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German Pages [320] Year 1990
Michael Mitterauer Historisch-anthropologische Familienforschung
KULTURSTUDIEN BIBLIOTHEK DER KULTURGESCHICHTE Herausgegeben von Hubert Ch. Ehalt und Helmut Konrad Band 15
Michael Mitterauer
HISTORISCHANTHROPOLOGISCHE FAMILIENFORSCHUNG Fragestellungen und Zugangsweisen
BÖHLAU VERLAG WIEN · KÖLN
Gedruckt mit Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und das Kulturamt der Stadt Wien
QP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Mitterauer, Michael: Historisch-anthropologische Familienforschung : Fargestellungen und Zugangsweisen / Michael Mitterauer. Wien ; Köln : Böhlau, 1990 Kulturstudien; Bd. 15 ISBN 3-205-05318-4 N E GT
ISBN 3-205-05318-4 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 1990 by Böhlau Verlag Gesellschaft m.b.H. und Co. KG., Wien · Köln Satz: LASER · SATZ · KLOSS, 1100 Wien Druck: Remaprini, Wien
Inhalt Vorwort
7
Einleitung
9
Europäische Familienformen im interkulturellen Vergleich .
25
Christentum und Endogamie
41
Komplexe Familienformen in sozialhistorischer Sicht
...
87
Ländliche Familienformen in ihrer Abhängigkeit von natürlicher Umwelt und lokaler Ökonomie
131
Russische und mitteleuropäische Familienformen im Vergleich
147
Sozialgeschichte der Familie als landeskundlicher Forschungsgegenstand
191
Gesindeehen in ländlichen Gebieten Kärntens - ein Sonderfall historischer Familienbildung
233
Gesindeleben im Alpenraum
257
Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in vorindustrieller Zeit
289
Sachregister
315
Vorwort Inhaltliches Bezugsfeld der mittlerweile über zwanzig Bände umfassenden Bibliothek der Kulturgeschichte „Kulturstudien" ist der Mensch, das breite Spektrum seiner materiellen, institutionellen und mentalen Ausdrucksformen und deren Veränderung in historischen Prozessen. In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Geschichtswissenschaft im deutschsprachigen Raum mehrere Phasen einer Neuorientierung durchgemacht. Nach einer langen Periode, in der die Historiographie durch Theoriefeindlichkeit, die Orientierung an einem idealistischen Persönlichkeitsbegriff und an einem politik- und ereignisgeschichtlich ausgerichteten Konzept gekennzeichnet war, begann sich Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre eine stärker an den systematischen Sozialwissenschaften orientierte Forschung durchzusetzen. Dort, wo die Geschichtswissenschaft mit dem Selbstverständnis einer „historischen Sozialwissenschaft" agierte, traten soziale Prozesse und Strukturen in den Blickpunkt des Forschungsinteresses. Die historische Wirklichkeit wurde unter dem Aspekt der Strukturanalyse mit den Methoden einer quantifizierenden Sozialwissenschaft erfaßt und dargestellt. Fraglos bedeutete die skizzierte Neuorientierung für die Geschichtswissenschaft eine Überwindung historistischer Positionen und einen Gewinn an Wissenschaftlichkeit. Die Familie wurde zu einem relevanten Thema, das vor allem unter demographischen und ökonomischen Gesichtspunkten erforscht wurde. Der Autor des vorliegenden Bandes hat die Familiengeschichtsforschung mit seinen eigenen und den von ihm koordinierten Forschungsprojekten entscheidend vorangetrieben. Das Interesse Michael Mitterauers richtete sich früh - über das engere sozialwissenschaftliche Interesse an Familienkonstellationen hinaus - auf anthropologische, den Menschen als köiperlich-sozial-kulturelle Ganzheit erfassende, Aspekte. Nicht nur die familialen Konstellationen, in denen die Menschen agierten, sondern auch die mentalen Beweggründe und Interpretationen, mit denen die Menschen Beziehungen eingingen und sie wahrnahmen, die Rituale, mit denen sie 7
kommunizierten, und die begrifflichen und emotionalen Muster, mit denen sie dachten und fühlten, interessieren Mitterauer. Sozial- und Kulturwissenschaften sind sich darüber einig, daß der Mensch im Nietzscheschen Sinn „nicht festgestelltes Tier" oder im Sinne Arnold Gehlens „Mängelwesen" ist, das der gesellschaftlich organisierten Naturbewältigung bedarf, um überleben zu können. Im Gegensatz zum Ter, das durch feste Reizauslösungsschemata und eindeutige Instinktmechanismen gelenkt ist, zeichnet sich der Mensch durch ein weitgehendes Zurücktreten des Instinktes aus. Die Kulturanthropologie untersucht den Menschen und sein Verhalten im Spannungsfeld biotischer und kultureller Bedingungen. Die Geschichts- und Kulturwissenschaften haben dieser „Doppelnatur" des Menschen bisher kaum Rechnung getragen. Aufgabe einer anthropologisch orientierten Geschichts- und Kulturforschung ist die Herausarbeitung des Gegensatzes von biologisch-anthropologischen Gegebenheiten, dort wo die Fundierung einer Erscheinung in der genetischen Ausstattung des Menschen gesichert ist einerseits und emergenten anthropologischen Gegebenheiten - sozial relevante Erscheinungen, die in den verschiedensten historischen und kulturellen Zusammenhängen immer wieder auftreten andererseits. Michael Mitterauers Aufsätze, die in diesem Band unter dem Aspekt einer historisch-anthropologischen Familienforschung zusammengestellt wurden, stellen im oben genannten Sinn eine Brücke zwischen einer breiten sozialwissenschaftlich-demographisch orientierten Familienforschung und einer wesentlich auf die Faktoren Verwandtschaft, Kult und Ritus rekurrierenden Ethnologie her. Die Fortführung von so orientierten Forschungen erscheint uns geeignet, einen fruchtbaren Diskurs zwischen der biologisch orientierten Humanbiologie, einer sozialwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft und einer kulturwissenschaftlich orientierten Ethnologia Europaea herzustellen und damit die Erforschung des Menschen zwischen Natur und Kultur ein wesentliches Stück voranzubringen. Hubert Ch. Ehalt
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Einleitung Wenn in diesem Sammelband neun Aufsätze zur Geschichte der Familie gemeinsam vorgelegt werden, so verfolgt die Veröffentlichung zunächst einen praktischen Zweck. Einige der Aufsätze sind fremdsprachig erschienen bzw. für fremdsprachige Veröffentlichungen bestimmt Andere wurden in schwer zugänglichen Zeitschriften oder solchen mit regional begrenztem Adressatenkreis gedruckt Die übersetzte Fassung bzw. der Neuabdruck soll in diesen Fällen das Leserpublikum erweitern. Wesentlicher ist mir jedoch ein zweites Motiv. Die thematische Zusammenstellung setzt innerhalb des weiten Felds der historischen Familienforschung ganz spezifische Akzente. Es geht um historisch-anthropologische Fragestellungen und Zugangsweisen, die mir im Lauf meiner nunmehr fast zwanzigjährigen Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der Geschichte der Familie zunehmend wichtiger geworden sind Die in diesem Sammelband zusammengefallen Aufsätze stellen einzelne Schritte auf dem Weg zu einer historisch-anthropologischen Familienforschung dar, keineswegs ein bereits erreichtes Ziel. Um zu erklären, warum mir diese Ausrichtung für die persönliche Arbeit, aber auch für die sozialgeschichtliche Forschung über Familie insgesamt, so wesentlich erscheint, ist es notwendig, den bisherigen Weg in einigen Stationen nachzuzeichnen. Daß Arbeiten auf dem Gebiet der historischen Familienforschung am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien schon zu Beginn der siebziger Jahre einsetzten, hat besondere Gründe. 1969 trat in Österreich der neue Lehrplan für das Fach „Geschichte und Sozialkunde" in Kraft, der unter den „sozialkundlichen Bildungsstoffen" an erster Stelle das Thema „Primärgruppen" vorsah. Die 1971 von Assistenten des Instituts gegründete Lehrerfortbildungszeitschrift „Beiträge zur historischen Sozialkunde" griff dementsprechend auch schon in ihrer ersten Nummer familienhistorische Themen auf. Aufsätze in dieser Zeitschrift aus den folgenden Jahren bildeten die Grundlage für das von mir gemeinsam mit Reinhard Sieder publizierte Taschenbuch „Vom Patriarchat zur Partnerschaft Zum Strukturwandel der Familie" 9
(München 1977). Dem Ziel sozialwissenschaftlicher Fortbildung für Geschichtslehrer entsprechend, stand in diesen frühen Studien eine interdisziplinär historisch-soziologische Zugangsweise im Vordergrund. Sie wurde zudem durch die Kooperationsmöglichkeiten mit der in Wien besonders entwickelten Familiensoziologie begünstigt. Innerhalb der Geschichtswissenschaft bot das Werk Otto Brunners Anknüpfungspunkte. Sein Einfluß war, obwohl keine unmittelbare persönliche Kontinuität zu seiner Wiener Lehrtätigkeit bestand, für die Entwicklung der Sozialgeschichte-Forschung in Wien seit den sechziger Jahren von großer Bedeutung. Ganz besonders gilt das für seine richtungweisende Arbeit „Das .ganze Haus' und die alteuropäische .Ökonomik' ". In Anschluß an Brunner eigab sich eine Einordnung der Familienthematik in eine veifassungs- und strukturgeschichtliche Sicht der Gesellschaftsentwicklung. Strukturfunktionalistische Familiensoziologie auf der einen Seite, aus der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte entwikkelte Sozialgeschichte nach der Konzeption Otto Brunners auf der anderen - das waren die beiden Pole, in deren Spannungsfeld sich die Anfänge der historischen Familienforschung in Wien entwickelten. Als ich im Wintersemester 1971/72 erstmals für Lehramtskandidaten eine Vorlesung „Geschichte der Familie" hielt, erfolgte dieser Versuch einer Überblicksdarstellung auf einer solchen fachlichen Grundlage. Auch in den Veröffentlichungen der folgenden Jahre hat die Verbindung und Weiterführung von Denkansätzen dieser Herkunft eine maßgebliche Rolle gespielt. Gegenüber den vorwiegend auf Literatur gestützten ersten Studien zur Geschichte der Familie ergab sich aus der Beschäftigung mit Primärquellen eine entscheidende Wende. Bei Nachforschungen über die Herkunft der eigenen Familie stieß ich im Sommer 1972 durch Zufall unter den Archivalien der Pfarre Berndorf nördlich von Salzburg auf einen „Liber status animarum" aus dem Jahre 1649 - wie sich später zeigen sollte eines der ältesten und aussagekräftigsten Beispiele dieser Quellengattung aus dem österreichischen Raum. Es war im selben Jahr, als Peter Laslett und seine Kollegen von der „Cambridge Group" „Household and family in past time" herausbrachten und von ihrem späteren Kritiker Lutz K. Berkner „The Stem Family and the Developmental Cycle" in der .American Historical Review" erschien - Arbeiten, von denen entscheidende Impulse für die quantifizierende Richtung der historischen Familienforschung auf der Basis von Zensuslisten ausgingen. Beide Arbeiten lagen mir noch nicht vor, als ich auf der Grundlage des Berndorfer „Seelenbuchs" einen Beitrag „Zur Fami10
lienstruktur in ländlichen Gebieten Österreichs im 17. Jahrhundert" verfaßte. Wenn damals unabhängig voneinander mehrere Forscher bzw. Forschergruppen mit statistisch fundierten Studien über Familienstrukturen begannen, so kommt darin wohl deutlich zum Ausdruck, daß ein aktuelles Bedürfnis nach Absicherung familienhistorischer Aussagen durch „harte Daten" bestand Diese Zielsetzung wurde zunächst auch für die weiteren Forschungen zur Sozialgeschichte der Familie am Wiener Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte bestimmend Als sich herausstellte, daß „Seelenbücher" sowie ähnliche Formen von Personenstandslisten in österreichischen Archiven besonders zahlreich vertreten sind w a r es naheliegend familienhistorische Forschungsprojekte zur Aufarbeitung dieses reichhaltigen Materials zu initiieren. In den Jahren 1974 bis 1978 liefen solche Forschungen unter Mitarbeit von Josef Ehmer, Jean-Paul Lehners, Peter Schmidtbauer und Reinhard Sieder. Die aus diesen Projekten entstandenen Publikationen zur Sozialgeschichte der Familie sind durch die Auswertungsmöglichkeiten des zugrunde gelegten Quellentypus begrenzt. Erst mit der Einrichtung eines interdisziplinären Forschungsschwerpunkts der Österreichischen Rektorenkonferenz „Familie im sozialen Wandel" erfolgte 1979 in der Arbeitsgruppe eine Neuorientierung. Die Fortführung der Projektarbeiten auf breiterer Basis ermöglichte in dreierlei Hinsicht neue Ansätze, die für eine stärker anthropologisch orientierte Ausrichtung wichtig wurden. Zunächst kam es auf der Ebene der Zensuslisten als Quellenbasis der historischen Familienforschung zu einer Ausweitung über den österreichischen Raum hinaus. Personenstandslisten aus verschiedensten europäischen Regionen - von der Stadt Rom bis hin zur russischen Provinz Jaroslawl - wurden in Wien gesammelt und ausgewertet Der in diesem Band erstmals deutschsprachig abgedruckte Beitrag über „Russische und mitteleuropäische Familienstrukturen im Vergleich" ist etwa ein Produkt dieser räumlich weit ausgreifenden Forschungstätigkeit. Solche Vergleiche über große Distanzen bedürfen in der Interpretation der Daten in ganz anderer Weise einer ethnographisch-anthropologischen Fundierung als kleinräumige Gegenüberstellungen innerhalb eines Staates oder einer Region. Über die Ausweitung des Untersuchungsraumes hinaus brachte die Einrichtung des Forschungsschwerpunkts dann eine Ausweitung der Quellenbasis. In einer niederösterreichischen Landgemeinde, in der über viele Jahrzehnte „Seelenbeschreibungen" vorliegen, sollte gemeinsam mit Volkskundlern und Soziologen eine Feldforschung über den Wandel der Familienverhältnisse 11
auf der Basis von Erinnerungsinterviews durchgeführt werden. Dieses von Reinhard Sieder initiierte Unternehmen, das von ihm in anderem sozialen Umfeld weitergeführt wurde, war die erste OralHistory-Forschung zur Sozialgeschichte der Familie in Österreich und zugleich ein Pilot-Projekt dieser methodischen Zugangsweise überhaupt. Als Kooperationsvorhaben mit dem Fach „Ethnologia Europaea" bedeutete diese Gemeindestudie einen Erfahrungsaustausch über unterschiedliche Zugangsweisen zur Familienthematik. Schließlich waren im Forschungsschwerpunkt „Familie im sozialen Wandel" internationale Tagungen zur Vernetzung einschlägiger Aktivitäten vorgesehen. Solche Tagungen fanden seit 1979 jährlich in Göttingen bzw. Wien statt Der Veranstaltelgruppe gehörten Karin Hausen, Arthur Imhof, Hans Medick, Heidi Rosenbaum und ich an. Vor allem Hans Medick und David Sabean haben in diese Gespräche immer wieder anthropologische Themenstellungen eingebracht. Schon an der ersten dieser Tagungen nahm Jack Goody teil. Die Erweiterung des Themenspektrums gegenüber den in den vorangegangenen Projekten so dominanten familienstrukturellen Fragen hinaus ist in vieler Hinsicht auch dem anregenden Gedankenaustausch in diesem Kreis zu danken. So sehr die Oral-Histoiy-Erfahrungen im Anschluß an unsere interdisziplinären Feldforschungsarbeiten neue Perspektiven für stärker anthropologisch orientierte Fragestellungen und Zugangsweisen der historischen Familienforschung eröffneten - wesentlicher wurde für mich in der Folgezeit ein anderer Quellentypus. Angeregt durch ein Oral-History-Seminar über „Familienverhältnisse ländlicher Unterschichten", brachte mir ein Student ein interessantes Manuskript aus seinem Bekanntenkreis. Es handelte sich um eine für die Nachkommen aufgezeichnete Autobiographie einer ehemaligen Magd aus dem südöstlichen Niederösterreich, die in sehr anschaulicher Weise das Alltagsleben in einer relativ rückständigen ländlichen Region zu Beginn dieses Jahrhunderts schildert Die 1983 erfolgte Veröffentlichung dieser Lebensgeschichte von Maria Gremel „Mit neun Jahren im Dienst Mein Leben im Stübl und am Bauernhof löste ein lebhaftes Echo aus. Es zeigte sich, daß in vielen Familien ähnliche Aufzeichnungen überliefert sind Nun wurde mit der systematischen Sammlung solcher Zeugnisse der „populären Autobiographik" begonnen. Die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien" wuchs rasch auf über sechshundert Manuskripte an. Sie bildete die Grundlage für eine inzwischen achtzehn Bände umfassende Editionsreihe, 12
in der Autobiographien entweder ganz oder in Auszügen, nach thematischen Zusammenhängen zugeordnet, publiziert werden. Die Dokumentation und Edition dieser Texte ist der sachkundigen Mitarbeit vor allem von Therese Weber, Christa Hammerle und Peter P. Kloß zu danken. Als historische Quelle für Familienverhältnisse früherer Zeiten bietet die „populäre Autobiographik" recht ähnliche Erkenntnismöglichkeiten wie die Oral History. Auch sie erschließt über äußere Sachverhalte und Geschehenszusammenhänge hinaus Bereiche der Subjektivität wie Erfahrungen, Wahrnehmungsformen, Erlebnisweisen, Deutungen, Einstellungen und Motivationen. Gegenüber den „harten" Daten, wie sie etwa der quantifizierenden Familienforschung auf der Basis von Zensuslisten zugrunde liegen, bedeuten beide Quellengattungen einen extremen Kontrast Wie spezifische Erkenntnismöglichkeiten aus Personenstandslisten mit solchen aus „populärer Autobiographik" verbunden werden können, habe ich in einem Beitrag „Servi nelle Alpi" in den „Quaderni storici" darzustellen versucht, der übersetzt in diesen Band aufgenommen wurde. Nur auf autobiographische Aufzeichnungen als Quelle beschränkt, entstand eine Studie „Zu Formen des individuellen und gemeinschaftlichen Gebets in der Familie", die den Wandel familialer Kultfunktionen zum Thema hat Sie wird in einem der folgenden Bände der Reihe „Kulturstudien" publiziert Wissen um Familienverhältnisse früherer Zeiten aufgrund der Lektüre von Hunderten lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen ist explizit oder implizit in viele meiner familienhistorischen Arbeiten der letzten Jahre eingeflossen. Die Beschäftigung mit so vielen einzelnen Lebensschicksalen macht es wohl unumgänglich, daß in der wissenschaftlichen Arbeit über die Geschichte der Familie anthropologische Grundfragen verstärkt zum Thema werden. Ende der siebziger Jahre begann das „Institut für Historische Anthropologie" in Freiburg - zunächst unter der Leitung von Oskar Köhler, dann unter der von Jochen Martin - mit einem umfassenden Forschungsprojekt „Kindheit-Jugend-Familie", das 1985 bis 1989 mit drei großen Übeiblicksbänden „Geschlechtsreife und Legitimation zur Zeugung", „Zur Sozialgeschichte der Kindheit" und „Aufgaben, Rollen und Räume von Frau und Mann" abgeschlossen wurde. Nach einheitlichen Untersuchungskategorien sollte dieser Themenkomplex von der Antike bis zur Gegenwart sowie in einer weltweit ausholenden Gegenüberstellung von Kulturräumen behandelt werden. Neben Vertretern der europäischen Geschichte und der der alten Hochkulturen nahmen Islamisten, Indologen, Sinologen, Japanologen sowie Biologen, Pädagogen, Ethno13
logen, Religionswissenschaftler und Sprachwissenschaftler an den Gesprächen teil. Von Anfang in die Planungsarbeiten eingebunden, übernahm ich für den ersten Teilbereich das Thema „Illegitimität in Europa. Historische Bedingungen in Familienverfassung, Wertsystem und Arbeitsorganisation". Der Beitrag erschien in erweiterter Fassung unter dem Titel „Ledige Mütter" als selbständiger Band. Meine 1986 publizierte „Sozialgeschichte der Jugend" erhielt durch diese Vorarbeiten wesentliche Anregungen. Für den dritten Teilbereich des Großprojekts schrieb ich den Artikel „Arbeitsteilung und Geschlechterrollen in ländlichen Gebieten Mitteleuropas". Die in diesem Band abgedruckte Studie „Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in vorindustrieller Zeit" ging in ihren Grundgedanken in die theoretischen Diskussionen auf den vorbereitenden Tagungen des Sammelbands ein und markiert in etwa die eine der beiden Kontroverspositionen, über deren Konfrontation in der Einleitung des Bandes berichtet wird Die Mitarbeit am Institut für Historische Anthropologie in Freiburg bedeutete für mich einen entscheidenden Anstoß, historische Familienforschung in weiteren Zusammenhängen zu betreiben. Vor allem zwei Momente wurden mir zunehmend wichtig: die Langzeitperspektive und der interkulturelle Vergleich, womöglich über den christlich-europäischen Raum hinaus. Auch thematisch verschoben sich die Akzente. War ich in räumlich engeren Vergleichen vor allem zu ökonomisch-arbeitsorganisatorischen oder herrschaftsstrukturellen Erklärungsansätzen von Unterschieden in Familienformen gelangt, gewannen in weiter ausgreifender Betrachtung verstärkt auch religiöse Bedingungen an Bedeutung. Der Problemkreis Religion und Familie hatte mich schon früher beschäftigt, erstmals 1974 in einem Aufsatz „Funktionsverlust der Familie?" (vgl. „Vom Patriarchat zur Partnerschaft", Kap. 4) hinsichtlich der Auswirkungen von Haus- und Ahnenkult. Ein Schlüsselerlebnis war für mich diesbezüglich die Lektüre ethnographischer Berichte über das in Serbien zu Ehren des Hauspatrons gefeierte Slava-Fest mit seinen spezifischen Formen des Ahnengedenkens (vgl. dazu in diesem Band S. 119 ff. und S. 185 f.) - ein Phänomen, das mir den Kontrast zu den mittel- und westeuropäischen Familienverhältnissen besonders deutlich bewußt machte. In den siebziger Jahren stießen solche Ansätze in der historischen Familienforschung freilich noch auf wenig Verständnis, wenn nicht überhaupt auf Ablehnung. Theoretische Nähe zur „Historischen Sozialwissenschaft" oder zur „Historisch-ethnologischen Familienforschung" machte diesbezüglich keinen Unterschied aus. In keiner 14
dieser Richtungen spielten damals Interpretationen, die auf religiöse Bedingungen rekurrierten, eine Rolle. Zwischen der „Historischen Sozialwissenschaft" auf der einen Seite, verschiedenen Richtungen der historischen Anthropologie bzw. Alltagsgeschichte auf der anderen ist es in der deutschen Sozialgeschichtsforschung zu sehr prinzipiellen Auseinandersetzungen gekommen. Versuche, bestimmte theoretische Ansätze und methodische Zugangsweisen auszugrenzen, wie sie im Zuge dieser stark polarisierend geführten Debatte gemacht wurden, sind für die historische Familienforschung insofern von großer Relevanz, da deren TTiemenbereich von beiden Seiten als zentral angesehen wird Konzepte, die die Göttinger Gruppe in ihre „Historisch-ethnologische Familienforschung" übernahm, gerieten in besonderer Weise ins Kreuzfeuer der Kritik. Gegen den am Freiburger „Institut für Historische Anthropologie" vertretenen Ansatz hat Jürgen Kocka (Historisch-anthropologische Fragestellungen - ein Defizit der Historischen Sozialwissenschaft? Thesen zur Diskussion, in: Hans Süssmuth [Hg.], Historische Anthropologie, Göttingen 1984, S. 77) eingewandt: „Zum Zweck der Herausarbeitung sich nur langsam verändernder Grundsituationen und Verhaltensformen werden sehr weitgespannte, Räume und Zeiten übergreifende Vergleiche angestellt, die fast notwendig dazu führen, daß das jeweils interessierende Phänomen (ζ. B. Jugendproteste) sehr weit aus seinem jeweils zeitlich spezifischen und mit der Zeit wechselnden gesamtgesellschaftlich-kulturell-politischen Kontext herausgelöst wird und die üblichen peniblen geschichtswissenschaftlichen Übetprüfungsregeln fast notwendig verletzt werden. Insofern tritt der Ansatz auch mit einigen Prinzipien der Historischen Sozialwissenschaft (Kontextbezogenheit, Grundregeln historischer Methode) in Spannung." Sicher ist in Langzeitanalysen und großräumig interkulturellen Vergleichen die Gefahr größer, den sozialen Kontext der untersuchten Erscheinung zu verlieren, als in räumlich begrenzten Studien über geringe zeitliche Distanz. Das Problem ist aber nur gradueller, nicht prinzipieller Natur. Jeder Vergleich beschränkt sich notwendig auf einen schmalen Ausschnitt, aus „gesamtgesellschaftlich-kulturell-politischen Kontexten", die in ihrer Gesamtheit nie voll mitzuberücksichtigen sind Und auch für die „Historische Sozialwissenschaft" ist dieser komparative Ansatz essentiell. Soll sie sich, um sich gegenüber der historischen Anthropologie abzugrenzen oder weil es einer bisherigen Forschungspraxis entspricht, eine zeitliche oder räumliche Selbstbeschränkung auferlegen? Aus dem Programm, unter dem sie angetreten ist, läßt sich das jedenfalls nicht 15
rechtfertigen. In der oft berufenen Tradition Max Webers stehend, sind zeitlich und räumlich weit ausholende Vergleiche wohl erlaubt Ob eine solche Zugangsweise dann als „Historische Sozialwissenschaft" oder als „Historische Anthropologie" firmiert, erscheint ziemlich gleichgültig. Das gilt wohl auch für eine in Zusammenhängen dieser Art betriebene Familienforschung. Zwischen „historisch-anthropologischer Familienforschung" und „historisch-sozialwissenschaftlicher" wird sich kaum eine sinnvolle Abgrenzung finden lassen. Beide Bereiche überschneiden einander weitgehend, wenn sie nicht sogar deckungsgleich sind Innerhalb dieses gemeinsamen Forschungsfelds setzt allerdings die Bezeichnung „anthropologisch" gewisse Akzente. Sie signalisiert vor allem Zusammenarbeit mit bestimmten Nachbardisziplinen. Nicht so sehr die Soziologie steht dabei im Vordergrund als die im deutschsprachigen Raum so schwach vertretene Sozialanthropologie, die Ethnologie sowie die einzelnen Volkskunden der verschiedenen europäischen Räume, die sich auf einer vergleichenden Ebene als „Ethnologia Europaea" begreifen lassen. Dazu kommen die historischen Kulturwissenschaften, die sich mit Zivilisationen der Vergangenheit und Gegenwart beschäftigen wie die Judaistik, die Byzantinistik, die Islamistik etc. Historisch-anthropologische Familienforschung ist auf alle diese Disziplinen als Gesprächspartner angewiesen. Dabei kann es sicher nicht nur um ein additives Nebeneinanderstellen von Ergebnissen aus verschiedenen Kulturräumen gehen. Diese Ergebnisse müssen interpretativ verknüpft und in einen umfassenderen Rahmen eingeordnet werden. Solche Versuche der Synthese sind sicher mit der Gefahr verbunden, in Teilbereichen die Grenzen der persönlichen Fachkompetenz zu überschreiten. Diesbezüglich ist aber wohl eine gewisse Risikobereitschaft angebracht, soll die traditionelle Zentrierung historischer Familienforschung auf den jeweils eigenen Kulturraum überwunden werden. Historisch-anthropologische Familienforschung meint in diesem Band über spezifische Formen der Interdisziplinarität hinaus auch inhaltliche Schwerpunktsetzungen. Sicher kann man sagen, daß grundsätzlich alle familienrelevanten Themen in einem weiteren Verständnis anthropologisch sind Es gibt aber auch einen engeren Bereich von klassischen Themen der Sozialanthropologie bzw. Ethnologie, die die an der Familiensoziologie orientierte historische Familienforschung wenig oder überhaupt nicht beachtet hat: Familien- und Verwandtschaftssysteme gehören ebenso dazu wie etwa Heiratsregeln und Residenzmuster. In den hier zusammengestellten Beiträgen werden solche Themen sehr wichtig genommen. Dabei 16
geht es keineswegs nur darum, Parallelen zu sozialen Phänomenen fremder und ferner Kulturen in der europäischen Geschichte zu suchen. Das Interesse gilt vielmehr gerade auch der Frage, warum bestimmte Elemente der Familienverfassung, die außerhalb Europas weit verbreitet sind, hier nicht in Erscheinung treten. D e klassischen anthropologischen Themen in der europäischen Geschichte zu behandeln, heißt so, die Gründe für die europäische Sonderentwicklung zu problematisieren. Im ersten der in diesem Band zusammengestellten Aufsätze „Europäische Familienfomien im interkulturellen Vergleich" steht diese Problematik im Mittelpunkt Die Studie wurde für eine Themennummer „Ehe und Familie in alten Hochkulturen" der „Beiträge zur historischen Sozialkunde" verfaßt und nimmt in den zu Europa kontrastierend gemachten Aussagen über außereuropäische Familienverhältnisse auf die von Vertretern der zuständigen Fächer in anderen Beiträgen dieses Heftes Bezug. Hinsichtlich der europäischen Familienentwicklung faßt sie eigene Untersuchungseigebnisse und solche der neueren sozialgeschichtlichen Forschung zusammen. Dabei wird versucht, spezifisch europäische Eigenheiten der Familienverfassung wie hohes Heiratsalter, lange Jugendphase, Zusammenleben mit Gesinde oder Dominanz einfacher Familienformen kausal miteinander zu verknüpfen und in ein konsistentes Erklärungsmodell einzubinden. Da manche der für Europa ausführlich untersuchten Probleme der Familienverfassung für außereuropäische Kulturen noch nicht ausreichend erforscht sind - etwa die Frage der „life-cycle-servants" oder des Ausgedinges - , können die Aussagen über europäische Spezifika in mancher Hinsicht vorläufig nur provisorisch Geltung beanspruchen. Als Hypothesen formuliert, sind sie aber wohl geeignet, auf weiterzuverfolgende Forschungsprobleme hinzuweisen. Daß es sich bei diesen Themen um typisch anthropologische handelt, liegt auf der Hand. Die Grundthese des Beitrags, das Christentum habe im Veigleich zu anderen Religionen die Familienformen relativ wenig beeinflußt und dadurch ein stärkeres Einwirken ökonomischer Faktoren ermöglicht, benennt einleitend die beiden Leitmotive Religion und Arbeitsorganisation, die in ihrer Bedeutung für Familienstrukturen in den übrigen Beiträgen des Bandes immer wieder aufgegriffen werden. Der Aufsatz „Christentum und Endogamie" wurde für die Veröffentlichung in „Continuity and Change" verfaßt und ist aus der Auseinandersetzung mit Jack Goodys „Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa" (englisch 1983, deutsch 1986) entstanden. 17
Vor allem durch den Neudruck als Taschenbuch hat dieser Band sehr große Breitenwirkung erlangt Jedenfalls im Bereich der Familienforschung ist Goody der erste Anthropologe, der in vollem Umfang Fragestellungen seines Faches auf die europäische Geschichte überträgt - und das in einer weiten Perspektive bis zurück in die Spätantike. Er hat damit den wohl bedeutendsten Versuch einer Historisierung von Anthropologie voigelegt Eine Anthropologisierung der Geschichte auf dem Gebiet der Familienforschung könnte eine Auswirkung dieses Impulses sein. Dazu ist es freilich auch notwendig, Goodys Erklärungsmodelle einer kritischen Analyse zu unterziehen. Das gilt vor allem für seine Annahmen über entscheidende Faktoren des historischen Wandels. Der Faktor Religion kommt dabei wiederum maßgeblich ins Spiel, weil Goody den vermeintlichen Übergang zu exogamem Heiratsverhalten in Europa mit materiellen Interessen der römischen Kirche in Zusammenhang bringt Damit wird die grundsätzliche Frage thematisiert, ob religiöse Normen über Verwandtenheirat primär ökonomisch bedingt zu sehen sind - sowohl im Christentum als auch darüber hinaus. Komparative Ansätze über religiöse Bedingungen von Endogamie und Exogamie führen zu allgemeineren Zusammenhängen zwischen Religion und Familienstruktur, die in diesem Beitrag freilich nur angedeutet werden konnten und denen in weiterführenden Forschungen nachzugehen wäre. Aber auch die Untersuchung der engeren Problematik von Heiratsregeln erscheint als eine lohnende Aufgabe für zukünftige Untersuchungen. In Auseinandersetzung mit Jack Goodys Ansatz habe ich mich erstmals 1986 in einem Aufsatz „Verwandtenheiraten im östlichen Mittelmeerraum aus europäischer Sicht" mit diesem Fragenkomplex beschäftigt Anstoß dazu war freilich zunächst nicht Goodys Buch mit seinen Theorien über Veränderungen in der antiken Mittelmeerwelt, sondern lebensund familiengeschichtliche Aufzeichnungen ägyptischer Zuwanderer nach Wien in der Gegenwart - eine Art „Ethnologie in der Großstadt" also, zu der die Beschäftigung mit autobiographischem Material geführt hatte. Sowohl bei koptischen Christen als auch bei Mohammedanern zeigten sich in ihren Familien auffallende Traditionen der Endogamie, die zum Heiratsverhalten in der heutigen Umwelt stark kontrastieren. Dieser gewissermaßen aus der Feldforschung gewonnene Anstoß führte mich zu grundsätzlicher Beschäftigung mit der anthropologischen Thematik Endogamie. Auch eine Studie, die das Konzept des Inzesttabus aus historischer Sicht in Frage stellt, ist daraus hervorgegangen („Die Sitten der Magier", in: Sexualität, Kulturstudien Band 17). Diese Studien insgesamt, wie 18
vor allem der hier veröffentlichte Beitrag „Christentum und Endogamie", greifen zeitlich weit zurück und räumlich über Europa hinaus. Solche Vergleiche, die Familienverhältnisse der Antike und des Orients miteinbeziehen, erscheinen mir für eine anthropologisch orientierte historische Familienforschung eine besonders wesentliche Aufgabenstellung. Die beiden Beiträge „Komplexe Familienstrukturen in sozialhistorischer Sicht" und „Russische und mitteleuropäische Familienstrukturen im Vergleich" - letzterer in Zusammenarbeit mit Alexander Kagan verfaßt - entstanden 1981/82 kurz hintereinander und in enger inhaltlicher Verbindung. Während der eine, von den Forschungsergebnissen über den Strukturwandel der Familie in Österreich seit dem 17. Jahrhundert ausgehend, verschiedene Typen komplexer Formen auf Literaturbasis in einen europaweiten Vergleich einordnet, stellt der andere eine Fallstudie über komplexe Familienstrukturen in Osteuropa dar und versucht, deren Eigenart aus dem Kontrast zu mitteleuropäischen Verhältnissen zu erfassen. Beiden gemeinsam ist die Frage nach den Bedingungen jener von der historischen Demographie bzw. Familienforschung immer wieder festgestellten Grundmuster in West-, Mittel- und Nordeuropa einerseits, Ost- und Südosteuropa andererseits. Als wichtigster differenzierender Faktor zwischen dem „European" und dem „Non European Pattern" werden unterschiedliche Bindungen der Formen familialen Zusammenlebens durch Verwandtschaftssysteme vermutet. Auf der Basis ethnographischer und historischer Literatur wird darüber hinaus besprochen, inwieweit ökologisch-wirtschaftliche, erbrechtliche, grundherrschaftliche und militärische Gegebenheiten zur Entstehung von ,joint families" führen konntea Wahrend der Beitrag über komplexe Familienformen so stärker nach bewirkenden Faktoren fragt, stehen bei der Behandlung der russischen Familienstrukturen mehr innere Zusammenhänge im Vordergrund des Interesses - etwa zwischen Familiengröße, Komplexität, Generationentiefe, innerfamilialer Autoritätsstruktur, Formen der Familienergänzung durch Heirat und Wiederverehelichung, Höhe des Heiratsalters und Ausmaß der Altersabstände zwischen Eltern und Kindern bzw. Geschwistern. Der quantifizierende Zugang auf der Basis standardisierter Daten ermöglicht es hier, solchen spezifischen anthropologischen Fragestellungen nachzugehen. Der Aufsatz „Sozialgeschichte der Familie als landeskundlicher Forschungsgegenstand" stellt sich die Aufgabe, die Möglichkeiten mikrohistorischer Analysen für neue Ergebnisse historischer Familienforschung aufzuzeigen. Die meisten der exemplarisch vorge19
stellten Beispiele wurden aus der niederösterreichischen Pfarre Maria Langegg gewählt, jenem Ort, wo kurz vorher auch zweimal Feldforschungen mit Methoden der Oral Histoiy durchgeführt worden waren. Im Mittelpunkt der Studie stehen allerdings die Personenstandslisten, insbesondere der Typ der sogenannten „seriellen Seelenbeschreibungen", die es ermöglichen, die von Soziologen und Ethnologen entwickelten Ansätze der Familienzyklusforschung auf historisches Quellenmaterial zu übertragen. Was auf der Grundlage dieses Quellentyps im Rahmen historischer Familienforschung geleistet werden kann, habe ich kurz vor- bzw. nachher in zwei gemeinsam mit Reinhard Sieder verfaßten Aufsätzen zu zeigen versucht: "The Developmental Cycle of Domestic Groups. Problems of Reconstruction and Possibilities of Interpretation" (Journal of Family History 4, 1979) und "The Reconstruction of Family Life Course: Theoretical Problems and Empirical Results" (Richard Wall u.a. [Hg.], Family Forms in Historic Europe 1983). Die auf der Basis von „seriellen Seelenbeschreibungen" rekonstruierten Entwicklungszyklen von Familien bzw. Hausgemeinschaften stellen Grundlagenmaterial besonderer Art dar. Es handelt sich um vielfältige individuelle Familiengeschichten, jedoch in streng schematisierter Form. Sie erschließen so einen Zwischenbereich zwischen den „harten" Daten der statistischen Auswertung von Zensuslisten und den „weichen" der Lebensgeschichten - für eine anthropologisch interessierte historische Familienforschung sicher eine Zugangsweise von besonderer Relevanz. Die zusammenfassende Überblicksdarstellung „Ländliche Familienformen in ihrer Abhängigkeit von natürlicher Umwelt und lokaler Ökonomie" knüpft an eine umfangreiche Studie „Formen ländlicher Familienwirtschaft. Historische Ökotypen und familiale Arbeitsorganisation im österreichischen Raum" an, die ich in dem 1986 gemeinsam mit Josef Ehmer herausgegebenen Sammelband „Familie und Arbeitsorganisation in ländlichen Gesellschaften" veröffentlicht habe. Grundgedanke dieser Studie ist es, das von der skandinavischen Kulturanthropologie übernommene Konzept des „Ökotypus" in seiner Bedeutung für die historische Familienforschung zu präzisieren und auszubauen. Die Frage nach Bedingungen bestimmter Familienstrukturen im ländlichen Raum hatte von den ersten Untersuchungen in den frühen siebziger Jahren an immer wieder zu naturräumlichen Faktoren geführt, die, über die Arbeitsorganisation vermittelt, auf Familienformen eingewirkt haben. Das Ökotypus-Konzept ermöglicht es, diese Zusammenhänge klarer zu fassen, aber auch gegenüber anderen Bewirkungszusammenhängen 20
Abgrenzungen vorzunehmen. Die Beispiele der Studie sind aus dem österreichischen Raum gewählt, der kulturanthropologische Erklärungsansatz läßt sich jedoch sicher übertragen. Ich halte ihn für zukünftige Arbeiten auf dem Gebiet der historischen Familienforschung für besonders wichtig. Das zentrale Thema der Studie „Gesindeehen in ländlichen Gebieten Kärntens - ein Sonderfall historischer Familienbildung" wird in der Titelgebung einer gekürzten Fassung besonders deutlich, die 1981 im .Journal of Family History" erschien, nämlich „Marriage without Co-Residence". Koresidenz des Gattenpaares erscheint nach dem Allgemeinverständnis von Ehe und Familie als ein konstitutives Merkmal. Für die Ethnologie gilt sie als so essentiell, daß Ehetypen nach Residenzmustem kategorisiert werden - als patrilokal, als neolokal etc. Der in Kärnten begegnende Fall, daß verheiratete Knechte und Mägde getrennt auf verschiedenen Bauernhöfen lebten, verweist auf alternative Formen in Ausnahmesituationen. In der Untersuchung dieses lokalen Phänomens geht es nun nicht darum, einen exotischen Sonderfall besonders herauszustellen. Die außeigewöhnliche Abweichung soll vielmehr das Normale in seiner allzu schnell akzeptierten Selbstverständlichkeit zur Diskussion stellen. Der spezielle Fall historischer Familienbildung in Kärnten - zu dem sich übrigens anderwärts Parallelen finden - ist gut dazu geeignet, um vermeintliche anthropologische Konstanten zu relativieren. Für ein interdisziplinäres Gespräch zwischen Ethnologie, Soziologie und Geschichte über Wesensmerkmale von Ehe und Familie ergeben sich dabei verschiedentlich Anknüpfungspunkte. Wichtig sind in diesem Zusammenhang vor allem auch die Verbindungslinien, die von den Gesindeehen zu Familienformen von unehelich Geborenen führen. Mir persönlich hat die Beschäftigung mit den Gesindeehen den Zugang zum Problemkreis Illegitimität eröffnet. In jenen Gebieten Kärntens, in denen sich verheiratete, aber getrennt lebende bäuerliche Dienstboten finden, begegnen auch extrem hohe Illegitimitätsquoten, die nirgendwo anders in Europa auch nur annähernd erreicht werden. Eine Erklärung für diesen in der Literatur bisher überhaupt nicht wahrgenommenen Sachverhalt zu finden, bedeutete eine reizvolle wissenschaftliche Herausforderung. Die Frage nach den ökonomischen, arbeitsoiganisatorischen, besitzrechtlichen und mentalitätsgeschichtlichen Gründen dieser regionalen Spitzenwerte hat mich in überregionale Vergleiche geführt, die mir - über die Illegitimitätsforschung vermittelt - interessante Einblicke in verschiedene allgemeine historisch-anthropologische Zusammenhänge eröffne21
ten. Sie fanden in den beiden Bänden „Ledige Mütter. Zur Geschichte unehelicher Geburten in Europa" (1983) und „Sozialgeschichte der Jugend" (1986) ihren Niederschlag. Wie die Dlegitimitätsproblematik hat mich auch das GesindeThema weiterhin stark beschäftigt Der Beitrag „Gesindeleben im Alpenraum" ist ein Beispiel dafür. Wie schon erwähnt, versucht er, die Auswertungsmöglichkeiten sehr unterschiedlicher Quellengattungen zu diesem Thema miteinander zu verbinden. Während in früheren Arbeiten die Situation von Knechten und Mägden primär auf der Basis von einzelnen bzw. seriellen Personenstandslisten behandelt wurde, kamen nun die lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen als Quelle hinzu. Die ersteren konnten Fragen beantworten, wie die nach dem Alter, in dem Kinder das Haus verließen, oder nach der Häufigkeit des Dienstplatzwechsels. Die letzteren ermöglichten darüber hinaus nun auch Aussagen darüber, warum Kinder aus dem Haus mußten, wer die Entscheidung über den Dienstplatz traf, wie sich Dienstboten in verschiedenen Familienkonstellationen fühlten etc. Beide Themenbereiche sind für die historische Familienforschung wichtig. Wenn es die Quellen ermöglichen, sollten sie in Zusammenschau behandelt werden. Auf Konstellationstypen reduziert, läuft historische Familienforschung Gefahr, „strukturgeschichtlich ein wenig kopflastig" zu werden, wie es Kocka für die „Historische Sozialwissenschaft" im allgemeinen kritisch angemerkt hat (in Süssmuth, Historische Anthropologie, S. 79), für die er sich von einer stärker kulturanthropologischen Orientierung eine Bereicherung erwartet. Der letzte in diesen Sammelband aufgenommene Beitrag basiert wie der erste auf einem zeitlich und räumlich weit ausholenden Vergleich. Thematisch verbindet ihn mit den übrigen die immer wieder aufgegriffene Frage nach der Bedeutung der Familie als Einheit der Arbeitsorganisation. Die „Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in vorindustriellen Gesellschaften", mit der sich diese Studie beschäftigt, meint nämlich grundsätzlich Arbeitsteilung im Rahmen familialer Ökonomie. So geht es neben dem Grundproblem der Zuordnung von Arbeitsaufgaben nach Geschlechtern auch um die Zuordnung nach Phasen des Lebens- und Familienzyklus. Zusammenhänge zwischen Produktion und Reproduktion in der Familie bilden die Grundlage für den Versuch, ein Erklärungsmodell für die Regelhaftigkeiten zu finden, die in den vielfältigen Mustern geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in vorindustriellen Gesellschaften begegnen. Die Studie stützt sich auf Literatur aus verschiedenen Disziplinen - aus der Ethnologie, aus der mittelalter22
liehen und neueren Geschichte, vor allem aus der Kultur- und Sozialanthropologie des europäischen Raums. Über eine Zusammenschau dieser sehr heterogenen Literatur hinaus versucht sie Erklärungsansätze zu geben, die in einigen Überlegungen wohl über den derzeitigen Stand der Literatur hinausgehen. Obwohl der Aufsatz am Beginn meiner Beschäftigung mit Fragen von Geschlechterrollen und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung gestanden ist, glaube ich, an den vorgelegten Interpretationen auch auf dem Hintergrund eines wesentlich erweiterten Informationsstands im Prinzip festhalten zu können. Die neun in diesem Band zusammengefaßten Aufsätze repräsentieren sehr unterschiedliche Fragestellungen und Zugangsweisen einer anthropologisch orientierten historischen Familienforschung. Die Frage nach den Bedingungen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in vorindustrieller Zeit oder nach den Ursachen des europäischen Sonderwegs der Familienentwicklung liegt auf einer anderen Ebene als die nach emotionalen Bindungen von Knechten und Mägden an ihre Dienstgeber oder nach Motiven des Dienstplatzwechsels. Für eine historische Anthropologie, die in der Erforschung von Systemen und Lebenswelten ihre Aufgabe sieht, sind sicher beide Typen von Fragestellungen legitim. Ihre Zugangsweise kann daher genauso der zeitlich und räumlich weit ausholende Vergleich sein wie die mikrohistorische Studie entlang einer Autobiographie oder im Rahmen einer Dorfgemeinschaft. Es ist sicher nicht zielführend, Versuche einer historisch-anthropologischen Neuorientierung in der Sozialgeschichte durch dogmatische Vorgaben in Gegenstand und Methode vorschnell festzulegen. Eine solche Neuorientierung erfolgt letztlich nicht nach wissenschaftstheoretischen Programmen, sondern nach gesellschaftlichen Interessen und Bedürfnissen. Die historische Familienforschung hat seit den sechziger Jahren international einen so starken Aufschwung erlebt, weil ihr Gegenstand entgegen allen Deutungen von Familie als einer anthropologischen Konstante in dieser Zeit so tiefgreifenden Prozessen des Wandels ausgesetzt war. Geht die Radikalität der Veränderungen in den Grundbefindlichkeiten der Menschen in gleichem Ausmaß weiter, so ist die Annahme berechtigt, daß das Interesse an historisch-anthropologischen Themen in der Geschichtswissenschaft anhalten wird. Für gesellschaftlich relevante Fragestellungen offen zu sein, bleibt dann weiterhin die entscheidende Orientierung. Wien, im Jänner 1990
Michael Mitterauer 23
Europäische Familienformen im interkulturellen Vergleich* Versucht man, der Darstellung von Familienverhältnissen in altorientalischen und außereuropäischen Kulturen, wie sie in diesem Heft geboten wird,1 charakteristische Züge der europäischen Familien gegenüberzustellen, so steht man vor großen Schwierigkeiten. Zu vielfältig erscheinen die Formen des familialen Zusammenlebens, die man in der Geschichte dieses Kulturraums vorfindet Nach sozialen Milieus, nach Regionen, nach Epochen ergeben sich starke Differenzierungen. Zum Unterschied von vielen außereuropäischen Kulturen sind wir über diese Differenzierungen durch die Quellen auch besser informiert. Von „der europäischen Familienstruktur" läßt sich daher schwer sprechen. Gegenüber dem facettenreichen Bild, das sich beim „Blick von innen" ergibt, hat der „Blick von außen" einen gewissen Vorteil: Er läßt uns sehen, was es in den europäischen Familienstrukturen alles nicht gibt Bei einer solchen Betrachtung aus dem Kontrast zu außereuropäischen Verhältnissen wird doch vieles an innereuropäischen Gemeinsamkeiten bewußt das sonst nicht so klar in Erscheinung tritt Auch die Möglichkeit zur Erklärung mancher europäischer Besonderheiten kann sich aus dem interkulturellen Vergleich ergeben. Die Gegenüberstellung von Familienstrukturen großer Kulturräume rückt vor allem einen konstitutiven Faktor in den Vordergrund, der bei einem innereuropäischen Vergleich in seiner Bedeutung weniger deutlich in Erscheinung tritt, nämlich die Religion. Betrachtet man etwa, welchen Einfluß der Ahnenkult im Hinduismus, in China oder in Japan auf die Zusammensetzung der Familie bzw. die Beziehungen der Familienmitglieder zueinander gehabt hat dann wird einem bewußt wie bedeutsam das Fehlen des Ahnenkults im Christentum für die Entwicklung der europäischen
' Aus: Beiträge zur historischen Sozialkunde 14 (1984), S. 152-158.
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Familienverhältnisse gewesen sein muß. Als europäischer Kulturraum sollen dementsprechend bei der folgenden Analyse jene historischen Gesellschaften verstanden werden, die unmittelbar oder vermittelt durch das Christentum geprägt erscheinen. Um die Veigleichbarkeit mit den in diesem Heft behandelten außereuropäischen Kulturen möglich zu machen, wird die bei deren Behandlung gewählte Gliederung auch in diesem Beitrag beibehalten.
Familie und Klan Der englische Sozialhistoriker Peter Laslett hat in seinem zusammenfassenden Aufsatz „Characteristics of the Western family considered over time" folgende vier Merkmale hervorgehoben: 1. Im „Westen" dominierte die auf Eltern und Kinder beschränkte Kernfamilie, die er zum Unterschied vom „multiple family household" (komplexe Familie) und vom „extended family household" (erweiterte Familie) als „simple family household" charakterisiert. 2. Im „Westen" heirateten vor allem die Frauen, aber auch die Männer im Durchschnitt relativ spät, wodurch sich ein großer Generationsabstand eigab. 3. Der Altersabstand der Ehegatten war im „Westen" relativ gering, was eine Tendenz zu mehr Partnerschaft bedingt In einem hohen Prozentsatz der Ehen war sogar die Frau älter als der Mann. 4. Zur Familie gehörte auch das nicht mit dem Ehepaar blutsverwandte Gesinde, das sich durchwegs aus jungen Personen zusammensetzte, für die der „Dienst in fremdem Haus" nur eine Übeigangsphase in ihrem Lebenszyklus darstellte. Laslett spricht in diesem Zusammenhang auch von „life-cycle-servants". Die von Laslett zusammengestellten Charakteristika der „Western family" stehen untereinander in Zusammenhang. Die geringe Häufigkeit von Mehlgenerationenfamilien hat etwa eine ihrer maßgeblichen Bedingungen in der Höhe des durchschnittlichen Heiratsalters; dieses wiederum korrespondiert mit der relativ langen Ledigenphase während des Gesindedienstes. Ländliche Mägde und Knechte sowie städtische Dienstboten waren ja grundsätzlich unverheiratet Die verschiedenen Merkmale fügen sich also zu einem Muster zusammen. In Hinblick auf ein besonderes charakteristisches Kennzeichen dieses Merkmalsyndroms spricht man in der sozialhistorischen Literatur auch vom „European marriage pattern", das in seiner Verbreitung der der „Western family" entspricht Die historische Demographie hat festgestellt, daß bis weit zurück 26
westlich einer Linie, die in etwa von Leningrad nach Triest verläuft, das charakteristische Heiratsalter der Männer, vor allem aber der Frauen, ziemlich hoch lag, nämlich Ende bzw. Mitte der Zwanzig. Östlich dieser Übergangsphase heirateten beide Geschlechter bedeutend früher. Das durchschnittliche Heiratsalter entsprach hier viel eher außereuropäischen Verhältnissen. Das hohe Heiratsalter des sogenannten „European marriage pattern" stellt nämlich im interkulturellen Vergleich eine Ausnahmeerscheinung dar. Es ist eine Besonderheit der europäischen Gesellschaftsentwicklung bzw. jener Kulturen, die im Verlauf der Neuzeit von West- und Mitteleuropa her geprägt wurden. Die mit ihm korrespondierende Familienform wird dementsprechend zu Recht als „Western" bezeichnet Wie weit dieses „European marriage pattern" in der europäischen Geschichte zurückreicht, wird in der Forschung noch diskutiert. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, daß es schon im Fränkischen Reich verbreitet war. Die Ausstrahlung in den Osten des Kontinents entspricht ungefähr jenem Bereich, in dem durch die mittelalterliche Ostkolonisation Strukturen der „westlichen" Agrarund Stadtverfassung hineingetragen wurden. Auch Elemente der Familienverfassung, die mit dem „European marriage pattern" korrespondieren, lassen sich schon bis ins Frühmittelalter zurückverfolgen. Karolingische Güterverzeichnisse und Schenkungsurkunden zeigen, daß die bäuerlichen Familien dominant Kernfamilien waren. Ein Zusammenleben mit einem oder beiden Großelternteilen begegnet damals äußerst selten. Noch mehr als in der Landbevölkerung dürften in den mittelalterlichen Städten die Zweigenerationenfamilien die bestimmende Familienform gewesen seia Hier war bereits damals das Prinzip der Neolokalität - also die Gründung eines eigenen Haushalts bei der Heirat - der Regelfall. Auch der Gesindedienst war in West-, Mittel- und Nordeuropa schon im Mittelalter ziemlich verbreitet In seiner Ausprägungsform als eine altersspezifische Durchgangsphase wird er nach dem derzeitigen Forschungsstand als eine Besonderheit der europäischen Gesellschaftsentwicklung angesehen. Komplexe Großfamilienformen, wie sie in Indien oder in den ostasiatischen Kulturen anzutreffen sind, finden sich im Verbreitungsgebiet des „European marriage pattern" relativ selten. Das gilt sowohl für den Typus der „joint family", in der Eltern mit verheirateten Söhnen bzw. mehrere verheiratete Brüder oder sonst agnatisch Verwandte zusammenleben (sie wird im Deutschen mitunter mit dem wenig glücklichen Begriff „Verbandsfamilie" charakterisiert), als auch für die aus Eltern, einem verheirateten Sohn und den 27
Enkelkindern zusammengesetzte „Stammfamilie", wie sie außerhalb Europas besonders prägnant in Japan vertreten ist („Ie"). Wo immer solche Formen in Mittel- und Westeuropa auftreten, lassen sie sich durch ökonomische, erbrechtliche oder militärische Besonderheiten erklären (etwa in manchen Gebieten Südfrankreichs, unter italienischen Landpächtern oder im Raum der österreichischen Militäigrenze). Die einzige in Mittel- und Westeuropa stärker verbreitete Form der komplexen Mehlgenerationenfamilie, nämlich die bäuerliche Ausgedingefamilie, hat wiederum außerhalb Europas kein Gegenstück. Diese Ausgedingefamilie unterscheidet sich von der Stammfamilie zwar nicht in der personalen Zusammensetzung, sehr stark aber in der Autoritätsstruktur. Hausherr ist hier nämlich nicht der alte Vater, sondern der Sohn, der den Hof von ihm übernommen hat. Eine solche Aufgabe der Familienautorität im Alter ist eine im interkulturellen Vergleich einmalige Erscheinung. Die Leitung der Familienangelegenheiten durch den jeweils ältesten Mann (Senioratsprinzip) ist sonst gerade für komplexe Großfamilienformen charakteristisch. Die außerhalb Europas in vielen Kulturen dominanten komplexen Familienformen finden sich in Europa als vorherrschender Familientypus in historischer Zeit bloß in Rußland, in einigen anderen Gebieten Osteuropas sowie im Balkanraum. Die südslawische „Zadruga" ist hier zu nennen, die freilich keine ethnische Besonderheit slawischer Völker darstellt, sondern ihre strukturelle Entsprechung auch bei Albanern, Rumänen oder Magyaren hat. Alle diese Formen komplexer Familien in Ost- und Südosteuropa sind streng patrilinear aufgebaut, d.h. es leben nur im Mannesstamm miteinander verwandte Männer mit ihren Frauen und Kindern zusammen, also Vater und Söhne, Brüder, Onkel und Neffen über Brüder, in männlicher Linie verwandte Vettern, niemals aber Schwäger, Schwiegerväter und Schwiegersöhne oder sonst in weiblicher Linie Verwandte. Zur Aufnahme solcher Personen in den Familienverband bedarf es einer besonderen Adoption oder einer anderen Form, durch die künstliche Verwandtschaft hergestellt wird. Das Verwandtschaftssystem dieser Gesellschaften ist einseitig an der Vaterslinie orientiert Im Verbreitungsgebiet des „European marriage pattern" hingegen gelten auch für die Familienzusammensetzung grundsätzlich bilaterale Verwandtschaftssysteme, in denen der weiblichen Linie mehr Bedeutung zukommt Der Zusammenhalt der in der Vaterslinie miteinander verwandten Männer über die engere Haushaltsgemeinschaft hinaus geht in manchen Gebieten Südosteuropas so weit, daß von einer Klanver28
fassung gesprochen werden kann. Etwa in Albanien und Montenegro hat es bis weit in das 19. und 20. Jahrhundert herauf solche Sozialstrukturen gegeben. Das Bewußtsein der Abstammung vom selben Ahnherren bestimmte hier Besitzrechte, Heiratsregeln oder Blutrachepflichten. In älterer Zeit finden sich Elemente einer Klanverfassung auch in anderen Regionen Europas, etwa in Schottland, von wo die Bezeichnung „Klan" stammt Es handelt sich bei diesen Regionen jedoch stets um Rückzugsgebiete mit sehr archaischen Sozialstrukturen. In den stärker entwickelten Gebieten fehlen in Europa bis weit ins Mittelalter zurück alle Elemente der Klanverfassung. Eine Ausnahme stellt diesbezüglich mitunter der Adel dar, bei dem das Abstammungsbewußtsein immer eine viel stärkere Rolle gespielt hat als bei der breiten Masse der Stadt- und Landbevölkerung. Komplexe Großfamilienformen, patrilineares Verwandtschaftssystem bzw. Klanverfassung sind in außereuropäischen Kulturen häufig mit religiösen Systemen verbunden, in denen die Verehrung der Ahnen eine große Rolle spielt Für die Entwicklung der europäischen Familienverfassung dürfte es von großer Bedeutung gewesen sein, daß die diesen Großraum prägende Religion den Ahnenkult nicht kennt Überall wo in Europa in frühen Entwicklungsphasen Ahnenverehrung bestand, wurde sie durch die Christianisierung zurückgedrängt. Dies läßt sich beispielsweise in Skandinavien im Hochmittelalter deutlich beobachten. Eine seltene Ausnahme stellt es dar, wenn Reste eines älteren Ahnenkults als Relikte in christlicher Einkleidung weiterlebten. Besonders bemerkenswert erscheint der Brauch des sogenannten „Slava-Festes", das im südslawischen Raum in einigen Gebieten begangen wird, in denen auch die Großfamilienform der Zadruga verbreitet ist Jede Familie feiert dort einen bestimmten Heiligen als ihren besonderen Schutzpatron, der offenbar an die Stelle eines früher verehrten Ahnherren getreten ist Der Bezug zu den Ahnen kommt im Entzünden der sogenannten „Slava-Kerze" zum Ausdruck, die deren Gedächtnis geweiht ist, ebenso im Verlesen der „Citula", dem Verzeichnis der verstorbenen Vorfahren im Mannesstamm. Auch sonst zeigen sich viele Zusammenhänge zum patrilinearen Ahnenbewußtsein: Der Kult der Hausheiligen vererbt sich in männlicher Linie; Adoptivsöhne übernehmen ihn von ihrem Adoptivvater; Verehrer desselben Hausheiligen fühlen sich untereinander verwandt; dies kann so weit gehen, daß ihnen in Hinblick auf das Exogamiegebot kein Konnubium gestattet ist; in Gebieten mit Klanverfassung hat ein ganzer Klan einen gemeinsamen Hauspatron etc. Ein solches Bewahren von Reliktfor29
men des Ahnenkults in christlicher Einkleidung ist freilich in Europa ein seltener Ausnahmefall. Überdenkt man die Auswirkung der Ahnenverehrung auf die Familienverfassung, so wird klar, daß viele Besonderheiten der Familienentwicklung in Europa nur dadurch möglich wurden, daß hier diese Kultform - soweit sie überhaupt vorhanden war - schon früh durch das Christentum zurückgedrängt wurde. Hinsichtlich des Fortpflanzungsverhaltens hat Ahnenkult in der Regel Frühheirat zur Folge. Ist das Schicksal nach dem Tode von den Totenopfem der männlichen Nachkommen abhängig, so gilt es, möglichst frühzeitig mit der Fortpflanzung zu beginnen. Die Heirat folgt deshalb unter solchen Bedingungen in geringem Abstand auf die Geschlechtsreife. Wegen der hohen Kindersterblichkeit besteht Interesse an möglichst zahlreichen Nachkommen, damit zumindest ein Sohn überlebt. Die fruchtbare Periode der Frau muß dementsprechend voll ausgenützt werden. Das hohe durchschnittliche Heiratsalter der Frauen im Verbreitungsgebiet des „European marriage pattern" wäre auf einem solchen religiösen Hinteigrund undenkbar. Auch die in der alteuropäischen Gesellschaft üblichen Residenzregeln erscheinen mit Ordnungsformen, wie sie durch den Ahnenkult gegeben sind, unvereinbar, denn diese haben patrilokale Ansiedlung des jungen Paares zur Folge, was die Entstehung von Mehigenerationenfamilien begünstigt. Im Verbreitungsgebiet des „European marriage pattern" war hingegen weithin neolokale Hausstandsgründung üblich. Soweit sie patrilokal erfolgte, mußte zumeist vor der Heirat des jungen Paares das Haus übergeben werden. In Gesellschaften mit Ahnenverehrung hingegen hat der Hausherr seine Stellung lebenslänglich inne. Die Nähe zu den Ahnen verstärkt gerade die Altersautorität Für Bauern- und Handwerkerfamilien in Europa war es weiters vielfach üblich, daß das Haus durch Wiederverehelichung der Witwe weitelgegeben wurde - eine Form der Uxorilokalität, die in Gesellschaften mit patrilinearem Ahnenkult undenkbar wäre, da dadurch die Kontinuität im Mannesstamm unterbrochen wird Auch die für die alteuropäische Familienverfassung so typische Form des Gesindedienstes scheint nur dort realisierbar, wo die Söhne nicht durch die Totenopfer für die Vorfahren an das Vaterhaus gebunden sind Andererseits fehlen im Familiensystem der europäischen Vergangenheit Elemente, die für Kulturen mit Ahnenopfer typisch sind Besonders genannt seien in diesem Zusammenhang Adoption und Levirat. Die Adoption von Söhnen war beispielsweise in Japan eine häufige Form, die Familienkontinuität fortzusetzen. In Europa gab es diese rituell hergestellte 30
künstliche Verwandtschaft primär in den durch Großfamilienformen charakterisierten Regionen Ost- und Südosteuropas einerseits, in den durch besonderes Geblütsdenken ausgezeichneten adeligen Oberschichten andererseits. In der Stadt- und Landbevölkerung Mittel- und Westeuropas hingegen nahm man ganz formlos Ziehkinder auf - eine Art der Annahme an Kindes Statt, die nur mit Versorgung, nicht aber mit Familienkontinuität zu tun hat Der Levirat als die kultische Verpflichtung, dem söhnelos verstorbenen Bruder durch Heirat der Witwe Nachkommen zu zeugen, fehlt in Europa fast völlig. Ansätze dazu gab es bloß vereinzelt in Rückzugsgebieten des Kaipaten- bzw. Balkanraums mit ausgeprägtem Geblütsdenken.
