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German Pages XIII, 334 [333] Year 2020
Anja Gibson Merle Hummrich Rolf-Torsten Kramer Hrsg.
Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung Flashback – Flashforward
Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung
Anja Gibson · Merle Hummrich · Rolf-Torsten Kramer (Hrsg.)
Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung Flashback – Flashforward
Hrsg. Anja Gibson Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Halle (Saale), Sachsen-Anhalt Deutschland
Merle Hummrich Fachbereich 04: Erziehungswissenschaften Goethe-Universität Frankfurt am Main Frankfurt am Main Hessen, Deutschland
Rolf-Torsten Kramer Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Halle (Saale), Sachsen-Anhalt Deutschland
ISBN 978-3-658-25093-5 ISBN 978-3-658-25094-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-25094-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Laux Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Dieser Band ist Werner Helsper gewidmet.
Inhaltsverzeichnis
Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung – Flashback/Flashforward . . . 1 Anja Gibson, Merle Hummrich und Rolf-Torsten Kramer Jugendkultur: Theoretische Rahmungen „Wissenschaft als Beruf“ oder die Selbstwerdung eines Jugendforschers. Werner Helsper von 1977 bis 1988 . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Wilfried Breyvogel Jugendkulturtheorien – historische Entwicklung und aktuelle Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Heinz-Hermann Krüger Jugendforschung zwischen Jugendkulturforschung und Schulforschung – disziplinkritische Beobachtungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Cathleen Grunert und Nicolle Pfaff Jugendkultur und Schule Adoleszenz und Schule – Fallstudie und Theoriebildung bei Werner Helsper. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Heiner Ullrich Das ambivalente Verhältnis von Jugend, Familie und Schule im zeithistorischen Vergleich der 1980er und 2010er Jahre – Ein exemplarischer Fallvergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Mareke Niemann und Katrin Kotzyba
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Jugend(kultur) und Ganztagsschule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Till-Sebastian Idel und Katharina Kunze Subjektivität und Schule – Ein Fallvergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Andrea Kleeberg-Niepage, Sandra Rademacher und Michael Tressat Jugendkultur und Peerkultur Peergroups: Cliquen, offene Gruppen, Szenen oder Jugendkulturen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Jutta Ecarius Zur Bedeutung des Schwarzen in der Schwarzen Szene. Farbmorphologische Erweiterungen etablierter Thesen der Jugendkulturforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Jeanette Böhme und Tim Böder Grufties, Trad Goth und Black Metal: Ein Streifzug durch die „Symbolik des Todes und des Bösen“ in gegenwärtigen schwarzen Mehrgenerationen-Musikkulturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Birgit Richard Heavy-Metal – eine Szene des „Extremen“ und „Bösen“ zwischen Persistenz, Transformation und Nivellierung . . . . . . . . . . . . . . . 219 Edina Schneider Nonkonformität und Konformität, Avantgarde und Mainstream in Subkulturen und Szenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Nora Friederike Hoffmann Die Jugendkulturen der Fußballfans im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . 249 Hans-Jürgen von Wensierski und Lea Puchert Jugendarrest und Selbstkrise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Anja Eckold Jugendkultur und Familie Jugendkultur, Familie und Adoleszenz. Strukturelle Ambivalenzen und intergenerationale Dynamiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Mirja Silkenbeumer und Sven Thiersch
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Jugend(kultur) in Familie und Jugendhilfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Gunther Graßhoff Generationenkonflikte? Zum „Problem der Generationen“ in der verjugendlichten Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Christine Wiezorek und Marcel Eulenbach
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Über die Herausgeber Dr. Anja Gibson, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Schulpädagogik und Schulforschung am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Arbeitsschwerpunkte: Schul- und Bildungsforschung (u. a. Elitebildung, Internats- und Schulkulturforschung), Biographie- und Längsschnittforschung, ethnographische Schul- und Unterrichtsforschung, qualitative Forschungsmethoden. Dr. Merle Hummrich, Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schule und Jugend an der Goethe-Universität Frankfurt; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Schul- und Jugendforschung, soziale Ungleichheit; Erziehung in der Migrationsgesellschaft, qualitative Forschungsmethoden, Kulturvergleich. Dr. Rolf-Torsten Kramer, Professor für Schulpädagogik und Schulforschung am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Arbeitsschwerpunkte: praxeologische Schul- und Bildungsforschung, Lehrerbildung und Professionalisierung, Rekonstruktionsmethodologie.
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Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Autorenverzeichnis Tim Böder Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland Prof. Dr. Jeanette Böhme Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland Prof. Dr. Wilfried Breyvogel Philosophische Fakultät Erziehungswissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland Prof. Dr. Jutta Ecarius Humanwissenschaftliche Fakultät, Universität zu Köln, Köln, Deutschland Dr. Anja Eckold Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik, MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Halle/Saale, Deutschland Marcel Eulenbach Institut für Erziehungswissenschaft, Justus-Liebig-Universität Gießen, Gießen, Deutschland Dr. Anja Gibson Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik, MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Halle/Saale, Deutschland Prof. Dr. Gunther Graßhoff Institut für Sozial- und Organisationspädagogik, Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland Prof. Dr. Cathleen Grunert Institut für Bildungswissenschaft und Medienforschung, FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland Dr. Nora Friederike Hoffmann Institut für Bildungswissenschaft und Medienforschung, Lehrgebiet Allgemeine Bildungswissenschaft, FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland Prof. Dr. Merle Hummrich Fachbereich 04: Erziehungswissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland Prof. Dr. Till-Sebastian Idel Fachbereich 12: Erziehungs- und Bildungswissenschaften, Universität Bremen, Bremen, Deutschland Andrea Kleeberg-Niepage Insitut für Erziehungswissenschaften: Abteilung Psychologie, Europa-Universität Flensburg, Flensburg, Deutschland Katrin Kotzyba Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB), MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland
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Prof. Dr. Rolf-Torsten Kramer Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle/Saale, Deutschland Prof. Dr. Heinz-Hermann Krüger Institut für Pädagogik, Martin- Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland Prof. Dr. Katharina Kunze Institut für Erziehungswissenschaft, Georg-AugustUniversität Göttingen, Göttingen, Deutschland Dr. Mareke Niemann Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB), Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland Prof. Dr. Nicolle Pfaff Fakultät für Bildungswissenschaften, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland Dr. Lea Puchert Institut für Allgemeine Pädagogik und Sozialpädagogik, Universität Rostock, Rostock, Deutschland Sandra Rademacher Insitut für Erziehungswissenschaften: Abteilung Erziehungswissenschaften, Europa-Universität Flensburg, Flensburg, Deutschland Prof. Dr. Birgit Richard Insitut für Kunstpädagogik, Bereich Neue Medien, Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt am Main, Deutschland Dr. Edina Schneider Institut für Pädagogik, Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, Halle (Saale), Deutschland Prof. Dr. Mirja Silkenbeumer Institut für Sonderpädagogik, Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland Prof. Dr. Sven Thiersch Institut für Erziehungswissenschaft, Arbeitsbereich Bildungssoziologie und Sozialisationsforschung (GA 1/147), Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland Michael Tressat Insitut für Erziehungswissenschaften: Abteilung Erziehungswissenschaften, Europa-Universität Flensburg, Flensburg, Deutschland Prof. Dr. Heiner Ullrich Fachbereich 02: Institut für Erziehungswissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland Prof. Dr. Hans-Jürgen von Wensierski Institut für Allgemeine Pädagogik und Sozialpädagogikm, Universität Rostock, Rostock, Deutschland Christine Wiezorek Institut für Erziehungswissenschaft, Justus-Liebig-Universität Gießen, Gießen, Deutschland
Rekonstruktive Jugend(kultur) forschung – Flashback/Flashforward Anja Gibson, Merle Hummrich und Rolf-Torsten Kramer
Zusammenfassung
Der Beitrag führt in den Sammelband „Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung“ ein. Dazu werden zunächst Anlass und thematische Ausrichtung des Bandes verdeutlicht. In zwei anschließenden Rückblicken (Flashback I und II) wird anschließend rekapituliert, wie sich ein kulturtheoretisches und am qualitativen bzw. interpretativen Paradigma ausgerichtetes Forschungsfeld ab den 1970er Jahren zu entwickeln begann. Dabei stehen einerseits die Studien des „Centre for Contemporary Cultural Studies“ (CCCS) im Fokus, andererseits die Fallstudien zum Zusammenhang von Biographie, Familie, Schule und Jugendkultur, die Werner Helsper v. a. in den 1980er Jahren erarbeitet und publiziert hat. In diesem Teil werden einige einschlägige Fallstudien skizziert und eingeordnet, an die auch weitere Beiträge des Sammelbandes anschließen. In einem Ausblick (Flashforward) werden dann Prinzipien einer
A. Gibson (*) · R.-T. Kramer Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle/Saale, Deutschland E-Mail: [email protected] R.-T. Kramer E-Mail: [email protected] M. Hummrich Fachbereich Erzieungswissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt a.M., Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Gibson et al. (Hrsg.), Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25094-2_1
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rekonstruktiven Jugend(kultur)forschung im Anschluss an Werner Helsper herausgearbeitet und für die zukünftige Forschung markiert. Der Beitrag schließt dann mit einem illustrierenden Gang durch die weiteren Beiträge des Bandes. Schlüsselwörter
Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung · Qualitative Fallstudien · Kultur · Sozialisation · Individuation · Jugend · Jugendkulturtheorie
1 Zum Konzept des Sammelbandes Im Jahr 2019 ist Werner Helsper aus dem aktiven Hochschuldienst ausgeschieden. Die Herausgeber*innen dieses Sammelbandes haben sich aus diesem Anlass entschlossen, einem Bereich aus seinem breiten Wirkungsspektrum noch einmal gesondert Aufmerksamkeit zu widmen. Gemeint sind seine Beiträge zur Jugend(kultur)forschung, die er seit den 1980er Jahren bis heute in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht hat. Dies sind einerseits sehr detaillierte Fallstudien, die eine enorme Intensität aufweisen und die Personen hinter den Protokollen und Transkripten in ihren antinomischen Bezügen lebendig werden lassen. Es sind eindrucksvolle feinschrittige Analysen von Interviewtranskripten, aber auch von Beobachtungen und anderen aufgezeichneten Interaktionen. Wer diese Fallstudien gelesen hat, wird sich wohl noch lange an die darin beschriebenen Personen, aber auch an die anhand dieser Personen herausgearbeiteten Sinnzusammenhänge erinnern – z. B. an „Anne“ und ihre wohl einzigartigen Mathematikklausuren über Pinguine und die verschwundene 8 (vgl. Helsper 1983a) oder an „Moritz“, der mit dem Schulwechsel vom Elitegymnasium auf eine Hauptschule eine ‚Verwandlung‘ vom Hippie zum Punk vollzieht (Combe und Helsper 1994). Andererseits lassen sich Publikationen finden, die sich der Systematisierung und methodologischen Begründung solcher Fallstudien widmen (vgl. Combe und Helsper 1991, 1994). Im Spektrum der hier aufgerufenen Linien nimmt das Programm einer rekonstruktiven Jugend(kultur)forschung Gestalt an und wird in einer Vielzahl exemplarischer Analysen illustriert und begründet. Neben m ethodisch-methodologischen Prämissen schälen sich hier auch zentrale Eckpfeiler einer Helsper’schen Jugend(kultur)theorie heraus, die als komplexes Zusammenspiel von sozialisatorischer Familiendynamik, in die auch die soziale Herkunft und Zugehörigkeit eingelassen ist, kindlich-jugendlichen Individuationsprozessen und -spannungen
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sowie darauf bezogenen jugendkulturellen Bewältigungspraxen gekennzeichnet werden kann. Diese Annahmen und Begründungen scheinen bis heute Geltung beanspruchen zu können. Jugend ist dabei immer zwischen Schule, Familie und Jugendkultur eingespannt. Deren je spezifische symbolische Ausformungen können die teilweise erstaunlichen biographischen Wege und die konkreten Ausdrucksformen z. B. in den Interviews aufschließen und erklären. Der vorliegende Band widmet sich genau diesem Programm einer besonderen Verknüpfung von detaillierten Rekonstruktionen und weitreichenden Ableitungen zu einer Jugend(kultur)theorie. Dabei soll es auch darum gehen, diese frühen Texte und die intensiven Fallstudien noch einmal zu bergen und ihren theoretischen Ertrag auch mit Bezug auf gegenwärtige gesellschaftliche Bedingungen und aktuelle Forschungsfragen zu diskutieren. Eine Reihe der hier versammelten Beiträge nutzen damit Texte von Werner Helsper als Diskussionsimpuls. Es geht aber nicht um diesen Blick zurück und schon gar nicht um den Versuch einer historischen Glorifizierung. Der Bezug auf die Schriften von Werner Helsper – auf Fallstudien und Theorieangebote – soll auch vor dem Hintergrund erfolgen, wie eine gegenwärtige und eventuell zukünftige Jugend(kultur)forschung aussehen kann. Dabei schließt Werner Helsper mit seinen Beiträgen an ein traditionsreiches Forschungsfeld an. „Jugend“ beschäftigt die pädagogische Wissenschaft ja bereits seit der Thematisierung von Generationsbeziehungen. Galt jedoch in der frühen Moderne „Jugend“ vor allem als Begriff der Abgrenzung von Alt und Jung, so bildet sich eine eigenständige Jugendphase deutlich mit der Verlängerung der Schulpflicht heraus (Helsper 2012). Die Jugend in westeuropäischen Gesellschaften entwickelt sich selbst als Phase: zunächst dauert sie relativ kurz und wird mit einem (religiösen) Übergangsritual abgeschlossen (z. B. Konfirmation, Firmung oder Jugendweihe), im 20. Jahrhundert wird sie immer deutlicher einem Prozess der Transition, in dem es um Themen wie Individuation, Autonomieentwicklung, Emanzipation und Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geht. Nach wie vor als „Motor der Innovation“ versteht dann die geisteswissenschaftliche Pädagogik den Zeitraum der Jugend als Möglichkeit, eigene Ausdrucksgestalten zu finden, und knüpft in ihren theoretischen Ausführungen an die vielfältigen Formen der Jugendbewegung der Weimarer Zeit an (vgl. Dudek 2002). Gegenstand empirischer Studien wird „Jugend“ dann vor allem nach dem zweiten Weltkrieg. Als wichtiger Markierer gilt hier die seit 1953 regelmäßig durchgeführte Shell-Jugendstudie, die einen Überblick über Lebenslagen und Ausdrucksformen des Jugendlich-Seins gibt. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Alltagswelten Jugendlicher in ihrem Zusammenspiel mit globalen, weltgesellschaftlichen und lokalen Entwicklungen (Ferchhoff 2010). Diese Alltagswelten sind vielgestaltig und vielschichtig. Es lässt sich von Mehrfachzugehörigkeiten
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sprechen, da jugendliche Lebenswelten sich angemessen nur in einem Netzwerk aus Familie, Schule, Freundeskreis, Clique, schulischen Gleichaltrigen, Hobbies und nicht zuletzt den digitalen Medien fassen lassen. ,Die‘ Eigenlogik einer Jugend(kultur)forschung trägt dieser Vielschichtigkeit Rechnung und muss sich in diesem Zusammenhang auch mit der Frage der Diffundierung der Jugendphase selbst auseinandersetzen (Bock et al. 2020; Hummrich 2020). In diesem Zusammenhang erweisen sich Studien, wie die aus den Forschungszusammenhängen in Birmingham (des CCCS) und in Essen (hier auch die Arbeiten von Werner Helsper), die in den 1970er und 1980er Jahren entstanden sind, als ‚Meilensteine‘, denn sie tragen sowohl den vielfältigen Eingebundenheiten Jugendlicher als auch den gesellschaftlichen Ungleichheitsbedingungen und schließlich der Eigenlogik dieser Lebensphase Rechnung. Im Zentrum stehen hier qualitative Auseinandersetzungen um Jugend, deren Eigenleben und Utopien in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Bedingungen. Der vorliegende Beitrag verfolgt somit das Ziel, theoretisch und exemplarisch die Entstehung und Bezüge einer sich vor diesem Hintergrund etablierenden Jugend(kultur)forschung nachzuzeichnen und ihren Erkenntnisgewinn für gegenwärtige Auseinandersetzungen um Jugend herauszuarbeiten. Dabei geht es im Sinne eines Flashbacks erstens darum, historische Linien der Jugend(kultur)forschung nachzuzeichnen. Hierzu wird besonders auf die CCCS-Jugendstudien und auf Analysen aus dem Essener Zusammenhang einer Jugend(kultur)forschung eingegangen. Die im Zentrum stehenden Jugendkulturen verweisen in diesem Zusammenhang deutlich auf die individuierte Auseinandersetzung mit biographischen Erfahrungen und gesellschaftlichen Bedingungen. Wir vertreten insgesamt die These, dass diese Studien einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung einer qualitativ-rekonstruktiven Perspektive auf Jugendkultur(en) geleistet und zugleich bewirkt haben, dass sich Jugendforschung auch in viele andere Forschungsgegenstände einschreibt und ihr ,Eigenwert‘ zum Teil zu verschwimmen scheint. Zweitens führt ein weiterer Flashback in Fallstudien ein, an denen das methodologische und theoretische Potenzial rekonstruktiver Jugendforschung nachgezeichnet wird. Es handelt sich hierbei um ausgewählte Studien von Werner Helsper, der mit seinen Fallstudien zu Jugendlichen in subkulturellen Kontexten einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung der rekonstruktiven Jugend(kultur) forschung geleistet hat und mit dessen Ausführung zugleich eine Brücke von der Jugend(kultur)- in die Schul(kultur)forschung geschlagen wird. Diese Perspektive und den Brückenschlag nimmt drittens der Flashforward auf. In diesem Zusammenhang soll das Potenzial einer an solchen Fallstudien orientierten Jugend(kultur)forschung gewürdigt und Kriterien einer zukünftigen
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Jugend(kultur)forschung abgeleitet werden. Dabei werden zentrale Prämissen und Errungenschaften der Jugend(kultur)studien von Werner Helsper herausgestellt. Abschließend führen wir knapp durch den Aufbau und die weiteren Beiträge des Bandes.
2 Flashback I: Von den CCCS-Jugendstudien zur Jugend(kultur)forschung „Der Zwiespalt, den gegenwärtig große Kreise der Jugend lebhaft empfinden zwischen ihrem Wollen, das sie als ihre Eigenart rechtfertigen, und den bestehenden Einrichtungen für ihr Leben, die dem naiven Begriff der Erwachsenen von Jugend entspringen, hat uns auf das Problem der Jugend aufmerksam gemacht“ (Bernfeld 1915/1991, S. 70).
Bereits im frühen 20. Jahrhundert wird Jugendkultur als Forschungsgegenstand thematisiert (Bernfeld 1978; Bühler 1921/1991). In diesen Arbeiten wird die Ambiguität der Jugendphase betont: einerseits geht es um Autonomieentwicklung, andererseits um gesellschaftliche Einbettung; einerseits um den Eigenwert der Lebensphase, andererseits um die Auseinandersetzung mit der Erwachsenenwelt. Die Entwicklung von Jugendkultur indes wird im obigen Zitat beschrieben als eine Interessenvertretung für Jugendliche gegenüber der Gesellschaft, in der es darum geht, Jugend als Recht zu etablieren und die Alltagswelt Jugendlicher zum Gegenstand der Forschung zu machen (vgl. Andresen 2005). Ab den 1960er Jahren findet sich dann auch eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Gleichaltrigen (Eisenstadt 1966) und den mit ihnen verbundenen „Teilkulturen“, die sich in diesen Gleichaltrigenbeziehungen ausbilden (Trenbruck 1962). Damit verbunden war unter anderem jeweils die Bedeutung der Autonomieentwicklung Jugendlicher durch die Peer-Group – eine thematische Linie, die deutlich neben die Fokussierung auf Generationslagerung tritt, wie wir sie aus der Auseinandersetzung um „die skeptische Generation“ (Schelsky 1957) kennen. Letztere stellt Jugend in die Doppelperspektive einer gesellschaftlichen Vereinnahmung und ihrer Bedeutung für gesellschaftliche Weiterentwicklung. Diese Linie findet sich auch in weiterführenden strukturfunktionalen Auseinandersetzungen mit Jugend wieder (vgl. Fend 1988). Die Perspektive auf den jugendlichen Alltag tritt dann wieder in den Vordergrund, als unter anderem das „Centre for Contemporary Cultural Studies“ (CCCS) beginnt, sich systematisch mit dem Thema Jugend(kultur) auseinanderzusetzen. Jugend und Jugendsubkulturen werden hier erstmals empirisch und unter Rückgriff auf qualitative Methoden in den Blick genommen (vgl. Cohen
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1972; Willis 1979; Hall 1999). Die Studien griffen insbesondere das innovative Potenzial der Jugend auf, das sich schon in den frühen Texten zur Jugendkultur findet: „In einer Zeit, in der immer mehr Macht in den Kommandozentralen von Politik und Wirtschaft konzentriert ist und auch der Einfluß [sic!] der Bewußtseinsindustrie [sic!] unaufhörlich wächst, kann ich die übertriebenen Erwartungen nicht recht teilen, die an neue Jugendbewegungen als kulturelle, sexuelle und ästhetische Widerstandsformen gegen die überkommenen Klassen- und Parteienbildung gestellt werden. Dennoch ist ihre Fähigkeit, große Teile der studentischen, ethnischen und sexuellen Minderheiten in der Jugend zu mobilisieren, in der Tat beeindruckend. Am stärksten fällt dabei vielleicht ins Auge, wie die neu entstandenen Gruppen junger Schwuler, die Southhall-Jugendbewegung, die Black Sisters u.s.w. [sic!] durch ihre bloße Präsenz die herrschenden Muster der Jugendpolitik und deren ‚bio-politischen‘ Annahmen durcheinandergebracht haben“ (Cohen 1985, S. 22).
In diesem Zitat aus dem Aufsatz „Die Jugendfrage überdenken“ von Cohen (1985) zeigt sich die gesellschaftskritische Haltung des Autors selbst, die damit deutlich an das von Bernfeld formulierte Ansinnen der Interessenvertretung anschließt. Gleichzeitig verknüpft Cohen die Jugendphase nicht mehr nur im generationalen Gefüge zwischen alt und jung, sondern in einer Doppelperspektive: einerseits als tief verstrickt in den Kampf um gesellschaftliche Privilegien, als vereinnahmt durch Politik, Wirtschaft und Medien; andererseits als die Instanz, die durch Jugendsubkulturen die Möglichkeit hat, Machtstrukturen nachhaltig zu irritieren. Cohen bezeichnet Jugend deshalb als „formatives Entwicklungsstadium“ (ebd.), das besonderer pädagogischer und sozialwissenschaftlicher Aufmerksamkeit bedarf (vgl. Hummrich 2020). Dabei geht es Cohen wie auch anderen Wissenschaftler*innen im Zusammenhang des CCCS darum, nicht nur die Subkulturen zu beschreiben und der relativen Autonomie der jugendlichen Ausdrucksformen zu Sichtbarkeit zu verhelfen (Cohen 1985, S. 74), sondern auch darum, wie sich jeweilige Klassenunterschiede reproduzieren (ebd., S. 78). Eines der in Deutschland bekanntesten und meist referierten Beispiele hierzu ist etwa die Studie „Spaß am Widerstand“ (Willis 1979), die inzwischen zum Klassiker avanciert ist und sicher zu den meistzitierten Büchern gehört, wenn es darum geht, die interaktive Hervorbringung sozialer Ungleichheit im schulischen Zusammenhang zu beschreiben. Subkulturen sind somit nicht nur als Gegenkulturen zu verstehen, sondern auch als Ausdrucksgestalt politischer und gesellschaftsstruktureller Positionierung. Zieht sich also einerseits ein roter Faden durch die Forschungsliteratur über die Zeit, in der Jugend als etwas Rebellisches, Probendes, Ungelenkes
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e ingeordnet wird (Cohen 1985; Hall 1976), so ist gleichzeitig darauf verwiesen, dass auch differenzierende Orientierungen eingeübt werden (Clarke et al. 1977; Willis 1979), die institutionell und gesellschaftlich spezifisch ,beantwortet‘ werden. So werden die gesellschaftsstrukturelle Verankerungen der je spezifischen Jugendkulturen, ihre ästhetisierenden Artikulationen und Praktiken sowie ihre Abgrenzung von der Gegenwartsgesellschaft zum zentralen Fokus der Aufmerksamkeit (Pfaff und Mey 2013; Schinkel und Herrmann 2017). Jugendkulturen, wie sie in den CCCS Jugendstudien beschrieben werden, lassen sich schließlich in einen proletarischen und einen bürgerlichen Zweig unterteilen (Andresen 2005, S. 139), aus denen jeweilige Subkulturen hervorgehen. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass jede Form der Jugendkultur sich in spezifischer Weise mit gesellschaftlichen Bedingungen auseinandersetzt, wird (z. B. bei Andresen, a.a.O.) speziell den proletarischen Subkulturen zugeschrieben, in besonderer Weise auf gesellschaftliche Widersprüche und Probleme zu reagieren. Die methodische Ausrichtung der CCCS-Jugendstudien orientiert sich an der Chicago School und richtet sich vornehmlich an ethnografischen Zugängen zu Subkulturen aus (Sūna und Hoffmann 2011). Resümierend wird in diesem Zusammenhang etwa bei Cohen und Ainley (2000) herausgearbeitet, dass Jugend(kultur)forschung in Europa eng verbunden mit der gesellschaftlichen Bedeutung ist, die Jugendlichen beigemessen wird (Sūna und Hoffmann 2011, S. 220): Jugend hatte in vielen der Gesellschaften, in denen sie nun beforscht wurde, eine prominente Rolle in der Geschichte der Nation und der Verschiebung gesellschaftlicher Machtbalancen gespielt (Cohen und Ainley 2000, S. 79 f.). Für den deutschsprachigen Forschungskontext treten in den 1980er Jahren deutlich Studien in den Vordergrund, die die Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit der Lebenswelten untersuchen und sich damit von der engen Vorstellung von Jugend als Vorbereitung auf das Erwachsenenalter verabschieden (vgl. Hornstein 1997). Darunter sind einerseits sozialökologische Ansätze (Baacke 1992), andererseits kulturtheoretische Aspekte (Ziehe 1991) zu nennen, wobei letztere maßgeblich dazu beitragen, dass sich Jugendforschung als Jugendkulturforschung etabliert (Hornstein 1997). Ansätze, die als „jugendkulturell“ beschrieben werden können, implizieren die „Vorstellung, daß [sic!] Jugend unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen eine eigene soziale Gruppe in der Gesellschaft darstellt, die sich signifikant durch ihr Verhalten, ihre Dispositionen, Lebensformen und Lebensstile von den Erwachsenen und deren ‚Kultur‘ unterscheidet“ (ebd., S. 26). Dabei werden einerseits die „kulturschöpfende“ Bedeutung von Jugend beschrieben (Baacke 1992), andererseits die Phänomene des Jugendlebens, also etwa die „subkulturellen und jugendkulturellen Verhaltensstile und Lebensmuster, und die sprachlichen, im weitesten Sinne des Wortes symbolischen
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Ausdrucksformen der unterschiedlichen Jugendkulturen, wie sie in Form der Punks, der Rocker, der Skinheads, der Fankultur usw. auftreten“ (Hornstein 1997, S. 27). In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Studien von Ziehe (1985, 1991) zu nennen, die Jugendkultur symboltheoretisch begreifen. Das bedeutet, dass Jugend sowohl als vergesellschaftet, als auch verzeitlicht und v er(sozial)-räumlicht, verstanden wird. Jugendkultur selbst wird somit zu einer Ausdrucksgestalt der Auseinandersetzung mit „kulturellen Suchbewegungen“ (Ziehe 1985). Ähnlich einschlägig und bis heute anregend sind die Studien der Projektgruppe von Zinnecker, die Jugendsubkulturen im Kontext von und in Auseinandersetzung mit Schule untersucht hatten (vgl. Projektgruppe Jugendbüro und Hauptschülerarbeit 1975; Projektgruppe Jugendbüro 1977). Die Etablierung des jugendkulturtheoretischen Ansatzes im deutschen Sprachraum lässt sich exemplarisch auch anhand des Essener Forschungskontextes nachvollziehen, der zunächst in historischer Perspektive die vielfältigen Kulturen und Entwicklungen der Lebensphase Jugend in den Blick nimmt (Breyvogel und Krüger 1987). Dabei wird schließlich in unterschiedlichen Varianten auf Jugendkulturen und ihre Verbindung zu Gesellschaftsstrukturen und Institutionen eingegangen und werden in unterschiedlichen Beiträgen Spuren nachgezeichnet, die Jugendliche im Ruhrgebiet hinterlassen haben. Es gäbe nun vielfältige Möglichkeiten, einen Einblick in die heterogenen Forschungsaktivitäten dieser Zeit und dieses Forschungszusammenhangs zu geben. Ein Projekt, das aber zahlreiche namhafte Vertreter der Erziehungswissenschaft versammelt hat, ist „Land der Hoffnung – Land der Krise“ – eine Ausstellung zu Jugendkulturen im Ruhrgebiet im Jahr 1987. Der Ausstellungskatalog ist dabei nicht nur ein Überblick über eine Vielzahl an Projekten und Forschungsperspektiven, sondern auch ein Zeitdokument, in das sich die Auseinandersetzung mit Jugend zu dieser Zeit einschreibt: „Jugendkulturen sind Ausdruck sich ständig verändernder sozialer Verhältnisse und daher nur angemessen in Relation zu sozialen Klassen und Schichten zu begreifen. In der alltagsbezogenen Regionalisierung wendet sich unser Blick bewußt [sic!] von den ‚Türmen der Politik‘ auf die Kleinheit des Details im Alltäglichen. Denn nur in seiner Konkretheit lassen sich lebensgeschichtliche Erfahrungen der Gegenwart ‚einhaken‘, wird Vergangenes durchsichtig“ (Krüger et al. 1987, S. 11).
Neben der gesellschaftspolitischen Komponente (Sichtbarmachung) und dem analytischen Ansinnen wird hierbei auch eine methodologische Prämisse deutlich: am Exemplarischen (gewissermaßen am Fall) nachvollziehen zu können, welche Bedeutungsgehalte in jugendlichen Ausdrucksgestalten sichtbar werden und wie dies zum Allgemeinen – den sozialen Klassen und Schichten – vermittelt
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ist. Dies stellt schon früh eine Wahlverwandtschaft zur qualitativen Methodologie her, die sich in den Forschungszusammenhang des Zentrums für Jugendforschung wie auch in das DFG-Projekt „Zum Selbstbild Jugendlicher in Schule und Subkultur“ und schließlich auch in die Forscher*innenkarrieren systematisch einschreibt. Gleichzeitig zeigt sich die methodologische und theoretische Nähe einer Jugend(kultur)forschung auch in der Wahrnehmung jugendlicher Lebenswelten als Reflexionsinstanz gesellschaftlicher Entwicklungen. So schreibt Werner Helsper (1987c) im erwähnten Band nach einer differenzierten Auseinandersetzung zu jugendlichen Gegenkulturen im Ruhrgebiet: „War der Beginn jugendlicher Gegenkultur in den Sechzigern vor allem eine Modernisierungsbewegung, so ist der Protest der siebziger Jahre vor allem ein antimodernistischer, der schließlich im Zeichen einer ‚katastrophalen‘ Moderne Züge des postmodernistischen Protests gewinnt“ (ebd., S. 236). Schließlich treten in den 1980ern Perspektiven der Kritik an der industriellen Zivilisation in den Vordergrund (ebd.), welche Tendenzen der gesellschaftlichen Thematisierung riskanter Zukünfte und Freiheiten (Beck 1986) in sich vereinen. Hier wird nun sehr deutlich, was auch Cohen und Ainley (2000) bereits herausgestellt haben: Die Entwicklung von Jugend(protest)-kulturen ist eng mit den gesellschaftlichen Ermöglichungsstrukturen und Strömungen verbunden und verhilft als Gegenkultur dazu, gesellschaftlichen Machtverhältnissen einen Spiegel vorzuhalten. Diese Perspektive schlägt sich auch in unterschiedlichen Studien zu jugendlichen Stilen, Szenen und spezifischen Positionierungen nieder (z. B. von Wensierski 1985; Krüger und FuchsHeinritz 1991; Helsper et al. 1991; Helsper 1990). Insgesamt findet sich hier deutlich das Bemühen, jugendliche Individuationsbestrebungen und Selbstkrisen (Helsper 1989a) theoretisch zu fassen und eine vielfältige multidisziplinäre Jugendforschung zu bestimmen (vgl. Zinnecker 2003).
3 Flashback II: Werner Helspers Fallstudien und ihr Potenzial für eine rekonstruktive Jugend(kultur)forschung Kennzeichnend, sowohl für Werner Helspers Theoriekonzeptionen als auch für relevante Beiträge zur rekonstruktiven Jugend(kultur)- und Schul(kultur)forschung, sind die auf umfassendem Datenmaterial basierenden Fallstudien, die er zwischen den 1980er Jahren und heute vorgelegt hat. Sie ermöglichen nicht nur tiefgründige Einblicke in das jeweilige Feld und markieren das überaus
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tiefe Eintauchen Werner Helspers in unterschiedliche jugendkulturelle und schulische Milieus, sondern auf ihnen – und dies soll im Folgenden für die 1980er und 1990er Jahre nachgezeichnet werden – basiert Werner Helspers komplexe Theoriearchitektur, die von Auseinandersetzungen im Kontext der Individualisierung der Jugendphase, Adoleszenzkrisen, Subjekt- und Identitätskonzepten getragen wird und u. a. Anerkennungs-, Professions- und pädagogische Generationstheorien sowie die Theorie der Schulkultur umfasst, zu der die Jugend(kultur)forschung in Werner Helspers wissenschaftlichen Frühwerken den Weg geebnet hat. Die ersten Berührungspunkte mit Jugendkulturen – zumindest im Forschungskontext – lassen sich bei Werner Helsper Ende der 1970er Jahre ausmachen: etwa über die Auseinandersetzungen mit jugendlichem Narzissmus (vgl. Breyvogel in diesem Band; Breyvogel et al. 1979) sowie Musikkonsum und Fan-Kultur im Schüler-Rock-Musik-Kontext (vgl. Breyvogel und Helsper 1980a, b), bevor er gemeinsam mit Wilfried Breyvogel 1980 ein Projekt initiierte, das sich gegenwartsorientiert in der Bundesrepublik der 1980er Jahre mit Studien zu Jugendsubkulturen, Subjektivität und deren Behinderung sowie Jugendprotest zwischen Autonomie und Widerstand als Phänomen auseinandersetzte. Umgesetzt wurde diese Projektidee an der Universität/Gesamthochschule Essen im Rahmen des Schwerpunktprogramms „Pädagogische Jugendforschung“ (im Überblick: Becker 1989; Breyvogel 1989a), gefördert von der DFG unter dem Titel „Das Selbstbild Jugendlicher im Rahmen von Schule und Subkultur“ (Leitung: W. Breyvogel; Januar 1981 bis November 1984). Inspiriert durch ethnographische Forschungsarbeiten der späten 1970er Jahre (u. a. Zinnecker 1975, 1978; Willis 1979), die jugendliche Alltagspraxen in Schule und ihre Bedeutung für die jugendlichen Milieus fokussierten, entstanden im Rahmen dieses Projektes Studien zu den höchst differenzierten, teils sehr subtilen und insbesondere durch Ambivalenzen gekennzeichneten Austausch- und Wechselbeziehungen zwischen jugendkulturell-lebensweltlichem Milieu und schulischer Lebenswelt (vgl. auch Hornstein 1989, S. 237). Hinsichtlich des Verhältnisses von gegenkultureller und schulischer Lebenswelt wird hier von einem komplexen wechselseitigen Durchdringen ausgegangen, bei dem die jugendliche Subkultur keineswegs eine völlig andere Welt zur Schulwelt darstellt: Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass auch die Schule lebensweltliche Nischen bereithält und in die jugendkulturelle Welt hineinwirkt, finden Verarbeitungsprozesse von Schulerfahrungen im subkulturellen Bereich statt und zeigen Erfahrungen in der Subkultur auch Auswirkungen im schulischen Kontext (vgl. u. a. Breyvogel et al. 1981; Bietau et al. 1983; Bietau 1989; Helsper 1989a, b).
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Der Essener Forschungskontext fokussierte insbesondere auf ein fallanalytisches Vorgehen und hermeneutisch-rekonstruktive Methoden und schaffte darüber wichtige Impulse für die sich nur sukzessive etablierende Erschließung jugendlicher Handlungsräume und Lebenswelten durch qualitative Verfahren in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik (vgl. Combe und Helsper 1991, S. 233). Im Rahmen des Projektes – wie im Übrigen auch in den anderen Projekten des Schwerpunktprogramms – ging es bei der Auseinandersetzung mit Fragen der hermeneutischen Sozialforschung insbesondere um die Art und Weise der Generierung von Bildern von Jugend im Konnex von Theoriebildung und Methodenwahl sowie um die Subjektivität der Forscherperson, Selbstreflexion und Handlungskompetenz im Forschungsprozess. Gerade die hermeneutische Entschlüsselung über Fallrekonstruktion – im Gegensatz zu anderen qualitativen Auswertungslogiken, die Fallbeschreibungen ins Zentrum rücken – ermögliche eine Explikation von Deutungs- und Handlungsmustern, die durch den Fokus auf die subjektive Verarbeitung schulischer Anforderungen sowie Selbstkrisen Jugendlicher besonders geeignet erschien (vgl. Breyvogel 1989a; Combe und Helsper 1991). Die Forschergruppe entwickelte dabei – in der Tradition von Ethnomethodologie, symbolischen Interaktionismus, Alltagsforschung und erweitert durch psychoanalytische Subjektivitätsvorstellungen – ein Forschungsdesign subjektorientierter Feldforschung (vgl. umfassend Bietau et al. 1983, S. 389 ff.). Mittels offener, qualitativer teilnehmender Beobachtung wurden in einer viermonatigen Intensivphase der Feldforschung Mitte 1981 zwei siebte Klassen einer integrierten Gesamtschule in den Blick genommen und diese Feldforschung in den folgenden Jahren fortgesetzt. Die durch Ethnographie gewonnenen Daten – darunter Beobachtungsprotokolle, Interviews und Gruppendiskussionen, Videoaufzeichnungen und Dossiers – wurden in kritischer Auseinandersetzung mit Oevermann (1976; Oevermann et al. 1979) hermeneutisch analysiert. Kritisch auch insofern, dass, während sich die Essener Projektgruppe gerade für eine Involviertheit des Forschers ins Feld und die anschließende Reflexion als wichtige Erkenntnisstrategie aussprach, Oevermann hinsichtlich der Forschersubjektivität gerade für eine Distanz plädierte (vgl. Bietau et al. 1983, S. 392 ff.). Aus diesem Grund wurde es auch als unabdingbar angesehen, „erweiterte Adäquanzverfahren im Forschungsprozeß [sic!] selbst zu entwickeln“ und „Wahrnehmungen, Empfindungen, Reaktionsbildungen in Auseinandersetzung mit dem Anderen, Befremdlichen, vielleicht Abstoßenden […] durch die Konstruktion eines zweiten hermeneutischen Feldes in den Interpretationsprozeß [sic!] einzubeziehen“ (Breyvogel 1989b, S. 23), was Reflexionshilfe bieten sollte. Somit vertrat das Essener Projekt die Sichtweise, dass Subjektivität
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im Forschungsprozess als Erkenntnismedium fungiert und eine kritische Selbstreflexion in den Forschungsprozess zu integrieren wäre (vgl. Bietau et al. 1983, S. 396 ff.; zur Subjektivität in ihrer Totalität im Forschungsprozess vgl. auch Erdheim 1989). Ebenso schloss der Forschungskontext an aktuelle Entwicklungen innerhalb der Jugendforschung der 1970er und 1980er Jahre und damit an Jugend(kultur)studien an, die einen klaren Einzelfallbezug aufwiesen – ausgehend davon, dass der Einzelfallbezug „über definitorisch-fertige, klassifikatorisch-abschlußhafte [sic!] Theorie- und Begriffssysteme hinaus […] den Blick auf ein differenziertes Spektrum sozialer Wirklichkeit“ und zwar „für konkrete Probleme der Jugendlichen, eigentümliche Sprach-, Denk- und Handlungsformen, Logiken der Wahrnehmung, sowohl der Objektwahrnehmung wie der Selbstwahrnehmung“ (Combe und Helsper 1991, S. 245) eröffne. Eingebettet in Werner Helspers kritische Auseinandersetzung mit Subjektund Identitätskonzepten entstanden in den frühen 1980er Jahren Arbeiten zum Verhältnis von Identität und Jugendbewegung. In diesem Kontext wurden Falldarstellungen einbezogen – basierend auf Selbstaussagen und Dokumenten jugendlicher Anhänger*innen alternativer Bewegungen –, die auf vielfältige Problematiken jugendlicher Subjektivität hinwiesen (vgl. u. a. Helsper 1983b). Unter Zwischenüberschriften wie „Leben und Tod: „No future? – Werd Zombie!““ und „Haken-Schlagen, Masken, Unkenntlich-Werden: Versuche unerkannt zu bleiben“ greift er Beispiele für den Umgang mit Subjektivität bei Jugendlichen auf und weist etwa anhand der Auseinandersetzung der Jugendlichen mit Leben und Tod auf die Bedeutung von intensivem (Selbst-)Erleben, Selbstgefühlen und dem Versuch der Realisierung uneinheitlicher subjektiver Wünsche hin. Deutlich zeigt sich dabei: Das Normale im Leben stellt für diese Jugendlichen eine alltägliche Bedrohung dar, wie bspw. ein jugendlicher Punk es beschreibt, wäre das Gehen eines „normal-way“ im Leben ein „straight-on-way so zu deinem Grabstein“ (Helsper 1983b, S. 122). Die Studien zu den Jugendlichen zeigen gleichzeitig, dass diese von einer widersprüchlichen Vergesellschaftung erfasst werden, die sowohl Möglichkeitsräume schafft, aber auch Grenzen enger zieht – nicht zuletzt, weil es zu einer Enteignung der freigesetzten Möglichkeiten kommt; das, was man für etwas Eigenes, Besonderes, Individuelles hält, zum Klischee zu werden droht, und man darauf verwiesen ist, sich der Identifizierungswut zu entziehen und gerade nicht erfassbar zu sein, wodurch Versuche von Nicht-Identität evident werden (vgl. ebd., S. 125 ff.). Die Auseinandersetzung mit Identitätskonzeptionen und Theorien des Selbst waren gleichsam Ausgangspunkt für die im Rahmen seiner Dissertation (Helsper 1989a) realisierten Subjekttheorie und Grundlage für die Explikation eines Strukturschemas der Selbstkrisen – ausgehend davon, dass „das Selbst in struk-
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turell angelegten, aber sozialisatorisch-interaktiv vermittelten Krisen fundiert ist“ (Helsper 1989a, S. 265) und damit „die imaginäre Linie des Ideal-Selbst als wesentliche Folie des Individuationsprozesses begriffen [werden kann], unter deren Dominanz […] auch die Ich-Entwicklung erfolgen kann“ (ebd., S. 300). Bei den herausgearbeiteten polaren Selbstkrisen handelt es sich um die Selbstkrisen von Kohärenz und Fragmentierung, Verschmelzung und Abgrenzung, IdealSelbst und Real-Selbst, Macht und Ohnmacht sowie von Gesetz und Wunsch (vgl. ebd., S. 265 ff.), die aufs Engste mit kulturell-gesellschaftlichen Krisenprozessen der Moderne verbunden sind und die es dem Subjekt zunehmend erschweren, die Krisenhaftigkeit des Selbst zu bewältigen (vgl. ebd., S. 270 ff.). Als anspruchsvollste offene Perspektive seiner Dissertation markiert Werner Helsper die empirische Realisierung dieses Konzeptes, die nach einer Aufarbeitung des gesamten Lebenszusammenhangs verlangt und auf ein tiefenhermeneutisches Explizieren latenter Sinngehalte angewiesen ist (vgl. Helsper 1989a, S. 303 f.). Auch wenn diese Aufarbeitung des Lebenszusammenhangs im umfassenden Sinne nicht Teil der Dissertation war, so wurden – basierend auf den umfangreichen Fallstudien, die im Rahmen des Essener Projektzusammenhangs entstanden sind – spezifische Selbstkrisen und deren Bedeutung für den Lebenszusammenhang Jugendlicher in einzelnen Beiträgen publiziert: So etwa zur Problematik von Macht und Ohnmacht sowohl in frühen Subjektivierungsprozessen als auch in der Adoleszenz sowie zur Bewältigung spezifischer innerpsychischer Macht-Ohnmacht-Konstellationen (vgl. Bietau und Helsper 1984). Die an oppositionellen Lebensentwürfen orientierten Jugendlichen – so zeigen etwa die Rekonstruktionen der Gespräche mit Jugendlichen der im Projektkontext untersuchten kritischen Schülerszene – erfahren oftmals eine Blockierung ihrer Wünsche und Machtfreiheit als Ohnmacht, was Selbstzweifel verstärken oder gar erst auslösen kann: „Gerade das Zusammenspiel gesellschaftlicher Blockierungen und hochgesetzter Ansprüche an sich selbst, nach anderem Leben, schafft eine äußerst prekäre und verletzliche Situation für diese Jugendlichen“ (ebd., S. 47). Zu Selbstvorwürfen, zerstörtem Selbstwert, aber auch depressiven und resignativen Selbstzuständen sowie zum Rückzug in ,Schutzräume‘, zu denen spezifische jugendkulturelle Szenen zählen, käme es dann, wenn sich die Jugendlichen das Scheitern selbst zuschreiben. Das Ausklinken aus der ,Realität‘, das damit vielfach verbunden ist, wurde in politischen Diskursen der 1980er Jahre als eine spezifische Jugendproblematik bezeichnet – nämlich jene von Apathie und Rückzug –, die gesellschaftliche Normalisierungs- und Therapeutisierungsstrategien nach sich zog oder auch – sofern der Wunsch nach einem anderen Leben durch militante Aktionen verteidigt wurde – zu gesellschaftlichen Kontrollstrategien und Kriminalisierung führte (vgl. ebd., S. 47).
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Weitere Beiträge entstanden etwa zu der Problematik von Ideal- und R eal-Selbst und der Selbstdimension des Selbstwertes und Selbstvertrauens (vgl. Helsper 1987a), zur Selbstkrise von Kohärenz und Fragmentierung und im Konkreten dem Identitätsgefühl sowie zur Selbstkrise von Abgrenzung und Verschmelzung und damit insbesondere zum Autonomie- und Einzigartigkeitsgefühl (Helsper 1983a, 1985, 1987b, 1989b). Auf Basis von 10 Gruppendiskussionen, 15 drei- bis sechsstündigen narrativen Tiefeninterviews mit gegenkulturellen Jugendlichen, Interviews mit Gesamtschullehrenden, Absolventen einer Gesamtschule sowie Feldforschungsprotokollen entstand in der letzten Erhebungsphase des Essener Forschungszusammenhangs (August 1983 bis Juni 1984) ein Beitrag zum jugendkulturell-lebensweltlichen Milieu der untersuchten Gesamtschule des Ruhrgebiets (Helsper 1989b). Im Mittelpunkt des Beitrags steht die k ritisch-oppositionelle Gesamtschülerszene Mahlstadts, die aufgrund ihres zentralen schulischen Treffpunkts auch ‚Mensa-Szene‘ genannt wird und ein Netzwerk aus 60-80 Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 20 Jahren bildet (vgl. Helsper 1989b, S. 161 ff.). Theoretisierend wird auf Habermas Bezug genommen und davon ausgegangen, dass die Jugendgeneration der 1980er Jahre von einem Modernisierungs- und Rationalisierungsschub betroffen ist, der in einer Zuspitzung kulturell-gesellschaftlicher Krisen mündet: dabei kommt es einerseits im Zusammenhang kultureller Freisetzung bei gleichzeitiger Erosion tradierter Lebenswelten und Weltbilder zu Sinn- und Orientierungskrisen; andererseits sind anwachsende Autonomie- und Verselbstständigungsansprüche auszumachen, die sich, trotz zunehmendem Freiheitsverlust im Rahmen von Bürokratisierung, gesellschaftlicher Rationalisierung und in der Verrechtlichung von Lebenssphären herausbilden (vgl. Habermas 1981; Helsper 1989b, S. 162). Schule – als ein zentraler Lebensraum der Jugendlichen – „wirkt an der Verschärfung von Sinn- und Freiheitsverlust selbst entscheidend mit. Denn zum einen ist der schulische Lebensraum Jugendlicher selbst durch bürokratische Strukturen bestimmt, die kommunikativ-verständigungsorientierte Prozesse verzerren oder ersetzen, und zum zweiten übernimmt die Schule als gesellschaftlich organisiertes Bildungssystem wesentliche Aspekte einer kulturellen Reproduktion und Sinnstiftung, die aus den lebensweltlichen Kontexten ausgelagert werden und nun systemisch zu erbringen sind“ (Helsper 1989b, S. 162). Im Zentrum der Kritik der Jugendlichen dieser Gesamtschule steht Schule als System selbst und damit die systemisch bürokratische Rationalität von Schule (u. a. fremdbestimmte Lernprozesse und Inhalte, Schule als Zwangsanstalt, Konkurrenzorientierung, Leistungs- und Konsumorientierung und gesellschaftliche Ungleichheit) (vgl. ebd., S. 164). Jenseits der Kritik an der unmittelbaren Verbindung von schulischem Lernen und gesellschaftlichem Berechtigungswesen ist innerhalb der Mensa-Szene jedoch eine Hochschätzung von Wissen und Aneignung kulturell-ästhetischer Praxen und reflexiver Kompetenzen festzustellen, die im
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schulischen Kontext – und hier stellt Schule einen Freiraum dar, in dem man vor unmittelbaren gesellschaftlichen Zwängen durch die verlängerte Schulzeit zunächst verschont bleibt – eingeübt werden. Insofern ist ein Leiden an der systemischen Rationalität von Schule festzustellen; gleichzeitig bewahrt Schule interne Handlungsspielräume, in denen Individuierung und Selbstverwirklichung ermöglicht werden (vgl. ebd., S. 171). Über diese Zusammenhänge deutet sich eine Homologie von gegenkulturellem und schulischem Milieu und eine starke Verbindung zu dem an, was Bourdieu unter Bildungskapital fasst: „Gerade in der schuloppositionellen und doch darin schul-homologen-Gegenkultur der Mensa-Szene kann sich, – vorausgesetzt die Distanz zur Schule führt nicht zum Verfehlen eines qualifizierten schulischen Titels –, in Opposition zur schulischen Zweckrationalität ein ‚inkorporiertes Kulturkapital‘ herausbilden, das den gegenkulturellen Jugendlichen der Mensa-Szene im Zusammenhang mit dem schulischen Titel den privilegierten Zugang zu Ausbildungs- und Studiengängen sichert, die in Bourdieus dreidimensionalem Raum auf der Seite höchster kultureller Kapitale einzuordnen sind“ (ebd., S. 169).
Wesentliche Veränderungen der Jugendphase und des Verhältnisses von Jugend und Schule im Zuge fortschreitender kultureller Modernisierung nimmt auch ein weiterer Beitrag von Helsper (1987a) auf. Hier werden grundlegende Einstellungs- und Motivationsmuster von Jugendlichen im schulischen Kontext in den Blick genommen, die als teilweise in jugendkulturellen Peerwelten verankert betrachtet werden und den jugendlichen Umgang mit dem Schulischen strukturieren (vgl. Helsper 1987a, S. 85). In einer „Art von pädagogischer Bebilderung“ (ebd., S. 86) wird anhand von zwei Schülerfällen (Hermann und Anne) aufgezeigt, dass die „jugendliche Motivationsproblematik immer auch auf die Ebene subjektiver, lebensgeschichtlich niedergelegter Tiefenmotive verweist“ (ebd., Hervorh. i. O.). Anhand von Fällen aus einer Gesamtschule – und damit einem breiten Spektrum an jugendlichen Handlungsformen aufgrund der Heterogenität der Schülerschaft – wird in diesem Beitrag ein differenziertes Konzept von sechs Anpassungsformen entworfen, das die jugendliche Auseinandersetzung mit schulischen Anforderungen und Motivlagen gegenüber schulischen Lernprozessen fasst (vgl. u. a. auch Bietau et al. 1983). Dabei handelt es sich um die Unterscheidung zwischen fehlender Anpassung, verweigerter Anpassung, degagierter sowie engagierter Anpassung, kritischer Anpassung und verworfener Anpassung. Hermann – als ausgewähltes Exempel für die kritische Anpassung – ist Oberstufensprecher, aktiver Mitarbeiter der Schülerzeitung und engagiert in Ökoinitiativen und der Friedensbewegung. Er ist als Schüler zu charakterisieren, der hohe Ansprüche an sich selbst stellt und dabei bewusst und permanent
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an seine Leistungsgrenzen geht, was als „Lern-Kampf“ (Helsper 1987a, S. 103) beschrieben wird, mit der Zielsetzung, ein exzellentes Abitur abzulegen. Jugendliche wie Hermann, die der kritischen Anpassung zuzuordnen sind, sind als leistungsmotivierte Schüler*innen mit sehr guten Leistungen zu charakterisieren, die sich in erheblichem Maße in den schulischen Zusammenhang einbringen – sowohl was schulische Leistungen anbelangt als auch schulische Gremienarbeit. Sie dominieren Unterrichtsdiskurse und sind mit dem schulischen Kontext hochgradig identifiziert, sehen sich aber auch gleichzeitig in einer schulisch abgesicherten Position und damit in der Lage, reformorientierte Kritik zu üben und Verbesserungen anzuregen. Die Motivkomplexe, die im Fall von Hermann besonders deutlich werden, sind auf zwei Ebenen angesiedelt: zum einen zielen die enormen Lernanstrengungen auf Anerkennung, jedoch nicht basierend auf Erwartungen anderer, sondern um Selbstansprüche zu gewährleisten, d. h. alles perfekt zu meistern, dabei keine Fehler zu machen und alles zu können, wodurch selbst ein geringes Nachlassen der Anstrengung als Scheitern gedeutet wird und Anerkennungsverlust bedeutet. Zum anderen dienen die Anstrengungen der Akkumulation von Wissen und damit einer Absicherung über angeeignete Kenntnisse und Fähigkeiten der Ermöglichung von Planungssicherheit und Berechenbarkeit und um nicht „plötzlich nackt auf`m Boden zu stehen“ (ebd., S. 105). Dem Druck, der darüber aufgebaut wird, kann sich Hermann nicht entziehen (vgl. Helsper 1987a, S. 102 ff.). Ein Fall aus diesem Beitrag (Helsper 1987a) nimmt innerhalb seiner Jugendkulturforschungen eine besondere Stellung ein – was sich nicht zuletzt auch in dem vermehrten Rückgriff auf diesen speziellen Fall in den Beiträgen dieses Bandes abbildet. Es handelt sich dabei um eine seiner ersten Fallstudien, die während der Vorstudien und ersten Erhebungsschritte des Essener Projektzusammenhangs entstanden ist: Anne (vgl. Helsper 1983a, 1987a, b; Helsper und Breyvogel 1989). Die erste Punkerin Mahlstadts, erklärte Pinguinfanatikerin, mit brillanten intellektuellen Fähigkeiten und einem außerordentlichen Reflexionsvermögen, die einen adoleszenten Kampf um das autonome Selbst und damit gegen Anpassungsforderungen führt – sowohl jene im familialen Kontext als auch im schulischen – , sieht in der Auseinandersetzung mit dem Lernstoff in Mathematik die Vernichtung ihrer Subjektivität. Seit nunmehr über 30 Jahren liegt diese Fallstudie in ihrer Gesamtgestalt mit knapp 400 Seiten als unveröffentlichtes Manuskript in Werner Helspers Schublade. Es wäre wünschenswert, dass sich an dieser Situation etwas ändert, denn es handelt sich um Fallrekonstruktionen, die einen packen und nicht mehr loslassen. Die Analyse umfassen dabei alle Lebensbereiche Annes: neben familialen Dynamiken, Schule und Beziehungsstrukturen
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im schulischen Kontext sowie Annes phantasievollem, gegenkulturellem Leben enthält die Studie auch Ausführungen zu ihrer inneren, ‚anderen‘ Realität, der die Zerrissenheit und ihren Wunsch nach Selbst-Verlust verdeutlicht. Diese Fallstudie basiert auf 15 narrativen Tiefeninterviews mit Anne, die über einen Zeitraum von drei Jahren erhoben worden sind, Tagebuchaufzeichnungen und autobiographischen Zeugnissen sowie langjährigen Feldkenntnissen, die sich auf den Schulkontext – eine Modellgesamtschule im Ruhrgebiet – und die Gleichaltrigengruppe gleichermaßen beziehen. Insgesamt liegen für Annes Fall über 40 h Gesprächsmitschnitte vor, die einen Zeitraum abdecken, der sich über ihr 16. Lebensjahr bis kurz vor ihrem Abitur in der 13. Klasse erstreckt. Anne wird als „schillernde, auffällige, bisweilen exzentrisch-kurios wirkende Erscheinung“ beschrieben, die „immer wieder Aufmerksamkeit, Erstaunen, Reaktionen zwischen deutlicher Bewunderung und krassester Ablehnung hervorruft“ (Helsper 1987b, S. 1). Die Zerrissenheit und tiefe Widersprüchlichkeit von Annes Subjektivität – die sich wie ein roter Faden durch die gesamte Fallstudie zieht – markieren ein Oszillieren zwischen Extrempolen: zwischen dem Selbstentwurf des autonomen und einzigartigen Subjektes und dem tiefen Wunsch nach SelbstVerlust „nach einer subjektlosen Realität, die im Wunsch nach Intensität, Exzess aber auch Homöostase, auf etwas [zurückzugreifen versucht], das dem Selbst vorausgeht“ (Helsper 1987b, S. 366). Diesem Wunsch der Befreiung vom Kampf um das autonome Selbst steht jedoch auch ein Schreckensbild gegenüber: ins Leere zu fallen, ins Subjektlose und ins Nichts abzudriften (vgl. ebd., S. 366 f.). Das Wechseln zwischen Extremen, d. h. zwischen Darstellungen innerem Chaos und eigener Zerrissenheit auf der einen Seite und der Behauptung von Selbstständigkeit und Nicht-Unterworfensein auf der anderen Seite, durchzieht Annes Selbstdarstellungen.1 Im Rahmen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit am Institut für Jugendforschung in Essen entstand im Forschungs- und Ausstellungsprojekt (März 1986 bis Februar 1988) mit dem Titel „Land der Hoffnung – Land der Krise: Jugendkulturen im Ruhrgebiet zwischen 1900 – 1987“, in dessen Mittelpunkt die Entwicklung von (Sub-)Kulturen von Jugendlichen seit der Jahrhundertwende im
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dem gleichen Projektzusammenhang stammt auch die 140-seitige, nur teilweise veröffentlichte Fallstudie von Werner Helsper vom Schüler Tim (vgl. Bietau et al. 1983, S. 143 ff.; Combe und Helsper 1994, S. 69 ff.), einem kroatischen Jungen, der bereits 1979/1980 während einer Vorstudie zu dem Projekt in den Blick rückte und bei dem sich Widersprüche zwischen Schulentfremdung im Gestus von Souveränität und Unbekümmertheit bei gleichzeitigem Zusammenspiel mit Aggressivität einerseits und hoher Betroffenheit und Scham andererseits abzeichnen.
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Ruhrgebiet steht (vgl. Breyvogel und Krüger 1987), eine weitere Fallstudie (Peter W.). Eingebettet in den Diskurs über die Schülerbewegung der 1960er bis 1980er Jahre im Ruhrgebiet wird Peter W. als ein sehr früher und vor allem schillernder Aktivist des Essener Schülerprotests in den Blick genommen (vgl. Helsper 1987c). Die Auseinandersetzung erfolgt hier über Schule als alltäglichem Erfahrungsraum der Jugendlichen, der zu einem zentralen Kristallisationspunkt des Schülerprotests avancierte (vgl. ebd., S. 231). Besonders betroffen von den Protesten waren die traditionellen Gymnasien, die in der Kritik standen, nicht zum kritischen Denken und zu Demokratiehaltungen zu erziehen: „Wurde schon für die Gesamtgesellschaft die Realisierung der Demokratie bezweifelt, so für die Schule mit ihrem ‚besonderen Gewaltverhältnis‘, der Einschränkung demokratischer Rechte wie etwa der freien Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit und der Mitbestimmungsmöglichkeiten erst recht“ (ebd.). Peter W. wird in diesem Kontext als Persönlichkeit eingeführt, die für eine deutliche Eskalation des Schülerprotests in Essen in den 1960ern steht und anhand dessen Fall nahezu idealtypisch nachvollzogen werden kann, wie der kulturelle Bruch dieser Jahre als Modernisierungsschub wirkte (ebd., S. 233 ff.). Aufgrund seiner stark im Katholizismus verankerten Familie, besuchte Peter ein Gymnasium mit humanistisch-katholischer Tradition – das traditionsreiche und als Eliteschule der Stadt geltende Burggymnasium – mit dem elterlichen Ziel, „schön streng erzogen [zu] werden“ (ebd., S. 233). Zunächst konnte er an die Bildungsideale und katholische Tradition der Schule anschließen, bis mit 13 Jahren eine kritische Auseinandersetzung mit den religiösen Inhalten, ihrem Wahrheitsgehalt sowie christlichen Idealen und ihrer Realisierung im Kirchenkontext begann. Mit 17 Jahren – so beschreibt es Peter – kippte dieser Emanzipationsprozess: „Und dann brach so das ganze Gebäude zusammen. […] Und dann war eine große Leere da und natürlich ein Gefühl, vorsichtig ausgedrückt, falsch geleitet worden zu sein, härter ausgedrückt, betrogen und verschaukelt worden zu sein“ (ebd.). Sein daraufhin entwickelter Protest und seine Provokationen richten sich auf das Gymnasium, das für ihn alle alten und überholten Werte verkörperte und ihn enttäuscht hatte: Er tritt mit provokativen Aktionen bspw. am ‚Tag der Heimat‘ in Erscheinung, verfasst Protest-Schriften („Über die Freiheit eines Schülers“) und ruft die Schüler*innen des Burggymnasiums über eine von ihm herausgegebene Zeitschrift (den ‚Kommunarden‘) zum Streik und zum Tragen von Meinungsknöpfen auf. Stellvertretend für die Schüler*innen des Burggymnasiums klagt er das Recht auf freie Meinungsäußerung ein und löst – vor allem als er sich in einer der Zeitungsausgaben dem Thema der sexuellen Revolution der Schüler*innen widmet – heftige Reaktionen sowohl bei der Schulleitung als auch bei der Elternund teilweise auch bei der Schülerschaft aus, die bis zu E ntlassungsforderungen
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reichen (vgl. ebd., S. 234 ff.). Peter W. steht für einen Fall, der einen Aufklärungsschub gegen unhinterfragte Weltbilder und Traditionen fordert, und damit für einen Fall, bei dem sein ‚altes Selbst‘ und sein neues – durch Reflexion und Infragestellung der als ausgrenzend empfundenen autoritären und normativen Ordnung der humanistisch-katholischen Schule geformtes – Selbst aufeinanderprallen. Marginalisierte Jugendliche und ihre Bildungsverläufe bilden den Fokus eines weiteren Forschungsprojektes (vgl. u. a. Helsper et al. 1991), in dem Werner Helsper an der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität Frankfurt/M. (1988 bis 1991) tätig war („Jugendliche mit scheiternden Bildungsverläufen“) und in dessen Rahmen seine Fallstudie zu Esra entstand, einer fast 18-jährigen Türkin, die in einem Mädchenheim in einer Ruhrgebietsgroßstadt lebt und deren Fall auch in seine Studien zu Okkultismus2 einging (Helsper 1992; Helsper und Streib 1994). Esras Fall ist geprägt durch Fremdbestimmung, Vertrauensbrüche, Vernachlässigung und Verweigerung von Autonomie durch ihre Eltern sowie durch grundlegende Inkonsistenzen – zeitlich wie auch räumlich, die in prekäre Verhältnisse von Nähe und Distanz münden. Durch den ständigen örtlichen Wechsel zwischen zwei Kulturen, bei der sie auf der einen Seite die Enge türkischer Traditionen erfährt und auf der anderen Seite aber auch Möglichkeiten sieht, eigenständige Lebenswege zu gehen, bleibt sie letztlich ein Mädchen, das zwischen den Stühlen sitzt und sich nicht verorten kann: Sie kann weder positive Bezüge zur türkischen Tradition herstellen, noch kann sie, trotz einem sehr positivem Bezug zur „deutschen Kultur“, sich vollkommen zur „deutschen Kultur“ zugehörig fühlen. Fehlende Einbindungen und Zugehörigkeiten versucht sie durch Gleichaltrigenbeziehungen zu kompensieren, die jedoch ebenso durch ein Hin und Her gekennzeichnet sind: So wechselt sie innerhalb von zwei Jahren zwischen verschiedenen Jugendsubkulturen (Haschclique, härtere Drogenszene der Stadt, Gruftis, Punks, Heavy-Metal, Motorradclub), kann sich jedoch mit keiner richtig identifizieren (vgl. Helsper 1991, S. 97 f.). Insofern gilt für Esra „gerade nicht, daß [sic!] ihr ‚Mäandern‘ durch verschiedene Jugendkulturen eine adoleszente Verselbstständigung und Loslösung von den Eltern ist und als Lebens- und Jugendstilerprobung verstanden werden kann“ (ebd., S. 100), sondern erscheint vielmehr als Kompensation für fehlende familiale Unterstützung und emotionale
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diesem Kontext habilitierte sich Werner Helsper 1994 am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Essen mit dem Thema: „Religion und Magie in der Adoleszenz. Sozialisationstheoretische, jugendsoziologische und pädagogische Studien zum Verhältnis von Religion und Adoleszenz in der ‚postmodernen Moderne‘“.
