihrem Fall ja eben durch die anonyme S ­ amenspende

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der Vater unbekannt, weshalb die Annahme, bei Präsenz des Vaters das Kind durch ein gemeinsames Äußeres ihm zuordnen zu können, nicht logisch ist. Man kann es auch so formulieren, am ehesten würde alternativ zum Kontext der Kernfamilie zu dieser Äußerungssequenz noch ein Bedingungsrahmen passen, zu dem als Eigenschaft dazugehört, dass der Vater nicht bloß Samenspender ist, sondern die Wahrscheinlichkeit gegeben ist, dass er als Vater des Kindes auch präsent ist. Das ist potenziell der Fall in Stieffamilien oder sogenannten Patchworkfamilien, wo Eltern im Rahmen eines Co-Parenting sich, wenn auch getrennt vom Partner/Partnerin lebend, die Sorge um das Kind weiterhin teilen, oder in Adoptiv- oder Pflegefamilien, in denen, wenn auch andere Erwachsene die Erziehungs- und Betreuungsverantwortung übernehmen, der biologische Vater in irgendeiner Weise präsent sein kann. Was hier deutlich wird, ist, dass Wandulas Normalisierung über ein Deutungsmuster von Familie läuft, zu dem wie in der Kernfamilie immer schon wie selbstverständlich ein biologischer Vater dazugehört. Diese Überzeugung, die sie hier vertreten kann, zumal sie selbst in einer Kernfamilie aufgewachsen ist, führt dazu, dass das Phänomen der anonymen Samenspende und der ganze Problemkomplex, der damit zusammenhängt, gar nicht erst bewusstwerden kann. Wandulas Bezugnahme auf ein Normalität beanspruchendes Modell, die auch wie eine Rechtfertigung vorgetragen wird, imprägniert erfolgreich gegen Krisenhaftes, das ihre Inseminationsfamilie infrage stellen könnte, was sie selbst aber tut. Ethische Zweifel an ihrem Familienmodell dürfen aber nicht aufkommen und eben auch nicht geäußert werden. Denn, sobald Wandula anfängt Bedenken zuzulassen, z. B. im Hinblick auf die Frage, ob man Kindern ein Aufwachsen ohne einen Vater durch die Wahl einer anonymen Samenspende überhaupt zumuten darf, würde das einen fundamentalen Angriff auf Inas biografisches Kernthema bedeuten: über die Bildung einer Inseminationsfamilie mit unbekanntem Vater, ihre Sozialisationsgeschichte, in der es keinen leiblichen, eben auch einen unbekannten Vater gibt, zu normalisieren. Wandula muss und wird, will sie die Paarbeziehung nicht gefährden, alles daran setzen, die Dissonanz, die sie zwischen der Gültigkeit der Norm der Kernfamilie und ihrer Inseminationsfamilie spürt, nicht in eine Richtung aufzulösen, die Zweifel an der Richtigkeit und Zulässigkeit ihrer sozialisatorischen Praxis schüren könnte. DF: ((schmunzelt)) Ja, mh.

Mit dem „Ja, mh“ signalisiert die Interviewerin zwar einen Zuspruch, aber durch das abgemilderte Lachen in Gestalt eines Schmunzelns bringt er auch einen Kommentar zum Ausdruck. Die Interviewerin scheint die Widersprüchlich-

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keit in Wandulas Äußerungen, einerseits eine Perspektive für sich in Anspruch zu nehmen, die besagt, dass zwei Frauen als Mütter für die Sozialisation von Kindern ausreichend sind, und andererseits aber Prekäres, wie das Nicht-Wissen bezüglich eines Teils der Abstammung zu normalisieren, doch nur noch belächeln zu können. I: Aber ich mach mir viel weniger Gedanken. Zum Beispiel,

Nun setzt sich Ina doch, was nicht unbedingt zu erwarten gewesen ist, sprachlich zu dem von der Interviewerin repräsentierten Abstammungsthema ins Benehmen. Allerdings reagiert sie – wie vermutet – mit einem Antwortverhalten, das in einer Kontrast-Opposition zu Wandula steht. Sie kündigt mit „aber“ und dabei sich selbst exponierend („ich“) an, dass im Anschluss an Wandulas Darstellung nicht bei der Interviewerin die Erwartung entstehen solle, auch sie setze sich wie Wandula mit dem Thema „Anlagen“ auseinander. Das Personalpronomen der ersten Person Singular betont, dass sie sich in einem Unterschied zu Wandula sieht. Das will sie der Interviewerin verständlich machen. Und ohne erneut Wandula zu Wort kommen zu lassen oder für sich eine längere Planungspause in Anspruch nehmend, signalisiert sie mit dem zügig an Wandulas anschließenden Sprechakt, dass sie für sich eine andere Perspektive, die die Interviewerin zu berücksichtigen hat, in Anspruch nimmt. Interessant ist, dass es sich bei dem von Ina angekündigten Einwand aber nicht um eine Ablehnung von Wandulas Darstellung handelt, sondern um eine in Nuancen zum Ausdruck gebrachte andere Einstellung zum Abstammungsthema: sie mache sich „viel weniger“ Gedanken als Wandula. Ina normalisiert, da sie möglicherweise spürt, dass Wandula noch viel eher als sie selbst eine Kandidatin dafür ist, implizit vorhandene Zweifel an der ethischen Vertretbarkeit ihrer Familienform zuzulassen. Auch geht sie vom Gegenteil dessen aus, was ihre Partnerin Wandula äußert. Sie vermutet, dass diese das Thema der Abstammung stark beschäftigt, was ja auch stimmt. Wandula setzt aber alles daran, aus oben genannten Gründen, das eher zu unterdrücken. Darin wird sie unterstützt von Ina, hier in der Form, dass sie der Interviewerin zu verstehen gibt: zusammengenommen sind wir ein ganz normales Paar, auch wenn ein impliziter Konflikt aufscheint. Eine alternative Formulierung zu „viel weniger“ wäre gewesen, sie mache sich nicht „so viele“ Gedanken. Stattdessen wählt sie eine Äußerung, die das „weniger“ potenziert. Ina drückt mit dieser Form eine nuanciert gesteigerte Unterbietung aus. In Langschrift formuliert heißt das: Wandula mache sich fast überhaupt keine, eben wenige Gedanken – woran Ina selbst aber nicht glaubt –, bei ihr sind es im Vergleich dazu noch weniger, um es abzuschätzen, eben: „viel weniger“. Das stimmt insofern, als

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das Wandula sich tatsächlich wenig Gedanken macht, da die Problematik, die von der anonymen Samenspende ausgeht und im Anlagenthema präsent ist, durch die Normalisierung über eine konformistische Ausdeutung des Deutungsmusters Kernfamilie bewusstseinsmäßig kaum zu Buche schlägt. Wir können jetzt schlussfolgern, dass, wenn bei Wandula schon Kräfte am Wirken sind, die dazu führen, dass Abstammungsthemen in keinen Zweifel schürenden Prozess der kritischen Auseinandersetzung hineinführen dürfen, also bei Wandula gerade einmal dazu führen, sich ‚Gedanken zu machen‘, so muss im Fall von Ina ein Medium am Wirken sein, das in einem noch viel stärkeren Maße gegen Problematiken abdichtet, die etwas mit dem biologischen Unterbau zu tun haben. Um ihr Verhältnis zu diesem Themenkomplex der Interviewerin zu verdeutlichen, setzt sie mit einem Beispielsatz an („Zum Beispiel“). Sie macht sich daran, einen Zusammenhang, der womöglich nur schwer zu begründen ist oder nicht unmittelbar einsichtig ist, beispielhaft zu konkretisieren. dass ich (nehm an) durch meine Geschichte dass, äh ich hab mir viel weniger Gedanken drum gemacht. Was die, was diesen, zu diesen Anlagen. Das interessiert mich nicht.

Der Beispielsatz wird allerdings nicht fortgesetzt, sondern er wird abgebrochen, und es erfolgt ein Neuansetzen mit einem Nebensatz, in dem dann etwas mit grundlegendem Charakter hervorgehoben wird. Es geht dabei nicht um eine nur aktuelle oder situationsbezogene Wichtigkeit, sondern um etwas, das Bedeutung für das Leben als Ganzes hat. Mit dem Adjunkt „durch meine Geschichte“ macht sie das Medium bewusst, das für sie zentralthematisch ist, wenn es um das Anlagenthema geht. Das Medium, das im Falle von Ina zu einer verstärkenden Abdichtung führt bezüglich Fragen, die Herkunft und Abstammung betreffen, ist – so ihre Begründung – ihre eigene Geschichte, womit sie auch ihr Aufwachsen in einer Adoptivfamilie meint, in der Fragen rund um das Thema ‚Anlagen‘ insofern kaum beantwortet werden konnten, da ein Kontakt zur leiblichen Mutter nicht bestand und der leibliche Vater völlig unbekannt gewesen ist. Diese lebensgeschichtlichen Ausgangskoordinaten werden als Argument vorgetragen, weshalb sie im Vergleich zu Wandula noch viel immuner gegen Konzeptionelles ist, das mit dem Komplex der Kernfamilie zu tun hat. Im Grunde genommen steckt darin auch eine Anerkennung ihrer Adoptiveltern, denen es offenbar gut gelungen ist, einen Sozialisationskontext einzurichten, in dem denkbare Fragen, die mit der Abstammung zu tun haben, gar nicht erst aufkamen und so dem Kind, also Ina, zum Anlass werden konnten, sich über Fantasien, die vom Unbekannten der eigenen Herkunft ausgelöst werden, in eine biologische Abstammungs-

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linie hineinzudenken. Sie solidarisiert sich, wenn auch im Modus der Abwehr, mit ihrer Herkunftsproblematik. Das hat zur Konsequenz, dass ein ethisches Empfinden, das Abstammungsfragen aus der Perspektive des Nachwuchses berührt, gar nicht erst aufkommt bzw. stark unterdrückt wird. Es wird an keiner Stelle im Interview deutlich ausgesprochen, dass sie für die Kinder ein Problem darin sieht, über die anonyme Samenspende einen Kontext des Aufwachsens eingerichtet zu haben, durch den durchaus Fragen nach der eigenen Herkunft aufkommen können; zumal ja, wie wir über Laila wissen, diese auch durch ein anderes Äußeres als nicht eindeutig der biologischen Mutter zugeordnet werden kann. Die „eigene Geschichte“ wird von Ina so repräsentiert, als ob sie dadurch bedingt gar nicht anders kann, als im Vergleich zu Wandula in einem noch gesteigerten Maße als diese sich von Thematiken, die den biologischen Untersatz der Familie betreffen, nicht berühren zu lassen. Sie nimmt für sich in Anspruch, dass in der Gegenwart – und das betont sie ausdrücklich – die zur Kernfamilie gehörende Tatsache der biologischen Abstammung keine Geltung hat und in der Zeit der Vergangenheit, worauf das Imperfekt verweist („hab…gemacht“), sie ihre Partnerin noch gesteigert unterbietend, sich „viel weniger“ Gedanken über „Anlagen“ gemacht hat. Aber warum nimmt sie in der Formulierung noch eine Hervorhebung vor? Worauf verweist die ausdrückliche Betonung von „nicht“? Auch wenn Ina zum Zwecke der Normalisierung ihrer Sozialisationsgeschichte Zweifel in Gestalt von ‚sich Gedanken über das Abstammungsthema machen‘ nicht aufkommen dürfen, so glaubt sie doch selbst nicht daran, dass das Thema bedeutungslos für sie ist. DF: Mh, mh.

Mit „mh, mh“ nimmt die Interviewerin das Gesagte kommentarlos zur Kenntnis. I: Aber es ist auch irgendwie durch meine Geschichte. ((senkt die Stimme))

Ina verweist noch einmal auf die Realität ihrer „Geschichte“, die im Sprechakt repräsentiert und damit ausdrücklich bewusst gemacht wird. Die sprachliche Verdopplung als auch die Stimmführung ((senkt die Stimme)) verweisen auf die große Bedeutsamkeit ihrer Geschichte für sie als Person. Normalerweise erreicht man die Betonung eines Wortes dadurch, dass man die Stimme hebt, also die Lautstärke erhöht. „Indem die Zurücknahme der Lautstärke der naturwüchsigen Reaktion der Lautstärkeerhöhung zuwiderläuft, ist sie Ausdruck besonderer Kontrolliertheit und intendiert Ernsthaftigkeit“ (Franzmann/Pawlytta 2008: 420). Es handelt sich demnach um etwas besonders Wichtiges für Ina. Im Vergleich

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zum Satz zuvor, der hier wiederholt wird, drückt Ina in dieser Wiederholung durch das leisere Sprechen in forcierter Weise die Bedeutung ihrer Geschichte aus, auf die sie sich hier besinnt. Mit Blick auf die Herkunftsmilieus beider Frauen, die sich den Kinderwunsch durch eine anonyme Samenspende erfüllen, soll abschließend die Frage beantwortet werden: Warum entscheiden sie sich – trotz der von ihnen implizit geteilten Geltung des Kernfamilienmodells – für einen abwesenden Vater? Was motiviert diese Abweichung positiv? Inas Lebensthema ist, ihr Aufwachsen in einer Adoptivfamilie mit einem unbekannten Vater zu normalisieren. Die Normalisierung erfolgt über die Gründung einer Inseminationsfamilie mit einer anonymen Samenspende. Das Thema des Aufwachsens ohne den leiblichen Vater wird bei den eigenen Kindern, die zum Zwecke der Normalisierung instrumentalisiert werden, wiederholt. Die Beschäftigung mit diesen familienbiografischen Themen hat, wie das auch schon bei ihrer Adoptivmutter strukturbildend war, seinen Preis: Der Nachwuchsgeneration werden die gleichen Ausgangsbedingungen zugemutet, die sie vorgefunden hat und die auch ihr eine lebenslange Auseinandersetzung abverlangen. Ihre in die weibliche Paarbeziehung hineingeborenen Kinder, Joel und Olivia, wachsen mit einem abwesenden, nicht identifizierbaren Vater auf und mit einer Mutter, die verstrickt ist in Familienthematiken, die nicht abschließend bewältigt werden können und Kräfte absorbieren. Ina, die ihrem adoptivfamilialen Milieu verbunden bleibt, ist eine radikale Vertreterin einer Mutterschaft ohne leibliche Vaterschaft. Meinungen wie „Das Kind braucht keinen Vater“ sind Formulierungen, die aufgrund ihres lebensgeschichtlichen Hintergrunds und durch die Verbundenheit mit ihrem Herkunftsmilieu nicht überraschen. Zu Kompromissen wird sie diesbezüglich, sollte ihre Partnerin da anders denken, nicht bereit sein. Würde Wandula mithilfe irgendeiner Art von Fantasie die Strukturposition des Vaters alternativ besetzen, wäre das ein Stoff, der in der Paarbeziehung Anlass für Konflikt ergäbe. Ich vermute weiter, dass derart unterschiedliche Ansichten nicht tolerant nebeneinander bestehen könnten, da dafür ein hohes Maß an Ambivalenzfähigkeit notwendig ist, die vermutlich gerade bei so lebenszentralen Themen, die mit hoher biografischer Relevanz besetzt sind, nicht möglich ist. Würde Ina in Wandula eine Partnerin haben, die das vaterlose Konzept einer Familie nicht unwidersprochen mitträgt, und sich für Alternativen zur anonymen Samenspende stark macht bzw. der Ansicht ist, das Kind brauche irgendeine Art von Vater, dann wäre vermutlich die Paarbeziehung selbst infrage gestellt bzw. in ihrer Dauer gefährdet. Ina hat in Wandula eine Partnerin gefunden, die zwar aufgrund ihres Herkunftsmilieus nicht mit einer so vehementen Unbedingtheit wie sie für eine

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anonyme Samenspende eintreten kann bzw. muss, die aber durch ihre familienbiografische Prägung keine Probleme mit dieser Entscheidung hat. Wandula ist in der Lage, gleichwohl sie mit der von ihr gemeinsam mit Ina gebildeten Familie von den Sozialisationsvorgaben ihrer Herkunftsfamilie abweicht, diese Abweichung mit Verweis auf Milieutypisches zu normalisieren (Naturwissenschaft, Frauenbewegung). Im Vergleich zu Ina ist Wandula keine Vertreterin eines Konzepts von Elternschaft mit unbedingter Vaterlosigkeit, auch wenn sie die Norm der Kernfamilie faktisch nicht anerkennt. Abweichung von der kulturellen Norm heißt bei ihr aber nicht, dass die Geltung der Norm derart radikal infrage gestellt wird, wie das bei Ina der Fall ist. Während Ina keine Alternativen zur Besetzung der Strukturposition gelten lässt und auch Deutungen wie die, dass der Samenspender der Vater des Kindes ist, nicht zulässt, pflegt Wandula herkunftsbedingt einen weniger strengen Umgang mit diesem Thema. Sie muss nicht so radikal für die Abwesenheit eines Vaters eintreten wie Ina. Sie hat ein anderes Verhältnis zu dem Thema väterliche Ersatzpersonen und auch keine Schwierigkeit damit, den Samenspender als Vater anzuerkennen. Allerdings kann sie die von Ina favorisierte Ansicht, ein Kind brauche keinen Vater und keine väterlichen Ersatzpersonen, kompromisslos mittragen, ohne selbst in einen moralischen Konflikt zu geraten. Zweifel, die auch sie an der Legitimität dieser Familiengründung hat, können aber unterdrückt werden, da Dissonanz, die auch sie spürt, da ihre Familie faktisch nicht der geltenden kulturellen Norm entspricht, reduziert werden kann über Auslegungsweisen aus der Herkunftsfamilie. Der Widerspruch zwischen sozialer Wirklichkeit und geltender Norm kann normalisiert werden über einen naturwissenschaftlichen Sachverstand und neue Weiblichkeitsentwürfe, die aus der Zeit der feministischen Psychologie stammen.

6 Zusammenfassung und familientheoretische Reflexionen Der ausgewählte Fall stammt aus einem Forschungsprojekt, in dem es um Frauenpaare geht, die sich ihren Kinderwunsch mithilfe einer Fremdsamenspende erfüllt haben. Aus den gleichen Ausgangsbedingungen, die für alle diese Fälle gleichermaßen gelten, unter der Bedingung von weiblicher Homosexualität und unter Verwendung einer Samenspende, das Paar um ein Kind zu erweitern, folgt aber noch nicht, was wie konkret zu tun ist, also wie der Prozess der Familienbildung von den Frauen praktisch zu realisieren ist. Eine zentrale Ausgangsüberlegung war, dass auf die Auswahlentscheidung, soll eine anonyme, halb-offene Samenspende oder der Samen eines bekannten Mannes gewählt werden, und

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auf die Legitimation ihrer gewählten Variante einer gleichgeschlechtlichen Inseminationsfamilie, neben anderen Einflussfaktoren (wie Alter, Gesundheit, die biografische Vorgeschichte der Frauen, Verfügbarkeit einer Fremdsamenspende etc.) das Sozialisationsmilieu der Frauen als Ort der Erzeugung von Habitusformationen einen Einfluss hat und in der Analyse zu berücksichtigen ist, wenn es um den Fragen geht: Wie fallspezifisch verschieden gehen die Fälle dieser unkonventionellen Familienform mit dem Thema der Strukturposition des Vaters um? Woraus resultieren die Unterschiede und gibt es eine die Fälle übergreifende gemeinsame Strukturgesetzmäßigkeit? Aus der Gruppe von möglichen Fällen habe ich für die Fallrekonstruktion hier eine Fallkonstellation ausgewählt, die sich dadurch auszeichnet, dass durch die Wahl einer anonymen Samenspende eine möglichst maximale Distanz zum leiblichen Vater eingerichtet wird; in der Lebenspraxis der Familie sind Interaktionserfahrungen mit dem leiblichen Vater nicht vorgesehen. Im Zentrum stand die Frage: Wie gehen die Frauen mit dem Thema der anonymen Samenspende um? Auf der Grundlage welches Deutungsmusters argumentieren sie, wenn es darum geht, sich ins Verhältnis zu dem Handlungsproblem zu setzen, dem Kind ein Aufwachsen ohne einen Vater zuzumuten? Um diese Frage zu beantworten, habe ich an das theoretische Konzept vom Habitus und den Deutungsmusteransatz angeschlossen. Die Anwendung erfolgte forschungspragmatisch und hatte vor allem das Ziel, durch eine projektförmige Anverwandlung der Theoriebezüge für Zusammenhänge zu sensibilisieren, die (i. d. R.) nicht Bestandteil des Alltagswissens sind und sich nur über die Anwendung einer Rekonstruktionsmethodologie erschließen lassen. Konstitutiv, um die Fallrekonstruktion auf der Grundlage dieser beiden Heuristiken durchzuführen, waren folgende Prämissen: Ich habe den Begriff des Habitus so verwendet, wie er von Bourdieu in seinen früheren Schriften entwickelt wurde. Er beschreibt ihn „als ein System verinnerlichter Muster […], die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen – und nur diese“ (Bourdieu 1974: 143). „Zugleich fungiert er als Vermittlungsinstanz zwischen Struktur und Praxis. Er konstituiert sich, in dem ein Individuum die objektiven Strukturen seiner sozialen Umgebung verinnerlicht (Interiorisierung der Exteriorität), wodurch Habitusformationen ausgebildet werden, die ihrerseits wiederum Praxis stiften (Extorisierung der Interiorität)“ (Becker-Lenz/Müller 2008: 13). Die Herausbildung einer Habitusformation ist so einerseits immer im unmittelbaren Zusammenhang mit den Bedingungen der sozialen Herkunft zu sehen und zum anderen stellt sie die „individuelle Lebenspraxis unter ein spezifisches Muster der Selektivität“ (Schallberger 2003: 27). In der Übertragung auf den hier verhandelten Untersuchungszusammenhang heißt das, dass der jeweilige Habitus

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mit darüber entscheidet, welche Form der Samenspende gewählt wird und wie mit dem Thema der Samenspende umgegangen wird, d. h. in welcher Fallspezifik sich ein soziales Deutungsmuster realisiert. Die Deutung einer Familienbesonderheit, die in den Fällen darin besteht, für die Fortpflanzung eine Fremdsamenspende zu wählen und für die Sozialisation des Nachwuchses nicht im Rahmen der Kernfamilie zu sorgen, ist in Beziehung zur Habitusformation zu erschließen. Für die Deutungsmusteranalyse waren für die Fallrekonstruktion folgende Prämissen konstitutiv. Bei Deutungsmustern handelt es sich um latentes bzw. implizites Wissen a). Deutungsmuster bilden aus diesem Grunde „eine Analyseebene eigener Art“ (Lüders 1991: 383) b) und sind immer bezogen auf Handlungsprobleme zu rekonstruieren (vgl. Oevermann 2001a: 5) c). Des Weiteren müssen die Deutungen von Handlungsproblemen, wie z. B. eine Nachwuchssozialisation im Kontext einer anonymen Samenspende zu legitimieren, „immer schon als kulturell interpretierte aufgefasst werden“ (Honegger 2001: 108) d). Und – das gilt auch für eine Habitusrekonstruktion – Deutungsmusteranalysen sind immer an die Rekonstruktion einzelner Fälle gebunden e). Letzteres bedeutet, dass erst über den Prozess des Fallvergleichs bestimmt werden kann, ob es sich bei dem Deutungsmuster um eine den einzelnen Fall übergreifende Bewusstseinsformation handelt, die sich in den einzelnen Fällen durch fallspezifische Brechungen, verursacht durch ganz verschiedene in der Analyse zu berücksichtigende Einflussgrößen, unterschiedlich im Material manifestieren. Will man also ein soziales Deutungsmuster identifizieren, das nicht als individuelle Besonderheit dieser einen Familie gelten kann, sondern als für diese alternative Lebensform der gleichgeschlechtlichen Inseminationsfamilie typische Bewusstseinsform, die von diesem Einzelfall allgemeingültig repräsentiert wird, dann muss zunächst ein einzelner Fall in seiner Spezifität rekonstruiert werden. Erst wenn das Fallspezifische bestimmt ist, lässt sich „gewissermaßen im Trennverfahren“ (Oevermann 1981: 5) das Deutungsmuster „herauspräparieren“ (ebd.), das vom Fall „nicht eigens geschaffen wurde“ (ebd.), von ihm aber als ein „individuelles Allgemeines“14 repräsentiert wird. Die vorliegende Fallrekonstruktion hat gezeigt, dass beide Frauen, die sich hinsichtlich ihrer sozialisatorischen Ausgangslagen unterscheiden, in ihren

14Um

das Zusammenwirken von Allgemeinem (objektiven Regelstrukturen) und Besonderem (subjektive Auseinandersetzungsweisen) in einem Fall zu bestimmen, ist der Begriff des „individuellen Allgemeinen“ bzw. des „spezifischen Allgemeinen“ gebildet worden. „Der Fall ist ein Allgemeines, insofern er sich im Kontext objektiv gegebener gesellschaftlicher Strukturen gebildet hat. Er ist ein Besonderes, insofern er sich in Auseinandersetzung mit diesen individuiert hat“ (Hildenbrand 2001: 292).

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Begründungen eine Gemeinsamkeit aufweisen, wenn es um die Legitimation geht, dem Nachwuchs ein Aufwachsen ohne Vater bedingt durch die anonyme Samenspende zuzumuten. Beide Frauen nehmen, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise, Bezug auf das Deutungsmuster der Kernfamilie, von der ihre konkrete familiale Lebensform abweicht. Der Untergrund dieses Deutungsmusters, auf dem ihre Legitimationen und Erklärungen aufruhen, tritt jeweils ganz verschieden zutage und führt zu voneinander differenten, aber k­ eineswegs entgegengesetzten Einschätzungen ihrer Familienvariante. Im Falle von Ina ist es so, dass ihre sozialisatorische Prägung ihr eine Normalisierung ihrer Entscheidung für eine anonyme Samenspende ermöglicht, mit der Folge, sich radikal von der Gültigkeit der Norm der Kernfamilie zu distanzieren. Inas sozialisatorisches Herkunftsmilieu ist eine Einflussgröße, die dazu führt, sich negativ zur kulturellen Norm der Kernfamilie zu verhalten. Es dichtet quasi erfolgreich ab gegen eine Interpretationsweise dieses Deutungsmusters, die sie glauben machen könnte, für die Sozialisation des Nachwuchses sei ein leiblicher Vater notwendig. Zu ihrem Bild von Familie gehört kein leiblicher Vater, den sie auch selbst in ihrer Adoptivfamilie, in der sie aufgewachsen ist, nicht hatte. Überlegungen, die sie veranlassen könnten, zu meinen, den Kindern fehle der Vater oder ihr Modell von Familie beinhalte eine Zumutung oder sei etwas Prekäres, werden von ihr mühsam (radikal) unter dem Deckel gehalten. Nach ihrer Überzeugung brauchen Kinder keinen leiblichen Vater. Die Wirksamkeit des Deutungsmusters Kernfamilie zeigt sich bei ihr deutlicher nur noch dort, wo sie sich zu Begründungen ihrer unkonventionellen Familienform veranlasst sieht. Dann durchscheint vom Untergrund her, wenn auch nur noch schwach, da aufgrund von Vergemeinschaftungsbestrebungen mit dem Herkunftsmilieu (A1: Homologie) der Figur des leiblichen Vaters keine Bedeutung für Entwicklungsprozesse beigemessen wird, das soziale Deutungsmuster der Kernfamilie. Im Falle der Partnerin Wandula verhält es sich so, dass auch bei ihr das soziale Deutungsmuster der Kernfamilie nicht derart durchschlägt, dass sie sich zur Rechtfertigung ihrer unkonventionellen Familienform ‚gezwungen‘ sieht. Auch ihre sozialisatorische Prägung in einem Herkunftsmilieu, in dem ein sozialwissenschaftlicher Sachverstand, feministische Konzepte aus der Zeit der Frauenbewegung und naturwissenschaftliche Perspektiven vorhanden sind, ermöglicht eine Normalisierung ihrer Familienform dahin gehend, dass sie nicht als radikale Abweichung gedeutet wird. Allerdings ist die Wirksamkeit des sozialen Deutungsmusters Kernfamilie nicht so stark neutralisiert wie bei ihrer Partnerin. Denn Wandula, die in einer Kernfamilie aufgewachsen ist und weiß, was es heißt, einen Vater zu haben, kann ohne in Widerspruch mit ihren

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Sozialisationsbedingungen zu geraten, ganz ungebrochen an das Muster der Kernfamilie anschließen. Dass ihr Verhältnis zum Deutungsmuster der Kernfamilie ein anderes ist, wird daran ersichtlich, dass sie ohne die Einkleidung in eine Negation die Figur des leiblichen Vaters aufruft und auf die Familie als Abstammungsgruppe verweist. Im Vergleich zu Ina ist sie zwar die Gemäßigtere von beiden, aber wie bei ihrer Partnerin führt die faktische Abweichung von der Kernfamilie durch die Wahl, sich den Kinderwunsch im Rahmen von weiblicher Homosexualität und einer anonymen Samenspende zu erfüllen, nicht zu inneren Konflikten, die sie glauben macht, der fehlende Vater sei irgendwie zu kompensieren. Schuldfragen oder Zweifel an der Richtigkeit, in diesem Rahmen Kinder groß zu ziehen, kommen auch bei ihr nicht auf. Ich komme zum Schluss. Der Beitrag ist als ein Versuch zu verstehen, am Beispiel eines konkreten Projektzusammenhanges eine Habitusrekonstruktion und eine Deutungsmusteranalyse zu verbinden. Der Schwerpunkt lag weder bei einer theoriehistorischen Interpretation der beiden Konzepte, noch ging es darum, allgemeine Definitionen zu finden, die elementare Bausteine dieser theoretischen Perspektiven auflisten. Vielmehr sollte über eine heuristisch-forschungspragmatische Verwendung dieser beiden Ansätze, aus­ gehend von einer ersten Fallrekonstruktion herausgearbeitet werden, ob und wie, d. h. in welcher Fallspezifik sich im empirischen Material ein soziales Deutungsmuster realisiert. Wie das soziale Deutungsmuster von der Kernfamilie von anders gelagerten Fällen, z. B. solchen, in denen sich das Frauenpaar für eine halb-offene Samenspende oder einen bekannten Spender entschieden hat, ausgedeutet wird, bleibt weiteren Fallrekonstruktionen, die fallvergleichend angelegt sind, zu untersuchen. Welche allgemeinen Schlüsse können nun aus dem Beispiel, das eine Variante einer unkonventionellen Familienform repräsentiert, im Hinblick auf die soziale Wirklichkeit von alternativen Familien gezogen werden und welche familientheoretischen Reflexionen lassen sich daraus ableiten? Die Fallrekonstruktion hat gezeigt, dass es für das Sozialsystem Familie keineswegs irrelevant ist, ob die Triade aus der erotischen Kommunikation des Paares heraus entsteht oder ob bedingt durch ganz unterschiedliche Gründe, wie Unfruchtbarkeit aufgrund eines zu hohen Lebensalters oder bestehender Homosexualität, sich der Kinderwunsch über Alternativen wie die der Adoption oder Samenspende erfüllt wird. Kommt, wie in unserem Fall, hinzu, dass diese Formen der Familiengründung mit dem Thema des unbekannten Vaters und der Abwesenheit der leiblichen Mutter verbunden sind, dann fordert das allen Beteiligten spezifische Bewältigungsleistungen ab, da das Fehlen leiblicher Elternschaft immer erklärungsbedürftig ist. Besonders dramatisch für sozialisatorische Bildungsprozesse ist – das haben erste Forschungen zur Gruppe der sogenannten

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Spendersamenkinder gezeigt (vgl. Funcke 2009, 2012) –, wenn aufgrund des fehlenden Wissens über die interaktive Dyade, aus der das bestehende Leben hervorgegangen ist, Fragen nach dem eigenen Herkommen nicht zufriedenstellend beantwortet werden können. Unklarheiten bezüglich der eigenen Abstammung disponieren dazu, eigene z. B. reproduktive Fragen, in einer Weise zu lösen, sodass sich Krisenhaftes in den Sozialisationsbedingungen der nachfolgenden Generation hineinverlängert und niederschlägt; im vorliegenden Fall wird durch die Wahl einer anonymen Samenspende das Thema des unbekannten Vaters intergenerational weitergereicht. Aber nicht nur die Heranwachsenden, die sich nicht eindeutig signifikanten Anderen ihrer Abstammungslinie zuordnen können, sind gezwungen, zu dem Nichtwissen sich ins Verhältnis zu setzen und individuell dafür eine Lösung zu finden, sondern auch potenzielle Ersatzeltern mit einem Adoptiv-, Pflege- oder per Insemination gezeugtem Kind. Denn sie stehen vor der nicht einfach zu bewältigenden Aufgabe, die Fragen des ­nicht-leiblichen Kindes nach seiner Zugehörigkeit, wozu eben auch die leiblichen Eltern der „Ursprungs“-Triade gehören, da sie Teil der Geschichte ihres eigenen Lebensanfangs sind, manchmal ganz ohne sich auf zur Verfügung stehende Daten berufen zu können, zu beantworten. Von der Lösung dieser Aufgabe, das ist uns aus vielen Fällen der Adoptionsforschung bekannt (vgl. Funcke/Hildenbrand 2009, insbes. S. 139–151; Hoffman-Riem 1984), ist auch abhängig, wie es Kindern mit Ersatz-Eltern gelingt, ihrem Alter gemäß Schritte in Richtung einer Autonomieentwicklung zu bewältigen. Für den vorliegenden Fall habe ich die Hypothese aufgestellt, dass Ina (das Adoptivkind) sich zu dem vorgefundenen Sozialisationskontext, der durch eine fehlende „Ursprungs“-Triade und eine Ersatz-Triade in Gestalt einer Adoptivfamilie bestimmt ist, in ein ambivalentes Verhältnis setzt. Denn mit der Entscheidung für eine anonyme Samenspende schließt sie einerseits trotz eines Ersatzvaters an eine Zeit ihrer eigenen Geschichte an aus der ihr die Identitätsproblematik zuwächst. Andererseits drückt sie mit dem unbedingten Wunsch, selbst Mutter zu werden, auch eine Bindung an ihre Adoptivfamilie aus. Ihrem eigenen, per Samenspende gezeugten Kind einen unbekannten Vater zuzumuten, ist als eine Lösung zu deuten, die darauf verweist, in ihrem Leben keinen weiteren männlichen Dritten, zusätzlich zu ihrem unbekannten Vater und dem Adoptivvater, zuzulassen, der sie in die Pflicht nehmen könnte, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Die Wahl der anonymen Samenspende verweist so auf die Problemhaftigkeit einen Adoptivvater zu haben und einen unbekannten Vater. Die anonyme Samenspende ist aber nicht Ausdruck einer Negation des Adoptivvaters, sondern bedeutet, den aktuellen Themen, die sie weiterhin in der Gegenwart beschäftigen, keine weiteren, Konflikte produzierenden hinzuzufügen. Allerdings hat sie bei dieser Entscheidung

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nicht berücksichtigt, dass irgendwann auch ihre Kinder nach dem Vater fragen werden. Ihre, wenn auch ambivalente, Verbundenheit zur Adoptivfamilie drückt sich darin aus, dass sie sich auf das Erbe ihrer Adoptivmutter verpflichten lässt und neben berufsbiografischen Schritten auch im Bereich der eigenen Familiengründung Entscheidungen trifft, mit denen sie an Themen aus der biografischen Vorzeit ihrer Adoptivmutter anknüpft. Die eigene leibliche Mutterschaft ist so als Ausdruck einer Solidarisierungsleistung zu deuten. Ina unterstreicht ihre Verbundenheit zu der „fremden“ Frau, der sie, als sie zwei Jahre alt war, die Aufnahme in eine Ersatz-Familie zu verdanken hat. Die anonyme Samenspende und die leibliche Mutterschaft, realisiert im Kontext einer gleichgeschlechtlichen Paarbeziehung, stellen eine Kompromisslösung dar mit der es ihr gelingt, sich sowohl gegenüber der „Ursprungs“-Triade zu positionieren, indem sie eine weitere Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Männern, zum einen in der Figur des Gatten, zum anderen in der Figur des Vaters ihres Kindes, ausschließt, als auch gegenüber der Ersatz-Triade in Gestalt der Adoptivfamilie. Was wir so an diesem Fall besonders gut zutage treten sehen, ist die historische Geschichtetheit von Familienbeziehungen und auch die übergenerationelle Wirkung von sozialisatorischen Ausgangslagen auf die Subjektwerdung der Person. Aus diesen fallrekonstruktiven Befunden abgeleitet, sollen abschließend einige theoretische Reflexionen im Anschluss an die Frage erfolgen: Was heißt es nun, Familie soziologisch zu untersuchen? Um die historische Gebundenheit des Handelns zu erschließen, also den sozialen Raum (vgl. Bourdieu 1990), in dem ein Familienhandeln immer stattfindet, ist eine Mehrgenerationenanalyse notwendig. „Sie macht sichtbar, wie sich die Familiengeschichte in der Individualgeschichte fortsetzt […]“ (Allert 1998: 264). Als methodisches Instrument hat sich hier die Genogrammanalyse (vgl. Hildenbrand 2018) bewährt, die besonders nützlich ist, um Familienentwicklungen über die Generationen hinweg zu erfassen.15 Des Weiteren ist ganz im Sinne einer Triadentheorie von der (ehelichen) Paarbeziehung als dem Zentrum von Familienbeziehungen auszugehen. Das Paar als die interaktive Dyade bildet den Grundstein von dem aus Familienund Verwandtschaftsbildungen zu erschließen sind. Denn bleibt ein Kind aus, aus welchen Gründen auch immer, hat das paardynamisch und auch familiendynamisch Folgen; hat die Analyse doch gezeigt, welche Anstrengungen unternommen werden, Alternativen in Erwägung gezogen und relevant werden, wenn aus der erotischen Kommunikation des Paares kein Kind entsteht oder entstehen

15Eine

maßgebliche Studie dazu ist die von Daniel Bertaux und Isabelle Bertaux-Wiame (1991).

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kann. Das soziale System Familie ist – darauf hat bereits Parsons (vgl. 1964) in seiner strukturfunktionalistischen Theorie aufmerksam gemacht – immer über die Wechselseitigkeit des Paares zu erschließen. Das hat im Umkehrschluss auch die Konsequenz, Familie keineswegs als eine Summe von Einzeldyaden zu erfassen oder als voneinander entkoppelte Beziehungsformen, sondern als sozialisatorische Triade, in der die (eheliche) Paarbeziehung und die Eltern-KindBeziehung miteinander verschränkt sind, und wie im Konzept der Kernfamilie mit dem Strukturmodell der sozialisatorischen Interaktionstriade im Zentrum theoretisch beschrieben ist. Auch die ­Deutungsmuster-Analyse hat gezeigt, dass gleichwohl habitusbedingt in beiden Fällen (Ina, Wandula) das Deutungsmuster der Kernfamilie material sich unterschiedlich stark manifestiert, der „common ground“, auf den sich bezogen wird, die Strukturmerkmale der Kernfamilie sind. Die Wirkmächtigkeit der Triade ist eben nicht daran gebunden, dass bestimmte Personen diese empirisch in der Ausdrucksgestalt der Kleinfamilie oder bürgerlichen Familie realisieren.16 Das wird besonders in solchen Fällen von Familien offensichtlich – genau dann eben, wenn Fallanalysen im Anschluss an das Paradigma einer hermeneutisch-rekonstruktiven Sozialforschung erfolgen –, wo eine Nachwuchssozialisation faktisch innerhalb eines Strukturrahmens erfolgt, der dadurch bestimmt ist, dass die zeugende Sexualität verworfen und die Geschlechterdifferenz umgangen ist, also Heterosexualität und Reproduktion, wie in der gleichgeschlechtlichen Inseminationsfamilie, nicht mehr normativ den strukturellen Kern bilden. Das legt den Schluss nahe, auch unkonventionelle Familien über einen theoretischen Beschreibungszusammenhang aufzuschließen, der eine Strukturtheorie der Triade beinhaltet. Transkriptionszeichen nein betont (doch) Unsicherheit bei der Transkription (2) Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert ((stöhnt)) Kommentar bzw. Anmerkungen zu parasprachlichen, nicht-verbalen oder gesprächsexternen Ereignissen @nein@ lachend gesprochen

16Es

wird in der (soziologischen) Familienforschung immer wieder der Fehler gemacht bzw. nicht genau unterschieden, worauf Allert (1998: 267 f.) hingewiesen hat, dass die Triade nicht mit „dem historischen Typus der Kleinfamilie gleichzusetzen ist noch mit den Strukturmerkmalen der kontingenten Ausdrucksgestalt der ‚bürgerlichen Familie‘.

Die kulturelle Norm der Kernfamilie – Habitusrekonstruktion …

219

(.) unverständliche Äußerungen (!) Stimme heben (?) Frageintonation (.) Pause, pro Punkt ¼ sec.

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Der Zwang zur Erziehung und die a-pädagogische Haltung moderner Eltern Eine exemplarische Fallrekonstruktion zur Spannung von Asymmetrie und Symmetrie in Eltern-Kind-Beziehungen Kai-Olaf Maiwald 1 Die Asymmetrie im Generationenverhältnis als blinder Fleck der Familienforschung Wenn sich die Sozialwissenschaften zur Entwicklung und zum gegenwärtigen Stand der Eltern-Kind-Beziehungen äußern, dann zeichnen sie ein weitgehend positives Bild: Der Erziehungsstil habe sich „vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt“ (Schneewind/Ruppert 1995) gewandelt, der Umgang miteinander sei „demokratischer“ oder „partnerschaftlicher“ geworden (Ecarius et al. 2017: 52). Dabei hätten in den letzten Jahren die Erziehungsziele „Selbständigkeit und Selbstvertrauen“ deutlich an Gewicht gewonnen. Diese Veränderungen seien unter anderem Ausdruck davon, dass es „mehr Bewusstsein für die gegenseitige Zuneigung“ (Hurrelmann 2006: 28) und deren Bekundungen gebe. Laut der SINUS-Studie „Eltern unter Druck“ von 2008 finden sich in den meisten

Ich danke Inken Sürig und Dorett Funcke für viele wichtige Anmerkungen zum Text. K.-O. Maiwald (*)  Goethe Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Funcke (Hrsg.), Rekonstruktive Paar- und Familienforschung, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30668-7_7

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Sozialmilieus und bei ca. 80 % der Bevölkerung dementsprechend Varianten eines „autoritativen Erziehungsstils“, mit deutlicher Zugewandtheit dem Kind gegenüber, oder eines „konstruktiv-permissiven Stils“, der u. a. durch eine „Maxime der Gleichstellung in der Erziehung“ gekennzeichnet sei (nach der Übersichtstabelle von Choi 2012: 939). Entsprechend gestalte sich das Familienleben „kindzentriert“: Eltern verbringen mehr Zeit mit den Kindern, sind dabei orientiert an der Förderung der individuellen Eigenschaften des Kindes. Kein Wunder also, wenn der überwiegende Teil der Jugendlichen ihre Beziehung zu den Eltern heutzutage positiv einschätzt. Laut LBS-Kinderbarometer empfinden 82 % der befragten Kinder die Fürsorge der Eltern als genau richtig (Ecarius et al. 2017: 59). Und die 17. Shell-Jugendstudie kommt zu dem Ergebnis, dass 92 % der Jugendlichen ein mindestens gutes Verhältnis zu ihren Eltern haben (40 % „bestens“, 52 % „kommen klar“); 74 % geben an, sie würden ihre Kinder so erziehen, wie sie selbst erzogen wurden (Leven et al. 2015: 52, 54). Vor diesem Hintergrund scheint es so, als herrsche in der Welt der ­Eltern-Kind-Beziehungen große Harmonie und als müssten Asymmetrie und Machtungleichheit im Generationenverhältnis1 nur als bloße Überbleibsel, als Restbestände eines eigentlich überkommenen Scripts von Erziehung verstanden werden. Bemerkenswert ist, dass auch in der strukturalen Familiensoziologie (Maiwald 2012) die Asymmetrie im Generationenverhältnis nicht besonders präsent ist. Bei den in der Freudschen Sozialisationstheorie zentralen Beziehungsmodi der Objektbesetzung und der Identifikation spielt es jedenfalls keine Rolle, dass die Eltern gegenüber den Kindern auch eine Autoritätsposition einnehmen.2 Auch Oevermanns Theorien der „diffusen Sozialbeziehungen“ und der Interaktionsdynamik der „ödipalen Triade“ kommen ohne eine theoretische Würdigung dieses Umstands aus. Eine konstitutive Spannung von Symmetrie und Asymmetrie hat es jedenfalls nicht in den Kreis der „Strukturmerkmale diffuser Beziehungen“ geschafft. Und in der Theorie der ödipalen Triade wird zwar eine entscheidende Differenz zwischen der Gattendyade einerseits und der Eltern-Kind-Dyade anderseits gemacht, doch dabei geht es um die Frage des Ein- oder Ausschlusses von

1Unter

„Generationenverhältnis“ soll im vorliegenden Zusammenhang in einem eingeschränkten Sinne nur das innerfamiliale Generationenverhältnis, d. h. die ElternKind-Beziehung im Hinblick auf ihre positionale Differenz verstanden werden. Für eine allgemeine Diskussion des Begriffs vgl. Müller 1999. 2Natürlich ist bei Freud die faktische Macht der Eltern in vielerlei Hinsicht von Bedeutung (Kastrationsdrohung, Durchsetzung des Inzesttabus usw.), aber eben nicht im Hinblick auf die zentralen Theorieelemente.

Der Zwang zur Erziehung und die a-pädagogische Haltung moderner …

225

Sexualität in den Beziehungen, aber nicht darum, dass die Positionen der Eltern und der Kinder sich in hierarchischer Hinsicht unterscheiden (Oevermann 2001, 2014; Funcke/Hildenbrand 2018). Damit ist nicht gesagt, dass auch in dieser Theorierichtung die Asymmetrie im Generationenverhältnis geleugnet wird. Das ist mitnichten der Fall. Sie hat jedoch – wie wahrscheinlich generell in der Familiensoziologie – bislang eher den Status einer Selbstverständlichkeit, die gewissermaßen unterschwellig immer mitläuft, aber eben nicht als theoretisch relevant angesehen wird.3 Andreas Wernet hat – bezogen auf die Bildungsforschung – in einem aktuellen Beitrag die Vermutung geäußert, dass die ausbleibende Thematisierung von Asymmetrie und Macht auch mit einer Fokussierung auf Autonomieentwicklung zu tun hat (Wernet 2019). Wahrscheinlich gilt das für die strukturale Familiensoziologie ebenfalls; mit der Umstellung von „Sozialisation“ auf „Bildungsprozesse des autonomen Subjekts“, von familialer Integration auf (subjekttheoretisch entworfene) Krisenbewältigung (Oevermann 2004) geraten Asymmetrie und Macht aus dem Blick. Am ehesten findet sich das Thema noch bei Parsons, der bekanntlich in seiner Analyse der modernen Kernfamilie als Kleingruppe ein ­ Vier-Felder-Schema in Anschlag bringt, das in hierarchischer Hinsicht entlang der Achse „Führerschaft vs. Gefolgschaft“ strukturiert ist. Dabei handelt es sich um eine Mischung aus normativen Vorstellungen von Familie und funktionalen Erfordernissen einer Kleingruppenstruktur, die als solche allerdings unspezifisch für Familienbeziehungen ist. Das Modell ist also eher Außenbeschreibung als Analyse einer Binnendynamik. „Führerschaft“ scheint schlicht in der gesellschaftlichen Positionszuschreibung von Elternschaft einerseits und dem empirisch in Anspruch genommenen Erziehungsauftrag der Eltern aufzugehen. Wie „Führerschaft“ und insbesondere „Gefolgschaft“ sich in der familialen Binnendynamik realisieren und welche theoretische Bedeutung dieser Asymmetrie zukommt, bleibt weitgehend unklar. Am interessantesten in dieser Hinsicht sind noch seine späteren sozialisationstheoretischen Schriften, in denen er sich mit Freud auseinandersetzt (v. a. Parsons 1964). Auf zwei Aspekte soll an dieser Stelle hingewiesen werden, da sie für die spätere Analyse relevant sind. Erstens führt Parsons in seinen späteren Schriften aus, dass soziologisch betrachtet in der ödipalen Phase neben einer Identifikation mit dem Familiensystem und der Geschlechtsrolle auch eine Identifikation mit der Position als

3Auf

eine in diesem Sinne „wie selbstverständliche“ Weise verweist beispielsweise Oevermann (2001: 99) auf eine „grundlegende Asymmetrie der Fürsorge“ und eine komplementäre „Hingabe des Kindes an seine Eltern“.

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Kind erfolgen müsse. Auch wenn offen bleibt, wie sich diese letztere Identifikation konkret zu vollziehen hat, kann man daraus immerhin schließen, dass für Parsons eine solche Selbstverortung im Familiensystem nicht wie selbstverständlich gegeben ist, sondern diese in irgendeiner Weise in der familialen Interaktion vollzogen werden muss. Es erscheint lohnend, dem weiter nachzugehen: Wie kann man sich einen solchen Vollzug vorstellen? In welcher Hinsicht kann die Selbstverortung, abgesehen von der bloß normativen Einpassung in die Struktur der „bürgerlichen Familie“, wichtig sein? Der zweite im vorliegenden Zusammenhang interessante Punkt ist, dass gleichzeitig in genau diesen Schriften eine bemerkenswerte Abkehr von seinem früheren Sozialisationskonzept vollzogen wird.4 Die Idee war vormals (Parsons 1956), dass das Kind sukzessive an höhere Anforderungsniveaus durch eine Spirale von „permissiveness“, „support“ und „denial of reciprocity“ herangeführt wird, wobei eine „conditional love“ – Zuneigung in Abhängigkeit von der kindlichen „performance“ – eine wichtige Rolle spielt. Steht hier also mit dem Stellen höherer Autonomieanforderungen und der Durchsetzung dieser Anforderungen die erzieherische Intervention im Vordergrund, so deutet sich in den (wenig) späteren Schriften eine Idee von „Sozialisation ohne Erziehung“ an. Gelungene Identifikationen und Besetzungen führen schon in der vor-ödipalen ­Mutter-Kind-Beziehung dazu, dass Liebe zum zentralen Motiv oder zum Motor des Lernens wird. Die Anpassung an immer höhere Niveaus der Autonomie speist sich daraus, dass das Kind lernt, die Handlungen der Mutter als Ausdruck ihrer Liebe zu verstehen; und in der Folge ist das Kind bestrebt, den Erwartungen der Mutter zu entsprechen, um ihr zu gefallen. So sein zu wollen wie Mutter und Vater ist Ausdruck einer liebevollen ElternKind-Interaktion. Diese hier nur knapp skizzierte Argumentation hat den Vorteil, dass sie einen Schlüssel zum Verständnis der Internalisierung von Erwartungshaltungen bietet, eine Antwort auf die Frage, wie normative Standards auf eine Weise in die Persönlichkeitsstruktur eingehen, dass das Subjekt sich an ihnen orientiert, ohne dabei auf Außenimpulse (Sanktionen bzw. Sanktionserwartungen) angewiesen zu sein.5 Die Folgefrage, die im Anschluss daran entsteht, ist jedoch, wie sich Erziehung dazu verhält. Wenn Symmetrie und Liebe zentral werden, was ist dann mit Asymmetrie und Macht?

4Vgl.

Parsons 1964: 94, Fn. 25 für die ausdrückliche Distanzierung von seiner früheren Schrift. 5Im Übrigen bietet die Argumentation interessante Anschlüsse an die anerkennungstheoretischen Überlegungen von Honneth (2003) und Benjamin (1996).