Ökonomische Voraussetzungen Zum Unterschied von verschiedenen außereuropäischen Kulturen, in denen die Familienverfassung stark durch religiöse Verpflichtungen bzw. andere kulturelle Normen determiniert war, gab es in der alteuropäischen Gesellschaft ein relativ geringes Maß an Bindung der Familienverhältnisse durch religiöse Ordnungen. Das Christentum ließ einen breiten Spielraum für unterschiedliche Formen des familialen Zusammenlebens. Umso stärker haben daher in diesem Raum ökonomische Bedingungen zu einer Differenzierung der Familienstrukturen geführt, insbesondere in jenen sozialen Milieus, in denen die Familie auch Einheit der Produktion war. In der Familienwirtschaft bestimmten weitgehend die Bedürfnisse der Arbeitsorganisation die Zusammensetzung der Familie und die Beziehungen von deren Mitgliedern. Die bäuerliche Familie unterschied sich diesbezüglich grundsätzlich von der des Handwerkers oder der des Kaufmanns. Unter den bäuerlichen Hausgemeinschaften wiederum ergaben sich Differenzierungen, je nachdem ob die Viehzucht, der Getreide- oder der Weinbau im Vordergrund stand Dieser für die europäische Familienverfassung typische Grundzug der starken Prägung durch Erfordernisse der Arbeitsorganisation kommt besonders deutlich in der Institution des Gesindediensts zum Ausdruck. Je nach Arbeitskräftebedarf wird die Familie durch die Aufnahme nicht verwandter Hilfskräfte ergänzt, die auf Zeit dem Familienverband angehören. Die verschiedenen Arbeitsmilieus haben dabei eine Vielfalt differenzierter und in sich gestaffelter Formen des Gesindediensts hervorgebracht. Auf dem Bauemhof 31
kann die Gesindehierarchie vom „Hüterbuben" bis zum „Maierknecht", vom „Kindsmensch" bis zur „Großdirn" reichen; im Gewerbe gibt es durchwegs die Stufung von Lehrling und Geselle. Auch das Hauspersonal im engeren Sinne, das nicht zur produktiven Arbeit herangezogen wird, zeigt vielfältige Differenzierungen. Alle diese Formen des Gesindediensts sind in der alteuropäischen Gesellschaft prinzipiell in die Familie integriert Der „Dienst in fremdem Haus" läßt sich, wie schon betont wurde, bis in die grundherrschaftliche Verfassung des Fränkischen Reiches zurückverfolgen. Er könnte im ländlichen Raum seine Wurzel in einem von den Grundherren organisierten Arbeitskräfteaustausch zwischen den Meierhöfen und den Bauernhöfen bzw. unter den letzteren haben. Jedenfalls liegt ökonomische Rationalität zugrunde. Für die Lebensgestaltung junger Menschen im Familienverband war die Einrichtung des Gesindediensts in der alteuropäischen Gesellschaft von entscheidender Bedeutung. Aber auch die Stellung der Alten in der Familie scheint im bäuerlichen Bereich stark von der Grundherrschaft beeinflußt gewesen zu sein. Die Institution des bäuerlichen Ausgedinges wurzelt sehr wahrscheinlich darin, daß der Grundherr im Interesse der von den Untertanen zu erbringenden Leistungen die Ablöse eines körperlich nicht mehr voll einsatzfähigen Bauern durch seinen Sohn verfügte. Diese Einrichtung bedeutet einen eklatanten Bruch mit der in traditionalen Gesellschaften meist kulturell stark abgesicherten Altersautorität. Schließlich haben die Grundherren in der europäischen Feudalverfassung auch über Heiratsregelungen in die Familienstruktur eingegriffen. So entspricht die bis ins 18. und frühe 19. Jahrhundert sehr häufig anzutreffende Wiederverehelichung verwitweter Bäuerinnen mit jüngeren Männern primär grundherrlichen Interessen. Die Belastung der Bauerngüter durch Ausgedingeleistungen wurde dadurch vermindert, die Abgaben, die beim Besitzwechsel zu zahlen waren, gleichzeitig erhöht. Auch im Handwerkermilieu gab es häufig Heiraten älterer Witwen mit jungen Partnern. Hier standen Versorgungsinteressen im Vordergrund. Die altersungleichen Ehen sind jedenfalls ein europäisches Spezifikum und primär ökonomisch zu erklären. Ökonomische Bedingungen spielen auch für das charakteristische europäische Heiratsalter eine Rolle. Zumindest jene Bevölkerungsgruppen, die sich bei der Hausstandsgründung nicht auf die Übernahme einer ererbten Familienwirtschaft stützen konnten, mußten bei der Heirat entsprechend viel Geld zusammengespart haben, um sich neolokal ansiedeln zu können. Meist wurde das 32
erforderliche Geld von Frauen und Männern in den Jahren des Gesindediensts erworben. Gesindedienst und Neolokalität hängen insofern ursächlich zusammen. Gerade in den städtischen und ländlichen Unterschichten kam es dadurch zu relativ späten Heiraten. Die ökonomischen Bedingungen für späte Heiraten konnten freilich nur dadurch wirksam werden, daß kein kultureller Zwang zu früher Eheschließung bestand
Partnerwahl und Hochzeit, Bigamie und Polygamie Das im interkulturellen Vergleich relativ hohe Durchschnittsalter von Frauen und Männern bei der Heirat in der alteuropäischen Gesellschaft hatte zur Folge, daß die Phase der Partnersuche hier ziemlich lange dauerte. In Kulturen, in denen die Hochzeit in kurzem Abstand auf die Geschlechtsreife folgte, gibt es keine ausgeprägte Jugendphase. In Europa ist diese sehr stark entwickelt Die Suche nach einem Partner ist ein bestimmendes Moment des alteuropäischen Jugendlebens. Geselligkeitsformen, Brauchtum, Tanz, die Formen der Jugendkultur insgesamt, werden dadurch beeinflußt Den Jugendlichen kommt dabei ein höheres Maß an Selbstbestimmung zu. Sicher ist die Partnerwahl auch in der alteuropäischen Gesellschaft stark von familiären Interessen und Rücksichten mitbestimmt Man sollte jedoch nicht übersehen, daß bei einem hohen Prozentsatz von Eheschließungen die Eltern der Braut bzw. des Bräutigams gar nicht mehr am Leben waren. Zudem hatte der Gesindedienst viele Jugendliche weit von ihrem Elternhaus weggeführt Gerade in den Unterschichten, in denen das Heiratsalter besonders hoch lag, muß mit einem relativ hohen Maß an Selbstbestimmung bei der Wahl des Ehepartners gerechnet werden. Die lange Zeitspanne zwischen Geschlechtsreife und Heirat in der alteuropäischen Gesellschaft bedeutete, daß das Risiko unehelicher Geburten hier besonders hoch war. Die besondere Rigidität der in Europa entstandenen Sexualnormen ist auf dem Hinteigrund dieses Risikos zu sehen. Uneheliche Geburten stellten freilich nicht in allen sozialen Milieus die gleiche Belastung dar. Dementsprechend unterschiedlich war die Diskriminierung von Illegitimität. In Gegenden mit gesindereichen Bauernhöfen konnten etwa uneheliche Kinder leichter großgezogen werden. Es bestand hier oft sogar ein Interesse an billigen Arbeitskräften. Die Geburt unehelicher
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Kinder wurde dementsprechend weniger scharf sanktioniert Sehr streng diskriminiert waren hingegen uneheliche Geburten in Milieus mit großen Versorgungsschwierigkeiten und geringerem Arbeitskräftebedarf, so beispielsweise im städtischen Handwerk. Unterschiede in der Sanktionierung von Illegitimität ergeben sich in der europäischen Geschichte freilich keineswegs nur nach solchen ökonomischen Voraussetzungen. Unabhängig vom sozialen Milieu erscheint die Vnginität der Tochter vor allem im Mittelmeerraum als ein zentraler Bestandteil der Familienehre. Besonders scharfe Sanktionen gegen voreheliche Sexualverbindungen finden sich in einzelnen Gebieten der Balkanhalbinsel, gerade dort, wo Prinzipien der patrilinearen Klanverfassung stark ausgebildet sind. E n Zusammenhang mit Geblütsdenken und männerrechtlicher Ordnung des Familiensystems scheint hier gegeben zu sein. Bei aller Differenzierung der regionalen Normen gegenüber Illegitimität läßt sich jedoch sagen, daß die zentralen Normen der christlichen Kirchen in ganz Europa grundsätzlich Enthaltsamkeit bis zur Eheschließung verlangten - Gebote, die in Hinblick auf das hohe Heiratsalter in der alteuropäischen Gesellschaft weit schwieriger zu realisieren waren als in vielen außereuropäischen Kulturen, in denen ebenso das Prinzip der Viiginität religiös verankert erscheint In allen Kirchen Europas einheitlich geregelt war auch das Prinzip der Einehe. Polygame Familienformen fehlen daher grundsätzlich in diesem Kulturraum. Faktische Durchbrechungen des Monogamieprinzips gab es vereinzelt in Fürstenhäusern. Bei christlichen Merowingerkönigen finden wir Haupt- und Nebenfrauen, und auch Karl der Große lebte noch de facto polygam. Gesellschaftlich anerkannte Nebenfrauen waren wohl auch die Mätressen an den Adels- und Fürstenhöfen der Barockzeit Eine kirchliche Anerkennung haben aber solche Verhältnisse nie gefunden. Von der Polygamie im landläufigen Verständnis des Wortgebrauchs zu unterscheiden ist die sogenannte „sukzessive Polygamie", nämlich die Wiederverehelichung nach dem Tod des Partners bzw. nach der Scheidung von diesem. Wird die Ehe als eine über den Tod hinausgehende Bindung aufgefaßt, so erscheint die Zweitheirat von Witwen und Witwern problematisch. Im Hinduismus etwa ist zumindest in den höheren Kasten - eine Wiederverehelichung der Witwe nicht gestattet Im christlichen Europa bestanden hingegen bei Zweitheiraten von Verwitweten - sieht man von einigen Gegenstimmen der Frühzeit ab - nie religiöse Bedenken. Diese Form der „sukzessiven Polygamie" war in vielen Gebieten Europas sehr verbreitet, durchaus auch bei Frauen. Sie kam vor allem dort vor, 34
wo eheliche Gütergemeinschaft bestand bzw. wo die Frau ein Aufgriffsrecht gegenüber dem vom Gatten hinterlassenen Gut besaß. Das Zusammenleben von Geschwistern aus verschiedenen Ehen des Vaters oder auch der Mutter war daher in der alteuropäischen Gesellschaft keineswegs eine Seltenheit. Durch mehrfache Verwitwung und Wiederverehelichung des jeweils überlebenden Partners konnten sogar Familienkonstellationen entstehen, in denen die „Kinder" mit keinem Elternteil mehr blutsverwandt waren. Die häufige Wiederverehelichung der Witwen erscheint freilich auf das Verbreitungsgebiet der Kernfamilie beschränkt. In den komplexen Familienformen Ost- und Südosteuropas war hingegen die Situation schwieriger. Wollte die Witwe nach dem Tod des Mannes neuerlich heiraten, so mußte sie in der Regel die Kinder aus dieser Ehe in der Familie des ersten Mannes zurücklassen. Es ist dies eine spezifische Problematik der patrilinearen Großfamilie, die man in manchen Gebieten durch die Leviratsehe zu lösen versuchte.
Behausung Das Haus als räumliches Substrat der Familiengemeinschaft spielt in der Sozialgeschichte der europäischen Familie eine außerordentlich wichtige Rolle. Dies kommt schon darin zum Ausdruck, daß in der Entwicklung der Familienterminologie Ableitungen von der Baulichkeit auf die darin lebende Personengruppe häufig begegnen. Das gilt auch für das deutsche Wort „Haus" selbst, das ursprünglich für „Familie" gebraucht wurde. Die nichtverwandten „Familienmitglieder", die wir aus dem heutigen Wortverständnis als „familienfremd" empfinden, waren dabei miteingeschlossen. Die Bezeichnung „Haus" umfaßte auch das Gesinde sowie sonstige Mitbewohner. Für das Familienverständnis der europäischen Tradition war es durch lange Zeit wichtig, daß auch nichtverwandte Gruppenmitglieder der Hausgemeinschaft mit einbezogen waren. Das stark am Haus orientierte Gruppenbewußtsein kommt auch in der Entstehung der Familiennamen sehr anschaulich zum Ausdruck. In Mittel- und Westeuropa sind viele Familiennamen von Hofnamen abgeleitet, insbesondere in Einzelhofgebieten. Im Selbst- und Fremdverständnis der Gruppe steht hier der lokale Bezugspunkt im Vordergrund. Das kann so weit gehen, daß bei Hofwechsel auch der Familienname gewechselt wird Umgangssprachlich hat sich dieser Brauch auch noch in Zeiten feststehender 35
Familiennamen gehalten. Selbst Dienstboten wurden oft nach dem Hof, auf dem sie jeweils dienten, bezeichnet und nicht nach ihrer Herkunftsfamilie. Diesem stark an der Örtlichkeit der Behausung orientierten Familienverständnis steht ein stärker an der genealogischen Abstammung ausgerichtetes in anderen Regionen gegenüber. Besonders ausgeprägt begegnet es etwa im südslawischen Raum. Die Familiennamen sind hier meist patronymisch nach einem Ahnherrn gebildet (ζ. B. Andric - die Nachkommen des Andreas). Unterschiede, die auch in den Familienformen zum Ausdruck kommen, werden hier in spezifischen Typen der individuellen Familienbezeichnungen faßbar. Zusammenhänge zwischen bestimmten Familienstrukturen und einer korrespondierenden räumlichen Gliederung der Behausung begegnen in der europäischen Sozialgeschichte immer wieder, lassen sich aber schwer zu allgemeinen Regeln zusammenfassen. So entspricht der bäuerlichen Ausgedingefamilie keineswegs regelmäßig das neben dem Einzelhof stehende Altenteilerhäuschen. Auch die Altenteilerstube mit eigenem Herd ist nicht selbstverständlich. Die Auszügler lebten oft mit der Bauernfamilie im selben Raum. Auch komplexe Familienstrukturen vom „joint family"-Typus finden durchaus nicht immer in der Raumaufteilung ihre Entsprechung. Es kommen die unterschiedlichsten Formen der räumlichen Gliederung vor, vom gemeinsamen Schlafen aller Paare in einem Raum über abgetrennte Räume oder Hütten für jedes Paar bis hin zu völlig getrennten Wohnungen, bei denen nur die Wirtschaftsräume gemeinsam sind Bei der in der alteuropäischen Gesellschaft vorherrschenden Kernfamilienstruktur war insgesamt eine Differenzierung der Räumlichkeiten keine vordringliche Forderung. Voneinander abgesondert wurden vielfach die Schlafstätten des Ehepaars einerseits, die der herangewachsenen Kinder und der Dienstboten andererseits. Bei letzteren kam es oft zu einer Trennung nach Geschlechtern. So gab es auf großen Bauernhöfen gesonderte „Burschen-" und „Menscherkammern". Die räumliche Abgrenzung der Dienstboten ist eine relativ späte Entwicklung, die in den adeligen und bürgerlichen Oberschichten einsetzt. Sie entspricht dem Prozeß der sozialen Desintegration des Gesindes aus der Familie. Die Ausbildung von Individualräumen für einzelne Familienmitglieder gehört erst der jüngsten Vergangenheit an. Eine Absonderung eigener Frauenräume, wie sie sich im Orient bis weit zurück verfolgen läßt, ist in Europa im wesentlichen unbekannt Bloß in Rußland finden sich zeitweise Ansätze dazu. Eine solche räumliche Absonderung hat stets mit Vorstellungen
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über einen angemessenen Umgang der Geschlechter zu tun. Selbst im europäischen Mittelmeerraum, wo die Abschirmung des weiblichen Geschlechts am stärksten ausgeprägt erscheint, führten die diesbezüglichen Wertmuster der Ehrbarkeit zu keiner räumlichen Unteigliederung des Hauses.
Rolle von Frau und Mann Obwohl sicher auch in der europäischen Gesellschaftsentwicklung die Religion die jeweiligen Rollen der Geschlechter beeinflußt hat, so läßt sich doch im interkulturellen Vergleich sagen, daß das Christentum für die innerfamiliale Stellung von Frau und Mann von relativ geringer Bedeutung war. Selbst in der altägyptischen Kultur, in der die Geschlechterrollen sehr ausgeglichen waren, konnten nur männliche Familienmitglieder die Totenopfer für die verstorbenen Eltern darbringen. In Indien, China und Japan erscheint der Vorrang der Männer in Hinblick auf ihre ausschließliche Kultfähigkeit beim Ahnenopfer noch stärker ausgeprägt Im Christentum hingegen fehlt jeder Ansatz zu einem solchen Unterschied Auch im Vergleich zum europäischen Judentum zeigt sich, daß die religiösen Bedingungen der Geschlechterrollen sowie der innerfamilialen Stellung von Frau und Mann eine relativ geringe Rolle spielten. Im Judentum hat die auf die Männer beschränkte Verpflichtung zum Studium der heiligen Schriften die Unterschiede der Rollenbilder sehr stark beeinflußt, von der unterschiedlichen Ausbildung von Knaben und Mädchen über die innerfamiliale Arbeitsteilung bis hin zu den Idealvorstellungen des äußeren Erscheinungsbildes. Im Judentum war auch der häusliche Kult viel stärker ausgeprägt, wodurch sich eine sakrale Fundierung der patriarchalischen Stellung des Hausvaters ergab. Im Christentum als einer ausgeprägten Gemeindereligion fehlen solche Ansätze. Man kann wohl auch sagen, daß seitens der Kirche viele Jahrhunderte hindurch kaum ein Versuch gemacht wurde, auf die innerfamiliale Ordnung Einfluß zu nehmen. Die Standespredigten des Mittelalters wären in diesem Zusammenhang zu nennen. Die Hausväterliteratur der frühen Neuzeit ist zwar stark religiös beeinflußt, aber sicher nicht als kirchliches Schrifttum zu bewerten. Die geringe Bindung der innerfamilialen Rolle von Frau und Mann durch religiöse Institutionen und Normen in der europäischen Tradition ist sicher eine Voraussetzung dafür, daß es diesbezüglich 37
nach sozialen Schichten und Arbeitsmilieus zu ganz unterschiedlichen Ausformungen kommen konnte. So war es durchaus möglich, daß in derselben Stadt in der adeligen Oberschicht eine starke Abhängigkeit bzw. rechtliche Schlechterstellung der Frau herrschte, während unter den Handwerkern eine egalitär-partnerschaftliche Ordnung galt, wie das etwa für das spätmittelalterliche Genua nachgewiesen werden konnte. Auch regional bildeten sich sehr unterschiedliche Muster der Rollenverteilung aus. Eine Sonderstellung nimmt innerhalb des europäischen Kulturraums der Osten und Südosten ein. Im Verbreitungsgebiet der patrilinearen „joint families" findet sich auch im innerfamilialen Bereich meist eine ausgeprägt männerrechtliche Ordnung. Eine für die Stellung der Frau in der Familie sehr entscheidende Frage ist, inwieweit in einer Gesellschaft die Möglichkeit besteht, daß die Frau im Falle der Verwitwung an die Spitze der Familie tritt. In strikt patrilinear geordneten Kulturen wie etwa der japanischen ist dies nicht möglich. Hier erscheint die Frau stets in abhängiger Position, zunächst vom Vater, dann vom Gatten, schließlich vom Sohn. In weiten Gebieten des traditionellen Europa ist dies anders. Die Frau kann als Witwe durchaus zum Familienoberhaupt werden. Mitunter wird ihr dann auch zugestanden, die Hausgemeinschaft, an deren Spitze sie steht, in der jeweiligen politischen Öffentlichkeit zu vertreten.
Kinder Im interkulturellen Vergleich erscheint es bemerkenswert, daß das Christentum keine positive Bewertung der ehelichen Fruchtbarkeit kennt. Die Frage der Fortpflanzung ist kultisch irrelevant. Dementsprechend besteht kein religiöser Zwang zur Heirat. Im Gegenteil der Ledigenstand hat gegenüber dem Ehestand einen gewissen Vorrang. Auch eine religiöse Förderung der Frühehe besteht nicht. Dies ist ja meist dort der Fall, wo hohe Fruchtbarkeit aus religiösen Gründen gewünscht wird Das charakteristische „European marriage pattern" muß in seinen Entstehungsbedingungen auf diesem Hintergrund gesehen werden. Die geringe Bewertung der ehelichen Fruchtbarkeit zeigt sich auch darin, daß Unfruchtbarkeit in der europäischen Tradition selbst dort keinen Scheidungsgrund dargestellt hat, wo Scheidung prinzipiell möglich war. Eine Sonderstellung hinsichtlich der Bewertung von Fruchtbarkeit nimmt wieder38
um der Osten und Südosten des Kontinents ein. Eine religiöse Verankerung haben die spezifischen Wertmuster dieser Region jedoch nicht gefunden. Vom religiösen Gesamthintergrund des europäischen Kulturraums her ist weiters zu betonen, daß prinzipiell kein Vorrang von Knaben- gegenüber Mädchengeburten bestand Im Christentum haben, wie schon mehrfach betont, die Söhne keine besondere kultische Funktion. Wenn es in bestimmten Schichten bzw. Regionen trotzdem zu einem solchen Vorrang gekommen ist, so läßt sich dies nicht aus christlichen Vorstellungen ableiten. Als Beispiel sei diesbezüglich einerseits auf die Verhältnisse in Fürsten- und Adelshäusern, andererseits im Verbreitungsgebiet der Zadruga verwiesen. Hier ging die Präferenz mitunter sogar so weit, daß Frauen, die nur Tochter zur Welt brachten, als unfruchtbar galten. Das Christentum kennt schließlich auch keine Bevorzugung eines der Söhne aus kultischen Gründen. Das Erstgeburtsrecht im alten Israel genauso wie in Japan ist letztlich religiös bedingt In Europa fehlen dazu Parallelen. Wo immer es zu einem Vorrang eines Sohnes in den Erbregelungen kam, waren andere Faktoren bedingend Das Erstgeburtsrecht in Fürstenhäusern wurde durchgesetzt, um die Einheit des Reiches zu wahren. Im Lehensrecht konnte es zu einer Einführung der Primogenitur kommen, um die wirtschaftliche Basis der Wehrverfassung zu erhalten. Auch in den bäuerlichen Erbregelungen hat sich in weiten Gebieten das Anerbenrecht ausgebildet. Entscheidend dafür war meist das grundherrliche Interesse, einer Zersplitterung der Bauerngüter entgegenzuwirken und die Leistungsfähigkeit der Höfe gegenüber der Herrschaft zu erhalten. Neben dem Erbrecht des Ältesten findet sich bei Bauern auch häufig die Erbregelung zugunsten des jüngsten Sohnes (Minorat oder Ultimogenitur). Sie hat den Vorteil, daß der Vater den Hof länger bewirtschaften kann und später ins Ausgedinge gehen muß. Als eine dritte Form kommt dann auch das Eibrecht des Tüchtigsten vor, wobei dieser vom Vater oder vom Grundherren ausgewählt werden kann. Besitzrechtliche Regelungen, die eines der Kinder begünstigen, gab es jedoch nicht nur zugunsten von Söhnen. So bewirkten etwa manche Zunftsatzungen eine Weitergabe des Meisterrechts über die Tochter an den Schwiegersohn. In allen diesen Fällen der Bevorzugung eines Kindes sind Gründe der ökonomischen Rationalität oder des Versorgungsdenkens maßgeblich, nicht aber gesamtkulturell verbindliche religiöse Normen. Insgesamt läßt sich im interkulturellen Vergleich sagen, daß durch die christliche Religion für die europäische Familienverfas39
sung relativ wenige Vorgaben bestanden. Umso stärker konnten andere Faktoren auf die Familienkonstellationen, die familialen Rollen und die Beziehungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern einwirken. Besonders starken Einfluß dürften dabei Bedingungen der familialen Arbeitsorganisation gehabt haben. Die große Vielfalt und der starke Wandel der Familienformen im europäischen Kulturraum muß auf diesem Hintergrund gesehen werden. Anmerkung 1
Themenheft „Ehe und Familie in alten Hochkulturen", Beiträge zur historischen Sozialkunde 14/4 (1984) mit Beiträgen von Johanna HOLAUBEK über Ägypten, Erika BLEIBTREU über Mesopotamien, Ferdinand DEXINGER über Israel, Richard TRAPPL über China, Peter PANTZER über Japan und Roque MESQUITA über den Hinduismus.
Ausgewählte Literatur LASLEIT, Peter, Characteristics of the Western Family Considered over Time, in: Journal of Family History 2, 1977, S. 89 ff. LASLEIT, Peter/WALL, Richard (Hg.), Household and family in past time, Cambridge 1972. MRRRERAUER, Michael, Komplexe Familienformen in sozialhistorischer Sicht, in: Ethnologia Europaea 12, 1981, S. 47 ff. MITTERAUER, Michael, Ledige Mütter. Zur Geschichte unehelicher Geburten in Europa, München 1983. ROSENBAUM, Heidi, Formen der Familie, Frankfurt 1982. ROSENBAUM, Heidi (Hg.), Seminar Familie und Gesellschaftsstruktur, Frankfurt 1978. WALL, Richard et al. (Hg.), Family forms in historic Europe, Cambridge 1983.
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Christentum und Endogamie Im Neuen Testament finden sich nur wenige Stellen, die auf das Problem von Verwandtenheiraten eingehen. Unter ihnen ist keine, die über das Mosaische Gesetz hinausgehend neue Restriktionen vorsieht Im Hinblick auf die sehr weitreichenden Inzestverbote, die sich späterhin im Christentum entwickelten, und der Bedeutung, die ihnen im christlichen Eherecht zukam, erscheint das überraschend Für Jesus war dieser Themenbereich offenbar nicht von Belang. Endogame Verbindungen wurden von ihm weder positiv noch negativ bewertet Kritik an einer Eheschließung zwischen nahen Verwandten wird in den Evangelien am deutlichsten im Bericht über die Heirat des Tetrarchen Herodes Antipas mit Herodias formuliert Aber auch hier ist es nicht Jesus selbst, der diese Kritik übt, sondern Johannes der Täufer. Die Evangelisten nehmen bloß deshalb darauf Bezug, weil der Tetrarch glaubte, in Jesus sei der wegen seiner Anklage von ihm hingerichtete Johannes wieder auferstanden:1 „Herodes hatte nämlich Johannes festnehmen und ins Gefängnis werfen lassen. Schuld daran war Herodias, die Frau seines Bruders Philippus, die er geheiratet hatte. Denn Johannes hatte zu Herodes gesagt: Du hast nicht das Recht, die Frau deines Bruders zu heiratea Herodias verzieh ihm das nicht und wollte ihn töten lassen. Sie konnte aber ihren Plan nicht durchsetzen, denn Herodes fürchtete sich, weil er wußte, daß Johannes ein gerechter und heiliger Mann war." Ihr Ziel erreichte Herodias schließlich, wie die Evangelisten berichten, über ihre Tochter Salome. Auf einer Geburtstagsfeier des Herodes tanzte diese und beeindruckte ihren Stiefvater damit so sehr, daß er ihr jeden Wunsch zu erfüllen versprach. Auf Anraten der Mutter forderte sie den Kopf des Taufers. So wurde Johannes zum Märtyrer seines entschiedenen Einsatzes für die Einhaltung der überkommenen Inzestverbote. „Du hast nicht das Recht, die Frau deines Bruders zu heiraten" hielt Johannes dem Herodes Antipas vor. Sein Vorwurf lautete 41
nicht: „Du hast nicht das Recht, deine Nichte zu heiraten." Herodias war beides.2 Sie hatte nicht nur Herodes Antipas' Halbbruder Herodes Philippus als ersten Mann gehabt,3 sie war zugleich auch die Tochter eines anderen Halbbruders ihres zweiten Gatten, eines Sohnes Herodes' des Großen aus seiner Ehe mit der Hasmonäerin Mariamme mit Namen Aristobul. Implizit sind in dieser Stelle also zwei Typen endogamer Verbindungen mit sehr nahestehenden Familienangehörigen angesprochen - einer im Bereich der Blutsverwandtschaft und einer im Bereich der Schwiegerverwandtschaft Nur auf den letzteren bezieht sich die Inzestkritik Johannes des Täufers. Aus heutiger Sicht mag das verwundern. Die eigene Nichte zu heiraten wird wohl allgemein als weit problematischer empfunden werden als die Ehe mit der Schwägerin. Es gibt kaum staatliche Rechtsordnungen, die die Ehe mit der Nichte zulassen, und auch aus dem ethnologischen Vergleich wissen wir, daß eine Verbindung mit der Bruders- oder Schwesterstochter in den meisten Gesellschaften als inzestuös gilt.4 Im Umfeld des entstehenden Christentums war dies nicht der Fall. Weder Johannes der Täufer noch die Evangelisten, die über diesen Eheskandal berichten, nehmen an dieser extremen Form der Endogamie unter Blutsverwandten in irgendeiner Weise Anstoß. Sie finden es nicht einmal der Erwähnung wert, daß Herodias nicht nur die Schwägerin, sondern auch die Nichte ihres zweiten Gatten war.5 Die Ehe mit der Nichte war nach Mosaischem Recht grundsätzlich erlaubt.6 In späterer Zeit galt es im rabbinischen Judentum sogar als wünschenswert und als ein frommes Werk, wenn jemand die Tochter seiner Schwester heiratete. Zur Zeit Jesu kamen Ehen sowohl mit der Bruderstochter als auch der Schwesterstochter keineswegs selten vor. Wir finden solche Verbindungen auch und gerade in vornehmen Priesterfamilien.7 Kritik an dieser Form der Endogamie blieb auf sektiererische Gruppen beschränkt. So wurde in der „Gemeinde des neuen Bundes im Lande Damaskus" - einer in pharisäischer Tradition stehenden nonkonformistischen Gemeinschaft des ersten vorchristlichen Jahrhunderts - in weiterführender Deutung der Inzestverbote des Buches Levitikus die Nichtenehe entschieden abgelehnt.8 Die Familie der Herodianer machte von der durch das Mosaische Gesetz zugestandenen Möglichkeit der Nichtenheirat besonders intensiven Gebrauch.9 Bereits Herodes der Große nahm sowohl eine Tochter seines Bruders wie auch eine seiner Schwester zur Frau. Von seinen Söhnen heirateten nacheinander Herodes Philippus und Herodes Antipas ihre Bruderstochter Herodias, vielleicht 42
auch Herodes Archelaos deren Schwester Mariamme, schließlich Philippus die Herodias-Tochter Salome, die zugleich seine Nichte wie auch seine Großnichte war. Der Herodes-Enkel Herodes von Chalkis, ein Bruder der Herodias, Schloß seine zweite Ehe mit Berenike, der Tochter seines Bruders Agrippa. Bei diesen Nichtenheiraten wie insgesamt bei den endogamen Verbindungen im Haus des Herodes fällt auf, daß weibliche Nachkommen des Königs aus seiner Ehe mit der Hasmonäerin Mariamme besonders begehrte Partnerinnen waren. Durch Mariamme wurde sowohl in väterlicher wie in mütterlicher Linie die Blutsbindung zu jener Familie hergestellt, die die Freiheit von der Seleukidenherrschaft erkämpft und dann die Hohepriester- bzw. Königswürde innegehabt hatte. 10 Für die Herodianer, die selbst nicht einmal jüdischer Abkunft waren, 11 hatte diese dynastische Beziehung hohe Bedeutung. Das große Interesse der Herodessöhne an Heiraten mit Nichten, die ihnen durch ihre Abstammung vom alten Fürstenhaus in den Augen ihrer jüdischen Untertanen zusätzliche Legitimität verleihen konnten, erscheint auf diesem Hinteigrund verständlich. Gerade Herodes Antipas, der eine Samaritanerin zur Mutter hatte, bedurfte einer solchen Legitimierung in besonderer Weise. Daß er seinem Halbbruder dessen Frau wegnahm, hatte also wohl nicht zuletzt mit deren Abstammung zu tun. Der Fall Herodias besitzt so auch eine dynastische Komponente. 12 Aus ihr läßt sich ersehen, welche Funktionen Nichtenheiraten in einer stark nach geblütsrechtlichen Kategorien denkenden Gesellschaft haben können. Im Haus des Herodes waren neben Nichtenheiraten auch andere Formen der Endogamie unter Blutsverwandten sehr häufig. 13 Mehrfach begegnen etwa Ehen zwischen Cousins und Cousinen ersten und zweiten Grades. Trotz dieser extrem endogamen Praktiken geht die Tendenz zur Verwandtenheirat jedoch nicht so weit wie in anderen Fürstengeschlechtern des Orients in dieser Epoche. 14 Heiraten zwischen Neffe und Tante oder zwischen Halb- und Vollgeschwistern kommen bei den Herodianern nicht vor. Im Bereich der Eheschließungen unter Blutsverwandten wurden von ihnen die Inzestverbote des Buches Levitikus voll respektiert. Dieser Sachverhalt spricht gegen das Konzept des sogenannten „dynastischen Inzests", das gerade für das Zeitalter des Hellenismus immer wieder in Anspruch genommen wird. 15 Nach diesem Konzept steht das Heiratsverhalten der Fürstenhäuser außerhalb der für die beherrschte Bevölkerung geltenden Normen. Schlußfolgerungen aus Verwandtenehen der Dynastie auf allgemeine gesellschaftliche Verhältnisse erscheinen deshalb als unzulässig. Bei den Herodianern läßt
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sich eine solche Sonderstellung des Fürstenhauses keineswegs beobachten. Die Dynastie hat sich an die eherechtlichen Regeln der Religionsgemeinschaft zu halten. Hinsichtlich der Inzestverbote unter Blutsverwandten schöpft sie die Möglichkeiten der Endogamie voll aus, überschreitet aber nie die durch das religiöse Recht gesetzten Grenzen. Hinsichtlich der Inzestverbote unter Schwiegerverwandten kommt es zweimal zu Verletzungen des Mosaischen Gesetzes - in beiden Fällen wird jedoch der Fürst massiv zur Rechenschaft gezogen. „Du hast nicht das Recht, die Frau deines Bruders zu heiraten" war nicht nur der Vorwurf des Johannes gegen Herodes Antipas. Im selben Sinn klagten gesetzestreue Juden schon lange vorher dessen älteren Bruder Herodes Archelaos an.16 Dieser hatte Glaphyra, die Witwe seines Halbbruders Alexander, den der Vater im Jahre 7 v. Chr. hatte hinrichten lassen, zur Frau genommen. Hatte Glaphyra von Alexander keine Kinder gehabt, so wäre die Eheschließung unproblematisch gewesen. Archelaos hätte sich sogar zu dieser Heirat verpflichtet fühlen können. Nach den Bestimmungen des Buches Deuteronomium war die Schwagerehe obligatorisch, wenn der Bruder starb, ohne einen Sohn zu hinterlassen.17 Da aber aus der Verbindung Glaphyras mit Alexander bereits zwei Söhne hervorgegangen waren, fehlten die Voraussetzungen für eine solche Leviratsehe. Es galten daher die Inzestregeln des Levitikus, nach denen die Frau des Bruders zu den verbotenen Partnerinnen zählte.18 Die Ehe wurde dementsprechend als blutschänderisch und unerlaubt angesehen. Sie löste in der Bevölkerung große Empörung aus und war mit ein Grund für die breite Ablehnung des Herrschers, die 6 n.Chr. zu seiner Absetzung führte. 19 Glaphyra starb schon bald nach der Heirat Unter frommen Juden erzählte man sich, der Dämon Alexanders sei ihr im Traum erschienen und habe sie als Strafe für die gesetzeswidrige Ehe zu sich geholt 20 Die Eheaffäre des Herodes Antipas und der Herodias, die Johannes der Täufer öffentlich anprangerte, war noch schwerwiegender als die des Archelaos und der Glaphyra. Von einer Leviratsehe im Verständnis der Bestimmungen des Buchs Deuteronomium konnte in diesem Falle überhaupt keine Rede sein, da der Bruder bzw. erste Gatte ja noch am Leben war. Eine Trennung von ihm als Voraussetzung einer zweiten Heirat war für Herodias als Frau nach jüdischem Recht gar nicht möglich. Man dürfte sich nach römischem Recht arrangiert haben.21 Die Herodianer hatten ja das römische Bürgerrecht Für die Beurteilung der Verbindung durch gesetzestreue Juden war ein solches Arrangement jedoch ohne
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Wert Auf alle Fälle lag ein Verstoß gegen die Inzestregeln des Levitikus vor. Johannes der laufer stand also voll auf dem Boden der jüdischen Religionsgesetze, wenn er dem Herodes Antipas vorhielt: „Du hast nicht das Recht, die Frau deines Bruders zu heiraten." Zu Unrecht wurde die Anklage des Johannes gegen Herodes späterhin als eine Verurteilung der Schwagerehe schlechthin angesehen und daraus ein generelles Verbot dieser Eheform für das Christentum aus dem Evangelium abgeleitet 22 Gegen eine Leviratsehe im Sinne der Bestimmungen des Deuteronomium wäre Johannes sicher nicht aufgetreten, genausowenig wie Jesus etwas gegen diese traditionelle jüdische Eheform einzuwenden gehabt hat Sehr deutlich ergibt sich das aus seiner Antwort auf die berühmte Sadduzäerfrage:23 „Meister, Mose hat gesagt: Wenn einer kinderlos stirbt dann soll sein Bruder seine Frau heiraten und für seinen Bruder Nachkommen zeugen. Bei uns lebten einmal sieben Brüder. Der erste heiratete und starb, und weil er keine Nachkommen hatte, hinterließ er seine Frau seinem Bruder. Ebenso der zweite und der dritte und so weiter bis zum siebten. Als letzte von allen starb die Frau. Wem von den sieben wird sie nun bei der Auferstehung als Ehefrau gehören?" Jesus geht in seiner Antwort gar nicht auf die Schwagerehe ein, die für ihn offenbar völlig unproblematisch ist Er korrigiert vielmehr die Fragesteller bloß in ihren Jenseitsvorstellungen: „Bei der Auferstehung werden sie nicht mehr heiraten, sondern wie die Engel im Himmel sein." Für Jesus scheint - sehr zum Unterschied von der spätjüdischen Ehehalacha - die Frage von verbotenen und erlaubten Ehen unter Verwandten überhaupt kein interessantes Thema gewesen zu sein.24 Er gibt diesbezüglich keine neuen Vorschriften. Aber er stellt auch die überkommenen Bestimmungen des jüdischen Eherechts in dieser Hinsicht nicht in Frage. Der Bericht über die Eheaffäre des Herodes Antipas und der Herodias im Markus- und Matthäus-Evangelium hat zwar keinerlei paränetischen Wert Er läßt aber erkennen, daß die Nichtenehe in den Anfängen des Christentums kein Stein des Anstoßes war. Dasselbe gilt in Hinblick auf die Sadduzäerfrage für die traditionelle Form der jüdischen Leviratsehe. Drei Jahrhunderte später, als die christlichen Restriktionen der Verwandtenehen einsetzen, sind es gerade die Nichtenehe und die Schwagerehe in allen ihren Formen, die als erste ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Der Wandel in der Einstellung zur Nichtenheirat ist besonders eklatant. Was für Johannes den Täufer in seiner Kritik an der Ehe 45
des Herodes Antipas mit Herodias nicht einmal einer Erwähnung wert war, erscheint bei den eisten christlichen Kaisern als ein Kapitalverbrechen. Die Konstantinsöhne Constantius und Constans verboten 342 die Ehe zwischen Onkel und Nichte und verhängten dafür die Todesstrafe.25 Erst unter Kaiser Arkadius wurde für den Osten dieses Strafausmaß gemildert In den gleichen Zeitraum fallen auch die ersten Bestimmungen christlicher Kaiser gegen die Schwagerehe. 355 untersagte Kaiser Konstantin Π. im Westen die Heirat mit der Frau des Bruders, ebenso auch deren Gegenstück, die Ehe mit der Schwester der Frau. 384 folgte der Osten des Reiches der neuen Rechtslage.26 Im Falle von Levirat und Sororat ging die Strafandrohung allerdings nicht so weit wie bei der Nichtenheirat. Bezüglich beider Formen von Endogamieverboten waren den kaiserlichen Gesetzen kirchliche Bestimmungen vorausgegangen. Die Ehe mit der Witwe des Bruders wurde erstmals auf der Synode von Neocäsarea (314/25) verurteilt, die mit der Schwester der verstorbenen Frau auf der Synode von Elvira 307.27 Mit der Frage des Sororats beschäftigt sich im Osten in den siebziger Jahren des 4. Jahrhunderts Basilius der Große und formuliert eine theoretische Grundlage für die über die Bestimmungen des Levitikus hinausgehende kirchliche Position.28 Jedenfalls bei diesen beiden Formen verbotener Ehen unter Verwandten darf angenommen werden, daß die Gesetzgebung der frühen christlichen Kaiser vom Standpunkt der Kirche beeinflußt wurde.29 Bezüglich der Nichtenheirat ist der Zusammenhang weniger klar. Im Gesetz der Kaiser Constantius und Constans von 342 berufen sich diese auf eine Konstitution ihrer heidnischen Vorgänger Diokletian und Maximian von 295, durch die freilich entsprechend dem seit Kaiser Claudius geltenden Recht wohl nur die Ehe mit der Schwestertochter untersagt war.30 Das älteste kirchliche Verbot von Heiraten unter Blutsverwandten - ein apokrypher Brief des römischen Bischofs Kalixtus (217-222) differenziert nicht nach Verwandtschaftsgraden und nennt dementsprechend die Nichte nicht ausdrücklich.31 Er nimmt neben den „leges divinae" auch auf die „leges saeculi" Bezug, also auf das römische Recht Die einzige kirchliche Bestimmung, die sich schon vor 342 ausdrücklich gegen die Nichtenehe richtet, hat keinen generellen Charakter. Der 19. der apostolischen Kanones - in etwa zeitgleich mit der Synode von Neocäsarea entstanden - verbietet es, jemanden zum Priesteramt zuzulassen, der seine Schwägerin oder seine Nichte geheiratet hat.32 Diese Bestimmung zeigt einerseits, daß die Nichtenheirat damals unter Christen durchaus noch vorkam, andererseits daß sie bereits in ähnlicher Weise diskriminiert war wie 46
die gleichzeitig generell verbotene Schwagerehe. Jedenfalls im Westen des Reiches scheint man ihr im 4. Jahrhundert allgemein ablehnend gegenübeigestanden zu sein.33 Äußerungen der Kirchenväter zu dieser Eheform lassen vermuten, daß sie hier schon lange grundsätzlich als unerlaubt galt. Bei Ambrosius wird sie in einem Schreiben von 397 mit schärfsten Worten als ein Verhalten verurteilt, daß dem von Gott dem Menschenherz eingeschriebenen Naturgesetz zuwiderläuft 34 Für Augustinus ist sie wenig später das Musterbeispiel für eine Verwandtenheirat, die seiner Meinung nach bei Christen und Nichtchristen den allgemeinen Prinzipien der Menschenliebe widerspricht 35 Auf Jesus beruft sich freilich keiner von beiden. Und auf das Gesetz des Moses angesprochen, das die Nichtenheirat erlaubt, gerät Ambrosius in aigen Argumentationsnotstand.36 E n e unmittelbare Entsprechung zu Bestimmungen des Alten und Neuen Testaments ist bei den im 4. Jahrhundert formulierten christlichen Verboten der Verwandtenehe bloß im Fall der Schwagerehe gegeben - und auch hier nur insofern, als es sich nicht um die Witwe des kinderlos verstorbenen Bruders handelt Das Verbot des Sororats, der Nichtenheirat und vor allem der Cousinenheirat, das auch noch im 4. Jahrhundert ausgesprochen wurde 37 und das für die Endogamieproblematik besondere bedeutsam erscheint, hat hingegen keine explizit ausgesprochene biblische Grundlage. Dies gilt ebenso für viele aller jener Inzestverbote, die sich in Weiterentwicklung der Ansätze des 4. Jahrhunderts bzw. darüber hinausgehend im früh- und hochmittelalterlichen Christentum ausgebildet haben. So scheint es naheliegend, diesen eigenartigen Prozeß der Entfaltung immer weiter ausgreifender Verbote der Verwandtenheirat in Ursachen begründet zu sehen, die nicht im religiösen Bereich liegen. Die neuere Forschung geht in ihren Erklärungsansätzen mehrheitlich von solchen außerreligiösen Bewirkungsfaktoren aus. Einen besonders pointierten Standpunkt mit besonders weitreichenden Konsequenzen vertritt in der Interpretation dieses Prozesses der Anthropologe Jack Goody. Er stellt die Frage nach Ursachen und Auswirkungen der christlichen Inzestverbote in den Mittelpunkt seines Buches „The development of the family and marriage in Europe".38 Das Kapitel über die Anfänge der Verwandtenheiratsverbote leitet er mit der Feststellung ein:39 "Towards the middle of the first millenium A D., changes were taking place in the kinship systems of Europe that involved a break with earlier practices and made their mark for centuries to come. These changes appear to have been connected with the advent of Christianity, but they were 47
derived neither from the sacred books, with their Israelite and Palestinian background, nor yet from the Greco-Roman world from which its exponents came. Both these worlds adhered to 'Mediterranean' practices; Christianity introduced a new element" Kennzeichen der „mediterranen Praktiken" sei die Endogamie gewesen, während die kirchlichen Verbote zu exogamem Verhalten geführt hätten. Durch diesen Wandel sei es zu einem Gegensatz zwischen „Western and Eastern structures" gekommen, die Goody in Anschluß an die „structures orientales" und „occidentales" von Pierre Guichard charakterisiert.40 Über Verwandtschaftsstruktur und Heiratsverhalten hinaus betreffen sie noch weitere wesentliche Momente der Familienverfassung. So kommt den seit dem 4. Jahrhundert formulierten kirchlichen Inzestveiboten aus der Sicht Goodys für die europäische Familienentwicklung eine sehr weitreichende Bedeutung zu.41 Die Ursache dieser Verbote sieht Goody im Interesse der Kirche an Besitzakkumulation. Um Legate der Gläubigen zu erhalten, habe diese bisher anerkannte Erbschaftsstrategien verhindert. "It does not seem accidental that the Church appears to have condemned the very practices that would have deprived it of property."42 "For the Church to grow and survive it had to accumulate property, which meant acquiring control over the way it passed from one generation to the next. Since the distribution of property between generations is related to patterns of marriage and the legitimisation of children, the Church had to gain authority over these so that it could influence the strategies of heirship."43 Aus diesem materiellen Interesse der Kirche erklärt sich nach Goody „the radical change in the ideology of marriage which occured from the fourth century A. D." 4 4 Als einer der ersten hat David Herlihy die Thesen Jack Goodys kritisiert 45 Er stellt die Frage, ob denn die Kirchenführer genügend geschlossen, bewußt und schlau gewesen wären, um eine solche eher abwegige Strategie der Besitzvergrößerung zu erfinden und auszuführen. Darüber hinaus kommen ihm Zweifel, ob die Kirche wirklich dadurch materiell profitiert hätte, wenn sie verhinderte, daß die Reichen über Erben verfügten. Sein eigener Erklärungsansatz ist ganz anderer Art.46 "Legal historians have found the Church's preoccupation with incest in the early Middle Ages surprising, as it finds no precedent in either Roman or Mosaic law. One reason for this policy may have been the concentration of women in the households of the rich and powerful, to the deprivation of other sectors of society. The Church's insistence on exogamy must have forced a freer, wider circulation of women through 48
society. The poorer, less powerful male improved his chance of finding a mate. The breaking of the monopoly of the powerful over women, their fairer distribution across social classes, also promoted the comparability of household units." Warum die Kirche eine solche „freiere Zirkulation von Frauen" in der Gesellschaft angestrebt habe und wie das durch das Verbot von Verwandtenheiraten bewirkt worden sei, wird nicht näher erläutert Das Konzept einer solchen Umverteilungspolitik setzt jedenfalls ein ähnliches Ausmaß an Geschlossenheit und Bewußtheit in der Verfolgung gesellschaftlicher Ziele seitens der Kirchenführer voraus wie die von Herlihy kritisierte Akkumulationstheorie Goodys. Von einigen Forschem wird die Ausweitung der kanonischen Verwandtenheiratsverbote mit der Stärkung bzw. Schwächung von adeligen Verwandtschaftsverbänden in Zusammenhang gebracht Diesbezüglich finden sich freilich sehr unterschiedliche Standpunkte. Jean-Louis Flandrin formuliert:47 „Cependant comment ne pas etre frapp6 par le parallelisme entre Involution des interdits et ce que nous pouvons entrevoir de Involution des solidarity lignag£res. Celles-ci paraissent avoir atteint leur apogee entre le X e et le Xü e si£cle, et c'est ä ce moment, justement, que les interdits se sont elaigis jusqu'ä la demesure; lorsque, au contraire, d£s le XÜIe sifecle, le lignage se resserre sous Γ influence de tendances patrilineaires qui ont ρτέεέάέ l'apparation des patronymes, et que, paradoxalement, les liens lignagers se relächent - en mattere de vengeance comme en mati£re de droits sur la terre - les interdits sont brutalement reduits. On ne peut done, en l'6tat actuel des recherches, ^carter l'hypothese d'une certaine adaptation de la legislation canonique ä Involution r6elle des solidarit£s lignageres." Daß diese Anpassung die Ursache für die Ausweitung der kirchlichen Inzestverbote darstellt, wird von Flandrin nicht direkt ausgesprochen. Er bietet aber auch keine andere Erklärung an. Ganz anders sieht Georges Duby die Zusammenhänge. Im Kontext seiner „zwei Modelle der Ehe" ist die Inzestgesetzgebung ein Mittel zur Durchsetzung des kirchlichen gegen das aristokratische.48 Sie dient also gerade nicht der Stärkung der adeligen Geschlechterverbände.49 Duby vermeidet es allerdings, aus solchen Bewirkungszusammenhängen ein Erklärungsmodell abzuleiten. An ihn anschließend, vollzieht diesen gedanklichen Schritt Michael Schröter 50 „Unzweifelhaft ist, daß die Lehre vom Hindernis der Verwandtschaft vor und nach der Jahrtausendwende im Zentrum des kirchlichen Eherechts stand, daß sie zu den Hauptforderungen gehörte, die 49
von der Kirche den kriegerischen Herrengruppen der Welt entgegengehalten wurden . . . Der Grund für diese aus späterer Sicht nicht sofort verständliche Akzentsetzung mag darin zu finden sein, daß die Lehre von den verbotenen Verwandtschaftsgraden der Kirche ein überaus wirksames Machtmittel an die Hand gab. Benutzt wurde diese ideologische Waffe, wie die erhaltenen Nachrichten über einschlägige Konflikte nahelegen, vor allem gegenüber hochrangigen, insbesondere fürstlichen Personen; das breite Volk dürfte zunächst außerhalb des Blickfeldes geblieben sein. Da in jenen Kreisen Eheschließungen ein hauptsächliches Instrument der Politik waren, gewann die Kirche auf dem Umweg über ihre Doktrin wohl einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf das Zustandekommen politischer Bündnisse . . . Auch die in derselben Zeit eingeführte Erweiterung von der Blutsverwandtschaft auf die Schwägerschaft mag damit zusammenhängen, daß eine Heiratsverbindung eine .Freundschaft* zwischen den beteiligten Familien stiftete. Betrachtet man die kirchliche Lehre unter diesem Aspekt, so drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß der Kirche daran gelegen war, den Verwandtschaftszusammenhalt, der durch die Sippenendogamie immer wieder bekräftigt wurde, zu durchbrechen." Gegen Erklärungsmodelle die die Ausweitung der Inzestverbote primär aus kirchlichem Interesse an der Akkumulation von Besitz oder an politischem Einfluß ableiten, hat Joseph Η Lynch gewichtige Argumente vorgetragen.51 Er empfiehlt, Absichten und Auswirkungen solcher Bestimmungen auseinanderzuhalten: "It is one thing to describe what happened as a result of the increasing complexity of marriage law, but it is quite another to demonstrate that the church intended such results or even understood the cause and effect relationship that apparently increased its power and wealth." Tabus der Verwandtenheirat lassen sich seiner Meinung nach nicht primär aus geistlicher oder weltlicher Gesetzgebung erklären - schon gar nicht unter den gesellschaftlichen Verhältnissen der fraglichen Epoche. Inzestempfinden könne nicht durch Normen „ex nihilo" geschaffen werden. Nur wenn es schon vorhanden ist, ließe es sich durch Gesetze kanalisieren, verstärken und auf andere Gruppen übertragen. Die frühmittelalterlichen Rechtssatzungen zu dieser Materie erscheinen ihm daher eher die Reaktion als die Ursache zu sein. Sein spezielles Explanandum, die Entstehung von sexuellen Tabus zwischen Patenverwandten im 6. und 7. Jahrhundert, führt er auf zwei Wurzeln zurück: einerseits die spezifischen Verhaltensweisen gegenüber der Sexualität in Spätan50
tike und Frühmittelalter, andererseits den Gegensatz, den die Christen zwischen der Geburt „dem Fleische nach" und „dem Geiste nach" machten. "The incest taboo makes cultural sense when it is seen flowing out of the confrontation between a pessimistic view of sexual activity and a conviction that baptism created a spiritual family, which had to be kept free from the taint inherent in sexuality." Jedenfalls die erste dieser beiden Wurzeln kann über die Patenverwandtschaft hinaus auf den Gesamtkomplex der sich entfaltenden Inzestverbote übertragen werden, in einer vermittelten Form - wie noch zu zeigen sein wird - wohl auch die zweite. Sieht man von Joseph Lynchs Ansatz ab, so beschränken sich die hier referierten Erklärungsmodelle auf eine Interpretation der Entwicklung im Bereich der römischen Kirche. Auf den Verlauf in Byzanz gehen sie nicht ein, schon gar nicht auf die Entwicklungsprozesse in den anderen orientalischen Kirchen. Ein solcher Verzicht auf eine komparative Vorgangsweise beeinträchtigt die Validität der aufgestellten Thesen. Auch wenn man die Wurzeln der christlichen Inzestverbote nicht im religiösen Bereich sucht, ist ein Vergleich zwischen den verschiedenen christlichen Kirchen des Früh- und Hochmittelalters sicher weiterführend Übereinstimmungen im Prozeß der Ausweitung dieser Verbote müßten in Übereinstimmungen der vermuteten Bedingungen ihre Entsprechung haben. Sieht man kirchliche Interessen an Besitzakkumulation, an politischem Einfluß oder an sozialer Kontrolle als den entscheidenden Faktor für die zunehmende Diskriminierung der Verwandtenheirat, so müßte man für alle jene Kirchen, in denen es zu einer Ausweitung der Inzestverbote gekommen ist, auch ähnliche Interessen und ähnliche Möglichkeiten von deren Durchsetzung annehmen, wie sie für die römische Kirche postuliert werden. Solche Parallelen sind aber offenkundig nicht gegeben. Schon in Byzanz befindet sich die Kirche in einer wesentlich anderen Stellung als im Westen. "Völlig abweichend ist die Situation bei jenen christlichen Gruppen, die in einer islamisch dominierten Gesellschaft in einer Minderheitsposition lebten wie die Nestorianer, die Jakobiten oder die Kopten. Daß sich bei allen diesen christlichen Kirchen Tendenzen zur Ausweitung der Inzestverbote finden,52 macht Erklärungsansätze zweifelhaft, die allein von der spezifischen Situation der römischen Kirche ausgehen. Um aus einem komparativen Ansatz zu Annahmen über die Ursachen der Ausweitung christlicher Inzestverbote zu kommen, ist es nicht unbedigt notwendig, den komplizierten Entwicklungsprozessen in den einzelnen Kirchen im Detail nachzugehen. Welches
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Ausmaß diese Prozesse erreichten und vor allem auch wie unterschiedlich sie bei gleicher Grundtendenz verliefen, sollen zunächst zwei Beispiele illustrieren, die aus der Blütezeit kirchlicher Inzestgesetzgebung stammen. Sie beleuchten die Situation ein Jahrtausend nach dem Wirken Jesu, sieben Jahrhunderte nach den Anfängen von Verboten der Heirat unter Verwandten im Christentum. Bischof Burchard von Worms (t 1025) hat in den Jahren 1007 bis 1012 eine Sammlung normativer Texte aus der Heiligen Schrift, aus den Kirchenvätern, den Konzilsdekreten sowie aus päpstlichen Schreiben zusammengestellt 53 Dieses „Decretum" wurde vielfach kopiert und verbreitete sich rasch in Deutschland, Italien und Frankreich. Erst seit der Mitte des 12. Jahrhunderts wurde es vom „Decretum Gratiani" verdrängt Von seiner Wirkungsgeschichte kommt dieser Schrift daher sicher große Bedeutung zu.54 In den eherechtlichen Bestimmungen nehmen bei Burchard Inzestprobleme breiten Raum ein. Verbote aufgrund geistlicher Verwandtschaft haben für ihn Vorrang.55 Auch Verbote zwischen Schwiegerverwandten werden thematisiert - gegenüber der Schwester der Frau, der Witwe des Bruders oder der Tochter der Frau. Im Mittelpunkt stehen jedoch bei ihm die Ehehindernisse der Blutsverwandtschaft Sein siebtes Kapitel „De incestis" handelt ausschließlich von diesen.56 Unter den von ihm hier zusammengestellten kirchlichen Entscheidungen finden sich sowohl solche, die die verbotenen Grade mit dem sechsten wie auch solche, die sie mit dem siebten Grad begrenzen. Burchard selbst war einer Ausweitung bis zum siebten Grad gegenüber kritisch, leistete ihr aber insofern Vorschub, als er einen „arbor consanguinitatis" nach dem Vorbild Isidors von Sevilla mit dessen Kommentar in seine Sammlung aufnahm. 57 Diese schematische Darstellung der Verwandtschaft hat ihre Wurzel im römischen Erbrecht. Bei Burchard wurde sie erstmals mit dem Eherecht verbunden. Im Detail sind hier die vielfältigen Bezeichnungen eingetragen, für die es - jedenfalls bis zum sechsten Grad - auch eigene lateinische Bezeichnungen gab. Als verbotene Ehepartner waren innerhalb dieses „arbor consanguinitatis" vor allem jene bedeutsam, die unmittelbar oder in etwa der gleichen Generation angehörten wie der Heiratskandidat Je nachdem ob man vom siebten oder vom sechsten Grad ausging, waren das in Burchards Schema die „pronepotes propatrui, proamitae, proavunculi" bzw. „promaterterae", die „pronepotes patrui magni, amitae magnae, avunculi magni" bzw. „materterae magnae" und die „nepotes propatrui, proamitae, proavunculi" bzw. „promarterterae". Aber auch die „abpatrui nepotes" oder die „abnepotes patrui magni" können noch zu jenen Angehöri52
gen gerechnet werden, bei denen eine eheliche Verbindung von der Alterskonstellation realistisch schien, von den verbotenen Graden her jedoch in Frage gestellt wurde. Insgesamt erscheint der Personenkreis verbotener Ehepartner im Bereich der Blutsverwandtschaft nach den bei Burchard zusammengestellten eherechtlichen Bestimmungen sehr umfassend Wenig später als Burchards „Decretum" ist die „Ordnung der Ehe und der Erbschaften" des 'Abdisö Bar Bahriz entstanden.58 Der Autor begegnet 1028 als Kandidat für den nestorianischen Patriarchenstuhl und wurde wohl bald darauf Metropolit von Assur-Mossul. In seinem Eherecht stehen die verbotenen Verwandtenheiraten nicht nur gleich am Beginn, sie bilden auch dessen hauptsächlichen Inhalt. "Abdisö nennt insgesamt vierzig Formen von Verwandtschaftsbeziehungen, innerhalb derer die Ehe untersagt ist Nur elf davon betreffen Blutsverwandte - nämlich die Eltern, die Großeltern von Vater- und Mutterseite, die Onkeln von Vater- und Mutterseite, die Geschwister, die Halbgeschwister durch den Vater wie durch die Mutter, die Kinder der Geschwister, die eigenen Kinder sowie die eigenen Kindeskinder.59 Alle anderen als inzestuös verurteilten Beziehungen betreffen Schwiegerverwandte. Unter ihnen finden sich recht weit entfernte wie die Eltern der Gatten der Großeltern oder die Kinder der Gatten der Enkelkinder. Das Grundprinzip im Aufbau dieses Katalogs ist es, daß auch alle Ehegatten von Blutsverwandten, die man nicht heiraten darf, als Ehepartner verboten sind, ebenso deren Eltern, Geschwister und Kinder. Begründet wird dieses Verbot mit dem Bibelwort: „Der Mann wird Vater und Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen und sie werden beide ein Fleisch sein." „Verwandte des Fleisches" des Ehemannes gelten deshalb zugleich als „Verwandte des Fleisches" der Ehefrau. Insgesamt sieht sich "Abdlsö mit seinen weitreichenden Eheverboten durchaus auf der Grundlage der Heiligen Schrift Daß er über die Aufzählung im Buche Levitikus hinausgeht, begründet er so: Das Mosaische Gesetz ist in Fragen der Ehe „die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer". Jesus aber hat gesagt: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht vollkommener ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen." 60 Sowohl am Rhein wie auch im Zwischenstromland war offenbar zu Beginn des zweiten Jahrtausends der Abscheu vor inzestuösen Ehen unter Christen sehr groß. Hier wie dort erreichte die Liste der Verbote ein beträchtliches Ausmaß. Man war sich zwar im Osten und im Westen der Christenheit bezüglich der Verwandtenehen 53
darüber einig, daß sehr viel verboten werden müsse, keineswegs aber darüber, was. Inhaltlich findet sich in den langen Katalogen inkriminierter Beziehungen zwischen dem Bischof von Worms und seinem Amtskollegen in Mossul nur wenig Übereinstimmungen. Sie beschränken sich auf den engsten Kreis der Blutsverwandten: Aszendenten, Deszendenten, Geschwister sowie Neffen und Nichten. Schon bezüglich der Heirat von Geschwisterkindern ergibt sich ein markanter Unterschied Bei Burchard gehören „patruelini", „amitini" und „consobrini" zum engsten Kreis der Blutsverwandtschaft, innerhalb dessen eine eheliche Verbindung ganz selbstverständlich ausgeschlossen ist Für "Abdisö hingegen erscheint eine solche Ehe durchaus zulässig.61 Er betont das ausdrücklich, weil er sich damit im Widerspruch zu den eherechtlichen Kanones des Mär Timotheos befand - eines Patriarchen der Nestorianer im 9. Jahrhundert, der die Ehe von Geschwisterkindern für unerlaubt hielt, sich mit seinem Standpunkt aber nicht durchsetzte.62 Die Ehe mit der Cousine, insbesondere die mit der Tochter des Vateibruders, der sogenannten „bint amm", ist ein zentrales Moment endogamer Heiratsmuster des Orients/' 3 Von den orientalischen Kirchen wurde sie lange Zeit im wesentlichen nicht in Frage gestellt 64 Das Beispiel der Eheordnung des cAbdIsö zeigt, daß eine extreme Ausweitung der Ehehindernisse unter Verwandten durchaus mit ausgeprägt endogamem Heiratsverhalten vereinbar sein kann. Solche Ambivalenzen in der Einstellung zu Inzest und Endogamie werden uns noch anderwärts beschäftigen. Trotz seiner Offenheit für bestimmte endogame Praktiken der orientalischen Tradition läßt sich jedoch wohl sagen, daß auch "Abdlsö in seinen eherechtlichen Normen von einer tiefen Inzestangst bestimmt ist Darin unterscheidet er sich in nichts von seinem Zeitgenossen im Westen. Die beiden zeitgleich gewählten Beispiele stellen weder im Orient noch im Okzident den absoluten Höhepunkt der Entwicklung dar. Sowohl in den Graden der Verwandtschaft wie auch in den Typen der Verwandtschaftsbeziehungen gingen die Verbote zum Teil noch viel weiter. Im Osten wird etwa der Vierzig-Fälle-Katalog des Metropoliten eAbdIsö Bar Bahriz von seinem jüngeren Namensvetter 'Abdisö Bar Brika mit zweimal fünfundsechzig Fällen noch deutlich überboten.65 Im Westen ging man im Hochmittelalter bei den Ehehindernissen der Blutsverwandtschaft vom siebten Grad römischer Zählung zum siebten Grad germanischer Zählung über, was eine enorme Ausweitung bedeutete.66 Flandrin hat berechnet, daß dadurch jedem Heiratskandidaten nicht weniger als 2.731 Cousinen seiner Generation verboten gewesen sind.67 Die Entwicklung 54