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Zuwendung. Interessanterweise reproduzieren sich darüber letztlich familiale Muster und zwar im Konkreten das „‚Hin und Her‘ als Ausdruck einer Problematik von Nähe und Distanz, die anomische Entstrukturierung und Auflösung der kulturellen Verortung und schließlich die instrumentelle Beziehungsstruktur zwischen Esra und ihren Eltern“ (ebd.). Auch die Bedeutung des Okkulten in ihrer Zeit mit den Gruftis dient in diesem Kontext vordergründig der Möglichkeit, die Krisen und traumatischen Ereignisse in ihrem Leben darin symbolisch zu entfalten (vgl. Helsper 1992, S. 199). Neben dem Fall Esra, entstanden im Zuge Werner Helspers Studien zu jugendlichen Orientierungen an Okkultismus auch weitere Fallstudien und Grufti-Kurzportraits (Bill, Satanist T., Tanja, Erich, Alan, Rob, Isis, Tabea; vgl. Helsper 1992; Helsper und Streib 1994), in denen deutlich wird, dass die Auseinandersetzung mit Okkultem als Bearbeitung von Lebensthemen und biographisch relevanten Krisen gesehen werden kann und dabei Selbstspannungen zwischen Integration und Desintegration, Macht und Ohnmacht sowie Ganzheit und Fragmentierung individuell bearbeitet werden. Insofern kann der „Umgang mit dem Okkulten bearbeitende und transformatorische Bedeutung und Funktion haben“ (Helsper und Streib 1994, S. 196) und der Bezug auf Okkultes auch als Medium des Entstehens von Neuem fungieren. Parallel zu den Studien zu Okkultismus entstanden weitere Beiträge basierend auf Fallstudien zum komplexen Zusammenspiel von Schule, Familie und Peers, bei dem ein Fall heraussticht: Moritz (vgl. Combe und Helsper 1994, S. 107 ff.). Exemplarisch steht sein Fall für schulisch-familiale Verstrickungen und die Überanpassung der Familie an die Schule und damit als Fall, bei dem der Heranwachsende die Familie wie eine Fortsetzung der Schule und die Schule wie eine Fortsetzung der Familie erlebt. Obwohl es sich um sozialisatorisch unterschiedliche Handlungsfelder handelt, zeigen sich in seinem Fall, wie auch im Fall von Tim (vgl. Combe und Helsper 1994, S. 69 ff.), zunehmende Verschiebungen im Verhältnis von Familie und Schule. Diese sind nicht zuletzt zu begründen über das Eindringen von Leistungs- und Selektionsstandards des Bildungssystems in die Familie, die die Eltern-Kind-Beziehung maßgeblich beeinflussen und sich u. a. in höheren Schulabschlusserwartungen seitens der Eltern zeigen (vgl. ebd., S. 110 f.). Zum Zeitpunkt des Interviews besucht der 15-jährige Moritz die 9. Klasse einer Hauptschule, gehört der Punk- und Drogenszene an und plant aufgrund seiner guten Leistungen nach der 10. Klasse auf die gymnasiale Oberstufe einer Gesamtschule zu wechseln. Seine familialen Verhältnisse erlauben ihm einen Lebensstil, der als großzügig und luxuriös beschrieben werden kann – sein Vater ist Unternehmensberater und verfügt über ein sehr gutes Einkommen, dass der Familie ermöglicht, in einer Eigentumswohnung zu wohnen, mehrere kostspielige Urlaube im Jahr zu machen und eine Segelyacht zu besitzen. Die liberale
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und viele Freiheiten wie auch frühzeitige Selbstständigkeit und Entscheidungsfähigkeit zubilligende Erziehungshaltung der Eltern hat für Moritz allerdings eine Kehrseite: Sie ist mit einem elterlichen Leistungsanspruch verbunden und der Erwartung, dass Moritz seine Freiräume so ausgestaltet, dass sie nicht mit seinem eigenen Erfolg kollidieren (vgl. ebd., S. 116). Weil er keinen „Ultranormal-Weg“ (ebd.) einschlägt, kommt es zu Konflikten zwischen ihm und den Eltern – vor allem, da sie ihn in dem, was er als ‚Lebenssinn‘ und eigene Weiterentwicklung erachtet, nicht flankieren und unterstützen (ebd., S. 119). Es kommt zum Bruch im Verhältnis zu seinen Eltern: Vom bewunderten, leistungsstarken Erfolgskind seiner Eltern wird er für die Eltern zur „Niete“ und „Memme“ (ebd., S. 125), da er auf dem Gymnasium, das als Leistungs- und Elitegymnasium der Stadt gilt, versagt, Ende der 7. Klasse sitzenbleibt und dieses schließlich endgültig verlassen muss. Sein gesellschaftlich anerkannter Status als Gymnasiast wird auf diese Weise zerstört und ihm wird der weitaus weniger anerkannte Status des Hauptschülers zugewiesen (vgl. ebd., S. 139 ff.). Mit seinem Abstieg auf die Hauptschule prallen nicht nur im Peerkontext unterschiedliche subkulturelle Stile aufeinander – Moritz fühlt sich zu dieser Zeit den Hippies zugehörig, was sich auch in seinem Äußeren manifestiert, und dieser Stil steht dem der „Prolos“ auf der Hauptschule entgegen –, sondern es kommt auch zu Konflikten mit den Lehrenden: Er erlebt die Inhalte und das Lernen an der Hauptschule als sinnlos, versucht seine eigene intellektuelle Überlegenheit immer wieder herauszustellen und distanziert sich damit deutlich vom Hauptschul-Niveau: „Ich kann also nich‘, du mußt irgendwie immer/immer ‚ne Stufe zurückschalten, um mit denen überhaupt reden zu können […] ich hab‘ keine Lust, völlig abzustumpfen auf der Penne da“ (ebd., S. 149). Die Distanzierungsweisen, die sich in seinem Fall zeigen, sind als Form von Selbststabilisierung zu deuten (vgl. ebd., S. 153), führen jedoch im Hauptschulkontext zu weiteren Konflikten. Die aggressiven Spannungen und auch seine Wut versucht er im subkulturellen Kontext abzubauen – allerdings gelingt ihm dies nicht im Kontext der Hippie-Szene. Erst der Wechsel zum Punk verschafft ihm diese Möglichkeit und bestimmt ihn gleichzeitig als aktiv Handelnden in Krisensituationen (vgl. ebd., S. 154 f.). In der Folgezeit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit widmete sich Werner Hel sper verstärkt hermeneutisch-rekonstruktiven Studien zur Schulkultur – jedoch ohne den Zusammenhang zwischen Institution und Biographie aus dem Blick zu verlieren (vgl. u. a. Helsper 1995, 2000) und initiierte im Zuge dessen auch ein DFG-Projekt unter seiner Leitung mit dem Titel „Institutionelle Transformationsprozesse der Schulkultur in ostdeutschen Gymnasien“ (August 1995 bis Dezember 1998), das am Zentrum für Schulforschung und Fragen der Lehrerbildung (ZSL) an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg realisiert und
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in dessen Kontext die Schulkulturtheorie ausformuliert wurde (vgl. u. a. Helsper et al. 1998, 2001). Gerade die Rezeption von jugendkulturtheoretischen Studien – darunter u. a. jene des „Centre of Contemporary Cultural Studies“ (CCCS) in Birmingham – sowie die eigenen durchgeführten Jugendkulturstudien bildeten dabei den Grundstein für das empirisch-theoretische Modell und erste Überlegungen zur empirischen Analyse von Schulkulturen sowie der später ausformulierten Schulkulturtheorie (vgl. Helsper 2015, S. 448). Werner Helsper selbst beschreibt den Beitrag der Jugendkulturforschungen für seine Schulkulturtheorie über vier wesentliche Zusammenhänge (vgl. ebd., S. 449 f.): Erstens schärften die ethnographischen und qualitativ-rekonstruktiven Analysen konkreter jugendkultureller Ausdrucksgestalten und Erscheinungsformen den Blick für eine qualitative Rekonstruktion jugendlicher Sinnhomologien. Als hoch bedeutsam wird – zweitens – die Verbindung der empirischen Analysen mit anspruchsvollen Theoriekonzeptionen markiert: Die psychoanalytisch-strukturalen und gesellschaftstheoretischen Konzeptionen der jugendkulturtheoretischen Studien lieferten zentrale Anregungen für die Trias von Symbolischem, Imaginärem und Realem der Schulkultur. Drittens lag der Fokus dieser Studien nicht nur auf der Ausdifferenzierung und Pluralisierung jugendlicher Kulturen, sondern auch auf deren Einbettung in Dominanz- und Hegemonialverhältnisse, sodass auch das Gefüge symbolisch-kultureller Machtkonstellationen in den Blick genommen werden konnte. Und viertens waren in den jugendkulturtheoretischen Studien auch Fragen nach der Diachronie und der Genese von Kulturen leitend und damit nach Entstehung, Transformation und Auflösung von Jugendkulturen. „An diese Positionen knüpfte die Schulkulturtheorie mit der Betonung der Rekonstruktion des Konkreten und Spezifischen der Einzelschule, der Formulierung einer eher formal-strukturalen heuristischen Schulkulturtheorie, dem Theorem, dass konkrete Schulkulturen mehr oder weniger deutlich durch Dominanz und Hegemonie, durch Unter- und Überlegenheit miteinander rivalisierender Entwürfe und Anerkennungsordnungen in der Auseinandersetzung schulischer Akteursgruppen gekennzeichnet sind sowie einem prinzipiell antistatischen Verständnis von Schulkultur als eines Prozesses in der Spannung von Reproduktion und Transformation an“ (Helsper 2015, S. 450).
Und hier schließt sich der Kreis zwischen dem Jugendtheorie-/JugendkulturHelsper und dem Schulkultur-Helsper – natürlich neben all den anderen, die der benannte Autor sich selbst attestiert: etwa dem Subjekttheorie-, Antinomien-, Professions-, pädagogische Generationstheorie-, Anerkennungs- und dem qualitativen Mehrebenen-Helsper (vgl. Helsper 2015, S. 447 f.).
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4 Flashforward: Perspektiven der Jugend(kultur)forschung Wie kann nun bei aller Riskanz und Dialektik ein durch die Rekapitulation einer Vergangenheit geschärfter Blick in die Zukunft der Jugend(kultur)forschung ausfallen? Wieviel Utopie und Wunsch stecken in der folgenden Prognose und wie stark wird diese selbst – das wäre ja zu wünschen – die ungewisse Zukunft mitgestalten und beeinflussen (vgl. Heinzel 2015)? Die Schwierigkeiten eines solchen Blicks in die Zukunft werden nicht weniger, wenn man den z. T. widersprüchlichen Befunden und Interpretationen der in diesem Band versammelten Beiträge folgt. Einerseits kann man hier den Eindruck gewinnen, dass es sich eigentlich mit der Jugend(kultur)forschung in der Zukunft erledigt hat. Zumindest tendenziell ließe sich das ableiten. Im Beitrag von Ecarius wird etwa deutlich, dass in aktuellen Surveystudien zur Jugendphase keine Hinweise und Befunde auf jugendkulturelle Ausdrucksformen zu finden sind (vgl. Ecarius in diesem Band; Ecarius et al. 2017; Shell 2015). Die These, dass die Zeit der Jugendkulturen vorbei ist, wird zudem durch die theoretische Debatte einer Ablösung von konturierten Jugendkulturen durch offene und fluide Szenen unterstützt (vgl. Hitzler et al. 2005). Am Beispiel der Entwicklung der Jugendkultur der Fußballfans zeichnen von Wensierski und Puchert (in diesem Band) detailliert nach, wie sich diese zunächst als Reflex auf Modernisierungstendenzen als altershomogene Subkultur herausgebildet hat und dann aber im Zuge fortgesetzter Modernisierungsprozesse nicht nur mediatisierter, kommerzialisierter oder auch politisierter ausdifferenzierte, sondern auch über die Lebensaltersgrenzen (und auch die sozialen Milieus) ausfranzte. Eine lebensphasenübergreifende Ausweitung einer einstmals homogeneren Jugendkultur finden wir auch bei Richard (in diesem Band). Hier wird v. a. verdeutlicht, dass die Gothic-Szene ihre erwachsen gewordenen Mitglieder auch weiterhin bindet und damit neue Dynamiken der distinktiven Ausdifferenzierung freigesetzt werden. Wiezorek und Eulenbach (in diesem Band) sprechen gar von einer verjugendlichten Gesellschaft als Entwicklungstrend, der durch die Aufrichtung und breite gesellschaftliche Verbürgung eines Ideals der jugendlichen Lebensführung Generationsdifferenzen verwische und einebne (vgl. dazu auch schon Helsper 1997). Also: keine Jugendkultur – keine Jugend(kultur)forschung?3 Oder anders gefragt: Kann es denn zukünftig überhaupt eine Jugend(kultur)forschung geben, wenn es keine Jugendkulturen mehr gibt? 3Man
kann diesen ‚Abgesang‘ an die Jugend(kultur)forschung auch als verhalten-defensive Orientierung diskutieren, die sachlich nicht zwingend begründet ist. Zumindest im Vergleich mit der Kindheitsforschung, der es in den letzten Jahren und Jahrzehnten gelungen
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Andererseits ist die Sache so eindeutig ja nicht. So machen die Überblicksbeiträge von Krüger sowie Grunert und Pfaff (in diesem Band) deutlich, dass sich nicht nur die theoretischen und forschungsbezogenen Perspektiven auf Jugend(kultur) ausdifferenziert und diversifiziert haben, sondern auch (neue) jugendliche und jugendkulturelle Ausdrucksformen anzutreffen und auch zu untersuchen sind. Viele der hier in diesem Band versammelten Beiträge zeigen, dass entweder die bereits in den 1980er Jahren untersuchten jugendlichen Ausdrucksformen und Jugendkulturen noch immer und nur z. T. in veränderter Gestalt vorzufinden sind. Neben den schon genannten Jugendkulturen der Fußballfans und der Schwarzen Szene gilt das auch z. B. für die Jugendkultur des Heavy-Metal (vgl. Schneider in diesem Band). Vor allem aber zeigen die Beiträge in ihrer Gesamtheit und thematischen Breite auf, dass Jugend und Jugendkultur gerade keine nur auf diese Lebens- und Entwicklungsphase bezogenen und isoliert zu betrachtenden sozialen Phänomene sind, sondern ihre je historische Gestalt und soziale Bedeutung gerade erst in der Verstrickung und dem Zusammenspiel mit der Familie, der Schule bzw. weiteren Institutionen des Bildungs- und Betreuungssystems erhalten. Jugend und Jugendkultur existieren in ihrer jeweiligen Gestalt nur deshalb und in ihrer jeweiligen Art und Weise, weil sie Ausdruck und Ergebnis vielfältiger und in komplexer Weise miteinander verwobener Strukturdynamiken einer sich fortwährend weiterentwickelnden Gesellschaft sind. Damit ließe sich aus den Überlegungen oben schließlich eine ganz andere und gegenläufige Schlussfolgerung ziehen: Jugend wäre hier gerade durch die gesamtgesellschaftlich gestiegene Bedeutung als Modell gelungener Lebensführung auch zukünftig intensiv zu untersuchen und zu beforschen (vgl. Cohen und Ainley 2000). Das gilt besonders auch für eine erziehungswissenschaftliche Jugendforschung (vgl. Krüger sowie Grunert und Pfaff in diesem Band). Denn hier gilt noch immer, was Cohen für die 1980er Jahre treffen formuliert hatte: Die Jugend bedarf als „formatives Entwicklungsstadium“ besonderer Aufmerksamkeit (Cohen 1985). Wir sind also doch sehr zuversichtlich in Bezug auf eine zukünftige Jugendund Jugend(kultur)forschung. Diese stellt sich aber nicht von selbst und automatisch ein, sondern sie erfordert – wie z. B. Grunert immer wieder deutlich macht – auch eine Besinnung und disziplinäre Vergewisserung als ein zentra-
ist, sich als Childhood Studies oder Early Child Studies zu etablieren, fällt auf, dass hier auch ein Forschungsbereich in der Krise ist. Es finden sich jedoch auch ganz gegenläufige Positionen, die – wie wir – an einer erziehungswissenschaftlichen Jugend(kultur)forschung festhalten (z. B. Bock et al. 2020).
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ler erziehungswissenschaftlicher Forschungsgegenstand. Für diese zukünftige Jugend(kultur)forschung lassen sich gerade in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Werner Helsper wichtige Prinzipien herausstellen: 1. Jugend(kultur) ist als gesellschaftliche Ausdrucksgestalt und soziales Phänomen nicht isoliert, sondern immer in interdependenten Zusammenhängen zu betrachten. Das gilt gerade auch für die Jugend(kultur)forschung, die ihren Gegenstand in Verbindung mit gesellschaftlichen Institutionen und damit in Macht- und Herrschaftsrelationen zu erfassen hat. Es ist gerade die Ausrichtung einer Jugend(kultur)forschung von Werner Helsper, die den bei Grunert und Pfaff (in diesem Band) formulierten Kritikpunkt zuvorkommt, weil Jugend und Jugendkultur dort immer schon als in diese Kontexte eingespannt und eingewoben erforscht werden. Jugend und Jugendkultur sind deshalb gerade auch zu untersuchen in ihrer Verbindung und Durchmischung mit Familie, Schule und weiteren Feldern und Arenen unserer ausdifferenzierten Gesellschaft. 2. Jugend(kultur) ist, obwohl darin auch historisch übergreifende Strukturen der Individuation, der Vergesellschaftung und der kollektiven Einbindung entfaltet sind, nicht statisch zu denken, sondern selbst einem Wandel und steter Veränderung ausgesetzt. Daraus lässt sich nicht nur die immer wieder zu erneuernde Forderung ihrer Erforschung ableiten, insofern potenziell auch mit einer Veränderung und Weiterentwicklung des Forschungsgegenstandes zu rechnen ist. Sondern es lässt sich hier auch eine Ausrichtung der Jugend(kultur)forschung auf Genese, Entwicklung und Transformation begründen. V. a. eine prozesshafte und genetisch ausgerichtete Jugend(kultur)forschung lässt sich wiederum in den Arbeiten von Werner Helsper finden. Eine längsschnittliche Forschungsanlage findet sich allerdings noch nicht in den frühen Forschungsarbeiten, sondern erst in der letzten Zeit. 3. Theoriearchitektonisch muss die Jugend(kultur)forschung als ein Hybrid gesehen werden, weil sie immer schon eine Verbindung herstellen muss zwischen den Individuationslogiken und Entwicklungsdynamiken einzelner Personen einerseits und den kollektiven und vergemeinschaftenden Strukturmomenten (Familie, Milieus, Peers und Institutionen des Bildungs- und Betreuungssystems) andererseits. Genau diese Verknüpfung von subjekt-, biographie- oder bildungstheoretischen Perspektiven auf der einen Seite und von institutionen-, gesellschafts- und herrschaftstheoretischen Perspektiven auf der anderen Seite finden wir in den Arbeiten von Werner Helsper.
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4. Schließlich wäre die zukünftige Jugend(kultur)forschung auch methodisch-methodologisch als eine integrative Forschungsstrategie zu entwerfen. Unter dem Primat einer Erforschung, die am jeweils Konkreten und Singulären ansetzen muss, und der Klammer eines verstehenden, interpretativen Zugangs zu den differenzierten und vielfältigen Ausdrucksformen von Jugend und von Jugendkultur sind sowohl ethnographische als auch hermeneutisch-rekonstruktive Zugänge möglich und erforderlich. Diese Verbindung können wir wiederum sehr schön in den intensiven Fallstudien von Werner Helsper aus den 1980er und frühen 1990er Jahren sehen. Hier sind sehr ausführliche und methodisch genaue Fallrekonstruktionen zu finden, die auf der Grundlage sequenzanalytischer Interpretationen von Interviews oder von aufgezeichneten familialen oder schulischen Interaktionen entstanden sind. Und häufig sind diese Fallrekonstruktionen eingebettet und flankiert durch ethnographische Beobachtungen und deren Protokollierung. Es braucht also auch zukünftig eine empirische Analyse der Ausdifferenzierungen und der je konkreten Gestalt von Jugend und Jugendkultur, gerade auch weil diese eine zentrale Kontextbedingung von Entwicklung, Bildung und Veränderung darstellen und als Referenzpunkt und auch Grenze pädagogischer Programme immer wieder neu reflektiert werden müssen. Dabei geht es vor allem darum, diese in ihrer Eigenlogik und Eigendynamik auch im Forschungsprozess anzuerkennen, aber gerade nicht als isolierte Phänomene zu behandeln, sondern in der jeweiligen Einbettung in historisch konkrete Strukturen und gesellschaftliche Machtkonstellationen und der Auseinandersetzung damit zu bestimmen. Die Kenntnis der Forschungsarbeiten von Werner Helsper aus den 1980er und 1990er Jahren kann für diese zukünftige Ausrichtung der Jugend(kultur)forschung sehr anregend und orientierungswirksam sein. Deren Rezeption und Rekapitulation wäre deshalb sehr zu wünschen. Gleichwohl ist vor einer gewissen Sogwirkung dieser Studien auch zu warnen, die die Tendenz haben, einen nicht mehr loszulassen. Und ihnen haftet auch etwas Gewaltiges und auch ‚Maßloses‘ an, wenn man auf den Anspruch der extensiven analytischen Erschließung fokussiert (vgl. exemplarisch die Fallstudie „Anne“, Helsper 1987b). Diese Risiken gilt es vielleicht bei der Rezeption zu berücksichtigen. Dann aber findet man schon in den frühen Arbeiten von Werner Helsper ein Programm einer Jugend(kultur)forschung, das fruchtbar auch noch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten umgesetzt werden kann.
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5 Zu den Beiträgen Teil I Jugendkultur: Theoretische Rahmungen Der Beitrag von Wilfried Breyvogel eröffnet diesen Band. Er widmet sich der Forschungspersönlichkeit von Werner Helsper, vor dem Hintergrund der intensiven gemeinsamen Arbeit zu Fragen der Subjektgenese und der Adoleszenz auch im Zusammenhang mit Peerkultur und Schule Ende der 1970er bis Ende der 1980er Jahre. In einzelnen Abschnitten werden im Beitrag als Referenzpunkte einer Würdigung der Forschungsarbeiten von Helsper in dieser Zeit zunächst die Überlegungen von Max Weber zur Wissenschaft als Beruf eingeführt und anschließend die gemeinsame Theorie- und Forschungsarbeit rekapituliert. In einer Verknüpfung dieser Zugänge kommt Breyvogel zu dem Schluss, dass die Forschungsarbeiten von Helsper und v. a. die intensiven Fallstudien zum Zusammenhang von Individuation, Adoleszenz und Schule in der Kombination von „Leidenschaft“ und „harter Arbeit“ ein Weber’sches Format haben, das auch für andere und heute noch hoch anregend sein kann. Die historische Genese der jugendkulturtheoretischen Diskussion zeichnet Heinz-Hermann Krüger in seinem Beitrag nach und richtet den Fokus auf Ergebnisse zentraler empirischer Studien sowie relevanter theoretischer Bezugslinien des Gegenstandsfeldes Jugendkultur. Dabei werden sowohl die Anfänge bei den interaktionistisch und sozialökologisch angelegten Studien der Chicagoer-Schule in den 1920er Jahren, die Etablierung eines theoretischen Diskurses um eigenständige Jugendkulturen in der Nachkriegszeit sowie die Entwicklung über den von Stilbildungsprozessen beeinflussten kulturtheoretischen Ansatz des Birminghamer „Centre for Cultural Studies“ in den 1970er Jahren nachgezeichnet als auch die gegenwärtige Situation der Jugendkulturforschung und ihrer pluralen theoretischen Konzeptionen skizziert. Mit einem bilanzierenden Blick auf die historischen Entwicklungen schließt der Beitrag mit weiterführenden theorieprogrammatischen Überlegungen wie auch inhaltlichen Herausforderungen für die zukünftige Jugendkulturforschung. In ihrem Beitrag zu „Jugendforschung zwischen Jugendkulturforschung und Schulforschung – disziplinkritische Beobachtungen“ diskutieren Cathleen Grunert und Nicolle Pfaff Verhältnisbestimmungen von Jugend- und Schulforschung aus historischer Perspektive und ordnen sie erziehungswissenschaftlich ein. Sie machen hieran einen Wandel der Gewichtungsverhältnisse deutlich: während Schule als Lebensraum in der Jugendforschung an Bedeutung verliert, wird Jugend in der schulpädagogischen Forschung integriert – gleichzeitig aber auf die Rolle als Schüler*in verengt.
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Teil II Jugendkultur und Schule Heiner Ullrich untersucht in seinem Artikel „Adoleszenz und Schule. Fallstudie und Theoriebildung bei Werner Helsper“ ausgehend vom Fall „Anne“ die Entwicklung von Werner Helspers Perspektiven auf Schul- und Jugendforschung. Er zeigt auf, dass sich der Einbezug der Adoleszenzkrise konsequent in beide Forschungsperspektiven einschreibt und leuchtet aus, inwiefern der von ihm in den Mittelpunkt gestellte Fall entlang der Geschichte des Theoriebildungsprozesses bei Werner Helsper heute zu (re-)interpretieren wäre. Mareke Niemann und Katrin Kotzyba nehmen in ihrem Beitrag das ambivalente Verhältnis von Schule, Familie und Jugend in modernisierten Gesellschaften in den Blick. Anhand eines zeithistorischen Vergleichs von drei Schülerfallstudien steht die Frage im Mittelpunkt, inwiefern sich Bedingungen einer veränderten Jugendphase – hier wird auf eine weitere Steigerung von Individualisierung und Destandardisierung sowie auf den Umgang mit Ambivalenzen verwiesen –, gewandelte Generationenbeziehungen und Veränderungen im Bildungssystem in den biographischen Ausdrucksgestalten von unterschiedlichen Schülerinnen niederschlagen. Die Autor*innen beziehen sich dabei auf Datenmaterial aus unterschiedlichen Projektzusammenhängen von Werner Helsper und kontrastieren Ergebnisse zu der Fallstudie „Anne“ aus den 1980er Jahren sowie der Fallanalysen zu „Sabrina“ und „Sina“ aus den 2010er Jahren hinsichtlich ihrer Bezugnahmen auf generationale familiale Beziehungen, schulische Anerkennung und Leistungsaspekte in den jeweiligen schulischen Milieus. In dem Beitrag „Jugend(kultur) und Ganztagsschule“ gehen Till-Sebastian Idel und Katharina Kunze der Frage nach, in welcher Weise ganztagsschulische Angebote Möglichkeitsräume für jugendliche und peerkulturelle Entwicklungen zur Verfügung stellen. Sie entwickeln anhand der Kontrastierung der „Mensa-Szene“ und eines Gegenwartsfalls zu einem Hip-Hop-Angebot die Ambivalenzen von Ganztagsräumen für jugendliche Entwicklungs- und Vergemeinschaftungsprozesse. Andrea Kleeberg-Niepage, Sandra Rademacher und Michael Tressat befassen sich in ihrem Beitrag „Subjektivität und Schule – ein Fallvergleich“ mit dem Fall „Anne“, der von Werner Helsper in mehreren Publikationen ausführlich beschrieben wurde, sowie dem dazu in Kontrast stehenden Fall „Henriette“, der aus einem gegenwärtigen Forschungsprojekt stammt. In beiden Fällen liegen kontrastierende Strukturlogiken des Verhältnisses von Subjekt und Schule vor, an denen sich auch zeigen lässt, wie sich jeweilige gesellschaftlich-historische Diskurse in jugendliche Selbstpositionierungen einschreiben.
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Teil III Jugendkultur und Peerkultur Im Beitrag von Jutta Ecarius wird vor dem Hintergrund aktueller theoretischer Diskurse und empirischer Forschungen die Frage gestellt, ob es gegenwärtig noch um eine Jugendkulturforschung gehen kann und wie diese zu bestimmen wäre. Dazu wird nicht nur anhand eigener und weiterer Surveys verdeutlicht, dass kaum abgrenzbare jugendkulturelle Ausdrucksformen erkennbar sind, sondern auch auf die Diskursdynamik der Jugendforschung und die veränderten Begriffe und Konzepte hingewiesen, die als Abschied von der Jugend(kultur)forschung interpretiert werden können. Im Ergebnis plädiert der Beitrag nicht für eine Abkehr von der Erforschung jugendlicher Lebensweisen und Ausdrucksformen, aber für eine Schärfung der im Einsatz befindlichen Begriffe und für eine reflexive Überschreitung der mit der Jugend(kultur)forschung der 1980er Jahre verbundenen Zuschreibung und Hoffnung von Protest und kreativer Veränderung der Gesellschaft. Der Beitrag von Jeanette Böhme und Tim Böder mit dem Titel „Zur Bedeutung des Schwarzen in der Schwarzen Szene“ zielt darauf ab, etablierte Thesen der Jugend(kultur)forschung farbmorphologisch zu erweitern. Dabei bestimmen sie schwarz als Farbe, die für die „Schwarze Szene“ kennzeichnend ist, und arbeiten das Bedeutungs- und Deutungspotenzial mit Blick auf Subjektivierungsprozesse heraus. Der Beitrag „Grufties, Trad Goth und Black Metal: Ein Streifzug durch die ‚Symbolik des Todes und des Bösen‘ in gegenwärtigen schwarzen Mehrgenerationen-Musikkulturen“ von Birgit Richard schließt an die Studie „Okkultismus. Die neue Jugendreligion?“ von Werner Helsper an und entwickelt die Perspektive weiter, indem er fragt, inwiefern sich die Szene einerseits durch technische Innovation und andererseits auch (jugend)kulturell gewandelt hat? Die Feldbeobachtungen der Verfasserin zeigen dabei, dass sich neben der Jugendkultur als Ausdruck von Innovation und Transformation auch Generationslagerungen in der Szene abtragen, die sich in unterschiedlichen ästhetischen Stilen artikulieren. Edina Schneider schließt in ihrem Beitrag an Werner Helspers Fallstudien zu Angehörigen der Heavy-Metal- und Gothic-Szene der 1980er und 1990er Jahre an und rückt auf diese Weise Jugendszenen, die mit Symboliken des „Bösen“, „Extre men“ und „Satanistischen“ arbeiten und an Nonkonformität orientiert sind, in den Fokus. Im Zuge eines historischen Rückblicks und der Skizzierung gegenwärtiger gesellschaftlicher und technologischer Entwicklungen werden neben Ergebnissen der Fallstudien von Helsper und ihres theoretischen Ertrags auch
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Szenepublikationen aus den Jahren 1975 bis heute sowie Ergebnisse aktueller Studien der Jugend(kultur)forschung und Statistiken zum Musikkonsumverhalten einbezogen. Im Ergebnis kennzeichnet Schneider die Metal-Szene als eine der ältesten, persistentesten, aber auch eine der vielfältigsten Jugendkulturen, die sich – auch wenn aktuell durch kulturindustrielle Prozesse der Vermarktung und Popularisierung von einem Verlust von Stilexklusivität ausgegangen werden kann und die Gefahr besteht, dass die identitätsstiftende Nonkonformität zum Mainstream wird – durch ein überaus starkes Beharrungsvermögen auszeichnet. Die Frage danach, wie Mainstream und Avantgarde – und damit auch Konformität und Nonkonformität – im Rahmen jugendkultureller Vergemeinschaftungsformen verhandelt werden und welche Theoriekonzeptionen der Jugendforschung an diese Auseinandersetzung anschlussfähig sind, nimmt Nora Friederike Hoffmann in ihrem Beitrag zu „Subkulturen und Szene“ in den Blick. Basierend auf Analysen zum Fall „Anne“ von Werner Helsper aus den 1980er Jahren und einer eigenen Fallstudie aus den 2010er Jahren zu einer Gruppe aus der Techno-/Elektro-Szene („Volume“), zeichnet sie nach, dass Jugendkulturen trotz weitreichender Veränderungen nach wie vor Räume darstellen, in denen – zumindest zeitweise – Nonkonformismus und (jugendliche) Widerständigkeit ihren Ausdruck finden können. Hinsichtlich der Analyse jugendlicher Vergemeinschaftungsformen plädiert Hoffmann in ihrem Beitrag weder für eine reine Bezugnahme auf das klassenkulturelle Subkultur-Paradigma noch für einen ausschließlichen Fokus auf eine individualisierungstheoretische Szene-Perspektive, sondern für eine Verschränkung beider Konzeptionen. Hans-Jürgen von Wensierski und Lea Puchert widmen ihren Beitrag einer der ältesten und vielgestaltigsten jugendkulturellen Ausdrucksformen – den Jugendkulturen der Fußballfans. Sie zeichnen dabei nicht nur die historische Hervorbringung, ihre soziokulturelle Verankerung und dynamische Ausdifferenzierung in den zentralen Verästelungen nach, sondern entwickeln darüber auch die These einer parallel zum Fußballsport fortschreitenden „Professionalisierung“ der Fußballfankultur. Auch wenn diese schon lange keine rein jugendliche Ausdrucksform ist, bleibt doch auch aktuell „das Faszinosum eines atavistischen Massenerlebnisses der kollektiven Freisetzung mühsam zivilisierter, sozialdisziplinierter und reglementierter Affekte urbaner Individuen inmitten ihrer durchrationalisierten großstädtischen Lebenswelten“ bestehen. Genau deren Erfahrungsstrukturen und Ausdrucksformen gilt es auch als jugendkulturelle Szenen zu erforschen. Inwiefern ein kurzfristiger Freiheitsentzug für Jugendliche ein krisenlösendes oder krisenverschärfendes Ereignis darstellt, betrachtet Anja Eckold in ihrem Beitrag zu „Jugendarrest und Selbstkrise“. Über drei Falldarstellungen („Milo“, „Jes-
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sica“ und „Pit“) aus ihrer Studie zur Bedeutung des Jugendarrests als Zuchtmittel für Jugendliche verdeutlicht sie die unterschiedliche Bedeutung des Jugendarrests für die Jugendlichen und zeigt auf, inwiefern der Kampf um ein autonomes Selbst in der adoleszenten Auseinandersetzung sowohl mit sich als auch der Welt innerhalb der Arrestzeit ermöglicht wird. Während für zwei der Fälle eine Krisenverschärfung festgestellt werden kann, zeigt sich für den dritten Fall, dass gerade die Situation in der „Totalen Institution“ eine moratoriale Auszeit vom problembelasteten Alltag und damit eine Krisenlinderung darstellt, auch wenn es zu keiner realen Krisenbearbeitung und -lösung kommt. Teil IV Jugendkultur und Familie Mittels einer struktur- und adoleszenztheoretischen Perspektive familialer Intergenerationalität widmet sich der Beitrag von Mirja Silkenbeumer und Sven Thiersch der Bedeutung familial-biographischer Interaktionserfahrungen sowie Generationsbeziehungen für Integrations-, Ablösungs- und Entwicklungsprozesse in der Adoleszenz. Am Beispiel der Fallstudie „Esra“ aus Werner Helspers Studien der 1990er Jahre, in deren Zentrum das Verhältnis von familialen Krisen und biographischen Konflikten wie auch die Bedeutung jugendkultureller Positionierungen für adoleszente Individuation steht, zeigen die Autor*innen auf, dass familial-biographische Themen in jugendkulturellen Orientierungen und Inszenierungen Eingang finden sowie in jugendkulturellen Welten strukturelle intergenerationale Ambivalenzen gestaltet werden. Mit ihrem Beitrag plädieren sie für eine „sinnrekonstruktive Entzifferung der strukturellen Kraft intergenerationaler Beziehungen für jugendkulturelle Räume“ – nicht zuletzt, um „der biographischen Dimension des Werdens wie des Gewordenseins und der Dimension der Intergenerationalität wie der Eigenlogik des familialen Binnenraums methodologisch und methodisch Rechnung“ zu tragen. In seinem Beitrag „Jugend(kultur) in Familie und Jugendhilfe“ arbeitet Gunther Graßhoff heraus, inwiefern die Partizipationserwartungen stationärer Jugendhilfeeinrichtungen kongruent zu jenen sind, die maßgeblich von Werner Helsper für die Schule herausgearbeitet werden. In einer ausführlichen Fallstudie lässt sich zeigen, dass auch in Wohngruppen institutionelle Passungsverhältnisse hergestellt werden und sich Spannungen zwischen dem professionalisierten Handlungsfeld Jugendhilfe und der Erwartung an das Handlungsfeld als „doing family“ (sprich: als familienersetzende Maßnahme) auftun. Der Beitrag von Christine Wiezorek und Marcel Eulenbach thematisiert Jugendkulturen im Zusammenhang mit Generationsverhältnissen und Generationskonflikten. Dabei geht der Beitrag der Frage nach, wie sich Generationenkonflikte in unserer Gesellschaft darstellen, wenn doch „jugendkulturelle Ausdrucksformen
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[längst] zu Symbolen des verjugendlichten Lifestyles von Erwachsenen wie von Kindern geworden“ sind und sich damit eine E nt-Differenzierung der Generationsgrenzen feststellen lasse. Im Beitrag werden dazu drei Bezüge diskutiert. Im Einstieg geht es um ein Forschungsbeispiel eines übergreifenden Generationskonfliktes, der an einem Gymnasium in Ostdeutschland Mitte der 1990er Jahre über Kleidung und Haarfrisuren der Jugendlichen entfacht. Anschließend wird am Beispiel des Musikvideos von Kraftklub zum Song „Zu jung“ aus dem Jahr 2011 die These entfaltet, dass sich die klare Konstellation des Generationskonfliktes tendenziell aufgelöst und verschoben hat. Schließlich wird mit Bezug auf die in den neuen Bundesländern stark nachgefragten rituellen Feiern der Jugendweihe gefragt, inwieweit wir es hier mit neuen Formen der sichtbaren rituell-interaktiven Aufführung generationaler Konflikte zu tun haben.
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Dr. Anja Gibson wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Schulpädagogik und Schulforschung am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg; Arbeitsschwerpunkte: Schul- und Bildungsforschung (u. a. Elitebildung, Internats- und Schulkulturforschung), Biographie- und Längsschnittforschung, ethnographische Schul- und Unterrichtsforschung, qualitative Forschungsmethoden.
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Dr. Merle Hummrich Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schule und Jugend an der Goethe-Universität Frankfurt; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Schul- und Jugendforschung, soziale Ungleichheit; Erziehung in der Migrationsgesellschaft, qualitative Forschungsmethoden, Kulturvergleich. Dr. Rolf-Torsten Kramer Professor für Schulpädagogik und Schulforschung am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Arbeitsschwerpunkte: praxeologische Schul- und Bildungsforschung, Lehrerbildung und Professionalisierung, Rekonstruktionsmethodologie.
Teil I Jugendkultur: Theoretische Rahmungen
„Wissenschaft als Beruf“ oder die Selbstwerdung eines Jugendforschers. Werner Helsper von 1977 bis 1988 Wilfried Breyvogel
Zusammenfassung
Bezugspunkt ist der Vortrag Max Webers: Wissenschaft als Beruf (1917). Er ist eine systematische Kränkung der Größenphantasien des angehenden Wissenschaftlers. Es beginnt mit dem unbesoldet bei gleichzeitiger Lehrverpflichtung des Privatdozenten, setzt sich fort mit der Unkalkulierbarkeit des Erfolgs bei Stellenbesetzungen, eine Angelegenheit, die Hazard ist. Mein Vergleich beschränkt sich auf 1) die notwendige Kombination von harter Arbeit und Leidenschaft, 2) Werners frühe Theoriebezogenheit und 3) den 1986 bereits vorgelegten Entwurf zur Subjekttheorie, ein Weber’sches Format. Schlüsselwörter
Geistige Arbeit und Beruf · Größenphantasien · Systematische Kränkung · Unkalkulierbarbeit des Erfolgs · Subjekttheorie
W. Breyvogel (*) Philosophische Fakultät Erziehungswissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Gibson et al. (Hrsg.), Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25094-2_2
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1 Der junge Werner Helsper. Eine Begegnung aus Präsenz, Zugewandtheit und Herausforderung Werner Helsper lernte ich an einem Wochenende im Sommer 1977 kennen. Er hatte sein Diplomstudium in Erziehungswissenschaft in Marburg bei Wolfgang Klafki abgeschlossen. Ich hatte meinerseits nach Staatsexamina für das Lehramt an Gymnasien (Fächer: Latein, ev. Religion) seit dem Wintersemester 1970 ein Zweitstudium (Politische Wissenschaft, Soziologie und Erziehungswissenschaft) aufgenommen und 1975 mit einer Promotion ebenfalls bei Wolfgang Klafki in Marburg beendet. In Marburg waren wir uns nicht begegnet. Denn seit Mai 1975 war ich an der Universität in Essen als Akademischer Rat angestellt. Werner kam nach Essen, weil er sich bei dem Kollegen Fritz Bohnsack als Wissenschaftliche Hilfskraft beworben hatte. Er nahm bei der Gelegenheit auch mit mir Kontakt auf, da ich zu der Arbeitsgruppe Fritz Bohnsacks gehörte. An dem Tag, als Werner mit mir Kontakt aufnahm, beabsichtigten meine Frau und ich ein befreundetes Ehepaar in Düsseldorf zu besuchen. So traf es sich, dass wir ihm anboten, mit uns zu fahren, wobei wir ihn in Ratingen, wo er bei Bekannten untergekommen war, absetzten. Werner, 24 Jahre alt, ca. 195 cm groß, musste sich klein machen und quetschte sich etwas beengt und gebeugt auf die Rückbank neben den im Februar 1977 geborenen Dirk, der im Oberteil des Kinderwagens liegend dem Gast nur wenig Platz ließ. In den folgenden Jahren arbeiteten wir in verschiedenen Kontexten eng, kooperativ und freundschaftlich zusammen, zunächst von 1980 bis 1984 im Rahmen des DFG-Projekts: Das Selbstbild Jugendlicher in Schule und Subkultur. Werner und ich hatten das Projekt konzipiert und nach erfolgreichem Zwischenbericht eine Verlängerung der Mitarbeiterstellen bis 31.12.1984 erreicht. Im Jahr 1985/86 entstand daraus eine Kooperation mit Heinz-Hermann Krüger, der als Privatdozent an der Universität Dortmund tätig war. Auf der Basis beider Arbeitsgruppen gründeten wir 1986 in Essen das Institut für Jugendforschung und pädagogische Praxis e. V. und bereiteten ein Ausstellungsprojekt zur Geschichte der Jugend im Ruhrgebiet 1900–1987 vor, das am 27. November 1987 im Museum für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund eröffnet wurde. Neben den Dortmundern Peter Kuhnert, Mechthild Bertram und Hans-Jürgen von Wensierski war Werner auch in dem historischen Projekt ein maßgeblicher Mitarbeiter, der in der gleichen Zeit parallel seine Promotion vorbereitete. Arno Combe, der ihn in dieser Phase kennen lernte, konnte ihm eine Assistentenstelle an der Universität Frankfurt anbieten. Dadurch wechselte er von Essen nach Frankfurt und später Mainz sowie Halle. Mit seiner Familie lebt er weiter in Dortmund und wir behielten vertrauten Kontakt.
„Wissenschaft als Beruf“ oder die Selbstwerdung …
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2 Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1917) Wie der Titel bereits andeutet, möchte ich im Folgenden einen Vortrag Max Webers hinzuziehen, den er am 7. November 1917 in München gehalten hat. Als ich vor zwei Jahren die Biografie von Joachim Radkau zu Max Weber mit dem Untertitel „Die Leidenschaft des Denkens“ las, erinnerte ich mich mehrfach spontan an Werner. Max Weber, im Jahr 1864 geboren, Mitbegründer der neueren Nationalökonomie und Soziologie, hielt diesen Vortrag im Rahmen einer Reihe: „Geistige Arbeit als Beruf“. Veranstalter dieser Reihe war eine Studentenorganisation mit der Bezeichnung „Freistudentischer Bund“, eine Gruppierung, die sich von den korporierten Verbindungen absetzte. Von ihren Gegnern wahlweise als „jüdisch, sozialistisch, rationalistisch, pazifistisch, kollektivistisch oder auch subjektivistisch“ diffamiert, war die „Freistudentenschaft“ die maßgebliche Organisation, die das Selbstvertretungsrecht der Studierenden durchsetzte (vgl. MWG I, 17, S. 25). Vor dieser – von Anfang an – pluralistischen, der Toleranz und Neutralität verpflichteten Gruppierung, die neben männlichen zunehmend weibliche Studierende aufnahm, hielt Max Weber seinen Vortrag über den Status der Wissenschaft als „Beruf“. Zu Max Weber ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass dieser Vortrag in die Zeit nach seiner schweren Krankheit fiel. Dabei war seine „Krankheit“ weniger eine körperliche Krankheit als ein vollständiger psychischer Zusammenbruch, der ihn zum mehrjährigen Verzicht auf Vorlesungen zwang. Joachim Radkau (2005), der einschlägige Autor über den Nervositätsdiskurs und Webers umfassender Biograph, widmet seiner Krankheit eine ausgedehnte Darstellung, auf die ich hier nur verweisen kann.1 Jetzt, im Jahr 1917, traute sich der Dreiundfünfzigjährige wieder etwas zu. Bereits im August 1916 hatte er eine erste öffentliche Rede für einen „ehrenvollen Frieden“ gehalten. Zwei Monate später, im Oktober 1916 folgte die (große) Rede über „Deutschlands weltpolitische [!] Lage“. Der Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ sollte im Rahmen einer Reihe: „Geistige Arbeit als Beruf“ gehalten werden. Für „Wissenschaft“ und „Politik“ (als Beruf) war Max Weber vorgesehen, der auch zügig beide Vorträge zusagte. Max Webers Text ist ein analytischer Solitär, dem auch in der Gegenwart nichts Vergleichbares zur Seite steht. Er fand aber nicht im leeren Raum statt. Denn bereits in dem „Freistudentischen Bund“ hatte es Debatten über Fragen der Ausbildung für den „Beruf“ gegeben. Polemische Stichworte waren das „Brotstudium“ und das entstehende „Spezialistentum“. Viele orientierten sich an dem
1Im Teil II: Die Rache der Natur, gibt Radkau auf den S. 290–315 Einblicke in die Krankengeschichte.
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Gründer der Schulgemeinde Wickersdorf, Gustav Wyneken, und an seiner Vorstellung vom Gemeinschafts- und Führerideal: „Der Gegensatz von Professor und Schüler darf nicht länger bestehen bleiben und muss dem Freundschaftsverhältnis des Führers zu seinen jugendlichen Kameraden Platz machen.“ (Die Zitate nach M. Weber, MWG I, S. 51–53, hier: S. 51)
Der „Geist“ der Debatte wird an dem unter wechselnden Pseudonymen publizierenden Alexander Schwab: Beruf und Jugend (1917) deutlich. Die Lebensreformer (wie Gustav Wyneken) hätten ein zentrales Problem nicht hinreichend berücksichtigt, das des „westeuropäisch-amerikanischen Menschentums“. Schwab meinte damit die „drohende Gewalt“, die vom Beruf auf das „Heil“, auf die „Integrität insbesondere der jungen Menschenseele“ ausgehe: „Denn der Beruf sei ein Moloch, ein verderbendes Ungeheuer, das im Kerne unserer Welt hockt und nach allem, was jung ist, seine ansaugenden Fangarme streckt.“ (ebd., S. 52 f.)
Um aus dieser Not herauszukommen, müsse man den Berufsgedanken radikal kritisieren: „ … also damit aufhören, die Nahrungssuche zu idealisieren und aus dem Kampf um Erwerb und Besitz sich ein Maß für Menschenwert zu erlügen [!]. Es dürfe nicht länger als vornehm gelten, sich mit der Seele am Beruf zu beteiligen;“ (ebd.)
Der Beruf als „Moloch“, ein Ungeheuer, „das nach allem, was jung ist, seine … Fangarme streckt“ – das sind Phantasmen der Bedrohung einer Freiheit, wie sie – jenseits von Arbeit und Beruf – für eine aufblühende Geld-Aristokratie typisch sein konnten. Wenn wir nur an Max Webers Text „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ erinnern und was in seiner Sicht Planung, Kontrolle und Enthaltsamkeit für den wirtschaftlichen Fortschritt bedeuteten, dann wird deutlich, in welchem Maße sein Nervenkostüm herausgefordert war. Aber auch das mit der Jugendbewegung verbundene „Erleben“ der Wissenschaft konnte ihn herausfordern.
2.1 Max Weber: Wissenschaft als Beruf. Der Text Auf einen Punkt gebracht, ist der Text eine systematische Kränkung der Größenphantasien eines allemal jungen Wissenschaftlers, was für seine Zuhörer als Studierende galt. (Ich erlaube mir die Kränkungen zu zählen).
„Wissenschaft als Beruf“ oder die Selbstwerdung …
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Max Weber beginnt mit der materiellen Basis des Berufs als Wissenschaftler und vergleicht die Situation in Deutschland mit der in den USA. Am Anfang steht das „unbesoldet“ des Privatdozenten nach der Habilitation in Deutschland (Kränkung 1) – es gilt auch heute noch – gegenüber dem zwar geringen, aber doch regelmäßigen Gehalt des „assistant“ in den USA. Der Privatdozent besitze die Erlaubnis zu lehren, erhalte aber nur das von der Zahl der Teilnehmer abhängige Kolleggeld der Studierenden. Der „assistant“, der i. d. R. in die Lehre stark eingebunden sei, erhalte zumindest regelmäßig einen geringen Sold, der allerdings nur dem eines angelernten Arbeiters entspreche. Die Situation in Deutschland bedeute, dass die Laufbahn eines Wissenschaftlers (bis heute) „auf plutokratischen Voraussetzungen“ aufgebaut ist (MWG, I, 17, S. 72). Weber beobachtete eine Veränderung lediglich in den Fächern Medizin und Naturwissenschaften. In beiden entständen große Institute als „staatskapitalistische Unternehmungen“. Ob ein Privatdozent in die Stelle eines Ordinariats oder gar Institutsvorstands einrücke, sei „eine Angelegenheit, die einfach Hazard ist“ (MWG, I, 17, S. 75; Hervorhebung i. O.) (Kränkung 2). Einschränkend – wie häufig – schließt Weber an, nicht nur der Zufall herrsche, aber er herrsche doch in ungewöhnlich hohem Grade. Das belegt er an seinem eigenen Beispiel. Er habe es einigen „absoluten Zufälligkeiten“ zu verdanken, dass er in sehr jungen Jahren in eine ordentliche Professur berufen wurde.2 Bemerkenswert ist sein gleichzeitiges Zugeständnis, dass damals Altersgenossen unzweifelhaft mehr als er selbst geleistet hatten. (Solche persönlichen Eingeständnisse im Text machen Weber noch heute sympathisch, zeigen sie doch die Aufrichtigkeit seines Empfindens für richtig und falsch). Angesichts des Hazardspiels müsse man sich wundern, dass die Zahl der richtigen Besetzungen trotz allem eine sehr bedeutende sei. Nur wo Parlamente,
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Weber war dreißig Jahre alt, als er 1894 Prof. für Nationalökonomie und Finanzwissenschaften in Freiburg wurde. De facto hatte ihn nicht seine Habilitation über das Römische Recht und Handelsrecht bekannt gemacht, sondern die im Auftrag des Vereins für Socialpolitik 1892 verfasste Studie „Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland.“ (MWG I, 3) Sie reagierte auf ein damals aktuelles Migrationsproblem. Aus den polnischen Gebieten drangen billigere Wanderarbeiter an die ostelbischen Höfe nach Westen und verdrängten so die deutschsprachigen Landarbeiter, die ihrerseits die Migration nach Sachsen und in das Ruhrgebiet prägten. Webers Studie fand breite Anerkennung sowohl bei der Oberklasse der Land besitzenden Adligen wie auch in den sozialdemokratischen Kreisen und bei den Intellektuellen der Mittelschicht, zumal Weber selbst den Hauptvortrag auf der nächsten Reichskonferenz des Vereins für Socialpolitik mit großer Presseöffentlichkeit gehalten hat.
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Monarchen oder revolutionäre Gewalthaber aus „politischen Gründen“ eingreifen, könne man sicher sein, dass „bequeme Mittelmäßigkeiten oder Streber“ Chancen hätten. Die zunehmende Spezialisierung in der Wissenschaft bedingt die nächste Kränkung (Kränkung 3). Wissenschaft als Beruf ist Wissenschaft im Stadium wachsender Spezialisierung. Diese Spezialisierung sei nicht nur äußerlich: „Gerade innerlich liegt die Sache so: dass der einzelne das sichere Bewußtsein, etwas wirklich ganz Vollkommenes auf wissenschaftlichem Gebiet zu leisten nur im Fall strengster Spezialisierung sich verschaffen kann. … Nur durch strenge Spezialisierung kann der wissenschaftliche Arbeiter tatsächlich das Vollgefühl, einmal und vielleicht nie wieder im Leben, sich zu eigen machen: hier habe ich etwas geleistet, was dauern wird.“ (MWG I, 17, S. 80; Hervorhebung Max Weber)
Die Möglichkeit, dieses Gefühl vielleicht nur einmal zu erreichen, verbindet Weber aber mit einer deutlichen Warnung. Wer nicht die Fähigkeit besitze, über diese Kränkungen hinwegzukommen, sich „Scheuklappen“ anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, dass „das Schicksal seiner Seele“ davon abhänge, ob er „diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle“ dieser Handschrift richtig mache, „der bleibe der Wissenschaft nur ja fern“: „Niemals wird er in sich das durchmachen, was man das Erlebnis der Wissenschaft nennen kann. Ohne diesen seltsamen, von jedem Draußenstehenden belächelten Rausch, diese Leidenschaft (…), ob dir diese Konjektur3 gelingt, hat er den Beruf zur Wissenschaft nicht und tue etwas anderes (Kränkung 4). Denn nichts ist für den Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann.“ (MWG I, 17, S. 81; Hervorhebung Max Weber)
Aber auch das ist noch nicht genug, es muss noch etwas hinzukommen. Leidenschaft, so nötig sie ist, reicht nicht. Dem Menschen müsse „etwas – und zwar das richtige – einfallen, damit er irgendetwas Wertvolles leistet“ (MWG, I, 17, ebd.).4
3Eine
Konjektur ist ein textkritischer Eingriff in eine Handschrift eines zumeist aus der Antike überlieferten Textes. In der Regel meint es die textkritische Genauigkeit, die sich auf ein kleines Zeichen wie Punkt und Komma oder einen den Sinn ändernden Buchstaben beziehen kann. 4Die Rechtschreibung folgt dem Original, obwohl hier eine Konjektur sinnvoll wäre: Das Richtige.
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Dieser Einfall lasse sich aber nicht erzwingen. Mit irgendwelchem „kalten Rechnen“ (Kränkung 5) hat er nichts zu tun:5 „Nur auf dem Boden ganz harter (!) Arbeit bereitet sich normalerweise der Einfall vor. Gewiß: nicht immer. Der Einfall eines Dilettanten (Kränkung 6) kann wissenschaftlich genau die gleiche oder größere Tragweite haben wie der des Fachmannes.“ (ebd., S. 82)
Der Dilettant unterscheide sich vom Fachmann nur dadurch, dass ihm die Sicherheit der Methode fehle und er die Tragweite eines Einfalles nicht abschätzen könne: „Der Einfall ersetzt nicht die Arbeit. Und die Arbeit ihrerseits kann den Einfall nicht ersetzen oder erzwingen, so wenig wie die Leidenschaft es tut. Beide – vor allem: beide zusammen – locken ihn. Aber er kommt, wenn es ihm, nicht, wenn es uns beliebt.“ (ebd., S. 82 f.) (Kränkung 7)
Max Weber wiederholt an dieser Stelle zum dritten Mal den scharfen Begriff des Hazard, der die Wissenschaft mit dem Spielcasino in Verbindung bringt. Auch wechselt er vom Begriff des „Einfalls“ (aus der Assoziationspsychologie) zu dem Begriff der „Eingebung“. Gleichzeitig weitet er seine Anwendung aus. Ohne Einfälle/Eingebung könnten auch Kaufleute und Großindustrielle nicht Großes leisten, Vergleichbares gelte für die Kunst. Zusammengefasst: Unternehmergeist, Wissenschaft und Kunst seien von Rausch, „Mania“ (im Sinne Platons ist es der Begriff für Wut, Raserei, Wahnsinn) und „Eingebung“ geprägt (ebd., S. 83). „Nun: ob jemand wissenschaftliche Eingebungen hat, das hängt ab von uns verborgenen Schicksalen, außerdem aber von Gabe.“ (ebd., S. 84)
Mit diesem Nachsatz scheint Max Weber zwischen „Eingebung“ und „Gabe“ zu spielen. Es ist nicht auszuschließen, dass er hier bereits ein Gespür für die nach seinem Tod beginnende Debatte über die Gabe, die Gegengabe und das Opfer hatte, wie sie besonders von George Bataille mit dem Essay „Der Begriff der [unproduktiven] Verausgabung“ in Gang gesetzt wurde, die den
5„Kaltes
Rechnen“ – Max Weber spielt hier auf eigene Erfahrung an. So habe er für seine Untersuchung „Zur Psychophysik der industriellen Arbeit“ (MWG I, 11) 50.000 Rechenexempel in sechs Wochen eigenhändig durchgeführt.
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poststrukturalistischen Diskurs seit 1968 in Frankreich prägte. „Rausch“ und „Mania“ sind der Sache sehr nahe (vgl. Bataille 1985).6 Max Weber hat damit den wissenschaftspraktischen Teil seiner Argumentation fast abgeschlossen, da öffnet der Begriff der „Gabe“ doch noch eine Assoziation, die ihn Nerven kostet und eine Polemik auslöst, die der – der Jugendbewegung zugeneigten – Jugend gilt. Eine „populäre Einstellung“ zeige sich bei der Jugend, die sich in den Dienst einiger „Götzen“ gestellt habe und sich „an allen Straßenecken“ und „in allen Zeitschriften“ breit mache. Diese „Götzen“ – er nennt sie nicht namentlich, aber jeder wusste, dass er Gustav Wyneken und die Freideutsche Jugend meinte – seien „die Persönlichkeit“ und „das Erleben“. Man quäle sich ab zu „erleben“ – das gehöre zur standesgemäßen Lebensführung einer Persönlichkeit – und gelinge es nicht, dann müsse man wenigstens so tun, „als habe man diese Gnadengabe“ (MWG I, 17, S. 84). Es ist einer von mehreren Angriffen in die gleiche Richtung in diesem Text, wobei die (für ihn unübliche) Form der Pauschalisierung („an allen Straßenecken“, „alle Zeitschriften“, „Götzen“) zeigt, wie gereizt seine Nerven beim Thema Jugend waren. Dabei verkennt er die faktische Bedeutung dieser ersten Jugendkultur (Breyvogel 1987, S. 51).7 Nach diesem polemischen Ausfall machte er offenbar eine Denkpause und sprach die Zuhörer mit „Verehrte Anwesende!“ erneut an: „Persönlichkeit auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient“ (MWG I, 17, S. 84). Mit dieser These war er wieder bei sich und nahm den Gedanken wieder auf, der beim Thema „Spezialisierung“ schon nahe lag. Die Kunst sei dauerhafter und wertbeständiger: „Die wissenschaftliche Arbeit ist [durch die Spezialisierung] eingespannt in den Ablauf des Fortschritts.“ „Jeder von uns … weiß, dass das, was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft, dem sie … unterworfen und hingegeben ist: jede wissenschaftliche Erfüllung bedeutet neue Fragen und will überboten werden und veralten. (Kränkung 8) Damit hat sich jeder abzufinden, der der Wissenschaft dienen will.“ (MWG I, 17, S. 85)
Also wissenschaftlich überholt zu werden, ist, und er spitzt noch mal zu, „nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck.“ (Kränkung 9) 6Vgl.
darin: Der Begriff der Verausgabung, S. 9–31. größte Gruppe, Der Wandervogel D. B. (Deutscher Bund) setzte sich 1907 vom Altwandervogel ab. Gründe für die Trennung waren die Aufnahme von Volksschülern, die Integration von Mädchen („Gemischtwandern“), ein striktes Alkohol- und Nikotinverbot und die Autonomie der Ortsgruppen gegenüber der Bundesleitung. Für Mädchen boten diese Gruppen die erste Form ausgeprägter Selbstständigkeit.
7Die
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„Wir können nicht arbeiten, ohne zu hoffen, dass andere weiter kommen werden als wir. Prinzipiell geht dieser Fortschritt in das Unendliche.“ (ebd.)
Damit erreicht die Kränkung die allgemeinste Stufe: „Was glaubt er denn aber Sinnvolles damit, mit diesen stets zum Veralten bestimmten Schöpfungen, zu leisten, damit also, daß er sich in diesen fachgeteilten, ins Unendliche laufenden Betrieb einspannen läßt?“ (ebd., S. 86)
Die Antwort auf diesen Widerspruch, der sich an das Surreale anlehnt, gibt er, indem er das in den Kränkungen bis an das Unendliche Reichende auf einer allgemeineren Stufe der Erkenntnis begrifflich weiterführt: „Der wissenschaftliche Fortschritt ist ein Bruchteil, und zwar der wichtigste Bruchteil jenes Intellektualisierungsprozesses, dem wir seit Jahrtausenden unterliegen, und zu dem heute üblicherweise in so außerordentlich negativer Art Stellung genommen wird.“ (ebd.)
Damit ist Max Weber auf der wissenschaftspraktischen Seite am Zielpunkt seiner Argumentation. Er führt die Zuhörer nur noch einen kleinen Schritt weiter, in dem er für die Anschaulichkeit den Menschen der Moderne mit dem Indianer vergleicht. Wer wisse mehr über seine Lebensbedingungen, der Mensch der Moderne oder der Wilde? Auch diese Antwort ist wieder eine, zumindest latente Kränkung (Kränkung 10). Denn der Mensch der Moderne fährt täglich mit der Trambahn, er weiß, wo sie fährt, wann sie fährt, aber: „Wie man eine Trambahn so herstellt, daß sie sich bewegt, davon weiß er nichts.“ Dagegen: „Der Wilde weiß das von seinen Werkzeugen ungleich besser.“ Mit anderen Worten: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht.“ (ebd., S. 86 f.)
Das wäre eine Illusion, nein! Es bedeutet nur, „daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte.“ „Daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. … Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.“ (MWG I, 17, S. 87; Hervorhebung W. B.)
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2.2 Was leistet Theorie? Ein Fazit zu Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1917) Mit den Begriffen „Intellektualisierungsprozeß“ und „Entzauberung“ hebt Max Weber die Erkenntnis dessen, was er bisher unausgesprochen als Kränkungen den jungen Studierenden vorgetragen hat, auf eine allgemeinere Begriffs- und damit Verständnisebene. Der durch die Serie von Kränkungen inzwischen enttäuschte, junge Mensch, der vielleicht sogar unbesoldet Tätige, durch den Hazard um eine Stelle Betrogene, der zwar unermüdlich Arbeitende, dem aber dennoch die notwendigen Einfälle in Form semantischer Verallgemeinerungen nicht „kamen“ … – dieser Enttäuschte kann dennoch und nur durch die Erkenntnis, Teil eines allgemeinen Prozesses der Intellektualisierung und Rationalisierung zu sein, Trost finden. Er wäre dann Teil eines Vorgangs, in dem die „Entzauberung“ der Welt als Befreiung von überirdischen Gottheiten und ihren magischen Ritualen durchgesetzt wurde. Das und nur das kann wiederum kein anderer, sondern nur die Theorie in Form semantischer Begrifflichkeit als allgemeinere Form der Gültigkeit leisten.
3 Werner Helsper und seine Positionierung in der Jugendforschung. Die Narzissmustheorie und die Psychologie des Selbst Unsere engere Zusammenarbeit begann im Jahre 1979. Ausgangspunkt war ein gemeinsames Seminar zum Thema „Jugendlicher Narzissmus“, das wir in einem brechend vollen Seminarraum mit einem großen Strauß von blühenden Narzissen und dem antiken Mythos des Narziss eröffneten. Der von Thomas Ziehe (1975) publizierte Band „Pubertät und Narzissmus“ hatte eine Themenkonjunktur in Zeitschriften und Medien ausgelöst. Wir luden Thomas Ziehe (Hannover) zu einem Referat ein und bildeten parallel eine studentische Arbeitsgruppe, in der die Idee entstand, das Thema zu vertiefen und in Richtung eines Forschungsprojekts weiterzutreiben. Parallel konzipierte der päd.extra-Verlag einen Sammelband, in dem Helga Häsing, Herbert Stubenrauch und Thomas Ziehe (1979) versuchten, die ausgeuferte Diskussion nach dem Motto: „Alles ist Narzissmus“ einzufangen. Wir meldeten dazu bei den Herausgebern einen Beitrag an. Neben Werner und mir waren anfangs noch drei weitere Studierende beteiligt, die sich bald zurückzogen.
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3.1 Erste Positionierung: Narzissmus und Schule Für Werner ging es vom ersten Tag an nicht um Narzissmus im Irgendwo, sondern darum, welche Folgen Narzissmus in Schule und Erziehung haben kann. Angesichts der diffusen Debatte, war „die Sache“ vorrangig zu klären, was ist überhaupt „Narzissmus“. Was meint der Begriff, in welchem semantischen Feld steht er und wie ist er begründet. Der psychoanalytische Ausgangspunkt war bekannt: Ein knapp dreißig Seiten umfassender Text von Sigmund Freud „Zur Einführung des Narzissmus“ (1914). Es folgte die Hinzuziehung von Otto Kernberg: Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus (1978) und besonders die Aufsätze von Heinz Kohut zur „Psychologie des Selbst“.8 Klar wurde, dass die i. d. R. sehr früh grundgelegte psychotische Pathologie von der Borderline-Störung und dem narzisstischen Charakter zu unterscheiden seien. Es sei ein sukzessiver Vorgang: Psychose, Borderline-Symptomatik, narzisstischer Charakter. In der laufenden Narzissmus-Debatte werde die Borderline-Symptomatik zu wenig beachtet. „Borderline“ unterscheide sich grundlegend von der narzisstisch geprägten Persönlichkeit und sei durch eine „konstitutionelle Ich-Schwäche“ gekennzeichnet: „Diese konstitutionelle Ich-Schwäche behindert (nun) nicht nur die Integration des Ichs und des Über-Ichs, dessen Inhalte (…) eine durchgängige Verzerrung der Realitätswahrnehmung verursachen, sondern die Ausbildung eines kohärenten Selbstkonzepts und stabiler Ich-Fähigkeiten.“ (Breyvogel et al. 1979, S. 145)
3.2 Zweite Positionierung: Nicht alles ist selbstzerstörerisch. Es gibt einen „beflügelnden“ Narzissmus Für narzisstisch strukturierte Persönlichkeiten sei die Figur des „Größen-Selbst“ entscheidend.
8Heinz
Kohut: Narzissmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen, Frankfurt (Suhrkamp Verlag) 1973, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (stw) 1976 und Ders.: Die Zukunft der Psychoanalyse, Aufsätze zu allgemeinen Themen und zur Psychologie des Selbst, Frankfurt (Suhrkamp Verlag 1975, (in der Taschenbuchausgabe stw (5000 Auflage) im gleichen Jahr) Frankfurt 1975. Der 1913 geborene Heinz Kohut war in Wien noch Schüler Sigmund Freuds gewesen, er war wie Freud jüdischer Herkunft und war einer der letzten, die Sigmund Freud auf dem Weg in die Emigration am Wiener Hauptbahnhof 1939 verabschiedet haben.
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Dieser von Allmacht, Stärke und dem Wunsch nach Vollkommenheit geprägte Charakter ist unter bestimmten Bedingungen zu besonderen Leistungen, zu Stärke und Ausdauer befähigt.
3.3 Dritte Positionierung,: Die Entgegensetzung von ich-starkem narzisstischem Charakter und ichschwacher Borderline-Symptomatik Für Werners Theoriekonzepte ist es typisch, dass er zwischen den Polen von Positionen ein Spektrum von möglichen Differenzierungen aufspannt. Die vertikal aufsteigende genetische Differenzierung von Psychose über Borderline zu (ambivalentem) Narzissmus ergänzt er hier durch eine horizontale, die sich nach dem Grad der Intaktheit von Ich-Funktionen, d. h. Ich-Stärke/Ich-Schwäche richtet: „Idealtypisch könnte man von einem eher ich-starken narzisstischen Charakter und einer eher ich-schwachen narzisstischen Borderline-Persönlichkeit als Pole des Spektrums sprechen. Der narzisstische Charakter ist dadurch gekennzeichnet, dass es ihm gelungen ist, seine infantile narzisstische Struktur ich-synton zu wenden und sie konstitutiv in die Herausbildung seiner Ich-Funktionen einzubringen, wodurch diese mittels ihrer außerordentlichen Funktionsfähigkeit den Ansprüchen des Größen-Selbst genügen können.“ (ebd., S. 146)
Das war eine sehr grundlegende Erkenntnis, wobei wir davon ausgegangen sind, dass die Überführung narzisstischer in ich-syntone Formen des Handelns mit hoher Wahrscheinlichkeit davon abhängig ist, in wieweit in der frühen Entwicklung positiv verstärkende, real handelnde Personen dazu als Vorbilder und Identifikationsmuster vorhanden sind. Wenn sie vorhanden sind, können sie unausgesprochen Hilfestellung für die Überführung von Omnipotenzphantasien in realistische ich-syntone, d. h. ich-konforme Handlungen geben. Wenn sie nicht vorhanden sind, könnte es sein, dass diese Überführung der Identifizierung medialen Stars aus Film und Popmusik zukommt und damit eine geringere Realitätstüchtigkeit ausweist.
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Zusammenfassend schloss dieser erste Zugriff auf das Thema: „1. Die Borderline-Struktur steht als Grenzfall in der Mitte zwischen einerseits psychotischen und andererseits eher positiv narzisstischen Charakterstrukturen. 2. Es ist davon auszugehen, dass narzisstische Persönlichkeiten grundsätzlich oszillieren, dass eine in bestimmten Situationen scheinbar funktionale Charakterstruktur unter spezifischen Belastungen unter das Niveau des Borderline-Typus bis hin zu psychotischen Durchbrüchen regredieren kann.“ (ebd.) Kritisch heißt es: „Vor diesem Hintergrund scheint es uns voreilig und falsch, (…) den Borderline-Typus zum Dreh- und Angelpunkt einer kapitalistischen Charakterstruktur zu stilisieren.“ Eine breitere Rezeption psychiatrischer Fallschilderungen von Kernberg, die den schwer pathologischen Charakter aufweisen, hätte hier aufklären können. „Stattdessen werde der Borderline-Typ als deus ex machina zum gleichgültigen, mobilen und affektlosen Charakter ohne Widerspruchsmoment generalisiert und als Bindeglied zwischen Psychologie und Soziologie benutzt.“ (ebd., Hervorhebung W. B.)