Der Zwang zur Erziehung und die a-pädagogische Haltung moderner …

227

Andreas Wernet hat in dem schon angesprochenen Beitrag eine Analyse vorgelegt, mit der er Asymmetrie und Macht für eine rekonstruktive Erziehungsforschung fruchtbar machen will. Der Schwerpunkt liegt zwar auf öffentlicher, institutioneller Erziehung, die Argumentation nimmt ihren Ausgang jedoch in der Betrachtung familialer Interaktion. Er kann im Rahmen einer Sekundäranalyse eines Interaktionsausschnittes – es handelt sich dabei um die Sequenz, die in einem Gründungstext der Objektiven Hermeneutik von Oevermann analysiert wurde (Oevermann 1981) – zeigen, dass diese Interaktion nicht nur auf eine spezifische Struktur diffuser Sozialbeziehung verweist, sondern auch als Ausdruck einer Machtbeziehung verstanden werden kann. Mutter und Sohn nehmen in der Interaktion auf eine spezifische Weise Positionen in einer asymmetrischen Beziehung ein. Die Mutter reklamiert in dem Versuch der Durchsetzung normativer Standards erzieherische Macht und richtet kehrseitig für ihren Sohn eine Position der Unterwürfigkeit ein; eine Position, die – so kann man ergänzen – der Sohn mit seinem Interaktionsbeitrag auch selbst schon bezogen hat. Wernet generalisiert diesen Befund dahin gehend, dass Asymmetrie und Macht konstitutiv für Erziehung sind. Erzieherische Macht entspringe aus dem gesellschaftlich institutionalisierten Status der Elternschaft und sei damit unhintergehbar. Sie müsse auf die eine oder andere Art gefüllt werden, dabei stelle selbst ein permissiver Erziehungsmodus bzw. ein (situativer) Verzicht auf die Machtausübung noch eine Inanspruchnahme der Machtposition dar. Zur Frage, wie sich diese Asymmetrie zur ganz anders gelagerten Logik diffuser Sozialbeziehungen (Oevermann 2001, 2014; Funcke/Hildenbrand 2018) verhält, hält Wernet fest, dass die Füllung der Erziehungsposition und mit ihr die Vermittlung normativer Orientierungen immer im Rahmen einer Beziehungsdynamik erfolgt, die in Erziehung nicht aufgeht. Er stellt fest, dass diese Verbindung mit einer erheblichen Komplexitätssteigerung in beide Richtungen verbunden sein dürfte. In diesem Zusammenhang scheint mir der Hinweis wichtig, dass nicht nur die Eltern sich in dieser voreingerichteten Asymmetrie positionieren müssen, sondern auch die Kinder müssen interaktiv mit ihrer Unterworfenheit umgehen, sich dazu verhalten. Damit ist ein erhebliches Konfliktpotenzial verbunden, was man schon daran sieht, dass Konformität nicht die einzige Option darstellt. Mit dieser hier in aller Kürze referierten Argumentation wird der Grundstein dafür gelegt, die bislang vernachlässigten Aspekte von Asymmetrie und Macht wieder in eine Theorie familialer Beziehungen einzuführen. Mit der folgenden exemplarischen Fallrekonstruktion soll versucht werden, dieser Spur eines Zusammenhangs von Konflikt, Asymmetrie und Erziehung weiter nachzugehen und die Argumentation weiterzuentwickeln.

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2 Fallrekonstruktion Grundlage der Fallrekonstruktion ist ein Interaktionsprotokoll, das nicht nur deshalb lohnend erscheint, weil es sich um eine hoch konflikthafte Interaktion handelt, sondern weil diese Interaktion auch verschiedene Textelemente enthält, die ganz unmittelbar über den Fall hinausweisen.6 Das macht die Analyse – das sei schon im Vorfeld gesagt – einigermaßen komplex. Sie bewegt sich nämlich auf drei Ebenen gleichzeitig, die miteinander in Beziehung gesetzt werden müssen. Zwei Ebenen teilt die Analyse mit jeglichen Fallrekonstruktionen: die Ebene der spezifischen Praxis (hier: die spezifische Eltern-Kind-Beziehung), die im Datum protokolliert ist, und die Ebene des Allgemeinen (hier: das familiale Generationenverhältnis), die ebenfalls im Datum Ausdruck findet (Maiwald 2013). Im nachfolgend analysierten Interaktionsprotokoll kommt nun noch eine dritte Ebene hinzu, nämlich die Ebene zeitgeisttypischer Aspekte, die in Teilen der Interaktion aufscheinen. 1 A: Maamaaa! Wir beginnen die Analyse unter der Voraussetzung, dass bekannt ist, dass es sich bei dem Protokoll um ein Interaktionstranskript handelt. Eine Person, die mit dem Buchstaben „A“ bezeichnet ist, sagt „Mama“, und offenbar sagt sie es auf eine bestimmte Weise, die im Protokoll auf eine lautmalerische Weise, wie in „ComicSprache“, festgehalten wurde. Mit dieser Äußerung ist man natürlich auf nur einen denkbaren Beziehungskontext verwiesen – ein Kind spricht seine Mutter an. Mit den gedehnten Vokalen und dem Ausrufezeichen kann es sich nur um ein Rufen der Mutter handeln. Um die objektive Bedeutungsstruktur der Äußerung zu bestimmen, werden – wie immer bei der objektiv-hermeneutischen Sequenzanalyse – kontextunabhängig Geschichten entwickelt, in denen die Äußerung nach geltenden Regeln der Sprachverwendung fallen könnte. Denkbar sind unter anderem die folgenden Geschichten: a) Die achtzehnjährige Tochter ruft in den Keller „Maamaaa! Der Mann von den Stadtwerken ist da!“ b) Der fünfjährige Sohn ist auf den Apfelbaum im Garten geklettert und ruft „Maamaaa! Ich komm nich mehr runter.“ c) Der dreijährige Sohn ruft von der Schaukel auf dem Spielplatz „Maamaaa! Kuck mal!“

6Die

Sequenz wurde im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück erhoben.

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d) Die fünfjährige Tochter hat im Kinderzimmer einen großen Turm aus Lego gebaut und ruft ins Arbeitszimmer „Maamaaa! Schau mal!“ e) Der achtjährige Sohn spielt im Hof, möchte seinen Ball und ruft nach oben „Maamaaa!“ Für alle Beispiele gilt: Die Mutter ist nicht in dem Sinne präsent, dass wechselseitige Wahrnehmbarkeit als Grundvoraussetzung von Face-to-face-Interaktion gegeben ist. Entweder ist sie räumlich entfernt oder unaufmerksam. Das ist der Grund für die größere Lautstärke. Die Anlässe sind unterschiedlich. Es geht um Hilfeleistungen, darum, etwas zeigen wollen, oder einfach um eine Mitteilung über größere Entfernung. Situationen, in denen die Adressierung in größerer Lautstärke Begeisterung (etwa bei einer Begrüßung nach längerer Abwesenheit), Überraschung, Angst oder Verärgerung geschuldet ist, können ausgeschlossen werden, weil sie mit der Dehnung der Anrede nicht kompatibel wären. Man könnte jetzt schon im Sinne einer Fallrekonstruktion der besonderen Mutter-Kind-Beziehung methodisch zum situativen Kontext der vorliegenden Äußerung wechseln, um zu schauen, ob die genannten pragmatischen Erfüllungsbedingungen gegeben sind oder nicht. Gleichwohl ist es sinnvoll, zunächst noch etwas bei der Äußerung zu verweilen, denn sie verspricht in zwei Hinsichten instruktiv zu sein für den allgemeinen Fall, der bei derartigen Fallrekonstruktionen ja immer auch mit analysiert wird: den Fall der Familie als besonderen Typus von Sozialbeziehungen. Die erste Hinsicht knüpft an den Umstand an, dass eine solche Art der Adressierung eigentlich – einmal abgesehen von dem familialen Kontext, aber in gewisser Weise auch in diesem Kontext – erklärungsbedürftig ist. Sie gilt als unhöflich. Man unterhält sich nicht einfach über größere Entfernungen, indem man die Äußerungen ruft oder brüllt. Warum ist das so? Zum einen, weil im öffentlichen Raum damit Dritte in die private Interaktion potenziell mit einbezogen werden; die private Interaktion würde sich entgrenzen. Zum anderen, weil man sich dann, wenn nicht eine Notsituation vorliegt, aus Gründen der Reziprozität zu der adressierten Person hinbegeben sollte, um ihr etwas mitzuteilen. Schließlich zwingt jede Adressierung die adressierte Person, ihre aktuelle Praxis zu unterbrechen und sich der adressierenden Person und ihrem Anliegen zuzuwenden; sie fordert also eine Leistung.7 Die „ohne Not“ gerufene

7Entsprechend

beginnt beispielsweise die Frage nach dem Weg oder nach der Uhrzeit im öffentlichen Raum mit einer Entschuldigung.

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Adressierung8 fordert vom Adressierten noch mehr. Deutlich wird dies in den Beispielen d) und e), bei denen mit der lauten Adressierung auch eine Aufforderung an die Mutter verbunden ist, selbst bessere Adressierbarkeit herzustellen (bspw. ins Kinderzimmer kommen, ans Fenster gehen und es öffnen). Auch wenn vor diesem Hintergrund eine solche Handlung durchaus mit Kritik rechnen kann („Was brüllst du denn so!“), kommt man nicht umhin festzustellen, dass derartige Umgangsformen in Familienbeziehungen – jedenfalls in den Räumlichkeiten des gemeinsamen Haushalts – nachgerade typisch sind, wie ja schon die gefundenen Beispiele zeigen.9 Man stößt mit dieser Analyse also auf eine Art Verfügungsanspruch, der für diese Beziehungsform kennzeichnend ist: Man ist wechselseitig jederzeit ansprechbar.10 Derartige Kommunikationsformen sind sicherlich nicht exklusiv für diesen Beziehungstypus. Eine Äußerung wie „Heerbeeert! Hol mal zwei Kartons von dem Druckerpapier!“ ist durchaus vorstellbar. Aber sie hat eben etwas Intimes, und entsprechend würden wir sie eher in einem kleinen Betrieb erwarten als etwa in einer Behörde. Die zweite Hinsicht betrifft die Anredeform „Mama“. Es lohnt auch deshalb, an dieser Stelle etwas darüber nachzudenken, weil mir keine familiensoziologische Würdigung dieser Besonderheit des Familienlebens bekannt ist. Was sagt es über diesen Beziehungstypus aus, dass ein Teil des Personals nicht mit seinem Namen, sondern mit „Mama“ („Mami“, „Mutti“) und „Papa“ („Vati“) angeredet wird? Zunächst einmal fällt die offenkundige Asymmetrie auf. Die Eltern werden typischerweise so angeredet (genauer: lassen sich so anreden), für die Kinder gibt es etwas Vergleichbares nicht. Sie werden mit ihrem Vornamen – oder einer Koseform davon oder einem Kosenamen – angesprochen. Zwar kann auch das Kind einmal mit „Kind“ angeredet werden, aber nicht durchgängig; wenn die Anrede „mein Sohn“ gewählt wird, geht es immer um etwas

8Wohlgemerkt:

Es geht hier nicht um lautstarke Kommunikationen, die von den Umständen der Kooperation her erzwungen sind, wie zum Beispiel beim Gerüstbau. 9Man denke auch an das typische, durch die Wohnung oder das Haus gerufene „Essen ist fertig!“. 10Wenn Oevermann im Kontext seines interaktionstheoretischen Modells der ödipalen Triade von einer „Aktualisierung“ der dyadischen Beziehung spricht (Oevermann 2001: 92), ist der Sache nach nichts anderes als dieser Verfügungsanspruch gemeint: Die Beziehung ist laufend präsent und kann jederzeit interaktiv realisiert werden.

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Besonderes.11 Damit ist von vornherein ausgedrückt, dass die Eltern für das Kind etwas anderes sind als das Kind für die Eltern. Das Kind ist von Anfang an nah und ein Individuum, die Eltern sind VertreterInnen einer gesellschaftlichen Position. Dass „Mama“ und „Papa“ Koseformen der Positionsbezeichnung „Mutter“ und „Vater“ (die in gesellschaftlichen Kontexten auf Rolle, Rechtsstellung, Status verweisen) sind, ändert an dem Befund zunächst nichts; im Gegenteil hebt der Umstand, dass in „modernen“ Familienbeziehungen12 die Positionsbezeichnung der Elternschaft als nicht wirklich adäquat für die direkte Anrede angesehen wird und eine Abmilderung erfahren muss, noch ihre Wirkmächtigkeit hervor. Wenn schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Innigkeit das Regime in der Familie übernommen hat, warum dann nicht gleich auf diese Form der Anrede verzichten? Anscheinend wird es aber wie selbstverständlich als inadäquat angesehen, die Form der Anrede zu verwenden, die für erwachsene Nahbeziehungen gilt, nämlich den Vornamen.13 Nicht Gleichrangigkeit, sondern eine besondere Form der Über- und Unterordnung soll sprachlich repräsentiert sein. Das ist so selbstverständlich, dass es dafür noch nicht einmal eine gesellschaftliche Norm gibt. Bezogen auf diesen Primat der Asymmetrie können die Koseformen der Anrede als binnenfamiliale Tendenzen der Symmetrisierung verstanden werden. Schon die kontextfreie Explikation der Bedeutungsstruktur des ersten Sprechaktes, der sicherlich als eigentlich unscheinbare Allerweltsäußerung des Familienlebens gelten kann, führt die Analyse also mitten in das Thema. Die Verwendung der gesellschaftlich geltenden Anredeform verweist darauf, dass das

11Nach

meinem Sprachgefühl ist die Anrede „meine Tochter“ noch ungewöhnlicher. Auch im englischen Sprachraum scheinen die bedeutungsvollen Anreden „son“ und „daughter“ nicht symmetrisch zu sein. Dies könnte auf eine latente Geschlechterdifferenzierung verweisen, in der dem Sohn im Sinne eines Restbestandes von Patrilinearität auch in modernen Kernfamilien im Vergleich zur Tochter eine besondere Position zugewiesen ist. 12„Modern“ verweist hier auf einen relativ langen Zeitraum, schließt die bürgerliche Familie des 19. Jahrhunderts mit ein (Tyrell 1976). 13Es gibt natürlich auch Familien, in denen die Kinder ihre Eltern mit dem Vornamen anreden. Ich vermute aber, dass dies in der Regel erst ab einem gewissen Alter der Kinder geschieht, in dem diese auch durch die Vermeidung von „Mama“ und „Papa“ Autonomie reklamieren bzw. die voreingerichtete Asymmetrie zurückweisen. Mir erscheint es naheliegend, dass Eltern nach der Geburt sich ihren Kindern in den vielen einseitigen Gesprächen mit ihnen als Mutter und Vater gewissermaßen „vorstellen“. Denn sie durchlaufen selbst ja gerade eine elementare Statuspassage. Sie nehmen gerade diese Position ein bzw. sind bemüht, das praktisch zu tun.

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Kind von Anfang an mit Repräsentanzen von Asymmetrie konfrontiert ist. Mehr noch, man kann im Sinne von Wernets Überlegung diese Form der Anrede als elementare, gesellschaftlich institutionalisierte Form der Selbstpositionierung in dieser Asymmetrie verstehen. Dagegen könnte man nun einwenden, dass das Kind zumindest anfänglich davon doch noch gar nichts weiß. „Mama“ und „Papa“ dürften für das Kleinkind tatsächlich schlicht die Namen für die Personen sein, die für es die besondere Bedeutung haben, die sie haben. Das Moment von Asymmetrie, das in den Anreden steckt, ist für es zunächst verborgen, die Selbstpositionierung erst einmal eine bloß faktische. Dabei bleibt es jedoch nicht. Recht bald wird es dem Kind dämmern, dass „Mama“ und „Papa“ etwas anderes sind als der Name, den es selbst hat. Nämlich dann, wenn es merkt, dass andere Kinder andere Erwachsene ebenfalls mit „Mama“ und „Papa“ anreden und dass damit die jeweils spezifische, exklusive Eltern-Kind-Beziehung ausgedrückt wird. Das Kind kommt nicht auf die Idee, die Eltern anderer Kinder so anzusprechen. Sie bekommen dann auch mit, dass der Name, den sie für die ihnen so wichtige Person haben, ein anderer ist als der, mit dem sich Mutter und Vater untereinander anreden. Sukzessive wird sich ihnen also eine Unterscheidung der familialen Dyaden entlang der Generationenachse mitteilen. Die Folgefragen, die sich aus diesen Überlegungen ergeben, sind die Fragen nach der Bewusstwerdung der Selbstpositionierung in einer asymmetrischen Beziehung und nach der Bedeutung dieser Bewusstwerdung für Erziehung und Sozialisation. Aber Asymmetrie ist nicht alles. Wenn Eltern ihre Kinder mit Vornamen anreden, wird Symmetrie hergestellt, und auch die Koseformen für die elterlichen Positionsbezeichnungen verweisen auf eine Symmetrisierungsbewegung. Die kontextfreie Analyse des Sprechaktes führte zu der Bestimmung einer Struktureigenschaft familialer Beziehungen als – in Oevermanns Terminologie – „diffuse“ Sozialbeziehungen. Auch ganz ohne Not „Maamaaa!“ rufen zu können, wurde als Ausdruck eines für Familienbeziehungen spezifischen Verfügungsanspruchs interpretiert. An dieser Stelle ist es wichtig festzuhalten, dass dieser Anspruch wechselseitig ist, d. h. die Beziehungen sind in dieser Hinsicht symmetrisch. Zieht man beide Interpretationsstränge zusammen, vereint der Sprechakt also in einer komplexen Weise Asymmetrie und Symmetrie. Kommen wir nach diesen allgemeinen Überlegungen zum Fall „Familie“ zurück zum Protokoll der konkreten familialen Interaktion und nehmen ihren faktischen Kontext in den Blick: „Maamaaa!“ ruft ein vierjähriger Junge zu seiner 28 Jahre alten Mutter, die direkt neben ihm an einer Bushaltestelle steht. Die pragmatische Erfüllungsbedingung der räumlichen Entfernung bzw. der fehlenden wechselseitigen Wahrnehmbarkeit ist damit nicht gegeben. Es gibt auch keinen Anhaltspunkt für laute Umgebungsgeräusche wie Straßen- oder Bau-

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stellenlärm. Wie lässt sich die Art der Adressierung dann erklären? Wenn man davon ausgeht, dass der Junge so handelt, als ob die Mutter nicht gegenwärtig wäre, dann ist die naheliegende Interpretation, dass die als Erstes protokollierte Äußerung tatsächlich nicht als erster Zug, nicht als eine Eröffnung eines neuen Themas in der fortlaufenden Interaktion zu verstehen ist, sondern vielmehr als eine Reaktion auf eine vorhergehende Handlung der Mutter. Der Junge hat sie vor der protokollierten Adressierung bereits angesprochen, aber sie hat darauf nicht reagiert. Damit ist sie für ihn in einem übertragenen Sinne „weit weg“ und er wiederholt seine Anrede lautstark. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten. Die erste, mutmaßlich naheliegende Lesart ist, dass die Mutter auf seine Adressierung als solche nicht reagiert hat, z. B. weil sie in die Lektüre des Busfahrplans vertieft war. Dabei geht es zunächst um die Realisierung von Interaktion (Maiwald/Sürig 2018: 19 ff.). Allerdings hätten wir dann bei unserem Protokollausschnitt eine recht späte Phase des Versuchs der Realisierung von Interaktion vor uns, denn unter Normalitätsbedingungen, die man zunächst auch bezogen auf ein vier Jahre altes Kind in Anschlag bringen muss, würde man eine „Eskalation“ von Adressierungen erwarten, im Sinne eines „Mama. – Mama! – Maamaaa!“.14 Entscheidend hier ist, dass im Fortschreiten in der Eskalation es immer unwahrscheinlicher wird, dass die ausbleibende Reaktion schlicht der N ­ icht-Wahrnehmung der Adressierung geschuldet ist. Vielmehr ist sie Ausdruck einer Entscheidung der adressierten Person, nicht zu reagieren, und damit Ausdruck einer Interaktionsverweigerung. Interaktionsanalytisch gesprochen: Der fehlende zweite Interaktionszug ist der zweite Zug. Die Bedeutung des „Maamaaa!“ ist dann genau die Reaktion auf eine solche Verweigerung, es ist Ausdruck eines Insistierens. Damit nähert sich die erste Lesart in ihrer Konsequenz der zweiten an, die darin besteht, dass der Junge mit seiner Äußerung auf eine Abweisung eines Begehrens (z. B. der Mutter etwas zu zeigen oder etwas von ihr zu bekommen) reagiert. „Mama, kuck mal“ – „Jetzt nicht“; „Mama, krieg ich ein Eis?“ – „Nein, du hattest erst gestern eins“ – das wären Beispiele, auf die der Junge, auf die Realisierung seines Begehrens insistierend, mit „Maamaaa!“ reagieren könnte. In diesem Fall geht es nicht um Interaktion, die ja stattfindet, sondern um Kooperation. Aber auch hier würde man erwarten, dass die Äußerung nicht die erste Reaktion auf die Abweisung ist, sondern schon auf andere Reaktionen wie „Warum nicht?“ oder „Ich will das aber“ folgt. Erst dann ist auch in einem über-

14Typisch

ist eine solche Eskalation eher im umgekehrten Fall der elterlichen Adressierung von Kindern, die „nicht hören“.

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tragenen Sinne bzw. aus der Sicht des Jungen die Erfüllungsbedingung der wörtlichen Bedeutung seiner Äußerung geben: die Mutter ist für ihn „weit weg“. Beide Lesarten laufen damit auf das Gemeinsame hinaus, dass wir uns mit dem Beginn des Interaktionsausschnittes mitten in einem Konflikt zwischen Sohn und Mutter befinden. Die Mutter will aus irgendeinem Grund nicht mit ihm interagieren oder sie will aus irgendeinem Grund dem Begehren ihres Sohnes nicht entsprechen. Und der Sohn akzeptiert dies nicht, sondern insistiert. Das ist sicherlich ein Konflikt, der typisch für Eltern-Kind-Beziehungen ist, schließlich geht es um den wechselseitigen Umgang mit dem Problem von Gewährung und Versagung. Bezogen auf das Thema der Asymmetrie von Eltern-Kind-Beziehungen kann man diesem Problem einen paradigmatischen Stellenwert zuweisen. Es markiert genau den Punkt, an dem sich die Unausweichlichkeit von Erziehung manifestiert. Eltern können in vielerlei Hinsicht Erziehung gleichsam in die Interaktion einspeisen; sie können die Kinder belehren, unterweisen, informieren, sie können auch von sich aus versagend agieren („Wie sitzt du denn am Tisch“, „Das ziehst du nicht in die Schule an“). Wenn ein Kind jedoch im ersten Interaktionszug von den Eltern etwas will, müssen sie sich dazu verhalten. Ihre Machtposition ist damit interaktiv objektiviert; sie muss gefüllt werden. Das gilt – wie Wernet zu Recht betont – auch für ein permissives Verhalten des Elternteils. Im vorliegenden Fall ist die Mutter allerdings nicht permissiv. Sie will von ihrem Sohn jetzt nicht in ihrer Aktivität unterbrochen werden oder sie will ihm nicht das geben, was er haben möchte. Wie ihm das vermittelt wurde, wissen wir nicht. Allerdings wissen wir, welche Art der Selbstpositionierung er gewählt hat: Er folgt der Maßgabe nicht, sondern insistiert auf seinem Begehren. Damit manifestiert sich ein Konflikt, der in seiner Grundgestalt zum Alltag von Eltern-Kind-Beziehungen gehört. An dieser Stelle ist es wichtig festzuhalten, dass die Konfliktauseinandersetzung selbst wiederum in sich ein Moment der Symmetrie enthält. Denn indem der Sohn auf seinem Begehren insistiert, bestreitet er faktisch die Legitimität der Versagung und bringt kehrseitig ein „Recht“ auf Gewährung zum Ausdruck. Es ist jetzt die Frage, wie der konkrete Konflikt weiter bearbeitet wird. Welche Anschlussmöglichkeiten ergeben sich für die Mutter? Geht man davon aus, dass in dem Insistieren (immer noch) eine Fraglichkeit enthalten ist, nämlich die Frage nach dem subjektiven Recht auf die Gewährung, dann müsste die Mutter im Anschluss darauf in irgendeiner Weise reagieren. Entsprechend den beiden Lesarten könnte sie z. B. sagen „Ich musste erst sehen, welchen Bus wir nehmen müssen. Was ist denn?“ oder „Ich hab dir das gesagt. Du kannst nicht jeden Tag ein Eis bekommen, das ist teuer“. Selbst eine repressiv-autoritäre Reaktion wie „Es gibt nichts. Schluss jetzt“ würde die elementare Frage beantworten. Auch

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wenn dem Jungen der Grund in diesem Fall nicht einsichtig gemacht würde, wäre doch klargestellt, dass er hier und jetzt kein Recht auf die Gewährung hat. 2 B: Leon, lässt du mal bitte jetzt los? Tatsächlich reagiert die Mutter zunächst, indem sie ihrerseits ihren Sohn adressiert. Nun befinden sich die beiden aber schon in einer fortlaufenden Face-to-Face-Interaktion. Eine Anrede kann hier nicht mehr einer Interaktionseröffnung dienen. Sie richtet vielmehr eine Zäsur innerhalb der Interaktion ein; sie hebt das Folgende aus dem Verlauf der bisherigen Interaktion heraus, verleiht ihm mehr Gewicht (wie in „Heinz, du musst dich entscheiden…“, „Helga, es ist doch so…“, „Franz, du weißt doch, wie deine Mutter ist…“ usw.). In diesem Sinne könnte die Mutter beispielsweise fortfahren mit „Leon, ich habe dir doch schon dreimal gesagt, dass du das nicht bekommst“ oder „Leon, ich erkläre es dir jetzt zum letzten Mal“. Das macht sie jedoch nicht, vielmehr eröffnet sie ein anderes Thema, indem sie Leon eine Anordnung gibt. Für die Beteiligten scheint klar zu sein, worum es dabei geht. In der Rekonstruktion müssen wir hingegen erst erschließen, auf welche Handlung Leons sich das „lässt du jetzt bitte mal los“ beziehen kann. Was soll er loslassen? Ausgehend von der bisherigen Interpretation wäre es naheliegend anzunehmen, dass der Sprechakt der Mutter sich auf denselben Sachverhalt bezieht wie Leons Sprechakt. In diesem Fall müsste Leon das Objekt seiner Begierde festhalten. Diese Option macht jedoch von der Sache her keinen Sinn, denn weshalb sollte er das, was er erst haben möchte, schon festhalten?15 Gleichwohl wäre es äußerst unwahrscheinlich, wenn sich die Äußerung der Mutter auf etwas gänzlich anderes beziehen würde, denn in einer Interaktion kann immer nur ein Thema zurzeit verfolgt werden, und ein Themenwechsel ist im Protokoll nicht erkennbar. Eine Lösung für dieses Problem ergibt sich dann, wenn man sich überlegt, was (kleine) Kinder typischerweise tun, wenn sie etwas von ihren Eltern wollen und nicht bekommen. Sie zupfen oder ziehen vor lauter Ungeduld oder Frustration am Ärmel oder der Hand des Elternteils, sie ziehen ihn in Richtung des Objekts der Begierde. Solche Verhaltensweisen können nachgerade als typische Begleithandlungen zum „Maamaaa!“ gelten. Wenn wir davon ausgehen, dass dies auch im vorliegenden Kontext der Fall ist, würde sich Leons Mutter damit in ihrer Reaktion zwar nicht direkt auf diese Äußerung beziehen, aber auf etwas, das gewissermaßen dazugehört. Allerdings

15Unter

diesen Bedingungen müsste er mit seinem vorhergehenden Sprechakt Kooperation allenfalls einfordern, weil er es allein nicht bewegen oder tragen kann. Diese Lesart ist zu voraussetzungsreich, und dazu passt „lässt du mal bitte jetzt los“ auch nicht.

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ist das ein besonderer Bezug. Denn mit der vorhergehenden Adressierung hätte die Anordnung den Charakter einer Ermahnung – das ist das „Gewicht“, das die Mutter ihr verleiht. „Leon, lässt du mal bitte jetzt los“ unterstellt, dass Leon eigentlich um die Illegitimität seines Tuns weiß; als Ermahnung behandelt die Äußerung sein Handeln als Entgleisung. Davon kann man aber vor dem Hintergrund der bisherigen Interpretation gerade nicht ausgehen. Das Zupfen und Ziehen an der Mutter ist Ausdruck seines Insistierens, und dies wiederum Ausdruck davon, dass er subjektiv davon ausgeht, dass sein Begehren erfüllt werden sollte. Beides wird von der Mutter hier auf subtile Weise negiert. Wir sind jetzt in der Lage, genauer zu bestimmen, auf welche Weise sie den Gesprächsbeitrag ihres Sohnes unterläuft. Indem die Mutter in formaler Hinsicht nicht an die Äußerung ihres Sohnes anschließt, begeht sie interaktionslogisch eine Regelverletzung. Sie verweigert sich der „nextness“ oder „Adjazenz“ (Maiwald/Sürig 2018: 39), d. h. die vorhergehende Äußerung wird nicht als progressiver Gesprächsbeitrag behandelt. Damit weist sie Leons Status als Interaktionspartner faktisch zurück. Gleichzeitig beantwortet sie auch in sachlicher Hinsicht die in seinem Insistieren implizierte Frage nach der „Rechtmäßigkeit“ der Versagung seines Begehrens nicht. Stattdessen wechselt sie von der Inhaltszur Verhaltensebene und behandelt das Verhalten wie eine Entgleisung und gerade nicht als Ausdruck von Protest. Mit anderen Worten: Leons Mutter handelt hier so, als sei für sie das Thema abgeschlossen. Dies allerdings, ohne das Thema pragmatisch abzuschließen: Sie bemüht sich nicht um eine Beendigung des Konflikts, vielmehr ignoriert sie den Konflikt in ihrem kontrafaktischen Beharren auf Konformität. Das, was für sich betrachtet – als Ermahnung und Anordnung – als Ausdruck erzieherischen Handelns angesehen werden könnte, ist strukturell tatsächlich dessen Vermeidung. Die Hypothese lässt sich hinsichtlich der Beziehungsebene zuspitzen: Leon ist seiner Mutter in seinem Insistieren nur lästig. Diese Zuspitzung mag vielleicht übertrieben erscheinen. Sie wird jedoch durch den Umstand unterstützt, dass die Mutter die sanktionierte Handlung nicht klar benennt. Sie sagt nicht „Jetzt zerr nicht so an meiner Hand (meiner Jacke, der Tasche usw.)“. Wörtlich genommen ist es ihr vielmehr schon zu viel, dass er ihre Hand (Jacke, Tasche usw.) festhält. Schon dieser physische Kontakt ist hier als Übergriff markiert. Bislang haben wir die Interaktions- und Beziehungsstruktur rekonstruiert, ohne die besondere Ausdrucksgestalt der Anordnung zu würdigen. Das muss jetzt nachgeholt werden. Eine Feinanalyse erscheint hier auch deshalb besonders lohnend, weil die Formulierung als typisch für einen modernen Geist der Erziehung gelten kann. Äußerungen wie „Hörst du mal bitte jetzt auf“, „Kannst

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du mal bitte jetzt kommen“ oder „Gibst du das mal bitte jetzt her“ gehören zum Repertoire moderner Elternschaft. Man kann sich kehrseitig schwer vorstellen, dass vor fünfzig Jahren eine Mutter aus dem Arbeitermilieu oder vor hundert Jahren eine Bäuerin zu ihrem Sohn gesagt hätte „Karl, lässt du mal bitte jetzt los“. Um dem auf die Spur zu kommen, was daran typisch ist, wird zunächst wieder kontextfrei interpretiert. Für die vorliegende Äußerung lassen sich gedankenexperimentell mühelos Verwendungsbeispiele finden: a) Kind A hält sich so am Kinderwagen von Kind B fest, dass es für den Vater schwierig ist, den Kinderwagen zu schieben. Der Vater sagt ihm, dass es das lassen soll, und begründet das auch. Kind A hält sich aber weiter fest. Der Vater dann: „Anton, lässt du mal bitte jetzt los.“ b) Kind A interessiert sich sehr für das Dreirad von Kind B und hält es fest. Die Mutter sagt ihm, es solle es loslassen, denn Kind B und seine Eltern wollen jetzt weitergehen. Als A nicht reagiert: „Andrea, lässt du mal bitte jetzt los“. c) Vater und Kind stehen an der Supermarktkasse; das Kind spielt mit dem Trennriegel auf dem Fließband, die Waren dahinter stauen sich, der Vater sagt, es soll das unterlassen. Das Kind reagiert nicht: „Tobias, lässt du mal bitte jetzt los“. d) Der Bruder zieht seine Schwester am Schal. Die Mutter sagt, dass er das unterlassen soll. Als er der Anordnung nicht nachkommt, sagt sie „Frank, lässt du mal bitte jetzt los“. Dass es sich um eine Besonderheit erzieherischer Kontexte handelt, sieht man an den Erfüllungsbedingungen, die für alle genannten Beispiele gelten. Zunächst einmal soll die so angesprochene Person von einer Handlung ablassen. Zentral ist dabei nicht das Ergebnis der Handlung, ihre irgendwie instrumentelle Angemessenheit, sondern ihre normative Qualität. Wenn im Schal-Beispiel die Schwester tatsächlich zu ersticken drohen würde, wäre „Frank, lässt du mal bitte jetzt los“ unangemessen. Genau deshalb wird die Person mit dieser Äußerung auch zu einer Erziehungs- und nicht bloß Unterweisungsbedürftigen gemacht.16 Im Vordergrund steht die eigenständige Realisierung von Konformität mit Verhaltenserwartungen. Des Weiteren impliziert die Formulierung eine Konfliktgeschichte. Wie schon bei dem „Maamaaa!“ handelt es sich hier – diesmal vonseiten der Mutter – nicht um einen ersten Zug, sondern um eine mindestens

16„Jetzt musst du den Hebel loslassen“ würde die Meisterin dem Azubi bei der Unterweisung in die Bedienung eines Werkzeugs sagen, nicht „Lässt du mal bitte jetzt los“.

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zweite Stufe einer Eskalation. Das ist sprachlich mit dem „jetzt“ markiert, das ja nicht (nur) zeitlich, sondern als eine Markierung von Dringlichkeit zu verstehen ist.17 Wie bei den Kindern in den gedankenexperimentell entwickelten Beispielen ist damit auch bei Leon unterstellt, dass er weiß, was er eigentlich zu tun hat. Es ist ihm schon mitgeteilt worden, aber er hat sich nicht daran gehalten. Daran wird nochmals der Charakter einer Ermahnung deutlich. Diese Erfüllungsbedingungen wären aber bei einem „lass jetzt los“ ebenfalls gegeben. Im Vergleich zu dieser eher drastischen und deutlichen Direktive enthält die tatsächlich gewählte Formulierung gleich mehrere Modulierungen. „Lässt du (mal bitte) jetzt los“ ist im Unterschied zu „lass jetzt los“ grammatisch eigentlich eine Frage. Erst eine andere Intonationskurve und der situative Kontext machen daraus eine Direktive. Grammatisch ist die implizit geforderte „Ja/NeinStellungnahme“ zur Frage immer mit präsent, während der durch die Intonation transportierte Charakter einer Direktive die Antwort „ja, das mache ich“ dringend nahelegt. Das erklärt die genuin erzieherische Bedeutungsstruktur der Formulierung; man sieht hier im Detail, wie die Äußerung auf die eigenständige Realisierung von Konformität gerichtet ist. Und das erklärt auch, warum beispielsweise in einer Paarbeziehung ein Beziehungspartner im Streit zum anderen zwar sagen kann „Geh jetzt“, aber nicht „Gehst du jetzt“. Die Asymmetrie der Erziehungshandlung ist nicht vereinbar mit der Symmetrie der Paarbeziehung.18 Mit dem „mal bitte“ erfolgt eine weitere Modulierung der Direktive. Dabei gehört beides zusammen; jedenfalls kann das „mal“ in diesem Sprechakt nicht allein stehen.19 Wieder ist es sinnvoll, Beispiele aus anderen Kontexten heranzuziehen: a) Beim gemeinsamen Essen im Familien- oder Freundeskreis sagt eine Person zu einer anderen: „Gib mir mal bitte das Salz“ b) Beim gemeinsamen Angeln: „Sei mal bitte ein bisschen leiser“. Zu einer solchen Aufforderung gehört, dass man ihr nachkommt; das ist so selbstverständlich, dass man nicht einmal sprachlich sein Einverständnis markieren muss. „Gib mir mal bitte das Salz“ – daraufhin zu sagen „klar“ oder „OK“ wäre auffällig. Die Formulierung impliziert also einen übergreifenden

17Um

ein anderes Beispiel zu verwenden: Bei „Geh jetzt!“ ist das „jetzt“ ja nicht im Sinne von „besser jetzt als später“ gemeint. 18Eine solche Äußerung in diesem Beziehungskontext wäre nachgerade paradox: Noch in der Trennungsaufforderung würde sich eine Erziehungsabsicht ausdrücken. 19„Lässt du mal jetzt los“ ist ungrammatisch.

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­ ooperationszusammenhang, in dem derartige kleine Leistungen für den anderen K selbstverständlich erscheinen.20 Und einen solchen Kooperationszusammenhang können wir in Familienbeziehungen unterstellen; einen Kooperationszusammenhang, in dem man auf eine beiläufige Weise („mal“) zu einer Leistung auffordert, deren Erfüllung zwar als selbstverständlich erscheint, aber gleichwohl als kooperative Sonderleistung („bitte“) gerahmt werden kann („Hol mal bitte noch ein paar Flaschen Bier aus dem Keller“). Mit dem „mal bitte“-Element wird zum einen die Frage erst eindeutig zu einer Direktive, zum anderen wird genau dieser Aspekt der wie selbstverständlichen freiwilligen Kooperation in den Sprechakt eingefügt. Damit wird eine in sich widersprüchliche Sinnstruktur erzeugt. Einerseits handelt es sich um eine Anordnung, die Ausdruck einer Konflikteskalation ist, d. h. um eine dringende Ermahnung zu Konformität mit Verhaltenserwartungen; andererseits wird ein gegenläufiges Moment eingeführt, das dieselbe angemahnte Handlung als Ausdruck einer wie selbstverständlichen, freiwilligen Kooperation behandelt. „Lässt du jetzt los“ und „Lass mal bitte los“ werden zusammengezwungen.21 Genau diese Widersprüchlichkeit scheint das spezifisch „moderne“ an derartigen Äußerungen auszumachen. Wenn man nach einer Erklärung dafür sucht, d. h. wenn man fragt, was diese Widersprüchlichkeit so „modern“ macht, könnte man vielleicht vermuten, hier ein Dilemma moderner Erziehung am Werk zu sehen. Man darf als Eltern weder autoritär noch permissiv sein. Und in gewisser Weise soll man gleichzeitig beides sein; man soll „Grenzen setzen“ und dem Kind gleichzeitig freundlich zugewandt sein. Diese gegensätzlichen Anforderungen – gerade bei Erziehungshandlungen im öffentlichen Raum, d. h. unter Beobachtung – könnten die rekonstruierte Sinnstruktur erzeugen. Die Erziehungshaltung, die darin zum Ausdruck kommt, bestünde dann darin, Strenge zu zeigen, aber nicht streng sein zu wollen. Aber eine solche Deutung wäre zu oberflächlich; das wesentliche Moment der Widersprüchlichkeit ist viel elementarer, denn es bezieht sich auf die Positionierung der

20Kontrast:

Man kann im Supermarkt zu einem anderen Kunden nicht sagen „Geben Sie mir mal bitte eine Tüte von den Chips da oben“, sondern sagt „Entschuldigen Sie, könnten Sie mir eine Tüte von den Chips da oben geben, ich komm da nicht dran“. 21Aus einem anderen pädagogischen Zeitalter stammt eine rhetorische Figur, die vordergründig ähnlich ist. Auch bei „Lass gefälligst los“ wird in einem Befehl ein Ausdruck verankert, der ursprünglich eine Höflichkeitsfloskel war. Allerdings ist dem „gefälligst“ diese Bedeutung längst abhandengekommen. Schon in den 1960er Jahren war „Warten Sie gefälligst, bis Sie aufgerufen werden“ keine höfliche Bitte mehr.

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Sprechenden zum Konflikt. Wie gesehen, impliziert die Äußerung, dass es einen Konflikt zwischen Kind und Elternteil gibt. Das Kind weigert sich, etwas zu tun (oder zu lassen), von dem – auch das war ein Ergebnis der Analyse – es eigentlich weiß, dass es zu tun (oder zu lassen) ist. Und nicht nur das. Die Äußerung impliziert auch, dass wir es mit mindestens einer zweiten Stufe einer Konflikteskalation zu tun haben, und zwar einer Konflikteskalation, die faktisch durchaus von der Mutter betrieben wird, indem sie wiederholt und mit dem Gestus des Nachdrucks ihrer Direktive Ausdruck verleiht. Kooperation steht damit akut auf dem Spiel. Gefolgschaft hat sich nicht eingestellt, und es wird nicht Permissivität gewählt („na gut, ausnahmsweise“), sondern Gefolgschaft soll hergestellt werden. Mit dem Einschub „mal bitte“ wird dies alles aber gleichzeitig geleugnet. Der eigentlich infrage gestellte familiale Kooperationszusammenhang wird als gegeben unterstellt; die eigentlich durchzusetzende Handlung wird als eine wie selbstverständlich freiwillig zu erbringende Leistung markiert. Entscheidend ist also, dass in der Positionierung zum Konflikt diese Positionierung gleichzeitig zurückgenommen wird, als würde der Wunsch oder die Fantasie der harmonischen Kooperation in die erzieherische Intervention intervenieren. Als eine zugespitzte Strukturhypothese formuliert: In der Form eines genuin pädagogischen Handelns drückt sich eine a-pädagogische Haltung aus, eine Haltung, nicht intervenieren zu müssen, weil Gefolgschaft wie selbstverständlich gesichert ist. Die typisch „moderne“ Erziehungshaltung wäre damit: zu erziehen, ohne es zu wollen. Die Frage, woher sich dieser a-pädagogische Impuls speisen kann, muss an dieser Stelle (noch) offen bleiben. Leons Mutter partizipiert mit der Verwendung der zeitgeisttypischen Formulierung an dieser Widersprüchlichkeit. Allerdings ist nach unserer bisherigen Fallstrukturhypothese im vorliegenden Fall das Moment des „A-Pädagogischen“ noch ausgeprägter. Die Mutter hat sich zwar im Hinblick auf das von ihrem Sohn geäußerte Begehren positioniert, indem sie es ihm verwehrt hat. Sie bearbeitet jedoch den daran anschließenden Konflikt nicht, vielmehr entzieht sie sich der Interaktion und tendenziell auch der Beziehung. Gleichwohl verlangt sie Konformität oder genauer gesagt: ein wie selbstverständliches und freiwilliges Einverständnis mit ihrer Anordnung. Für Leon ist es nun seinerseits schwierig, an diese Äußerung anzuschließen. Auf der „Sachebene“ hat sich nichts geändert, außer dass mit dem Festhalten noch etwas dazu gekommen ist, das ihm verwehrt wird. Selbst wenn er den Wechsel auf die Verhaltensebene von sich aus nachvollziehen würde, kann er wohl kaum sagen „Ich verstehe, dass du möchtest, dass ich jetzt aufhöre zu insistieren, aber ich weiß noch gar nicht, warum ich nicht bekomme, was ich möchte“. Vor allem aber ist er damit konfrontiert, dass seine Mutter sich auf subtile Weise der Interaktion und tendenziell auch der

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Beziehung entzieht – sie ist also in gewisser Weise für ihn noch weiter weg, als es sein „Maamaaa!“ implizierte. Entsprechend ist es naheliegend, dass er den Konflikt weiter ausagiert. Leider ist auf der Aufnahme Leons Reaktion, wie auch der Anfang der Reaktion seiner Mutter darauf, unverständlich: 3 A:  4 B:  richtig sauer Die Äußerung der Mutter ist zwar unvollständig protokolliert, es kann jedoch keinen Zweifel daran geben, dass sie etwas sagt wie „Wenn du nicht aufhörst, werde ich richtig sauer“ oder „Ich werde gleich richtig sauer“. Auch diese Äußerungen sind gewissermaßen „Klassiker“ der real existierenden Pädagogik. So oder so ähnlich kennt man sie aus Interaktionen von Eltern mit ihren Kindern. Und wie „Lässt du mal bitte jetzt los“ ist auch dieser Sprechakt an solche Kontexte gebunden. Man kann sich nicht vorstellen, dass in einer Dienstbesprechung der Chef im Konfliktfall sagen würde „Ich werd‘ gleich richtig sauer“, und erst recht nicht würde man die Äußerung mit einer Auseinandersetzung in einer Paarbeziehung verbinden. Auch hier ist – schon kontextfrei betrachtet – klar, dass es eine Vorgeschichte gegeben haben muss. Man kann sich nicht aus heiterem Himmel so äußern. Wieder hat man es mit einer Konflikteskalation zu tun, mit einer Sequenz wie beispielsweise „Du hast dein Zimmer ja immer noch nicht aufgeräumt.“ – „Ja, ja, das mach ich noch.“ – „Das machst du jetzt.“ – „Das mach ich heute Abend.“ – „Ich werd gleich richtig sauer.“ Das passt zum vorliegenden Kontext. Von hier aus kann man davon ausgehen, dass die kurze, nicht protokollierte Äußerung des Sohnes in der Linie der bisherigen Interaktion ein weiteres, vielleicht nörgelndes Insistieren oder eine irgendwie artikulierte Beschwerde über die Haltung der Mutter gewesen sein muss. Darauf reagiert sie mit einer Drohung. Allerdings handelt es sich um eine besondere Drohung; sie sagt ja nicht etwas wie „Wenn du jetzt nicht Ruhe gibst, gibt es heute Abend keine Gutenachtgeschichte“. Und genau dieses Besondere der Drohung macht sie ebenfalls zu einem „Klassiker“. Beginnen wir wieder kontextfrei mit der Frage, was es heißt, wenn wir davon sprechen, „(richtig) sauer zu werden“. Beispiele: a) „Wenn die in der Berufungskommission morgen wieder auf den Lehrevaluationen herumreiten, werde ich richtig sauer.“ b) „Pass auf, gleich wird der richtig sauer“ sagt im Meeting eine Kollegin zur anderen über den Chef.

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c) „Gestern war ich zum dritten Mal in der Werkstatt. Als sie dann wieder gesagt haben, dass sie die Reparatur noch nicht machen konnten, bin ich richtig sauer geworden.“ Man sieht an den Beispielen, dass „sauer sein“, d. h. wütend, verärgert sein, das eine ist, „sauer werden“ etwas anderes. Hier geht es um die praktischen Konsequenzen der Befindlichkeit, darum, dass man laut wird, tobt, schimpft, „die Meinung sagt“, „in den Senkel stellt“, mit Konsequenzen droht usw. Die Konflikte, um die es dabei geht, sind immer praktische Konflikte, in denen – jedenfalls aus der Sicht derjenigen Person, die „richtig sauer wird“ – immer auch eine Verletzung normativer Standards virulent ist. Das, was die Konfliktgegner tun, ist im Lichte dieser Standards nicht mehr zu tolerieren. Allgemein ist mit dieser Rede ein Punkt in der Konflikteskalation angesprochen, an dem es der Person, die „richtig sauer wird“, „reicht“, an der ihr „der Geduldsfaden reißt“, an dem „jetzt Schluss ist“. Der Punkt, an dem die Auseinandersetzung kippt, ist erreicht. Mit der bislang geübten Zurückhaltung ist es nun vorbei, eine zivile, kooperative Auseinandersetzung wird aufgekündigt. All das ist im Fall der vorliegenden Drohung „(ich werde gleich) richtig sauer“ ebenfalls angesprochen. Aber warum ist gerade diese Verwendungsweise – die performative Ankündigung gegenüber dem Konfliktgegner – auf Erziehung in Eltern-Kind-Beziehungen beschränkt? Entscheidend ist, dass in diesem Fall die Befindlichkeit gegenüber den praktischen Konsequenzen stärker in den Vordergrund rückt. Wenn man Dritten gegenüber davon spricht, ist man aktuell nicht „sauer“; genau das ist man aber dann, wenn die Äußerung selbst eine Konflikthandlung darstellt, zumal an einem Punkt fortgeschrittener Konflikteskalation. Die Äußerung ist hier selbst Ausdruck von Wut und Ärger, was sich in der Art und Weise (Lautstärke, Gesichtsausdruck) mitteilen wird. So könnte man von einer gewissen Paradoxie sprechen: Die Drohung kündigt eine Befindlichkeit an, die faktisch schon gegeben ist, nur eben noch nicht „richtig“.22 In die Waagschale der Konfliktauseinandersetzung wird die Befindlichkeit selbst geworfen, zumal die praktischen Konsequenzen diffus bleiben. Das ist die unmittelbare Folge, für die der Adressat verantwortlich gemacht wird. Indem er mit dieser Folge konfrontiert wird, wird die Gefühlslage der Sprecherin selbst als Motiv für die Umstellung auf Handlungskonformität unterstellt. Das geht nur in einer persönlichen Beziehung; nur dort kann sie relevant sein. Und das ist genau der Grund dafür, weshalb der

22Ein

Kind könnte darauf reagieren mit „Bist du ja schon!“.