führte sich ad absurdum. Das Laterankonzil von 1215 schränkte die Verbote auf den vierten Grad der Blutsverwandtschaft ein. 68 Auch in der Schwiegelverwandtschaft wurden die verbotenen Grade reduziert Die geistliche Verwandtschaft als Ehehindernis war von dieser Entwicklung nicht betroffen. Sie begegnet im Westen und im Osten in sehr unterschiedlichen Formen - als Verwandtschaft durch Tauf- und Firmpatenschaft, aber auch durch Trauzeugenschaft bei der Eheschließung begründet 69 In Byzanz kam die Adoptivverwandtschaft hinzu, der der hier sakramental gestaltete Adoptionsakt zugrunde lag. 70 Aus der Spätantike hat sich vereinzelt im östlichen Kirchenrecht das Vormundschaftsverhältnis als Ehehindernis erhalten.71 In Übereinstimmung mit dem Islam findet sich in einigen orientalischen Kirchen die Vorstellung, daß Milchverwandtschaft einer Heiratsverbindung entgegenstehe.72 Alle diese unterschiedlichen Formen der nachgebildeten Verwandtschaft haben ihre Bedeutung als Ehehindemis gerade in jener Epoche gewonnen, in der sich die Heiratsverbote aufgrund von Bluts- und Schwiegerverwandtschaft in den einzelnen christlichen Kirchen so stark entfalteten. In unterschiedlichem Ausmaß begegnen solche Prozesse der Ausweitung des Inzestverbots in allen christlichen Kirchen des Früh- und Hochmittelalters: in der römischen, in der byzantinischen und in der armenischen Kirche, aber auch bei den Nestorianern, bei den Jakobiten und bei den Kopten. 73 Das Phänomen ist jedoch nicht auf christliche Gruppen beschränkt Auch im Judentum zeigen sich parallele Entwicklungen - und zwar in auffallender zeitlicher und zum Teil auch inhaltlicher Übereinstimmung. Für einen Erklärungsversuch auf komparativer Grundlage erscheinen diese jüdischen Parallelen von ganz besonderer Bedeutung. Eine wesentlich verschärfte Auffassung über Inzest vertritt im frühmittelalterlichen Judentum die Sekte der Karäer. Diese asketische Gruppierung wurde um die Mitte des 8. Jahrhunderts in Mesopotamien begründet 74 Im Gegensatz zu den Rabbaniten verwarf sie den Talmud und wollte zum Buchstaben der Heiligen Schrift zurückkehren. Zu den Rabbaniten ergaben sich auch in der Inzestfrage sehr wesentliche Unterschiede, und zwar schon hinsichtlich des methodischen Problems, wie solche Normen aus dem Mosaischen Gesetz abgeleitet werden können. Die Karäer gingen vom Analogieprinzip aus. Wenn bestimmte Beziehungen unter Verwandten nach dem Buch Levitikus verboten seien, dann müßte dieses Verbot auch für alle dort nicht genannten Beziehungen gleicher Art gelten. Die Rabbaniten lehnten solche heuristische Regeln der Interpretation grundsätzlich ab. In der Einstellung zur Nichtenheirat kam dieser
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Unterschied sehr deutlich zum Tragen. Schon die Damaskusschrift hatte in dieser Frage das Analogieprinzip vertreten. Die Karäer griffen im 8. Jahrhundert diesen Standpunkt entschieden auf.75 Wenn nach der Ordnung des Levitikus die Tante dem Neffen verboten ist, dann könne auch nicht die Nichte dem Onkel erlaubt sein. In ähnlicher Weise leiteten sie aus anderen Inzestveiboten des Mosaischen Gesetzes mit dem Mittel der Spiegelung in der korrespondierenden Hälfte des Verwandtschaftssystems neue Bestimmungen ab. Eine weitere Verschärfung ergab sich dadurch, daß sie Verwandtschaftsbeziehungen stets wörtlich interpretierten, auch wo sie in übertragenem Sinn gemeint sind, etwa wenn die Tochter der Stiefmutter als „Schwester" bezeichnet wird.76 Die gravierendsten Folgen hatte jedoch die spezifische Deutung, die die Karäer der Genesis-Stelle über das „Ein Fleisch"- Werden von Mann und Frau gaben.77 Buchstabengetreu interpretierten sie, daß die Blutsverwandten des Mannes als die der Frau anzusehen seien und umgekehrt Sie beschränkten sich dabei aber nicht auf ein einzelnes Paar als Einheit Vielmehr sahen sie auch mehrere aufeinanderfolgende Partner in dieser Weise miteinander verbunden. Durch Wiederverehelichung nach Verwitwung bzw. durch Scheidung, wie sie im Judentum ja möglich war, konnten so ganze Ketten von Personen entstehen, die jeweils als „ein Fleisch" angesehen wurden und deren Verwandten deshalb untereinander die Ehe untersagt war. Bis über vier Verbindungen von Frauen und Männern bedeutete deren eheliche Gemeinsamkeit einen Ausschließungsgrund für die Heirat von Angehörigen. So konnte jemand „Kinder" von fünferlei Art haben: Seine leiblichen Kinder, die Kinder seiner Frau, die Kinder des Mannes seiner Frau, die Kinder der Frau des Mannes seiner Frau und schließlich die Kinder des Mannes der Frau des Mannes seiner Frau.78 Sie alle galten untereinander als Vollgeschwister und durften dementsprechend nicht heiraten. Gleiches galt für andere nahe Blutsverwandte von einzelnen Gliedern einer solchen durch eine Abfolge von Ehen zustande gekommenen Kette. Dieses System des wiederholten Zusammenrechnens verbotener Verwandtschaftsgrade wurde als „rikkub" bezeichnet.79 Das „rikkub"-System, wie es die Rechtsbestimmungen der Karäer regelten, führte zu einer ungeheuren Ausweitung des Kreises der als Ehepartner verbotenen Personen. Die Möglichkeit der Heirat innerhalb der Gruppe wurde ernsthaft gefährdet - vor allem dann, als um die Jahrtausendwende die Missionstätigkeit der Sekte zurückging, durch die zusätzliche Partner von außen gewonnen werden konnten.80 Man hat die konsequente Weiterentwicklung des 56
„rikkub"-Systems recht treffend als „something approaching to group suicide" charakterisiert 81 Zu dieser Folge kam es freilich nicht Um die Mitte des 11. Jahrhunderts setzte sich der in Jerusalem lebende Gelehrte Jeshuah ben Judah in einem PentateuchKommentar mit der geltenden Lehrmeinung der Karäer kritisch auseinander.82 Er widerlegte einige wichtige Punkte von deren theoretischen Grundlagen und gelangte zu einem Katalog von Inzestveiboten, der nur wenig über den des Levitikus hinausging. Seine Schriften bildeten die Grundlage für die Heiratspraxis der Karäer in der Folgezeit Was Rabbi Jeshuah ben Judah für die Karäer leistete, läßt sich in etwa damit vergleichen, was die Neuregelung der Inzestfrage am vierten Laterankonzil für die römische Kirche bedeutete. In beiden Fällen waren Phasen vorangegangen, in denen die immense Steigerung der verbotenen Ehen zu ernsten gesellschaftlichen Gefährdungen geführt hatte. Die Ausweitung bis zum siebten Grad der Blutsverwandtschaft ist diesbezüglich durchaus dem voll entwikkelten „rikkub"-System an die Seite zu stellen. Hier wie dort hat eine radikale Rücknahme die bis ins Unerträgliche gesteigerte Situation entspannt Was diese exorbitante Ausweitung verbotener Verbindungen bewirkt hat, ist im Fall der Karäer ganz offenkundig. Kein Interpret der Entwicklung, der ernst genommen werden will, wird auch nur einen Gedanken darauf verschwenden, ob es den jüdischen Sektierern nicht vielleicht doch in Wahrheit um Besitzakkumulation aufgrund von Schenkungen verhinderten Erbguts oder um mehr politischen Einfluß durch die Schwächung der Solidarbeziehungen gesellschaftlicher Führungsgruppen ging. Die religiöse Motivation liegt bei diesen asketischen Rigorosisten allzu deutlich auf der Hand. Sicherlich wird man den Hinteigrund ihrer Intentionen nicht ohne weiteres auf christliche Gruppierungen der gleichen Epoche übertragen können. In einer vergleichenden Betrachtung drängt sich jedoch die Frage auf, ob nicht auch die Ausweitung der christlichen Inzestverbote im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung in der neueren Forschung verstärkt von religiösen Momenten bedingt gesehen werden muß. Es mag gewagt erscheinen, Verhältnisse in der römischen Kirche im Hochmittelalter mit denen in einer jüdischen Sekte in dieser Zeit zu vergleichen. Das Tertium comparationis ist dabei auch nur die extreme Gefährdung der Heiratsmöglichkeiten durch eine extreme Verschärfung der Inzestregeln. Im Inhalt dieser Normen ergeben sich nur wenig Übereinstimmungen. Solche inhaltliche Entsprechungen in den Verboten der Verwandtenheirat finden sich hinge57
gen in wesentlichen Punkten zwischen den Karäem und den nestorianischen Christen. Wir haben in der „Ordnung der Ehe und der Erbschaften" des 'Abdisö Bar Bahriz gesehen, daß ihn das Schriftwort von Mann und Frau, die „ein Heisch" werden, dazu geführt hat, auch die Eltern, Geschwister und Kinder des Ehepartners als Verwandte „dem Fleische nach" zu sehen. Das ist derselbe Standpunkt, den auch die Karäer unter Berufung auf diese Bibelstelle einnehmen, allerdings mit viel weiter reichenden Konsequenzen. Viktor Aptowitzer hat nachgewiesen, daß schon die eherechtlichen Neuerungen des Nestorianerpatriarchen Mär Tlmotheos im frühen 9. Jahrhundert sehr weitgehend mit karäischen Vorstellungen übereinstimmen.83 Das gilt etwa für das Verbot der Ehen von Vater und Sohn mit Mutter und Tochter, von Vater und Sohn mit zwei Schwestern bzw. von zwei Brüdern mit zwei Schwestern, bei denen jeweils die Kinder oder Geschwister des Partners als eigene Blutsverwandte gedeutet werden. Auch die nach dem Analogieprinzip untersagte Verbindung mit angeheirateten Onkeln entspricht karäischem Denken. Die Sekte der Karäer ist um die Mitte des 8. Jahrhunderts in Babylonien entstanden. Schon aufgrund der räumlichen und zeitlichen Nähe ist es sehr wahrscheinlich, daß der Nestorianerpatriarch von Seleukia mit den Ansichten des Sektengründers Anan wohl vertraut war. Vielleicht ging der Anstoß unmittelbar von den Karäem aus, daß auch bei den Nestorianern die Interpretation des Levitikus neu diskutiert wurde. Vielleicht gab es auch schon vorausgehende Interpretationsansätze ähnlicher Art, auf die sich beide stützten. Wie auch immer, es handelt sich bei Karäern und Nestorianern nicht nur um parallel verlaufende Entwicklungen der Ausweitung von Inzestregeln, es handelt sich bei ihnen auch um Entwicklungen auf gleicher Grundlage. So erscheint es sinnvoll, bei einem Erklärungsversuch der Ausweitungsprozesse christlicher Inzestregeln noch einmal auf die gemeinsame christlich-jüdische Basis zurückzugehen und nach den Entwicklungsmöglichkeiten des Heiratsverhaltens zu fragen, die im Mosaischen Gesetz grundgelegt sind Das Judentum wird häufig als eine endogame Religion charakterisiert 84 Dieses Urteil läßt sich nur bedingt aufrechterhalten. Liest man Einleitung und Schluß der Inzestverbote des Buches Levitikus, so wird deutlich, daß es sich hier um Einschränkungen gegenüber der Praxis im gesellschaftlichen Umfeld der Israeliten handelt Bevor im einzelnen aufgezählt wird, wessen „Scham zu entblößen" verboten ist, heißt es hier 8 5 „Ihr sollt nicht tun, was man in Ägypten tut, wo ihr gewohnt habt; ihr sollt nicht tun, was man in 58
Kanaan tut, wohin ich euch führe." Und abschließend wird nochmals betont: „Ihr sollt euch nicht durch all das verunreinigen; denn durch all das haben sich die \fölker verunreinigt, die ich vor euch vertrieben habe. Das Land wurde unrein, ich habe an ihm seine Schuld geahndet, und das Land hat seine Bewohner ausgespieen." Dem Selbstverständnis der Israeliten nach war also die besondere Reinheit des Volkes gerade dadurch gegeben, daß hinsichtlich sexueller Beziehungen unter Verwandten viel strengere Regeln eingehalten wurden als in der Nachbarschaft In ihrer Wureel könnten die Verbote des Levitikus die Meidung inzestuöser Beziehungen innerhalb einer Hausgemeinschaft gemeint haben. 86 Die aufgezählten Verwandtschaftsgrade entsprechen in etwa der möglichen Zusammensetzung eines patrilinear-komplexen Großhaushalts, wie er für die Frühzeit der Stammesgeschichte angenommen werden darf. In ihrer Auswirkung hatten sie jedoch zur Folge, daß die Heirat von Frauen der nächsten Angehörigen - die Witwe des söhnelos verstorbenen Bruders ausgenommen - generell ausgeschlossen wurde. Das bedeutete einen sehr grundsätzlichen Unterschied zu den Ehebräuchen des alten Orients. Es war hier verbreitet, nach dem Tod des Vaters die Stiefmutter, des Onkels die angeheiratete Tante, des Bruders die Schwägerin, aber auch des Sohnes die Schwiegertochter als Gattin zu übernehmen.87 Überall wo Formen der Kaufehe das Eherecht beeinflußten, konnte es zur Übertragung von Frauen durch Eibschaft kommen. In komplexen Großfamilien war damit zugleich in einfacher Weise für die Witwe und die Kinder gesorgt, die im bisherigen Familienveitoand verbleiben konnten. Bis weit herauf hielten sich in vielen Regionen des Orients solche Formen der Zweitheirat mit Schwiegerverwandten.88 Das Judentum hat sich gegenüber dieser Praxis schon früh abgegrenzt. Seine Tendenz zur Exogamie im Bereich der Schwiegerverwandtschaft ist sicher eine spezifische Besonderheit. Aber auch im Bereich der Blutsverwandtschaft läßt sich nicht schlechthin von endogamen Strukturen sprechen. Der quantitative Befund, daß unter den fünfzehn verbotenen Beziehungen, die im Buch Levitikus aufgezählt werden, zwar neun die Schwiegerverwandtschaft, aber nur sechs die Blutsverwandtschaft betreffen, besagt diesbezüglich nicht allzuviel. Wichtig erscheint jedoch die allgemeine Bestimmung, die den Katalog einleitet: „Niemand von euch darf sich seinem Blutsverwandten nähern um die Scham zu entblößen." 89 Dies ist eine generelle Aussage, die als grundsätzliches Verbot von sexuellen bzw. ehelichen Verbindungen unter Personen gleicher Abstammung gedeutet werden konnte -
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unabhängig von den anschließend aufgezählten Einzelfällen. Sie bot Ansatzpunkte, um unterschiedliche Formen von Exogamieregeln aus anderen Systemen unter die Bestimmungen des Levitikus zu subsumieren. Sie erlaubte es durch ihre Allgemeinheit aber auch, alle Ausweitungen von Inzestverboten auf nicht erwähnte Grade mit der Berufung auf göttliches Gesetz zu rechtfertigen. Für asketische Reformer war hier ein breiter Spielraum gegeben. Solchen Ansätzen, die exogame Tendenzen förderten, standen im Judentum starke Faktoren gegenüber, die endogames Verhalten begünstigten. Im Mosaischen Gesetz ist sowohl der Pflichtlevirat als auch die Erbtochterehe verankert Das Buch Deuteronomium schreibt vor, die Witwe des söhnelos verstorbenen Bruders zu heiraten.90 Der erste Sohn aus dieser Ehe soll mit dem Namen des Verstorbenen aufwachsen. „So soll dessen Name nicht erlöschen in Israel." In fiktiver Weise wird also die Geschlechtskontinuität aufrechterhalten. Um das zu erreichen, gilt die Wiederverheiratung innerhalb der Familie als religiöse Pflicht Geht es hier um die endogame Heirat der Witwe eines söhnelos Verstorbenen, so im Buch Numeri um die endogame Heirat von dessen Töchtern.91 Zelofhad aus dem Stamme Manasse hatte bei seinem Tod keinen Sohn, aber vier Tochter hinterlassen. Moses entschied bezüglich deren Heirat: „Das ist es, was der Herr den Töchtern Zelofhads befiehlt Heiratet den, der euch gefällt aber ihr müßt einen Mann aus der Sippe eures väterlichen Stammes heiraten. Der erbliche Besitz darf bei den Israeliten nicht von einem Stamm auf den anderen übeigehen, denn jener Israelit soll fest mit dem erblichen Besitz seines väterlichen Stammes verbunden bleiben. Jede Tochter, die Anspruch auf erblichen Besitz in einem israelitischen Stamm hat muß einen Mann aus der Sippe ihres väterlichen Stammes heiraten..." Alle vier Tochter des Zelofhad heirateten einen Sohn eines väterlichen Onkels. Im gleichen Sinn ist auch im Buch Tobias das Recht des Vetters auf die Ehe mit der Eibtochter ausgesprochen.92 Zahlreich sind die Beispiele endogamer Heiraten, von denen in den heiligen Schriften berichtet wird. Sicher kam diesen Beispielen Vorbildwirkung für das reale Heiratsverhalten zu. Schon die Patriarchen wählten nach dem Bericht der Genesis weitgehend Partnerinnen aus ihrem nächsten Verwandtenkreis - zum Teil so nahestehende, daß die Verbindung nach den Regeln des Levitikus untersagt gewesen wäre. 93 Im Buch der Jubiläen wird über die biblischen Berichte hinausgehend immer wieder berichtet, daß die Urväter vor
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und nach der Sintflut die Tochter der Schwester oder des Bruders ihres Vaters geheiratet hätten.94 Noch wichtiger als die gesetzlichen Heiratspflichten und die Vorbilder der heiligen Schriften scheint aber für die endogamen Tendenzen im Judentum ein anderer religiöser Faktor gewesen zu sein, nämlich das besondere Interesse an Abstammungsreinheit Joachim Jeremias hat in seiner Albeit über .Jerusalem zur Zeit Jesu" anschaulich dargestellt, welche enorme Rolle das Prinzip der Geblütsreinheit damals in der jüdischen Gesellschaft spielte.95 Legitime Herkunft von Vater- und Mutterseite war nicht nur für die bürgerlichen Vorrechte der Vollisraeliten wichtig.96 Mit ihr waren vor allem auch religiöse Heilserwartungen verknüpft 97 In doppelter Weise vermittelte Abstammung die Verdienste der Vater auf die Kinder. Zunächst wurde den Nachkommen Abrahams insgesamt Anteil an den Verdiensten des Stammvaters bzw. der Erzväter zugeschrieben. Als Folgewirkung dieser Verdienste galt die Erhörung von Gebeten, der Schutz in Gefahr, der Beistand im Krieg, der Ersatz fehlender eigener Verdienste, die Sühne von Sünden, die Besänftigung des Zornes Gottes, die Aufhebung seiner Strafbeschlüsse und die Teilhabe an Gottes ewigem Reich. Zum zweiten wurde aber auch jedem Israeliten ein besonderer Anteil an den Verdiensten und den Fürbitten seiner eigenen Ahnen zugeschrieben, wenn diese gerecht gelebt hatten: „Das Gebet eines Gerechten, der Sohn eines Gerechten ist, ist nicht gleich dem Gebet eines Gerechten, der Sohn eines Frevlers ist" Für die Zeit der Widerkunft des Messias durften nur die rein israelitischen Familien des Anteils am messianischen Heil sicher sein, weil nur ihnen das Verdienst der Legitimität ihrer Abstammung beistehen würde. Letztlich hing also die Heilsgew ißheit von der Abstammung ab. So scheint es verständlich, daß rein israelitische Familien bei der Verheiratung ihrer Kinder sehr genau auf die Blutsreinheit der Partner achteten. Die Überprüfung der Stammbäume zukünftiger Schwiegerkinder war dabei eine Möglichkeit.98 Noch größere Sicherheit hatte man freilich, wenn man die Gattin oder den Gatten gleich aus der eigenen Familie wählte. Die Vorstellungen über Zusammenhänge zwischen Abstammung und Heilserwartung begünstigten so sehr wesentlich das endogame Heiratsverhalten. Da sich im Judentum die Würde des Priesters wie auch die des Leviten vererbte und auf keinem anderen Wege als durch Geschlechtszugehörigkeit gewonnen werden konnte, war es für diese Gruppen besonders wichtig, daß die Reinheit der Abstammung gewahrt blieb.99 Im Tempel von Jerusalem gab es ein Archiv, in 61
dem die Stammbäume der Priesterschaft aufbewahrt und ergänzt wurden. Auf sie griff man zurück, um die legitime Abstammung zu überprüfen, wenn ein Priestersohn das Alter von zwanzig Jahren erreicht hatte und zur Ordination zugelassen werden sollte. Besondere Reinheitsvorschriften wurden auch bei der Wahl der Priestersgattin beachtet 100 Die jüdische Priesterschaft stellte eine Art sakraler Aristokratie dar, in der die Qualifikation zum Amt sehr maßgeblich von der Abstammung abhing. Die Tendenz zur Verwandtenheirat war in dieser Gruppe dementsprechend stark.101 Wo priesterliches Charisma durch Geblüt übertragen gedacht wird, neigen Priesterdynastien insgesamt zur Endogamie. In einer so ausgeprägten Abstammungsreligion wie dem Judentum mußte dieses Moment in besonderer Weise zum Tragen kommen. Faktoren, die die Exogamie begünstigten, und solche die die Endogamie förderten, standen im Judentum gleichzeitig wirkend nebeneinander. Daraus ergab sich ein Spannungsfeld, in dem notwendig immer wieder Diskussionen um die Erlaubtheit verschiedener Formen der Verwandtenheirat entstehen mußten. Solche inneijüdische Diskussionen gab es schon vor der Entstehung des Christentums. Die Damaskusschrift ist ein Zeugnis dafür. In ihrer Argumentation gegen die Nichtenheirat wendet sie jenes Grundprinzip der Analogie von Verboten an, das Jahrhunderte später von den Karäern bis ins Extrem weiterentwickelt wurde.102 Durch ihr Eintreten für die Monogamie steht sie implizit in Gegnerschaft zum Levirat, der strukturell eine polygame Gesellschaft voraussetzt 103 Aber auch in der für endogame Heiratsstrategien so zentralen Frage der Teilhabe an religiösen Verdiensten der Vorfahren gibt es damals im Judentum abweichende Positionen. Philon von Alexandrien etwa wendet sich unter hellenistischem Einfluß gegen die traditionelle Vorstellung einer Solidarität des Geschlechts in Verdienst und Sünde.104 Auch Schlechte stammten von Guten ab. Nicht auf die Abkunft von guten Vätern und Großvätern käme es an, sondern auf die Nachahmung von deren Frömmigkeit. Sowohl in seiner Haltung zum religiösen Wert der Abstammung als auch in seiner Argumentation gegen Verwandtenheiraten nimmt Philon Standpunkte ein, die sich später ganz ähnlich im Christentum finden.105 Die Situation im frühen Christentum ist gegenüber den im Judentum vorgegebenen Bedingungen des Heiratsverhaltens durch deutliche Kontinuitäten, aber auch durch scharfe Brüche charakterisiert Daß die Bestimmungen des Buchs Levitikus weiterhin gelten sollten, scheint nie in Frage gestanden zu sein. Mit ihnen wirkte auch die Vorstellung weiter, daß Inzestvermeidung ein 62
Kernstück der Sexualethik sei, ebenso der Auftrag, sich durch besondere Strenge in diesen Belangen von der jeweiligen Umwelt zu unterscheiden. Zu einer grundsätzlichen Neuorientierung kam es hingegen in der Bewertung der Heilsbedeutsamkeit von physischer Herkunft Nicht mehr die Abstammung von Abraham und die Verdienste der Väter waren entscheidend, sondern die Wiedelgeburt durch die Taufe.106 Im Übergang von der Abstammungs- zur Bekehrungsreligion verlor das Geblütsdenken seine Bedeutung. Auch das Priesteramt basierte nicht mehr auf dem Geblütsprinzip. Wesentliche Voraussetzungen, die im Judentum Endogamie begünstigt hatten, waren somit nicht mehr gegeben. Aus dem Spannungsfeld endogamie- und exogamiefördernder Kräfte, die sich in der jüdischen Tradition wirksam gezeigt hatten, traten die letzteren im Christentum ganz deutlich in den Vordergrund Wenn Abstammung im Christentum jegliche religiöse Bedeutung verlor, so bezog sich das nicht nur auf die Erblichkeit von Verdiensten, die im Judentum die Wahl von Partnern gleicher Geblütsreinheit begünstigte. Es galt ebenso für den Wert der Fortpflanzung in männlicher Linie. Die Patrilinie zu erhalten, hatte in der Antike weit über das Judentum hinaus in vielen Kulturen eine hohe religiöse Bedeutsamkeit Fehlten leibliche Söhne, so suchte man nach Ersatzlösungen. Bei der Erbtochterehe wird die Erhaltung der Familienkontinuität durch die Heirat der Tochter des söhnelos Verstorbenen mit einem nahen Verwandten im Mannesstamm erreicht, in der Regel mit dem Sohn eines Bruders. Im griechischen Epiklerat begegnet diese Form der Endogamie mit besonders weitreichenden Konsequenzen.107 Wurde eine Tochter zur „Epikleros", so mußte sie den nächsten Agnaten selbst dann heiraten, wenn sie schon eine andere Ehe eingegangen war. Das geht weit darüber hinaus, was Moses den Töchtern des Zelofhad befahl. Die religiöse Wurzel für die Einrichtung des Epiklerats liegt im Totenkult In ähnlicher Weise wie die Erbtochterehe dient auch der Levirat in fiktiver Form der Erhaltung des Mannesstamms. Im Judentum ist die Verpflichtung zu dieser Eheform auf den nächstältesten Bruder beschränkt Viel weitergehende Formen des Leviratsprinzips finden sich beispielsweise im Zoroastrismus.108 Auch andere männliche Verwandte des söhnelos Verstorbenen können hier die Verpflichtung zur stellvertretenden Zeugung von Nachkommenschaft übernehmen. Und nicht nur mit der Witwe, sondern auch mit einer Blutsverwandten erscheint dies möglich. Vom Leviratsgedanken her ergeben sich so Verbindungen zu den insgesamt extrem endogamen Heiratspraktiken, die der Zoroastrismus empfiehlt Von allen 63
diesen Religionen mit sakraler Bedeutung von Abstammungsverhältnissen unterschied sich das Christentum in sehr grundsätzlicher Weise. Wenn das Christentum aus der jüdischen Tradition Verbote von Verwandtenheiraten übernahm, nicht aber Voraussetzungen, die solche Ehen begünstigten, so hatte das keineswegs zur Folge, daß endogames Verhalten nun bekämpft worden wäre. Wie daigestellt wurde, dürfte es bis ins 4. Jahrhundert nicht zu einer Ausweitung der Inzestverbote über das Buch Levitikus hinaus gekommen sein. Die Gegenüberstellung mit den jüdischen Grundlagen zeigt aber doch auch deutlich, daß im Christentum von Anfang an Tendenzen der Exogamie angelegt waren. Warum sie gerade im 4. Jahrhundert zum Tragen kamen, bedarf einer näheren Erklärung. Jack Goody hat die Entwicklung der Verwandtenheiratsverbote im Christentum seit dem 4. Jahrhundert mit dem Gegensatz zweier sehr unterschiedlicher Familien- und Verwandtschaftssysteme im Mittelmeerraum in Zusammenhang gebracht Dem endogam-östlichen stellt er das exogam-westliche gegenüber.109 Verzichtet man darauf, das letztere erst durch diese Verbote entstanden zu denken, so erscheint eine solche idealtypisch konzipierte Gegenüberstellung vom Ansatz her sehr fruchtbar. Im Westen hat die Exogamie durch das römische Recht eine weit zurückreichende Tradition.110 In der Seitenlinie der Blutsverwandtschaft war ursprünglich die Ehe bis zum sechsten Grad verboten. In der Spätzeit der Republik und in der frühen Kaisenzeit kam es zwar in den gesetzlichen Bestimmungen diesbezüglich zu Einschränkungen, daraus läßt sich aber keineswegs auf eine grundsätzliche Änderung des tendenziell exogamen Heiratsverhaltens schließen. Das Imperium Romanum umfaßte allerdings auch Bevölkerungsgruppen mit ganz anderen Traditionen. Vor allem in Ägypten, aber auch im syrisch-palästinensischen Raum war die Endogamie tief verankert Zu einer Konfrontation zwischen westlichen und östlichen Prinzipien kam es, als im 3. Jahrhundert das römische Bürgerrecht auf alle freien Bewohner des Reichs ausgeweitet wurde. Im Vergleich zu den strikt exogamen Anfängen des römischen Rechts war damals der Kreis der als Ehepartner verbotenen Verwandten ohnehin schon radikal reduziert Trotzdem kam es zu Schwierigkeiten. In Ägypten war schon vorher eingeschärft worden, daß ein römischer Bürger weder seine Schwester noch seine Tante heiraten dürfe.111 Besonders an die östlichen Provinzen des Reiches scheint auch - der Überlieferungsfoim nach zu schließen - die Konstitution der Kaiser Diokletian und Maximian von 295 gerichtet gewesen zu sein, die alle nach 64
römischem Recht verbotenen Ehebeziehungen taxativ aufzählt 112 An sie schließen die Inzestgesetze der christlichen Kaiser an. Das Verbot der Nichtenheirat von 342, das erstmals die Bruderstochter einbezieht, ist an die Bewohner von Phönizien adressiert Immer wieder geht es also um die Spannung zwischen den Heiratsgewohnheiten im Westen und im Osten des Reiches. Die christlichen Kaiser setzen in ihrem Bemühen um Einheitlichkeit der Heiratsregeln in den verschiedenen Reichsteilen nur jene Linie fort, die schon ihre heidnischen Vorgänger eingeschlagen haben. Soweit sie dabei die Typen verbotener Beziehungen ausweiten, schließen sie nicht nur an christliche Vorstellungen an, sondern ebenso auch an alte römisch-rechtliche Traditionen. Spezifisch christliche bzw. spezifisch römisch-rechtliche Wurzeln der Kaiseigesetzgebung des 4. Jahrhunderts über Inzestfragen lassen sich kaum voneinander trennen. Es wäre sicher verfehlt, etwa das Verbot der Schwagerehe ausschließlich auf den Einfluß des Mosaischen Gesetzes,113 das von Nichten- und Cousinenehe aber auf den des römischen Rechts zurückführen zu wollen. Christliche und römische Exogamieprinzipien waren zu diesem Zeitpunkt im Westen des Reiches schon viel zu sehr miteinander verschmolzen, um eine solche Unterscheidung vornehmen zu können. Sicher sind einigen, wenn nicht allen Gesetzen christlicher Kaiser über verbotene Verwandtenheiraten kirchliche Entscheidungen zur selben Frage vorausgegangen. Das heißt aber nicht, daß es dabei um genuin christliche Normvorstellungen gegangen sei. Man muß davon ausgehen, daß im Westen des Reiches Jahrhunderte hindurch die altrömischen Exogamieprinzipien das Heiratsverhalten geprägt haben. Das Inzestempfinden der Bevölkerung ging daher wohl deutlich über jene Grenzen hinaus, die das römische Recht der Kaiserzeit für Verwandtenheiraten noch zuließ.114 In der Verbindung mit den exogamen Strukturen des Christentums erhielt diese Tradition einen neuen Rahmen. Der generelle Auftrag des Levitikus, die Verbindung mit Blutsverwandten zu meiden, konnte durchaus auch auf die Blutsverwandtschaft im Sinne des römischen Rechts bezogen werden, wenn auch nicht gleich bis zu ihrer Grenze im siebten Grad, wie das später von der Kirche gefordert wurde.115 Die Selbstverständlichkeit mit der ein Ambrosius oder ein Augustinus die Nichten- und die Cousinenheirat verurteilt läßt deutlich erkennen, wie stark damals römisches Herkommen als christlich verstanden wurde. Ein derart von römischen Traditionen geprägtes Substrat scheint es freilich nur in der westlichen Kirche gegeben zu haben. Im 65
östlichen Mittelmeerraum dürften im 4. Jahrhundert auch unter Christen in vielen Fragen andere Vorstellungen von inzestuösem Verhalten bestimmend gewesen sein. Wahrend eine römische Synode aus der Zeit vor 374 auf eine Anfrage gallischer Bischöfe antwortete, daß Ehen unter Geschwisterkindern unerlaubt seien,116 weiß der sonst in Angelegenheiten von Verwandtenheiraten so strenge Kirchenlehrer Basilius, Bischof von Cäsarea im Pontus, zur gleichen Zeit noch nichts von einem solchen Verbot. Seinerseits verurteilt er aufs schärfste die Ehe mit der Schwester der verstorbenen Frau, durchaus in Einklang mit der spanischen Synode von Elvira aus dem frühen 4. Jahrhundert, aber in offenem Widerspruch zu seinem Amtskollegen Diodorus von Taurus, der kurz vorher gegenteilig entschieden hat, und wohl auch zu einigen ägyptischen Bischöfen, die 381 von ihrem Patriarchen diesbezüglich belehrt werden mußten.117 Basilius begründet seinen Standpunkt primär mit kirchlicher Übung, die offenbar von Region zu Region sehr unterschiedlich war. Als biblisches Argument kann er bloß das allgemeine Verbot des Verkehrs mit Blutsverwandten im Levitikus ins Treffen führen - gewissermaßen die Generalbevollmächtigung für alle christlichen Erweiterungen von Inzestveiboten - und auch das nur, indem er die Schwägerin im Sinne des „una-caro"-Gedankens mit der Schwester gleichsetzt 118 Es sind uns für das 4. Jahrhundert nicht allzu viele Beispiele für solche Unterschiede im kirchlichen Usus überliefert. Doch schon diese wenigen lassen erkennen, in welchem Ausmaß sich damals Aufgaben der innerkirchlichen Vereinheitlichung von Normen bezüglich Verwandtenheiraten stellen. Die Situation der Kirche läßt sich in dieser Phase durchaus mit der des Reiches nach der allgemeinen Verleihung des Bürgerrechts vergleichen. Wie die römischen Kaiser in ihrer Inzestgesetzgebung, so war auch die Kirche mit beträchtlichen regionalen Strukturunterschieden konfrontiert, die in die kirchliche Praxis Eingang gefunden hatten. Mit dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion verstärkte sich der Druck auf eine Vereinheitlichung. Staatliche und kirchliche Gesetzgebung standen nun in Wechselwirkung. Erreicht wurde ein solcher Ausgleich in den Normen über verbotene und erlaubte Verwandtenheiraten unter den Christen des Römerreichs bei weitem nicht Zu groß waren dazu die Unterschiede, vor allem zwischen den Gemeinden des Ostens und des Westens. Die Synodalbeschlüsse des 4. Jahrhunderts sind aber erste Schritte in diese Richtung. Daß sich bei solchen Bemühungen um Vereinheitlichung oft der Standpunkt der strengeren Richtung durchsetzte, entsprach jenen strukturell exogamen Voraussetzun66
gen, die im Christentum schon von seinen Ursprüngen her grundgelegt waren. Gegensätze zwischen östlich-endogamen und westlich-exogamen Strukturen gab es im 4. Jahrhundert nicht nur als innerkirchliches Spannungsmoment aufgrund unterschiedlicher Traditionen, die vom Christentum aufgenommen wurden. Sie wurden auch durch die Auseinandersetzung des Christentums mit anderen Religionen bedingt Unter den orientalischen Kulten, die Verwandtenheirat begünstigten, stand diesbezüglich dem Christentum der Zoroastrismus als besonders extremer Widerpart gegenüber. Im Zoroastrismus waren mit der Endogamie besondere Heilserwartungen verbunden.119 „Xvaetvadatha" bzw. „xvetükdas", wie der Geschlechtsverkehr mit Familienangehörigen und wohl erst davon abgeleitet auch das Eingehen von Verwandtenehen in den heiligen Texten genannt wird, galt als das zweite der sieben guten Werke, als die achte der zehn Ermahnungen Zarathustras an die Menschheit, als der neunte der dreiunddreißig Wege, um in den Himmel zu kommen. Man hielt ein solches Verhalten für ein Bollwerk gegen die Macht der Dämonen und sah in ihm die Quelle des Fortschritts der Welt hin zur Erneuerung des Universums. Als die vollständigste Form des „xvetükdas" wurde die Verbindung mit den allernächsten Verwandten angesehen, also auch mit den eigenen Kindern und Geschwistern. Im interkulturellen Vergleich betrachtet, kann man diese Heiratsempfehlungen wohl als die radikalste Infragestellung von Inzestnormen überhaupt bezeichnen, die sich in historischen Gesellschaften feststellen läßL120 Der Zoroastrismus hatte schon im 3. Jahrhundert im Römerreich missioniert, und zwar vor allem in Kilikien und Kappadokien.121 Diese Missionstätigkeit nahm besonders aggressive und expansive Formen unter dem obersten Hauptpriester Kartir an, der unter vier Sassanidenkönigen zwischen 242 und 293 wirkte. Kartir rühmte sich in einer Gedenkinschrift, zahlreiche Heiraten zwischen nahen Verwandten gestiftet zu haben. Die Propaganda für „xvetükdas" war also offenbar Teil der zoroastrischen Missionspolitik. Gegen inzestuöse Ehen der Perser bzw. der „Magusäi" im Römerreich richten sich auch voll Abscheu sowohl nichtchristliche wie christliche Quellen, vor allem zu Anfang des 4. Jahrhunderts.122 Diese Ehen standen in Widerspruch zu den römisch-rechtlichen Inzestnormen, die man damals auch in den östlichen Provinzen durchzusetzen bemüht war.123 Den Christen mußten sie durch die mit ihnen verbundenen Heilsversprechungen doppelt suspekt erscheinen. In der Abgrenzung gegen solche extrem endogame Tendenzen, die 67
von der Staatsreligion des verfeindeten Nachbarreichs ausgingen, mögen sich schon vorgegebene exogame Tendenzen verfestigt haben. Daß die Auseinandersetzung mit dem Zoro as trismus die Profilierung christlicher Inzestverbote wesentlich beeinflußt hat, zeigt die Entwicklung in christlichen Gruppen außerhalb des Imperium Romanum. In Armenien war zeitweise der Einfluß der sassanidischen Religionspolitik besonders stark.124 Im Zuge der Reorganisation christlicher Ordnungen wurde hier 347 auf der Synode von Astisat das Verbot der Nichtenheirat beschlossen.125 Es ist das der erste nachweisbare Beschluß einer christlichen Synode gegen Ehen unter Blutsverwandten überhaupt Im Hinblick auf die besondere Aktualisierung von Endogamiefragen in diesem Raum durch die zoroastrische Mission darf ein Zusammenhang angenommen werden. Offen ausgesprochen wird diese Stoßrichtung eherechtlicher Bestimmungen bei den nestorianischen Christen. Zwar gibt es erst aus dem 6. Jahrhundert solche Zeugnisse, zweifellos wirkte aber der dann faßbare Grundkonflikt der beiden Religionen schon lange zuvor. Der Nestorianerpatriarch Mär Abhä (539-552), der wegen seiner Ablehnung persisch-zoroastrischer Ehebräuche in seiner christlichen Gemeinde lange Jahre in Haft verbringen mußte, geht in seiner Argumentation für die Bestimmungen des Levitikus und gegen die von den „Magiern" propagierten Verwandtenheiraten sehr ausführlich auf zoroastrische Vorstellungen ein.126 Er versucht, die vermeintliche besondere Gerechtigkeit dieses Heiratsverhaltens aus den Glaubensvorstellungen des Zoroastrismus selbst zu widerlegen. Zu Grundsatzüberlegungen über den Wert von Endogamie und Exogamie kommt es später aus dem Kontrast der beiden Religionen im Eherecht des persischen Metropoliten Jesubocht 127 Der Patriarch Mär Timotheos begründet viele seiner Verbote von Verwandtenheiraten ganz ausdrücklich mit dem Zusatz „denn solches ist die Sitte der Magier".128 Die Bedeutsamkeit der Auseinandersetzung mit dem Zoroastrismus für die innerchristliche Debatte um die Erlaubtheit endogamer Praktiken steht aufgrund solcher Zeugnisse außer Zweifel.129 Man darf annehmen, daß sie schon im 4. Jahrhundert zur Klärung der Positionen beigetragen hat So unterschiedlich sich die Prozesse der Ausweitung verbotener Ehen unter Verwandten in den einzelnen christlichen Kirchen entwickelten - im wesentlich kann man sie als eine Entfaltung jener Grundlagen auffassen, die bereits im 4. Jahrhundert sichtbar werden. Drei Prinzipien erscheinen dabei für die weitere Entwicklung besonders wesentlich. Als erstes ist die Verbindung von „lex 68
divina" und „lex saeculi" zu nennen, die durch eine großzügige Auslegung des allgemeinen Verbots von Ehen unter Blutsverwandten in der Einleitung der Inzestbestimmungen im Buch Levitikus möglich wurde. Die Aufnahme römisch-rechtlicher Verwandtschaftskonzeptionen in das christliche Eherecht war langfristig für die Ausweitung der verbotenen Grade von enormer Bedeutung. Das gilt vor allem für die abendländische Kirche. Die byzantinische Kirche hat zwar diesen Prozeß auch mitgemacht, allerdings mit einer sehr großen zeitlichen Phasenverschiebung.130 Bei jenen christlichen Gruppen, die sich unter nichtchristlicher Herrschaft befanden, fehlt eine solche Verbindung mit der „lex saeculi". Insbesondere die Nestorianer haben die alttestamentlichen Bestimmungen ohne solche Zusätze bewahrt Die Aufnahme des Verbots der Ehe unter Milchverwandten bei Jakobiten und Kopten hat wohl nichts mit den Herrschaftsverhältnissen in ihrem Umfeld zu tun. Ebensowenig wie bei den Armeniern dürfte es durch islamischen Einfluß entstanden sein.131 Man wird eine andere Erklärung dafür suchen müssen.132 Als eine interessante Aufgabe erscheint es, der Frage nachzugehen, inwieweit in der armenischen und äthiopischen Staatskirche vorchristliche Regeln von Endogamie und Exogamie eine Verbindung mit der „lex divina" eingegangen sind.133 Als ein zweites Grundprinzip der Entwicklung kann die Verbindung der Inzestverbote des Levitikus im Bereich der Schwiegerverwandtschaft mit dem „una-caro"-Gedanken angesehen werden. Die Verbote sexueller Beziehungen zu den Frauen von Agnaten sind im Levitikus sehr zahlreich - vermutlich als Ausdruck einer ursprünglichen Funktion dieser Bestimmungen im Rahmen patrilinear-komplexer Großhaushalte. Sowohl im Judentum wie im Christentum behielten sie unter ganz anderen Voraussetzungen der Familienstruktur weiterhin Geltung. Eine innere Logik ließ sich herstellen, wenn man sie mit dem Schriftwort, daß Mann und Frau „ein Fleisch" werden, verband Sowohl im Judentum wie im Christentum wurde, wie wir gesehen haben, dieser Ansatz weitelgedacht, freilich auch entschieden in Frage gestellt Bei Basilius dem Großen sind wir ihm im 4. Jahrhundert begegnet Im Westen hat erstmals Gregor der Große seinem berühmten Brief an Augustinus von Canterbury, der für die Geschichte der Ehehindernisse im Abendland so bedeutsam wurde, dieses Prinzip zugrunde gelegt - freilich nur in Beschränkung auf Stiefmutter und Witwe des Bruders.134 Der logische Schluß, daß nach dem „una-caro"-Prinzip die verbotenen Grade der Schwiegerverwandtschaft genauso weit reichen müßten 69
wie die der Blutsverwandtschaft, hat er noch nicht gezogen. Papst Zacharias formulierte diesen Grundsatz erstmals 747 in einem Brief an König Pippin. Wenn Schwiegerverwandtschaft auf körperlicher Vereinigung beruhte, so mußte - konsequent weitergedacht - auch aus unerlaubten Beziehungen das Ehehindernis der Verwandtschaft entstehen. Die westliche Kirche hat dementsprechend einen eigenen Typus von Eheverboten „ex copula illicita" entwickelt 135 In Byzanz, wo man der „copula camalis" für die Ehe keine derart konstitutive Bedeutung beimaß, kam es nicht zu einer solchen Ausweitung des Inzestbegriffs,136 auch nicht in den anderen orientalischen Kirchen, in denen die „una-caro"-Lehre für die Eheverbote sonst eine wichtige Rolle spielte. Wir haben diese Bedeutsamkeit am Beispiel des Eherechts des eAbdisö Bar Bahriz bis in Einzelheiten verfolgt.137 Während es hier um die Blutsverwandten der Gatten von Blutsverwandten in einem eher eingeschränkten Ausmaß geht, sind im Abendland die Gattinnen aller Blutsverwandten in einem sehr weiten Umfang die verbotenen Partnerinnen. E n drittes Grundprinzip, das in der Ausweitung christlicher Heiratsverbote unter Verwandten schon seit dem 4. Jahrhundert sichtbar wird, ist die Konstruktion analoger Verbote zu biblisch festgelegten. Diese Methode findet sich zwar unter christlichen Autoren kaum je als spezifische Zugangsweise so deutlich ausformuliert wie im Judentum bei den Karäern, der Sache nach ist sie jedoch offenkundig bereits früh wirksam. So fügt etwa Papst Damasus (366-384) in seinem Schreiben an die gallischen Bischöfe unter den verbotenen Frauen der Schwiegerverwandtschaft ganz selbstverständlich die Frau des Mutterbruders hinzu, obwohl Levitikus nur die des Vatersbruders nennt Ahnlich hält es der heilige Hieronymus.138 Das zeitgleiche Verbot der Ehe mit der Schwägerin sowohl über den Bruder als auch über die Frau gehört wohl in denselben Kontext; und auch im Verbot der Nichtenehe scheint sich das Christentum schon früh den Standpunkt der Damaskus-Schrift zu eigen gemacht zu haben, daß sie als Parallele zum Verbot der Tantenehe dem Sinne nach im Mosaischen Gesetz grundgelegt sei. Für eine Entfaltung der Verbote durch Analogiekonstruktionen bot das Buch Levitikus ja auch eine ausgezeichnete Basis. Die wohl an Hausgemeinschaftsstrukturen orientierte Systematik war völlig asymmetrisch.139 Für Inzestregeln aber lag es nahe, die Verbote an gleichen Verwandtschaftsabständen auszurichten. Der Katalog des Levitikus stellte so geradezu eine Herausforderung dazu dar, die Frage nach zugrundeliegenden Sinnprinzipien zu stellen und darauf aufbauend „per analogiam" neue Regeln zu erschließen. 70
Ein sehr wesentlicher Bereich der christlichen Inzestregeln läßt sich weder unmittelbar noch vermittelt aus der im Levitikus festgelegt gedachten „lex divina" erklären - nämlich der Komplex der Ehehindernisse aufgrund geistlicher Verwandtschaft 140 Hier handelt es sich um einen sehr eigenständigen und sehr spezifischen Beitrag des Christentums zur Inzestproblematik. Religiöse Beziehungen, die aus der Patenschaft bei der Taufe entstehen, werden als gleichartig und gleichwertig mit Blutsbindungen angesehen. Für manche haben sie sogar höheren Rang. Die Gemeinschaft durch das Taufsakrament als „Geburt dem Geiste nach" erscheint mit sexuellen Beziehungen noch weniger vereinbar als die Gemeinschaft der Familie, in die man durch die „Geburt dem Heische nach" eintritt. Von jenen Wurzeln der Inzestehen, die man als ein Universale der Menschheit ansehen darf, hätte man sich wohl kaum weiter entfernen können als durch ein solches Konzept 141 In ihm kommt ein für das Christentum sehr typisches Grundprinzip zum Ausdruck, dem wir schon als Wurzel des Gegensatzes zu endogamen Tendenzen im Judentum begegnet sind: Die leibliche Abstammung ist religiös ohne jede Bedeutung. Die Entfaltung von Ehehindernissen der geistlichen Verwandtschaft verweist so auch auf allgemeine Tendenzen in der Entwicklung von Familien- und Verwandtschaftssystemen, die durch die Entstehung und Ausbreitung des Christentums wirksam geworden sind Im Rahmen des Prozesses der Ausweitung von Eheverboten unter Verwandten signalisiert sie in besonderer Weise den hohen Stellenwert religiöser Faktoren. Durch Eheverbote zwischen dem Paten und seinem Patenkind bzw. dessen Familienangehörigen konnte man keine Elbschaftsstrategien beeinflussen, keine Schenkungen an die Kirche begünstigen, keinen Heiratsmarkt regulieren und auch nicht die Solidarität von Adelsgeschlechtern stärken oder brechen. Solche Eheverbote sind ausschließlich aus religiöser Logik zu verstehen. Wir haben genügend Hinweise gefunden, daß eine solche religiöse Logik als Entfaltungsprinzip dem gesamten Prozeß zugrunde liegt, innerhalb dessen Inzestregeln der geistlichen Verwandtschaft einen integrierenden Teilaspekt darstellen. Aus dem Taufsakrament Verwandtschaftsbeziehungen abzuleiten und aus diesen wiederum Inzestbestimmungen, den jeweils gemeinten Sinn der Begriffe „Schwester" oder „Tochtef" in Stellen des Alten Testaments zu deuten, Analogiekonstruktionen zu Bestimmungen des Levitikus auf ihre Berechtigung zu überprüfen das alles gehörte in den Bereich der theologischen und juridischen Spekulation. Was in den Kanones des Früh- und Hochmittelalters 71
festgeschrieben wurde, drückt sicher stärker die eherechtliche Lehrmeinung führender Kirchenmänner aus als die Vorstellungen, die in der Bevölkerung über das Meidungsverhalten unter Verwandten herrschte. Wenn man etwa liest, daß ein Mann nicht verbunden werden solle „mit der Mutter der Frau des Vaters seines Vaters", aber auch nicht „mit der Tochter der Schwiegertochter seines Sohnes",142 so stellt man sich die Frage, ob nicht solche Kasuistik völlig an den sozialen Gegebenheiten vorbeigeht und damit für das tatsächliche Heiratsverhalten relativ bedeutungslos blieb. Man wird aber wohl vorsichtig sein müssen, wegen einzelner übertriebener Spitzfindigkeiten Verschärfungen von Inzestbestimmungen insgesamt bloß als kanonistische Tüftelei ohne realen Gesellschaftsbezug abzutun. Es gibt viele Hinweise, daß sie sehr ernst genommen wurden. Als man in Byzanz auch im Bereich der Schwiegerverwandtschaft das Verbot der Ehe bis auf den sechsten Grad ausweitete, meldete der Patriarch von Alexandrien dagegen Bedenken an, weil es in seiner stark dezimierten Gemeinde dann schwierig würde, einen noch erlaubten Ehepartner zu finden. 143 Er konnte voll überblicken, was diese relativ komplizierte Neuerung tatsächlich bedeuten würde, und er rechnete mit einer entsprechenden Umsetzung in die Praxis. Verschärfte Normen füllten also nicht bloß neue Seiten in den eherechtlichen Kodizes. Ihre reale Bedeutung wird auch daraus erkennbar, daß sie mitunter zurückgenommen werden mußten, weil sie gesellschaftlich nicht durchsetzbar waren. Der Fall des nestorianischen Patriarchen Timotheos, der die Ehe zwischen Geschwisterkindern verbot, wurde schon erwähnt 144 Er stand damit so sehr in Widerspruch zu einem Grundmuster des „orientalischen Heiratsverhaltens", daß seine Nachfolger die Bestimmung nicht aufrechterhielten. In derselben Frage hatte schon im frühen 5. Jahrhundert Kaiser Arkadius für den Osten des römischen Reiches das von seinem Vater Theodosius verfügte Verbot korrigiert - offenbar auch aufgrund des Widerspruchs zu gesellschaft anerkannten Traditionen.145 Daß solche Traditionen auch ihrerseits die kirchlichen Normen beeinflussen konnten, zeigt das Beispiel des Ehehindernisses der Milchverwandtschaft, das sich in der jakobitischen, in der koptischen und in der armenischen Kirche findet 146 Für eine theologische Argumentation solcher Verbote - etwa analog zur Patenverwandtschaft - fehlt im Christentum jede Voraussetzung. Eine unmittelbare Entlehnung aus dem Islam kommt bei Rechtssatzungen christlicher Kirchen wohl nicht in Frage. So bleibt bloß die Erklärung aus volkstümlichen Traditionen - wahrscheinlich in Kontinuität zu älteren Nomadenkulturen.147 Hier hat also offenbar 72
eine „Inzestnorm von unten" in das kirchliche Eherecht Eingang gefunden. Der Regelfall war das aber sicher nicht Die Gesamttendenz der Entwicklung wird in den christlichen Kirchen des Frühund Hochmittelalters durch „Inzestnormen von oben" bestimmt Um diese auch zu realisieren, mußte freilich eine gewisse Entsprechung in den Wertmustem und Haltungen der Bevölkerung gegeben sein. Die Überlegungen, die Joseph Lynch über das Verhältnis von Inzestempfinden und Inzestgesetzgebung angestellt hat, wird man in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen haben: Neue Normen über inzestuöse Verbindungen können nicht „ex nihilo" geschaffen werden. 148 So wird man die ganz unterschiedlichen Entwicklungsverläufe der Bestimmungen über Verwandtenheiraten in den verschiedenen Großräumen der Christenheit nicht nur als Hinweis darauf interpretieren dürfen, in welche Richtung sie verändernd wirkten, sondern auch darauf, welche Voraussetzungen sie vorgefunden haben. In seiner Analyse der Ursachen für die Tabuierung sexueller Kontakte zwischen geistlichen Verwandten hat Joseph Lynch zwei entscheidende Wurzeln herausgearbeitet:149 einerseits die spezifische Einstellung gegenüber Sexualität in Spätantike und Frühmittelalter, andererseits das christliche Konzept des Gegensatzes von Fleisch und Geist Im Zusammenspiel einer pessimistischen Sicht von sexuellen Aktivitäten und der Vorstellung, daß durch die Taufe eine spirituelle Familie entstehe, ergibt sich für ihn eine Erklärung dieses Inzestverbots. Der Schlüssel erscheint ihm dabei die Vorstellung, daß sexuelle Aktivität mit Heiligkeit nicht vereinbar sei.150 Für das Verständnis von Verboten unter Patenverwandten ist diese Ableitung überzeugend Die Ausweitungsprozesse der Verbote unter Bluts- und Schwiegerverwandten lassen sich freilich nicht mit einem solchen Unvereinbarkeitsdenken erklären. Hier geht es ja gerade nicht um spirituelle Beziehungen, die mit Sexualität in Widerspruch zu sehen sind So muß man wohl etwas weiter ausholen, um diese Prozesse mit spezifischen Einstellungen zur Sexualität im behandelten Zeitraum in Verbindung zu bringen. Christliche Sexualfeindschaft oder „pessimistische Sicht sexueller Aktivitäten", wie es Lynch formuliert, war sicher in jenen Gruppen am schärfsten ausgebildet, die unter dem Einfluß von Gnosis und Manichäismus standen.151 Hinge Verabscheuung von Verbindungen mit nahen Verwandten generell mit Sexualfeindschaft zusammen, so müßte man hier eine besonders inzestfeindliche Haltung erwarten. Dafür gibt es aber keinerlei Anzeichen. Auch in der paulinischen Tradition sexualfeindlicher Einstellungen im 73
Christentum spielt die Inzestproblematik keine wesentliche Rolle. Positiv geht es dem Apostel um Werte wie Jungfräulichkeit und Enthaltsamkeit von Witwen. Wo er sich kritisch mit Unzucht auseinandersetzt, stehen andere Bereiche sexuellen Verhaltens im Vordergrund.152 Sein scharfes Urteil über Blutschande im ersten Korintherbrief bezieht sich auf einen konkreten Enzelfall des Zusammenlebens mit der Stiefmutter.153 Der zusätzliche geistige Hinteigrund, den Paulus einbringt, hat offenbar für die christliche Einstellung zur Verwandtenheirat keine Bedeutung. Die entschiedene Ablehnung inzestuöser Beziehungen ist vielmehr eindeutig jüdisches Erbe. Vom Judentum aber kann wiederum keineswegs behauptet werden, daß es sexualfeindliche Haltungen vertreten hätte.154 Sicher - Sexualverhalten wurde hier sehr stark durch religionsgesetzliche Bestimmungen reglementiert Das bedeutete aber keineswegs eine Abwertung der Sexualität. In Hinblick auf die Bindung des Heils an die Nachkommenschaft Abrahams kam vielmehr der legitimen Sexualität sogar eine sehr positive religiöse Bewertung zu. Im Christentum hat Fortpflanzung diese Bedeutsamkeit eingebüßt und damit zugleich auch Sexualität Die zentrale Stellung, die die Inzestverbote des Levitikus in der Sexualethik des Mosaischen Gesetzes einnahmen, wurde hier ohne deren Einordnung in eine ehe- und fortpflanzungsfreundliche religiöse Grundhaltung weitergegeben. Inzestvermeidung entwickelte sich so von ihrem ursprünglichen Zusammenhang losgelöst zu einer zusätzlichen Facette im Syndrom christlicher Sexualfeindlichkeit Es sind also sehr unterschiedliche Wurzeln, aus denen heraus sich im spätantiken und frühmittelalterlichen Christentum sexualitätsablehnend-asketische Strömungen entwickelten. Die neue Verbindung, die die verschiedenen Traditionen miteinander eingingen, hat sicher auf die Entfaltung der Vorstellung von Inzest als sexueller Sünde verstärkend gewirkt - und damit auch auf die gegen ihn gerichteten Bestimmungen.155 Besonders rigorose Haltungen gegenüber Sexualität in anderen Bereichen fanden hier ebenso ihren Niederschlag. Die Inzestphobie, von der sich manche Kanonisten des Hochmittelalters geradezu besessen zeigen, wäre ohne den Zusammenhang mit allgemeinen asketischen Strömungen der Zeit wohl nicht zu verstehen. Vorsicht erscheint am Platz, den Einfluß von Asketismus auf das Verbot von Verwandtenheiraten als ein spezifisch christliches Phänomen zu sehen. Zur selben Zeit, als im Abendland die Inzestangst ihrem Höhepunkt zustrebte, hat auch die jüdische Sekte der Karäer so extreme Inzestnormen entwickelt, daß sie dadurch in ihrer 74
Existenz gefährdet erschien. Momente christlicher Sexualfeindschaft kommen für sie als Erklärungsgrund nicht in Frage. Aber es ist dieselbe religionsgesetzliche Grundlage, auf der hier diese radikalen Normen ausgebildet wurden. Auch ohne die Verbindung mit sexualfeindlichen Tendenzen anderer Herkunft konnte es auf der Basis der Bestimmungen des Levitikus durch rigide Interpretation zu sehr weitgehenden Verboten kommen. Die besondere Bedeutung der im Mosaischen Gesetz grundgelegten Entwicklungstendenzen findet in dieser späten Gleichzeitigkeit asketischer Deutungsmuster im Judentum und im Christentum in sehr eindrucksvoller Weise ihren Niederschlag. Anthropologen tendieren dazu, dem Problemkreis von Endogamie und Exogamie für die Familienverhältnisse einer Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert zuzuschreiben. Jack Goody überträgt diese Denkweise in die historische Dimension.156 In seinem Versuch, die spezifische Entwicklung von Ehe und Familie zu erklären, spielt schon vom Ansatz her die Frage dominanter Heiratsregeln eine zentrale Rolle. Die Gegenüberstellung „westlicher" und „östlicher" sozialer Strukturen, von der das Buch ausgeht, ist wesentlich vom Gegensatz Exogamie versus Endogamie bestimmt 157 Und auch die aus der Untersuchung abgeleitete Hauptthese basiert auf dem Konnex zwischen Heiratsregeln und Familienverfassung. Die kirchlichen Verbote der Verwandtenheirat seit dem 4. Jahrhundert erscheinen deshalb so wichtig, weil sie einen Wandel von endogamen zu exogamen Hei rats mustern bewirkt und damit die spezifisch europäische Familienentwicklung eingeleitet haben sollen. Aus dieser Perspektive kommt der Einstellung des Christentums zur Endogamie eine sehr hohe Wertigkeit zu - und als Voraussetzung dafür den Gründen, die zur Ausweitung der kirchlichen Verbote geführt haben. Aus der Sicht des Historikers wird man wohl über solche Zusammenhänge zurückhaltender urteilen. Welche Bedeutung unterschiedliche Tendenzen zur Partnerwahl innerhalb oder außerhalb des Verwandtschaftsverbands für die Familienverhältnisse in der europäischen Geschichte tatsächlich gehabt haben, das läßt sich beim derzeitigen Forschungsstand schwer beurteilen. Greifen wir nochmals die beiden Extremformen endogamer Eheschließung auf, von denen die hier angestellten Überlegungen ihren Ausgang genommen haben. Für die jüdische Nichtenheirat gilt wohl in besonderer Weise, was aus diesem Milieu als ein großer praktischer Vorteil der Verwandtenheirat im allgemeinen referiert wird: Die bei der Eheschließung meist noch sehr junge Gattin bleibt auch nach der Heirat in einem ihr vertrauten Kreis, in dem sie sich nicht fremd 75
und verlassen zu fühlen braucht 158 Für eine kurze Phase des Familienzyklus mag das Vorteile gebracht haben. Späterhin aber bestand dann wohl kein wesentlicher Unterschied gegenüber anderen Ehen des sozialen Umfeldes. Ob es junge Frauen in Gesellschaften, in denen derart endogame Eheformen verboten waren, in den ersten Ehejahren schwieriger hatten, muß dahingestellt bleiben. In Europa heirateten sie in der Regel nicht so früh - und das sicher nicht, um sich solche Schwierigkeiten zu ersparen. In ähnlicher Weise läßt sich bei der Schwagerehe fragen. Sicher war diese endogame Eheform für die Versorgung von Witwen und Waisen von Bedeutung - insbesondere im Rahmen von Großfamilien. Aber blieben Frau und Kinder unversorgt, wo ein Verbot die Schwagerehe untersagte? Es mag sein, daß der Bruder des Verstorbenen für dessen Kinder oft ein besserer Stiefvater war als ein Fremder. Aber läßt sich die emotionale Nähe von Stiefvätern zu ihren Stiefkindern nach Verwandtschaftsgraden skalieren? So stellt sich schon bei einer Partnerwahl im engeren Kreis der Angehörigen die Frage, ob das Verwandtschaftsverhältnis der Ehegatten für die Familie als soziale Gruppe von besonderer Bedeutung war. Umso mehr gilt dies für Heiraten über größere Distanz. Daß es für das Familienleben keinerlei Belang hatte, ob die erwählte Partnerin im siebten Grad römischer Zählung oder im siebten Grad germanischer Zählung oder überhaupt nicht verwandt war, liegt wohl auf der Hand. Man wird also insgesamt sehr vorsichtig sein müssen, wenn man versucht, die zunehmende Verschärfung der christlichen Inzestbestimmungen mit Veränderungen der realen Familienverhältnisse im mittelalterlichen Europa in Beziehung zu setzen. Die Bedeutung des Themas Christentum und Endogamie liegt nach den hier angestellten Überlegungen auf einer anderen Ebene. Heiratsregeln erscheinen nicht gleichsam als „causa prima" von Änderungen der Familienverfassung wichtig. Wesentlicher ist ihre Indikatorfunktion. Über sie können allgemeine Grundmuster von Einstellungen und Werthaltungen erfaßt werden, die in größeren Zusammenhängen die Familienentwicklung beeinflußt haben, insbesondere von religiösen Vorstellungen. Die Frage nach den Gründen, warum sich das Christentum durch die radikale Verschärfung seiner Inzestregeln von seinen Wurzeln im Judentum, aber auch von anderen Religionen der Antike und des Frühmittelalters so deutlich unterschied, hat zu religionsgeschichtlichen Themen allgemeiner Art geführt, die sozialgeschichtlich relevant erscheinen: Bedeutung der Abstammung für die Heilserwartungen, Übertragung von Verdiensten der Vorfahren auf die Nachkommen, Erhaltung der Patri76
linie als religiöser Auftrag, Fortführung des Totenkults durch leibliche oder fiktive Nachfahren, erbliches Charisma von Priesterdynastien. In allen diesen Belangen scheint das Christentum mit Traditionen seines Herkunftsmilieus und seines gesellschaftlichen Umfelds radikal gebrochen zu haben. Wir können diesen Unterschied über Heiratsregeln klar fassen, dieser Unterschied aber hat auf die Familienentwicklung nicht nur über Heiratsregeln gewirkt Wo Abstammung und Fortpflanzung religiös bedeutungslos wird, dort fällt eine wichtige Voraussetzung für frühe und allgemeine Heirat weg. Wo die Erhaltung der Patrilinie religiös keine Rolle mehr spielt, dort entsteht Freiraum für neue Formen der Familienzusammensetzung. Wo Verwandtschaftsbindungen gegenüber Bindungen in der religiösen Gemeinde zurücktreten, dort können Prozesse der Verlagerung von Familienfunktionen auf außerfamiliale Sozialformen einsetzen. Im Hinteigrund des Themas Christentum und Endogamie zeichnen sich so religiöse Faktoren ab, die weit über die Problematik von Heiratsregeln hinaus Wesentliches dazu beitragen könnten, spezifische Sonderentwicklungen der Familie im europäischen Raum zu klären.159 Ihnen nachzugehen erscheint als eine interessante Aufgabe für weiterführende Arbeiten auf diesem Gebiet Ebenso einer Fortsetzung bedarf auch die hier aufgenommene Diskussion um die Hintergründe der sich zunehmend verschärfenden Inzestbestimmungen im mittelalterlichen Christentum. Wie immer man auch die Bedeutung ihres Ertrags für die Geschichte der Familie einschätzt - als Fallstudie über die Entstehungsbedingungen von Heiratsregeln ist sie unter allen Umständen interessant Als solche führt sie in sehr grundsätzlichen Fragen der Interpretation historisch-anthropologischer Phänomene im Spannungsfeld unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte. Gegenüber den in der neueren Literatur vorherrschenden Erklärungsmodellen wurde hier ein Ansatz vertreten, der stärker die Wirkkraft religiöser Faktoren betont Auch diesbezüglich geht die Blickrichtung über die Inzestproblematik hinaus. Was an ihrem Beispiel gezeigt wurde, ist prinzipiell als ein Plädoyer zu verstehen, religionsgeschichtliche Entwicklungen verstärkt in sozialhistorische Analysen zu integrieren.