Die Simplifizierung war der Kern der Kritik, die sich besonders gegen Autoren wie Bamme et al. (1976) und Deutschmann (1976) richtete. Stattdessen bedürfe es des Versuchs einer konkret empirischen Vermittlung, die mit Hilfe einer „inhaltlichen Dimensionierung“ angegangen werden müsse. Bei dem Hinweis auf eine „inhaltliche Dimensionierung“ wird es vielen, die mit Werner zusammengearbeitet haben, in den Ohren klingeln. Denn dies Vorgehen war für ihn typisch und maßgebend. Es ging dabei um den inhaltlich-analytischen Zugriff auf das empirische Material. In diesem Fall waren das die im SprachMaterial feststellbaren Formen der Objektbeziehung, Äußerungen, die auf Omnipotenz verwiesen, Formen, aus denen Ich-Stärke und Ich-Schwäche sprachen, Hinweise auf Formen der Abwehr, Regression und der Aggression sowie der narzisstischen Wut. Exkurs: Das Pro und Kontra der Debatte um die Spezifik der Adoleszenz am Ende des 20. Jahrhunderts Die Debatte über das Spezifikum schloss das Jahrhundert, das an seinem Anfang das „Jahrhundert der Jugend“ hieß. In den 1980er Jahren schwankte diese Debatte zwischen einer Position der Vertiefung der Kluft (so Flitner 1984; Allerbeck und Hoag 1985) und einer Angleichung zwischen Erwachsenen und Jugendlichen (Zinnecker 1981; Ziehe 1985). Daneben gab es den Hinweis auf einen sich verselbständigenden Lebensabschnitt „Jugend“ (Fuchs 1983; Buchmann 1984;
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Kohli 1985) und gleichzeitig darauf, dass sich Altersnormen verflüssigen und überhaupt auflösen (Jugendwerk der Deutschen Shell 1985; Fuchs 1985). Auch zur Geschlechtsreife begann eine Debatte über die Beziehung zwischen dem kulturellen Rahmen einer Gesellschaft und der Definition dessen, was „Geschlecht“ sei (Blos 1978; Stierlin 1976). Nicht mehr schlüssig sei auch, dass die Adoleszenz die Endstufe einer Kompetenzentwicklung sei (Piaget und Inhelder 1977; Selman 1984; Habermas 1983). Die Kompetenzaneignung und das Lernen als Prozess gelten auch für das Erwachsenenalter. In ähnlicher Weise stehe die über Jahrzehnte gültige, von Erikson (1956) formulierte Jugendtheorie auf Grund „der finalen Konstruktion einer am Ende der Adoleszenz festliegenden Identität“ in der Kritik (Breyvogel und Helsper 1986, S. 181). Ohne hier weiter die kritische Auseinandersetzung auszudifferenzieren, stellt sich vielmehr die Frage, wie bewältigte Werner Helsper dieses Durcheinander von Widersprüchen und Unstimmigkeiten. Er machte dazu genau das, was auch Max Weber am Ende der Reihe von Kränkungen und Zumutungen gegenüber den zukünftigen Wissenschaftlern, die vor ihm saßen, machte. Er wählte eine allgemeinere, abstraktere Ebene der Begrifflichkeit. Indem er den (eventuell entstandenen) Eindruck zurückweist, „es gäbe gar keine Besonderheiten der Adoleszenz“ (auch das wäre eine Lösung, eine nicht seltene, aber sehr schlechte), hält er fest: „Dass die Adoleszenz im Zusammenhang von Modernisierungsund Individualisierungsprozessen zunehmend für verschiedene Verläufe (!) und Bestimmungen offen (!) wird, (…)“. Adoleszenz werde damit gerade (zu) einer „gesellschaftlich eher unterdeterminierte(n) Lebensphase, wobei aber gerade die (faktische) Unterdeterminiertheit zu einer Überdeterminierung der gesellschaftlichen Bedeutungen und Bilder führt.“ (Breyvogel und Helsper 1986, S. 181; Hervorhebung W. B.) Wie Max Weber in seiner kritischen Sicht die Reihe möglicher, fast zwingender Enttäuschungen der jungen Wissenschaftler, die vor ihm saßen, durch eine abstraktere Theorieebene mit dem Hinweis wendete: Du bist dennoch Teil des wissenschaftlichen Fortschritts, wenn auch nur „der wichtigste Bruchteil(!) jenes Intellektualisierungsprozesses, dem wir seit Jahrtausenden unterliegen“ und dieser bedeute „die Entzauberung der Welt“, so setzt Werner Helsper in gleicher Weise die Begriffe „kulturelle Freisetzung“ und „offen“ (im Sinne von „Offenheit“) im Rahmen „modernisierter Jugend“ ein, die sich in einer Spannung aus gesellschaftlicher „Unterdeterminierung“ und medial-öffentlicher „Überdeterminierung“ bewege. Während Max Weber mit dem Begriff „Intellektualisierungsprozess“ aus dem semantischen Arsenal der Theorie der „Vergesellschaftung des Subjekts“ der Hegel/Marx-Schule schöpft, greift der
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Begriff der „Entzauberung“ in die ethnologische „Kiste“ der magisch-mythischen Religionsgeschichte und setzt damit Assoziationen frei, die lebensgeschichtlich andere, i. d. R. „tiefere“, psychisch-emotionale Effekte auslösen. Die Spannung aus „Unter“- und „Über“-determinierung ist sehr plausibel, erreicht aber nicht die „Tiefe“ des psychisch-emotionalen Effekts des Wortes „Entzauberung“. In diesem Sinne ist die Platzierung der „Entzauberung“ als Fortführung und Ergänzung des Prozesses der „Intellektualisierung“ ein gelungener „Einfall“ im Sinne Webers, den man nicht planen könne, den man „habe“ oder der einem im Arbeitsvorgang „komme“, wozu einem allerdings theoretische, aber auch fachlich-sachliche semantische Felder in gewisser Breite zur Verfügung stehen müssen. Nicht zufällig hat sich der Begriff „Entzauberung“ bis in das Alltagsbewusstsein durchgesetzt und ist mit dem Namen „Max Weber“ verbunden.
4 Von einer Theorie der Identität zu einer Theorie des Imaginären 4.1 Werners Abschied von der Identitätsmetapher. Die Narzissmustheorie, das Konzept der Idealität und das Lacansche Imaginäre Während die „Narzissmustheorie“, weitergeführt in der „Theorie des Selbst“ als Grundlage des von der DFG vom 01.01.1981-31.12.1984 geförderten Projekts „Das Selbstbild Jugendlicher in Schule und Subkultur“ dienen konnte, gingen Werners Vorstellungen darüber hinaus und prägten seine Dissertation (vgl. Helsper 1987a und 1989) und eine Serie von Fallstudien. Den maßgeblichen Entwurf einer Subjekttheorie formulierte er 1986/87 parallel zu einem Beitrag zur „Interdisziplinären Jugendforschung“, den Wilhelm Heitmeyer nach einer Tagung im ZIF publizierte (vgl. Breyvogel und Helsper 1986). Dazu differenzierte Werner vier theoretische Stränge: 1) die phänomenologische, 2) die handlungstheoretische, 3) die selbstpsychologische und 4) die strukturalistische Tradition. Zu 1) Die phänomenologische Tradition, vertreten von E. Husserl sowie zuletzt P. L. Berger und T. Luckmann habe sich von der Grundvorstellung blenden lassen, dass die Bedeutung durch die Präsenz von Idealität und intuitiv aktuellem Erleben „in der Innerlichkeit […] der Subjektivität“ gesichert sei. J. Derrida bestreite diese Gleichzeitigkeit von Intuition und Bedeutungsintention. Ein zeitliches Gefälle, eine „Zeitigung“ stehe dazwischen. Zwischen Erleben, Ausdruck
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und Bedeutung setze J. Derrida daher einen Spalt/Differance voraus.9 Durch diese Zeitigung falle „jenes Licht der Sprache, indem erst etwas als etwas in der Welt präsent sein kann“ (ebd., S. 174). „Festzuhalten bleibt, dass mit der Kritik der Intuition als Voraussetzung von Evidenz und Wahrheit die Dekonstruktion des epistemischen Subjekts einsetzt, die über verschiedene Stufen bis zu einer Aufhebung im Strukturalismus führt.“ (ebd.)
Zu 2.) Die handlungstheoretische Position sei ein Rest des Links-Hegelianismus, zentriert um den Arbeitsbegriff (jetzt als „Handlung“) und die Vorstellung vom revolutionären Subjekt. Ihr zentraler Mangel sei das Fehlen eines eigenen kategorialen Begriffsapparats zur Rekonstruktion der „inneren Natur“. Dieser Mangel sei die Folge der Ausgrenzung der Psychoanalyse aus dem Marxismus/Leninismus, worauf schon die grundlegende Arbeit Michael Schneiders: Neurose und Klassenkampf (1973) aufmerksam gemacht habe. Die gleiche Kritik betreffe das Konzept des „produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts“ der Bielefelder Schule. Es sei zudem eine normative Setzung, die nur ex negativo funktioniere, indem sie „Unproduktives“ ausgrenze. Durch diese grundlegende Kritik wurde klar, dass Werner auf den ersten und zweiten Traditionsstrang für seine eigene Positionierung nicht setzen konnte. Dem gegenüber haben die Hinweise zu der 3. und 4. Theorietradition eine andere Bedeutung. Denn sie verweisen (mit wenigen Worten und Autorennamen) auf die Theorietraditionen, deren Durcharbeitung die Grundlage für seinen eigenen Theorieentwurfs wurde.10 Dazu habe er drei Theoriestränge aufeinander bezogen: „Da ist zunächst die Neopsychoanalyse und die Selbsttheorie, die sich beide teils als Revision, teils als Weiterentwicklung der Freudschen Theorie des Es, des Unbewußten und des Triebes verstehen. (…) Die Theorie des Selbst und der Selbstgenese ist dagegen im Zentrum aus den Hinweisen der Freudschen Narzißmustheorie entsprungen, (…) Als dritte zentrale Traditionslinie begreifen wir die Lacansche Reinterpretation Freuds.“ (Breyvogel und Helsper 1986, S. 176)
9Différance
[difeʀɑ̃s] (Differenz, Unterschied), absichtlich falsch mit 'a' geschrieben, ist eine spezifische Wortschöpfung von J. Derrida (1930–2004). 10Zu 3) gelten daher die Positionierungen unter Abschn. 3.1–3.3 als Erläuterung, zu 4) vgl. Abschn. 4.1 und 4.2.
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4.2 Das Konzept der Idealität der Jugendphase und das Lacansche Imaginäre Das, was bei vielen so leichtfertig vorausgesetzt wurde und wird, die S elbstIdentität, war für Werner Helsper bereits 1986 hochgradig in Zweifel zu ziehen. Seine zentrale Schlussfolgerung lautet: „Die Errichtung der Selbst-Identität als Resultat umfassender Modernisierungsprozesse … ist auf der Spur des Größen-Selbst oder Ideal-Selbst im Subjekt situiert und wird als das zentrale Phantasma adoleszenter Subjekte in modernisierten Gesellschaften verstanden.“ (ebd., S. 183)
Ausgangspunk der Kritik ist die im Identitätskonzept verkannte Narzißmustheorie, die seit S. Freud in unterschiedlichen Strängen weiterentwickelt wurde. Allen zitierten Positionen gemeinsam ist die These einer Zunahme des Narzissmus in der Adoleszenz: So stelle Blos (1978) „narzisstische Größenideen, imaginäre Phantasmen, Allmachtswünsche, eine narzisstische Selbstaufblähung, die aus der Entwertung der Elternfiguren und der Aufwertung des eigenen Selbst resultiere und ein damit einhergehendes falsches Machtgefühl fest.“ (ebd.)
Dieser Narzissmus, der in den Essener Studien zur Jugendgewalt erst umfassend zum Gegenstand geworden ist, wurde von Bittner (1984) als „idealer Entwurf“ und als „äußerst handlungsrelevante Real-Fiktion“ verstanden, und zwar als Spaltung zwischen Ideal- und Real-Selbst. Es sei aber nicht nur diese Kluft des Imaginären im Subjekt situiert, sondern – und diese Komplexitätssteigerung ist wieder das Kennzeichen für Werner Helspers typischen Zugriff – über dieser Kluft seien vier Konfliktzonen zu beachten: 1. Die Spannung zwischen imaginärem Ideal-Selbst und moralischen Prinzipien, 2. Zu beachten sei das Verhältnis von idealem Selbstentwurf und sozialisatorisch erzeugten Ich-Ressourcen. 3. Die Polarität von Ideal-Selbst und innerer Natur (dem Realen bei Lacan, das den Freudschen Triebbegriff abgelöst hat) und 4. das Verhältnis von Imaginärem und symbolischer Ordnung (die Übersetzung von Phantasmen in sprachlich-soziale Formen) (vgl. ebd., S. 184). Ein letzter Hinweis, der indirekt wieder ein zentrales Anliegen Max Webers aufgreift, die Kritik am Naturalismus in den Sozialwissenschaften. Für Werner
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Helsper sind theoretische Konzepte, die das Verhältnis von Imaginärem und Adoleszenz beschreiben und sich auf eine „vorab fixierte Abfolge psychodynamischer oder psychosexueller Entwicklungen“ beziehen oder von „einer entwicklungslogischen Abfolge von Kompetenzstufen“ ausgehen, nicht angemessen (Breyvogel und Helsper 1986, S. 186). „Demgegenüber betonen wir … den Primat sozialisatorischer Interaktion (…). Das Imaginäre wird von uns so zwar als Strukturelement menschlicher Psyche begriffen, erhält aber seine Ausformung wie auch seinen Stellenwert im Rahmen der Einführung in die symbolische Ordnung.“ (Im Kontext J. Lacans ist damit der Erwerb der Sprache gemeint.) (ebd., S. 187; Hervorhebung W. B.)
5 Fazit Nachdem ich anfangs selbst Zweifel hatte, ob es mir erlaubt sein kann, Werner Helsper und Max Weber in eine vergleichende Nähe zu stellen, hat sich das Risiko im Ergebnis doch bewährt. Es hat sich gezeigt, dass Werner Helsper selbst die Form der Theoriebildung durch Abstraktion analog zu Max Weber en passant eingesetzt hat. Kulturelle Freisetzung und Offenheit sind die Voraussetzungen sozialer Unterdeterminiertheit der Jugend bei gleichzeitiger öffentlich-medialer Überdeterminiertheit. Neben diesem Berührungspunkt gibt es einen zweiten, der Max Weber hochgradig entgegenkäme. Er verbirgt sich hinter Werner Helspers Formulierung vom „Primat sozialisatorischer Interaktion“ als Voraussetzung des Ursachenzusammenhangs. Werner wendet sich entschieden gegen eine „vorab fixierte Abfolge psychodynamischer oder psychosexueller Entwicklungen“, was sich auch „auf die entwicklungslogische Abfolge von Kompetenzstufen“ bezieht. Demgegenüber fordert er das „Primat sozialisatorischer Interaktion“ als Ursachenzusammenhang, der jeweils zu erforschen ist. Das ist im Kern eine Konsequenz aus der Weberschen Kritik an dem Naturalismus in den Sozialwissenschaften (vgl. dazu Radkau 2005, S. 235 ff.; Der Naturalismus als Herausforderung für Max Weber). Dieses beiläufige Ergebnis fügt sich sehr gut in das Bild der allgemeineren Bedeutung Werner Helspers. Denn die Essener „Schule“ der Jugendforschung verstand sich von Anfang an als dem hermeneutischen Forschungstyp verbunden, so z. B. der Ethnologie Paul Parins (Zürich) und den methodologischen Anforderungen Ulrich Oevermanns (Frankfurt). Empirische Feldforschung, offene, narrative Interviewverfahren, Beobachtungsprotokolle, daraus folgernd
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Sequenzanalysen und erste theoretische Suchbewegungen, daraus wieder Generalisierungen durch Abstraktion und treffende semantische Begriffe mit Zuspitzungen im Sinne der Weberschen „Einfälle“, das waren die Grundprinzipen und Verfahrensschritte der Jugend-Schule- wie der Jugend-Gewalt-Forschung an der Universität Essen. Werner hat sie von Anfang an mitgestaltet, wenn nicht mit seiner ständig neuen Interessiertheit und seinem Theoriehunger geprägt. Dass Werners Erfolge auch etwas mit seiner Person zu tun haben, dass er, kurz gefasst, ein großartiger Mensch ist, der durch Offenheit, Zugewandtheit, ein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen, Spontaneität und eine „unendliche“ Interessiertheit am anderen auffällt, sei nur kurz benannt. Wenn die vier Feldforscher, zwei Frauen, zwei Männer, nach einem Beobachtungstag aus der Schule wieder in die Universität kamen, war „spannend“ die häufigste Beschreibung. Und für Werner war alles immer „unheimlich spannend“. Das war so spannend, dass ich drauf und dran war, darüber einen Essay zu schreiben, was ich dann aber doch unterließ. Dazu zuletzt eine kleine Szene und Beobachtung, die an den Beginn unserer Bekanntschaft, die erste Autofahrt und die beengte Sitzmöglichkeit neben unserem Kind Dirk auf dem Hintersitz anknüpft. Mir war das im Jahr 1977 wirklich unangenehm, weil es für ihn sehr beengt war und ich ihm als Gast keinen besseren Platz anbieten konnte. Wenn Werner dann später bei uns war und mit Dirk und Tim als Zwei-, Drei- oder Vierjährigen sprach oder auch spielte, kniete er sich immer hin, um mit ihnen auf Augenhöhe zu sprechen. Das verblüffte mich. Aber ich habe keinen anderen Mann in meinem Bekanntenkreis aus Kollegen und Freunden erlebt, der sich so um Gegenseitigkeit und „Augenhöhe“ mit Kindern bemühte. Das gehört zu meinem Erfahrungsschatz gegenüber einem, wie gesagt, großartigen Menschen.
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Prof. Dr. Wilfried Breyvogel, Professor (i. R.) für Sozialgeschichte der Erziehung und pädagogische Jugendforschung an der Philosophischen Fakultät der Universität D uisburgEssen in Essen. Arbeitsschwerpunkte: Sozialgeschichte der Lehrerinnen und Lehrer des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichte der Jugend, des Jugendprotests, des Jugendwiderstands im Nationalsozialismus und der Jugend(sub)kulturen 1945–2000.
Jugendkulturtheorien – historische Entwicklung und aktuelle Perspektiven Heinz-Hermann Krüger
Zusammenfassung
In diesem Artikel wird die historische Entwicklung jugendkulturtheoretischer Ansätze insbesondere seit den 1950er Jahren von strukturfunktionalistischen Konzepten über klassenkulturell gefasste Jugendkulturtheorien bis hin zu aktuellen modernisierungstheoretischen und praxeologischen Ansätzen skizziert und deren Erklärungskraft an den Ergebnissen empirischer Studien verdeutlicht. Anschließend werden diese theoretischen Entwicklungslinien bilanziert und einige theorieprogrammatische Überlegungen und inhaltliche Perspektiven für die zukünftige Jugendkulturforschung dargestellt. Schlüsselwörter
Jugendkulturtheorien · Strukturfunktionalistische Konzepte · Klassenkultureller Ansatz des CCCS · Sozialphänomenologisch orientiertes Szenekonzept · Praxeologisch orientierte jugendkulturtheoretische Ansätze · Jugendliche Teilkultur · Jugendkulturelle Stile und Szenen In diesem Beitrag soll in einem ersten Schritt die Geschichte der jugendtheoretischen Diskussion vor allem in Deutschland seit der Nachkriegszeit bis zur gegenwärtigen Situation dargestellt werden. Dabei wird jeweils der Blick auf die zentralen theoretischen Bezugslinien, auf die im Mittelpunkt der theoretischen H.-H. Krüger (*) Institut für Pädagogik, Martin- Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Gibson et al. (Hrsg.), Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25094-2_3
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Analysen stehenden Ebenen und Dimensionen des Gegenstandsfeldes Jugendkultur sowie auf zentrale empirische Studien gerichtet, die sich auf diese Theoriekonzepte jeweils beziehen. In einem zweiten Schritt wird der aktuelle Stand der Theoriediskussion in der Jugendkulturforschung bilanziert und abschließend werden einige theoretische Perspektiven und empirische Herausforderungen für die zukünftige Jugendkulturforschung skizziert.
1 Von der jugendlichen Teilkultur zu juvenilen Szenen Obwohl eine breite theoretische Diskussion um eigenständige Jugendkulturen erst in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg beginnt, als Massenkonsum eine populäre Medien- und Musikkultur sowie die Expansion des Schulbesuchs deren Verbreitung mit vorantrieben, setzt die Vorgeschichte dazu bereits im frühen 20. Jahrhundert ein. Um die Jahrhundertwende taucht der Begriff der Jugendkultur zum ersten Mal auf und er wurde in vielfältiger Weise mit der aufkommenden Wandervogelbewegung als Jugendbewegung verknüpft oder wie Wyneken (Wyneken 1919, S. 38) es metaphorisch formulierte „Jugendkultur ist ein gemeinsames Wandern auf geistigem Gebiet“. Der Begriff der Jugendkultur dient ihm in seinem pädagogischen Theoriekonzept nicht nur dazu, die eigene Sprache und Gesittung sowie die Kleidungs- und Verhaltensformen dieser neuen Jugendbewegung zu beschreiben, sondern er implizierte auch einen normativen pädagogischen und politischen Anspruch. Jugendkultur war für ihn zugleich eine Idee, eine Idealform, die jenseits der bürgerlichen Familie und der autoritär strukturierten Schule der damaligen Zeit etwa in einer freien Schulgemeinde angesiedelt sein sollte (vgl. ebd., S. 127; Baacke und Ferchhoff 1993, S. 423). Ein jugendsoziologischer Blick auf Phänomene der Jugendkultur setzte ebenfalls schon in den 1920er Jahren in den USA ein. Hier wurden ausgehend von einem Subkulturkonzept im Rahmen der interaktionistisch und sozialökologisch ausgerichteten Chicagoer-Schule sogenannte Gang- Studien zum abweichenden auch jugendlichen Verhalten durchgeführt. Berühmt geworden sind in diesem Zusammenhang insbesondere die von Trasher (1927) vorgelegte ethnografische Studie über die Chicagoer Bandenbildung in den 1920er Jahren sowie später die qualitative Untersuchung von Whyte (1943) über die „Street Corner Society“. Die Basisannahme dieses subkulturellen Ansatzes betrachtet abweichendes Verhalten als Konformität zu bestimmten Verhaltensstandards eines Subsystems der Gesellschaft, die in der Gesamtgesellschaft, insbesondere von ihren mächtigen Gruppen jedoch nicht anerkannt werden (vgl. Baacke und Ferchhoff 1993, S. 407).
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Eine ganz andere Perspektive auf Jugendkulturen nehmen hingegen Parsons (1942) in seiner strukturfunktionalistischen Gesellschaftstheorie und, jugendtheoretisch ausführlicher begründet, sein Schüler Eisenstadt in seinem Werk „From Generation to Generation“ (1956) ein, die die theoretische Diskussion um Jugend und Jugendkulturen in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten auch in Westdeutschland ganz entscheidend mit beeinflusst haben. Jugendkulturen bzw. die Gruppe der Altersgleichen haben für sie in modernen Industriegesellschaften die zentrale Funktion, die Fortdauer der Struktur, Werte und Normen der Gesellschaft zu sichern (vgl. ebd., S. 13). Der Sozialisationsprozess hat im funktionalistischen Sinne somit die Aufgabe, die nachfolgende Generation an bestehende Werte, Normen und Verhaltensmuster anzupassen und damit die Kontinuität der Gesellschaft zu bewahren (vgl. Griese 2016, S. 63). Jugendkulturen bzw. Gleichaltrigengruppen bieten nach Parsons (1942) und Eisenstadt (1956) die Möglichkeit, sich von den partikularen Werten der Familie abzugrenzen und die universalistischen, leistungsbezogenen Werte aus den übrigen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem in Wirtschaft und Politik, einzuüben. Somit haben in der Perspektive einer strukturfunktionalistischen Auffassung die jugendlichen Kulturen die Aufgabe, in dieser „interlinking sphere“ der Jugend den Ablösungsprozess von der Familie zu unterstützen und zu gesamtgesellschaftlich vorgegebenen Orientierungen hinzuführen. Dabei gibt es drei altershomogen basierte Systemlösungen: die Schulklasse, die von Erwachsenen unterstützten Jugendorganisationen und informelle Jugendgruppen. Das strukturfunktionalistische Konzept von Parsons (1942) und Eisenstadt (1956) zum Verhältnis von Jugend und Gesellschaft ist in den Folgejahrzehnten aufgrund seiner dominanten Anpassungsperspektive und der Tatsache, dass es Arbeiterjugendliche, weibliche Jugendliche und Jugendliche aus ethnischen Minderheiten ausblendet, vielfach kritisiert worden (vgl. Baacke und Ferchhoff 1993). Dennoch hat es die generationstheoretischen Überlegungen von Schelsky (1956) zur skeptischen westdeutschen Jugendgeneration der Nachkriegszeit und insbesondere Tenbrucks (1962) Konzept von der jugendlichen Teilkultur, das dieser in die jugendkulturtheoretische Debatte der Bundesrepublik einbrachte, maßgeblich mit geprägt. Mit Eisenstadt teilt Tenbruck die gesellschaftstheoretische Diagnose, dass sich in modernen Industriegesellschaften die Sozialisation von klassischen Sozialisationsinstanzen wie Familie und Verwandtschaft auf andere Erfahrungsbereiche verlagert hat. Es sind die altershomogenen Gruppen, mit denen Jugend erst entsteht. Jugend bildet ein eigenes System der Beziehungen zwischen Altersgleichen sowie eigene kulturelle Praktiken, Deutungen und Handlungsformen heraus (vgl. ebd., S. 48). Unterstützt wird die Herausbildung einer jugendlichen Teilkultur durch die Massenmedien und die kommerzielle
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Aufwertung jugendspezifischer Bedürfnisse, Interessen und Ausdrucksformen. Obwohl Tenbruck mit seiner Diagnose die Phänomene einer sich ausbreitenden Teenagerkultur in den frühen 1960er Jahren adäquat erfasst, wird seine These von der einheitlichen jugendlichen Teilkultur der bereits existierenden Vielfalt jugendkultureller Stile zur damaligen Zeit nicht gerecht (vgl. Krüger 1985). Plausibler ist hingegen seine Prognose zum zunehmenden Puerilismus der Gesamtkultur (vgl. Tenbruck 1962, S. 44), die in späteren jugendtheoretischen Debatten wieder aufgegriffen worden ist. Das im Rahmen der gesellschaftstheoretischen Analysen von Parsons (1942), Eisenstadt (1956) und Tenbruck (1962) entwickelte Konzept einer homogenen jugendlichen Teilkultur wurde seit den 1970er Jahren von dem klassenkulturell orientierten und Stilbildungs- und Verwandlungsprozesse ins Zentrum rückenden kulturtheoretischen Ansatz des Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) abgelöst (vgl. Clarke et al. 1979), der auch die Jugendkulturdiskussion in der alten Bundesrepublik in den folgenden zwei Jahrzehnten entscheidend mit bestimmt hat. Dabei geht die Birminghamer Forschergruppe von einem breit verstandenen Kulturbegriff aus, der Kultur als ein in jeglicher Praxis verankertes Phänomen fasst (Hall 1999, S. 18) und sie zugleich in Anlehnung an Gramscis (1980) Hegemoniekonzept als Ort der Artikulation von Über- und Unterordnungsverhältnissen und als Arena von Machtkämpfen um die kulturelle Vorherrschaft versteht (vgl. Eulenbach und Wiezorek 2016, S. 553). Vor diesem Hintergrund werden nun Jugendkulturen immer als Bestandteile von hierarchisch angeordneten klassenspezifischen Stammkulturen gefasst und es wird zwischen jugendlichen Subkulturen aus der Arbeiterschaft (z. B. Teddy Boys oder Rocker) und jugendlichen Gegenkulturen aus der Mittelklasse (z. B. Hippies) unterschieden (vgl. Clarke et al. 1979, S. 111). Die latente Funktion der jugendlichen Sub- bzw. Gegenkulturen besteht nun darin, die Widersprüche, die in der Stammkultur verborgen oder ungelöst bleiben, generationsspezifisch zum Ausdruck zu bringen und auf symbolisch expressive und imaginäre Art und Weise zu verarbeiten (vgl. Helsper 2015, S. 449). In diesem Prozess spielt die Stilbildung eine ganz zentrale Rolle, die in Anlehnung an das strukturalistische Konzept von Levi-Strauss (1979) als „Bricolage“, als Bastelei verstanden wird, und somit den jugendkulturellen Praxen auch eine kreative und widerständige Bedeutung zuschreibt. D. h. Warenobjekte werden aus ihrem alltäglichen Lebenszusammenhang herausgenommen und es wird ihnen in jugendkulturellen Zusammenhängen eine neue Bedeutung verliehen (z. B. der schicke Anzug mit Kordelschlips bei den Mods). Elemente des Stils sind neben Kleidungsverhalten, Musikgeschmack, Wertvorstellungen, Körpergesten auch das Territorialverhalten oder Interaktionsformen von jugendlichen Sub- oder Gegenkulturen (vgl. Krüger 2010, S. 14).
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So hat etwa Paul Willis in seinem Buch „Profane Culture“ (1981) eine erste ausführliche Stilanalyse zur jugendlichen Subkultur der Rocker und der Gegenkultur der Hippies in Großbritannien vorgelegt, die auf den Ergebnissen einer ethnografischen und interviewgestützten Studie basiert. Dabei zeigt er auf, dass die untersuchten Jugendlichen aus einer Motorradgang Objekten aus der Warenwelt wie die Lederjacke als Schutzkleidung mit Nieten und Buttons eine neue stilistische Bedeutung verleihen und gleichzeitig jedoch mit ihrer Orientierung an Männlichkeit, Direktheit und körperlicher Arbeit an den Werten ihrer proletarischen Herkunftskultur festhalten (vgl. ebd., S. 39). Umgekehrt stellte die untersuchte Gegenkultur der Hippies mit ihrer Vorliebe für die Musik von Frank Zappa oder Jimi Hendrix, mit ihren langen Haaren und wallenden Gewändern, dem exzessiven Drogenkonsum sowie ihren spiritualistischen Orientierungen und dem ökologischen Denken die konventionellen Lebensentwürfe und die Leistungsorientierungen der Elterngeneration aus dem bürgerlichen Milieu in Frage (vgl. ebd., S. 128). Angesichts der Ausdifferenzierung jugendkultureller Lebensstile und der gesellschaftlich diagnostizierten Erosionsprozesse traditioneller Sozialmilieus und klassenkultureller Bindungen in der alten Bundesrepublik knüpften zwar eine ganze Reihe von empirischen Studien in der Jugendforschung in den 1980er und 1990er Jahren noch an die jugendkulturellen Grundbegriffe und an das Stilkonzept des Birminghamer CCCS an. Sie betteten jedoch ihre Jugendkulturanalysen in verschiedene Varianten von kritischen Modernisierungstheorien ein. So beziehen sich etwa Bietau (1989) und Helsper (1989a) in ihrer einflussreichen qualitativen Studie zu einer Subkultur von Arbeiterjugendlichen in einer ehemaligen Zechensiedlung und zu der Gegenkultur einer kritisch-oppositionellen Jugendszene an einer Gesamtschule im Ruhrgebiet auf die Gesellschaftstheorie von Habermas (1981) und dessen Diagnose von der ökonomischen und kulturellen Rationalisierung tradierter Lebenswelten durch ökonomische und politisch-administrative Systemimperative und damit einhergehenden Freiheitsverlusten bei gleichzeitig anwachsenden Autonomie- und Verselbständigungsansprüchen. Bietau (1989) zeigt in seiner Lebensweltstudie zu den Arbeiterjugendlichen auf, wie bedingt durch die ökonomische Krise in dieser Industrieregion auch die sozialen Netzwerke und kulturellen Sinnzusammenhänge in dieser traditionellen Lebenswelt erodieren. Die untersuchte Clique von Arbeiterjugendlichen hält zwar noch an den traditionellen Werten von Männlichkeit, körperlicher Arbeit und Stärke fest. Doch diese proletarischen Werte erweisen sich weitgehend nur noch als imaginäre. In ihrer Ausbildung im Industriebetrieb erfahren sie, dass diese Tugenden durch den Einsatz von Maschinen verdrängt werden (vgl. ebd., S. 154). Während die Konfliktlinien zwischen
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System und Lebenswelt für diese Arbeiterjugendlichen eher am Rande von Institutionen ablaufen, da die Schule für sie eher ein Reich der Notwendigkeit ist, in dem man die für den Arbeitsmarkt erforderlichen Abschlüsse erwerben muss, geht diese Konfliktlinie für die von Helsper (Helsper 1989a, S. 182) untersuchte jugendliche Gegenkultur mitten durch die Schule. Die Jugendlichen aus der Oberstufe der Gesamtschule, die eher aus bildungsnahen Mittelschichtfamilien kommen, stellen zwar die systemischen Rationalitätsimperative der Schule, ihre Leistungserwartungen und Notenvergabepraxen in Frage, gleichzeitig wollen sie jedoch möglichst lange Schülerinnen und Schüler bleiben und das Abitur schaffen. Neben der Gesellschaftstheorie von Habermas bezieht sich Helsper (ebd., S. 171) bei der Theoretisierung seiner empirischen Befunde auch auf die psychoanalytisch basierte poststrukturalistische Subjekttheorie von Lacan (1980), um auch die individuelle Entwicklung der von ihm untersuchten Jugendlichen in der Adoleszenz in den Aporien zwischen hohen Autonomieansprüchen des eigenen Selbst und ihrer Unzugänglichkeit fassen zu können. Dabei arbeitet er heraus, dass das Scheitern dieser hohen Ansprüche auch immer mit depressiven Selbstwerteinbrüchen, dem Anstieg von Drogen- und Alkoholkonsum und dem Verlust kreativer Vielfalt einhergehen kann (vgl. Helsper 1991, S. 90; auch Helsper 1989b). Noch einflussreicher als Habermas mit seinem gesellschaftstheoretischen Konzept der Kolonialisierung der Lebenswelt wurden in den theoretischen Diskursen in der Jugendkulturforschung seit Mitte der 1980er Jahre die Arbeiten von Beck zur reflexiven Modernisierung in der Risikogesellschaft der zweiten Moderne. Beck (1986) weist in seiner zeitgenössischen Makrotheorie auf die Enttraditionalisierung sozialmoralischer Milieus, auf den Prozess der Diversifizierung von Lebenslagen und die Pluralisierung von Lebensstilen sowie auf die Individualisierung von Lebenszusammenhängen und Lebensläufen hin, die für den Einzelnen vielfältige biografische Wahlmöglichkeiten eröffnen, aber auch neue Risiken und Problembelastungen mit sich bringen können. In Anlehnung an das von Beck (1986) gesellschaftstheoretisch gefasste Individualisierungstheorem bildeten sich im Verlaufe der 1990er Jahre zwei theoretische Entwicklungslinien in der Jugendkulturforschung heraus, die eher die Schattenseiten von Individualisierung in Form von Desorientierung und Destabilisierung oder eher die Sonnenseiten in Gestalt radikaler Pluralität, biografischer Optionsvielfalt, Bastelidentitäten oder postrationaler Vergemeinschaftung betonen. Ein zentraler Vertreter der skeptischen Lesart, der eher die Lasten und Risiken dieser neuen Freisetzungsprozesse hervorhebt, ist Heitmeyer. Er hat im Anschluss an Becks Individualisierungstheorem und an das Konzept der gesellschaftlichen
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Desintegration von Durkheim (1973) sowie an milieutheoretische und identitätstheoretische Überlegungen im Rahmen einer qualitativen und einer quantitativen Studie die Lebenszusammenhänge und Haltungen von rechtsextremen bzw. gewaltorientierten Jugendlichen aus einer mehrebenenanalytischen Perspektive untersucht (vgl. Heitmeyer et al. 1993, S. 15 ff.; Heitmeyer et al. 1998 S. 31 ff.). Dabei zeigt er auf, das insbesondere Jugendliche, deren Lebenswelten durch soziale Desintegration und kulturelle Desorientierung gekennzeichnet sind, auf der biografischen Suche nach neuen Gewissheiten anfällig für Gruppierungen werden können, in denen klare Klassifikationsschemata von Gut und Böse, Feindbilder und mythische Gemeinschaftsstiftungen vorliegen, die mit nationalistischen Orientierungen verbunden sein können (vgl. auch Helsper et al. 2015, S. 13). In ihrer positiven, die Becksche Dimension der Freisetzung und Optionsvielfalt betonenden, Perspektive wurde dieser gesellschaftstheoretische Ansatz etwa von Ferchhoff (1993, 2007) rezipiert, der in seinen jugendkulturtheoretischen Analysen auf die Ausdifferenzierung und Vervielfältigung jugendkultureller Lebensstile oder auf neue Stilkombinationen sowie in Anlehnung an subjekttheoretische Überlegungen von Keupp et al. (1999) auf die Herausbildung neuer Formen von Bastel-Identitäten bzw. Patchworkidentitäten in diesen jugendkulturellen Kontexten hinweist (vgl. Ferchhoff 2007, S. 106). So unterscheidet er in seinem essayistisch und alltagsphänomenologisch angelegten Überblick über die jugendkulturellen Stile im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts insgesamt 26 Stile einschließlich Szenemix und Szenesurfern. Die Liste der genannten Stile reicht von Boy- und Girlgroup-Fans, Computerkids, über klassische Jugendkulturen wie Punk, Skinheads, Hip-Hop oder Techno bis hin zu postfeministischen Girlies oder Stinos. Die Einbettung dieser Vielfalt von jugendkulturellen Stilen in historische oder sozialstrukturelle Zusammenhänge geht bei dieser etwas oberflächlichen Szenenanalyse jedoch verloren. Ebenfalls an die positive Lesart des Beckschen Individualisierungstheorems (Beck 1986) sowie an sozialphänomenologische Theorietraditionen knüpft das von Hitzler et al. (2001) entwickelte Szene-Konzept an. Szenen werden von ihnen idealtypisch als thematisch fokussierte kulturelle Netzwerke von Personen definiert, die bestimmte materielle und mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und Gemeinsamkeiten an typischen Orten und zu typischen Zeiten interaktiv stabilisieren und weiterentwickeln (vgl. auch Eisewicht et al. 2016, S. 295). Szenen weisen für sie zwar lokale Einfärbungen und Besonderheiten auf, sie sind jedoch nicht lokal begrenzt sondern beeinflusst durch die modernen Medien eine globale Mikrokultur (vgl. Hitzler und Niederbacher 2010, S. 15). Mitglieder in Szenen sind nicht nur Jugendliche, sondern auch juvenil Begeisterte für einen Szenestil. Als individualisierungssymptomatische
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Gesinnungsgebilde sprengen sie somit nicht nur soziostrukturelle Einhegungen nach Alter, sondern auch nach Geschlecht, sozialer Herkunft und Bildung (vgl. Eisewicht et al. 2016, S. 295). Sie sind fluide und dynamisch und suchen vor allem in Mega-Events ein totales Erlebnis, die von Organisationseliten veranstaltet werden. Als posttraditionale Vergemeinschaftungsformen bieten sie ihren Mitgliedern Vertrautheit und Spielräume für die eigene Bastelexistenz. Ausgehend von diesen theoretischen Überlegungen und gestützt auf Strukturdaten, Experteninterviews haben Hitzler et al. (2001) eine Vielzahl von Szenen untersucht, deren Spektrum von der Techno- oder der Schwarzen-Szene, über Daily Soap Fans bis hin zur Sportkletter-Szene reicht. Insbesondere die dem Szene-Konzept zugrundeliegende Annahme von der Ablösung der Szenemit gliedschaft von milieuspezifischen Herkunftskontexten ist in den letzten Jahren von verschiedenen Autorinnen und Autoren problematisiert worden, die die Frage nach der sozialen Ungleichheit in der Jugendkulturforschung wieder verstärkt in den Blick genommen haben (vgl. Krüger 2010, S. 36; Hoffmann 2016, S. 317). Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre wurde in diesem Zusammenhang auch die Gesellschafts- und Kulturtheorie von Bourdieu (1982) in der theoretischen Debatte um Jugendkulturen wieder neu entdeckt (vgl. auch frühere Arbeiten dazu Helsper 1989a; Zinnecker 1986). Hier war es insbesondere Bohnsack (2003), der im Rahmen seines wissenssoziologischen Konzepts die Gesellschaftstheorie von Bourdieu (1982, 1993) mikrosoziologisch und praxeologisch weiterentwickelt und umgedeutet hat, um Zusammenhänge zwischen den kollektiven Orientierungen von Jugendlichen in unterschiedlichen jugendkulturellen Szenen und gesellschaftlichen Milieueinflüssen herausarbeiten zu können. Im Gegensatz zu Bourdieu, der die Genese eines individuellen oder kollektiven Habitus im Kontext makrosozialer Bedingungskontexte wie etwa Kapitalkonfigurationen verortet, wird in dem wissenssoziologischen Konzept von Bohnsack (2003, S. 42) die Herausbildung kollektiver habitueller Orientierungen und jugendkultureller Stile in den sozialen Kontexten unterschiedlicher Erfahrungsräume und sozialisatorischer Interaktionen insbesondere in der Peerwelt festgemacht. Gemeinsame Handlungspraxen in Jugendszenen werden als Suchbewegungen verstanden, über die unterschiedliche Formen habitueller Übereinstimmung hergestellt und zum Ausdruck gebracht werden. Vor allem gestützt auf die Auswertung von Gruppendiskussionen haben Bohnsack et al. (1995) die kollektiven Aktionismen von Peergroups in differenten jugendkulturellen Settings untersucht, deren Spektrum von Hooligan-Gruppen, über eine Gruppe linker gewaltbereiter Jugendlicher, eine familienbezogene Gruppe bis hin zu Musikgruppen reichen (vgl. zu Hip-Hop-Gruppen auch die Studien von Weller 2003; Pfaff 2006). In diesem Zusammenhang zeigt etwa
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Schaeffer (1996, S. 224) unter einer soziogenetischen Auswertungsperspektive auch auf, dass sich die kollektiven Orientierungen und stilistischen Praktiken von Musikbands aus differenten Bildungsmilieus deutlich unterscheiden. Expliziter und umfassend hat sich in jüngster Zeit Hoffmann (2016) ausgehend von den theoretischen Prämissen der praxeologischen Wissenssoziologie und auf der empirischen Basis von Gruppendiskussionen und Fotoanalysen mit dem Interdependenzverhältnis zwischen juvenilen Szenen und sozialer Ungleichheit beschäftigt. Am Beispiel von verschiedenen Gruppen aus der Techno-/ Elektro-Szene macht sie deutlich, dass diese keineswegs individualisierungssymptomatische Gesinnungsgebilde sind, sondern sich in ihren kollektiven Orientierungen und habitualisierten Stilen nicht nur sozialräumlich bedingte Differenzen, sondern auch feine soziale Unterschiede nachweisen lassen (vgl. ebd., S. 281).
2 Theoretische Perspektiven und inhaltliche Herausforderungen für die zukünftige Jugendkulturforschung Blickt man noch einmal bilanzierend auf die skizzierte historische Genese der jugendkulturtheoretischen Diskussion von der Nachkriegszeit bis zur gegenwärtigen Situation, so lässt sich zusammenfassend erstens feststellen, dass im Unterschied zu den 1950er bis 1970er Jahren, wo jeweils ein jugendkulturtheoretischer Ansatz den Diskurs maßgeblich bestimmte, sich spätestens seit Mitte der 1980er Jahre gleichsam parallel zur Vervielfältigung jugendkultureller Stile und Szenen auch eine Pluralität von theoretischen Konzepten herausgebildet hat. Außerdem sind gerade in jüngster Zeit noch weitere gesellschaftstheoretische Ansätze neu hinzugekommen, etwa das an Foucault anschließende Konzept des „unternehmerischen Selbst“ von Bröckling (2007) oder das von Rosa (2005) ausgearbeitete modernisierungstheoretische Konzept der Beschleunigung des Sozialen sowie differenztheoretische Ansätze, die die Interdependenzbeziehungen zwischen Geschlecht, Rasse und Klasse in gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen in den Blick nehmen (vgl. Eulenbach und Wiezorek 2016), die jedoch in den theoretischen Diskursen und empirischen Projekten der Jugendkulturforschung bislang bestenfalls ansatzweise rezipiert worden sind. Betrachtet man zweitens die in ihrer historischen Entwicklung dargestellten jugendkulturtheoretischen Ansätze unter der Frage, welche Ebenen und Dimensionen des Gegenstandfeldes Jugendkultur von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen über lebensweltliche und institutionelle Zusammenhänge bis hin
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zu Gruppenbeziehungen und individuellen Voraussetzungen ins Zentrum der Analyse gerückt werden, so zeigen sich folgende Trends: In den älteren jugendtheoretischen Ansätzen dominiert eine makrosoziologische Perspektive. So wird in den strukturfunktionalistischen Konzepten von Eisenstadt (1956) und Tenbruck (1962) vor allem nach der sozialen Funktion von Jugendkulturen für die Gesellschaft gefragt, im marxistisch orientierten kulturtheoretischen Ansatz des Birgminghamer CCCS (vgl. Clarke et al. 1979) wird zudem eine Verbindung zwischen der Analyse von Klassenkulturen und jugendkulturellen Stilanalysen hergestellt. Im Gegensatz dazu nehmen das neuere sozialphänomenologisch orientierte Szenekonzept von Hitzler und Niederbacher (2010) sowie das praxeologische Jugendkulturtheoriekonzept von Bohnsack et al. (1995) insbesondere die mikrosozialen Lebenswelten von juvenilen Szenen bzw. die Handlungspraxen und kollektiven Orientierungen von jugendkulturellen Gruppen in den Blick. Komplexe und mehrdimensional angelegte Theoriedesigns, die sowohl die gesamtgesellschaftlichen Bedingungskontexte sowie die lebensweltlichen Zusammenhänge als auch die sozialen Interaktionen in Gruppen und die biografische Entwicklung von Jugendlichen in jugendkulturellen Szenen berücksichtigen, sind nur in den 1990er Jahren etwa von Helsper (1989a, 1991) oder von Heitmeyer u. a. (1993, 1998) in unterschiedlichen theoretischen Begründungsvarianten vorgelegt worden. Auch wenn die Zeit für die Konzipierung von „großen Theorien“ in der Jugendkulturforschung vielleicht vorbei ist, so sollte man zumindest nach Brückenkonzepten suchen, die in der Lage sind, mehrere Ebenen des Gegenstandsfeldes Jugendkultur in den Blick zu nehmen und die anschlussfähig an die aktuellen theoretischen Diskurse in der Soziologie, der Erziehungswissenschaft und der Entwicklungspsychologie sind. Als metatheoretischer Konvergenzpunkt könnten hierfür praxistheoretische Konzeptionen geeignet sein. So hat neuerdings Reckwitz (2017) eine praxeologische Gesellschaftstheorie entwickelt, wo er in Weiterführung von Bourdieu auch darauf hinweist, dass im Gefolge des durch die neue Dienstleistungsökonomie und die digitale Revolution vorangetriebenen gesellschaftlichen Strukturwandels sich auch neue soziale und kulturelle Ungleichheiten herausgebildet haben. Dabei stehen sich nun eine neue akademische Mittelschicht mit hohem kulturellen, ökonomischen und sozialem Kapital und einer kosmopolitischen Orientierung und eine kleinbürgerliche alte Mittelschicht sowie eine Unterklasse in prekären Dienstleistungsberufen mit geringem ökonomischem und kulturellen Kapital gegenüber, die durchaus auch offen für populistische Formen des Politischen und einen Kulturessentialismus sein können (vgl. ebd., S. 277 ff.).
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Theoretisch anschlussfähig an solche gesellschaftstheoretischen Überlegungen sind auch praxeologische und mikrosoziologisch ausgerichtete jugendkulturtheoretische Konzepte (vgl. Bohnsack 2003), die die Handlungspraxen, stilistischen Inszenierungen und kollektiven Orientierungen von Jugendlichen in Gruppen in unterschiedlichen jugendkulturellen Erfahrungsräumen und Szenen in den Blick nehmen. Zudem sind sozialkonstruktivistische sozialisationstheoretische Konzepte, die Jugendliche bzw. Erwachsene als aktive Gestalterinnen und Gestalter ihrer Umwelt begreifen (vgl. Grundmann 2008, S. 178; Krüger 2018, S. 8) geeignet, die biografische Bedeutung und Einbettung von Szenezugehörigkeit und die Herausbildung von Handlungsfähigkeiten in diesen Kontexten theoretisch zu erfassen. Vor dem Hintergrund der hier nur angedeuteten gesellschaftlichen Diagnosen und theorieprogrammatischen Überlegungen lassen sich auch einige inhaltliche Herausforderungen für die zukünftige Jugendkulturforschung formulieren. So stellt sich z. B. im Anschluss an Analysen zum Strukturwandel gesellschaftlicher Klassen und neuer sozialer und kultureller Ungleichheiten von Reckwitz (2017, S. 273) die Frage, ob sich etwa die großstädtische Jugendszene der Hipster nach sozialer Lage und mit ihren Wertvorstellungen in der neuen akademischen Mittelklasse mit ihren kosmopolitischen Orientierungen verorten lässt und ob umgekehrt jüngere Mitglieder aus rechtspopulistischen Gruppierungen wie der AFD, PEGIDA oder der Identitären Bewegung aus der alten Mittelschicht oder der neuen sozialen Unterklasse stammen und mit deren nationalistischen und kulturessentialistischen Werthaltungen übereinstimmen. Bislang wenig untersucht wurde auch der Tatbestand, was es biografisch bedeutet, wenn die Mitglieder in einigen Szenen wie etwa Techno, Rocker, Heavy-Metall Fans oder der Gothic-Szene immer älter werden und inzwischen über 50 oder 60 Jahre alt sind. Hier fehlen subjekttheoretisch orientierte Studien zur lebensgeschichtlichen Relevanz der Szenezugehörigkeit über die gesamte Lebensspanne hinweg. Zudem existieren auch keine Untersuchungen etwa zu den auf dem Leipziger Wave-Gothic-Festival anzutreffenden „schwarzen Familien“, wo Großeltern, Eltern und Kinder in einheitlichem schwarzen Outfit gemeinsam Konzerte und Mittelaltermärkte besuchen (vgl. dazu auch Richard in diesem Band). Bei der Analyse dieser neuen Forschungsthemen wäre zugleich eine stärkere Verbindung zwischen der Jugendkulturforschung, der Biografieforschung und der Familienforschung erforderlich. Gerade zur Verknüpfung dieser unterschiedlichen Forschungsfelder, aber auch zur komplexen mehrebenenanalytischen theoretischen Analyse von jugendlichen Gegenkulturen und deren biografischer
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Relevanz hat Werner Helsper (vgl. 1989a, b, 1991) nicht nur mit seinen frühen Studien sondern auch mit seinen qualitativen Studien aus dem letzten Jahrzehnt (vgl. etwa Helsper et al. 2009) richtungsweisende Arbeiten vorgelegt.
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Prof. Dr. Heinz-Hermann Krüger war Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft und ist stellv. Sprecher der DFG-Forschergruppe 1612 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft, Kindheits- und Jugendforschung, Bildungs- und Schulforschung.
Jugendforschung zwischen Jugendkulturforschung und Schulforschung – disziplinkritische Beobachtungen Cathleen Grunert und Nicolle Pfaff Zusammenfassung
Der Beitrag diskutiert das Verhältnis von Jugendforschung und schulpädagogischer Forschung in einer historischen Perspektive. Ausgehend von frühen Bestimmungen einer Jugendforschung als schulkritische Forschung fragt er danach, wie das Verhältnis von Jugend, jugendkulturellen Ausdrucksformen und Schule in der Jugendforschung und in schultheoretischen Entwürfen sowie in der Erziehungswissenschaft als Disziplin verhandelt wird. Dabei wird sichtbar, dass Schule als Lebensraum und soziales Feld junger Menschen in der Entwicklung der Jugendforschung an Gewicht verliert, während Jugend in der schulpädagogischen Forschung und neueren Studien der schulbezogenen empirischen Bildungsforschung auf die Rolle des Schüler*in-Seins verengt wird. Welche Perspektiven mit einer systematischeren Verschränkung von Jugend- und Schulforschung zu gewinnen wären, wird abschließend knapp umrissen.
C. Grunert (*) Institut für Pädagogik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Hagen, Deutschland E-Mail: [email protected] N. Pfaff Fakultät für Bildungswissenschaften, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Gibson et al. (Hrsg.), Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25094-2_4
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Schlüsselwörter
Jugendforschung · Jugendkulturforschung · Schulforschung · Erziehungswissenschaft · Disziplingeschichte
1 Einleitung Schon Rousseau forderte dazu auf, die „Schüler besser zu studieren“ (Rousseau 2001[1762], S. 6), um sie in ihrer spezifischen Eigenlogik als Jugendliche kennenzulernen. Siegfried Bernfeld (1973[1925]) kritisierte die Schule als Medium, gegebene Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten und kennzeichnete die Jugendphase schon früh als Zeit der besonderen kulturellen Produktivität (z. B. Bernfeld 1924). Die Einbindung in pädagogische Institutionen, wie die Schule, und die damit verbundene Freisetzung der Jugendlichen von Erwerbsarbeit, ermöglicht und begrenzt diese Prozesse, da sie zum einen Räume für Jugendliche schafft, in denen sie eigene kulturelle Praktiken entwickeln können, die sie zum anderen durch institutionelle Regelerwartungen aber immer auch spezifisch konturiert. Eine so gedachte Jugendphase im Kontext eines längeren Verbleibs in schulischen Institutionen, steht, so Bernfeld (1929), nicht allen Jugendlichen offen, sondern ist abhängig vom sozialen Ort, vom sozialen Milieu, das „je eine andere Chance der Entwicklung entfaltet“ (ebd., S. 312). Nicht nur die Jugendlichen zu beobachten, sondern auch die Frage zu stellen, was die Schule oder genereller „die Tatsache der Erziehung, ihre Art und ihr Umfang“ (Bernfeld 1917, S. 231) als Ermöglichungs- und Begrenzungsraum gesellschaftlicher und kultureller Positionierungsprozesse ausmacht, das war für ihn die zentrale Aufgabe einer wissenschaftlichen Pädagogik, die wesentlich auch Jugendforschung sein muss. Während Bernfeld eine solche wissenschaftliche Pädagogik interdisziplinär und methodisch breit aufgestellt sieht, entwirft Meumann (1911) seine experimentelle Pädagogik, die sich in erster Linie auf die Erforschung von LehrLern-Prozessen mit Methoden der experimentellen Psychologie fokussiert, als „empirische Grundlegung der Pädagogik“ (ebd., S. 62). Wissenschaftliche Pädagogik kann nicht nur normativ sein, so kritisiert er – ähnlich wie Bernfeld – die damalige Pädagogik in ihrer geisteswissenschaftlichen Ausrichtung. Aber sie kann auch nicht nur empirisch sein, sondern muss ihre normativen Aussagen empirisch grundlegen. Diesen Teil einer pädagogischen Wissenschaft übernimmt aus seiner Sicht die „Jugendforschung … die ein Gesamtbild der körperlichen und geistigen Entwicklung des jugendlichen Menschen“ (ebd., S. 63) während
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der Schulzeit entwerfen muss. Ziel dieses Entwurfs einer pädagogischen Wissenschaft nach Meumann war es, pädagogische Handlungsregeln v. a. im Kontext der Schule nicht „ohne Rücksicht auf die geistig-körperliche Entwicklungsstufe des Kindes, für die sie berechnet“ (ebd., S. 50) werden, zu formulieren. Betrachten wir Bernfelds und Meumanns Positionen als die ersten kon zeptionellen Entwürfe einer Jugendforschung, die sich explizit im Kontext der Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft verortet, dann kristallisieren sich zwei differente Perspektiven heraus: Während Bernfeld Jugend als – auch durch Schule ermöglichten, aber zugleich begrenzten – Zusammenhang kul tureller Produktivität und Eigensinns versteht, entwirft Meumann Jugend als Ausgangspunkt einer „Rationalisierung des Schulsystems nach pädagogischpsychologischen Kriterien“ (Drewek 2008, S. 39), ohne das Schulsystem selbst infrage zu stellen (Meumann 1911, S. 56). In schultheoretischen Überlegungen stellte etwa Herbart (1880a[1831]) zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Frage nach dem Verhältnis von schulischen und außerschulischen Sozialisationseinflüssen und kritisierte eine ausschließlich staatliche, über die Schule beeinflusste Erziehung, die als „Aristokratie der besten Köpfe“ (ebd., S. 302) politischen, aber nicht pädagogischen Maßstäben folge und der Individualität des Einzelnen nicht gerecht werden kann. Allerdings ging es ihm weniger um Potenziale jugendlichen Eigensinns und jugendkultureller Produktivität, sondern in erster Linie um den Verlust des familialen Einflusses durch die „frühzeitige Zusammenhäufung der Kinder“ (Herbart 1880b[1810], S. 40). „… als ob Reibung vieler Schüler an einander keine Gefahr, ja Heil brächte … und als ob überhaupt die Jugendbildung ein Geschäft wäre, das im Grossen, wie Fabriken … betrieben werden könnte“ (Herbart 1880a[1831], S. 301). Das in der „Massenerziehung“ mögliche unregulierte Aufeinandertreffen Gleichaltriger ist für Herbart nicht Potenzial, sondern Gefahr für die Erziehung. „Je größer eine solche Knabengesellschaft, um desto strenger muss sie beherrscht und beargwohnt werden“ (ebd., S. 300). Sowohl Herbart als auch Bernfeld stellen, anders als Meumann, die Schule in ihrer jeweiligen historischen Gestalt in Frage, da sie einer Erziehung im Wege stehen, die sich an der Individualität des Kindes oder Jugendlichen orientiert. Diese Prozesse – so Bernfeld (1917) – bekommt die Pädagogik nicht in den Blick, wenn sie sich allein auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis konzentriert. Vielmehr braucht es eine Jugendforschung, die das Wechselverhältnis von Schule und Jugend betrachtet. Aus dieser historischen Perspektive lassen sich drei Fragehorizonte extrahieren: 1) Wie lässt sich Jugendforschung, die Bernfeld und Meumann ganz unterschiedlich entworfen haben, heute beschreiben und welche Bedeutung kommt
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darin dem Verhältnis von Schule und jugendlichem Eigensinn zu? 2) Wie wird Letzteres wiederum im Kontext schultheoretischer Entwürfe und Forschungszusammenhänge thematisch und kommt über das L ehrer-Schüler-Verhältnis hinaus zum Tragen? 3) Wie wird das Thema Jugend im Kontext der Erziehungswissenschaft als Wissenschaftsdisziplin verhandelt, die sowohl von Bernfeld als auch von Meumann als zentrales Feld einer wissenschaftlichen Jugendforschung markiert wurde? Der vorliegende Beitrag geht diesen Fragen entlang der Forschungsfelder Jugendkulturforschung und Schulforschung sowie abschließend der Erziehungswissenschaft als Disziplin nach und fragt jeweils nach Thematisierungsweisen und Befunden zum Verhältnis von Jugendkultur und Schule. Damit schließt der Text gleichzeitig an zentrale Forschungslinien Werner Helspers an, die sich – im historischen Verlauf graduell unterschiedlich – immer wieder im Schnittfeld von Schul- und Jugendforschung bewegt haben.
2 Die zunehmende Ausblendung von Schule in der Jugendkulturforschung Die Geschichte von Jugend und ihren kulturellen Ausdrucksformen gilt als mit der Institutionalisierung von Schule eng verknüpft (z. B. Griese 1982; Sander 2000). Die Einführung der Schulpflicht, so die weitgehend geteilte Annahme, hat zu einer Ausdehnung der Jugendphase geführt, die junge Menschen von Erwerbsund Reproduktionsarbeit entlastet. Zugleich wird das Verhältnis von Jugendkultur und Schule, wie eingangs historisch nachgezeichnet, als Ambivalenz diskutiert. So wird die Schule im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder als Gegenstand jugendlicher Kritik und als zentrale Referenz jugendkultureller Vergemeinschaftung und jugendspezifischer Ausdrucksformen und Praktiken beschrieben. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde sie zum Ausgangspunkt und Anlass der sog. Jugendbewegung und damit der ersten breit dokumentierten Jugendkultur (vgl. Rosenbusch 1973). In der Kritik an einer autoritären, in Form und Inhalt unzeitgemäßen höheren schulischen Bildung entfaltete sich um 1900, begleitet von pädagogischen Auseinandersetzungen, in der deutschen Jugendbewegung ein altersspezifischer Zusammenhang, in dem die Jungen auf der Grundlage neuer ästhetischer Ausdrucksformen und altersgruppenbezogener Aktivitäten ihre Bildung selbst in die Hand nehmen wollten (z. B. Mix 1995, S. 222 ff.). Die aus der Jugendbewegung hervorgegangenen Bünde und Jugendgruppen in der Weimarer Republik mit ihrer bildungsbezogenen Programmatik unterstützten gleichwohl schulische Ziele grundsätzlich (Kluchert 2006, S. 650).
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Auch strukturfunktionalistische Bestimmungen von Jugendkultur weisen auf Ambivalenzen im Verhältnis von altersgruppenspezifischen Normen und Praktiken und der Institution Schule hin (Parsons 1968). In seinen Analysen der Schulklasse als soziales System diskutiert Parsons (ebd.) die Möglichkeit ‚anomischer Spannungen‘ zwischen der Sozialisationskraft der Schule und der ‚Ideologie der Jugendkultur’, die „intellektuelle Interessen und Schulleistungen geringschätzig behandelt“ (Parsons 2012, S. 119). Parsons verortet damit verbundene Konflikte als in der von ihm gegensätzlich entworfenen sozialisatorischen Relevanz von Schule (Zwang, Tradition, Universalismus) und Jugendkultur (Freiwilligkeit, Innovation, Partikularismus) strukturell angelegt. Zugleich beschreibt er sie aber als besonders bedeutungsvoll im Kontext der spezifischen Verhältnissetzung sozialer Klassen zu den schulisch vermittelten Bildungsanforderungen ihrer Zeit. Insbesondere die sozialstrukturelle Verankerung von Jugendkulturen und die vor diesem Hintergrund entfalteten Positionierungen in politischen und institutionellen Zusammenhängen bildeten ab den 1960er-Jahren einen zentralen Untersuchungsgegenstand der neu entstehenden empirisch ausgerichteten Jugendkulturforschung. So fokussieren Studien im Kontext der britischen Cultural Studies zentral auf die soziale und institutionelle Verankerung jugendspezifischer Ausdrucksformen. Untersuchungen zu stilistischen Ausdrucksformen und jugendkulturellen Praktiken von Jugendlichen unterschiedlicher sozialer Klas sen weisen auf die Relevanz kollektiv verbürgter jugendlicher Positionierungen im Feld der Schule sowie der mit ihr verbundenen Leistungs- und Verhaltenserwartungen für die Reproduktion von Klassenverhältnissen hin (z. B. Willis 1979; McRobbie 1990). Ähnliche Perspektiven dokumentieren sich im bundesdeutschen Zusammenhang in der ab den 1980er Jahren dominanten pädagogischen Jugendforschung (vgl. Krüger und Grunert 2010). Wenn auch vor dem Hintergrund anderer theoretischer Prämissen (vgl. hierzu Krüger in diesem Band), wurden hier methodisch ähnlich angelegte Studien zum Verhältnis klassenspezifischer Jugendkulturen zur Schule realisiert (z. B. Projektgruppe Jugendbüro 1975, 1977; Bietau 1989; Helsper 1987, 1989, 1990). Ausgehend von der weitgehend geteilten Annahme eines allgemein-verbindlichen jugendlichen Bildungsmoratoriums (vgl. Zinnecker 1988, 1991) gerät Schule in diesen Analysen einerseits als Kontext der Genese jugendkultureller Entwürfe in den Blick. Andererseits teilen die Studien ein grundlegendes Interesse an den Kritiken Jugendlicher gegenüber der Institution Schule und in vielen Fällen, analog wissenschaftlicher Beobachtungen der Jugendbewegung, auch eine inhaltliche Nähe zu diesen. Dies zeigt sich u. a. an einem dominanten Interesse an sozialen Milieus, in denen Jugend- und Schülerkulturen dem schulischen Feld alternative Sinn- und Sozialräume entgegenstellen.
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Werner Helsper formuliert hierzu einleitend zu einem Beitrag aus dem Jahr 1983: „Vorausgeschickt sei, daß ich eine grundlegende Sympathie für jeden Versuch einer Subjektivitäts-Rettung durch Entsubjektivierung empfinde, von der aus mein Schreiben zu verstehen ist“ (Helsper 1983, S. 29). So bildete Schule für Studien auf dem Forschungsfeld der Jugendkulturforschung lange Zeit einen wichtigen Untersuchungszusammenhang. Im Zentrum stand dabei die Positionierung von Jugendkulturen zur Institution Schule, die als Repräsentantin der Erwachsenenkultur und der von Erwachsenen entwickelten Verhaltens- und Leistungserwartungen wie auch des Staates und seiner Normierungsversuche von Jugend verstanden wurde. Gerade im Zusammenhang mit der Analyse von Schülerkulturen gerät die Schule selbst als Kontext der Ermöglichung und Begrenzung von jugendkulturellem Eigensinn ins Blickfeld. Vor dem Hintergrund der enormen Diversifizierung und Ausdifferenzierung der Jugendkulturlandschaft ab Mitte der 1980er-Jahre traten neben diese Analyseperspektive zunehmend Untersuchungen, die die Entwicklung und Verbreitung jugendkultureller Stile sowie ihre Gemeinschaften, ästhetischen Ausdrucksformen und Praktiken ins Zentrum rückten (vgl. z. B. Helsper 1992, 1995). Jugendkulturelle Ausdrucksformen wurden nunmehr gerade in ihrer Spezifik und ihrem Eigensinn zum Gegenstand, Stile und Szenen als eigenständige und unabhängige Räume der jugendlichen Vergemeinschaftung anerkannt (z. B. Baacke 1987; Krüger und Richard 1998). Damit verbunden ist zum einen eine Neuorientierung an modernisierungstheoretischen Prämissen, die Jugendkultur zunehmend unabhängig von der sozialstrukturellen Positionierung junger Menschen betrachtet. Zum anderen vervielfältigen sich die empirischen Gegenstandsbereiche von ästhetischen Praktiken und Artefakten über Vergesellungsformen bis hin zur biographischen Verankerung jugendkultureller Zugehörigkeiten (zsfd. Krüger 2010). Damit gehen auch eine Diversifizierung disziplinärer Zugriffe und ein Bedeutungsverlust erziehungswissenschaftlicher Perspektiven auf Jugendkultur und ihre pädagogisch-institutionelle Einbettung einher. Die Bedeutung der Institution Schule als Referenz zur Analyse von Jugendkulturen hat sich damit bis heute grundlegend gewandelt: Jugendkulturen gelten als eigenständige und große Teile der Jugendlichen und jungen Erwachsenen erfassende Sozialisations- und zunehmend auch Bildungsräume neben der Schule (z. B. Pfaff 2007; Pfadenhauer und Eisewicht 2015; Eisewicht und Pfadenhauer 2015). Der Institution Schule kommt dabei in gegenwärtigen Analysen nur noch eine eingeschränkte Bedeutung zu (vgl. aber z. B. Krüger et al. 2008; Kramer et al. 2009, 2013; Helsper 2010; Hummrich 2011).