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Sprechakt nicht in einer Vorgesetzten-Untergebenen-Beziehung fallen könnte; die Beziehung wäre dadurch merkwürdig personalisiert. Man kann vor diesem Hintergrund den Bedeutungsgehalt der Drohung wie folgt paraphrasieren: „Du bringst mich dazu, dass ich mich so sehr über dich ärgere, dass ich nicht anders kann, als die kooperative Auseinandersetzung aufzukündigen“. Das ist der Aspekt, in dem die latente Bedeutungsstruktur von „(Ich werde gleich) richtig sauer“ der von „Lässt du mal bitte jetzt los“ ähnelt. Wiederum handelt es sich manifest um eine pädagogische Intervention, denn mit der Drohung soll Konformität mit Direktiven durchgesetzt werden. Aber latent wird gleichzeitig eine Klage über die Notwendigkeit dieser Intervention erhoben, eine Klage, die in dem – ebenfalls typischen – Sprechakt „Ich will nicht immer schimpfen müssen“ den Kindern explizit vermittelt wird. Und die Kinder sollen sich in ihrem Verhalten nicht (nur) von den angedrohten praktischen Konsequenzen leiten lassen, sondern (auch) davon, dass sich der Elternteil nicht ärgern muss, sondern sich über das konforme Verhalten freuen kann. Es wird mit anderen Worten Identifikation reklamiert. Zwar geschieht dies nicht unmittelbar emotional manipulativ, wie wenn die Mutter sagen würde „Da ist die Mama aber ganz traurig, wenn du das nicht machst“, aber gleichwohl wird mit der gewählten Formulierung gleichsam reflexiv in die Interaktion eingespeist, dass die Kinder doch eigentlich von sich aus das Richtige tun sollen, weil sie sich mit dem Elternteil identifizieren. In die Form einer beinahe schon autoritären Geste ist damit auf latenter Ebene eine Haltung eingelagert, die gerade nicht auf Konflikt, auf die Durchsetzung von Direktiven, auf Beeinflussung usw. eingestellt ist. Darin kann man das Zeitgeisttypische an dieser Formulierung erkennen: ein innerer Widerspruch zwischen erzieherischer Intervention und einer inneren Haltung der Negierung dieser Intervention. Kommen wir zurück zur Fallrekonstruktion. Die Frage ist jetzt, ob Leons Mutter ihm in dem unverständlich gebliebenen Teil ihrer Äußerung mitgeteilt hat, was sie von ihm eigentlich erwartet. Denn nach der bisherigen Interpretation war das für ihn nicht klar zu erkennen. Falls sie etwas gesagt hat wie „Wenn du nicht aufhörst zu nörgeln, werde ich gleich richtig sauer“, könnte er sich mehr oder weniger frustriert in sein Schicksal fügen. Falls ihre Erwartungen an ihn aber weiterhin für ihn unklar sein sollten, würde man davon ausgehen, dass er trotz Drohung weiter insistiert. Und das tut er auch: 5 A: Ich will eine Caprisonne. (4) Zum ersten Mal in der protokollierten Sequenz äußert Leon explizit, was er eigentlich will. Wir können allerdings annehmen, dass dies tatsächlich nicht das erste Mal ist, denn weder ist in seiner Äußerung markiert, dass es sich um einen

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neuen Wunsch handelt („Dann will ich eine Caprisonne“), noch gibt es eine entsprechende Anmerkung in der Reaktion der Mutter, wie die vier Sekunden Pause zeigen. In dieser Zeit hätte sie im Prinzip in ihrer Tasche nach der Caprisonne kramen, also nonverbal reagieren können. Tatsächlich ist das nicht der Fall. Sie reagiert gar nicht, und damit reproduziert sich ihre Kooperationsverweigerung. Leon verlangt also nach einem bestimmten, fruchtsaftartigen Getränk. Da er in seinem Alter sicher noch nicht lesen kann, wird ihm der Markenname von den Eltern oder anderen Erziehungspersonen beigebracht worden sein, und naheliegenderweise im Zusammenhang damit, dass er selbst dieses Getränk schon einmal bekommen hat. Denkbar wäre auch, dass er es über andere Kinder kennengelernt hat. In jedem Fall kann man aber schon ohne eine Feinanalyse festhalten, dass ein Kind, das so spricht, die Erfahrung gemacht hat, dass seine Wünsche (bisweilen) erfüllt werden. „Ich will eine Caprisonne“ ist etwas anderes als „Kann ich vielleicht eine Caprisonne haben?“. Das war im Grunde schon im Insistieren impliziert: Ein Kind, das – aus welchen Gründen auch immer – grundsätzlich nichts bekommt, dürfte kaum auf seinem Wunsch beharren. Es müssen von hier aus besondere Gründe für die Verweigerung der Wunscherfüllung vorliegen. Was ist es, das sich Leon wünscht, und aus welchen Gründen könnte man es versagen? Tatsächlich ist die Marke „Caprisonne“ bei Eltern und kleineren Kindern beliebt, insbesondere als flüssiger Reiseproviant. Die relativ kleinen Portionspackungen aus mehrfachbeschichteter Folie lassen sich gut transportieren und mit dem beiliegenden Strohhalm, der in die Packung eingestochen wird, auch relativ sicher trinken. Wenn die Mutter allerdings eine oder mehrere „Caprisonnen“ dabei hätte, wäre es sehr erklärungsbedürftig, warum sie ihm kein Getränk gibt, denn zu diesem Zweck wären sie mitgenommen worden. Im Vorgriff auf das weitere Interaktionsprotokoll lässt sich bestätigen, dass dem auch nicht so ist. Die „Caprisonne“ müsste also erst gekauft werden. Zunächst kann man sagen, dass es sich nicht um ein außeralltägliches Objekt handelt, dass etwa grundsätzlich nicht infrage kommt, weil es die finanziellen Möglichkeiten der Eltern übersteigt und/oder ansonsten nichts ist, das man nebenbei bekommt, sondern nur zum Geburtstag oder zu Weihnachten sich wünschen kann. Es handelt sich überhaupt nicht um ein Geschenk im engeren Sinn, noch nicht einmal um eine Süßigkeit, sondern im Prinzip um ein Lebensmittel. Die Verweigerung der Wunscherfüllung kann sich von hier aus nur auf das spezifische Produkt oder die besondere Situation beziehen. Gegen das spezifische Produkt könnte man beispielsweise einwenden, es sei ungesund (weil zu süß), es sei umweltschädlich (wegen der Verpackung) oder es sei, verglichen mit einem anderen Getränk, zu teuer. Situativ könnte die Mutter zum Beispiel einwenden,

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dass sie jetzt keine „Caprisonne“ kaufen können, weil sie sonst den Bus verpassen. Es gibt also eine Reihe denkbarer Gründe, die an erzieherische Maximen oder an die äußeren Umstände anknüpfen können. Bevor wir die Analyse des Konflikts von Begehren und Versagen, von Insistieren und Durchsetzen von Konformität fortsetzen, muss noch die Äußerung betrachtet werden, mit der Leon seinen Wunsch zum Ausdruck bringt. Auch wenn dies im Interaktionsverlauf nicht die erste Wunschartikulation ist, steht sie doch erst jetzt für eine Analyse zur Verfügung. Und da sie es ist, mit der sich die Unausweichlichkeit von Erziehung objektiviert, ist ihre Ausdrucksgestalt von besonderem Interesse. Zunächst fällt auf, dass „Ich will eine Caprisonne“ semantisch betrachtet keine Bitte oder Aufforderung ist, sondern eine Auskunft über ein Begehren. Wenn zwei Erwachsene bei großer Hitze eine Wanderung unternehmen und einer zur anderen sagt „Ich will ein Bier“, dann wird die so Angesprochene das zu recht nicht als Aufforderung verstehen, dem Sprecher ein Bier zu beschaffen. Etwas anderes ist es, wenn schon voreingerichtet ist, dass man etwas bekommen kann, und die Nennung des Begehrens erfolgt im zweiten Zug: „Was willst du trinken?“ – „Ich will ein Bier“. Im vorliegenden Fall ist das anders, das Begehren wird in einem ersten Zug geäußert und ist pragmatisch als eine Aufforderung zu verstehen. Auch das ist typisch für die ­ Kind-Eltern-Beziehung. Während Erwachsene selbstständig ihre Wünsche realisieren können (und dies in der Regel auch müssen), können Kinder das nicht. Ein im ersten Interaktionszug geäußertes „Ich will ein Eis“, „Ich will reiten“, „Ich will auf den Jahrmarkt“ oder „Ich hab‘ Hunger“ sind Ausdruck davon. Unterstellt ist, dass der Sprecher den Wunsch nicht selbst erfüllen kann, und kein Elternteil würde dem Kind (jedenfalls nicht in diesem Alter) sagen „Dann kauf dir doch ein Eis“. So selbstverständlich und banal dieser Umstand erscheinen mag, in theoretischer Hinsicht ist er äußerst instruktiv, denn man kann hier sehen, dass die Asymmetrie der Eltern-Kind-Beziehung mit einer Selbstpositionierung des Kindes als hilfsbedürftig beginnt. Die Unausweichlichkeit erzieherischer Macht ist damit nicht (nur) über die gesellschaftlich institutionalisierte Positionszuschreibung als Elternteil gestiftet, sondern diese Position wird in der Interaktion zwingend durch die Wunschartikulation des Kindes aktiviert. Dadurch positioniert sich das Kind als abhängig und kehrseitig die Adressatin als „machtvoll“. Wenn die Art und Weise der Wunschäußerung und natürlich erst recht die Art der Wünsche selbst fallspezifisch sind, d. h. von der jeweiligen Kultur und dem familialen Milieu abhängen, so gilt das für die Tatsache der Äußerung von Wünschen und Bedürfnissen nicht. Man kann sich keine Kultur vorstellen, in der es nicht jemanden gibt, den/die das Kind als AdressatIn dieser Wünsche anerkennen kann.

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In dieser Hinsicht positioniert sich auch Leon als hilfsbedürftig und abhängig von seiner Mutter. Das ist aber nur die eine Seite. Entscheidend ist, dass mit der gewählten Formulierung gleichzeitig unterstellt ist, dass die Äußerung des Begehrens an sich schon Motiv genug für die Eltern ist, ihm nachzukommen. Es handelt sich eben nicht um eine Bitte (wie „Kann ich eine Caprisonne haben? Ich hab‘ so Durst“). Das Besondere dieser spezifischen Form der Selbstpositionierung erschließt sich, wenn man berücksichtigt, dass im Erfolgsfall auf die bloße Äußerung des Willens folgt, dass die Welt ihm auch entspricht. Man kann darin die empirische Grundlage für eine kindliche Allmachtsfantasie sehen; wer so spricht, ist strukturell ein „kleiner Despot“. Die Formulierung vereint in sich also Abhängigkeit und Macht. Üblicherweise wird, wenn Kinder sich so äußern, erzieherisch interveniert. Kinder werden dann dazu angehalten, das „Zauberwort“23 zu verwenden, also ausdrücklich ihr Begehren in die Form einer Bitte zu kleiden, und, wenn sie etwas bekommen, auch („Wie sagt man?“) „danke“ zu sagen. Der Intention nach soll es um die Einübung in Regeln der Höflichkeit bzw. der Reziprozität gehen. Soziologisch ist aber auch ein weiterer Aspekt daran bemerkenswert. Denn erst die Bitte – ob mit oder ohne „bitte“ – macht die Abhängigkeit explizit. Von hier aus kann man die von Wernet fallbezogen formulierte These der „Verhaltenszumutung einer Selbstunterwerfung“ generalisieren. Man gewinnt damit einen weiteren Anhaltspunkt für die wachsende Bewusstwerdung der Abhängigkeit und einer damit einhergehenden Positionierung im familialen Generationenverhältnis. Der strukturelle Sinn von Abhängigkeit wird dabei nicht in der elterlichen Freude an der eigenen Machtposition zu suchen sein. Berücksichtigt man, dass erst mit der expliziten Formulierung des Wunsches als Bitte die Abhängigkeit auch für die so sprechende Person präsent ist, dann kommt in den Blick, dass diese „Selbstunterwerfung“ das Kind aus der Einheit von Ohnmacht und Allmacht herausführt. Vor diesem Hintergrund ist die ausbleibende Reaktion der Mutter gleich in mehreren Hinsichten erklärungsbedürftig. Nicht nur hätte sie von der Art der Wunschäußerung her Anlass, erzieherisch zu intervenieren, vor allem hätte sie nach ihrer Drohung jetzt tatsächlich „richtig sauer werden“ müssen, schließlich

23Die

Bedeutung dieser alltagspädagogischen Formulierung ist zwiespältig. Einerseits wird sie als eine conditio sine qua non gelehrt, d. h. ohne „bitte“ gibt es nichts. Andererseits ist mit der Formulierung aber auch unterstellt, dass die Verwendung des Wortes selbst schon der Schlüssel zur Wunscherfüllung ist. Sie bedient also die kindliche Allmachtsfantasie, die sich dann erst an der Realität brechen muss, wenn das Kind erkennt, dass der Zauber nicht immer funktioniert.

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beharrt Leon ja weiter auf seinem Wunsch. Erwartbar wäre etwas wie „Jetzt reicht’s! Immer dieses Genörgel! Wenn du jetzt nicht Ruhe gibst, gibt es heute Abend keine Gutenachtgeschichte.“ Das Ausbleiben einer Reaktion an dieser Stelle macht die Drohung leer. Das betrifft auch den Aspekt der Emotionalität. Was ist mit dem sauer sein? Was macht sie damit jetzt? Auch dies würde bei einer ausbleibenden Reaktion gleichsam verpuffen beziehungsweise sich als leer erweisen. Überspitzt formuliert: Er ist so wenig wichtig für sie, dass sie sich noch nicht einmal aufregt. Insgesamt hat es den Anschein, als würde die erzieherische Linie der Wunschversagung und Durchsetzung von Konformität von Leons Mutter nur exekutiert; d. h. sie hätte ihm auch ohne Weiteres seinen Wunsch erfüllen können. Die Art seiner Wunschäußerung spricht – wie gesehen – dafür, dass sie in der Vergangenheit seine Wünsche durchaus auch erfüllt hat. Von daher ist immer weniger wahrscheinlich, dass sie dem Kind gegenüber vorher diese Linie in Gestalt einer wie auch immer gearteten Begründung deutlich und damit – im Prinzip – nachvollziehbar gemacht hat. Was heißt das? Das eine ist, dass Leon seine Mutter – von außen betrachtet – in dem, was sie sagt, nicht ernstnehmen kann. Aber viel entscheidender ist, dass sie ihn – als Interaktions- und Beziehungspartner – nicht ernstnimmt. Dem kann er sich nicht entziehen. Folglich ist sein Beharren auf der Wunscherfüllung auch als Ausdruck eines Kampfes um Anerkennung anzusehen. Und wenn das so ist, dann würde sich auch die Kontingenz der erzieherischen Linie erklären. Nicht das Letztere ist der Grund und das Erstere die Folge, sondern analytisch gesehen ist es gerade umgekehrt: Da ihr Sohn für sie kein wirklicher Interaktions- und Beziehungspartner ist, hat die Mutter auch keine klare praktische Haltung ihm gegenüber. So wenig, wie die repressive Haltung Ausdruck einer erzieherischen Linie ist, so wenig ist die permissive Haltung Ausdruck einer Würdigung der Bedürfnisse des Kindes, sondern nur der geringen Investition angesichts eines potenziellen Konflikts. Dass sie situativ repressiv agiert, mag daran liegen, dass die Interaktion im öffentlichen Raum, also unter Beobachtung stattfindet und von daher in besonderer Weise mit gesellschaftlichen Erziehungsstandards („Grenzen setzen“) konfrontiert ist. 6 A: Oh Mann Mamaa, ich möcht Caprisonn Vor dem Hintergrund der bisherigen Interpretation ist es wenig überraschend, dass Leon auf die Verweigerung der Interaktion durch seine Mutter mit einer erneuten Anrede reagiert, diesmal verbunden mit einer typischen Unmutsäußerung („Oh Mann“) und einer erneuten Wiederholung seines Wunsches. Dabei moduliert er die Äußerung in eine etwas „höflichere“ Form; aus dem „ich will“ wird ein „ich möcht“. Verbessert das seine Verhandlungsposition?

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Denkbar wäre, dass die Mutter entsprechend darauf reagiert mit einem „Wenn du jetzt noch das Zauberwort sagst…“. Ansonsten müsste sie – wie schon expliziert – unter Bedingungen der Konsistenz ihrer Haltung so etwas sagen wie „So. Jetzt ist Schluss“ und eine konkrete Drohung äußern oder eine Strafe verhängen. Tatsächlich sagt sie aber: 7 B: Ach, sag bloß Wörtlich betrachtet bringt man mit diesem Sprechakt zum Ausdruck, dass einem eine überraschende Nachricht mitgeteilt worden ist. So könnte man zum Beispiel auf „Hast du schon gehört? Müller hat sich mit dem Chef angelegt“ mit „Ach, sag bloß“ reagieren, wenn Kollege Müller allgemein als eigentlich konfliktscheue Person bekannt ist. Diese Erfüllungsbedingung ist im vorliegenden Kontext natürlich nicht gegeben, und zwar nicht nur, weil man sich schwer vorstellen kann, dass „ich möcht Caprisonn“ für eine Mutter eine überraschende Information darstellt (anders wäre es, wenn das Kind sagt „ich möchte Spinat“, und bisher hat es den immer verabscheut), sondern auch deshalb, weil Leon dies ja schon geäußert hat. Man kann den Sprechakt also nicht anders als einen ironischen Kommentar verstehen. Wenn Ironie der transparente Gegensatz zwischen Gesagtem und Gemeintem ist, dann lässt sich das hier Gemeinte paraphrasieren mit „Das ist mir sattsam bekannt, da du ja die ganze Zeit davon redest“. Zunächst einmal lässt sich damit festhalten, dass der ironische Kommentar noch einmal die Vermutung bestätigt, dass sich schon die ganze Zeit – und nicht erst seit Sequenzstelle 5 – der Konflikt um den Wunsch nach einer Caprisonne dreht. Aber das ist nicht alles. Entscheidend ist, dass die Mutter Leon an dieser Stelle auf geradezu zynische Weise ins Leere laufen lässt. Zynisch ist dies deshalb, weil sie die Wunschäußerung hier wie eine Mitteilung, wie eine Information behandelt. Die Semantik der Äußerung wird gegen ihre pragmatische Bedeutung ins Feld geführt. Damit reproduziert sich die Struktur des interaktiven Unterlaufens von Interaktionsregeln an dieser Stelle auf eine durchaus unfreundliche Art. Während man vorher noch davon sprechen konnte, dass sich diese Struktur latent gewissermaßen ereignet, ist dies hier ein manifest aggressiver Akt; sie reagiert nicht nur so, dass die Reaktion nicht als Anschluss auf den vorhergehenden Interaktionszug gelten kann, sondern sie macht sich faktisch über ihren Sohn lustig. Dies ist offenbar der Weg, den ihre Verärgerung angesichts der Non-Konformität ihres Sohnes genommen hat. Statt ihre Verärgerung darüber auszuagieren und dabei auf eine tatsächliche Verhaltensänderung hinzuwirken, revanchiert sie sich auf diese Weise. Ein älteres Kind könnte vielleicht die ironisch-zynische Abfuhr als solche verstehen und als die Verletzung empfinden, die sie sein soll. Der vierjährige Leon

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ist dazu noch nicht in der Lage. Was sich ihm mitteilen wird, ist, dass seine Mutter sich seinem Begehren auf eine für ihn nicht verständliche Weise verweigert und dass sie auf für ihn ebenfalls unverständliche Weise nicht als Interaktionspartnerin zur Verfügung steht. Er hat gar keine andere Wahl, als nach dem bisherigen Muster weiter zu verfahren und zu versuchen, mit seinem Begehren zu seiner Mutter durchzudringen, bis sie ihn endlich hört und wirklich interagiert. Die Mutter wiederum kann ihn darin nicht anders wahrnehmen als insistierend und nörgelnd. Und da sie davon absieht, den Konflikt auf eine Weise zu bearbeiten, in der sie ihn als Interaktions- und Beziehungspartner ernstnimmt, ist die Mutter-Sohn-Interaktion in einem Teufelskreis gefangen. In diesem Teufelskreis bewegt sich die Interaktion über viele Züge bis zum Ende der Aufnahme weiter. Man kann vermuten, dass er sich erst auflösen wird, wenn durch äußere Einwirkungen, wie etwa das Eintreffen des Busses, gleichsam ein neues Thema für die Interaktion gesetzt wird. 8 A: Ich möchte tre trinken (4) Ich hab Duuuest (2) Ich hab Duerst. Mama, ich hab dur (11). Mama, solange kann ich doch (.) wie lang, wie lange  trinken 9 B:  10 A: Mama, ich möchte Trinken (.) ich hab Durst (2) hab richtig Durst 11 B: Hättest du früher was trinken müssen, bevor wir gefahren sind (.) das kommt davon 12 A: Mama, holst du mir Trinken? 13 B: Nein hol ich dir nicht! 14 A: Maamaaa! (.) Mama. Mama 15 B: Mann! 16 A: Mammaa (5) Mammaa 17 B: Was Mama? Nein! 18 A: Maamaa. Trinken! (5) 19 B: Halt jetzt mal meine Hand jetzt hier. Los! 20 A: Maaamaa 21 B: Ja Mama. So heiß ich, genau. (5) 22 A: I hab Durst (3) Ich hab Durst. Mama 23 B: Ja, ist halt so 24 A: Mama, ich hab Durst 25 B: Nein! 26 A: Mama. Oh Mann, Mama 27 B: Es gibt aber nichts, ich hole dir nichts 28 A: Ich hab Duurst! 29 B: Ist mir egal! 29 A: Ich hab Duurst!

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30 B: Kannst du dich nicht benehmen oder was? 31 A: Ahhhhh! Maamaa! Maamaaa! Mama! 32 B: Jetzt reichts aber! 33 A: Mamaa, Mamaa! (4) Ach Mann 34 B: Ja, gib mir deine Hand, sofort!  (5) Oh, wie kann man so nerven?  ey 35 A: Was Trinken, Mama 36 B: Nein Wenn man den Interaktionsverlauf unter dem Blickwinkel unserer Fallstrukturhypothesen überblickt, so dominieren Momente, in denen man auch ohne eine Detailanalyse eine Bestätigung dieser Hypothesen erkennen kann. Es gibt jedoch einen Interaktionszug der Mutter, der ihnen auf den ersten Blick widerspricht, denn hier scheint eine pädagogische Belehrung zu erfolgen: 11 B: Hättest du früher was trinken müssen, bevor wir gefahren sind (.) das kommt davon Tatsächlich ist das „Das kommt davon“ nicht anders zu verstehen als ein belehrender Hinweis. Ein Ereignis wird als die erwartbare schädliche Folge eines unvernünftigen Handelns dargestellt. Wenn beispielsweise über einen Dritten, der bei einer alkoholisierten Autofahrt einen Unfall erlitt, gesagt wird „Das kommt davon“, dann wird auf mitleidslose Weise umfassend Verantwortung zugerechnet – und genau diese umfassende Zurechnung macht das Mitleidslose aus. Der Unfall ist unmittelbare Folge des Handelns, um dessen Unvernünftigkeit der Handelnde hätte wissen müssen. Wenn im erzieherischen Kontext, konkret in der Eltern-Kind-Interaktion „Das kommt davon“ gesagt wird, wird dabei auf die Nichtbefolgung einer erzieherischen Maxime oder Direktive abgehoben. Schließlich braucht es hier, wo man per Definitionem nicht von Handlungsautonomie ausgehen kann, eine besondere Begründung für die Zurechnung von Verantwortung; es muss klargestellt werden, warum das Kind es besser hätte wissen müssen. Beispiele wären „Das kommt davon. Ich hab dir gesagt, du sollst nicht mit den Streichhölzern spielen, sonst verbrennst du dich“ oder „Das kommt davon. Ich hab dir gesagt, du sollst die Puppe vorsichtig tragen, sonst fällt sie runter und geht kaputt“. Die Realität wird gewissermaßen als Gewährsfrau für die Richtigkeit und die Berechtigung der Maxime angerufen. Aber es geht nicht nur darum zu sagen „Ich hatte recht“, sondern vor allem wird die Realität selbst als pädagogische Instanz der Bestrafung installiert und dem Zögling die Verantwortung für diese Strafe zugewiesen.

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Aber diesem Muster entspricht die vorhergehende Äußerung von Leons Mutter nicht. Sie sagt eben nicht „Ich hab dir gesagt, du sollst etwas trinken, bevor wir gefahren sind“ und schiebt dann das „Das kommt davon“ nach. Vielmehr äußert sie mit dem „Hättest du früher was trinken müssen“ einen Tadel, in dem das eigentlich richtige Handeln von vornherein in Leons eigene Verantwortung gestellt ist. Die unangenehme Situation, jetzt durstig zu sein, wird nicht als Ergebnis einer Nichtbefolgung einer elterlichen Direktive dargestellt, sondern gewissermaßen als Versagen, für sich selbst zu sorgen. Das ist bei einem vierjährigen Kind bemerkenswert, denn es verfügt selbstverständlich noch nicht über den dafür erforderlichen Planungshorizont. Indem Leons Mutter ihn auf diese Weise älter macht als er ist, entzieht sie sich ihrer eigenen erzieherischen Verantwortung. Aber mehr noch, mit dem nachgeschobenen „Das kommt davon“, das heißt mit der Inanspruchnahme dieser „erziehungsrhetorischen“ Figur, wird ihm die Nicht-Erfüllung dieser Verantwortung dann noch nachgerade als Unfolgsamkeit ausgelegt. Paraphrasiert: „Wenn du nicht autonom bist, ist das deine Schuld“. Die Sequenz stellt also mitnichten eine Falsifikationsstelle für die zentrale Fallstrukturhypothese dar, sondern ist im Gegenteil ein herausgehobenes Beispiel für ihre Reproduktion: In dieser Form erzieherischen Handelns ist eine grundlegend a-pädagogische Haltung eingelagert. Diese Haltung zieht sich durch die gesamte Sequenz. Äußerlich betrachtet bleibt Leons Mutter in der Sache streng. Gleichsam stur wird an jeder Sequenzstelle die Verweigerung der Wunscherfüllung wiederholt, selbst nachdem Leon von dem Sonderwunsch Caprisonne auf das elementare Bedürfnis des Trinkens gewechselt ist. Dass sie nicht ein einziges Mal in der ganzen Interaktion einen Grund für ihre Verweigerung des Ansinnens benennt oder zumindest auf das Benennen eines Grundes verweist, bestätigt die Hypothese, nach der die repressive Haltung der Mutter nicht Ausdruck einer erzieherischen Zuwendung ist. Es ist auch höchst unwahrscheinlich, dass sie in der Interaktion vor der Audioaufzeichnung Leon gegenüber etwas Entsprechendes geäußert hat, denn dann hätte sie in irgendeiner Weise im weiteren Verlauf der Interaktion an diese Konfliktgeschichte angeschlossen. Der entscheidende Punkt ist, dass sie bei Leon nichts erreichen will. Deshalb ist sie auch nicht „streng“, wenn man darunter die rigide Durchsetzung eines normativen Konzepts versteht. Das Fehlen einer erzieherischen Zuwendung zeigt sich aber nicht nur im Umgang mit dem Konfliktgegenstand, sondern auch im Umgang mit dem Konflikt selbst. Leons Mutter bemüht sich an keiner Stelle, die Situation zu

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gestalten. Eine Äußerung wie „Es dauert jetzt nicht mehr lange, dann sind wir zuhause und dann kannst du etwas trinken“ sucht man vergebens. Der Konflikt wird nicht moderiert, kanalisiert oder entschärft – wie immer man diese erzieherischen Strategien bezeichnen will, mit denen Eltern typischerweise mit einer solchen Situation umgehen. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil Leons Mutter ja durchaus selbst unter der Situation leidet. Ihre Klagen („Kannst du dich nicht benehmen oder was?“, „Oh, wie kann man so nerven?“) sind mehr an unbestimmte Dritte gerichtet denn an ihren Sohn. Man kann darin einen Nachhall der Öffentlichkeit der Interaktion sehen, eine Reaktion darauf, dass sie als Mutter nicht gut aussieht. Dabei ist Leon für sie nicht ein Junge, der „nicht hört“ oder „nicht gehorcht“, sondern jemand, der „nervt“. Vor allem will sie, dass er Ruhe gibt, dass er ihre Haltung akzeptiert. Aber selbst das teilt sie ihm nicht mit. Übrig bleibt nur der Versuch physischer Kontrolle („Halt jetzt mal meine Hand jetzt hier. Los!“, „Ja, gib mir deine Hand, sofort!“). Das ist die eher inhaltliche Seite. Betrachtet man die Art und Weise ihrer Reaktionen auf Leons Insistieren, so bestätigt sich ebenfalls die Hypothese, dass sie ihn als Interaktionspartner nicht ernst nimmt. Sie reagiert teils gar nicht, teils mit mehr oder weniger ironischen Äußerungen („Was Mama?“, „Ja Mama. So heiß ich, genau“24). Die Beziehung selbst wird – als Sorgebeziehung – durch verschiedene Formulierungen der Unbeteiligtheit („Ist halt so“, „Ist mir egal“) wörtlich betrachtet aufgekündigt. Dabei wird die Härte in den Formulierungen nur dadurch entschärft, dass die Mutter in gewisser Weise gar nicht mit Leon spricht; dass dieser wie zwanghaft sein Begehren immer wieder wiederholt, ist Ausdruck seines Kampfes um die ganz basale Anerkennung als Interaktionspartner. Ihm geht es wie jemandem, der mit einer Person zu interagieren versucht, die mit Kopfhörern auf den Ohren staubsaugt. Seine Mutter ist anwesend und doch fern. Diese Struktur kann auch erklären, warum Leon nicht wirklich frustriert ist, obwohl er ja faktisch nicht das bekommt, was er vermeintlich so hartnäckig begehrt. Zwar gibt es weiterhin verschiedentlich Unmutsäußerungen, wie „Oh Mann“, „Ach Mann“, oder „Ahhhh!“, aber er weint nicht und ist auch nicht erkennbar wütend (es gibt kein „Du bist blöd“ oder Ähnliches). Entscheidend ist eben nicht, dass er die Caprisonne nicht bekommt, sondern dass ihm etwas viel Elementareres versagt bleibt, das er nur erleiden, aber nicht erfahren kann.

24Vor

dem Hintergrund der obigen Interpretation der Anrede „Mama“ ist es instruktiv, dass die Mutter hier nicht sagt „Das bin ich“, sondern „So heiße ich“. Denn „Mama“ ist kein Name, sondern die Bezeichnung für eine Position, die sie, indem sie so spricht, einzunehmen vermeidet.

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3 Generalisierende Hypothesen und Ausblick Die Analyse des Interaktionstranskripts hat ergeben, dass wir es hier mit einer sehr spezifischen Fallstruktur zu tun haben. Der Kampf um Anerkennung als Interaktionspartner einerseits, das Fehlen erzieherischer Zuwendung andererseits sowie der aus beidem resultierende Teufelskreis einer auf der Stelle tretenden Konfliktinteraktion – das alles sind sicherlich nicht Dinge, die man unmittelbar als allgemein kennzeichnend für Eltern-Kind-Beziehungen ausweisen würde. Denkbar wäre es jedoch, diese Aspekte einer spezifischen Fallstruktur einer Typologie von Erziehungs- oder „Familienstilen“ zuzuordnen. Das wäre eine Forschungsstrategie für eine empirische Erziehungswissenschaft, die sich dafür interessiert, in erzieherischen Praktiken unterschiedliche kulturelle Erziehungsmilieus zu identifizieren und zu unterscheiden (Müller/Krinninger 2016). Das Erkenntnisinteresse dieses Beitrags ist jedoch ein anderes; es zielt nicht auf eine empirische Typenbildung nach Kriterien von Gemeinsamkeit und Differenz, sondern darauf, die immanente Rekonstruktion des Falles zu nutzen, um exemplarisch allgemeine Aussagen über die Bedeutung von Asymmetrie im familialen Generationenverhältnis zu treffen. An dem vorliegenden Fall sticht in dieser Hinsicht vielleicht als erstes ins Auge, dass er sicherlich nicht dem Modell eines „Verhandlungshaushaltes“ oder einer „demokratischen Erziehung“ entspricht. Es werden Befehle ausgesprochen, es wird gedroht, es wird de facto rigide eine Wunscherfüllung versagt. Dass es so etwas in der real existierenden Erziehung gibt, ist aber nicht wirklich überraschend. Selbst wenn körperliche Züchtigungen und auch verbale Angriffe gegenüber Kindern zumindest aus den Interaktionen im öffentlichen Raum weitgehend verschwunden sind, Drohungen wie „Wenn du jetzt nicht mitkommst, bleibst du alleine hier“ hört man allenthalben. Damit rechnen sicherlich auch die Vertreterinnen und Vertreter dieser Diagnosen; schließlich waren sie ja nie als empirische Allaussagen zu verstehen, sondern als Aussagen über Entwicklungstrends der Erziehung seit den 1960er Jahren, als Beschreibungen einer Entwicklung hin zu einem dominanten Modell. Und als solche sind sie ja durchaus zutreffend. Der hier analysierte Fall sagt zunächst, d. h. allein als ein Fall der Abweichung von dem Modell betrachtet, nicht viel mehr aus, als dass es solche autoritären Interventionen noch gibt. Die Fallrekonstruktion jedoch leistet mehr; sie kann zeigen, dass diese Interventionen und auch die anderen Aspekte der Fallstruktur Ausdruck eines spezifischen Umgangs mit einem allgemeinen Problem sind: der grundlegenden Asymmetrie im familialen Generationenverhältnis. Vor diesem Problem

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stehen auch die hinter den Schlagwörtern des „Verhandlungshaushaltes“ und der „demokratischen Erziehung“ sich verbergenden Erziehungspraktiken. Es wäre ein Missverständnis anzunehmen, dass in ihnen vollständige Symmetrie realisiert wäre, dass in den Eltern-Kind-Interaktionen hier immer alle „mit gleicher Stimme“ sprechen. Vielmehr werden die Eltern Verhandlungen und einen irgendwie demokratischen Umgang ermöglichen, indem sie die Position, die sie im Rahmen der grundlegenden Asymmetrie einnehmen, auf genau diese und nicht auf eine autoritäre Weise nutzen. In der Fallrekonstruktion findet sich die eingangs angesprochene Hypothese Wernets unterstützt, dass Asymmetrie und Macht konstitutiv für Erziehung sind. Sie legt darüber hinaus nahe, dass die gewissermaßen paradigmatische Konstellation dieser Machtasymmetrie die der Gewährung und Versagung ist. Wenn im vorliegenden Fall Leon ein Bedürfnis seiner Mutter gegenüber artikuliert und sie damit als zuständig für die Befriedigung dieses Bedürfnisses adressiert, dann nimmt er eine Selbstpositionierung als hilfsbedürftig vor und richtet kehrseitig für seine Mutter eine Machtposition ein, denn sie ist damit diejenige, die das Bedürfnis erfüllen kann. Das ist natürlich keine Eigenart Leons, denn Kinder sind hilfsbedürftig. Die Fallrekonstruktion macht nur deutlich, was daraus interaktionslogisch folgt: Indem Kinder ihre Eltern als diejenigen adressieren, die ihre Bedürfnisse befriedigen sollen, richten sie eine Machtposition für ihre Eltern ein, der diese sich nicht entziehen können. Um eine Machtposition im eigentlichen Sinne handelt es sich deshalb, weil Eltern zwischen den Optionen der Gewährung und Versagung wählen können. Auch wenn im Säuglings- und Kleinkindalter die Fürsorgehaltung so umfassend ist, dass man meinen könnte, es gehe ausschließlich um Bedürfnisbefriedigung und keinesfalls seine Versagung, ist doch das Moment der Versagung als Möglichkeit von Anfang an mit präsent – und sei es nur in der spontanen Haltung des „Nicht schon wieder“ übermüdeter Eltern, wenn das Kind zum dritten Mal in der Nacht weinend aufwacht. Und spätestens dann, wenn das Kind sagen kann „Ich will eine Caprisonne“, wenn also die Bedürfnisartikulationen spezifischer werden, ist die Versagung auch eine manifeste Option. Indem Eltern diese Machtposition füllen, indem sie also eine Wahl zwischen Gewährung und Versagung treffen, können sie nicht anders, als diese Wahl auf der Grundlage normativer Standards zu treffen – mit anderen Worten: Sie können nicht anders, als zu erziehen. Auch wenn diese Standards situativ implizit sein mögen, sie stehen interaktionslogisch betrachtet für eine Auseinandersetzung zur Verfügung. Mit der Möglichkeit der Versagung ist die Möglichkeit des Konflikts verbunden, denn mit der Wahl zwischen Gewährung und Versagung sind aufseiten des Kindes die Optionen Konformität und Widerspruch eröffnet. Die Fall-

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rekonstruktion hat exemplarisch zeigen können, dass beide Optionen eine gewisse interaktive Präsenz der normativen Grundlagen erforderlich machen. Ohne eine solche Präsenz kann das Kind, wie Leon im vorliegenden Fall, die Wunsch- bzw. Bedürfnisversagung weder akzeptieren noch ablehnen, es bleibt ihm im Grunde gar nichts anderes übrig, als in Dauerschleife auf seinem Wunsch zu beharren. Indem seine Mutter ihm gewissermaßen gar nicht erst anbietet, sich als Interaktionspartner zu ihren Beweggründen zu verhalten, sondern konformes Verhalten allenfalls auf der voreingerichteten Beziehungsebene einfordert, vollzieht sie die Einnahme der elterlichen Machtposition, der sie sich gleichzeitig interaktionslogisch entzieht. Deshalb kommt es nicht zu einer wirklichen Konfliktauseinandersetzung, die immer auch – implizit oder explizit – die Verhandlung normativer Geltungsansprüche einschließt. An dieser Stelle ist auf zwei mögliche Missverständnisse einzugehen. Zum einen darf die Unterscheidung der Optionen Gewährung und Versagung hier nicht konkretistisch verstanden werden. Es geht nie bloß um „Ja“ oder „Nein“, wie auch die Fallrekonstruktion zeigen kann. An jeder Sequenzstelle der ­Eltern-Kind-Interaktion gibt es eine Bandbreite von Möglichkeiten, die auch die produktive „Bearbeitung“ des Bedürfnisses selbst einschließen. Entscheidend ist aber, dass alle diese Möglichkeiten letztlich auf das Grundproblem bezogen sind. Zum anderen ist mit der These, dass der Zwang zur Erziehung in der Füllung einer interaktiv gegebenen Machtposition und insbesondere in der Auseinandersetzung mit den Optionen von Gewährung und Versagung angesichts kindlicher Bedürfnisartikulationen entsteht, nicht gesagt, dass Erziehung darin aufgeht. Natürlich können Eltern „von sich aus“ Erziehung in die Interaktion mit den Kindern einspeisen, sie können in vielerlei Hinsicht und auch ohne „Machtanspruch“ versuchen, das Verhalten des Kindes durch Handlungen zu beeinflussen, und sie werden in aller Regel auch erzieherische Ambitionen jenseits von Gewährung und Versagung hegen. Der Punkt ist aber, dass sie im Prinzip darauf auch verzichten können, sei es, weil kulturell Erziehung als bewusste Beeinflussung des kindlichen Bildungsprozesses gar nicht elaboriert ist, sei es, weil eine solche erzieherische Intervention aus bestimmten Gründen abgelehnt wird. Sucht man nach einer strukturellen Verankerung von Erziehung jenseits kultureller oder idiosynkratischer Präferenzen, dann bietet sich die angesprochene Konstellation an: Die interaktive Selbstpositionierung des Kindes als hilfebedürftig erzeugt eine kehrseitige Position der Macht, die gefüllt werden muss. Die Auseinandersetzung mit dem Problem der Gewährung oder Versagung zwingt zu Erziehung, auch wenn man dafür keinen kulturell elaborierten Rahmen besitzt oder es gar nicht will.

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Wenn somit erzieherische Macht nicht nur mit einer kehrseitigen Position der Ohnmacht verbunden ist, sondern nachgerade mit einer solchen Position beginnt, dann zeigt die Fallrekonstruktion, dass jenseits einer nur gleichsam objektiven Inanspruchnahme dieser Position auch ein Komplex eine Rolle spielt, den Wernet als „Verhaltenszumutung der Selbstunterwerfung“ charakterisiert. Die Asymmetrie der Eltern-Kind-Beziehung ist in vielerlei Hinsicht auch in der Interaktion präsent – von der Anrede („Mama“) bis zu Formvorgaben hinsichtlich der Bedürfnisartikulation („bitte“) –, und ihre explizite Markierung scheint wichtig zu sein. Kinder können wissen, dass ihre Position sich von der ihrer Eltern unterscheidet, und anscheinend sollen sie es in gewisser Weise auch wissen. Man könnte dieses Moment der Reflexivität mit der in der Einleitung angesprochenen Parsonsschen Idee von der Selbstverortung im hierarchischen Familiengefüge zusammenbringen. Wenn man nicht davon ausgeht, dass es sich hierbei um nichts als eine geforderte Unterwerfungsgeste handelt, stellt sich die Frage nach ihrem Sinn. Steht die Einnahme einer Position der Unterwürfigkeit in einem produktiven Verhältnis zur Realisierung von Autonomie? Zumindest spricht die Fallrekonstruktion dafür, dass das Loslassen der Gleichzeitigkeit von Ohnmacht und Allmacht, die noch in Äußerungen wie „Ich will eine Caprisonne“ zum Ausdruck kommt, eine erforderliche Bedingung für Autonomieentwicklung darstellt. Das familiale Generationenverhältnis geht jedoch in Asymmetrie nicht auf; es ist kein bloßes Herrschaftsverhältnis. Schon die Fallrekonstruktion hat auf verschiedene Aspekte von Symmetrie und „Gemeinschaft“ hinweisen können. Darüber hinaus sei hier nur auf das wie selbstverständliche Teilen von Emotionen (im Spiel, bei gemeinsamen Erlebnissen), die affektive Grundstruktur der Beziehungen, die interaktionslogische Exklusivität der einzelnen E ­ltern-Kind-Dyaden sowie das damit verbundene dyadische „Wir“ hingewiesen. Die Symmetrie in Eltern-Kind-Beziehungen erscheint so selbstverständlich, dass hier auf die entsprechenden theoretischen Überlegungen, etwa der strukturalen Familiensoziologie (Oevermann 2001, 2014; Maiwald 2010; Funcke/Hildenbrand 2018), nicht eingegangen werden muss. Symmetrie im Interaktionsstil ist ein wesentliches Merkmal der im Verlauf des 19. Jahrhunderts sich herausbildenden „bürgerlichen Familie“ (Tyrell 1976), und es ist ein Merkmal, das in den Entwicklungen seit den 1960er Jahren – wie die angesprochenen Diagnosen des „Verhandlungshaushaltes“ und der „demokratischen Erziehung“ zu Recht hervorheben – noch betont wurde. Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang aber die Frage, was daraus folgt, wenn man anerkennt, dass E ­ ltern-Kind-Beziehungen gleichzeitig auch durch Asymmetrie gekennzeichnet sind. Muss man sich das Verhältnis von Symmetrie und Asymmetrie als Optionalität vorstellen? Etwa in dem Sinne, dass an jeder Sequenz-

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stelle der Interaktion prinzipiell die Möglichkeit besteht, den Modus „Erziehung“ oder den Modus „Gemeinschaftlichkeit“ zu wählen? Oder hat man es mit einem inhärenten, nicht auflösbaren Spannungsverhältnis zu tun? Dann wäre noch in der gemeinschaftlichen Interaktion, noch im Austausch von Intimität ein Moment von Asymmetrie präsent, so, wie kehrseitig noch in der erzieherischen Interaktion, noch im konflikthaften Aufeinandertreffen von Konformitätserwartung und Widerspruch ein Moment von Symmetrie präsent wäre. Hier gibt es einen erheblichen empirischen wie theoretischen Forschungsbedarf. Die Fallrekonstruktion legt die Vermutung nahe, dass dem Mechanismus der „Identifikation“ dabei eine Schlüsselstellung zukommen könnte. Denn in der Identifikation verbinden sich Symmetrie und Asymmetrie auf einer Basis des „sich Gleichens“ mit einem Fluchtpunkt des „der/dem anderen gleichen wollen“. Generalisierende Hypothesen sind ausgehend von der Fallrekonstruktion nicht nur im Hinblick auf die allgemeine Struktur des familialen Generationenverhältnisses möglich. Die Analyse hat verschiedentlich Anhaltspunkte ergeben, die auf einen Zeitgeist real existierender Erziehung verweisen. Darauf möchte ich abschließend zu sprechen kommen. Konkret geht es um diejenigen Formulierungen im Interaktionsprotokoll, die unter Rekurs auf das Alltagswissen als typisch für moderne elterliche Erziehung erkannt wurden. Äußerungen wie „Ich werde gleich richtig sauer“ oder „Lässt du mal bitte jetzt los“ sind zweifellos erzieherische Interventionen. Eltern, die so sprechen, positionieren sich in einem Konflikt, sie wollen eine Verhaltensänderung bei ihren Kindern erreichen, und sie nehmen eine übergeordnete Position in Anspruch. Man kann sich auch problemlos Interaktionsverläufe vorstellen, in denen diese Äußerungen sich in der Folge nicht als so leer erweisen wie im vorliegenden Fall. Die Detailanalyse hat jedoch zeigen können, dass auf der Ebene der latenten Bedeutungsstruktur gleichzeitig etwas ganz anders zum Ausdruck kommt, nämlich eine Haltung, die nicht auf Konflikt eingestellt ist, die ihn nicht wahrhaben will, und in der sich nur noch Enttäuschung über die Nicht-Konformität des Kindes ausdrückt. Das ist das A-Pädagogische daran. Dieser Strukturaspekt weist als Ausdruck eines Syndroms25 moderner Erziehung über den konkreten Fall hinaus. Es geht dabei nicht um einen Erziehungsstil im Sinne einer erzieherischen „Ideologie“, also nicht um eine „Anti-Pädagogik“, wie sie verschiedentlich seit den 1970er Jahren auch theoretisch formuliert wurde. Vielmehr muss man von einer latenten Grund-

25Das

ist hier nicht als Pathologisierung gemeint, sondern nur im Sinne eines Zusammenhangs von Symptomen (Eigenschaften).

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haltung ausgehen, die in erzieherischen Situationen praktisch zum Tragen kommt, indem die objektive Einnahme einer Erziehungs- und Machtposition im hier beschriebenen Sinne einhergeht mit Momenten der Selbstdistanzierung von ihrer Ausfüllung. Eine solche Grundhaltung erzeugt „impulsiv“, also „unbedacht“, die in sich widersprüchlichen Sinnstrukturen der Interaktion, und es ist durchaus vorstellbar, dass sie auch in unterschiedlichen Erziehungs- oder Familienstilen zum Tragen kommt.26 Wie verbreitet dieses Syndrom ist, ist eine weitgehend offene Frage. Gleichwohl spricht – über die im vorliegenden Fall als typisch erkannten Formulierungen hinaus – einiges dafür, dass es sich um ein allgemeines Phänomen handelt. Wernet beispielsweise identifiziert im Kontext schulischer Erziehung einen verbreiteten „Modus der Verschleierung“ erzieherischen Zwangs, der sich darin ausdrücke, dass die „Kinder (…) dazu gezwungen [werden], das ihnen Auferlegte als eine von ihnen gewählte und gewünschte Praxis erscheinen zu lassen“ (Wernet 2019: 15). In medialen Repräsentationen des Generationenverhältnisses lässt sich eine Vereinseitigung von Symmetrie beobachten (Maiwald 2018), und der eingangs skizzierte „blinde Fleck“ in der Familienforschung kann sicherlich auch als Ausdruck einer gewandelten gesellschaftlichen Deutung von „Familie“ in dieser Hinsicht gewertet werden. Und konkret scheint – wie wir im Kontext eines Forschungsprojektes zu Geschlechterdifferenzierungen in Eltern-Kind-Beziehungen27 herausgefunden haben – zumindest in Bildungsmilieus eine Grundhaltung der elterlichen Abstinenz von erzieherischen Interventionen recht verbreitet zu sein. Auch wenn es einige Anhaltspunkte für die Gestalt und Relevanz des hier als „A-Pädagogik“ gekennzeichneten Syndroms gibt, steht systematische Forschung dazu noch aus. Das betrifft auch die binnenfamilialen Zusammenhänge, d. h. die Frage, wie es sich von der Binnendynamik der Eltern-Kind-Beziehungen ausgehend beschreiben lässt. Die Fallrekonstruktion legt die Vermutung nahe, dass auch in dieser Hinsicht „Identifikation“ eine Schlüsselrolle spielt, jetzt allerdings in Gestalt von elterlichen Identifikationserwartungen. Denkbar ist folgende Konstellation: Moderne Eltern sind auf eine Weise auf Symmetrie eingestellt, dass sie unterschwellig davon ausgehen, dass es in einer liebevollen Eltern-Kind-Beziehung keinen Erziehungsbedarf gibt, weil Sozialisation wesentlich über Identifikation erfolgt. Der Ausgangspunkt von Erziehungskonflikten,

26Aus

diesem Grund wird auch nicht von einem „Typus“ gesprochen, sondern von einem „Syndrom“. 27Das von der VW-Stiftung geförderte Projekt hatte den Titel „Paradoxien der Gleichheit in Eltern-Kind-Beziehungen“; Projektmitarbeiterinnen waren Sarah Speck und Inken Sürig.

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d. h. die Non-Konformität des Kindes mit elterlichen Vorgaben, wird dann nicht normativ als eine Frage des falschen Handelns oder gar des „Ungehorsams“ bewertet, sondern als Ausdruck eines Mangels an Identifikation und damit eines Mangels an Liebe verstanden, was sich affektiv als Verletzung bzw. Enttäuschung repräsentiert. Diese Konstellation hat aber auch eine Kehrseite: Wenn Eltern nicht auf Konflikt mit ihrem Kind eingestellt sind, weil sich Konformität gewissermaßen zwanglos qua Identifikation ergibt und weil das Kind diese Konformitätsleistungen selbsttätig und von sich aus erbringt, dann gehen sie strukturell von umfassender, absoluter Konformität aus. Falls diese Kennzeichnung zutreffend sein sollte, dann kommt man zu einem überraschenden und durchaus paradoxen Befund: Mit der modernen „a-pädagogischen Grundhaltung“ geht ein nachgerade absolutistischer Konformitätsanspruch einher.

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K.-O. Maiwald

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Der Schüleraustausch als familiale Selbstzumutung Andreas Wernet

1 Einleitung: Überlegungen zum Schüleraustausch Immer mehr Jugendliche nutzen die Möglichkeit, im Rahmen eines sogenannten Schüleraustauschs1 – es handelt sich dabei nicht um einen konkreten Austausch in dem Sinne, dass die Kinder von Familie A in Land X und Familie B in Land Y für einen bestimmten Zeitraum gleichsam ihre Zimmer tauschen – ein halbes oder ein ganzes Jahr im Ausland zu verbringen und dort die Schule besuchen. Dieser Austausch, der in der Regel vor dem Eintritt in die Oberstufe (also im Alter von 15 bis 17 Jahren) erfolgt, kommt in der Regel so zustande, dass dafür spezialisierte Organisationen Plätze in ausländischen Gastfamilien zur Verfügung stellen und

1Grundlegende

Daten zum Schüleraustausch in Deutschland finden sich in Thiemann 2019.

Die folgenden Ausführungen beruhen auf einem explorativen Forschungsprojekt zum Schüleraustausch, das am Institut für Erziehungswissenschaft der Leibniz Universität Hannover durchgeführt wird. Im Rahmen dieses Projekts werden Interviews und Familiengespräche vor, während und nach dem Schüleraustausch geführt und objektiv-hermeneutisch interpretiert. Ich bin der Projektgruppe – Sandra Kwasniok, Kai Schade, Christian Stichweh, Janna Zieb – zu größtem Dank verpflichtet. Ohne diese Zusammenarbeit und Unterstützung wäre der folgende Text nicht möglich gewesen. Für wertvolle Hinweise danke ich Dorett Funcke. A. Wernet (*)  Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Funcke (Hrsg.), Rekonstruktive Paar- und Familienforschung, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30668-7_8

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für die organisatorische Abwicklung des Auslandsaufenthalts sorgen. Die an einem solchen Aufenthalt Interessierten können sich bei diesen Organisationen beraten und informieren und einen entsprechenden Vertrag abschließen. In der Regel können sie sich für ein Land entscheiden, ggf. für eine Großregion (z. B. Ost- oder Westküste der USA); in der Regel können sie sich aber nicht für eine konkrete Stadt entscheiden. Die Kosten werden von den Familien getragen. Sie bewegen sich, wenn keine teure Privatschule gewählt wird, je nach Land und Schule in einer Größenordnung von zwischen 10.000 und 40.000 €. Einkommensschwache Familien können sich einen solchen Schüleraustausch kaum leisten. Für Angehörige der Mittelschicht ist er, anders als beispielsweise Internatsaufenthalte in England oder den USA, erschwinglich. Die Unterbringung erfolgt in Privatfamilien, die dafür eine Aufwandsentschädigung erhalten. Die Beliebtheit dieser Schülerauslandsaufenthalte kann im weitesten Sinne als Ausdruck einer Weltoffenheit und Weltinteressiertheit im Zeichen einer sich globalisierenden Welt interpretiert werden. Die Jugendlichen wachsen in einer Welt auf, die nicht mehr provinziell verengt und verstellt ist, sondern in der kultureller Austausch selbstverständlich geworden ist und in der auch ein positives Interesse im Sinne einer Aufgeschlossenheit gegenüber kulturellen Differenzen besteht. Dazu gehört die Wertschätzung fremdsprachlicher Kompetenzen. Dass sich deutsche Jugendliche in mittlerer sozialer Lage heute in englischer Sprache verständigen können, ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Und die Kenntnis „nachbarschaftlicher“ Sprachen – Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, Polnisch – hat ihre Exotik verloren. Unabhängig davon, wie viele Jugendliche diese Sprachen tatsächlich beherrschen, trifft ein entsprechendes Interesse bzw. eine entsprechende Fähigkeit im konkreten Fall auf allseitig belobigende Zustimmung, aber keinesfalls auf kopfschüttelndes Erstaunen (Was willst Du denn mit Polnisch?). Der Schüleraustausch scheint dem Zeitgeist also perfekt zu entsprechen. Allerdings wohnt ihm auch ein schematisches Element inne. Weder ist er, als Kollektiverscheinung, mit einer bezüglich der Istwelt besonderen Aura ausgestattet – für die 68er-Generation hat Südfrankreich, Spanien, Portugal oder Italien eine solche Aura besessen, für esoterische Weltfluchten war Indien von großer Anziehungskraft; für linkspolitische Revolutionsträume hat Nicaragua einen großen Reiz ausgeübt –, noch ist er als Individualerscheinung mit einem besonderen, gesteigerten kulturellen Interesse verbunden. Die Wahl eines Gastlandes gleicht eher der Durchsicht des Katalogs eines Reiseanbieters2 im Modus 2Tatsächlich

gleichen die Informationsbroschüren zum Schüleraustausch den Katalogen von Reiseanbietern.