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Anmerkungen 1 2
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Markus 6, 17-29. Vgl. Matthäus 14, 3 - 1 2 . Hugo WILLRICH, Das Haus des Herodes zwischen Jerusalem und Rom, Heidelberg 1929, S. 141 f.; Abraham ScHALrr, König Herodes, Berlin 1969, vor allem Stammtafel im Anhang; Harold W. HOEHNER, Hsrod Antipas, Cambridge 1972, S. 137 f. Zur Auflösung der Widersprüche in den Angaben der Evangelien bzw. des Josephus Havius über Herodias' eisten Gatten HOEHNER, Herod Antipas, S. 137 f. Encyclopaedia universalis 8 (1968), Artikel „incest" über Nichtenheirat. Obwohl die Evangelien davon nicht berichten, muß das Wissen auch um die Blutsverwandtschaft zwischen Herodes Antipas und Herodias weitergegeben worden sein. Eine islamische Überlieferung besagt, daß Jesus und Johannes die Nichtenheirat untersagt halten. Diese Nachricht kann sich wohl nur auf die Anklage des Johannes gegen Herodes beziehen. Zum Unterschied vom Mosaischen Gesetz, mit dem die Eheverbote des Koran sonst in vieler Hinsicht übereinstimmen (vgl. Sure 4 , 2 0 - 2 4 ) war im Islam die Schwagerehe erlaubt, aber die Nichtenehe verboten. Das könnte eine Akzentverlagerung in der Beurteilung der Herodes-Ehe erklären. Samuel KRAUSS, Die Ehe zwischen Onkel und Nichte, in: Studies in Jewish literature, issued in honor of Professor Kaufmann Köhler, Berlin 1913, S. 165 ff.; Adolph BÜCIILER, Review of „Documents of Jewish Sectaries" by S. Schechter, in: The Jewish Quarterly Review ΠΙ (1912/13), S. 437 ff.; S. S a n a a RRER, Reply to Dr. Büchlcrs Review of Schechtcr's .Jewish Sectaries", ebenda IV (1913/14), S. 449ff.; L. Μ EPSTEIN, Marriage Laws in the Bible and the Talmud, Cambridge (Mass.) 1942, S. 251; Joachim JEREMIAS, Jerusalem zur Zeit Jesu, Göttingen 2 1958, S. 239; Günter MAYER, Die jüdische Frau in der hellenistisch-römischen Antike, Stuttgart 1987, S. 55.
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JEREMIAS, Jerusalem, S. 239.
8
JEREMIAS, Jerusalem, S. 131 und 239. Der Damaskussekte schlossen sich später die Kariier an (vgl. dazu unten). Auch die Samaritaner und die alte jüdische Gruppe der Falascha in Äthiopien erlaubten die Nichtenheirat nicht (KRAUSS, Die Ehe zwischen Onkel und Nichte, S. 167 f.). Vgl. dazu den Stammbaum bei ScuALrr, König Herodes, sowie die Zusammenstellung bei JEREMIAS, Jerusalem, S. 240. Ober das Geschlecht der Makkabäer-Hasmonäer im Überblick Johann MAIER, Grundzüge der Geschichte des Judentums im Altertum, Darmstadt 1981, S. 34 ff.; MAIER, S. 64, betont, daß Herodes durch seine Ehe mit Mariamme das hasmonäische Prestige für sich nutzbar zu machen versuchte. Dafür spricht auch, daß er seinen ältesten Sohn aus einer vorangegangenen Ehe, Antipater, mit einer Tochter des letzten Hasmonäerkönigs Antigonus verheiratete. Wenig überzeugend erscheint demgegenüber die Argumentation von SCIIALIT, König Herodes, S. 66, der in dieser Heirat „keinerlei politische Berechnung", „sondern nur das höchst einfache und natürliche Motiv, daß er in Liebe zu Mariamme entbrannt war" sehen will.
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JEREMIAS, Jerusalem, S. 204.
12
HOEHNER, Herod Antipas, S. 337, formuliert: "It is very possible that the political differences of the Boethusians/Herodians and the Sadducees had become less clearcut at the time of Jesus ministry owing to the marriage of Antipas to Hcrodias, a Hasmonaean on her mother's side. That Agrippa I., Herodias brother, was considered by the Jews to be the best of kings, was due perhaps to the influence of the Sadducees. It is even possible that Antipas married Herodias to
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gain the support of the Sadducccs." Zur hasmonäischen Abstammung über die Großmutter kam bei Agrippa hinzu, daß auch seine Frau eine Enkelin der Mariamme war. 13 ScHALrr, König Merodes, Stammbaum; JEREMIAS, Jerusalem, S. 240. 14 Emst KORNEMANN, Die Gcschwisterche im Altertum, in: Mitteilungen der schlesischcn Gesellschaft für Volkskunde 24 (1923), S.26ff.; DERS., Artikel Mutterrecht, in: PAULY-WISSOWA, Real-Enzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft, Supplement-Band VT, Stuttgart 1935, Sp. 567; Jakob SHBEKT, Historische Beiträge zu den dynastischen Verbindungen in hellenistischer Zeit, Wiesbaden 1967. Eine Geschwisterheirat schlossen etwa auch ligrancs HL und seine Schwester Erato, die kurz vor dem Herodcsenkel Hgranes IV. die Königsherrschaft in Armenien ausübten (Ferdinand JUSTI, Iranisches Namenbuch, Marburg 1895, S. 414). IS Zu diesem Konzept vor allem Nikolaus SIDLER, Zur Universalität des Inzesttabus, Stuttgart 1971, S. 8. Vgl. auch Norbert BISCHOF, Das Rätsel Ödipus, München/Zürich 1985, S. 29 ff. Es soll nicht bestritten werden, daß in geblütsrechtlich denkenden Gesellschaften die Fürstenfamilien ein besonderes Interesse an endogamen Verbindungen besitzen und daß sie diese auch in besonderer Weise realisieren könnea Fragwürdig erscheint die generalisierende Annahme einer grundsätzlichen Ausnahmesituation, durch die Fürstenehen aus der Debatte um Inzestverbote ausgeklammert werden. 16 WILLRICH, Das Haus des Merodes, S. 140; HOEHNER, Kfcrod Antipas, S. 138. 17 Dcuteronomium 25, 5-10, Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, hg. v. G. Johannes BUTTCKWECK und Helmer RINGGREN, Stuttgart 3 1977, Sp. 393 ff.; Karl Heinrich RENGSTORF, Jebamot (Von der Schwagerehe), Die Mischna ΠΙ, 1, Gießen 1929, S. 6 ff. 18 Lcvitikus 18, 16 und 20, 21. 19
MAIER, G r u n d z ü g e , S. 7 5 f.
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WILLRICH, Das Haus des Herodes, S. 140. HOEIINER, Herod Antipas, S. 138 f. So etwa von Papst Gregor dem Großen. Vgl. dazu Jack GOODY, The development of the family and marriage in Europe, Cambridge 1983, deutsch: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Berlin 1983, S. 49 und 73. Vgl. auch S. 75. Matthäus 22, 23-33. Herbert BRAUN, Spätjüdisch-häretischer und christlicher Radikalismus 2, 1957, S. 110. Egon WEISS, Endogamie und Exogamie im römischen Kaiserreich, im Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung 29, 1908, S. 366; Jos. ZIBSHMAN, Das Ehcrccht der orientalischen Kirchen, Wien 1864,
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S. 2 3 2 ; GOODY, E n t w i c k l u n g , S . 69. 26
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Joseph FREISEN, Geschichte des canonischcn Ehcrcchts bis zum Verfall der Glossenliteratur, Tübingen 1888, S. 441; ZIDSIIMAN, Eherecht, S. 314; Cari J. HEFELE, Cönciliengeschichte 1, Freiburg 1873, S. 183 f. FREISEN, G e s c h i c h t e ; u n d ZIBSHMAN, E h e r c c h t , e b e n d a ; GOODY, E n t w i c k l u n g ,
S. 74. ZIDSIIMAN, Ehcrecht, S. 312ff.
29
ZIDSIIMAN, E h e r e c h t , S. 3 1 4 .
30
G. Η JOYCE, Die christliche Ehe. Eine geschichtliche und dogmatische Studie, Leipzig 1932, S. 624. Jean GAUDEMET, Le legs du droit Romain en mati6re matrimoniale, in: D matrimonio nella societä altomcdcdicvale 1 (Settimane di studio del centra Italiano di studi sull'alto mediolvo 24), Spolito 1977, S. 158.
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ΖΗΕΗΜΛΝ, E h e r e c h t , S. 2 3 2 u n d 3 1 1 f.
33
Zu den Vbraussetzungen unterschiedlicher Einstellungen zu Endogamiefragen in der östlichen und westlichen Christenheit Michael MITTERAUER, Verwandtenheiraten im östlichen Mittelmeerraum in ihrer Bedeutung für Europa, in: German RUPIEREZ (Hg.), Interdisziplinäre deutsche Familienfoischung (im Druck). Gegenüber den dort vorgetragenen Überlegungen eigeben sich aus der hier zugrunde liegenden erweiterten Materialbasis in einigen Punkten Ergänzungen und Modifikationea
34
JOYCE, D i e c h r i s t l i c h e E h e , S. 4 4 9 .
35
De civitate dei XV, c. 16. Er folgert aus der offenkundig irrigen Behauptung, die Ehe von Geschwisterkindern wäre durch die „lex divina" untersagt, daß auch die Ehe zwischen Onkel und Nichte, die doch miteinander noch näher verwandt sind, verboten sein müsse
36
(JOYCE, D i e c h r i s t l i c h e E h e , S. 4 4 9 ) . 37
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Die Ehe zwischen Geschwisterkindern wurde im römischen Reich durch ein Gesetz von 384/85 verboten. Ausführlich dazu GOODY, The development, S. 55 ff. Auch diesem Gesetz geht eine kirchliche Entscheidung voraus. Im Kanon der Antworten einer römischen Synode an die gallischen Bischöfe aus der Zeit vor 374 wird die Cousinenheirat untereagt (GAUDDMET, Le legs, S. 149). Cambridge 1983. In Anschluß an GOODY, von dessen Thesen die hier angestellten Überlegungen ausgegangen sind, werden in dieser Studie auch die Begriffe „endogam" bzw. „exogam" als Tendenz zur Heirat innerhalb oder außerhalb von Verwandtschaftsgruppen verstanden. Heirat innerhalb von lokalen Gemeinden oder von Berufsveibänden (z.B. Zünften) sind bei diesem Verständnis von Endogamie nicht berücksichtigt S. 48. S. 10 f. nach Pierre GUICHARD, Structures sociales „orientales" et „occidentales" dans l'Espagne musulmane, Paris 1977. Zu diesem Aspekt der Goody-Thesc MTITERAUER, V e r w a n d t e n h e i r a t
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Vgl. dazu etwa die Zusammenfassung, The development, S. 220 f. S. 95. S. 221. S. 102. David HERLDIY, Medieval households, Cambridge (Mass.yLondon 1985, S. 11 ff. S. 61 f. Von den Rechtshistorikem, die über die intensive Beschäftigung der Kirche mit der Inzestproblcmatik erstaunt sind, weil sie weder im römischen noch im mosaischen Recht grundgelegt ist, nennt HERLIHY ausdrücklich Adhemar ESMEIN, Le mariage en droit canonique, Paris 1929-1935, 1, S. 335. Er referiert dessen Ansatz, nachdem es sich bei den frühmittelalterlichen Inzestverboten um forcierte Analogien und extreme Deduktionen gehandelt hat, die sich zu einer „logique outree" formten, schließt sich aber solchen Überlegungen nicht an. Jean-Louis FIANDRIN, Families. Patente, mäison, sexualite dans l'ancienne Societd, Paris 1976, S. 31. Georges DUBY, Medieval Marriage, Baltimore/London 1978, S. 17ff; DERS., Le mariage dans la societe du Haut Moyen age, in: Π matrimonio 1 (Settimane 24), S. 28. Zum Widerspruch der beiden Konzepte GOODY, The development, S. 229 f. Michael SCHRÖTER, „WO zwei zusammenkommen in rechter Ehe". Sozio- und psychogenetische Studien über Eheschließungsvorgänge vom 12. bis 15. Jahrhundert, Frankfurt 1985, S. 351. Joseph Η LYNCH, Godparents and kinship in early medieval Europe, Princeton 1986, S. 260 f.
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Im Überblick zusammengestellt bei Jean DAUVILLIER und Cailo DE CLERCQ, Le manage en droit canonique oriental, Paris 1936. J.P. MIGNE (Hg.), Patrologia Latina 140, Paris 1980. Georges DUBY, Ehe, Frau und Priester, Frankfurt 1988, S. 71 f.
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DUBY, E h e , S. 7 3 .
56
MIGNE, 140, S p . 7 7 9 ff.
57
Hermann SCHADT, Die Darstellungen der Arbores Consanguinitatis und der Arbores Affinitatis, Tübingen 1986, S. 110 ff. Walter SELB, 'AbcGsö Bar Bahriz - Ordnung der Ehe und Erbschaften sowie Entscheidungen von Rechtsfällen (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hisL Klasse, Sitzungsberichte 268, 1. Abh., Wien 1970). SELB,'Abdisö, S . 3 1 f f . Ebenda, S. 27. Ebenda, S. 37. Eduard SACHAU, Syrische Rechtsbücher 2, Berlin 1907, S. 73 f. Vgl. dazu
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MTITERAUER, V e r w a n d t e n h e i r a t e n . 63
Raphael PATAI, Cousin-Right in Middle Eastern Marriage, in: Abdullah Μ LUFTTYYA und Charles W. CHURCHILL (Hg.), Readings in Arab Middle Eastern Societies and Cultures, Paris 1970, S. 535 ff.; GOODY, The development, S. 31 ff. Weitere Literatur dazu bei MTITERAUER, Verwandtenheiraten.
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DAUVILLIER/DE CLERCQ, L e m a n a g e , S. 127 f f . SELB, ' A b d l s ö , S. 131 f. JOYCE, D i e c h r i s t l i c h e E h e , S. 4 5 1 .
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FIANDRIN, F a m i l i e n , S. 3 6 .
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JOYCE, D i e c h r i s t l i c h e E h e , S. 4 5 9 . DAUVILLIER/DE CLERCQ, L e m a r i a g e , S. 1 4 6 f f . ; LYNCH, G o d p a r e n t s , S. 2 1 9 f f .
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DAUVILLIER/DE CLERCQ, L e m a r i a g e , S. 153 ff.; ZACHARIAE VON UNGENTHAL,
Geschichte, S. 69. Ebenda, S. 157 f. Ebenda, S. 156. Zusammenfassend für alle orientalischen Kirchen DAUVILLIER/DE CLERCQ, Le mariage. Für Byzanz Karl Eduard ZACHARIAE VON LINGENTHAL, Geschichte des griechisch-römischen Rechts, Berlin 1892, S. 63ff. und ZIDSHMAN, Eherecht, S. 212 ff. Für die armenische Kirche Arsen KLIDSCHIAN, Das armenische Eherecht und die Gmndzüge der armenischen Familienoiganisation, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 25 (1911), S. 332ff.; Louis J. LUZBEIAK, Marriage and the family in Caucasus, Wien 1951. Über diese Simon SZYSZMAN, Das Karäertum. Lehre und Geschichte, Wien 1986; ZVi ANKORI, Karaites in Byzantium, New York 1959; Leon NEMROY, Karaite Anthology, Exccrpts from the Early Literature, New Haven/London 1986. Für den Hinweis auf diese Veröffentlichungen danke ich sehr herzlich Herrn Prof. Dr. G ü n t e r STEMBERGER.
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SZYSZMAN, K a r ä e r t u m , S. 4 4 .
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NEMOY, A n t h o l o g y , S. 126.
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Ebenda, S. 125 ff. Ebenda, S. 131. Ebenda, S. 125; ANKORI, Karaites, S. 82; The Jewish Encyclopedia, S. 574, Artikel „incest" und S. 447; Artikel „Karaites".
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ANKORI, K a r a i t e s , S. 8 1 f f .
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NEMOY, Anthology, S. 125. Daß eine extreme Ausweitung der Inzestverbote für eine religiöse Minderheit tatsächlich existenzgefährdend werden konnte, zeigen die Verhältnisse der Christen in Ägypten im 12. Jahrhundert Als in Byzanz das
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Ehchindemis der Schwägeischaft bis zum sechsten Grad ausgeweitet wurde, wandte der melchitische Patriaich Markos von Alexandrien ein, die christliche Gemeinde seiner Stadt sei so zusammengeschmolzea daß es schwer geworden sei, solche Ehen zu vermeiden. Die Antwort aus Byzanz war wenig verständnisvoll: Eine verringerte Zahl rechtfertige nicht die Begehung von Sünden (JOYCE, Die christliche Ehe, S. 490). Ebenda, S. 123 ff. Viktor AFIOWITZER, Die syrischen Rechtsbücher und das mosaisch-talmudische Recht, Wien 1909, S. 58 ff. So etwa bei Raphael PATAI, The Jewish Mind, New Yoik 1977, S. 483. Vgl. auch DERS., Sitte und Sippe in Bibel und Orient, Frankfurt 1962. In Anschluß daran habe auch ich (Verwandtenheiraten, passim) die Charakteristik „endogamiefieundliche" Religion verwendet Levitikus 18, 3 und 24 - 2 5 . Dafür spricht, daß auch in Levitikus 20, 11-12 an der Spitze der Uiizuchtverbrechen der Beischlaf mit der Frau des Vaters und mit der Schwiegertochter genannt wird. Zu dieser Frage Günther MAYER, Zur Sozialisation des Kindes und Jugendlichen im antiken Judentum, in: Jochen MARTIN und August NITSCIBCE (Hg.), Zur Sozialgeschichte der Kindheit, München 1986, S. 374. Schon der jüdische Philosoph Moses Maimonidcs (t 1204) leitet die spezifische Struktur der Levitikus-Verbote aus dem Zusammenleben in einem Haushalt ab (JOYCE, Die christliche Ehe, S. 469). Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament 3, Stuttgart 1977, Sp. 397 ff.; PATAI, Sitte, S. 102.
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Mohammed verbietet in Sure 4, 20, bloß, sich Frauen durch Eibschaft gegen ihren Willen anzueignea Levitikus 18, 6. Deutcronomium 25, 5 ff. Numeri 36, Iff. Tobias 6, 11-12. PATAI, Sitte, S. 25 ff. Vgl. auch die Übersichtstafel bei Julian ΡΠΤ-RIVERS, Hie Fate of Shechem or the politics of sex. Essays in the anthropology of the Mediterranean, Cambridge 1977, S. 153.
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JEREMIAS, J e r u s a l e m , S. 2 3 9 ; MAYER, Z u r S a z i a l i s a t i o n , 3 7 3 .
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Vor allem S. 141 ff. S. 169 ff. S. 173 ff. S. 174. S. 77 ff. S. 81. S. 83 f., 238 f. S. 131; MAYER, Die jüdische Frau, S. 56; vgl. oben S. 55 ff.
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PATAI, S i p p e , S. 9 8 .
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JEREMIAS, Jerusalem, S. 174, Lexikon für Antike und Christentum, Artikel Genealogie, Sp. 1212. Die von Augustinus in „De civitate dei" c. 16 formulierte Auffassung, daß Veiwandtenheiraten veimieden weiden sollten, damit sich der Mensch nicht abschließe, sondern in immer weitere verwandtschaftliche Kreise vordringe, geht auf Philon von Alexandrien zurück (FREISEN, Eherecht, S. 372). JEREMIAS, Jerusalem, S. 174, Lexikon für Antike und Christentum, Artikel Genealogie, Sp. 1214 ff.
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W. Κ. LACEY, Die Familie im anliken Griechenland, Mainz 1968, S. 131 ff.; Moly BROADBENT, Studies in Greek genealogies, Leiden 1968, S. 103 ff.; über Zusammenhänge zwischen zivilgesetzlichen und religionsrechtlichen Aspekten, S. 214 ff.; Renate ZOEPFFEL, Geschlechtsreife und Legitimation zur Zeugung im antiken Griechenland, in: Emst Wilhelm MÜLLER (Hg.), Geschlechtsreife und Legitimation zur Zeugung, München 1985, S. 397 f. SACHAU, Syrische Rechtsbücher 3, S. 309. Parallelen zwischen Zoroastrismus und Judentum bzw. zwischen Magiern und Leviten hinsichtlich der besonderen Bedeutung der Geblütsreinheit betont Samuel K. EDDY, Oriental Religions Resistance to Hellenism, phil. Diss., Michigan 1958, S. 82 ff.
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GOODY, T h e d e v e l o p m e n t , S. 10 ff. u n d 4 8 f f .
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Egon WEISS, Endogamie und Exogamie im römischen Kaiseneich, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung 29 (1908), S. 340 ff.; Emiel EYBEN, Geschlechtsreife und Ehe im griechisch-römischen Altertum und im frühen Christentum, in: MÜLLER (Hg.), Geschlechtsreife, S. 452. Keith HOPKINS, Brother-Sister Marriage in Roman Egypt, in: Comparative Studies in Society and History 22 (1980), S. 353.
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WEISS, E n d o g a m i e , S. 3 6 1 ff.
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Die Schwagerehe war auch in römischer Tradition unüblich, allerdings nicht explizit verbotea Zur Einschätzung von Zweit-Ehen in Rom allgemein Bernhard KCHTING, Die Beurteilung der zweiten Ehe in der Spätantike und im frühen Mittclaltcr, in: Tradition als historische Kraft, Berlin 1982, S. 43 ff. Zur Verurteilung speziell der Zweilche der Frau: Artikel „Digamus", in: Lexikon für Antike und Christentum, Sp. 1018. Diese Differenz ist im Grundsatz angesprochen: „Semper in coniunctionibus non solum quid liccat considerandum est, sed quid hones tum sit" (JOYCE, Die christliche Ehe, S. 448). Schon in jenem apokryphen Schreiben des römischen Bischofs Kalixtus an die Bischöfe Galliens, das im Mittclaltcr als ältestes Zeugnis kirchlicher Inzestverbote angesehen wurde, heißt es: „Coniunctiones autem consanguineorum fieri prohibete, quia eas et divinae leges et saeculi prohibent . . . Eos autem consanguincos dieimus, quos divinae et saeculi leges consanguineos appellant et in haereditatem suseipiunt..." (MIGNE, Patrologia Latina 140, Paris 1880, Sp. 779).
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GAUDEMET, L e legs, S. 149.
ZIIISIIMAN, Eherccht, S. 312ff. Nicht biblisch fundiert ist auch das Argument des Basilius, man wüßte nicht, wie man aus der Ehe mit zwei Schwestern hervorgegangene Kinder bezeichnen sollte, ob „Brüder" nach dem Verhältnis zu ihrem Vater oder „Neffen", weil sie von zwei Schwestern geboren sind (ZIDSHMAN, Eherecht, S. 313). Dieses Prinzip, daß es nicht zu einer „Vermengung der Namen" kommen dürfe, spielt dann bei der Ausweitung der Inzestverbote in Byzanz eine wichtige Rolle (ZIIISIIMAN, Eherecht, S. 306ff.; Evelyne PATLAGEAN, Byzanz im 10. und 11. Jahrhundert, in: Philippe ARI6S und Georges DUBY [Hg.], Geschichte des privaten Lebens 1, Frankfurt 1989, S. 556). Nikolaus SIDLER, Zur Universalität des Inzesttabus, Stuttgart 1971, S. 99ff.; LUZBETAK, M a r r i a g e , S. 5 3 .
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Zur Bedeutung dieser Verhältnisse für die Inzestproblematik grundsätzlich SIDLER, Zur Universalität, sowie Bischof, Das Rätsel Ödipus, S. 32 ff. Zur Problematik des am sogenannten „Kemfamilieninzest" orientierten „Inzesttabus" in diesem Zusammenhang Michael MTITERAUER, Die „Sitten der Magier",
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in: Christian EHALT und Irenäus EIBL-EIBESFELD (Hg.), Zwischen Natur und Kultur, Wien 1990 (im Druck). Richard N. FRYE, Iran in parthischer und sassanidischer Zeit, in: Feigus MHXAR (Hg.), Das Römische Reich und seine Nachbarn. Die Mittelmeerwelt im Altertum IV (Fischer-Weltgeschichte 8, Frankfurt 1966, S. 260 ff.). WEISS, Endogamie, S. 364; HOPKINS, Brother-Sister Marriage, S. 354; SIDLER, Zur Universalität WEISS, Endogamie, S. 348. Hans Henning VON DER OSTEN, Die Welt der Perser, Stuttgart 1982, S. 110. KLIDSCHIAN, Eherecht S. 332; DAUVILLIER/DE CLERCQ, Le manage, S. 26. SACHAU, Rechtsbücher 3, S. X X I Ü f f . und 265; Oscar BRAUN, Das Buch der Synhados, Stuttgart/Wien 1900, S. 93 ff., vor allem S. 143 f.; Walter SELB, Orientalisches Kirchenrecht 1. Die Geschichte des Kirchenrechts der Nestorianer (von den Anfängen bis zur Mongolenzeit), Wien 1981, S. 152 f. SACHAU, Rechtsbücher 3, S. 29 ff. SACHAU, Rechtsbücher 2, S. 71 ff. Vgl. dazu MTITERAUER, Verwandtenheiraten, und DERS., Die „Sitten der Magier". Besonders deutlich wird das am Beispiel der in Kilikien - einem zoroastrischen Missionsgebiet - entstandenen Sekte der Paulikianer. Aus islamischer Sicht wird sie im 10. Jahrhundert als ein „Mittelweg zwischen Christen und Magiern" charakterisiert (Steven RUNCIMAN, The medieval Manichee. Astudy of Christian dualist heresy, Cambridge 1955, S. 48 und 58). Von christlicher Seite wird ihr im 9. Jahrhundert vorgeworfen: „Sie begehen schmutzige und unnatürliche Fleischessünden und pflegen ehelichen Umgang mit ihren nächsten Verwandten, so daß, wie man behauptet, etliche nur mit ihren Eltern eine Ausnahme machen." (Karapet TER-MRKTTSCHIAN, Die Paulikianer im byzantinischen Kaiserreich, Leipzig 1893, S. 6.) Besonders deutlich wird diese Phasenverschiebung am Beispiel des Verbots der Heirat unter Geschwisterkindern. Während es im Westen auf Dauer bei der um 384 von Kaiser Theodosius I. getroffenen Entscheidung blieb, kam es im Osten erst auf der trullanischcn Synode von 692 diesbezüglich zu einer endgültigen Entscheidung (ZIDSHMAN, Eherecht, S. 235 ff.; JOYCE, Die christliche Ehe, S. 448 und 484 ff.). DAUVILLIER/DE CLERCQ, Le mariage, S. 156 f. Vgl. unten S. 72. Zu möglichen Einflüssen der armenischen Geschlechterverfassung auf das Kirchenrecht MTITERAUER, Verwandtenheirat, in Anschluß an LUZBETAK, Marriage. Im äthiopischen Kirchenrecht haben exogame Stammesstrukturen einen sehr deutlichen Niederschlag gefundea Offen ist die Frage des Zeitpunkts dieser Beeinflussung. Dazu DAUVILUEB/DE CLERCQ, S. 135 f. JOYCE, Die christliche Ehe, S. 471. Ebenda, S. 473 f. Ebenda, S. 487. Vgl. oben S. 53. JOYCE, Die christliche Ehe, S. 470. Vgl. oben S. 55 f. und 59. Grundsätzlich zu dieser Thematik LYNCH, Godparents. Zur Differenzierung zwischen Inzestscheu und Inzestverboten im Gegensatz zum undifferenzierten Konzept des „Inzesttabus" MTITERAUER, Die „Sitten der Magier". S o in den Kanones des nestorianischen Bischofs 'Abdisö bar Brika aus dem 13. Jahrhundert, bei dem die schematische Entfaltung der Verbote ein besonde-
res Ausmaß annimmt (Scriptorum veterum nova collectio e Vaticanis codicibus edita ab Α Mai 10, Rom 1838, S. 40f.). 143
JOYCE, D i e c h r i s t l i c h e E h e , S. 4 9 0 .
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Vgl. oben S. 54. GOODY, The development, S. 55; dazu MOTERAUER, Verwandtenheiraten.
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DAUVILLIER/DE CLEROQ, S. 156 f.
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Die \brstellung einer Verwandtschaftsbeziehung, die über das Stillen vermittelt wird, findet sich insbesondere bei Hirtcnnomadenvölkem (EBEKT, Reallexikon der \brgeschichte 8, Berlin 1927, Sp. 190).
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LYNCH, G o d p a r e n t s , S. 2 6 0 .
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Ebenda, S. 261. Ebenda, S. 275. Ebenda, S. 262; EYBEN, Geschlechtsreife und Ehe, S. 434 f. Zur Einstellung der Gnosis zu Sexualität: Kurt RUDOLPH, Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion, Leipzig 1977, S. 259ff. Philippe ARDSS, Paulus und das Fleisch, in: Awfs Α a. (Hg.), Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, Frankfurt 1984, S. 51 ff. 1. Kor. 5, 1 ff. Wenn Paulus hier von „Unzucht, wie sie nicht einmal unter den Heiden vorkommt" spricht, so läßt sich daraus wohl kaum ableiten, er habe sich nicht auf das Alte Testament, sondern auf die „heidnische Volkssittlichkeit" berufen (so Artikel „Ehehindernisse", in: Lexikon für Antike und Christentum, Sp. 687). PATAI, The Jewish mind, S. 497 ff. Wohl nicht zufällig wurden die ersten Verbote gegen Verwandtenheiraten gerade auf jenen beiden Synoden beschlossen, die auch die ersten förmlichen Bestimmungen über die Zölibatsverpflichtung der Kleriker festlegten, nämlich in Elvira 307 und Ncocäsarca 314/25 (Lexikon für Antike und Christentum, Artikel „Ehe I", Sp. 663). Seine Annäherung als Anthropologe an historische Fragestellungen skizziert GOODY, The development, vor allem S. 3 ff. Als ein anthropologisch orientierter Historiker, der in der Endogamie-Exogamie-Frage ein zentrales Kriterium der Familicntypologie sieht, ist Emmanuel TODD, La troisidme planctc. Structures familiales et systemes ideologiques, zu nennen (vor allem S. 152 ff.). Insbesondere GOODY, The development, S. 31 ff. Shlomo D. GornaN, A mediterranean society 3, Berkeley 1978, S. 28. Ansätze dazu bei Michael MITTERAUER, Europäische Familicnformen im interkulturellen Vergleich, in: Ehe und Familie in alten Hochkulluren, Beiträge zur historischen Sozialkunde 14/4 (1984), S. 152 ff.
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Komplexe Familienformen in sozialhistorischer Sicht* Das Interesse der sozialgeschichtlichen Forschung an der Familienthematik ist relativ jung. Sieht man von vereinzelten Vorläufern ab, so setzte eine breitere Beschäftigung mit solchen Problemen in den USA, in England und in Frankreich im wesentlichen in den sechziger Jahren ein (Literaturübeiblick bei Hareven 1971 und 1975; Milden 1977; Soliday 1980). Im deutschsprachigen Raum fallen die ersten einschlägigen Publikationen in die Mitte der siebziger Jahre (Literaturüberblick bei Braun 1977; Conze 1978; Herrmann et al. 1980). Dieses neue Interesse der Sozialgeschichte an der Familie ist im Kontext einer umfassenderen thematischen Neuorientierung zu sehen, die insgesamt Fragen des Alltagslebens stärker in den Vordergrund rückt Dadurch ergibt sich eine Vielfalt an Berührungspunkten mit der Volkskunde. Die historische Familienforschung spielt sicher in diesem interdisziplinären Überschneidungsbereich eine zentrale Rolle. Uberblickt man die Fülle neuerer Publikationen zur Sozialgeschichte der Familie, so zeichnen sich drei hauptsächliche Zugangsweisen ab (Anderson 1980). Sie unterscheiden sich nach ihren primären Erkenntniszielen, ebenso aber auch nach theoretischen Ausgangspositionen. Sehr stark erscheinen sie durch die jeweils zugrunde gelegten Quellen geprägt. Dementsprechend variiert auch der methodische Ansatz.
Sozialgeschichtliche Zugangsweisen Zahlenmäßig besonders stark vertreten sind unter den neueren Studien zur historischen Familienforschung Arbeiten, die einen primär demographischen Zugang wählen. Zwei Quellengattungen * Aus: Ethnologia Europaea 12 (1981), S. 47-86.