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3 Ausblendung von Jugend in schultheoretischen Entwürfen und Forschungszusammenhängen Sowohl die zunehmende Ausblendung von Schule aus der Jugendkulturforschung als auch die eher seltene Verbindung von Schul- und Jugendforschung wurden angesichts der großen Schnittmengen von Schule und jugendlicher Lebenswelt in modernisierten Gesellschaften und einer mittlerweile primär über Schule und schulische Logiken regulierten und gestalteten Jugendphase immer wieder beklagt Helsper und Böhme 2010, S. 619; Krüger und Grunert 2010, S. 33). Die Durchsetzung der Schulpflicht und der massive Ausbau zeitlicher Einbindungen von Jugendlichen in Schule – sowohl bezogen auf die Alltags- als auch die Lebenszeit – lassen Schul- und Jugendzeit zu großen Teilen ineinanderfallen (vgl. BMSFSJ 2017, S. 89). Anders als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gilt diese Verschmelzung zwar für alle Jugendlichen, jedoch bleiben zeitliche und milieubezogene Differenzen in Form unterschiedlich langer und verschieden ausgestalteter Wege durch die Jugendphase bestehen. Über differente Schularten und -karrieren werden Übergangszeiten in die Erwerbsarbeit verschieden reguliert und eröffnen sich differente Möglichkeitsräume der (jugend)kulturellen und gesellschaftlichen Positionierung, in denen außerschulische Sozialisationseinflüsse häufig milieu-, schulart- und schulkulturabhängig zum Tragen kommen (z. B. Kramer und Helsper 2011). Jugendzeit ist zwar zum größten Teil Schulbzw. Bildungssystemzeit, aber diese ist zeitlich und qualitativ nicht universell und bestimmt das, was als Jugend verstanden wird in unterschiedlicher Weise – auch darauf hatte Bernfeld bereits hingewiesen. Damit stellt sich die Frage, inwiefern – wenn schon die Jugendkulturforschung die Schule als Entstehungs- oder zumindest Entfaltungsmoment sub- und gegenkultureller Entwürfe im Jugendalter aus dem Auge verliert – die Verschränkung von Schul- und Jugendphase in schultheoretischen Entwürfen und Forschungsbezügen aufgehoben ist. Eine der wenigen ausgearbeiteten Schultheorien ist die von Helmut Fend, der in seiner „Neuen Theorie der Schule“ (2008) eine Reihe von Untersuchungen zu den Beziehungen von Schüler*innen untereinander oder zur Rolle der Peers als Lern- und Entwicklungshelfer referiert. Diese bleiben jedoch stark der Schulklasse als Erfahrungskontext verhaftet und auf ihre Funktion im Kontext schulischen Lernens bezogen. Im Theorieentwurf werden Bildungssysteme dann zwar als „institutionelle Akteure, in deren Rahmen Handelnde identifiziert und sichtbar gemacht werden können“ (ebd., S. 169), entworfen, im entsprechenden Modell kommen Schüler*innen – ebenso wie Eltern – dann aber nur als „Rezipienten von Bildungssystemen“ vor, für die die „Rezeption von Wissen und Kompetenzen“
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sowie „Lernen“ als relevante „Prozeduren und Aktivitäten“ beschrieben werden (ebd., S. 170). Schüler*innen als ‚Mit-Produzent*innen‘ von Unterricht und Schule werden in diesem wie auch im früheren Theorieentwurf von Fend (1980) ebenso wenig entfaltet wie Wechselbeziehungen mit außerschulischen Sozialisationserfahrungen (kritisch bereits Krüger und Lersch 1993, S. 308ff.). Und auch Fragen von Macht und Machtbeziehungen, wie sie bereits Bernfeld für die Schule als Institution thematisiert hat, aber auch im Hinblick auf LehrerSchüler-Interaktionen (z. B. Wellgraf 2012) oder Milieufragen (z. B. Kramer und Helsper 2011) werden darin nicht thematisch. Zugespitzt lässt sich sagen, dass die Theorieentwürfe Fends (1980, 2008) eher auf die Frage gerichtet sind, was aus Schulen als „Institutionen der gesellschaftlich kontrollierten und veranstalteten Sozialisation“ (Fend 1980, S. 2) bzw. als „institutionelle Akteure der Menschenbildung“ (Fend 2008, S. 11) ‚herauskommt‘. Dabei bleibt jedoch unterbelichtet, was über die Schüler*innen in die Schule ‚hineinkommt‘ und welche Dynamiken darüber entstehen. Dies lässt sich von eher struktur-funktional orientierten Theoriemodellen sicher auch nicht erwarten, da diese wohl zwangsläufig die Schüler*innenrolle und ihre Ausgestaltung in der Schule fokussieren. Da ausgearbeitete Theorien zur Schule jedoch eher Mangelware sind (Idel und Stelmaszyk 2015, S. 52) und angesichts des komplexen Feldes „grundsätzlich fragwürdig geworden [ist, d.A.], was eigentlich mit Theorie der Schule gemeint sein kann“ (Terhart 2017, S. 34, Hervorh. i. O.), ließen sich etwa auch Modellierungen von Effekten des Schulischen als Theoriemodelle zu Schule in den Blick nehmen. Neben die „Funktionen-Modelle“ (z. B. Fend) treten damit „Produktionsmodelle“ von Schule (ebd., S. 45), die stärker nach den Bedingungen der Hervorbringung (messbarer) schulischer Leistungen fragen. Damit geraten vor allem diejenigen Forschungsansätze in den Blick, die zwar nicht unbedingt schul- oder bildungstheoretisch grundgelegt, jedoch durchaus einflussreich in den letzten Jahren das Bild von und die Erwartungen an Schule mitgeprägt haben. Insbesondere durch Modellierungen aus der sog. Schuleffektivitätsforschung (im Überblick z. B. Becker und Schulze 2013) wird versucht, schulbezogene Qualitätskriterien als Einflussfaktoren schulischen Erfolgs von Schüler*innen anders als in „klassischen“ Schulleistungsstudien auch über Unterricht und Lehrer-Schüler-Beziehungen hinaus zu konzeptualisieren (z. B. Ditton 2000, S. 79). Darüber gerät vor allem der Beitrag unterschiedlicher Dimensionen von Schule zu den (kognitiven) Lernergebnissen der Schüler*innen in den Blick, während Wirkungen auf Identitätskonzeptionen und Selbstpositionierungsprozesse eher ausgeblendet bleiben. Bezüge zur außerunterrichtlichen und außerschulischen Lebenswelt von Jugendlichen sind dabei in erster Linie als Differenzkategorien und erklärende Variablen für Schulerfolg von
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Bedeutung (vgl. Grunert 2020). Der Blick wird in dieser Perspektive nicht auf das jugendliche Selbst, sondern auf das Schüler-Selbst gerichtet, in dessen Hervorbringung die primäre Funktion von Schule gesehen wird. Wie Schule auf die außerschulischen Sozialisations- und Entwicklungserfahrungen reagiert, welche Rolle sie in den adoleszenten Individualisierungsund Ablöseprozessen spielt und wie sich in und über Schule (jugend-)kulturelle und gesellschaftliche Positionierungsprozesse entfalten (können), dies findet sich in diesen Theoriemodellen und den zugehörigen Forschungszusammenhängen kaum. Eher lassen sich solche Perspektiven im schulkulturtheoretischen Ansatz von Werner Helsper und anderen ausmachen. Auch wenn im Laufe der Jahre in Werner Helspers Arbeiten die jugendkulturelle Perspektive zunehmend aus dem Zentrum gerückt ist und das professionelle Lehrerhandeln einen wichtigen Stellenwert eingenommen hat, sind Verbindungslinien von Jugend und Schule doch immer wieder zu erkennen und haben seine Arbeiten hier auch ihren Ausgang genommen (z. B. Helsper 1983, 1989). Wie ‚Jugendlichsein‘ und ‚Schülersein‘ im Kontext Schule miteinander in Verbindung stehen und wie Jugendliche mit den spezifischen kollektiven Adressierungen, die sie in Schule erfahren, umgehen, das war und ist sowohl in seinen eigenen als auch in weiterführenden Arbeiten zur Schulkulturtheorie (z. B. Böhme 2000; Helsper 2009; Hummrich 2011) von Bedeutung. Werner Helsper hat damit schon früh vor allem auch in Orientierung an den jugendkulturtheoretischen Studien der Cultural Studies (z. B. Helsper 1989; 2015, S. 449 ff.) danach gefragt, was die zunehmende Verschulung der Jugendphase für Jugendliche bedeutet und wie sie sich mit ihren wachsenden Individualitäts- und Autonomieansprüchen zu diesen institutionellen Einbindungen ins Verhältnis setzen. Mit der Perspektive auf Schule als soziales Gebilde, in dem „dominante und dominierte Sinnentwürfe“ permanent ausgehandelt werden, geht es im Schulkulturansatz nicht um die gesellschaftliche Funktion von Schule oder die Bedingungen schulischen Leistungserwerbs, sondern Schulen werden als „akteursgenerierte, strukturelle, symbolische Ordnungen von Diskursen, Praktiken und Artefakten“ (Helsper 2008, S. 66) verstanden, an deren Herstellung Jugendliche genauso mit beteiligt sind wie bspw. Lehrer*innen oder Eltern. Schule ist zwar durch formalstrukturelle Vorgaben ein gewisser Rahmen gesetzt, jedoch sind auf der Ebene der Aktivitätsstruktur Handlungsspielräume auszumachen, die die Einzelschule als soziales Gebilde in den Fokus rücken. Die Arbeiten von Helsper u. a. machen dabei deutlich, dass das Verhältnis von Jugend, Schule und Jugendkultur vor dem Hintergrund unterschiedlicher Schulkulturen zum Tragen kommt, die sich immer auch im Kontext der biographischen und milieuspezifischen Einbindungen der beteiligten Akteure
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e ntfalten. In diesem Sinne arbeitet Werner Helsper auch heraus, wie verschiedene Schulkulturen unterschiedliche Affinitäten zu jugendkulturellen Orientierungen (mit)erzeugen und wie jugendkulturelle Orientierungen gleichsam die schulische und die Unterrichtsordnung mit gestalten (auch Helsper 2015, S. 468). Jugend wird als Forschungsgegenstand der Schulforschung in erster Linie als Objekt und Bedingung schulischer Bildung und Qualifizierung entworfen. Im Kontext der Bildungsforschung erscheinen Jugendliche als Träger*innen von Wissen und Kompetenzen – als Lernsubjekte – und zugleich als Bedingung des Lernerfolgs, indem Jugend in der Schule Gesellschaft mit ihren, den Bildungserfolg moderierenden Ungleichheiten repräsentiert. Jugend als Konstituens und Gestaltungskraft von Schule als eigenlogische Sinnwelten zu betrachten – hierfür stehen innerhalb der Schulforschung die Arbeiten zur Schulkultur, wie sie von Werner Helsper wesentlich initiiert und mitgestaltet wurden.
4 Jugend als Schuljugend in der erziehungswissenschaftlichen Forschung Bernfeld, Meumann und später auch Roth und Mollenhauer beschrieben die Jugendforschung als zentrales Forschungsfeld der Erziehungswissenschaft. Noch bis in die frühen 2000er Jahre wurde Jugend- und Jugendkulturforschung wesentlich aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive betrieben. Dagegen sind das Jugendalter als Lebensphase und kulturelle Ausdrucksformen Jugendlicher als Gegenstandsfelder der Erziehungswissenschaft in den letzten Jahren zunehmend in den Hintergrund gerückt. Im Vergleich zum enormen Bedeutungsgewinn der Lebensphase Kindheit und der Fokussierung empirischer Bildungsforschung auf Fragen der Qualifizierung und des Kompetenzgewinns in Bildungsinstitutionen seit Anfang der 2000er Jahre verliert Jugend als erziehungswissenschaftliche Kategorie ihren prägenden Status (vgl. Grunert 2020). Frühe pädagogische Perspektiven entwarfen Jugend konzeptionell im Spannungsfeld zwischen Risikofaktor und Innovationsinstanz, stimmten aber grundlegend im Verständnis des Jugendalters als pädagogische Gestaltungsaufgabe im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse überein. In der Fortführung dieser Deutung wurde Jugend im erziehungswissenschaftlichen Diskurs der 1960er Jahre in Abgrenzung zur jugendsoziologischen Surveyforschung „vorwiegend [als] ein pädagogisches Phänomen“ gefasst (Roth 1967, S. 450), das unter pädagogischen Fragestellungen, aber im Rückgriff auf psychologische und soziologische Forschungszugänge erziehungswissenschaftlich untersucht werden müsse. Jugend wurde – ähnlich wie bei Bernfeld – als insbesondere über
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die pädagogischen und gesellschaftlichen Verhältnisse regulierte Lebensphase und damit als intergenerationales Verhältnis gefasst (Mollenhauer 1973[1968]). Erziehungswissenschaftliche Jugendforschung richtete deshalb ihr Augenmerk auf das Spannungsverhältnis von zunehmender Pädagogisierung jugendlicher Lebensverhältnisse und den darüber entstehenden Möglichkeits- und Begrenzungsräumen jugendlicher Handlungsmächtigkeit über die Schule hinaus. Dazu gehören die bereits beschriebenen Arbeiten aus dem Kontext der pädagogischen Jugendforschung, die jugendkulturelle Ausdrucksformen im Zusammenhang der Institution Schule (z. B. Projektgruppe Jugendbüro 1975; Helsper 1983, 1989) wie jenseits dieser untersucht haben (u. a. Helsper 1987; Baacke 1987; Zinnecker 1987). Darüber hinaus stellten vor allem biographieanalytische Studien die Bedeutung der Institution Schule für Prozesse der jugendlichen Identitätsbildung heraus (z. B. Beisenherz 1982; Projektgruppe Schule und Subkultur 1983; Abels et al. 1989; Kleinespel 1991; Baacke et al. 1994; Helsper 1983) und trugen gleichzeitig wesentlich zur Etablierung der Schülerforschung bei (vgl. zsfd. Böhme 2003; Zinnecker 2004). Insbesondere die mittlerweile eher selten zu findenden biographisch angelegten Studien zum Jugendalter (z. B. Helsper 1983, 1987, 1989; du Bois-Reymond und Oechsle 1990; Fuchs-Heinritz und Krüger 1991) machen deutlich, dass der Schule als Institution und Lebenswelt in der Sicht von Jugendlichen über die Vergabe schulischer Anerkennung und über die Bewertung von Erfolg oder Versagen einer als Transitionsraum gedachten Jugendphase „gravierende biographische Relevanz“ zukommt (Helsper und Bertram 2006, S. 280). Die frühen Arbeiten von Werner Helsper etwa verweisen auf die Prozessierung von Jugendbiographien durch schulkulturelle Einbindungen und fragen nach dem Anteil von Schule an Subjektivierungsprozessen. Die Einbindung in inner- und außerschulische jugendkulturelle Felder erscheint dabei als ein Weg, den kollektiven schulischen Adressierungen zu begegnen und eigenständige und eigenlogische Praktiken zu entwickeln, die jedoch immer auch an schulische Anerkennungsstrukturen rückgebunden bleiben. Die aus diesen Studien erwachsene begrifflich-terminologische Entwicklung von der Jugend- zur Schülerforschung reflektiert einerseits die übereinstimmend vorgetragene Erkenntnis, dass mit der Schule „gesamtgesellschaftlich eine gestalterische Norm für das Kinder- und Jugendleben fixiert“ wird (Zinnecker 2004, S. 533). Andererseits ist sie auch als Beobachtung einer Verengung des erziehungswissenschaftlichen Forschungsinteresses für das Jugendalter auf den institutionellen Rahmen der Schule zu lesen. Dies zeigt sich vor allem an einer starken thematischen Konzentration der sich ab Ende der 1980er Jahre diversifizierenden Jugendforschung auf das soziale Feld der Schule und die Bildungskarriere. So werden etwa theoretische Auseinandersetzungen, wie die
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Entwicklung der Jugendphase im Kontext gesellschaftlichen Wandels, Fragen der Identitätsentwicklung, der Peer- und Jugendkultur oder der Devianz im Jugendalter im erziehungswissenschaftlichen Zusammenhang auf das Feld der Schule enggeführt (vgl. hierzu Zinnecker 2004; Pfaff 2011; Grunert 2020). Auch aktuelle Studien zur Entwicklung von Bildungskarrieren im Kontext des Zusammenspiels von Schule, Familie und Peers (z. B. Deppe 2015; Kramer et al. 2009, 2013; Krüger et al. 2012; Thiersch 2014) befragen spezifische Konstellationen der Gestaltung des Jugendalters sowie Entwicklungswege von Jugendlichen auf ihre Relevanz für die schulische Bildungsbiographie. Hummrich und Helsper (2011) differenzieren das Verhältnis von Peers und Schule in verschiedene Formen kultureller Passung aus, die von „antagonistischen“, das betrifft „schulentfremdete subkulturelle Jugendstile“ (ebd., S. 48), bis hin zu „harmonischen“ Passungen reichen. Sie schließen damit an frühere Arbeiten aus der Schülerforschung an, die einerseits zeigen, dass Jugendliche auch Widerstände und Abgrenzungen gegenüber schulkulturell verbürgten Leistungs- und Verhaltenserwartungen hervorbringen (z. B. Bietau 1989; vgl. auch Hermann 2014), die aber gleichzeitig deutlich machen wie gerade oppositionelle Bezüge auf schulkulturelle Entwürfe letztlich als Formen der Verbürgung oder gar der Stabilisierung von Schulkultur gelesen werden können (z. B. Helsper 1989; Böhme 2003). Im Unterschied zur Jugendforschung Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts werden jugendliche Ausdrucksformen damit in erziehungswissenschaftlichen Studien nicht mehr in ihrer Eigenlogik betrachtet, sondern als Nebenprodukt oder auch als Gelingensbedingung schulischer Vergesellschaftung entworfen (vgl. kritisch Bennewitz et al. 2015). Im Verbund mit der sich zunehmend etablierenden Empirischen Bildungsforschung dominiert damit aktuell in der Erziehungswissenschaft eine Perspektive auf Jugend als Schul- und Lernjugend und verliert die Erziehungswissenschaft das komplexe Spannungsverhältnis von gesellschaftlicher Regulierung der Jugendphase und jugendlichem Eigensinn aus dem Blick (auch Grunert 2020).
5 Fazit Trifft die Diagnose von Karl Mannheim aus dem Jahr 1928 zu, dass es sich beim Problem Jugend – wie bei dem der historischen Generation – um eine der „heimatlos gewordenen Fragestellungen“ im System der Humanwissenschaften handele, „bei denen alle Wissenschaften ihr Scherflein beigetragen haben, bei denen aber über die Kontinuität der Problematik niemand gewacht hat“ (Mannheim 1928, S. 509)?
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Die hier gegenübergestellten Entwicklungen weisen auf ambivalente und gegenläufige Prozesse der disziplinären Verankerung der Jugendforschung und der Bedeutung der Erziehungswissenschaft in diesem Feld hin: Einerseits dokumentiert sich für das Feld der Jugendkulturforschung in der Fokussierung auf die ästhetischen Ausdrucksformen und sozialen Arenen von Jugendszenen ein Bedeutungsverlust erziehungswissenschaftlicher Perspektiven. Andererseits wird Jugend als Altersgruppe und Lebensphase mit den für sie spezifischen Eigenlogiken, sozialen Beziehungen und Ausdrucksformen in der Schulforschung nur eingeschränkt relevant. Wenn auch in den letzten Jahrzehnten im Kontext von Schülerforschung und Schulkulturforschung Jugend kontinuierlich auch auf ihr spezifisches Verhältnis zur Schule hin befragt wurde, bleibt hier doch eine Perspektive auf Jugend dominant, die Leistungsvermittlung, Ich-Entwicklung und Qualifizierung ins Zentrum rückt. In der Erziehungswissenschaft insgesamt wird Jugendforschung damit zunehmend auf eine institutionen- und leistungsbezogene Perspektive reduziert. Das Programm der rekonstruktiven erziehungswissenschaftlichen Jugendkulturforschung, das als historische Perspektive in der Gegenüberstellung von Jugendkultur und Schule bzw. als Narrativ der Emanzipation der Jugend aus der Schule begann, hat damit entwicklungsgeschichtlich betrachtet eine Forschungsperspektive hervorgebracht, die Jugend der Institution Schule unterwirft, indem familiale und jugendkulturelle Zusammenhänge letztlich auf ihren Beitrag zum Schulerfolg hin befragt werden. Dabei geraten nicht nur die Sinnzusammenhänge, ästhetischen Ausdrucksformen und Bildungsprozesse junger Menschen jenseits institutioneller Bezüge aus dem Blick. Auch Entgrenzungsprozesse der Ausweitung von Schule im Leben von Jugendlichen und der Diffusion schulischer Logiken in andere Lebenszusammenhänge werden weitgehend ausgeblendet. Die unter dem Stichwort ‚Scholarisierung der Freizeit‘ (Fölling-Albers 2000) oder als Übertragung schulischer Logiken auf die Freizeit (Büchner et al. 1996; Zinnecker 2004; Züchner 2007) diskutierten Entwicklungen stellen Jugend als Lebensphase, sozialen Raum und generationale Gestalt grundlegend infrage. Diese Entwicklungen müssen zum Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung werden, will man Pädagogik nicht nur aus gesellschaftlichen Erwartungshorizonten heraus entwerfen, sondern das komplexe Spannungsverhältnis von gesellschaftlicher Regulierung über pädagogische Verhältnisse und jugendlichem Eigensinn als Kern einer jugendtheoretischen Perspektive im Kontext der Erziehungswissenschaft wieder ins Zentrum rücken.
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Wellgraf, S. (2012). Hauptschüler: zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung. Bielefeld: transcript. Willis, P. (1979). Spaß am Widerstand: Gegenkultur in der Arbeiterschule. Frankfurt a. M.: Syndikat. Zinnecker, J. (1987). Jugendkultur 1940–1985. Opladen: Westdeutscher Verlag. Zinnecker, J. (1988). Zukunft des Aufwachsens. In J. J. Hesse & H.-G. Rolff (Hrsg.), Zukunftswissen und Bildungsperspektiven (S. 119–139). Baden-Baden: Nomos. Zinnecker, J. (1991). Jugend als Bildungsmoratorium. Zur Theorie des Wandels der Jugendphase in west- und osteuropäischen Gesellschaften. In W. Melzer, W. Heitmeyer, L. Liegle, & J. Zinnecker (Hrsg.), Osteuropäische Jugend im Wandel (S. 9–24). Weinheim: Juventa. Zinnecker, J. (2004). Schul- und Freizeitkultur der Schüler. In W. Helsper & J. Böhme (Hrsg.), Handbuch der Schulforschung (S. 501–528). Wiesbaden: VS Verlag. Züchner, I. (2007). Ganztagsschule und die Freizeit von Kindern und Jugendlichen. In H. G. Holtappels, E. Klieme, T. Rauschenbach, & L. Stecher (Hrsg.), Ganztagsschule in Deutschland (S. 333–352). Weinheim: Juventa.
Prof. Dr. Cathleen Grunert, ist Leiterin des Arbeitsbereiches ‚Soziokulturelle Bedingungen von Erziehung und Bildung‘ an der Universität Halle-Wittenberg. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Kindheits- und Jugendforschung, der Professionsforschung und der Wissenschaftsforschung. Prof. Dr. Nicolle Pfaff, leitet die Arbeitsgruppe Migrations- und Ungleichheitsforschung an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Jugendforschung, der Schulforschung und der bildungsbezogenen Ungleichheitsforschung.
Teil II Jugendkultur und Schule
Adoleszenz und Schule – Fallstudie und Theoriebildung bei Werner Helsper Heiner Ullrich
Zusammenfassung
Im Mittelpunkt vieler Fallstudien von Werner Helsper stehen – wie hier exemplarisch in seinem frühen Fall „Anne“ – die Selbstkrisen Heranwachsender im Spannungsfeld familialer, schulischer und peerkultureller Sozialisationsprozesse. Die theoretische Reflexion der Fallstudien erfolgt anfangs im Rahmen einer sozialwissenschaftlich erweiterten neo-psychoanalytischen Theorie des Selbst und einer soziologischen Diagnose der Individualisierungsprozesse in der modernisierten Jugendphase. Im Fortgang seiner Jugend- und Schulforschung errichtet Werner Helsper für die Fallinterpretation ein weit ausgreifendes Theoriegebäude, das mit Bezugnahme auf Oevermann zunächst die grundlegende Ablösungskrise der Adoleszenz im Prozess der Individuation ausdifferenziert. Daneben treten eine kulturanthropologisch belehrte Theorie der Schulkultur und das an Bourdieu anknüpfende Konzept des habituellen Passungsverhältnisses. Die Lehrer-Schüler-Beziehung wird als ein von Anerkennungsverhältnissen getragenes pädagogisches Arbeitsbündnis begriffen und das pädagogische Handeln selbst wird strukturtheoretisch als ein von konstitutiven Antinomien bestimmtes interaktives Vermittlungsgeschehen bestimmt. Während es in der Theoriebildung somit zu einer intellektuellen Elaboration und Transformation in der Beziehung zwischen dem Forscher Werner Helsper und seinen Fälle gekommen ist, ist seine grundlegende
H. Ullrich (*) Fachbereich 02: Institut für Erziehungswissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Gibson et al. (Hrsg.), Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25094-2_5
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ympathie für deren Versuch einer „Subjektivitäts-Rettung durch EntsubjektiS vierung“ in der Krise der Adoleszenz bis heute konstant geblieben. Schlüsselwörter
Adoleszenzkrise · Anerkennungsverhältnisse · Antinomien · Arbeitsbündnis · Habituelles Passungsverhältnis · Individualisierung der Jugendphase · Individuation · Jugendkultur · Lehrer-Schüler-Beziehungen
Im Mittelpunkt der frühen Fallstudien von Werner Helsper stehen die Selbstkrisen Heranwachsender im Zusammenhang familialer und schulischer Sozialisationsprozesse sowie die Bedeutung jugendlicher Gegenkulturen für ihre Individuation. Der zentrale Ort der Begegnung zwischen dem Jugendforscher und seinen schul-oppositionellen Interviewpartnerinnen und -partnern ist die „Mensa-Szene“ einer Schule – und zwar der zu Anfang der 1970er Jahre gegründeten ganztägigen Modell-Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe in einer Großstadt des Ruhrgebiets. Diese Reformschule bildet auch den Schauplatz für die Fallstudie „Anne“, bei der wir die Bedeutung von Lehrer-Schüler-Beziehungen in der Adoleszenz besonders akzentuieren wollen. Wir werden die hierbei gewonnenen Begriffe und Konzepte dann mit denjenigen aus späteren Fallstudien vergleichen, um von hier aus einen Blick auf die fortschreitende Entwicklung der Theorie-Architektur der Schul- und Jugendforschung von Werner Helsper zu werfen.
1 Anne – die „hoffnungslose Heldin“ Anne ist „eine gute Schülerin, die phantasievoll und kreativ ihren Alltag gestaltet und für eine 17 jährige über ein außerordentliches Reflexionsvermögen und brillante intellektuelle Fähigkeiten verfügt“ (Helsper und Breyvogel 1989, S. 29). Der Fallstudie liegen Daten aus 15 narrativen Tiefeninterviews über einen Zeitraum von ca. drei Jahren zugrunde sowie autobiographische Zeugnisse und Tagebuchaufzeichnungen und langjährige Feldkenntnisse über die Reformschule und ihren jugendkulturellen Kontext. Anne fällt auf durch ihre schuloppositionelle Haltung bzw. „verwilderte“ Subjektivität, die sich auch in der familialen Interaktion manifestiert. Im Alter von zwölf und fünfzehn Jahren hat sie zwei Suizidversuche unternommen. Zum Zeitpunkt der Interviews bezeichnet sie sich als „erste Punkerin“ in ihrer Stadt.
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Anne hat noch drei jüngere Brüder. Ihre Mutter ist Hausfrau und fordert von ihr die Unterordnung unter eine traditionelle häusliche Mädchenrolle. Da sich Anne diesen Erwartungen bezüglich Kleidung, Ausgehzeiten und Hausarbeit nicht fügt und auch ihrem eher passiv agierenden Vater keinen Respekt entgegenbringt, wird sie von ihrer Mutter geschlagen. Obwohl sie in diesem problembelasteten und destruktiven familialen Milieu massiv leidet, gibt sie nicht auf. Aufgrund ihrer familialen Entwertung als Mädchen tendiert sie in ihrer imaginären Selbststilisierung zu einem männlichen Selbstbild. Sie „entwirft sich im Kampf um Autonomie, Stärke und Einzigartigkeit als ‚hoffnungslosen Helden‘, der grenzenlos autonom ist“ (ebd. S. 30). Die Kehrseite dieser Omnipotenzphantasien aus übersprungener Weiblichkeit ist eine tiefe Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Freundschaft und Bindung. Sie erfüllt sich für Anne in der jugendlichen Gegenkultur des Punk: „Am Punk fasziniert Anne somit die Vorstellung ‚Mitglied‘ zu sein, aber dabei zugleich völlig individuell sein zu können, dass Punk eine Gruppierung darstellt, ‚die sich durch absolute Freiheit auszeichnet‘“ (Helsper 1992, S. 131). Annes Kampf um Autonomie und um das Recht auf „Anders-Sein“ durchzieht auch alle ihre Interaktionen in der Schule sowohl mit ihren Lehrern als auch mit ihren Mitschüler*innen. Sie rebelliert gegen die subjektfernen Anforderungen der Schulfächer und gegen die Formen der ständigen Bewertung – am heftigsten im Mathematik- und Deutschunterricht. „Der schulische Lernstoff Mathematik wird für Anne zu einem Gegenstand, der die Vernichtung ihrer Subjektivität von ihr einfordert. Indem sie sich dem System der Zahlen verweigert, dagegen ihre eigene ‚unbegründete Willkür‘ setzt, behauptet sie gegenüber dem System ihr ‚Nicht-Unterworfen-Sein‘, rettet ihre Subjektivität“ (Helsper 1983, S. 43.). Am heftigsten kommt ihr Kampf um Souveränität in den Klassenarbeiten zum Ausdruck. Darin distanziert sie sich von den gestellten Aufgaben, stellt sie grundsätzlich infrage oder produziert beispielsweise im Deutschaufsatz statt der geforderten Textinterpretation eigene poetische Texte. Sowohl ihr Mathematiklehrer als auch ihre Deutschlehrerin lassen sich ein Stück weit auf Annes phantasievolle Verweigerung der Anforderungen und auf ihren Kampf um Anerkennung ihrer Subjektivität ein. Die Beziehungen zwischen diesen Lehrer*innen und Anne gehen in ihrer von emotionalem Engagement und pädagogischem Verstehen bestimmten Dynamik weit über die institutionellen Rollenbeziehungen hinaus. „Anne findet die Anerkennung des Lehrers nicht, weil sie Mathematik beherrscht, nicht als Schülerin, sondern weil sie einzigartig und phantasievoll verweigert, Schülerin zu sein. Die Interaktion findet auf einer persönlichen Beziehungsebene statt, wo der
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Lehrer schließlich zu erwarten scheint, (zumindest erlebt Anne dies so), dass sie immer wieder phantasievoll ihre Schülerrolle verweigert“ (ebd. S. 44). Und mit ihrer Deutschlehrerin versteht sich Anne so gut, dass sie auf der Basis einer starken emotionalen Anerkennung eine heftige Auseinandersetzung mit ihr über ihr Menschenbild führen kann, das von Autonomie und Einzigartigkeit bestimmt ist. „Das war ihr allerdings nur möglich, weil sie in der Deutschlehrerin – und diese steht für viele ähnlich orientierte Lehrer dieser Gesamtschule – auf eine subjektorientierte, an der Person der Jugendlichen anteilnehmende Lehrerin stieß, die Anne in ihrem ‚Kampf‘ um das Selbst, gegen Tod und Destruktion ein wirkliches Gegenüber war“ (Helsper und Breyvogel 1989, S. 33). Im Disput mit ihr konnte sich Anne artikulieren – anders als in ihrer problembelasteten Familie. Werner Helsper arbeitet schon in dieser frühen Fallstudie die biografische Bedeutsamkeit von Lehrer-Schüler-Beziehungen in der Adoleszenz heraus, die von emotionaler Nähe und partikularer Anerkennung bestimmt und sozusagen rollenmäßig „entgrenzt“ sind. Sie können zumal in der Selbstkrise der Adoleszenz durchaus kompensatorische und stabilisierende Wirkungen entfalten. Werner Helsper macht dabei aber nicht nur auf ihre pädagogische Produktivität aufmerksam, sondern ebenso auf ihre Riskanz, z. B. ihre Anfälligkeit für die Übertragung unbewusster familialer Beziehungsprobleme bei Anne. So stellt er fest, dass die „Spannung zwischen dem positiven Pol der Nicht-Ausgrenzung sowie der Anknüpfung an subjektiv Bedeutsames und der Gefahr, dass Jugendliche gerade dadurch letzte Schutzmechanismen verlieren können und im institutionellen Zusammenhang viel verletzbarer sind, […] eine unumgängliche Spannung [ist], um die jeder engagierte und an der Subjektivität der Schüler orientierte Lehrer wissen muss, der er sich stellen und die er ausbalancieren muss“ (Helsper 1983, S. 46). Wenn diese Balance misslingt und der nötige „Sicherheitsabstand“ nicht mehr aufrechterhalten wird, kommt es gleichsam zu einer „Aufspaltung“ der Lehrkraft in zwei Personen, die nicht mehr zu integrieren sind: in einen Lehrer, der aus persönlichem Engagement eine emotional geprägte symmetrische Beziehung zur Schülerperson eingeht, und in eine Lehrperson, welche die inhaltlichen und disziplinarischen Anforderungen sowie die Beurteilungsnormen der Institution Schule konsequent vertritt. Enttäuschte Nähe-Wünsche und Vertrauensverluste sind zwangsläufig die Folge (vgl. die Fallstudie „Tim der ‚Schläger‘“ in Combe und Helsper 1994, S. 84 ff.). Dass Anne nicht versagt, sondern ihre Schullaufbahn mit dem Abitur abschließt, liegt auch am pädagogischen Profil ihrer „reformorientierten, informalisierten“ Schule und am Engagement ihrer „fortschrittlich“ eingestellten jungen Lehrerschaft. Diese Modell-Gesamtschule für fast 2000 Schüler erlebt sie als
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einen Ort der Anerkennung und Freisetzung aus der Enge und Zwangshaftigkeit der Familie. Diese Schule ist ein zentraler Ort der Jugendkultur der Stadt M., wo Anne mit vielfältigen Formen jugendlichen Lebens ebenso konfrontiert ist wie mit „ungewöhnlichen Formen von Erwachsenheit im Rahmen der Gesamtschullehrerschaft (ca. 150 Lehrer), die ein postadoleszent-erwachsenes Feld kultureller Suchbewegungen bilden“ (Helsper 1992, S. 116 f.).
2 Selbstkrise und Individualisierung – die ersten theoretischen Grundpfeiler Werner Helsper interpretiert die Adoleszenzkrise Annes größtenteils im Rahmen zweier theoretischer Diskurse: einer sozialwissenschaftlich erweiterten neo-psychoanalytischen Theorie des Selbst und einer soziologischen Diagnose der Individualisierungsprozesse in der modernisierten Jugendphase. Die hermeneutische Fallrekonstruktion erfolgt auf einer materialgesättigten Grundlage in einer methodologisch weitgehend ungebundenen Weise. Zentraler Ausgangspunkt für seine Theorie der Selbstgenese ist der Rückgriff auf Lacans begriffliche Spaltung des Subjekts in ein reflexives imaginäres Selbst und in ein vorgängiges nicht-reflexives Ich. Nicht der Ich-Entwicklung im Sinne eines kompetenzstufenbezogenen Subjekt-Konzepts, sondern der Herausbildung des sich geradezu zwangsläufig verkennenden imaginären Ideal-Selbst mit seinen sozialisatorisch vermittelten Selbstansprüchen wird zentrale Bedeutung für den Individuationsprozess zugeschrieben. Dieser ist zugleich ein Sozialisationsprozess, der sich in vier Schritten vollzieht: „erstens über die Herstellung einer anfänglichen familialen Symbiose, zweitens über die frühkindliche Herauslösung aus dieser Symbiose und die Differenzierung von Selbst und Anderem, drittens über die Öffnung der dyadischen Beziehung durch die Einführung eines ‚Dritten‘ in der ödipalen Triade und schließlich viertens in der Durcharbeitung der partikularen Identifikationen mit den Eltern im Laufe der Adoleszenz“ (Combe und Helsper 1994, S. 109). Auf dieser vierten Stufe der Individuation spielen der schulische Interaktionskontext und die Beziehungen zur jugendlichen peer-culture eine ebenso bedeutsame Rolle. In der „zweiten psychischen Geburt“ der Adoleszenz erfolgt eine „starke Wiederbelebung der strukturell grundgelegten, sozialisatorisch verankerten und je nach sozio-kulturellem Milieu ausgeformten Selbstkrisen und familialen Objektbeziehungen, allerdings auf einem neuen Niveau der Ich- und
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Kompetenzentfaltung, neuer und für Jugendliche spezifizierter Erwartungen oder ‚Entwicklungsaufgaben‘ und von daher neuer Möglichkeiten der Individuierung und Selbstentfaltung“ (Helsper und Breyvogel 1989, S. 35). Der adoleszente „Kampf um das Selbst“ ist eine universalisierte Problematik gegenwärtiger Jugend, die umso dramatischer verläuft, je instabiler das zuvor gebildete Selbst ist und je höher die von ihm verinnerlichten Ansprüche sind, die in der Moderne vom zentralen „Mythos des souveränen Ich“ bestimmt sind (vgl. Helsper 1992, S. 108 f.). Den zweiten konzeptionellen Grundpfeiler im Frühwerk von Werner Helsper (1991a) bildet eine modernisierungstheoretische Reflexion der Jugendphase unter dem Aspekt ihrer Individualisierung. „Prägnant gefasst besagt diese, dass entsprechend den soziokulturellen Freisetzungsprozessen, der Auflösung von kulturell übergreifenden Sinnsystemen, Traditionen, normativen Ordnungen und (religiösen) Weltdeutungen sich für Jugendliche zusehends früher eine individuelle Freisetzung und ‚Entbindung‘ ergibt, die Jugendphase damit aus der Engführung einer familial und milieuspezifisch festgefügten Statuspassage im Sinne sozialer Vererbung entlassen wird und sich für verschiedene Verläufe öffnet“ (ebd., S. 16). In der Moderne, einer „Kultur des Selbst“, werden somit durch die Universalisierung und zeitliche Ausdehnung der Jugendphase für immer mehr Jugendliche die Verselbständigung und reflexive Distanzierung von ihrem Herkunftsmilieu möglich; individuelle Autonomie und die freie Wahl zwischen unterschiedlichen Lebensformen werden zu zentralen Selbstansprüchen. „Die Adoleszenz [ist] durch ein imaginär dominiertes ‚autonom-institutionelles‘ Selbst gekennzeichnet, das im kulturellen und sozialisatorischen Modernisierungsprozess zugrunde gelegt und als kulturell hegemonialer Selbstentwurf Jugendlicher verallgemeinert wird“ (Helsper 1991b, S. 80). Dieses moderne Selbstideal ist aber in sich spannungsvoll: die Kehrseite der frühen Verselbstständigung und Freisetzung ist die notorische Überlastung durch Reflexionsansprüche, die Kehrseite der vielen Individualisierungsmöglichkeiten ist die Entwurzelung des Subjekts, seine Austauschbarkeit und Kontingenz. „Mit der Universalisierung des autonom-individuierten Selbst der Adoleszenz steigt die Last der imaginären Selbstansprüche. Die Arbeit am Selbst wird zusehends unabschließbar und tendiert zur Sisyphusarbeit“ (ebd. S. 88). In einem späteren Beitrag hat Werner Helsper die Ambivalenzen bzw. „subjektkonstitutiven Paradoxien“ des modernen Selbst im Stadium der „Entzauberung“ der Individualisierung als aufgenötigter Subjektformation noch einmal präzisiert. Das moderne Selbst ist offen in der Gestaltung seines Lebenslaufs und zugleich von Orientierungskrisen bedroht; es ist besonders differenziert, aber auch unabgeschlossen in seiner Identität; es ist besonders reflektiert, steckt aber auch im Dilemma seiner Selbstbezüglichkeit; und es ist besonders
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individualisiert, was zugleich mit sozialen und metaphysischen „Heimatverlusten“ verbunden sein kann. Diese Dekonstruktion der Selbst-Individualisierung leistet zugleich eine „Selbstaufklärung des Subjekts über seine Selbst-Mythen“ (Helsper 1997, S. 181), welche im gegenwärtigen Stadium der reflexiven Moderne gerade auch die Jugendphase dominieren. In seinen frühen Studien entwirft der Jugendforscher Werner Helsper noch keine theoretischen Konzeptionen zur Erforschung der Struktur von Lehrer-Schüler-Beziehungen und der Organisation von Schule, sondern nur ein immer komplexer werdendes Begriffstableau. Bei der Beschreibung der auf Symmetrie gerichteten pädagogischen Beziehungen zwischen der rebellierenden Schülerin Anne und ihren „anti-institutionellen“ Gesamtschullehrer*innen arbeitet Werner Helsper präzise die Spannungen und Ambivalenzen heraus, welche durch die besondere persönliche Nähe und Intensität entstehen. Er befindet sich hier begrifflich sozusagen schon auf dem Weg zu seinem späteren Konzept der Antinomien im professionellen pädagogischen Handeln. Den Mittelpunkt seiner Reflexionen bildet die Frage nach den Wirkungen der Schule auf die Sozialisationsprozesse Jugendlicher. Dabei ist stets von „der“ Schule die Rede, noch nicht von einer Pluralität unterschiedlicher Einzelschulen. In der allerersten Arbeit dominiert eine primär schulkritische Perspektive, die u. a. an die Essays eines Horst Rumpf erinnert. Demnach bedeutet Leben und Lernen in der Schule primär Einschränkung, oft auch Aberkennung oder Verletzung von Subjektivität. „Der schulische Interaktionskontext [wirkt] wenig produktiv und unterstützend im jugendlichen Kampf um das Selbst. Vielmehr sind die schulischen Lernprozesse selbst durch grundlegende Sinn-, Legitimations- und Motivations-Krisen gekennzeichnet, wie durch Symptome einer Entsinnlichung, sinnlich expressiver Verödung und mangelnder Intensität, die sich in Form von Selbstkrisen auf der Ebene der Subjekte niederschlagen können“ (Helsper und Breyvogel 1989, S. 37). Werner Helsper (1991a) verharrt allerdings nicht in dieser strikt negativen Sicht auf die „dekontextualisierte Leistungskultur“ der Institution Schule; vielmehr betont er zunehmend auch ihre Bedeutung für die personalen Bildungsprozesse der Heranwachsenden: „Distanz und Herauslösung aus dem Herkunftsmilieu, Offenheit für Neues, kognitive und soziale Flexibilität, formal-abstrakte Denkprozesse und Motivation, Orientierung auf individuelle Fähigkeit und individuelles Leistungsstreben, auf Langsicht und Selbstzwang sind Bestandteile einer schulisch mit erzeugten ‚individuellen Modernität‘, die zugleich auch Einsozialisation in strategisches Handeln ist“ (ebd., S. 20 f.). Schule bedeutet also nicht nur entsinnlichtes und subjekt-entfremdetes Lernen, sondern ermöglicht auch die Herstellung einer „modernisierten Individualitätsform“, die besonders „offen, differenziert, reflexiv und individuiert ist“
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(Helsper und Breyvogel 1989, S. 38). Aufs Ganze gesehen müssen die Wirkungen der Schule antinomisch begriffen werden – als Individualisierung und Entindividualisierung zugleich.
3 Schulkultur, habituelle Passung, Arbeitsbündnis, pädagogische Antinomien – die maßgeblichen Erweiterungen in der Theorie-Architektur Im Fortgang seiner Forschungen hat Werner Helsper auf den beiden theoretischen Grundpfeilern der Adoleszenzkrise und Individualisierung der Jugendphase ein weitläufiges Theoriegebäude errichtet, das Konzepte wie Schulkultur, Habitus, Arbeitsbündnis und pädagogische Professionalität umfasst, die im Folgenden nur ansatzweise und skizzenhaft vorgestellt werden können. Auf die gleichsam parallel dazu verlaufende methodologische Schärfung der Verfahren seiner sozialwissenschaftlichen Hermeneutik kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden. Der erste Grundpfeiler der Adoleszenzkrise wird strukturtheoretisch neu gefasst (vgl. Helsper 2014, S. 133 ff.). In enger Anlehnung an Ulrich Oevermann unterscheidet Werner Helsper vier grundlegende Ablösungskrisen im Prozess der Individuation: die erste soziale Krise der Geburt, in der sich der Körper organismisch verselbstständigt und sich dabei schon die Generations- und Milieuspezifik in ihn einlagert; die zweite soziale Krise der symbiotischen Beziehung, worin auf der Grundlage einer exklusiven Liebesbeziehung zu einem signifikanten Anderen ein von diesem getrenntes soziales Selbst entsteht; die dritte soziale Krise der ödipalen Triangulation, in der durch die familiäre Identifikation mit dem nach draußen weisenden Dritten die erste Form eines autonomen Selbst entsteht; und schließlich die vierte soziale Individuationskrise der Adoleszenz, in der sich durch die pubertäre Veränderung des Körperselbst eine selbstverantwortete Neujustierung des Verhältnisses zum eigenen Selbst, zu den Eltern, den Peers, der Schule ergibt. Die Adoleszenz ist somit die Zeit der Auseinandersetzung mit dem familialen und milieuspezifischen Erbe und zugleich ein Entstehungsort des Neuen. Der zweite theoretische Grundpfeiler – das soziologische Konzept der Individualisierung und Pluralisierung der Jugendphase – trägt in den späteren Fallstudien ein verändertes Gewicht. Zwar knüpfen die Arbeiten von Werner Helsper weiterhin an den modernisierungstheoretischen Diskurs an, der für die Jugendphase eine „Verlängerung, Vorverlagerung, Ausdifferenzierung, Biographisierung und Anreicherung mit jugendkulturellen Optionen, eine Verlagerung der Ansprüche auf Selbstständigkeit Eigenverantwortlichkeit und Entscheidungskompetenz in
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immer früheren Lebensspannen bis in die Kindheit hinein [diagnostiziert]“ (Helsper et al. 2009, S. 28). Dieser Diskurs hebt allerdings inzwischen auch stärker auf die Schattenseiten der Individualisierung ab, auf Formen der Desorientierung, Destabilisierung und Ausgrenzung; und immer mehr Beachtung finden die Modernisierungsambivalenzen, die sich aus neuen Prozessen der Beschleunigung, Standardisierung und Normalisierung des Sozialen ergeben, welche in enger Verbindung zu globalen ökonomischen Rationalisierungsprozessen gesehen werden müssen. Und schließlich wird das theoretische Konzept der Individualisierung schon seit längerem durch die Wiederentdeckung der sozialen Ungleichheit in den Bildungsprozessen Heranwachsender, konkret durch den Aufweis milieuspezifischer habitueller Prägungen relativiert (vgl. Helsper et al. 2015, S. 14). Einen völlig neuen Bereich in der Helsperschen Theoriearchitektur stellt die für seine qualitativ-rekonstruktive Schul- und Bildungsforschung maßgeblich werdende Theorie der Schulkultur dar. Grundlegend ist ein weiter ethnographischer Begriff der Schulkultur, der in der Spur kulturanthropologischer Studien auf jeden normativen Anspruch – sei es bildungspolitischer oder pädagogisch-praktischer Art – verzichtet. In dieser rein deskriptiven Perspektive besitzt jede einzelne Schule ihre Schulkultur, welche auf der Folie ihrer spezifischen Geschichte und ihrer sozialräumlichen Bedingungen sowie unter den jeweiligen Vorgaben der Lehrerschaft von allen an der Schule agierenden Personengruppen hervorgebracht wird. „Die jeweiligen Schulkultur stellt die einzelschulspezifische Strukturvariante dar, in der die Strukturprobleme des Bildungssystems und die grundlegenden Antinomien des pädagogischen Handelns – die selbst sinnkonstituiert sind – je spezifisch gedeutet werden und in symbolischen pädagogischen Formen, Artefakten, Praktiken, Regeln, imaginären Sinnentwürfen und schulischen Mythen ihren jeweiligen Ausdruck finden“ (Helsper 2008b, S. 122). Die kulturelle Ordnung einer Schule ist mehr oder weniger deutlich durch Dominanzstrukturen charakterisiert, zu denen auch ein je spezifisch ausgeprägter „dominanter Schulmythos“ gehört, durch welchen zu bestimmten Anlässen über die Struktur- und Handlungsprobleme der Schule hinweg ein pädagogischer Sinnentwurf für alle erzeugt werden soll. Das Konzept der Schulkultur lässt sich systematisch in einem ersten Schritt – gleichsam in der Vertikalen – weiter entfalten als das spannungsvolle Verhältnis zwischen den drei Sinn-Ebenen des Realen, des Symbolischen und des Imaginären. Das Reale bezeichnet die gesellschaftlich gegebenen Strukturen und Funktionen des Bildungssystems, mit denen sich die verschiedenen sozialen Akteure der Einzelschule handelnd auseinandersetzen müssen, um ihre spezifische Strukturvariante auszugestalten. Das Symbolische umfasst die konkreten alltäglichen Interaktionsprozesse der schulischen Akteure im Unterricht und im Schulleben,
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in denen sie die auf die Strukturvorgaben des Realen bezogenen Handlungs- und Deutungsmuster erzeugen. Das Imaginäre schließlich stellt die Ebene dar, auf der die Institution durch individuell oder kollektiv Handelnde sich auf sich selbst bezieht. Dies ist der Ort der Selbstdarstellung der Schule vor sich selbst und vor der Öffentlichkeit, z. B. ihres Schulprogramms. Die zentrale Ausdrucksgestalt dieser Sinnebene ist der dominante Schulmythos. Auf der Horizontalen lassen sich in einem zweiten Schritt die unterschiedlichen Sinn-Dimensionen der Schulkultur unterscheiden. Im Rahmen des Schulkulturkonzepts erhält der Schulmythos als zentrale Ausdrucksgestalt einer Schule eine herausgehobene Bedeutung. Er ist zwar auch schon in alltäglichen Ritualen präsent, manifestiert sich aber in gesteigerter Form bei außeralltäglichen Anlässen, z. B. bei Festen und Feiern. Den Schulmythos kann man als einen zugleich kreativen und riskanten Versuch der Sinnstiftung betrachten; seine Bilder vom idealen Schüler und Lehrer sollen identitätsbildende Kraft für die Schule entwickeln, was allerdings kaum ohne eine verkennende Überhöhung ihrer alltäglichen Praxis möglich ist. Jede Einzelschule erzeugt als Schulkultur „mit ihren Dominanzverhältnissen […] ein Feld von exzellenten, legitimen, tolerablen, marginalisierten und tabuisierten kulturellen Ausdrucksgestalten, Praktiken und habituellen Haltungen, das zwar keine einfache Fortsetzung milieuspezifischer Habitusformen darstellt, aber zu diversen milieuspezifischen, ethnischen, geschlechtsspezifischen etc. habituellen Sinnstrukturen in einem Passungs- oder Abstoßungsverhältnis steht“ (Helsper 2008a, S. 67). Mit diesem Gedanken der Schule als „Institution-Milieu-Komplex“ sind wir auf einen weiteren neuen theoretischen Baustein der Helsperschen Schul- und Jugendforschung gestoßen – auf das Konzept des habituellen Passungsverhältnisses, z. B. zwischen Schulkultur und dem familialen Milieu. Grundlegend ist der Habitus-Begriff Bourdieus, der sowohl als inkorporierte Struktur in den Subjekten als auch als objektivierte Struktur in einem sozialen Feld – „als eine in kulturellen Praktiken, Haltungen und Orientierungen in alltäglichen, konkret situierten Erfahrungsräumen sich artikulierende und zum Ausdruck kommende sinnstrukturierte Praxis rekonstruiert werden [kann]“ (Helsper et al. 2014, S. 25). Somit ist zwischen einem primären familialen und milieuspezifischen Schülerhabitus einerseits und einem sekundären schulkulturellen Habitus andererseits zu unterscheiden. „Für das Zusammenspiel des schulisch geforderten Habitus und des familiär erzeugten ‚primären‘ Habitus bedeutet dies, dass jene Schüler am ehesten an die schulischen Anforderungen anzuknüpfen vermögen, deren primärer Habitus bereits jene Haltungen, Praktiken und Orientierungen enthält, die im schulischen Feld gefordert sind und prämiert werden. Für jene Schüler, deren primär einsozialisierte Haltungen und Praktiken zu den schulischen Anforderungen
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in einem deutlichen Spannungsverhältnis stehen – also nicht passen – wird das Scheitern wahrscheinlich bzw. die Anstrengung immens, um dieses Scheitern zu verhindern oder um Erfolg trotz widriger Ausgangslagen zu sichern“ (ebd. S. 15). So lassen sich beispielsweise bei Siebtklässlern sieben Typen des Bildungshabitus unterscheiden, die von einem Habitus der Bildungsexzellenz bis zu einem Habitus der schulischen Bildungsferne und Hilflosigkeit reichen (vgl. Kramer et al. 2013, S. 217). In spannungsvollen oder homologen habituellen Passungsverhältnissen befinden sich die Schüler*innen nicht nur zu ihrer jeweiligen Schulkultur, sondern ebenso im Bereich der Freizeit zu den Jugendkulturen ihrer Peers. Das Passungsverhältnis zwischen Schüler*in und Schule wird auch durch die jeweilige Konstellation der Anerkennungsbeziehungen in der Familie und in der Schule erzeugt. Mit der theoretischen Konzeption der Anerkennungsverhältnisse in den sozialisatorischen Feldern knüpft Werner Helsper an die sozialphilosophischen Arbeiten von Axel Honneth an. Dementsprechend wird zwischen den drei Dimensionen der emotionalen, moralischen und individuellen Anerkennung unterschieden. „Dabei wird emotionale Anerkennung als Voraussetzung der Entstehung von Selbstvertrauen und Sicherheit gefasst; (kognitive) moralische Anerkennung als Voraussetzung der Selbstachtung ein gleichberechtigtes Mitglied sozialer Zusammenhänge zu sein; individuelle Anerkennung als Voraussetzung für das Selbstwertgefühl, dass die eigene Individualität sozial geschätzt und beachtet wird“ (Helsper und Krüger 2006, S. 15). Diese drei Dimensionen der Anerkennung dienen als heuristischer Rahmen für die empirische Rekonstruktion der schulkulturellen Ausgestaltung der Mikroebene der Interaktionsprozesse, z. B. in der Schulklasse oder im Lehrerkollegium. Mit dieser theoretischen Brille werden Schulkulturen sowohl auf ihrer imaginären als auch auf ihrer symbolisch-interaktiven Sinn-Ebene als je spezifisch ausgeformte Anerkennungsräume erfasst, die in Kongruenz- oder Komplementaritätsverhältnissen zu den milieuhaft-familialen Feldern stehen können. Diese lassen sich bezüglich einer jeden der drei Dimensionen jeweils als Kongruenz- oder als Komplementaritätsverhältnisse beschreiben. Nicht nur die Organisation Schule, sondern auch die L ehrer-SchülerBeziehungen und das pädagogische Handeln als solches erfahren durch Werner Helsper eine weitergehende systematische Begründung – und erweitern damit die Theorie-Architektur seiner Forschungen. Auf Überlegungen Ulrich Oevermanns fußend konzipiert Werner Helsper einen strukturtheoretischen Ansatz der pädagogischen Professionalität. Lehrpersonen sind demnach – wie Anwälte, Ärzte oder Psychotherapeuten – Professionelle. Diese Berufe sind mit der stellvertretenden Krisenlösung z. B. in Fragen der Gesundheit, Gerechtigkeit und Bildung beauftragt, um unter einzelfallbezogener Anwendung wissenschaftlichen
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Wissens und mit der aktiven Mitwirkung ihrer Klienten deren Handlungsfähigkeit und lebenspraktische Autonomie (wieder-)herzustellen. In Analogie zur psychoanalytischen Therapie wird auch der Strukturkern des pädagogischen Handelns in der autonomen Praxis eines Arbeitsbündnisses gesehen, das die Lehrperson zur Vermittlung von Wissen und Normen mit den Schülern als Klienten eingeht. Den Kindern und Jugendlichen soll durch die Gestaltung ihrer Bildungsprozesse die Mündigkeit und Handlungsfähigkeit ermöglicht werden, zu der sie von sich aus noch nicht fähig sind. Im pädagogischen Arbeitsbündnis stellen die Neugier des Kindes und sein Wissensdrang das Äquivalent zum Leidensdruck in der therapeutischen Beziehung dar. Im Bereich der Schule geht die Lehrperson ein dreistelliges Arbeitsbündnis ein – eines mit dem Schüler, eines mit dessen Eltern und eines mit allen Schüler*innen der Klasse. „Das Arbeitsbündnis wird insbesondere dann zu einer mächtigen, pädagogisch produktiven Form, wenn es als reziprokes, gemeinsam durch Schüler und Lehrer getragenes Arbeitsbündnis in Übereinstimmung mit der schulkulturellen Ordnung zustande kommt, weil sich dann die übergreifende symbolische Ordnung der Schule, die konkrete interaktiv generierte Ordnung des Arbeitsbündnisses sowie die inkorporierten individuellen Haltungen homolog ergänzen und potenzieren“ (Helsper et al. 2009, S. 355). Das professionelle pädagogische Handeln bestimmt Werner Helsper als einen von Ungewissheitsrisiken und stetem Entscheidungsdruck belasteten interaktiven Vermittlungsprozess von Wissen und Normen, der in einer grundlegenden asymmetrischen Beziehung stattfindet. Pädagogisches Handeln ist durch konstitutive Antinomien bestimmt, durch widerstreitende Orientierungen, die entweder beide zugleich gültig oder prinzipiell nicht aufhebbar sind. Hier sollen nur die vier geläufigsten angeführt werden. 1) Die Antinomie von Autonomie und Heteronomie bringt zum Ausdruck, wie stark die pädagogische Absicht, die Heranwachsenden zur Mündigkeit zu führen, von vielfältigen sozialen Zwängen und begründeten Einschränkungen bestimmt ist. 2) Die Antinomie zwischen Einheit und Differenz macht beispielsweise deutlich, dass Lehrerhandeln auf Gleichbehandlung verpflichtet ist, obwohl die Schüler einer Klasse höchst unterschiedlich sind und sehr unterschiedlicher Wege der Förderung bedürfen. 3) Die Antinomie zwischen Organisation und Interaktion weist darauf hin, dass das Lehrerhandeln im Rahmen organisierter Regeln und Routinen stattfindet. Diese können einerseits durchaus entlasten, aber auch die Offenheit kommunikativer und inhaltlicher Bildungsprozesse beschneiden. 4) Die Antinomie von Nähe und Distanz verdeutlicht, dass das Lehrerhandeln – je nach schulkultureller Einbettung – „zwischen einer starken Sach- und Distanzorientierung und einer starken Orientierung an der Person und den diffus-emotionalen Anerkennungswünschen der Schüler oszillieren [kann]“ (Helsper 2016, S. 116). Grob
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v ereinfacht lassen sich schulische Nähe-Kulturen von schulischen Distanz-Kulturen unterscheiden, die durch je gegensätzliche Entgrenzungen bzw. Vereinseitigungen gekennzeichnet sind. Die ersteren benötigen eine reflexive Begrenzung von Nähe durch professionelle Distanz, die letzteren eine stärkere Kultivierung emotionaler und individueller Formen der Anerkennung.
4 Der Fall Anne – revisited Wenn Werner Helsper das umfangreiche Datenmaterial zum Fall Anne mit seinem heutigen theoretischen Bezugsrahmen noch einmal interpretieren würde, dann kämen vermutlich viele neue Begriffe und Konzepte zum Tragen und damit neue Forschungsperspektiven in Sicht. Sie sollen hier im Rückblick auf den Fall Anne noch kurz angedeutet werden. In einem früheren Beitrag hat Werner Helsper (1995) – gleichsam in Vorbereitung seines später maßgeblich werdenden Begriff der Schulkultur – Annes Schule als „Gesamtschule der ersten Stunde“ charakterisiert: „Mit keiner anderen Schulform war Ende der sechziger Jahre so viel Reformhoffnung verbunden wie mit der Gesamtschule: Emanzipation, Mündigkeit, Kritikfähigkeit, Autonomie, soziales Lernen und Chancengleichheit – dies waren die Insignien dieses größten schulischen Reformprojektes der Nachkriegszeit. Und […] dem entsprach die Lehrerschaft, die selektiv rekrutiert war. Junge LehrerInnen, kritisch, innovativ, engagiert und hochmotiviert, zu einem großen Teil biographisch durch die Erfahrungen der Studentenbewegung und den kulturellen Bruch der Endsechziger geprägt“ (ebd., S. 187). Der ideale Lehrer dieser Schule ist nicht mehr an Disziplinierung und auch weniger an Leistungssteigerung orientiert als an der Förderung von Eigenverantwortlichkeit und Kritikfähigkeit der Schüler*innen durch einen gleichberechtigten Diskurs mit ihnen und durch einen Unterricht, der auf die Interessen und Eigenaktivitäten der Lernenden setzt. Die schulkulturelle Ordnung dieser Gesamtschule ließe sich wie in anderen reformpädagogisch orientierten Schulen als „reflexiv-individualisierende Ordnung der Besonderung“ charakterisieren. Der ideale Schüler hinterfragt das unterrichtliche Bildungsangebot und kämpft ungleich mutiger als seine Eltern für die Geltung seiner Interessen und Überzeugungen. Anne entspricht – wenn auch in extremer Ausprägung – mit ihren rebellischen und zugleich kreativen Unterrichtsinterventionen durchaus diesem sekundären Schulhabitus, der allerdings mit dem primären Habitus ihrer kleinbürgerlich geprägten Familie in einem konflikthaften Passungsverhältnis steht. Dieser ist u. a. von rigiden Gehorsamsforderungen und traditionalen
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Geschlechtsrollenerwartungen bestimmt. Mit der Wahl des nonkonformistischaggressiven jugendkulturellen Habitus des Punk steigt Anne aus der Familie aus und schließt sich einer oppositionellen Gruppe innerhalb ihrer Schule an. Mit ihren Individuationsspielräumen erlebt Anne ihre Schule als einen Ort der Freisetzung aus der affektiv-destruktiven Enge ihres familialen Milieus. Während Anne in den familialen Generationsbeziehungen weder emotionale noch kognitive Anerkennung erfährt, gewähren ihr Lehrer*innen in ihrer Schule trotz oder gerade wegen ihrer heftigen Auseinandersetzung mit ihren fachlichen Anforderungen in vielfältiger Weise individuelle Anerkennung. Der familiale und der schulische Anerkennungsraum stehen also nicht kongruent, sondern komplementär zueinander. Im Idealentwurf des pädagogischen Arbeitsbündnisses an dieser Schule stehen nicht die Fach- und Leistungsorientierungen im Vordergrund, sondern der Jugendliche mit seinen Interessen, die auch gegen die Ansprüche der Eltern unterstützt werden. Dabei kommt der Ebene der diffusen, affektiven und partikularen Bezüge mindestens eine ebenso große Bedeutung wie den Sach- und Leistungsbezügen zu. Im Fall Anne kommt es zu schülerseitigen Diffundierungen des dyadischen pädagogischen Arbeitsbündnisses, die auf ihre biographische Individuationsproblematik zurückgehen und von der Lehrperson prophylaktisch-therapeutisch eine besondere emotionale Anerkennung und individuelle Wertschätzung erheischen. Solche diffus-emotionalen Anerkennungswünsche gegenüber Lehrpersonen stellen professionelle Herausforderungen dar, die einer „reflektierten Aufnahme“ bedürfen. Als „Transformationsanwälte“ ihrer Schülerinnen und Schüler im Bereich der Wissensdomänen und sozialen Normen sind Annes Mathematiklehrer und ihre Deutschlehrerin gerade in die adoleszentären Ablösungsprozesse mittelbar oder unmittelbar einbezogen. Sie generieren für Anne ein Individuation und Autonomie eröffnendes pädagogisches Arbeitsbündnis. Wie ein roter Faden zieht sich seit dem Fall Anne durch viele Fallstudien von Werner Helsper und seinen Forschungsteams die Frage nach der angemessenen Gestaltung der zutiefst spannungsvollen Lehrer-Schüler-Beziehungen in der Krise der Adoleszenz. Brauchen die Heranwachsenden nunmehr eine stärkere emotionale und individuelle Anerkennung durch die Lehrpersonen, gleichsam eine Grenzverschiebung in der pädagogischen Beziehung hin zu den Polen der Nähe und der Person? Oder benötigen sie mit dem Beginn der Adoleszenz zur Erprobung ihrer neuen Identitätsentwürfe und der damit verbundenen Verschiebung ihrer Interessen größere Distanz zu einer „fürsorglichen Belagerung“ durch ihre Klassenlehrer*innen? (vgl. die Fälle Martin, Sebastian und Anna in Helsper et al. 2007). Im Fall Anne werden die Chancen und zugleich auch die Risiken diffus-partikularer Entgrenzungen herausgearbeitet und in späteren
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tudien die inverse Problematik indifferenter Distanz (vgl. den Fall Erik in HelS sper et al. 2009, S. 232 ff.). Im Anschluss an des Antinomien-Konzept des pädagogischen Handelns zieht Werner Helsper zusammen mit Merle Hummrich (2009) folgende Bilanz: „Festzuhalten ist, dass Lehrer-Schüler-Beziehungen weder als spezifisch-universalistische Rollenbeziehungen noch als persönliche ‚reine‘, um affektive, partikulare und diffuse Muster zentrierte Beziehungskonstellationen hinreichend zu fassen sind. […] Sie sind als inhaltsbezogene Sachbezüge ‚rationaler‘ und affektiv-neutraler angelegt, aber zugleich entstehen in ihnen Bereiche emotionaler Anerkennung mit hoher Bedeutsamkeit für das Selbst von Schülern und Lehrern; sie sind durch Anforderungen universalistischer Gleichbehandlung gekennzeichnet, aber bedürfen dabei der Beachtung partikularer Bezüge, um den Ausgangslagen von Schülern gerecht zu werden. Sie sind zudem in einer genetisch-prozesshaften Perspektive einem Transformationsdruck unterworfen, so dass sie sich verändern müssen“ (ebd., S. 622). So lässt sich abschließend in einer genetisch-prozesshaften Perspektive von einer intellektuellen Transformation in der Beziehung zwischen dem Forscher Werner Helsper und seinen Fällen sprechen, die aber stets von „eine[r] grundlegende[n] Sympathie für jenen Versuch einer Subjektivitäts-Rettung durch Entsubjektivierung“ (Helsper 1983, S. 29) getragen bleibt.
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Prof. Dr. Heiner Ullrich, Professor (apl.) für Allgemeine Pädagogik und Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt qualitative Schulforschung an der Universität Mainz; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Schulen der Reformpädagogik (insbes. Waldorfschulen), Schulentwicklung im Privatschulsektor, Schulen für Hochbegabte.
Das ambivalente Verhältnis von Jugend, Familie und Schule im zeithistorischen Vergleich der 1980er und 2010er Jahre – Ein exemplarischer Fallvergleich Mareke Niemann und Katrin Kotzyba Zusammenfassung
In modernisierten Gesellschaften lässt sich das Verhältnis von Schule, Familie und Jugend als ein ambivalentes fassen. Der Artikel beschäftigt sich mit den Herausforderungen einer veränderten Jugendphase, transformierten Generationenverhältnissen und eines gewandelten Bildungssystems. Wie sich dies in biographischen Ausdrucksgestalten von Schüler*innen niederschlägt nimmt der Artikel empirisch in den Blick. Exemplarisch werden drei Fallbeispiele diskutiert. Es handelt sich um biographisch-narrative Interviews mit zwei Schülerinnen aus dem Jahre 2010 und einem Interview mit einem Mädchen aus den 1980er Jahren. Die Rekonstruktionen des Fallmaterials werden im zeithistorischen Vergleich und vor dem Hintergrund des Besuchs unterschiedlicher gymnasialer Schulsegmente eingeordnet. Schlüsselwörter
Jugendkultur · Familie · Schule · Ambivalenz · Fallbeispiele
M. Niemann (*) · K. Kotzyba Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB), Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Kotzyba E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Gibson et al. (Hrsg.), Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25094-2_6
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1 Einleitung Das Verhältnis von Jugend und Schule stellt sich in modernisierten Gesellschaften als ein ambivalentes dar. Schule eröffnet den Jugendlichen einerseits ein Bildungsmoratorium, in dem sie von der Erwerbsarbeit freigestellt sind, anderseits unterliegen die Jugendlichen auch einem Bildungszwang und erleben Schule als sinnentleerten Raum der heteronomen Fremdbestimmung (vgl. Helsper 2008). Sich dem schulischen Spiel und der Relevanz von Bildungstiteln zu entziehen, wird für Jugendliche zunehmend schwierig (vgl. Bourdieu et al. 1997). Im Zuge der Bildungsexpansion und der Veränderungen in den Strukturen im Bildungssystem, z. B. der Inflation von Bildungstiteln, entwickeln sich im gymnasialen Segment interne Differenzierungen und Hierarchisierungen (vgl. Helsper et al. 2018). Dieses ambivalente Verhältnis von Jugend und Schule formt sich milieuspezifisch unterschiedlich aus (vgl. Helsper 2008, S. 135; auch Helsper 2010; Helsper et al. 2001). Werner Helsper arbeitet in seinen aktuellen wie auch vergangen Studien heraus, dass die jugendliche Individuation eingebunden ist in ein komplexes Zusammenspiel von sozialisatorischer Familiendynamik und schulischen Anforderungen (z. B. Helsper et al. 2009; Helsper et al. 2018). Die Jugendlichen werden dazu aufgefordert, Erlebnisekstase und Leistungsorientierung gleichermaßen auszubalancieren und ihr Lernselbst zu optimieren (vgl. Helsper 2010, 2015, S. 137; auch Fend 1991; Rademacher und Wernet 2014). Die bereits für die Jugendphase in den 1980er Jahren herausgearbeitete Individualisierung und Destandardisierung hat sich im Laufe der Zeit weiter gesteigert und der Umgang mit Ambivalenzen und Pluralität ist zentral geworden (vgl. Ecarius et al. 2017; Heitmeyer et al. 2011; Keupp 1997). In unserem Beitrag untersuchen wir, wie sich das ambivalente Verhältnis von Jugend, Familie und Schule zu unterschiedlichen Zeitpunkten und vor dem Hintergrund des Besuchs unterschiedlicher Schulen im gymnasialen Segment in den Biographien der Schüler*innen gestaltet. Diese Untersuchung möchten wir anhand der Kontrastierung der Fälle Sabrina und Sina aus Werner Helspers aktueller Studie (vgl. Helsper et al. 2018) mit dem Fall Anne aus seinen Arbeiten der 1980er Jahre (vgl. Helsper 1983) vornehmen und dabei prüfen, wie sich die Bedingungen einer veränderten Jugendphase, transformierter Generationenverhältnisse und eines gewandelten Bildungssystems in den biographischen Ausdrucksgestalten der Schüler*innen niederschlagen. Auf diese Weise zeigen wir auf, welche weiterführenden Forschungsfragen der Vergleich von Schülerfällen aus unterschiedlichen Zeiten und Kontexten aufwirft.