Der Schüleraustausch als familiale Selbstzumutung

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des „das könnte ganz interessant sein“ als dem Modus „da wollte ich immer schon mal hin“. Insgesamt scheint der Auslandsaufenthalt mit einer geringen materialen Kathexis ausgestattet zu sein. Man gewinnt nicht den Eindruck, dass die Mode des Schüleraustauschs von einer neuen Stufe der Weltzugewandtheit getragen ist, einer generalisierten s­ozio-kulturellen Lust an der Entdeckung unbekannter Lebenszusammenhänge, einer gleichsam veralltäglichten ethnografischen Haltung im Gehäuse einer neuen Jugendkultur. Die Entscheidung für einen Schüleraustausch gleicht vielmehr der Wahl eines Musikinstruments im Kontext eines Lebens, in dem das Erlernen eines Instruments zur Normalerwartung gehört und in dem keine dezidierten musikalischen Interessen vorliegen. Dann sucht man sich ein Instrument aus, fängt damit an und kommt zu mehr oder weniger befriedigenden Ergebnissen. So scheint auch der Schüleraustausch einem gewissen Konventionalismus zu unterliegen, unter dessen Einfluss diffuse, unkonturierte Pärferenzüberlegungen zur Wahl „irgendeines“ Landes, in dem man diese Zeit zu verbringen gedenkt, führen. Wenn diese Überlegungen triftig sind, dann bietet es sich an, den Schüleraustausch im Kontext eines milieubedingten Lebensstilkonventionalismus zu verorten. Unabhängig von besonderen Interessen gehört der Schülerauslandsaufenthalt mittlerweile zur Standardoption mittlerer sozialer Lagen. Wer diese Option realisiert, bewegt sich im Kontext eines selbstverständlich gewordenen Erwartungshorizonts. Wer diese Option nicht realisiert, befindet sich in einer tendenziell begründungsbedürftigen Lage. Die Vorzeichen des „burden of proof“ unterliegen einer Tendenzverschiebung: wer geht, wird nicht mit der Frage „warum“ konfrontiert. Wer nicht geht, muss sich die Frage „warum nicht?“ gefallen lassen. Wir dürfen also durchaus annehmen, dass der Schüleraustausch als Distinktionsparameter fungiert und wie viele andere Praktiken auch als sozialisatorischer Beitrag zur Akkumulation kulturellen Kapitals3 beschrieben werden kann. Wenn wir diesen Ungleichheitsparameter in Kategorien des Bildungssystems beschreiben, so können wir sagen, dass er, unterhalb der Bildungselite (Privatschulen und Elitegymnasien), der breiten Mittellage der Gymnasialkohorte ein dualistisch operierendes Distinktionskriterium zur Verfügung stellt. In gewisser Weise ergänzt er damit den distinktiven Dualismus Gymnasium/Nichtgymnasium, der durch die Bildungsexpansion an Kraft verloren hat, um eine neue Komponente. Es liegt nahe, vor dem Hintergrund bildungssystemischer Nivellierungsbewegungen den Schüleraustausch als Moment der Differenzerzeugung zu begreifen. Bemerkenswerterweise vollzieht sich diese Differenzierung aber nicht auf der Achse schulischer

3Zum

Begriff des kulturellen Kapitals: Bourdieu 1992.

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Leistungserbringung.4 Der Schüleraustausch vollzieht sich gewissermaßen im Kontext der Schülerkarriere. Aber sein Selektionsmechanismus beruht nicht auf unterrichtlichen Differenzierungen. Insofern fügt er der Karriere eine leistungsunabhängige, gleichsam außerunterrichtliche Distinktionschance5 hinzu. Wichtiger aber scheint mir zu sein, dass der Schüleraustausch als Distinktionsinstrument kaum in den Wahrnehmungshorizont gerät. Eigentlich weiß jeder, die Jugendlichen genauso wie die Eltern, dass der Schüleraustausch auch als „Bildungstitel“ fungiert. Man produziert mit ihm einen Eintrag in den Lebenslauf im ganz konkreten Sinn: in keinem „cv “ (curriculum vitae) wird er fehlen. Das Wissen darum bleibt aber thematisch ausgeblendet. Die biografische „Nützlichkeit“ spielt, so dürfen wir vermuten (und das belegen auch die Interviews und Familiengespräche, die wir geführt haben), in der interaktiven Auseinandersetzung mit der Option eines Schülerauslandsaufenthalts wenn überhaupt, dann eine untergeordnete Rolle. Ein Jugendlicher würde nicht sagen: „Ich hab mir überlegt, nächstes Jahr ins Ausland zu gehen. Ich glaube, das wird mir später in allen möglichen Bewerbungskontexten Vorteile verschaffen.“ Und die Eltern würden nicht sagen: „Willst Du es Dir nicht noch einmal überlegen? So ein Auslandsaufenthalt ist eine riesen Chance; die solltest Du Dir nicht entgehen lassen.“ Dass dem Schüleraustausch objektiv ein strategisches, interessengeleitetes Moment der Selbstpositionierung im System sozialer Ungleichheit inne wohnt, liegt außerhalb des explizit motivationalen Horizonts der Handlungspraxis. Die Sorgen der Akteure, der Jugendlichen und ihrer Eltern, sind andere. Insofern scheint es gerechtfertigt, von einer nichtintendierten, ungewollten, „harmlosen“ und „unschuldigen“ Distinktion zu sprechen. Diese Harmlosigkeit rührt sicherlich daher, dass der Auslandsaufenthalt als solcher, gleich welcher konkreten Praxis er entspringt, fraglose Zustimmung findet. Die affirmative Kraft des Internationalismus ist derart wuchtig6, dass sich eine strategische Orientierung daran schon verbietet. 4Vgl.

dazu Parsons 1968. Begriff der Distinktion: Bourdieu 1982. 6Als Beleg sei eine Interviewfrage des Journalisten Stephan Seiler an den Bundespräsidenten Dr. Frank-Walter Steinmeier zitiert: „Was halten Sie davon, alle Schüler in Europa auf einen verpflichtenden Interrail-Trip in Nachbarländer zu schicken? Oder auf einen obligatorischen Schüleraustausch?“ (Seiler 2019) Besonders interessant ist hierbei, dass der Schüleraustausch nicht in der Logik der Ermöglichung, sondern in der Logik der Zwangsverpflichtung gedacht wird. Auch wenn wir unterstellen, dass es sich hierbei nicht um eine ernsthafte politische Forderung handelt, erscheint uns die Möglichkeit, in einem medial verbreitenden Interview mit dem Bundepräsidenten diese Vorstellung artikulieren zu können, als symptomatisch für die Wertschätzung, die der Schüleraustausch genießt. 5Zum

Der Schüleraustausch als familiale Selbstzumutung

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2 Der Schüleraustausch als subjektive und familiale Selbstzumutung Anders als andere, der sozialen Ungleichheit und der Distinktion geschuldeten Lebensstilparameter – Wohnlagen, Kleidung, Urlaubsreisen, kulturelle Praktiken, Freizeitpräferenzen usw. – stellt der Schülerauslandsaufenthalt einen unmittelbaren Eingriff in den Prozess der familialen Ablösung dar. Er geht mit Trennungserfahrungen (und deren Bewältigung) einher, die gegenüber den gesellschaftlich bis dahin institutionalisierten Modi der praktischen Ausgestaltung der Ablösung in deutlichem Kontrast stehen. Denn er vollzieht keine allmähliche, alltagspraktische Ablösung von der Herkunftsfamilie. Die Frage (bzw. Option) einer dauerhaften Abwesenheit von der Herkunftsfamilie stellt (bzw. eröffnet) sich normalerweise mit dem Abschluss einer Lehre bzw. mit der Hochschulzugangsberechtigung. In dem ersten Fall ist eine Haushaltsgründung durch das Einkommen ermöglicht; in dem zweiten Fall geht diese Möglichkeit mit dem Studentenstatus und ggf. mit einem entweder notwendig gewordenen oder erwünschten Ortswechsel einher. Im Gegensatz dazu stellt der Schüleraustausch im Kern eine biografisch gleichsam vorgezogene räumliche Trennung von der Herkunftsfamilie dar, die zwar zeitlich begrenzt aber von erheblicher Dauer ist. Die Jugendlichen verbringen im Alter von 15 bis 17 Jahren ein halbes oder ein ganzes Jahr7 im Ausland. Werfen wir einen genaueren Blick auf dieses biografisch und familial eigentümliche Projekt: • Zunächst kann von einer befristeten Auflösung der familialen Lebensgemeinschaft gesprochen werden. Schon dieser freiwilligen, ohne äußere Notwendigkeit in Kauf genommenen Trennung wohnt ein eigentümliches Moment einer außeralltäglichen Selbstzumutung und Selbstprüfung inne. Wieso sollte man eine Lebensgemeinschaft ohne äußeren Anlass für ein Jahr aussetzen? Denkbar wäre das als verzweifelter Versuch der Bearbeitung einer Beziehungskrise („Wir brechen für ein Jahr den Kontakt ab und sehen danach, was wir uns bedeuten“) oder als Prüfung der Verbindlichkeit einer Liebesbeziehung (wie sie etwa in „Krieg und Frieden“ Natascha und Andrej auferlegt wird). Aber

7Wobei

den Jugendlichen von den Vermittlungsinstitutionen die Einjahresvariante empfohlen wird.

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im normalen, alltäglichen Leben und seinen Krisen treffen wir eine solche „Maßnahme“ nicht an. • Natürlich steht der Schüleraustausch im Kontext eines adoleszenten Ablösungs- und Autonomisierungsprozesses. Er ist von der Idee eines großen „Entwicklungsfortschritts“ der Jugendlichen begleitet. Symbolisch stellt er gleichsam das Gegenmodell zum „Hotel Mama“ dar. Diese Imagerie einer Progression der Autonomisierung und Ablösung erweist sich aber bei näherem Hinsehen als wenig triftig. Denn der „progressive“ Schritt nach außen geht mit einer „regressiven“ Rückkehr einher. Der Schüleraustausch folgt nicht der Logik einer progredienten Bewegung im Sinne eines allmählichen und schrittweisen Fortschritts, sondern der Logik eines Intermezzo. Er stellt keinen Schritt dar, dem ein nächster folgt, sondern ein Schritt, dem ein „Rückschritt“ folgt. Hinsichtlich des jugendlichen Ablösungsprozesses und des familialen Auflösungsprozesses könnte man von einem zentrifugalen Trennungsintermezzo sprechen.8 Der subjektive und familiale Normalzustand wird verlassen, um zu ihm zurück zu kehren. Angesichts der dabei in Kauf genommenen Belastungen, vor allem für die Jugendlichen, aber auch für die Eltern, scheint es mir angebracht, von einer potenziellen Selbsttraumatisierung zu sprechen. Die Beteiligten begeben sich in eine schmerzvolle Situation der Erschütterung und kehren in eine Normalität zurück, in der diese Erschütterung verarbeitet werden muss. • Die Überspanntheit, die diesem Trennungsintermezzo eigen ist, zeigt sich auch in der restriktiven Reglementierung des Kontakts zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern. Zum Schüleraustausch gehört, dass der medial vermittelte Austausch während der räumlichen Trennung nicht entlang spontaner Kommunikationsbedürfnisse erfolgt, sondern einem Vermeidungs- bzw. Seltenheitsdiktat unterliegt. In der entspannten Trennungssituation telefoniert man einfach miteinander oder schreibt sich eine durchs Internet zeitgleich übermittelte Nachricht; je nach momentaner Befindlichkeit. Die Trennungssituation des Schüleraustauschs ist aber nicht entspannt. Die Kontaktarmut soll helfen, das Heimweh zu bewältigen und zu unterdrücken, statt es zu schüren. Diese alltagstüchtige und – taugliche Strategie ist eine der Härte. Der Schüleraustausch ist eine Schule der Disziplinierung, des Durchhaltens, der Abhärtung.

8Zu

den Begriffen „zentrifugal“ und „zentripetal“ im Kontext des Ablösungsprozesses: Stierlin/David/Savard 1980.

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• Dem steht die Aussicht auf eine Erfahrungsbereicherung gegenüber. Zweifelsohne eröffnet der Schüleraustausch den Jugendlichen neue Erfahrungsräume und verspricht insofern per se einen Erfahrungszuwachs, eine Bildungserfahrung. Aber diese Erweiterung des Erfahrungshorizonts geht nicht mit einem Zuwachs an Handlungsautonomie einher. Die Jugendlichen betreten mit dem Schüleraustausch eine Welt, die nicht durch einen Gewinn an Entscheidungs- und Handlungsautonomie geprägt ist, sondern durch eine Zunahme an heteronomen Restriktionen. Die Alltagserfahrung des Schüleraustauschs ist durch Anpassungsleistungen geprägt: Anpassungen an die Gepflogenheiten der Gastfamilie; Anpassungen an die Gepflogenheiten des Schulalltags; Anpassungen an die z. T. rigiden Vorschriften der den Austausch begleitenden Organisationen. Mit dem Auslandsaufenthalt betreten die Schüler also eine höchst reglementierte Welt. Sie steht eher im Zeichen der Erduldung und Bewältigung von Fremderwartungen, als im Zeichen der Orientierung an und des Abschreitens von Autonomiehorizonten. Entgegen des eigeschliffenen Positivnarrativs liegt es also nahe, den Schüleraustausch auf die ihm innewohnenden Selbstzumutungen hin zu befragen. Diese Selbstzumutungen liegen in einer außergewöhnlichen Weise im Schnittfeld von Gesellschaft und Familie. Der Schüleraustausch als gesellschaftliche Institution steht im Zeichen eines bemerkenswerten Strukturzusammenhangs zwischen gesamtgesellschaftlichen und innerfamilialen Dynamiken. Als Kollektiverscheinung generiert er einen Erwartungshorizont, der nicht einfach nur, im Sinne milieutypischer Lebensstile, als normativer Rahmen für familiales Handeln fungiert, sondern der einen Eingriff in die Binnenstruktur der diffusen Sozialbeziehung darstellt. Denn einerseits gründet die Entscheidung, an einem Schüleraustausch teilzunehmen, zweifelsohne auf der gesellschaftlich eingerichteten Möglichkeit ebenso wie auf der gesellschaftlich eingerichteten hohen Wertschätzung von Mobilität und Internationalität. Aber zugleich stellt die Entscheidung für einen Schüleraustausch eine zutiefst „private“ Entscheidung dar.

3 Explikationen am Fall Im Folgenden sollen einige Aspekte des Schüleraustauschs am konkreten Fall rekonstruiert und diskutiert werden. Ich habe dazu den Fall eines Schülers und seiner Familie ausgewählt, bei dem milieubezogen und familial – besonders hinsichtlich der Lebenseinstellung- und Haltung der Mutter – die Entscheidung für einen Schüleraustausch alles andere als überraschend ist.

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Familienkurzportrait9 Tom, der zum Zeitpunkt des Familiengesprächs (Dezember 2018) 16 Jahre alt ist, wächst in einem gehobenen akademischen Milieu auf. Der Vater ist akademischer Psychologe und arbeitet an einer Universität (in welchem Anstellungsverhältnis, wissen wir nicht). Die Mutter ist Fachärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Tom wächst zusammen mit seiner 4 Jahre älteren Schwester Pia auf. 2011 (Tom ist 9 Jahre alt, Pia 13) trennen sich die Eltern (auf Betreiben des Vaters); 2013 erfolgt die Scheidung. Der Vater heiratet 2018. Im Alter von 16 zieht Pia zu ihrem Vater (zeitgleich mit einem „ersten Partnerschaftsversuch“ der Mutter; so die Mutter im Interview). Seither lebt Tom alleine mit seiner Mutter. In dem Einfamilienhaus, das sie bewohnen, ist auch die Praxis der Mutter untergebracht. Vor allem mütterlicherseits ist eine internationalistische Haltung stark ausgeprägt. Schon während ihres Medizinstudiums hat sie Auslandspraktika in Frankreich und Zimbabwe absolviert. Sowohl Tom als auch seine vier Jahre ältere Schwester besuch(t)en bilinguale (Französisch/Deutsch) Schulen. Die Großmutter besitzt ein Anwesen auf den Canaren, das regelmäßig, auch für Kurzurlaube, aufgesucht wird. Die Erfahrung von durchaus auch exotischen Fernreisen ist für Tom eine Selbstverständlichkeit (z. B. Mauritius). Von ihrem Bruder sagt die Mutter, „der lebt eigentlich überall, der lebt globalisiert.“ Wir können also sagen, dass hinsichtlich des ökonomischen und des kulturellen Kapitals der Familie die Entscheidung für einen Schüleraufenthalt naheliegt. Das Wertemuster von Internationalismus und Mobilität ist für Tom nicht nur qua Teilhabe am akademischen Milieu verankert; es wird durch Aspekte der familialen Lebensführung (Mutter, Großmutter, Onkel mütterlicherseits) und durch elterliche Erziehungs- und Bildungsentscheidungen (Fernreisen, bilinguale Schule) pointiert als familiales Wertemuster repräsentiert. Eine internationale Orientierung kann als Erwartungshaltung der Eltern (vor allem der Mutter) an ihre Kinder gesehen werden. Insofern liegt einerseits die Entscheidung für einen Schüleraustausch nahe. Andererseits besteht auch nicht die Notwendigkeit, den Schüleraustausch gleichsam als außergewöhnliche Gelegenheit einer Außenorientierung zu nutzen. Tom ist in beide Richtungen privilegiert: ohne Weiteres kann er den Schüleraustausch antreten; aber ohne Weiteres kann er auch

9Im

Folgenden finden sich nur einige sehr flüchtige Notizen zur Familien- und Bildungskonstellation. Auf eine ausführliche, fallerschließende Genogrammanalyse (zu dieser Methode: Hildenbrand 2005) muss hier aus Platzgründen verzichtet werden.

Der Schüleraustausch als familiale Selbstzumutung

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darauf verzichten und die Zeit vor dem Studium bzw. während des Studiums zu Auslandsaufenthalten nutzen. Fallrekonstruktion: Geschwisterrivalität und ödipale Verstrickungen – Zu den familial-beziehungsdynamischen Motivlagen des Schüleraustauschs10 In dem Familiengespräch, an dem Tom und seine Mutter teilnehmen, kommt es zur Thematisierung der vier Jahre älteren Schwester von Tom. Nachdem man erfährt, dass sie Wirtschaftswissenschaft studiert und beim Vater lebt, stellt die Interviewerin (Fw) die Frage: Fw:  TM:  Fw:  TM: 

o k, und äh war sie auch im ausland? oder; #00:31:11–4# nein. #00:31:12–5# und is das noch n' thema jetz im studium? #00:31:14–3# sie redet manchmal davon aber = ä sie is (1) witzigerweise letztlich we:nige:r:, (4) weniger autonom als Tom*. (.) sie is vier jahre älter, aber sie is weniger autonom als Tom*, und ihr würd = ich es: (1) glaub = ich nich so zutraun wie dir; (.) #00:31:34–4#

In gewisser Weise repräsentiert diese Nachfrage jene Fraglichkeit, die dem gesamtgesellschaftlichen Erwartungshorizont entspricht. Dass es sich dabei um die „Gretchenfrage“ handelt, wird durch das ok markiert. Damit wird alles bisher über die Schwester Gesagte gleichsam abgehakt und als „schön und gut“ abgetan (z. B. im Gegensatz zu einer Nachfrage bezüglich der Entscheidung, Wirtschaftswissenschaft zu studieren). Dass diese Nachfrage nach einem Auslandsaufenthalt zugleich eine gewisse Brisanz besitzt, wird durch das äh sichtbar. Es ist eben keine „harmlose“ Nachfrage nach geschwisterlichen Parallelen. Die Nachfrage, ob die Schwester wohl auch einer Sportart nachgeht oder auch ein Musikinstrument spielt, wäre schwerlich vorstellbar in der Form: „Ok, und macht sie äh auch Sport/Musik?“11 Dass hier eine Anspannung im Spiel ist, zeigt sich

10In

der folgenden Fallanalyse klingen immer wieder theoretische Referenzen zu familien-, sozialisations- und adoleszenztheoretischen Theoriekonzepten an. Um die Fallrekonstruktion damit nicht zu überfrachten, verweise ich hier exemplarisch auf: Allert 1998, Funcke 2017, Funcke/Hildenbrand 2018, Hildenbrand 1999, King 2013, 2018, Maiwald 2018, Oevermann et al. 1976, 2001, 2004, Wernet 2003, 2009, 2019. 11Eine solche Nachfrage wäre allerdings typischerweise in einer Sportler- oder Musikerfamilie zu erwarten.

270

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in der Antwort der Mutter. Sie antwortet mit einem stumpfen nein. Darin kommt eine Themenschwere und Bedrückung zum Ausdruck. Denn offensichtlich ist die Frage der Interviewerin aus der Perspektive der Mutter keine Bagatelle. Sie sagt nicht: „Nee, i wo, das ist nicht ihr Ding“ oder ähnlich Beiläufiges. Damit hätte die Mutter die Frage des Auslandsaufenthalts in Form des Schüleraustauschs als subjektive Lebenspräferenz ihrer Kinder behandelt, die für sie selbst nicht weiter von Bedeutung ist; jedenfalls nicht von jener Bedeutung, die im Zeichen einer beunruhigenden Sorge steht. Die Last und Schwere, die durch das nein zum Ausdruck kommt, kann sich kaum auf den bloßen Sachverhalt, dass die Tochter an keinem Schüleraustausch teilgenommen hat, beziehen. Der Sprechakt: „Ich mache mir Sorgen, dass Pia nicht ins Ausland wollte“, ist eigentlich unvorstellbar. Auf diese Äußerung hin könnte keine tröstende Beruhigung erfolgen. Sie würde vielmehr mit einer scharfen Kritik beantwortet werden: „Also Du spinnst doch. Wenn Pia einmal ins Ausland will, dann wird sie das schon tun.“ Eigentlich wäre in dem Themenkontext des Schüleraustauschs auch eher eine umgekehrte Sorge und Beschwernis zu erwarten. Würde etwa gerade der Auslandsaufenthalt von Pia anstehen und gefragt werden, ob der vier Jahre jüngere Bruder Tom auch einmal ins Ausland wolle, wäre ein stumpfes ja als Ausdruck der mütterlichen Sorge jedenfalls insofern erwartbar und nachvollziehbar, als hier tatsächlich ein tröstender Sprechakt vorstellbar wäre: „Mach Dir keine Sorgen, es wird schon alles gut gehen.“ Die Bedrückung kann eigentlich nur auf der geschwisterlichen Relation, die die Frage der Interviewerin beinhaltet, beruhen; also nicht auf der Frage, ob Pia im Ausland war, sondern auf der Frage, ob sie auch, wie ihr Bruder Tom, im Ausland war. Diese Bedrückung im Sinne einer elterlichen Sorge wäre dann nachvollziehbar, wenn sie die Form der Frage: „Wieso ist Pia nicht gegeben, was Tom gegeben ist“, annehmen würde. Diese Frage lenkt den Aufmerksamkeitsfokus auf Tom. In gewisser Weise lenkt erst seine Entscheidung für den Schüleraustausch die Sorge der Mutter in Richtung der Tochter. Seine „Gabe“, sich den Auslandsaufenthalt zuzutrauen, die ihm zweifellos die Anerkennung und den Stolz der Mutter einbringt und die ihm auch eine Überlegenheit gegenüber der älteren Schwester verschafft – und zwar sowohl hinsichtlich familienübergreifender, gesellschaftlicher Wertschätzung als auch hinsichtlich des normativen Erwartungshorizonts der Mutter –, führt dazu, dass seine Schwester zum „Sorgenkind“ wird; in dem doppelten Sinne, dass sie zwar dem mütterlichen Stolz verlustig geht, dafür aber der mütterlichen Sorgezuwendung gewiss ist.

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Fw:  u nd is das noch n' thema jetz im studium? #00:31:14–3# TM:  sie redet manchmal davon aber = ä sie is (1) witzigerweise letztlich we:nige:r:, (4) weniger autonom als Tom*. (.) sie is vier jahre älter, aber sie is weniger autonom als Tom*, und ihr würd = ich es: (1) glaub = ich nich so zutraun wie dir; (.) #00:31:34–4# Auf die Nachfrage der Interviewerin, ob ein Auslandsaufenthalt vielleicht noch im Rahmen des Studiums thematisch sei, antwortet die Mutter zunächst: sie redet manchmal davon. Der resignative Ton, der hier anklingt, passt zu dem vorangegangenen nein: sie redet manchmal davon, aber ich glaube, das wird nichts. Das ganze Ausmaß ihrer Enttäuschung und Sorge wird dann im Folgenden deutlich. Die mit aber eingeleitete Überlegung bricht die Mutter ab, um festzustellen: sie is (1) witzigerweise letztlich we:nige:r:, (4) weniger autonom als Tom. (.) sie is vier jahre älter, aber sie is weniger autonom als Tom. Im Kern steht die Aussage, (1) dass Pia weniger autonom ist als Tom und (2) dass das insofern bemerkenswert ist (witzigerweise), als Pia vier Jahre älter ist als ihr Bruder. Insgesamt bestätigt sich damit die bisherige Interpretation. Dem Stolz auf ihren Sohn korrespondiert die Sorge um die Tochter. (1) Aufschlussreich ist zunächst natürlich die Autonomiezuweisung. Wenn wir sie alltagsbildungssprachlich mit der Attribuierung von Selbstständigkeit gleichsetzen, wird sichtbar, dass sich die mütterliche Sorge auf ein (vermeintliches) Lebensdefizit der Tochter bezieht. Anders als die Sorge um Erfolg (Stolz auf die guten schulischen Leistungen des einen, Ärger über die schlechten schulischen Leistungen des anderen) oder die Sorge bezüglich „abweichenden Verhaltens“ (Drogen, „falsche Freunde“, radikale Lebensanschauungen) wohnt der Befürchtung eines Autonomiedefizits eine substanzielle, tiefergehende Sorge inne. Während die Frage des Erfolgs eine relative und bezüglich des jugendlichen Lebens vorläufige ist und einem vermeintlichen Mangel an Erfolg immer auch eine diesen Malus heilende Lebenszufriedenheit gegenüber gestellt werden kann, stehen die elterlichen Sorgen, die das „abweichende Verhalten“ der jugendlichen Kinder betreffen, von vornherein unter dem Vorzeichen lebensphasenspezifischer Anpassungsprobleme. Sofern es sich nicht um dramatische, verzweifelte Lebenssituationen handelt, kann man darauf vertrauen, dass sich die Probleme „auswachsen“. Dagegen erscheint ein Autonomiedefizit als fundamentales Lebensproblem. Der Formulierung, dass Pia weniger autonom als Tom ist, wohnt dabei als mütterlicher Sprechakt eine eigentümlich Schwere inne. Weniger sportlich, weniger fleißig, weniger musikalisch, weniger freundlich, weniger gesprächig, weniger ambitioniert, usw.; darin würden elterlich attribuierte Differenzen

272

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zwischen Geschwistern zum Ausdruck gebracht, die, obwohl sie auf einem Mangel an Positivattribuierung beruhen, nicht weiter „bedenklich“ sind. Das liegt einfach daran, dass dem „weniger“ ein „mehr“ gegenüber gestellt werden kann: „weniger sportlich, aber mehr musikalisch“; „weniger fleißig, aber zufriedener “, „weniger gesprächig, aber bedachter “ usw. Eine solche Positivgegenüberstellung lässt sich für das Attribut weniger autonom nicht finden. Die Figur der Zuweisung unterschiedlicher Stärken und Schwächen, die für die elterliche Attribuierung der Kinder geläufig ist, greift hier nicht. Es ist eher die Figur des Sorgenkindes, die hier thematisch ist. Um Tom braucht die Mutter sich keine Sorgen zu machen. Er ist autonom; d. h.: er kann sein Leben selbstständig bewältigen und gestalten. Das gilt für die ältere Schwester Pia nicht. Sie bereitet der Mutter Sorgen und sie kommt zugleich in den Genuss der mütterlichen Sorge. (2) In der Aussage der Mutter wird ein Entwicklungsmodell der Autonomie in Anspruch genommen: Obwohl Pia vier Jahre älter ist, ist sie weniger autonom als Tom. Normalerweise würden wir eine solche Aussage bezüglich entwicklungstypischer Fähigkeiten erwarten. Wenn man vier Jahre älter ist, kann man normalerweise besser schwimmen, besser Fahrrad fahren, besser lesen, schreiben und rechnen, besser Pflichten nachkommen usw. Wenn das nicht der Fall ist, ist das bemerkenswert. Man sieht an diesen Beispielen aber auch, dass sie in der Welt der Kindheit angesiedelt sind. Bei 16- und 20jährigen macht es keinen Sinn mehr, eine Differenzwahrnehmung bezüglich solcher Fähigkeiten „kontraindikativ“ an das Alter zu knüpfen. Diese beiden Aspekte verweisen also darauf, dass die Mutter das Autonomiekonzept gleichsam wie eine altersbedingte Fähigkeit behandelt, und dass sie über ihre Kinder im Zustand der Kindheit spricht. Zwischenresümee Die Verwobenheit gesellschaftlich-normativer und genuin familialer Motive zeigt sich in der vorangegangenen Fallrekonstruktion in mehreren Hinsichten. • Als Person hat die Mutter das Muster der gesellschaftlichen Wertschätzung von Mobilität und Internationalität derart internalisiert, dass dieses Muster einerseits einen unhinterfragten, identitätsstiftenden Orientierungsrahmen für ihr Handeln darstellt und andererseits nicht nur als Motiv der Erziehung fungiert, sondern auch als konstitutives Element der diffusen Sozialbeziehung angesehen werden kann. Es repräsentiert nicht einfach nur eine normative Erwartung der Mutter an ihre Kinder; es wird darüber hinaus zu einem konstitutiven Moment der Eltern-Kind-Beziehung. Die Mutter wünscht nicht

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nur, ihre Kinder mögen diesem Muster folgen; die Befolgung bzw. Nichtbefolgung wird selbst zum Beziehungselement. • Dass es sich dabei um mehr als einen beziehungsunspezifischen Erwartungshorizont handelt („Ich hätte mir gewünscht, dass meine Tochter einen technischen Beruf ergreift“12), zeigt sich in dem Motiv der mütterlichen Sorge. Bezüglich der eigenen Erwartungen wird die Tochter nicht als eigenwillig oder „störrisch“ charakterisiert (das würde der Situation der Erwartungsenttäuschung entsprechen), sondern als „Sorgenkind“. In dieser Hinsicht erscheint das Autonomiedefizit von Pia (im Sinne der inneren Realität der Mutter) als „Lebensdefizit“; als „Lebensschwäche“ im Sinne einer Bedrohung einer vollwertigen Lebenspartizipation. • Dass sich die „kosmopolitische“ Haltung der Mutter nicht einfach nur in einem normativen Erziehungsprinzip Ausdruck verschafft, sondern darüber hinaus ein genuines Motiv von Bindung und Lösung enthält, zeigt sich in der latenten „Verkindlichung“ ihrer jugendlichen Kinder. Auf manifester Ebene ist sie eindeutig an einem Autonomiekonzept orientiert, in dem die Bereitschaft ihrer Kinder zum Auslandsaufenthalt gleichsam als Gradmesser einer von ihr erwünschten und substanziell als notwendig empfundenen Selbstständigkeit fungiert. Auf latenter Ebene zeigt sich ein gegenläufiges Motiv. In paradoxaler Weise ist der an die Kinder gerichtete Wunsch nach Weltoffenheit verwoben mit dem Wunsch, sie mögen Kinder bleiben. Wie ein „Expatriate“ durch den Auslandsaufenthalt seine Gebundenheit an sein Unternehmen unter Beweis stellt, liefert der Auslandsaufenthalt der Kinder den Beweis der Gebundenheit an die Mutter. Insofern erweist Tom durch seine Bereitschaft, einen Auslandsaufenthalt in Form eines Schüleraustauschs zu absolvieren, seine Gebundenheit an die Mutter; er erweist sich („witzigerweise“) als „Muttersöhnchen“. • Insofern reproduziert sich hier auf der Beziehungsebene jene Logik, die dem Schüleraustausch als gesellschaftliche Institution innewohnt: er stellt keinen Ablösungsschritt dar, sondern ein Trennungsintermezzo, an dessen Ende die Rückkehr in die Familie steht; eine Bewegung, die nicht weg führt, sondern zurück führt. Die Gleichzeitigkeit, mit der die Mutter einerseits ein kosmopolitisch aufgeschlossenes Erziehungskonzept vertritt und insofern ihre Kinder nicht nur bezüglich einer so verstandenen Weltoffenheit unter-

12Dieser

Sprechakt verweist natürlich insofern auf eine Beziehung, als von der Tochter gesprochen wird. Er ist aber insofern beziehungsunspezifisch, als in ihm eine allgemeine Erwartungshaltung an die Tochter und gleichsam unabhängig von ihr zum Ausdruck kommt.

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stützt, sondern diese geradezu verlangt, andererseits ihre Kinder im Modus der Kindheit konzipiert, weist eine Strukturhomologie zur äußeren Dynamik des Schüleraustauschs auf. So wird verständlich, dass die Auslandsorientierung der Mutter eine Strategie darstellt, die Kinder zu binden und diese Bindung zugleich – auch vor sich selbst – zu verschleiern. Umgekehrt erscheint aus dieser Perspektive die Sorge um Pia ambivalent verfasst: es ist nicht nur die Sorge um deren mangelnde Selbstständigkeit (die sich in ihrer Auslandsabstinenz zeigt), sondern auch und gleichzeitig die Sorge um den Verlust der Tochter. Denn Pia erweist sich als weniger an die Mutter gebunden als Tom. Verfolgen wir die Interpretation noch einen Schritt weiter: TM:  s ie redet manchmal davon aber = ä sie is (1) witzigerweise letztlich we:nige:r:, (4) weniger autonom als Tom*. (.) sie is vier jahre älter, aber sie is weniger autonom als Tom*, und ihr würd = ich es: (1) glaub = ich nich so zutraun wie dir; (.) #00:31:34–4# Die Mutter beendet ihre Rede damit, dass sie zu Tom gewendet sagt: und ihr würd ich es glaub ich nich so zutraun wie dir. Inhaltlich wird damit das bisher Gesagte fortgeführt und ergänzt. Insbesondere der Vergleich zwischen den beiden Kindern, der zugunsten von Tom ausfällt, wird fortgeführt. Darauf braucht in der folgenden Interpretation nicht noch einmal eingegangen zu werden. Die Interpretation abkürzend fokussiere ich im Folgenden auf drei Aspekte dieser Äußerung: (1) Schauen wir zunächst auf das Verb zutraun. Es setzt das Urteil mangelnder Autonomie fort. Denn auch hier geht es nicht um subjektive Vorlieben und Präferenzen von Pia (ich glaub, das ist nicht so ihr Ding; ich glaube, Pia hat daran kein Interesse), sondern um das Urteil, dass etwas nicht zur Verfügung steht. Und dieses Etwas stellt ein gegenüber alltäglichen Fähigkeiten oder Leistungen Herausgehobenes dar, das auf außerordentliche Leistungen der Selbstbehauptung oder Selbstsicherheit zielt. Es geht um eine Selbstexposition, die sich etwa in der Übernahme von Leitungsaufgaben oder in der Übernahme anderer, herausgehoben-exponierter Aufgaben (vom entscheidenden Elfmeter bis zur erfolgreichen Bewältigung einer Unternehmung) zeigt. Mit anderen Worten: es geht um die Sphäre der Bewährung und des Scheiterns. Damit reproduziert sich auch die „Höherwertigkeit“ von Tom. Die Mutter traut dem Sohn etwas zu, das sie der Tochter nicht zutraut. Unausgesprochen ist mit dem Nichtzutraun auch eine Selbstüberschätzung thematisch. Denn einem anderen etwas nicht zuzutrauen macht ja nur dann

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Sinn, wenn der andere (wenigstens potenziell) ambitioniert ist. Wenn zum Beispiel ein Angestellter in einer Filiale sich als derart tüchtig erwiesen hat, dass die Unternehmensleitung erwägt, ihm die Leitung der Filiale anzubieten, könnte ein Angehöriger der Leitungsebene sagen: „ich würd es ihm nicht so zutraun“. Dagegen macht es keinen Sinn einem Hinterbänkler nicht zuzutrauen, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Denn er kommt dafür gar nicht infrage. Diese Überlegungen zeigen, dass die Mutter implizit von einem mehr oder weniger ausgeprägten Selbstanspruch der Tochter ausgeht. Darin ist eine Tendenz zur Projektion zu sehen. Auf latenter Ebene legt sie der Tochter ihre eigenen Ambitionen „in den Mund“. Würde diese, wäre sie anwesend, beispielsweise sagen: „ich will doch gar nicht ins Ausland“, hätte sich die Frage des Zutrauens, die die Mutter beschäftigt, erübrigt. (2) Interessant ist das es. Was genau traut die Mutter ihrer Tochter nicht zu? Die Frage der Interviewerin war ja, ob bei Pia das im Ausland sein im Studium noch ein Thema ist. Traut die Mutter ihrer Tochter nicht zu, während des wirtschaftswissenschaftlichen Studiums ein Auslandspraktikum oder ein Auslandssemester zu absolvieren? Das wäre eigentümlich. Wieso sollte jemand, der keinen Schüleraustausch machen will, nicht ein Auslandssemester absolvieren? Ein anderer Kandidat für das Nichtzutrauen ist der Schüleraustausch selbst. Allerdings hätte die Mutter dann eigentlich sagen müssen: „Ich habe es ihr nicht zugetraut.“ Dass die Mutter nicht in der Vergangenheitsform spricht, verweist darauf, dass der Zutrauensmangel situativ und zeitlich unspezifiziert ist. Die Mutter spricht aus der Perspektive eines generalisierten, nicht relativierten und nicht korrigierbaren Zutrauensmangels: ich traue ihr weniger zu als Tom. (3) Das bemerkenswerteste Detail der Äußerung der Mutter besteht aber darin, dass sie zu Tom spricht. Schon die Satzstellung (ihr würd ich es statt ich würd es ihr) verweist auf den Vergleich von Pia und Tom. Damit reproduziert sich die Figur der Überlegenheit von Tom, die wir oben herausgearbeitet haben. Das braucht hier nicht weiter vertieft zu werden. Dass die Mutter sich aber mit dieser Aussage an ihren Sohn wendet (wie dir), ist von besonderer Brisanz. Schon die inhaltliche Aussage als solche in Gegenwart von Tom stellt in gewissem Sinne eine Indiskretion und damit eine parteiisch anmutende Geste dar. Würde die Mutter in einem Einzelinterview über Unterschiede zwischen ihren Kindern berichten, wäre das weit weniger bedeutsam als in Anwesenheit einer der beiden. Umgekehrt hätte sie in Anwesenheit von Tom die Zutrauensfrage umschiffen und Pia bezüglich der Frage des Auslandsaufenthalts gleichsam in Schutz nehmen können; zur Not durch die Verweigerung einer konkreten Antwort: ich weiß gar nicht, ob Pia noch Auslandspläne hat. Schon durch den Inhalt ihrer Äußerung zieht sie also Tom ins Vertrauen.

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Die direkte Ansprache steigert diese Logik. In anderen Kontexten würde die Aussage der Mutter als Versuch der kommunikationsstrategischen Allianzbildung verstanden werden können. Stellen wir uns das Gespräch zwischen einem Vorgesetzten und einem ambitionierten Untergebenen vor. Dann würde die Aussage: „Müller würd ich das weniger zutrauen als Ihnen“ nicht nur ein Urteil darstellen, sondern auch eine dyadische Koalitionsbildung mit dem so adressierten gegen den Abwesenden. Dieser Koalitionsbildung wohnt ein manipulatorisches Element inne. Denn auf einer ersten Ebene stellt der Sprechakt gegenüber Müller eindeutig eine Privilegierung dar. Aber anders als in derjenigen Situation, in der die bewerteten Personen abwesend sind (ich traue Müller mehr zu als Meier), bringt der vorliegende Sprechakt kontextuell weniger die Präferenz für Müller zum Ausdruck, als vielmehr den Versuch, Müller auf seine Seite zu ziehen. Das sieht man auch daran, dass dieser Sprechakt unter Anwesenheit von Meier eigentlich unvorstellbar ist. Insofern ist die so vorgenommene Privilegierung von Müller ­sprechaktund beziehungslogisch eine Manipulation. Müller soll glauben, dass er der Favorit ist. Er soll nicht fragen, was sagen Sie eigentlich Meier?; er soll sich als dankbar, geschmeichelt und geehrt erweisen. Im Kontext der Mutter-Sohn-Beziehung ist diese Interaktionslogik von besonderer Brisanz. Die exklusive Vertrautheit, die von der Mutter vordergründig eingerichtet wird, zielt auf eine Mutter-Sohn-Dyade gegen die Tochter/Schwester und insofern auf ein ödipales Bündnis zwischen Mutter und Sohn. Insofern reproduziert sich hier abermals das thematische Leitmotiv der Höherschätzung von Tom. Allerdings steht das hier geschlossene dyadische Bündnis unter einem manipulativen Vorzeichen. Der Sprechakt bringt keine authentische Bindungsqualität zu Tom zum Ausdruck, sondern folgt der Logik einer ödipalen Verführung. Er legt Tom die Vorstellung einer exklusiven Mutter-Sohn-Dyade nahe. Diese Dyade wird sprachlich als Vorstellung – als ödipale Imagerie – evoziert, aber nicht kommunikativ realisiert. Die dyadische Adressierung der Mutter ist nicht Ausdruck einer exklusiven Mutter-Sohn-Dyade, sondern Ausdruck einer manipulatorischen Adressierung von Tom. Er wird kommunikativ umgarnt mit der vermeintlichen Aussicht auf eine exklusive Mutter-Kind-Relation. Wir stoßen hier also abermals auf eine sinnstrukturelle Verwerfung der latenten zu den manifesten Motiven. Auf manifester Ebene ist Tom der Autonome, der sich des Zutrauens der Mutter gewiss sein kann und der in den Genuss der Exklusivität der Mutter-Sohn-Dyade kommt. Auf latenter Ebene hat sich schon bezüglich des Autonomiemotivs eine Irritation ergeben. In der inneren Realität der Mutter erweist Pia sich gerade durch ihre Resistenzen gegenüber den mütterlichen Projektionen als autonom und in gewissem Sinne als Tom überlegen.

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Nun erweist sich auch die exklusive Mutter-Sohn-Dyade, die die Mutter in der Adressierung ihre Sohnes anklingen lässt, als vordergründig und brüchig. Der beziehungsmanipulative Sprechakt erweist sich hintergründig als kontrafaktische Herstellung von Exklusivität. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn wir feststellen, dass die Mutter versucht, Tom an sich zu binden und ihn mit ihren lobenden und schmeichelnden Worten und Adressierungen in eine exklusive Beziehungssolidarität einbindet. Diese manipulatorische Bindungslogik ist deshalb nicht leicht zu durchschauen, weil sie mit dem inhaltlichen Konzept von Autonomie und Selbstständigkeit operiert. Das „zentripetale“ Beziehungsmotiv der Mutter tarnt sich gleichsam mit einem „zentrifugalen“ Lebens- und Erziehungskonzept. Damit ist jene Beziehungsfalle gebaut, in der die Aufforderung der Mutter: „Sei autonom und weltoffen“ von dem Sohn mit „ja, Mama“ beantwortet wird. Tom greift das Thema nun auf. Bevor wir auf seine Äußerungen eingehen, können wir kurz die möglichen Richtungen seiner Reaktion auf die Äußerung der Mutter gedankenexperimentell skizzieren. Wir sehen dann schnell, dass er grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Reaktion hat: (1) Er kann die mütterliche Kritik an der Schwester wiederholen und dadurch das dyadische Beziehungsangebot der Mutter annehmen. (2) Er kann aber auch das Urteil der Mutter kritisieren und die Schwester in Schutz nehmen. Damit würde er, gleichsam dem ödipalen Motiv gegensteuernd, die Geschwisterdyade betonen und implizit so auch die Mutter-Sohn Dyade öffnen hin zu der Mutter-Tochter-Sohn-Triade. Vor dem Hintergrund der Autonomieproblematik können wir sagen, dass die erste Variante eine Entautonomisierung im Sinne einer Abhängigkeit von der Mutter darstellen würde, die zweite Variante eine Autonomisierung im Sinne der Einnahme einer selbstständigen Position gegenüber der Mutter und im Sinne der Aufrechterhaltung familialer Solidarität bei gleichzeitiger Ablehnung (bzw. Frustration) des dyadisch-ödipalen Beziehungsansinnens der Mutter.13 T: 

13Es

n a = ich glaub f- am anfang würd es für sie doch deutlich schwerer; jetz langsam wird = s n' bisschen; dass sie auch ma irgendwo alleine hinfährt; oder so, (.)

ist hier interessant zu sehen, dass die Frage der Beziehungskonstellierung auch in der ­ Eltern-Kind-Beziehung eine konstitutiv wechselseitige ist. In Anlehnung an Freud spricht Parsons etwa von der erzieherisch und sozialisatorisch konstitutiven Notwendigkeit der elterlichen Zurückweisung des ödipalen Ansinnens der Kinder. Diese „Frustration“ (Parsons 1954, S. 89) ist für den „Untergang des Ödipuskomplexes“ verantwortlich. Die hier interpretierte Sequenz macht auf die Möglichkeit aufmerksam, dass die Kinder das ödipale Ansinnen der Eltern zurückweisen.

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Tom will wohl sagen, dass sich bei seiner Schwester etwas gebessert hat. Dabei ist der erste Teil der Äußerung unverständlich. Erst wenn wir den Fluchtpunkt der Rede, dass sie auch ma irgendwo alleine hinfährt, kennen, können wir uns vorstellen, dass das vorher (anfang) nicht so war. Von diesem Fluchtpunkt aus betrachtet ist die vorangegangene Unverständlichkeit seiner Äußerung eigentlich nicht verwunderlich. Denn das Maß an Infantilisierung, mit dem er seine Schwester bedenkt, ist kaum durch eine realitätstüchtige Rede zum Ausdruck zu bringen. Einer 20jährigen zu bescheinigen, sie würde jetzt schon „ma irgendwo alleine hinfahren“, grenzt an Pathologisierung. Man stellt sich unwillkürlich einen Menschen vor, der das ganze bisherige Leben an die Hand genommen werden musste und der nun ganz langsam und allmählich erste Schritte alleine zu gehen in der Lage ist. Ohne das Motiv des „irgendwo alleine hinfahren“ genauer zu beleuchten, können wir sagen, dass Tom mit seiner Äußerung in der Logik der ödipalen Dyade verbleibt. Er spricht über seine ältere Schwester, als ob sie ein Kind sei. Damit geht natürlich eine Selbsterhöhung einher. Er ist kein Kind (mehr). Und er spricht an der Seite der Mutter so, als könnte er der Vater von Pia und damit auch der Partner seiner Mutter sein. Er fährt fort: „die wohnt auch noch bei meinem Vater“. Auch hier wollen wir die Interpretation schrittweise vornehmen: • Das die Äußerung dominierende Motiv ist, dass Pia noch zu Hause wohnt, also noch keine eigene Wohnung hat. Diese Feststellung geht immer mit einer mehr oder weniger expliziten Kritik einher. Eigentlich könnte man schon eine eigene Wohnung beziehen, aber man tut es nicht. Auch hier reproduziert sich das Autonomiemotiv: „Die ist so unselbständig, dass sie noch zu Hause (bei meinem Vater) wohnt.“ • Normalerweise würden wir diese Kritik aus dem Munde desjenigen erwarten, der nicht mehr zu Hause wohnt. Typischerweise belächelt derjenige das „Hotel Mama“, der es nicht mehr bewohnt. Aus der Position eines Jüngeren, selbst noch zu Hause wohnenden artikuliert, bringt diese Kritik einen Selbstanspruch zum Ausdruck: „Wäre ich 20 und würde studieren; ich würde nicht mehr zu Hause wohnen.“ Einerseits nimmt Tom damit viel „auf den Löffel“ – er müsste sich z. B. einen Kommentar der Mutter gefallen lassen: „mal sehen, wo Du in vier Jahren wohnst“ –, andererseits kündigt er damit unmissverständlich den Anspruch auf ein baldiges Ende der Haushaltgemeinschaft mit seiner Mutter an. Bei aller ödipalen Anschmiegung an die Mutter sagt er auch: „Du kannst nicht damit rechnen, dass ich in vier Jahren noch hier wohne.“

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• Besonders bemerkenswert ist natürlich, dass Tom von meinem Vater spricht. Das ist deshalb besonders irritierend, weil das (mutmaßliche) Abhängigkeitsverhältnis, auf das Tom kritisch hinweisen will, natürlich zwischen Pia und ihrem Vater gegeben ist; und nicht zwischen Pia und seinem Vater. Wörtlich genommen setzt diese Aussage voraus, dass Toms Vater nicht der Vater von Pia ist bzw. dass Tom Pia nicht als Schwester ansieht. Es ist nicht leicht, gedankenexperimentell einen Kontext zu entwerfen, in dem Toms Aussage wohlgeformt und unmittelbar nachvollziehbar wäre. Ein solcher Kontext wäre am ehesten gegeben, wenn Tom bei seinem (alleinerziehenden) Vater gewohnt hätte, der Vater Pia irgendwann einmal als Pflegekind aufgenommen hätte und Tom mittlerweile ausgezogen wäre. Tom würde dann zum Ausdruck bringen, dass er die Pflegevaterschaft zu Pia nicht als eigentliche Vaterschaft und Pia nicht als eigentliche Schwester akzeptiert. Diese Ablehnung kommt auch darin zum Ausdruck, dass er seine Schwester nicht beim Namen nennt oder wenigstens von „sie“ spricht, sondern sagt: „die wohnt auch noch bei meinem Vater“. Dieses eifersüchtige Motiv einer illegitimen Einnistung von Pia bei meinem Vater zeugt davon, dass Tom die dyadische Lebenssituation mit der Mutter nicht so entspannt und zufrieden wahrnimmt, wie er vorgibt. Er bestärkt zwar die Mutter-Sohn-Dyade durch sein gegenüber der Schwester unsolidarisches Urteil. Er schließt sich der Sichtweise seiner Mutter an: Pia ist unselbstständig. Aber die familiendynamische Arbeitsteilung – Pia lebt bei dem Vater, Tom bei der Mutter – verschafft ihm nicht die innere Ruhe, die mit seiner Situation einer exklusiven Mutter-Sohn-Dyade einhergehen könnte, sondern eine eifersüchtige Missbilligung der exklusiven Vater-Tochter-Dyade. Die Schwester ist Objekt der Geringschätzung, aber auch der Beneidung. T:  na = ich glaub f- am anfang würd es für sie doch deutlich schwerer; jetz langsam wird = s n' bisschen; dass sie auch ma irgendwo alleine hinfährt; oder so, (.) die wohnt auch noch bei meinem vater, //Fm: ah ja ok// un:d // Fw: mhm,// (1) ä:hm:: (.) └ja ich glaube,┘ #00:31:47–2# TM:  └aber sie war ja┘ (.) sie war kurz in neuseeland, (.) //T: ja// wollte ja auch länger bleiben, └()┘ #00:31:49–7# T:  └aber nich alleine;┘ immer mit freundin. #00:31:51–2#

Als sei ihr das von ihr selbst heraufbeschworene Negativurteil zu viel, nimmt die Mutter nun die Tochter vor ihrem Sohn in Schutz: „aber sie war ja (.) sie war kurz in neuseeland, wollte ja auch länger bleiben“. Trotz ihres Zutrauensmangels

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fühlt sich die Mutter bemüßigt darauf hinzuweisen, dass ihre Tochter immerhin in Neuseeland war und sich auch vorgenommen hatte, länger zu bleiben. Das wiederum provoziert prompt Relativierungen seitens Tom: „aber nich alleine, immer mit freundin“. Er greift damit das Leitmotiv seiner Eingangsäußerung auf (alleine irgendwo hinfahren). Der Formulierung immer mit freundin wohnt dabei eine gewisse Verächtlichkeit inne. Würde Pia etwa sagen, „ich würd gerne ein Jahr work & travel machen, aber ich muss noch schauen, ob ich jemand finde, der mitkommt“, wäre das kaum kritikwürdig. Auch wenn jemand eine geplante, dreimonatige Asienreise nicht antreten würde, weil die Freundin, mit der das Unternehmen geplant war, abgesagt hat, würde das allgemein auf Verständnis stoßen. Umgekehrt würde das Festhalten an dem Reisevorhaben (dann fahre ich halt alleine) eher auf Verwunderung und u. U. auch auf Bewunderung stoßen. Das von Tom obsessiv vorgebrachte Thema des alleine würde bei einem Gipfelerfolg unmittelbar nachvollziehbar sein. Natürlich ist es leichter, einen Gipfel mit einem Bergführer oder in einer Seilschaft zu besteigen. Der Gipfelerfolg alleine, ohne Hilfe und auf sich selbst angewiesen, nötigt „sportlich“ höheren Respekt ab. Aber diese Leistung ist einerseits eine, die einen bloß selbstbezüglichen Erfahrungsraum, eine unteilbare Icherfahrung, betrifft. Es geht darum, sich selbst etwas zu beweisen, indem man sich als mutig erweist, die eigenen Ängste überwindet, usw. Sie steht nicht primär im Dienste einer Welterfahrung. Um etwa eine (mehr oder weniger) fremde Naturlandschaft oder eine (mehr oder weniger) fremde Kultur zu erfahren, ist es nicht nötig, die Reise alleine anzutreten. Andererseits speist sich der Respekt und die Bewunderung aus der Exklusivität dieser Leistung. Sie ist von vornherein nicht auf Verallgemeinerung bzw. ein verallgemeinerbares Interesse angelegt (das musst Du auch einmal gesehen haben), sondern auf „Außergewöhnlichkeit“: „Ich habe etwas geschafft, das die wenigsten schaffen.“ Dem wohnt konstitutiv ein kompetitives, „ehrgeiziges“ Moment inne. Vor diesem Hintergrund erscheint die Entscheidung von Tom, einen Schüleraustausch in Kanada zu absolvieren, auch und vor allem als Überlegenheitsgeste gegenüber seiner Schwester. Das bisschen, das sie sich getraut hat, hat sie sich nicht alleine getraut. Sein eigener Mut findet ein wesentliches Unterstützungsmotiv darin, die Schwester zu übertreffen. Er kann aus diesem Motiv insofern eine Entspanntheit ziehen, als er es mit einer „leichten Gegnerin“ zu tun hat. Der Schüleraustausch bietet ihm eine „billige“ Gelegenheit, Pia zu übertrumpfen. Man sieht aber auch Toms Angespanntheit. Er erscheint getrieben von diesem Überlegenheitsmotiv. Es verschafft ihm keine Ruhe und Gelassenheit; denn dann hätte er es nicht nötig, fast verächtlich von seiner Schwester zu sprechen.