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stehen bei dieser Zugangsweise im Vordergrund, einerseits Pfarrmatriken, andererseits Personenstandslisten, die aus verschiedenen Formen von lokalen und regionalen Volkszählungen hervorgegangen sind Bei beiden handelt es sich um Massenquellen, die den Einsatz quantifizierender Verfahren nahelegen. Forscher dieser Richtung arbeiten daher vielfach mit Methoden der EDV. Bei der Auswertung von Tauf-, Heirats- und Sterbematriken steht die genealogische Familie im Vordergrund Die dabei angewandte Methode der „Familienrekonstitution" orientiert sich an Verwandtschaftszusammenhängen, nicht an der sozialen Einheit der zu einem bestimmten Zeitpunkt real zusammenlebenden Personen. Die Familie in diesem zweiten Verständnis wird bei der Auswertung von Personenstandslisten faßbar. Sie zeigen uns die Größe und Zusammensetzung der Familie als einer „coresident domestic group", wie der englische Familienforscher Peter Laslett treffend die soziale Einheit Familie im Gegensatz zur genealogischen charakterisiert hat (Laslett 1972). Die in der historisch-demographischen Familienforschung so zentrale Frage nach Größe und Zusammensetzung von Familienformen in der Vergangenheit hat eine wissenschaftliche Tradition, die weit über die neuere Beschäftigung der Sozialgeschichte mit der Familienthematik zurückreicht. Sie wurde zuerst von der Soziologie aufgegriffen - und zwar schon in den Anfängen dieser Disziplin um die Mitte des 19. Jahrhunderts (Schwägler 1977). Seit Fröderic Le Plays Hypothese des Übergangs von der „famille souche" zur „famille instabile" und Wilhelm Heinrich Riehls Modell vom „ganzen Haus" hat sie die Familiensoziologie immer wieder beschäftigt (König 1960). Die Vorstellung einer Ablöse historischer Großfamilienformen durch die moderne „Kleinfamilie" im Zuge der Industrialisierung ist weit über die soziologische Forschung hinaus zu einem sehr wirksamen Klischee geworden. Im wissenschaftlichen Bereich war es neben der Familiensoziologie vor allem die Volkskunde, die das Bild der historischen Großfamilie geprägt hat. In Wilhelm Heinrich Riehl besitzt sie im deutschsprachigen Raum ja mit jener einen gemeinsamen Ahnherren. Bis in Publikationen der jüngsten Zeit hinein begegnen Nachwirkungen dieser innerfachlichen Tradition.1 Die Vorstellung einer historischen Entwicklung von der Groß- zur Kleinfamilie ist freilich ein Modell, das sich im ethnographischen Schrifttum weit über Mitteleuropa hinaus verbreitet findet. Dabei wird der größere personale Umfang älterer Familienformen in erster Linie durch deren komplexe Struktur bedingt gesehen. Die Frage der tatsächlichen Ver88
breitung komplexer Familienstrukturen in Gesellschaften der europäischen Vergangenheit erscheint daher als ein Thema, bei dem eine interdisziplinäre Zusammenschau aus der Perspektive der neueren sozialhistorischen Forschungsergebnisse besonders ertragreich sein könnte. Greift man die Großfamiliendiskussion unter spezieller Berücksichtigung von komplexen Familienformen auf, so wird freilich zu bedenken sein, daß die demographische Richtung der historischen Familienforschung vielfach einen sehr verengten Zugang zur Problematik bietet Zu Recht wird an ihr kritisiert, daß sie sich einseitig auf die Auswertung von quantifizieibaren Quellen - nämlich Zensuslisten - beschränke, daß für sie die Berechnung mittlerer Haushaltsgrößen in lokalen Bevölkerungen zum Selbstzweck geworden sei, daß sie einen unbefriedigenden Strukturbegriff verwende, indem sie die in den Personenstandslisten vorgefundenen Haushaltskonstellationen bereits als Familienstruktur interpretiere etc. (Berkner 1975; Anderson 1980, S. 27 ff.). Gewiß gelten solche Vorbehalte nicht gegenüber allen Vertretern der historisch-demographischen Familienforschung. Vielfach gewinnt jedoch die Auswertung umfangreicher Massenquellen mit quantifizierenden Verfahrensweisen eine so starke Eigendynamik, daß ergänzende Materialien gar nicht herangezogen werden. Solche Einseitigkeiten der Quellenauswahl stellen sicher bei der historisch-demographischen Zugangsweise ein generelles Gefahrenmoment dar. Eine zweite Hauptrichtung in der neueren Sozialgeschichte der Familie stellt den Wandel von familialen Gefühlen, Verhaltensweisen und Beziehungen in den Mittelpunkt der Untersuchung (ζ. B. Ari^s 1960; Shorter 1975; Stone 1977). Zentrale Themen dieser Richtung sind etwa die Ausbildung familialer Privatheit, Veränderungen in den Motiven der Partnerwahl, in der Einstellung der Gatten zueinander, im Verhältnis der Eltern - insbesondere der Mutter - zu ihren Kindern. Manche dieser Fragestellungen werden in ähnlicher Weise von den Vertretern der sogenannten „psychohistory" aufgeworfen, die freilich aufgrund ihrer ahistorischen Art der Übertragung psychoanalytischer Modelle auf Verhältnisse der Vergangenheit und den daraus gezogenen höchst spekulativen Schlußfolgerungen stark in Mißkredit geraten sind (vgl. de Mäuse 1979). Die Beschäftigung mit familialen Gefühlen, Verhaltensweisen und Beziehungen in der Vergangenheit bedarf einer ganz anderen Quellengrundlage als die demographische Zugangsweise. Meist sind geeignete Materialien nur für relativ schmale Bevölkerungsgruppen erhalten, insbesondere für adelige Oberschichten. 89
Dadurch kann eine schichtspezifische Verzerrung der erarbeiteten Resultate eintreten. Viele der durch diese Forschungsrichtung aufgeworfenen Fragestellungen lassen sich in repräsentativem Umfang und für breitere Bevölkerungsgruppen erst für die jüngste Veigangenheit beantworten. Die dabei benutzte Methode der sogenannten Oral History ergibt ein Naheverhältnis zu Arbeitsweisen, wie sie in der ethnographischen Forschung üblich sind Die Sozialgeschichte wird bei dieser auch inhaltlich viele Anknüpfungspunkte finden können. Dies gilt u.a. auch für die hier interessierende Frage komplexer Familienformen. Aus schriftlichen Quellen läßt sich wenig erschließen, wie sich die innerfamilialen Sozialbeziehungen bei solchen Strukturen gestaltet haben. Mit entsprechender Vorsicht werden jedoch Analogieschlüsse erlaubt sein, die einschlägige Eigebnisse ethnographischer Forschungen auf weiter zurückliegende historische Verhältnisse übertragen. Eine dritte Hauptrichtung der neueren Familienforschung geht stark von Problemen des Wandels der Familienfunktionen aus. Im Vordeigrund steht dabei die Frage, wieweit die jeweilige Form der Arbeitsoiganisation die Familienverhältnisse geprägt hat (Anderson 1980, S. 65 ff.).2 Der weitgehende Verlust produktiver Funktionen ist ja sicher eine der markantesten Veränderungen in den Prozessen des Wandels historischer Familienformen. Geht man von der Familienwirtschaft als einem maßgeblich bedingenden Faktor aus, so ist gleichzeitig die Einordnung in umfassende wirtschafts- und sozialhistorische Entwicklungsprozesse naheliegend, die diese Familienwirtschaft beeinflußt und verändert haben. Ein solcher Ansatz tendiert daher zu einer theoretischen Verknüpfung makro- und mikrostruktureller Erscheinungen, die sonst in der historischen Familienforschung vielfach vernachlässigt wird. Die Möglichkeit einer Verbindung mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozessen beschränkt sich freilich nicht auf den ökonomischen Bereich. Setzt man in der Interpretation bei Familienfunktionen an, so ist insgesamt eine solche Einordnung in größere Zusammenhänge fast zwingend notwendig. Einer Zusammenarbeit mit der Volkskunde, der Sozialanthropologie oder der Ethnosoziologie kommt dieser Ansatz besonders entgegen. Die Beschäftigung mit Fragen der Arbeitsoiganisation hat ja in diesen Disziplinen eine starke Tradition. Aber auch für die Behandlung anderer Familienfunktionen eigeben sich hier gute Anknüpfungspunkte. Für die beabsichtigte Untersuchung komplexer Familienformen in der europäischen Vergangenheit wird es daher besonders wichtig sein, solche funktionale Aspekte mit der demographischen Zugangsweise zu verbinden. 90
Familiengröße - eine Wertungsfrage? Soziologische, volkskundliche und historische Arbeiten über Veränderungen von komplexen Familienformen bzw. anderen Formen der Großfamilie haben es sich vielfach zur Aufgabe gemacht, den Prozeß des vermeintlichen bzw. des tatsächlich festgestellten Wandels zu bewerten. Schon bei Le Play und Riehl stand ja dieses Moment im Vordergrund. Viele Autoren sind ihnen darin gefolgt In ihrer Tendenz betonen solche Studien meist die Vorteile von Familienverhältnissen der Veigangenheit gegenüber denen der Gegenwart Die Beschäftigung mit historischen Familienformen erfolgte ja vielfach aus einer kulturkritischen Grundhaltung und mit sozialpolitisch restaurativen Intentionen (Mitterauer/Sieder 1977, S. 38 ff.). Die Gefahr einer ideologischen Verzerrung der historischen Darstellung ist bei dieser Ausgangsposition natürlich groß. Auch ohne solche Tendenz erscheint es fragwürdig, die wertende Beurteilung vergangener Familienformen zum Zielpunkt der Analyse zu machen. Soweit historische Familienforschung zur Urteilsbildung beitragen soll, ist ihre Aufgabe ja die Orientierung in den Verhältnissen der Gegenwart In den hier angestellten Überlegungen ist eine Bewertung historischer Familienformen nicht intendiert Es geht auch nicht um eine Geschichte solcher Werthaltungen in der Entwicklung der einbezogenen Disziplinen, obwohl eine Beschäftigung mit ideologischen Hintergründen der Familiengeschichtsforschung eine wesentliche aufklärende Wirkung haben könnte. Eine solche ideologiekritische Zugangsweise müßte wissenschaftsgeschichtlich ansetzen, was hier nicht geleistet werden kann. Es sei zu diesem Problemkreis nur soviel gesagt, daß alle Behauptungen in der Fachliteratur von einer generellen Dominanz der Großfamilie in vorindustrieller Zeit und einem grundlegenden Wandel zur Kleinfamilienstruktur im Zuge der Industrialisierung im Lichte der neueren sozialgeschichtlichen Forschung unhaltbar geworden sind (Mitterauer/Sieder 1977, S. 38 ff.). Das beharrliche Festhalten an solchen falschen Vorstellungen läßt sich nur erklären, wenn man die Bedeutsamkeit dieser Frktionen für die jeweiligen Zeitgenossen bedenkt Die hier vorgelegte Studie hat eine andere Erkenntnisabsicht als den wertenden Vergleich mit der Gegenwart Komplexe Familienformen sollen in ihren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen analysiert werden. Dazu ist es zunächst notwendig, verschiedene Typen komplexer Familienformen, die in der Literatur vielfach undifferen91
ziert behandelt werden, untereinander abzugrenzen. Der Versuch einer Typologie erfordert auch terminologische Überlegungen. Die Frage nach sozialen Rahmenbedingungen macht es notwendig, sich innerhalb einzelner Gesellschaften mit unterschiedlicher Häufigkeit des Auftretens komplexer Familienformen in bestimmten Schichten sowie im zeitlichen Ablauf zu beschäftigen. Als Voraussetzungen der Entstehung, der Veränderung, der Verbreitung bzw. des Abkommens solcher Formen werden ökologisch-wirtschaftliche, herrschaftlich-rechtliche und bewußtseinsmäßige Faktoren zu untersuchen sein. Neben den makrostrukturellen Voraussetzungen von Familienkonstellationen geht es auch um deren Auswirkungen innerhalb der Kleingruppe. Insgesamt sollen also Merkmalsyndrome analysiert werden, die Schlüsse auf bestimmte gesellschaftliche Zusammenhänge zulassen. Eine Explikation dieser Erkenntnisabsicht erscheint wichtig, um sich gegenüber einer Behandlung der Großfamilienproblematik abzugrenzen, die in Zahlenangaben über die Häufigkeitsverteilung von Familienformen in regionalen Populationen ihr Auslangen findet Geht es um den Versuch, komplexe Familienformen aus einem umfassenden sozialen Kontext zu verstehen, so kann man sich nicht mit der Beschreibung demographischer Phänomene begnügen. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß das Bemühen um Erklärungen jedenfalls ein Einbeziehen funktionaler Aspekte erfordert
Typen komplexer Familienformen Solche funktionale Gesichtspunkte gewinnen bereits bei der Frage einer angemessenen Typologie und Terminologie Bedeutung. Eine rein quantitative Charakteristik, wie sie etwa im Begriff „Großfamilie" zum Ausdruck kommt, deckt so unterschiedliche Familienformen ab, daß es völlig sinnlos erscheint, nach gemeinsam bedingenden gesellschaftlichen Faktoren zu fragen. Der personelle Umfang von „Großfamilien" kann einerseits bei einfachen Familienstrukturen durch Kinderreichtum oder starke Gesindehaltung zustande kommen; er kann andererseits aber auch die Folge komplizierter Strukturen sein, etwa bei Mehrgenerationenfamilien oder Familien, die um Seitenverwandte erweitert sind. Die Berechnung mittlerer Haushaltsgrößen sagt daher über die Familienverfassung einer Population noch sehr wenig aus. Sie ist bestenfalls ein erster Indikator, der erklärungsbedürftige Unterschiede zwischen den 92
Familienverhältnissen bestimmter Bevölkerungsgruppen anzeigen kann. Es darf als ein wesentliches Ergebnis der neueren historischen Familienforschung angesehen werden, daß komplexe Familienstrukturen keineswegs notwendig in hohen Werten durchschnittlicher Haushaltsgrößen zum Ausdruck kommen bzw. daß umgekehrt hohe Mittelwerte auch bei relativ einfachen Strukturen gegeben sein können (Wheaton 1975, S. 606). Das ersterwähnte Phänomen läßt sich etwa bei der Zadruga des Balkanraums beobachten, die in der Literatur sozusagen als der klassische Fall der „Großfamilie" angesehen wird. Einzelfälle von Zadrugas, die eine Größe von vierzig, fünfzig, sechzig oder sogar über hundert Personen erreichten, stellen völlig atypische Extremwerte dar (vgl. etwa Mosely 1976a, S. 28; 1976c, S. 59; Erlich 1976, S. 244ff.; FilipoviC 1976, S. 277). Betrachtet man die durchschnittlichen bzw. die häufigsten Haushaltsgrößen in Verbreitungsgebieten der Zadruga, so liegen sie keineswegs besonders deutlich über den Vergleichswerten aus anderen europäischen Regionen (Hammel 1972; Halpern 1972; Laslett/Clarke 1972). Ähnliches gilt für manche Gebiete Rußlands, in denen ebenfalls komplexe Familienformen dominieren (Mitterauer/Kagan 1982). Der Begriff „komplexe Familie" wird hier für Gruppierungen verwendet, in denen Angehörige mehrerer Teileinheiten zusammenleben, die untereinander in der jeweiligen Subgruppe durch eine besondere Beziehung verbunden sind. In erster Linie sind damit Familienverbände angesprochen, in denen mehrere Ehepaare präsent sind Aber auch einzelne Elternteile mit Kind bzw. mit Kindern können eine solche Teilgruppe bilden - sei es daß es sich dabei um ledige oder um verwitwete Personen handelt Ist neben einem Ehepaar und dessen Kindern in einer Familie eine weitere verwandte Einzelperson anwesend, so wird in Einklang mit der Literatur der Begriff „erweiterte Familie" gebraucht Reine Eltern-Kind-Gruppen werden als „Kernfamilien" bezeichnet Die Terminologie der Literatur für die hier als komplex bezeichneten Familienformen ist durchaus nicht einheitlich. Manche Autoren verwenden Formulierungen wie „polynukleare", „multifokale" oder „vielzellige" Familien. Wegen seiner Unschärfe äußerst fragwürdig erscheint der Begriff „Großfamilie". Der Sache nach sehr treffend ist die Bezeichnung „Mehrfamilie" (Gavazzi 1976), die freilich im Schrifttum kaum aufgenommen wurde. Sie entspricht dem englischsprachigen Typenbegriff des „multiple family household" (Laslett 1972 und Hammel/Laslett 1974). Insgesamt ist es notwendig, bei Typisierungsversuchen von Familienformen sprach93
liehe Neuschöpfungen zu verwenden. Historisch gewachsene E genbezeichnungen der betreffenden Gesellschaften fehlen ja zumeist Soweit sie vorhanden sind, decken sie, wie das französische Wort „freröche" oder das deutsche „Hauskommunion", nur einen Teil des gemeinten Bedeutungsfelds ab bzw. sind, wie der südslawische Terminus „Zadruga",3 bloß für einen bestimmten Raum verwendbar. Der Begriff „komplexe Familie" wurde hier gewählt, weil er der Bedeutung nach klar ist, in der Literatur vielfach verwendet wird und seinem Inhalt nach ein deutliches Gegenstück zu einfachen Familienformen („simple family household") darstellt
Strukturtypen und Familienzyklus Bevor auf die verschiedenen Typen von Familienformen eingegangen wird, für die die Bezeichnung „komplexe Familie" den Überbegriff darstellt, ist es notwendig, sich mit einer Argumentation auseinanderzusetzen, die den Wert einer solchen Typisierung sehr grundsätzlich in Frage stellt. In Auseinandersetzung mit Vertretern der historisch-demographischen Familienforschung wurde darauf hingewiesen, daß deren Hauptquelle - nämlich die Personenstandslisten - gleichsam nur eine Momentaufnahme bietet Die dort wiedelgegebenen Enzelkonstellationen können sich kurz vorher oder kurz nachher verändert haben. Haushalte, die im Moment der Aufnahme als Kernfamilie erscheinen, mögen sich bald darauf zu einer erweiterten oder einer komplexen Familienform entwickelt haben bzw. umgekehrt. Strukturtypen von Familien müßten den gesamten Ablauf des Familienzyklus berücksichtigen. Um das zu leisten, bedürfe es ergänzender Quellen (Berkner 1975; vgl. dazu Verdon 1979). Das Argument, daß kurzfristige Personenstandskonstellationen und gesellschaftlich dominante Strukturtypen von Familien auseinanderzuhalten sind, ist sicher richtig. Gerade wenn nach allgemeinen sozialen Rahmenbedingungen von Familienformen gefragt wird, müssen charakteristische Phasenabfolgen des Familienzyklus mitberücksichtigt werden. Strukturelle Aussagen auf der Basis einzelner Personenstandslisten erscheinen dadurch freilich nicht ausgeschlossen. Wenn in der Aufnahme einer ländlichen Pfarrgemeinde verheiratete Kinder von Bauern völlig fehlen, so darf wohl gesagt werden, daß in dieser lokalen Gesellschaft jedenfalls kein Stammfamiliensystem geherrscht hat. Umgekehrt ist es sicher 94
berechtigt, bereits aus wenigen Fällen von verheirateten Brüdern, die miteinander in Hausgemeinschaft leben, den Schluß zu ziehen, daß hier die Voraussetzungen für ein „fr£röche"-System gegeben waren. Möglichkeiten und Grenzen bestimmter Strukturtypen lassen sich also wohl auch aus einzelnen Personenstandslisten erkennen. Welche Konstellationsformen solchen Strukturtypen als charakteristische Ablaufphasen im Familienzyklus zuzuordnen sind, das wird aber sicher deutlicher sichtbar, wenn man funktionale Aspekte wie Arbeitsorganisation, Residenzgewohnheiten, Erbrechtsformen etc. bei der Betrachtung von Familienstrukturen miteinbezieht Unter dem Aspekt zyklusbestimmender Faktoren werden in der theoretischen Literatur bloß zwei Grundtypen der komplexen Familien unterschieden (Wheaton 1975, S. 606 ff.; Berkner 1972 b): Den einen stellt das Stammfamiliensystem dar. In ihm ist zwar eine lineale Erstreckung auf drei zusammenlebende Generationen möglich, nicht aber eine laterale, weil nur jener Sohn (bzw. jene Tochter) zu Lebzeiten der Eltern heiraten darf, der (die) das Gut übernimmt Strukturelle Bedingung der Stammfamilie ist ja das Einzelerbrecht Der zweite Grundtypus komplexer Familien wird als ,joint family" bezeichnet - ein Begriff, der sich im Deutschen nur unbefriedigend durch die Übersetzung „Verbandsfamilie" wiedeigeben läßt (Goode 1967, S. 89). Im Joint family"-System kann es sowohl zu linearen sowie auch zu lateralen Erstreckungsformen kommen (Wheaton 1975, S. 607). Anders als im Stammfamiliensystem dürfen hier mehrere Söhne zu Lebzeiten des Vaters heiraten. Rechtliche Grundlage ist ja die Gleichberechtigung der Erben. Bleiben die Brüder nach dem Tod des Vaters als Erbengemeinschaft zusammen, so kommt es zu einer bloß lateral erweiterten komplexen Familie. Sie wird als „fr£r£che" in der engeren Bedeutung dieses Begriffs bezeichnet Im weiteren Sinn kann ja auch die Gemeinschaft lediger Brüder darunter verstanden werden (Laslett 1972, S. 31).
Stammfamilie und Ausgedingefamilie Eine solche Zweiteilung komplexer Familienstrukturen in Stammfamilie und ,joint family" ist sicher zuwenig differenziert Eine wesentliche Unterscheidung muß zunächst bezüglich des Strukturtypus gemacht werden, der gängig als Stammfamilie bezeichnet 95
wird. Seit Berkners nunmehr schon klassischem Aufsatz über die .Austrian stem family" (Berkner 1972 a) ist es üblich geworden, nicht nur die von Le Play als „famille souche" charakterisierte Form des Zusammenlebens eines Bauernpaares mit einem verheirateten Kind und Enkelkindern unter diesem Begriff zu subsumieren; auch Dreigenerationenfamilien, in denen der Altbauer - mit oder ohne Ehepartner - bereits im Ausgedinge lebt, werden als Stammfamilien verstanden. Berkner hatte in seiner Liste der Herrschaft Heidenreichstein von 1763 neben zahlreichen Altenteilern auch einige wenige Fälle verheirateter Bauemkinder gefunden, die noch nicht den Hof übernommen hatten. Wie eine Vielzahl jährlich angelegter Listen aus der näheren Umgebung des Untersuchungsgebietes zeigt, war es hier tatsächlich üblich, daß Bauernsöhne gelegentlich bereits kurz vor der Hofübeigabe heiraten durften. Das ist freilich eine Ausnahmeerscheinung (Mitterauer/Sieder 1979, S. 273). In ländlichen Gebieten Österreichs, wie auch sonst im Verbreitungsgebiet des Ausgedinges, war es der Regelfall, daß Hofübeigabe und Eheschließung zeitlich zusammenfielen bzw. letztere erst später erfolgte. Heiratet der Sohn zum Zeitpunkt oder nach der Hofübeigabe, so kommt es zu einer völlig anderen Familienstruktur als in der Stammfamilie. In einem Fall ist der Sohn selbständiger Bauer und seine Gattin sofort nach der Eheschließung Hausfrau, im anderen Fall bleibt das junge Paar bis zum Tod des alten Bauern dessen hausväterlicher Gewalt unterworfen. Für die Formen des Zusammenlebens, für das Verhältnis der Generationen, für die Gesamtheit der innerfamilialen Rollenbeziehungen bedeutet das einen ganz einschneidenden Unterschied. Das Beispiel zeigt, wie irreführend es sein kann, bei der Bestimmung familialer Strukturtypen bloß von formalen Kriterien wie der Generationentiefe bzw. der linearen Erstreckung der Verwandtschaftsgruppe auszugehen. Faktoren wie Autoritätsverhältnisse oder Verfügungsberechtigung über den Familienbesitz müssen mit in die Betrachtung einbezogen werden, um ein realitätsgerechtes Bild zu gewinnen. Soweit beim derzeitigen Forschungsstand darüber eine Aussage gemacht werden kann, dürfte die durch das Ausgedinge bedingte komplexe Dreigenerationenfamilie viel weiter verbreitet gewesen sein als die eigentliche Stammfamilie. Die Einrichtung des Ausgedinges läßt sich bis zurück ins Mittelalter verfolgen. Es gab sie im ganzen mitteleuropäischen Raum, in Skandinavien, in Irland, in weiten Gebieten Osteuropas, die in ihrer Agrarverfassung von Mitteleuropa beeinflußt waren, so in Ungarn, in Polen und im
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Baltikum (Gaunt 1981, S. 30; 1977, S. 5). Freilich führte die Institution des Altenteils nicht notwendig zur Entstehung komplexer Familien. In manchen Gebieten war es üblich, daß sich nur ein verwitweter Elternteil ins Ausgedinge zurückzog. Das hatte dann bloß eine erweiterte Familienform zur Folge. Komplexe Familienformen durch Hofübergabe haben das Doppelausgedinge für beide Partner des Altbauernpaares als Voraussetzung. Altenteilsregelungen führten auch keineswegs durchgehend zur Entstehung von Dreigenerationenfamilien. Nicht immer waren ja die Hofübernehmer Kinder bzw. Schwiegerkinder des Altbauernpaares (Mitterauer 1973, S. 198). Vor allem unter grundherrschaftlichem Einfluß scheint es in älterer Zeit zu Übergabsvertragen unter Nichtverwandten gekommen zu sein. Eine Verwandtschaftsbindung fehlte auch dann, wenn das junge Paar den Hof verkaufte, die Altenteiler aber im Haus blieben. Bei solchen Verhältnissen wird man wohl ebenso von komplexen Familienstrukturen oder zumindest von komplexen Strukturen der Hausgemeinschaft sprechen dürfen. Daß Verwandtschaftsbindungen in historischen Zeiten nicht notwendig als konstitutiver Faktor familialer Gruppierungen angesehen werden können, läßt sich an vielen Beispielen zeigen (Mitterauer 1973, S. 174ff.; 1975 b, S. 232 ff.) und wird uns noch mehrfach zu beschäftigen haben. Schließlich ist als mögliche Auswirkung von bäuerlichen Ausgedingeregelungen noch zu bedenken, daß sie nicht zwingend eine unmittelbare räumliche Gemeinsamkeit des Alt- und Jungbauernpaares zur Folge haben müssen. Verschiedene Varianten der räumlichen Separierung innerhalb des Hofkomplexes, wie gesonderte Stube oder eigenes Altenteilerhäuschen, wurden in der Literatur schon diskutiert (Berkner 1972 b, S. 147 ff.). Es gab aber auch Fälle, daß Altenteiler auf einen anderen Hof zogen oder ein weit abgelegenes Kleinhaus innerhalb der Gemeinde bewohnten, durch den Übergabsvertrag und die auf dieser Grundlage zu erbringenden Leistungen jedoch rechtlich eng mit ihrer früheren Hausgemeinschaft verbunden blieben. Ahnliche Fälle räumlicher Trennung werden uns im Zusammenhang mit anderen Formen komplexer Familien noch zu beschäftigen haben. Wo das Kriterium der Koresidenz in so offenkundiger Weise nicht mehr gegeben ist, stellt sich freilich die Frage, ob noch von einem Familienverband als realer Interaktionseinheit gesprochen werden kann. Stammfamilienstrukturen im Sinne eines Zusammenlebens des Altbauernpaares mit bloß einem verheirateten Kind haben sich als eine allgemein verbreitete Erscheinung bisher vor allem in verschiedenen Gebieten Süd- und Mittelfrankreichs gefunden. Hier 97
sind etwa die Pyrenäen, das Languedoc, die Provence und Teile der Auvergne zu nennen (Goubert 1977; Flandrin 1978, S. 91 f.; Shorter 1977, S. 49 f.; Berkner/Shaffer 1978, S. 152). Zumeist ist der älteste Sohn bzw. einer der Söhne der presumptive Erbe, dem erlaubt wird, bereits vor der Übernahme zu heiraten. Es gibt aber auch Gegenden, in denen Tochter die Kontinuität der Hausgemeinschaft fortsetzen (Flandrin 1978, S. 95). Die Stammfamilie dieser Gebiete ist also keineswegs streng patrilinear strukturiert Stammfamilien, in denen die Tochter die entscheidende Mittelposition einnimmt, führen hinüber zu einer Familienform, die vom Verwandtschaftsaufbau her starke Ähnlichkeiten zeigt, nach ihren strukturellen Bedingungen jedoch ganz anders einzuordnen ist Gemeint ist das Zusammenleben von Ehepaaren mit ledigen Töchtern und deren unehelichen Kindern. In Gebieten mit hohen Illegitimitätsraten, wie etwa manchen ländlichen Regionen des Ostalpenraums, sind solche Konstellationen keineswegs selten (Mitterauer 1979). Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erreichen sie hier mit der allgemeinen Zunahme der Illegitimität einen Höhepunkt Verfolgt man die Ursachen der hohen Unehelichenanteile in der Bevölkerung, so läßt sich sagen, daß derartige Familienformen durchaus strukturell angelegt sind Es handelt sich also keineswegs um eine vernachlässigbare Ausnahmeerscheinung. Die Komplexität solcher Dreigenerationenfamilien ist durch die zusätzliche Mutter-KindGruppe durchaus gegeben. Der entscheidende Unterschied zur Stammfamilie liegt einerseits darin, daß der Vater des Enkelkinds nicht im Haushalt lebt, andererseits, daß die Fortpflanzung durch ein Kind erfolgt, das in der Regel nicht als Erbe vorgesehen ist Die besitzrechtlichen Verhältnisse stellen also auch hier über die Verwandtschaftskonstellation hinaus für die Familienstruktur einen essentiellen Faktor dar.
Nichtverwandte Teilgruppen komplexer Familien Man kann allgemein sagen, daß familiale Subgruppen ohne Rechte gegenüber dem für die Familie konstitutiven Haus bei der Behandlung komplexer Familienformen bisher stark vernachlässigt wurden. Knüpft man an das Beispiel der Tochter mit unehelichen Kindern an, so ist etwa darauf zu verweisen, daß in manchen Gegenden mit hohen fllegitimitätsraten auch Mägde mit unehelichem Nachwuchs auftreten. Gesinde ist in Gesellschaften der 98
alteuropäischen Welt zweifellos der Familie des Dienstgebers zuzurechnen - gleichgültig ob es sich um verwandte oder um nicht verwandte Personen handelt (Mitterauer 1973, 1975 f.; 1979a, S. 85). Die Magd mit ihrem Kind stellt also eine Teilgruppe einer komplex strukturierten Hausgemeinschaft dar. Nicht immer handelt es sich bei solchen Kindern von Mägden, die mit ihrer Mutter zusammenleben, um unehelichen Nachwuchs. In Kärnten begegnet in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. das eigenartige Phänomen, daß verheiratete Knechte und Mägde voneinander getrennt auf verschiedenen Höfen leben. Die Kinder bleiben dann zumeist bei der Mutter (Mitterauer 1978, 1981). Verheiratetes Gesinde tritt auch sonst gelegentlich als Subsystem eines komplex strukturierten Familienverbands auf. Relativ häufig scheint diese Konstellation im baltischen Raum gewesen zu sein. Auf großen Bauernhöfen begegnen hier mitunter mehrere Knechte mit Frauen und Kindern. Genauere Analysen haben ergeben, daß es sich dabei vielfach um Verwandte der Bauern handelte (Plakans 1977). Es wäre freilich inkonsequent, nur verwandte Gesindepersonen mit ihren Angehörigen der Familie zuzurechnen. Die Quellen charakterisieren Knechte und Mägde unabhängig von eventuellen Verwandtschaftsbeziehungen nach ihrer Stellung in der Hausgemeinschaft Aus der Sicht der Zeitgenossen eigab sich also offenbar keine Unterscheidung. Besondere Probleme hinsichtlich der Zurechnung zu komplexen Familienverbänden eigeben sich bei einer Gruppe von Personen, die man am besten nach einer weit verbreiteten Quellenbezeichnung als Inwohner charakterisiert (Mitterauer 1973, S. 207 ff.; 1975 a, S. 161 ff.; 1975 b, S. 235 ff.; 1976, S. 125ff.). Auch unter ihnen gibt es wie beim Gesinde solche, die mit dem hausbesitzenden Ehepaar verwandt sind, auch bei ihnen ist freilich das Verwandtschaftskriterium für ihre Stellung nicht von Bedeutung. Zum Unterschied von Knechten und Mägden war Heirat bei ihnen keine Ausnahmeerscheinung. Wo sie auftreten, bilden sie daher in der Regel eine Teilgruppe innerhalb der Hausgemeinschaft Eine bestimmte Berechtigung am Haus kam ihnen nicht zu. Für den Grad ihrer Integration ist über das „Leben unter einem Dach" hinaus die Frage der Teilnahme an Aktivitäten der übrigen Hausangehörigen entscheidend Freilich wissen wir darüber wenig. Zeitlich, räumlich und schichtspezifisch dürfte es in dieser Hinsicht große Unterschiede gegeben haben. In Bauernhäusern ist in der Regel anzunehmen, daß Inwohner zur Mtarbeit in der gemeinsamen Produktion herangezogen wurden - freilich nicht in gleichem Maße wie das zu 99
ständiger Dienstleistung verpflichtete Gesinde. In ländlichen Kleinhäusem dürfte dazu keine Notwendigkeit, zumeist nicht einmal die Möglichkeit bestanden haben. Mit zunehmendem Zentralitätsgrad von Siedlungen scheint den Inwohnern immer mehr die Stellung von bloßen Mietern zugekommen zu sein. In Städten dürfte über das Moment der Koresidenz hinaus in der Regel kaum eine besondere Beziehung zur hausbesitzenden Familie bestanden haben. Es eigibt sich so ein Spektrum abnehmender Integration, innerhalb dessen sich schwer entscheiden läßt, unter welchen Umständen noch von Familienzugehörigkeit gesprochen werden kann. Daß es grundsätzlich Formen des Zusammenlebens zwischen Bauern und Inwohnern gegeben hat, die als komplexe Familienkonstellationen anzusehen sind, läßt sich aber kaum bestreiten. Ein deutliches Indiz in dieser Richtung ist etwa die Erscheinung, daß in manchen Gegenden die Altenteiler in den Quellen als Inwohner bezeichnet werden.
Verwandtschaft als Familienkriterium? Die Schwierigkeit, historische Hausgemeinschaften mit Inwohnergruppen als komplexe Familienformen zu verstehen, hängt mit einem Familienverständnis zusammen, das einseitig an Verwandtschaftskriterien orientiert ist. Ihm entsprechen wissenschaftliche Klassifikationsschemata, deren Systematik ausschließlich verschiedene Verwandtschaftsbeziehungen berücksichtigt.4 Der sozialen Realität historischer Gesellschaften des europäischen Raumes werden solche Typologien nur partiell gerecht Analysiert man die Formen, in denen in älteren Personenstandslisten die Beziehung von abhängigen Personen zum Familienoberhaupt charakterisiert werden, so lassen sich vereinfachend zwei Grundmuster unterscheiden. Nach dem einen werden die Angehörigen durch den Grad ihrer Verwandtschaftsbeziehung beschrieben, nach dem anderen vorwiegend durch ihre Rolle in der Hausgemeinschaft. Das erstere dominiert in Ost- und Südosteuropa, das letztere in Mittel- und Westeuropa; in Ostmitteleuropa finden sich gelegentlich Mischsysteme (z.B. Plakans 1977, S. 5). Diesen unterschiedlichen Erfassungsformen entsprechen offenbar unterschiedliche Formen des Verständnisses familialer Gruppierungen durch die jeweiligen Zeitgenossen bzw. unterschiedliche Formen der Gruppenrealität (Mitterauer/Kagan 1982). In Ost- und Südosteuropa bestehen Hausgemeinschaften 100
im Prinzip aus untereinander verwandten Personen. Sollen nicht verwandte Personen in das Haus aufgenommen werden, so bedarf es meist der Herstellung einer künstlichen Verwandtschaft - sei es durch Adoption oder eine analoge rituelle Handlung - (Kosven 1963, S. 44 ff.; Filipovid 1976, S. 271; Schneeweiß 1935, S. 238; Bardach 1977, S. 347 ff.). Jedenfalls dominiert das Verwandtschaftsprinzip die Zusammensetzung familialer Gruppierungen. In Mittel- und Westeuropa ist die Situation eine ganz andere. Das häusliche Zusammenleben mit nicht verwandten Personen ist hier bis weit zurück offenkundig eine Selbstverständlichkeit. Die Verwandtschaftsbindung tritt bei der Bestimmung innerhäuslicher Sozialbeziehungen in den Hintergrund Prägend werden funktionale Aspekte des Zusammenlebens, vor allem solche der gemeinsamen Arbeit. Zur Charakteristik dieser Gruppierungen sind dann Typenbezeichnungen, die nach Verwandtschaftskriterien entwickelt wurden, wie dies bei der ethnologischen und sozialanthropologischen Terminologie der Fall ist, grundsätzlich wenig geeignet Vielfach wird übersehen, daß auch bei der zweiten Hauptgruppe komplexer Familien - nämlich den „joint families" - nicht immer Verwandtschaft die Grundlage bildet Zwar darf angenommen werden, daß überall dort, wo in Europa solche Familienformen auftreten, ursprüngliche reale Verwandtschaftsverbände dieses Strukturtypus bestanden haben. Die Entwicklung führte jedoch vielfach darüber hinaus. Bei den als „fr£röche" bezeichneten Lebensformen muß es sich keineswegs um eine wirkliche Erbengemeinschaft von Brüdern handeln, die mit ihren Angehörigen in einem Haushalt zusammenleben. Sie können auch durch einen Kontrakt zustande gekommen sein. In Frankreich war dafür die Bezeichnung „affrairement" üblich. Ein solcher Vertrag wurde etwa von Schwägern oder anderen Verwandten, durchaus aber auch von untereinander nicht verwandten Personen abgeschlossen (Flandrin 1978, S. 101; Goubert 1977, S. 181; Dussourd 1978, S. 14). Die Kontraktpartner verpflichteten sich, wie eine Gruppe gemeinsam erbender Brüder in Gütergemeinschaft in einem Haushalt zusammenzuleben. In den sogenannten „communaut6s taisibles" wurde ohne den Abschluß eines formellen Vertrags aufgrund des realen Zusammenlebens eine solche Abmachung angenommen - auch hier durchaus zwischen verwandten wie zwischen nichtverwandten Personen (Flandrin 1978, S. 102 ff.). „Fr6r£che"-Verträge konnten unbefristet, ebenso aber auf eine bestimmte Laufzeit abgeschlossen werden (Dussourd 1978, S. 14). Letzteres stellte eine Abweichung gegenüber der Erbengemeinschaft dar. In Frankreich war die Form
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des „affrairement" vor allem im Süden des Zentralmassivs verbreitet - in den Cevennen, im Gevaudan, Velay und Roueigue (Flandrin 1978, S. 101). Sie läßt sich in manchen Gegenden bis weit ins Mittelalter zurückverfolgen (Aubenas 1933, 1941, 1960). Im französischen Raum ist der Übergang von der realen Brüdeigemeinschaft zu der ihr nachgebildeten Haushaltsgemeinschaft auf Vertragsbasis, zu der auch nicht verwandte Personen zugelassen werden, besonders deutlich. Die Übertragung des Modells der brüderlichen Erbengemeinschaft auf nicht verwandte Personen findet sich freilich auch anderwärts. In Osteuropa begegnet es gelegentlich in litauen, Polen, Rußland und in der Slovakei (Bardach 1977, S. 341 ff.; Morvay 1965, S. 240). Es kommt auch im Verbreitungsgebiet der Zadruga vor (Gavazzi 1976, S. 142). Hier dürfte es vor allem für den Raum der österreichisch-ungarischen Militäigrenze charakteristisch gewesen sein, wo aus Verteidigungsgründen Hausgemeinschaften mit nichtverwandten Personen aufgefüllt werden mußten. Im Alpenraum lassen sich Kommunhausungen, bei denen Verwandtschaftsbeziehungen für das Zusammenleben jedenfalls nicht konstitutiv gewesen sein dürften, seit dem Hochmittelalter beobachten (Dopsch 1909; Tremel 1940). Die Übergänge zwischen der Erbengemeinschaft von Brüdern zu den diesem Modell nachgebildeten Lebensformen von Nichtverwandten sind sicher in der historischen Realität fließend Die beiden Endpunkte des Spektrums wird man jedoch wohl als voneinander unterscheidbare Strukturtypen auffassen dürfen. Dabei ist freilich zu bedenken, daß auch bei Dominanz der vertraglichen Bindung Verwandtschaftsbeziehungen häufig eine Rolle spielten. Ein „affrairement" konnte eben auch unter Brüdern abgeschlossen werden.
Patrilinearität und Senioratsprinzip Die „joint family" scheint überall in Europa ursprünglich patrilinear strukturiert gewesen zu sein. Das gilt für die Balkanländer, für Rußland, den baltischen Raum, Polen, Ungarn und wohl auch Frankreich und Italien. In manchen Regionen hat sich dieses Prinzip lückenlos erhalten (ein russisches Beispiel bei Mitterauer/Kagan 1982). Andererseits finden sich Gebiete, in denen auch Verwandte in weiblicher Linie relativ zahlreich in „joint families" vertreten sind In einer kurländischen Herrschaft machten sie etwa im ausgehenden 18. Jahrhundert fast dreißig Prozent der in der 102
Familie mitlebenden Verwandten aus (Hakans 1975, S. 27). Unter strukturellem Aspekt ist dies ein wichtiges Moment Offenbar hatten sich hier jene Faktoren ihre Bedeutung erhalten, die die komplexe Familienstruktur bedingten, nicht aber jene, auf die ihr patrilinearer Aufbau zurückzuführen ist Charakteristisch für die verschiedenen Formen der ,joint families" in Europa scheint weiters das Senioratsprinzip gewesen zu sein. Es bedeutet einerseits, daß stets das älteste Familienmitglied also entweder der Vater oder der älteste Bruder - an der Spitze des Familienverbandes steht, andererseits, daß diese Stellung lebenslänglich beibehalten wird Für beide Regeln gibt es freilich Ausnahmen. So kommt es vor, daß beim Tod des Hausvaters nicht automatisch der älteste Mann der Familie nachrückt, sondern daß unter den Männern gewählt wird. Das Wahlprinzip findet sich gelegentlich im Verbreitungsgebiet der Zadruga (Vinski 1938, S. 23), bei den Litauern (Cohn 1899, S. 111) und in manchen „communautds familiales" in Frankreich (Dussourd 1978, S. 27). Man wird diese Bestimmung des Familienoberhauptes durch Wahl als einen stärker egalitären Zug der Familienverfassung ansehen dürfen und damit als ein wesentliches Strukturmerkmal, das dem starren Prinzip des Alterspatriarchats gegenübersteht Auch die Abgabe der Autoritätsposition im Alter kommt ausnahmsweise vor. So zog sich etwa bei den Sarakatschanen in Nordgriechenland der alte Vater bald nach der Geburt des ersten Enkels von der Führung der Familie zurück. Kam es zur Familienteilung, so wurde er im Haus des jüngsten Bruders versorgt (Campbell 1964, S. 68, 81). Auch hier liegt ein struktureller Faktor vor, der eine wichtige Differenzierung bedeutet
Das Problem familialer Gütergemeinschaften Ganz besondere Probleme ergeben sich für eine historische Familientypologie, wenn Teilgruppen von „joint families" voneinander räumlich getrennt leben. Vor allem im Verbreitungsgebiet der Zadruga gab es Fälle, in denen einzelne Familienzweige oft über große Distanzen voneinander separiert wohnten, aber die Familiengüter gemeinsam besaßen und bewirtschafteten sowie unter der Leitung eines gemeinsamen Oberhauptes standen (Vinski 1938, S. 37; Gavazzi 1976, S. 142; Filipovid 1976, S. 272). Ganz ähnliche Verhältnisse finden sich in Ungarn (Szdman 1981). Definiert man 103
die .joint family" nach der Gütergemeinschaft mehrerer familialer Teilgruppen, so erscheint dieser Familientyp auch hier gegeben (ζ. B. Berkner/Shaffer 1978, S. 150). Geht man von der Koresidenz als entscheidenden Bestimmungskriterium von Familie aus, so sind diese Formen nicht dem ,joint family"-Typus zuzuordnen. Die Dinge liegen freilich noch komplizierter. Wie hat man etwa jene keineswegs seltenen Fälle zu beurteilen, in denen im Winter große Familienverbände unter einem Dach wohnten, sich im Sommer jedoch auf mehrere Wohnorte verteilten? Solche saisonale Koresidenz war vor allem in Gebieten transhumanter Weidewirtschaft verbreitet (Wheaton 1975, S. 604; Hammel 1980, S. 250). Problematisch ist die Beurteilung auch, wenn männliche Mitglieder durch Arbeitswanderung bedingt - oft für Jahre die Großfamilie verlassen, wie das etwa bei den „pedalbari" unter den Albanern und Mazedoniern (Hammel 1980, S. 251) oder beim „otchod" in Rußland der Fall war. Die Situation der Gastarbeiterfamilien in der Moderne ist oft analog zu sehen. Abgrenzung und Typisierung von familialen Gruppen erscheint bei solchen Verhältnissen nicht in befriedigender Weise möglich. Die Frage komplexer Familien, deren Angehörige zwar in Gütergemeinschaft, aber ohne gemeinsamen Haushalt leben, hat für die historische Familienforschung bis ins Mittelalter zurück Relevanz. Für Zeiten, aus denen keine Personenstandslisten vorliegen, sind Rechtsquellen ein wichtiger Hinweis auf die Verbreitung des „joint family"-Typus. Nachrichten von Gütergemeinschaft zwischen Vätern und Söhnen, Brüdern und Verwandten werden von seiten der Rechtsgeschichte vielfach als Beleg für die Existenz umfassender Familienverbände angesehen. Da Erbengemeinschaften sehr häufig in adeligen Oberschichten vorkamen, über diese aber besonders viele individuelle und generelle Zeugnisse vorliegen, kann aus der Perspektive der Rechtsgeschichte ein Bild entstehen, das die gesellschaftliche Realität verzerrt wiedergibt Gerade in vermögenden Adelskreisen wird es sicher vorgekommen sein, daß trotz Gütergemeinschaft die einzelnen Teilgruppen des Familienverbandes getrennt wohnten. Vielleicht geht es zu weit, wenn im Vergleich mit der Zadruga für die in ungeteilter Besitzgemeinschaft lebenden Adelsfamilien Ostmitteleuropas generell festgestellt wurde, daß Formen gemeinsamen Wirtschaftens und gemeinsamen Lebens bei ihnen fehlten (Bardach 1977, S. 346). Vorsicht ist diesbezüglich jedoch sicher am Platz. Wenn nicht besondere Nachrichten über die Wohnverhältnisse vorliegen, wie das etwa beim italienischen Stadtadel des Spätmittelalters gelegent104
lieh der Fall ist (Hughes 1975), so wird man aus Gütergemeinschaft von Adelsfamilien nicht ohne weiteres auf komplexe Familienformen schließen dürfen.
Sind Familienstrukturen ethnisch bedingt? Ähnlich wie die ältere rechtsgeschichtliche Forschung durch ihre Gleichsetzung von Adelsrecht und Volksrecht bzw. von normativer Regelung und sozialer Wirklichkeit ein verzerrtes Bild der Verbreitung komplexer Familienformen gezeichnet hat, läßt sich auch vom älteren ethnographischen Schrifttum sagen, daß seine Zugangsweise zu irrigen Vorstellungen geführt hat Hier liegt der problematische Ansatz in der Annahme, daß bestimmte Familiensysteme mit ethnischen Einheiten korrespondieren, die man ihrerseits wiederum mit Sprachgruppen gleichsetzt Viele Autoren sprechen in diesem Sinne von der Großfamilie der Litauer, der Finnen, der Ungarn oder überhaupt der slawischen oder der keltischen Völker. Es ist hier nicht der Ort, sich mit der solchen Vorstellungen zugrunde liegenden Volkstumsideologie auseinanderzusetzen (vgl. Hammel 1980). Man kann es jedoch als eines der wichtigsten Resultate der neueren sozialhistorischen Familienforschung ansehen, solche Vorstellungen ethnisch gebundener Familiensysteme eindeutig widerlegt zu haben. Mit einer relativ einheitlichen Familienverfassung darf man bestenfalls bei sehr kleinen ethnischen Gruppen rechnen, die in ihrer sozioökonomischen Struktur verhältnismäßig wenig differenziert sind.5 Der Regelfall ist freilich, daß schon kleinräumige Regionalvergleiche sehr unterschiedliche Familienformen zeigen bzw. daß selbst in lokalen Untersuchungen eine bunte Vielfalt familialer Gruppierungen in Erscheinung tritt Sozialgeschichtliche Studien belegen immer wieder diese außerordentliche Differenziertheit, wobei die Unterschiede nach regionalen Wirtschaftsformen, nach städtischer bzw. ländlicher Siedlungsweise sowie nach einzelnen Schichten der Bevölkerung besonders auffällig sind Die in der Ethnographie weitveibreitete Auffassung einer Entsprechung von Volkstum und Familienverfassung läßt sich im Lichte dieser Forschungen sicher nicht aufrechterhalten. Die ethnische Erklärung der Verbreitung von Großfamilienformen hatte vor allem dadurch eine Stütze gefunden, daß komplexe Familienstrukturen vorwiegend in Ost- und Südosteuropa festgestellt wurden, also in Gebieten, die primär von slawischsprachigen 105
Völkern besiedelt sind Man sah daher in der spezifischen Familienverfassung ein altes Eibe slawischer Kultur. Hinsichtlich der räumlichen Verbreitung hat sich das Bild der Ethnographie durch die neuere sozialhistorisch demographische Forschung in großen Zügen bestätigt, was freilich keine Verifizierung des Erklärungsansatzes bedeutet. Eine gesellschaftlich dominante Erscheinung war die „joint family" in Europa fast ausschließlich in Gebieten, die östlich der Linie Leningrad-Triest liegen (Laslett 1977; Wheaton 1975, S. 613). Westlich davon ist das Vorherrschen dieses Typs nach dem bisherigen Forschungsstand eher eine Ausnahme. Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang etwa die Toskana (Herlihy/Klapisch 1978; Laslett 1977, S. 31) oder das Limousin (Goubert 1977, S. 182, 187). Freilich sind weite Regionen - vor allem des Mittelmeerraums - hinsichtlich solcher Fragen noch nicht untersucht (ein interessantes Beispiel komplexer Familienstrukturen aus Süditalien bei Douglass 1980). Östlich der Linie Triest-Leningrad korrespondiert mit Verbreitungsgebieten der „joint family" in demographischer Hinsicht ein spezifisches Heiratsverhalten. Es ist durch ein niedrigeres Heiratsalter - insbesondere der Frauen - sowie durch niedrigere Ledigenquoten charakterisiert (Hajnal 1965). Wohl zu Recht wurden zwischen diesem Heiratsverhalten und der Familienzusammensetzung funktionale Zusammenhänge vermutet (Laslett 1977, S. 39 ff.) - eine Frage, die uns noch zu beschäftigen haben wird. Die Verbreitung von ,joint family"-Formen in diesem osteuropäischen Raum ist freilich sehr unterschiedlich und keineswegs mit ethnischen Gruppen in Zusammenhang zu bringen. Sie fehlen etwa vollkommen bei den Slowenen, deren Siedlungsgebiet schon im Hochmittelalter durch die bayerische Kolonisation in seiner Agrarverfassung radikal verändert wurde, ebenso entlang der dalmatinischen Küste, wo das venezianische Kolonatssystem eingewirkt hat (Mosely 1976c, S. 61). Umgekehrt findet sich die Zadruga bei nicht slawischsprachigen Völkern wie den Albanern oder den Magyaren - freilich auch nur in bestimmten Regionen. Für den Raum des ehemaligen Königreichs Ungarn ist die Verbreitung komplexer Familienstrukturen in historischen Zeiten besonders gut untersucht (Faragö 1977; Szeman 1981). Schon die Aufschlüsselung auf Komitatsebene zeigt hier eine ganz unterschiedliche Verteilung. Aber auch unmittelbar benachbarte Dörfer können hinsichtlich der vorherrschenden familialen Strukturtypen ganz wesentlich variieren - vor allem in Kolonisationsgebieten, wo Neusiedler unterschiedlicher Herkunft verschiedene Erbrechtsgewohnheiten mitgebracht haben. 106
Innerhalb regionaler Populationen läßt sich die Regel aufstellen, daß ,joint families" und andere komplexe Familienformen in Städten weit seltener vorkommen als in deren ländlicher Umgebung. Dieses Prinzip gilt vom mittelfranzösischen Raum bis nach Rußland (Goubert 1977, S. 184 ff.; Mitterauer/Kagan 1982; Bardach 1977, S. 341; Mosely 1976c, S. 61; Wheaton 1975, S. 618). Zwar beeinflussen die Strukturen des Umlandes auch die Mittelpunktsiedlungen, sie können sich aber hier nicht in gleichem Maße durchsetzen. Das hat sicher mit den spezifischen städtischen Erwerbs- und Wirtschaftsformen zu tun. Geldwirtschaft und Lohnarbeit haben die Tendenz zu individueller Besitzbildung und sind dadurch der Verbreitung familialer Gütergemeinschaften nicht förderlich. Auch Dreigenerationenfamilien begegnen in Städten viel seltener als in ländlichen Gebieten. Dies hat u. a. mit Fragen der Altersversorgung zu tun, die in städtischen Siedlungen nicht wie auf dem Land primär naturalwirtschaftlich erfolgte. Es fehlte hier daher die Institution des Ausgedinges. Neben solchen ökonomischen Gründen sind bezüglich der geringeren Verbreitung komplexer Familienformen auch die spezifischen städtischen Wohnverhältnisse zu bedenken. Eine zweite Regelmäßigkeit, die sozialgeschichtlich-demographische Regionalstudien feststellen konnten, ist das Prinzip, daß komplexe Familienformen in reichen Bevölkerungsschichten stets häufiger vorkommen als in armen. Dies gilt sowohl für ,joint families" als auch für Stamm- und Ausgedingefamilien (Wheaton 1975, S. 617; Goubert 1977, S. 184; Flandrin 1978, S. 107, 306; Andorka 1975, S. 338; Berkner 1972 a, S. 708).6 Solche schichtspezifische Unterschiede lassen sich wohl nicht nur durch unterschiedliche Ressourcen erklären. Sie müssen vielmehr in einem breiteren sozialen Kontext gesehen werden.7 Für Genua etwa konnte gezeigt werden, daß die „joint family"-Formen des Stadtadels mit patrilinearen Verwandtschaftsstrukturen, ausgeprägtem Ahnenbewußtsein und spezifischen Eigentumsverhältnissen in Zusammenhang stehen, die bei den vorwiegend in Kernfamilien lebenden Handwerkern der Stadt nicht gegeben sind (Hughes 1975). Die größere Häufigkeit komplexer Familienformen in adeligen Oberschichten könnte anderwärts ebenso aus solchen Faktoren erklärt werden. Im Anschluß an sozialanthropologische Forschungen wurde auch für historische Gesellschaften die Vermutung geäußert, daß gewisse Idealvorstellungen über familiales Zusammenleben überwiegend in begüterten Oberschichten realisiert werden konnten (Hammel 1980, S. 252). Dabei stellt sich freilich die Frage, ob Sozialhistoriker 107
überhaupt von der Annahme gesamtgesellschaftlich gültiger Familienideale ausgehen dürfen.
Kontinuität oder Wandel? Ältere wissenschaftliche Lehrmeinungen, die von einer ethnischen Bedingtheit der Familienstrukturen ausgingen, mußten notwendig ein statisches Bild entwerfen. „Uigermanische" oder „urslawische" Gegebenheiten hätten demnach über viele Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende in den Familienverhältnissen nachgewirkt Historischdemographische Untersuchungen betonen demgegenüber die Dynamik des Wandels. So konnte etwa für England festgestellt werden, daß entgegen klassischen Klischeevorstellungen gerade in der Phase der Industrialisierung der Anteil komplexer Familienformen deutlich zugenommen hat (vgl. Graphik bei Flandrin 1978, S. 83, nach Laslett). Für das Verbreitungsgebiet der Zadruga wird hervorgehoben, daß es hier im Mittelalter Orte gab, in denen die „joint family"-Formen nur sehr schwach vertreten waren (Hammel 1980).8 Ungarische Historiker gehen sogar so weit, entgegen der ethnographischen Annahme vom hohen Alter der ungarischen Großfamilie deren Entstehung bzw. Verbreitung im wesentlichen als ein neuzeitliches Phänomen anzusehen. Als entscheidende Entstehungsbedingungen werden Übervölkerung, wachsende Angst vor Verarmung, hoher Arbeitskräftebedarf, der nicht durch Lohnarbeit gedeckt werden kann, sowie grundherrliche Abgabenpolitik angenommen (Faragö 1977; Andorka/Faragö 1980, S. 20). Zum Einfluß solcher demographisch-konjunktureller Bedingungen ist freilich generell zu sagen, daß sie zwar innerhalb vorhandener familienstruktureller Gegebenheiten zu starken quantitativen Veränderungen führen konnten, daß sie aber kaum selbst als der maßgebliche Entstehungsfaktor dieser Strukturen anzusehen sind. Über die Dauerhaftigkeit und das Alter komplexer Familienstrukturen läßt sich für die einzelnen europäischen Großräume aufgrund empirischer sozialhistorischer Untersuchungen wenig Verallgemeinerbares sagen. Dazu sind die überlieferten Quellennachrichten viel zu sporadisch. Wenn für die Toskana aus dem ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts sowie für Mittelitalien aus dem frühen 9. Jahrhundert Belege für die Verbreitung von „joint families" vorliegen (Laslett 1977, S. 31, nach Piazzini 1974/75; Herlihy/Klapisch 1978; Ring 1979), so läßt 108
sich daraus schwer eine strukturelle Entwicklungskontinuität ableiten. Das fast völlige Fehlen komplexer Haushaltsformen in einer Liste einer bayerischen Grundherrschaft aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts (Hammer 1983) besagt noch nicht, daß so weit zurück in diesem Raum Kernfamilienstrukturen dominiert hätten. Hochmittelalterliche Zeugnisse aus Böhmen und Polen, nach denen auf geistlichen Domänen vierzig bzw. fünfzig Prozent der Leibeigenen in komplexen Familiengemeinschaften gelebt haben (Bardach 1977, S. 342), lassen nicht ohne weiteres den Schluß zu, daß diese Gebiete damals zu einer umfassenden Verbreitungszone der „joint family" in Osteuropa gehörten. Von widersprüchlichen Nachrichten über das Auftreten der Zadruga in mittelalterlichen Quellen war schon die Rede. Eher als aus solchen sporadischen Einzelinformationen über die Zusammensetzung von Familien wird man aus der Kontinuität allgemeiner Rahmenbedingungen Schlüsse ziehen dürfen, wie etwa aus Nachweisen von Altenteilsregelungen (Gaunt 1981) oder von ungeteilten Erbengemeinschaften (Bardach 1979), obwohl gerade das letzte Beispiel auch die Unsicherheitsfaktoren solcher Schlußfolgerungen zeigt (vgl. oben S. 102).
Ökologisch-wirtschaftliche Bedingungen Überblickt man die räumliche Verbreitung von „joint family"-Formen in Europa aus historischer Perspektive, so läßt sich jedenfalls ein Punkt der Gemeinsamkeit hervorheben: Sie begegnen fast durchgehend in relativ abgeschlossenen, verkehrsfernen Rückzugsgebieten. Dabei muß es sich keineswegs nur um Gebirgsregionen handeln, wenn auch diese besonders stark vertreten sind Verwiesen sei hier auf das französische Zentralmassiv, den Alpenraum, in dem sowohl in der Schweiz als auch in Österreich Kommunhausungen vorkommen, die Karpaten und insbesondere den Balkanraum. Geht man über die Gebirgsregionen hinaus, so läßt sich ganz allgemein sagen, daß Ost- und Südosteuropa als die hauptsächlichen Verbreitungsgebiete der „joint family" bis ins 19. Jahrhundert im Vergleich zu Mittel- und Westeuropa viel weniger von städtischer Siedlungsweise geprägt und viel schwächer verkehrserschlossen war. Überlegt man mögliche Zusammenhänge zwischen komplexen Familienstrukturen und den gesellschaftlichen Verhältnissen in solchen Rückzugsgebieten, so kann man über den allgemeinen Traditionalismus dieser Regionen hinaus auf konkrete ökonomische Bedin109
gungen verweisen: Geldwirtschaft ist hier wenig verbreitet; Formen der Lohnarbeit, die zu individuellem Sondereigentum führen könnten, spielen kaum eine Rolle. Damit ist das kollektive Eigentum der Angehörigen umfassender Familienverbände nicht gefährdet Aus den Prozessen der Auflösung von Großfamilien wissen wir ja, daß Geldwirtschaft und Lohnarbeit dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben. An der Entwicklung der Zadruga konnten solche Zusammenhänge noch in jüngster Vergangenheit beobachtet werden (Filipovid 1976, S. 272). Ähnliches gilt für komplexe Familienformen in Ungarn (Sz6man 1981). Es wird wohl erlaubt sein, auch für weiter zurückliegende Epochen derartige Bewirkungszusammenhänge anzunehmen, wie das für den Prozeß der Ostkolonisation im Mittelalter vermutet wurde (Bardach 1977, S. 252). In marktfemen Gebieten mit gering entwickelter Geldwirtschaft haben die einzelnen Familienwirtschaften weitgehende Autarkie. Sie müssen in ihrer Produktion dementsprechend vielseitig sein. Schon im 16. Jahrhundert stellt der Jurist Guy de Coquille für das französische Nivernais fest, daß hier größere Familiengemeinschaften „gemäß der Beschaffenheit der Region notwendig sind, insofern als sich die Führung des ländlichen Haushaltes nicht nur auf die Feldarbeit erstreckt, sondern auch auf die Ernährung des Viehs, was eine Vielzahl von Personen erfordert" (Flandrin 1978, S. 103). Neben der agrarischen Tätigkeit sind in solchen Gegenden auch gewerbliche Verrichtungen für den Hausbedarf notwendig, so daß es naheliegt, mehrere erwachsene Arbeitskräfte in der Hausgemeinschaft zu behalten. Der Arbeitskräftebedarf steigt auch, wenn in einer Region mit geringer Arbeitsteilung ein zusätzlicher Erweib durch Bindung an die Landwirtschaft abgesichert werden muß. Es ist sicher kein Zufall, daß sich in voneinander so weit entfernten Ländern wie Schweden und Österreich komplexe Familienformen gerade in Gebieten finden, in denen Bergbautätigkeit mit bäuerlichen Stellen verbunden ist (Gaunt 1978, S. 251; Mitterauer 1976, S. 122). Eine ökonomische Bedingung, die das Zustandekommen komplexer Familienverbände sehr gefördert haben dürfte, ist die Weidewirtschaft. Für den Balkanraum werden wohl zu Recht immer wieder Zusammenhänge zwischen transhumanten Formen des Pastoralismus und der Verbreitung der Zadruga hergestellt, obwohl letztere über diesen Ökotyp hinausreicht (KriSkoviö 1925; Filipovid 1976, S. 273; Hammel 1980, S. 245). Ähnliches gilt für die Karpatenregion (Morvay 1965, S. 233). Am Beispiel der Sarakatschanen wurde die wirtschaftliche Notwendigkeit der Zusammen110
arbeit mehrerer erwachsener Männer in der Weidewirtschaft anschaulich dargestellt (Campbell 1964, S. 19 ff.). Um auf breiterer Ebene die Zusammenhänge zwischen Pastoralismus und Familienstruktur zu klären, müßte die Arbeitsorganisation der Weidewirtschaft in ihren vielfältigen regionalen Differenzierungen näher untersucht werden. Versuche, die Verbreitung komplexer Familienstrukturen allein vom Arbeitskräftebedarf her zu deuten, stoßen freilich auf beachtliche Schwierigkeiten. In der Literatur finden sich diesbezüglich sehr unterschiedliche Erklärungsmodelle. Einesteils begegnet die Argumentation, die „Großfamilie" wäre ein geeignetes Mittel gewesen, in Zeiten des Arbeitskräftemangels durch Entvölkerung das notwendige Personal an das Haus zu binden. Dies wird etwa für das spätmittelalterliche Languedoc vermutet (Wheaton 1975, S. 621, nach Le Roy Ladurie). Andemteils sollen komplexe Familienformen gerade eine Antwort auf Übervölkerung sein, also auf Situationen, in denen ein Arbeitskräfteüberschuß geherrscht haben muß (Faragö 1977). Beide Überlegungen sind wenig überzeugend Jeder Versuch, das „joint family"-System allein vom Arbeitskräftebedarf her zu erklären, muß sich der Frage stellen, warum man denn in Verbreitungsgebieten dieser Familienstruktur ausschließlich Verwandte zur Deckung des Bedarfs heranzog - in der Regel noch dazu patrilinear Verwandte. Die ökonomisch rationellste Lösung war das sicher nicht In Mittel- und Westeuropa hat man für den dauerhaften Bedarf Gesinde aufgenommen, für den kurzfristigen Taglöhner, die dann vielfach als Inwohner in der Hausgemeinschaft mitlebten. Beide Formen fehlen in den Verbreitungsgebieten der patrilinearen „joint family" - etwa in Rußland oder auf dem Balkan (Mitterauer/Kagan 1982). Nichtverwandte Personen werden hier nur ausnahmsweise in die Hausgemeinschaft aufgenommen, dann aber in einer rituell vollzogenen dauerhaften Bindung. Es liegen hier offenbar zwei grundsätzlich verschiedene Systeme vor, zwischen denen es Übeigangsformen gibt, wie etwa die im baltischen Raum festgestellten.9 Der Unterschied zwischen den beiden Systemen läßt sich von der Wirtschaftsweise her nicht befriedigend erklären. Er dürfte in außerökonomischen Faktoren seine Grundlagen haben. Gegen eine rein wirtschaftliche Erklärung des , joint family"-Systems spricht auch der Umstand, daß sich solche Familienstrukturen durchaus auch unter ökonomischen Rahmenbedingungen finden, von denen festgestellt werden konnte, daß sie der Beibehaltung
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dieses Systems abträglich sind Ein extremes Beispiel dafür ist wohl das Auftreten solcher Familienformen im Stadtadel der geldwirtschaftlich hochentwickelten Kommunen des spätmittelalterlichen Italien. Für den Adel werden insgesamt Bewirkungsfaktoren auf einer anderen Ebene als der der Arbeitsorganisation überlegt werden müssen. Erstaunlich erscheint, daß sich auf dem Balkan gelegentlich Zadrugas auch unter Handwerkern finden (Fllipovici 1976, S. 273). Dieser Strukturtyp dürfte in seinen traditionellen Verbreitungsgebieten eine relativ hohe Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Arbeitsmilieus gehabt haben. Ähnliches gilt für Rußland, wo komplexe Familienformen nicht nur auf dem Lande, sondern durchaus auch in der städtischen Bevölkerung und sogar unter der Fabriksarbeiterschaft begegnen - hier freilich in weitaus geringerer Häufigkeit als in den umliegenden ländlichen Gebieten (Mitterauer/Kagan 1982). Es scheint also eine gewisse Beharrungskraft solcher Familienstrukturen im Wechsel wirtschaftlicher Verhältnisse bestanden zu haben.