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2 Das Ambivalenzverhältnis von Schule, Familie und Jugend – Fallbeispiele Die Interpretation des Falls Anne (Helsper 1983) stammt aus dem DFG-Projekt „Zum Selbstbild Jugendlicher zwischen Schule und Subkultur“, das im Zeitraum von 1981 bis 1984 durchgeführt wurde, und ist eingeordnet in eine theoretische Auseinandersetzung mit der grundlegenden Krisenhaftigkeit des Subjektes in der modernen und postmodernen Gesellschaft (vgl. ebd., S. 29). Für den Fall Anne liegen über vierzig Stunden Gesprächsmitschnitte und Memos vor. Anne ist zum Interviewzeitpunkt 16 Jahre alt und besucht eine Gesamtschule. Ihre familiäre Situation ist schwierig: Sie wächst in einer Familie mit drei Brüdern auf und wird dort vornehmlich auf die traditionelle Rolle der Hausarbeit festgelegt. Auch in ihrer Privatsphäre wird Anne von ihren Eltern nicht respektiert. Die Fälle Sabrina und Sina1 stammen aus dem von Werner Helsper geleiteten und von der DFG geförderten Forschungsprojekt „Distinktion im Gymnasialen? – Prozesse der Habitusbildung an ‚exklusiven‘ höheren Schulen“. Die Studie nimmt den kaum erforschten Bereich exklusiver Gymnasien über eine qualitative Mehrebenenanalyse im Längsschnitt in den Blick (vgl. Helsper et al. 2018).2 Mit den Schüler*innen wurden narrative, offene biographische Interviews geführt. Sabrina ist zum Interviewzeitpunkt 13 Jahre alt und besucht die 8. Klasse eines konfessionellen Gymnasiums. Sie wächst mit zwei jüngeren Schwestern auf. Ihre Mutter arbeitet als Beamtin in einem Landesministerium und übt, um ihre drei Kinder intensiv betreuen zu können, ihren Beruf nur halbtags aus, während Sabrinas Vater aufgrund seiner leitenden Tätigkeit in einem Landesministerium kaum zu Hause ist. Sina ist zum Zeitpunkt des Interviews 14 Jahre alt und besucht die 8. Klasse eines traditionsreichen privaten Gymnasiums in Bistumsträgerschaft. Sie hat keine Geschwister und lebt mit ihren Eltern zusammen. Ihr Vater arbeitet als Techniker und ihre Mutter als Schneiderin.
1Für
die ausführliche Darstellung des Falls Sabrina vgl. Abschn. 5.1.2 und Sina vgl. Abschn. 5.4.3 in Helsper et al. 2018. 2Die Studie untersucht unter anderem Schüler*innen in exklusiven und nicht-exklusiven Gymnasien und ihre Biographien von der 8. Klasse bis etwa ein Jahr nach dem Abitur.
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2.1 Erfahrungen in Familie, Schule und im jugendkulturellen Raum – der Fall Anne Anne wächst in einer Familie auf, die als kleinbürgerlich und traditionell beschrieben werden kann. Sie hat drei jüngere Brüder. Diesen familiären Kontext erfährt Anne vornehmlich als Begrenzung. Es dokumentiert sich ein konfliktreicher Ablösungsprozess: Sie wehrt sich vehement gegen den Wunsch der Eltern, als einziges Mädchen der Familie die „kleine, liebe Tochter“ (Helsper 1983, S. 31) zu sein und sich in die traditionelle weibliche Rolle der Familie drängen zu lassen. So schüttet sie zum Beispiel ihrem Vater den Kaffee, den sie ihm servieren soll, über das Knie, um sich in der familiären Interaktion dieser Rollenzuschreibung zu entziehen. Annes Vater nimmt durchaus wahr, dass seine Tochter sich dagegen wehrt, in vorgefertigte, klar umrissene Muster zu passen, und ihre eigenen Vorstellungen hat. Anne gibt ihren Vater wie folgt wieder: „meine Tochter lässt sich in keine Schablone pressen“ (ebd.). Der traditionellen Rolle des braven Mädchens, welche ihre Eltern von ihr erwarten, ihren Übergriffen, der Kontrolle und dem Eindringen der Eltern in Annes innerste Gedanken – ihre Mutter liest Annes Tagebuch – versucht sie zu entkommen. Ihr Bedürfnis nach Besonderung als Gegenentwurf zur familiären Konformität lebt sie in dem Bild ‚Heldin‘ zu sein, inspiriert von David Bowies Song „Heroes“, aus. Dies führt bei ihr dazu, dass sie von Trauer und Verlustängsten ergriffen wird und in der Konklusion über tote Helden sagt: „Ja klar! Es gibt keine Helden mehr. Ich weiß nicht, ich hätte irgendwie noch gerne, daß noch mit Heldentum wäre, so nicht, so kein politisches Heldentum, aber daß die Menschen/.. Die sind mir einfach zu, na, wie soll ich sagen? Zu einfach geworden, zu konformistisch“ (ebd., S. 32). Anne fühlt sich in ihrer Subjektivität „zerrissen“, verletzlich und voller Widersprüche – und dabei doch lebendig (ebd., S. 35 f.). In ihren Reflexionen über sich selbst in der Welt zeigt sich diese starke Ambivalenz einerseits in ihrer nicht existenten Selbstsicherheit und andererseits in ihrem Drängen nach Subjektivität bzw. Individualität, das auch als Ausdruck der Abkehr von den problematischen Familienbeziehungen und dem Entfliehen aus dieser Situation nachgezeichnet werden kann. Sie sagt dazu selbst: „Ich fühl mich hier in ´ner Welt, die total unsicher ist und vor allen Dingen auch, [-] das physische Leben, also hier das find ich sehr verletzbar und auch nicht so greifbar. Man ist zwar da, aber im Grunde frag ich mich warum. Ich wunder‘ mich immer, daß ich ich selber bin“ (ebd., S. 35).
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Diese teilweise auch entsubjektivierten Bereiche des unsicheren Nicht-SeinWollens verdeutlichen ihre Suche nach der eigenen Subjektivität und gleichzeitig die unaufgelöste Arbeit daran. Anne entflieht ihrem Leiden an den Anpassungsforderungen der Familie, wendet sich Besonderungsentwürfen des Heldenseins oder anderen Formen der Andersartigkeit zu und wird dadurch zur Rebellin gegen familiäre und gesellschaftliche Geschlechter-Rollenbilder. Sie wird zur ersten Punkerin ihrer Heimatstadt in den 1970er Jahren. Im Punksein sieht sie die Möglichkeit, sich gegen die Konsumgesellschaft auflehnen und ihr Anderssein und ihre Individualität auch äußerlich zum Ausdruck bringen zu können. Anne macht dann die Erfahrung, dass die Punkbewegung von immer mehr Jugendlichen aufgegriffen wird und damit an Einzigartigkeit verliert. Als neues Alleinstellungsmerkmal entwickelt sie sich daraufhin zur „Pinguinfanatikerin“ (ebd., S. 33). Damit verbindet Anne eine ganz bestimmte Lebensphilosophie: Pinguine behalten trotz der widrigen Lebensbedingungen ihre Individualität bei (ebd., S. 33 f.). Dies ist für sie der Weg, Einzigartigkeit für sich herzustellen. In Hinblick auf die Wahrnehmung von Schule ist für Anne zunächst deutlich zu machen, dass sie als leistungsstarke Schülerin nur wenig in Schule investieren muss und Arbeiten für die Schule eher nebenher erledigt. Grundlegend ist Schule für Anne damit kein Raum der Anstrengung oder Leistungsschwierigkeiten. Schulischen Anforderungen auf Leistungsebene begegnet sie daher mit Leichtigkeit und schafft sich damit auch Freiräume der Besonderung und Möglichkeiten der Distinktion. Das Ringen um Anerkennung im Feld Schule verweist auf die Suche nach signifikanten Anderen, die Anne als Rebellin wahrnehmen und ihre Besonderheit anerkennen. Doch die fehlende Anerkennung der Lehrkräfte, die Anne als Subjekt nicht ernstnehmen, löst eine Abwehrreaktion in ihr aus und teilweise verweigert sie es, sich an den schulischen Aufgaben und am Unterricht zu beteiligen. Von den Lehrkräften und Schüler*innen wird ihr zugeschrieben, „krank“ oder „verrückt“ (ebd., S. 36) zu sein. Damit wehrt sie sich auch in der Schule gegen den Druck, sich in ein vorgefertigtes Muster einfügen zu lassen. Ihr geht es in den Beziehungen zu den Lehrkräften darum, die eigene Besonderheit zu betonen und die Unterwerfung unter deren Macht zu verweigern. Sich den Unterwerfungsanforderungen der Lehrkräfte zu entziehen, sieht Anne als Spiel bzw. „‘ne Art Sport“ (ebd.) an. Auf diese Weise bezieht sie sich zwar einerseits indirekt auch auf die „Währung“ des schulischen Spiels von Statuszuweisung und Bewertung und der damit erzeugten Konkurrenz in der Schülerschaft (ebd., S. 36 f.), aber versucht explizit, der schulischen Logik zu entfliehen,
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indem sie beispielsweise Klausuren auf ihre ganz eigene Art bearbeitet. Sie kann sich der schulischen Bewertungs- und Leistungslogik in ihrer Suche nach Anerkennung und Besonderung damit anderseits auch nicht vollends entziehen. Vor dem Hintergrund der schulischen Anforderungen und dem Kampf um Anerkennung, den sie dort mit Mitschüler*innen und Lehrer*innen ausfechtet, wird deutlich, dass ihre Schulerfahrungen vor dem Hintergrund ihres Kampfes um eine nicht präformierte Subjektivität zu verstehen sind. So führt sie mit ihrem Mathematiklehrer Herrn Abt in den Klausuren eine Diskussion in Reimform oder bearbeitet eine Matheklausur mit einer ausführlichen Satire über das Verschwinden der Zahl acht. Ihre Auflehnung gegen die Mathematik ist mit ihrer Lebensgeschichte verknüpft; die Auflösung der Subjektivität in der Mathematik geht für Anne mit der Angst einher, „nichtig“ zu werden und ihre Phantasie, Einbildungskraft und Visionen aufgeben zu müssen (vgl. ebd., S. 43). Mit ihrem Mathelehrer hat sie dabei sogar das Glück, dass sie an jemanden gerät, der ihrer Ausdruckform begegnet. Ihre darauffolgenden Versuche, sich anzupassen und eine gute Mathematikarbeit zu schreiben, scheitern jedoch (ebd., S. 39 f.). Die Anerkennung des Mathematiklehrers erhält sie nicht durch das Lösen der mathematischen Gleichungen, sondern durch ihre individuelle und phantasievolle Form der Verweigerung zu Beginn der Arbeit; kritisiert wird sie von ihm jedoch als inkompetente Matheschülerin. Indem Anne versucht, am Ende der Klausur den fachlichen Anforderungen nachzukommen und die mathematischen Gleichungen zu rechnen, scheitert sie doppelt und wird zweifach in ihrer Subjektivität verletzt. Sie erhält nun weder Anerkennung in der Fachlichkeit noch in ihrer phantasievollen Einzigartigkeit.
2.2 Erfahrungen in Familie, Schule und jugendkulturellen Räumen – der Fall Sabrina Im Fall Sabrina zeigen sich in Hinblick auf die Familie viel Nähe und die Verbürgung der familiären Anforderungen und Ziele. Diese Verbürgung lässt sich bei ihr auch im Hinblick auf Bildung und Schule feststellen. Sie trägt den familiären Entwurf von sich als schulisch erfolgreiche und der Hochkultur zugewandten Tochter mit, die in ihrer Freizeit in künstlerisch-musischen Bereichen tätig ist. Auf diese Weise erfährt Sabrina in ihrer Familie viel Zuspruch, Anerkennung und Wertschätzung. Mit ihren beiden jüngeren Schwestern versteht sich Sabrina sehr gut und sieht dies als Verdienst der Erziehung ihrer Mutter an: „wir komm ja total gut (.) zurecht das is auch so [atmet hörbar ein] aber ich glaub den Hauptverdien- daran hat halt Mama weil sie hat (.) sie hat halt viel dazu beigetragen und
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uns auch jetzt so erzogen“. Die Mutter kümmert sich intensiv um die Belange ihrer Kinder und bringt Sabrina sogar das Mittagessen an die Schule, da sie das Schulessen nicht verträgt. Sabrina grenzt sich nicht von den Forderungen ihrer Eltern ab, vielmehr sind diese auch ihre eigenen: „also eigentlich erwarten sie schon dass ich gute Leistungen bringe aber das erwart ich selbst auch von mir sie erwarten nich mehr als ich selbst“. Wenn ihre Mutter mit ihrer Leistung während des Abfragens zufrieden ist, kann Sabrina sicher sein, eine gute Note zu erhalten. Sie braucht und erfährt den mütterlichen Zuspruch, die Zuwendung und den emotionalen Rückhalt. Für Sabrina ist die schulische Leistungsbewährung von starker Relevanz. Schule stellt für sie vornehmlich einen Status- und Leistungsraum dar. Die schulische Leistungsbereitschaft ist für Sabrina von sehr hohem Stellenwert. Es steht für sie außer Frage, den Erwartungen und Anforderungen der Lehrkräfte nachzukommen: „auf meim Zeugnis steht jedes Jahr das gleiche [atmet hörbar ein] ‚Sabrina ist eine freundliche Mitschülerin die mit alln ziemlich gut auskommt die sie sich auch ‚aktiv‘ (betont) am Unterricht beteilicht und auch ‚eigene‘ (betont) Lösungswege vorschlägt‘ (zitiert) [atme hörbar ein]“. Sabrina trägt die schulische Leistungslogik und die erhöhten Leistungsansprüche ihres exklusiven Gymnasiums vollumfassend mit und übertrifft diese sogar. Ihr Bezugshorizont ist die möglichst perfekte Eins. Ausdruck findet dies auch in Sabrinas Praktik einer Selbstbenotung – parallel zu der Benotung der Lehrenden: Teilweise bewertet Sabrina sich selbst strenger als die Lehrkräfte, wenn sie meint, sich nicht genügend angestrengt zu haben. Im Unterricht nimmt sie kontinuierlich eine aufmerksame Haltung ein und meldet sich fast auf jede Frage. Sabrina kommt ihren schulischen Pflichten ohne Ausnahme nach, erledigt ihre Hausaufgaben und lernt für Klassenarbeiten. Im Interview entwirft sich Sabrina als folgsame Schülerin und grenzt sich von Mitschüler*innen ab, die den Unterrichtsverlauf stören: „ich würde nich sagen dass ich jetzt irgendwie störend auffallen würde so wie (.) [atmet hörbar ein] gewisse andere in unserer Klasse“. Noten sind für sie von hoher emotionaler Relevanz und das Verfehlen der eigenen Leistungsansprüche geht für sie mit einer krisenhaften Situation einher: „es is natürlich schon ziemlich ‚ärgerlich‘ (betont) [atmet hörbar ein] wenn man sich so richtig da vergriffen hat aber man kann das ja alles wieder auskuriern irgendwie“. Sabrina hat die mütterlichen Erwartungen an sich, immer das Beste zu geben, an die Grenzen zu gehen und immer noch besser zu werden, in ihr Handeln übernommen. In der Klasse nimmt Sabrina eine widersprüchliche Position ein. Sie muss sich damit auseinandersetzen, als Streberin adressiert zu werden und ordnet sich selbst
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im Wettstreit mit ihren Mitschüler*innen um die beste Note ein. Sabrinas Versuch, sich mit ihren Klassenkamerad*innen zu solidarisieren, wird brüchig, sie gewährt ihnen zwar Hilfestellung und Unterstützung, erfährt diese selbst jedoch nicht: „‘ja klar’ (lachend) also wenn man jetzt vor der Stunde irgendwie n Test hat (.) also ‘mich’ (betont) mag keiner abfragen weil ich bin immer also die ‘ärgert s einfach’ (betont) [atmet hörbar ein] dass ich das (.) ich will jetzt nich angeberisch kling aber ich ‚’kann’ (betont) es meistens“. Die jugendkulturellen Bezüge in den Blick nehmend, zeigt sich für die Schülerin Sabrina, dass nicht nur in der Schule Leistungsanforderungen ihren positiven Gegenhorizont bilden, sondern sie sich auch in ihrer Freizeit auf Leistungskategorien bezieht: „und ansonsten hab ich zwei Mal die Woche Tanzen […] insgesamt zweieinhalb Stunden pro Woche […] das is auch so ne Art Leistungssport in der Theaterballettschule“. Vom Müßiggang in ihrer Freizeit grenzt sie sich ab: „das hat irgend nen ‘Sinn’ (betont) der Nachmittag man sitzt nich einfach nur da und tut gar nichts“. Damit stellt sie auch bezüglich ihrer Freizeitaktivitäten den Anspruch an sich, diese professionell zu betreiben und distanziert sich von jugendkulturellen Aktivitäten der ungeplanten Freizeit. Ihre Freizeitaktivitäten dienen weniger dem Spaß oder der Erholung, sondern sie übt diese mit einem hohen Leistungsanspruch und einer Orientierung an Perfektion sowie Disziplin aus.
2.3 Erfahrungen in Familie, Schule und im jugendkulturellen Raum – der Fall Sina Sina wächst als Einzelkind auf. Zu ihren Eltern hat sie ein eher lockeres Verhältnis, da diese ihr relativ viele Freiräume lassen. Bildung und hochkulturelle Aktivitäten, wie zahlreiche Auslandsurlaube und Besuche in Museen, spielen für die Familie eine besondere Rolle. Den Besuch von Museen mit ihren Eltern beschreibt Sina allerdings als auferlegten Zwang, sich Bildung anzueignen: „ich wurd in fünfundzwanzig Museen geschleppt von meinen Eltern und so weiter weil die das intressiert hat und ja (.) deswegen weiß ich das ich hab ein riesen- [atmet hörbar ein] keine Ahnung (.) irgendwo in meinem Gehirn is irgendwie so n Fach mit unnützes Wissen und dieses Fach ist bis oben hin voll und es is riesengroß [atmet hörbar ein] ich weiß jede Menge Sachen die keinen Menschen interessiern“. Diese Konstruktion der Wissensaneignung aufgrund des Zwangs durch ihre Eltern nutzt Sina, um sich selbst als andersartiges Subjekt in Differenz zu ande-
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ren zu besondern. Konflikte gibt es aber auch zwischen Sina und ihren Eltern in Bezug auf die schulischen Erwartungen der Eltern, die Sina an sich selbst nicht stellt. Vielmehr bewertet sie diese wie folgt: „ich hab in Mathe ne 5 geschrieben was- meine Eltern ‘wissen’ (betont) dass ich Mathe verabscheue […] und da hab ich einen Vortrag darüber bekommen dass Mathe ‘ja wichtig’ (betont) is dass man das überall ‘braucht’(langgezogen) ja [atmet hörbar ein] […] und es geht das eine Ohr rein und das andere Ohr rauwieder raus“. Diese Konflikte beziehen sich bei Sina aber ausschließlich auf schulische Leistungen und auf ihre fehlende schulische Motivation. Schule und Noten sind ihr wichtig, aber das, was sie dafür bereit ist zu investieren, ist begrenzt und strategisch kalkuliert. So nimmt sie beispielsweise schulische Nachhilfe in Anspruch, um dort die Hausaufgaben zu erledigen. Auf diese Weise muss sie die für sie bedeutsame, von schulischen Aufgaben freie Zeit nicht einschränken. Ihre Noten liegen jedoch insgesamt im Zweierbereich. Damit kann sie auch ihre Eltern zufriedenstellen. Für Sina ist die Schule auch als eine Art Bühne relevant, auf der sie sich als originell darstellen kann. Sie verdeutlicht, wie sie in der Schule polarisiert, wenn sie sagt: „ach bei den meisten Leuten kommt dann wieder öh unnütze Fakten [atmet hörbar ein] äh bei den anderen Leuten kommt dann ‘wie kann die sich das merken’ (fragend) und bei den Lehrern kommt meistens es is n Pluspunkt“. In der Schule auffallen und sich bewusst gegen den Strom bewegen, möchte Sina auch, wenn sie sagt, da „stell ich mich immer dagegen aber ich bin größtenteils die Minderheit deswegen verlier ich immer ‘aber’ (betont) ich hab meine Meinung geäußert“. Einzigartigkeit und Abgrenzung von Anderen spielen damit für Sina im schulischen Raum eine große Rolle, vor allem im Vergleich zu den schulisch angepassten Peers. Abgrenzung betreibt Sina vor allem gegenüber dem christlichen Profil der Schule: „ich glaub nich dran das is für mich alles Humbug“. Die Ambivalenz liegt daher einerseits in den strebenden Bemühungen, gute Noten zu erreichen, und anderseits in der dargestellten Kritik an Schule allgemein und der katholischen Schule im Speziellen sowie in der Inszenierung ihrer Andersartigkeit als skurriles Wesen. In ihrer Freizeit geht Sina expressiven und auch auf Individualität und Abgrenzung bezogenen Aktivitäten nach, wie dem Fotografieren von – wie sie selbst beschreibt – „verstörenden“ Szenen oder ausschweifenden Festivalbesuchen. Sina schafft es dabei aber auf bemerkenswerte Weise, dies nicht mit schulischen Anforderungen kollidieren zu lassen. Sie weiß genau, wie exzessiv sie dieses ‚zweite Leben‘ ausleben kann.
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3 Kontrastierung und theoretisierende Schlussbetrachtung Abschließend ist zu diskutieren, wie sich das Ambivalenzverhältnis von Familie, Jugend und Schule in den Biographien der drei Schülerinnen vor dem Hintergrund des Besuches unterschiedlicher Schulen und unterschiedlicher Zeitpunkte gestaltet. Anne, Sabrina und Sina wachsen in sehr unterschiedlichen familiären Zusammenhängen auf. Im Fall von Anne lässt sich ein konfliktreicher Ablösungsprozess nachzeichnen. Aufgrund des Konformitätsdrucks der Familie, Anne in traditionelle Rollenmuster zwingen zu wollen, wehrt sie sich und findet in ihrem Streben nach Individualisierung und Besonderung die Möglichkeit, sich davon zu befreien. Mit ihrem Wunsch nach Individualisierung und Besonderung stößt sie in ihrer Familie wiederum auf Unverständnis und Widerstände. In ihren familiären Beziehungen scheint Anne wenig Nähe und emotionale Anerkennung zu erfahren. Wie in den 1970er und 1980er Jahren in Westdeutschland durchaus üblich, wird Anne als Mädchen auf ein eher traditionelles reproduktives Geschlechterrollenideal verpflichtet (vgl. Helsper 1989). Gegen diese Festschreibung rebelliert Anne und findet eine Möglichkeit, ihre Subjektivität in jugendkulturellen Zusammenhängen des Punkseins auszudrücken. Innerhalb dieses jugendkulturellen Kontextes erhält sie die Anerkennung, die ihr in der Familie und der Schule verwehrt wird. Demgegenüber wachsen Sabrina und Sina in einer Zeit auf, in der es schon länger selbstverständlich ist, dass Mädchen höhere und auch exklusive Schulen besuchen. Die Akzeptanz dafür müssen sie weder in ihren Familien noch gesamtgesellschaftlich erkämpfen. Sabrina erfährt in ihrer Familie eine allumfassende Fürsorge, Zuwendung und besondere Unterstützung und Förderung ihrer Schulkarriere. Sabrinas Orientierungen im Hinblick auf die hohe Bedeutsamkeit von Schulerfolg und einer hochkulturellen wie auch leistungsorientierten Freizeitgestaltung sind kongruent zu den Ansprüchen ihrer Eltern. Damit setzen aber auch ihre Eltern die hohe schulische Leistungsorientierung an Leistungsexzellenz des exklusiven Gymnasiums, das Sabrina besucht, fort. Sabrinas Eltern forcieren den schulischen Druck und bilden keinen Gegenpart zur schulischen Leistungslogik. Explizit hat Sabrinas Mutter die Leistungsentwicklung und das schulische Engagement ihrer Tochter besonders im Blick und kontrolliert dieses genau. Tyrells (1987) Analyse des Verhältnisses von Familie und Schule verweist darauf, dass die Familie unter der gesellschaftlichen Notwendigkeit von Bildungserfolg den Schuldruck auf die Kinder überträgt und dadurch noch verstärkt, anstatt ihn zu kompensieren (vgl. ebd., S. 111, 114). Sabrina nimmt die elter-
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lichen Leistungsansprüche jedoch nicht als Druck und Kontrolle wahr, sondern kennzeichnet sie als ihre eigenen. Sie geht sogar so weit, diese Leistungslogik und das Streben nach Erfolg auch in ihrer Freizeit in hochkulturellen Freizeitaktivitäten zu suchen. Sina hingegen sucht die Anerkennung ihrer Eltern weniger, da sie ein eher distanziert-lockeres Verhältnis zu ihren Eltern hat und diese lediglich im Bereich Schule höhere Erwartungen haben, als sie an sich selbst. Anerkennung erhält Sina eher im peerkulturellen Kontext und insbesondere über ihre Andersartigkeit. Sina setzt ihre Freizeit- und peerkulturellen Aktivitäten der Schule entgegen und nutzt diesen Raum als Möglichkeit, sich expressiv auszuleben und ihrer Andersartigkeit auf kreative Weise Ausdruck zu verleihen. Im jugendkulturellen Raum kann sie dies tun, ohne reglementiert zu werden, wie es in der Schule der Fall ist. Damit verweisen auch die empirischen Fallanalysen auf die je individuelle, vielschichtige und komplexe Involvierung der Familie in den Verlauf der Bildungskarrieren (vgl. Helsper et al. 2009). Auf diese Weise zeigen sich in der Kontrastierung der Fallstudien auch zeit- und kulturspezifische Konstruktionen des Verhältnisses von Jugend und Schule. Die Unterschiede in der Art und Weise der Ausgestaltung und Ausformung der Eltern-Kind-Beziehung, die Erfahrung von Nähe, Vertrauen und emotionaler Sicherheit zwischen Sabrina, Sina und Anne verweisen auch auf Veränderungen in den generationalen familialen Beziehungen. Gegenüber den 1980er Jahren haben sich die innerfamiliären Machtbalancen und Beziehungsverhältnisse verändert. Beispielsweise hat sich der starre Befehlshaushalt in Richtung eines Verhandlungshaushalts gewandelt (Busse und Helsper 2007, S. 440). Das Verhältnis zwischen Jung und Alt hat sich gelockert und Hierarchien zwischen Eltern und Kindern wurden abgebaut (vgl. Helsper et al. 2009, S. 29). Für alle drei Fälle zeigt sich, dass Schule sowohl in ihrer Leistungsbewertungs- als auch in ihrer individuellen Anerkennungslogik relevant ist. Mit dem Begriff der Anerkennung beziehen wir uns auf die von Werner Helsper und Mitarbeiter*innen erarbeite pädagogische Wendung des Anerkennungsbegriffs nach Honneth (1992). Honneth differenziert die drei Modi der Anerkennung der Liebe, des Rechts und der Solidarität. Mit diesen drei Modi versucht Honneth, die soziale Einbindung des Individuums in gemeinschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge umfassend gesellschaftstheoretisch zu begründen (vgl. Helsper et al. 2009, S. 364; Helsper et al. 2001, S. 39 f.)3 . Dabei wird davon
3Dabei
weisen Helsper et al. darauf hin, dass bei der Bezugnahme der Theorie von Honneth auf pädagogische Prozesse zu beachten ist, dass er diese zur Erklärung sozialer Konfliktdynamiken entwickelt hat (vgl. Helsper et al. 2009, Fußnote 10, S. 54).
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ausgegangen, dass emotionale Anerkennung in der Familie die Grundvoraussetzung für Bindungs- und Bildungsfähigkeit ist (vgl. Helsper et al. 2009, S. 365). Für Sabrina ist Schule vor allem Noten- und Statusraum, ihre Anerkennung als Subjekt erfährt sie dort über ihren Leistungserfolg. Ebenfalls in ihrer Freizeitgestaltung und in ihrer Familie ist die Anerkennung über Leistungserfolg für Sabrina relevant. Demgegenüber nimmt Anne Schule umfassender als Raum der Anerkennung ihrer ganzen Person auf individueller Ebene wahr. In der Interaktion mit den Lehrkräften versucht sie, die fehlende familiäre Anerkennungsbeziehung (vgl. ebd., S. 380) zu kompensieren. Aufgrund des Versprechens der Schulen, ihren Schüler*innen auf Basis meritokratischer Prinzipien Anerkennung entgegen zu bringen, werden die Schüler*innen gerade nicht in ihrer gesamten Person anerkannt (vgl. Hummrich 2011, 2009, S. 212). Dies wird für Anne persönlich zum Problem, weil sie gerade die individuelle Anerkennung sucht. Dabei zeigt sich die von Helsper et al. (2009) ausdifferenzierte Problematik bzw. Herausforderung der Schule, als Institution der Leistungsbewährung und Leistungsselektion auf das Bedürfnis von Schüler*innen nach emotionaler Anerkennung einzugehen. Dieser Problematik wird von Schulen im Zuge ihrer schulkulturellen Ausgestaltung unterschiedlich begegnet und verweist darauf, dass Anerkennung in pädagogischen Verhältnissen immer auch in Machtverhältnisse eingebunden ist (vgl. ebd., S. 370 f.). Dabei bedeutet der Wegfall von Anerkennung die Erfahrung von Missachtung und Demütigung und geht mit problematischen Folgen für die Identitätsentwicklung einher (vgl. ebd., S. 388). Für Sina kann Schule in beiderlei Logik geltend gemacht werden: Zum einen in der Anerkennung ihrer Einzig- und Andersartigkeit als Subjekt, die sie mit ihrer kritisch-oppositionellen Haltung herausstellt sowie zum anderen in ihrem Anspruch, sich im schulischen Spiel zu bewähren, mit Tricks und strategischem Handeln gute Noten zu erzielen und Schule als Bewertungssystem anzuerkennen. Nehmen wir das Sample unserer Studie zu exklusiven Schulen insgesamt in den Blick, lässt sich beobachten, dass die Jugendlichen kaum als Vertreter*innen von jugendkulturellen Gruppen auftreten. Es dokumentiert sich auch nur sehr moderat Kritik am schulischen, respektive gesellschaftlichen, System. Die von uns interviewten Gymnasiast*innen erkennen die Relevanz schulischer Leistungsnormen an und stellen diese im Alter von 13/14 Jahren nicht infrage. Von den Schüler*innen exklusiver Gymnasien wird Jugend damit weniger als mäandernde Suchbewegung, als Erprobungsraum des Selbst, der virtuellen Identitätskonstruktionen oder als Raum, in dem man Zeit verlieren darf, begriffen (Helsper 2010, S. 214). Vielmehr ist Schule gerade für Jugendliche, die wie Sabrina dem Schülerhabitus der Leistungsperfektion zuzuordnen sind (vgl. Helsper et al.
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2018, S. 402), vornehmlich als Leistungs- und Statusraum zentral. Es deutet sich damit an, dass das eingangs beschriebene ambivalente Verhältnis von Jugend und Schule von den Jugendlichen in dem von uns untersuchten exklusiven gymnasialen Segment vornehmlich zugunsten einer schulischen Leistungsorientierung aufgelöst wird und damit an das vorherrschende Konzept der Spätmoderne von Optimierung und Erfolgs- und Leistungsorientierung anschlussfähig sind (Helsper 2010; Helsper et al. 2009, S. 218 f.). Im Hinblick darauf sind jedoch die jugendkulturelle Einbindung von Schüler*innen an exklusiven Gymnasien und die jeweiligen biographischen Ausdrucksgestalten des Ambivalenzverhältnisses von Jugend und Schule in diesem speziellen Segment des deutschen Bildungssystems noch dezidierter zu bestimmen.
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Dr. Mareke Niemann wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt „Distinktion im Gymnasialen? Prozesse der Habitusbildung an ,exklusiven’ höheren Schulen“ am Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Schul- und Bildungsforschung, Schülerbiographieforschung, soziale Ungleichheit, qualitative Forschungsmethoden. Katrin Kotzyba wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt „Distinktion im Gymnasialen? Prozesse der Habitusbildung an ,exklusiven’ höheren Schulen“ am Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Bildungsforschung, qualitative Forschungsmethoden, soziale Ungleichheit und Bildungsungleichheit, Migration.
Jugend(kultur) und Ganztagsschule Till-Sebastian Idel und Katharina Kunze
Zusammenfassung
Der Aufsatz knüpft an Werner Helspers Beiträge zur Jugendkulturforschung an und bezieht sie auf die neue entstandenen Formen ganztagsschulischer Angebote jenseits des Unterrichts. Er geht der Frage nach, in welcher Weise ganztagsschulische Angebote Möglichkeitsräume für jugendliche und peerkulturelle Entwicklungen zur Verfügung stellen, in denen diese sich mit Modernisierungsambivalenzen auseinandersetzen können. Dazu wird die analytische Perspektive zunächst an einem ausgewählten Fall aus Werner Helspers früher schulbezogener Jugendforschung – der sog. Mensa-Szene – nachgezeichnet. Anschließend werden grundlegende Positionen des pädagogischen und bildungspolitischen Anspruchsdiskurses vorgestellt, in denen das Ideal einer jugendgerechten Ganztagsschule entworfen wird. Dieser normative Diskurs wird dann durch einen exemplarischen Gegenwartsfall eines Hip-Hop-Angebots kontrastiert, das im Rahmen eines ethnographischen Forschungsprojekts teilnehmend beobachtet und dokumentiert wurde. An diesem lassen sich die Ambivalenzen solcher Ganztagsräume für jugendliche Entwicklungs- und Vergemeinschaftungsprozesse aufzeigen. Deutlich wird, wie in
T.-S. Idel (*) Institut für Pädagogik, Carl von Ossietzky Universität, Oldenburg, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Kunze Institut für Erziehungswissenschaft, Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Gibson et al. (Hrsg.), Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25094-2_7
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der gemeinsamen Hervorbringung des Angebots sich Schule und Jugendkultur durchdringen und wie Schule zum Ort der Peers wird, an dem Jugendkultur in spezifischer Weise Gestalt gewinnt. Schlüsselwörter
Ganztagsschule · Außerunterrichtliche Angebote · Jugendkultur · Schülersein · Ethnographie
1 Einleitung In einem ganz übergreifenden Sinne kann man sagen, dass Werner Helspers Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Jugend- und Schulkultur immer schon von der Zielsetzung getragen ist, die innerdisziplinäre Trennung zwischen Jugend- auf der einen und Schulforschung auf der anderen Seite zu überschreiten. Während in der Jugendforschung Schule eher als Alltagswelt von Jugendlichen oder als eine die Peers vereinnahmende, einengende und beschädigende Institution beobachtet wird, setzt die Schulforschung in der Regel mit der Realabstraktion lernender Schüler*innen an und blendet dabei deren Existenz als adoleszente Subjekte und deren Peerwelten ab (Helsper 1989, S. 161; sowie grundlegend Helsper 1988). Werner Helspers Arbeiten verschränken beide Perspektiven und überwinden damit diese Vereinseitigungen. Er befasst sich mit den Strukturveränderungen der Jugendphase und den unterschiedlichen Bearbeitungsmodalitäten, die je spezifische schulkulturelle Ordnungen (im Milieu konkreter Reformschulen, Eliteschulen, Hauptschulen, Gesamtschulen etc.) mit Blick auf die von ihm herausgearbeiteten jugendspezifischen Modernisierungsambivalenzen kreieren, in denen sich Jugendliche bewegen.1 In diesen je spezifischen schulkulturellen ‚Antworten‘ auf die – nicht zuletzt durch Schule selbst mit hervorgebrachten – Modernisierungsambivalenzen konstituieren Schulen für die Jugendlichen jeweils ganz „unterschiedliche Möglichkeitsräume der Auseinandersetzung mit und der Ausgestaltung von Modernisierungsambivalenzen“ (Helsper 2012, S. 101).
1Die
je konkrete biographische Bedeutung der Schule stellt sich dabei für Jugendliche „immer erst im Zusammenspiel oder auch in der Spannung unterschiedlicher Lebenssphären“ her (familiale Haltungen, Peer- und Freizeitkontexte) (Helsper 2015, S. 151).
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An diese Fragestellung – die uns insgesamt ein wesentlicher Dreh- und Angelpunkt der Helsperschen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Jugend und Schule zu sein scheint – knüpfen wir mit dem vorliegenden Beitrag an, indem wir uns mit der Forschung zum Verhältnis von „Jugend und Ganztagsschule“ beschäftigen. Der mittlerweile als ein eigenes Forschungsfeld etablierten so genannten „Ganztagsschulforschung“ kam während der Hauptphase von Werner Helspers Auseinandersetzung mit jugend(kultur)theoretischen Fragen noch nicht jene Bedeutung zu, die ihr der rasant voranschreitende Ausbau des Ganztagsschulwesens mittlerweile verleiht. Dennoch erscheinen uns seine frühen Fallstudien zu Jugendszenen und adoleszenten Individuationsprozessen im reformorientierten Gesamtschulmilieu der 1980er Jahre aufschlussreich und anschlussfähig an die aktuelle Debatte um die voranschreitende pädagogische Institutionalisierung von Jugend durch die Ausweitung von Angeboten im Ganztag, in denen sich schulische Grenzverhältnisse neu konturieren. Wir werden diese Parallelen in einem ersten Schritt exemplarisch am Fall der „Mensa-Szene“ (Helsper 1989) nachzeichnen (2). Ohne Anspruch auf Vollständigkeit rufen wir dann zentrale Positionen des Ganztagsschuldiskurses auf (3). Daran anschließend wenden wir die Frage nach dem Verhältnis von Jugend und Schule empirisch, indem wir exemplarisch auf der Grundlage einer ethnographischen Fallvignette zu einem Hip-Hop-Kurs im Nachmittagsangebot einer Ganztagsschule die interaktive Herstellung einer pädagogischen Ordnung jenseits des Unterrichts und in „jugendkultureller Tuchfühlung“ beschreiben (4). Wir fragen am Fall, welcher Erfahrungsraum hier entsteht und wie die Jugendlichen was diesem zutun, wie sie also in diesem zu Partizipant*innen und Mitspielenden werden. Am Ende des Beitrags plädieren wir für eine auf die Rekonstruktion von Praktiken und Interaktionsdynamiken ausgerichtete Forschungsperspektive auf den Ganztag, die sich für die Pragmatik interessiert, mit der Jugendliche dem Ganztag begegnen und sich in ihm in Szene setzen, und die dabei Ambivalenzen und Spannungen weder von vorneherein setzt noch ausblendet (5).
2 Schuljugend in den 1980ern revisited: Die „Mensa-Szene“ Mit der „Mensa-Szene“ analysiert Werner Helsper eine Peerwelt in einer Gesamtschule des Ruhrgebiets in der ersten Hälfte der 1980er Jahre. Es handelt sich um Schüler*innen einer im liberalen pädagogischen Reformmilieu der 1970er Jahre entstandenen Institution. Auf der Ebene des pädagogisch Imaginären sieht sich diese einem emanzipatorisch-kritischen Bildungsideal verpflichtet,
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sie will ihren Schüler*innen Raum für Partizipation, Selbsttätigkeit und Kritik eröffnen. Die Lehrkräfte orientieren sich an eher symmetrischen Näheverhältnissen zu den Schüler*innen. Werner Helsper legt seiner Analyse, die im damaligen DFG-Projekt „Zum Selbstbild Jugendlicher zwischen Schule und Subkultur“ verortet ist, die Habermassche Unterscheidung von System und Lebenswelt zugrunde. So wie die Lehrkräfte den pädagogischen Anspruch verfolgen, den Schüler*innen eine ganzheitliche Lebenswelt zu bieten, so verleihen sie zugleich den systemischen Zwängen Ausdruck und bleiben eingespannt in die bürokratische Rationalität und das für die Schule konstitutive Leistungsprinzip. Dabei verlaufen die Spannungen zwischen System und Lebenswelt nicht zwischen der Schule und der jugendlichen Subkultur, „sondern als Vermittlung innerhalb der Realität von Schülersubkulturen“ (Helsper 1989, S. 161). Die Mensa-Szene stellt nun eine gegenkulturell-oppositionelle Schüler*innengruppe dar. Zu ihr gehören solche Schüler*innen, die in Mitbestimmungsgremien aktiv sind, und „die Gruppe Jugendlicher, deren Vorstellungen um Punk, Gewaltfreiheit und Anarchie kreisen“ (ebd., S. 163). Diese Gruppe identifiziert sich mit dem emanzipatorischen Ideal der Gesamtschule, zugleich steht sie ihr als Institution in zunehmendem Maße kritisch gegenüber. Auf der Grundlage von Interviewauszügen mit Einzelnen und mit Teilen der subkulturellen Gruppe zeichnet Helsper die Elemente und Modi dieses Prozesses der Distanzierung von Schule bei gleichzeitiger Identifikation mit ihr nach. Die Schüler*innen sind in Bezug auf das Gesamtschulideal enttäuscht und desillusioniert und ziehen sich in die „Mensa-Szene“ zurück. Ihr Gegenentwurf – Autonomie, Individualität, Besonderheit – lehnt sich einerseits bildungsnah an den Schulmythos an und bezieht sich andererseits auf erlebnisintensive jugendkulturelle Praktiken (Spaß, Action etc.). Er bleibt ambivalent, denn er hat die Einzelnen „als Besitzer von Fähigkeiten“ im Auge (ebd., S. 165). Bei aller Schulkritik sehen die Jugendlichen der „MensaSzene“ die Verlängerung der Schulzeit als eine freisetzende Verlängerung ihres Bildungsmoratoriums: „Schule gibt einen vorstrukturierten Rahmen ab, der zwar einerseits Enteignung, Autonomieverlust und Sinnlosigkeit bedeutet, der andererseits aber überhaupt die Möglichkeit zur Betätigung und Aneignung von Wissen eröffnet“ (ebd., S. 167). Die Jugendlichen spalten so gewissermaßen spannungsvoll ihr Verhältnis zur Schule in verschiedene Bereiche auf: „Die grundlegende Opposition gegenüber der Schule bezieht sich vor allem auf die zweckrationalinstrumentellen Aspekte schulischen Lernens, sozusagen jene Aspekte (…), die die Präsenz des ‚Reichs der Notwendigkeit‘ in der Schule darstellen“ (ebd.). Aus adoleszenztheoretischer Sicht analysiert Werner Helsper vor diesem Hintergrund die psychodynamischen Prozesse der Gruppenmitglieder, die sich
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im Umgang mit dem Ambivalenzverhältnis zwischen Schule und Jugendkultur abzeichnen, und die daraus resultierenden Auswirkungen auf die Konstitution des jugendlichen Selbst in der Bearbeitung der Widersprüche. Dabei stellt er heraus, wie die Jugendlichen versuchen, „die durch die schulischen Zwänge bedrohte Idealität des Selbst (…) als Szene-öffentliche-Präsentation von Autonomie aufrechtzuerhalten“ (ebd., S. 173). Dennoch bleiben sie vom schulischen Leistungssystem betroffen, verstricken sich in ihrer Distanzierung zugleich auf paradoxe Weise in dieses und leiden daran: „[…] gerade der Versuch einer möglichst weitgehenden Distanz gegenüber dem schulischen Leistungssystem [kann] zu einer subtileren und vermittelteren Form des Hineinwirkens der schulischen Leistungsimperative in die Beziehungsrealität der Szene führen […]. Diese vermittelten Auswirkungen des schulischen Leistungssystems in Form der Bedrohung des Selbst-Ideals und der Auslösung strukturell angelegter Krisenpotentiale verdeutlicht aber auch die wesentliche Bedeutung der ‚Durchdringung‘ der lebensweltlichen Szene-Milieus durch die systemisch-schulische Rationalität“ (ebd., S. 175). Dass diese krisenanfällige und ambivalenzträchtige Strukturierung auch für Ganztagsschulen – und zwar in einer gesteigerten Weise aufgrund zunehmender Leistungsforderungen und Selbst(zu)ständigkeitserwartungen – bedeutsam wird, deutet Helsper selbst in einem jüngeren Text an: „Diese stärkere Involvierung von Heranwachsenden in das schulische Feld ist auch durch die deutliche Zunahme von Ganztagsschulen im Laufe des letzten Jahrzehnts bestimmt. Dadurch verbringen Jugendliche im Zuge der Bildungsexpansion nicht nur eine längere Lebenszeit, sondern tendenziell auch mehr Tages- und Wochenzeit in der Schule (…). Diese auch tagtäglich stärkere Involvierung von Jugendlichen in das Schulleben führt auch zu einer verstärkten ‚Familiarisierung‘ des Schulischen (…): Für einen größer werdenden Teil der Heranwachsenden wandern Teile familiärer Betreuung und Versorgung in das Feld der Schule aus. Die emotional-diffusen Sorge- und Unterstützungsleistungen werden zwar auch weiterhin in den affektiv diffusen und nicht substituierbaren generationalen Familienbeziehungen erbracht (…). Aber die Schule wird als Beziehungsraum bedeutsamer und zugleich intern ambivalenter: Die Jugendlichen müssen sich stärker in einen schulischen Raum involvieren, der einerseits durch die wachsende Bedeutung von Leistung und Abschlüssen und einer Leistungsrationalisierung des eigenen Selbst gekennzeichnet ist, der aber andererseits auch verstärkt emotionale Sorgeleistungen für die Jugendlichen zu erbringen hat. Damit durchkreuzen sich in der Schule verstärkt universalistisch-distanzierte Leistungsrationalität und eine d iffus-emotionale Sorgehaltung im schulischen Beziehungsgefüge“ (Helsper 2015, S. 133).
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3 Jugend als Ganztagschuljugend. Aktuelle Diskurspositionen Der aktuelle pädagogische Diskurs zum Thema Jugend und Ganztagsschule wird prominent von zwei Positionen aus geführt, die sich – je nach Anlage der Argumentation – teilweise wechselseitig durchdringen, der Sache nach aber spannungsvoll zueinander konstelliert sind. Beide Positionen eint zum einen die Vorstellung, dass die Einführung von Ganztagsschule als Regelangebot eine Neuregulierung des Verhältnisses von Jugend und Schule im Sinne einer ambivalent bewerteten expandierenden Institutionalisierung des Jugendalters und damit zusammenhängend einer Entgrenzung von Schule impliziert (vgl. u. a. Deutscher Bundestag 2013, S. 329; Idel 2013; Kolbe et al. 2009). Zum anderen sind beide Diskursstränge von einer gegenüber der „Ganztagsschulidee“ insgesamt emphatischen Grundhaltung getragen. Auf der einen Seite hat sich ein Thematisierungsmodus ausgeprägt, der – pointiert gesagt – von dem Anspruch getragen ist, mit Ganztagsschule eine bildungsorientierte Optimierung jugendlicher Lebensräume bzw. Lebenswelten erreichen zu wollen (Reinders 2016).2 Begründet wird sie vor allem mit gewandelten Sozialisationsbedingungen (insb. veränderte Familienkonstellationen und Erwerbsstrukturen), erweiterten Bildungsanforderungen (Wandel von Wissensformen, Mediatisierung bzw. Digitalisierung sowie die zunehmend auf den*die Einzelne*n selbst übertragene Verantwortung für die eigene gesellschaftliche Position) sowie über die Hoffnung, durch den Gewinn zusätzlicher zeitlicher Ressourcen insgesamt „andere“ – mithin bessere – Lerngelegenheiten und einen Möglichkeitsraum zu schaffen, der das Potential bietet, Bildungsdisparitätsproblemen durch kompensatorische Förderung besser begegnen zu können (vgl. u. a. Deutscher Bundestag 2017). Verbunden mit der Bemängelung eines als kognitiv verengt kritisierten schulischen Bildungsideals, dem Ruf nach einer neuen Lehr- und Lernkultur (Fietz et al. 2012) und/oder der Ermöglichung „anderen“ Lernens, „z. B. im Sinne eines mit einem höheren Grad an Autonomie erlebten Lernen[s]“ (Decristan und Klieme 2016, S. 2), ist dieser Thematisierungsstrang wesentlich von emphatischen Konzepten von Bildung als „ganzheitlicher Bildung“ (Jürgens 2018), „Ganztagsbildung“ (Coelen
2Diese
Orientierung korrespondiert weitgehend mit den im Rahmen des Investitionsprogramms „Zukunft Bildung und Betreuung (IZBB) immer wieder aufgerufenen Erwartungsmustern an Ganztagsschulen.
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und Hildebrandt 2014; Deinet 2011) oder „Selbst-Bildung“ (vgl. Stojanov 2014) getragen. Programmatisch stellt diese Perspektive vor allem darauf ab, „schulisch erworbene Wissensbestände mit den lebensweltlichen Erfahrungen und Intuitionen Jugendlicher in Verbindung zu bringen“ (ebd., S. 161) und im Zusammenspiel formaler und informeller Bildungssettings „Bildungsprozesse anderer Art“ zu ermöglichen (vgl. u. a. Deutscher Bundestag 2017, S. 361). Die Zielperspektive besteht in nicht weniger als „eine[r] Neujustierung der gesellschaftlichen Funktion der (Ganztags-)Schule, […im Sinne einer] Grenzüberschreitung des bisherigen konzeptionellen schulischen Radius als Kontaktherstellung zu jugendlichen Lebenswelten“ (ebd., S. 361) – alles unter der Leitidee: „Schaffung erweiterter Lern-, Bildungs- und Fördermöglichkeiten“. In seiner argumentativen Architektonik operiert dieser eng mit dem schulkritischen Denken reformpädagogischer Tradition verwobene Diskurs mit unterschiedlichen Variationen einer Gegenüberstellung von Schule auf der einen Seite und „wirklichem Leben“ auf der anderen Seite (vgl. Kolbe und Reh 2008). Explizit oder implizit wird diese Forderung dann wiederum im Weiteren mit der Forderung nach einer möglichst weitgehenden Synthese beider Welten verbunden. Diese Denkfigur hat im reformpädagogischen Denken Tradition.3 Schon Prange (1995) kritisierte die dichotomisierende Gegenüberstellung allerdings als irreführend, weil künstlich evoziert, und machte u. a. darauf aufmerksam, dass es sich bei dem sog. „künstlichen Lernen“ im schulischen Rahmen um nicht mehr und nicht weniger handele als eine Form „wirklichen Lernens“ (vgl. ebd.). Mit Blick auf den aktuellen Diskurs macht dieser Einwand darauf aufmerksam, dass – auch wenn implizit oder explizit mit Figuren argumentiert wird, die von einer Öffnung und/oder Ausweitung von Schule und schulischem Lernen bis hin zu einer Entschulung des Lernens reichen – der Fluchtpunkt dieser Perspektive auf Ganztagsschule letztlich doch auf Lernen und Schulerfolg ausgerichtet bleibt. Sowohl auf Ebene der Untersuchungsanlage als auch auf Ebene der Befundinterpretation wird Ganztagsschule als Instrument in den Blick genommen, über das spezifische Effekte und Wirkungen erreicht werden sollen. Festgestellt wird dabei u. a., dass sie bislang vor allem der „psychosozialen Förderung“ dient (StEG-Konsortium 2016, S. 5) und zwar insofern, als „gute Ganztagsangebote […] Sozialverhalten, Motivation und Selbstkonzept [fördern und …] vermutlich dadurch auch zum Schul-
3Vgl.
exemplarisch Rumpf (1986), der in seinem Beitrag mit dem sprechenden Titel „Die künstliche Schule und das wirkliche Lernen“ systematisch mit dem beschriebenen Oppositionskonstrukt argumentiert.
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erfolg im Sinne von Noten und Übergängen bei[tragen]“ (Decristan und Klieme 2016, S. 3). Teilt man die Position, dass die Partizipation an der Institution Schule Heranwachsenden konstitutiv eine peer- und jugendkulturverträgliche Ausbalancierung schulischer bzw. unterrichtlicher Normen abverlangt (vgl. u. a. Helsper 2012, S. 85), so stellt sich mit Blick auf den beschriebenen Forschungsund Thematisierungsfokus die Frage, ob dieser nicht dazu neigt, diese strukturellen Ambivalenzen und Spannungen und im Zusammenhang damit auch die im Bereich schulischer Bildung wirksamen Machtverhältnisse gleichsam „diskursiv aufzulösen“: Ungeachtet der immer wieder erfolgenden rhetorischen Verweise auf „Grenzen“ und „Ambivalenzen“ scheinen sich diese Aspekte argumentativ jedenfalls in der Metapher einer Schule, die ganz anders ist (vgl. u. a. Stecher et al. 2011, S. 4) zu verlieren.4 Ein zweiter, ebenfalls an der Schnittstelle von Schul- und Jugendforschung operierender Forschungs- und Diskussionsstrang argumentiert weniger aus einer reformpädagogisch inspirierten Perspektive auf Lernen und Bildung heraus, als vielmehr vom Standpunkt einer – tendenziell schulkritisch eingestellten – Jugend(kultur)forschung her. Da, wo im ersten Thematisierungszusammenhang Jugend als ein „Bildungs- bzw. Optimierungsmoratorium“ (Reinders 2016) konzipiert wird, bezieht sich dieser zweite Thematisierungszusammenhang stärker auf eine Konstruktion von Jugend als ein „psycho-soziales Moratorium“ sensu Erikson (1986)5. Im Sinne einer „Lebensphase eigenen Rechts“ wird Jugend dabei dezidiert als Gegenwelt zur Schule entworfen – an die Stelle des Denkmodells „künstliche Schule“ versus „reales Leben“ tritt also das Konstrukt „Schule“ versus „Jugend“. Hagedorn (2017) bspw. kritisiert aus dieser
4Auch
wenn regelmäßig auf strukturell bedingte Grenzen hingewiesen wird, so erscheint dies mit Blick auf die Gesamtgestalt der Argumentation eher als ein rhetorischer Verweis, denn als Argument, von dem sich der insgesamt hoffnungsvolle Thematisierungsduktus ernsthaft irritieren ließe. 5Wie u. a. Reinders (2016) und Helsper (2012) zeigen, sind beide Konstrukte nicht ohne weiteres miteinander kompatibel: „Die verstärkte Scholarisierung von Heranwachsenden ist nicht nur als Erweiterung von Bildungsoptionen zu lesen, sondern muss als Entwicklung vom Bildungsprivileg zum Bildungszwang und als Entwicklung eines Bildungsparadoxons verstanden werden. Im Zuge dieser Entwicklung wechselt das schulische Bildungsmoratorium seinen Charakter: Die Schule ist durch neue Zwänge gekennzeichnet und verändert sich von einem eher offenen Freiraum zu einem Ernstraum.“ (Helsper 2012, S. 79).
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Perspektive heraus, dass ein (Ganztags-)Schule als Bildungs- und Optimierungsmoratorium konzipierender Blick auf Jugendliche Gefahr liefe, Jugend „auf das Bild eines schulisch-institutionell zu produzierenden Humankapitals für den Arbeitsmarkt“ (ebd., S. 15) zu verkürzen und damit jugendspezifische Bedürfnisse nach individueller Selbstentfaltung, Entpflichtung und Exploration unberücksichtigt zu lassen. Bspw. sprächen, so Hagedorn, „die relativ hohe Leistungsakzeptanz sowie die relativ hohe Akzeptanz der Qualifikationsfunktion von Schule unter Jugendlichen, aber auch die Akzeptanz der Selektionsfunktion von Schule […] dafür, dass die Reduzierung des jugendlichen Selbst auf ein Schülerselbst im Sinne von schulischer Qualifikation längst selbstwirksam geworden ist“ (ebd., S. 15). Die mit der Etablierung von Ganztagsschule einhergehende zeitliche Ausdehnung von Schule gerät unter diesem Fokus geradezu zwangsläufig als Vereinnahmung jugendlicher Lebenswelt in den Blick (u. a. Hunner-Kreisel 2008, S. 46; Soremski und Lange 2010, S. 49). Dies aufgreifend wird in der Konsequenz in der Regel die Frage angeschlossen, wie (Ganztags-)Schule „jugendgerecht“ gestaltet werden kann. Dass es sich hier um eine diskursdominierende Leitperspektive handelt, dokumentiert sich u. a. darin, dass ein Gros der Studien die Frage des Verhältnisses von Jugend und (Ganztags-)Schule unter dem Fokus „Auswirkungen“ bzw. „Potentiale und Risiken von Ganztagsschule“ thematisiert. Die diesbezügliche Befundlage erweist sich dabei allerdings als nicht durchgängig kohärent. Während bspw. die im Rahmen der StEG-Studie erhobenen Selbstangaben der Jugendlichen (Züchner 2013) eher darauf hindeuten, dass sich die Peer-Einbindungen in Abhängigkeit vom Halbtags- bzw. Ganztagsschulbesuch kaum unterscheiden, indizieren die Befunde der PIN-Studie (Kanevski und von Salisch 2011), dass bis zur neunten Klasse im Rahmen der Ganztagsschule mehr Schulfreundschaften entstehen als im Rahmen der Halbtagsschule. Und Soremski und Lange (2010, S. 9) fragen nach „Potenzialen und Barrieren […], die eine Ganztagsschulbildung und die damit verbundenen Anforderungen im Bildungs- und Alltagsbereich mit sich bringen“ und kommen zu dem Schluss: „Die Frage, wie jugendliche Ganztagsschüler*innen ihren Freizeitalltag organisieren, stellt sich aus der Perspektive der Akteure vorrangig als eine Frage der Vereinbarkeit schulischer und außerschulischer Freizeit dar“ (ebd., S. 170). Daher konturiert sich Ganztagsschule einerseits „als Ressource zur Freisetzung außerschulischer Freizeit und als Ort der Fortsetzung der eigene Freizeitpraktiken. Zum anderen wird sie als Verhinderung von Freizeit erfahren“ (ebd.). Gemeinsam ist allen Untersuchungen, die wir dieser Diskursposition zugerechnet haben, dass in der Konsequenz auf eine verstärkte Orientierung an der
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Eröffnung von Partizipations-, Autonomie- und Selbstregulierungsmöglichkeiten im „Freiraum“ der Peers gedrungen wird. Die Sorge um den Fortbestand und damit einhergehend um eine jugendgerechte Gestaltung von (Ganztags-)Schule erweist sich insgesamt als ein diskurs- und perspektivenlenkender Referenzpunkt. Im aus dieser Perspektive nahe liegenden gedanklichen Rekurs auf ein Ideal von Ganztagsschule als – zumindest teilweise – „entschultem“ Erfahrungsraum, der in der Lage ist, selektions- und leistungsbezogene schulische Ansprüche mit den erlebnishaften, erotisch-sinnlichen und expressiven Bedürfnissen Jugendlicher zu synthetisieren, treffen sich die beiden hier referierten Diskurspositionen: Genau wie im Zusammenhang des zuerst referierten Thematisierungsmodus geraten auch in der zweiten Perspektive letztlich genau diejenigen Spannungen und Ambivalenzen aus dem Blick, auf die sich das Denkmodell in seinem Ursprung unmittelbar bezieht. In Analogie zu Pranges (1995) Kritik an der Gegenüberstellung von „künstlicher Schule“ und „wirklichem Leben“ lässt sich auch mit Blick auf die Denkfigur, Schule und Jugend als Gegenwelten zu entwerfen, einwenden, dass sie im Kern einen Gegensatz schafft, der analytisch nicht ohne weiteres haltbar ist, weil er eine Gleichsetzung unterschiedlicher Gegenstandsebenen in Anspruch nimmt: Denn Schule ist nicht Gegenwelt, sondern Teil von Jugend. Mit anderen Worten: „Jugend tritt in einer nicht schulhomologen Form mitten in der Schule zu Tage“ (Helsper 2008, S. 138). Eine sich an diese Perspektive anschließende Forschung zum Thema „Ganztagsschule und Jugendkultur“ müsste entsprechend prioritär danach fragen, wie und mit welchen Implikationen Jugend bzw. Jugendkultur im Ganztag Ausdruck und Gestalt gewinnt. Wir wollen dieser Frage im Folgenden wenigstens exemplarisch an einem ethnographischen Fallbeispiel zu einer ganztagsschulischen Hip-Hop-AG nachgehen.6
6Die
ausführliche Fallvignette für das Hip-Hop-Angebot, auf deren Ergebnisse wir uns paraphrasierend stützen, entstand im DFG-Verbundprojekt JenUs (Jenseits des Unterrichts. Ethnographische Studien zu Lernkulturen an den Rändern von Schule) (Graßhoff et al. 2019). Sie wurde von Christin Haude und Gunther Graßhoff (2018) erstellt. Das JenUs-Projekt wird an den beiden Standorten Bremen und Hildesheim von Carolin Bebek, Henning Gutfleisch, Gunther Graßhoff, Christin Haude, Till-Sebastian Idel und Anna Schütz durchgeführt.
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4 Hip-Hop in der Ganztagsschule – ethnographische Beobachtungen Die Hip-Hop-AG findet im ganz konkreten sozialräumlichen Sinne außerhalb des Schulgeländes in einer Tanzschule statt, zu der die teilnehmenden Schüler*innen hinfahren müssen. Sie wird durchgeführt vom jungen, formal nicht qualifizierten, aber über beeindruckendes tänzerisches Können verfügenden Tanzlehrer José. Er ist selber noch jung und präsentiert sich vor den Schüler*innen mit einem coolen Habitus. An der AG nehmen ca. 25 Schüler*innen vorwiegend aus den Klassen 7 bis 9 aus verschiedenen Ganztagsschulen teil: zunächst aus einer Realschule sowie einem Gymnasium und im späteren Verlauf auch aus einer Hauptschule. In dem Angebot besteht die für viele Ganztagssettings geltende paradoxe Struktur einer freiwilligen Verpflichtung (Idel und Kunze 2008): Zum Mitglied wird man durch eine interessengeleitete freiwillige Auswahlentscheidung in einem Wahlpflichtbereich. Die grundsätzlich freiwillige Einwahl ist der Tanzschule sehr wichtig. Weil zugleich Schulpflicht und damit eine Verpflichtung zu regelmäßiger Teilnahme besteht, gerät der angebotsverantwortliche Tanzlehrer José in die Rolle des Kontrolleurs. Dabei muss er anwesende und nicht anwesende Schüler*innen protokollieren, ohne aber über die Rechtmäßigkeit von Versäumnissen im Bilde zu sein. Einzige Quelle sind für ihn Auskünfte der anwesenden Schüler*innen. So gerät die Anwesenheitskontrolle zu einer „Als-ob-Praktik“, deren sozialer Sinn letztlich darin besteht, das Verpflichtungsgebot und dessen formalen Geltungsanspruch immer wieder aufzurufen. Zugleich wird darüber aber auch immer wieder der schulische Rahmen der AG verdeutlicht: Hier muss man da sein und dableiben, sonst verletzt man seine Pflicht als Schüler*in. Die AG wird von der Tanzschule seit einigen Jahren angeboten und besitzt an einer der Schulen bereits den Status eines beliebten Regelangebots. In einer anderen Schule wird mit einer recht ausführlichen Ankündigung für die Teilnahme an der AG, die bereits letztes Schulhalbjahr angeboten wurde, geworben: AG Dance4Respect – Teamwork durch Tanz Hip Hop und Breakdance (alle Jahrgänge) Der Umgang von Schülern untereinander wird immer mehr zum Problem. Joe und Walt Semic [die Leiter der Tanzschule], bekannt als Dance-Breaker, entwickelten gemeinsam eine AG und setzen sich damit für mehr Respekt, Toleranz, Anerkennung und Akzeptanz unter Jugendlichen ein. Kinder und Jugendliche sollen durch gemeinsames Tanzen das „Miteinander“ und das „Wir-Gefühl“ verstärken.
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Tanzen ist ein Gemeinschaftssport. Eine Tanzchoreographie sieht nur gut aus, wenn alle Tänzer miteinander harmonieren. Durch Tanzen kann somit ein Gemeinschaftsgefühl erweckt werden, und zwar auf eine spielerische und spaßige Weise. Die beiden Brüder führen ein ähnliches Projekt an verschieden Schulen in H-Stadt durch. Schüler und Lehrer sind begeistert von dem Hip-Hop und Breakdance-Duo. Die Brüder verkörpern genau das, was heutzutage vielen Teenagern fehlt, Disziplin, Selbstbewusstsein und die Überzeugung, dass Träume wahr werden können, wenn man für sie kämpft und nicht aufgibt. Die AG wird in der Tanzschule mit mehreren Klassen zusammen stattfinden. Der Kurs wird 1 ½ Stunden dauern. Den Schülern wird eine aufregende Choreografie beigebracht, dies dauert ca. eine Stunde. Nach einer erfolgreichen Tanzstunde sorgen Joe und Walt Semic für eine genüssliche Pause. Zur Erfrischung bekommen die Schüler frische Getränke und für den kleinen Hunger gibt es z. B. einen beliebten Hot Dog für jeden. In dieser Pause sollen sich die Jugendlichen auch über ihre Erfahrungen, Ziele und Wünsche austauschen und sich miteinander unterhalten und kennenlernen. Die Pause, die den neuen Slogan „Chillen“ bekommen hat, soll den Schülern zeigen, wie es sich nach erfolgreicher Arbeit in Ruhe ausklingen lässt.