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Resümee: Familie und Gesellschaft Wir haben eingangs die These vertreten, dass der Schüleraustausch eine besondere Form der biografischen Bildungsentscheidung darstellt. Diese nimmt in der Lebensphase der Adoleszenz eine familiale Trennung in Kauf, die angesichts der gesellschaftlich institutionalisierten Formen und Modi des Ablösungsprozesses und seinen typischen Verlaufsfiguren als außergewöhnliche Selbstzumutung beschrieben werden kann; als Selbstzumutung für die Jugendlichen, aber auch als Selbstzumutung für das familiale Gebilde. Diese Selbstzumutung steht in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und einer genuin familialen Praxis. Unter familialer Perspektive kann die Selbstzumutung des Schüleraustauschs als Erschütterung des familialen Alltags beschrieben werden. In diesem Sinne haben wir oben von einer Selbsttraumatisierung gesprochen. Es handelt sich um ein (bezüglich der herkömmlichen Ablösungsschritte) biografisch verfrühtes Trennungsszenario, das nicht in eine Schrittfolge des Ablösungsprozesses integriert ist, sondern ein familiales Auflösungsintermezzo darstellt. Der Schüleraustausch führt zurück in die vertraute familiale Ursprungssituation. Wir haben auch die These vertreten, dass der Schüleraustausch in ­gesellschaftlich-normativer Perspektive eine eigentümlich diskrete und unscheinbare Distinktionspraxis darstellt. Er bietet der Gymnasialkohorte zunächst eine Gelegenheit zur (schulleistungsunabhängigen) sozialen Differenzierung. Diskret und unscheinbar ist diese Distinktionspraxis deshalb, weil ihr kein explizites gesellschaftliches Gebot und kein explizites gesellschaftliches Selektionskriterium zugrunde liegt. Der Schüleraustausch fungiert im Kontext des Wertemusters von Internationalität und Mobilität gleichsam als Distinktionsbonus. Wer sich gegen ihn entscheidet, hat sich nicht disqualifiziert. Ihm stehen unterschiedlichste, biografisch nachfolgende Möglichkeiten offen, den Verdacht der Provinzialität und Immobilität zu entkräften und sich als „weltoffen“ zu erweisen. Zugleich ist der Wert dieses biografischen Bonus nicht formalisiert und fixiert. Ob und in welchem Maße der Schüleraustausch später einmal Zugangschancen verschafft, bleibt offen. Umgekehrt verschließt die Nichtbeteiligung am Schüleraustausch keine Chancen. Gerade dieser Umstand unterstreicht das Moment der Selbstzumutung und die Subjektivität und genuine Familialität der Entscheidung. Von einer Selbstzumutung dürfen wir deshalb ausgehen, weil von einer gesellschaftlichen Fremdzumutung im eigentlichen Sinne nicht gesprochen werden kann. Das konstitutive Moment von Subjektivität und Familialität ist dadurch gegeben, dass die Frage der subjektiven und familialen Zumutung weder an strategisch-zweckrationale noch an normative Motive und Prinzipien delegiert werden kann. Anders als

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etwa die in Oberschichten konventionalisierte Unterbringung der Kinder in Internaten folgt die Entscheidung für den Schüleraustausch keinem milieugeneralisierten Standard. Deshalb ist sie auf genuin subjektive und genuin familiale Motivierungsdimensionen angewiesen. Auf den ersten Blick ist der hier nur punktuell analysierte Fall weit von diesen Problematisierungen entfernt. Tom ist durch das familiale, mütterlich geprägte Milieu derart selbstverständlich in das Modell eines polyglotten Lebensstils einsozialisiert, dass die These einer Selbstzumutung und die Figur einer subjektiven und familialen Selbsttraumatisierung als mindestens abwegig, wenn nicht gar absurd erscheint. Tom und seine Mutter jedenfalls würden sich dieser These sicherlich nicht anschließen. In ihrem Selbstverständnis bietet der Schüleraustausch die Gelegenheit einer Erfahrungsbereicherung. Er stellt in ihrer Welt und ihrem Lebensselbstverständnis eine Selbstverständlichkeit dar. Um so überraschender sind die familiendynamischen und beziehungslogischen Spannungen, in die diese Entscheidung eingelassen ist. Wir sind auf ein komplexes motivationales Beziehungsgeflecht gestoßen, dessen strukturlogische Hauptlinien sich aus der Perspektive von Tom daraus ergeben, den mütterlichen Erwartungen zu folgen und in den Genuss des damit verbundenen mütterlichen Stolzes zu kommen, einer ziemlich direkt und aggressiv ausgetragenen Geschwisterrivalität ausgesetzt zu sein, das Heil in der Allianz mit der Mutter zu suchen, zugleich aber eifersüchtig auf die Vater-Tochter-Dyade zu blicken. Die Entscheidung für einen Schüleraustausch stellt für Tom nur scheinbar eine Selbstverständlichkeit dar. Tatsächlich wohnt dieser Entscheidung ein familien- und beziehungsdynamisches Moment der Spannung inne. Er will sich als autonom erweisen, aber er erfüllt zugleich die Erwartungen der Mutter. Er will sich seiner Schwester gegenüber als überlegen erweisen, aber ihm fehlt der Vater und die sorgenvolle Zuwendung der Mutter. Sie gilt nicht ihm, sondern seiner Schwester. Welche Schlüsse lassen sich aus diesen Befunden ziehen? Welche über den konkreten Gegenstand hinaus zielenden Einsichten lassen sich an der Fallrekonstruktion zum Schüleraustausch gewinnen? Zunächst können sich jene Theoriepositionen bestätigt sehen, die auf die Autonomie familialer Prozesse gegenüber gesellschaftlichen Strukturen hinweisen.14 Diese familiale Autonomie konstituiert sich nicht in einer exterritorialen Stellung der Familie gegenüber der Gesellschaft; sie konstituiert sich darin, dass die

14Das

sind im Wesentlichen all diejenigen Theorien, die sich an der von Parsons (im Kontext der von ihm formulierten „pattern-variables“) vorgeschlagen Unterscheidung spezifischer und diffuser Sozialbeziehungen orientieren. Vgl. dazu Parsons 1951.

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Familie jene gesellschaftlichen Einflüsse und Forderungen, denen sie ausgesetzt ist, gleichsam zum Stoff der Binnenbeziehungen und ihrer Dynamiken werden lässt. Die gesellschaftlichen Strukturen wirken nicht ungebrochen auf das Subjekt ein. Sie sind immer vermittelt durch die konkrete Struktur der familialen Konstellation und ihrer Interaktion. Sehr verkürzt gesprochen: Die gesellschaftlichen Strukturen erreichen das Subjekt lediglich vermittelt über seine Stellung in der ödipalen Triade. Dort entscheidet sich die Selbstpositionierung des Subjekts entlang gesellschaftlicher Forderungen und gesellschaftlicher Möglichkeitsräume. Diesen können sich weder das Subjekt noch die Familie als Binnenraum entziehen. Selbstverständlich unterliegen beide der Vergesellschaftung. Aber diese Vergesellschaftung erfolgt nicht in einem direkten Zugriff, sondern vermittelt durch die Autonomie und Nichtverfügbarkeit familialer Interaktion. Über diese familien- und gesellschaftstheoretische Generalthese der modernen Gesellschaft hinaus verweisen die hier vorgestellten Überlegungen und fallrekonstruktiven Befunde auf ein eigentümlich hintergründiges und indirektes Eindringen der Gesellschaft in den familialen Binnenraum. Natürlich stellen alle gesellschaftlich institutionalisierten Bildungsstrukturen einen Eingriff dar. Die Schulpflicht, die den Kindern eine tägliche häusliche Abwesenheit vorschreibt ebenso wie das Studium, das die jugendlichen Erwachsenen systematisch mit der Frage eines Ortswechsels konfrontiert und häufig auch die Notwendigkeit eines Umzugs mit sich bringt. Aber gegenüber diesen kollektiven Eingriffen, die zugleich als Notwendigkeit und als Chance der Autonomisierung verstanden werden können, repräsentiert der Schüleraustausch eine besondere, zu den gesellschaftlich institutionalisierten Strukturen der Autonomisierung und ihren Zumutungen quer liegende Institution. Von einer Institution zu sprechen, ist insofern missverständlich, als es sich eher um ein Angebot handelt, das, vergleichbar mit einem touristischen Angebot und natürlich abhängig von den ökonomischen Möglichkeiten, je nach Interesse wahrgenommen werden kann. Diese Freiwilligkeit und gesellschaftliche Beiläufigkeit kontrastiert auffallend mit der Dignität des gesellschaftlichen Wertemusters, in das der Schüleraustausch eingebettet ist. Dieses ist alles andere als nebensächlich und beiläufig. Der soziale Austausch auf internationaler Ebene gehört zweifelsohne dem zentralen gesellschaftlichen Wertekanon an und ist für die Subjekte als Akteure dieses Austauschs ausgesprochen prestigeträchtig und natürlich auch von hoher sozialdistinktiver Bedeutung. Beide Elemente stecken gleichsam jenes Spielfeld ab, auf dem sich für die Jugendlichen und ihre Eltern die Frage der Selbstzumutung stellt. Durch sie ergibt sich jene Gemengelage, in der die Familien mit einer Handlungsoption konfrontiert sind, die auf der Ebene sozialer Distinktion eine hohe Wertigkeit genießt, die aber im Kampf um die

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Selbstpositionierung im System sozialer Ungleichheit lediglich einen Bonusstatus besitzt und deren materialer Bildungswert zwar außerordentlich ist, aber insofern alles andere als exklusiv, als sämtliche damit zusammenhängenden Kulturerfahrungen auf anderen, gesellschaftlich präparierten Wegen gewonnen werden können.15 In diesem Spannungsfeld zwischen „hochbedeutsam“ und „verzichtbar“ scheint der eigentliche gesellschaftliche Sinn des Schüleraustauschs darin zu liegen, ein „Bewältigungsspiel“ zu inszenieren; ein Spiel, das aus der Perspektive der Jugendlichen Mut und Durchhaltevermögen erprobt16 und aus der Perspektive der Eltern das „Loslassen“. Von einem Spiel zu sprechen scheint mir insofern gerechtfertigt, als der Durchhaltetest genauso wie das elterliche Thema des Haltens und Loslassens angesichts des Intermezzocharakters des Schüleraustauschs kaum einen Beitrag zur ­ alltäglich-kontinuierlichen Bearbeitung des jugendlichen Autonomisierungsprozesses und des familialen Auflösungsprozesses leisten können. Es handelt sich gleichsam um eine experimentell erzeugte Bewährungssituation; ein „Familienbungee“, dessen Reiz vielleicht auch darin besteht, durch die Inkaufnahme außeralltäglicher Selbstzumutungen von den alltäglichen Anstrengungen der Autonomisierung und familialen Auflösung abzulenken und ihnen Erleichterung zu verschaffen. Aber darin wäre wohl nur eine von vielen Varianten der Realisierung dieses „Challenge“ zu sehen, dessen besseres Verständnis eine nicht leicht zu bewältigende familien- und gesellschaftstheoretische Herausforderung darstellt. Forschungsmethodische Schlussnotiz Abschließend möchte ich für diejenigen Leserinnen und Leser, die mit der Methode der Objektiven Hermeneutik, die in der Fallrekonstruktion in Anspruch genommen wurde, nicht vertraut sind, einige forschungsmethodische Erläuterungen nachreichen. Dabei soll einerseits (1) auf die spezifische Leistungsfähigkeit einer objektiv-hermeneutischen Textanalyse hingewiesen werden, andererseits (2) die Ausschnitthaftigkeit und die spezifische Perspektive der hier vorgestellten Analyse kenntlich gemacht werden. Dabei geht es mir auch darum, auch wenn dies nur sehr stichwortartig geschehen kann, auf die Grenzen des Geltungsanspruchs einer Fallrekonstruktion aufmerksam zu machen und Desiderate der hier gewählten Forschungsstrategie zu benennen.

15Das

widerspricht natürlich den Außerordentlichkeitsnarrativen und dem Mythos der einmaligen und großartigen Erfahrung, mit denen der Schüleraustausch ausgestattet ist. 16Wobei die Abbrecherquote bemerkenswert niedrig ist. Sie beläuft sich auf 1,5 %.

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(1) Zur Textinterpretation: manifeste und latente Sinnstrukturen Zunächst beansprucht die hier vorgestellte Analyse, das Vorgehen einer objektivhermeneutischen Textinterpretation exemplarisch vor Augen zu führen. Ein zentraler Forschungsanspruch der Objektiven Hermeneutik besteht in der methodisch angeleiteten und kontrollierten – also am Datenmaterial gewonnenen bzw. durch das Datenmaterial widerlegbaren – Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen. Dieser Anspruch gründet auf der Einsicht und ihrer konsequenten Berücksichtigung, dass Texte, verstanden als Protokolle sozialer Interaktion, nicht nur Träger eines intendierten, „subjektiv gemeinten“ (Weber) Sinns sind, sondern dass sich in ihnen auch latente Sinndimensionen protokollieren. Sie bringen nicht nur die manifesten Selbstbilder und Selbstdeutungen der Akteure zum Ausdruck, sondern auch solche Motive und Dispositionen, die die Akteure gar nicht im Blick haben. Latente Sinnstrukturen schlagen sich im Text nieder und sind am Text erschließbar. So konnten wir am Text nicht nur zeigen, dass die Mutter ein ausgesprochen weltoffenes, die Autonomie ihres Sohnes förderndes Selbstbild kultiviert (manifest), sondern dass sie den Sohn gleichzeitig an sich bindet (latent). Beide Sinnschichten sind im Text enthalten und beide Sinnschichten können mit dem Anspruch auf Geltung und intersubjektive Überprüfung rekonstruiert werden. Allerdings haben wir auch gesehen, dass die Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen einen interpretatorischen Aufwand voraussetzt. Während sich die manifeste Sinnebene gleichsam mühelos wiedergeben und umschreiben lässt, also einem unmittelbaren Verständnis zugänglich ist und in gewisser Weise gar nicht rekonstruiert werden muss, geht die Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen mit einer Erschließungsarbeit einher. Die textlichen Spuren sind unschwer zu erkennen (etwa dass Tom sagt, seine Schwester wohne noch bei seinem – statt bei ihrem – Vater). Die Bedeutung dieser Spuren erschließt sich dem Verständnis aber nicht unmittelbar. Ihre Explikation setzt einen Prozess der analytischen Erschließung voraus, der nur unter Inkaufnahme einer gewissen gedanklichen Anstrengung und einer manchmal mühevollen Detailarbeit zu realisieren ist. Der Text konfrontiert den Interpreten mit einer Widerständigkeit, der er sich aussetzen muss. Diese Widerständigkeit beruht sicherlich auch auf der Tatsache, dass latente Sinnstrukturen nicht einfach nur eine weitere, zu der manifesten hinzutretende Sinnschicht darstellen, sondern dass sie in Widerspruch zum manifesten Sinn stehen. Die Sinnschichten passen (erst einmal) nicht zusammen. Wie kann es sein, dass die Mutter die Autonomie ihres Sohnes unterstützt, aber ihn zugleich an sich bindet? Wie kann es sein, dass Tom seine privilegierte Situation in der Mutter-Sohn-Dyade genießt, zugleich aber eifersüchtig auf die Schwester ist?

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Die Explikation der latenten Sinnstrukturen führt zunächst also zu (das Bild des Falles) irritierenden und störenden Einsichten. Man könnte auch sagen: diese Explikation stellt im ersten Schritt keine Lösung eines Verstehensproblems dar, sondern wirft ein Verstehensproblem erst auf.17 Die Lösung dieses Verstehensproblems – der rätselhaften Unvereinbarkeit latenter und manifester Motive – besteht in der Formulierung einer Fallstrukturhypothese (vgl. dazu Wernet 2019). Bezüglich des Problems des Auseinandertretens manifester und latenter Motive stellt die Fallstrukturhypothese eine Synthese dar; also den Versuch, den Fall in seiner spezifischen Form dieses ihm eigenen Auseinandertretens kenntlich zu machen und theoriesprachlich zu würdigen. (2) Der Fallbegriff zwischen Fragestellung und Forschungsstrategie Das hier gewählte Vorgehen eröffnet einen interessanten Blick auf die Frage, was der Fall ist. Aus der Perspektive des analysierten Interaktionsprotokolls kann der Fall im Kern als eine Mutter-Sohn-Konstellation und deren Rekonstruktion verstanden werden. Und diese kann familientheoretisch wiederum als Fall der Familie als diffuse Sozialbeziehung18 angesehen werden. Insofern leistet die obige Fallrekonstruktion einen Beitrag zu einer rekonstruktiven Familienforschung. Sie verschafft einen Einblick in die Binnenlogik familialer Interaktion und in die spezifischen Spannungen, die diese im Ab- und Auflösungsprozess auszutragen hat. Im weitesten Sinne kann darin ein Beitrag zur Theorie der öpidalen Triade als konstitutives Moment der familialen Binnenorganisation gesehen werden.19 Die dabei gewählte Forschungsstrategie besteht darin, einen Fall gezielt auszuwählen und ihn extrem ausschnitthaft zu analysieren. Die Auswahl hat sich dabei an dem Thema der „Selbstzumutung“ orientiert. Wir haben bewusst einen Fall ausgewählt, der geradezu als prädestiniert für die Wahrnehmung eines Schüleraustauschs gelten darf und für den der Auslandsaufenthalt auf den ersten Blick eine Selbstverständlichkeit, also gerade nicht eine Selbstzumutung, dar-

17Dieser

Umstand ist von erheblicher, forschungspsychologischer Bedeutung. Er setzt nämlich die Bereitschaft voraus, sich im Forschungsprozess dieser Irritation und Störung auszusetzen, indem man gleichsam die Welt der selbstverständlichen (Deutungs-)Gewissheit verlässt. Zum Problem der „Kränkung“, die damit regelmäßig einher geht: Wernet 2017. 18Vgl. Fußnote 15. 19Vgl. dazu insbesondere Allert 1998, Maiwald 2018 und Oevermann 2014.

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stellt. Forschungsstrategisch steht dieses Vorgehen im Zeichen der Bewährung20 der Forschungshypothese durch eine möglichst riskante Fallauswahl. In der Logik des „theoretical sampling“ (Strauss/Corbin 1996) müsste das weitere Vorgehen darin bestehen, typologisch kontrastierende Fälle unterschiedlicher Ablösungsdynamiken und unterschiedlicher, milieu- und familienbedingter Umgangsweisen mit dem Schüleraustausch und der mit ihm einhergehenden Selbstzumutungen zu analysieren. So würden wir zu einer empirisch begründeten Typologie unterschiedlicher Varianten der familialen Selbstzumutung gelangen. Dieses im engeren Sinne familientheoretische Vorgehen, in dem die Familie als Fall erscheint, ist eingebettet in übergeordnete Fragestellungen. Im Kontext der familientheoretischen Fallbestimmung erscheint der Schüleraustausch als Anlass, die Binnendynamik familialer Interaktion zu untersuchen. Im Rahmen der hier vorgestellten Fallrekonstruktion fungiert dieser Anlass als gesellschaftlicher Kontext der familialen Interaktion. Dieser Kontext kann natürlich selbst zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. Die Richtung einer solchen Forschungsfrage habe ich in der Einleitung angedeutet. Dort wurde der Schüleraustausch als soziales Phänomen einerseits hinsichtlich des durch ihn repräsentierten Wertemusters, andererseits als Instrument der Distinktion thematisiert. Damit gehen forschungslogische Perspektiven einher, die den Fallfokus verschieben und deren Bearbeitung forschungsmethodische unterschiedliche Strategien erfordert. Die Bearbeitung der Frage des Schüleraustauschs „als Fall“ eines gesellschaftlich-normativen Syndroms ließe sich forschungspraktisch durch eine Diskursanalyse bewältigen, die nähere Auskunft über das öffentlich repräsentierte Wertmuster der Mobilität und Internationalität zu geben in der Lage wäre. Für die Bearbeitung der Frage des Schüleraustauschs „als Fall“ sozialer Ungleichheit, also als gesellschaftliches Medium der sozialstrukturellen Reproduktion, wären zuallererst tatsachenwissenschaftliche Befunde (im Sinne sozialstatistischer Daten) wünschenswert. Dass den einleitenden Ausführungen bezüglich dieser beiden Problemkomplexe lediglich ein hypothetischer und heuristischer Stellenwert zukommt,

20Den

Begriff der Bewährung schlägt Popper als forschungslogische Alternativkategorie zum Begriff der Verifizierung vor. Die Geltung einer empirischen Hypothese kann, im Unterschied zu einem mathematischen Satz, nicht bewiesen werden. Sie kann sich nur an der empirischen Überprüfung bewähren (bzw. an ihr widerlegt, also falsifiziert, werden). Vgl. dazu Popper 1971.

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liegt auf der Hand. Sie können auch durch die Fallanalyse familialer Interaktion nicht eingeholt werden. Der Zusammenhang zu gesamtgesellschaftlichen Strukturen zeigt sich im Datenmaterial der familialen Interaktion nicht unmittelbar.21 Er deutet sich dort nur an und muss, empirisch nicht gesichert, erschlossen werden. Was wir aber, wenn auch nur sehr ausschnitthaft, gesehen haben, ist das eigenlogische Operieren familialer Beziehungsdynamiken, denen die sozialen Muster und Motive den Stoff liefern, an dem sie sich vollziehen. Dass dabei die „Zentrifugalität“ des Schüleraustauschs in einem wahlverwandtschaftlichen Verhältnis zu zentripetalen Kräften des Mutter-Sohn-Verhältnisses steht, könnte auf einen gesellschaftlichen Modus der Gleichzeitigkeit von „Internationalität“ und „Provinzialität“ hinweisen. Vielleicht berührt und reproduziert die hier rekonstruierte M ­ utter-Sohn-Konstellation in ihrer Eigenlogik ein gesamtgesellschaftliches Phänomen: einen nur scheinbar weltoffenen und eigentlich auf sich selbst gerichteten, selbstbezüglichen und provinziellen gesellschaftlichen Zustand.

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21Zum Problem der „Unscheinbarkeit“ sozialer Ungleichheit in Protokollen sozialer Interaktion: Wernet 2018.

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King, Vera. 2018. Die äußere und innere Bedeutung der Triade. Eine Rekonzeptualisierung angesichts pluralisierter Lebensformen. WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 15 (2):87–103. Maiwald, Kai-Olaf. 2018. Familiale Interaktion, Objektbesetzung und Sozialstruktur. WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 15 (2):73–85. Oevermann, Ulrich. 2001. Die Soziologie der Generationenbeziehungen und der historischen Generationen aus strukturalistischer Sicht und ihre Bedeutung für die Schulpädagogik. In Pädagogische Generationsbeziehungen, Hrsg. Rolf-Torsten. Kramer, Werner Helsper, und Susann Busse, 78–128. Opladen: Leske + Budrich. Oevermann, Ulrich. 2004. Sozialisation als Prozess der Krisenbewältigung. In Sozialisationstheorie interdisziplinär. Aktuelle Perspektiven, Hrsg. Dieter Geulen und Hermann Veith, 155–181. Stuttgart: de Gruyter. Oevermann, Ulrich. 2014. Sozialisationsprozesse als Dynamik der Strukturgesetzlichkeit der ödipalen Triade und der Erzeugung des Neuen durch Krisenbewältigung. In Wie wir zu dem werden, was wir sind. Sozialisations-, biographie- und bildungstheoretische Aspekte, Hrsg. Detlef Garz und Boris Zizek, 15–69. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Oevermann, Ulrich, Tilman Allert, Helga Gripp-Hagelstange, Elisabeth Konau, J.ürgen Krambeck, Erna Schröder-Cäsar, und Yvonne Schütze. 1976. Beobachtungen zur Struktur der sozialisatorischen Interaktion. Theoretische und methodologische Fragen der Sozialisationsforschung. In Zwischenbilanz in der Soziologie, Hrsg. M.Rainer. Lepsius, 274–295. Stuttgart: Enke. Parsons, Talcott. 1951. The Social System. London: Tavistock Publications. Parsons, Talcott. 1954. Das Inzesttabu und seine Beziehung zur Sozialstruktur und Sozialisation des Kindes. In Sozialstruktur und Persönlichkeit, Hrsg. Talcott Parsons, 73–98. Frankfurt a. M.: Fachbuchhandlung für Psychologie. 1968. Parsons, Talcott. 1968. Die Schulklasse als soziales System. In Sozialstruktur und Persönlichkeit, Hrsg. Talcott Parsons, 161–193. Frankfurt a. M.: Fachbuchhandlung für Psychologie. Popper, R. Karl. 1971. Vermutungswissen: meine Lösung des Problems der Induktion. In Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hrsg. R. Karl Popper, 3. Aufl., 1–31. Hamburg: Hoffmann und Campe. 1995. Seiler, Stephan. 2019. Herr Steinmeier? Interview mit dem Bundespräsidenten Dr. ­Frank-Walter Steinmeier. Magazin DB Mobil. Interviewer: Stephan Seiler. 26. April 2019. Abgerufen von: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/ Frank-Walter-Steinmeier/Interviews/2019/190426-DB-mobil-Schriftinterview.html. Zugegriffen: 22. Aug. 2019. Stierlin, Helm, Levi, L. David, und Robert J. Savard. 1980. Zentrifugale und zentripetale Ablösung in der Adoleszenz: zwei Modi und einige ihrer Implikationen. In Entwicklung des Ichs, Hrsg. Rainer Döbert, Jürgen Habermas, und Gertrud Nummer-Winkler, 46–67. Königstein/Ts: Verlagsgruppe Athenäum. Strauss, Anselm, und Juliet Corbin. 1996. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz. Thiemann, Ivo. 2019. Weltweiser-Studie. Schüleraustausch High School Auslandsjahr. Bonn: Weltweiser-Verlag. Wernet, Andreas. 2003. Die Auflösungsgemeinschaft "Familie" und die Grabsteininschrift: Eine exemplarische Fallrekonstruktion. sozialer sinn 3:481–510.

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Wernet, Andreas. 2009. Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. Qualitative Sozialforschung, Bd. 11, 3. Aufl. Wiesbaden: Springer VS. Wernet, Andreas. 2017. Über das spezifische Erkenntnisinteresse einer auf die Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen zielenden Bildungsforschung. In Rekonstruktive Bildungsforschung. Zugänge und Methoden, Hrsg. Martin Heinrich und Andreas Wernet, 125–139. Wiesbaden: Springer. Wernet, Andreas. 2018. Sozialisatorische Interaktion und soziale Ungleichheit Ein Versuch. Zeitschrift für Qualitative Forschung 19 (1–2):31–46. Wernet, Andreas. 2019. Wie kommt man zu einer Fallstrukturhypothese? In Vom Fall zur Theorie: Studientexte zur Soziologie, Hrsg. Dorett Funcke und Thomas Loer. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Fallrekonstruktive Familienforschung auf der Grundlage einer Jugendamtsakte Karl Friedrich und Tobias Franzheld

Wir stellen in dem folgenden Beitrag die Analyse einer Klientenfamilie der Kinder- und Jugendhilfe vor.1 Datengrundlage sind die Notate in der Fallakte des Jugendamts. Letztere gilt es als Protokolltyp familialer Lebenspraxis zu Beginn näher zu charakterisieren. Sowohl die Notate der Sozialen Arbeit als auch der fallrekonstruktive Zugang der Familienforschung beziehen sich auf die Operation des Fallverstehens. Dies und die Fallbestimmung einer Familie als Klientenfamilie entlang professioneller Kriterien der Sozialen Arbeit sind Ausgangspunkte unserer Rekonstruktion. Fallakten protokollieren familiale Lebenswirklichkeiten und geben Aufschluss über Bedingungen gelingender Prozesse des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen. Unsere rekonstruktive Analyse von Familienstrukturen erfolgt in zwei Schritten. Zuerst interpretieren wir die in der Akte auffindbaren objektiven Daten zur Familienkonstellation und zu ihrer Milieuwelt. Dann analysieren wir sequenzanalytisch die Protokolle des Hilfeprozesses.

1Grundlage

der Fallrekonstruktion in diesem Beitrag ist eine Erhebung, die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 580 an der Universität Jena stattfand. Zur Interpretationsgruppe im damaligen Projekt gehörten neben den Autoren Anna Engelstädter und Anja Schierbaum.

K. Friedrich (*)  Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Franzheld  Universität Koblenz-Landau, Koblenz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Funcke (Hrsg.), Rekonstruktive Paar- und Familienforschung, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30668-7_9

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Eine zentrale Rolle spielen dabei die harten Fakten zu Krisensituationen (wie Polizeieinsatz, Inobhutnahme, Antrag auf Hilfe zur Erziehung usw.), die in den Notaten protokolliert sind. Auf dieser Grundlage lassen sich soziale Handlungsmuster und ihre Reproduktion in der familialen Lebensführung und Erziehungspraxis rekonstruieren. Dies erleichtert die Suche nach den Gründen einer intergenerationalen Reproduktion von Familienmustern und ihrer krisenhaften Transformation. Das fallrekonstruktive Mustererkennen ermöglicht zudem Reflexionen für einen fachlichen Umgang mit einer problematischen Erziehungspraxis im Rahmen von Fallsupervision, Aus- und Fortbildung.

1 Einleitung: Fallakten als Grundlage für die rekonstruktive Familienforschung Fallinterpretationen im Rahmen der rekonstruktiven Familienforschung zielen darauf ab, eine kollektive Lebenspraxis verstehend zu erklären. Sie erschließen, wie in unserem folgenden Fall, unter Rückgriff auf objektive Daten zum Verlaufsmuster einer Familiengeschichte eine Fallstrukturgesetzlichkeit. Biografische Fakten und andere nachprüfbar dokumentierte Lebensäußerungen lassen sich in den Akten der Jugendämter im Bereich der erzieherischen Hilfen finden. Wir betrachten solche Fallakten als Protokolle, die Ausdruck einer konditionellen Verkettung von Entscheidungen sind. Diese werden sowohl von Familien als Instanzen primärer Erziehungsverantwortung als auch von sekundären Sozialisationsinstanzen, wie dem Jugendamt im Rahmen öffentlicher Erziehung, getroffen. Inwieweit die Rekonstruktion einer Fallstrukturgesetzlichkeit auf dieser Protokollbasis gelingt, hängt insbesondere vom Umfang und von der Signifikanz des zu interpretierenden Datenmaterials ab. Nach allgemeiner Erfahrung ist die Qualität der Falldaten in den Akten der Sozialen Dienste der Jugendämter sehr unterschiedlich. Dem damals zuständigen Sozialarbeiter im bundesweit bekannten Fall Kevin in Bremen 2006 wird beispielsweise eine unordentliche und unvollständige Aktenführung attestiert. Auf ihrer Basis ist es nicht möglich, den Verlauf der familialen Lebenspraxis sequenzanalytisch zu rekonstruieren (s. unten). In der Familienforschung lassen sich die Studien typischerweise auf zwei Schwerpunkte beziehen: Die einen, welche die Paarbeziehung (der Eltern) ins Zentrum rücken, und solche, welche der Eltern-Kind-Beziehung ihr Augenmerk schenken. Mit der Eltern-Kind-Beziehung werden die Sozialisationsbedingungen zum Thema. Mit ihnen ist im Familienleben die praktische Frage des Gelingens oder Misslingens der Erziehung eines Kindes verbunden. Um in Fällen des

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Misslingens helfen zu können, hat der moderne Sozialstaat spezielle Institutionen (nämlich eine Sozialverwaltung, vor allem das Jugendamt), Berufe (im Feld der Sozialarbeit und Sozialpädagogik) und Konzepte der sozialen und erzieherischen Hilfen (wie bspw. die Pflegefamilie) hervorgebracht. Jugendämter als Teil der Sozialverwaltung sind darüber hinaus zu einer systematischen Aktenführung verpflichtet: „mindestens die Vorerörterungen und Anträge und die abschließenden Entscheidungen (…) aller Art sind schriftlich fixiert“ (heißt es bei Weber 1976: 126). Bei Analysen zu Paarbeziehungen und ihren Problemen liegt es nahe, auf Erfahrungen im entsprechenden therapeutischen Feld zurückzugreifen. Geht es um Krisen der Eltern-Kind-Beziehung und um Hilfen zur Erziehung, stellen Fallakten der Jugendämter eine geeignete Datenquelle dar. Soziale und erzieherische Hilfen spielen sich in einem asymmetrischen Interaktionsmuster ab: Professionelle Fachkräfte eines sozialen Helferberufs treffen auf Familien mit Erziehungsproblemen, die als Klientenfamilie zum Fall der Kinder- und Jugendhilfe werden. Die zuständige Fachkraft im Jugendamt ist Experte und hilft der Klientenfamilie; sie führt die Fallakte und protokolliert damit einen Hilfeprozess, der auf der Basis eines Fallverstehens initiiert und professionell begleitet werden sollte. Vorliegende Analysen, hauptsächlich im Bereich der klinischen Soziologie, zielen, was das Erkenntnisinteresse anbelangt, in der Regel auf das professionelle Vorgehen der Fachkraft und das Gelingen einer erzieherischen Hilfe. Mit dieser Ausrichtung haben die ­klinisch-soziologischen Analysen einer Fallakte eine besondere Bedeutung bei der Aus- und Fortbildung von Sozialarbeitern.2 Anders das Erkenntnisinteresse der Familienforschung. Es zielt auf die sich gewissermaßen in einer passiven Rolle befindende Klientenfamilie. Über sie und ihr erzieherisches Handeln bzw. Scheitern wird in den Akten regelmäßig Protokoll geführt. Damit bestimmt die zuständige Fachkraft im Jugendamt den Fall: Es geht um eine Familie in kritischer Erziehungsphase. Die Notate in der

2Sozialpädagogische

Fachkräfte werden im Rahmen der klinischen Soziologie und ihrer fallverstehenden Methodik nicht abstrakt mit einem von außen herangetragenen normativen Gelingensmodell Sozialer Arbeit bzw. erzieherischer Hilfen konfrontiert, sondern ihnen werden in einer material gesättigten Fallrekonstruktion die Bedingungen des Gelingens und Misslingens eines Hilfeprozesses vor Augen geführt. Dieses Vorgehen ermöglicht es bei Aus- und Fortbildungen eher professionelle Orientierungsdispositionen hervorzurufen und zu festigen, als der Versuch, die Vernunft der professionellen Erfahrung im Krisenfall durch eine standardisierte „Rezeptlehre“ angeblich sicherer Interventionen zu ersetzen (vgl. zum ähnlich gelagerten Fall der Lehrerausbildung Wernet 2000: 296 ff.).

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Fallakte dokumentieren eine spezifische Lebenspraxis und stellen methodisch für die Sozialforschung objektive Daten zur Verfügung. Genauer betrachtet handelt es sich beim Protokolltyp „Fallakte“ um eine Mischung aus „weichen“ und „harten“ objektiven Daten. Harte objektive Daten beziehen sich in den Fallakten der Sozialen Dienste auf die Inhaber des Rechtsanspruchs auf erzieherische Hilfen: das Kind und die sorgeberechtigten Eltern, deren „Sozialdaten“ aus rechtlichen Gründen festgestellt und in einem Formblatt festgehalten werden müssen. Viel umfangreicher in einer Fallakte sind jedoch fast immer Dokumente in Gestalt weicher objektiver Daten – mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Faktenbezug. Darunter verstehen wir protokollierte Anlässe des behördlichen Tätigwerdens (wie Gefährdungsmeldungen), eigene Befunde der Sozialen Arbeit (protokollartige Auswertungen von Gesprächen mit den Eltern und dem Kind, dessen Wohl evtl. gefährdet ist, protokollierte Beobachtungen von Hausbesuchen und Dokumente wie Kinderzeichnungen, Briefe oder andere von den Klienten produzierte Texte) und Mitteilungen Anderer (wie Meinungen und Sichtweisen am Fall Beteiligter, etwa von Erzieherinnen und Lehrern, oder Diagnosen einer medizinischen, kinder-psychiatrischen oder psychotherapeutischen Fachkraft). Die Blätter einer Fallakte dokumentieren deshalb in der Regel einen multiperspektivischen Blick auf den Fall und seine Geschichte. Die jeweils dahinter stehenden Aufträge, institutionellen Zuständigkeiten, aber auch konkrete situative Interessen gilt es bei ihrer Interpretation zu berücksichtigen. Fallrekonstruktive Analysen auf der Basis von Aktenprotokollen sind so grundsätzlich auf die beruflichen Erfassungs- und Entscheidungslogiken bezogen, die sich auf je spezifische Weise für Familienstrukturen interessieren (vgl. Wolff 2000: 503). Im Kern heißt das: Ohne Fallarbeit des Jugendamts entbehrt eine wissenschaftliche Fallrekonstruktion wie unsere ihrer materialen Grundlage im Sinne einer protokollierten Manifestation familialer Lebenswirklichkeiten (vgl. Bergmann 2014: 30). Einerseits werden Fallakten von Fachkräften der Jugendämter „künstlich“ angelegt und sind deshalb methodologisch als „Artefakte“ beruflicher Sichtweisen und Entscheidungen zu betrachten. Andererseits weisen einzelne Notate mit ihren als bedeutsam interpretierbaren Daten immer wieder auf „natürliche“ Reproduktions- und Transformationsprozesse familialer Lebenspraxis hin. Bei der Analyse einer Fallakte wird solcher Art vorinterpretiertes Datenmaterial einer sekundären Analyse unterzogen. Entscheidend für die Prägnanz und Aufschlusskraft der Interpretation ist die Reichhaltigkeit und Dichte der „harten Fakten“ zur Familie. Sie erlauben Rückschlüsse auf deren Zusammensetzung sowie milieuweltliche Einbettung. Und je reichhaltiger und dichter die Datenlage ist, desto eher vermag die Sozialforschung auch die fallspezifischen Strukturmuster familialen Lebens nachzuzeichnen. Um Struktur- und

Fallrekonstruktive Familienforschung auf der Grundlage …

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Handlungsmuster von Klientenfamilien adäquat zu rekonstruieren, betrachten wir Blatt für Blatt einer Fallakte und interpretieren die Notate sequenzanalytisch (vgl. zur konkreten Methodik: Wernet 2009: 16 ff.). Unser Vorgehen lässt sich insofern als eine sequenziell-rekonstruktionslogische Dokumentenanalyse charakterisieren. Dabei konzentrieren wir uns auf die Interpretation der in den Notaten vorfindlichen objektiven Daten sowie die Rekonstruktion der strukturellen Bedeutung von Handlungs- und Entscheidungsmustern in der familialen Lebensführung. Letztere werden v. a. in Krisen manifest und in fallsequenziellen Übergängen bedeutsam.3 Solche Daten aus Fallakten stellen für Oevermann (2002: 6) Ausdruckgestalten familialer Verlaufs- und Vollzugswirklichkeit dar und können aufgrund ihrer Textförmigkeit als „methodisch zureichende Grundlage für zwingende Schlussfolgerungen der erfahrungswissenschaftlichen Erforschung“ (ebd.) von Familien herangezogen werden. Mit ihrer Hilfe lassen sich Lebensäußerungen einer Familienpraxis in ihren sozialen Bedeutungen erschließen.

2 Fallverstehen in professioneller Praxis und interpretativer Analyse Hinter der Kategorie der Vorinterpretation stehen zwei spannungsvolle methodische Sachverhalte. Der Verweis auf die Interpretation erinnert daran, dass sowohl die fallverantwortliche, aktenführende Fachkraft im Jugendamt als auch die fallrekonstruktive Sozialforschung bei ihrer Analyse von der Operation des Fallverstehens ausgehen (vgl. Franzmann 2019: 158).

3Üblicher

Weise werden Akten und ihre Notate in der qualitativen Forschung als „institutionalisierte Spuren“ eines Verwaltungsgedächtnisses behandelt. Deshalb stellen sie keine „Fensterscheibe“ dar, durch die hindurch man unmittelbar auf den konkreten Fall blickt (so Wolff 2000: 504). Das bedeutet methodisch: Notate in Akten können nicht einfach „gelesen“ werden, sondern müssen auf ihre Fallbedeutung hin interpretiert werden. Dabei empfiehlt Wolff (2000: 512) auch in unserem Sinne einer fallrekonstruktiven Form der Dokumentenanalyse die „Nutzung der inneren Sequenzialität und Geordnetheit des Textes“ in einer Akte. Des Weiteren sollte die Dokumentenanalyse „zunächst von der Selbstgenügsamkeit des Textes ausgehen und die immanenten Analysemöglichkeiten ausschöpfen“, ehe man auf Kontextinformationen von außen zurückgreift (vgl. ebd.). An diese methodischen Hinweise können wir mit der sequenziellen Feinanalyse der Texte in einer Fallakte unmittelbar anschließen.

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Allerdings gibt es erhebliche Unterschiede berufspraktischer Natur. In der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe „geht es tatsächlich um einen besonderen Fall als solchen, der gewissermaßen um seiner selbst willen aufgeschlossen“ (ebd.: 160) und bezogen auf die sozialpädagogische Intervention verstanden werden soll. Fachkräfte müssen auf krisenhafte Erziehungsprobleme reagieren. Sie erhoffen sich von der Analyse der Familiensituation und der biografischen Daten in einer klinischen Sozialforschung Aufschluss über die Gründe der Krise und Hinweise auf angemessene Hilfemaßnahmen (vgl. ebd.). Dagegen interessieren sich rein soziologische Forschungsprojekte vordringlich für die Erschließung elementarer Strukturen oder Strukturdynamiken, die von allgemeiner Natur sind. Vorliegende Erziehungsprobleme werden bspw. als Ausdruck einer familialen Beziehungskrise interpretiert, die es zu ergründen gilt. Diese Fragestellung kommt ohne berufspraktische Anwendungsinteressen aus (vgl. ebd.). Das Fallverstehen im Rahmen einer soziologischen Rekonstruktion erfolgt zudem handlungsentlastet. Das heißt, weil nicht eingegriffen werden muss, steht relativ viel Zeit sowohl für die Datenerhebung als auch für die Auswertung zur Verfügung. Auch Fachkräfte machen im Rahmen eines professionellen Fallverstehens aufschlussreiche Beobachtungen und fragen Fakten ab, die sich für Fallrekonstruktionen im Rahmen der Sozialforschung nutzen lassen. Doch werden – aus Zeitgründen, ob des lastenden Handlungsdrucks – wichtige Daten oft nicht komplett erhoben, Beobachtungen und ihre Deutung für die Fallbetreuung nicht explizit verarbeitet und auch nicht ausführlich in der Akte dokumentiert. In der Praxis der Jugendämter findet so „in der Mehrzahl der Fälle auf eine eher implizite, abkürzende und intuitive Weise“ (ebd.: 165) ein Fallverstehen statt. Eine Sekundäranalyse oder Evaluation von außen kann dann oft nicht auf eine hinreichend dokumentierte und aussagekräftige Datenbasis zurückgreifen. Ein Beispiel dafür liefert die bereits angesprochene Akte zum Fall Kevin in Bremen 2006. Sie ist eine der am besten analysierten Fallakten aus einem deutschen Jugendamt. In einem Revisionsbericht der Bremer Sozialverwaltung „wird die Aktenführung als unordentlich, unvollständig geschildert, viele lose Schreiben, keine Paginierung der Akten usw.“ (ISS 2012: 148). Was bedeutet hier unordentlich? Eine unordentliche Fallakte behindert oder verunmöglicht eine methodische, sequenzanalytische Rekonstruktion des in ihr angezeigten Geschehens. Wolff (2000: 512) weist deshalb zu Recht auf die große Bedeutung der sequenziellen Ordnung der Texte in einer Fallakte für deren interpretative Auswertung hin. Unvollständig bedeutet in diesem Kontext beispielsweise ganz konkret: Der zuständige Sozialarbeiter hat den unterstellten Sachverhalt, der Lebenspartner der Mutter sei zugleich Vater von Kevin, nicht überprüft. Dies

Fallrekonstruktive Familienforschung auf der Grundlage …

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erfolgte erst nach dem Tod Kevins. In der Konsequenz waren die biografischen Daten nicht korrekt in der Akte vermerkt. Eine mit dem Anspruch auf Wahrheit auftretende rekonstruktive Analyse muss sich aber auf die faktische Zuverlässigkeit biografischer Daten in der Fallakte verlassen können.4 Denn nur dann, wenn die biografischen Daten eines Falls zuverlässig erhoben wurden, kann die soziologische Rekonstruktion mit einer aufschlussreichen, erste Hypothesen generierenden Analyse objektiver Daten beginnen (wie es Hildenbrand [1999: 3] in seiner Studie zur fallrekonstruktiven Familienforschung vorschlägt). Das wäre im Fall Kevin auf Basis der vor seinem Tod vorliegenden Akte eben nicht möglich gewesen. Qualitativ orientierte Grundlagenforschung greift so typischerweise auf relativ „vollständige“ Fallakten zurück, bei denen nur ergänzende eigene Erhebungen notwendig werden – ansonsten lohnt es sich gewissermaßen aus forschungsökonomischen und erkenntniskritischen Gründen nicht, auf diesen Protokolltyp zurückzugreifen. Die Formierung, Wandlung und/oder Auflösung von Familienbeziehungen einschließlich ihrer sozialisatorischen Krisen und Dynamiken wird in fast jeder Akte „irgendwie“ protokollarisch erfasst. Aufgrund dieser Erfahrung sind Fallakten grundsätzlich einer rekonstruktiven Analyse zugänglich. Insoweit ist der forschungspraktisch ermöglichte Zugriff auf Fallakten an sich schon von methodischem Wert. Jedoch ermöglichen reduzierte, elliptische und „implizite“ Fallakten es nur erfahrenen Mitarbeitern eines Jugendamtes, das Wesentliche der Problematik und deren Bewältigung „ohne großen Aufwand“ adäquat wahrzunehmen. Der Frage, ob man auf diese Weise im Einzelfall zu richtigen Gestaltschlüssen hinsichtlich der familialen Lebens- und Erziehungsmuster gelangt, wendet sich in erster Linie die klinische Soziologie zu. Der klinischen Sozialforschung geht es ja wie angesprochen im Unterschied zur Grundlagenforschung um den praktischen Anwendungskontext szientifischen und professionellen Wissens in der Kinder- und Jugendhilfe. Professionelle Fachkräfte wollen und müssen ein behandlungswürdiges Problem der familialen Lebenspraxis so verstehen, dass es zum Gegenstand stellvertretender Krisenlösung werden kann. Analysen der klinischen Soziologie haben an dieser Stelle so auch den Sinn, die

4Auch

für Franzmann (2019: 169) besteht ein typisches Problem in der Forschung zur Kinder- und Jugendhilfe darin, dass vorhandene Dokumente und Vorberichte aus der Akte der Jugendämter für eine soziologische Fallanalyse oft nur bedingt aussagekräftig und teilweise sehr lückenhaft sind. Von einem einheitlichen professionellen Standard seien wir in deutschen Jugendämtern weit entfernt, heißt es weiter.

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praktische Fallarbeit mit ihren Deutungen zu unterstützen. Im Mittelpunkt eines klinischen Verständnisses sozialwissenschaftlicher Forschung steht entsprechend der Einzelfall als Verbindungsglied zwischen Theorie und Praxis (Hildenbrand 2019: 36).5

3 Fallbestimmung einer Familie als Klientenfamilie Wir konzentrieren unser Interesse an der Fallakte nicht auf das dort dokumentierte professionelle Handeln (auf das Andreas Wernet 2000 am Beispiel des Lehrerhandelns eingeht) und nicht auf den Verlauf des Hilfeprozesses (worauf u. a. Juliet M. Corbin und Anselm Strauss (2004) oder Fritz Schütze (2006) ihren Akzent legen), sondern auf die Klientenfamilie (wie innerhalb der Methodenliteratur bspw. Bruno Hildenbrand 1999). Würden wir uns zu Beginn der Analyse auf die Frage beschränken, was Familie als Familie ausmacht, so könnte es genügen, die besondere Beziehungskonfiguration als Grundelement der Familie und Hintergrundfolie einer jeden Fallrekonstruktion in diesem Bereich zu explizieren und für die Interpretation gewissermaßen verfügbar zu halten. Zu dieser Beziehungskonfiguration zählt der Sachverhalt, dass Familie an der Schwelle von Natur zu Kultur steht. Dies wird in der Familienforschung u. a. daran deutlich, dass sie in ihrem Untersuchungsfeld – wie auch in unserer Fallgeschichte – immer wieder auf einen Unterschied zwischen ­biologisch-leiblicher und sozialer Elternschaft treffen kann. Kommt jedoch der weitere Gesichtspunkt der Erziehungsprobleme hinzu, dann gewinnt ein anderer Sachverhalt eine entscheidende Bedeutung. Dass nämlich die Familie gesellschaftspraktisch in der Spannung von intimer Beziehungsgruppe und erzieherischer Institution steht. Damit tritt eine weitere Frage als notwendig zu berücksichtigende in den Horizont unserer Analyse: ob eine Familie ihren Aufgaben für die Gesellschaft

5Anders

gesagt: dominiert in der klinischen Sozialforschung der Anwendungsbezug, stehen praktische Interessen der Beratung und Therapie im Vordergrund. In unserem Fall im Feld der Kinder- und Jugendhilfe bspw. würde es um eine besondere Klientenfamilie und ihre Befindlichkeit gehen; nicht primär um wissenschaftliche Erkenntnisse als solche, sondern um ein besseres Fallverstehen als Hilfestellung und Unterstützung einer sozialpädagogischen und behördlichen Interventionspraxis, die auf ein wiederholtes Scheitern einer Familie im Erziehungsprozess reagieren muss (vgl. Franzmann 2019: 158 f.).