Rechtliche Bedingungen Zu den ökonomischen Faktoren in einem weiteren Sinn kann sicher das Erbrecht gezählt werden. Der Rekurs auf erbrechtliche Regelungen findet sich in der Literatur sehr häufig, wenn versucht wird, die Verbreitung komplexer Familienstrukturen in Europa zu erklären. Das allgemeinste Modell stammt diesbezüglich von Goldschmidt und Kunkel (1971). Auf der Basis des Vergleichs von sechsundvierzig bäuerlichen Gesellschaften stellten diese beiden Forscher Beziehungen zwischen Elbrechtsformen und Familienstrukturen her, wobei sie für Europa drei Großräume unterschieden. In Nordwesteuropa soll aufgrund des patrilinear ungeteilten Erbes die patrilokale Stammfamilie vorgeherrscht haben, in Ost- und Mitteleuropa infolge von Patrilinearität und Teilbarkeit die patrilokale „joint family" und im Mittelmeerraum durch bilaterales und teilbares Erbsystem die Kernfamilie. Mit dem Befund sozialhistorisch-demographischer Untersuchungen stimmt dieses Bild nicht überein - weder hinsichtlich der dominanten Erbrechtssysteme noch hinsichtlich der vorherrschenden Familienformen. So ist etwa durch die umfassenden Studien der „Cambridge Group" hinreichend klargestellt, daß in England bis ins 16. Jahrhundert zurück nicht die Stammfamilie, sondern die Kernfamilie den prägenden 112
Typ darstellte (Laslett/Wall 1972; Laslett 1977). Für Mitteleuropa konnten Gebiete mit .joint family"-System bisher mit ganz wenigen Ausnahmen nicht nachgewiesen werden, wohl aber für den Mittelmeerraum. Innerhalb der einzelnen europäischen Großräume erweisen sich bei näherer Analyse die Erbrechtssysteme viel stärker regional differenziert, wie etwa das Beispiel Frankreich deutlich zeigt (Yver 1966; Le Roy Ladurie 1972). Schichtspezifische Unterschiede werden im voigelegten Modell überhaupt nicht berücksichtigt Trotz aller dieser Problematik enthält es wichtige Ansätze, die beim Versuch, die Verbreitung von „joint families" und anderen komplexen Familienformen zu erklären, im Auge behalten werden müssen. Als die beiden entscheidenden erbrechtlichen Faktoren für das Zustandekommen patrilinearer „joint families" erscheint einerseits die gleiche Berechtigung aller Söhne am väterlichen Eibe, andererseits die ausschließliche Berechtigung der Söhne. Wird ein Kind im Erbgang bevorzugt - sei es unter Abfindung oder zu Lasten der übrigen-, so kann nur eine linear erstreckte komplexe Familienform zustande kommen, nicht aber eine lateral erweiterte. Das Anerbenrecht hat so entweder die Stammfamilie oder die Ausgedingefamilie zur Folge, wobei letzteres der häufigere Fall gewesen zu sein scheint. Sind alle Söhne gleichberechtigt, so kann eine „joint family" entstehen - freilich nur dann, wenn sie zu Lebzeiten des Vaters heiraten oder nach dessen Tod in Eibengemeinschaft zusammenbleiben. Die Dauer der Besitzgemeinschaft ist unter diesen Umständen ein entscheidender Faktor für die Häufigkeit des Auftretens dieser Familienkonstellation in einer bestimmten Gesellschaft Die hohe Mortalität erlaubte es in historischen Zeiten vielfach, durch sehr lange Zeit in ungeteilter Besitzgemeinschaft beisammenzubleiben, ohne daß dadurch die Familie zu einer unangemessenen Größe anwuchs. Ebenso wichtig wie die Gleichberechtigung der Söhne ist für die patrilineare „joint family" der Ausschluß der Tochter vom Eibe. Auch die Mitgift als vorweggenommenes Erbe fällt unter dieses Prinzip. Sie fehlt etwa im Verbreitungsgebiet der Zadruga. Wo sie hier in jüngerer Zeit auftritt, ist sie eine Neuerung nach westlichem VoibildL Im Gegensatz dazu erscheint für die traditionellen Gebiete des Balkans der Brautkauf charakteristisch, der von der Familie des Mannes an die der Frau als Entgelt für die verlorene Arbeitskraft geleistet wird (Halpern 1972, S. 192; Erlich 1966, S. 194 ff.). Die Mitgift hat für das „joint family"-System zerstörerische Wirkung (Hammel 1980, S. 294). Sie schafft ja innerhalb der größeren 113
Besitzgemeinschaft ein Sondereigentum, das die Geichheit der Teilgruppen gefährdet Dies gilt für jede Form von Besitzrechten, die von Frauenseite stammen - gleichgültig ob sie durch Erbe oder durch Eigenerwerb zustande gekommen sind Fraueneigentum, das über die Güter des persönlichen Bedarfs hinausgeht, erscheint so generell mit den Strukturprinzipien von patrilinearen .joint families" nicht vereinbar. Mit der besitzrechtlichen Stellung der Frau hängt ein anderer für die Familienstruktur wichtiger Punkt zusammen, auf den Berkner (1972b, S. 150f.) aufmerksam gemacht hat, nämlich die Form des ehelichen Güterrechts. Soweit die Frau besitzfähig ist, kann in der Ehe Vermögensgemeinschaft oder Vermögenstrennung zwischen den Partnern bestehen, wobei letzteres Prinzip stark dem Geschlechtsdenken verhaftet ist Berkner meint, daß bei Gütergemeinschaft der Ehegatten eher linear erstreckte komplexe Familienformen zustande kommen könnten. Wie dem auch immer sei wichtiger erscheint eine andere Auswirkung dieses besitzrechtlichen Prinzips auf die Familienkonstellation. Hat die Frau volle Rechte am gemeinsamen Gut, so kann sie es nach dem Tod des Gatten durch Wiederverehelichung dem zweiten Gatten zubringen. Die Wiederverehelichung von Witwen war in Mittel- und Westeuropa bis ins 19. Jahrhundert herauf infolge der hohen Sterblichkeit eine sehr häufige Erscheinung. Die Entstehung von komplexen Familienformen wurde durch diese Art der Besitzweiteigabe stark behindert, weil sie ja immer wieder zu einer Rekonstitution der Kernfamilie führte. Im Verbreitungsgebiet der patrilinearen „joint family" fehlt das skizzierte, für Mittel- und Westeuropa in vorindustrieller Zeit so charakteristische Phänomen. Es gab zwar auch Zweitheiraten von Witwen, diese mußten dann aber die Hausgemeinschaft verlassen. Daß die verwitwete Frau einen nichtverwandten Mann durch Zweitheirat ins Haus bringen durfte, scheint eine Ausnahmeerscheinung in Übetgangszonen gewesen zu sein (Morvay 1963, S. 240). Mit dem Prinzip der Patrilinearität war dies nicht vereinbar. Der Grundsatz der Patrilinearität erscheint so auch bei der Betrachtung der Bedeutsamkeit erbrechtlicher Faktoren als eine entscheidende Variable. Er wurde sicher im Kontext des Erbrechts weitertradiert und trug damit zur Aufrechterhaltung der „joint family"-Struktur wesentlich bei. So hat etwa die lange Geltung solcher Normen im Raum der österreichisch-ungarischen Militärgrenze das Fortleben der traditionellen Zadruga sehr begünstigt (Mosely 1976 a, S. 25). Die Entstehung derartiger Familienstruktu114
ren läßt sich aus einer auf das Erbrecht beschränkten Analyse freilich nicht erschließen.
Grundherrschaftliche Bedingungen Bei der Diskussion der Rolle eibrechtlicher Faktoren für historische Familienstrukturen wird vielfach unausgesprochen vorausgesetzt, daß die bäuerliche Bevölkerung freies Besitzrecht an ihren Gütern gehabt hätte, so daß sie diese von sich aus in der Familie weitergeben konnte. E n e solche Sichtweise übersieht den enormen Enfluß obrigkeitlicher Maßnahmen auf die Besitzfolge, insbesondere solcher der Grundherrschaften. Für den gesamten Zeitraum vor der Auflösung der feudalen Agrarverfassung muß die Rolle der Grundherrschaft für die Struktur der bäuerlichen Familie als ein zentraler Faktor angesetzt werden. Dies gilt insbesondere für die Form der Besitzweitergabe - durchaus aber auch für andere Belange, die das familiale Zusammenleben der bäuerlichen Bevölkerung beeinflußten. Ganz offenkundig ist der Enfluß der Grundherrschaft auf die Frage, ob das bäuerliche Gut geteilt werden durfte oder nicht Teilung bedeutete eine Vermehrung der abgabepflichtigen Hausgemeinschaften, zugleich aber auch eine Verminderung von deren Wirtschaftskraft, wodurch die Abgabenleistung gefährdet werden konnte. Es lagen also durchaus widersprüchliche Interessen der Grundherrschaft vor, von denen einmal das eine, einmal das andere überwiegen konnte. Die Wurzeln des Anerbenrechts sind jedenfalls in diesem Zusammenhang zu suchen und damit zugleich die Entstehungsbedingungen linear erstreckter komplexer Familien. Ob diese die Form der Stammfamilie oder der Ausgedingefamilie annahmen, erscheint ebenso grundherrschaftlich bedingt gewesen zu sein. Das Ausgedinge ist ja höchstwahrscheinlich seinem Ursprung nach eine Enrichtung der Grundherrschaft, die - unter Durchbrechung des Senioratsprinzips - sicherstellen sollte, daß der Bauernhof von einem Mann geführt wird, der im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte steht Auch bei Formen der,joint family" lassen sich grundherrschaftliche Enflüsse erkennen. In zentralen Provinzen des französischen Königreichs hatte sich die Leibeigenschaft die anderwärts schon im Hochmittelalter abgelöst wurde, bis weit in die Neuzeit erhalten. E n e Folge dieses Status war das vom Grundherren ausgeübte 115
„Recht der toten Hand". Der Besitz von Leibeigenen, die zum Zeitpunkt ihres Todes nicht in Gemeinschaft mit ihren Erben lebten, konnte hier eingezogen werden. Das gemeinsame Leben in komplexen Haushaltsformen wurde von den Bauern als Abwehrmaßnahme gegen solche Ansprüche genützt (Flandrin 1978, S. 97 ff.). Auch grundherrliche Maßnahmen, die in ihren Wurzeln nicht so weit zurückgehen, dürften die Verbreitung komplexer Familien in Mittelfranläeich beeinflußt haben. Im 17. Jahrhundert zogen viele Adelige bäuerliche Güter ein, die sie dann zu größeren Komplexen zusammenschlossen und .verpachteten. Die Bewirtschaftung solcher Güter erforderte viele Arbeitskräfte; die hohe Belastung durch die Pachtverträge legte die Heranziehung von Verwandten nahe, die billiger kamen als aufgenommenes Gesinde (Goubert 1977, S. 191; Berkner/Shaffer 1978, S. 151 ff.). Pachtsysteme dürften übrigens auch in der Lombardei zur Entstehung komplexer Familienformen geführt haben (Deila Peruta 1973, S.44ff.; Greenfield 1940, S. 26ff.; Jacini 3 1857, S. 212ff.). Die hier für Mittelfrankreich skizzierten Zusammenhänge zwischen grundherrschaftlichem Einfluß und komplexen Familienformen sind relativ speziell und sicher nicht über den regionalen Geltungsbereich hinaus verallgemeinerbar. Wahrscheinlich wird in diesen Belangen eine räumlich und zeitlich stark differenzierte Voigangsweise notwendig sein, um zu haltbaren Erklärungsmodellen zu kommen. Dabei ist nicht nur die Typenvielfalt der Familienformen, sondern auch die der Grundherrschaften zu berücksichtigen. Ein Blick auf die Widersprüchlichkeit der Aussagen über generelle Auswirkungen der Grundherrschaft in der Literatur legt jedenfalls das Postulat nach einer stärkeren Differenzierung nahe. So wird etwa für die Zadruga einerseits behauptet, daß sie von den feudalen Grundherren begünstigt worden wäre, weil sie eine sicherere Einkunftsquelle gebildet habe als die Kleinfamilie, weiters weil sie leichter zu kontrollieren gewesen sei und schließlich weil sie der Deckung des Arbeitskräftebedarfs besser entsprochen hätte (Vucinich 1976, S. 163); die Grundherren hätten daher Teilungen verboten (FilipoviC 1976, S. 270). Andererseits wird festgestellt, daß die Grundherren, die , joint families" aufzubrechen versucht hätten, so daß diese in den schwächer von Feudalstrukturen geprägten Gebieten besser erhalten geblieben seien (Hammel 1980, S. 248). Tatsächlich begegnen „joint families" in Regionen als dominante Familienform, die ihrer Herrschaftsstruktur nach ganz unterschiedlich sind. Den nicht grundherrschaftlich erfaßten Stammesgebieten in Montenegro etwa steht auf der anderen Seite 116
Rußland mit seinen drückenden Formen der Leibeigenschaft gegenüber. Die Situation in Rußland erscheint besonders schwer zu erklären. Engriffe der Grundherren in das bäuerliche Familienleben hat es hier sicher in starkem Maß gegeben. Trotzdem blieb die patrilineare Großfamilie ungestört erhalten (Czap 1981; Mitterauer/ Kagan 1982). Zu bedenken wird hier sein, daß die extreme Form der bäuerlichen Abhängigkeit ziemlich spät aufkam, ebenso daß innerhalb der Umverteilungsgemeinde des M r eine Schutzzone gegeben war, innerhalb derer relativ autonome Gestaltungsmöglichkeiten bestanden. Wichtig für die Erhaltung umfassender Familienverbände scheint auch die extensive Form der Landwirtschaft gewesen zu sein. In Mitteleuropa bestanden schon seit dem Mittelalter weitaus intensivere Bewirtschaftungsformen, die innerhalb einer stark gebundenen Agrarverfassung nur für einen begrenzten Personenkreis ausreichende Nahrungsbasis boten. Im Zuge der Ostkolonisation wurden die Elemente dieser Agrarverfassung wie Dreifelderwirtschaft, Gewannflur, planmäßige Dorfsiedlung mit entsprechend gebundenen Hausformen auch in Osteuropa verbreitet. Es ist wohl kein Zufall, daß das „joint family"-System im gesamten von der deutschen Ostkolonisation erfaßten Raum nicht auftritt. Andererseits fällt die Verbreitung des sogenannten „European marriage pattern" nach Osten in etwa mit diesem Gebiet zusammen. Von den diesbezüglichen Zusammenhängen zwischen Heiratsalter und Familienform wurde ja bereits gesprochen.
Militärische Bedingungen Von herrschaftlichen Bedingungen komplexer Familienstrukturen, die über die Grundherrschaft hinausgehen, sind vor allem militärische Verpflichtungen zu nennen. Für die Verbreitung von „joint families" im Adel dürften sie eine sehr wesentliche Rolle gespielt haben. Überall, wo die Stellung von Kriegspflichtigen an die Hausbzw. Besitzgemeinschaft gebunden war, erschien es sinnvoll, in ungeteilter Brüdeigemeinde zusammenzuleben. Im polnischen, litauischen, ruthenischen und ungarischen Kleinadel dürfte dieses Moment eine bedeutende Rolle gespielt haben (Bardach 1977, S. 345). Aus dem bäuerlichen Bereich ist in diesem Zusammenhang das Beispiel der österreichisch-ungarischen Militäigrenze zu nennen. Große Haushalte mit mehreren erwachsenen Männern waren 117
besser geeignet, gleichzeitig Verteidigungsaufgaben zu übernehmen und den Boden zu bebauen. Das System der sogenannten „Hauskommunionen" wurde daher hier von staatlicher Seite gefördert ein Faktor, der für die lange Erhaltung der Zadruga in diesem Raum sehr wichtig war (Erlich 1966, S. 35; Filipovid 1976, S. 276). Überhaupt könnten Schutzaufgaben für die Zadruga eine bedeutende Rolle gespielt haben (Halpern/Halpern 1972, S. 17). Die schwache Organisation der staatlichen Ordnung im Balkanraum machte eine hohe Bereitschaft zur Selbstverteidigung notwendig. Symptomatisch für die Situation in diesem Raum ist der Umstand, daß sich die Blutrache in manchen Gegenden bis in neueste Zeit erhalten hat (Vinski 1938, S. 31). Die Zahl der erwachsenen Männer war für die Wehrhaftigkeit der Hausgemeinschaften wichtig. Die große Bedeutung der Waffenfähigkeit könnte auch erklären, warum das Männlichkeitsdenken in der Tradition dieses Raums einen so hohen Stellenwert einnimmt. Die ausgeprägt männerrechtliche Ordnung der Gesellschaft schlägt die Brücke zum Prinzip der Patrilinearität, das die Familienstrukturen hier besonders nachhaltig geprägt hat
Bedingungen im Verwandtschaftssystem Dem patrilinearen Verwandtschaftssystem als strukturierenden Prinzip der „joint family" sind wir in verschiedenen Gebieten ihrer Verbreitung begegnet. Es bedeutet Aufbau des Familienverbandes um agnatisch verwandte Männer, um Vater und Söhne, um in Eibengemeinschaft zusammenlebende Brüder, um Onkel und Neffen, wenn es lange Zeit zu keiner Teilung kommt auch um Cousins erster oder zweiter Linie. Eine Aufnahme von nichtverwandten Männern bedarf im allgemeinen der Herstellung von künstlicher Verwandtschaft, sei es durch Blutsbruderschaft (Filipoviö 1976, S. 271) oder durch Adoption. Adoption spielte in den meisten europäischen Gesellschaften in vorindustrieller Zeit eine relativ geringe Rolle (Wheaton 1975, S. 616). Kinderlose Ehepaare nahmen in formloser Weise Ziehkinder ins Haus. In derselben Form wurden auch Waisenkinder versorgt. Rituell durchgeführte Adoption zur Herstellung künstlicher Verwandtschaft hat nur dort als Mittel der Familienergänzung eine besondere Bedeutung, wo Familie rein blutsverwandtschaftlich gedacht wird, wie das in patrilinearen Gesellschaften der Fall ist Sie erscheint als ein besonders charakteristisches Merkmal der ,joint family"-Gebiete. Adoption 118
ist hier selbst bei einem einheiratenden Schwiegersohn notwendig, der ins Haus genommen wird, wenn eigene Söhne fehlen (Hammel 1980, S. 249). Über Frauen vermittelte Verwandtschaft bewirkt ja von sich aus noch keine Integration in die Hausgemeinschaft Dieser Umstand macht in Verbreitungsgebieten der patrilinearen „joint family" die Situation von Witwen besonders prekär. Während anderwärts der zweite Mann der Witwe ohne weiteres in die Hausgemeinschaft eintritt, ist das hier nicht möglich. Einen Ausweg bildet die Leviratsehe mit einem der Hausgemeinschaft bereits angehörenden Agnaten des verstorbenen Mannes. Diese Einrichtung korrespondiert häufig mit dem „joint family"-System (Erlich 1976, S. 247; Morvay 1963, S. 234; Szeman 1981; Gunda 1982). Eine Wiederverehelichung der Witwe außerhalb der Hausgemeinschaft ist unproblematisch, wenn keine Kinder vorhanden sind Ist dies jedoch der Fall, so verbleiben sie entweder gleich in der väterlichen Familie, oder sie kehren hierher zurück, sobald sie das arbeitsfähige Alter erreicht haben (Morvay 1963, S. 234). Die Harte, die in einer solchen Trennung von der Mutter liegt, ist eine logische Konsequenz patrilinearen Denkens. Über kulturelle Zusammenhänge, in denen patrilineare Verwandtschaftssysteme gesehen werden können, bietet die Ethnologie für außereuropäische Verhältnisse reiches Veigleichsmaterial (Wheaton 1975, S. 601 ff., 623 ff.). In Europa ist dieser Kontext schwer greifbar. Insgesamt erscheinen ja hier unilaterale Verwandtschaftssysteme schwach ausgebildet Wo sie in historischen Zeiten existiert haben, dort ist ihre Erfassung meist quellenmäßig schwierig. Ethnographische Erhebungen liegen diesbezüglich einzig für den Balkanraum in größerer Zahl vor. Ihnen können Ansatzpunkte für allgemeinere Erklärungsmodelle entnommen werden. In vielen Gebieten Südosteuropas korrespondieren patrilineare Familienstrukturen mit einem sehr ausgeprägten Ahnenbewußtsein im Mannesstamm, zu dem es in anderen ländlichen Regionen Europas kaum ein Gegenstück gibt Von albanischen Hirten wird berichtet, daß sie bis zu zwanzig Generationen zurück ihre väterlichen Vorfahren angeben konnten (Hasluck 1954, S. 33). Weit zurückreichende genealogische Kenntnisse begegnen insgesamt im Balkanraum häufig (Mosely 1976 a, S. 21). Vielfach erscheinen als Bezugspersonen jene Ahnen, die sich in der Zeit der Kolonisation am betreffenden Siedlungsplatz niedeigelassen haben (Halpern/Halpern 1972, S. 150 ff.; Vucinich 1976, S. 166). In den patronymisch gebildeten Familiennamen findet dieses Abstammungsbewußtsein seinen Niederschlag (Vinski 1938, S. 19). 119
Das Ahnenbewußtsein im Verbreitungsgebiet der Zadruga äußert sich häufig in religiösen Ausdrucksformen. Man kann diese ohne weiteres als Ahnenkult bezeichnen. In christlicher Einkleidung leben hier offenbar vorchristliche bzw. außerchristliche Elemente weiter. Mittelpunkt dieses häuslichen Ahnenkults ist das sogenannte Slava-Fest (Schneeweiß 1935, S. 104ff., 213ff., 234ff.; Vinski 1938, S. 26 ff.; Halpern/Halpern 1972). Jede Familie verehrt einen Heiligen in ganz besonderer Weise als ihren Schutzpatron und Fürsprecher. Sein Festtag wird in feierlicher Form begangen. Der Bezug zu den Ahnen kommt im Entzünden der Slava-Kerze zum Ausdruck, die deren Gedächtnis geweiht ist, ebenso im Verlesen der „ditula", dem Verzeichnis der verstorbenen Vorfahren im Mannesstamm. Auch sonst zeigen sich viele Zusammenhänge zum patrilinearen Ahnenbewußtsein: Der Kult der Hausheiligen vererbt sich in männlicher Linie; Adoptivsöhne übernehmen ihn von ihrem Adoptivvater; Verehrer derselben Hausheiligen fühlen sich untereinander verwandt; dies kann soweit gehen, daß ihnen in Hinblick auf das Exogamiegebot kein Konnubium erlaubt ist; in Gebieten mit Stammesverfassung hat ein ganzer „bratstvo" einen gemeinsamen Patron. Es handelt sich hier um einen Klanverband, der sich untereinander verwandt glaubt und für den auch Exogamiegebot besteht Alle diese Zusammenhänge weisen darauf hin, daß der christliche Hauspatron an die Stelle eines kultisch verehrten Ahnherren getreten ist Wie Hinweise aus dem Brauchtum zeigen, hat sich aber auch der Glaube an eine unmittelbare Präsenz und Wirkkraft der Ahnengeister erhalten. Die Vorstellungswelt des patrilinearen Ahnenkults kommt besonders im Fortpflanzungsdenken zum Ausdruck. Der Wunsch nach männlichen Nachkommen ist sehr ausgeprägt Nur Söhne können ja das Totenopfer darbringen und den Kult des Hauspatrons fortsetzen (Schneeweiß 1935, S. 15). Sind keine männlichen Nachkommen da, so erlischt die Slava-Kerze - es sei denn der Mannesstamm wird durch Adoption in fiktiver Weise fortgesetzt Die hohe Bedeutung von Knabengeburten für die Kontinuität der Stammlinie bewirkt eine Diskriminierung von Frauen, die unfruchtbar sind oder nur Mädchen zur Welt bringen. Beides konnte als Grund für eine Trennung der Ehe gelten (Schneeweiß 1935, S. 237). Das ausgeprägte Fruchtbarkeitsdenken im Interesse der Sicherung des Mannesstamms hatte notwendig ein niedriges Heiratsalter zur Folge. In Hinblick auf die hohe Kindersterblichkeit war eine frühe Eheschließung die beste Garantie für die Weiterführung der Stammlinie. Dadurch mußte es im Ablauf des Familienzyklus in der Regel
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zum Zusammenleben von zumindest zwei Ehepaaren in einer linear erstreckten komplexen Familie kommen. Um die Kontinuität der Hausgemeinschaft sicherzustellen, war es jedoch ratsam, daß sich mehrere Söhne bereits zu Lebzeiten des Vaters verehelichten. Auch unter den Erwachsenen stellte ja die hohe Mortalität eine Gefahr für den Weiterbestand der Familie dar. Das große Interesse an der Erhaltung des Mannesstammes bietet so eine Erklärung dafür, daß niedriges Heiratsalter und komplexe Familienstruktur - sowohl in linearer wie auch in lateraler Erstreckung - zu einem gesellschaftlichen Leitbild wurden. Patrilineares Ahnenbewußtsein, das sich bis zum Ahnenkult steigert, gehört sicher zu einem umfassenderen Komplex männerrechtlicher Wertordnungen. Gerade im Balkanraum sind diese besonders stark ausgeprägt (Denich 1974). Es spricht manches dafür, daß sie mit den extremen Lebensbedingungen und den besonderen Schwierigkeiten der Natuibewältigung, die hier gegeben sind, in Zusammenhang stehen. Insbesondere wird dabei an die Verhältnisse der Hirtengesellschaft in dieser Region zu denken sein. Jedenfalls liegen hier Rahmenbedingungen vor, die eine unmittelbare Übertragung der vermuteten Erklärungszusammenhänge auf andere Gebiete, in denen patrilineare Großfamilien vorkommen, nicht ohne weiteres zulassen. Am ehesten wird man Parallelen mit dem Karpatenraum ziehen dürfen, wo analoge Familienstrukturen einerseits mit ausgeprägtem patrilinearem Geschlechtsbewußtsein und Fruchtbarkeitsdenken (Moivay 1963, S. 234; 1968, S. 317 ff.), andererseits mit ähnlichen Umweltbedingungen in Verbindung stehen. Problematisch sind Ansätze, die aufgrund verstreuter Einzelzeugnisse eine generelle Verbreitung des Ahnenkults bei den slawischen Völkern annehmen (Vmski 1938, S. 54; Peisker 1905). Obwohl es sicher sinnvoll ist, solchen Nachrichten mit entsprechender zeitlicher und räumlicher Differenzierung in ihrer Bedeutung für Familienstrukturen nachzugehen, erscheint jede Verallgemeinerung auf ethnischer Basis gefährlich. Daß in diesem Interpretations rahmen die Verbreitung bestimmter Familienformen nicht befriedigend erklärt werden kann, wurde ja schon mit Nachdruck betont Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit der Erklärung von „joint familiy"-Strukturen aus patrilinearem Ahnenbewußtsein und Verwandtschaftssystem seien an einem negativen und einem positiven Beispiel exemplarisch erläutert. Für den Balkanraum wurde auf die strengen Exogamieregeln im Veibreitungsgebiet der Zadruga verwiesen. Sie stehen sicher mit dem Verwandtschaftsdenken in Zusammenhang. Eine Heirat zwischen Angehörigen der 121
gleichen Hausgemeinschaft wäre hier undenkbar gewesen. Extreme Gegenbeispiele finden sich in Frankreich. In den „communauttis familiales" des mittelfranzösischen Raums waren Wechselheiraten innerhalb der Hausgemeinschaft im Interesse der Besitzerhaltung durchaus üblich. Es wird von einem Fall berichtet, in dem zum gleichen Zeitpunkt fünf solcher Ehen geschlossen wurden (Dussourd 1978, S. 40). Ein stärkerer Kontrast ist kaum denkbar. Freilich ist darauf hinzuweisen, daß die „joint families" in Frankreich im fraglichen Zeitraum nicht mehr zum patrilinearen Strukturtyp gehört haben dürften. Daß über räumliche, zeitliche und schichtspezifische Grenzen hinweg ein Vergleich der Entstehungsbedingungen von „joint families" sinnvoll sein kann, zeigt ein Beispiel aus dem oberitalienischen Stadtadel des Spätmittelalters. Für Genua konnte gezeigt werden, daß damals hier die Aristokraten nach ihren väterlichen Vorfahren benannt wurden, die Handwerker hingegen innerhalb eines bilateralen Verwandtschaftssystems bzw. nach ihrem Gewerbe; für die Adeligen waren die Beziehungen zwischen den Agnaten die stärksten, für die Handwerker die Gattenbeziehungen; die Aristokraten lebten in „joint families", die Handwerker in Kernfamilien; die Aristokraten heirateten früh, die Handwerker spät; die aristokratischen Frauen hatten wenig Eigentum und mußten nach dem Tod des Gatten zumeist Witwen bleiben, die Handwerkerfrauen hatten starke Eigentumsrechte und gingen als Witwen häufig eine zweite Ehe ein; die Aristokraten wurden in ihren herrschaftlichen Eigenkirchen begraben, die einen wichtigen Bezugspunkt ihres Geschlechtsbewußtseins darstellten, die Handwerker hingegen in ihrer jeweiligen Pfarrkirche (Hughes 1975). Der Zusammenhang von patrilinearem Verwandtschaftssystem, religiös fundiertem Ahnenbewußtsein und Familienstrukturen des ,joint family"-Systems ist hier ganz offenkundig. Er fällt umso mehr auf, als er Charakteristikum einer schmalen Oberschicht innerhalb einer in völlig anderen Verhältnissen lebenden sozialen Umwelt ist Das Beispiel legt es nahe, für die Verbreitung komplexer Familienformen im Adel analoge Erklärungsmodelle heranzuziehen.
Forschungsperspektiven Der Überblick über mögliche gesellschaftliche Rahmenbedingungen von komplexen Familienformen - insbesondere des „joint 122
family"-Systems - hat gezeigt, daß beim derzeitigen Forschungsstand noch kein umfassendes Erklärungsmodell geboten werden kann. Das Spektrum berücksichtigungswerter Faktoren ist sehr breit und könnte wohl noch erweitert werden. Jeder der behandelten Faktorenkomplexe bietet partielle Einsichtea Keiner reicht für sich allein genommen zur Interpretation aus. Offen bleiben Fragen der Wechselwirkung und der Prioritäten - ein weites Feld für zukünftige Forschungsarbeiten, die sowohl hinsichtlich des sozialen Kontexte regionaler Familienstrukturen als auch im überregionalen Vergleich fortgeführt werden müßten. Für Sozialgeschichte und Ethnographie ergeben sich hier Möglichkeiten der Ergänzung und Zusammenarbeit Mehr noch als die strukturellen Rahmenbedingungen komplexer Familienformen sind deren innerfamiliale Auswirkungen ein Forschungsgegenstand, der intensiver Behandlung bedürfte. Noch stärker bewegt sich hier die sozialhistorische Literatur auf dem Boden schwach abgesicherter Spekulation. Die vorgelegten theoretischen Ansätze zeigen allerdings, daß es sich dabei um Themen von weittragender Bedeutung handelt Wenn Alan Macfarlane (1978) die Frage nach dem Ursprung individualistischen Denkens stellt und dabei der vorherrschenden Familienform eine maßgebliche Rolle beimißt, so wird die mentalitätsgeschichtliche Bedeutung familienhistorischer Forschung an diesem Beispiel klar. Problematisch erscheint es dabei freilich in Hinblick auf die hier angestellten Überlegungen, gerade die Bauemfamilie Osteuropas als Prototyp der Familie in klassischen europäischen Bauemgesellschaften herauszustellen. Ein anderer Zusammenhang von weittragender Bedeutung ist angesprochen, wenn Andrd Buigui£re (1972) die Frage stellt, inwieweit späte Heirat und Entstehung kapitalistischer Unternehmelgesinnung in der europäischen Geschichte miteinander zu tun haben. Die Korrespondenz zwischen niedrigem Heiratsalter und komplexen Familiensystemen hat uns ja hier mehrfach beschäftigt Bevor derart weitreichende mentalitätsgeschichtliche Hypothesen aufgestellt werden, schiene es freilich angebracht, die Auswirkungen unterschiedlicher Familienformen auf die innerfamiliale Rollenprägung zu analysieren. So ist die Annahme sicher berechtigt, daß die Stellung eines Jugendlichen im ,joint family"-System Qstund Südosteuropas mit seinem niedrigen Heiratsalter eine ganz andere war als in Mittel- und Westeuropa. Man könnte sogar die Frage stellen, ob es überhaupt erlaubt ist, hier wie dort in gleicher Weise von Jugend als spezieller Lebensphase zu sprechen. Unser Jugendbegriff ist ja sehr stark von der Eigenart der Sozialentwick123
lung in Mittel- und Westeuropa bestimmt In Hinblick auf die lange Ledigenphase ergeben sich hier für die innerhäusliche Stellung Besonderheiten; man denke etwa bloß an die verschiedenen Formen des Gesindedienstes mit seiner hohen regionalen Mobilität Für die unterschiedliche Stellung des Kindes in verschiedenen Familiensystemen der europäischen Großräume hat die sozialgeschichtliche Forschung bisher erst wenig Ansätze geboten, die über demographische Aspekte hinausgehend weiterentwickelt werden müßten (Laslett 1977). Von zentraler Bedeutung wäre es schließlich, die unterschiedliche Position der Frau in einfachen und in komplexen Familienformen vergleichend zu untersuchen. Das neu erwachende Interesse an Frauengeschichte eröffnet hier besondere Perspektiven. Auch in diesem Bereich wird die Sozialgeschichte auf eine enge Kooperation mit Volkskunde, Ethnographie und Sozialanthropologie angewiesen sein.
Anmerkungen 1
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WEBER-KELLERMANN schreibt noch 1978, S. 69: „Die vorindustrielle Bauemfamilie zeigte eine mehrgenerative Familienstruktur mit mindestens zwei, aber auch drei bis vier Generationen, die auf einem Hof gemeinsam wirktea" S. 78 reproduziert sie die schcmatische Darstellung der „großen Haushaltsfamilie" als charakteristische vorindustrielle Familicnform (nach WHJER-KELLERMANN 1974, S. 15), in der genau jene Struktur wiedcigegeben ist, die Le Play als „famille souche" beschreibt, nämlich ein bäuerliches Gattenpaar mit einem verheirateten Sohn und mehreren lcdigen Kindern sowie den Kindern des Sohnes. Zusätzlich sind noch männliche und weibliche Gcsindcpcrsonen eingezeichnet Als \foriage dieser Darstellung der „großen Haushaltsfamilie" wird Wilhelm Heinrich Riehls Beschreibung von 1855 angegeben (S. 66). Fragen des Zusammenhangs von Familie und Arbeitsorganisation stehen in zwei vom Verfasser geleiteten Forschungsprojekten im Mittelpunkt, deren Unteisuchungsergebnisse die vorgelegte Überblicksdarstellung stark beeinflußt haben. Es handelt sich um das von der Stiftung Volkswagenwerk geförderte Projekt „Strukturwandel der Familie im europäischen Vergleich" sowie das Projekt „Wandel der Familienstruktur in Österreich seit dem 17. Jahrhundert", das von Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich getragen wird. Beide Projekte sind Teile eines Forschungsschwerpunkts der österreichischen Rektorenkonferenz zum Thema „Familie im sozialen Wandel". Erste Auswertungen des österreichischen Qucllenmatcriais finden sich in: MITTERAUER 1973,1975 a, 1976, 1979b; MTTTCRAUER/SIEDER 1979; SIEOER 1978; internationale Vergleiche auf Literaturbasis bei MITTERAUER/SIEDER 1977 und MITTERAUER 1979a. E n e Vergleichssludie auf der Grundlage osteuropäischen Quellenmaterials bietet MTITERAUER/KAGAN 1 9 8 2 .
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Die Bezeichnung ist - obwohl heute in der Bevölkerung allgemein stark verwendet - keineswegs ein historisch weit zurückreichender Begriff. Sie wurde vielmehr durch die Wisscnschafls- und Verwaltungssprache des 19. Jahrhunderts verbreitet.
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Korrespondicrcmle Eigenbezeichnungen sprechen bloß von „Haus" oder „großes Haus" (KRISKOVIC 1925, S. 8; HAMMEL 1980, S. 2 4 4 ) . 4
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Dies gilt etwa für das in der historischen Familienforschung am häufigsten verwendete Schema von Peter LASLETT (1972, S. 31). Die revidierte Fassung dieser Systematik von HAMMEL und LASLETT (1974, S. 95), die auch Gesinde und nichtverwandte Mitbewohner berücksichtigt, wird hingegen kaum herangezogen. Auch die von WHEATON (1975) in Anschluß an ethnologische Klassifikationssysteme benützte Typologie geht ausschließlich von Verwandtschaftsbeziehungen aus. Als Beispiel sei hier auf die Sarakatschanen in Nordgriechenland verwiesen, die mit ihrem bilateralen Verwandtschaftssystem und ihrer joint family"-Verfassung mit modifiziertem Senioratsprinzip (vgl. oben) als eine in ihrer Familienstruktur gesonderte Gruppe angesehen werden können (CAMPBELL 1964). Die Dominanz des Hirtennomadismus bedingt bei ihnen relativ homogene soziookonomische Verhältnisse. Wenn in manchen Gebieten Mittelfrankreichs „affrairements" in stärkerem Maße von ärmeren Pächterfamilien eingegangen wurden, so scheint dies eine Ausnahme gewesen zu sein (FLANDRIN 1978, S. 107). Unzulässige Verallgemeinerungen, die die in Oberschichten vorgefundenen Familienverhältnisse auf die Gesamtheit historischer Gesellschaften übertragen, finden sich vor allem in der älteren Literatur. Sie begegnen freilich mitunter auch noch in neueren Publikationen. Vgl. dazu etwa den undifferenzierten ÜbeiWick über mittelalterliche Familienstrukturen, der von Robert Fossier auf dem Welthistorikerkongreß 1980 in Bukarest gegeben wurde (FOSSIER 1980, S. 115 ff.). Die hier untersuchte Liste von Chilandar nimmt freilich unter den aus dem Mittelalter überlieferten Pcrsonenstandslisten Südosteuropas eine Ausnahmestellung ein (vgl. HAMMEL 1972). Neben den von Hammel diskutierten Faktoren wird noch zu bedenken sein, daß es sich bei den erfaßten Orten um ein Weinbaugebiet handelt In Weinbaugegenden aber sind allgemein Geldwirtschaft, Lohnarbeit und Eibteilungcn veibreitet - alles Faktoren, die der Ausbildung umfassender Familienverbände eher entgegenwirkea Zu den Übergangsformen sind vor allem die ,joint families" mit Gesindehaltung zu zählea So gab es in den Hauskommunionen der kroatischen Militärgrenze Dienstboten, die nicht an den Rechten der Hausgenossen teilhatten (KRAJASICH 1974, S. 145).
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Ländliche Familienformen in ihrer Abhängigkeit von natürlicher Umwelt und lokaler Ökonomie' Als Untersuchungsraum für eine Studie, die sich mit der Abhängigkeit ländlicher Familienformen von ihrer natürlichen Umwelt beschäftigt, erscheint das Gebiet des heutigen Österreich besonders geeignet Bodenbeschaffenheit und Klima sind hier sehr kontrastreich - und dementsprechend auch die Wirtschaftszonen, die sich hier entwickelt haben. Der überwiegende Teil des Gebiets ist gebirgig. Im Qstalpenraum finden sich ganz unterschiedliche Varianten beigbäuerlicher Wirtschaftsformen. Mit der Almwirtschaft in ihren verschiedenen Ausformungen werden extreme Höhenregionen erschlossen. Auch die Waldwirtschaft spielt im alpinen Raum eine wichtige Rolle. Einen sehr spezifischen Charakter haben hier die einzelnen Montanlandschaften. Nach der Eigenart von Abbau- und Verhüttungsmethoden lassen sich die drei Haupttypen von Edelmetall-, Eisen- und Salzbergbauregionen unterscheiden. Einen völlig anderen wirtschaftlichen Charakter als der Alpenraum haben die hochgelegenen Regionen des Wald- und Mühlviertels im Norden der Donau Hier erscheint durch Bodenbeschaffenheit und Klima u. a. der Rachsbau besonders begünstigt Während bei den Beigbauern des Alpenraums im wesentlichen die Viehzucht im Vordergrund steht, ermöglichen die natürlichen Voraussetzungen im Voralpengebiet wie auch in Osten des Landes eine deutliche Dominanz des Getreidebaus. In manchen Teilen des Donautals, im * Vortrag, gehalten auf der „Conference on the European Peasant Family and Economy", Oktober 1988 in Minneapolis. Das Referat faßt die Grundgedanken des Beitrags „Formen ländlicher Familienwirtschaft. Historische Ökotypen und familiale Arbeitsorganisation im österreichischen Raum" aus: Josef EHMER und Michael MRNHHAUER, Familie und Arbeitsorganisation in ländlichen Gesellschaften, Wien 1986, S. 185 - 3 2 4 zusammen. Bezüglich näherer Literatur- und Quellenbelege sei auf diesen Artikel verwiesen.
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Weinviertel, am Rand des Wiener Beckens, im Burgenland sowie in der Ost- und Südsteiermark ist sogar intensiver Weinbau als Spezialkultur möglich. So stehen einander im Untersuchungsraum sehr unterschiedliche Wirtschaftslandschaften gegenüber. Für eine vergleichende Betrachtung von ökologischen Bedingungen sozialer Verhältnisse sind damit gute Voraussetzungen gegeben. Die Quellenlage für eine auf Wirtschaftslandschaften bezogene Untersuchung von Familienformen erscheint im österreichischen Raum relativ günstig. Zensuslisten mit Angaben über die personelle Zusammensetzung und die Altersverhältnisse von Haus- und Haushaltsgemeinschaften sind in reicher Fülle überliefert, vor allem für das 19. Jahrhundert, mitunter aber schon bis ins 17. Jahrhundert zurückreichend Es gibt kaum einen spezifisch ökonomisch geprägten Landschaftstypus, für den solche Quellen nicht vorhanden wären. Eine Besonderheit des österreichischen Zensusmaterials sind die seriellen Listen - jährlich angelegte Personenstandsverzeichnisse, die es ermöglichen, oft über Jahrzehnte hin die Veränderungen in der Zusammensetzung bestimmter Familien zu verfolgen. In den letzten eineinhalb Jahrzehnten wurden viele Hunderte solcher Zensuslisten am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien erfaßt und ausgeweitet Ein Teil davon ist über die „Vienna Data Base on European Family Histoiy" für Erhebungen mit Methoden der EDV zugänglich. Erkenntnisse aus der Analyse dieses reichen Datenmaterials sind die wesentliche Grundlage der hier vorgetragenen Überlegungen. Wichtige Ergänzungen erhalten sie aus einem ganz anderen Quellentypus. Parallel zur Sammlung von Zensuslisten wurde am Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität Wien eine Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen angelegt, die derzeit gegen siebenhundert Autobiographien - vor allem aus ländlichen Gebieten Österreichs - umfaßt Zum Problemkreis Familie und Arbeit bieten sie eine Fülle interessanter Informationen, aus denen sich allgemeine Schlüsse für die Bedeutung lokaler Wirtschaftsstrukturen aus Familienformen ableiten lassen. Als theoretischer Ansatz, von dem ausgehend Zusammenhänge zwischen ländlichen Familienformen und Gegebenheiten ihrer natürlichen Umwelt diskutiert werden sollen, dient hier das „Ökotypus-Konzept", und zwar in seiner spezifischen Ausformung, das es durch die skandinavische Kulturanthropologie erhalten hat Qrvar Löfgren definiert Ökotypus als „a pattern of resource exploitation within a given macro-economic framework". Räumliches Wirtschaften wird in diesem Konzept nicht bloß als spezifische Form 132
der Adaptation an natürliche Umweltbedingungen gesehen. Vielmehr finden auch überregionale Formen der Arbeitsteilung in das Modell Engang, die sich in der lokalen Produktionsweise niederschlagen. Die Vielfalt unterschiedlicher Möglichkeiten der Anpassung an einen bestimmten Naturraum kommt so zur Geltung. Der Gefahr einer statischen Betrachtungsweise wird damit gegengesteue i t Das scheint gerade für den Versuch einer Übernahme des Ökotypus-Konzepts in die historische Familienforschung wesentlich. Für die Beschäftigung mit historischen Familienformen im ländlichen Raum erscheint der Ökotypus-Ansatz insofern wichtig, als er gegenüber der allzu vereinfachenden Klischeevorstellung von „der bäuerlichen Familienwirtschaft" zu differenzieren zwingt In Entwicklungsmodellen von Soziologen hat diese Vorstellung eine weit zurückreichende Tradition. Neuerdings wurde sie vor allem durch die Protoindustrialisierungstheorie besonders begünstigt Der Versuch, die sogenannte „protoindustrielle Familie" als einen besonderen Strukturtyp herauszustellen, hat dazu geführt, daß die bäuerliche Familie als ihr Gegenbild, von dem sie sich abheben soll, in einer Enheitlichkeit gezeichnet wurde, die der Realität nicht entspricht Gegenüber einlinigen Entwicklungsmodellen ländlicher Familienformen, in denen einzig die Verbreitung textiler Hausindustrie als wesentlicher Veränderungsfaktor Beachtung findet, soll hier auf der Basis des Ökotypus-Ansatz es auf die Vielfalt nebeneinander bestehender Familienformen sowie die Vielfalt der sie verändernden Prozesse des ökonomischen Wandels im ländlichen Raum hingewiesen werden. Die von der Protoindustrialisierungstheorie angesprochenen Entwicklungen lassen sich in ein solches Modell einordnen, weil die Entfaltung der Hausindustrie zumindest in ihren Anfängen auf ökologische Faktoren zurückgeführt werden kann. E n wichtiger Beitrag der Protoindustrialisierungstheorie zur historischen Familienforschung war es sicher, die Aufmerksamkeit verstärkt auf wirtschaftlich bedingte Familienformen nichtbäuerlicher Gruppen auf dem Lande gelenkt zu haben. Diesen Ansatz gilt es beizubehalten und auszuweiten. Auch die Ökotypus-Konzeption der skandinavischen Kulturanthropologen mißt den Wirtschaftsformen der unterbäuerlichen Schichten mit ihrer Nutzung marginaler Erwerbschancen große Bedeutung zu. Zwischen bäuerlichen und nichtbäuerlichen Gruppen läßt sich allerdings nicht immer eine klare Grenze ziehen. Im hier behandelten österreichischen Untersuchungsgebiet sind diesbezüglich die Verhältnisse sehr unterschiedlich. Neben Regionen, in denen sich die Bauern von den Kleinhäus133
lern deutlich abheben, stehen solche mit fließenden Übergängen zwischen den Kategorien unterschiedlicher Besitzgröße. Nicht immer korrespondieren Formen der Subsistenzwirtschaft mit der Größe des Besitzes. In der Regel sind jedoch die Kleinhäusler aufgrund ihres geringeren Bodenbesitzes genötigt, in außeragrarische Formen der Existenzsicherung auszuweichen. Solche Unterschiede in den Wirtschaftsformen verschiedener Gruppen in ländlichen Populationen müssen bei der Erstellung von Ökotypen berücksichtigt werden. Es kann sein, daß sich die dominante Wirtschaftsweise mit dem Hinweis auf einen Produktionszweig erfassen läßt. In Weinbaugebieten etwa ist das in der Regel der Fall. Es kann aber auch sein, daß ein Ökotypus durch die Hervorhebung von zwei oder mehr Erwerbszweigen charakterisiert werden muß, wobei der eine eher von der bäuerlichen, der oder die anderen eher von der unterbäuerlichen Bevölkerung betrieben wird In diesem Sinne kann etwa von bergbäuerlicher Viehzucht in Verbindung mit Montanwirtschaft und Holzfällerei oder von dominantem Getreidebau mit Kleineisengewerbe als Ökotypen gesprochen werden. Selbst in so komplexer Formulierung drücken solche Etiketten freilich immer nur dominante Wirtschaftsweisen aus, die für eine Mehrzahl der Familien in ihrer Struktur prägend sein können, nicht aber für die Totalität der regionalen Population. Eine Sonderstellung haben etwa stets die für den Lokalbedarf arbeitenden Landgewerbe der Bäcker, Müller, Fleischhauer, Gastwirte, Schneider oder Schuster, bei denen auch die spezifische Wirtschaftsweise die Familienform beeinflußt, jedoch individuell und nicht wie der Ökotypus kollektiv. Das Konzept der Ökotypen geht davon aus, daß die lokale Dominanz bestimmter Wirtschaftsformen von der Nutzung spezifischer natürlicher Ressourcen abhängig ist In dieser Naturabhängigkeit gibt es allerdings graduelle Abstufungen. Weinbau als Monokultur etwa hat sich nördlich der Alpen nur in ganz wenigen, regional begrenzten Wirtschaftslandschaften durchsetzen können. Voraussetzungen für diesen Ökotypus sind etwa Lößböden, günstige Hanglagen und trockene Witterung mit vielen Sonnentagen. Wo solche Bedingungen gegeben waren, verdrängte der Weinbau aufgrund seiner Einträglichkeit alle Formen von Ackerbau und Viehzucht Die Naturabhängigkeit ist bei diesem Ökotyp extrem, eine Übertragung der Wirtschaftsweise auf ein Gebiet mit anderen Umweltbedingungen unmöglich. Komplizierter sind die Zusammenhänge, wenn sich Formen der Bodenbewirtschaftung mit verschiedenen Stufen der gewerblichen Weiterverarbeitung eines Produkts verbinden. Bei den meisten Gebieten mit textiler Hausindu134
strie läßt sich im österreichischen Raum feststellen, daß günstige Anbaubedingungen für Flachs am Beginn der Entwicklung gestanden sind Genauso wie beim Weinbau ist auch beim Rachsbau die Qualität des Produkts in sehr hohem Maß von Standortfaktoren abhängig. Besonders günstige Bedingungen für diese Kulturpflanze waren etwa in den niederschlagsreichen Gebieten des Vorarlberger Rheintals und des Bregenzer Walds gegeben. Die Sankt Gallener Leinwandhändler schrieben vor, daß für hochwertige Waren nur Garn aus dieser Region verwendet werden dürfe. Der lokale Ökotypus war zunächst nur durch Anbau und Spinnen des Garns, also die erste Veredelungsstufe, charakterisiert Erst viel später setzte sich hier auch die Leinenweberei durch. Zum wichtigsten Zentrum der textilen Hausindustrie im Raum des heutigen Österreich wurde diese Landschaft allerdings erst, als von der Leinenproduktion zur Baumwollverarbeitung übergegangen wurde. Diese stand mit den naturräumlichen Bedingungen in keinem unmittelbaren Zusammenhang mehr. Trotzdem wird man von einem Ökotypus sprechen dürfen. Noch stärker abgeleitet sind die Bezüge zur natürlichen Umwelt, wenn über hausindustrielle Tätigkeit hinaus zum Wanderhandel übergegangen wurde. Im österreichischen Raum findet sich diese Erscheinung vor allem in Gebieten, in denen ursprünglich der Edelmetallbelgbau florierte, mit dem Rückgang der Montanproduktion jedoch neue Erwerbszweige gefunden werden mußten. Im Osttiroler Defereggental wandte man sich zunächst der Herstellung von Schüsseln aus dem Holz der im Tal stark verbreiteten Zirbelkiefer zu, die man selbst in den Handel brachte. Als nächster Schritt kauften die Deferegger im Nachbartal erzeugte Teppiche aus Ziegen- und Kuhhaaren auf und brachten sie in den verschiedensten Regionen Europas auf den Markt Schließlich spezialisierte man sich auf den Wanderhandel mit Schweizer Uhren und mit Strohhüten aus Krain. Einen ähnlichen Prozeß der sukzessiven Lösung vom Wanderhandel mit lokalen Produkten läßt sich im Tiroler Zillertal feststellen - einer Region, die durch ihre Paßlage für eine solche Betätigung ebensogute Voraussetzungen bot Auch hier war der Rückgang des Bergbaus auslösendes Moment Im Mittelpunkt des Hausierhandels der Zillertaler stand anfangs der Mithridat, ein aus lokalen Produkten im Tal selbst hergestelltes Arzneimittel, dann das in benachbarten Gebieten Tirols gewonnene Steinöl. Schließlich konzentrierte sich der Wanderhandel hier auf Handschuhe und Kanarienvögel - keineswegs typische Güter dieser Region. Auch wenn die Formen des Wanderhandels nur mehr sehr vermittelt mit der Nutzung lokaler natur135
räumlicher Ressourcen in Zusammenhang stehen, wird man sie doch als spezifische Ökotypen charakterisieren dürfen. Man könnte überlegen, das Ökotypen-Konzept weiter zu fassen und auch andere mit der Nutzung naturräumlicher Ressourcen in Zusammenhang stehende Faktoren in die einzelnen Muster einzubeziehen. Die Siedlungsweise etwa ist ein stark ökologisch bestimmter Bereich mit ökonomischen Bezügen. Freilich spiegelt die Siedlungsweise nicht notwendig den aktuellen Stand wirtschaftlicher Bedürfnisse. In Einzelhofgebieten des österreichischen Alpenvorlands finden sich häufig Bauernhöfe in engem räumlichen Konnex mit Kleinhäusem. Es ist anzunehmen, daß sie ursprünglich als Unterkunft für Taglöhnerfamilien errichtet wurden, die auf dem korrespondierenden Bauernhof mitarbeiten sollten. Solche Gegebenheiten des Siedlungsbildes können auch noch später Ausdruck der aktuellen Wirtschaftssituation sein. Dieser Zusammenhang ist jedoch nicht zwingend Der Bedarf an Taglöhnera kann zurückgegangen sein und das Kleinhaus nunmehr einem Landhandwerker als Wohnung dienen. In der Siedlungsstruktur spiegeln sich zumeist ökonomische Zweckmäßigkeiten längst veigangener Zeiten. Die Beständigkeit von baulichen Konstellationen gibt ihnen langfristige Wirkkraft Auch die Familienformen lokaler Populationen sind durch sie beeinflußt Man wird jedoch die Siedlungsweise neben der Wirtschaftsweise als einen getrennt wirkenden Faktor einzustufen haben. Ahnliches gilt für spezifische Besitzgrößen, für Besitzrecht oder für erbrechtliche Gegebenheiten, die auch sehr eng mit regional dominanten Produktionsweisen verbunden sein können. Wollte man alle diese Facetten in den Begriff Ökotypus miteinschließen, so wäre dieser sicher überfrachtet Sein Erklärungswert für eine veigleichende Analyse der Bedingungsfaktoren von Familienformen ginge verloren. Der entscheidende Bewirkungszusammenhang, über den Ökotypen ländliche Familienformen beeinflussen, sind die Erfordernisse der Arbeitsorganisation. Die Notwendigkeiten der Arbeitsorganisation bestimmen die personelle Zusammensetzung von Familien. In ländlichen Familienwirtschaften entscheiden sie, ob Knechte und Mägde bzw. Inwohner aufgenommen werden müssen, wie lange heranwachsende Kinder im Haus verbleiben, ob im Falle der Verwitwung eine Wiederverehelichung ökonomisch notwendig erscheint Indirekt wird durch den Arbeitskräftebedarf der Familienbetriebe auch die Zusammensetzung der nicht familienwirtschaftlich oiganisierten Haushalte beeinflußt Die Notwendigkeiten der Arbeitsorganisation bestimmen aber auch Familienbeziehungen. 136
Die Intensität und das Abhängigkeitsgefälle innerfamilialer Kooperationsformen, ebenso die durch außerfamiliale Arbeit notwendige Absenz von Familienmitgliedern, sind für qualitative Aspekte des Familienlebens von entscheidender Bedeutung. Familienformen sind nicht auf Rollenkonstellationen beschränkt zu sehen, wie sie uns die Zensuslisten zeigen. Sie umfassen auch charakteristische Beziehungsmuster, die durch das Arbeitsleben mitbedingt sein können. Unter dem Aspekt des zusätzlichen Arbeitskräftebedarfs bäuerlicher Familienbetriebe kann man im Untersuchungsraum idealtypisch zwischen zwei Hauptformen ländlicher Gesellschaften unterscheiden, den „Gesindegesellschaften" und den „Taglöhnergesellschaften". Die ersteren sind dadurch charakterisiert, daß sie die ergänzenden Arbeitskräfte in die Familie einbinden, indem sie sie mindestens auf ein Jahr aufnehmen und am gesamten Familienleben teilnehmen lassen, für die letzteren sind kurzfristige Arbeitsverhältnisse im wesentlichen ohne Familienintegration typisch. Haben die Taglöhner in der Hausgemeinschaft, in der sie arbeiten, den Status von Inwohnern, so sind sie allerdings auch persönlich stärker eingebunden. Sowohl „Gesindegesellschaften" als auch „Taglöhneigesellschaften" begegnen nirgendwo in Reinkultur. So stark auch das Übergewicht der einen oder anderen Gruppe in einer ländlichen Population sein mag, die jeweils komplementäre ist stets auch vertreten. Bringt man diese Typen der Arbeitskräfteeigänzung mit Ökotypen in Zusammenhang, so korrespondiert die Gesindeaufnahme am stärksten mit Dominanz von Viehzucht, die Arbeit nur mit Taglöhnem am ehesten mit Weinbau. Ökotypusformen, in denen der Getreidebau dominiert, nehmen in der Regel eine Mittelstellung ein. Der funktionale Grund für die Entsprechung zwischen Viehzucht und Familienbetrieben mit Gesinde liegt in den spezifischen Arbeitsbedingungen der Viehhaltung. Die Wartung und Pflege des Viehs bedarf ständiger Arbeitskräfte. Sie kann nicht durch Gelegenheitsarbeiter verrichtet werden. Die Notwendigkeit kontinuierlicher Betreuung geht über tägliche Tätigkeiten wie Füttern und Melken hinaus. Stallarbeit muß nicht nur tagsüber die ganze Woche hindurch - inklusive die Sonn- und Feiertage - geleistet werden, sondern mitunter auch nachts. Das gilt etwa für Situationen wie Viehkrankheiten oder Abkalben. Von großer Bedeutung ist es in der Viehhaltung, daß das betreuende Personal die individuelle Egenart der betreuten Tiere genau kennt Beim Melken von Kühen ist etwa eine solche Kenntnis der einzelnen Tiere für den Ertrag sehr 137
wichtig. Auch die Betreuung von Pferden kann spezifische Erfahrungen erfordern, die nur aus einer längerfristigen, kontinuierlichen Pflege gewonnen werden. Besondere saisonale Arbeitsspitzen eigeben sich aus der Viehzucht kaum. Enzig die Heumahd kann zu erhöhtem Arbeitskräftebedarf führen. Die Schwankungen des Arbeitskräftebedarfs im Jahresablauf sind der Hauptgrund dafür, daß in bäuerlichen Familienbetrieben, in denen der Getreidebau dominiert, über das Gesinde hinaus zeitweise Taglöhner aufgenommen werden bzw. die Arbeitskräfteergänzung der Familie überhaupt durch Taglöhner erfolgt Die Unterschiede im Arbeitskräftebedarf zwischen der intensiven Phase der Erntezeit einerseits und den arbeitsschwachen Wintermonaten andererseits lassen es sinnvoll erscheinen, nur teilweise ständige Mitarbeiter einzusetzen. Beim Weinbau ist es in Hinblick auf die ungleichgewichtige saisonale Auslastung vollends unökonomisch, mit Knechten und Mägden zu arbeiten. Hier kommt es dementsprechend zu einer klaren Dominanz der nichtfamiliengebundenen Arbeitskräfte. Der Bedarf bäuerlicher Hausgemeinschaften an ständigen Arbeitskräften, wie er vor allem in Viehzuchtgebieten gegeben ist, muß nicht notwendig durch die Aufnahme von Gesinde gedeckt werden. Es gibt auch Alternativen dazu. Mitunter finden sich im österreichischen Raum alpine Beigbauem, die den Arbeitskräftebedarf nur mit Verwandten decken. Hier verbleiben dann Geschwister auf dem Hof und dürfen gelegentlich auch heiraten, so daß es zur Entstehung komplexer Familienformen kommt Der Hinteigrund solcher zu Großfamilienformen führenden Sonderentwicklungen sind nicht spezifische Muster des Verwandtschaftssystems oder des Heiratsverhaltens. Vergleiche mit der Zadruga des südosteuropäischen Raums erscheinen unzutreffend. Eher dürfte die abweichende Entwicklung auf herrschaftliche Einflüsse zurückzuführen sein. Wie auch immer solche Besonderheiten zu erklären sind - der Ökotypus beigbäuerliche Viehzucht führt jedenfalls nicht notwendig bloß zu einem einzigen Muster familienwirtschaftlicher Organisation. Im Veigleich zu erweiterten und komplexen Familienformen ohne Gesinde ist die Arbeitskräfteergänzung durch Knechte und Mägde das weitaus flexiblere Modell. Von Jahr zu Jahr kann der Arbeitskräftebestand den Bedürfnissen des Hofes angepaßt werden. Kommen Kinder in das arbeitsfähige Alter, so wird Gesinde entlassen, gehen erwachsene Kinder aus dem Haus, so werden Knechte und Mägde aufgenommen. Gegenüber der nach Alter und 138