Deutlich wird an der Beschreibung zunächst eine grundlegende Pädagogisierung des Angebots: Das Tanzen findet in einem Arrangement statt, das als ein entwickeltes, durchdachtes Konzept vorgestellt wird, dem eine eigene pädagogische Qualität und spezifische Lerneffekte zugeschrieben werden. Selbst die vorgesehene Pause wird pädagogisiert, wobei – indem an Jugendsprache anschließend von „Chillen“ gesprochen wird – einerseits eine Passung zum jugendlichen Erwartungshorizont suggeriert wird, dieses „Chillen“ andererseits aber als Arrangement einer Art methodischer Sozialisation konzipiert wird, das die Jugendlichen zu gehaltvollen Selbstthematisierungen und wechselseitigen Selbstoffenbarungen auffordern soll. Zentrales Element dieser schul- und tanzschulseitig kreierten pädagogischen Sinnkonstruktion ist ein kulturskeptisches Krisenszenario, in der ein Bild von Jugend gezeichnet wird, in dem die Jugendlichen als Problemträger exponiert werden. Dieses Motiv findet sich gleich zu Anfang und zieht sich durch den gesamten Text. Generalisierend und indirekt adressiert werden „die Jugendlichen“ bzw. „Teenager“ aus einer Defizitperspektive als Subjekte, die sich abweichend verhalten und erzogen werden müssen, weil ihnen soziale Fähigkeiten wie Gemeinsinn und „Respekt, Toleranz, Anerkennung und Akzeptanz“ ebenso fehlen wie Selbstkompetenzen wie „Disziplin, Selbstbewusstsein und die Überzeugung, dass Träume wahr werden können, wenn man für sie kämpft und nicht aufgibt“. Die Hip-Hop-AG wird so zu einer Maßnahme der Förde-
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rung des sozialen Lernens und der Persönlichkeitsbildung stilisiert, wohinter die ästhetisch-leibliche Erfahrung des Tanzenlernens eher zurücksteht. Das Angebot erscheint vor diesem Hintergrund als Kompensations- und Heilmittel. Als positiver Gegenhorizont und Idealkonstruktion werden die beiden „Brüder“ im pädagogischen Generationsverhältnis zu Vorbildern statuiert, die jene Tugenden, die den „Teenagern“ heute fehlen, mustergültig verkörpern und vermitteln wollen, indem eine Choreografie „beigebracht“ wird. Die konkreten Schüler*innen werden indirekt an zwei Stellen adressiert, nämlich dort, wo ein erlebnisintensiver Erfahrungsraum, in dem sich die Jugendlichen im Tanz ausdrücken und erfahren können sollen, zumindest angedeutet wird: „eine aufregende Choreografie“, und dort, wo ihnen in der bereits beschriebenen ambivalenten Form eine erholsame Pause und Raum zum Austausch untereinander versprochen wird. Die teilnehmend beobachtete Vermittlungspraxis im Angebot selbst wird durch das pädagogische Operativ von Vormachen und Nachahmen strukturiert. Ziel ist es, von Tanzlehrer José entworfene Choreografien einzuüben, die später in den beteiligten Schulen zu gegebenen Anlässen aufgeführt werden. Es lassen sich über die verschiedenen Stunden und Proben zwei Phasen identifizieren. Zunächst tanzt José mit dem Rücken zur Gruppe und adressiert die Gruppe als Ganzes, die Schüler*innen sollen mittanzen. Auf einzelne Schüler*innen geht José dabei nicht ein. Er agiert wie ein nahbarer und zugleich strenger Trainer, positioniert sich als Animateur, fordert die Schüler*innen laut zum Mitmachen auf, hält die Gesamtkoordination in Händen und fordert Konzentration, Ausdauer und Folgsamkeit ein. Die Legitimation dazu bezieht er aus seinem beeindruckenden tänzerischen Können. Auch stößt sein „cooler“ Habitus bei den jugendlichen Schüler*innen, mit denen er sich duzt, sichtbar auf große Wertschätzung und Bewunderung. Damit korrespondiert, dass in den Praktiken von José kaum autoritätsstiftende oder Anerkennung einfordernde Bezugnahmen auf die generationale Differenz zu beobachten sind. In der zweiten Phase späterer Stunden, als das Angebot und die Einübung der Choreografie vorangeschritten sind, differenziert sich diese Praktik des kollektivierenden Adressierens und modellgebenden Vortanzens aus: José arbeitet nun mit Teilgruppen, die anscheinend nach heterogenen Leistungsständen zusammengestellt sind. Er „testet“ und beobachtet die Kleingruppen, gibt Rückmeldungen und bewertet nun auch Einzelne, aber immer nur in Bezug auf die jeweilige Performance der Kleingruppe insgesamt. Im Vordergrund stehen dabei Kriterien des tänzerischen Ausdrucksvermögens und der Leistungsmotivation. Dabei werden alle in gleicher Weise gemessen und verglichen – Alter, Geschlecht, körperlichen Einschränkungen oder andere Differenzierungslinien spielen keine Rolle. Die
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nicht selbst tanzenden Teilnehmenden werden in dieser nach Teilgruppen differenzierten Phase jeweils zum Publikum. Dabei sehen sie sich dazu aufgefordert, aufmerksam zuzuschauen und anhand der Rückmeldungen von José gewissermaßen stellvertretend beobachtend zu lernen. Die beobachtenden Schüler*innen kommen dieser Aufforderung zum Teil nach; auch applaudieren sie den Gruppen, ohne sich aber dabei an den Qualitäten der Gruppenperformances oder am Können der einzelne Schüler*innen zu orientieren, vielmehr wird für Mitschüler*innen der eigenen Schule oder Klasse oder Freund*innen applaudiert. Ein anderer Teil der Schüler*innen geht währenddessen anderen Aktivitäten nach (Gespräche mit anderen, diverse Smartphone-Aktivitäten, gegenseitige Massage, Verlassen des Raums). In dieser Verschiebung der Vermittlungspraxis verändern sich auch die Erfahrungsqualitäten des Settings. Während es in den ersten Stunden prioritär darum zu gehen scheint, Spaß zu haben, Energie und Power zu mobilisieren und sich auszuprobieren, tritt diese Orientierung in den folgenden Stunden zurück hinter eine höhere Leistungsorientierung, eine Ausrichtung und Arbeit an einer korrekt getanzten Choreografie, die auf die Vollendung eines aufführbaren Produkts zielt. Die Leistungserwartungen sind hoch. Jedem und jeder Schüler*in wird unabhängig von persönlichen Voraussetzungen zugemutet, aber auch zugetraut, die Choreografie zu erlernen. José versucht wie ein F itness-Trainer die Schüler*innen bis an ihre Leistungsgrenzen zu bringen, anfänglich motivierend („War das zu schnell? … Nun wird es schnell!“ oder „Macht weiter so. Ihr motiviert mich!“), in der zweiten Phase direkter, fordernder und auch zuschreibender („Das geht viel besser. Ihr passt nicht auf.“; „Du musst noch die Choreo’s üben.“; „Du musst, musst ein bisschen schneller werden.“; „Du bist zu hektisch.“; „Du bist zu faul.“; „Du Rumkaspertyp. Du bist genauso faul wie sie“). In den Stunden gibt es wenig Pausen, es wird fast durchgeübt. Für die Jugendlichen ist das Angebot sichtbar kräftezehrend, anstrengend. Manche bearbeiten die hohen Leistungsanforderungen, indem sie sich möglichst weit hinten positionieren oder sich gänzlich entziehen, sie nehmen sich am Rand des Geschehens eine Auszeit oder verlassen den Raum, was von José vermutlich nicht bemerkt, jedenfalls nicht kommentiert oder sanktioniert wird. Die Möglichkeiten, das Angebot mitzubestimmen und mitzuentscheiden, sind limitiert. Die Choreografie ist ebenso wie die Musikauswahl mehr oder weniger vorgegeben. An wenigen Stellen können die Schüler*innen zwischen zwei gezeigten Choreo-Alternativen wählen. Darüber hinaus werden von José Tabuzonen definiert. So darf insbesondere die Musikanlage von den Schüler*innen nicht bedient werden. Möglichkeiten eines stärker individualisierten „Sich-Ausprobierens“ eröffnet das von José vorgegebene und zeitlich limitierte
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freestyle-dancing für alle zu Beginn jeder Stunde. Wie die Beschreibung zeigt, ergeben sich im weiteren Sinne dann aber doch Handlungsräume für alternative Aktivitäten, indem die Beteiligten an den Rändern des Kollektivgeschehens „Ausstiegspunkte“ kreieren, deren Nutzung und Ausgestaltung unkontrolliert bleibt.
5 Fazit Jenseits der eingangs nachgezeichneten Diskurse um eine andere Pädagogik von, in und durch die Entwicklung der Ganztagsschule, weisen die bislang vorliegenden Befunde aus der Ganztagsschulforschung zu Wirkungen bzw. Risiken und Potentialen von Ganztagsschule keineswegs auf einen grundlegenden Wandel der Schul- und Lernkultur in der Breite, und auch gravierende Auswirkungen auf das Familienleben oder die Alltagsgestaltung der Jugendlichen zeichnen sich bislang kaum ab. So lautet das Fazit der Sachverständigenkommission für den 15. Kinder- und Jugendbericht: „Zwar hat sie (= die Ganztagsschulentwicklung) sich zahlenmäßig deutlich gesteigert, dennoch prägt sie das Jugendalter zeitlich und qualitativ weit weniger als erwartet oder angenommen wurde. Insgesamt dürfte die diagnostizierte Scholarisierung oder Institutionalisierung des Jugendalters durch die breite Einführung der G8-Gymnasien stärker geprägt werden als durch die Ganztagsschule im Jugendalter“ (Deutscher Bundestag 2017, S. 476). Die im vorliegenden Beitrag verfolgte mikrologische Forschungsperspektive bewegt sich unabhängig von dieser auf die Frage einer übergreifenden systemischen Transformation ausgerichteten Makroperspektive. Mikrologisch legen wir zugleich eine Differenzierung und Akzentverschiebung nahe: Am Fall wird sichtbar, wie Jugendkultur, konkret Hip-Hop und Breakdance als jugendkulturelles Stilangebot, einerseits am Rande von Schule, aber institutionell gesehen dennoch im Ganztag aufgeführt und so auf einer schulischen Bühne in Szene gesetzt wird. Offensichtlich wird, wie dabei in der gemeinsamen Hervorbringung des Angebots durch den jungen Tanzlehrer und die jugendlichen Schüler*innen sich Schule und Jugendkultur durchdringen und wie Schule zum Ort der Peers wird, an dem Jugendkultur in spezifischer Weise Gestalt gewinnt. Die Teilnehmenden agieren im Angebot zugleich als Schüler*innen wie auch als Jugendliche. Sie verbinden selbstläufige Praktiken des wechselseitigen Bezugnehmens aufeinander als Peers mit solchen, in denen sie die Anforderungen an sie als Schüler*innen erfüllen wie auch unterlaufen. Es sind dieselben Praktiken, die sie in ihren Subjektpositionen als Schüler*innen und als Peers bzw. Jugendliche hervorbringen.
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Die Spannungsmomente dieser Relationierungen von Jugendkultur und Schule in einem Arrangement, das bewusst an die Interesse der Schüler*innen anschließt und sie damit im gleichen Zuge als Schüler*innen und als Jugendliche anruft, sind deutlich zu erkennen: Sie erstrecken sich über die Pflicht zur Teilnahme und die geringen Mitbestimmungsmöglichkeiten in einem – formal dezidiert kollektivierend ausgerichteten – Angebot. Dies legt einerseits den Eindruck einer schulischen Enteignung und Vereinnahmung von Jugendkultur nahe, den man aus einer strukturtheoretischen Sicht als „Kolonialisierung von Jugendkultur durch Schule“ abstrahieren könnte. Damit würde man allerdings wiederum Vereinseitigungen und Entgegensetzungen in der Abstraktion der Beobachtungen konstruieren. Wir wollen stattdessen – und damit sehen wir uns ganz in der Denkbewegung von Werner Helsper, der in seinen Fallrekonstruktionen wie oben gezeigt Dualismen ebenso wie einseitige Unterwerfungsfiguren von Jugend durch Schule vermeidet – die Verwobenheit und auch die Reibungen in den Praktiken der jugendlichen Akteure akzentuieren. Die Teilnehmenden spielen mit virtuosen Verbindungen von Handlungsmodalitäten in geteilten Praktiken, mit denen sie sich zugleich als Schüler*innen wie auch als Jugendliche positionieren. So gesehen lässt sich an dem Beispiel zeigen, wie Schule in der Expansionsbewegung in all ihrer Widersprüchlichkeit, die im institutionalisierten Ganztag gerade nicht stillgestellt wird, jenseits einer dualistischen Entgegensetzung von Schule und Jugend Teil von Jugend wird und wie es den Teilnehmenden gelingt, sich im Rahmen der auch in diesem Angebot in Geltung gesetzten institutionellen Machtverhältnisse eigensinnig mit schulischen Normen zu arrangieren und die außerunterrichtlichen Angebote kreativ zu nutzen, um sich als Jugendliche zu konstituieren. Bislang sind Studien aus der Ganztagsschulforschung, die die von uns angesprochenen Verhältnisbestimmungen in situ beobachten, noch Desiderat. Eine Variation dieser Perspektive verfolgen Zschach und Pfaff (2014). Sie zeigen auf Basis ihrer dokumentarischen Rekonstruktionen von Gruppendiskussionen unter Jugendlichen, dass „die permanent vorhandene Überlagerung diverser gleichzeitiger Herausforderungen und divergierender Einflüsse, denen sich das Selbst stellen muss, eine analytische Trennung in außerschulisch erworbene und innerschulisch zu erwerbende Identitätsorientierungen nicht zu[lässt]“ (ebd., S. 454). Für die Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex „Jugend und Schule“ regen sie deshalb einen Blickwechsel an: Weg von einer Perspektive, die Jugendliche und Gleichaltrigengruppen „als innerschulische Repräsentanten der Schule äußerlicher sozialer Milieus“ versteht (ebd. S. 442), hin zur Frage, inwiefern und wie Schule von Jugendlichen als peerkultureller Ort angeeignet wird. Gerade für die Ganztagsschulforschung sehen wir darin gewinnbringende Anschlussmöglichkeiten jenseits der von uns oben aufgezeigten Diskursstränge,
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die Jugend(kultur) und Ganztagsschule – freilich unter verschiedenen Perspektivierungen – in eine Gegenstellung bringen und Jugendkultur gänzlich im Außen der Schule verorten. Werner Helspers theoretische Konzeptualisierungen des Verhältnisses von Jugend und Schule sind dabei nach wie vor richtungweisend.
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Jugend(kultur) und Ganztagsschule
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Prof. Dr. Till-Sebastian Idel, Professor für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg,Fakultät I – Bildungs- und Sozialwissenschaften, Institut für Pädagogik, Arbeitsgebiete: Schul- und Unterrichtstheorie, pädagogische Professionalität, rekonstruktive Schul- und Unterrichtsforschung. Prof. Dr. Katharina Kunze, Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt pädagogisches Handeln und Professionalität, Universität Göttingen, Institut für Erziehungswissenschaft. Arbeitsgebiete: rebkonstruktive Schul- und Unterrichtsforschung, Professionalisierungstheorie und -forschung, Hochschulforschung.
Subjektivität und Schule – Ein Fallvergleich Andrea Kleeberg-Niepage, Sandra Rademacher und Michael Tressat
Zusammenfassung
In diesem Beitrag vergleichen wir zwei Fälle jugendlicher Schulkritik miteinander. Dabei stellen wir den Fall Anne, dessen Analyse Werner Helsper 1983 veröffentlicht hat, dem Fall Henriette aus einem laufenden Forschungsprojekt gegenüber. Während die sechszehnjährige Anne Anfang der 1980er Jahre gegen die familialen und schulischen Anpassungsforderungen ankämpft und nach Möglichkeiten sucht, jeglicher Form einer Standardisierung und Normierung zu entgehen, finden wir in dem Fall der siebzehnjährigen Henriette einen Modus der kritiklosen Kritik vor. Henriette richtet sich in einer Art und Weise in ihrem schulischen Dasein ein, für die charakteristisch ist, das Planen des Lebens nach der Schule zu vermeiden. Trotz der deutlichen Differenzen in der Kritik des Schulischen erscheint in beiden Fällen die Institution Schule als ein Ort der Autonomielähmung. Der explizierte
A. Kleeberg-Niepage (*) Insitut für Erziehungswissenschaften: Abteilung Psychologie, Europa-Universität Flensburg, Flensburg, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Rademacher · M. Tressat Insitut für Erziehungswissenschaften: Abteilung Erziehungswissenschaft, Europa-Universität Flensburg, Flensburg, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Tressat E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Gibson et al. (Hrsg.), Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25094-2_8
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Widerstand gegen die Schule und die gesellschaftlichen Bedingungen verweist sowohl im Fall Anne als auch im Fall Henriette letztlich auf einen doch nur sehr geringen Handlungsspielraum der Subjekte. Schlüsselwörter
Sozialisation · Subjektivität · Jugend · Schule · Schulkritik · Krise
1 Subjektivität und Schule: Zur Idee eines Fallvergleichs Im Jahr 1983 hat Werner Helsper einen Aufsatz mit dem Titel „Subjektivität und Schule. Über den Versuch, in der Schule (k)ein Subjekt sein zu dürfen“ veröffentlicht. Die grundlegende Idee dieses Beitrages ist es, „der Krise der Subjektivität im Zusammenhang schulischer Sozialisationsprozesse nachzuspüren“ (Helsper 1983, S. 29). In dem so überschriebenen Aufsatz argumentiert Helsper entlang eines einzelnen Falles, aber auf der Basis eines sehr reichhaltigen Datenmaterials: Den Analysen liegen sowohl Interviews (ca. 40 Gesprächsstunden), die der Autor mit der zu Forschungsbeginn 16-jährigen Gesamtschülerin Anne geführt hat, als auch natürliche Protokolle in Form von Klausuren und deren Kommentierungen durch Anne und ihren Mathematiklehrer über mehrere Schuljahre zugrunde. Die zitierten Interviewpassagen zeugen ebenso anschaulich wie die außerfachlichen Interaktionsangebote, die Anne ihrem Mathematiklehrer im Rahmen der (Nicht) Bearbeitung ihrer Klausuraufgaben macht, von ihrem Kampf um Subjektivität. Dieser Kampf ist vor allem ein Kampf gegen die familialen und schulischen Anpassungsforderungen. In der Familie kämpft Anne gegen das „Projekt“ ihrer Eltern eine „liebe, kleine Tochter“ haben zu wollen an (vgl. ebd., S. 31), in der Schule sucht sie immer wieder nach Möglichkeiten, auch und vielleicht gerade auch unter den Bedingungen einer schulisch-institutionellen Standardisierung und Normierung als unverwechselbares Subjekt erkennbar zu sein. Sie versucht zunächst als „erste Punkerin“ Mahlstadts1 und später, als auch der Punk keine
1„Einen
Versuch, dem Konformismus zu entkommen, sieht Anne im Punk. Als „erste Punkerin“ Mahlstadts sieht sie im Punk die ‚Auflehnung gegen die Konsumgesellschaft‘ […] Als Punk zeigt sie, ‚dat man da eben irgendwie nich mehr mit einverstanden ist‘ […] Dies drückt sich in der Kleidung aus, die vielfältig, immer verschieden ist und den ‚Haß‘ auf den Konformismus nach außen kehrt.“ (Helsper 1983, S. 32).
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Hoffnung mehr auf Individualität und Unverwechselbarkeit bietet, als Pinguinfanatikerin2, sich dem standardisierten Einerlei zu widersetzen. Gerade auf der Folie der unterschiedlichsten Versuche Annes, „in der Schule (k)ein Subjekt sein zu dürfen“, fällt in unserem aktuellen Forschungsprojekt, in dem wir Kinder und Jugendliche in Deutschland und Ghana zu ihren Zukunftsvorstellungen befragen, auf, wie standardisiert und normiert die Zukunftsentwürfe von Kindern und Jugendlichen demgegenüber heutzutage sind. Deshalb wollen wir im Rahmen dieses Beitrages einen dieser Kontrastfälle – den Fall Henriette – aus unserem Sample herausgreifen und ihn dem Fall Anne vergleichend gegenüberstellen. Helsper argumentiert, dass die „Konsequenzen des Zivilisationsprozesses […] in den letzten Jahrzehnten zunehmend als psychische Folgekosten in einer grundlegenden Krise der Subjektivität zu Buche“ (ebd., S. 29) schlagen und geht von drei typologischen Ausformungen dieser Krise aus: Den ersten Typus nennt er „Verwilderung der Subjektivität“, den zweiten „Vernichtung der Subjektivität bis zur Spurenlosigkeit“ und drittens finde sich zwischen diesen beiden Polen ein „breites Spektrum verschiedener Formen von Selbstkrisen“ (ebd., S. 30). Den Fall Anne rechnet Helsper dem ersten Typus zu; der Fall Henriette neigt, so wollen wir an dieser Stelle vorwegnehmen, dem gegenüberliegenden Pol zu. Ein Vergleich dieser beiden kontrastiven Fälle erscheint uns insbesondere auf der Folie einer Verhältnisbestimmung von Subjekt und Schule sinnvoll, auch wenn er aufgrund der Tatsache, dass das zugrundeliegende Datenmaterial aus unterschiedlichen Forschungskontexten und -zeiten stammt und aus unterschiedlichen Protokolltypen besteht, etwas hinkt. Dem umfangreichen Datenmaterial, das Helsper für seine Falldarstellung und Analyse heranzieht, können wir
2„Die
letzte Hoffnung, die sich Anne angesichts der konformistischen Abdankung des Punk aufgebaut hat, ihre ‚Kehrtwendung‘ hat in die Pinguinwelt der Antarktis geführt. Ein Entkommen? Wahrscheinlich ist sie die einzige ‚Pinguinfanatikerin‘, während es inzwischen zehntausende von Punks gibt. In den Pinguinen, so wie sie sie sehen will, findet sie ihre letzten ‚Helden‘, ‚weil sie unter härtesten Bedingungen leben müssen und trotzdem noch so lustig sind‘ […] In den Pinguinen, der traurigen Flucht des immer noch lustigen, aber enttäuschten Punk zu den Tieren, findet Anne noch Hoffnung. Im Gegensatz zu den Menschen, die alle nur noch ‚Maschine‘ sein sollen, sind die Pinguine noch ‚süße Individuen‘, jeder für sich und doch nicht allein. Zugleich aber ist diese ‚letzte Hoffnung‘, die traurige Utopie der antarktischen Pinguinwelt, mit ihren Pinguin-Helden bedroht. Die ‚Horrorvision‘, daß das letzte Paradies, das vielleicht nur, weil es so lebensfeindliche ist, noch Paradies sein kann, dem Profit geopfert wird, steht Anne vor Augen. Die heraufziehende Drohung, daß den Pinguin-Helden das geschieht, was den Menschen schon lange geschehen ist, löst bei ihr ‚wahnsinnige Angst‘ aus.“ (Helsper 1983, S. 34 f.).
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lediglich einen einzigen Essay der 17 jährigen Henriette gegenüberstellen. Diesen Essay hat Henriette als Beantwortung unserer Stimulusfrage „Wie stellst du dir dein Leben als Erwachsene(r) vor?“ verfasst.
2 Zukunftsvorstellungen als Ausdruck jugendlicher Selbstpositionierungen Obwohl wir Kinder und Jugendliche mit diesem Stimulus indirekt nach ihren Zukunftsvorstellungen fragen, zielen wir mit dieser Frage in einer entwicklungsund sozialisationstheoretischen Perspektive auf ihre gegenwärtigen Welt- und Selbstbezüge. Uns interessiert, wie die befragen Kinder und Jugendlichen ihr biografisches Gewordensein im Hier und Jetzt mit gedankenexperimentellen Zukunftsentwürfen verknüpfen. Um diese Frage beantworten zu können, erheben wir neben den Essays auch von Kindern und Jugendlichen angefertigte Zeichnungen und Fotoreihen. Bei der Analyse der Daten geht es uns im Kern um die Selbstpositionierung der Befragten. Bei den visuellen Daten lässt sich diese Selbstpositionierung der Kinder und Jugendlichen insbesondere durch die Analyse der für die jeweilige Zeichnung beziehungsweise Fotografie gewählten Perspektive herausarbeiten (vgl. Kleeberg-Niepage 2016; Maier und Rademacher 2016). Dieses Vorgehen lässt sich auf die Analyse von Aufsätzen übertragen. Gerade der Beginn eines Aufsatzes lässt sich als eine Selbstpositionierung zu der durch die Forscher gestellten Aufgabe interpretieren; sowohl in formaler Hinsicht, als Positionierung zum Forschungssetting, als auch in materialer Hinsicht, also mit Blick auf die inhaltliche Beantwortung der Frage danach, wie sich Kinder und Jugendliche ihr Leben als Erwachsene vorstellen. Obwohl wir also Kinder und Jugendliche nach ihren Vorstellungen zum Erwachsensein fragen, interessieren uns weder die konkreten Vorstellungen an sich, noch die Frage, inwieweit diese in die Zukunft gerichteten Vorstellungen realistisch oder utopisch sind. Vielmehr geht es uns darum, zu verstehen, was sich anhand der Art und Weise der Beantwortung der Frage nach den Vorstellungen zum Erwachsensein über die gegenwärtige Selbstpositionierung der Jugendlichen als typologische Charakteristik des Falles rekonstruieren lässt. Die Frage nach den auf die eigene Zukunft gerichteten Vorstellungen stellt, so die Grundidee, einen herausgehobenen Zugang zu den gegenwärtigen, zeitlich und räumlich gebundenen Welt- und Selbstpositionierungen von Kindern und Jugendlichen dar: „Speculating about the future can be a useful way of assessing the present“ (Arnett 2000). Interessant erscheint uns insbesondere, dass im Rahmen dieser Selbstpositionierungen und des Entwurfs von recht normierten und angepassten
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Zukunftsentwürfen, doch immer wieder auch Kritik geübt wird. Diese Kritik richtet sich systematisch gegen die Institution Schule. Diese Schulkritik könnte durch den Protokolltyp Essay (mit-)provoziert worden sein. Ein Aufsatz ist ein zu einem spezifischen Thema verfasster Text, zu dem es im Alltag kaum einen Anlass gibt. Im Gegensatz zum Brief eröffnet der Aufsatz auch keinen unmittelbaren Dialog mit einem Gegenüber. In der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen findet sich der Aufsatz vornehmlich im schulischen Kontext. Aufsätze werden in Schule in aller Regel nicht zweckfrei geschrieben. Es geht nicht darum, den Schülern Zeit zur Muße einzuräumen, um über sich selbst und die Welt nachzudenken und diese Gedanken niederzuschreiben, sondern der schulische Aufsatz wird letztlich einer Leistungsbeurteilung durch Noten unterzogen. Damit erfahren wir im Umkehrschluss durch die Analyse von (schulischen) Aufsätzen immer auch etwas über die (strategische) Positionierung der Jugendlichen in Bezug auf die Erfüllung bzw. Nichterfüllung formaler Anforderungen an diese Textgattung im Spiegel antizipierter Maßstäbe der Fremdbeurteilung durch Lehrkräfte. Ein Besinnungsaufsatz, der auf die Darlegung persönlicher Vorstellungen, Erfahrungen oder Meinungen abzielt, ist in Schule unüblich. Insofern liegt in unserem Untersuchungssetting eine forschungsinduzierte Spannung vor, die darin besteht, dass die formale Rationalität des schulischen Aufsatzes und die materiale Rationalität persönlicher Zukunftsvorstellungen aufeinandertreffen. Bei der fallrekonstruktiven Interpretation hat es sich als fruchtbar erwiesen, die Art und Weise, wie diese Spannung in der Bearbeitung der Aufgabenstellung gelöst wird, in die Analyse einzubeziehen. Zunächst wollen wir den Essay von Henriette mit der Methode der Objektiven Hermeneutik rekonstruieren, ehe wir diese Fallanalyse der Helsperschen Analyse des Falles Anne vergleichend gegenüberstellen.
3 Der Fall „Henriette“ Henriette ist zum Zeitpunkt der Erhebung 17 Jahre alt, wohnt zusammen mit ihren Eltern in einer norddeutschen Stadt und besucht die 11. Klasse eines bilingualen Gymnasiums. Henriette hat einen jüngeren Bruder, der die neunte Klasse desselben Gymnasiums besucht. Der Vater ist Diplom-Kaufmann, die Mutter als Fachkraft im Bereich Pädagogik tätig. Der Aufsatz von Henriette liegt als getippter Text vor und gliedert sich in fünf unterschiedlich lange Absätze auf insgesamt 48 Zeilen; der Textkörper hat serifenlose Schrift im Blocksatz-Layout. Am Anfang befindet sich zentriert eine fettgedruckte und unterstrichene Überschrift. Sowohl das maschinengeschriebene und editierte Format, als auch der
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Abb. 1 Aufsatz Henriette, 17 Jahre
relativ große Umfang verweisen auf ein Herkunftsmilieu, das bildungsaffin zu sein scheint (vgl. Abb. 1). In der ersten Zeile des getippten Textes steht zu lesen: S1: Über meine Zukunft Diese Sequenz ist mittig, unterstrichen und fett gedruckt über dem Fließtext wie eine Überschrift platziert. Eine Überschrift ist der Titel über einem Text, der das Folgende möglichst prägnant und hoch verdichtet zusammenfasst. Mit der Überschrift bekommt der Text einen formalen, gewichtigen Charakter. Dass Henriette ihren Text mit einer Überschrift versieht, kann insofern als eine Einlassung auf die Forschungsfrage verstanden werden, als die darin implizierte Zukünftigkeit isoliert und das Erwachsensein getilgt wird. Damit widersetzt sich Henriette zunächst der formalen Forschungsanforderung, um diese dann im nächsten Zug gewissermaßen überzuerfüllen, indem sie in einer anverwandelten, nämlich individuell angepassten Deutung der Forschungsfrage zu Werke geht. Dabei verwendet sie eine doppelte typographische Markierung der Überschrift mittels Fettschrift und Unterstreichung, durch die sie die Bedeutung ihrer eigenen Zukunftsvorstellungen hervorhebt und betont, vielleicht gar überbetont. Auf inhaltlicher Ebene scheint sich diese vordergründige, formal stilisierte Bedeutsamkeit jedoch kaum zu reproduzieren. Denn Henriette nimmt
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eine Sprecherposition ein, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie „über“ ihre Zukunft und damit sich selbst spricht. In solch einer vermeintlich reflektierten Position der Rede über sich selbst von einem Nicht-Ich aus, wird das eigene Leben zu einem Thema, über das man referiert und das als fallspezifische Distanzierung des Redens über das Leben vom Leben selbst bezeichnet werden kann. Das eigene Leben wird so gewissermaßen zu einem Produkt, einem kulturellen Objekt, das zwar der Lebenspraxis entspringt, sich zugleich aber von der leiblichen Positionalität des Subjektes distanziert, sozusagen von dem Subjekt entkoppelt hat. In dem gedankenexperimentell formulierbaren Sprechakt einer Überschrift, die nur: „meine Zukunft“ hieße, wäre jene Distanziertheit – gerade andersherum – zugunsten eines unmittelbaren Subjektbezuges aufgelöst gewesen. Dass die inhaltliche Einlassung auf die eigene Zukunft von dem Subjekt distanziert und abgekoppelt zu sein scheint, ist die andere Seite der formalen, äußerlichen Einlassung auf die Forschungsaufgabe. Ambivalenzen charakterisieren auf diese Weise die wie eine Anverwandlung erscheinende Umwandlung der Forschungs- in eine Zukunftsfrage. S2: Ich befinde mich gerade 1,5 Jahre vor meinem Schulabschluss Der erste Satz des Fließtextes ist aufschlussreich für eine weitergehende Bestimmung der Distanzierungshypothese. Mit „ich befinde mich …“ wird üblicherweise eine Positionsbestimmung vorgenommen, die sich auf eine räumliche, also eine Ortsangabe bezieht. Verknüpft wird „ich befinde mich“ nun jedoch nicht mit einem Ort, sondern mit einer Zeitangabe in Form einer Dezimalzahl. „Ort“ und „Zeit“ dieser Bestimmung sind Henriettes Schulabschluss. An ihm scheint sich alles Sein des sich präsentierenden Ichs zu orientieren. Obgleich dieser Aufsatz mit einem Ich und einer Selbstpositionierung beginnt, bleibt es ein schwaches, handlungsloses Ich. Denkbar anders sähe es aus, hätte Henriette geschrieben: „ich werde in 1,5 Jahren mein Abi machen“. Aber das schreibt sie nicht. Sondern sie präsentiert mit ihrer Formulierung ein Ich, das nichts selbst zu gestalten hat, sondern sich lediglich befindet und zwar an einem mehr oder minder spezifischen Punkt innerhalb eines schulischen Ablaufplans. Mit Schütze (1981) ließe sich das als eine radikale Form der Orientierung (des Lebenslaufes) am institutionellen Ablaufmuster bezeichnen, die hier im Fall Henriette sichtbar wird. Die Schulzeit – im Wortsinn – scheint die Biografie und das Bewusstsein zu strukturieren; das Eigene verschwindet hinter dem Schulischen. In diesem schulischen Ablaufmuster gilt es dann gewissermaßen nur noch den eigenen Ort auf der vorgegebenen Spur zu identifizieren, denn die Zeiteinheiten des Ablaufmusters sind fest und vorbestimmt. Auf diese Weise wird das „Ich befinde mich“ verstehbar, es präsupponiert dabei ein Subjekt, das
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in der Logik schulischer Routinen in seiner Subjekthaftigkeit weitgehend getilgt erscheint. Eine weitere Lesart des „sich befinden“ ermöglicht es, die vorherige Hypothese im Hinblick auf den Modus Operandi zu erweitern. Man sagt beispielsweise: Ich befinde mich in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis oder ich befinde mich im Urlaub. Diese Sprechakte betonen, dass sich jemand in einem Zustand befindet. Bei einer Zustandsbeschreibung werden die prozessualen und dynamischen Entwicklungen, die zu dem Zustand geführt haben und/oder ihn charakterisieren, eingefroren. Anders wäre es, wenn Henriette beispielsweise geschrieben hätte: „ich bin jetzt in der Oberstufe und steuere aufs Abi zu“. Aber das schreibt sie nicht, sondern sie befindet sich in einem Zustand, den man schlicht „Schule“ nennen kann. Dieser Zustand, der sich hier in einem fallspezifischen Bewältigungsmodus zeigt, besteht darin, sich dem schulischen Ablaufmuster abwartend zu ergeben – bis zum institutionell beschlossenen Ende. Ein sich fügendes Ich, das keine Gestaltungsautonomie (mehr) geltend zu machen scheint. Insofern erscheint das unbeteiligte narrative Ich, welches in der Sequenz bisher deutlich wurde, ein konsistenter Ausdruck schulischer De-Autonomisierung des Subjektes zu sein. Auf Basis der bislang herausgearbeiteten Fallcharakteristik wird im Folgenden die Analyse von den Fragen geleitet, welche Art von Zukunftsentwurf sich mit dieser Selbst- und Weltpositionierung formulieren lässt, welche Folgeprobleme dieser nach sich zieht und inwiefern die auf den ersten Blick als Widerständigkeit und Kritik an Schule und Gesellschaft identifizierten Textpassagen sich darin einfügen. „Angenommen ich bin mit 18 mit der Schule fertig, komme mit 19 aus dem Ausland zurück und mein Studium dauert ungefähr 8 Jahre (was gut möglich ist, wird ein potentiell erfolgreiches Berufsfeld gewählt und mögliche Komplikationen impliziert), so bin ich 27 Jahre alt und habe noch ungefähr 3 Jahre um mir einen Arbeitsplatz zu sichern und an meinem beruflichen Aufstieg zu arbeiten oder, da mir das ewige Dasein als Teil einer Firma, immer dem nächst höheren Rang nachhechelnd doch irgendwie widerstrebt, selbst eine Firma zu gründen. Soweit so gut, doch sollte ich mich nun der Familienplanung annehmen und eines Tages aus dem Mutterschutz wiederkehren, so garantiert mir niemand, dass ich eben jenen hart erarbeiteten Arbeitsplatz zurück bekomme. Es sei denn natürlich, dass es mir auf eine Weise möglich wäre, meine Leitposition in meiner Firma in der Zeit größtenteils abzugeben und ich darauf hoffe, dass sie weiterhin auf Erfolgskurs ist.“
Henriette formuliert hier im Modus einer „Annahme“ augenscheinlich unhinterfragte Setzungen von zukünftigen Stationen eines Lebenslaufs (Schulabschluss, Auslandsjahr, Studium, berufliches Fußfassen, Familiengründung und Mutterschaft), die einem recht strengen Zeitplan folgen und die sie wie in einer Rei-
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hung zum Bewerkstelligen und Abhaken präsentiert. Es geht uns nun darum, die dahinterliegenden habituellen Dispositionen, also die generative Struktur des Falles zu entschlüsseln, die in diesen so und nicht anders geäußerten Zukunftsvorstellungen von Henriette zum Ausdruck kommen, nicht um die konkreten Vorstellungen an sich. Aufschlussreich an dieser Sequenz ist, dass nicht der eigentliche Lebensplan durch das einleitende „angenommen“ einer hypothetischen Prüfung unterzogen wird, sondern lediglich sein zeitlicher Ablauf. Fraglich scheint für Henriette nicht, dass sie die Schule abschließt, ihrem Schulabschluss ein Auslandsaufenthalt folgt, diesem wiederum eine ausgedehnte Studienphase und dass die Realisierung ihrer Mutterschaft mit Vollendung des dreißigsten Lebensjahres zu erfolgen hat. Fraglich ist lediglich, ob die Umsetzung des konkreten Plans auf jedes einzelne berechnete Jahr hin realisierbar sein wird. Dem von Henriette ausgearbeiteten und in diesem Aufsatz dargelegten (Zeit-) Plan fällt, trotzt des vorangestellten „angenommen“ eine geprüfte, grundsätzliche lebenspraktische Realisierbarkeit zu, denn es ist der edierte Aufsatz selbst, der als geprüfter Text Geltung beansprucht und dementsprechend auch der in ihm formulierte Plan. Nimmt man jedoch die materiale Ebene des Plans in den Blick, zeigt sich eine Diskrepanz. Neben der Orientierung an institutionellen und beruflichen Stationen einer bürgerlichen „Normalbiographie“ weist der Plan Stationen auf, deren Realisierung auf die geschilderte Art und Weise wenig wahrscheinlich sind. Insbesondere die Episode „Firmengründerin“ erscheint naiv, also weniger Plan, denn utopisch zu sein. Und damit bekommt er in der Gegenwart letztlich die Funktion eines Platzhalters, eines wünschenswerten, aber unwahrscheinlichen Ideals, in dessen Folge die Herausbildung realisierbarer Pläne potentiell erschwert wird und so Zukunftsvorstellungen letztlich beschränkt werden. Es gibt in diesem Entwurf nichts Eigenes, etwas, was das Ich aus Interesse wählt und an dessen Realisierung es leidenschaftlich arbeitet. Obgleich konkret, wirkt der Lebensplan wie eine Schablone (!), die zwar aufgesetzt, aber nicht angepasst wurde, also rein formal bleibt. Charakteristisch für diesen Auswahlmodus ist, sich nicht für etwas zu entscheiden, sondern sich gegen weniger attraktive Optionen zu stellen und diese zu vermeiden. Ein derartiger Zukunftsentwurf verweist insofern auf eine Gegenwartsdisposition des Subjektes, die man tendenziell als phlegmatisch bezeichnen könnte, insofern, als dass es stets ein zu wenig gibt. Das Interesse, etwas gemäß dem eigenen Willen zu (er) schaffen, reicht oftmals nicht aus, um die dafür notwendigen Hürden überwinden zu wollen. Henriette entscheidet sich beispielsweise gegen den mühevollen Aufstieg als Arbeitnehmerin und „plant“ stattdessen als frisch gebackene Absolventin eines unbekannten Studienfachs Chefin einer Firma in einer unbestimmten Branche zu werden. Hier vermischen sich hedonistische Ele-
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mente mit einem unwahrscheinlichen Zukunftsplan, insofern als dieser an den entscheidenden Stellen unbestimmt bleibt. So wird der Anschein erweckt, als sei der Zukunftsplan wesentlich von der Vermeidung beruflicher Mühen motiviert. Es scheint, als versuche Henriette den Entwurf eines bürgerlich erfolgreichen Lebenslaufes abzuspulen, doch dieser bleibt ihr eigentümlich fremd und erscheint in seiner materialen Unkonturiertheit distanziert und bezugslos. Henriette scheint weder von Freude, Überzeugung, Geldgier oder Motiven anderer Art angetrieben zu sein, sondern unterwirft sich schlicht dem „Ablaufplan“ eines bürgerlich-kapitalistischen Lebens. Was sie schaffen wollen müsste, will sie eigentlich gar nicht. Es gäbe ja die Möglichkeit, nicht „nachhechelnd“ als Arbeitnehmerin eine Karriere voranzutreiben, sondern sich in einem gewöhnlichen Arbeitsverhältnis im Mittelmaß einzurichten; aber (auch) das kann Henriette nicht formulieren und für sich reklamieren. Der Leistungs- und Individuationsdruck lastet auf ihr und sie spürt, dass sie ihn im Modus der gestaltungsvermeidenden Auswahl nicht wirklich mildern kann. Indem Henriette plant, sich mittels 8 (!) Jahren Studium einen schulähnlichen Schonraum einzurichten, der sie von den anstehenden Lebensentscheidungen noch weitgehend entlastet, droht bereits in den Vorstellungen der 17 jährigen der auf diese Schonphase folgende Zeitdruck. Für den geplanten steilen beruflichen Aufstieg bleiben ihr nach dem ausgedehnten Studium nur noch drei Jahre Zeit, ehe sie sich ihrer Familienplanung annehmen und dann „eines Tages aus dem Mutterschutz“ (!) in die Berufswelt zurückkehren muss. Jede Entscheidungsvermeidung entlastet sie, weil sie nichts entscheiden muss, zugleich aber wird sie zu einer Belastung, weil mit jeder vermiedenen Entscheidung unintendiert doch immer schon etwas entschieden ist. In dem von Henriette entworfenen eng getakteten Zeitplan feststehender Möglichkeiten entfaltet die phlegmatisch anmutende Unentschlossenheit und materiale Unbestimmtheit ihrer Zukunftspläne ihre spannungsreiche Dynamik. In diesem Dilemma spannt sich das innerpsychische Leid dieses Modus einer Selbst- und Weltpositionierung auf. Dabei erscheint auf den ersten Blick irritierend, dass die Institution, die Henriette von Lebensentscheidungen qua so genanntem „Bildungsmoratorium“ weitgehend entlastet, zugleich im Zentrum ihrer Kritik steht: Was ich damit sagen will ist, dass unsere Einstiegschancen in die Berufswelt abhängig sind von Werten, die basieren auf der Willkür der Lehrfiguren, die sich selbst anmaßen, Menschen einzuschätzen, die sie 180 Minuten die Woche unterrichten und dass auch nur in dem Maße wie sie Lust haben (da wahrscheinlich verbeamtet und sowieso nichts zu befürchten), die wiederum mehr oder weniger
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willkürlich für diesen Job angestellt wurden und weiterhin von Werten, die einem zwar zeigen, in wie weit man die angeforderten Aufgaben erfüllt, aber doch keine Erklärungsgrundlage liefern, warum ich wegen der theoretisch vergeigten Abiturprüfung in Religion und des dadurch gesunkenen Schnitts keine Chance auf ein Medizinstudium habe.
Mit „unsere Einstiegschancen“ legt Henriette den Fokus auf den Plural und abstrahiert damit wiederum von der eigenen Person. Auch geht es eben um „Einstiegschancen“ und nicht erst einmal überhaupt um einen Platz innerhalb des Beschäftigungssystems; für Henriette bzw. der verallgemeinerten Personengruppe, der sie sich zurechnet, kommt offenbar nichts anderes als ein Aufstieg infrage. Mit der wahrgenommenen Abhängigkeit der Einstiegschancen von Lehrkräften in der Schule rechnet Henriette im Folgenden harsch ab: diese Chancen seien abhängig „von Werten, die basieren auf der Willkür von Lehrfiguren“, welche sich zudem noch „selbst anmaßen, Menschen einzuschätzen, die sie 180 min in der Woche unterrichten“. Sie produziert damit einen interessanten Widerspruch, denn Einschätzungen sind entweder willkürlich oder wertgebunden. Und Werte sind im Sinne einer sozialen Regelhaftigkeit gerade losgelöst von jener individuellen Willkür, die Henriette hier in Anschlag bringt. Das verweist darauf, dass hier sozusagen ein innerer Widerspruch vorliegt; Henriette teilt offenbar (unbewusst) die Werte, die sie hier kritisiert, indem sie diese auf die Lehrer projiziert und insofern externalisiert. Und dabei werden die konkreten Lehrkräfte, die sie ja hätte auch namentlich nennen können, zu abstrakten „Lehrfiguren“, was funktional ist, um sie gewissermaßen als Träger einer Ungerechtigkeit zu qualifizieren, der Henriette qua gesellschaftlicher Zugehörigkeit zwar auch angehört, dies hier aber abzuspalten versucht. Insofern erscheint die vorgebrachte Kritik an Schule unglaubwürdig, was sich im Folgenden reproduziert: Denn die angeprangerte angemaßte Einschätzung von Menschen durch „Lehrfiguren“ steht im Kontrast zur schulischen Logik der Bewertung von erbrachten Leistungen, die Henriette grundlegend teilt, wenn sie sich beschwert, dass sie in diesem Prozess ungerecht bewertet und damit platziert wurde. Es ist keine Kritik an der schulischen Vergabe von Lebenschancen, sondern nur daran, ungerechterweise und vielleicht auch nur „theoretisch“ auf der Verliererseite gelandet zu sein. Nicht nur, dass die Kritik damit oberflächlich bleibt, auch der eigene Bezug, den Henriette herstellt, wirkt unvermittelt und wenig authentisch. Denn in ihrem Lebensplan waren bislang weder manifest noch latent Anzeichen dafür auszumachen, dass sie darunter leidet, keine Chancen auf ein Medizinstudium und eine entsprechende berufliche Karriere zu haben. Zieht man die bisherigen Befunde zusammen, so
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wirkt die Kritik insofern ausgehöhlt und unauthentisch, als sie selbst wiederum den Modus der Distanzierung reproduziert und, so könnte man sagen, wie eine aufgesetzte und als bloße Attitüde gestalteter Teil der stilisierten Selbstinzenierungslogik des Falles ist. Der Aufsatz von „Henriette“ ist überformt von einem charakteristischen, stilistischen Element: Er ist durch eine Sprecherposition gekennzeichnet, die die eigene Zukunft erzählt, als sei sie schon abgeschlossen. Wie in einem literarischen Werk, wird das eigene Leben zu einer fiktionalen Realität („Über meine Zukunft“) und damit die reale Zukunftsoffenheit des Lebens erzähltechnisch geschlossen. Das narrative Ich, also die Sprecherposition erscheint wie in einer von der Lebenspraxis selbst abgekoppelten Positionalität; ein Auseinanderfallen von Form und Inhalt. Die literarische Gestalt scheint durch eine (ernste) Einlassung auf die Forschungsfrage motiviert zu sein. Zugleich kann diese innere, fiktionale Realität eines Sprechens über die eigene Zukunft werkimmanent nicht durchgehalten werden. Die mit der gewählten Form bzw. Stilistik der Schriftsprache intendierte Auseinandersetzung mit der das schreibende Subjekt umgebenden Welt im Spiegel der Zukunftsfrage wird auf diese Weise zu einer Anpassung an das Gegebene. Die Offenheit der Zukunft führt, wenn sie derart bewältigt wird, zugleich zu einer dynamischen Steigerung des (adoleszenten) Individuierungsproblems.
4 Subjektivität und Schule: Eine vergleichende Diskussion der beiden Fälle Henriette richtet sich ein in einem Zustand, den sie „Schule“ nennt. In diesem Zustand „befindet“ sie sich lediglich und wartet auf das vorab festgelegte Ende, den Schulabschluss. Bis dahin negiert sie eigene Handlungsspielräume, weder behauptet noch ringt sie um Autonomie. Kritik richtet sie einerseits gegen den gesellschaftlichen Wettbewerbsdruck und anderseits gegen die Tatsache, dass sie in der Schule von Lehrkräften bewertet wird. Diesen „Lehrfiguren“ unterstellt sie Willkür und Lustlosigkeit und spricht ihnen die Eignung, sie angemessen bewerten zu können, ab. Da diese Bewertungen wiederrum auf ihre Startposition im nachschulischen Wettbewerb durchschlagen können, schließt sich hier Henriettes Kritik: Der Wettbewerb wird zurückgewiesen, wenn die eigene gute Ausgangsposition unsicher ist. Um welche (vermeintlich verwehrten) Lebenschancen es ihr dabei konkret geht, bleibt unklar; die Ausführungen hierzu folgen einem geradezu schematisch anmutenden bürgerlichen Idealmodell einer beruflichen Karriere, das
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durchaus dem Status ihres Herkunftsmilieus entspricht. Dagegen wehrt sie sich nicht, sie will bloß nicht „nachhecheln“ müssen, sondern gleich oben in der Berufshierarchie beginnen, am besten als Gründerin ihrer eigenen Firma. Henriette ahnt, dass es einen angemessenen Platz für sie geben wird, der unabhängig von ihren Plänen oder eigenen Anstrengungen auf sie wartet, weshalb sie letztere getrost vermeiden kann. Stattdessen begibt sie sich aller Kritik an Schule zum Trotz gedanklich für acht weitere Jahre in einen institutionellen Schonraum, der dann „Studium“ heißt. Henriettes Kritik richtet sich nicht gegen gesellschaftliche Herrschafts- und Machtverhältnisse. Ihre pauschalen Schuldzuweisungen an „Lehrfiguren“ rühren nicht an der Selektionsfunktion von Schule in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften; und der auf dem Individuum lastende gesellschaftliche Wettbewerbsdruck ist für sie nur dann kritikwürdig, wenn ihre eigene gute Ausgangsposition gefährdet ist. Hier zeigt sich ihre eigene Verstrickung, das eigene Mittun in der kapitalistischen Leistungsgesellschaft, von der sie letztlich, und das weiß sie bereits, profitieren wird. Die formulierte Kritik bleibt auch hier äußerlich und wenig glaubwürdig. In Erwartung dieses Profits wäre eine grundlegende Infragestellung des Leistungsprinzips insofern unvernünftig. Der Preis, der dafür gezahlt wird, ist eine Lebensplanung im Modus des Vermeidens: nicht nur eigene Anstrengungen oder konkrete Festlegungen werden vermieden, sondern auch das Ausloten erweiterter Handlungsmöglichkeiten, die sich Henriette schon allein über das vorhandene soziale und kulturelle Kapital böten. Die Kritik, die Anne an Lehrern und dem schulischen Leistungs- und Selektionsprinzip übt, folgt einem anderen Modus: „Mit wenigen Wörtern haben sich Lehrer bei mir schon verraten. Ich hab’ gelernt Erwachsene einzuschätzen. [ - ] Daß zum Beispiel/ mir kann also niemand was vormachen. Deshalb bin ich auch so respektlos. () Ich hab sofort die Schwäche von Lehrern, hab ich sofort gesehen und die mit ihrem Unterricht, mit ihrem Unterrichtsstoff, da konnten die mir überhaupt nicht imponieren, ne, und auch nicht mit ihrer Intelligenz! Ne [ - ], mit gar nichts! () Ich hab die also nie als jemand empfunden, dem ich mich zu unterwerfen hatte. Ganz im Gegenteil, ich hab das richtig als Spaß immer gesehen, die Manipulationen und so weiter von denen zu durchschauen. Und das aufzudecken, ja… Ich glaub, das war für mich sogar so ’ne Art Sport. [ - ] Das mit der Manipulation, daß ich mich eben nich unterworfen hab.“ (Helsper 1983, S. 37)
Annes Kritik richtet sich zwar auch pauschal an Lehrer als eine bestimmte Gruppe von Erwachsenen, hat aber auch eine spezifische Stoßrichtung: Gegen ein unterstelltes Normalmodell, nach dem Schüler/innen Lehrpersonen offenbar
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für ihren Wissensvorsprung und ihre „Intelligenz“ zu respektieren haben, wendet sich Anne gegen das als Manipulation wahrgenommene Lehrerhandeln. Indem sie diese „Manipulationen“ aufdeckt, muss sie sich ihnen nicht unterwerfen. Auch das schulische Leistungsprinzip kritisiert Anne grundlegender als Henriette: „Also ich find das einfach ’ne Unverschämtheit, daß jemand sich anmaßt, daß er mich bewerten kann. Das find ich also ’ne Unverschämtheit, ne, aber das ist ’ne Unverschämtheit, über die ich nur lachen kann. In Anbetracht der Tatsachen, daß ich mich bloß für Pinguine interessiere, … also was heißt bloß? Auch! Und () da is mir das auch ganz egal, ob hier Lehrer (sehr abfällig) über mich was zu sagen hat. …Ich schreib ja nicht ’nen Test, um mich mit anderen vergleichen zu müssen; ich finde jeder is’n Individuum und nicht vergleichbar mit anderen. Niemand sollte/.. ich finde man sollte überhaupt nicht Menschen so miteinander vergleichen, übrigens ne. Ich empfinde das als glatte Unverschämtheit, aber auch als Schwäche des Systems. Das finde ich auch. Aus dem Grunde kann ich da auch nur drüber lachen und mach mir da auch nix draus, wenn ich bewertet werde und wenn ich verglichen werde mit anderen.“ (Helsper 1983, S. 37)
Die Kritik, die Anne hier gegen das schulische Leistungsprinzip vorbringt, ist eine prinzipielle Kritik am System, an der kapitalistischen Leistungsgesellschaft. Dieser Idee stellt sie eine Idee der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit eines jeden Menschen gegenüber. Damit folgt sie anderen Werten, die es ihr ermöglichen, die schulisch institutionalisierten Wertmaßstäbe grundsätzlich zu hinterfragen.
5 Fazit Beide Analysen verweisen darauf, dass der auf der manifesten Ebene explizierte Widerstand gegen gesellschaftliche Bedingungen bzw. Institutionen (namentlich die Schule) letztlich im Rahmen eines doch nur sehr geringen Handlungsspielraums verbleibt. Obwohl Anne nach Möglichkeiten sucht, sich innerhalb des schulischen Systems den schulischen Anforderungen zu entziehen, obwohl sie sogar „Spaß am Widerstand“ (vgl. Willis 1979) hat, erweitert sie dadurch nicht ihre Handlungsmöglichkeiten. Vielmehr wendet sie sich von der Schule ab und zieht sich in immer kleiner werdende Nischen zurück – in den Punk, in die romantisch verklärte Pinguinwelt und in die Poesie. Damit ist und bleibt „Schule letztlich ein Bollwerk der Blockierung und Verhinderung“ (Helsper 1983, S. 31). Henriette „befindet sich“ in einer passiv-klagenden Subjektposition, der vorgetragene Widerstand entpuppt sich in der Analyse als eine spezifische Form der Angepasstheit, deren Kritik innerhalb des bestehenden Systems verbleibt. Hen-
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riette richtet eine selbstwerterhaltende Schuldzuweisung an Schule und Lehrkräfte, denen die Verantwortung für möglicherweise beschnittene Lebenschancen zugewiesen wird, womit letztlich auch die eigene Passivität gerechtfertigt und Inkonsistenzen des Lebensplanes geglättet werden können. Die von Henriette vorgebrachte Kritik verbleibt allerdings im Rahmen eines milieuspezifischen Sich-Einrichtens in bestehende Verhältnisse. Sie folgt damit letztlich dem Modus einer kritiklosen Kritik. Beide Fälle verhindern auf ihre Weise, die „Mühen des Aufstiegs“ (Silkenbeumer und Wernet 2012) auf sich zu nehmen und um eine Erweiterung ihrer Handlungsspielräume zu ringen, was aus der jeweiligen Subjektposition durchaus „vernünftig“ erscheinen kann: Angesichts des offenkundigen Widerspruchs zwischen der Verheißung von Pluralität und Chancenvielfalt der (post-)modernen Gesellschaft und der realiter wahrgenommenen Enge der tatsächlich bestehenden Möglichkeiten für einen als gelungen bewerteten Lebensentwurf scheint es nachvollziehbar, in diesem Sinne auf Anstrengungen zu verzichten; denn wenn sich kulturelle Bedingungen in innerpsychischen Dispositionen niederschlagen, und darauf verweisen beide Analysen, dann können kaum oder keine Potenziale mobilisiert werden, die potenziell zu einer Veränderung des Selbst- und Weltverhältnisses führen könnten. In beiden Fällen erscheint dabei die Schule, als die in dieser Lebensphase zentrale Institution, als Ort der Autonomielähmung, in dem man sich eben „befindet“, der aber weder Handlungsspielräume in der Gegenwart noch Chancen für die Zukunft eröffnet. Selbst die Kritik an Schule bleibt „im Rahmen“ und zielt nicht auf die Verfügung gesellschaftlicher Lebensbedingungen ab, was sich nicht zuletzt mit der Reproduktion eines in Schule erworbenen Modus erklären lässt: Dieser Modus lässt sich mit Holzkamp (1995) als ein defensives, widerständiges Lernen fassen, insofern das Lernen als Abwehr von Bedrohungen (schlechte Noten, Bestrafungen etc.) fungiert3. Mit Blick auf die beiden hier angeführten Fälle drängt sich die These auf, dass der in Schule beförderte Modus des defensiven, widerständigen Lernens geradezu der Wegbereiter der restriktiven Handlungsfähigkeit ist. Insbesondere am Fall Henriette sehen wir, und darin zeigt sich vielleicht die Aktualität dieses Falles gegenüber dem Fall Anne, wie neoliberale Ideologien von Eigenverantwortung und Selbst-Optimierung zu subjektiven Handlungsprämissen
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Gegenentwurf ist das „expansive Lernen“ des Subjekts aus Weltinteresse und dem Bemühen heraus, einer Handlungsproblematik beizukommen (vgl. Holzkamp, 1995).
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werden (vgl. auch Rose 1996). Insbesondere durch schulische Sozialisationsprozesse erfahren und verinnerlichen Subjekte, dass sie (vermeintlich) selbst ihres Glückes Schmied sind und es in ihrer eigenen Verantwortung liege, die Vielzahl der sich darbietenden Möglichkeiten zur Lebensgestaltung produktiv zu nutzen. Die scheinbar unbegrenzte Vielfalt an Optionen (Stichwort: gesellschaftliche Pluralität), die vermeintlich allen offen stehen (Stichwort: Chancengleichheit), erschwert es, Anlässe oder Angriffsflächen für eine auf die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse bezogene Widerständigkeit zu finden: Ich muss nicht für etwas kämpfen, wenn ich es – zumindest theoretisch – erreichen könnte. Hinter dieser neoliberalen Logik wird die gesellschaftliche Bedingtheit subjektiver Problemlagen unsichtbar, Konflikte und Kritik richten sich nicht gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern verlagern sich ins Innerpsychische des Subjektes.
Literatur Arnett, J. J. (2000). Emerging adulthood. A theory of development from the late teens through the twenties. American Psychologist, 55(5), 469–480. Helsper, W. (1983). Subjektivität und Schule. Über den Versuch, in der Schule (k)ein Subjekt sein zu dürfen. In W. Breyvogel & H. Wenzel (Hrsg.), Subjektivität und Schule. Pädagogisches Handeln zwischen subjektivem Sinn und institutioneller Macht (S. 29–47). Essen: Neue deutsche Schule Verlagsgesellschaft. Holzkamp, K. (1995). Lernen: subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt a. M.: Campus. Kleeberg-Niepage, A. (2016). Zukunft zeichnen. Zur Analyse von Zeichnungen in der kulturvergleichenden Kindheits-und Jugendforschung. Sozialer Sinn, 17(2), 197–232. Maier, M. S., & Rademacher, S. (2016). Zukunft in Bildern. Einige methodologische Überlegungen zu Fotografien als visuelle Daten einer kulturvergleichenden Kindheits- und Jugendforschung. Sozialer Sinn, 17(2), 233–262. Rose, N. (1996). Inventing our selves. Psychology, power and personhood. Cambridge: Cambridge University Press. Silkenbeumer, M., & Wernet, A. (2012). Die Mühen des Aufstiegs. Fallrekonstruktionen zur subjektiven Bewältigung des Schulformwechsels. Opladen: Verlag Barbara Budrich. Schütze, F. (1981). Prozeßstrukturen des Lebenslaufs. In M. Matthes (Hrsg.), Biographie in Handlungswissenschaftlicher Perspektive (S. 157–168). Nürnberg: Verl. d. Nürnberger Forschungsvereinigung. Willis, P. (1979). Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule. Frankfurt am Main: Syndikat.
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Andrea Kleeberg-Niepage, Dr. phil., Professorin für Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie, Europa-Universität Flensburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters, Selbst- und Identitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen im Kulturvergleich, Geschichte der Entwicklungspsychologie, Methoden qualitativer Sozialforschung, insbesondere die Entwicklung kindangemessener Forschungsmethoden. Sandra Rademacher, Dr. phil., Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Kindheits- und Jugendforschung, Europa-Universität Flensburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Sozialisations- und Professionstheorie, kulturvergleichende Kindheits- und Jugendforschung, Fallrekonstruktive Schul- und Unterrichtsforschung, Rekonstruktive Forschungsmethoden. Michael Tressat, Dr. phil., wiss. Mitarbeiter am Arbeitsbereich Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Kindheits- und Jugendforschung, Europa-Universität Flensburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Sozialisations- und Bildungsforschung (im Kontext von Adoleszenz und Migration), rekonstruktive Forschungsmethoden.
Teil III Jugendkultur und Peerkultur
Peergroups: Cliquen, offene Gruppen, Szenen oder Jugendkulturen? Jutta Ecarius
Zusammenfassung
Gesellschaftliche Heterogenität und Optimierung der Spätmoderne lassen Jugend in einer anderen Licht erscheinen: Offenheit und ein bunter Strauß an jugendlichen Lebensformen führen zu Fragen, wie sich Peergroups beschreiben lassen und welche Erklärungskraft Cliquen, Jugendkulturen, Jugendsubkulturen und Jugendszenen haben. Für diese Diskussion werden Ergebnisse der 17. Shell Jugendstudie (Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch, Fischer Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2015) und der NRW-Studie Jugend. Leben (Ecarius et al. Spätmoderne Jugend – Erziehung des Beratens – Wohlbefinden, Springer VS, Wiesbaden, 2017) analysiert, um Problematiken der Begrifflichkeiten zu skizzieren und eine Debatte über jugendliche Lebensformen jenseits von Schule und Familie anzustoßen. Schlüsselwörter
Jugend · Jugendkultur · Szenen · Peergroups · Cliquen · Offene Gruppen
J. Ecarius (*) Humanwissenschaftliche Fakultät, Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Gibson et al. (Hrsg.), Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25094-2_9
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1 Einleitung Jugendkulturen sind ein Phänomen, das sich im 20. Jahrhundert einer großen Beliebtheit in Wissenschaft, Politik und der allgemeinen Öffentlichkeit erfreute. Heute im Zeitalter von Optimierung und spätmoderner Schnelllebigkeit fragt sich, ob es überhaupt noch so etwas wie sichtbare Jugendkulturen gibt, die sich empirisch nachweisen lassen und ein gesellschaftlich relevantes Phänomen spiegeln. Es könnte aber auch durchaus sein, dass in der Wissenschaft dieses Thema nicht mehr tiefer gehend fokussiert wird, so dass der Blick auf jugendkulturelle Erscheinungsformen weitgehend verloren gegangen ist. Spätestens seit der Auseinandersetzung um Jugendkulturen, Jugendsubkulturen und dem Versuch von Hitzler, diese Thematik theoretisch mit dem Begriff ‚Jugendszene‘ in ein aktuelles theoretisches Gerüst zu überführen, ist es um diesen Diskurs ruhig geworden. Die Begriffe changieren zwischen Jugendszenen und Musikstilen oder Freizeitaktivitäten und medialer Kommunikation. In der Jugend(kultur)forschung, aber auch im öffentlichen Interesse an Jugendkulturen schwang immer auch die Hoffnung auf Protest und gesellschaftlichen Wandel mit, auf eine im Sinne von Mannheim beschriebene junge Generation, die sich abgrenzt von Verkrustetem und Neues ästhetisch über Stilbildungen ausdrückt (vgl. z. B. Helsper 1983). Auch wenn Jugend sich gegenwärtig medial ästhetisch positioniert, so werden diese Selbstinszenierungen doch häufiger in Form einer narzisstischen Selbstbespiegelung und einer Vermischung von medialer und realer Darstellung interpretiert. Gegenwärtig gibt es so gut wie keine Forschung zu jugendkulturellen Stilen, da zudem die Mediatisierung – so Annahmen – eine Überschreibung durch Konsum enthalte. Auch ist der Diskurs über Jugend von der Bildungsforschung überlagert: Ganztagsschule, Bildungszertifikate, Übergänge und soziale Ungleichheit sind hier die Themen. Oder es wird über jugendliche Gewalt und Rechtsextremismus geforscht. Wie nun lässt sich mit der Thematik Jugendstile umgehen? Gibt es überhaupt noch Jugendkulturen? Oder sind es einfach nur mehr jugendliche Freizeitaktivitäten? Oder fehlt gar eine theoretische Konzeption, um den Blick zu öffnen für jugendkulturelle Stile? Nicht alle Fragen können hier beantwortet werden. In diesem Artikel werde ich zuerst aktuelle Daten der 17. Shell Jugendstudie (2015) und der NRW-Studie Jugend.Leben (Ecarius et al. 2017) analysieren und in eine theoretische Diskussion überführen, um dann abschließend zu einem Resümee zu gelangen.
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2 Jugendliche Lebensformen: Die 17. Shell Jugendstudie Ein Blick in die 17. Shell Jugendstudie (2015) wirft erste Fragen auf, denn Jugendkulturstile werden hier gar nicht erfragt. Der Abschnitt zu Jugendfreizeiten ist konzentriert auf Freizeit und Internet, den Zusammenhang zwischen klassischem ‚Offline‘ und digitalen Welten. Die Ergebnisse sind mehr oder weniger bekannt. Jugendliche leben mit ihren Freunden und verbringen gemeinsam Zeit, zugleich nutzen sie digitale Welten, die allgegenwärtig sind. Hierbei zeichnen sich verschiedene Muster an Internetnutzern ab. Die 17. Shell-Studie nennt sie die Info-Nutzer, Medienkonsumenten, digitalen Bewohner, Gelegenheitsnutzer und Selbstdarsteller. Jugendliche nutzen das Netz für die Schule, aber auch um Musik zu hören, E-Mails zu schreiben und zu versenden, zu spielen und Videos zu schauen oder Blogs und Foren zu besuchen. Liest man diese Ergebnisse, entsteht der Eindruck, dass Heranwachsende vor allem im Netz leben und insofern für die reale Welt nur eine gewisse Zeit übrig bleibt, die Möglichkeiten einer kulturellen Stilbildung somit zeitlich zusammenschrumpfen und dadurch an Bedeutung verlieren könnten. Insgesamt werden die Jugendlichen in die Typen gesellige Jugendliche (30 %), Medienfreaks (27 %), Familienorientierte (24 %) und kreative Freizeitelite (19 %) eingeteilt, wobei Präferenzen vorliegen. So treffen sich gesellige Jugendliche zu 77 % hauptsächlich mit Leuten, 16 % treiben aktiv Sport, 50 % gehen auf Partys und Feten, sie surfen aber auch mit 58 % im Internet. Die Medienfreaks surfen hauptsächlich im Internet (69 %) und bevorzugen Computerspiele. Erst dann kommen Fernsehen und Leute treffen (42 %). Die Familienorientierten bevorzugen es, etwas mit der Familie zu unternehmen (77 %), dann kommen Freunde treffen, aber auch das Fernsehen (66 %). Weniger wichtig ist ihnen, im Internet zu surfen (33 %). Die kreative Freizeitelite liest am liebsten Bücher (58 %), macht gerne etwas Kreatives (45 %), trifft sich mit Leuten, nutzt auch soziale Medien (42 %) und surft im Internet (44 %). Alle vier Typen von Jugendlichen sind zwar unterschiedlich in ihren Ausprägungen, aber das Netz und die Freunde haben bei allen eine große Bedeutung. Heraus sticht eigentlich nur die kreative Freizeitelite, die nicht nur künstlerisch aktiv ist, sondern sich auch gerne in einem Projekt engagiert. Sie meidet das Netz mehr als andere und mag es auch nicht (9 %) rumzuhängen. Dieses Bild sieht so gar nicht nach einer Jugend aus, die jugendkulturelle Stile entfaltet, sich – außer vielleicht der kreativen Freizeitelite – mit Gesellschaft
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a useinandersetzt, massenhaft protestiert und auf die Straße geht und damit eine neue politische Idee vom besseren Leben entwirft. Zusammenfassend hört sich das folgendermaßen an: „gleichzeitig bleibt der Wunsch nach Sicherheit dominant. Dabei werden Sicherheit und Flexibilität nicht als Gegensätze verstanden, sondern als sich gegenseitig optimierende Anforderungen: Gewünscht sind maximale Flexibilität im Beruf, in der Freizeit und in der Familiengestaltung, bei gleichzeitiger hoher Sicherheit durch feste Arbeitsverträge, gute Aufstiegschancen, einen festen Freundeskreis und eine liebevolle und Geborgenheit gebende Familie“ (ebd., S. 381). Pragmatismus und nicht Utopie, Gestaltungswille für die eigene Zukunft und nicht politischer Aufschrei oder Demonstrationen, Sicherheit und Selbststeuerung und nicht politische Außenorientierung sind bedeutsam. Angestrebt wird eine ausbalancierte Gewichtung von Privatheit und Beruf, aber auch von Familie und Freunden. Diese Ergebnisse konturieren ein Bild, das kaum Hinweise auf jugendkulturelle Stile gibt. Für manche – die Forschenden und das öffentliche Interesse – entsteht daraus eine gewisse Enttäuschung und die Frage, wie soll denn Gesellschaft besser werden und wo sollen sich der Mut und die Ideen entwickeln, wenn nicht bei der jungen Generation? Vielleicht aber sind auch die theoretischen Konzeptionen der Jugendkulturfoschung oder gar der Jugendsubkulturfoschung neu zu bedenken, ist eine Suche nach Jugendkulturen in Anlehnung an alte Konzepte kritisch zu betrachten. Denn auch gegenwärtig haben die Konzepte der Jugendkulturforschung des 20. Jahrhunderts in der Wissenschaft Bedeutung. Aber eine Orientierung daran und ein damit zwangsläufig verbundenes Nichtfinden von Jugendkulturstilen führen zu Enttäuschung und einem pessimistischen Blick auf jugendliches Leben, lässt das, wie sie gegenwärtig leben (möchten), unwesentlich erscheinen. Damit aber ist der Blick rückwärts gerichtet, orientiert an eine historische Zeit der 1970er bis 1990er Jahre, die sowohl politisch als auch gesellschaftlich passé ist und mit der Gesellschaftsstruktur von heute nur wenig gemein hat. Vielleicht aber hat sich auch eine Jugendforschung über Stilbildungen erübrigt, da in einer Gesellschaft, die keinen gemeinsamen Normenhorizont mehr hat und Toleranz gegenüber Anderen und Fremden eine Offenheit bietet, durch die Abgrenzung – veräußert als politische Idee – kaum noch möglich ist. Abgrenzung gelingt nur noch im Kleinen, im Streit mit Freunden, in der Auseinandersetzung zwischen HipHoppern und Girlgroup-Fans oder Metals und Boygroup-Fans. Diese ‚kleinen‘ Auseinandersetzungen eröffnen zwar noch Abgrenzungen, sie erscheinen aber aufgrund sozialer, individueller und kultureller Differenzierungen kaum noch relevant.