Fallrekonstruktive Familienforschung auf der Grundlage …

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gerecht wird (wie bspw. in Art. 6 (2) GG oder § 1 (2) SGB VIII geregelt). Diese Perspektive lässt sich mit Hilfe von Talcott Parsons präzisieren. Talcott Parsons (1973: 110) spricht in seiner Konzeption von der universellen Erscheinung der Kernfamilie in allen menschlichen Gesellschaften, die wir kennen. Diese sei eine Kleingruppe, die durch folgende Mindestkriterien gekennzeichnet ist: „Dass erstens zwischen Mutter und Kind eine solidarische Beziehung bestehen muss, die über eine Reihe von Jahren andauert und in ihrer Bedeutung über eine rein körperliche hinausgeht; zweitens dass die Frau als Mutter dieses Kindes in einer besonders gearteten Beziehung zu einem Manne außerhalb ihrer eigenen Abstammungsgruppe stehen muss, der soziologisch der ‚Vater’ des Kindes ist“ (ebd.: 111). Wir heben das erste Merkmal der ­Mutter-Kind-Beziehung hervor, weil es u. E. eng mit der sozialen Tatsache in Verbindung steht, dass 80–90 % aller Alleinerziehenden in Deutschland Mütter sind (vgl. zu anderen sozialstrukturellen Daten Alleinerziehender: Funcke; Hildenbrand 2009: 42 f.). Und es ist dann auf dieses Datum bezogen ein erstes besonderes Merkmal unserer Fallgeschichte Häffner, als wir es hier mit einem alleinerziehenden Vater zu tun haben werden. Im Anschluss an Parsons definieren Oevermann (1996: 112 ff.) und Hildenbrand (1999: 11 f.) weitere Mindestkriterien der Familie. Die Familie stellt eine besondere Kleingruppe von regelmäßig und privat bzw. intim interagierender Personen dar, die durch zwei konkurrierende, aber notwendig miteinander verschränkte Beziehungen gekennzeichnet ist: die (elterliche) Paarbeziehung und die Eltern-Kind-Beziehung – u. U. ergänzt durch die Geschwisterbeziehung. Familie ist in dieser Sichtweise weiter gekennzeichnet durch die Strukturmerkmale der Nicht-Austauschbarkeit des Personals (der faktische Austausch von Familienmitgliedern begründet eine neue Familie), der Körperbasis der Paar- und (durch das Inzesttabu eingeschränkt) der Eltern-Kind-Beziehung, der affektiven Solidarität und des unbedingten Vertrauens – trotz der Konkurrenz dyadischer Beziehungen mit Ausschließlichkeitsanspruch – sowie der (prinzipiellen) Unkündbarkeit dieser Beziehungen (leibliche Eltern bleiben „ein Leben lang" Eltern ihrer leiblichen Kinder, weil es eben auch eine natürliche Tatsache ist). Parsons arbeitet in seinem strukturfunktionalistischen Familienmodell aber wie gesagt nicht nur die grundlegenden Beziehungsstrukturen von Familie heraus und bestimmt sie als Ort der primären Sozialisation, sondern er weist zudem auf die Funktionen hin, welche die Familie als Kleingruppe notwendigerweise für die Gesellschaft zu erfüllen habe. Franz-Xaver Kaufmann (1995: 36 ff.) sieht darauf bezogen vier Aufgaben, welche die Familie aus gesellschaftspraktischer Sicht bewältigen müsse – und deren Nichterfüllung zu sozialen Problemen führe (wie wir am Beispiel der Familie Häffner im nächsten Kapitel sehen werden):

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Erstens: Die Kohäsion, der Zusammenhalt der Familie. Ist die notwendige Kohäsion in den Familienbeziehungen „unterhöhlt“, dann vermag sie die für eine gelingende Lebenspraxis hinreichende emotionale Stabilisierung ihrer Mitglieder nicht mehr zu gewährleisten. Zweitens: Die notwendigen Ressourcen als Voraussetzung eines gelingenden Erziehungsprozesses. Fehlt es an materiellen Ressourcen oder am Verantwortungsbewusstsein der Eltern, dann ist die angemessene Pflege und Erziehung der Kinder gefährdet. Drittens: Dasselbe gilt für eine adäquate Haushaltsführung, die der Befindlichkeit und dem Handlungsvermögen der Familienmitglieder zuträglich ist. Denn die Sorge um Gesundheit und Erholung ihrer Mitglieder ist eine der wichtigsten Funktionen der Familie für die gesellschaftliche Reproduktion. Viertens: Unbedingte Solidarität eines gemeinsamen Lebenswegs. Schwindet die wechselseitige Hilfsbereitschaft im Familienverband, dann geht ein konstitutives Merkmal verloren, das Familie als solidarische Primärgruppe auszeichnet, was dem Sozialstaat kompensierende Hilfemaßnahmen aufbürdet und die Familie zu einer Klientenfamilie werden lässt. Damit haben wir den Blick auf unser Datenmaterial geschärft. Wir wenden uns im Folgenden einer Fallakte aus dem Sozialen Dienst eines Jugendamts in Thüringen zu. Und zwar in der Erwartung und dem Interesse folgend, über die Problematik von Familienbeziehungen (insbesondere in der ­ Eltern-Kind-Dimension) und ihrer Verschränkung mit dem gesetzlichen Erziehungsauftrag (der an Sorgeberechtigte ergeht und dessen Erfüllung das Jugendamt in Krisenfällen kontrollieren soll) etwas Genaueres zu erfahren.

4 Die Rekonstruktion der Lebens- und Erziehungsmuster von Familie Häffner6 auf der Basis der Interpretation der sozialen Rahmendaten in der Fallakte (Phase 1) Aus der Perspektive des sozialkonstruktivistischen Ansatzes (i.S. von Berger; Luckmann 1969) wird deutlich, dass ein Fall nicht von Forschern oder Praktikern je für sich subjektiv konstruiert wird. Sondern dass sich eine Falldokumentation in einer Akte nach den berufspraktischen Notwendigkeiten des Handlungs-

6Alle

Namen in dieser Fallgeschichte sind anonymisiert.

Fallrekonstruktive Familienforschung auf der Grundlage …

301

felds sozialer Hilfen richtet; oder dass eine Fallrekonstruktion in der Familienanalyse den methodischen Standards der Sozialforschung zu genügen sucht. Letzteres gilt auch für die sequenzielle Dokumentenanalyse einer Fallakte. Das bedeutet für uns, dass in einem ersten Arbeitsschritt möglichst interpretationsfreie Informationen über familienbiografisch relevante Daten (Geburten, Heiraten, Trennungen, und Scheidungen, Todesfälle, Beruf bzw. Tätigkeit oder Arbeitslosigkeit, Wohnorte und Umzüge, besondere Lebensereignisse usw.) aus der Akte „herausgezogen“ und in Genogrammform zusammengesetzt werden (vgl. Hildenbrand 2005).7 Bedeutsam ist hier die Drei-Generationen-Perspektive. Die zeitgeschichtliche Forschung, die sich an der Methode der oral history orientiert, begründet diesen methodischen Schritt mit der zentralen Überlegung: „Die Traditionen der Vorfahren haben, selbst wenn man sich ihrer nur mehr schwach erinnert, großen Einfluss auf das Leben von Familien. Mögen Jugendliche sich familiären und verwandtschaftlichen Zwängen auch zu entziehen suchen, sind sie doch durch tief verwurzelte Strukturen geprägt, etwa im Blick auf Zugehörigkeiten wie nationale und regionale Bindungen, soziale Milieus und Religion (bzw. Konfession). Direkter geben Großeltern berufliche Vorlieben, Verhaltensmaßregeln und materielles Erbe weiter“ (Jarausch 2018: 18). Dadurch geprägte Eltern, heißt es weiter, strukturieren durch ihr Vorbild und ihre Persönlichkeit, durch berufliche Erfolge wie Fehlschläge die Wert- und Deutungsmuster bzw. die mentalen oder Humanressourcen und damit die Lebenschancen ihrer Kinder (vgl. ebd.). Sind die objektiven, familienbiografischen Daten in einer Fallakte dokumentiert, können wir mit der sequenziellen Analyse eines in der Regel selbst erstellten Genogramms beginnen. Wir interpretieren biografische Daten auf der Grundlage der mit den jeweiligen familiengeschichtlichen Phasen verknüpften objektiv gegebenen Entscheidungsspielräumen und Entwicklungsmöglichkeiten (vgl. Hildenbrand 2018: 22). Ihre Explikation orientiert sich an den „Sinnstrukturen der sozialen Matrix“ (ebd.: 26), also den angesprochenen gesellschaftlichen Zeitumständen und Milieuverhältnissen, den konkreten Familienkonstellationen und Verlaufsmustern von Lebensläufen.

7In

diesem Kontext ist es wichtig, die Genogrammdaten der Familie nicht von vornherein durch die praktische Sicht der „berufstypischen Deutungsmuster“ vorgeprägt zu rekonstruieren (vgl. Bohler 1994 und Wolff 2000). Die Interpretation dieser praktischen Sichtweise stellt einen eigenen Analyseschritt dar, dem v. a. in der klinischen Soziologie größere Bedeutung zukommt.

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Fehlen jedoch – wie so oft – in der Akte die Daten zu den Großeltern, ist eine genetische Rekonstruktion des Familienhabitus im Sinne der Genogrammanalyse nur eingeschränkt möglich. Die Drei-Generationen-Perspektive hat ja soziologisch gesehen den Sinn, die Familienbildung in den beiden Phasen der Strukturierung entlang ihrer Verlaufsdaten zu rekonstruieren. Das entscheidende Glied in der Generationenkette sind dabei die Eltern. In der ersten Phase untersuchen wir, wie der Habitus der Eltern in deren Sozialisationsprozess strukturiert (i.S. Bourdieus) wurde; in der zweiten Phase, wie ihr Habitus als strukturierender auf die Sozialisation ihrer eigenen Kinder einwirkt. Max Weber (1976: 1) bindet eine „ursächliche Erklärung“ der ersten Phase an die Möglichkeit, den „Ablauf“ der Habitusgenese rekonstruieren zu können. Er unterscheidet davon in der zweiten Phase die Notwendigkeit, die „Wirkungen“ des Habitus auf die Mitwelt und Kinder konkret nachzuzeichnen, um die aktiv-strukturierende Seite habitualisierter Muster näher bestimmen zu können. In unserer Fallakte, wie wir gleich sehen werden, finden sich fast ausschließlich lebensweltlich-biografische Daten zu den beiden Generationen der Eltern und Kinder – und damit zur zweiten Phase des skizzierten Strukturierungsprozesses. Das hat zur Konsequenz, dass die mögliche Konstellation der ersten Phase des Strukturierungsprozesses i.S. Bourdieus nur aus den Hinweisen zum einbettenden Milieu und aus den Persönlichkeitsdispositionen der Eltern bzw. hier des alleinerziehenden Vaters ein Stück weit erschlossen werden kann. Die materiale Fallrekonstruktion reduziert sich gewissermaßen auf die Explikation von habitualisierten sozialen Mustern, deren praktische Konsequenzen protokolliert werden und in der Akte dokumentiert sind. Deutendes Rekonstruieren in der Anfangsphase der Analyse heißt so insbesondere habitualisierte Muster zu erkennen. Beim Mustererkennen kommt es darauf an, einige wenige Daten einer Fallakte in ihrem Zusammenhang und bezogen auf den Familienhabitus sowie den individuellen psychischen Apparat (i. S. der Psychoanalyse) zu verstehen (vgl. Hildenbrand 2018: 18). Nach der Explikation dieser habitualisierten Muster geht es im weiteren Verlauf der Rekonstruktion darum, herauszuarbeiten, ob und wie sie die Handlungsorientierungen und -entscheidungen des Falls prägen. Die methodische Explikation von Mustern ermöglicht es, soziales Handeln „deutend zu verstehen“; allerdings (noch) nicht, die den Mustern zugrunde liegenden Dispositionen in ihrer Genese (hinreichend) „ursächlich zu erklären“. Ist eine ursächliche Erklärung im Sinne von Kausaladäquanz (i.S. Webers) nicht zu erreichen – wie hier, aber auch sonst oft in den Sozialwissenschaften –, dann sind wir auf sinnadäquate Analyseformen und Schlussweisen angewiesen. In unserem Fall hieß das, von den wahrscheinlichen Rahmenbedingungen des einbettenden

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regionalen und sozialen Milieus ausgehend auf typische Muster der familialen und personalen Habitusbildung bzw. signifikante habitualisierte Handlungsdispositionen zu schließen. Wir versuchen also auf diesem Wege, über die Klärung der sozialen Einbettungsverhältnisse der Fallgeschichte zu einer ersten Hypothese zu gelangen. Angesichts der Familiensituation muss sie sich auf die Frage nach den familialen Ressourcen sowie den Orientierungs- und Handlungsmustern eines alleinerziehenden Vaters in einer erzieherischen Notlage beziehen (vgl. ebd.: 23). Milieuhintergrund und Ressourcenlage einer Klientenfamilie lassen sich umso genauer bestimmen, je ausführlicher Fachkräfte der Bezirkssozialarbeit relevante biografische Klientendaten (eben nicht nur zu Kind und sorgeberechtigten Eltern, zu Beruf und Wohnort) in der Akte vermerken. Es gibt nach unseren Erfahrungen eher vereinzelte Bestrebungen, darüber hinaus weitere, für das Fallverstehen hilfreiche Genogrammdaten zu erheben und zu protokollieren. Der für den Fall Häffner die meiste Zeit zuständige Bezirkssozialarbeiter gehörte zu den relativ wenigen Mitarbeitern Sozialer Dienste, die sich immer wieder die Mühe machen, von und mit ihren Klientenfamilien ein ausführliches Genogramm über mindestens drei Generationen zu erstellen. Diese Mühe machte er sich insbesondere dann, wenn die Familienverhältnisse (leibliche und soziale Elternschaft einzelner Kinder sowie andere Familienbeziehungen) unklar und unübersichtlich waren, wenn sie zudem den gewohnten Üblichkeiten der heimatlichen Milieuwelt nicht entsprachen (der Sozialarbeiter stammte selbst aus dem Landkreis, in dessen Jugendamt er tätig war).8 Ein solches Genogramm fehlt in der Fallakte Häffner. Kennen wir – wie hier – die Arbeitsmuster einer Fachkraft, so ist es möglich, auch aus einer Leerstelle in der Falldokumentation Rückschlüsse auf den Fall zu ziehen. Unsere ersten Erwartungen zur sozialen Gestalt des Falls und seiner lebensweltlichen Einbettung wären dann: Es handelt sich um eine noch überschaubar zusammengesetzte Familie im Kontext der traditionellen regionalen Milieuwelt, die in eine Krise geraten ist. Für diese Hypothese – um das vorwegzunehmen – sprechen folgende Daten in der Fallakte. Es geht im dokumentierten Hilfeprozess immer wieder um die Möglichkeit, in einer Krise den Sohn (zwischen 2000 und 2006, im Alter von 10 bis 16 Jahren) vorübergehend (d. h. mehrere Tage oder Wochen) sicher außerhalb des väterlichen Haushalts unterzubringen. Das waren nach Aktenlage: Mutter (2000), Oma (2001),

8Diese

Sachverhalte entnehmen wir einem von uns geführten Interview mit dem Bezirkssozialarbeiter.

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Halbbruder (2000), Halbschwester (2001), Onkel mütterlicherseits (2005) und die Familie seiner Freundin (2006), aber auch zwei Lebenspartnerinnen des Vaters (2004 und 2005). Diesen informellen familienweltlichen Hilfen stehen „nur“ vier kurzzeitige Inobhutnahmen in einer Bereitschaftspflegestelle (zwischen 2000 und 2006) sowie eine längere Unterbringung bei einer ­(Teilzeit-)Pflegefamilie (an den Werk- bzw. Schultagen der Woche, 2001 bis 2002) gegenüber. Dazu kommt als Sonderfall eine Inobhutnahme 2004, bei der Rene jedoch nicht in einer Bereitschaftspflege des Jugendamts unterkommt, sondern bei einer Partnerin seines Vaters. In dieser dokumentierten Hilfepraxis zeigen sich Selbsthilfekräfte bei Familie, Verwandtschaft und Milieuwelt, die so bei einer sozial isolierten, völlig desintegrierten Familie nicht zu finden wären. Besonders die zuletzt angesprochene Inobhutnahme von 2004 dokumentiert zudem, dass auch das Jugendamt – was gewissermaßen unsere obige Vermutung bestätigt – diese Selbsthilfekräfte sieht und auf sie zurückgreift. Darüber hinaus orientiert es sich bei seiner Intervention nicht an einem amtlich-konventionellen Familienmodell, sondern bezieht tragfähige unkonventionelle Familienbeziehungen (i.S. von Funcke; Hildenbrand 2009) wie selbstverständlich mit in die Hilfestrategie ein. Kommen wir nach dieser ersten, tentativen Fallbestimmung und einer vorläufigen Antwort auf die Frage nach den familialen Ressourcen zu den in der Akte festgehaltenen Eckdaten der Fallgeschichte und zu ersten Hinweisen auf erwartbare väterliche Lebens- und Orientierungsmuster: Herr und Frau Häffner leben in einer mittelgroßen Thüringer Stadt. Sie heiraten 1989, beide waren aber bereits vorher einmal verheiratet und bringen je ein Kind mit in den gemeinsamen Haushalt. Zur Besiegelung ihrer Beziehung bekommen Herr und Frau Häffner 1990 noch einen gemeinsamen Sohn, Rene (um den es im Rahmen der erzieherischen Hilfen geht). Im Jahr 1998 trennt sich das Ehepaar. Die Scheidung erfolgt ein Jahr später 1999. In diesem Zeitraum ziehen die älteren (1980 und 1982 geborenen) Halbgeschwister von Rene aus, sodass er nach 2000 als einziges Kind bei seinem (alleinerziehenden) Vater in der Wohnung lebt. An dieser Stelle konstatieren wir bei Rene, bezogen auf das Kohärenzprinzip der Familie, einen Verlust an sozialen Beziehungen und familialen Bindungen. Der in der Akte dokumentierten Interventionspraxis ist zu entnehmen, in welcher Situation sich die familiale Lebens- und Erziehungspraxis nach 1999 befindet und episodisch in eine Krise gerät. Wir gehen aus Platzgründen v. a. auf berufs- und familienbiografische Daten ein, weniger ausführlich auf die bereits schon erwähnten Selbsthilfebemühungen (bei denen sowieso offen bleiben muss, inwieweit sie in der Akte dokumentiert sind). Bei dieser Verlaufsanalyse stoßen wir auf ein für das Fallverstehen wichtiges biografisches Muster im Bereich der uns interessierenden väterlichen Orientierungs- und Handlungsschemata. Herr

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Häffner war vor 1990 Arbeiter im größten Kombinatsbetrieb seiner Heimatstadt. Beruflich verkörperte er so die „Normalbiografie“ eines DDR-Bürgers, auch in seiner Region. Etwas problematisch war sein Leben in einer Patchwork-Familie von 1989 bis 1999. Eine solche Familie „zusammenzuhalten“ stellt gemessen am „Normalitätsmuster“ eine anspruchsvollere psychosoziale Aufgabe dar. Zu dieser, u. U. eher latenten Belastung trat seit Mitte der 1990er Jahre die manifeste Belastung durch den Verlust des angestammten Arbeitsplatzes. Ein Blick in die Akte und den Verlauf der jugendamtlichen Interventionen weist nun auf, dass Konflikte und erzieherischer Hilfebedarf in der Familie immer dann manifest werden, wenn Herr Häffner keiner beruflichen Tätigkeit nachgeht. Selbst in Phasen prekärer Beschäftigung reduzieren sich oder sind Eingriffe des Jugendamts nicht nötig. Damit stoßen wir auf ein Lebensmuster (vgl. Garz 2007), auf so etwas wie Residuen einer tradierten regionalen und „­ DDR-Identität“ bei Herrn Häffner, für die Arbeit und Betriebsgemeinschaft einen zentralen Stellenwert haben. Schwieriger oder kaum lassen sich wegen der fehlenden Daten in der Akte die konkreten Milieu- und Familienelemente für die Bildung dieser Dispositionen rekonstruieren. Wir vermuten mit Blick auf dieses Lebensmuster jedoch bei Herrn Häffner eine heteronome Persönlichkeitsstruktur, deren Handlungsmotivierung nicht wie bei einer autonomen Grundhaltung durch ein inneres, prinzipiengeleitetes „Verhaltensskelett“ stabilisiert wird. Sondern eine, deren Handlungssicherheit erst durch die Einbettung in ein stabilisierendes soziales Gefüge hergestellt wird. Ist seine Lebenspraxis sozial eingebettet, „funktioniert“ Herr Häffner in Alltag und Erziehung; wird die Lebenspraxis dagegen entbettet, stürzt sie in die Krise. Auch in der Erziehung, obwohl doch „an sich“ für sie jetzt mehr Zeit und Aufmerksamkeit möglich wären. Schwerer scheint in diesen krisenhaften Lebenslagen der Verlust an väterlicher Autorität zu wiegen.

5 Die weitere Rekonstruktion der Lebens- und Erziehungsmuster von Familie Häffner auf der Grundlage der Daten zum Hilfeprozess (Phase 2) Kommen wir zur zweiten Phase der Rekonstruktion, die sich auf Notate zur Interventionspraxis und zum Hilfeprozess stützt, und fragen uns, welche weiteren Muster in der Lebens- und Erziehungspraxis sich aus den Dokumenten zu deren Verlauf erschließen lassen. Familie Häffner wird dem Jugendamt im Rahmen der Trennung und der Sorgerechtsregelung nach der Scheidung bekannt (beide Eltern besitzen das Sorgegerecht). Herr Häffner bekommt nach der Scheidung im November 1999 eine Sozialpädagogische Familienhilfe bewilligt. Dem geht

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voraus, dass das Jugendamt in einer Problemdiagnose bei Herrn Häffner ein manifestes Funktionsdefizit (i.S. von Parsons und Kaufmann) feststellt: Der Familienhelfer wird beauftragt, Herrn Häffner bei der Organisation des Haushalts und der Erziehung von Rene zu unterstützen. Ende Mai 2000 verschärft sich die Lage: Herr Häffner muss seine Wohnung aufgrund erheblicher Mietschulden verlassen und nach einer Zwangsräumung gemeinsam mit seinem Sohn in eine Obdachloseneinrichtung ziehen. Das Interventionsmuster im Jugendamt lautet ab diesem Zeitpunkt: „Sicherung des Kindeswohls im Rahmen familienerhaltender Maßnahmen“. An dieser Stelle taucht die Frage nach der Familienautonomie auf. Konkret: Welche Grenzziehung zwischen Familie und staatlichen Institutionen geht mit dieser Fallbestimmung einher? Die Antwort lässt sich einer Krisenintervention vom 29.06.2000 entnehmen. Laut Aktennotiz informiert die Polizeiinspektion der Stadt den zuständigen Bezirkssozialarbeiter „um 20.20 Uhr über sein privates Telefon, dass der sorgeberechtigte Vater im betrunkenen Zustand sei und wiederholt gedroht habe sich umzubringen. Sein bald 10-jähriger Sohn Rene befinde sich z. Zt. bei seinem volljährigen Halbbruder in dessen Wohnung“. Letzteres lässt darauf schließen, dass es eine gewisse Geschwistersolidarität, die ja keine unbedingte sein muss, als familialen, Autonomie sichernden Resilienzfaktor gibt. Ebenso taucht in dieser Zeit einmal Renes Halbschwester auf. Ansonsten aber handelt die Polizeibehörde hier und auch in der Folge im Sinne der Kindeswohlsicherung durch Eingriffe und das Bereinigen akuter Gefahren im persönlichen Wohn- und Lebensumfeld der Familie. Kurz gesagt: die Polizei verhindert in akuten Krisensituationen durch ihren exklusiven Auftrag zur Gefahrenabwehr Übergriffe auf das Kind. Und das geht an dieser Stelle noch mit anderen Eingriffen (des Jugendamts) einher: Rene wird sofort in einer Pflegestelle in Obhut genommen und die Familienhilfe beendet. Wie geht es weiter? Durch Scheidung einer Ehe und neue Partnerschaften der Eltern wird ein Familiensystem komplexer. Es kommt zu Stiefbeziehungen. In Funcke und Hildenbrand (2009: 75) lesen wir dazu: „Ein zentrales Thema der Stieffamilie ist, dass das Familienleben auf mehrere Haushalte verteilt ist. Wenn ein Kind zwischen diesen Haushalten pendelt, dann pendelt es zwischen sozialen Welten.“ Welche Bedeutung dieses Pendeln besitzt, zeigt sich bei unserem Fall in ganz dramatischer Form. Denn am 01.07. 2000 macht sich Rene – etwa 10-jährig (!) – allein von seiner Pflegestelle auf den fast 100 km langen Weg zu seiner Mutter, die von Thüringen ins sächsische Vogtland umgezogen ist. Kaum eingetroffen, zieht die Mutter mit ihm in die Wohnung ihres neuen Lebenspartners, der damit zum „sozialen Stiefvater“ von Rene wird. Schon kurz darauf kommt es zu „massiven Differenzen“ zwischen beiden. Rene „fliegt“ aus der Wohnung

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(die Formulierungen knüpfen an die in der Akte an). Die Mutter stellt sich auf die Seite ihres neuen Lebenspartners und beantragt eine Vollzeitpflege für ihren Sohn. Der Antrag wird vom örtlichen Jugendamt abgelehnt. In dieser Situation zeigen sich zwei soziale Muster. Erstens konkurrieren zwei „unabhängige“ Dyaden mit Ausschließlichkeitsanspruch, in der es um die Gunst der Mutter geht. Und zweitens bestätigt sich das Muster, dass eine Integration neuer Familienmitglieder dann gelingt, wenn befriedigende Stiefbeziehungen (hier zum neuen Lebenspartner der Mutter) gebildet werden können, mit denen alle Beteiligten einverstanden sind (vgl. ebd.). Das ist im Fall von Rene nicht gelungen. Da sich die Mutter für ihren neuen Partner und gegen ihren Sohn entscheidet sowie das Jugendamt gegen eine dauerhafte Unterbringung in einer Pflegefamilie, kommt Rene bereits im August 2000 wieder zurück zu seinem Vater. Aus der obigen Perspektive von Parsons, aber auch aus bindungstheoretischem Blickwinkel gesehen: eine für ihn traumatische Erfahrung. Zu Anfang des Jahres 2001 spitzt sich der Konflikt mit dem Vater wieder zu, sodass zur Abwendung einer erneuten Gefährdung wegen Schlagens Rene am 02.01.2001 wieder in Obhut genommen wird. Nun entscheidet sich der Bezirkssozialarbeiter für eine andere Hilfestrategie: Rene kommt zu einer Pflegefamilie in der näheren Umgebung. Im Rahmen dieser Unterbringung wird eine Umgangsregelung mit dem Vater getroffen: Rene soll die Wochenenden regelmäßig zu Hause verbringen. Diese Hilfe wird nach etwa 18 Monaten aufgrund der Trennung der Pflegeeltern beendet und Rene kommt ganz zu seinem Vater zurück. Damit reproduziert sich für Rene ein instabiler Handlungs- und Sozialisationsrahmen, der Fragen nach familialer Zugehörigkeit und Verbindlichkeit unbeantwortet lässt. Die – in der Hilfeplanung nicht vorgesehene – Trennung der Pflegeeltern spricht zudem eine generelle Kehrseite des Modernisierungsprozesses im Pflegekinderwesen, und damit ein neues soziales Muster, an: Trugen Pflegekinder früher mit ihrer Arbeitskraft zur Subsistenzsicherung ihrer Pflegestelle bei, so sollen sie heute helfen, eine brüchige Paarbeziehung zu „kitten“.9

9Dies

war i.Ü. nicht der einzige derartige Fall, dem wir bei unseren Erhebungen begegneten. Warum? In einer Vorläuferuntersuchung wurde uns bspw. berichtet, dass es insbesondere bis in die 1970er Jahre einen Typus von Pflegefamilie gab – oft in einem familienbetrieblichen Kontext an der Rentabilitätsgrenze –, der „das Pflegegeld gut gebrauchen“ konnte. Dieser Typus ist (mehr noch als die christliche Motivierung) seitdem verschwunden. Dafür treten andere Motive in den Vordergrund. Vor allem das Motiv, das Pflegeverhältnis als „verkappte Adoption“ (miss-) zu verstehen, um dem Idealbild einer „kompletten“ Familie „mit Kindern“ nahe zu kommen; dann mit Pflegekindern das empty nest nach Auszug der eigenen Kinder wieder „aufzufüllen“; oder eben „zur Not“ mittels

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Nachdem sich die Lage längere Zeit beruhigt hatte – Herr Häffner ist wieder einmal in Beschäftigung – ruft über ein Jahr später, am 27.09.2004, die damalige Lebenspartnerin von Herrn Häffner im Jugendamt an. In der Akte ist zum Sachverhalt notiert: „Frau N. hatte am 25.9. Geburtstag und feierte mit Rene und dessen Vater bei sich zu Hause. Leider hat sich Herr Häffner betrunken und ist heute früh wieder in seine Wohnung gegangen. Rene bleibt bei Frau N. … Zum (Sozialarbeiter) sagte der Jugendliche am Telefon, dass er bei Frau N. leben möchte. Er weigert sich, wieder bei seinem Vater zu wohnen. Begründung: Der Vater betrinke sich und drohe ihm mit Prügeln. Frau N. versorgte Rene bisher bei sich und ist bereit, das auch in Zukunft zu tun. Was soll sie aber machen, wenn der Vater, wie am Mittwoch, zu ihr kommt, an das Tor tritt und die Herausgabe des Jungen fordert, obwohl der nicht zu seinem Vater will?“ (Für Letzteres ist i. Ü. die Polizei zuständig.) Der 14jährige Rene wird danach wieder einmal selbst aktiv und bestätigt ein allgemeines Muster, wonach Trennungskinder schneller selbstständig werden (müssen). Er sucht sich gewissermaßen selbst eine Pflegestelle und orientiert sich dabei an den gegebenen Familienbeziehungen: er will bei seiner „sozialen Stiefmutter“ bleiben. (Auf diesen Wunsch geht das Jugendamt ein, siehe oben.) Deutlich wird aber darüber hinaus, wie sich die Familiengrenzen immer weiter verwischen. Zwei Jahre lang befindet sich nach diesem Eintrag das Familiensystem in einem prekären Gleichgewicht mit einzelnen Akten familiärer und nachbarschaftlicher Hilfe. In dieser Zeit wechselt Herr Häffner seine Partnerin erneut. Des Weiteren wird ein neuer Sozialarbeiter für den Bezirk zuständig. Am 16.10.2006 gegen 10 Uhr meldet sich Rene telefonisch bei ihm und erklärt laut Aktennotiz, „dass er zu Hause raus geflogen sei. Vom Samstag auf Sonntag habe er bei Frau G. (neue Partnerin) geschlafen und vom Sonntag auf Montag bei seinem Onkel. Rene erklärte, dass es am Samstag erneut Stress zwischen seinem Vater und Frau G. gegeben habe. Frau G. könne sich nicht entscheiden (Kinder oder Herr Häffner) und der Vater sei ziemlich angetrunken gewesen. In diesem Zustand sei er sehr schnell reizbar, brülle herum und kann auch gewalttätig werden. Diese eigentlichen Partnerschaftsprobleme zwischen Vater und Frau G. halte er nicht mehr aus. Will endlich seine Ruhe haben, die Schule beenden und eine Lehre beginnen. Möchte ION (Inobhutnahme) haben.“ Renes Klassenlehrerin in der örtlichen Regelschule

Pflegekinder eine kriselnde Paarbeziehung durch Fürsorgepflichten stabilisieren zu wollen (vgl. Bohler; Bieback-Diel 2001: 204 ff. Zu den „Zumutungen an Pflegefamilien“ allgemein: Funcke, Hildenbrand 2009: 96 f.).

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bittet am 18.10.2006 telefonisch das Jugendamt „um eine Rückinformation zur Situation meines Schülers Rene Häffner. Nach seinen Angaben gibt es häusliche Probleme“ (so in Aktennotiz). Im Rahmen der Abklärung der Situation, Rene hält sich bei der Familie seiner Freundin auf, bringt der neu zuständige Sozialarbeiter Herrn Häffner dazu, wieder einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung zu stellen. Diese Hilfe wird allerdings von Rene und seinem Vater nicht angenommen. Der Sozialarbeiter geht daraufhin neue Wege. Nach wiederholtem Alkoholmissbrauch mit Gewaltausübungen gegenüber Rene und einer erneuten Inobhutnahme am 15.12.2006 ändert sich das Interventionsmuster grundlegend: Die Verselbständigung von Rene soll nicht mehr in, sondern jetzt außerhalb der Familie vonstattengehen. Am 22.02.2007 kommt es zum Sorgerechtsentzug beider Elternteile durch das zuständige Amtsgericht. Die Familie büßt damit ein wesentliches Element ihrer Autonomie ein. Die Vormundschaft übernimmt das Jugendamt. Der Amtsvormund stellt einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung gemäß § 33 SGB VIII (Vollzeitpflege), welcher bewilligt wird. Rene wird daraufhin in einer Pflegefamilie untergebracht. Die „Erfolgschancen“ für diese Maßnahme steigen, so die sozialpädagogische Erfahrung, wenn es sich um eine zum Umfeld hin offene Pflegefamilie handelt. Denn dieser Typus „ist für Pflegekinder in der Adoleszenz sinnvoll, wenn die Orientierung nach außen wichtiger wird als ein stabiler affektiver Rahmen der Familie. Letzterer wird zwar immer noch benötigt, tritt aber gegenüber der Außenorientierung in den Hintergrund und erhält nur situativ Bedeutung“ (Funcke; Hildenbrand 2009: 160). Besonders hilfreich ist dabei ein soziales Muster, wonach die Pflegefamilie nicht nur offene Grenzen gegenüber ihrer sozialen Umwelt aufweist, sondern auch auf diese Umwelt positiv bezogen ist (vgl. ebd.). Dies scheint im Großen und Ganzen erreicht worden zu sein, denn mit dieser Hilfemaßnahme endet der Fall Häffner in der uns zur Verfügung stehenden Akte des Jugendamts.

6 Gehalt und Anschlussmöglichkeiten von fallrekonstruktiven Aktenanalysen in der Familienforschung und der klinischen Soziologie Wie das Beispiel der Familie Häffner zeigte, ist es auf der Basis von Jugendamtsakten möglich, eine Familie (als Klientenfamilie) sowie die Verhältnisse des umgebenden sozialen Raums und die Zeitumstände in ihrer genetischen Verschränkung systematisch so weit zu analysieren, dass damit wichtige „Strukturmuster gelebten Lebens“ interpretiert werden können (vgl. Garz 2007: 207).

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Die rekonstruktive Familienforschung teilt mit der Interventionspraxis bei Erziehungsproblemen den methodischen Schritt des Fallverstehens. Aufgrund des praktischen Bezugs geht es v. a. um Strukturmuster im Schnittfeld von familialer Lebens- und Erziehungspraxis. Auch wegen dieser Fallbestimmung ist es bedeutsam, in der soziologischen Analyse die Arbeitsmuster der „üblichen Praxis“ in einem Jugendamt mit zu reflektieren. Die Rekonstruktion der Strukturmuster familialen Lebens geschah auf sequenzanalytischem Wege. Dabei werden die dokumentierten Daten, d. h. sowohl die „harten“ objektiven Daten wie sie z. B. in den Formblättern protokolliert sind, als auch die „weichen“ Daten, in denen sich das berufsbedingte Fallverstehen ausdrückt, chronologisch interpretiert. „Insofern geht es um die Rekonstruktion von objektiven Daten, die (…) im Mittelpunkt stehen, weil (…) sich in ihnen das Strukturmuster menschlichen Lebens zeigt“ (ebd.: 209). Ein solcher interpretativer Angang, so Garz (ebd.) weiter, könne als eigenständiger, d. h. für sich allein stehender Weg der Familienforschung betrachtet werden. Wie unser Beispiel zeigt, ist ein derartiger Forschungsweg jedoch nur dann gangbar, wenn die Fakten einer Familienbiografie und der Lebensverläufe in der Fallakte zuverlässig und in hinreichender Dichte vorzufinden sind. Das heißt: nur dann, wenn Notate in der Akte die Familienkonfiguration und die Chronologie biografischer Daten bspw. qua Genogramm zuverlässig festhalten. Falls nicht, und das ist eher die Regel, muss in der Familienforschung selbst nacherhoben werden, typischerweise mittels (familien-)biografischer Interviews. Nur durch die Rekonstruktion der gesellschaftlichen und milieuweltlichen Erzeugungsparameter sowie des konkreten Ablaufs der Weichenstellungen der Familienbiografie und der Knotenpunkte der Lebensverläufe sind wir in der Lage, im Rahmen der interpretativen Familienforschung eine Fallstrukturgesetzlichkeit ursächlich zu erklären (wie es bei Max Weber heißt). Dazu nehmen wir insbesondere die Entscheidungen, die in der Familie bzw. von einzelnen ihrer Mitglieder wenigstens über drei Generationen und angesichts der jeweils gebotenen lebensweltlichen Möglichkeiten getroffen wurden, in den Blick.10

10Solche

Entscheidungen stellen Auswahlparameter i.S. von Garz (ebd.: 208) dar, der im Anschluss an Oevermann von einer „Dialektik“ zwischen Erzeugungs- und Auswahlparametern spricht. Der Erzeugungsparameter umfasst danach alles, was v.a. Gesellschaft und Milieuwelt als Rahmungen für Lebenspraxis bzw. familiale Abläufe bereitstellen; demgegenüber steht der Auswahl- und Entscheidungsparameter, der jene Falldaten umfasst, die angeben, wie und durch welche Option ein Ablauf sich tatsächlich vollzieht.

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Ansonsten bleibt es beim Erkennen und Explizieren von Lebens- und Erziehungsmustern. In der Fallakte kreuzen sich die Lebenspraxis und Erziehungswirklichkeit von Familien im Sinne einer natürlichen Ausdrucksgestalt mit einer von den Sozialen Diensten herbeigeführten und protokollierten Einflussnahme auf selbige im Rahmen krisenhafter Sozialisationsprozesse. Es treffen materiale, auf die jeweilige Familie zielende, und formale, auf das Jugendamt gerichtete Fallbezüge zusammen. Dies steckt den spannungsreichen Bedeutungshorizont von Fallrekonstruktionen auf der Basis unserer Dokumentenanalyse ab. Trotzdem gewähren Fallakten eines Jugendamts aufschlussreiche Einblicke in die Wirklichkeit von Familienbeziehungen und -strukturen. Unsere Analyse konzentrierte sich aufgrund der Datenlage auf das Erkennen sozialer Muster in den Erlebens- und Erfahrungswelten einer Familie. Ein wichtiges Lebensmuster des alleinerziehenden Vaters war: Ist seine Existenz in eine Arbeitsgemeinschaft eingebettet, kommt er seinen gesetzlichen Erziehungspflichten nach. Ist diese in der Krise, ergeben sich Konflikte, erzieherischer Hilfebedarf und damit ein Autonomieverlust der Familie. Dieses Muster, aber auch die Komplexitätszunahme der Familie durch Scheidung und erzieherische Hilfen (v. a. bei Pflegeverhältnissen) führen zu einer „Brüchigkeit“, einem Kohärenzverlust der familialen Strukturen, die den kindlichen Sozialisationsprozess erschweren. Auffallend ist in diesem Kontext ein kompensierendes Verhaltensmuster, wonach sich der Sohn in Situationen notwendiger Selbsthilfe, bei der Suche nach „informellen Pflegestellen“ an die gegebenen Familienbeziehungen hält – wozu auch die Partnerinnen des Vaters als „soziale Stiefmütter“ zählen. Deutlich wird am Ende der Fallgeschichte, wie eine Orientierung an milieuweltlichen Mustern helfen kann, den „Ausfall“ der an sich besonders wichtigen Elterngeneration zu bewältigen. Mit seinem Wunsch nach Schulabschluss und beruflicher Lehre schließt der Sohn nicht an das abweichende Verhaltensmuster seines Vaters an, sondern an das „normalbiografische“ Orientierungsmuster seiner Familien- und Milieuwelt. Würden wir darüber hinaus jede Phase der unterschiedlichen Familienkonfigurationen in einer Aufstellung veranschaulichen, wäre es im Rahmen der klinischen Soziologie möglich, konkret nachzuvollziehen, welche Personen jeweils die Familie als Kern sozialisatorischer Bindungen ausmachen und wie sich damit die Sozialisationsbedingungen des Kindes und die Familiengrenzen verändern – und wie komplex sich das Ganze gestaltet (vgl. Franzmann 2019: 168). Die interpretative Familienforschung im Kontext der klinischen Soziologie hat dann die gesellschafts- und professionspraktische Bedeutung, durch sekundäre, die Fach- und Organisationsperspektive transzendierende und nur an

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den Standards der fallrekonstruktiven Familienforschung orientierte Analysen die eingefahrene Berufsroutine zu verflüssigen und so neue und unter Umständen auch ungewöhnliche Interventionspraktiken möglich zu machen (vgl. ebd.). Ist hierfür die Datenbasis zu brüchig, zwingt dieser Sachverhalt wieder dazu, für eine weiterführende Fallreflexion die methodisch belastbare Wissensgrundlage zu erarbeiten.

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Familie und Staat: Zur Entwicklung des Familienleitbildes in Deutschland im Familienrecht Stefan Kutzner 1 Einleitung Das Familienrecht hat in familiären Beziehungen eine erhebliche Bedeutung, sowohl für die Paar- wie auch für die Eltern-Kind-Beziehungen. Insbesondere trifft das für grundlegende Konflikte in Familien zu wie der Scheidung, der Regulierung der Scheidungsfolgen, bei Unterhalts- und Erbkonflikten und bei Gewaltfällen in Familien. Zwar nehmen Paare, Eltern und Kinder nicht das Familiengesetzbuch in die Hand, um ihren Alltag zu regeln und ihre wechselseitigen Ansprüche zu legitimieren, so gilt dennoch, dass das jeweils existierende Familienrecht wie überhaupt das Recht insgesamt an gegenwärtig vorhandenen Normen und Werten der Gesellschaft orientiert sein muss, um, und das gilt für jede Rechtsordnung, allgemein als legitim anerkannt zu sein. Ehe- und Familienrecht drücken insofern allgemeine vorherrschenden Auffassungen über Ehe und Familie aus. Mehr noch, über das Familienrecht (wie überhaupt über das Recht) übt der Staat soziale Kontrolle aus: Er formuliert Normen der Gestaltung der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen den Eheleuten und gibt in auftretenden Konfliktfällen Regulierungsmodi vor. Fragt man nach der Entwicklung des Familienrechts, fragt man auch danach, wie sich die staatlich ausgeübte Kontrolle über Ehe und Familie und die staatliche Regulierung dieser beiden Institutionen entwickelt hat. Und, auch das gehört in diesen Kontext, wie hat sich das kulturelle Leitbild von Familie (die Normen, wie

S. Kutzner (*)  Universität Siegen, Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Funcke (Hrsg.), Rekonstruktive Paar- und Familienforschung, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30668-7_10

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Familie gelebt werden soll) im Kontext der Entwicklung des Familienrechts verändert? In allen wissenschaftlichen Disziplinen, die Familienforschung betreiben, das sind vor allem die Familiensoziologie, die historische Familienforschung und die Erziehungswissenschaften, besteht weitestgehend ein Konsens darüber, wie sich im vergangenen Jahrhundert seit Ende des Zweiten Weltkriegs das familiäre Leben in westlichen Gesellschaften entwickelt hat: • Immer mehr wurden unterschiedliche Lebensformen akzeptiert, sodass Ehe und Familie (genauer als biologische Ursprungsfamilie) ihre Monopolstellung als verbindlicher Wert, als vorgegebene und damit allgemein anzustrebende Lebensform verloren haben. Die Zunahme kinderloser Existenzformen, alleinerziehender Eltern wie auch Stief- oder neu zusammengesetzten Familien, schließlich die institutionelle Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare sowie die zunehmende Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Eltern wird als Pluralisierung der Lebensformen bezeichnet. • Die soziale Kontrolle über die Lebensführung von Paaren nimmt zunehmend ab. Es gilt immer mehr als Angelegenheit des Paares zu befinden, ob sie heiraten oder nicht, wie sie ihre familiären Verpflichtungen (Erwerbsarbeit und Kindererziehung) organisieren und auch wie sie es mit der sexuellen Treue halten.1 • Der Ehemann und Vater verlor immer mehr seine patriarchalen Vorrechte, die Rechtstellung von Frauen in Ehe und Familie wurde allmählich gestärkt bis zur Erlangung der Gleichberechtigung wie auch zur Gleichverpflichtung. • Die Rechte von Kindern ihren Eltern gegenüber wurden gestärkt, eheliche und uneheliche Kinder in ihren Rechten zunehmend gleichgestellt. Auch die Erziehungsnormen, wie die Erziehung ausgeübt werden soll, unterlagen einem erheblichen Wandel. Diese eben skizzierte Entwicklung ist eingebettet in einen übergeordneten Kontext: den Modernisierungsprozessen in westlichen Gesellschaften. Die Säkularisierung als der Abnahme (nicht des Verschwindens!) religiöser Normen

1Aus

der Vielzahl der soziologischen Darstellungen zur Entwicklung der Familie in der westlichen Welt seien genannt: Burkart 2015, Funcke/Hildenbrand 2018, Goody 2002, Huinink/Konietzka 2007, Nave-Herz 2015, Peuckert 2008 und Schneider 2015. Aus der Geschichtswissenschaft Gestrich 2003 und Kaelble 2007. Erziehungswissenschaftliche Sichtweisen finden sich bei Ecarius 2007.

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und Werte gehört dazu wie die Bildungsexpansion (ab den 1960er Jahren), die auch die Ausweitung der Frauenerwerbstätigkeit nach sich zog, wie der Wertewandel in westlichen Gesellschaften überhaupt, wie er durch wachsenden materiellen Wohlstand möglich wurde und dazu führte, dass zunehmend die Orientierung der Menschen an ihren Selbstverwirklichungsinteressen erfolgt und somit die Oberhand gegenüber Pflichtwerten erlangt.2 Diese Entwicklungsprozesse drücken sich ebenso in der Entwicklung der ehe- und familienrechtlichen Normen aus. Rechtsnormen basieren immer auf gesellschaftlichen Normen und Wertvorstellungen. Dabei stellt sich aber die Frage, ob das Ehe- und Familienrecht (im Folgenden spreche ich meistens verkürzt vom Familienrecht) diesen Entwicklungen folgt oder sie nicht auch in vieler Hinsicht vorantreibt. Das genaue Verhältnis von Familie und Staat, die Wechselbeziehung zwischen gesellschaftlichen Normen familiären Zusammenlebens und familienrechtlichen Normen ist bisher nicht genauer untersucht worden. Entweder betont man in der Familienforschung implizit die viel größere Bedeutung der gesellschaftlichen Normen, die sich dann auch irgendwann in Rechtsnormen wiederspiegeln, man folgt implizit dem Marxschen Diktum des Verhältnisses von staatlich-kulturellem Überbau, der durch die gesellschaftliche Basis bestimmt wird, oder man belässt es in der Familienforschung bei deskriptiven Betrachtungen über Entwicklungsprozesse, ohne das Verhältnis zwischen familiärem Leben einerseits und dem Familienrecht und seinen zugrunde liegenden Normen andererseits in den Blick zu nehmen.

2 Fragestellung Im Folgenden versuche ich, anhand des Vergleichs zweier Rechtsordnungen die Entwicklung von Normen des ehelichen und familiären Zusammenlebens aufzuzeigen. Dabei sollen die jeweiligen Normen von Ehe und Familie in den jeweiligen Kontext von Staatlichkeit gestellt werden. Mit anderen Worten: ich frage danach, inwieweit die staatliche Organisationsform auch die Normen zu Ehe und Familie mitprägt.

2Eine

Übersicht über verschiedene Perspektiven soziologischer Modernisierungstheorien und ihrer Entwicklung findet sich bei Brock 2010 und 2014. Zur Säkularisierung siehe Pollack 2018, weitergehende religionssoziologische Perspektiven in Pollack et al. 2018. Zur Theorie des Wertewandels siehe Inglehart 1998.

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3 Methodisches Vorgehen Beschränken werde ich mich auf die Entwicklung in Deutschland. Auf diese Weise können Kontinuitäten wie auch Veränderungen expliziert werden. Es geht nicht um die Explikation von Differenzen, wie sie in einer Länder vergleichenden Untersuchung zum Tragen kommen würde. Im Zentrum stehen Sequenzen aus drei Gesetzestexten: dem Preußischen Landrecht von 1794, dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 mit den nachfolgenden und später eingefügten Ergänzungen sowie entsprechenden Paragrafen aus den ehe- und familienrechtlichen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches in Deutschland. Das Preußische Landrecht ist allgemeines Recht, die Unterscheidung zwischen Verfassung und Gesetzgebung ist in Preußen zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollzogen. Anders dagegen beim Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das aber in einer Hinsicht die Gleichsetzung von Verfassung als Regelung der politischen Willensbildung und Gesetzgebung fortsetzt: die ersten 20 Artikel des Grundgesetzes sind nicht nur Verfassungsnormen, sondern gleichzeitig auch unmittelbar geltendes Recht, sie sind individuell einklagbar, auch wenn ein zu dieser Norm entsprechendes Gesetz gar nicht vorhanden ist. Insofern ist zu erwarten, dass wir in beiden Texten nicht nur allgemeine Wertbekenntnisse zu Ehe und Familie finden, sondern auch weitere Konkretisierungen. Da aber auch das Familienrecht in Deutschland seit 1949 eine erhebliche Entwicklung durchlaufen hat, sollen die einschlägigen eheund familienrechtlichen Bestimmungen mit herangezogen werden. Im Folgenden werden die einschlägigen Bestimmungen zum Ehe- und zum Eltern-Kind-Verhältnis aus den Gesetzestexten des Preußischen Landrechts, des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland sowie den ehe- und familienrechtlichen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches herangezogen. Die Bedeutungsexplikation erfolgt nach den Regeln der Objektiven Hermeneutik. Es handelt sich um sequenziell erfolgende Deutungsmusteranalysen.3 Dabei verfolge ich zwei Fragestellungen:

3Zur

Darstellung des Deutungsmusterkonzepts aus der Perspektive der Objektiven Hermeneutik siehe Oevermann 2001, aus wissenssoziologischer Perspektive siehe Plaß/ Schetsche 2001. Beispiele für durchgeführte Deutungsmusteranalysen in der Perspektive der Objektiven Hermeneutik finden sich für den Bereich Familienbilder bei Kutzner 2001 + 2015, für Gesundheitspolitik bei Suter 2015, für Arbeitsmarktpolitik bei Bauer et al. 2010, für Sozialpolitik bei Stamm 2015, für den Bereich religiöse Lebensführung bei Kutzner 2017.

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1. Das jeweilige Ehe- und Familienmodell: nach welchen Regeln sollen idealerweise die Ehegatten- und die Eltern-Kind-Beziehungen gestaltet werden? 2. Wie sollen mögliche Konflikte zwischen den Eheleuten und zwischen Eltern und Kindern bearbeitet werden? Die Darstellung der Interpretationsergebnisse erfolgt aus Gründen der Lesbarkeit nicht sequenziell.

4 Ehe und Familie im Preußischen Landrecht Das Königreich Preußen war bis 1806, dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, eine absolute Monarchie. Weder bestanden die Gewaltenteilung noch die Volkssouveränität. Der Monarch herrschte über Untertanen, er stand nicht Bürgern vor. Im zivilen Bereich gab es bereits Autonomierechte, und zwar für die lokale Selbstverwaltung wie auch für das wirtschaftliche Leben. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten trat 1794 in Kraft und fasste das Straf-, Zivil- und Verwaltungsrecht in einem einheitlichen Gesetzeswerk zusammen. Es galt aber in Preußen nur subsidiär, bestehende Gesetze für Gemeinden und darüberhinausgehende Gebietskörperschaften hatten noch Vorrang. Die ehe- und familienrechtlichen Bestimmungen sind sehr weitgehend. Man sieht am Preußischen Landrecht, dass der damalige Staat den Kirchen die Oberhoheit über die Regelung der familiären Angelegenheiten fortnimmt. Wir beginnen mit den Bestimmungen zur Ehe. Von der Ehe §. l. Der Hauptzweck der Ehe ist die Erzeugung und Erziehung der Kinder. §. 2. Auch zur wechselseitigen Unterstützung allein kann eine gültige Ehe geschlossen werden.