Geschlecht unausgeglichenen Arbeitskräftereproduktion gesindeloser Familienwirtschaften bedeutet die Gesindeaufnahme die Möglichkeit, die Struktur des Personals stets aufs neue auszubalancieren. Die Notwendigkeit einer solchen Balance ist bei Einzelhof und Weilersiedlung in besonderem Maß gegeben. Bei Dorfsiedlung können Arbeitskräftedefizite einzelner Familien leichter durch auf Tauschbasis entgoltene Leistungen von Nachbarn ausgeglichen werden. Die Gesindehaltung ist hier dementsprechend weniger ausgeprägt Ökotypen, die zur Gesindehaltung tendieren, bilden in geringerem Maße ländliche Unterschichten aus als „Taglöhneigesellschaften". Beigbauernwirtschaften können vielfach mit einer niedrigen Zahl an Kleinhäuslem, die vor allem als Handwerker tätig sind, ihr Auslangen finden. Eine starke ländliche Unterschicht entsteht nur dann, wenn eine nichtagrarische Erwerbsmöglichkeit hinzukommt, etwa Holzfällerei oder Beigbau, der seinerseits meist Holzfällerei nach sich zieht. Besonders stark entwickelt sind unteibäuerliche Gruppen beim Edel metal 1 bergbau. Der Eisenbeigbau hingegen tendiert zu einer Verbindung der Montanwirtschaft mit dem bäuerlichen Familienbetrieb. Durch die im Beigbau und seinen Folgeeinrichtungen tätigen Arbeitskräfte entstehen sehr umfassende Hausgemeinschaften. Typisch dafür sind etwa die gesindereichen Großhaushalte von Radmeistern, die die Hüttenarbeiter, die Holzknechte, die Fuhrknechte und mitunter auch die Beigknappen umfassen. Ahnliche Strukturen finden sich in der Weiterverarbeitung des Eisens bei den Hammermeistern mit ihren zahlreichen Schmiedknechten. Hier handelt es sich zwar um ein Landgewerbe, aber eines, das mit dem Ökotypus Esenbergbau engstens verbunden ist Das Beispiel zeigt, daß für überregionale Märkte arbeitende Landgewerbe keineswegs zwingend zu gesindelosen Familienformen führen müssen, sondern in bestimmten Produktionszweigen ganz im Gegenteil sogar besonderen Gesindereichtum bewirken. Zum Unterschied von viehzüchtenden Beigbauem ist für Getreidebauern des Rachlands eine korrespondierende Unterschicht landwirtschaftlicher Taglöhner ökonomisch notwendig. Es handelt sich hier um Systeme der Reziprozität Die in selbständigen Kleinhäusern bzw. als Inwohner am Bauernhof selbst oder in zugehörigen Zuhäusern lebenden unterbäuerlichen Familien bilden eine Aibeitskräftereserve für saisonale Arbeitsspitzen. Die Bauern stellen ihnen als Gegenleistung Zugtiere und Arbeitsgeräte zur Bestellung der eigenen Kleinlandwirtschaft sowie mitunter auch Wohnraum und Anbauflächen zur Verfügung. Aus den Kindern der Häusler und 139
Inwohner rekrutiert sich das bäuerliche Gesinde. Über Arbeitsbeziehungen hinaus entstehen so vielfältige personale Bindungen zwischen bäuerlichen und unteibäuerlichen Gruppen, die sogar familiale Züge annehmen können. Die Arbeitsveipflichtungen ländlicher Unterschichtenfamilien gegenüber einem bestimmten Bauern bedeuten stets nur eine beschränkte Auslastung. Den Hauptanteil ihrer Aktivitäten machen sonstige Taglohnarbeiten, geweitiliche Tätigkeiten sowie die Bewirtschaftung des eigenen Landes aus. Die Subsistenzwirtschaft dieser Gruppen ist also zumeist durch sehr variabel zusammengesetzte Formen des Mischerwerbs charakterisiert. In der Regel macht es keine dieser verschiedenen Tätigkeiten möglich oder erforderlich, die Mitarbeit von Gesinde in Anspruch zu nehmen. Erst wenn ein Gewerbe zur dominanten Erwerbstätigkeit wird, kann es zur Aufnahme von einzelnen Lehrlingen bzw. Gesellen kommen, und zwar unabhängig davon, ob für den lokalen oder für den überregionalen Markt gearbeitet wird. Hinsichtlich der verlegten textilen Hausindustrie zeigen die hier untersuchten Regionen ein sehr unterschiedliches Bild. Neben völlig gesindelosen Protoindustriegebieten finden sich andere, in denen ländliche Weber durchaus Gesellen und Lehrlinge beschäftigen. Auch im Bereich des Textilgewerbes läßt sich also das Bild von der gesindelosen Familienform der protoindustriellen Produktionsweise nicht verallgemeinem: Gleichgültig ob verlegt oder nicht, gilt für das Personal der Landhandwerker, daß nicht wie beim Gesinde der bäuerlichen Familienwirtschaften ein wirtschaftlicher Zwang zur Herstellung eines bestimmten Arbeitskräftestandes besteht Es kommt hier auch nicht zu einem systematischen Ersatz von Kindern durch Gesinde und umgekehrt In der Aufnahme von Gesellen und Lehrlingen durch Landhandwerker läßt sich keine aus der Familienwirtschaft erklärbare Regelhaftigkeit erkennen. Die Gesindehaltung ist stets ein Indikator dafür daß die Familie den Charakter einer Arbeitsgruppe besitzt Wo Knechte und Mägde aufgenommen werden müssen, dort reichen die untereinander verwandten Personen für die ständig gemeinsam zu leistenden Arbeiten nicht aus. Der Charakter ländlicher Familien als Arbeitsgruppen ist je nach Ökotypus in den bäuerlichen und in den nichtbäuerlichen Gruppen sehr unterschiedlich ausgeprägt Vereinfachend läßt sich sagen, daß bei allen Typen bäuerlicher Familien in irgendeiner Form ein Arbeitszusammenhang zwischen der Mehrheit oder der Gesamtheit der Familienmitglieder besteht Anders ist dies in der unter- bzw. nichtbäuerlichen Bevölkerung. Nach Ökotypen ergeben 140
sich hier sehr starke Differenzierungen. Lokal dominante Produktionsweisen können einerseits zur totalen Desintegration einzelner Familienmitglieder führen, andererseits zu einer noch stärkeren familialen Kooperation, als sie in bäuerlichen Hausgemeinschaften anzutreffen ist Desintegrierende Wirkung haben vor allem Wanderhandel, Wanderaibeit, Transportwesen, aber auch stark außerhäusliche Tätigkeiten wie Bergarbeit oder Holzfällerei. Wanderhändler waren oft länger als ein Jahr von zu Hause weg. Wanderarbeiter, die im Bauhandwerk tätig waren, zogen meist schon im Frühjahr weg und blieben bis zum Herbst Landwirtschaftliche Lohnarbeiter wanderten der reifenden Ernte vom Flachland bis in die Beigregionen nach und waren so wochenlang abwesend Ähnliches gilt für die sogenannten „Störhandwerker4', die von Hof zu Hof zogen. Bei Beigknappen und Holzknechten waren die Absenzen kürzer. Trotzdem führten auch diese Ökotypen zu weitgehend „vaterlosen" Familienformen. In der Regel waren es j a die Familienväter, die solchen extremen Außenaibeiten nachgingen, manchmal gemeinsam mit heranwachsenden oder erwachsenen Söhnen. Frauenarbeiten, die ähnlich weit von zu Hause fortführten, lassen sich im Untersuchungsraum nicht feststellen. Als ein besonders interessantes Phänomen der Arbeitswanderung von Kindern sei auf die „Schwabengängerei" in Tirol und Vorarlberg verwiesen. Vom Frühling bis zum Herbst waren Kinder und Jugendliche aus diesem Raum bei Bauern in Süddeutschland als Hüteibuben und als Kindermädchen im Dienst Da auch die Väter dieser Kinder zu weit entlegenen Arbeitsplätzen abwandern mußten, blieben oft Frauen allein mit Kleinkindern auf den bescheidenen landwirtschaftlichen Gütern in der Heimat zurück. Erst im Winter war die ganze Familie wieder vereint Gerade für solche Gegenden bedeutete der Aufschwung ländlicher Heimindustrie eine entscheidende Wende, konnte doch jetzt die Familie auf Dauer zusammenbleiben. Die textile Hausindustrie hat häufig über die Bedingungen gemeinsamer Arbeit eine starke Familialisierung zur Folge. Wenn alle Familienmitglieder durch Weben, Spinnen und Spulen an der Textilproduktion beteiligt sind, so ist die familiale Kooperation sicher intensiver als in bäuerlichen Familienwirtschaften. Im Untersuchungsraum erscheint dieses Modell textiler Hausindustrie jedoch nicht als das einzige und auch nicht unbedingt als das vorherrschende. In vielen Fällen erfaßt die Protoindustrialisierung nur die Frauen einer Region, etwa von Salinenaibeitern, von Beigarbeitern im Silberbeigbau oder von Kleinbauern. In anderen Fällen sind die Männer nur in den Wintermonaten in der textilen
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Hausindustrie tätig. Dann entsteht sozusagen ein Familienbetrieb auf Zeit Es gibt jedoch auch heimindustrielle Tätigkeiten, die ausschließlich oder vorwiegend von Männern ausgeübt werden. Im Bereich der textilen Hausindustrie ist in diesem Zusammenhang die Maschinstickerei zu nennen. Diese Vielfalt unterschiedlicher Akzentuierungen müßte berücksichtigt werden, wenn von der protoindustriellen Familienwirtschaft die Rede ist Welche Unterschiede hier auch immer bestehen, grundsätzlich läßt sich doch festhalten, daß zum Unterschied von den meisten anderen Erwerbsformen unterbäuerlicher oder auch kleinbäuerlicher Gruppen die ländliche Heimindustrie eine starke Tendenz zur Famiiiarisierung aufweist Die Frage geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in ländlichen Familienwirtschaften ist in verschiedener Hinsicht für den Zusammenhang von Ökotyp und Familienform relevant Sehr wesentlich erscheint die Zusammensetzung der Familie davon betroffen. Wo die Arbeitsrollen von Frauen und Männern scharf gegeneinander abgegrenzt sind, ist im Fall der Veiwitwung rasche Wiederverehelichung notwendig. Man kann von einem ökonomischen Rollenergänzungszwang sprechen. Bei ausgeglichenen Arbeitsrollen ist dieser Druck nicht gegeben. Ein Ökotyp mit stark ausgeprägter Abgrenzung der geschlechtsspezifischen Arbeitsbereiche ist die Bergbauernwirtschaft Wichtige Aufgaben der Männer können nicht stellvertretend von Frauen übernommen werden. Es sei hier etwa das Einbringen des Beigheus in den Wintermonaten genannt, das in manchen Gegenden äußerst gefährlich ist und ein Training verlangt, das Mädchen nicht mitbekommen. Die verwitwete Inhaberin eines Beigbauernhofes ist so in Hinblick auf die Bewältigung existenzieller Arbeitsbedürfnisse der Familienwirtschaft gezwungen, sich bald wieder zu verehelichen, sofern nicht ein erwachsener Sohn oder ein Knecht die Arbeitsrolle des verstorbenen Bauern übernehmen kann. Ganz anders stellt sich das Problem für die Witwe eines Weinbauern. Für sie ist es problemlos möglich, ohne Partner den Betrieb weiterzuführen. Die Arbeitsrollen sind im Weinbau ausgeglichener. Die Frauen können die meisten Männerarbeiten selbst verrichten. Witwenhaushalte sind daher in Weinbauerngebieten keine Seltenheit. In Gebieten mit textiler Hausindustrie ist die Situation vielfach ähnlich. Ein wesentliches Problem der Auswirkung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in ländlichen Familien ist deren Einfluß auf Geschlechterrollen und eheliche Machtverhältnisse. Die Protoindustrialisierungstheorie geht davon aus, daß der Ausgleich der Arbeitsrollen auch eine Nivellierung der Geschlechterrollen zur Folge 142
habe. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß nach den hier untersuchten Beispielen verlegte Hausindustrie auf dem Lande nicht notwendig Gleichheit der Arbeitsaufgaben von Frau und Mann bedeute. Soweit eine solche Übereinstimmung in protoindustriellen Gebieten als Wurzel von Ausgleichstendenzen in anderen Lebensbereichen nachweisbar ist, sollte die Übertragbarkeit des Modells geprüft werden. Besonders interessant erscheint diesbezüglich wiederum der Weinbau. Es gibt im hier untersuchten Material Hinweise, daß in Weinbaugebieten der bäuerliche Patriarchalismus schwächer entwickelt war als in Viehzuchtgebieten. Eine Erklärung auf dem Hinteigrund stärker ausgeglichener Aibeitsrollen liegt nahe. Insgesamt erschiene es als eine lohnende Forschungsaufgabe, die Tragfähigkeit verschiedener Ansätze der Protoindustrialisierungstheorie am Ökotypus Weinbau zu überprüfen, bei dem sich viele strukturelle Analogien zur verlegten ländlichen Hausindustrie feststellen lassen. Ähnlich eindeutige Abhängigkeiten zwischen Ökotypus und Familienform, wie die über die Arbeitsorganisation vermittelten, lassen sich sonst kaum feststellen. Beachtung verdienen die über die Wohnverhältnisse vermittelten Bewirkungszusammenhänge. Auch für sie spielt der Faktor Arbeit eine gewisse Rolle. Überall wo es in ländlichen Gebieten des Untersuchungsraumes zu einer stark entfalteten Lohnarbeit gekommen ist, hat einerseits die Kleinhaussiedlung, andererseits das Wohnen zur Miete sehr zugenommen, wobei als Form der Miete der Inwohnerstatus mit Arbeitsverpflichtungen gegenüber dem Hausherrn typisch ist Die Zahl der Kleinhäusler und Inwohner liegt bei den Ökotypen Montanwirtschaft, Weinbau und verlegter Hausindustrie besonders hoch. Alle drei sind seit dem Mittelalter als kapitalistisch organisierte Produktionsweisen zu bezeichnen. Alle drei führten früh zu einer relativ hoch entwickelten Geldwirtschaft. Dementsprechend wirkten sie bei Haus- und Grundbesitz mobilisierend. Vor allem die Kleinhäuser wechselten rasch die Besitzer. Weitergabe im Eibgang wurde selten, Neolokalität der Regelfall. Noch höhere Mobilität herrschte bei den Inwohnern, die nicht über Hausbesitz und zumeist auch nicht über Grundbesitz verfügten. Die neolokalen Residenzmuster dieser ländlichen Unterschichten und mitunter auch der Kleinbauern kontrastieren sehr stark zu den vorwiegend patrilokalen der größeren Besitzer. Die geringere Kontinuität der Familie an einem Wohnplatz wirkte sich in der Familienform in einer geringeren Häufigkeit des Zusammenlebens mit Eltern und Geschwistern aus. In Häuslerfamilien sind solche Formen des Zusammenlebens weit 143
seltener anzutreffen als bei Bauern. Bei Inwohnerfamilien hat die durch den häufigen Wohnungswechsel bedingte Instabilität der Familie noch weiterreichende Folgen. Vielfach schieden bei einem solchen Wechsel Kinder aus der Familie aus. Mitunter bedeutete die Aufgabe der bisherigen Unterkunft überhaupt den Zerfall der Familie. E n für Familienformen sehr wesentlicher Faktor, der häufig mit spezifischen Produktionsweisen in Zusammenhang gebracht wird, ist das generative Verhalten. Die Protoindustrialisierungstheorie stellt die Bedeutung des verlegten Landhandwerks für die demographische Entwicklung sehr stark heraus. Als Ursache für höhere Kindeizahlen in protoindustriellen Gebieten gilt einerseits das Interesse an Kindern als Arbeitskräften, andererseits das herabgesetzte Heiratsalter. Für den hier untersuchten Raum kann generell festgestellt werden, daß ein Zusammenhang zwischen spezifischen ökonomischen Interessen an Kinderarbeit und erhöhten Kinderzahlen nirgendwo erschlossen werden kann, auch nicht in protoindustriellen Gebieten. Sehr stark nach Ökotypen unterschieden ist hingegen die Höhe des Heiratsalters mit allen ihren Auswirkungen auf legitime und illegitime Fruchtbarkeit Die konjunkturelle Abhängigkeit von Frühheiraten läßt sich allerdings nicht nur bei der verlegten Hausindustrie, sondern ebenso beim Wanderhandel oder beim Weinbau beobachten, der sich auch diesbezüglich als ein strukturell sehr ähnlicher Ökotypus erweist. Analysiert man die einzelnen bedingenden Faktoren von Familienstrukturen, so zeigt sich, daß dem Erklärungswert des Ökotypus-Ansatzes .deutliche Grenzen gesetzt sind An zwei Beispielen aus dem rechtlichen Bereich sei dies kurz illustriert. Im bäuerlichen Erbrecht ergibt sich nur beim Weinbau eine unmittelbare Entsprechung zwischen Ökotyp und Weitergabe des Besitzes. In allen intensiven Weinbaugebieten des österreichischen Raums ist Freiteilbarkeit üblich, auch wenn in der unmittelbaren Umgebung Anerbenrecht vorherrscht Im Weinbau läßt sich eben noch bei relativ kleinen Besitzgrößen eine Familie ernähren. Freiteilbarkeit ist sonst im Untersuchungsraum selten. Sie findet sich im äußersten Westen im westlichen Tirol und in Vorarlberg sowie im äußersten Osten im Buigenland - jeweils anschließend an große Zonen der Freiteilbarkeit außerhalb Österreichs. Für die Familienformen sind diese rechtlichen Gegebenheiten von hoher Bedeutung. Mit dominanten Formen der Wirtschaftsweise lassen sie sich nicht erklären. Ihnen benachbart liegen jeweils Gebiete des gleichen Ökotyps mit Anerbenrecht. Wahrscheinlich liegt die Ursache in unterschiedli144
chen Entwicklungen der grundherrschaftlichen Rahmenbedingungen. Zu den herrschaftlich-rechtlichen Faktoren, die für Unterschiede der Familienformen sehr wichtig sind, gehört auch die Institution des Ausgedinges. Sie erscheint ebenso nicht an bestimmte Ökotypen gebunden. In Kärnten etwa fehlt sie bei den Rachlandbauern genauso wie bei den Beigbauern. Im niederösterreichischen Waldviertel hingegen ist sie nicht nur bei Bauern, sondern auch bei protoindustriellen Webern gegeben. Es handelt sich um ein Strukturelement, das quer zu den spezifischen Mustern der Ökotypen liegt Daß dem Ökotypus-Ansatz insgesamt im Untersuchungsraum ein relativ hoher Erklärungswert für Unterschiede der Familienformen zukommt, hängt wohl auch mit dem Fehlen bestimmter außerökonomischer Determinanten zusammen, die anderwärts die Familienstruktur stark beeinflußtea Wesentlich erscheint in diesem Zusammenhang das Fehlen strikter Bindungen an Ordnungen des Veiwandtschaftssystems. Was solche Bindungen bedeuten konnten, macht erst ein Veigleich bewußt, der über den engeren Untersuchungsraum des heutigen Österreich hinausgeht Im benachbarten Ungarn und Jugoslawien waren in historischen Zeiten patrilinearkomplexe Familienstrukturen im ländlichen Raum vielfach stark verbreitet Nur im Kontext einer Familienzusammensetzung, die auf agnatisch verwandten Männern aufbaute, konnte hier eine Adaptation an unterschiedliche Bedürfnisse ländlicher Produktionsweisen erfolgen. Im Vergleich zu solchen Strukturen der Familienverfassung bot im Untersuchungsraum allein schon die Möglichkeit der Gesindeaufnahme ein viel höheres Maß an Flexibilität Insgesamt sind die hier vorgestellten Abhängigkeitsbeziehungen zwischen ländlichen Familienformen und Ökotypen im Zusammenhang von strukturellen Rahmenbedingungen zu sehen, die der Anpassung der Familie an ökonomische Bedürfnisse einen relativ weiten Spielraum eröffneten.
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Russische und mitteleuropäische Familienstrukturen im Vergleich* Verfaßt gemeinsam mit Alexander Kagan John Hajnal hat 1965 in seiner Studie „European Marriage Patterns in Perspective" festgestellt, daß quer durch den europäischen Kontinent eine Scheidelinie verläuft, die zwei Großräume unterschiedlichen Heiratsverhaltens voneinander trennt Während Westund Mitteleuropa durch ein hohes Heiratsalter der Männer, vor allem aber der Frauen gekennzeichnet ist, liegt in Ost- und Südosteuropa das Heiratsalter beider Geschlechter relativ niedrig. Peter Laslett hat in Anschluß daran 1977 einige generelle Charakteristika der „Western Family" zu erstellen versucht (Laslett 1977 a und b). Für West- und Mitteleuropa konnte er sich dabei auf ein ziemlich breites Material stützen. Für Osteuropa lagen ihm nur wenige Studien vor. Zu nennen sind hier die Aibeiten von Andrejs Plakans für den baltischen Raum und von Peter Czap für das Gouvernement Rjazan'. 1 In Anbetracht dieses Mangels an familienhistorischen Studien aus dem osteuropäischen Raum mag es erlaubt sein, hier an regionalem Quellenmaterial einige allgemeine Aspekte russischer Familienstrukturen in einer großräumigen Gegenüberstellung zu diskutieren. Dabei ist sicher zu bedenken, daß der russische Raum hinsichtlich der jeweils vorherrschenden Familienkonstellationen keineswegs homogen, sondern sehr differenziert zu sehen ist Enige der Besonderheiten des engeren Untersuchungsgebiets sollen aufgrund von Literaturhinweisen herausgearbeitet werdea Ebensowenig läßt sich natürlich von einem generellen mitteleuropäischen Typus historischer Familienstrukturen sprechen. Wenn die Autoren Spezifika der russischen Familienformen im Kontrast zu Mitteleuropa zu erkennen versuchen, so stützen sie sich dabei vor allem auf Erfahrungen, die sie mit Quellen zur Sozialgeschichte der • Aus: Journal of Family Histoiy 7 (1982), S. 103-131.
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Familie im österreichischen Raum gemacht haben. Freilich werden dabei nur solche Erscheinungen herangezogen, die über Österreich hinaus verbreitet sind. 2
Die Quellen Die in diesem Beitrag behandelten Quellen stammen aus der dritten Revision des russischen Reichs, und zwar aus den Jahren 1762/63. 3 Wie die übrigen Seelenrevisionen bringt diese einen Vergleich mit der vorangegangenen Zahlung - in diesem Fall der zweiten Revision - , die beginnend mit dem Jahr 1744 durchgeführt worden war. Es handelt sich daher um die bisher älteste russische Personenstandsliste, die in Hinblick auf historische Familienstrukturen ausgewertet wurde. Das untersuchte Material erfaßt Bevölkerungsgruppen aus dem Kreis (uezd) Jaroslavl', zirka 250 Kilometer nordöstlich von Moskau, und zwar sowohl aus ländlichen als auch aus städtischen Gebieten.4 Alle bisherigen Untersuchungen hatten sich auf erstere beschränkt Der Umstand, daß die Quellen verschiedene soziale Milieus beschreiben, begünstigt sicherlich den Versuch, generelle Charakteristika historischer Familienstrukturen der untersuchten Region zu erfassen. Zensuslisten erheben die in einem Haus bzw. Haushalt zusammenlebenden Personen immer nach bestimmten Zählungskriterien, die sich nach dem administrativen Ziel der betreffenden Zählung richten. Familienkonstellationen, wie sie sich aus solchen Listen ergeben, sind daher nicht ohne weiteres vergleichbar. Das gilt vor allem dann, wenn ein großräumiger Vergleich angestellt wird. So wurden etwa die kirchlichen „Seelenbeschreibungen" der katholischen Länder Europas in Hinblick auf ihren Erhebungszweck nach anderen Gesichtspunkten angelegt als die gleichzeitigen „Seelenrevisionen" in Rußland. Auf einige der Besonderheiten dieser Revisionen wird daher einleitend einzugehen sein, um die Möglichkeiten und Grenzen eines Vergleichs bewerten zu können. Ausgangspunkt jeder Revision ist, wie schon gesagt, der bei der letzten Zählung vorgefundene Personenstand Bevor der aktuelle Stand beschrieben wird, finden sich jeweils Eintragungen über das Schicksal der inzwischen ausgeschiedenen Personen. Diese Bezugnahme auf eine in unserem Fall etwa siebzehn Jahre zurückliegende Konstellation bzw. die Hinweise auf die seither eingetretenen Veränderungen ermöglichen interessante Einblicke in den Entwick148
lungsprozeß der jeweiligen Familie. Familienzyklische Untersuchungen können hier ansetzen. Ebenso erlaubt es dieser Rückblick, die Verwandtschaftsbeziehungen der jeweils zusammenlebenden Personen ziemlich exakt zu rekonstruieren. Negativ wirkt sich die gebotene Zusammenschau mit der letzten Revision auf die Erhebung der familialen Rollenstruktur aus. Da viele der in der vorangegangenen Zählung als Hausvorstand fungierenden Personen inzwischen verstorben sind, läßt sich mitunter nicht eindeutig feststellen, wer bei der aktuellen Zahlung diese Position einnimmt Aufgrund der allgemeinen Kenntnisse über die russische Familie darf man zwar annehmen, daß der jeweils älteste männliche Angehörige der Hausgemeinschaft die Nachfolge angetreten hat Dabei stellt sich freilich die Frage, ab welchem Alter ein Sohn auf seinen Vater folgen konnte, bzw. unter welchen Umständen die Witwe als Hausvorstand anzusehen ist Daß Witwen in Rußland als Hausvorstand fungieren konnten, steht fest (Kosven 1963, S. 74; Czap 1980, S. 224). Die gelegentliche Unklarheit über die zentrale Bezugsperson in der Revision von 1762/63 macht es unmöglich, eine exakte Zählung der auftretenden Verwandtschaftspositionen vorzunehmen. Auf eine solche statistische Erhebung mußte daher verzichtet werden. Ein anderes Problem der Auswertung dieser Revision hat ebenso mit deren administrativer Zielsetzung zu tun. Wir wissen, daß gerade in der Zentralregion, zu der Jaroslavl' gehört, viele Männer über lange Zeit auswärts arbeiteten und mitunter jahrelang nicht nach Hause kamen (Haxthausen 1, S. 199, 207). Diese für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts referierten Zustände lassen sich in abgeschwächter Form wohl auch für die Mitte des 18. vermuten. In der Revision sind solche real Abwesende eingetragen, weil sie sowohl bei der Steuerleistung als auch bei der Umverteilung des Gemeindelandes mitberücksichtigt wurden. Umgekehrt nahmen die Familien in den Sommermonaten, vor allem in der Erntezeit, mitunter Lohnarbeiter auf, die jedoch nicht an ihrer jeweiligen Arbeitsstätte, sondern in ihrer Heimatgemeinde registriert wurden (Haxthausen 1, 1847, S. 199, 237). Eine „Seelenbeschreibung" des mitteleuropäischen Raumes hätte in solchen Fällen den Personenstand anders aufgenommen. Dieser Quellentypus geht ja von den zu einem bestimmten Stichtag im Haus lebenden Personen aus. Freilich erscheinen in Mitteleuropa gedungene Arbeitskräfte auch ganz anders in die Hausgemeinschaft integriert, als dies bei den gelegentlich aufgenommenen ländlichen Lohnarbeitern in Rußland der Fall war. Davon wird später noch zu sprechen sein. 149
Schließlich ist hinsichtlich quellenkritischer Probleme noch darauf zu verweisen, daß in der dritten Revision des russischen Reiches die Altersangaben wenig exakt scheinen. Das gilt vor allem für die Frauen, die hier erstmals mitaufgenommen wurden, und für die höheren Altersgruppen. Beim Erstellen einer Alterspyramide zeigt sich, daß in diesen Gruppen die Zehnervielfachen ganz stark überrepräsentiert sind Da uns das Lebensalter insbesondere in Hinblick auf den Zeitpunkt der Heirat beschäftigen wird, fällt das jedoch nicht so stark ins Gewicht In den ersten beiden Lebensjahrzehnten zeigt sich nämlich eine relativ ausgeglichene Verteilung der einzelnen Jahrgänge.
Die behandelten Bevölkerungsgruppen Die untersuchten Zähllisten der dritten Revision aus dem Raum von JaroslavP umfassen im wesentlichen fünf Bevölkerungsgruppen, die voneinander unterschieden werden müssen. Die Leibeigenen des Adels in den ländlichen Gebieten werden in den Revisionen grundsätzlich in krest'jane und dvorovye ljudi unterteilt Der Terminus krest'jane wird in der Regel mit „Bauern" übersetzt Das hat freilich gerade für den hier untersuchten Raum nur in stark modifizierter Weise seine Berechtigung. Die Provinz Jaroslavl' gehörte zu jener ausgedehnten Zone der Zentralregion, die seit alters sehr stark gewerblich-hausindustriell durchsetzt war. August Freiherr von Haxthausen hat bei seiner 1843 durchgeführten Reise durch das Zarenreich erhoben, daß in vier Kreisen des Gouvernements Jaroslavl' nur ein Bevölkerungsanteil von vierunddreißig bis vierzig Prozent real von Landwirtschaft und Viehzucht lebten (1, 1847, S. 197). Die übrigen gingen einem Gewerbe nach, arbeiteten in Fabriken, waren im Transportwesen tätig oder lebten vom Handel. Acht Jahrzehnte zuvor wird der Prozentsatz der rein landwirtschaftlich Beschäftigten etwas höher gelegen sein, die von Haxthausen so anschaulich geschilderte ökonomische Grundstruktur der Region hatte sich in der Zwischenzeit jedoch nicht radikal verändert. Die Anfänge der Fabriksindustrie gehen in Jaroslavl' bereits in die Zeit Peters des Großen zurück (Golovscikov 1889, S. 149; Haxthausen 1,1847, S. 115,167ff., 190ff.). Dieser Herrscher trug dazu bei, daß das Transportwesen in dieser Region wesentlich an Bedeutung gewann. Hier lief jenes Kanalsystem zusammen, das die neue Hauptstadt St Petersburg und damit den Ostseehandel mit dem 150
Einzugsbereich der Wolga verband Flußschiffahrt, Umladetätigkeit und Fuhrwerksarbeit war eine - saisonmäßig unterschiedlich insgesamt aber sehr bedeutende Erweibsquelle der Leibeigenen des Adels. s Die stärker hausindustrielle Tätigkeit geht im Raum von Jaroslavl' schon bis ins Mittelalter zurück. Durch das rauhe Klima bedingt kamen praktisch nur vier Sommermonate für die eigentlich landwirtschaftliche Arbeit in Frage (Haxthausen 1,1847, S. 172 ff.). In der restlichen Zeit stand die gewerbliche Tätigkeit im Vordergrund Dabei wurden in erster Linie die Rohstoffe der eigenen Region verarbeitet, insbesondere Holz, Pech, Hanf, Leinen, Filz, Haute und Ton. Unter den Landgewerben, die die Leibeigenen des Adels betrieben, hatten dementsprechend folgende besondere Bedeutung: Holzwarenmacher, Wagner, Radmacher, Tischler, Holz-, Filz- und Bastschuhmacher, Seiler, Segeltuchmacher, Bastflechter, Teersieder, Schiff- und Barkenbauer, Spinner, Leinenweber, Gerber, Sattler, Riemer, Schuster und Töpfer. Dazu kamen aber noch vielfältige andere Landgewerbe, die keineswegs nur für den lokalen Markt arbeiteten, wie etwa Schneider, Schmiede oder Keizenzieher (Haxthausen 1, 1847, S. 180 ff., 199 ff.). Die überlokale Bedeutung aller dieser im Gouvernement Jaroslavl' vertretenen Produktionszweige kommt allein schon in der Tatsache zum Ausdruck, daß vielfach ganze Dörfer oder Gutsbezirke von Adeligen auf die Herstellung einer bestimmten Ware spezialisiert waren (Haxthausen 1, 1847, S. 123ff., 162, 167, 182, 199ff.). Ähnliches gilt auch für gewisse Dienstleistungen wie Handel und Transport War schon in den landwirtschaftlich viel reicheren Gouvernements des Schwaizerdegebiets im Süden ein beträchtlicher Teil der auf den Adelsgütern ansässigen Leibeigenen nicht in der Landwirtschaft selbst tätig,6 so gilt das in viel stärkerem Maße für die von den Bodenverhältnissen und vom Klima viel weniger begünstigten Gebiete der Zentralregion, zu der Jaroslavl' zählt Diese vorwiegend von Gewerbe und Dienstleistungen lebenden krest'jane darf man also nicht ohneweiters im mitteleuropäischen Sinn als „Bauern" ansprechen. In Ermangelung eines geeigneten Begriffs wird freilich im folgenden diese in der Literatur übliche Bezeichnung beibehalten werden müssen. Um dabei Mißverständnisse zu vermeiden, seien jedoch diese allgemeinen Bemerkungen über die tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit vorausgeschickt Es wird auf sie zurückzukommen sein, wenn es um arbeitsoiganisatorische Voraussetzungen der Familienzusammensetzung geht In den einzelnen Revisionslisten (revizskie skazki), die von den adeligen Besitzern über ihre ländlichen Untertanen im Raum von 151
Jaroslavl' bei der „Seelen"-Zahlung vorgelegt wurden, sind die Gruppen der krest'jane in der Regel ziemlich klein. Vielfach handelt es sich nur um die Bewohner von ein oder zwei Häusern. Hier trifft also voll zu, was Robinson (1932, S. 10) über die traditionellen Lebensformen der russischen Landbevölkerung sagt: "In the number and in the close inter-relationship of its inhabitants, the smallest settlements had usually the double character of a village and a family. With its numerous population a single 'court' or house-yard standing alone in the front might still quite properly be called a 'village', and often was so called by the Russians of the time." Freilich läßt sich aus den Quellen nicht immer ersehen, ob die jeweilige Gruppe der votiina eines Adeligen die ganze Siedlung ausmachte oder ob es sich um Dörfer handelte, die in mehrere Leibeigenengruppen verschiedener Herren zufielen. Nach den Schilderungen Haxthausens war diese kleinteilige Struktur für das Gouvernement Jaroslavl' typisch. Er schreibt darüben „Die Dörfer gewinnen hier ein anderes Aussehen, sie sehen reicher und stattlicher aus, einzelne Bauernhäuser haben das Aussehen von Edelhöfen oder städtischen Häusern. Die Hauser hängen nicht mehr straßenartig zusammen, wie in den Dörfern zwischen Petersburg und Moskau, sondern liegen in abgesonderten Höfen" (Haxthausen 1, 1847, S. 94 ff., vgl. Abbildung hier und S. 162). Dies entspricht auch den statistischen Angaben über fünf Kreise des Gouvernements Jaroslavl', die er einer ungedruckten privaten Erhebung Heinrichs von Lann aus dem Jahre 1841 entnommen hatte (Haxthausen 1, 1847, S. 193, vgl. auch S. 171). Nach diesen Materialien dominierten Einzelhöfe und Kleindörfer gegenüber Großgütem, die mehrere Dörfer umfaßten. Mit der kleinteiligen Struktur der Adelsgüter im Untersuchungsraum korrespondiert der relativ hohe Anteil der dvorovye ljudi an der erfaßten ländlichen Bevölkerung. Von den insgesamt 1.373 Personen, die von den Adeligen auf ihren Landgütern ausgewiesen wurden, waren 486 - also mehr als ein Drittel - Hofleute. Zum Unterschied von den krest'jane, die hier primär Zins zu leisten hatten (Semevskij 1903, S. 24), arbeiteten die dvorovye ljudi unmittelbar für den adeligen Herren. In erster Linie handelte es sich um dessen Hausdienerschaft. Dementsprechend standen persönliche Dienstleistungen im Vordergrund Nicht alle der Adelshöfe waren freilich ständig oder auch nur saisonal bewohnt So wird man unter den Hofleuten auch landwirtschaftliche Arbeitskräfte vermuten dürfen, die das in Eigenregie betriebene Herrenland bewirtschafteten. Gegenüber der bäuerlichen Bevölkerung stellte das Hofgesinde 152
eine gesonderte Gruppe dar. Ob die Hofleute ähnlich wie die Bauern in abgetrennten Hausern wohnten oder im Herrenhaus selbst, läßt sich nach den untersuchten Quellen nicht feststellen. Aufzeichnungen von Adelsgütern aus anderen Gebieten Großrußlands legen die Vermutung nahe, daß die Familien der Hofleute gesonderte Quartiere in Hütten nahe dem Herrenhaus hatten (Czap 1980, S. 203). Für die gegenseitige Abgrenzung familialer Gruppen wäre es sehr wesentlich, über die Wohnsituation näher Bescheid zu wissen. Die dritte große Bevölkerungsgruppe des untersuchten Quellenmaterials umfaßt 512 Leibeigene die zu drei Fabriken gehörten, nämlich der Seidenfabrik des Vasilij Kolosov, einer zweiten Seidenfabrik im Besitz des Grigorij Gurdv sowie dem Schwefel- und Vitriolwerk des Grigorij Svesnikov. Das Verhältnis der Fabriksarbeiter zur Fabrik entsprach dem der Leibeigenen zu ihren adeligen Gutsherren. Vielfach handelte es sich bei ihnen ja um Bauern, die der Fabrik bei ihrer Gründung zugewiesen worden waren. Dies war jedenfalls die Voigangsweise zur Zeit Peters des Großen und seiner unmittelbaren Nachfolger (GolovSEikov 1889, S. 149 ff.; Haxthausen 1, 1847, S. 115). Dementsprechend hatten die Fabriksleibeigenen nahe ihrer Arbeitsstätte ihre eigenen Unterkünfte. So gehörte etwa zu der in den 1720er Jahren gegründeten Jakovlevschen Leinenfabrik nahe Jaroslavl' ein ganzes Dorf, aus dem sich eine eigene Vorstadt von Jaroslavl' entwickelte, die zur Blütezeit der Fabrik bis dreitausend Seelen umfaßte (Haxthausen 1, 1847, S. 168 ff.). Den später Zuziehenden wurden analog zu den ursprünglichen Siedlern Hausplätze zugewiesen und ein Vorschuß für den Hausbau gewährt Ob die Wohnverhältnisse bei den drei in der Quelle erfaßten Fabriken ähnlich waren, läßt sich dieser nicht entnehmen. Die betriebliche Situation einer Seidenfabrik in Jaroslavl' in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts schildert Haxthausen in seinem Reisebericht (S. 170). Eine besonders interessante Personengruppe, über die die behandelte Quelle Auskunft gibt, ist die Dienerschaft in den Stadthäusern in Jaroslavl'. Leider umfaßt der Quellenbestand nur einige wenige Listen solcher Hauser, so daß keine repräsentativen quantitativen Aussagen gemacht werden können. Umso wichtiger sind jedoch die strukturellen Einsichten, die dieser Teil der Quelle ermöglicht Schließlich wird noch eine fünfte Gruppe der Bevölkerung aus den untersuchten Revisionslisten faßbar, nämlich die Posad-Leute (posadskie ljudi) der Stadt, bei denen es sich primär um Handwerker und Kleinhändler handelt Die über sie vorliegenden Daten sind 153
freilich mit den übrigen nicht veigleichbar. Es fehlen hier sowohl die Informationen, die auf die letzte Revision Bezug nehmen, als auch sämtliche Angaben über die weiblichen Familienangehörigen. Das Material über die Posad-Leute kann daher nur für einige spezielle Fragen in die Untersuchung miteinbezogen werden.
Strukturprinzipien der Familie Ein wesentliches Charakteristikum russischer Familienstrukturen läßt sich schon aus der Form erschließen, in der die Revisionen die einzelnen Familienmitglieder aufzählen. Es wird dabei streng nach Verwandtschaftskriterien vorgegangen. Auf den ältesten nach der aktuellen bzw. der vorangegangenen Revision in der Hausgemeinschaft lebenden Mann folgt zunächst - soweit vorhanden - dessen Bruder oder dessen Brüder, dann dessen Frau bzw. Witwe, hierauf deren Kinder sowie die Gattinnen der Söhne mit ihren Nachkommen, schließlich Gattinnen und Nachkommen der Brüder sowie sonstige Seitenverwandte. Die Grundstruktur der Aufzählung bildet also stets der patrilineare Verwandtschaftszusammenhang. Bezieht man die wenigen Fälle von Adoption mit ein, so läßt sich in der Terminologie eines solchen patrilinearen Verwandtschaftszusammenhangs die Gesamtheit der in Hausgemeinschaft zusammenlebenden Personen in ihrem Verhältnis zueinander beschreiben. In Seelenbeschreibungen und ähnlichen Quellen des österreichischen Raums ist dies ganz anders. Nicht die Veiwandtschaftsbeziehung, sondern die jeweilige Stellung im Haus wird hier in der Regel der Zuordnung der einzelnen Personen zugrunde gelegt (Mitterauer 1973, S. 173 ff.). Ein Bruder des Bauern, der als Knecht auf dem Hof wohnt, wird nicht als Bruder, sondern als Knecht ausgewiesen, eine in dienender Position im Hausverband verbleibende Schwester als Magd. Die alten Btem des Bauern bezeichnen die Quellen soweit diese die Übergabe des Hofes durch einen entsprechenden Vertrag geregelt haben - nicht als Vater und Mutter, sondern als „Altenteiler", .Austräger", „Nahrungsleute", „Viertelteiler" oder wie immer in der betreffenden Region die im Ausgedinge lebenden Altbauern charakterisiert werden. Auch „Inwohner", die mit dem Hausinhaber verwandt sind, werden nicht nach dem Grad des Verwandtschaftsverhältnisses, sondern nach der Stellung im Haus bezeichnet. Mitunter tritt die Verwandtschaftsbezeichnung subsidiär hinzu wie etwa „Knecht und Bruder". Häufiger läßt sich der 154
Verwandtschaftszusammenhang jedoch nur aus Namensgleichheit und Alterskonstellationen bzw. durch zusätzliche Informationen erschließen. Die bäuerliche Hausgemeinschaft - das „ganze Haus" im Sinne der von Wilhelm Η Riehl eingeführten Terminologie besteht hier eben nicht ausschließlich aus untereinander verwandten Personen, sondern zu einem Großteil aus Nichtverwandten. Soweit in dieser „coresident domestic group", um Peter Lasletts treffenden Begriff zu verwenden, Verwandte zusammenleben, wird die Struktur der Gruppe nicht primär durch deren Veiwandtschaftsbeziehung konstituiert Ganz anders in Rußland: Nichtverwandte Angehörige des Familienverbandes gibt es hier in der Regel überhaupt nicht Wenn sie vereinzelt vorkommen, so werden sie durch eine künstliche Verwandtschaftsbindung in die Hausgemeinschaft integriert (Kosven 1963, S. 44 ff.). Die Familie ist hier zum Unterschied von der mitteleuropäischen Familie, die auch nichtverwandte Knechte, Mägde, Gesellen, Lehrlinge, Altenteiler etc. miteinbezieht, grundsätzlich ein Verwandtschaftsverband Die Verwandtschaftsbeziehung - und zwar im patrilinearen Zusammenhang - erscheint als das entscheidende Kriterium der Zugehörigkeit Im hier analysierten Material begegnet jedenfalls kein einziger Fall, der diesem Kriterium widerspricht
Größe der Familien Hinsichtlich der Größe historischer Familienformen in Rußland finden sich in der Literatur sehr unterschiedliche Meinungea Im 19. Jahrhundert war man aufgrund ethnographischer Berichte eher geneigt, eine allgemeine Dominanz der Großfamilie anzunehmen. Schon August von Haxthausen schreibt: „Eine zahlreiche Familie ist nirgends ein größerer Segen als bei den russischen Bauern" und „In Westeuropa ist es für die niederen Stände die größte Last und Plage, viele Kinder zu haben, in Rußland bilden sie für den Bauern den größten Reichthum!" (1, 1847, S. 128). Auch Kovalevsky berichtet von großen Verwandtschaftsverbänden, die in Hausgemeinschaft lebten (1891, S. 53): "The number of persons belonging to these communities varies from ten, or even less, to fifty and upwards." Robinson meint, daß große Haushalte als ökonomisch stabiler galten und daher im Prinzip angestrebt wurden, daß aber die Emanzipation der Leibeigenen zu einer Auflösung der Großhaushalte geführt habe. Im alten System seien jedoch mitunter Hausge155
meinschaften von fünfzig Personen vorgekommen (1949, S. 118). In der neuen Literatur finden sich gegenteilige Standpunkte. R E F . Smith (1977, S. 83) stellt fest: "There seems to be no evidence for the household of extended kin in Russia" und meint, daß zu Unrecht in der westlichen Literatur vielfach das Bild von der russischen Familie als umfassender Verwandtschaftsgruppe übernommen würde: "Basically, the family seems to be the nuclear family of the married couple and their young children" (S. 80). Ethel Dunn (1978, S. 168) beruft sich auf eine Untersuchung, die für ein Dorf im Gebiet von Vladimir für das frühe 19. Jahrhundert vorgenommen wurde und die eine Dominanz von Kleinfamilien ergeben hat (Aleksandrov et al. 1, 1964, S. 463). Sie meint jedoch, daß die Suche nach der „typischen russischen Familie" regionale Differenzierungen berücksichtigen müßte. Peter Czap betont die Notwendigkeit einer solchen Differenzierung noch stärker. Er legt erstmals für ein repräsentatives Sample durchschnittliche Haushaltsgrößen über einen längeren Zeitraum vor. Auf dem Gut Misino im Gouvernement Rjazan' schwankte von 1814 bis 1858 nach acht untersuchten Schnitten der Durchschnittswert zwischen 8,0 und 9,7 Personen (1980, S. 210). Dies entspricht in etwa der durchschnittlichen Haushaltsgröße, die nach der Volkszählung von 1859 für das ganze Gouvernement berechnet wurde. Er sieht daher für dieses Gebiet wie überhaupt für die benachbarten Gouvernements im Süden die Aussage Haxthausens über die Dominanz der bäuerlichen Großfamilie bestätigt und charakterisiert diese als patriarchalischen, multifokalen Verwandtschaftsverband Für die Zentralregion verweist er hingegen auf die niedrigeren Durchschnittswerte, die sich aus den Volkszählungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergeben. Die aus dem Untersuchungsmaterial für ländliche Gebiete der Provinz Jaroslavl' berechneten Daten bestätigen diesen Befund Die durchschnittliche Haushaltsgröße beträgt hier 1762/63 5,2 Personen. Die Unterschiede zwischen Bauern und Hofgesinde fallen diesbezüglich kaum ins Gewicht Bei ersteren ist der Durchschnittswert 5,1, bei letzteren 5,3 Personen. Dabei kommt freilich der Unsicherheitsfaktor dazu, ob die gerade beim Hofgesinde ziemlich häufigen Einzelpersonen auch tatsächlich einen gesonderten Haushalt gebildet haben. Trifft dies nicht zu, so müßten etwas höhere Durchschnittswerte angenommen werden. Ahnliche Unsicherheitsfaktoren gelten für die dritte im Quellenmaterial faßbare Großgruppe, nämlich die Fabriksleibeigenen. Da sich hier besonders viele Einzelpersonen als Familienreste finden, beträgt in dieser Gruppe 156
die durchschnittliche Familiengröße nur 3,8 Personen. Die Masse der Bevölkerung des Gouvernements machten freilich die Leibeigenen auf den ländlichen Adelsgütern aus. Daß diesbezüglich die aus dem vorliegenden Sample berechneten Werte für das ganze Gebiet charakteristisch sind, zeigen Daten aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert Nach Semevskij (1, 1903, S. 320) betrug damals die durchschnittliche Zahl der „Seelen" pro Haus in der Provinz Jaroslavl' 2,8. Rechnet man die Frauen mit einem etwa gleichhohen Durchschnittswert dazu, so ergibt sich daraus eine nur wenig über dem Schnitt von 1762/63 liegende Zahl der Personen pro Haushalt Zur Mitte des 19. Jahrhunderts hin zeigt sich eine deutliche Zunahme. Nach Haxthausen (1,1847, S. 193) betrug die durchschnittliche Familiengröße in sechs Kreisen des Gouvernements Jaroslavl' 6,7 Personen. In Hinblick auf solche Zahlen stellt sich die Frage, ob es berechtigt ist, für die hier untersuchte Region um die Mitte des 18. Jahrhunderts von einem Vorherrschen von Großfamilien zu sprechen. Im Verhältnis zu Durchschnittswerten aus anderen Gebieten Osteuropas sind die Zahlen relativ niedrig. Das gilt vor allem im Vergleich zum Baltikum, wo Plakans für eine Reihe von Gütern im ausgehenden 18. Jahrhundert Mittelwerte zwischen 12,1 und 18,8 Personen pro Haushalt feststellen konnte (Plakans 1975 a, S. 632). Aber auch die Berechnungen Czaps für Rjazan' liegen deutlich darüber. Hingegen zeigt ein Vergleich mit der mittleren Haushaltsgröße in verschiedenen Gebieten West- und Mitteleuropas, wie sie Laslett (in Laslett/Wall 1972, S. 61) zusammengestellt hat keine besonders starken quantitativen Unterschiede. Dies trifft umso mehr zu, wenn man einkalkuliert, daß Laslett Gruppen von Mitbewohnern in der Hausgemeinschaft in der Regel als selbständige Haushalte gerechnet hat, was die Durchschnittswerte besonders tief erscheinen läßt Für den österreichischen Raum, für den in ländlichen Regionen eine Ausgrenzung der sogenannten „Inwohner" aus dem Verband der bäuerlichen Hausgemeinschaft nicht berechtigt erscheint (zur Abgrenzung Mitterauer 1973, S. 207 ff.; 1975 b, S. 232 ff.), ergeben sich durchschnittliche Personenzahlen pro Bauemhof, die deutlich über denen der hier untersuchten russischen Gebiete liegen. In der großen Gebirgspfarre Abtenau in Salzburg wurden etwa auf dieser Grundlage für das Jahr 1632 7,6, für das Jahr 1790 7,7 Personen pro Hausgemeinschaft berechnet (Mitterauer/Sieder 1977, S. 45). Auch in der bäuerlich dominierten Pfarre Berndorf lag 1649 der Schnitt bei 7,7 Bewohnern pro Haus. Und selbst in der von unterbäuerlichen Bevölkerungsgruppen ge157
prägten Pfarre Dorfbeuern ergab sich 1648 ein Wert von 5,9 und 1671 von 5,8 (Mitterauer 1973, S. 179).
Komplexität der Familien Ginge man von der durchschnittlichen Haushaltsgröße aus, wie das in der historischen Familienforschung so häufig geschieht, so müßte man feststellen, daß die ländlichen Familienverhältnisse in Jaroslavl' denen in Mittel- und Westeuropa näherstehen als denen in anderen Regionen des russischen Reichs. Eine solche rein quantifizierende Betrachtungsweise wird aber einer typologischen Analyse von Familienstrukturen sicher nicht in zureichender Weise gerecht. Durchschnittliche Haushaltsgrößen stellen bloß einen ersten, ganz groben Indikator dar, von dem ausgehend nach weiteren differenzierenden Kriterien gefragt werden muß. Der Begriff „Großfamilie" ist so unscharf, daß mit ihm eigentlich gar nicht operiert werden sollte. Neben der Aussage über rein numerische Gegebenheiten erscheinen mit ihm noch ganz andere Bedeutungsinhalte verbunden, etwa um Verwandte erweiterte Familienformen, Familien mit besonderer Generationentiefe oder komplexe Familienstrukturen, bei denen zwei oder mehrere Gattenpaare gegeben sind Bezieht man Kriterien der Generationentiefe bzw. der Komplexität der Familienverbände im Gebiet von Jaroslavl' in die Analyse mit ein, so ergibt sich sofort ein klareres Bild - sowohl im Vergleich zu mittel- und westeuropäischen Verhältnissen als auch zu solchen in anderen Gebieten des russischen Reichs: Tafel 1: Generationentiefe und Komplexität von Familien Gebiet von Jaroslavl' 1762163 (Angaben in Prozent)
im
1 Gene- 2 Gene- 3 Gene- einfach erweitert komplex ration rationen rationen
Bauern Hofgesinde Landbevölkerung insges. Leibeigene der Fabriken
20,1 20,2 20,2 30,4
54,0 56,5 54,9 56,3
25,9 23,4 25,0 13,3
47,1 58,5 51,1 70,4
21,3 11,7 17,9 8,9
31,6 29,8 31,0 20,7
Laslett (1977b, S. 227ff.) hat analoge Werte für verschiedene Regionen Europas zusammengestellt Der Vergleich mit West- und Mitteleuropa zeigt zunächst eine relativ hohe Häufigkeit von Drei158
generationenfamilien. Weiters fällt der starke Anteil an erweiterten Familien auf. Vor allem aber liegt der Prozentsatz der komplexen Familien, die sich um zwei oder mehrere Gattenpaare gruppieren, sehr deutlich über den Vergleichswerten in West- und Mitteleuropa Gewisse Parallelen zeigen sich mit Daten, die aus einigen ländlichen Gemeinden Ungarns und Italiens referiert werden. Die Tendenz weist jedoch in die Richtung der in Estland, Kurland und in dem großrussischen Gouvernement Rjazan' erhobenen Werte. Der Anteil der Dreigenerationenfamilien beträgt in diesen drei Regionen - freilich zu sehr unterschiedlichen Erhebungszeitpunkten 26%, 43,3% und 64,9% (letztere Zahl inklusive Vieigenerationenfamilien), der der komplexen Familien 41%, 64,1% und 72,6% Gerade der multifokale Charakter von fast einem Drittel aller ländlichen Familien im Untersuchungsgebiet von Jaroslavl' zeigt deutlich, daß diese durchaus in den Kontext der in anderen Gebieten Rußlands dominanten Familienmuster passen. Dies überrascht umso mehr, als die weitaus geringere Personenzahl pro Haus eine derart komplexe Struktur kaum erwarten läßt Die komplexe, multifokale Familie begegnet im hier untersuchten Quellenmaterial der Provinz Jaroslavl' am häufigsten unter den „Bauern". Sie ist aber auch beim Hofgesinde sehr stark repräsentiert. Bemerkenswert erscheint jedoch vor allem, daß auch unter den Fabriksleibeigenen mehr als ein Fünftel aller Familien diesem Typus zuzurechnen sind. Die Familienformen sind hier in vielen Fällen durchaus denen der Leibeigenen auf den Adelsgütern analog strukturiert Einige Beispiele (siehe Tafel 2, S. 160) mögen dies illustrieren. Daß die komplexe, multifokale Familie keineswegs nur auf die ländlichen Leibeigenen des Adels beschränkt war, zeigen auch die Verhältnisse unter den Posad-Leuten von Jaroslavl'. Bcakte Prozentzahlen des Anteils bestimmter Familientypen lassen sich hier nicht berechnen, weil - wie schon einleitend erwähnt wurde - die Revisionslisten in dieser Gruppe nur die Männer anführea Die Grundstruktur der Familie wird jedoch auch so faßbar. Es zeigt sich, daß hier häufig sowohl Väter mit einem verheirateten Sohn und dessen Kindern als auch verheiratete Brüder mit ihrer Nachkommenschaft in Hausgemeinschaft zusammenlebtea Eine exakte Zahl der Gattenpaare läßt sich nicht angeben. Mitunter begegnen jedoch auch mehrere Söhne in einem Alter, in dem man rechnen darf, daß sie bereits verheiratet waren. Freilich scheint eine Tendenz zu kleineren Familiengruppen bestanden zu habea Anders als in der Landbevölkerung finden sich in keinem Haushalt mehr als zwei 159
Tafel 2: Familienformen von Fabriksleibeigenen in Jaroslavl'
Eltern-Kind-Gruppen - sei es, daß sie der gleichen oder zwei aufeinanderfolgenden Generationen angehören. Bei einem darüber hinausgehenden Anwachsen der Familie dürfte man eine Teilung vorgenommen haben. Die Verbreitung der komplexen, multifokalen Familie scheint so allgemein gewesen zu sein, daß wir ihr sogar unter der Dienerschaft in den Stadthäusern begegnen. Bei insgesamt neun angeführten Häusern ist das freilich nur in einem der Fall. In zwei weiteren finden wir jedoch erweiterte Familienformen des Hausgesindes. Die Grundstruktur der komplexen Familie ist in allen diesen verschiedenen Milieus die gleiche: Der Zusammenhang der Familie wird durch Personen helgestellt, die untereinander in männlicher Linie verwandt sind Nie begegnet eine verheiratete Schwester oder Tochter mit ihrem Gatten bzw. ein nach dem Tod der Frau im Haus verbleibender Schwager oder Schwiegersohn. Stets leben Väter und Söhne, leibliche Brüder, Onkel und Neffen bzw. Cousins mit ihren Frauen und Kindern in Haushaltsgemeinschaft zusammen. Diese patrilineare Grundstruktur findet sich in den komplexen Familien genauso wie in den erweiterten. Sie stellt ein für alle erfaßten Bevölkerungsgruppen charakteristisches Merkmal dar. 160
Senioratsprinzip Die patrilineare und multifokale Grundstruktur haben die Familien des hier behandelten zentralrussischen Untersuchungsgebietes mit denen in vielen anderen Gebieten Ost- und Südosteuropas gemeinsam. Sowohl das Zusammenleben mit verheirateten Söhnen als auch das Beisammenbleiben der Brüder nach dem Tod des Vaters begegnet in diesem Raum häufig. Die „Zadruga" des Balkangebiets ist dafür das klassische Beispiel. In Mittel- und Westeuropa kommen solche Familienformen gelegentlich vor, sind hier aber eher eine seltene Erscheinung (Mitterauer 1979 a, S. 93 ff.). Zum Unterschied von der .joint family", in der mehrere Söhne bzw. Brüder verheiratet sind, ist in der Stammfamilie stets nur ein einziger Sohn zu Lebzeiten des Vaters verehelicht Bei der Stammfamilie im engeren Sinne, wie sie von Le Play definiert wurde, bleibt die Autorität bis zum Tod des Vaters in dessen Hand. Eine andere Form der komplexen Familie kommt durch die bäuerliche Institution des Ausgedinges zustande (Gaunt 1980, S. 156 ff.). Hier übeigibt der alte Vater noch zu Lebzeiten Autoritätsposition und Besitzrechte an den Sohn, der sich in Anschluß an den Übeigabeakt verheiratet In Mittel- und Westeuropa ist dieser Typus der komplexen Familie der weitaus häufigste. Im österreichischen Raum kam es beispielsweise fast ausschließlich durch die bäuerliche Ausgedingeregelung zur Entstehung komplexer Dreigenerationenfamilien. Eine dem Ausgedinge veigleichbare Einrichtung scheint es in der ländlichen Bevölkerung Rußlands nicht gegeben zu haben. Zwar soll es in manchen Gebieten voigekommen sein, daß das Familienoberhaupt im Falle anhaltender Erkrankung im Alter die Autoritätsposition abgegeben hat (Shinn 1961, S. 605; Kovalevsky 1891, S. 54), in der Regel behielt er diese jedoch bis zu seinem Tod (Kosven 1963, S. 72). Dementsprechend finden sich in den untersuchten Quellen stets die ältesten der männlichen Mitglieder der Familie an deren Spitze angeführt. In der Autoritätshierarchie herrschte strenges Senioratsprinzip (Kosven 1963, S. 83, bezüglich Modifikationen Efimenko 1884, S. 63). Gegenüber den Strukturen mitteleuropäischer Mehlgenerationenfamilien ergibt sich daraus ein wichtiger Unterschied. Während in diesen das Familienoberhaupt in der Regel der zweiten Generation angehörte, war in Rußland sein Platz stets in der ersten. In Mitteleuropa scheint die Übertragung der Autoritätsposition vom Altbauern auf dessen Sohn bzw. einen anderen verwandten 161
oder nichtverwandten Erben in ihrer Wurzel auf eine grundherrliche Regelung zurückzugehen (Mitterauer/Sieder 1977, S. 49, 195). Es bestand ein starkes ökonomisches Interesse seitens des Grundierren, daß der Bauernhof stets von einem Mann geführt würde, der im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte stand Das Senioratsprinzip mit seiner lebenslänglichen Autoritätsstellung findet sich eher in nicht grundherrschaftlich oiganisierten Gebieten bzw. bei relativ freien bäuerlichen Leiheformen. In Hinblick auf solche unterschiedlichen Bedingungen in der Agrarverfassung stellt sich die Frage, wieso sich in Rußland trotz der starken herrschaftlichen Abhängigkeit der ländlichen Bevölkerung das Senioratsprinzip so klar halten konnte. Es handelt sich hier wohl um Traditionen, die noch vor die Zeit der vollen Ausbildung der bäuerlichen Leibeigenschaft zurückreichen. Das Senioratsprinzip muß in der Ordnungsvorstellung der ländlichen Bevölkerung jedenfalls sehr stark verankert gewesen sein, um sich gegenüber gegenläufigen Interessen der Grundherren halten zu können. Wie tief solche Vorstellungen im Bewußtsein verankert waren, zeigt das russische Sprichwort: „Wenn die Erde die Eltern empfängt, empfangen die Kinder ihre Freiheit" (P. Dunn 1977, S. 553). Die Pflicht, sich seinen Eltern zu unterwerfen, erlosch prinzipiell erst mit dem Tod. Mit dem Senioratsprinzip einerseits, dem Zusammenleben mit verheirateten Brüdern und deren Nachkommen andererseits hängt eine andere Erscheinung der russischen Familienstruktur zusammen, die in dieser Form in Mitteleuropa keine Entsprechung findet. Haxthausen berichtet von seiner Reise durch das Gouvernement Jaroslavl', daß er eine Bauernfamilie mit eigenartiger Struktur aufsuchte (1,1847, S. 109). Oberhaupt der Familie war ein alter, seit zwanzig Jahren verwitweter Mann. Ihm zur Seite stand eine alte Frau, die mit ihm nur entfernt verwandt war. Auch sie war verwitwet. Männlicher und weiblicher Haushaltsvorstand („bol'sak" und „bol'sucha") mußten also nicht notwendig miteinander verheiratet sein (Kovalevsky 1891, S. 55). In den analysierten Quellen aus dem Gouvernement Jaroslavl' sind diese beiden familialen Rollen nicht verzeichnet Die Struktur der Familien zeigt jedoch, daß auch hier mit solchen Konstellationen zu rechnen ist E n Beispiel aus dem Dorf Afonasovo (siehe Tafel 3, S. 163) möge dies illustrieren: Von drei verheirateten Brüdern, die hier gemeinsam in einem Familienverband verblieben waren, lebte zum Zeitpunkt der Erhebung nur mehr der jüngste. Ihn darf man dem Senioratsprinzip entsprechend als Haushaltsvorstand vermuten. Er war jedoch ver162
Tafel 3: Familie des Fedor Savel'ev aus dem DorfAfonasovo
witwet Als Hausfrau wird man in dieser Gemeinschaft wohl weder seine dreiundzwanzigjährige ledige Nichte noch seine - ebenfalls ledige - zweiundzwanzigjährige Großnichte annehmen dürfen, sondern die fünfunddreißigjährige Gattin seines Neffen. Familienformen, in denen offenbar die Schwägerin oder die Schwiegertochter die Hausfrauenrolle ausgeübt haben, begegnen in den untersuchten Quellen häufig.