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3 Spätmoderne: Spaß am Widerstand? Die größte Herausforderung für Jugendliche ist gegenwärtig, bei den unendlichen Möglichkeiten das Optimale für sich zu finden, sich zu positionieren und zu lernen, mit Freunden und Familie zusammen ein zufriedenstellendes authentisches Leben zu leben und sich durch einen Findungsprozess, wer man ist oder sein möchte, selbst zu verantworten. Identität ist in gesellschaftlichen Zeiten von Optimierung, Toleranz und Anerkennung des Anderen ein nicht einfaches Projekt, denn aus dem, wie Keupp (2005) es beschrieben hat, ‚Ich grenze mich ab von Tradiertem‘ wird ein ‚Ich finde mich in der spätmodernen Vielfalt‘, ein Subjekt, das um die eigene Authentizität (fast krampfhaft) bemüht ist, eigene Bedürfnisse und Fähigkeiten im Kontext (virtuellen) sozialen Lebens mit Freunden und Familie zu erkennen versucht, um sie dann zu kultivieren. Identität, was auch Subjektivierung meint, vollzieht sich gegenwärtig weniger durch Abgrenzung wie noch Ende des 20. Jahrhunderts. Sondern das Subjekt hat sich ohne eindeutige normative oder soziale Bezugsgrößen selbst zu verantworten und die Themen, die subjektiv Bedeutung (geschlechtlich, beruflich, kulturell, sozial) erlangen, wie es mit Anderen kommuniziert, lernt und lebt, sind in Auseinandersetzung einer Anrufung des Optimierens herauszufinden (Ecarius et al. 2017; Ecarius 2018). Die Anforderung, die eigene Authentizität zu finden, sie zu leben als auch benennen zu können, sich bei dieser ‚Identitätssuche‘ nicht im Dschungel des vielfach Möglichen zu verlieren, führt möglicherweise zu anderen Jugendstilen und anderen Antworten von Heranwachsenden als jene im 20. Jahrhundert – wie das Szene-Hopping der AJO’s (Allgemein jugendkulturell Orientierte; NeumannBraun et al. 2003), die unterschiedliche ‚Identitäten‘ inszenieren und dadurch versuchen, mit der Vielfalt an Optionen umzugehen. Dies zeigt sich auch darin, dass sich nicht mehr Jugendkulturen nach und nach aneinanderreihen wie die Gothics und die Schwarze Szene den Punk abgelöst haben, sondern viele Jugendstile existieren nebeneinander und sind offen für Zu- und Abgänge. Annahmen der Jugendsubkulturforschung, die mit Paul Willis und Clarke auf die Bedeutung von Klasse verweisen und mit der These ‚Spaß am Widerstand‘ die jugendkulturelle Distanzierung vom Herkunftsmilieu und der Schule über eigene stilistische und zugleich ästhetische jugendliche Lebensformen in den Fokus rücken, diskutieren vor dem Hintergrund ganz anderer gesellschaftlicher Bedingungen, nämlich einer Alltags(arbeiter-)kultur der Eltern in einer Industriegesellschaft der 1980er Jahre in Großbritannien und einer hierarchischen mittelschichtsorientierten Schule der damaligen Zeit. Jugendkulturelle Annahmen in Anlehnung an Gramsci und Althusser deuten Jugendkultur als widerständige
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Praxis (Clarke et al. 1979) mit eindeutiger Identifizierung mit dem entfalteten Jugendstil. Diesem Modell ist eigen, dass es an marxistischen Annahmen orientiert ist und eine klassentheoretische Struktur aufweist. Die Jugendsubkultur ergibt sich aus dem aktiven Handeln der Jugendlichen in Auseinandersetzung mit der eigenen Stammkultur (Herkunftsmilieu der Arbeiter) und der dominanten Kultur, die sich nach Willis in der Schule präsentiert. Die Annahmen des CCCS (vgl. Brake 1981), eine Differenzierung in Klassen eines Oben und Unten, von Herrschern und Beherrschten sowie eine Ideologie im Sinne von Althusser und Gramsci lassen sich in dieser Weise kaum noch auf spätmoderne Gesellschaften übertragen und wären – wie es die postkolonialistische feministische Forschung mit einer Kritik an eurozentristischen Perspektiven gemacht hat – entsprechend zu erweitern. So verlor dann ja auch im wissenschaftlichen Diskurs darum, was überhaupt als dominante Kultur bezeichnet werden kann, das Jugendsubkulturtheorem an Bedeutung, aber auch, da gesellschaftliche Strukturen beschleunigt optimiert, queer, transkulturell etc. dimensioniert sind. Damit gewann der Begriff Jugendkultur an Bedeutung, der stärker die stilistisch-ästhetische Eigenkultur der Jugendlichen betont ohne Widerständigkeit gegenüber einer milieuspezifischen Erwachsenenkultur oder einer hegemonialen Kultur: Jugendliche entfalten über soziale Vergemeinschaftung stilistische Eigenwelten. Mit einer Berücksichtigung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse der Individualisierung, Globalisierung und Durchmischung von sozialen Milieus an ihren Rändern haben Hitzler et al. (2001) den Szenebegriff theoretisch nachvollziehbar begründet. Die weltweiten jugendkulturellen Formationen des Techno und Hip-Hop, die mittlerweile aber auch wieder an aktueller Bedeutung verloren haben, gaben Anlass zu Annahmen von internationalen globalisierten Jugendstilgemeinschaften jenseits von Stammkultur und Arbeiterklasse. Diese szenischen Gemeinschaften (über Musik) vereinen jugendkulturelle ästhetische Stilmittel mit solchen von Konsum und Markt, sodass eine Unterscheidung in authentische Jugendstile hier und konsum-vermarktete Jugendkultur da auch bezüglich einer Enttraditionalisierung von gesellschaftlichen Grundmustern an theoretischer Schlagkraft verliert. Weltweit verbreitete Jugendstile werden in lokale Kontexte transformiert und verschwinden wieder bzw. lösen sich auf im Globalen des Medialen. Medien sind damit ein wichtiger Verbreitungsmodus für jugendkulturelle Trends und Stile, sie werden selbst zum Ort der Inszenierung. Dadurch aber verliert die im 20. Jahrhundert formulierte theoretische Annahme des politischen oder gesellschaftlich Verändernden fast ganz an Bedeutung und der Charakter der Theorie, bestückt mit einer Idee von einer hoffnungsvollen politischen demokratischen Erneuerung durch die junge Generation, wird erst jetzt so richtig
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sichtbar. Erst der Blick von heute aus offenbart den darin eingelagerten utopischen Charakter des Theoriegebäudes, nach der es die Jugend ist, die die Gesellschaft zum demokratischen Besseren führt und die traditionell Etabliertes in ihre Schranken verweist oder gar in kommunikatives Handeln nach Habermas (1981) verwandelt. Da nun mit einer solchen gegenwärtigen Sicht der Blick frei wird von diesen impliziten Hoffnungen, eröffnet sich die Möglichkeit, gegenwärtige Jugendstile auf andere, neue und aktuelle Weise zu analysieren, wobei die Frage entsteht, was ‚jugendliche Stilbildung‘ alles umfasst und welche theoretischen Facetten sich anbieten? ‚Jugendliche Stilbildung‘ könnte gegenwärtig bedeuten, einfach Spaß zu haben, mit Freunden zusammen sein, sich im Kleinen kulturell auszuleben, kurzfristig dazu zu gehören und wieder zu gehen. Dies würde sich in einen gesellschaftlichen Individualisierungsschub einfügen mit einer Dynamisierung des Zeitlichen (Rosa 2009), in dem Tempo, Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem und das Unternehmerische (Bröckling 2007) strukturierend wirken. Insofern verwundert es auch nicht, dass in der 17. Shell Jugendstudie von 2015 nach Jugendstilen oder Szenen nicht gefragt wird und auch die Zugehörigkeit zum sozialen Milieu nicht mehr im Vordergrund steht. Es sind vielmehr einzelne Thematiken wie Familienbildung und Beruf oder Freizeit und Internet oder Politik und Werteorientierungen, die Jugendliche berühren und die daher von der Shell Studie (2015) analysiert werden. Was der Studie dennoch fehlt, ist eine Analyse der kulturellen Vielfalt jugendlichen Lebens (Ecarius et al. 2017). Jugendliche sind sehr unterschiedlich und ihre Freizeitgestaltung lässt sich nicht nur auf soziale Milieus hin differenzieren. Geschlecht ist bedeutsam, aber auch religiöse Zugehörigkeit. So macht die Shell Studie deutlich, dass ca. 30 % der Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben, als Deutsche oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Es wäre interessant, die Lebensformen von Jugendlichen nach kultureller Orientierung oder religiöser Zugehörigkeit mit Blick auf Werteorientierungen, Freizeitverhalten und Zukunftsorientierung zu analysieren. Genauso wäre es aber auch möglich, Geschlecht und Alter stärker zu fokussieren, da sich damit unterschiedliche Werteorientierungen – wie die Ergebnisse zeigen – deutlich machen lassen. Solche Überlegungen und Zugangsweisungen würden dann aber auch andere theoretische Konzeptionen jenseits jugendkulturtheoretischer Annahmen bedürfen, die es ermöglichen, jugendliche Lebensformen in ihren Peergroups als Szenen, lose Gruppen oder Jugendkulturen zu beschreiben, die eben nicht wie das Theoriegebäude der Jugendsubkulturforschung an Klassengegensätzen im Sinne marxistischer Annahmen orientiert sind, sondern Theoriefacetten des Poststrukturalismus, der Intersektionalität mit Bezug auf Interdependenzen und kategoriale Differenzen
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und auch des Postkolonialismus u. a. aufgreifen. Aber dazu bedarf es auch einer Jugendforschung, die sich diesen Themen zuwendet und theoretisch und empirisch nicht vereinzelt, sondern organisiert forscht, sich regelmäßig trifft und austauscht.
4 Peergroups: Offene Gruppen, Szenen oder Jugendkultur? Interessant in diesem Kontext ist eine weitere Studie, die Aufschlüsse offeriert. Die Studie Jugend.Leben (Maschke et al. 2013), die im Design etwas andere Schwerpunkte setzt, ist konzentriert auf Jugendliche zwischen 10 und 18 Jahren im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Unterschieden wird hier in beste Freunde, Cliquen/Freundesgruppe und Jugendszenen. Da es sich auch hier um eine quantitative Studie handelt, ist sie vergleichbar mit der 17. Shell Jugendstudie. Gefragt wurden die Jugendlichen, was sie am liebsten – ohne Bezug auf eine Person oder Gruppe – in ihrer Freizeit tun: Es nennen 31 % Musik hören, 24 % Fußball, 16 % Shoppen und weitere 16 % beschäftigen sich mit Haustieren. Auch hier zeigt sich also kein besonderes jugendstilbildendes Element, denn diese Tätigkeiten könnten genauso von Erwachsenen oder alten Menschen angegeben werden. Fast alle weiblichen und männlichen Jugendlichen haben auch einen besten Freund bzw. eine beste Freundin, was nicht automatisch Peergroup meint, sondern es handelt sich hier um eine reale und virtuelle Face-to-Face Kommunikation. Mit der besten Freundin wird am liebsten gemeinsam herumgealbert (32 %), man geht gemeinsam Shoppen (27 %) oder ins Kino. Probleme besprechen mit 19 % und gemeinsam Fußballspielen oder Party machen mit 16 % sind ebenso bedeutsam. Die Jugendlichen haben zugleich Freundesgruppen/Cliquen, wenn auch nicht alle in einer Clique sind, mit der sie viel unternehmen (weiblich: 72 %, männlich: 66 %). Etwa zwei Drittel gehören einer Clique an, zugleich aber fühlt sich ein Drittel nicht einer solchen Gruppe zugehörig, was einen relativ hohen Prozentsatz ausmacht. Die Clique ist hier zu verstehen als eine soziale Vergemeinschaftung, eben als jugendliches Beisammensein, und bedeutet nicht zwangsläufig Szene. Gefragt wird danach, was die Jugendlichen in der Clique machen. Die Ergebnisse sind interessant: Wichtig sind den befragten Heranwachsenden vor allem Freundschaft (76 %), Spaß haben (64 %) und gemeinsam Chillen (56 %). Die Clique formiert sich über Kommunikationsformen wie Herumalbern (31 %), Partymachen (25 %) und gemeinsam ins Kino gehen (23 %). Auch Shoppen gehen ist mit 19 % beliebt. Eine bestimmte Musik oder ein gleicher Lebensstil (22 %, 15 %) oder gar eine gleiche Mode (10 %) gehören für manche auch dazu.
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Damit ist das Freizeitverhalten mit der besten Freundin oder der Clique ähnlich strukturiert. Um welche Art an Freundesgruppe/Clique es sich handelt, bleibt jedoch offen. Manche Aspekte wie gleicher Lebensstil und gleiche Musik hören könnten möglicherweise einen kulturellen Stil oder eine Zugehörigkeit zu einer Szene andeuten, was aber aus den Analysen nicht hervorgeht. Vielleicht verstecken sich in diesen Angaben sogar auch Jugendkulturen, die bspw. mit einem gleichen Lebensstil, gleicher Mode und bestimmter Musik angedeutet sein könnten. Trotz dieser geringen Spezifizierung, um was für Jugendfreizeitmuster es sich handelt, ist interessant, was in diesen Cliquen/Freundesgruppen von Bedeutung ist. Diese Cliquen/Freundesgruppen zeichnen sich durch bestimmte Werte und Verhaltensregeln aus, die sich je nach Alter unterscheiden. So finden 96 % der 10bis 12-Jährigen es nicht gut, wenn man Alkohol trinkt, von den 13- bis 15-Jährigen finden dies 80 % nicht gut und bei den 16- bis 18-Jährigen finden nur noch 61 % Alkohol trinken nicht gut, während 39 % es gut finden, Alkohol zu trinken. Während die Norm ‚Alkohol nicht zu trinken‘ bei den 10- bis 12-Jährigen noch fast zu 100 % befürwortet wird, nimmt sie bei den 16- bis 18-Jährigen deutlich ab, auch wenn sie auf einem hohen Niveau verbleibt. Dagegen ist die Verhaltensweise ‚jemand anderen zu verprügeln‘ bei allen drei Altersgruppen negativ konnotiert, zugleich aber sagen 16 % der 10- bis 12-Jährigen, 20 % der 13- bis 15-Jährigen und 15 % der 16- bis 18-Jährigen, dass sie dies gut finden. Das körperliche Kräftemessen wird von Jungen (25 %) stärker als von Mädchen (10 %) befürwortet. Hier scheint es sich um eine ‚männliche‘ Verhaltensweise zu handeln. Auch ist die Norm ‚riskante Sachen zu machen‘ ein möglicher Nervenkitzel in Peergroups, denn die Einstellung dazu verteilt sich zu jeweils 50 %, dass dies befürwortet wird (10 bis 12 Jahre: 38 %, 13 bis 15 Jahre: 51 %, 16 bis 18 Jahre: 51 %). Auch hier sind es die Jungen, die dies mehr befürworten (58 %). Stärker abgelehnt wird, dass in Peergroups über andere gelästert wird (10 bis 12 Jahre: 77 %, 13 bis 15 Jahre: 62 %, 16 bis 18 Jahre: 69 %). Dies wird weitaus häufiger abgelehnt als riskante Sachen zu machen oder Alkohol zu trinken. Zugleich ist die Akzeptanz in der Gruppe groß, wenn man gute Noten schreibt (in allen drei Altersgruppen über 90 %) und wenn man viel lernt. Gar nicht beliebt ist, wenn man die Schule schwänzt, hier liegen die Werte bei 92 %, 88 % und 92 % je Altersgruppe. Interessant ist noch ein weiterer Aspekt, denn gefragt wurde auch, inwiefern das Reden über religiöse Dinge befürwortet wird. Hier zeigt sich, dass 47 % der 10- bis 12-Jährigen, 32 % der 13- bis 15-Jährigen und 44 % der 16- bis 18-Jährigen dies gut finden. Zwar ist der Anteil der Ablehnung größer, aber dennoch findet dies eine relativ hohe Zustimmung.
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Die Cliquen/Freundesgruppen sind in der Gesamtschau mit ganz unterschiedlichen Freizeittätigkeiten als auch positiven und negativen sozialen Normen bestückt. Befürwortet wird ein gewisses Risikoverhalten, Gewalt wird aber abgelehnt, Alkohol findet mit zunehmenden Alter Befürwortung, zugleich aber ist das Lästern über Andere negativ konnotiert und es wird auch über Religion gesprochen. Befürwortet werden auch Leistungsorientierungen wie Lernen für die Schule und gute Noten schreiben. Eine Abgrenzung gegenüber legitimem kulturellen Kapital (Bildungstitel) ist fast durchweg nicht zu finden. Insofern ist zu konstatieren, dass die sozialen Normen so bestückt sind, dass sie kaum kompatibel sind mit den klassischen kulturtheoretischen Annahmen zu Jugendstilen. Lernen und Alkoholkonsum, manchmal riskantes Verhalten und zugleich Lernen für die Schule sowie das Reden über Religion sind verschiedenartige Praktiken, die danach nicht zusammenzupassen: Widerständige Praktiken und Ausprobieren auf der einen Seite und eine Orientierung an Leistungsnormen, Religion und der Norm lernen zu wollen andererseits. Die Cliquen/Freundschaftsgruppen sind zugleich zweierlei: Sie bieten gleichermaßen die Möglichkeit, Grenzen auszutesten und sich an Leistung zu orientieren. Diese empirischen Ergebnisse lassen sich als Indiz dafür nehmen, dass theoretische Konzepte fehlen, die dies im Kontext spätmoderner Gesellschaften zu erfassen vermögen, die also nicht von Widersprüchen ausgehen, sondern den Zusammenhang und die innere Logik dieser Praktiken erklären. Es wäre die Frage, inwiefern sich hierin die Suche nach Sicherheit einerseits und Ausprobieren andererseits andeutet und gerade das auf den ersten Blick erscheinende Gegensätzliche ein Moment spätmodernen Lebens ist, nämlich in unterschiedlichsten Settings dem Anspruch des Optimierens zu genügen und dabei zugleich Beständigkeit durch Wandel zu erzeugen (Rosa 2009). In der Studie Jugend.Leben wurden auch Zugehörigkeiten als Aktive zu Gruppen/Szenen abgefragt. Damit wird unterschieden in – wie eben diskutiert – Cliquen/Freundesgruppen und Gruppen/Szenen. Die Analyse wird zeigen, dass die Begriffe ungenau werden und somit Fragen aufkommen. Um dies zu verdeutlichen, werden die Ergebnisse vorgestellt: Eine Liste von 21 Szenen ermöglichte den 10- bis 18-Jährigen, sich Szenen/Gruppen zuzuordnen oder sich von ihnen abzugrenzen. Die Heranwachsenden ordnen sich als Aktive den Okkulten (1 %), Skinheads (1 %), Metal-Fans (6 %), Umweltschützern (13 %), der muslimischen Jugend (14 %), den Computer-Fans (22 %), Fußballfans (36 %) oder Internetsurfern (43 %) zu, zugleich grenzen sie sich am meisten von Skinheads (14 %), Girlgroup-Fans und Boygroups-Fans (je 7 %) sowie Kernkraftgegnern, Punks und okkulten Gruppen (je 6 %) ab. Eine Zuordnung zur muslimischen Jugend (14 %) hat wie Umweltschützer (13 %) und Skater/Surfer (15 %) mehr Aktivisten
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als Gegner. An oberer Stelle der Aktiven stehen allerdings Internetsurfer (43 %), Fußballfans (36 %) und Serienfans (30 %). Diese drei Gruppen weisen allerdings nicht unbedingt Jugendspezifisches auf, sondern erscheinen eher als ein Massenphänomen, das vor allem von medialer Kommunikation durchzogen ist und nicht auf eine Altersgruppe begrenzt scheint. Gleiches trifft auf Umweltschützer, Vegetarier, Kernkraftgegner zu. Auch diese Gruppen/Szenen sind ebenso altersunabhängig. Allerdings betonen Eisewicht, Niederbacher und Hitzler (2016), dass sich Szenen weniger durch Gleichaltrige auszeichnen, sondern durch Gleichgesinnte jenseits von Klasse und Stand (vgl. ebd., S. 301). Es fragt sich dennoch, wie sich die in den Studien verwendeten Begriffe Clique/Freundesgruppe und Gruppe/Szene voneinander unterscheiden? In Szenen dominieren, folgt man Hitzler et al. (2005), bestimmte Themen wie ein Musikstil oder eine Sportart oder eine bestimmte Form des Konsums, möglich ist auch eine bestimmte weltanschauliche Idee. Hitzler, Bucher und Liederbacher (ebd., S. 55) deuten Jugendszenen als „Brutstätten posttraditionaler Vergemeinschaftung“, an der Heranwachsende aus eigenen Bedürfnissen und Wünschen heraus teilnehmen können, ohne jedoch dieser Gemeinschaft verpflichtet zu sein und sich eindeutig für eine entscheiden zu müssen. Spätmoderne Gesellschaften ermöglichen Offenheit und Vielfalt, so auch die Teilhabe an unterschiedlichen Szenen, da Flexibilität und eine Vermeidung von normativen Festlegungen gewissermaßen Grundvoraussetzungen dieser Gesellschaft sind. Szenen wie Tierschützer, Kampfsportler, Skater, muslimische Jugend oder Umweltschützer offerieren aufgrund einer spezifischen Zugehörigkeitsthematik wie Sportlichkeit, Ökologie oder Religion einen Zugang zu ihnen, wobei ein offenes Hineintreten und beliebiges Herausgehen möglich ist. Diese Aussagen fügen sich theoretisch in spätmoderne Lebensformen ein und erklären das Fluide in Jugendszenen. Zugleich stellt sich anhand der Ergebnisse aber die Frage, wo die Grenzen des offenen Zugangs bzw. der Zugehörigkeit liegen? Diese offene ‚Beliebigkeit‘ scheint, zieht man die empirischen Ergebnisse heran, eher bei Serienfans, Fußballfans und Internetsurfer vorzuliegen – oder lassen sich diese nicht mehr als Szenen begreifen, da sie ein Massenphänomen sind? Auch ist fraglich, inwiefern sich Tierschützer, Umweltschützer und Vegetarier als Szenen bezeichnen lassen. Hitzler (2008) formuliert, dass Szenen so offen gestaltet sind, dass die Jugendlichen sich ihnen mehr oder weniger beliebig zuordnen können, auch wenn einige Voraussetzungen wie bspw. Sportlichkeit oder Ökologiebewusstsein notwendig sind. Es ist aber auch durchaus möglich, sich mehreren Szenen zuzuordnen, also zugleich Skater und Umweltschützer zu sein und sich der muslimischen Jugend zugehörig zu fühlen. So schreibt Hitzler: „Man weiß oft nicht, ob man tatsächlich drinnen ist, ob man am Rande mitläuft, oder ob man schon nah am Zentrum
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steht. Gleichwohl realisiert man irgendwann ‚irgendwie‘, dass man ‚irgendwie‘ dazugehört. Und da die Ränder der Szenen ohnehin verschwimmen, hat man in der Regel einen problemlosen Zugang zu ihr und kann sie ebenso problemlos auch wieder verlassen“ (ebd., S. 57). Es ist die freiwillige Selbstbindung des Jugendlichen/der Jugendlichen, sich dieser Szene zugehörig zu fühlen, es ist die eigene Entscheidung darüber und es bedarf weniger einer bzw. keiner Aufnahme durch andere. Die individuelle Entscheidung, zu dieser Szene gehören zu wollen, eröffnet eine Bindung an darin bestehende Normen und Verhaltensweisen, nämlich ökologisch zu leben, Skateboard zu fahren oder religiös zu sein. „Entsprechend gilt für Szenen im Allgemeinen, dass in ihnen die Verführung individualitätsbedachter Einzelner zu einer meist ästhetischen Gesinnungsgemeinschaft dominiert“ (Ecarius et al. 2011, S. 137). Szenen sind im Kern bindend und an den Rändern offen, ihr Prinzip ist die individuelle Zuschreibung zu dieser. Insofern wären alle ‚Gruppierungen‘ als Szenen zu verstehen. Aber es fällt auch auf, dass manche Szenen stärker konturiert zu sein scheinen und insofern auch klare Gegner haben. Dazu gehören spezifische Fantums (Boybands, Girlbands), Metal-Fans, Punks, Skinheads und okkulte Gruppen. Diese Szenen sind vielleicht dann auch eher Jugendkulturen, da sie vermutlich nicht diese individualistische Öffnung haben und eine Zuordnung eher zu einem Bekenntnis einer bestimmten Lebensweise wird. Hier sind die Regeln, Routinen und Schemata der Weltdeutung eindeutiger und weniger partiell. Übergänge von der einen Gruppierung zur anderen erscheinen weniger sinnvoll, also der Wechsel vom GirlgroupFan zum Metal-Fan und dann zu den Skinheads. Diese Jugendgruppierungen, wenn man sie nicht als Szene versteht, sind auch weniger geprägt von Körperlichkeit und Sportlichkeit. Stilelemente von okkulten Gruppen wie Gothics oder Skinheads erfordern klare Zuordnungen und Normierungen, die stilistisch und alltäglich gelebt werden. Im Vergleich dazu erscheinen Cliquen/Szenen wie Tierschützer, Vegetarier oder Skater eher leichter zugänglich und offener für Selbstinszenierungen, wobei die Stilgemeinschaft zwar Zugehörigkeit offeriert, aber auch weitere Zugehörigkeiten in anderen Stilgemeinschaften ermöglicht. Solche Szenen verlangen von denen, die sich ihnen zuordnen wollen, kein religiöses Glaubensbekenntnis oder eine eindeutige Wertorientierung. Diese Diskussion läuft darauf hinaus, eine Differenzierung der Begrifflichkeiten vorzunehmen und nicht nur den Szenebegriff zu verwenden. Sich den Skinheads oder der muslimischen Jugend zugehörig zu fühlen, entspricht vielleicht eher dem Muster einer Jugendkultur als dem einer Szene. Die Zugehörigkeit wäre dann nicht beliebig offen und fluide. Gleiches gilt eigentlich auch für
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Kampfsportler. Allerdings liegt der Unterschied hier darin, dass zwar Körperlichkeit bedeutsam ist, dies aber nicht zu einem Glaubensbekenntnis werden muss. So schließen sich eine Zugehörigkeit zu einer muslimischen Jugendgruppe und einem Kampfsport nicht gegenseitig aus, es wäre durchaus möglich, diesen beiden ‚Jugendkulturen‘ anzugehören, aber beide ‚verlangen‘ eine bewusste Zugehörigkeit. Ganz offen ist dagegen eine Zugehörigkeit zu Fußballfans, hier alleine dominiert das Interesse für die Sportart und bedarf nicht eines eigenen aktiven Hinzutuns. Die Diskussion trägt an dieser Stelle eher (bewusst) zur Verwirrung als zur Klärung bei, macht aber deutlich, wie wichtig eine tiefer gehende Debatte um Clique, Szene, Jugendkultur und altersunabhängige offene Gruppen ist. Die begriffliche Unschärfe ist dabei weniger einer mangelnden theoretischen Kenntnis der beiden Studien geschuldet, sondern vielmehr Ausdruck einer mangelnden theoretischen Ausdifferenzierung der Jugendforschung in Cliquen, Szenen, Jugendkulturen und altersunabhängige offene Gruppen (vgl. Köhler et al. 2016). Es fehlt also eine Theorie von Jugend, ihren Inhalten, Wertorientierungen und jugendlichen Stilbildungen. Ein erster Versuch zur Klärung wäre, Peergroup als einen Obergriff zu nutzen: Die Peergroup des/r Heranwachsenden sind Bezugsgruppen mit ähnlichen Interessen und Bedürfnissen (Griese 2016; Köhler 2016). Diese sind jedoch nicht alle gleich, sondern haben unterschiedliche Facetten, die näher zu beschreiben wären. In Form einer alltäglichen sozialen Vergemeinschaftung mit gemeinsamer virtueller und realer Freizeit könnte man sie als Cliquen bezeichnen. Damit wird zugleich eine Abgrenzung zu einer Diskussion (Eckert et al. 2016) vorgenommen, die Cliquen einerseits mit Peerbeziehungen gleichsetzt und andererseits unter Cliquen subkulturspezifische Jugendästhetisierung fasst oder Peers als Szenen deutet (ebd.). Cliquen als alltägliche soziale Vergemeinschaftung lassen sich unterscheiden von Szenen mit offenen Zu- und Abgängen oder Jugendkulturen mit spezifischen Zuschreibungen und Normierungen. Die Clique umfasst Jugendliche, die sich in der Freizeit treffen, Nachmittage miteinander verbringen und sich vergemeinschaften, in denen spezifische Werte wie Spaß haben und Lernen wichtig sind und die sich gegenseitig unterstützen. Jugendliche können sich aber auch offenen altersunspezifischen Massenphänomenen wie Fußballfans zugehörig fühlen. Auch wäre zu fragen, ob dazu auch Vegetarier, Umweltschützer, Tierschützer und Friedensbewegte gehören, die einen spezifischen Lebensstil präferieren, der allerdings alters- und geschlechtsunspezifisch und weitgehend auch milieuunspezifisch ist. Eine solche eher jugendunspezifische (Lebens-)Stilorientierung eines Massenphänomens würde dann auch in Peergroups mit Gleichaltrigen praktiziert werden.
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Als weitere jugendliche Gruppierung wären dann Szenen (Hitzler et al. 2005) zu nennen, ästhetische Stilbildungen zwischen Medien und Konsum, die lokal und zugleich global sind und als szenische Gemeinschaft enttraditionalisiert Trends und Stile entfalten. Klassisch gehören dazu Hip-Hopper und Technos, aber auch Biker. Davon zu unterscheiden wären Jugendkulturen. Dieser Begriff entspringt den 1990er Jahren (Ferchhoff 1999) und betont vor dem Hintergrund eines Erlebens von Destandardisierung eine jugendliche Ausgestaltung der Lebenspraxis (Ferchhoff 2007), die auf Selbstbehauptung und Autonomie ausgerichtet ist. Jugendkulturen wie Skinheads oder Metal-Fans ermöglichen eine Identitätsstiftung über das Zusammensein mit Gleichgesinnten und einer gleichzeitigen Abgrenzung zur übrigen Gesellschaft.
5 Offene Themen und Fragen Die empirischen Ergebnisse der beiden Studien sind sehr vielschichtig und nur schwierig theoretisch zu fassen. Dies liegt aber weniger an den empirischen Ergebnissen, sondern vielmehr daran, dass keine entsprechenden theoretischen Konzeptionen zur Interpretation der Ergebnisse vorliegen. Insofern ist für die Jugendforschung ein Desiderat festzustellen. Denn die theoretische Konzeption von Jugend, die die elterliche Ablösung als eine Emanzipation vom konjunktiven Lebensraum Familie deutet, die in jugendkultureller politischer Emanzipation und eigener Stilbildung mündet und insofern an einer politische Idee einer demokratischen Innovation orientiert ist, wobei Jugendliche zugleich über eine Identitätskrise zu ihrem ‚wahren Kern‘ gelangen, ist fragwürdig geworden. Moderne Jugendkonzepte einer Individualisierung haben im Prinzip die Maxime der am Prinzip der Demokratie orientierten Selbstverwirklichung nicht aufgegeben, sodass implizit immer noch eine Subjektkonstruktion unterstellt wird, mit der sich das jugendliche Selbst (politisch) emanzipiert. Enttraditionalisierung und Individualisierung werden in den jugendtheoretischen Überlegungen immer wieder als jene gesellschaftlichen Formierungen beschrieben, die zu Emanzipation und Autonomie (Hurrelmann und Quenzel 2013; Heitmeyer et al. 2011) führen. Daher verwundert es auch nicht, dass mit Überlegungen zu zunehmenden Statuspassagen und Übergängen (Stauber 2012) die Klage formuliert wird, dass die Jugendphase keine Kontur mehr aufweise. Vielleicht aber geht es gar nicht in der Jugendphase in spätmodernen gesellschaftlichen Strukturen darum, sich zu emanzipieren über eine jugendkulturelle Ästhetisierung in Abgrenzung zu Mutter und Vater und Übergänge als einmalige Bewältigungspassagen zu erleben, sondern
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vielmehr darum, sich mit einer spätmodernen Subjektfolie eines „Ich verantworte mich selbst“ oder „Ich behaupte mich“ in der Vielfalt des Optimierens zu modellieren. Selbstfindung wäre dann gegenwärtig nicht mehr ästhetische Abgrenzung von Herkömmlichem in Cliquen, Szenen oder Jugendkulturen, sondern das heranwachsende Subjekt lernt in seiner Peergroup mit Sympathien zu Szenen, eventuell auch als Aktive/r, sich selbst zu organisieren zwischen Kommerz und Medien, Selbstinszenierung und Fremdinszenierung, zwischen unterschiedlichen Wahrheiten oder erzählten Geschichten, wobei Übergänge alltägliche Praxis sind. Es ist zudem theoretisch darüber nachzudenken, ob den Freizeitaktivitäten der Heranwachsenden in ihren Peergroups nicht bestimmte Wertorientierungen wie Traditionalismus und Religion, Modernisierung und Vernunft sowie Spätmoderne und Optimierung zugrunde liegen und sich diese in ästhetischen, musikalischen und sportlichen Stilpräferenzen ausdrücken. Weiter ist zu überlegen, inwiefern es Sinn macht, in verschiedene Peergroups wie offene altersunabhängige Gruppen (Masenphänomene), Cliquen, Szenen und Jugendkulturen zu unterscheiden. Dann könnten bspw. Technik-/Computer-Fans, Serienfans, Fußballfans und Internetsurfer sowie Vegetarier und Tierschützer als altersunabhängige Gruppen mit spätmodernen Wertorientierungen einer gleichen Gesinnung bezeichnet werden. Rapper/Hip-Hopper, Kampfsportler etc. ließen sich Szenen mit moderner und spätmoderner Wertorientierung zuordnen. Zu den Jugendkulturen würden muslimische Jugend, okkulte Gruppen, Skinheads, Punks und Metals gehören. Peergroups als Oberbegriff ließe sich entlang dieser Diskussion in offene altersunabhängige Gruppen, Cliquen, Szenen und Jugendkulturen unterscheiden, dies wäre allerdings theoretisch weiter zu diskutieren und es wären die Differenzen zu klären. Dabei könnten Theoriefacetten mit intersektional-interdependeten Annahmen hilfreich sein, nach denen es an bestimmten Punkten zur Bildung von prägnanten (Stil-)Mustern kommt. Insofern ließen sich klassische Jugendkulturtheorien um andere theoretische Bezüge (Intersektionalitäts-Interdependenzforschung; Poststrukturalismus etc.) erweitern, mit der Geschlechtlichkeit (Fritzsche 2011), Alter und kulturelle-religiöse Zugehörigkeit (von Wensierski 2012) an Bedeutung gewinnen. Aber auch die qualitative Forschung könnte zur weiteren Präzisierung beitragen, indem sie analysiert, inwiefern die Jugendlichen selbst ihre Peergroups unterscheiden, welche Bedeutung sie diesen beimessen, wie sie Übergänge von einer zur anderen Gruppe gestalten und ob bzw. inwiefern sie einer Jugendkultur angehören und was das bedeutet. Um diesen Weg zu beschreiten, hat sich die Jugendforschung vom Erbe der Jugend(sub-)kulturforschung zu befreien und den Mythos von der Rebellion der Jugend als progressive Kraft kritisch zu hinterfragen, der sich gegen konserva-
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tive jugendliche Lebensformen richtet und entsprechende Jugendstilisierungen abwertet bzw. erst gar nicht als Szene, Jugendkultur oder Clique begreift. Gerade aber eine Orientierung von Jugendlichen an konservativen Werten und entsprechende jugendkulturelle Stilisierungen sind im Kontext spätmoderner Strukturen mit Anrufungen des Optimierens auf neue Weise zu analysieren, anstatt sie in den Kontext der Debatte der 1980er und 1990er Jahre zu stellen. Die Abkehr und reflexive Distanzierung von diesen Hoffnungen bedeutet aber nicht, dass auf die ausführliche Analyse der je spezifischen Praxen, Haltungen und Orientierungen zu verzichten wäre. Auch und gerade unter den Bedingungen einer fortgesetzten Modernisierung bleibt die Erforschung von Jugendkulturen und deren Stellenwert zur Bewältigung gesellschaftlicher Anforderungen notwendig und aufschlussreich (vgl. Helsper 2012). Dies wäre auch sinnvoll vor dem Hintergrund einer Jugendsozialarbeit, die an solchen Lebenswelten ansetzt und sich mit Verhärtungen und Einseitigkeiten in jugendlichen Stilbildungen auseinanderzusetzen hat. Ein wissenschaftliches Wissen darüber wäre insofern gewinnbringend.
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Prof. Dr. Jutta Ecarius, Professorin für Erziehungswissenschaften an der humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Generationen-, Jugend- und qualitative Biographieforschung, Forschung zu Familie und Erziehung, Gewalt und sozialer Ungleichheit.
Zur Bedeutung des Schwarzen in der Schwarzen Szene. Farbmorphologische Erweiterungen etablierter Thesen der Jugendkulturforschung Jeanette Böhme und Tim Böder Zusammenfassung
Der Beitrag greift etablierte Thesen der Jugendkulturforschung zum szenenspezifischen Schwarz der Schwarzen Szene auf und unterzieht sie einer heuristischen Befremdung. Daran anknüpfend wird ausgehend von einer farbmorphologischen Bildrekonstruktion das Bedeutungspotenzial der Farbe Schwarz für Subjektivierungsprozesse über vier Strukturmomente bestimmt und an vorliegende Befunde zur Schwarzen Szene rückgebunden. Schlüsselwörter
Morphologische Hermeneutik · Farbmorphologie · Farbanalyse · Bildanalyse · Formenalgorithmen · Jugendkultur · Szene · Gothic · Schwarze Szene · Schwarz · Körper · Subjektivierung · Introversion · Inflexion
In einer brillanten Ethnographie zum Okkultismus hat Werner Helsper eine beeindruckende Studie zur Gothic- bzw. Grufti-Szene vorgelegt, deren empirischer Teil in einer Monographie im Jahre 1992 veröffentlicht wurde. Methodisch wurden dabei eine lebensweltbezogene Feldforschung mit Rekonstruktionen von
J. Böhme (*) · T. Böder Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Böder E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Gibson et al. (Hrsg.), Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25094-2_10
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Interviews und literarischen Szenetexten umgesetzt, deren substanzielle Ergebnisse in der Veröffentlichung durch zahlreiche Bilder ergänzt wurden (vgl. Helsper 1992). Diese Bilder sind Schwarz-Weiß-Fotographien, die jedoch lediglich zur Veranschaulichung dienen und keinen systematischen Stellenwert einnehmen. Die Studie kann demnach als eine ausgewiesen werden, die das Bild nicht als eigenständige Ausdrucksgestalt aufgreift, sondern das Sichtbare der Szene lediglich ethnographisch beschreibt. Dieser methodisch begründete blinde Fleck ist insofern reizvoll, als Helsper selbst darauf verweist, dass ein zentrales Strukturmoment der Szene eben gerade bildhaft zum Ausdruck gebracht wird, insofern „das auffallendste Merkmal dieser Jugendkultur ist: Das durchgängige Fehlen jedweder Farbigkeit und die eindeutige Dominanz von Schwarz“ (ebd., S. 248).
1 Abseits des iconic turns: Etablierte Thesen zum szenespezifischen Schwarz in der Jugendkulturforschung Auch wenn der ‚iconic turn‘ (u. a. Burda und Maar 2005) in der Erziehungswissenschaft nur zögerlich zur Kenntnis genommen wird, zeichnet sich doch gerade in den letzten zehn Jahren zwar eine neue Aufmerksamkeit gegenüber dem Bild ab1, jedoch auch eine eigentümliche Ratlosigkeit gegenüber der Sinnrekonstruktion von Farbgebungen. Dies ist kein disziplinspezifisches Phänomen, vielmehr liegen auch interdisziplinär, wie etwa in der Kunstwissenschaft, kaum überzeugende methodisch-methodologische Klärungen für die Rekonstruktion von Farbschemata vor. Am ehesten rückt hier etwa die Veröffentlichung „Farbe“ von Imdahl (2003) in den Blick, die aber eher eine Archäologie der Farbentwicklung in der Malerei ist und weniger methodisch-methodologische Fragen der Farbanalyse klärt. In seiner Studie zum Okkultismus hat Helsper (1992) für die Herausstellung der szenespezifischen Bedeutung der Farbe Schwarz (vgl. ebd., S. 248 ff.) implizit eine ikonographisch-ikonologische Analyseperspektive eingenommen2:
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wurde etwa in der vollständig überarbeiteten Neuauflage vom „Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft“ (Friebertshäuser et al. 2010) ein Kapitel mit Beiträgen zum Thema „Visuelles als Gegenstand und Instrument der Forschung“ (ebd., S. 527 ff.) aufgenommen. 2Werner Helsper folgt hier, ohne dies zu explizieren, den Analyseschritten der Bildanalyse, die Panofsky (1975, im Überblick S. 50) entfaltet hat.
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Ikonographisch, weil die Motive der Farbverwendung beschrieben werden, und ikonologisch, weil über kulturhistorische Kontextvariationen herausgearbeitet wird, unter welchen Bedingungen die Farbe Schwarz ein angemessener Ausdrucksstil in der Kleidung ist. So wird verdeutlicht, was die Farbe Schwarz allegorisch für einen ideen- bzw. sinngeschichtlichen Wert in einer Kultur symbolisiert. Auf dieser Grundlage erfolgen Ableitungen zum sozialen Sinn schwarzer Köpermodifikationen, die bis in Strukturhypothesen zur Bedeutung der Schwarzen Szene zugespitzt und durch die Alltagspraktiken und Deutungsmuster von Szenemitgliedern validiert werden. Helsper expliziert in dieser Herangehensweise drei zentrale Strukturmomente zur Bedeutung der Schwarzen Szene: 1. Die Schwarze Szene als Gegenkultur zum modernen Lebensstil: Mit Bezug auf Soeffner (1986) stellt Helsper (1992) als erste Kontextvariation heraus, dass schwarze Kleidung zu herausgehobenen Anlässen getragen wird und leitet daraus die „Bedeutung sozialer Distanzierung und Absetzung“ (ebd., S. 249) ab. Daran schließt er die These an, dass sich die schwarze Jugendkultur von einer normalen „Happy-Oberflächlichkeit“ (ebd., S. 251) abwendet und als solche „Absetzung vom ‚Happy-Leben‘“ (ebd.) sowie „von Routine, von Konsum und Karrierestreben der Anderen“ (ebd.), wenn nicht als Protestkultur, so doch zumindest als eine „Gegenkultur“ (ebd., S. 351) gelesen werden kann. Die Szene wird vor diesem Hintergrund als „bürgerlich-oppositionelle Bewegungen mit einer oft auf die Romantik zurückgehenden kritischen Wendung gegen die instrumentelle Rationalität der technischen Moderne“ gekennzeichnet (ebd.). 2. Die Schwarze Szene als mystische Weltflucht: In einer weiteren Kontextvariation stellt Helsper heraus, dass der schwarze Kleidungsstil auch von Geistlichen getragen wird, die dem Heiligen näher als dem Profanen stehen. Insofern wird hier das Schwarze als „Farbe der Weltabgewandtheit“ (ebd., S. 250) interpretiert, die „asketisch verneinende Züge“ (ebd.) aufweist. Diese Perspektive spitzt Helsper in der These zu, dass diese Jugendkultur sich mit einer transzendentalen Erhöhung, die gleichsam nach innen gekehrt ist, in einer spezifischen Form von mystischer Religiosität inszeniert. Dies wird auch mit Verweis auf den introvertierten Anti-Tanz unterstrichen, in dem eine „starke Selbstbezogenheit, ja fast eine Isolation und Kontaktlosigkeit“ (ebd., S. 251) zum Ausdruck kommt. 3. Die Schwarze Szene als todthematisierende Trauergemeinde: Helsper verweist darauf, dass der schwarze Kleidungsstil in europäischen Kulturen im Rahmen von Beerdigungszeremonien oder während Trauerzeiten gewählt wird und von daher als „Symbolisierung von Trauer, Tod und Ende“ (ebd., S. 250) gelten kann. Über die vorgelegten biographischen Fallstudien wird die jugendliche
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Referenz der Trauer herausgearbeitet und konkretisiert: So wird deutlich, dass die Szenegänger ein Bild der bürgerlichen Kleinfamilie in Gestalt eines stabilen emotionalen Nahraumes hochgradig als Entwurf verbürgen, dieses jedoch lebenspraktisch in den Herkunftsfamilien als brüchig-krisenhaft bis umfassend gescheitert erfahren haben. So sind die Lebensgeschichten der Grufties mit „Trennungs- und Verlusterfahrungen gegenüber den Eltern“ (ebd., S. 312) verbunden, sodass in den familiären Generationsbeziehungen „Versagung und mangelnde Zuwendung“ (ebd.) in der Strukturvariante einer „emotionalen ‚Unterversorgung‘“ (ebd.) integritätsverletztend erlebt wurde. Bei der psychoanalytisch affinen Interpretation von Liedertexten der Szene macht Helsper deutlich, dass die szenespezifische Bewältigungsstrategie in der imaginären Figur des „Elternmordes“ (ebd., S. 255) aufgeht, der die Grundlage stellt, den Familienentwurf voller Trauer zu Grabe zu tragen. „In diesem Sinne wird die Jugendkultur der Schwarzen und Grufties auch als eine ‚jugendkulturelle Trauergemeinde‘, als ein Zusammenschluss ‚einsamer Kinder‘, zur Artikulation ihrer Trauer und Melancholie“ (ebd., S. 312). Darüber hinaus setzt eine Projektion des individuellen Leides auf die kollektive Zukunft eine apokalyptische Perspektive auf die Menschheit frei (vgl. ebd., S. 315). Helsper macht vor diesem Hintergrund die These stark, dass diese Szene somit auch eine „subjektiv unterlegte kulturelle Artikulation des sozial verdrängten Todes ist“ (ebd., auch S. 316 ff.). Diese Ergebnisse werden durch weiterführende Studien zur Schwarzen Szene seit den 1990er Jahren bestätigt und ausdifferenziert. So wird darauf verwiesen, dass in dieser Jugendkultur eine Thematisierung des sozial tabuisierten Todes erfolgt und damit gleichsam Entfremdungsphänomene durch die technisiert-meritokratische Oberflächen-Moderne problematisiert werden (vgl. als Überblick Rauschner 2013 mit Verweis auf die Studien von Richard 1997; Meisel 2005; Gunn 2007; Neumann-Braun und Schmidt 2008). Bis in die gegenwärtige Diskussion zur Bedeutung der Szene wird diese These einer oppositionellen Trauersemantik des Todes mitgeführt.
2 Heuristische Befremdungen der schwarzen Szenebilder einer „Trauergemeinde“ und „Gegenkultur“ Für die weitere Rezeption der Thesen, die den Bildern der „Trauergemeinde“ und „Gegenkultur“ immanent sind, sollen hier nun kritische Anfragen aufgegriffen (vgl. Rauschner 2013, S. 109 ff.) und weiterführend diskutiert werden.
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Denn durch die ikonographisch-ikonologische Interpretation der Bedeutung des Schwarzen in der Schwarzen Szene, erfolgt ein Bezug auf kulturhistorisches Regelwissen zur Farbverwendung, das eine beobachtbare Transformation durchläuft, was Anfragen an den aktuellen Geltungsanspruch der ausgewiesenen Szenebilder freisetzt: Zum ersten ist das Bild der schwarzen „Trauergemeinde“ mit Bezug auf die zunehmend bunte Todessemantik im kulturellen Wandel der Bestattungs- und Trauerkultur anzufragen. Zum zweiten ist das Szenebild einer „Gegenkultur“ in Hinsicht auf die Relativierung der Erregung über den schwarzen Stil im Zuge der Pluralisierung von Alltagsästhetiken zu thematisieren. Die Schwarze Szene eine „Trauergemeinde“? Anfragen ausgehend von der aktuellen Pluralisierung des Farbschemas in der Todessemantik: Mit Bezug auf die Aussagen der Jugendlichen formuliert Helsper in der Okkultismus-Studie: „Wesentlich scheint (…) für die schwarze Szene der Zusammenhang von Schwarz und Trauer zu sein, wobei allerdings die auf bestimmte Anlässe oder Zeiträume begrenzte Trauerfarbe zur ständigen Kleidungsfarbe veralltäglicht wird“ (Helsper 1992, S. 250). Weit mehr als zum Zeitpunkt des Erscheinens der Studie, ist bis heute Schwarz zu einer Trendfarbe in der kommerzialisierten Kleidermode avanciert. Wollte man nun aber mit Verweis auf die Transformation kultureller Farbschemata im alltäglichen Kleidungsdesign kausal eine Aufhebung der Verdrängung einer Thematisierung des Todes im Alltag ableiten, würde unterstellt, dass der schwarze Kleidungsstil aktuell immer noch ein zentrales Kennzeichen der Ästhetisierung von Tod und Trauer in europäischen Kulturen ist. Dem ist jedoch nicht so. Vielmehr lässt sich eine Pluralisierung des Farbschemas in der ritualisierten aktuellen Bestattungskultur konstatieren, die deutlich mit der säkularisierten Entsakralisierung der Endlichkeit des Lebens und damit mit der Verflüssigung religiöser Orientierungen im Zusammenhang steht. So weist Thieme (2013) in seiner Studie zur Transformation der Bestattungskultur darauf hin, dass die soziale Verdrängung des Todes in der europäischen Kultur noch bis in die 1990er Jahr signifikant war (ebd., S. 322). Aktuell seien Beerdigungsinstitute jedoch zunehmend lebensweltlich orientiert und werben für neue alltagsästhetische Umgangsformen mit Sterben, Tod und Trauer, die insbesondere mit einer Relativierung des Stellenwertes christlicher Beerdigungsrituale und hier insbesondere der Dominanzfarbe Schwarz als Trauerfarbe einhergehen (vgl. als Beispiel: MoTcast 2018). So zeigt eine Befragung von Beerdigungsinstituten3 (vgl. Thieme 2013), dass zwar aktuell christliche Beerdigungszeremonien noch nachgefragt werden, 3Die
quantitative Studie bezieht sich auf 1.376 Bestattungsfälle, die 463 Bestatter*innen im Jahr 2012 begleiteten. Insofern ist die Studie nicht repräsentativ, zeigt jedoch einen Trend auf, auf den hier verwiesen werden soll.
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Abb. 1 Beispiel zur Pluralisierung des Farbschemas in der Todessemantik. (Quelle: Holtschulte, Michael, totaberlustig.de,https://twitter.com/totaberlustig/status/981056685920980999. Zugegriffen: 14. September)
jedoch das kirchliche Bestattungsmonopol gebrochen ist (vgl. ebd., S. 333). Die Bestattungskultur differenziert sich also aus und öffnet Spielräume, um die Gestaltung auch zunehmend anonymer Bestattungen als Individualitätsmarker (nicht-)religiöser Selbstbestimmung inszenieren zu können (vgl. SachmerdaSchulz 2015), was auch in einer zunehmenden Pluralisierung der Farbschemata in der Grabkultur beobachten lässt (vgl. Sörries 2009) – die Beisetzungsmöglichkeiten werden bunter! (vgl. Abb. 1). Die Schwarze Szene als „Gegenkultur“? Anfragen, ausgehend von einer Pluralisierung der Ästhetisierung von Alltags- und Weltentwürfen: Generalisierend zeigt sich, dass sich Jugendkulturen als zunehmend altersgemischte Vergemeinschaftungsformen im Zuge der doppelten Pluralisierung der Moderne nur noch begrenzt als gegenkulturelle Projekte der Emanzipation und Gesellschaftskritik profilieren können (vgl. dazu auch Böder und Pfaff 2018; Böder et al. 2019). Denn zum einen hat sich die Farbverwendung im Stilrepertoire der Alltagskultur ausdifferenziert; hier dürfte es der Schwarzen Szene genauso gehen wie anderen Szenen: Die Stilmannigfaltigkeit in der Moderne entmächtigt auch diese Szene und relativiert das Potenzial sowohl in der Generationsfolge distinktive Erregungen, als auch übergreifend kulturell innovierende Schübe freizusetzen (vgl. etwa Ziehe 1991). Zum anderen haben sich die lebenspraktischen
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ezugnahmen auf das mannigfaltige Stilrepertoire in der Moderne pluralisiert. B Neben einer umfassenden Ästhetisierung von Normen- und Werteorientierungen als Lebensform treten nun auch fluide, fragile und dissonierende Varianten von Selbststilisierungen hinzu (vgl. etwa Gebhardt und Hitzler 2006). Vor diesem Hintergrund steht auch die Thematisierung der Schwarzen Szene als Gegenkultur in der Gefahr, ihre identitätsstiftende Wirkmächtigkeit und soziale Homogenität zu überzeichnen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass auch der schwarze Stil eben nicht mehr ausschließlich Ausdruck einer identitätsstiftenden Lebensform sein muss, der distinktiv als alltagspolitische Botschaft inszeniert wird, sondern temporär juvenil, eventbezogen und auch ganz alltäglich in den Lebensgeschichten aufgegriffen werden kann (vgl. Hitzler 2010). Ohne systematisch die relevanten Erkenntnisse der kultur- und sozialwissenschaftlich ausgerichteten Thanatologie und Jugendforschung rezipiert zu haben, zeigt doch schon dieser Durchgang, dass sich eine Neuauflage der Frage aufdrängt, welche Bedeutung dem Schwarzen in der Schwarzen Szene aktuell zukommt. Nicht zuletzt auch deshalb, weil diese Szene trotz der skizzierten Modernisierungsprozesse einen starken Zulauf hat und sich profiliert, was etwa ihre Präsenz im Netz (vgl. etwa gothla.de 2016) oder die Erfolgsgeschichte des alljährlichen Wave-Gothic-Treffens seit 1992 (vgl. Wave Gotik Treffen-Website) zeigen. Damit soll keineswegs subkutan unterstellt werden, dass die ausgewiesenen Studien zur Schwarzen Szene allesamt in Frage zu stellen sind. Vielmehr gehen wir davon aus, dass der Farbe Schwarz als Stilmittel ein allgemeiner generalisierbarer Bedeutungsalgorithmus immanent ist, der in der Schwarzen Szene kulturhistorisch wandelbar konkretisiert wird. Und dieser allgemeine Bedeutungsalgorithmus der Körperästhetisierung mit der Farbe Schwarz, lässt sich mit einer ikonographisch-ikonologischen Perspektive nicht hinreichend erschließen, da in dieser Analyseeinstellung Lesarten und Interpretationen eben mit Bezug auf kulturhistorisches Regelwissen profiliert werden, das selbst transformiert (vgl. Kritik von Imdahl 1996, etwa S. 636).
3 Morphologische Rekonstruktion des Bedeutungspotenzials der Farbe Schwarz Es steht also die Herausforderung, die Farbe Schwarz weder ikonographisch über die kontextbezogene Variation von Angemessenheitsurteilen einer Farbverwendung, noch ikonologisch über die Recherche von Allegorien schwarzer
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ymbolisierungen zu interpretieren. Vielmehr wird hier eine ikonische Analyse S der Farbe Schwarz auch als weiterführende Erprobung einer (Farb-)Morphologischen Hermeneutik versucht4. Die farbmorphologische Rekonstruktion zielt dabei auf eine Erschließung des Bedeutungsalgorithmus der Farbe Schwarz, der als eine kulturelle Universalie die aisthetischen Gattungsstrukturen begründet5. Diese aisthetischen Gattungsstrukturen werden als ein Allgemeines in der besonderen kulturhistorisch- kontextualisierten Interaktion entfaltet und sind für die Bild- und somit auch Farbrezeption voraussetzungsreiche Grundlage. In der farbmorphologischen Perspektive wird demnach von einem heuristischen Grenzfall ausgegangen, dass es kulturell generalisierte Wahrnehmungsmuster gibt, mit denen auf der Anschauungsebene durch Farbe als Zeichen Dinge wiedererkannt werden. Erst auf der Grundlage der aisthetischen Anschauung einer Sache kann diese dann kulturhistorisch als Darstellung eines konkreten Ausdrucks thematisch werden und reflexiv zum Bedeutungserlebnis transformieren (vgl. Cassirer 1994, S. 213 ff.). Ganz in einem strukturalistischen Verständnis wird demnach angenommen, dass die interaktiv erzeugte aisthetische Gattungsstruktur einen Spielraum für das Verstehen und schließlich den sozialen Sinn einer Sache zwar
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Morphologische Hermeneutik als Theorie- und Forschungsprogramm ist aktuell insbesondere für die Gestalt- und Formenanalyse von Bildern ausdifferenziert (vgl. etwa Böhme und Böder 2018, 2020; Böhme und Flasche 2017). Das Problem der Farbe und die Idee einer Farbmorphologie werden in diesem Beitrag erstmals bearbeitet. 5Die heuristische Grundannahme von aisthetischen Gattungsstrukturen rückt die farbmorphologische Perspektive nicht in eine phänomenologisch ausgerichtete Theorie des Leibes ein (vgl. etwa in dieser Linie Gernot Böhme 2001). Vielmehr stellen wir die hier schlaglichtartig referierte Perspektive in die Linie des Genetischen Strukturalismus von Oevermann (1986), der davon ausgeht, dass Gattungsstrukturen kulturhistorische Universalien sind, die humane Sozialität konstituieren und interaktiv im Modus einer zweckfreien Reziprozität generiert werden (vgl. ebd., S. 30). Diese Gattungsstrukturen können und sollen auch Gegenstand von Rekonstruktionen sein (vgl. Oevermann 1983, S. 273). Damit werden Gattungsstrukturen eben nicht wie in Chomskys (1993) nativistischer Kompetenztheorie als biologistische Initialstruktur oder wie bei Piagets (1973) entwicklungspsychologischer Kompetenztheorie monologistisch in den Strukturen praktischen Handelns verortet. Vielmehr wird ein Generierungsmodus der ontogenetischen Entwicklungsprozesse in der Struktur sozialer Interaktion angenommen (vgl. bereits Böhme 2000, S. 26 ff. und die Auseinandersetzung mit dem Vorwurf einer „Metaphysik der Strukturen“ von Reichertz 1986, S. 286). Da eine umfassend systematische Begründung und empirische Fundierung dieser Grundannahmen noch nicht hinreichend geleistet ist, werden diese hier lediglich als Heuristik mitgeführt.
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nicht determiniert, aber doch regelhaft präferiert. Und genau auf diese allgemeine Bedeutungsebene wird auch der rekonstruktive Fokus in den folgenden eher ikonischen Analysen eingestellt (vgl. dazu die Grundannahme der Ikonik bei Imdahl 1996, S. 626). Denn die Rekonstruktion des aisthetisch präferierten Bedeutungsspielraums der Farbe Schwarz ist konstitutive Grundbedingung, um überhaupt aufzeigen zu können, wie die Schwarze Szene daran kulturhistorisch konkret und binnendifferent anschließt, um einen szenespezifischen Sinnhorizont im Spektrum von Ausdrucksgestalten aufzuspannen.
4 Das geheimnisvolle Unsichtbare: Die doppelte Negation des Körper-Subjektes in schwarzer Unbestimmtheit Das Schwarz tritt als unbunte Farbe insbesondere beim Nichtvorhandensein von Lichtquellen auf. Das Auge nimmt in lichtfreien Räumen ein amorphes Nichts wahr. Die bestehenden Dinge und auch man selbst werden unsichtbar. Räumlich ist das Erleben dieser Unsehbarkeit die Erfahrung „eines seltsam w esenlos-unzentrierten Im-Nichts-Hängen. Es ist ein gewichtsloser, körperloser, raumloser, weder in sich gefestigter noch gerichteter dahinfließender Gesamtzustand ohne Raumbewusstheit und – bedeutsamerweise ohne eigentliches Selbstbewusstein“ (Bollnow 2010, S. 178). Gerade die Absolutsetzung der (selbst-)referentiellen Unbestimmtheit setzt demnach eine reflexive Vereinnahmung mit Bezug auf das Subjekt als Selbst aus und eine orientierungslose Offenheit frei. Der Höhlenmensch haust. Nun wird das Schwarze in der Schwarzen Szene insbesondere zur Modifikation des Körpers durch die Kleidung aufgegriffen. Man könnte sagen: Der Körper wird somit durch die Kleidung prothesenhaft in die unsichtbare Unbestimmtheit ausgeweitet. Gleichsam wird so die schwarze Kleidung zum Schutzmantel einer reflexiven Bestimmbarkeit des Körpers von außen und innen; bleibt im verborgenen Dunkeln, bleibt ein Geheimnis. Das Schwarz ist die Aufhebung von Farbdifferenzen und in ihrer Absolutsetzung eine ikonische Negation. Diese Aufhebung kann im wörtlichen Doppelsinn eine potenzierte Verdichtung von Farbdifferenzen sein, wie die Farbstudien von Reinhardt zeigen (vgl. Abb. 2). Er verwendet nicht die Farbe Schwarz um das Schwarze hervorzubringen, vielmehr kommt er zu diesem Ton durch die absolute Potenzierung der Buntheit. Farbschicht auf Farbschicht wird bis zur Verdunkelung überlagert. Und nur im tiefen Versinken in das Schwarze klärt
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Abb. 2 Ad Reinhardt: Black Painting, Nr. 34, 1964. (Quelle:https://www. moma.org/collection/ works/78976. Zugegriffen: 14. September 2019)
sich eine amorphe Farbspur, entdeckt man Spuren des Verschwundenen, einst Sichtbaren. „Was wir sehen, ist Ergebnis einer ‚Aufhebung‘ im Hegelschen Sinne, die zugleich Auslöschung und Aufbewahrung bezeichnet“ (Boehm 2007, S. 65 f.). In der ikonoklastisch-dekonstruktiven Bezugnahme auf und damit der visuellen Zerstörung von Buntheit, bleibt diese in der Negation des Schwarzen somit auch immer thematisch. Insofern thematisiert die schwarze Einkleidung des Körpers in der Schwarzen Szene auch immer die Negation eines spezifisch korporalen So-Seins in der blanken klaren Nacktheit. Die Ausdehnung durch schwarze Stofflichkeit wird zur zweiten unsichtbaren Haut, die die sichtbare Körperhaut durch Textiles, aber auch Schminke verdeckt und ebenso unsichtbar macht, auch im analytischen Licht der Überwachung und Kontrolle nicht erfassbar ist und sich so entzieht. Mit der Modifikation des Körpers durch die schwarze Einkleidung und Maskierung, wird ein unsichtbares Subjekt inszeniert und gleichzeitig der nackte Körper des Subjektes in diesem unbestimmbaren Dunkel verdeckt. Der Körper des Subjektes wird damit doppelt negiert und so bleibt das Subjekt selbst als ein So-Sein im doppelten Sinn ein Geheimnis. Interessanterweise münden die Theoretisierungen dieser Analysen in die Figur eines Doppelgängers, dessen beide Gestalten unsichtbar bleiben: die unsichtbar gemachte Körpergestalt der schwarzen Oberfläche resoniert mit der verdeckten Gestalt des nackten Körpers in der dunklen Tiefe. Das Subjekt versinkt im Dunkeln. Der Bedeutungsspielraum der Farbe Schwarz eröffnet damit ein Spiel, sich vor dem reflexiven Zugriff und damit einer gezielten körperlichen Zurichtung zum Subjekt im Namen der Aufklärung zu schützen. Schwarz als Körpermodifikation konstituiert das Subjekt als Geheimnis, denn es bringt nur den Verweis auf das Unsichtbare und Unbestimmte zum Ausdruck.
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5 Formstabile Unsichtbarkeit: Die bestimmte Unbestimmbarkeit des schwarzen KörperSubjektes Schwarz wird als unbunte Farbe bezeichnet. Dabei wird implizit auf eine Differenz von Wahrnehmungsmustern bei der Rezeption des Systems aus SchwarzGrau-Weiß und dem System des komplementärfarbigen Spektrums verwiesen. Bunte Farben unterscheiden sich von Schwarz, da diese „als ein Wert situations- und vor allem lichtbedingter Optizität zur Geltung kommen“ (Imdahl 2003, S. 42). Das System von Schwarz-Grau-Weiß hat dagegen ein gesteigertes Potenzial, unsere „Vorstellung von Dingen“ zu konstituieren, indem es beständig „Form und Proportion bezeichnet“ (ebd.). Die bunte „Farbinteraktion verzehrt Dingdistinktion“ (ebd., S. 23). Das Schwarze ist somit „Sichtbarkeitsausdruck der Begrenzung und Formgewissheit“ (ebd.). Als szenespezifische Modifikation des Körpers im Hell-Dunkel-Kontrast werden mit dem unbunten Symbolsystem Territorialisierungen prägnant möglich und also Kerbungen, die formgebend Differenzen sichtbar machen (vgl. Abb. 3). Denn vergegenwärtigen wir uns gedankenexperimentell die schwarz gezeichnete Linie auf einem weißen Blatt, manifestiert sich darin eindeutig eine Kerbung als rahmende Territorialisierung einer Sache, sie umrandet formgebend. Beispielsweise territorialisiert bei der Anonymisierung von Fotographien, ein schwarzer Balken
Abb. 3 Farbkontraste und Formgebung. (Quellen: 1., 2., 4. Foto (eigene Bearbeitung), 5. Foto: Jag_cz: Freeze motion of colored dust explosion isolated on black background, Quelle:https://www.shutterstock.com/de/image-photo/freeze-motion-colored-dust-explosion-isolated-175728152?src=YYDewWzAAouYgN20T322Aw-1–7. 3. Foto (eigene Bearbeitung): MDR/Holzapfel, Tilo: Protagonisten Freyja McLeod und Matthias Witte aus Osnabrück, Quelle: http://static2.fr.de/storage/image/7/1/2/4/204217_928×522_1oxEoZ_ YuWD1i.jpg.)
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über den Augen eine konkret ausgeformte Ausdehnung der Unbestimmbarkeit. Übertragen auf unseren Fall heißt das, dass die schwarze Kleidung und Schminke zwar den Körper als unsichtbare Unbestimmtheit modifiziert, jedoch gleichsam seine Ausdehnung markant formgebend nach Außen begrenzt. Die Körperkontur wird so gegenüber dem bunten Anderen in Differenz gesetzt und der Körper formgebend sichtbar. Die schwarze Kleidung wird so zur „Garantie der Körperintegrität“ (Imdahl 2003, S. 43). Wir können damit als Strukturhypothese formulieren: Als szenespezifische Körpermodifikation wird zwar in der Inszenierung von unbestimmter Unsichtbarkeit das Körper-Subjekt negiert (Strukturmoment I), jedoch wird seine Ausformung im Sinne einer territorialen Ausdehnung markant durch Differenzmarkierung zu einem bunten Außen bestimmt (Strukturmoment II). Das unbestimmbare Körpersubjekt wird territorialisiert und konstituiert seine Existenz als konkret ausgeformte Ausdehnung eines Unsichtbaren.
6 Introvertierte Fluchtlinie: Die Unbestimmtheit als metaphysischer Tiefengrund Das schwarze Körper-Subjekt wird somit als Unbestimmtes in einer konkreten Körperausdehnung bestimmbar und ist gleichsam maximal kontrastiver Grund für weiße Bezirke, die dieses schwarze Territorium durchbrechen. Weiße Körperregionen – Arme, Beine und vor allem Gesichter – treten hervor. Das schwarze und also negierte Körper-Subjekt bildet die (Lein-)Wand, einen konstitutiven (Schatten-) Grund, um das Licht klärend an der Oberfläche in hellen Hautpartien, etwa dem Gesicht, hervorzuheben (vgl. Deleuze und Guattari 2002, S. 230 f.). Insbesondere das Gesicht wird in einer maskenhaften Zweidimensionalität zum visuellen Epizentrum, das die Aufmerksamkeit in der (Selbst-)Betrachtung fokussiert und so als „Gebiet des klaren, bemerkenswerten oder bevorzugten Ausdrucks“ (Deleuze 2017, S. 149) profiliert wird. Es hebt sich als weißer Oberflächenbezirk vom schwarzen Tiefengrund ab und wird so signifikant, indem es das negierte Körper-Subjekt sichtbar macht und gleichsam seine unverwechselbare Singularität ausdrückt. Der Formenalgorithmus des Schwarzen hat also ein Potenzial, den Blick in einer planimetrischen Unbestimmtheit trudeln zu lassen (Strukturmoment I) und diese sowohl in territorialisierender Differenzsetzung zum bunten Anderen räumlich zu begrenzen (Strukturmoment II) als auch binnendifferenzierend als dunkler Grund bemerkenswerte Signifikanzen an der Oberfläche zu fokussieren (Strukturmoment III). Erfährt der Schwarz-Weiß-Kontrast eine Grauabstufung, wird ein choreographisches Potenzial freigesetzt, den Blick in die Tiefe des territorialisierten Unsichtbaren zu ziehen. Wie eine Fluchtlinie wird der Blick von Außen beim
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Abb. 4 Fläche und Tiefe. (Quellen: 1. Foto (eigene Bearbeitung): Antranias, Quelle:https://cdn.pixabay.com/photo/2015/11/03/18/55/stone-1021325_960_720.jpg. Zugegriffen: 14. September 2019. 2. Foto (eigene Bearbeitung): AFP/Getty Images, Schwarz, Tobias (2017), Quelle: https://www.rollingstone.de/wave-gotik-treffen-wgt-vampire-gruftis-zombies-die-blut-fotos-1260357/. Zugegriffen: 14. September 2019. 3. Foto (eigene Bearbeitung): babsara (2009): Höhle auf dem sentiero del crinale, Quelle: http:// www.geo.de/reisen/community/bild/143657/Corniglia-Italien-Hoehle-auf-dem-sentierodel-crinale. Zugegriffen: 14. September 2019.)