Das Preußische Landrecht verzichtet auf eine Definition der Ehe bzw. des Eheverhältnisses. Es ist damit die allgemeine Kenntnis unterstellt, was eine Ehe ist. Wir können hier gewissermaßen alltagssprachlich vorausschicken, dass es sich um ein rechtsförmiges, auf Dauer angelegtes Verhältnis von Mann und Frau handelt. Dagegen geht das Preußische Landrecht davon aus, dass es hinsichtlich der Zwecke einer ehelichen Verbindung der Aufklärung bedarf. Als der hauptsächliche Zweck gilt die Sicherung der Nachkommenschaft, also die „Erzeugung und Erziehung der Kinder“. Damit ist impliziert, dass Erzeugung und Erziehung von

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Kindern nicht außerhalb der Ehe stattfinden sollen. Die Ehe findet ihre wesentliche Bestimmung über die Sicherung der Nachkommenschaft. Rechtlich werden somit Elternschaft und Ehe miteinander gekoppelt. Implizit wird jedes Paar, das gemeinsam Kinder haben möchte, zur Schließung einer Ehe aufgefordert. Die „wechselseitige Unterstützung“ der Eheleute gilt als weiterer Zweck. Die „Erzeugung und Erziehung der Kinder“ setzt diese wechselseitige Unterstützung selbstredend voraus, es wird nur darauf verwiesen, dass für die Begründung eines Eheverhältnisses die beidseitige Verpflichtung zur „wechselseitigen Unterstützung“ bereits ausreichend ist. Eine kinderlos gebliebene Ehe, sei sie so gewollt oder auch nicht gewollt, ist für das Preußische Landrecht deswegen keine Ehe minderen Ranges. Mit der „wechselseitigen Unterstützung“ als Ehezweck wird die Ehe als ein prinzipiell unbegrenztes Solidarverhältnis konzipiert. Unbegrenzt deswegen, weil die „wechselseitige Unterstützung“ nicht auf bestimmte Notsituationen oder Problemlagen eingegrenzt wird, auch ist nicht angesprochen, ob die Eheleute eine Begrenzung ihrer Unterstützungspflichten vereinbaren dürfen. Wenn Krankheiten, körperliche Gebrechen oder andere Schwierigkeiten auftreten, soll der jeweils betroffene Ehegatte mit der solidarischen Unterstützung des anderen rechnen können. Als Ergebnisse können wir festhalten: • Die Ehe ist für den preußischen Staat ein auf Gleichheit basierendes Solidarverhältnis. Die Pflichten, welche die Ehe als Zweckverhältnis begründen, gelten für Mann und Frau gleichermaßen. Die wechselseitigen Pflichten sind prinzipiell unbeschränkt. Keine Notsituation, welche die Unterstützung des Ehegatten notwendig macht, kann ausgeschlossen werden. • Das Zustandekommen einer Ehe ist eine Vertragsschließung, ein bewusst von beiden Eheleuten vollzogener Akt, durch den sie sich wechselseitig zur Einhaltung der beiden Ehezwecke verpflichten. Durch die Ehe als Vertragsschließung kommt eine unbegrenzt dauernde Lebensgemeinschaft zustande. • Die Ehe ist aus der Perspektive des preußischen Staates ein rein säkulares, auf das diesseitige Leben bezogenes Verhältnis. Ob die beiden Eheleute, der Lutherischen Ehelehre folgend, durch das Nachkommen ihrer ehelichen Verpflichtungen, sich die eigene Gottgefälligkeit vor Augen führen wollen oder nicht, ob sie die Gestaltung ihres Ehelebens als Verpflichtung gegenüber Gott ansehen oder nicht, ob sie ihr Eheleben als Mittel zur Erlangung einer Heilsgewissheit ansehen oder nicht (wie es die Katholische Sakramentenlehre versteht), interessiert den preußischen Staat überhaupt nicht. Für den Staat ist die Ehe ausschließlich auf die gemeinsame Bewältigung diesseitsbezogener Auf-

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gaben ausgerichtet. Die eheliche Verbindung ist kein unauflösliches Schicksal, sondern eine auf der beidseitigen Erbringung von Leistungen bezogene Solidargemeinschaft. • Augenfällig ist auch die Gleichheitsnorm in diesen beiden Paragrafen: Mann und Frau sind gleichermaßen verpflichtet. Die Ehe ist im Preußischen Landrecht noch nicht vollständig säkularisiert. §. 136. Eine vollgültige Ehe wird durch die priesterliche Trauung vollzogen. §. 137. Zwischen Personen fremder im Staate geduldeter Religionen, wird die Vollziehung einer vollgültigen Ehe lediglich nach den Gebräuchen ihrer Religion beurtheilt.

Ursprünglich galt, das heißt bis in die Frühe Neuzeit, also vor der Reformation, dass die Ehe als geschlossene Lebensgemeinschaft erst durch den ersten Geschlechtsverkehr gültig wurde. Die Trauung vollzog zwar der katholische Priester, aber diese Trauung galt zunächst als ein wechselseitig gegebenes Eheversprechen der beiden Eheleute, das dann anschließend in der ersten gemeinsamen Nacht eingelöst werden sollte. Es war das Paar, das sich wechselseitig die Ehe versprach, und lediglich eines Priesters bedurfte, um sich dieses Versprechen als Trauung vor Gott zu geben. Bemerkenswert ist, dass aus dieser Einlösung des Eheversprechens, dem durch den Geschlechtsakt stattfindenden Ehevollzug eine Amtshandlung geworden ist. Es obliegt dem Priester, durch den Trauungsakt eine vollgültige Ehe herzustellen. Es ist nicht mehr das Paar, das sich im Beisein eines Priesters als Vertreter der Kirche die Ehe verspricht, sondern der Priester stiftet durch seinen Segen die Ehe. Die Stiftung einer Ehe ist somit von dem Paar vollständig auf die Kirche übergegangen. Mehr noch: dieses Verständnis ist in einem staatlichen Regelwerk niedergeschrieben. Es ist der preußische Staat, der die Kirchen beauftragt, entsprechende Trauungszeremonien durchzuführen. Die Kirchen werden somit in die staatliche Regulierung der Ehe eingebunden und handeln im Auftrag des Staates. Teilweise Säkularisierung heißt zweierlei: Erstens, der Staat zieht bisherige Kompetenzen der christlichen Kirchen (gemeint sind die katholische wie die verschiedenen protestantischen Denominationen) an sich, er ist die ausschlaggebende Instanz, die darüber befindet, ab wann eine Ehe als gültig, das heißt als vollzogen anzusehen ist. Bisherige Kompetenzen der Zivilstandsverwaltung der Kirchen zieht der Staat an sich. Zweitens beauftragt der Staat die Kirchen mit der Durchführung der Trauungszeremonien. Eine ausschließlich zivile Ehe gibt es im Preußischen Landrecht nicht. Nachdem der Staat kirchliche Kompetenzen an sich gezogen hat,

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gibt er sie als Auftragsverhältnis wieder zurück. Man kann hier gut das Staatskirchentum in Preußen erkennen, die Kirchen werden gewissermaßen verstaatlicht, einerseits unter die Oberaufsicht des Staates gestellt, andererseits werden ihnen vom Staat wieder Aufgaben zugewiesen. – Zum folgenden Paragrafen 137 sei hier lediglich angemerkt, dass der preußische Staat in andere, das heißt „fremder im Staat geduldeter Religionen“ nicht eingreift, sich lediglich verpflichtet, deren Trauungszeremonien anzuerkennen. Anders formuliert: andere Religionen müssen Modi haben, um vollgültige Ehen herzustellen. Diese werden dann aber vom preußischen Staat anerkannt. Die Verstaatlichung der Kirchen wird aus den untenstehenden Paragrafen sehr deutlich: Der Staat schreibt dem Priester vor, wann und gegebenenfalls wie er mögliche Ehehindernisse überprüfen soll. Der Staat beauftragt die Kirchen mit der Überprüfung zivilrechtlicher Angelegenheiten. §. 138. Das Aufgebot muß vor der Trauung hergehn. (…) §. 146. Wird dem Pfarrer, welcher das Aufgebot verrichten soll, ein in beglaubter Form ausgefertigtes Ehegelöbniß nicht vorgezeigt: so muß derselbe nach obigen Vorschriften Erkundigung einziehen: ob vielleicht Ehehindernisse vorhanden sind. §. 147. Findet der Pfarrer ein Bedenken: so muß er um nähere Verhaltungsbefehle bey seinen Vorgesetzten anfragen. §. 148. Das Aufgebot behält inzwischen zwar seinen Fortgang: die Trauung aber muß bis zum Eingange der Vorbescheidung ausgesetzt bleiben. §. 149. Hat der Pfarrer die Erkundigung unterlassen; oder ein bekannt gewordenes Hinderniß leichtsinnig übergangen: so soll er deshalb mit verhältnißmäßiger fiskalischer Strafe belegt werden. §. 150. Das Aufgebot muß deutlich, mit Benennung des Standes, Vor- und Zunamens beyder Theile, und der Aeltern der Braut, geschehen. §. 151. Es muß Drey Sonntage hinter einander von der Kanzel verlesen werden.

Als Ehehindernisse gelten laut dem preußischen Landrecht bestimmte Verwandtschaftsverhältnisse, Standesschranken, religiöse Gründe sowie die nicht erfolgte Einwilligung durch die Väter (oder andere Vormünder) der Brautleute. Zu den ständischen Schranken gibt das preußische Landrecht folgendes vor: §. 30. Mannspersonen von Adel können mit Weibspersonen aus dem Bauer- oder geringerem Bürgerstande keine Ehe zur rechten Hand schließen. §. 31. Zum hohem Bürgerstande werden hier gerechnet, alle öffentliche Beamte, (die geringern Subalternen, deren Kinder in der Regel dem Canton unterworfen sind, ausgenommen;) Gelehrte, Künstler, Kaufleute, Unternehmer erheblicher Fabriken, und diejenigen, welche gleiche Achtung mit diesen in der bürgerlichen Gesellschaft genießen.

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§. 32. Zu ungleichen Ehen eines Adlichen (§. 30.) kann das Landes-JustizCollegium der Provinz Dispensation ertheilen, wenn der, welcher eine solche Ehe schließen will, nachweist, daß Drey seiner nächsten Verwandten desselben Namens und Standes darein willigen.

Eine „Ehe zur rechten Hand“ ist eine vollgültige Ehe, anders als die Ehe zur linken Hand. Bei letzterer handelt es sich in der Regel darum, dass eine deutlich standesniedere Frau geheiratet wird. Einschränkungen bestehen dann in den Erbfolgen. Ehen zur linken Hand wurden in diesem Zeitraum geschlossen, damit Verhältnisse zu Mätressen legalisiert werden konnten. Deutlich ist, dass die Stände in Preußen keine autonomen Stände sind, sondern der Jurisdiktion des Staates unterliegen. Zu den religiösen Schranken finden wir: §. 36. Ein Christ kann mit solchen Personen keine Heirath schließen, welche nach den Grundsätzen ihrer Religion, sich den christlichen Ehegesetzen zu unterwerfen gehindert werden.

Der Staat überlässt es nicht den Brautleuten, ob eine gemischt-religiöse Ehe eingegangen werden kann oder nicht, sondern spricht ein grundlegendes Verbot aus. Das kann sich nur auf jüdische oder muslimische Personen beziehen.4 Der Staat räumt dem Christentum bei der Eheschließung eine Vorrangstellung ein, indem er ausschließt, dass eine christliche Person sich jüdischen oder muslimischen Eheregelungen unterwirft. Die Eheschließung bedarf der Zustimmung bevormundender Personen, in der Regel der Väter: §. 45. Kinder aus einer Ehe zur rechten Hand können sich, ohne Einwilligung ihres leiblichen Vaters, nicht gültig verheirathen. §. 46. Auch solche Kinder, die schon verheirathet gewesen, ingleichen Söhne, die der väterlichen Gewalt entlassen, und Töchter, die über vier und zwanzig Jahre alt sind, so wie Kinder aus einer Ehe zur linken Hand, müssen die väterliche Einwilligung nachsuchen. (…). §. 49. Bey noch minderjährigen vaterlosen Waisen ist die Einwilligung der Mutter und des Vormundes nothwendig. §. 50. Ist auch die Mutter verstorben: so muß an ihrer Stelle die Einwilligung der Großältern nachgesucht werden.

4Im

preußischen Heer dienten, wenn auch nur in geringer Zahl, Soldaten muslimischen Glaubens. Juden waren ohnehin in Preußen ansässig.

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Auch wenn ohne Zustimmung der Brautleute keine Ehe geschlossen werden kann (§. 38), so ist jedesmal die Erlaubnis bevormundender Personen notwendig. Das sind in der Regel die Väter, denen somit in diesen Angelegenheiten gegenüber den Müttern wiederum eine Vorrangstellung eingeräumt wird. Dabei ist bedeutsam, dass es gerichtlich überprüfbare Gründe geben muss, weswegen ein Vater seinem Sohn oder seiner Tochter die Erlaubnis zu einer Eheschließung verweigert. Gründe zur Versagung dieser Einwilligung. §. 59. Erhebliche Gründe sind alle diejenigen, aus welchen eine vernünftige und wahrscheinliche Besorgniß, daß die künftige Ehe unglücklich und mißvergnügt seyn dürfte, entspringt. §. 60. Dahin ist besonders zu rechnen, wenn den künftigen Eheleuten das nöthige Auskommen fehlen würde. §. 61. Oder wenn der andre Theil zu einer infamirenden, oder auch nur sonst nach der gemeinen Meinung schimpflichen Strafe, durch ein rechtskräftiges CriminalErkenntniß verurtheilt worden. §. 62. Ferner, wenn derselbe der Verschwendung, Trunkenheit, Liederlichkeit, oder sonsteinem groben Laster ergeben ist. §. 63. Desgleichen, wenn er schon einmal geschieden, und in dem Scheidungsurteil für den schuldigen Theil erklärt worden ist. §. 64. Oder, wenn er mit epileptischen Zufällen, der Schwindsucht, venerischen oder andern ansteckenden Krankheiten behaftet ist. §. 65. Endlich, wenn eine minderjährige Person des Adels oder höhern Bürgerstandes, sich mit einer solchen, die nach obigen Bestimmungen (§. 30. 31.) zu einer niedrigen Classe gehört, verheirathen will. §. 66. Aeltern und Großältern versagen ihre Einwilligung mit Grunde, wenn sie von dem andern Theile mit Beschimpfungen oder Thätlichkeiten gröblich beleidigt worden. §. 67. Oder, wenn die Kinder die nicht erbetene oder verweigerte Einwilligung durchheimliche Ehegelöbnisse, Entführung, oder andere unerlaubte Mittel, zu erzwingen gesucht haben. Ergänzung der ohne Grund versagten Einwilligung. §. 68. Wenn Aeltern oder Großältern die Einwilligung verweigern: so muß, auf Anrufen der Kinder, oder des andern Theils, über die Rechtmäßigkeit dieser Weigerung von dem ordentlichen Richter erkannt werden. §. 69. Verweigert der Vormund seine Einwilligung: so kann dieselbe von dem vormundschaftlichen Gerichte durch ein bloßes Dekret ersetzt werden. §. 70. Beharret aber der Vormund auf seiner Weigerung: so steht ihm frey, auf richterliches Gehör und Erkenntniß darüber anzutragen.

Das Preußische Landrecht führt die Gründe für Ehehindernisse an: Standesunterschiede, Vorstrafen, ungebührliches Verhalten den potenziellen Schwiegereltern gegenüber werden genannt, weiterhin auch Gründe, die in der Lebensführung

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eines oder beider Brautleute liegen und durch die der Ehe eine eher unglückliche Zukunft prognostiziert werden könnte: materielle Armut, mögliche Krankheiten sowie ungebührlicher Lebenswandel. Entscheidend ist, dass es nicht die ausschließliche Angelegenheit der Brautleute ist, selbst zu befinden, ob ihrer Ehe eine glückliche Zukunft beschieden ist oder nicht. Der Staat misstraut dem Urteilsvermögen der Brautleute, sodass die jeweiligen Väter (oder andere Vormünder) eine Erlaubnis zur Eheschließung geben müssen. Damit aber diese Befugnis nicht von den Vätern der Brautleute missbraucht werden kann, kann sie gegebenenfalls auch gerichtlich überprüft werden. Nach dem Preußischen Landrecht ist die Verehelichung an Voraussetzungen hinsichtlich der Lebensführung gebunden, die zu bestätigen den Vätern der Brautleute obliegt. Der Staat kontrolliert über diese Vorschrift, inwiefern Voraussetzungen für eine gelingende Ehe vorhanden sind, wobei diese Kontrollfunktion an die Väter der Brautleute delegiert wird. Elterliche Entscheidungsbefugnisse werden somit verstaatlicht. Diese Sequenzen des Preußischen Landrechts sagen einiges über den Charakter der Staatlichkeit aus: • Der preußische Staat reklamiert für sich das staatliche Gewaltmonopol, indem er sich in öffentlichen Angelegenheiten (wie der Eheschließung) in Form der Setzung rechtlicher Regeln die höchste Entscheidungsbefugnis zuerkennt. • Gleichzeitig zeigt sich hier auch die Säkularisierung: die rechtliche Regulierung der Ehe obliegt in letzter Hinsicht nicht mehr religiösen Gemeinschaften, sondern dem Staat. • Gleichzeitig beauftragt der Staat wiederum von ihm unabhängige Instanzen mit den entsprechenden Durchführungen für die Eheschließung. Die Durchführung der Trauungszeremonie obliegt den Religionsgemeinschaften, die Erlaubnis zur Verheiratung treffen die Väter (bzw. andere Vormünder) der Brautleute. Aber nicht nur hinsichtlich der Eheschließung bestehen Normen, sondern auch für die eheliche Lebensführung insgesamt. Das Preußische Landrecht enthält eine Reihe von Verhaltensvorschriften für die Eheleute. Gemeinschaftliche Rechte und Pflichten der Eheleute. §. 173. Die Rechte und Pflichten der Eheleute nehmen sogleich nach vollzogener Trauung ihren Anfang. §. 174. Eheleute sind schuldig, sich in allen Vorfallenheiten nach ihren Kräften wechselseitigen Beystand zu leisten. §. 175. Sie müssen vereint miteinander leben, und dürfen ihre Verbindung eigenmächtig nicht aufheben.

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§. 176. Auch wegen Widerwärtigkeiten dürfen sie einander nicht verlassen. §. 177. Oeffentliche Geschäfte, dringende Privatangelegenheiten, und ­Gesundheits-Reisen, entschuldigen die Abwesenheit. §. 178. Eheleute dürfen einander die eheliche Pflicht anhaltend nicht versagen. §. 179. Wenn deren Leistung der Gesundheit des einen oder des andern Ehegatten nachtheilig seyn würde, kann sie nicht gefordert werden. §. 180. Auch säugende Ehefrauen verweigern die Beywohnung mit Recht. §. 181. Zur ehelichen Treue sind beyde Ehegatten wechselseitig verpflichtet. §. 182. Die Verletzung derselben vonseiten des einen Ehegatten berechtigt den andern nicht zu gleichen Vergehungen. §. 183. Auch Handlungen, welche den Verdacht einer solchen Verletzung erregen könnten, müssen vermieden werden.

Der preußische Staat normiert das Eheleben ausgesprochen stark, wenn er die wechselseitige und unbegrenzte Solidaritätspflicht, die Pflicht zum Zusammenleben, die Pflicht zum ehelichen Verkehr sowie die Pflicht zur Wahrung des guten Rufes in der Öffentlichkeit gesetzlich vorgibt. Es wird den Eheleuten wenig Spielraum hinsichtlich der Gestaltung ihres ehelichen Lebens eingeräumt. Wenn es um die Rechte und Pflichten von Mann und Frau geht, wird der frei zu gestaltende Spielraum weiter eingeschränkt. Rechte und Pflichten des Mannes, §. 184. Der Mann ist das Haupt der ehelichen Gesellschaft; und sein Entschluß giebt in gemeinschaftlichen Angelegenheiten den Ausschlag. §. 185. Er ist verbunden, seiner Frau standesmäßigen Unterhalt zu gewähren. §. 186. Mit dem nothdürftigen Unterhalte muß sie sich begnügen, wenn ihr der Mann den standesmäßigen nicht verschaffen kann. (…). §. 188. Der Mann ist schuldig und befugt, die Person, die Ehre, und das Vermögen seiner Frau, in und außer Gerichten zu vertheidigen. §. 189. In der Regel kann daher die Frau, ohne Beiziehung und Einwilligung des Mannes, mit Andern keine Prozeße führen.

Festgeschrieben ist hiermit die patriarchale Ehe, der Mann bestimmt letzten Endes in allen gemeinsamen Angelegenheiten. Dieses Privileg des Mannes ist Ausdruck dessen, dass das Königreich Preußen das staatliche Gewaltmonopol noch nicht vollumfänglich verwirklicht hat. Dadurch, dass der Mann als „Haupt der ehelichen Gesellschaft“ gilt, werden Konflikte zwischen den Eheleuten autoritär durch den Mann entschieden. Wären beide Eheleute vollständig gleichberechtigt, dann müsste bei einem nicht auflösbaren Konflikt ein Gericht entscheiden. Dann würde, wie es gegenwärtig der Fall ist, der Staat entweder als neutralisierende oder schließlich als entscheidende Instanz in die Konfliktaustragung zwischen den Eheleuten intervenieren.

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Verpflichtet ist der Mann zum standesmäßigen Unterhalt sowie zur Vertretung der Frau in der Öffentlichkeit. Das heißt, er muss seine Frau gegen tätliche Angriffe verteidigen, er muss für ihren Ruf einstehen, er muss auch das Vermögen seiner Frau schützen. Die verheiratete Frau gilt im Preußischen Landrecht als überaus schutzbedürftig. Wegen ihrer Schutzbedürftigkeit ist ihre Stellung gegenüber ihrem Mann untergeordnet. Es ist nicht der Staat, der sich für schutzbedürftige Personen verantwortlich fühlt, sondern der Schutz wird an den Ehemann delegiert. der Frau (…) §. 193. Sie nimmt Theil an den Rechten seines Standes, so weit dieselben nicht allein an seine Person gebunden sind. §. 194. Sie ist schuldig, dem Hauswesen des Mannes nach dessen Stande und Range vorzustehn. §. 195. Wider den Willen des Mannes darf sie für sich selbst kein besonderes Gewerbetreiben.

Das Preußische Landrecht erklärt damit die verheiratete Frau zur Verwalterin des Hauswesens ihres Mannes. Ein eigenes Gewerbe darf sie im Prinzip führen, also eigene Einkünfte erwerben, aber dazu ist die Zustimmung ihres Mannes erforderlich. Von Trennung der Ehe durch richterlichen Ausspruch §. 668. Eine an sich gültige Ehe kann durch richterlichen Ausspruch wieder getrennt werden.

Im Folgenden werden die Ursachen genau aufgelistet, die zur Scheidung führen können. Das Preußische Landrecht zählt auf: Ehebruch, bösliche Verlassung (das ist das Verlassen des gemeinsamen Haushaltes), Versagen der ehelichen Pflicht (damit ist die Sexualität gemeint), Unvermögen, wenn aufgrund von somatischen oder psychischen Erkrankungen einer der beiden Ehegatten seinen ehelichen Pflichten insgesamt (nicht nur die Sexualität) nicht mehr nachkommen kann, Raserei und Wahnsinn (dauerhafte psychische Erkrankungen), Nachstellungen nach dem Leben, grobe Verbrechen, unordentliche Lebensart („Trunkenheit, Verschwendung und unordentliche Wirtschaft“), Versagung des Unterhalts, Veränderung der Religion sowie unüberwindbare Abneigung. Aus diesen aufgeführten Gründen ist klar ersichtlich, welche Ansprüche und Verpflichtungen in der Ehe wechselseitig bestehen. Indem die einzelnen Gründe, die zur Scheidung führen, detailliert aufgelistet werden, gibt der preußische Staat der Ehe einen

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ordnenden Rahmen. Die Ehe wird gewissermaßen als eine institutionalisierte Anstalt mit einer entsprechenden Ordnung verstanden. Das Eheverhältnis, so wie es im Preußischen Landrecht konzipiert ist, ist überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich ein Verhältnis von Rollenträgern. Die Verhaltensvorgaben im preußischen Landrecht sind so detailliert, dass das Gelingen einer Ehe in dieser Perspektive das Resultat von gut erbrachten Leistungen ist. Wir ziehen hier auf der Grundlage der bisherigen Untersuchungsergebnisse ein Fazit. Es ist wenig überraschend, dass im Preußischen Landrecht die patriarchale Ehe juristisch festgeschrieben wird. Das wäre auch kein neuer Befund, diese Qualifizierung ist ja schon längst erfolgt. Die Untersuchung der Eheschließung wie auch der ehelichen Lebensführung, wie sie als Prinzipien im Preußischen Landrecht formuliert worden sind, zeigt über den patriarchalen Charakter der damaligen Ehe hinausgehend noch Folgendes: 1. Die Eheschließung ist ein freiwillig eingegangener Unterwerfungsakt der Frau dem Mann gegenüber. Hinsichtlich der Gattenwahl sind beide eigenständig (wenn man von den Einspruchsrechten der Väter absieht, dazu weiteres unten), aber nach Vollzug der Ehe ist das Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau wirksam. Die Frau verpflichtet sich zur Unterstützung des Mannes, richtet ihr Leben nach dem des Mannes aus, und erhält dafür standesgemäßen Unterhalt wie auch einen allgemeinen Schutz. Die Eheschließung erfolgt nach der Logik der Vasallität im frühen Mittelalter. Die Frau begibt sich in die Abhängigkeit und den Schutz eines Mannes, wie der Freie im Mittelalter, der sich als Gefolgsmann unter die Herrschaft eines mächtigeren Herrn begeben hat. 2. Die Ehe wird auch als sozialer Stand im Preußischen Landrecht festgeschrieben: Wer sich in die Ehe begibt, ist zu einer bestimmten, einer standesgemäßen Lebensführung verpflichtet. Die Lebensführung selbst unterliegt nicht den eigenen Dispositionen. Die eheliche Lebensführung ist auch gleichzeitig mit Ehrerbietung anderer verbunden, und so haben beide Eheleute die Pflicht, ihren Ruf in der Öffentlichkeit, also ihre Ehre, nicht zu schädigen. 3. Im Preußischen Landrecht ist das Eheverhältnis weitestgehend säkularisiert: die Ehe dient ausschließlich den Selbstinteressen der Eheleute und der Erzeugung und Erziehung des Nachwuchses. Der Zweck des Eheverhältnisses ist im Preußischen Landrecht rein diesseitiger Natur, jeder Transzendenzbezug fehlt im preußischen Ehe- und Familienrecht. Für die Katholiken (in der damaligen Zeit) ist die Ehe ein Sakrament, damit ein Heilsgut: durch die Eheschließung sind die Eheleute Gott näher und haben mehr an seinem Segen teil als außerhalb der Ehe. Die Protestanten hingegen, auch zur damaligen

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Zeit, sehen in Ehe und Familie dagegen Bewährungsfelder, in denen der gläubige Mensch seine Gottgefälligkeit zeigen kann, vor allem soll er seinen Glauben an seine Kinder weitergeben. Die religiösen Bezüge, der Bezug auf die Transzendenz interessiert den preußischen Staat nicht im Geringsten. Zwar räumt dieser Staat allen religiösen Gemeinschaften ein Privileg insofern ein, dass letzten Endes die vollgültige Ehe nur im religiösen Rahmen geschlossen werden kann, aber wie die jeweiligen Religionsgemeinschaften Ehe und Familie begreifen, ist dem preußischen Staat gleichgültig. Insofern hat hier bereits eine weitgehende Säkularisierung stattgefunden in dem Sinne, dass den religiösen Gemeinschaften die spirituelle Sinnstiftung bei der Eheschließung obliegt und der Staat sich ausschließlich auf die Regulierung der diesseitigen Angelegenheiten von Ehe und Familie beschränkt. 4. Weiterhin kommt eine erhebliche Widersprüchlichkeit im Staatsverständnis Preußens zum Ausdruck. Unverkennbar ist das Bestreben nach Herstellung von Rechtsstaatlichkeit, auch im Bereich von Ehe und Familie. Andererseits sieht der preußische Staat nicht alle Menschen als vollständig autonom an: so bedürfen Brautleute der Zustimmung ihrer Väter (oder anderer Vormünder) zur Heirat. Die Gattenwahl wird nicht vollständig den Brautleuten überlassen. Andererseits dürfen nur Gründe gegen eine beabsichtigte Heirat vorgebracht werden, welche sich auf einen Zweifel an einem glücklichen Eheverlauf berufen, oder wenn mögliche Schwiegerkinder ihre jeweiligen Schwiegereltern respektlos und abwertend behandelt haben. 5. Schließlich, durch die genaue Formulierung von Verhaltensvorschriften, übt der Staat gegenüber der Ehe Kontrollfunktionen aus. Er kann zwar nicht die Befolgung der im Preußischen Landrecht formulierten Verhaltensmaßgaben erzwingen, aber er gibt mit dieser Rechtsordnung den Eheleuten erstens einen Verhaltenskodex vor, an dem sie sich orientieren können, zweitens formuliert er legitime Gründe für mögliche Ehescheidungen. Diese exakte Formulierung von Verhaltensvorgaben verdeutlicht, dass der preußische Staat der Autonomie seiner ihm Angehörigen nicht so richtig über den Weg traut. So ist das preußische Landrecht auch ein Beleg dafür, dass die persönliche Autonomie im damaligen Preußen noch nicht vollständig realisiert ist. Die gleiche Strukturlogik finden wir im Verhältnis zwischen den Eltern und den Kindern wieder. So werden wir hier lediglich einige Paragrafen aus dem Preußischen Landrecht zur Veranschaulichung anführen. Von den wechselseitigen Rechten und Pflichten der Aeltern und Kinder Allgemeine Pflichten derselben

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§. 61. Kinder sind beyden Aeltern Ehrfurcht und Gehorsam schuldig. §. 62. Vorzüglich aber stehen sie unter väterlicher Gewalt. §. 63. Sie sind verbunden, die Aeltern in Unglück und Dürftigkeit nach ihren Kräften und Vermögen zu unterstützen, und besonders in Krankheiten deren Pflege und Wartung zu übernehmen. Rechte und Pflichten der Aeltern: 1) wegen der Verpflegung, §. 64. Beyde Eheleute müssen für standesmäßigen Unterhalt und Erziehung der Kinder mitvereinigten Kräften Sorge tragen. §. 65. Hauptsächlich muß jedoch der Vater die Kosten zur Verpflegung der Kinder hergeben. §. 66. Körperliche Pflege und Wartung, so lange die Kinder deren bedürfen, muß die Mutter selbst, oder unter ihrer Aufsicht besorgen. §. 67. Eine gesunde Mutter ist ihr Kind selbst zu säugen verpflichtet. (…) 2) wegen der Erziehung und des Unterrichts. §. 74. Die Anordnung der Art, wie das Kind erzogen werden soll, kommt hauptsächlich dem Vater zu. §. 75. Dieser muß vorzüglich dafür sorgen, daß das Kind in der Religion und nützlichen Kenntnissen den nöthigen Unterricht, nach seinem Stande und Umständen, erhalte. (…) 3) Rechte der älterlichen Zucht §. 83. Vor zurückgelegtem Vierzehnten Jahre darf keine Religionsgesellschaft ein Kind zur Annahme, oder zum öffentlichen Bekenntnisse einer andern Religion, als wozu dasselbe nachvorstehenden gesetzlichen Bestimmungen gehört, selbst nicht mit Einwilligung der Aeltern seines Geschlechts zulassen. §. 84. Nach zurückgelegtem Vierzehnten Jahre hingegen steht es lediglich in der Wahl der Kinder, zu welcher Religionspartey sie sich bekennen wollen. §. 85. Auch wenn das Kind eine andere, als die Religion beyder Aeltern wählt, wird dadurch in den Rechten und Pflichten der Aeltern, wegen der Erziehung, Verpflegung und Versorgung, nichts geändert. §. 86. Die Aeltern sind berechtigt, zur Bildung der Kinder alle der Gesundheit derselben unschädliche Zwangsmittel zu gebrauchen. §. 87. Finden sie diese nicht hinreichend: so muß ihnen das vormundschaftliche Gericht, aufgebührendes Anmelden, hülfreiche Hand leisten. §. 88. Dies Gericht muß das Verhalten der Aeltern sowohl, als des Kindes, summarisch, und ohne Zulassung eines förmlichen Prozesses untersuchen. §. 89. Nach Befinden der Umstände muß alsdann die Art und Dauer der anzuwendenden Besserungsmittel von ihm bestimmt werden. §. 90. Sollten Aeltern ihre Kinder grausam mißhandeln; oder zum Bösen verleiten; oder ihnen den nothdürftigen Unterhalt versagen: so ist das vormundschaftliche Gericht schuldig, sich der Kinder von Amts wegen anzunehmen. (…) 5) Rechte und Pflichten der Aeltern bey der Wahl einer Lebensart für die Kinder.

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§. 109. Die Bestimmung der künftigen Lebensart der Söhne hängt zunächst von dem Ermessen des Vaters ab. §. 110. Er muß aber dabey auf die Neigung, Fähigkeiten, und körperlichen Umstände des Sohnes vorzügliche Rücksicht nehmen. §. 111. Bis nach zurückgelegtem Vierzehnten Jahre muß sich der Sohn der Anordnung des Vaters schlechterdings unterwerfen. §. 112. Bey alsdann fortdauernder gänzlicher Abneigung des Sohnes gegen die von dem Vater gewählte Lebensart, muß das vormundschaftliche Gericht, mit Zuziehung eines oder zweyer am Orte befindlichen nächsten Verwandten, und der Lehrer des Sohns, die beyderseitigen Gründe prüfen. §. 113. Das Gericht muß solche Einrichtungen zu treffen bemüht seyn, daß die der Neigung und Fähigkeit des Sohnes, so wie dem Stande und Vermögen des Vaters gemäßeste Lebensartgewählt werden. (…) 7) Pflicht der Kinder zu häuslichen Diensten. §. 121. Die Kinder sind schuldig, den Aeltern in deren Wirthschaft und Gewerbe nach ihren Kräften hülfreiche Hand zu leisten. §. 122. Es darf aber den Kindern dadurch die zu ihrem Unterrichte und Ausbildung nöthige Zeit nicht entzogen werden.

Nur einige Aspekte sollen hier noch einmal hervorgehoben werden: • Unterstützung und Fürsorge schulden sich Eltern und Kinder gleichermaßen. Die Familie gilt auch als eine Wirtschaftsgemeinschaft, wie sie in der Landwirtschaft, teilweise im Handwerk, und auch in der Heimarbeit bestand. Das Erziehungsverhältnis, also Familie als elterliches Erziehungsverhältnis, ist jedoch der Wirtschaftsgemeinschaft vorgeordnet, hat ihr gegenüber Priorität. Man sieht, gegenüber früheren Familienformen, in denen Familie in erster Linie Wirtschaftsgemeinschaft war, Existenzsicherung und familiäres Leben noch nicht ausdifferenziert waren, ist im Preußischen Landrecht die moderne Familie mit den Eltern als Erziehern eindeutig auf dem Vormarsch. • Die Mutter ist überwiegend zur alltäglichen Versorgung, der Vater zur Erziehung der Kinder verpflichtet. Erziehung ist die Weitergabe aller Kenntnisse und Fähigkeiten, die später zur Führung der jeweils standesgemäßen Lebensführung notwendig sind. Umgekehrt schulden die Kinder den Eltern dafür Ehrfurcht und Gehorsam. Hier kommt wieder das Rollenförmige in der Familie im damaligen Preußen zum Ausdruck. Wenn „Ehrfurcht und Gehorsam“ gegenüber den Eltern im Preußischen Landrecht als Schuld der Kinder vorgegeben werden, dann handelt es sich um Leistungen, nicht um persönliche Empfindungen. Und wenn das Preußische Landrecht elterliche Funktionen eindeutig nach Geschlecht unterscheidet, dann werden aus den Eltern ebenfalls Rollenträger.

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• Ab dem 14. Lebensjahr haben sowohl Jungen und Mädchen das Recht, ihr religiöses Bekenntnis selbst zu wählen. Die religiöse Autonomie hat ab diesem Alter Vorrang vor den Befugnissen der Eltern. Zumindest im religiösen Bereich bekennt sich der preußische Staat zur Autonomie des Individuums. • Aber auch den Autonomiewünschen junger Männer hinsichtlich ihrer Berufswahl wird Rechnung getragen. Bei diesbezüglichen Konflikten zwischen Vätern und Söhnen soll letzten Endes ein Gericht über den weiteren bildungsmäßigen und beruflichen Werdegang entscheiden. Allerdings soll das Gericht zwischen beiden, also Vater und Sohn, eine vermittelnde Haltung einnehmen. Der Autonomie der Lebensführung wird hier, anders als im religiösen Bereich, noch keine unbedingte Priorität gegenüber den familiären Wünschen oder Interessen gegeben, auch wenn sie stark berücksichtigt wird. Die Institution Familie befindet sich im Übergang, so das Ergebnis unserer Deutungsmusteranalyse zu Ehe und Familie im Preußischen Landrecht. Die Norm der Autonomie der Lebensführung ist bereits vorgeprägt. Verwirklicht ist sie zu diesem Zeitpunkt im religiösen Bereich: ab dem 14. Lebensjahr gilt es als ein Grundrecht, das religiöse Bekenntnis zu wechseln. Die Gattenwahl dagegen unterliegt noch der Zustimmungspflicht von bevormundenden Vätern. Diese sollen aber wiederum ihre Entscheidung nicht nach ihren eigenen Vorstellungen und Wünschen, sondern nach den aus ihrer Sicht möglichen Perspektiven der gewünschten Ehe treffen. Gleiches gilt für die Lebenswege junger Männer: ihren Wünschen soll weitgehend, aber nicht ausschließlich Rechnung getragen werden. – Ebenso ist die Ehe als autonome Gemeinschaft vorgeprägt, insbesondere durch die unbeschränkte Solidaritätspflicht der Eheleute untereinander. Aber, es handelt sich nicht um eine Gemeinschaft Gleicher, sondern um eine eindeutige Hierarchie. Und der Staat gibt vor, wie die Ehe gestaltet sein soll, es ist nicht Angelegenheit der Eheleute selbst, dafür eigenständig Regelungen zu finden.

5 Grundgesetz Art. 6 der Bundesrepublik Deutschland Wir machen zeitlich einen großen Sprung, bewegen uns vom Jahr 1794 in das Jahr 1949. Den ersten 20 Artikeln des Grundgesetzes, als die sogenannte ­Freiheitlich-Demokratische Grundordnung bezeichnet, kommt ein Sonderstatus innerhalb des Grundgesetzes zu: Sie enthalten die allgemeine Wertordnung, zu der sich die Bundesrepublik Deutschland als politisches Gemeinwesen bekennt. Mehr noch, die einzelnen Bestimmungen drücken nicht nur vorgegebene Staatsziele

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aus, das finden wir auch in den entsprechenden Bestimmungen in anderen westlichen Ländern, sondern sie sind zugleich unmittelbar geltendes Recht. Der Grundgesetz-Artikel 6 drückt das grundlegende Verständnis des deutschen Staates hinsichtlich von Ehe und Familie aus. (1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

„Ehe“ und „Familie“ gelten als besonders geschützte Institutionen. Sie werden hier nicht weiter definiert, die Kenntnis ihrer Definition ist vorausgesetzt, die Konkretisierung von „Ehe“ und „Familie“ obliegt der Gesetzgebung. Dieses Bekenntnis zu „Ehe“ und „Familie“ beinhaltet dreierlei. Erstens ein Bekenntnis zur Ehe und Familie als Institutionen. Der Staat soll alles unterlassen, was zur Auflösung oder Schwächung dieser beiden Institutionen beitragen könnte. Unterstellt ist damit auch, dass der Staat möglicherweise die stärkere Instanz ist, sonst müsste er sich ja nicht eine besondere Schutzverpflichtung auferlegen. „Ehe“ und „Familie“ existieren nicht aus sich heraus, sondern bedürfen, jedenfalls aus der Perspektive des Grundgesetzes, eines „besonderen Schutzes“. Zweitens, zur „staatlichen Ordnung“ gehören sowohl die Gesetzgebung wie auch die konkrete Verwaltung. Das Grundgesetz bindet damit die legislative wie auch die exekutive Gewalt, also die Gesetzgebung (in Bund und Ländern) wie auch die konkrete Verwaltung durch die Bundes- und die Landesregierungen. Drittens kann aber dieses Wertebekenntnis bedeuten, dass der Staat nicht nur alles unterlassen soll, was Ehe und Familie schaden könnte, sondern dass er sogar vielmehr diese beiden Institutionen fördern solle. Dieses Wertebekenntnis beinhaltet sowohl eine Selbstbeschränkung von Gesetzgebung und Verwaltung wie auch gleichzeitig ein Staatsziel, nämlich Förderung dieser beiden als gefährdet angesehenen Institutionen. Zum Ausdruck kommt ein Verständnis, nach dem sich der Staat als omnipotente Macht versteht: ohne sein Wirken, sei es ein Unterlassen, sei es ein aktives Fördern, würden Ehen und Familien nicht oder schlechter funktionieren. Die Existenz von Ehe und Familie als Institutionen hängt vom Handeln des Staates ab. Dieses Wertebekenntnis des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland kann man sich an folgenden Beispielen vergegenwärtigen. Das Ehegattensplitting im Einkommenssteuerrecht soll verhindern, dass aufgrund der Steuerprogression verheiratete Paare bei gleichem Bruttoeinkommen ein geringeres verfügbares Haushaltseinkommen erzielen als unverheiratete Paare. Das Ehegattensplitting soll möglichen steuerlichen Benachteiligungen entgegenwirken. Dagegen ist das Prinzip der beitragsfreien Mitversicherung, wonach nicht-erwerbstätige Familienmitglieder ohne zusätzliche Prämien in der Gesetzlichen Krankenversicherung

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mitversichert sind, eine Privilegierung. Gleiches gilt für das Kindergeld, eine Subvention aus Steuermitteln an Familien, durch die sich ihr verfügbares Haushaltseinkommen ebenfalls erhöht. Dass es nicht nur um die materielle Besserstellung von Ehe und Familie geht, sondern dass die Ehe aus der Sicht des Staates einen Wert an sich darstellt, wird aus dem gegenwärtigen Scheidungsrecht deutlich. Eine Ehe kann erst nach Ablauf eines Trennungsjahres geschieden werden. Der Gesetzgeber zwingt somit das trennungswillige, mindestens ein Jahr über ihre Trennungsabsicht nachzudenken. Das individuelle Trennungsinteresse beider Ehegatten ist damit eingeschränkt, gewissermaßen nimmt der Staat über das Trennungsjahr das trennungswillige Paar noch einmal paternalistisch an die Hand. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

Im ersten Satz wird die Selbstbindung des Staates ausgesprochen. Gewissermaßen werden die staatlichen Organe daran erinnert, dass die Ausübung der Elternschaft, die „Pflege und Erziehung der Kinder“ vorstaatlicher Natur sind. Nicht der Staat verleiht den Eltern ihre sorgenden und erzieherischen Befugnisse, sie sind zunächst gegeben, der Staat erinnert die Eltern an ihr natürliches Recht und verpflichtet damit gleichzeitig auch die staatlichen Organe zu dieser Anerkennung. (Ohne diese staatliche Erinnerung würden vielleicht manche Eltern ihr natürliches Recht vergessen, oder auch manche Politiker, so unterstellt es dieser Paragraf.) Aber, wenn es heißt, dass die „staatliche Gemeinschaft“ über ihre „Betätigung“ wacht, dann wird den Eltern eine kontrollierende Instanz gegenübergestellt. Nicht erst dann, wenn die Eltern hinsichtlich ihrer Aufgaben versagen, betätigt sich der Staat, sondern er wird sofort wachend tätig. Diese wachende „Betätigung“ mag kontrollierend wie auch unterstützend sein. Zum Ausdruck kommt, dass aus der Perspektive des Grundgesetzes die Elternschaft nicht per se ausschließliche Angelegenheit der Eltern ist, sondern der ergänzenden (unterstützenden wie auch kontrollierenden) Mitwirkung des Staates bedarf. Auffallend ist, dass von der „staatlichen Gemeinschaft“ die Rede ist. Dieser Begriff ist nirgendwo definiert. So muss man spekulieren: die Gesetzgebung zusammen mit der Jugendhilfe, dem Vormundschaftswesen, den Schulen wie den staatlichen außerschulischen Betreuungseinrichtungen sind zu dieser Überwachung aufgerufen. Nicht erst durch einen Gesetzesauftrag, sondern die Staatsbediensteten, die mit Eltern und Jugendlichen zu tun haben, Lehrer, Erzieher,

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Sozialarbeiter, sollen von sich aus an der ergänzenden Überwachung mitwirken. Auch wenn diese Überwachung ausschließlich ergänzenden Charakter haben soll, in dem Sinne, dass möglicherweise zusätzliche, Familie und Elternschaft unterstützende Aktivitäten geschaffen werden sollen, kommt hier auch wieder das Misstrauen gegenüber den Eltern, letzten Endes gegenüber dem eigenverantwortlichen Bürger zum Ausdruck. (3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

Dieser Paragraf bindet nun wiederum das Wachen der „staatlichen Gemeinschaft“: die Trennung von Eltern und Kindern kann nur im Rahmen eines Gesetzes erfolgen, das sich wiederum ausschließlich auf das Versagen der „Erziehungsberechtigten“ oder auf drohende Verwahrlosung als Gründen stützen kann. Andere Gesetze, durch die Kinder ihren Eltern entzogen werden können, sind damit kategorisch ausgeschlossen. Freilich, es ist dann Angelegenheit des Gesetzgebers, also des Deutschen Bundestags, darüber zu befinden, was als Versagen der Erziehungsberechtigten und drohender Verwahrlosung genau zu verstehen ist. Eigentlich schränkt dieser Paragraf die staatliche Überwachung nur sehr geringfügig ein, indem die ultima ratio, also Trennung von Eltern und Kindern, rechtsstaatlich gerahmt wird, nicht der Eigenmächtigkeit pädagogischer oder erzieherischer Instanzen überlassen wird. Die beiden folgenden Paragrafen seien nur der Vollständigkeit halber erwähnt. (4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. (5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

Die Mutterschaft soll besonders berücksichtigt werden, ohne dass dieses hier im Grundgesetz konkretisiert wird. Ebenso wird die Gesetzgebung zur Gleichbehandlung von unehelichen und ehelichen Kindern aufgerufen. Zusammenfassend die Ergebnisse der Deutungsmusteranalyse des Artikel 6 des bundesdeutschen Grundgesetzes: Ohne das Wirken des Staates sind Ehe und Familie als Institutionen in ihrem Bestand gefährdet, sie sind aus der Sicht des bundesdeutschen Grundgesetzes keine autonomen Gebilde. Es ist erst der Staat, der die Existenz von Ehe und Familie garantiert, und zwar in dreierlei Hinsicht.

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Erstens werden durch diesen Grundgesetzartikel die staatlichen Organe, das sind die verwaltenden Behörden, wie auch die politischen Akteure (vor allem die Parteien) zur Anerkennung der Autonomie von Ehe und Familie verpflichtet. Das ist historisch verständlich, denn die Bundesrepublik Deutschland grenzt sich gegenüber zwei totalitären Herrschaftsregimen ab, dem Nationalsozialismus und dem sozialistischen Regime, wie es sich bereits zur Zeitpunkt der Gründung der Bundesrepublik Deutschland in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone (der späteren DDR) abzeichnete. Zweitens, die staatliche Garantie von Ehe und Familie drückt sich auch in der Förderung dieser beiden Institutionen durch eine entsprechende Familienpolitik aus, der Staat soll sich fürsorgend gegenüber Ehe und Familie als Institutionen verhalten. Hier zeigt sich, dass aus der Perspektive des bundesdeutschen Grundgesetzes nicht die Gesellschaft den Staat bestimmt, sondern der Staat sich gewissermaßen die ihm gemäßen gesellschaftlichen Verhältnisse schafft. Hier zeigen sich Parallelen zum Preußischen Landrecht. Drittens, unterstellt ist weiterhin, dass nicht alle Eltern sich ihrer sorgenden und erzieherischen Pflichten ihren Kindern gegenüber bewusst sind und sie dann auch nicht angemessen ausüben. Deshalb wird dem Staat gegenüber den Eltern prinzipiell ein Wächteramt zuerkannt. Auch hier gilt, dass der Artikel 6 des Grundgesetzes noch recht stark den Geist des Preußischen Landrechts atmet. Zum einen traut auch der bundesdeutsche Staat der Autonomie seiner Bürger nicht so recht über den Weg, jedenfalls hinsichtlich der Wahrnehmung familiärer Aufgaben. Autonomie prinzipiell ja, sie ist gegeben, aber es bedarf der Nachkontrolle durch die „staatliche Gemeinschaft“. Und auch gewisse Omnipotenzvorstellungen, wie sie im Preußischen Landrecht zu finden sind, sind auch in diesem Grundgesetz-Artikel ausgedrückt: ohne das Wirken des Staates würden Ehe und Familie als Institutionen verkümmern.

6 Ehe und Familie im Bürgerlichen Gesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland Ehe und Familie als Institutionen unterlagen ja seit Ende des Zweiten Weltkriegs erheblichen Veränderungsprozessen (siehe Einleitung). Und so stellt sich die Frage, wie denn im konkreten Ehe- und Familienrecht diese beiden Institutionen konzipiert sind. Diese beiden Rechtsgegenstände sind Bestandteile des Bürgerlichen Gesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland.

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§ 1353 Eheliche Lebensgemeinschaft. (1) Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen. Die Ehegatten sind einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet; sie tragen füreinander Verantwortung. (2) Ein Ehegatte ist nicht verpflichtet, dem Verlangen des anderen Ehegatten nach Herstellung der Gemeinschaft Folge zu leisten, wenn sich das Verlangen als Missbrauch seines Rechts darstellt oder wenn die Ehe gescheitert ist.

Aus diesen Formulierungen wird deutlich, dass die Ehe aus der Perspektive des Familienrechts in Deutschland kein Vertragsverhältnis ist. Zwar mag die Ehe zunächst als Vertragsschließung zustande kommen, aber diese Vertragsschließung begründet kein wechselseitiges Verhältnis von vereinbarten und damit eingegrenzten Pflichten und Rechten, sondern ein umfassendes, die ganze Person umfassendes Verhältnis. – Zur Erläuterung sei hier kurz ausgeführt, was das Charakteristische eines Vertragsverhältnisses ist. Ein Vertrag wird in der Regel zwischen zwei Parteien geschlossen, wodurch sie sich zum Austausch definierter Leistungen verpflichten. Ein Arbeitsvertrag, ein Kaufvertrag oder ein Mietvertrag verpflichtet in der Regel die eine Seite zu Geldleistungen, die andere dazu, eine Arbeitsleistung, eine Ware oder eine Immobilie zu überlassen. Der Vertrag selbst begründet keine weitergehenden Verpflichtungen. Vielmehr schützt er alle Vertragsinhaber davor, dass von ihnen weitergehende Leistungen gefordert werden. Ein Vertragspartner, der aus welchen Gründen auch immer, in eine Notsituation gerät, kann von dem anderen Partner nicht unter Berufung auf ein Vertragsverhältnis weitergehende Hilfen einfordern. Ein Vertragsverhältnis begründet keine unbeschränkte Solidaritätspflicht. – Das ist in der Ehe anders: das Eingehen von wechselseitiger Verantwortung füreinander begründet eine unumschränkte Solidarpflicht, die im Notfall auch eingefordert wird. Erkrankt einer der Ehepartner, kann der andere nicht notwendige Unterstützungen verweigern mit dem Argument, dass das zu Beginn der Ehe ja nicht vereinbart war.5 Historisch gesehen beruht die Ehe (in westlichen Gesellschaften) auf der Vasallenbeziehung, wie sie sich in West- und Mitteleuropa seit dem frühen Mittelalter herausbildete. Ein Vasallenverhältnis ist dadurch charakterisiert, dass

5Zur

weiteren Veranschaulichung sei auf die Oevermann’sche Unterscheidung von rollenförmigen und diffusen Sozialbeziehungen verwiesen. Alle rollenförmigen Beziehungen sind, da sie spezifisch sind, im Prinzip vertragsförmig organisiert: sie sind kündbar, das Personal ist austauschbar, die Inhalte der Beziehungen sind festgelegt. Anders dagegen in diffusen Sozialbeziehungen: sie sind nicht kündbar (können aber scheitern), das Personal ist nicht austauschbar, in Notfällen beruft man sich auf wechselseitige Solidarität untereinander (Oevermann 1996).