Betrachten der Hell-Dunkel-Dynamisierung einer Kerbung, ob als Linie oder Fläche, stillgestellt und in ein Inneres gezogen. Erfahrbar wird dies beim Betrachten von Bildern, die den Eingang einer Höhle oder einen Riss im Gestein zeigen (vgl. Abb. 4). Der Blick wird im Sog des Schwarzen – als Markierung der tiefsten Ausformung einer Falte oder eines Loches in der Oberfläche – in die Tiefe gezogen (Strukturmoment IV). Wieder im riskanten Übertrag auf den Fall der Körpermodifikationen der Schwarzen Szene wird so das ästhetisch negierte Körpersubjekt als Fluchtpunkt in der unsichtbaren Tiefe im Kontrast zur bunten Außenwelt positioniert. Der Fluchtpunkt der Schwarzgekleideten und -geschminkten zieht den Blick an und leitet ihn entlang einer tief eindringenden Fluchtlinie heraus aus der Betrachtung der Oberfläche in einen dunklen Tiefengrund (vgl. Abb. 4). Das bestimmt unbestimmte Körper-Subjekt wird so nicht als frei flottierende Applikation einer bestimmten Unbestimmbarkeit beobachtbar, sondern verankert und begründet sich vielmehr metaphysisch in diesem dunklen Tiefengrund. In der (Selbst-)Beobachtung kann dies als Introversion gefasst werden. In der (Selbst-)Versenkung wird der Ursprung des eigenen So-Seins in der unsichtbaren Unbestimmbarkeit bestimmt und fundiert. Monadenhaft konstituiert sich Subjektivierung so durch Inflexion (vgl. Deleuze 2017, S. 149) und kann in dieser Variante nicht diskursiv entäußert werden, da sich die Unbestimmtheit des SoSeins einer begrifflichen Territorialisierung entzieht. Damit ist jedoch das Selbst nicht dekonstruiert, nicht einmal dem Tod nahe. Vielmehr wird es als singulares Erlebnis performativ sichtbar gemacht.
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7 Bilanz der farbmorphologischen Erweiterung zur szenespezifischen Bedeutung des Schwarzen „Die Welt existiert nur in ihren Repräsentanten, wie sie in jeder Monade eingeschlossen ist. Es ist ein Plätschern, ein Getöse, ein Nebel, in der Luft tanzender Staub. Es ist ein Zustand des Todes oder der Erstarrung, des Schlafes oder des Einschläferns, der Ohnmacht, der Benommenheit. Als ob der Grund jeder Monade aus unendlich vielen kleinen Falten (Inflexionen) bestünde, die nach allen Richtungen unaufhörlich entstünden und vergingen, so dass die Spontanität der Monade wie die eines Schlafenden ist, der sich auf seinem Bett hin und her wälzt “ Die farbmorphologische Analyse der Farbe Schwarz eröffnet weiterführende Reformulierungen der angefragten Thesen der Jugendkulturforschung zur Schwarzen Szene. Die bisher vorliegenden Studien mit ikonographisch- ikonologischen Interpretationen der Farbe Schwarz in der Schwarzen Szene begründen deren Bedeutung stark durch kulturhistorische Bedingungen, so dass sich bei deren Transformation die Frage nach der Reichweite ihrer Geltung aufdrängt. Die Dominantsetzung von Schwarz in der Schwarzen Szene tritt durch die farbmorphologischen Analysen nun eher als Subjektivierungstechnik in den
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Blick: Die Inflexion des unbestimmbaren So-Seins, nimmt Gestalt in der doppelten Negation des Subjekt-Körpers im Unsichtbaren (Strukturmoment I). Diese unbestimmte Unsichtbarkeit wird durch Differenzsetzung zum bunten Außen in ihrer körperlichen Ausdehnung formgebend sichtbar gemacht (Strukturmoment II). Gleichsam wird die dunkle Körperausdehnung zum Grund, um die Unverwechselbarkeit spezifischer Körperbezirke an der Oberfläche zu zeigen und somit Singularität auszudrücken (Strukturmoment III). Diese findet jedoch (gemäß dem Strukturmoment IV) ihren metaphysischen Tiefengrund im amorphen Nichts … Wie nun die spezifischen Untergruppen der Schwarzen Szene in dem präferierten Bedeutungsspielraum der Farbe Schwarz konkret anschließen, müssten weiterführende Rekonstruktionen entlang konkreter Ausdrucksgestalten zeigen. Hier sei eher noch einmal eine andere Frage aufgeworfen: Wenn das Schwarz und die Hell-Grau-Schattierungen als performative Subjektivierungstechnik der szenespezifischen Körper-Subjekte gelten können, lässt sich dann gleichsam generalisierend in den biographischen Prozessmustern eine Gemeinsamkeit angeben, in der diese Subjektivierungsfigur begründet ist? Helspers Studie (1992) legt hier eine empirisch fundierte Spur: „Problembeladene, zerbrochene oder bis zur Gleichgültigkeit durch Distanz geprägte Elternbeziehungen“ (ebd., S. 232). Die in den Portraits (vgl. ebd., S. 215 ff.) dargestellten Enttäuschungen zeigen, dass diese familienbiographischen Anerkennungskrisen von den Szenegängern als tief greifende Integritätsverletzungen und die damit verbundenen sozialen Kränkungen als ein ungerechtfertigter Entzug von Anerkennung erfahren wurden (vgl. ebd., S. 220). Dies lässt einen sinnlogischen Schluss auf die Wut, ja die tiefgreifende Distanzierung gegenüber den Eltern zu. Die affektive Potenzierung der Enttäuschung dürfte in dem Versprechen traditioneller Familienbilder begründet sein, an denen „der durchgängig eher enge, abgeschlossene, keineswegs kulturell weit modernisierte, oft ländlich-dörfliche oder auch religiös kontrollierte Lebensraum dieser Jugendlichen“ (ebd., S. 238 f.) orientiert ist. Im familienbiographischen Scheitern dieser Familienentwürfe begründet sich somit die schmerzvolle Dekonstruktion der Anerkennung, die für die Konstituierung von Selbstvertrauen, Selbstwert und Selbstachtung konstitutiv ist (vgl. Honneth 2012). Die Studie von Helsper zeigt demnach deutlich, wie solche biographische Erfahrungen „die praktische Selbstbeziehung einer Person (…) erschüttern können, dass sie ihr die Anerkennung bestimmter Identitätsansprüche entziehen“ (ebd., S. 213), die insbesondere durch die Eltern verkörpert werden. Was die Schwarze Szene verbindet, ist gerade die damit verbundene Unbestimmtheit des Selbst anzuerkennen und diesen unsichtbaren Grund des eigenen Selbst einzigartig zu verkörpern – in diesem schwarzen Tiefengrund sind auch die Bilder einer Familie als harmonisch-emotionaler Nahraum aufgehoben.
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Prof. Dr. Jeanette Böhme, Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Jugend- und Schulforschung, Rekonstruktive Methoden und Methodologie, Morphologische Hermeneutik. Tim Böder, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Jugend- und Jugendkulturforschung, Schul- und Familienforschung, Diskriminierungs- und Rassismuskritik, Morphologische Hermeneutik.
Grufties, Trad Goth und Black Metal: Ein Streifzug durch die „Symbolik des Todes und des Bösen“ in gegenwärtigen schwarzen Mehrgenerationen-Musikkulturen Birgit Richard Zusammenfassung
Der Beitrag beschäftigt sich mit der Gothic-Kultur und ihrem Wandel am Beispiel des Wave Gotik Treffen in Leipzig. Der modische und audiovisuelle Charakter der „Schwarzen“, wie sie sich selbst bezeichnen, wird beleuchtet. Im Vergleich mit anderen schwarzen Stilen wie Black Metal trifft so die „neue deutsche Todeskunst“, auf Axt und „schwarze“ Konsumästhetik. Die Ergebnisse der geschilderten online/offline Feldforschung ergeben das Bild einer Mehr-Generationen-Kultur, wie die sich auch bereits für die sogenannten Metalheads konstatieren lässt. Heutige expressive Stile lassen sich somit im digitalen Zeitalter als reine Jugendkulturen, noch als nur materielle, modische sondern nur in Kombination mit der Analyse digitaler Bildkulturen, verstehen. Schlüsselwörter
Schwarze Stile · Gothic · Black metal · Audiovisuelle Jugendkultur · Expressive Mehrgenerationen-Stile · Feldforschung
B. Richard (*) Insitut für Kunstpädagogik, Bereich Neue Medien, Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Gibson et al. (Hrsg.), Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25094-2_11
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1 Einleitung Als erster Forscher im deutschsprachigen Raum untersuchte Werner Helsper Anfang der 1990er Jahre die damals kaum bekannte „schwarze Szene“, die Gothics. Die Auswertung seiner Interviews ergab, dass diese Jugendkultur eine bestimmte schwarze Lebensphilosophie entwickelt hatte, um mit Einsamkeit, mangelnder Zuneigung und Kommunikation, Problemen in der Schule, Identitätsproblemen und Enttäuschungen in ersten Liebesbeziehungen umzugehen (vgl. Helsper 1992, S. 232 f., S. 250). In seiner Studie befasste sich Helsper ebenfalls mit der Metal-Kultur und ihren okkulten Symbolen, zu einer Zeit der Ausdifferenzierung und Formierung einer Extreme-Metal-Szene – auch dies war ein Novum in der Forschung. Aufbauend auf seiner Studie entwickelte die Verfasserin dieses Beitrags ihre Dissertation zum Thema der Todesbilder in jugendlichen Subkulturen in Relation zur Kunst. Hierbei bildeten die Erkenntnisse aus Helspers Studie eine unverzichtbare Grundlage für die visuelle Analyse gotischer Todesbilder (vgl. Richard 1995). Wie stellt sich die Lage dieser Gothic- und Metal-Kulturen heute dar? Der Beitrag unternimmt kurze Streifzüge durch die schwarzen Stile, die sich veralltäglicht, diversifiziert und konsolidiert haben. Er führt über die G othic-Musik zu einem für die Gothic-Kultur zentralen Festival, fokussiert danach ein außeralltägliches Objekt im Black Metal und mündet abschließend in Hypothesen zu gegenwärtigen Mehrgenerationen-Musikkulturen. Die deutsche Gotikmusik hat viele musikalische Subgenres entwickelt, aber nach all den Jahren ihres Bestehens existieren immer noch subkulturelle Teile im Sinne von Dick Hebdige (1979). Diese „subkulturelle Substanz“ (Hodkinson 2002) bleibt erhalten und gleichzeitig musikalisch ein Teil der M ainstream-Popmusik. Musikplattformen und Streaming-Dienste wie last.fm, SoundCloud und Spotify lassen die Anzahl der musikalischen Subgenres und die Etikettierung von Stilen explodieren. Gotische Musik reicht von Zukunftsklängen – in ihren elektronischen tanzorientierten Stilen – zu traditionellem Folk; von historischen Reenactments des Mittelalters bis zu Steampunks Retrofuturismus. Die Gothics beschäftigen sich heute wie damals auch in ihrer Musik mit der Ausgestaltung einer „Religions-Bricolage“ (Helsper 1992), kombinieren also Elemente aus Christentum, anderen Weltreligionen, schamanischen Ritualen und okkulten Traditionen. Heute ermöglicht das Internet, die historische Musik und Bilder der damals bewunderten internationalen Bands von Generation zu Generation weiterzugeben.
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Im letzten Jahrzehnt entwickelte die Gothic-Musikkultur auch sehr populäre Chartsounds, welche als Eurogothic (Birgit Richard) bezeichnen werden könnten. Hierzu zählen Bands wie Unheilig, Peter Heppner und Wolfsheim, Letzte Instanz oder Euro-EBM wie Oomph!. In der Gegenwart verfügt die schwarze Gothic-Kultur über eine ähnliche Infrastruktur wie die populärsten Musikstile Hip-Hop oder Metal – mit großen Festivals: dem WGT (Wave-Gotik-Treffen) in Leipzig, dem M’era Luna Festival in Hildesheim sowie dem kleinen und charmanten Castle Rock in Mülheim an der Ruhr.
2 Feldforschungsskizzen: Musik und Styles auf dem 27. Wave-Gotik-Treffen (WGT) in Leipzig 2018 Im Mai 2018 (18.–21.05.2018) fand in Leipzig zum siebenundzwanzigsten Mal das WGT statt, dessen Bandbreite an Stilen und Besucher*innenzahlen sich über die Jahre kontinuierlich erhöht haben. Zunächst gilt es, den Standpunkt als an der Gothic-Kultur Forschende und Beteiligte kurz zu reflektieren: Die Verfasserin des Artikels ist seit den 1980er Jahren Teil der schwarzen Kultur und schrieb ihre Dissertation zu den Todesbildern der Grufties, jetzt Gothics genannt. Sie nimmt in der Gegenwart in passender Maskerade an wichtigen Ereignissen der Szene fotografierend teil und verfasst ein knappes Feldtagebuch aus der Perspektive eines historischen Fans der schwarzen Kultur. Die Verfasserin ist keine um Erlaubnis fragende Fotografin. Diese – im Zeitalter von Social Media und Eventfotografie nicht ganz korrekte – Vorgehensweise führt auch im Feld zu Irritationen, da sie nicht den Konventionen entspricht. Für die Fotografien sind keine typischen, immer eingeübten, gotischen Posen erwünscht; sie sollen vielmehr unvorhergesehene Begegnungen im Stadtraum einfangen. Die eigene Maskerade der Forscherin orientiert sich an ihrer jahrzehntelangen Expertise und zudem intuitiv an der schwarzen Kultur: Je nach Musikstil und Location wird auch der Kleidungsstil anders fokussiert. Eine derartige Flexibilität hinsichtlich des gewählten Styles findet sich in den Ergebnissen der Online-Feldforschung im Kontext von WGT-Vlogs auf YouTube-Channels wie lilachris, Ciwana Black (Bandmitglied) und Lisa VanDark wieder, welche die gotischen Outfits ebenfalls je nach Anlass wechseln.
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2.1 Musik Am Line-up des wichtigsten und größten Festivals der schwarzen Kultur zeigt sich die musikalische Entwicklung der Szene: Nach wie vor sind jedes Jahr die Klassiker aus den 1980er Jahren am WGT beteiligt – 2018 z. B. Siglo XX, Skeletal Family, Trisomie 21, ChameleonsVox, Blixa Bargeld und The Jesus and Mary Chain. Schwerpunktmäßig feiern hier die Ursprungsgenerationen aus den 1980ern. Das breite musikalische Angebot schweißt jedoch die Generationen zusammen. Insbesondere die neue Figur des Trad Goth spielt mit ihrem Retrostil die klassischen Elemente wieder ein und macht den modischen und musikalischen Zugang auch für junge Einsteiger*innen möglich. Musikalisch ist sehr interessant, dass sich, wenn auch nur sehr vereinzelt, Crossover-Formen zu Black Metal oder tanzbarer elektronischer Musik zeigen. Diese schließen nicht komplett an schon vorhandene Formen an. So wäre 2018 vor allem Blanck Mass für eine Verbindung von elektronischer Musik, Tanzkultur, Gothic- und Black-Metal-Gesang zu nennen. Black-Metal-Growlen wird zu Cyberpunk-Musik mit House-Elementen kombiniert – es ist eine gewagte Mischung, wenn der DJ plötzlich kreischt. In der Nachbetrachtung des Festivals 2018 lassen YouTube-Kanäle und -Videos annehmen, dass die Partys für die jüngere Generation mittlerweile wichtiger sein können als die Konzerte selbst. Die Videos zeigen, dass sehr eifrig getanzt wird und eine Fusion von EDM (Electronic Dance Music) und EBM (Electronic Body Music) stattgefunden hat. Dancefloor-EDM und Gothic-DJs kommen auf vielen Party-Veranstaltungen zusammen. Auf der anderen Seite erfordern die körperlichen Inszenierungen der Gothic-Szene die Vermeidung des körperlichen Kontrollverlusts, z. B. in einer tänzerischen, aber auch sexuellen Ekstase. Hiervon zeugen auch die kontrollierten BDSM-Fetisch-Inszenierungen. Damit gibt es eine strikte Trennungslinie zur ekstatischen elektronischen Clubmusikszene und ihrer düsteren, langsameren Variante, dem Witchhouse (vgl. Richard 2012). Ein weiteres Beispiel stilpluralistischen Mashups waren die extremen Spielformen von Trepaneringsritualen, ein E in-Mann-Electronic-Black-Metal-Projekt. Dieser wilde Performer trat sowohl im Boiler Room – einem virtuellen Club auf YouTube – als auch in Metal-Clubs in Erscheinung. Hier werden Black-MetalGesang, Ritual-, Ambient- und Industrial-Musik miteinander verbunden. Zentral ist die Performance des vermummten, blutüberströmten bärtigen Sängers; im Hintergrund läuft seine elektronische Musik vom Laptop. Für Metalheads merkwürdig, da eine vertraute Gesangsart ertönt, aber keine handgemachte Gitarrenmusik.
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Die Feldforschungsskizzen des WGT 2018 verdeutlichen musikalische Diversifizierungen und Mashup-Versuche, verzeichnen aber auch rein modische Erscheinungen, die kein Pendant mehr in einem originären musikalischen Stil finden: Pastel Goth ist ein Modestil ohne spezielle (Gothic-)Musik – der den Stil begleitende Seapunk kann nicht unter Gothic gefasst werden.
2.2 Style Ausgesprochen ungewöhnlich und aus dem zeitgenössischen vielseitigen Modesortiment herausstechend, ist die „schwarze“, sehr homogen gestaltete Kleidung immer noch. Sie erinnert nach wie vor an Figuren aus vergangenen Jahrhunderten und orientiert sich an literarischen und filmischen Figuren wie Vampiren, Mönchen und Hexen. Verhältnismäßig neu ist das Bild des „verrückten“ Wissenschaftlers oder Entdeckers des „Wilden Westens“ im Steampunk, das seit 2011 einen visuellen Stil mit wachsendem Einfluss darstellt (7. Steampunk-Picknick im Deutschen Kleingärtnermuseum, WGT Leipzig 2018). Die Accessoires eilten voraus und wurden zunächst auf Festivals in Deutschland ohne musikalische Präsenz gesichtet. 2014 kann Steampunk-Musik als eine Art Filmmusik, Cabaret- oder Varieté-Sound charakterisiert werden. Aufgrund vieler selbstgemachter Requisiten sind Verbindungen zur Maker-Szene offensichtlich. Steampunk kann zudem als Sonderform von Cosplay in der Gothic-Szene eingeordnet werden. Die Nullerjahre waren darüber hinaus vor allem durch die Einflüsse der japanischen Pop-Kultur, Visual Kei und Lolita-Style geprägt. 2018 sind – nach Steampunk und Emo bzw. Visual Kei in den 2000er Jahren – keine signifikant neuen modischen Erscheinungen auffällig. Obwohl die Gothic-Kultur einen sehr queeren Eindruck macht, sind CrossDressing und Make-up hier als allgemein verbreitete Strategien zu verstehen – nicht als genereller Ausbruch aus der Heteronormativität. Die ausgestellten Geschlechterfigurationen bleiben meist stereotyp: sexy Hexen und tapfere Ritter. So sind queere Partys eher eine Randerscheinung. Eine Randfrage zum modischen Doing Gothic: Gibt es ein queeres WGT? „Weil die Realität anders aussieht. Es ist ein Unterschied, ob man aus einer sicheren Position mit Geschlechterrollen spielt oder als z. B. schwuler Boy oder Transgender den blöden Spruch von beispielsweise hyper-männlichen EBM-Bürsten überhört. Es mag schon sein, dass die schwarze Szene diesbezüglich tendenziell entspannter ist. Das heißt jedoch nicht, dass Transphobie, Homophobie und ‚Arschlochism‘ nicht auch stattfinden. Ein Paar Pikes machen nicht
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automatisch einen besseren Menschen“ (Zacker, Veranstalter Glitter + Trauma, im Interview mit spontis.de am 17.04.2018; Herv. i. O.). Eine alternative queere Szene gibt es nicht, allerdings bietet das Festival einen sicheren Rahmen für queere Inszenierungen, Cross-Dressing und Drag.
3 Schwarze Konsumästhetik: Wahrnehmungsspaziergang und Netzpromenadologie/Netzspaziergang (Richard/Müller) auf Instagram Erstaunlich ist, dass das Festival auch nach 27 Jahren noch sehr gut besucht ist – das zeigt sich an bestimmten Spielstätten wie Felsenkeller oder Schauspielhaus. Die schwarze Kultur bleibt zudem eine der konsumfreudigsten. In Leipzig sind mit Zweigstellen von EMP und Queen of Darkness sowohl größere als auch kleine lokale Läden wie DarXity und Wonderland 13 sowie ein gotischer Second-Hand-Laden ansässig, die sich der schwarzen Szene verschrieben haben. Darüber hinaus nimmt die Szene alle temporären Angebote an, die die Stadt bietet: Lokale Warenhäuser wie Galeria Kaufhof dekorieren extra ihre Schaufenster schwarz, um der kaufkräftigen Szene ein spezielles Angebot zu machen. Besonders auffällig war 2018 wie bereits 2017, dass eine F ast-Fashion-Kette wie Primark, die keine Rücksicht auf lokale Gegebenheiten nimmt, ihre FrontSchaufenster mit aufgeklebten Fledermaussilhouetten und dem Spruch „bats over Leipzig“ WGT-spezifisch dekorierte. Das linke Schaufenster fokussierte Damen-, das rechte Männermode – alles natürlich komplett in Schwarz. In der rechten vorderen Ecke direkt am Eingang war die schwarze Bekleidung platziert. Dort wiesen zwei Schaufensterpuppen mit kundigem Arrangement auf Produkte für die schwarze Szene hin. Hier mischen sich die Kund*inn*engruppen, die bunten Pfingstbesucher*innen und „die Schwarzen“ wie jedes Jahr in Leipzig. Ein großes Festival mit über 20.000 Besucher*innen lässt sich in seinen Dimensionen nicht ausschließlich über die eigene Präsenz als Forscherin erschließen. Aufgrund der vielen Locations ist es im Rahmen des WGT nicht möglich, simultan alle Teilstile zu erfassen, um ihre Entwicklung einzuordnen. Für den allgemeinen Überblick genügt die Feldforschung im Stadtraum: Während sich bei Konzertveranstaltungen und Partys eher stilistische Schwerpunkte herausbilden – die Mehrzahl des Publikums tendiert in Richtung der dargebotenen Musik –, gibt es auf dem WGT auch Orte und Zeiten, an und zu denen sich die größtmöglichen Schnittmengen aller Stile antreffen lassen: in der Stadt, vor dem Bahnhof, auf der Haupteinkaufsstraße, bei der Bändchen-Ausgabe, an der Mortizbastei, im
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„Heidnischen Dorf“ und auf dem agra-Gelände. Auf dem Ausstellermarkt in den agra-Hallen bei der alten Messe in Leipzig stellen sich lokale Anbieter auf, die für das WGT beispielsweise Taschen mit speziellen Stoffen, Rosen und Totenkopfmotiven fertigen. Für eine detailliertere Ergründung des Feldes ist es darüber hinaus essenziell, mit den heutigen medialen Mitteln in virtuellen Räumen die eigene Forschung zu evaluieren und gleichzeitig den Blick mithilfe der Selbstdarstellungen der schwarzen Kulturen im Internet zu ergänzen. Es wird die schon mehrfach erprobte Triangulation von Offline-Festival-Feldforschung und Netzscan (Richard und Zaremba 2007) bzw. Netzpromenadologie/Netzspaziergang (Richard et al. 2018) für Online-Plattformen eingesetzt. Die Perspektive erweitert sich um die Erfassung und Auswertung der Festival-Berichterstattung – kurz nach dem Festival waren z. B. nur die Presse-Fotos und Videos des MDR präsent – sowie der öffentlichen Fotos auf verschiedenen Internetplattformen: Für die ausgeweitete Untersuchung des WGT bot sich die Beobachtung auf Instagram und YouTube an (vgl. hierzu auch Auswertung Mayday Richard und Gunkel 2018), Twitter zeigte sich als wenig fruchtbar. Zwei Suchrichtungen bildeten den Fokus der Online-Datenerhebung zum WGT. Einmal galt es, allgemeine Tendenzen im Bild des Festivals zu erfassen. Im Rahmen des Volkswagen-Stiftungs-Projekts Gegenwartsästhetik – Kategorien für eine Kunst und Natur in der Entfremdung erfolgte zum Forschungsinteresse des Teilprojekts #cute anschließend die fokussierte Suche nach schwarzen „cuten“ Gegenständen, deren Ergebnisse zur Herausbildung der These „unfreiwilliger cuteness“ (Richard et al. 2018) schwarzer Stile führten. Zudem war zu überprüfen, inwiefern es Gothics-Blogs, z. B. auf tumblr, gibt. Ein sehr vielfältiger wurde mit http://manic-moth.tumblr.com/ gefunden. Sehr aussagekräftige Ergebnisse bot Instagram mit vielen Posts zu den Hashtags #wgt2018 und #wavegotiktreffen2018. Die Beobachtung der öffentlichen Instagram-Seiten über den Zeitraum einer Woche nach dem Festival gab anhand der Bilder sehr detailliert Auskunft darüber, was die Besucher*innen des WGT 2018 interessierte. Der sogenannte WGT-Bildkomplex (vgl. hierzu Bildkomplex World Trade Center, Richard 2003) zeigt analog zu anderen Events wie Mayday unter anderem Vorbereitungen für den Festivalbesuch, Karten, Programm und die Präsentation von Bändchen. Bilder von schwarzen Currysaucen, schwarzem Eis und schwarzen Burgern weisen zudem darauf hin, dass die Werbestrategien der lokalen Anbieter in der Stadt aufgehen. Die Extra-Angebote wie etwa ein schwarzer Kuchen in Sargform der lokalen Bäckerei Lukas kommen bei den Gothics sehr gut an. Allgemeine Darstellungskonventionen für Festivals umfassen außerdem das Auswählen der Kleidung, Kofferpacken und die mediale Begleitung des
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Events. Nach circa einer Woche ist eine Sättigung des relativ „unbearbeiteten“ Materials festzustellen. Daraufhin erfolgte durch die User*innen die persönliche Auswertung ihrer Fotografien. Als Essenz des Festivals werden die für sie schönsten bearbeiteten Porträt- und Outfit-Fotos präsentiert. Dabei ist schwer festzustellen, zu welchen Anteilen mediale Vorgaben, die üblichen Bildschablonen von Instagram und gängige Handlungsabläufe der schwarzen Kultur hier ineinandergreifen bzw. wie Bilder durch die sozio-medialen Strukturen erst entstehen. Als Kontrast folgt eine Fallstudie zur Axt auf den wichtigsten Bilder-Plattformen zwischen 2011 und 2013, flickr und YouTube, mit speziellem Fokus auf Black Metal. Einschub: Präsoziale Medien – die Axt im Black Metal „Fazit des ‚Ehrlichen‘ und ‚Echten‘ der Heavy-, Black- und Speed-Metal-Musik ist das Verläßliche: Was man hört, wird zu diesem Zeitpunkt tatsächlich von der Band, die auf der Bühne steht, gespielt“ (Helsper 1992, S. 133; Herv. i.O.; [sic!]). „. aber im Vergleich zur normalen Popmusik ist die Musik extrem .. so jetzt zum Beispiel so mehr Heavy Metal wie Iron Maiden spielen .. härter wirds bei sowas wie Creature und Slayer aber es gibts auch noch extremeres als Slayer…“ (Helsper 1992, S. 133; Herv. i. O.; [sic!]).
Das von der Verfasserin des Beitrags ebenfalls als schwarzer Stil bezeichnete Black Metal (vgl. Richard 2014) ist eine extreme Spielart des Heavy Metal, die gegenwärtig – wenn auch nur kleine – Überschneidungen zu Gothic aufweist. Insbesondere und beinahe ausschließlich die Black-Metal-Musiker inszenieren sich in Musik, Kleidung und Haltung abweichend, indem sie Symboliken des Bösen, Okkulten und Unheimlichen ästhetisieren. Ihre Selbstdarstellung wird von Moynihan und Søderlind (1998) als Reaktion auf den Kleidungsstil der Death-Metal-Szene gesehen, bei dem sich die Musiker nicht vom „normalen“ Metal-Fan unterscheiden. Death-Metal-Musiker zeigen sich bei Konzerten, auf Fotos und in Musikvideos in Jeans oder Jogginghose mit Sweatshirt oder einem T-Shirt mit Band-Logo. Im Black Metal hingegen führt der Weg zurück zu theatralen Inszenierungen von Metal-Bands, wie beispielsweise W.A.S.P., die in den 1980er Jahren durch Fantasy-Outfits und Blut provozieren wollten, sowie zur Ästhetik eines King Diamond, der, so geht die Legende, als Erster sein Gesicht durch corpse paint zur Totenmaske stilisierte. Jene Szenarien und Outfits werden vom Black Metal zu einer neuen, auf den ersten Blick ironiefreien Bedeutung zusammengestellt. Während Authentizität gewöhnlich durch die Verschleierung der Inszenierung entsteht, die dann den Eindruck der
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chtheit erwecken soll, wird Authentizität hier durch ein Zusammenspiel von E Stilmerkmalen und einer Strategie des „Ernstmachens“ erreicht (vgl. Richard und Grünwald 2011). Die aggressiv anmutende Mode wird zur Manifestation einer Ernsthaftigkeit, die über die ästhetische Inszenierung hinausgehen soll. Kleidung und Habitus dienen im Black Metal, genau wie in anderen Szenen und Alltagskulturen, einer Individualisierung mit gleichzeitigem Wiedererkennungswert – sprich einer individualisierten Uniformierung (vgl. Mentges und Richard 2005). Der Stil formt sich in der Kleidung folgendermaßen aus: Ähnlich zu einigen Gothic-Styles findet sich in der Verwendung von Leder als Hauptmaterial der Bekleidung der gleichzeitige Verweis auf Individualismus und Tradition. Leder ist ein Naturprodukt, gilt als tragbare Trophäe eines Jägers sowie als symbolische Repräsentation von Andersartigkeit bzw. Rebellentum. Der ursprüngliche Black-Metal-Look gestaltet sich durchweg schwarz und umfasst enge Leder hosen, häufig getragen mit Nietengürteln und Patronengurten, sowie Lederwesten, die oft mit Nieten oder satanischer Symbolik wie Pentagrammen, umgedrehten Kreuzen, Luziferdarstellungen oder Symbolen der nordischen Mythologie (z. B. Thors Hammer) verziert sind. Die übertrieben langen Nieten und Spikes werden an Lederarmbändern bzw. Armstulpen und Stiefeln angebracht, verweisen auf mittelalterliche Wehrhaftigkeit und repräsentieren ein confrontation dress (vgl. Hebdige 1979, S. 107; Cunningham und Lab 1991). Die schwarz gefärbten Haare werden, wie im Heavy Metal allgemein, lang getragen und sind Erkennungszeichen für die Teilnahme an dieser Subkultur. Die für Heavy Metal und andere schwarze Szenen relativ gewöhnlichen Inszenierungsmerkmale werden durch Ernsthaftigkeitssignifikanten wie Waffen und Gesichtsbemalung erweitert. Aufgrund des Versprechens der Teilhabe an der widerständigen und abseitigen Ästhetik sowie einer archaischen Selbstdarstellung in der dramatischen Form wilder und unzivilisierter Männlichkeit ist die autonome Stil- und Bildwelt des Black Metal auch für Musiker anderer Musikstile reizvoll (vgl. Grünwald 2012). Ein stilgebendes Merkmal für die Bands kann hierbei eine altertümliche Waffe sein. Die Visualisierung kriegerischer Männlichkeit erfolgt durch das Präsentieren von mittelalterlichen, meist übertrieben großen Waffen wie Schwertern und Streitäxten. Das Musikinstrument, als Zeichen musikalischer Virtuosität, wird durch ein Zeichen des Kriegerischen ersetzt. Der beschriebene Look kann variiert und erweitert werden, wie es z. B. im Viking Metal geschieht. Dieses Subgenre adaptiert bevorzugt Kleidungselemente mit mittelalterlichen Konnotationen und somit historischen Anknüpfungspunkten. Das Outfit setzt sich aus verschiedenen Komponenten mittelalterlicher Kleidungsformen zusammen, z. B. dem Umhang, Teilen von Ritterrüstungen, Brustschild und Wikingerhelm. Zur Pose gehören mittelalterliche Waffen, insbesondere Schwert, Morgenstern, Axt und D oppelaxt.
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Die Haare sind nicht mehr schwarz gefärbt, das Gesicht ungeschminkt. Die Authentizität der Inszenierung wird hier durch eine möglichst „realitätsnahe“ Interpretation des Wikingerbildes über die aufgeführten Objekte vermittelt. Der heldenhafte Krieger kommt aber aus einer dunklen Vergangenheit und ist bewaffnet (vgl. bspw. Dokumentation zu Ein-Mann-Black-Metal-Bands, noisey, youtube.com am 02.10.2012). Es zeigt sich, dass die Axt zwar ein wichtiger Gegenstand für die Inszenierung im Black Metal darstellt, jedoch nur für die Bands und dies auch nicht flächendeckend. Bei den Fans dieses Musikstils rückt sie nicht in den Vordergrund bzw. wird nicht bewusst benannt oder getaggt. Bemüht man die Google-Bildersuche, finden sich klassische Axtfotos der Band Immortal und ein paar weitere von anderen Bands, die mit Axt und anderen Waffen posieren. Bei der Google-Suche wird vor allem auf die Waffe „Black Metal Axe“ aus dem MMORPG-Spiel World of Warcraft verwiesen. Die Axt dient Bands wie Immortal oder dem Pagan und Viking Metal als Bezugspunkt zur Historie und Tradition der norwegischen Wikinger, sie hat damit die Funktion eines Requisits auf einem Mittelaltermarkt. Visuell wird die Axt wie eine Theaterwaffe eingesetzt, die Pose des Ernstmachens wird hierbei gleichzeitig durch die unzeitgemäße Waffe aufgebrochen. Die Axt erlaubt die Extension der dramatischen Gesten des bedrohlich inszenierten Körpers im Black Metal. Sie ist Teil der Strategie zur Repräsentation einer auf ungewöhnliche Weise im Raum stehenden Drohung. Die Axt steht nicht für wirkliche Wehrhaftigkeit der schwarzen Stile, da die gesamten Objekte des Black Metal und auch des Gothic in der Praxis eher Verletzlichkeit und nicht Kampftüchtigkeit bedeuten. In der Gothic-Szene gibt es, je nach Substil, unzählige Requisiten wie den Gehstock, Sonnenschirm oder die Schweißerbrille. Der Gehstock ist ein Stilmerkmal und kein Hinweis auf eine alternde Szene, die ein großes Altersspektrum umfasst.
4 Schwarze Mehrgenerationenstile – zur Bedeutung des Alters für Mode und Musik Nach circa zehnjähriger Feldforschung auf schwarzen Festivals wie WGT und Castle Rock ist in der schwarzen Gothic-Kultur – bei gleichbleibender Partizipation von jungen Erwachsenen und Teenies bis hin zu schwarzem Nachwuchs (bspw. http://die-schwarze-familie.net) – eine stetige Erhöhung von älteren Beteiligten zu beobachten bzw. das Phänomen des Alterns in der „schwarzen Kultur“. Somit kann nicht mehr von einer reinen Jugendkultur gesprochen werden.
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Gleichzeitig bewahren die ehemals jugend Gothics das kulturelle Erbe, also die klassischen Elemente des schwarezn Stils. Hinsichtlich der sogenannten schwarzen Stile, zu denen Gothic und Metal gehören (im kleineren Maße trifft dies auch auf Rock’n’Roll oder Swing, also die Retrostile zu, die aber ein anderes Ziel verfolgen), wurde noch nicht untersucht, wie sich das Alter auf Musik- und Modepräferenz auswirkt. Wie zeigen sich Altersunterschiede in Mehrgenerationen-Musik(sub)kulturen? Die Hypothese ist, dass die Musikpräferenzen relativ konstant bleiben, aber der Modestil, je nach Komfort, dem Alter angepasst wird (obwohl im Falle der historischen Kostüme mit Reifröcken wohl kaum von Komfort gesprochen werden kann). Vielleicht entwickelt sich eine neue Form des confrontation dress (Hebdige 1979) für Ältere? Hier zeigt die mehrjährige Feldforschung folgendes Ergebnis: Je nach Alter sind tendenziell stilistische Unterkategorien beliebter: Cybergoth, EBM und NDH (Anm. der Hrsg.: es handelt sich um die Musikstile „Electronic Body Music“ und „Neue Deutsche Härte“) sind eher den Jüngeren vorbehalten – aufgrund der tänzerischen Anforderungen. Tragbar- bzw. Untragbarkeit spielen eine Rolle. Sie können zur Über- bzw. Unterschreitung der Altersgrenzen – quasi als „aging up/ aging down“ parallel zu Ted Polhemus (1994) „Trickle-down/Bubble-up“-Prinzip der Mode – genutzt werden, z. B. wenn mittlere oder ältere Generationen die äußerst knappe BDSM-Bekleidung wählen. Meist möchten die zwischen 50- und 70-Jährigen nicht mehr unbedingt in Netzteilen, Nieten und Bondage-Kleidung herumlaufen, dies überlassen sie der jungen Generation. So werden andere Formen gesucht, um am Stil teilzunehmen. Die älteren Generationen wollen weniger aufbegehren, sondern auffallen, um bewundert zu werden. Das liegt auch am generell einschränkenden Charakter der ehemals widerständigen Kleidung. Die wieder aufgelegten Trad-Goth-Kleidungsstücke waren schon für die damaligen jugendlichen Träger unbequem. Die Ausbreitung bestimmter Stilelemente ist also einmal mit dem wachsenden Alter der ersten, zweiten und dritten gotischen Generation der 1980er Jahre zu erklären. In der Gothic-Kultur ist die Zunahme von historischer Kleidung und anderer Gewandung, die laut Veranstalter ständig ansteigt, aber auch auf eine ältere und kaufkräftigere Klientel zurückzuführen. Die historischen Kostüme aus der viktorianischen Zeit sind tendenziell der mittleren und älteren Generation zuzuordnen. Außerdem steht die originalgetreue, meist kostspielige Kleidung im Zentrum des Viktorianischen Picknicks, das streckenweise mittlerweile einer professionellen Gourmetmeile gleicht. Die Szene weist aufgrund der höheren Altersstruktur zudem einen wachsenden Anteil an kunsthandwerklich produzierten Kleidungselementen und Accessoires auf.
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Aber auch die junge Generation lässt sich von modischen Ursprüngen der Szene inspirieren. Der Stil der 1980er Jahre, Trad Goth genannt, wird reanimiert. Der Trad(itional) Goth der Ursprungszeit ist als Retrostil der jungen Generation zu interpretieren. Dies erklärt auch die Rückkehr der Winkle Pickers bzw. Pikes, den spitzen Schnallenschuhen aus den 1980er Jahren, sowie des ganzen „hexenartigen“ Retro-Batcave-Stils bis hin zu hochtoupierten Frisuren. Es ist zu beobachten, dass diese Elemente nach jahrzehntelanger Absenz erneut auftauchen, weil sie z. B. über Etsy und das 2018 eingestellte Portal DaWanda wieder angeboten werden. Im Vergleich dazu ist bei Metal die alterslose Konzentration auf Basics wie Bandshirts, Jeans und Kutten festzustellen. Hier ist allenfalls das Gendering von Basics in Form sogenannter Girlie-Shirts und die geringe Präsenz von Kuttenträgerinnen zu konstatieren. Das Alter spielt modisch weniger eine Rolle. Metal ist der etwas ältere Mehrgenerationenstil, was sich auch an Konsumangeboten wie der Full Metal Cruise, einem Kreuzfahrtschiff der TUI Cruises nur für Metalheads, zeigt. Auch für die extremen Metalheads des Black Metal stellt sich die Frage der Tragbarkeit nur in bedingtem Maße. Die ausgefallene Kleidung ist den Bands vorbehalten, diese leben die Bedürfnisse nach Wildheit vor den Fans aus. „Metal war schon immer eine Entscheidung fürs Leben und damit auch immer mit dem Alltag vereinbar. Tagsüber geht man einem normalen Job nach, abends wird man Metaller. Metaller können einfach alt werden, ganz ohne sich selbst zu verraten. Das gilt sowohl für die Künstler als auch die Fans“ (Dietmar Elflein im Interview mit Quentin Lichtblau, jetzt.de, am 03.08.2016). „Oder eben mit dem Älterwerden beim Hip Hop. Die ganze Rap-Battle-Geschichte läuft ja immer auf den Vatermord hinaus: Schlage deinen Meister, werde selbst der Größte! Dieses grundkapitalistische Prinzip gibt es im Metal nicht“ (ebd.).
Beide – partiell immer noch als Subkulturen zu bezeichnende bzw. mit subkulturellen Schichten ausgestattete – schwarze Ästhetiken, Gothic und Black Metal, proklamieren das Schwarze im Bunten. Sie sind echt und true durch die Feier des Unechten; sie feiern das Schöne im Hässlichen und im maximal Artifiziellen. Im Mittelpunkt steht das jeweilige authentische starke Gefühl: Melancholie bei Gothic, Wut und Aggression bei Metal; beide Stile verbildlichen den Tod, das Unheimliche und Okkulte und bewegen sich damit im Grunde genommen in den Bereichen der klassischen Ästhetiken. Insbesondere Black Metal benutzt die visuellen Strategien in ähnlicher Weise wie der Butoh-Tanz nicht als Kostümierung, sondern als audiovisuell exzessives Statement zur Gegenwart. Die kulturellen Patterns, die Ästhetiken
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der G egenwart und der jüngeren Vergangenheit sehen das Ornament immer noch als Verbrechen. Die expressiven (jugend-)kulturellen Stile waren von jeher das Refugium von horror vacui des Jugendstils und der barocken Überfülle, die aufgrund ihrer artistischen Kunstfertigkeit als nicht authentisch etikettiert sind. Die theatralische Inszenierung wird als Affirmation verstanden. Gleichzeitig lechzt die (Kunst-)Rezeption in Zeiten der kleinsten Nuancen nach extremen visuellen Abweichungen, wie Gothic- und Black-Metal-Bilder dies anbieten – ohne jedoch im Geringsten deren Musik und Anliegen als Kommentar zur gegenwärtigen Zeitgenossenschaft und somit als Hinweis auf die gesellschaftlichen Widersprüche zu verstehen. Gut, dass dies so ist und immer so bleiben wird, extreme Musik und Mode müssen – wie aussagekräftige Kunst – herausfordern und ausgehalten werden.
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Prof. Dr. Birgit Richard, ist 1998 Professorin für Neue Medien an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie lehrt und forscht zu Digitalen Bildkulturen und gegenwärtigen Jugendkulturen. Zur Zeit leitet sie das Teilprojekt „Cute“ im VolkswagenStiftungs-Verbundprojekt Gegenwartsästhetik
Heavy-Metal – eine Szene des „Extremen“ und „Bösen“ zwischen Persistenz, Transformation und Nivellierung Edina Schneider Zusammenfassung
In Helspers Beschreibungen zum Heavy Metal ist es vor allem das „Extreme“ und „Böse“ als Ausdruck einer Orientierung an Nonkonformität, das die Szene so attraktiv macht. Der Beitrag befasst sich mit der Entwicklung der Szene und untersucht, wie sich diese im Zuge der Pluralisierung und Mediatisierung von Jugendkulturen verändert hat. Es zeigt sich, dass die Prozesse der Vermarktung und Popularisierung zwar zum Verlust von Stilexklusivität führen, die damit einhergehende Gefahr einer Nivellierung und Auflösung der Protestszene allerdings eine „Beharrungskraft“ des Heavy Metals gegenüber steht, die bereits Helsper in den 1980er Jahren als zentrales Kennzeichen dieser Jugendkultur bestimmte. Schlüsselwörter
Jugendkulturforschung · Heavy Metal-Szene · Nonkonformität
Forschung – insbesondere die Schritte der Erhebung und Analyse von empirischen Daten, aber auch bereits die Formulierung eines Forschungsinteresses – sind niemals völlig objektiv, sondern untrennbar mit der eigenen, subjektiven und normativ gesteuerten Forschungsperspektive verbunden (vgl. Steinke 2015; E. Schneider (*) Zentrum für Lehrerbildung, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. Gibson et al. (Hrsg.), Rekonstruktive Jugend(kultur)forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25094-2_12
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Schütze 2005). Nicht selten haben das Forschungsgebiet und die Forschungsfrage sogar einen biografischen Hintergrund der Wissenschaftlerin oder des Wissenschaftlers, womit die Anforderung steigt, den möglichen Niederschlag eigener Subjektivität zu reflektieren. Gerade in der qualitativen (rekonstruktiven) Jugendkulturforschung lassen sich vermehrt empirische Arbeiten finden, in denen die im Untersuchungsfokus stehende Jugendkultur biografische Bezüge aufweist und die Wissenschaftler*innen ein auf die Jugendkultur bezogenes, persönliches Erfahrungswissen in ihre Forschung mit einbringen (vgl. z. B. Calmbach 2007; Hoffmann 2016; Zaddach 2018). In Werner Helspers Forschungsjahren zwischen Mitte der 1980er bis etwa Mitte der 1990er Jahre sind verschiedene Fallstudien zu Angehörigen der Heavy Metal- und Gothic- Szene sowie zu Jugendlichen, die zu okkulten Praktiken neigen, entstanden: nennen lassen sich beispielsweise die Fallstudien zum „Extremen“ und „Bösen“ des Heavy Metals als „Satansrock“ (Helsper 1992, S. 99 ff.; Helsper 1997), die Flucht des Heimjungen Bill von der „heiligen zur schwarzen Messe“ und „seinem Experimentieren mit bösen Geistern“ (Helsper 1992, S. 163 ff.) oder auch das Gruftie-Kurzportrait der 18jährigen Gymnasiastin Tanja und ihren Weg in die Jugendkultur der Todesmetapher (vgl. ebd., S. 215 f.). Nun ließe sich die spannende Frage stellen: Wo rührte das Forschungsinteresse Werner Helspers gerade zu diesen extremen, von gesellschaftlichen Normen abweichenden Jugendszenen her? Ist Werner Helsper während seiner Jugendphase vielleicht selbst Metaller und Gruftie gewesen? Wenngleich diese Frage sehr interessant ist, soll in diesem Beitrag nicht geklärt werden, ob Werner Helsper tatsächlich der Jugendszene des Heavy Metals angehörte oder ‚nur‘ Sympathisant war (ist), der bevorzugt die Musik dieser Szene hört(e). Zumindest haben ihn gerade die Jugendszenen, die mit „Symboliken des Bösen und Satanistischen“, mit „Metaphern des Aufstandes gegen die soziale Ordnung“ (Helsper 1997, S. 116) und gegen die „Konformität“ (Helsper 1983, S. 32) hantieren, sehr fasziniert und seine wissenschaftliche Neugier derart geweckt, dass sie für mehrere Jahre Gegenstand seiner Forschung wurden. Oder vielleicht liegt es auch einfach nahe, sich für das Extreme, Außergewöhnliche und Nonkonforme zu interessieren, wenn man sonst auch eher die ‚Krise‘ als das ‚Normale‘ untersucht. Dabei begründet gerade Werner Helspers Interesse oder seine Haltung, all das zum Thema zu machen, was jenseits der Norm liegt und diese zugleich infrage stellt, die große Bedeutung von seinen Studien für die Jugendkulturforschung wie auch für die Schul(kultur)- und Professionsforschung. Seine Prämisse war es hierbei immer schon gewesen, Jugend und Jugendkulturen nur angemessen untersuchen und verstehen zu können, wenn der Forschungszugang die Perspektive der Szenenangehörigen berücksichtigt und
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damit die Szenenzugehörigkeit und jugendkulturellen Praktiken in ihrer individuellen Sinnstrukturiertheit und biografischen Relevanz zu Tage treten. Ziel des Beitrages ist, Helspers frühe Texte zur Jugendkultur Heavy Metal basierend auf der empirischen Grundlage narrativer Einzelinterviews und Gruppendiskussionen mit Anhänger*innen der Szene kritisch zu diskutieren und deren theoretischen Ertrag in Bezug auf gegenwärtige gesellschaftliche Bedingungen und Entwicklungen zu hinterfragen. Hierzu werden Ergebnisse aktueller Studien der Jugendkulturforschung und Statistiken zum Musikkonsumverhalten herangezogen. Zusätzlich habe ich eine umfassende Sichtung von Szenepublikationen aus den Jahren 1975 bis heute vorgenommen; insbesondere des Metall Hammers, als das reichweitenstärkste Fanzine der Szene, das im Übrigen zum Springer-Verlag gehört.1 Daneben floss in dem Beitrag an einigen Stellen das Insiderwissen der Autorin unwillkürlich ein, die selbst mehrere Jahre in der Szene aktiv war. In den anschließenden Ausführungen erfolgt eine Auseinandersetzung zu folgenden Thesen Werner Helspers zur Heavy Metal-Jugendkultur: 1. Das „Echte“ und „Ehrliche“ im Heavy Metal und deren Relevanz der Beharrungskraft; 2. Der Zusammenhang biographischer Erfahrungen und der „Symbolik des Bösen“ im Heavy Metal als Ausdruck einer Orientierung an Protest und Nonkonformität.
1 Das „Echte“ und „Ehrliche“ als das „Beständige“ im Heavy Metal Aus Helspers Beschreibungen der Metal-Szene geht hervor, dass vor allem die „Beharrungskraft“ Heavy Metal als Stil für Jugendliche so attraktiv macht, wenn diese in den Interviews immer wieder das „Echte“ und „Ehrliche“ betonen (Helsper 1997). Die Erklärung dieser These erfolgt in zwei Argumentationsschritten: Zum einen wird von den befragten Jugendlichen beschrieben, dass die „extreme“ und „echte“ Musik mit ihren eigenen Gefühlen korrespondiert und vor allem „extreme“ Erlebniszustände wie harte, aggressive Gefühle zum Ausdruck bringt (vgl. Helsper 1992, S. 154). Diese Beschreibungen stützend verweist Helsper in Anlehnung an psychoanalytisch orientierte Interpretationen der Rockmusik darauf, dass die „Durchdringung und Überschwemmung des Körpers“ (vgl. Helsper
1An
dieser Stelle möchte ich ganz herzlich René Jauernik dafür danken, dass ich auf seine überaus beeindruckende, seit über 20 Jahre lang, sorgfältig gepflegte Sammlung von Szenenmagazinen aus dem Heavy Metal zugreifen konnte.
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1997, S. 119 ff.) mit der lauten, rhythmischen und harten Musik des Beat oder Rock zu einer Intensivierung des Körpergefühls führt und damit ein intensives Selbsterleben des eigenen Seins ermöglicht. An dieser Stelle ist kritisch zu relativieren, dass ähnliche ekstatische Selbsterlebens- und Trancezustände auch in Untersuchungen zu anderen Musikrichtungen (z. B. Techno) insbesondere im Zusammenhang mit kraftvollen Basslinien beschrieben werden (Hitzler und Pfadenhauer 2001) und damit kein Spezifikum allein der Metal- und Rockmusik darstellen. Für Helsper zeigt sich der Effekt des ekstatischen Selbsterlebens in besonderer Weise im Speed-Metal. Bei der maximal gesteigerten Geschwindigkeit der Gitarrenriffs droht „der Hörer […] fortgerissen oder hinweggespült“ zu werden (vgl. ebd., S. 120). Zugleich erfolgt die musikalische Inszenierung des „Rasens“ in einer repetitiven Metrik, die an körperliche Rhythmen der gleichbleibenden Wiederkehr erinnert (vgl. ebd., S. 120).2 Mitten im „Extremen“ der Musik wird ein ekstatisches Selbsterleben erzeugt, das gleichzeitig über einen repetitiven, verlässlichen Grundrhythmus Sicherheit suggeriert, die dem „Verlässlichen“ und „Beständigen“ des Metals entspricht (vgl. ebd., S. 120). Im Zusammenhang mit dem „Verlässlichen“ und „Echten“ wird von den Metal-Fans auch das „Ehrliche“ als wesentlicher Aspekt betont: „wo ich immer sach, dass Heavy Metal die älteste Musik überhaupt ist . da ist nix gekünstelt dran da is kein Synthesizer son Rhythmusgerät das ist wirklich noch ehrlich . der Ton der da raus kommt das ist Life wie auf der Platte“ (Metal-Fan nach Helsper 1992, S. 132).
Die Musik wird dadurch ehrlich, dass sie nicht durch technische Geräte erzeugt und simuliert wird. Helsper beschreibt, dass die „Hochschätzung des Heavy Metals“ durch seine Fans „eine fast handwerkliche Haltung gegen die immer weiter fortschreitende Technisierung und Elektronisierung“ innewohnt (ebd., S. 133). Mit dieser Haltung grenzt sich die Metal-Szene bewusst von der zu dieser Zeit aufkommenden Elektromusik ab, die mit dem Techno in den 1990er Jahren (bezogen auf ihre Anhängerschaft) die größte Jugendkultur werden soll (vgl. Jugendwerk der Deutschen Shell 1997).
2Beispielhaft
nennt Helsper den vorgeburtlichen Rhythmus des mütterlichen Organismus und Prozesse des Herzschlags oder Atems, die eine gleichbleibende Metrik grundlegen, die in ihrer Kontinuität ein Kennzeichen der Sicherheit und Beständigkeit sind.
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„Was se in der Disco so spielen dass sind so Sachen […] Vergeh-Musik .. so wie die kommt so geht die auch wieder so aber Heavy Metal oder Hardrock kannst dir noch die Sachen anhörn die schon zwanzig Jahre alt oder zehn Jahre alt sind“ (Metal-Fan nach Helsper 1992, S. 135).
Gleichzeitig bedeutet das „Echte“ auch wieder Verlässlichkeit. Gegen die sich „überschlagenden und ständig beschleunigenden Veränderungen und kulturellen Moden“ scheint im Heavy Metal ein „Beharrungsvermögen“ zu liegen, nicht jeden Modetrend und jede Veränderung mit zu gehen (vgl. Helsper 1992, S. 121).
2 Der „beständige“ Heavy Metal in Zeiten von Internet und Musikstreaming Um zu untersuchen, welche Relevanz Helspers theoretischen Überlegungen zum „Beharrungsvermögen“ im Heavy Metal heute haben, bedarf es zunächst eines kurzen historischen Rückblicks auf die Szene: Die 1980er Jahre werden als das wichtigste Jahrzehnt des Heavy Metals bezeichnet (vgl. Metal Hammer 2012; Rock Hard 2008). Fast alle großen Bands (z. B. Iron Maiden, Judas Priest, Saxon, Metallica, Slayer und AC/DC) veröffentlichen zwischen 1980 und 1989 Alben, die bis heute die ewigen Bestenlisten aller Metal-Fans anführen. Dabei passen sich viele dieser Bands den rasanten technischen Veränderungen in der Kommunikations-, Interaktions- und Musikwelt während der Jahrtausendwende an und ‚überleben‘, ohne aber ihren eigenen Stil maßgeblich zu verändern. 2002 werden in der 14. Shell-Jugendstudie das Internet und das Handy als zentrale Kommunikations- und Interaktionsmedien gekennzeichnet, die die Lebenswelt und die sozialen Beziehungen der Jugendlichen maßgeblich beeinflussen (vgl. Jugendwerk der Deutschen Shell 2002). Vier von fünf Jugendlichen im Alter von 15 Jahren verfügen zu dieser Zeit bereits über ein eigenes Handy und kommunizieren häufiger per SMS mit ihren Freunden als sich mit ihnen persönlich zu treffen (vgl. ebd., S. 82). Auch der Umfang der Internetnutzung ist mit durchschnittlich neun Stunden pro Woche bei den männlichen Jugendlichen steigend, wenn diese im Netz Beziehungen aufbauen und sich Informationen zu Freizeit und Kultur beschaffen. Die rasante Entwicklung der digitalen Kommunikation hat auch Einfluss auf Jugendszenen wie Heavy Metal. Mit dem Aufkommen von Musikstreaming Ende der 1990er und verstärkt Mitte der 2000er Jahre sind neue, grenzenlose Formen der Verarbeitung und des Konsums von Musik in Audio- und Videoformaten ent-
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standen, die ambivalente Auswirkungen auf die Jugendszenen, Musikhörer*innen und Künstler*innen haben. So wird für Jugendliche als Musikkonsumenten durch das Streamen ein unendliches Musikhören (nahezu) kostenfrei und zu jeder Zeit möglich. Damit drängen Streamingdienste (wie Spotify, Apple- und Amazon Music) die Verkäufe von physischen Tonträgern (CDs, Vinyl-Schallplatten) zurück. Laut dem Bundesverband für Musikindustrie geht der Verkauf für physische Tonträger seit 2001 stetig zurück: Wurden 2001 noch 133,7 Mio. Euro Umsatz mit dem Verkauf von CD-Alben in Deutschland gemacht, sind diese Verkaufszahlen 2017 auf weniger als die Hälfte (62,8 Mio.) gesunken (vgl. Statista 2019; Bundesverband Musikindustrie 2014). Parallel steigen die Einnahmen aus digitalen Geschäftsfeldern von 88 Mio. Euro im Jahr 2004 auf 328 Mio. 2014 (vgl. ebd.). Das hat Auswirkungen auf Künstler*innen, junge Bands und damit auch auf musikzentrierte Szenen wie Heavy Metal. Denn von den Plattenfirmen werden die Vorschüsse geringer, da diese immer weniger Risiko eingehen, womit die Studiozeiten kostspieliger werden. Folglich müssen Alben von (Nachwuchs-) Künstler*innen schneller entstehen, was deutlich schlechtere Produktionsbedingungen bedeutet, welche die musikalische Qualität der Alben beeinträchtigt. Außerdem können Streamingdienste für junge Künstler*innen auch als Marketinginstrument und zusätzlichen Distributivweg genutzt werden, um die eigene Musik schnell und einfach zu verbreiten. Die Verbindung aus „digitalem Präsentierteller“ (Metal Hammer 2012, S. 50) und rasanter Entwicklung von Software erweist sich gleichzeitig als Motor innovativer Musik, wenn junge Bands mit neuer Software relativ saubere Klänge selbst aufnehmen können. Folgen dieser Digitalisierung sind u. a. ein Überangebot an (neuer) Musik und deren Inflation sowie eine Zersplitterung musikorientierter Jugendszenen in unzählige Subgenres ohne langes Dasein.3 Zudem werden mit dem Streamen von Musik den Künstler*innen keine sicheren Einnahmen verschafft. Musiker*innen erhalten (je nach Vertrag) erst dann eine finanzielle Abgeltung, wenn ihr Song mindestens 30 Sekunden abgespielt wurde. Die Mainstreammusikindustrie hat sich darauf eingestellt, gezielt Musik zu produzieren, die sich in dieser neuen Realität nach dem Leitfaden durchsetzt, dass im ersten Viertel eines Songs möglichst schon Strophe, Refrain und Hook enthalten sein müssen, damit die Hörer zumindest 30 Sekunden dranbleiben,
3Denn
bei dem derzeitigen Überangebot in der Musiklandschaft, die fast täglich nach neuen Entwicklungen sucht, ist es kaum möglich, sich als Band am Leben zu halten.
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so dass der Song als gestreamt gilt und für die Charts gewertet werden kann. Musik bekommt nicht nur den Anschein, kostenlos verfügbar zu sein. Auch werden Vielfalt und Individualität zurückgedrängt. Auf diese Weise wird ein „Musik-Darwinismus“ gefördert, bei dem sich durchsetzt, was bei möglichst vielen Leuten möglichst schnell ‚zündet‘ (Gerhards und Klingler 2007). Für junge Musiker*innen und kleine Randerscheinungen wird es so unmöglich, als Band zu überleben und zu einer eigenständigen, langlebigen Szene zu reifen. Damit deutet sich eine Gefahr der Reproduktion musikzentrierter Szenen an. Im Heavy Metal ist allerdings zu dieser Zeit parallel zur Digitalisierung eine starke Rückbesinnung auf „das gute von früher“ in dem Sinn „Alt ist das neue Neu“ (Metal Hammer 2012, S. 51) zu beobachten. Sogenannte „Urgesteinbands“4 sind um die Jahrtausendwende mit ihren traditionellen, altbewährten Klängen überaus erfolgreich.5 Trotz eines Generationenwechsels und dem mannigfaltigen Musikangebot gibt es kein namenhaftes Metal-Festival, das sich nicht mindestens eine der „Urgesteinbands“ aus den 1980er Jahren auf ihr Line-Up setzt (ebd., S. 52). Bands, die ihrer musikalischen Linie und Botschaft über Jahrzehnte treu bleiben, vermitteln in Zeiten von Internet und Musikstreaming eine Beständigkeit, die einen Teil der ‚Metalgemeinde‘ ausmacht, für Stabilität sorgt und auf diese Weise das, was Helsper als „Verlässlich“ beschrieben hat, präsentieren. Entsprechend stellt der Chefredakteur vom Musikmagazin Rock Hard diese Szenenentwicklung in folgender Weise dar: „Metalfans sind mehr mit ihren eigenen Wurzeln verhaftet, sie interessieren sich wenig für Trends und Hypes und bleiben gern bei ihren Lieblingsbands“ (Rock Hard 2008, S. 52). Gegenüber den Prinzipien der Diskontinuität und Wandelbarkeit, die der digitale Medienmarkt mitbringt, scheint sich die Jugendkulturwelt Heavy Metal nach wie vor mit einer – in den Worten Helspers – Beharrungskraft zu behaupten. Auch ein Blick auf das Musikkonsumverhalten von Metal-Fans deutet auf eine Beständigkeit und gewisse Stetigkeit der Szene hin. Entgegen dem dominierenden Streaming-Media-Markt macht die Statistik des Bundesverbands für Musikindustrie deutlich, dass seit 2004 im Bereich Metal die Verkaufszahlen physischer Tonträger nie auf ein ähnlich niedriges Niveau gesunken waren wie in anderen
4Damit
sind die erfolgreichen Bands aus den 1980er Jahren gemeint wie Iron Maiden, Megadeth, AC/DC. 5Beispielsweise erscheint 2000 das 15. Studioalbum („Brave New World“) von Iron Maiden in musikalisch sehr traditioneller Manier und erreicht eine der höchsten Verkaufsquoten in ihrer Karriere (vgl. Metal Hammer 2000, 2012).
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Musikgenres (vgl. Statista 2019). Für Vinyl-LPs im Musikgenres Metal lassen sich seit 2011 sogar steigende Umsatzzahlen verzeichnen (vgl. ebd.). Auch bei einer Differenzierung nach den beliebtesten Musikgenres unter den Nutzer*innen digitaler Medien zeigt diese Statistik, dass während knapp Zweidrittel (64 %) der Befragten angaben, am liebsten Popmusik und 32 % Dance, Electronic und House zu hören, nur 19 % der befragten Nutzer*innen digitaler Musik Metal hören. Demnach gibt es in der Metal-Szene eine nicht unwesentliche Fangemeinschaft, die sich in ihrem Musikkonsumverhalten gegen Streaming entscheidet und damit gegen schnelllebige Musik und kurze Songs ohne Individualität. Fans, die die Musik ihrer Bands wertschätzen, unterstützen diese mit dem Kauf physischer Tonträger und Merchendiseartikeln. Gleichzeitig reproduziert sich durch das ‚traditionelle‘ Musikkonsumverhalten die Szene in Hinblick auf junge Bands. Zeigt sich darin nicht auch wieder eine Form der von Helsper beschriebenen Orientierung und Wertschätzung des „Echten“, „Ehrlichen“ und „Verlässlichen“?
3 Die Pluralisierung und Diversifizierung von Jugendkulturen und die Konsequenzen für Heavy Metal Zumindest lässt sich die Metal-Szene damit als eine der ältesten, langlebigsten und persistentesten Jugendkulturen kennzeichnen, aber auch als eine der vielfältigsten. Denn es gibt auch Wandel. Während die schwer entzifferbaren Bandlogos und auch die Vorliebe für schwarze Kleidung bis heute geblieben sind, scheinen die mit Aufnähern übersäten Lederjacken – die sogenannte „Kutte“ mit Heavy Metal Monstern (Helsper 1992, S. 135) – verschwunden zu sein und auch die langen Haare sind nicht mehr zwingend nötig. Sogar das klassische Line-up einer Metalband – zwei Gitarren, Bass, Schlagzeug – gilt nur noch bedingt. Beinharte Gruppen wie Tiamat und Ministry bedienen sich Synthesizern und Computerklängen, und um das früher stark verpönte Keyboard haben sich mittlerweile eigene Subgenres gebildet. Den von Hitzler und Niederbacher (2010) beschriebenen Prozessen der Aufspaltung und Pluralisierung von Jugendkulturen unterliegt auch der Heavy Metal. Während Helsper wie auch Szenenanhänger*innen in den 1980er Jahren bloß zwischen Death-, Black-, Speed- und Thrash Metal differenzierten, hat die Metal-Musikszenerie seit ihrem Aufkommen ein kaum mehr überschaubares Niveau an Subgenres erreicht und es lässt sich zusätzlich zwischen Glam-, Melodic- und Symphonic Metal, Nu Metal und Post Metal, Metal- oder Mathcore sowie Folk Metal mit den Sub-Subgenres Pagan-, Celtic- oder Viking Metal unterscheiden (vgl. Metal Hammer 2012,
Heavy-Metal – eine Szene des „Extremen“ und „Bösen“ …
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2018; Rock Hard 2017). Diese Entwicklung verweist auf das zentrale Stilprinzip „Crossover“ (Farin 2010): Aus Punk und Heavy Metal entsteht Hardcore und Grunge, Techno und Punk treffen in der Band The Prodigy zusammen, während die Band Body Count Hip-Hop und Heavy Metal vereint. Der ständige Stilmix führt zu einer unüberschaubaren Fülle von jugendlichen Kulturen, Szenen, Stilen und Gruppen (Hitzler und Niederbacher 2010; Ferchhoff 2011). Krüger (2010) und Ferchhoff (2011) zeigen bei ihrem Versuch, die Jugendkulturlandschaft zu systematisieren, dass diese kaum zu überblicken ist und die Szenen – von außen – nicht immer so einfach voneinander zu unterschieden sind.6 Gleichzeitig bedeuten die jugendkulturellen Bricolage-Prozesse (Lévi-Strauss 1968), dass die auf den „Kampf um Exklusivität und Distinktion“ (Lorig und Vogelgesang 2011) beruhenden Grenzen zwischen den Szenen aufweichen und verschwimmen.
4 „Extrem“ und „Böse“ als Ausdruck einer Orientierung an Protest und Nonkonformität Eine Orientierung der Exklusivität und Distinktion konnte bereits Helsper bei den befragten Jugendlichen aus der Metal-Szene herausarbeiten. Wie in jeder anderen musikorientierten Jugendkultur (Techno, Punk, Gothics, Indies etc.) spielt auch im Heavy Metal die Musik eine wesentliche, identitätsstiftende Rolle. Helsper (1992, S. 138) zeigt, dass es für Metal-Fans dabei nicht nur um Melodien und Rhythmus, sondern immer auch um Geschichte, Politik, eigene lebensgeschichtliche Erfahrungen sowie grundlegende Haltungen zur Gesellschaft geht, die nicht nur die Texte und Titel der Songs vermitteln, sondern auch die Kleidung sowie nonverbale Gesten und Rituale einzelner Künstler*innen und ihrer Fans. Diese waren und sind im Heavy Metal mit Attributen des „Extremen“ und „Bösen“ gekennzeichnet. Extrem verzerrte Stromgitarren, schnelle Riffs und ein (z. B. im Death und Black Metal) brutaler, lauter, aggressiver Schrei-Gesang werden von Texten, Plattencovern, Kleidung und auch Bühnenshowelementen mit „satanisch-dämonischen Symbolen des Bösen“ begleitet (Helsper 1997, S. 125). Nach Helsper lässt sich das „Extreme“ und die „Symboliken des Bösen“ als Ausdruck biografischer, sozialer Erfahrungen der Szenenangehörigen beschreiben:
6Ferchhoff
(2011) konnte 20 identifizierbare Szenen beschreiben.
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E. Schneider
„Die Faszination und Anziehung, die die Symboliken des >>BösenKleinen