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sich freie Menschen unter den Schutz eines mächtigeren Menschen begaben. Der Mächtigere bot militärischen Schutz, der Vasall war zur vollumfänglichen Unterstützung seines Herrn verpflichtet. In der Regel durch Ritterdienste, aber auch durch Rat in Krisensituationen. Das Vasallenverhältnis galt im Mittelalter als ein freundschaftliches Verhältnis einander Ungleicher. Das Zustandekommen einer Freundschaft wurde symbolisiert durch einen Kuss beider Personen beim zeremoniellen Eingehen ihres Vasallenverhältnisses. Das Vasallenverhältnis galt als nicht kündbar. Praktiziert wurde das Vasallentum im Adel. (Später wurde in das Vasallenverhältnis die Landvergabe integriert, woraus dann das mittelalterliche Feudalsystem erwuchs.)6 – Nun ist die Ehe gegenwärtig zwar ein Sozialverhältnis einander gleichgestellter Personen (was sie lange Zeit nicht war), aber wie beim früheren Vasallenverhältnis wird ein umfassendes, jeweils die ganze Person einschließendes und unbegrenztes Solidarverhältnis geschlossen. Es ist hier explizit ausgesprochen, dass der Staat als Gesetzgeber die Ehe als Gemeinschaft ansieht und nicht als ein umgrenztes Vertragsverhältnis, wie es sich bei einem Arbeitsvertrag, einem Werkvertrag oder einem Mietverhältnis handelt. Die Ehe als Gemeinschaft wird explizit herausgehoben, da es noch andere Gemeinschaften gibt. Die Ehe ist von einer Eltern-Kind-Beziehung wie von einer Freundschaft, auch beides Gemeinschaften, unterschieden. Wie die „eheliche Lebensgemeinschaft“ konkret aussehen soll, ist im Familienrecht nicht vorgegeben. Der Gesetzgeber setzt als bekannt voraus, was als „eheliche Lebensgemeinschaft“ gilt, wie Ehe gelebt werden soll. Das Preußische Landrecht gibt Normen vor für das eheliche Zusammenleben, darauf verzichtet des deutsche Familienrecht. Letzteres bezieht sich auf unabhängig vom Staat existierende Normen hinsichtlich des ehelichen Zusammenlebens. Der Jurist Dieter Schwab zählt in seinem Lehrbuch und Kommentar zum Familienrecht Normen des ehelichen Zusammenlebens konkret auf: gemeinsame Wohnung (sofern die Erwerbsverhältnisse dem nicht entgegenstehen), gemeinsame Freizeit, eheliche Treue, gemeinsame Erotik (Schwab 2016: 50–51). Der Autor kann sich auch nur auf vorhandene gesellschaftliche Normen berufen, die aber von jedem Ehepaar gemeinsam relativiert oder auch außer Kraft gesetzt werden können. Entscheidend für das Eheverhältnis ist, dass das Paar einen Konsens erzielt, wie es das eheliche Zusammenleben führen will. Dazu kann durchaus zählen, dass das Paar auf eine gemeinsame Wohnung oder auch auf die eheliche Treue verzichtet und sich dennoch als eheliche Gemeinschaft versteht.

6Zur Vasallität

siehe Ganshof 1967, Schieffer 1976, Bloch 1999.

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Allerdings, zwei normative, wenn auch sehr abstrakt formulierte Vorgaben enthält das Familienrecht. Die erste ist die Verpflichtung zur ehelichen Gemeinschaft. Daraus folgt, dass der Gesetzgeber beiden Eheleuten auferlegt, für einen Konsens hinsichtlich ihrer ehelichen Lebensführung zu sorgen. Nicht die konkrete Ausgestaltung der ehelichen Lebensführung wird vom Staat vorgegeben, sondern die Pflicht zur konsensualen, zur gemeinsam gewollten ehelichen Lebensführung. Die zweite abstrakte Vorgabe ist das „Tragen wechselseitiger Verantwortung“. Das ist nichts anderes als die unbeschränkte Solidaritätspflicht, der beide Eheleute unterliegen. Dadurch, dass diese Verantwortungsübernahme nicht einseitig, sondern prinzipiell wechselseitig erfolgen soll, gibt das Familienrecht eine Autonomie-Norm vor. Wir können uns das an einem konkreten Beispiel vergegenwärtigen: Eine Krankheit oder eine Pflegebedürftigkeit mag den davon betroffenen Ehegatten zwar in eine Abhängigkeit von dem anderen bringen, also die persönliche Autonomie einschränken, aber dennoch gilt für den kranken oder pflegebedürftigen Ehegatten, dass er weiterhin darauf bedacht sein soll, dass die von ihm beanspruchten Hilfe- oder Unterstützungsleistungen von dem anderen Ehegatten in einer für ihn akzeptablen Weise erbracht werden, sodass auch für den unterstützenden Ehegatten nicht ein einseitiges Hilfeverhältnis entsteht, sondern er auch weiterhin das eheliche Zusammenleben als Zusammenleben erfährt. Gerade der zweite Absatz dieses Paragrafen verdeutlicht implizit diese Autonomie-Norm: Wenn ein Ehegatte seine Hilfebedürftigkeit, also Krankheit oder Pflegebedürftigkeit dahin gehend verwendet, sich der Verantwortung dem anderen Ehegatten zu entziehen, gilt das als „Missbrauch“. Die folgenden Bestimmungen zur Ehe im Familienrecht bestätigen diese bereits explizierte Struktur. § 1356 Haushaltsführung, Erwerbstätigkeit. (1) Die Ehegatten regeln die Haushaltsführung im gegenseitigen Einvernehmen. Ist die Haushaltsführung einem der Ehegatten überlassen, so leitet dieser den Haushalt in eigener Verantwortung. (2) Beide Ehegatten sind berechtigt, erwerbstätig zu sein. Bei der Wahl und Ausübung einer Erwerbstätigkeit haben sie auf die Belange des anderen Ehegatten und der Familie die gebotene Rücksicht zu nehmen.

Drei Normen kommen in diesem Paragrafen zum Ausdruck. Erstens die Autonomie des Paares: die Gestaltung der materiellen Lebensführung, also Erwerbstätigkeit und Haushaltsführung, ist ausschließlich Angelegenheit des Paares. Zweitens die Norm des ehelichen Zusammenlebens, indem der erwerbstätige Gatte bei der Ausübung seiner Erwerbstätigkeit die Belange des anderen, also der Ehe, im Weiteren auch die der Familie berücksichtigen soll. Drittens die Norm

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der Gleichheit, sie wird dadurch ausgedrückt, dass der haushaltsführende Ehegatte in eigener Verantwortung und nicht als ausführender Weisungsempfänger seinen Verpflichtungen nachkommt. § 1360 Verpflichtung zum Familienunterhalt Die Ehegatten sind einander verpflichtet, durch ihre Arbeit und mit ihrem Vermögen die Familie angemessen zu unterhalten. Ist einem Ehegatten die Haushaltsführung überlassen, so erfüllt er seine Verpflichtung, durch Arbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen, in der Regel durch die Führung des Haushalts.

Hier wird die Gleichheitsnorm noch einmal konkretisiert: Erwerbstätigkeit und Haushaltsführung sind gleichrangige Pflichten. § 1564 Scheidung durch richterliche Entscheidung. Eine Ehe kann nur durch richterliche Entscheidung auf Antrag eines oder beider Ehegatten geschieden werden. Die Ehe ist mit der Rechtskraft der Entscheidung aufgelöst. Die Voraussetzungen, unter denen die Scheidung begehrt werden kann, ergeben sich aus den folgenden Vorschriften.

Hier zeigt sich wieder, dass die Ehe kein vertraglich vereinbartes Verhältnis ist. Wäre sie das, könnten die Eheleute ihre Ehe selbst aufheben, denn ein Vertrag kann zeitlich befristet sein, ebenso enthält er die entsprechenden Klauseln, wann er unwirksam wird. Sind die beiden Vertragsparteien sich einig darüber, dass das Vertragsverhältnis gelöst werden soll, braucht es keiner weiteren Instanz. Die Scheidung von Eheleuten aber kann nur durch den Beschluss einer übergeordneten Instanz, durch ein Familiengericht erfolgen, es ist eine richterliche Instanz, die das Ende eines Eheverhältnisses feststellt. § 1565 Scheitern der Ehe (1) Eine Ehe kann geschieden werden, wenn sie gescheitert ist. Die Ehe ist gescheitert, wenn die Lebensgemeinschaft der Ehegatten nicht mehr besteht und nicht erwartet werden kann, dass die Ehegatten sie wiederherstellen. (2) Leben die Ehegatten noch nicht ein Jahr getrennt, so kann die Ehe nur geschieden werden, wenn die Fortsetzung der Ehe für den Antragsteller aus Gründen, die in der Person des anderen Ehegatten liegen, eine unzumutbare Härte darstellen würde.

Auch hier zeigt sich, dass die Ehe kein Vertragsverhältnis ist. Denn der erste Satz verdeutlicht bereits, dass aus der Sicht des Staates die lebenslange Ehe der

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Regelfall, die Auflösung der Ehe dagegen die Ausnahme ist. – Die Scheidung ist nicht die Folge von Eheverfehlungen, also unerlaubten Handlungen, es gilt nicht mehr das sogenannte Schuldprinzip, sondern die Ehe wird geschieden, wenn keine eheliche Gemeinschaft mehr besteht und wenn auch nicht mehr erwartet werden kann, dass sie sich wiederherstellt. Es ist das Ende der ehelichen Lebensgemeinschaft, das zur Scheidung führen kann, es sind nicht begangene Verfehlungen eines der Ehegatten oder beider. § 1566 Vermutung für das Scheitern (1) Es wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit einem Jahr getrennt leben und beide Ehegatten die Scheidung beantragen oder der Antragsgegner der Scheidung zustimmt. (2) Es wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit drei Jahren getrennt leben.

Auch hier gilt wieder: nicht die Eheleute stellen das Ende ihrer ehelichen Lebensgemeinschaft fest, sondern es ist wiederum der Staat als übergeordnete Instanz. Und auch der Staat kann das Ende nur dann erklären, wenn die Eheleute das Ende ihrer Ehe bereits glaubhaft unter Beweis gestellt haben, durch das einjährige Trennungsjahr, wenn beide die Scheidung wünschen, durch eine dreijährige Trennung, wenn nur einer der beiden Eheleute die Scheidung wünscht. § 1567 Getrenntleben (1) Die Ehegatten leben getrennt, wenn zwischen ihnen keine häusliche Gemeinschaft besteht und ein Ehegatte sie erkennbar nicht herstellen will, weil er die eheliche Lebensgemeinschaft ablehnt. Die häusliche Gemeinschaft besteht auch dann nicht mehr, wenn die Ehegatten innerhalb der ehelichen Wohnung getrennt leben. (2) Ein Zusammenleben über kürzere Zeit, das der Versöhnung der Ehegatten dienen soll, unterbricht oder hemmt die in § 1566 bestimmten Fristen nicht.

In diesem Paragrafen wird konkretisiert, wie das „Getrenntleben“ konkret aussieht. Zusammenfassend: 1. Die Ehebeziehung ist kein vertragliches Verhältnis. Sie wäre es, wenn die Gestaltung der Ehebeziehung ausschließlich den beteiligten Personen obliegen würde. Die Ehegatten können aber, und das ist das Entscheidende, nicht selbst ihre Ehebeziehung auflösen. Zwar kommt die Ehebeziehung allein durch den Willen der beteiligten Ehegatten zustande, ist sie aber geschlossen, so ist sie ein objektives, nicht allein der Verfügungsgewalt der Ehegatten unterliegendes soziales Verhältnis.

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2. Auch wenn die Ehe als eine objektive und institutionalisierte Gemeinschaft gilt, die aufzulösen nicht im Ermessen der Eheleute liegt, so kommt der Autonomienorm dennoch der Vorrang zu, da beide Eheleute oder gegebenenfalls auch nur einer eigenständig das Auflösung ihrer Ehe in die Wege leiten können. Dieser Sachverhalt trifft aber auch für das Eheverständnis im Preußischen Landrecht zu. 3. Grundlage der Ehe sind nicht äußere Verhaltensnormen, sondern der beidseitige Willen zur ehelichen Gemeinschaft. Nicht auf angegebenen und zu befolgenden Verhaltensnormen beruht das Eheverhältnis, sondern auf der inneren Einstellung beider Ehegatten zueinander. Weiterhin beruht das Eheleben auf der Erzielung von Übereinkünften hinsichtlich der gemeinsamen Lebensführung, damit von Übereinkünften, mit der sich beide Ehegatten identifizieren. Das Preußische Landrecht schreibt konkrete Verhaltensnormen vor, wie das eheliche Zusammenleben gestaltet sein soll, darauf verzichtet das deutsche Familienrecht. Verändert hat sich auch der staatliche Kontrollanspruch. Der preußische Staat wachte darüber (oder versuchte darüber zu wachen), ob die spezifischen, rechtlich verbindlichen Verhaltensnormen erfüllt werden. Auf die Vorgabe verbindlicher Verhaltensnormen verzichtet der bundesdeutsche Staat. Er wacht aber darüber, ob die Gleichheit zwischen den Eheleuten besteht und ob die Ehe konsensual geführt wird. Wir können hier durch den Vergleich des gegenwärtigen Eherechts in Deutschland und den Bestimmungen zur Ehe im Preußischen Landrecht ein klares Ergebnis formulieren. Aus staatlich vorgegeben Fremdzwängen wurden innerliche Selbstzwänge. Der preußische Staat wollte das Eheverhältnis durch die Formulierung einer anstaltsmäßigen Ordnung regulieren, der bundesdeutsche Staat verpflichtet dagegen die Eheleute zum Konsens, gleichgültig wie dieser Konsens konkret aussieht. Man kann sich das am Beispiel eines ehelichen Konflikts konkret vorstellen. In Preußen hätte ein Ehegatte dem Anderen konkrete Verfehlungen, also begangene Handlungen oder Unterlassungen vorgeworfen, im gegenwärtigen Deutschland gilt dagegen die Aufkündigung eines Konsenses als der grundlegende Konflikt. Man kann hier die Zivilisationstheorie von Norbert Elias (1990) bestätigt sehen: zunehmend verinnerlichen die Menschen ihre Zwänge und gehorchen sich selbst, nicht mehr anderen, die ihnen Zwänge auferlegen. Gegenüber dem preußischen Landrecht hat sich die Autonomie der Bürger auch im Bereich der Gestaltung der Ehebeziehung durchgesetzt. Wir beschäftigen uns jetzt mit den Bestimmungen des Familienrechts zum Eltern-Kind-Verhältnis.

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§ 1626 Elterliche Sorge, Grundsätze (1) Die Eltern haben die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). Die elterliche Sorge umfasst die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) und das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge). (2) Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln. Sie besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an. (3) Zum Wohl des Kindes gehört in der Regel der Umgang mit beiden Elternteilen. Gleiches gilt für den Umgang mit anderen Personen, zu denen das Kind Bindungen besitzt, wenn ihre Aufrechterhaltung für seine Entwicklung förderlich ist.

Der Staat legt fest, wie Elternschaft ausgeübt werden soll, indem er die grundsätzlichen Pflichten hinsichtlich der Ausübung der elterlichen Sorge festlegt. Drei Aspekte werden herausgestellt: 1. Für die Eltern gehen die Pflichten den Rechten voran. Elternschaft ist daher zunächst Pflichtausübung, das Recht besteht darin, diese Verpflichtungen eigenständig auszuüben. 2. Das Konsensprinzip, das für die Ehe gilt, soll, soweit möglich, auch gegenüber den Kindern angewandt werden. Das heißt, Eltern sollen mit ihren Kindern möglichst ein Einvernehmen über ihre pflegerischen und erzieherischen Leistungen herstellen, das Kind soll soweit möglich, die pflegerischen und erzieherischen Maßnahmen der Eltern billigen. Dieses Einvernehmen herzustellen, obliegt aber wiederum den Eltern, die sich bei dieser Einvernahme an dem Entwicklungsstand des Kindes orientieren sollen. Eine rein autoritäre, das heißt auf Gehorsam basierende Erziehung ist damit grundsätzlich ausgeschlossen. Letzten Endes können Eltern damit nur in Einzelfällen disziplinarisch wirken und den Gehorsam ihrer Kinder durchsetzen, und zwar dann, wenn andere, auf dem Konsens von Eltern und Kindern basierende Maßnahmen aufgrund des gegebenen persönlichen Entwicklungsstandes des Kindes nicht möglich sind. Erziehungsziele werden keine aufgeführt. Das heißt, solange ein grundlegender Konsens zwischen Eltern und Kindern besteht, sind die Eltern in der Wahl ihrer Erziehungsziele frei. Wenn also Eltern ihre Kinder zu bestimmten Lebensführungsprinzipien, religiösen oder Weltanschauungen erziehen wollen, dann müssen sie nach diesem hier zugrunde liegenden Verständnis mit charismatischen Fähigkeiten ihre Kinder überzeugen und auf diese Weise einen Konsens herstellen.

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3. Der letzte Absatz bezieht sich auf Kinder, deren Eltern getrennt bzw. geschieden sind. Die Eltern können nicht nur aus Solidaritätsgründen erwarten, dass ihre Kinder mit dem getrennten Elternteil oder seinen Verwandten keinen Umgang mehr pflegen, vielmehr müssen die Eltern jeweils den Umgang mit dem getrennten Elternteil oder mit dessen Verwandten (oder Freunden) selbst aktiv ermöglichen, solange dieser Umgang nicht für das Kind entwicklungsschädigend ist. Deutlich wird durch diesen Paragrafen, wie kindszentriert in der modernen Familie die Elternschaft ist: die Eltern sind für die Kinder da, sind verpflichtet, für ihr Wohl zu sorgen, nicht umgekehrt. § 1631 Inhalt und Grenzen der Personensorge(1) Die Personensorge umfasst insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen. (2) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. (3) Das Familiengericht hat die Eltern auf Antrag bei der Ausübung der Personensorge in geeigneten Fällen zu unterstützen.

Die elterlichen Pflichten, zusammengefasst als Personensorge (neben der Vermögenssorge) sind exakt aufgelistet. Der Staat gemahnt die Eltern damit, was sie zu tun haben. Hier zeigt sich das staatliche Wächteramt, wie es im Grundgesetz aufgeführt ist: Der Staat geht davon aus, dass nicht alle Eltern wissen, was ihre Pflichten ihren Kindern gegenüber sind. Bezogen auf die Personensorge Kindern gegenüber, knüpft der bundesdeutsche Staat an die obrigkeitsstaatliche Tradition Preußens insofern an, indem er über die elterlichen Pflichten aufklärt. Es folgt ein bedeutendes Recht des Kindes: das auf gewaltfreie Erziehung. Bedeutsam ist, dass auch diese Gewaltfreiheit sehr exakt aufgeführt wird: Den Eltern sind als Erziehungsmitteln alle entwürdigenden Maßnahmen untersagt, wozu eben auch, wie in diesem Paragrafen aufgeführt, körperliche und psychische Bestrafungen zählen. Da Bestrafungen immer auf die Würde der bestraften Person abzielen, sind den Eltern Bestrafungen als Erziehungsmittel grundsätzlich untersagt. Schläge, Liebesentzug bzw. Nichtbeachtung, Beschämung wie auch Hausarrest sind den Eltern durch diesen Paragrafen als Reaktion auf unbotmäßiges Verhalten ihrer Kinder verboten. Eltern können lediglich Wiedergutmachung im Schadensfalle einfordern oder ihre Kinder mit pädagogischen Maßnahmen zu einer Verhaltensänderung bringen, die, aus der Sicht der Eltern, im objektiven Interesse ihrer Kinder liegt.

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Es lohnt sich, den Absatz 2 dieses Paragrafen näher auszuleuchten: Der Staat macht hiermit das staatliche Gewaltmonopol auch gegenüber den Eltern geltend. Zum staatlichen Gewaltmonopol zählt auch die Bestrafung von Rechtsbrechern. Die Bestrafung, in der Regel Freiheitsentzug, bei minder schweren Straftaten eine Geldstrafe, soll im Sinne der Generalprävention auch verdeutlichen, dass der Staat die von dem Rechtsbrecher verletzten Normen aufrecht hält. Um diese Aufrechterhaltung zu dokumentieren, wird der Rechtsbrecher einer ihn entwürdigenden Prozedur unterzogen. Nun sind Kinder zwar keine Rechtsbrecher, wenn sie sich dem elterlichen Willen widersetzen, aber aus der Sicht der Eltern verstoßen sie ab und zu mit ihren Taten (z. B. Verweigerung des Aufräumens, Zuspätkommen, Verweigerung von Haushaltsdiensten etc.) gegen eine implizite familiäre Ordnung, die aufrechtzuerhalten in der Regel im Interesse der Eltern liegt. Gab es in früheren Zeiten noch ein Züchtigungsrecht der Eltern, mit dem sie ihre familiäre Ordnung gegen widerstrebende Willen ihrer Kinder durchzusetzen versuchten, so sind inzwischen alle solche elterlichen Bestrafungsmaßnahmen untersagt. Lediglich in pädagogischer Absicht dürfen die Eltern auf ihre Kinder einwirken. Wie aber sollen Eltern reagieren, wenn sie nicht bestrafen dürfen, wenn ihre Kinder diesen familiären Ordnungsrahmen verletzen? Wir vergegenwärtigen uns dies an einem gedankenexperimentellen Fallbeispiel. Ein zehnjähriger Junge zertrümmert in einem Wutanfall beim Abendessen sein Geschirr, indem er es auf den Boden wirft. Eine Bestrafung des Jungen durch die Eltern ist ausgeschlossen: weder dürfen sie ihn schlagen, noch mit Liebensentzug bzw. Nichtbeachtung bestrafen, nicht beschämen und auch keinen Hausarrest verhängen. Alle diese Maßnahmen wären Bestrafungen, die ja die Würde des Kindes verletzten. Das Bestrafungsverbot bedeutet aber nicht, dass die Eltern nicht auf diesen Vorfall reagieren dürfen. So könnten die Eltern von ihrem Sohn verlangen, dass er das zerstörte Geschirr mit seinem Taschengeld bezahlt. Oder seine Schulden durch die vorübergehende Übernahme von Haushaltsarbeiten tilgt. Dann hätten die Eltern ihren Sohn nicht bestraft, sondern eine Wiedergutmachung des erzeugten Schadens angeordnet. Die Eltern könnten durchaus auch anordnen, dass ihr Sohn einen Anti-Aggressions-Kurs besucht, damit sich solche Vorfälle nicht wiederholen. Auch diese Maßnahme wäre keine Strafe, sondern ein pädagogisches Zwangsmittel, das aus der Sicht der Eltern im Selbstinteresse des Kindes liegt, nämlich nicht sozial auffällig zu werden. Der dritte Absatz spricht den Eltern prinzipiell das Recht auf die Ausübung der Personensorge zu, und zwar als ein Recht, in das nur unter bestimmten Voraussetzungen eingegriffen werden kann. Eingegriffen werden kann nur auf einen richterlichen Beschluss, also nicht einfach durch die Jugendhilfe als einer

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staatlichen Verwaltungsinstanz, und dieser Eingriff soll den Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützen. Zusammengefasst, drei Aspekte zeigen sich hier: 1. Gegenüber den Eltern agiert der bundesdeutsche Staat obrigkeitsstaatlich. Er erklärt den Eltern die Pflichten, die sie gegenüber ihren Kindern haben und ausüben sollen. 2. Der bundesdeutsche Staat verdeutlicht sein Gewaltmonopol: Eltern haben nicht das Recht, ihre Kinder zu bestrafen. 3. Und trotz dieser Obrigkeitsstaatlichkeit wird auch ein grundlegendes rechtsstaatliches Prinzip angeführt: nur eine von der staatlichen Verwaltung, der exekutiven Gewalt unabhängige Instanz, die judikative Gewalt, darf in die elterliche Sorge eingreifen, und das auch nur unterstützend. Man kann das Bisherige dahin gehend zusammenfassen: im Gegensatz zum späten Preußen ist in der Bundesrepublik Deutschland die Familie kein Herrschaftsverband mehr. § 1631a Ausbildung und Beruf In Angelegenheiten der Ausbildung und des Berufs nehmen die Eltern insbesondere auf Eignung und Neigung des Kindes Rücksicht. Bestehen Zweifel, so soll der Rat eines Lehrers oder einer anderen geeigneten Person eingeholt werden.

Auch hier werden die Eltern wieder obrigkeitsstaatlich ermahnt. § 1666 Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls (1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind. (2) In der Regel ist anzunehmen, dass das Vermögen des Kindes gefährdet ist, wenn der Inhaber der Vermögenssorge seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind oder seine mit der Vermögenssorge verbundenen Pflichten verletzt oder Anordnungen des Gerichts, die sich auf die Vermögenssorge beziehen, nicht befolgt. (3) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere. 1. Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen, 2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen, 3. Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung

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aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält, 4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen, 5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge, 6. die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge. (4) In Angelegenheiten der Personensorge kann das Gericht auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen.

In diesem Paragrafen legt der Staat seine Aufsichtspflicht den Eltern gegenüber dar: Der Staat greift über das Familiengericht ein, wenn das Kindeswohl oder sein Vermögen gefährdet ist. Wir werden zunächst den Begriff des Wohles erläutern und anschließend die einzelnen Aspekte des Kindeswohls, die ja auch in diesem Paragrafen erwähnt sind, explizieren. Der Begriff „Wohl“ bezieht sich auf ein „Wohlbefinden“. Eine Person kann ihr Wohlbefinden erfahren, aber man spricht auch vom „öffentlichen Wohl“ und meint damit den Zustand der öffentlichen Güter wie Verwaltung, Verkehrswege, öffentliche Sicherheit und anderen gemeinsam genutzten Gütern. Das Wohl einer Person wie das öffentliche Wohl bezeichnet einen akzeptablen und anstrebenswerten Zustand. Es muss immer für das Wohl gesorgt werden. Beim öffentlichen Wohl ist es das politische Gemeinwesen, sei es eine Kommune, sei es eine Gebietskörperschaft, sei es ein Staat, dem die Sorge um die öffentlichen Güter obliegt. Vorausgesetzt ist, dass es allgemein anerkannte Normen hinsichtlich eines Wohles gibt, es muss ein Einvernehmen darüber herrschen, in welchem Zustand die öffentlichen Güter existieren sollen, damit man vom öffentlichen Wohl sprechen kann. – Eine Person dagegen legt selber fest, worin ihr Wohl besteht, ab wann sie sich in einem Zustand des persönlichen Wohlbefindens oder Wohlergehens befindet. Diese individuellen Normen müssen nicht unbedingt allgemein anerkannt sein, wenn sie es nicht sind, dann existieren Strittigkeiten darüber, auf welchen Voraussetzungen das persönliche Wohlbefinden beruht. In modernen Gesellschaften, in denen die Autonomie der Lebensführung allgemein anerkannt ist, ist es Angelegenheit der Personen selbst, für ihr eigenes Wohlergehen zu sorgen, indem sie sich die entsprechenden Mittel für ihr eigenes Wohlergehen beschaffen oder, wenn ihnen das nicht möglich ist, sie eigenständig einzufordern. Das Kindeswohl gilt als ein Zustand, in dem das Kind kindgemäß lebt, also seine grundlegenden Bedürfnisse erfüllt sind. Es ist nicht Angelegenheit des Kindes, für sein Wohl zu sorgen, sondern, auch das haben wir ja gesehen, es ist die Pflicht der Eltern, das Wohl ihrer Kinder herzustellen. Nun legen die Eltern nicht selbst fest, worin das Wohl ihrer Kinder besteht, sondern es sind allgemeine

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gesellschaftliche Normen, die festlegen, wie das Kindeswohl aussehen soll, die aber im Einzelnen durchaus strittig sein können. Da diese Normen hinsichtlich des Kindeswohls allgemein anerkannt sind, also gesellschaftliche Normen sind, unterliegen die Eltern einer sozialen Kontrolle, ob sie das Wohl ihrer Kinder garantieren oder nicht. Es sind weitere Verwandte, Nachbarn, Freunde, die Öffentlichkeit insgesamt wie auch der Staat, welche diese soziale Kontrolle den Eltern gegenüber ausüben, natürlich mit sehr unterschiedlichen Sanktionsmöglichkeiten. Eltern sind also keineswegs frei in der Festlegung dessen, wie das Wohl ihrer Kinder sein soll, sie sind lediglich frei in der Wahl der Mittel, wie sie dieses Kindeswohl erreichen. Nun ist an dieser Stelle anzumerken, dass in vielen familien-, insbesondere kinderpolitischen Debatten Wohl und Interesse gleichgesetzt werden. Das führt meistens zu der Forderung nach Kinderrechten. Hinter diesen Forderungen steht in der Regel der Wunsch, die soziale Welt insgesamt kindgemäßer zu gestalten. Im Grunde handelt es sich um eine Verbesserung oder Steigerung des kindlichen Wohls. Man sieht hier wieder eine gegenwärtige Strittigkeit allgemeiner Normen hinsichtlich des persönlichen, hier des kindlichen Wohlergehens. Wenn man aber dieser Steigerung oder Verbesserung des Kindeswohls, der Verschärfung der Normen, ab wann von einem Kindeswohl die Rede sein kann, eine Zuerkennung von Rechtspositionen sieht, indem man Kindern sogenannte Kinderrechte zuspricht, ignoriert man den speziellen sozialen Status, dem Kinder als Kinder unterliegen: es ist, und das ist der Gegensatz zum mündigen Bürger, nicht im Verantwortungsbereich des Kindes eigenständig für sein Wohl einzustehen. Der Staat kann das Kindeswohl nur garantieren, indem er Aufsichtsorgane (wie die Jugendhilfe) schafft, die gegebenenfalls bei Kindeswohlverletzungen tätig werden. Nun werden in diesem Absatz drei Momente des Kindeswohls genannt: Das körperliche, das geistige und das seelische Wohl des Kindes. Hier geht der Gesetzgeber davon aus, dass es wiederum allgemein gültige Normen gibt, wie diese drei Momente des Kindeswohles konkret auszusehen haben, sie sind gesetzlich nicht näher spezifiziert. Wir können uns folgendes vorstellen: • Das „körperliche Wohl“ bezieht sich auf den gesundheitlichen Zustand des Kindes. Die Eltern sind gehalten, den gesundheitlichen Zustand ihrer Kinder zu überwachen, gegebenenfalls medizinische Hilfen in Anspruch zu nehmen und ihre Kinder von Gesundheit gefährdenden Gefahren fernzuhalten. • Das „geistige Wohl“ meint die geistige bzw. intellektuelle Beschäftigung des Kindes. Es braucht die entsprechenden Anregungen, seien es Spiele, seien es

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Gespräche und Unterhaltungen, seien es weitere Beschäftigungen, durch die das Kind geistig herausgefordert wird. • Das “seelische Wohl“ bezieht sich auf den emotionalen Zustand des Kindes. Es braucht Zuneigung und Liebe, nicht nur von den Eltern, sondern auch von anderen Personen, das heißt weiteren Verwandten wie auch anderen Kindern. Sorgen die Eltern nicht ausreichend für das Wohlergehen ihrer Kinder, so sieht sich der Staat über das Familiengericht zur Intervention befugt. Alle Interventionen müssen, da sie Eingriffe in das Elternrecht sind, gerichtlich angeordnet werden. Ein Wort noch zur „Schulpflicht“, die in diesem Paragrafen angesprochen wird. Der Schulbesuch dient zunächst nicht dem Wohlbefinden des Kindes, vielmehr kommt der Staat seiner Bildungspflicht nach. Es ist aber Angelegenheit der Eltern, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen. Gegebenenfalls interveniert bei Verletzung der Schulpflicht auch wieder das Familiengericht. § 1666a Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Vorrang öffentlicher Hilfen (1) Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Dies gilt auch, wenn einem Elternteil vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Nutzung der Familienwohnung untersagt werden soll. Wird einem Elternteil oder einem Dritten die Nutzung der vom Kind mitbewohnten oder einer anderen Wohnung untersagt, ist bei der Bemessung der Dauer der Maßnahme auch zu berücksichtigen, ob diesem das Eigentum, das Erbbaurecht oder der Nießbrauch an dem Grundstück zusteht, auf dem sich die Wohnung befindet; Entsprechendes gilt für das Wohnungseigentum, das Dauerwohnrecht, das dingliche Wohnrecht oder wenn der Elternteil oder Dritte Mieter der Wohnung ist. (2) Die gesamte Personensorge darf nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder wenn anzunehmen ist, dass sie zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen.

Hier wird noch einmal die Bedeutung des Elternrechts hervorgehoben: staatliche Eingriffe in das Elternrecht, die, wie wir gesehen haben, müssen immer rechtsstaatlich gerahmt sein, also durch die Judikative angeordnet sein, die Entscheidung über diese Interventionen obliegt nicht den entsprechenden Behörden, der Sozial- und Jugendhilfe, gelten als ultima ratio, als letztes Mittel, und sollen auch daran orientiert sein, dass das Elternrecht später wiederhergestellt wird.

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Der Vergleich der untersuchten Bestimmungen des gegenwärtigen Ehe- und Familienrechts mit den entsprechenden Bestimmungen des Preußischen Landrechts fördert folgendes zutage: • Für die Ehebeziehung soll nach den Vorstellungen des Gesetzgebers das Konsensprinzip der Eheleute gelten. Für die Ehebeziehung ist relevant, dass beide Eheleute untereinander in allen sie betreffenden Fragen der Lebensführung Übereinkünfte zu erzielen imstande sind. Gelingt ihnen das nicht, dann gilt das Eheverhältnis als gefährdet oder eventuell auch gescheitert. Wie dieser Konsens konkret aussieht, bleibt den Eheleuten überlassen, im Gesetz finden sich keine konkreten Vorgaben. – Im Preußischen Landrecht dagegen werden konkrete Normen hinsichtlich der Lebensführung vorgegeben, Normen, über die nach den Vorstellungen der Gesetzgebung die Eheleute nicht individuell verhandeln können. – So drückt sich im gegenwärtigen Eherecht die Autonomienorm aus, denn alles ist für die jeweiligen Eheleute möglich, solange sie sich diesbezüglich im Konsens zueinander befinden. Den gleichen Sachverhalt finden wir in der Eltern-Kind-Beziehung. Das preußische Landrecht enthält konkrete Anweisungen, wie sich Kinder ihren Eltern gegenüber zu verhalten, aber auch, welche Pflichten Eltern ihren Kindern gegenüber haben. Nicht das Kindeswohl steht im Vordergrund, sondern ein funktionierendes Erziehungsverhältnis, es sollte eine standesgemäße Erziehung gewährleistet, es sollten die jeweiligen Kenntnisse und Fähigkeiten für die entsprechende standesgemäße Lebensführung von den Eltern (im Wesentlichen vom Vater) vermittelt werden. – Anders verhält es sich dagegen im gegenwärtigen Familienrecht, das das Kindeswohl in den Mittelpunkt rückt. An ihm, und das heißt am konkreten Entwicklungsstand des Kindes sollen sich die Eltern orientieren, und auch, sofern es ihnen möglich ist, ihren Kindern den Sinn ihrer Erziehung vermitteln. Während das Preußische Landrecht objektive Rechte und Pflichten von Eltern und Kindern in ihren Verhältnissen zueinander festlegt, appelliert das bundesdeutsche Familienrecht an die Eltern, sich am Kindeswohl zu orientieren und legt den Eltern gleichzeitig auch nahe, soweit wie möglich, ihren Kindern die elterliche Erziehung einsichtig zu machen. Der Unterschied zwischen einem Obrigkeitsstaat, wie er das Königreich Preußen im Ausgang des 18. Jahrhunderts war, zu einem demokratischen, die Autonomie der Bürger nicht nur anerkennenden, sondern voraussetzenden Staat ist

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somit deutlich ersichtlich. Der bundesdeutsche Staat gibt seinen Bürgern keine konkreten Normen hinsichtlich der Gestaltung der Ehe- und der Eltern-KindBeziehungen vor. Die Eheleute sollen sich wechselseitig als eigenständige Personen respektieren, die Eltern sollen sich am Wohl ihrer Kinder orientieren. Dagegen glaubte die Obrigkeit im preußischen Staat darlegen zu müssen, wie Ehen geführt und wie elterliche Erziehung ausgeübt werden soll. Stellen wir jetzt die untersuchten Bestimmungen des gegenwärtigen Ehe- und Familienrechts in den Kontext des Artikel 6 des bundesdeutschen Grundgesetzes. Im Ehe- und Familienrecht ist die Autonomie konkret als Norm für familiengerichtliche Entscheidungen vorgegeben. Dennoch, das Wächteramt der „staatlichen Gemeinschaft“, über die Eltern zu wachen, ob sie ihren Versorgungs- und Erziehungsverpflichtungen angemessen nachkommen, ist damit nicht außer Kraft gesetzt. Mit den entsprechenden Bestimmungen über die elterlichen Pflichten ist den Jugendämtern eine wenn auch abstrakte Norm an die Hand gegeben, wie sie Konfliktsituationen in Elternhäusern beurteilen sollen. Gilt das Eheverhältnis als eine Beziehung, die ausschließlich von den Eheleuten gestaltet werden soll (wobei der Staat letzten Endes für die äußeren Rahmenbedingungen sorgen soll, damit Ehebeziehungen auch gelebt werden können), so ist das Misstrauen, ob alle Eltern angemessen ihren Verpflichtungen nachkommen, weiterhin vorhanden.

7 Zur Entwicklung des ehelichen Lebens und der Eltern-Kind-Beziehungen: eine Langfristperspektive Die Entwicklung der Ehe und der Familie als Institutionen in der westlichen Gesellschaft basiert nicht allein auf einem gesellschaftlichen Normen- und Wertewandel, sondern ist auch im Kontext der Entwicklung der Staatlichkeit zu sehen. Es ist je gerade der Staat, der durch das Bildungssystem und später über die soziale Sicherung ursprüngliche Aufgaben der Familie an sich zieht, um die Familie zu entlasten und den Freiraum für zweckfreie Beziehungen zu schaffen. Es gilt aber auch, dass der Staat über die allgemeine Gesetzgebung, sei es das Familienrecht, sei es die Sozialgesetzgebung, versucht, bestimmte Lebensführungsprinzipien zu etablieren. Der dreigeteilte Lebenslauf, mit einer ­Kindheit- und Jugendphase, einer Erwerbsarbeits- und einer Altersphase, wäre ohne die staatliche Einrichtung eines Bildungs- wie eines Alterssicherungssystems gar nicht denkbar.

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Es waren in der westeuropäischen Entwicklung zunächst die Kirchen, welche das Ehe- und das familiäre Leben mit ihren Normen regulierten und auch für die Zivilstandsverwaltung verantwortlich waren. Eine Phase der Säkularisierung bestand darin, dass der Staat öffentliche Aufgaben der Kirchen an sich zog. Beginnend mit der Armenfürsorge, die von den Kirchen und Klöstern auf die Gemeinden überging, schließlich auch mit der Zivilstandsverwaltung, die alles andere als konfliktfrei den Kirchen entrissen wurde. Das Preußische Landrecht stellt eine Etappe dieses Säkularisierungsprozesses dar. In Preußen war es Ende des 18. Jahrhunderts der Staat, der die ehelichen und familiären Normen vorgab und gewissermaßen obrigkeitsstaatlich verordnete. Das eheliche und das familiäre Leben war weitestgehend durch den Staat reguliert. Der preußische Staat etablierte rechtlich die Familie als einen patriarchalen Herrschaftsverband, der aber wiederum unter der Aufsicht des Staates stand. Einerseits waren die Entscheidungsbefugnisse des Mannes und Vaters festgeschrieben, andererseits gab es Schutzvorkehrungen für die Kinder wie auch für die Frau und Mutter. Der preußische Staat formulierte im Allgemeinen Landrecht die von allen Familienmitgliedern zu erbringenden Leistungen und verstand somit die Familie als eine auf Leistungen basierende Gemeinschaft. Dagegen ist die Familie gegenwärtig in Deutschland dem Bürgerlichen Gesetzbuch folgend kein Herrschaftsverband mehr. Männer und Frauen sind in Ehe und Familie rechtlich vollständig gleichgestellt. Die Elternschaft ist keine Herrschaftsausübung mehr, sondern ein pädagogisches Verhältnis, das nach Möglichkeit von den Eltern weitgehend im Konsens mit den Kindern ausgeübt werden soll. Dieses Konsensprinzip gilt auch als die zentrale Norm für das eheliche Leben. Ehen werden nicht mehr wegen äußerer Eheverfehlungen geschieden, sondern wenn der grundlegende Ehekonsens nicht mehr besteht und auch keine Aussicht existiert, dass er sich wiederherstellt. Dementsprechend zielen aus der Perspektive des Familienrechts die Maßnahmen der Jugendhilfe, wenn es grundlegende Konflikte zwischen Eltern und Kindern gibt, auf die Wiederherstellung des Konsenses. Dieses Konsensprinzip folgt notwendig aus der Autonomienorm. Zur Autonomie der Lebensführung gehört zwangsläufig, dass bei auftretenden Konflikten im ehelichen und auch im familiären Bereich die beteiligten Personen selbstständig ihre Konflikte austragen und zu einer Konfliktregelung gelangen können. Es ist nicht der Wertewandel, der die Entwicklung von Ehe und Familie vorantreibt, es ist die allgemeine Etablierung und Universalisierung der Autonomienorm. Diese Autonomie mag zwar einerseits größere Freiheiten ermöglichen, andererseits wächst aber auch die Selbstverantwortung. Auch wenn Kinder als noch nicht autonome Personen von ihren Eltern abhängig sind, so sind die

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Normen des Familienrechts, welche sich auf die Elternschaft beziehen, auf die Autonomie als elterliches Erziehungsziel bezogen.

8 Ausblick für weitere Forschungsvorhaben Es ist lohnenswert, den einzelnen Etappen der Universalisierung der Autonomienorm in der Entwicklung des Familienrechts im west- und mitteleuropäischen Kontext nachzugehen. Es sind zunächst die Kirchen, welche das Ehe- und Familienleben zu regulieren beginnen. Angefangen hat es mit der Setzung von Eheverboten im Hochmittelalter. Der Kreis derjenigen, die aus verwandtschaftlichen Gründen nicht miteinander heiraten durften, wurde von der Katholischen Kirche bestimmt. Die Sakramentenlehre der Katholischen Kirche inthronisierte das autonome Ehepaar, autonom gegenüber ihren jeweiligen Herkunftsfamilien. Zu Beginn der Reformation fühlten sich die protestantischen Kirchen ermächtigt, in Form von Ehelehren ihren Gläubigen Handreichungen über eine christliche Ehe- und Familiengestaltung zu geben. Hier zog die Katholische Kirche nach, indem sie eigene Lehren über einen moralisch angemessenen Lebenswandel formulierte. Die vielfältigen Ehe- und Familienlehren (zwischen dem Hochmittelalter und der Reformationszeit) dokumentieren, wie sich im west- und mitteleuropäischen Raum immer mehr Ehe- und Familiennormen herausbildeten. Mit der allmählichen Verrechtlichung des zivilen Lebens, die im Kontext der Aufklärung (18. Jahrhundert) beginnt, und der damit beginnenden Herausbildung des Rechtsstaates eignete sich der Staat die bisher von den Kirchen ausgeübte Oberaufsicht über das eheliche und das familiäre Leben an. Das Preußische Landrecht ist dafür ein Beispiel. Ähnliches finden wir zu dieser Zeit in Österreich mit den Josephinischen Reformen, durch die ebenfalls unter der Ägide eines spätabsolutistischen Regimes moderne Rechtsstaatlichkeit in die Wege geleitet wurde. So wäre es lohnenswert, den österreichischen Weg der Hausbildung von familienrechtlichen Normen mit dem preußischen Weg zu vergleichen. Zunächst handelte es sich in beiden Fällen um absolutistische Monarchien, die sich wiederum auf das Aufklärungsdenken beriefen. Das französische Familienrecht ist zum ersten Male formuliert im Code Civile, der 1804 auf Betreiben Napoleons etabliert wurde. Möglich wäre somit eine vergleichende Untersuchung über die Gestaltung des widersprüchlichen Verhältnisses von Autonomiezuerkennung auf der einen und obrigkeitsstaatlicher Beeinflussung auf der anderen Seite. Länderverfassungen und nationale Familiengesetze sind im 20. Jahrhundert weitere Quellen, an den die allmähliche Etablierung der Autonomienorm gezeigt werden könnte.

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Autorinnen und Autoren

Dr. habil. Karl Friedrich Bohler,  Gastprofessor am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim; Arbeitsschwerpunkte: Sozialstrukturanalysen, Familien- und Bildungssoziologie, Biografieforschung; einschlägige Publikationen: „Eine Fallgeschichte im Feld sozialer Hilfen“ (In: Funcke, Dorett/Loer, Thomas [Hrsg.]: Vom Fall zur Theorie, Wiesbaden VS Springer, 2019), „Berufsethische Elemente von Professionalität in der Jugendhilfe“ (In: ­Becker-Lenz, Roland u. a.[Hrsg.]: Professionalität in der Sozialen Arbeit, Wiesbaden VS Springer, 2009), „Das Verhältnis von Fallanalyse und konditioneller Matrix in der rekonstruktiven Sozialforschung“ (In: sozialer sinn 2/2008). PD Dr. Olaf Behrend, Soziologe, Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Familie und Theorie der Familie bzw. der Familialität, Bildungsprozesse des Subjekts, Film, Staatlichkeit und Amtshandeln, rekonstruktive Methoden und fallrekonstruktive Familiendiagnostik; jüngere Publikationen: „Der Vampir im Film. Visualisierung und Entvisualisierung des Vampirmotivs bei Friedrich Wilhelm Plumpe (Murnau), Rudolf Thome und Ridley Scott“ (gemeinsam mit J. Schäfers) (In: Hieber, Lutz; Winter, Rainer [Hrsg.] [i.E.], „Film als Kunst der Gesellschaft“). „Autonomie und Bewährung – zwei Grundbegriffe der rekonstruktiven Bildungsforschung“ (Hrsg. zusammen mit Zizek, Boris; Zizek, Laila, Wiesbaden VS Springer); „Entsittlichungsprotagonisten. Zur Darstellung von Selbst- und Fremdinstrumentalisierung und generationaler Entgrenzung in La mala educatión von Pedro Almodóvar“ (In: Geimer, Alexander et al. [Hrsg.], Die Herausforderungen des Films, Film und Bewegtbild in Kultur und Gesellschaft, Wiesbaden VS Springer 2018).

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Funcke (Hrsg.), Rekonstruktive Paar- und Familienforschung, Studientexte zur Soziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30668-7

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Autorinnen und Autoren

Dr. Tobias Franzheld,  wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sozialpädagogischen Forschungsstelle „Bildung und Bewältigung im Lebenslauf“ am Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung, Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe Universität Frankfurt a.M.; Arbeitsschwerpunkte: Fallrekonstruktive Forschungsmethoden, Kinder- und Jugendhilfe, Professionsforschung; einschlägige Publikationen: „Verdachtsarbeit im Kinderschutz. Eine vergleichende Berufsstudie“ (Springer 2017), „Qualitative hermeneutische Symbolanalyse. Methodische Probleme und sozialwissenschaftliche Strategien“ (gemeinsam mit Michael Beetz, Springer 2017), „Der Kinderschutz und der Status der Sozialen Arbeit als Profession“ (gemeinsam mit Karl Friedrich Bohler) (In: sozialer sinn 2/2010). Dr. Dorett Funcke, Professorin für Mikrosoziologie an der FernUniversität in Hagen; Arbeitsschwerpunkte: Bildungsprozesse und Sozialisation, Paar- und Familiensoziologie, Methodologie erfahrungswissenschaftlicher Forschung, Rekonstruktive Verfahren der Sozial- und Kulturforschung; einschlägige Publikationen: „Ursprünge und Kontinuität der Kernfamilie. Eine Einführung in die Familiensoziologie“ (gemeinsam mit Bruno Hildenbrand, Springer 2018), „Familie – eine riskante Angelegenheit? Gesellschaftliche Veränderungsdynamiken und ihre Folgen (mit Sascha Bachmann) (In: Familiendynamik 1/2020). Franziska Krüger, M.A.; Promovendin am Promotionskolleg „Familie im Wandel. Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung“ am Institut für Soziologie an der FernUniversität in Hagen; Arbeitsschwerpunkte: Paar- und Familiensoziologie, Sozialisationstheorie, Biografieforschung und Rekonstruktive Sozialforschung; einschlägige Publikationen: „Immer auf dem Sprung: Typische Erwerbsbiografien und kritische Berufsphasen im Gastgewerbe“ (gemeinsam mit Kerstin Guhlemann, Springer 2018), „Erwerbsbiografie zwischen Gestaltung und Ohnmacht? Eine Fallrekonstruktion aus dem Gastgewerbe“ (In: Beiträge aus der Forschung, Band 191, Sozialforschungsstelle Dortmund). Dr. habil. Stefan Kutzner, Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Siegen. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Sozialstaat, Sozialpolitik, Religionssoziologie, Soziale Probleme im Kontext von Familie, Armut und Migration; zuletzt erschienene Publikationen: „Migration und Habitus – subjekttheoretische Bemerkungen zur Assimilation von Migranten“ (In: Boris Zizek, Hanna N. Piepenbring [Hrsg.] „Formen der Aneignung des Fremden“, Heidelberg: Universitätsverlag 2019); „Die Ausbildungsverlierer – Fallstudien zu Ent-

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kopplungsprozessen von Jugendlichen beim Übergang in das Erwerbsleben“ (mit Philipp Fuchs und Jan Gellermann) (Weinheim und Basel: Beltz Juventa, 2018); „Familienpolitik“ (In: Rüdiger Voigt [Hrsg.]: „Handbuch Staat“, Wiesbaden: Springer 2018); „Islamische Religiosität in Deutschland. Normen gottgefälligen Lebens“ (In: Heidemarie Winkel, Kornelia Sammet [Hrsg.]: Religion soziologisch denken. Reflexionen auf aktuelle Entwicklungen in Theorie und Empirie, Wiesbaden: Springer 2017). Dr. phil. Sascha Liebermann, Professor für Soziologie, Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter. Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie, Sozialpolitik, Sozialisation, Familie, Bildungsprozesse, Objektive Hermeneutik; jüngere Publikationen: „‚…ich möchte unabhängig sein…’. Autonomie in der öffentlichen Diskussion um ein Bedingungsloses Grundeinkommen. Eine exemplarische Deutungsmusteranalyse“ (In: Funcke, Dorett; Loer, Thomas [Hrsg.]: Vom Fall zur Theorie. Auf dem Pfad der rekonstruktiven Sozialforschung 2019), „Bedingungsloses Grundeinkommen – riskantes Experiment oder Fortentwicklung des Sozialstaats aus dem Geist der Demokratie?“ (In: Politisches Lernen 1–2/2018), „Autonomie und Verantwortung im Studium. Zur Diskussion über Anwesenheitspflicht“ (In: sozialer sinn 1/2016). Dr. habil. Kai-Olaf Maiwald, Professor für Mikrosoziologie und qualitative Methoden an der Universität Osnabrück; Arbeitsschwerpunkte: Paar- und Familiensoziologie, Geschlechtersoziologie, allgemeine Mikrosoziologie, qualitative Methoden; einschlägige Publikationen: „Microsociology. A Tool Kit for Interaction Analysis“ (mit Inken Sürig. London/New York: Routledge 2020 [erschienen 2019]), „Liebe und Anerkennung in der Familie“ (Erscheint in: Ecarius/Schierbaum [Hrsg.], Handbuch Familie, Springer VS), „Objektive Hermeneutik. Von Keksen, inzestuöser Verführung und dem Problem, die Generationendifferenz zu denken“ (In: Akremi et al. [Hrsg.], Handbuch Interpretativ Forschen, Beltz Juventa 2018). Hendrik Muijsson,  Dipl.-Soz.; Forschungsschwerpunkte: Famillien- und Berufssoziologie, Rekonstruktive Sozialforschung; Doktorand an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter. Dr. Jörg Fertsch-Röver, Soziologe; Leiter der Paarim Evangelischen Zentrum für Beratung und Therapie Frankfurt; Lehrbeauftragter an der Universität Mainz; Familiensoziologie, Beratung, Rekonstruktive Methoden

und Lebensberatung am Weißen Stein in Arbeitsschwerpunkte: der Sozialforschung;

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Autorinnen und Autoren

zuletzt erschienen: „»Versucht mal, ob ihr zu viert zusammenkommt!« – Zur Problematik von Gruppenbildungsprozessen im kooperativen Unterricht“ (mit Stephan Ellinger und Oliver Hechler) (In: Ellinger, S. & Schott-Leser [Hrsg.], Rekonstruktionen sonderpädagogischer Praxis. Eine Fallsammlung für die Lehrerbildung. Leverkusen: Budrich, 2019), „Erfahrung als Transformationsprozess. Eine empirische Untersuchung am Gegenstand des Übergangs zur Vaterschaft“ (Wiesbaden: Springer 2017). Dr. habil. Andreas Wernet, Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Schul- und Professionsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft der Leibniz Universität Hannover; Arbeitsschwerpunkte: Schul-, Unterrichtsund Professionsforschung; familiale und schulische Sozialisation; Schülerbiografien und soziale Ungleichheit; Methode und Methodologie der Objektiven Hermeneutik; zuletzt erschienen: „Sozialisatorische Interaktion und soziale Ungleichheit. Ein Versuch“ (In: Zeitschrift für Qualitative Forschung, 1–2/2018); „Wie kommt man zu einer Fallstrukturhypothese?“ (In: Funcke/Loer: Vom Fall zur Theorie: Studientexte zur Soziologie. Wiesbaden 2019); „Erziehung als Fall: Zur objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion erzieherischer Interaktion“ (In: Nohl: Rekonstruktive Erziehungsforschung. Wiesbaden 2019).