Das Problem der Wiederverehelichung In bäuerlichen Hausgemeinschaften des österreichischen Raumes aus der gleichen Zeit konnten solche Konstellationen nicht zustande kommen. Ganz ausnahmsweise begegnen in Gebieten ohne Ausgedinge Schwiegertöchter in der Hausfrauenrolle. Schwägerinnen oder Gattinnen von männlichen Seitenverwandten in dieser Funktion fehlen vollkommen. In den relativ seltenen Fällen von verwitweten Bauern nahm eine erwachsene Tochter, mitunter aber auch eine Magd die Aufgaben der Hausfrau wahr. Dabei dürfte es sich jedoch im allgemeinen nur um Übelgangsregelungen gehandelt haben. Im Normalfall hatte der Bauer verheiratet zu sein. Starb seine Frau, so mußte er sich binnen kurzem wiederverehelichen. War er dazu zu alt, so übergab er den Hof an seinen Erben, der dann seinerseits heiraten mußte. Ähnliches galt für die verwitwete Bäuerin. Auch sie stand vor der Wahl, sich neuerlich zu verehelichen oder den Hof zu übergeben. Übergangslösungen kamen hier freilich häufiger vor als bei verwitweten Bauern. Aufgrund der ökonomischen Notwendigkeiten bäuerlicher Arbeitsteilung, aber auch in Hinblick auf die Sozialisationsaufgaben der Familie mußten die beiden zentralen Rollen stets besetzt sein. In den zumeist nicht 163
komplexen Familienhaushalten des österreichischen Raums bedeutete das in der Regel Wiederverehelichungszwang. An der Spitze der bäuerlichen Familie stand daher hier im Normalfall ein Ehepaar. In den komplexen, multifokalen Hausgemeinschaften Rußlands war die Situation eine ganz andere. Im Fall der Verwitwung des Haushaltsvorstandes oder seiner Frau gab es noch andere erwachsene Personen in der Gruppe, die die ausgefallene Rolle ersetzen konnten. Ein Wiederverehelichungszwang war daher hier nicht in gleicher Weise gegeben. Dementsprechend hoch ist in den untersuchten Quellen die Zahl der Familien, die einen Witwer als Oberhaupt haben.7 Auch von Witwen geleitete Haushalte kamen vor - trotzdem die russische Familie streng männerrechtlich und patriarchalisch organisiert war. Im Gebiet von Jaroslavl' dürften sie sogar wegen des geringeren Umfangs der Familien und der dadurch bedingten geringeren Zahl erwachsener Männer pro Haushalt etwas zahlreicher gewesen sein als auf den von Czap untersuchten Gütern im Gouvernement Rjazan'. 8 Insgesamt aber überwogen die unter der Leitung eines Witwers stehenden Hausgemeinschaften die mit einer Witwe als Oberhaupt Auch in dieser Relation ergibt sich ein deutlicher Unterschied zu dem hier als Kontrast herangezogenen Material aus dem mitteleuropäischen Raum. Es ist naheliegend, daß in einer Gesellschaft, in der die Autoritätsposition im Haus lebenslänglich beibehalten wurde, das Wiederverehelichungsproblem des Hausvaters anders gelöst werden mußte als in einer Bevölkerung mit der Möglichkeit der Übergabe an einen Erben. Sollte die Ehe fruchtbar sein - und dies galt j a grundsätzlich als Ehezweck - , so waren altersmäßig einer Wiederverehelichung gewisse Grenzen gesetzt. Haxthausen berichtet von seinen Erkundigungen im Gouvernement Jaroslavl': „Allein die Sitte dieser Gegend duldet es nicht, und hält es für unanständig, daß ein Wittwer oder eine Witwe nach dem fünfzigsten Jahre wieder heirathe" (1, 1847, S. 209 ff.). O e s e Regel dürfte nicht ganz durchgehend befolgt worden sein. Vereinzelt begegnen in dem hier untersuchten Material Generationsabstände, die eine späte Zweitheirat des Hausvaters wahrscheinlich machen. So wurde dem Bauern Abram Semenov im Dorf Pankovo 1756 ein Sohn geboren, als er schon fünfundachtzig Jahre alt war. Ein weiterer folgte 1759 kurz nach seinem Tod im Alter von siebenundachtzig Jahren. Haxthausen selbst berichtet von einem achtzigjährigen Aufseher auf dem Gut Gorapjatnickaja, der ein etwa fünfjähriges Söhnchen hatte (1, 1847, S. 107). Auch in diesem Fall dürfte eine späte Zweitheirat des Mannes stattgefunden haben. Sicherlich handelt es 164
sich hier jedoch um Ausnahmefälle. In jüngeren Jahren dürfte freilich eine Wiederverehelichung des Hausherren keineswegs selten gewesen sein. Dies zeigt allein schon die bedeutende Rolle, die das Stiefmuttermotiv in der russischen Folklore spielt ( E D u n n 1978, S. 155 ff.). Eine Wiederverehelichung der verwitweten Hausfrau unter Verbleib in der bisherigen Hausgemeinschaft scheint im Gebiet von Jaroslavl' um die Mitte des 18. Jahrhunderts grundsätzlich ausgeschlossen gewesen zu sein. Im gesamten Untersuchungsmaterial begegnet ein einziger Fall, in dem ein Hausvater mit seinem Stiefsohn zusammenlebt Hier liegt offenbar eine Zweitheirat der verwitweten Mutter vor, wobei sich auch nicht sagen läßt, ob das Haus durch sie weitelgegeben wurde oder ob sie mit dem Sohn zuzog. Bezeichnenderweise begegnet dieser Fall im städtischen Milieu in einer Familie der Posad-Leute, bei denen die herkömmlichen Muster familialer Koresidenz vielleicht schwächer erhalten waren als in der traditionsbewußten Landbevölkerung. Daß dieser Fall wirklich singulär ist, zeigen die Filiationsangaben der Quellen, die stets ausdrücklich auf den leiblichen Vater Bezug nehmen. Eine Wiederverehelichung der Hausfrau unter Hereinnahme des zweiten Mannes und der aus dieser Ehe hervorgegangenen Kinder hätte einen Bruch mit dem Prinzip der Patrilinearität bedeutet, das nach den Quellen aus Jaroslavl' um die Mitte des 18. Jahrhunderts noch strikt eingehalten worden zu sein scheint. Für das von Czap untersuchte Material aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt dies nicht mehr in derselben Strenge. Obwohl auch in Misino im allgemeinen das Prinzip der Patrilinearität beachtet wurde, begegnen hier vereinzelt Stiefsöhne innerhalb der Hausgemeinschaft bzw. verwitwete Frauen, die bei einer Zweitheirat mit ihren Kindern das Haus verlassen (Czap 1980, S. 231 ff.). In Jaroslavl' fehlt hingegen nach den hier untersuchten Quellen die Hereinnahme von Angehörigen eines fremden Mannesstammes bzw. der Weggang von Witwen mit ihren Kindern völlig.9 Dies gilt auch für verwitwete Frauen, die noch nicht die Position der Hausfrau innehatten. Ein anschauliches Beispiel verwitweter Schwiegertöchter, die in der Hausgemeinschaft ihrer Männer verblieben (siehe Tafel 4, S. 166), möge das veranschaulichen: In dieser Familie aus dem Dorf Sedel'nicy, die zugleich die umfangreichste des ganzen Untersuchungsmaterials darstellt, lebten nicht weniger als vier Witwen, drei davon als Schwägerinnen des Familienoberhaupts bzw. Schwiegertöchter der Hausfraa Jedenfalls zwei von ihnen, nämlich die Gattinnen des zweiten und dritten 165
Tafel 4: Familie mit mehreren Witwen aus dem Dorf Sedel'nicy
Sohnes, waren zum Zeitpunkt der Verwitwung noch in einem Alter, das eine Zweitehe mit Hoffnung auf Nachkommenschaft nicht ausgeschlossen hätte. E n e solche Ehe wurde jedoch hier nicht eingegangen. Witwen und Kinder verblieben vielmehr im patrilinearen Familienverband. Diese Erscheinung ist im Untersuchungsmaterial keineswegs selten. Es finden sich unter solchen im Haus verbleibenden Witwen mitunter auch jüngere Frauen, die jüngste stand erst im Alter von siebzehn Jahren. Eine Zweitheirat war offenbar nur dann ohne Komplikationen möglich, wenn die erste Ehe kinderlos war oder die Kinder früh verstarben. Aber auch kinderlose Witwen begegnen gelegentlich im Haus des verstorbenen Gatten (vgl. Efimenko 1884, S. 78; Aleksandrov 1979, S. 47). Diese durch das Prinzip der Patrilinearität bedingte Einschränkung von Zweitheiraten verwitweter Frauen stellt einen auffallenden Gegensatz zu den Verhältnissen in Mittel- und Westeuropa vor. Gerade im österreichischen Raum war die Wiederverehelichung von Witwen unter Verbleib in der Hausgemeinschaft eine sehr häufige Erscheinung, die im 18. Jahrhundert noch weit verbreitet vorkommt, gegenüber dem 17. Jahrhundert aber damals schon deutlich zurückgegangen war. Da das Phänomen verheirateter Söhne hier im allgemeinen fehlt, handelte es sich zum überwiegenden Teil um Zweitheiraten von Hausfrauen bzw. weiblicher Familienvorstände. Durch ihre Wiederverehelichung gaben sie das Haus bzw. die Produktionsmittel der Familienwirtschaft an den zweiten Gatten weiter. Dies war durch die spezifischen Formen des ehelichen Güterrechts möglich, das der Frau einen wesentlichen Mitbesitz zugestand. Die Grundlage der häufigen Wiederverehelichung scheint also primär besitzrechtlicher Natur gewesen zu sein (Mitterauer 1973, S. 186 ff.). Daneben dürften in manchen Gegenden auch grundherrliche Interessen bei dieser Form des Besitzwechsels eine Rolle gespielt haben. Mitunter gingen durch mehrere Jahrzehnte, ja sogar durch mehr als ein Jahrhundert, Bauernhöfe oder Gewerbebe166
triebe infolge von Wiederverehelichung in einer Generation weiter (Mitterauer 1979 c, S. 116, 227). Die Auswirkungen der häufigen Wiederverehelichung auf die Familienformen waren bedeutsam. Bei Zweitheiraten von Witwen kam es häufig zu einem Zusammenleben mit einem viel jüngeren Mann (Sieder 1978, S. 177ff.). Die Mehrfachverehelichungen führten zu langen Reihen von Stiefgeschwistern, von denen dann die jüngsten mit den ältesten gar nicht mehr blutsverwandt waren, weil sie keinen Elternteil gemeinsam hatten. Auch zwischen Eltern und „Kindern" fehlte bei solchen Verhältnissen jede Blutsbindung - ein an und für sich paradoxer Sachverhalt (Mitterauer 1973, S. 174 ff.). Vor allem aber erscheint in der Reihe der Inhaber des Hauses immer wieder der Mannesstamm unterbrochen. Die Entstehung von Hausgemeinschaften als patrilineare Verwandtschaftsverbände wurde dadurch unmöglich gemacht Die Häufigkeit der Zweitheirat im Haus verbleibender Witwen erweist sich so in ihren Auswirkungen als einer der gravierendsten Unterschiede zwischen mitteleuropäischen Familienstrukturen und denen des hier untersuchten russischen Gebiets.10
Heiratsalter Dem in Österreich vorherrschenden und in Mitteleuropa weit verbreiteten Muster dieser Verbindung von häuslicher Autoritätsposition und Ehestand entspricht nicht nur die rasche Wiederverehelichung von Witwern und Witwen, sondern auch die baldige Heirat des übernehmenden Erben. Daß junge Bauern ledig bleiben, ist seltene Ausnahme. Ein Gleiches gilt für junge Handwerksmeister. Vor der Übernahme der Hausherrenstellung ist freilich beiden in der Regel die Heirat nicht möglich. Auch diese Entsprechung von Ehestand und Hausherrenposition fehlt im russischen Untersuchungsmaterial. Im Gegenteil: Eine Heirat zum Zeitpunkt der Übernahme dieser Position oder kurz danach scheint hier die Ausnahme gewesen zu sein. Der weitaus größte Teil der Männer Schloß ihre erste Ehe in einer Lebensphase, in der sie noch voll der hausrechtlichen Gewalt ihrer Vater unterworfen waren. Auch für junge Frauen war mit der Heirat in der Regel nicht die Übernahme der Hausfrauenrolle verbunden. Dazu kam es bloß bei Verwitwung des Schwiegervaters oder wenn die erste Heirat selbst mit einem Witwer geschlossen wurde. Der Regelfall war jedenfalls für ein 167
junges Paar die Unterstellung unter die Gewalt der Eltern des Bräutigams. Die Phase dieser hausrechtlichen Abhängigkeit von Sohn und Schwiegertochter konnte sehr lange dauern. Es ist das eine Phase des Lebens- bzw. Familienzyklus, die in Mitteleuropa im allgemeinen überhaupt nicht auftritt. Dafür gab es dort umso längere Wartezeiten im Ledigenstatus. Damit kommen wir zu der bereits einleitend angesprochenen Frage des Heiratsalters in Mittel- und Westeuropa einerseits, in Rußland andererseits. In der bäuerlichen Bevölkerung Mitteleuropas war der Zeitpunkt der Hochzeit im allgemeinen von bestimmten Bedingungen im Ablauf des Familienzyklus abhängig. Dies konnte entweder der Tod beider Eltern sein oder die Übergabe des Hofes, die sehr häufig mit dem Tod oder der Erkrankung eines Eltemteiles zusammenhing. Das Zusammenleben zweier gemeinsam wirtschaftender Paare suchte man hier ja im allgemeinen zu vermeiden. Dadurch kam es in der Regel zu einem relativ hohen Heiratsalter der Übernehmer. In Rußland scheint es solche familienzyklischen Bedingungen des Heiratstermins - jedenfalls nach den hier untersuchten Quellen - nicht gegeben zu haben. Das Zusammenleben mehrerer Paare in einer umfassenden Verbandsfamilie wurde ja nicht vermieden, sondern im Gegenteil angestrebt Nur bei einer größeren Zahl von Söhnen bzw. Brüdern dürfte es mitunter zu Heiratsbeschränkungen gekommen sein. Bei dritten oder vierten Söhnen läßt sich gelegentlich beobachten, daß sie etwas länger ledig blieben als ihre älteren Brüder. Im allgemeinen scheint jedoch die Heirat nicht von einer besonderen Bedingung im Ablauf des Familienzyklus abhängig gewesen zu sein, sondern von der Erreichung eines bestimmten Lebensalters. Das Mindestalter bei der Heirat war von der orthodoxen Kirche sehr niedrig angesetzt Es betrug im 18. Jahrhundert für Frauen dreizehn und für Männer fünfzehn Jahre (Atkinson 1978, S. 30; Smith 1977, S. 81). Diese Altersgrenzen reichen sehr weit zurück und lagen zur Zeit des Kiewer Reichs um ein Jahr tiefer. Trotzdem wurden sie mitunter noch unterboten. Im hier untersuchten Gebiet scheint dies kaum der Fall gewesen zu sein. Der jüngste in die Revision eingetragene Ehemann zählte fünfzehn Jahre. Dies ist jedoch ein Ausnahmefall. In den folgenden Jahigängen setzen nach der Alterspyramide der Landbevölkerung die verheirateten Männer erst unter den Achtzehnjährigen ein. Bei den Frauen erscheinen bereits unter den zwölf Sechzehnjährigen zwei verehelicht Schließt man aus den Altersabständen zwischen Müttern und Kindern auf das mutmaßliche Heiratsalter, so muß freilich angenommen wer168
den, daß vereinzelt Mädchen schon mit zwölf - ja sogar schon mit elf - Jahren verehelicht wurden. E n e n Unsicherheitsfaktor bilden dabei freilich die gerade bei Frauen recht ungenauen Altersangaben, die mit zunehmendem Alter verstärkt auftreten. E n Übergewicht der Verheirateten gegenüber den Ledigen tritt in den untersuchten Landgebieten bei den Frauen unter den Bnundzwanzigjährigen, bei den Männern erst unter den Dreiundzwanzigj ährigen auf. Dies ist für Verhältnisse im großrussischen Raum offenbar ein relativ hohes Heiratsalter. Zur Veranschaulichung seien diesbezüglich Verehelichtenquoten nach Altersklassen in der Landbevölkerung von Jaroslavl und aus Rjazan' (nach Gzap 1980, S. 205) einander gegenübergestellt: Tafel 5: Anteil der Verheirateten nach Altersgruppen Männer 15-19 20-24 25-29 Miäino 1814 Miäino 1834 Miäino 1858 Jaroslavl' 1762/63 Landbevölkerung
Frauen 15-19 20-24 25-29
54,7 19,2 43,2
94,7 85,7 95,1
96,4 95,8 98,0
34,4 30,7 62,9
90,3 86,8 100,0
97,6 91,3 96,3
13,0
52,4
77,3
25,8
65,2
95,9
Nimmt man die aus Rjazan' referierten Daten als typisch für großrussische Verhältnisse, so erscheint das osteuropäische Heiratsverhalten in den untersuchten Landgebieten von Jaroslavl' in deutlich abgeschwächter Form gegeben. 11 Von Kinderheiraten kann hier keinesfalls die Rede sein. Es fehlt auch jeder Hinweis auf eine andere Erscheinung, die im Zusammenhang mit niedrigem Heiratsalter aus Rußland berichtet wird. Aus wirtschaftlichen Gründen sollen häufig Knaben sehr frühzeitig mit erwachsenen Frauen verheiratet worden sein. Intention solcher Heiraten war es einerseits, eine zusätzliche vollwertige Arbeitskraft in die Familie zu bringen, andererseits durch ein zusätzliches Ehepaar für die Familie bei der Umverteilung des Gemeindelandes einen größeren Anteil zu erhalten (Smith 1977, S. 82; Haxthausen 1, 1847, S. 129). In Hinblick auf solche ungleichen Heiraten berichtet Wichelhaus in seiner Beschreibung Moskaus, er habe „dort häufig kräftige Weiber von vierundzwanzig Jahren gesehen, die ihre angetrauten Ehemänner (oder Ehemännchen) von sechs Jahren auf den Armen umhergetragen" (zitiert nach Haxthausen 1, 1847, S. 129). Für das hier untersuchte Gebiet liegen keine Hinweise auf solche Verhältnisse vor. 169
Große Altersunterschiede im Gefalle von der Frau zum Mann finden sich in der Revision nicht. Zwar sind gerade in früh geschlossenen Ehen mitunter die Frauen älter, es handelt sich dabei aber stets nur um einen geringen Abstand von wenigen Jahren. So wird es im Untersuchungsgebiet auch kaum zu jenen Folgen altersungleicher Heiraten gekommen sein, die Haxthausen so drastisch schildert: „Bei diesen frühen Heirathen, wo einem Knaben, einem Kinde, ein junges mannbares Weib angetraut wurde, entwikkelte sich meistens und in der Regel ein skandalöses Verhältnis. Der Schwiegervater nämlich lebte dann mit der Schwiegertochter im Concubinat" (Haxthausen 1, 1847, S. 129). Dieses sogenannte „snochaCestvo" war sonst in vielen Gebieten Rußlands stark verbreitet (Kosven 1963, S. 75). Die bedingenden Faktoren des unterschiedlich hohen Heiratsalters in Mittel- und Westeuropa einerseits, in Ost- und Südosteuropa andererseits sind in der Forschung eine zwar viel diskutierte, im Grund aber nach wie vor offene Frage. Sicher liegt in diesem Problembereich der Schlüssel für die Erklärung einer Vielzahl von Erscheinungen, um die sich historische Demographie und Familienforschung bemühen. Aus den hier angestellten Vergleichen kann dazu nur ansatzweise und in marginaler Form ein kleiner Beitrag versucht werden. Primär muß der Versuch einer Erklärung sicher nicht bei den Gegebenheiten im osteuropäischen Raum ansetzen. Hajnal hat in seiner klassischen Studie gezeigt, daß in einem über Europa hinausgehenden Vergleich nicht das niedrige Heiratsalter des Ostens, sondern das hohe Mittel- und Westeuropas die Abweichung darstellt Freilich kann der familienstrukturelle Kontext, in dem das osteuropäische Heiratsverhalten steht, dazu beitragen, aus dem Kontrast die Intention der westlichen Heiratsstrategie besser zu verstehen. Das niedrige Heiratsalter des Ostens ist - wie gezeigt wurde - aufs engste mit dem Muster der multifokalen komplexen Familienform verbunden. Gerade diese aber wollte man offenbar im Westen möglichst weitgehend vermeiden. Der zeitliche Zusammenhang der Heirat mit familienzyklischen Zäsuren wie Tod des Vaters oder Übergabe des Hauses an den Erben weist in diese Richtung, ebenso aber das weitgehende Fehlen eines Zusammenlebens verheirateter Brüder unter einem Dache. Warum diese Vermeidungsstrategien in bestimmten Räumen und zu bestimmten Zeiten betrieben wurden, wäre nun weiter zu hinterfragen. Ein zentraler Ansatz für die Erklärung solcher Erscheinungen liegt wohl in dem jeweils zur Verfügung stehenden Nahrungsspielraum. 170
Geht man davon aus, daß weniger das niedrige Heiratsalter osteuropäischer Regionen als das hohe Mittel- und Westeuropas einer besonderen Erklärung bedarf, so kann doch gefragt werden, welche Faktoren im Osten zur Erhaltung und Intensivierung des spezifischen Heiratsverhaltens beigetragen haben könnten. Sicher spielt dabei im russischen Raum eine Rolle, daß das System der Umverteilungsgemeinde in der wechselnden Landzuteilung an Familien nach der Zahl der zusammenlebenden Ehepaare eine frühe Verehelichung begünstigte (Czap 1980, S. 206). Diese Erklärung trifft freilich nur auf die bäuerliche Bevölkerung zu. Wir haben jedoch aus den Revisionen von Jaroslavl' gesehen, daß gleiche Familienformen sowie das damit korrespondierende Heiratsalter auch beim Hofgesinde des Adels sowie bei den Fabriksleibeigenen zu finden sind, bei denen die Umverteilung von Land als Anreiz zur Heirat keine Rolle gespielt haben kann. Ahnliches gilt für die städtischen Posad-Leute. Die spezifische Agrarverfassung wird daher als alleiniger Erklärungsgrund nicht ausreichen. Ohne den Anspruch auf eine Lösung des Problems erheben zu können, darf auf zwei Punkte hingewiesen werden. Ein Vergleich der dritten Seelenrevision von Jaroslavl' mit der zweiten, die nur siebzehn Jahre zurücklag, zeigt, daß trotz der komplexen Familienstruktur mit mehreren Ehepaaren eine nicht geringe Zahl von Familien in dieser Zeitspanne ausgestorben sind. Die Sterblichkeit - vor allem bei den Kleinkindern - war offenbar enorm hoch. Bestand ein Interesse an der Erhaltung der Familie, so mußte eine möglichst große Zahl von Kindern gezeugt und dementsprechend früh geheiratet werden. Dabei ging es primär um die Geburt von Söhnen (vgl. Melnikow 1901, S. 55), da ja nur sie imstande waren, die Familie fortzusetzen. Gesellschaften mit besonders hoher Sterblichkeit tendieren aus Gründen der Selbsterhaltung zu ausgeprägtem Fruchtbarkeitsdenken. Daß solches Fruchtbarkeitsdenken in der russischen Landbevölkerung gegeben war, illustriert nicht zuletzt das oben referierte Zitat von Haxthausen (vgl. dazu oben S. 155, siehe auch Martynova 1978, S. 172). Das Interesse an früher Heirat und dementsprechend hoher Fruchtbarkeit mußte in erster Linie das Heiratsalter der Frauen betreffen. Hier kam noch ein weiterer Aspekt hinzu. Nach einem alten russischen Bauemsprichwort hielt man Entehrung und Schande für umso wahrscheinlicher, je länger ein Mädchen unverheiratet blieb (Czap 1980, S. 206). Gesellschaften, in denen die Viiginität einen hohen Wert darstellt, tendieren ebenfalls zu früher Heirat Obwohl in dem hier behandelten Gebiet der Provinz Jaroslavl' das 171
Heiratsalter der Frauen deutlich über dem Alter der Geschlechtsreife lag, findet sich in den Quellen kein einziges uneheliches Kind einer ledigen Frau. Die drei in der Revision verzeichneten illegitimen Kinder stammen in zwei Fällen von Witwen, im dritten von der in der Familie des Schwiegervaters verbliebenen Gattin eines geflohenen Hofknechts. 12 Das Fehlen unehelicher Kinder von ledigen Frauen stellt einen nicht unwesentlichen Unterschied gegenüber den Familienverhältnissen in ländlichen Populationen Mitteleuropas dar, insbesondere wenn man wiederum mit dem österreichischen Raum vergleicht 13 Es deutet wohl auf eine recht hohe Wertschätzung der Virginität im Untersuchungsgebiet, die wiederum einer der Gründe gewesen sein könnte, warum man hier Mädchen relativ früh verheiratete. Die Wurzel eines solchen Wertmusters in der kulturellen Tradition dieses Raumes bleibt freilich dann ihrerseits einer Erklärung bedürftig.
Generationenabstände In Hinblick auf das niedrige Heiratsalter von Männern und Frauen überrascht es, daß in der Revision von 1762/63 im Untersuchungsgebiet kein einziger Fall einer Vieigenerationenfamilie auftritt. Zwar lebten in mehreren Hausgemeinschaften verheiratete Enkel keiner von ihnen war jedoch selbst bereits Vater. Auch die Eintragungen über die Entwicklung der Familien seit der letzten Revision geben keine Hinweise auf das Vorkommen einer solchen Generationentiefe. In einem einzigen Fall läßt sich erkennen, daß ein alter Bauer noch die Geburt seines Urenkels erlebt hatte; er starb jedoch schon kurz darauf. Dieses Bild weicht deutlich von den Ergebnissen Czaps für das Gut Misino ab. Hier bestanden im Jahre 1814 nicht weniger als 9,4 Prozent der Familien aus Angehörigen von vier Generationen (Czap 1980, S. 222). Zwar war in Misino in den Altersgruppen der Fünfzehn- bis Neunzehn- bzw. Zwanzig- bis Vierundzwanzigjährigen, wie gezeigt wurde (Tafel 5), ein größerer Anteil bereits verheiratet als in den ländlichen Gebieten von Jaroslavl', trotzdem dürfte dieser Unterschied in der Heiratshäufigkeit von Jugendlichen allein nicht ausreichen, um das völlige Fehlen von Viergenerationenfamilien zu erklären. Nachdem immerhin fast sechs Prozent der Bevölkerung ein Alter von über sechzig und mehr als zwei Prozent von über siebzig Jahren erreichte, wäre 172
es rein rechnerisch doch sehr wahrscheinlich gewesen, daß wenigstens einige dieser alten Leute ihre Urenkel erlebtea Betrachtet man die Altersabstände zwischen Vätern und ihren ältesten Kindern, so fällt auf, daß sie in einer Vielzahl von Fällen weit höher liegen als das mittlere Heiratsalter der Männer. Eine Erklärung für diese eigenartige Erscheinung könnte in der spezifischen Form der Arbeitsorganisation des Gebiets gesucht werden. Es wurde schon einleitend darauf verwiesen, daß viele der Leibeigenen auf den Adelsgütern einen wesentlichen Anteil des Lebensunterhalts ihrer Familien auswärts verdienen mußten. Haxthausen beschreibt diese Situation: „Eine höchst wichtige Quelle des Reichtums für dieses Gouvernement bildet aber unstreitig das Herumziehen einer großen Anzahl der Eingesessenen auf Arbeit und Verdienst in anderen Gouvernements des Reichs. Das Herumziehen im Innern des Gouvernements, welches doch beinahe die Größe des Königreichs Hannover hat, ist schon von großer Bedeutung, es fehlt aber an zuverlässigen Nachrichten über die Zahl der Wanderer und den Umfang des Wandems, auch entfremdet es natürlich die Leute nicht in dem Maße der Heimath, wenn sie acht, zehn bis fünfzehn Meilen weit von ihr sich aufhalten, als wenn sie achtzig bis hundert Meilen entfernt leben. In jenem Verhältnisse kommen sie doch im Jahre vier bis sechs Mal nach Haus, in diesem ist es viel, wenn sie alle Jahre ein Mal die Heimath sehen; die meisten bleiben mehrere Jahre von ihr entfernt" (1,1847, S. 203). In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts war diese als olchod bezeichnete Lohnarbeit in der Fremde sicher stärker ausgeprägt als um die Mitte des 18. Jahrhunderts (vgl. Efimenko 1884, S. 67). Die von Haxthausen aufgezählten Tätigkeitsbereiche reichen jedoch zum größten Teil schon weiter zurück. Ausdrücklich weist der Autor darauf hin, daß durch die lange Abwesenheit der Männer das Familienleben empfindlich gestört würde. Die Wanderarbeiter kamen natürlich in erster Linie aus den Reihen der jungen Männer, die dadurch oft jahrelang von ihren Gattinnen entfernt lebten. Dies könnte unter anderen ein Erklärungsgrund dafür sein, daß der Nachwuchs in den frühen Ehejahren eher gering war, wodurch sich der durchschnittliche Generationenabstand erhöhte. In dem stärker agrarisch orientierten Rjazan' spielte die Wanderarbeit keine so große Rolle, so daß hier die Ehen nicht nur früher geschlossen wurden, sondern auch früher fruchtbar waren. Ein anderer Faktor, der in Hinblick auf die großen Generationenabstände im Untersuchungsmaterial bedacht werden muß, ist die hohe Kindersterblichkeit Durch die westliche Literatur beeinflußt, 173
begann man gerade seit den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts die hohe Säuglingsmortalität zu diskutieren. Ein bekannter Wissenschaftler schätzte damals die Sterblichkeitsrate bis zum dritten Lebensjahr auf fünfzig Prozent (P. Dunn 1977, S. 536). Aber auch in den folgenden Lebensphasen waren die Überlebenschancen noch nicht sehr hoch. Haxthausen vermerkte in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts bei seiner Reise durch das Gouvernement Jaroslavl', daß kaum ein Drittel der Kinder das Mündigkeitsalter erreicht (Haxthausen 1,1847, S. 128). Die Ursachen für die hohe Säuglingssterblichkeit waren vielfach: mangelhafte medizinische Versoigung von Mutter und Kind, häufiger Verzicht auf die Hilfe einer Hebamme bei der Geburt, klimatische Bedingungen, rauhe Abhärtungssitten bei Kleinkindern, unzureichende oder falsche Ernährung der Säuglinge, strenge Fastenvorschriften der orthodoxen Kirche für Mutter und Kind, ein für die Gesundheit des Kindes höchst riskantes Taufritual etc. (P. Dunn 1977, S. 536 ff.). Obwohl durch die relativ frühe Heirat fast die ganze Fruchtbarkeitsperiode der Frau ausgenützt wurde, erreichten nur wenige der zahlreichen Kinder selbst das heiratsfähige Alter. Die hohe Kindersterblichkeit erscheint auch als ein entscheidender Grund dafür, daß trotz der komplexen und multifokalen Struktur der Familien im Untersuchungsgebiet die durchschnittliche Haushaltsgröße nicht allzu hoch lag. Für die Haushaltsgröße stellt ja der Faktor Kindersterblichkeit die wichtigste Variable dar (Wheaton 1975, S. 606). Hohe Kindersterblichkeit und lange Absenz der Männer infolge auswärtiger Erwerbsarbeit erklärt auch ein anderes Phänomen, das im Vergleich der Familienstrukturen des Untersuchungsgebiets mit mitteleuropäischen Verhältnissen auffällt: Die Altersabstände zwischen den einzelnen Geschwistern sind häufig sehr groß. Die durch das frühe Heiratsalter bedingten langen Geschwisterreihen, die oft noch durch eine Zweitheirat des Vaters erweitert wurden, waren von vornherein durch größere Geburtenintervalle charakterisiert, in die die hohe Mortalität weitere Lücken riß. Da die Brüder vielfach in Hausgemeinschaften beisammenblieben, fallen diese in späteren Jahren weiter zunehmenden Abstände besonders ins Auge. Mit der Heirat verließen die Schwestern das Elternhaus. Rekrutierung bzw. Versetzung durch den Grundherrn auf ein anderes Gut lichtete die Reihe der überlebenden Brüder. So kam es dann innerhalb einer Generation zu auffälligen Altersabständen. Das Beispiel einer Familie, in der zugleich auch die Generationenspanne recht beträchtlich ist (siehe Tafel 6, S. 175), möge diese Verhältnisse illustrieren: 174
Tafel 6: Familie des Bauern Grigorij Jakovlev im Dorf Dubovicy
Verwandtschaftsstruktur der Familien Das Verbleiben verheirateter Söhne bzw. Brüder im Elternhaus bewirkte, daß gewisse Grundmuster des Zusammenlebens verwandter Personen in den untersuchten Quellen immer wiederkehren. Ordnet man sie nach einem idealtypischen Ablaufschema, so kann man als erste Entwicklungsstufe den einfachen Kernfamilienhaushalt ansetzen, der nur aus der Gruppe von Eltern und unverheirateten Kindern besteht Dieser Typus ist in Hinblick auf die im Untersuchungsmaterial erkennbare Tendenz, allzu starkes Anwachsen der Haushalte zu verhindern, keineswegs selten. Er findet sich vor allem unter den Fabriksleibeigenen und unter den Posad-Leuten. Bei den vielfach versetzten und geteilten Gruppen des adeligen Hausgesindes in den Stadt- und Landhäusern kommt er häufiger vor als bei den Bauern. Die zweite Entwicklungsstufe bildet das Zusammenleben der Eltern mit einem und später dann mit zwei oder mehreren verheirateten Söhnen bzw. deren Nachkommen. Der Tod der Eltern führt zum dritten Entwicklungstyp, der Hausgemeinschaft von verheirateten Brüdern und deren Kindern. Durch Heirat der letzteren können sich solche Familienverbände auf drei Generationen erstrecken. Wird dann noch immer nicht geteilt, so entsteht nach dem Tod der Angehörigen der ältesten Generation eine Haushaltsform, die zunächst um Onkel und Neffen und schließlich um Cousins gruppiert ist Die letztere Konstellation ist im Untersuchungsmaterial selten. Freilich findet sich vereinzelt eine darüber noch hinausgehende fünfte Stufe, in der die Verwandtschaftsbindung über bereits verstorbene Cousins heigestellt wird (siehe Tafel 7, S. 176). 175
Tafel 7: Bauernfamilie aus dem Dorf Mar 'ino
Die hohe Komplexität vieler Familienformen führt dazu, daß Verwandtschaftspositionen auftreten, für die es schwierig ist, eine geeignete Bezeichnung zu finden. Eine Einschränkung bedeutet freilich die in Jaroslavl' um die Mitte des 18. Jahrhunderts noch streng eingehaltene patrilineare Grundstruktur. Es handelt sich stets um Brüder, Söhne, Neffen, Großneffen, Cousins erster und zweiter Linie bzw. deren Frauen. In aufsteigender Linie bedeutet das Senioratsprinzip eine Begrenzung. Väter oder Onkel des Haushaltsvorstandes können nicht vorkommen, sehr wohl hingegen Mütter desselben. In einem Fall begegnet auch eine ledig gebliebene alte Tante. Die Vielfalt der durch die Komplexität der Familien bedingten Verwandtschaftspositionen ist ein besonderes Charakteristikum der in Rußland feststellbaren Strukturtypen. Czap hat für das Gut Misino gezeigt, daß hier Schwiegertöchter häufiger auftreten als Gattinnen des Haushaltsvorstandes (Czap 1980, S. 225). Kaum ein anderes Phänomen könnte deutlicher den grundlegenden Unterschied gegenüber mitteleuropäischen Familienkonstellationen aufzeigen, in denen dieser Verwandtschaftsgrad fast überhaupt nicht vorkommt Die strikte Patrilinearität, die sich in den Hausgemeinschaften des Untersuchungsmaterials aus Jaroslavl' findet, ist in solcher Eindeutigkeit selbst für osteuropäische Familienverhältnisse bemerkenswert. Daß sich in den jüngeren Quellen aus dem Gouvernement Rjazan', die Czap untersucht hat, einige Abweichungen von diesem Prinzip finden, wurde schon erwähnt. Sie stellen freilich nicht in Frage, daß auch dort im Mannesstamm verwandte Personen die Grundstruktur der Familienverbände bildeten. Das von Hakans für Kurland untersuchte Quellenmaterial zeigt ebenfalls eine klare Dominanz patrilinearer Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der Hausgemeinschaften. Der Anteil von Verwandtschaftsbindungen, 176
die in weiblicher Linie vermittelt wurden, ist freilich dort nicht zu übersehen. In der Typologie der Verwandtschaftspositionen machen sie insgesamt 9,1 Prozent der erfaßten Fälle aus (Plakans 1975 a, S. 646 ff.). Selbst dort, wo das Prinzip der Patrilinearität in den Verbandsfamilienformen von Erbengemeinschaften etwas aufgelockert erscheint, ergeben sich daraus ganz andere Familienkonstellationen als aus der in Mitteleuropa so stark verbreiteten Sitte der Wiederverehelichung, die auf der Rechtsform der ehelichen Gütergemeinschaft basiert. Ein extremes Beispiel dieses Strukturtypus sei daher einem etwa gleichgroßen patrilinearen Familienverband des zentralrussischen Raums gegenübergestellt.
Tafel 8: Familien des „Kaiserbauerrt" Georg Mühlbacher in der Pfarre Dorfbeuern, Salzburg 1671, und des Bauern Andrej Gerasimov im Dorf Mar'ino, Jaroslavl' 1762
Trotzdem in beiden Fällen die sehr komplexe Verwandtschaftsstruktur der Familienverbände durch Todesfälle von Verbindungsgliedern unterbrochen wurde, ist das Ergebnis des Entwicklungsprozesses dieser Hausgemeinschaften ein ganz unterschiedliches. Im russischen Beispiel ist mit Ausnahme der einheiratenden Frauen 177
ein durchgehender Blutsverwandtschaftszusammenhang gegeben. Im österreichischen Beispiel hingegen stehen einander drei Gruppen und eine Einzelperson ohne irgendeine Blutsbindung gegenüben Das Bauernpaar ist mit dem Altenteiler und dessen minderjährigen Kindern nicht mehr blutsverwandt Beiden fehlen gemeinsame Vorfahren mit der verwandten Inwohnergruppe, innerhalb derer die Stieftochter wiederum eine Sonderstellung einnimmt Der Haushaltsvorstand ist ein einheiratender Mann, der eine neue Stammlinie beginnt, die mit der Familie des Altbauern nicht mehr unmittelbar zusammenhängt Die vermittelte Bindung ist durch eine Frau gegeben, die ihrerseits ebenfalls in die Familie eingeheiratet hat Beachtenswert erscheinen auch die Altersdifferenzen, die sich aus der mehrfachen Wiederverehelichung ergaben. Das Phänomen der Kontinuität einer Hausgemeinschaft durch die Wiederverehelichung der Frau erscheint als eines der markantesten Unterscheidungsmerkmale gegenüber den im russischen Untersuchungsmaterial konstitutiven Gestaltungsprinzipien der Familienverbände.
Nicht blutsverwandte Mitbewohner Die Betonung der grundsätzlich patrilinearen Struktur als entscheidendem Charakteristikum der Familienzusammensetzung im hier behandelten russischen Untersuchungsgebiet bedarf freilich einer gewissen Modifikation. Zwar zeigt die Revision von 1762/63 diesbezüglich nur zwei Ausnahmen, auf die bereits hingewiesen wurde, nämlich den Stiefsohn eines Posad-Mannes aus Jaroslavl' und das uneheliche Kind der Gattin eines geflohenen Sohnes, das in dessen Familie adoptiert wurde. Aus späterer Zeit ist freilich eine interessante Nachricht überliefert, die einer näheren Interpretation bedarf. Haxthausen besuchte 1843 im Governement Jaroslavl' eine bäuerliche Hausgemeinschaft, in der ein alter und bereits kinderloser Mann mit einer weitschichtig verwandten Frau, deren vierzehnjährige Tochter sowie dem Gatten seiner verstorbenen Tochter, dessen zweiter Frau und den aus dieser Ehe hervorgegangenen Kindern zusammenlebte (Haxthausen 1, 1847, S. 109). Auf den ersten Blick scheint dieser Fall den auf der Basis eines breiten Untersuchungsmaterials aus früherer Zeit getroffenen Feststellungen zu widersprechen. Es gab jedoch unter den russischen Bauern eine Form der familialen Integration, die eine Erklärung dieser besonderen Situation möglich macht Hatte der Hausvater nur eine 178
oder mehrere Tochter, jedoch keinen leiblichen Sohn, so konnte er einen Schwiegersohn in die Hausgemeinschaft aufnehmen, der dann die Kontinuität der Familie sicherstellte. Der Mann der Erbtochter mußte freilich in besonderer Form in die Familie adoptiert werden. Seine Bezeichnung als primak kommt von prinimat', d.h. „aufnehmen". Aber auch ohne Einheirat konnten bei Bedarf nichtverwandte Personen in die Hausgemeinschaft aufgenommen werden. Sie erhielten durch das primaiestvo hinsichtlich Eigentum und Eibe alle Rechte eines Familienmitglieds (Efimenko 1874, S. 66; Kosven 1963, S. 44; Aleksandrov 1979, S. 45; Goody 1976, S. 10). Bei dem von Haxthausen erwähnten Schwiegersohn des Bauern dürfte es sich um einen solchen primak gehandelt haben, der dann als Vollmitglied der Familie nach dem Tod der Haustochter ein zweites Mal heiratete. Wenn auch Parallelfälle im älteren Material aus Jaroslavl' fehlen, so ist doch nicht anzunehmen, daß diese sonst allgemein in Rußland verbreitete Einrichtung hier nicht vorkam. Haxthausen berichtet in seiner Beschreibung der Reise durch Jaroslavl' ganz allgemein von Formen der Ergänzung der Hausgemeinschaft durch Adoption (1, 1847, S. 109). Diese Institution bedeutet keineswegs eine Durchbrechung des Prinzips der Patrilinearität als bestimmenden Faktor der Familienstruktur. Im Gegenteil: sie ist als eine Bestätigung dieses die Haushaltsstruktur prägenden Systems anzusehen. Wenn nämlich über die Heirat mit der Tochter des Hauses hinaus die Herstellung einer künstlichen Verwandtschaft durch Adoption notwendig war, so beweist das deutlich, daß eine Bluts- oder Verwandtschaftsbeziehung in weiblicher Linie für die Integration in die Hausgemeinschaft nicht genügte. Dies zeigt ja auch der in der Revision von 1762/63 vermerkte Fall, bei dem das uneheliche Kind der Schwiegertochter ausdrücklich als adoptiert bezeichnet wird Ob das Prinzip der Adoption im Raum von Jaroslavl' auch auf Personen ausgeweitet wurde, die nicht in weiblicher Linie mit der Familie verwandt waren, läßt sich aufgrund der vorliegenden Quellen nicht feststellen. Generell kann jedoch gesagt werden, daß die Aufnahme in die Hausgemeinschaft durch Herstellen einer künstlichen Verwandtschaft vorkam, wenn eine dauerhafte Ergänzung der familialen Arbeitskräfte durch Auswärtige notwendig war (Smith 1977, S. 80; Kovalevsky 1891, S. 54). Gerade diese Ausnahmeregelung zeigt jedoch, daß der Arbeitskräftebedarf der Familienwirtschaft in der Regel ausschließlich durch verwandte Personen gedeckt wurde (Kosven 1963, S. 45). Darin liegt ein ganz grundlegender Unterschied zu den bäuerlichen Hausgemeinschaften des 179
mitteleuropäischen Raums. Hier erfolgte die notwendige Arbeitskräfteergänzung in erster Linie durch die Aufnahme von Gesinde. Knechte und Mägde waren zwar für die Zeit des Vertragsabschlusses in die Familie einbezogen, gehörten dieser jedoch nicht auf Dauer an. Für die Stellung im Haus war eine eventuelle Verwandtschaftsbindung zum Hausherrn oder zur Hausfrau im wesentlichen ohne Belange. Wie schon erwähnt, wurden selbst Brüder und Schwestern der Inhaber in den Quellen in der Regel nach ihrer innerhäuslichen Position als Knechte und Mägde bezeichnet Neben dem Gesinde dienten gelegentlich auch Inwohner zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs der Familienwirtschaft. Wieweit solche Inwohner in die bäuerliche Hausgemeinschaft integriert wurden, scheint regional und zeitlich sehr unterschiedlich gewesen zu sein. E n Gegenstück zu den für mitteleuropäische Großfamilien so charakteristischen Rollen des Gesindes und der Inwohner scheint in der russischen Landbevölkerung gefehlt zu haben. In den Revisionen begegnen keine Personen, die eine vergleichbare Funktion in der bäuerlichen Hausgemeinschaft gehabt haben könnten. Wie schon einleitend erwähnt wurde, besteht die Möglichkeit, daß dies mit dem besonderen Registrierungszweck dieser Quellen zusammenhängt Dagegen ist freilich zu bemerken, daß die Revisionen des baltischen Raums sehr wohl Dienstboten und Inwohner der Bauern verzeichnen (Plakans 1976, S. 354). Ergänzend lassen sich literarische Quellen heranziehen. Haxthausen verwendet zwar die Bezeichnung „Knecht" für jene Lohnarbeiter, die während der Sommermonate in den Landwirtschaften des Gouvernements Jaroslavl' aushalfen, weil die ansässigen Männer auswärts durch Handel, Transportwesen und Industrie beschäftigt waren;14 er vermerkt jedoch viel später bei der Beschreibung eines Bauerngutes im Dorf Voronina hoch im Norden: „Diese Wirtschaft war mir sehr interessant, weil sie das erste Beispiel einer auf gemietete Knechte und Mägde basierenden Landwirtschaft in Rußland war, die ich sah" (1, 1847, S. 261). Eine bäuerliche Dienstbotenhaltung, die den mitteleuropäischen Verhältnissen vergleichbar gewesen wäre, fehlte also nicht nur im Gouvernement Jaroslavl', sondern auch in den übrigen vom Berichterstatter bis dahin durchreisten Gebieten. Zum Unterschied von den Bauernhäusern war auf den zahlreichen Adelshöfen des Untersuchungsgebiets Gesinde vorhanden. Es handelte sich hier freilich in einem ganz anderen Sinn um Dienstboten als in mitteleuropäischen Haushaltungen. Während in Mitteleuropa Knechte und Mägde in der Regel ledige Jugendliche waren, die auf eine bestimmte Zeit aufgenommen wurden, lebte das 180
Hofgesinde auf Dauer an die Herrschaft gebunden. Wie schon gezeigt wurde, unterschieden sich die Familien dieser dvorovye ljudi nicht wesentlich von denen der ebenfalls leibeigenen Bauern. Mit den Dienstboten mitteleuropäischer Hauswesen läßt sich noch am ehesten das Personal der Stadthäuser vergleichen. Enige solcher Hauslisten sind ja im Untersuchungsmaterial erhalten. Sie zeigen, daß ein Großteil des Hausgesindes im Kinder- oder Jugendalter in Dienst genommen wurde und zunächst ledig war. Die meisten Dienstboten kamen in einem Alter von etwa acht Jahren aufwärts ins Haus. Sie wurden freilich nicht durch Vertrag angestellt, sondern als Leibeigene von anderen Adeligen gekauft oder von den eigenen Landgütern her in die Stadt versetzt Personenrechtlich hatten sie daher keinen anderen Status als die Leibeigenen auf den ländlichen Herrenhöfen. Ihrem Charakter als Leibeigene entsprechend konnten sie natürlich auch nicht, wie das in Mitteleuropa üblich war, nach ein paar Jahren den Dienst wechseln. Sie blieben vielmehr bis zu einer neuerlichen Versetzung bzw. einem weiteren Verkauf an das Haus gebunden. E n Großteil von ihnen heiratete - zumeist Angehörige desselben Dienstpersonals. Daß auch bei ihnen erweiterte und komplexe Familienformen begegnen, wurde schon erwähnt Das Fehlen von Gesinde im mitteleuropäischen Sinn des Wortes in den Hausgemeinschaften der russischen Landbevölkerung bedingt, daß hier die für die Führung der Familienwirtschaft erforderlichen Arbeitskräfte im wesentlichen aus dem Kreis der im Haushalt zusammenlebenden Verwandten genommen werden mußtea Da die Zahl der arbeitsfähigen erwachsenen Familienmitglieder im Verlauf des Entwicklungsprozesses der Hausgemeinschaft immer wieder wechselte, konnte nicht mit einem konstanten Arbeitskräftepotential gerechnet werden. In mitteleuropäischer Bauernwirtschaften ließ sich die Mitarbeiterzahl durch die Aufnahme bzw. Entlassung von Knechten und Mägden an die jeweiligen Erfordernisse adaptieren. E n e r gleichbleibenden Besitzgröße entsprach eine im wesentlichen konstante Zahl von vollwertigen Arbeitskräften. In der russischen Landbevölkerung war eine solche Anpassung durch Aufnahme von Gesinde nicht möglich. Der notwendige Ausgleich wurde hier offenbar in zweierlei Weise erreicht Enerseits bewirkte die in fixen Abständen durchgeführte Umverteilung des Gemeindelandes nach der Zahl der in den einzelnen Hausgemeinschaften jeweils zusammenlebenden Ehepaare, daß ein Gleichgewicht zwischen Landbesitz und Arbeitskräften heigestellt wurde. Andererseits verhinderte die komplexe Familienstruktur, daß es im Verlauf 181
des Entwicklungszyklus der Hausgemeinschaft zu Engpässen hinsichtlich der verfügbaren Arbeitskräfte kam. Jene kritische Phase des Zusammenlebens von Eltern mit noch nicht arbeitsfähigen Kindern, wie sie im Familienzyklus der Kernfamilie auftritt, fehlt ja bei komplexer Familienstruktur. In der „joint family" ist das Verhältnis von Produzenten und Konsumenten stets besser ausgeglichen. Diese stellt daher eine günstige Form der familienwirtschaftlichen Arbeitsorganisation dar, die einer agrarischen Gesellschaftsordnung entspricht, in der die vom ökonomischen Standpunkt aus flexiblere Lösung der Gesindehaltung nicht angestrebt wird oder aus außerökonomischen Gründen nicht durchfühlbar ist Warum man die für Bedarfsschwankungen weitaus anpassungsfähigere Form der Aufnahme von Knechten und Mägden in den ländlichen Familienwirtschaften des zentralrussischen Raumes vermied, muß hier offenbleiben. Bedingungen ökonomischer Rationalität lassen sich dafür jedenfalls nicht anführen. Ebenso wie die Dienstboten fehlen in den ländlichen Hausgemeinschaften des Untersuchungsraumes auch die Inwohner. In Mitteleuropa spielen sie für die Arbeitsorganisation eine große Rolle. In der Landwirtschaft wurden sie vor allem in Zeiten eingesetzt, in denen ein besonderer zusätzlicher Arbeitskräftebedarf bestand, etwa während der Getreideernte oder bei der Weinlese. Außerhalb dieser saisonalen Spitzen waren sie zumeist nicht agrarisch tätig. Sie verdienten sich dann ihren Lebensunterhalt durch hausgewerbliche Tätigkeiten, im Transportwesen oder durch Lohnarbeit Den jahreszeitlichen Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten entsprechend waren daher die Inwohner eine sehr mobile Bevölkerungsgruppe. In Rußland werden alle diese Tätigkeiten - wie schon erwähnt - von der haussässigen Landbevölkerung selbst wahlgenommen. Die für verschiedene Räume Mitteleuropas charakteristische Arbeitsteilung zwischen Bauern und Inwohnern war hier nicht gegeben. Deshalb kann auch nicht im gleichen Verständnis von „Bauern" gesprochen werden. Die spezifisch agrarisch-geweiblichindustriellen Mischformen, die für die Arbeit der Landbevölkerung des Untersuchungsraums typisch sind, stehen also offenbar mit dem Fehlen einer solchen Arbeitsteilung zwischen seßhaften Bauern und mobilen, hausrechtlich abhängigen Mitbewohnern zusammen. Auch hier wirkt sich die starre, auf den reinen Verwandtschaftsverband beschränkte Struktur der Hausgemeinschaft in der Arbeitsorganisation aus.
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Patrilinearität als grundlegendes Strukturprinzip Die strikt patrilinear orientierte Struktur erscheint insgesamt als das entscheidende Grundmuster der Familienverfassung in dem hier untersuchten Gebiet Fast alle der im Kontrast zu mitteleuropäischem Vergleichsmaterial festgestellten Charakteristika der Familien lassen sich mit diesem einen Merkmal in Zusammenhang bringen. Das gilt für den zuletzt behandelten Problemkreis des Fehlens nichtverwandter Personen genauso wie für den Fragenkomplex der Wiederverehelichung von Witwen unter Verbleib in der Hausgemeinschaft Robert Wheaton hat in einer grundlegenden Studie auf den Zusammenhang verwiesen, der zwischen patrilinearem Verwandtschaftssystem und dem Phänomen der,joint family" besteht (1975, S. 623 ff.). Eine Vielzahl weiterer typischer Erscheinungen, die in den Familien des Raums von Jaroslavl' um die Mitte des 18. Jahrhunderts auftreten, lassen sich in diesem Kontext erklären. Die patrilineare und multifokale Grundstruktur erscheint so als die zentrale Schlüsselfigur der Familienverfassung. Sucht man nach einer Erklärung für dieses so bedeutsame Muster, so kann man jedenfalls einige erwägenswerte Faktoren ausschließen. Robinson hat darauf verwiesen, daß bei den gemischtwirtschaftlichen Erwerbsformen der russischen Landbevölkerung umfassende Haushaltsformen zu einer ökonomischen Stabilisierung beitrugen (1949, S. 118). Diese Überlegung hat viel für sich. Solche Bedingungen der Arbeitsorganisation werden wohl vielfach dazu beigetragen haben, daß man komplexe Familienformen beibehielt Eine Erklärung für deren Entstehung bieten sie jedoch nicht. Sucht man eine kausale Verbindung zu Faktoren der Arbeitsorganisation, so ist zu bedenken, daß in den untersuchten Quellen multifokale Familienstrukturen in den verschiedensten Milieus vorkommen - bei den „Bauern" genauso wie beim Hofgesinde, unter den Fabriksleibeigenen ebenso wie unter den städtischen „Posad"-Leuten. Offen bleibt bei einem solchen Ansatz stets auch die Frage, warum solche komplexe Familien so streng patrilinear organisiert waren. Die Bedingungen der Arbeitsorganisation können dafür keine Erklärung bieten. Zu den spezifischen Gegebenheiten der russischen Agrarverfassung lassen sich seitens der Familienstrukturen kausale Verbindungen herstellen. Wenn die Umverteilung des Landes nach der Zahl der Ehepaare erfolgte, die in einer Hausgemeinschaft zusammenlebten, so erscheint das Interesse an deren Vermehrung verständ183
lieh. Eine solche Argumentation trifft freilich nur für die bäuerliche Bevölkerung zu, nicht aber für die Leibeigenen auf den Gutshöfen und in den Stadthäusern des Adels sowie die übrigen hier besprochenen Gruppen. Das patrilineare Moment der Familienverfassung läßt sich von dieser Seite her schon gar nicht erklären. Brachte eine vermehrte Zahl von Ehepaaren auch mehr Landbesitz, so hätte doch Interesse daran bestehen müssen, auch Schwäger und Schwiegersöhne in die Hausgemeinschaft zu integrieren. Die Erhaltung komplexer Familienstrukturen wird weiters mit dem Einfluß der Gutsherrschaft in Verbindung gebracht Der Zerfall vieler umfassender Familienverbände nach der Emanzipationsgesetzgebung von 1861 sowie die herrschaftlichen Verbote einer Familienteilung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geben dieser Argumentation viel an Plausibilität (Shinn 1961, S. 607; Czap 1980, S. 236). Zu einem Anwachsen komplexer Familien könnten die diesbezüglichen Maßnahmen des Adels beigetragen haben. Deren Entstehung können sie freilich nicht erklären. Vor allem läßt sich von dieser Seite kein sinnvolles Interesse erkennen, das eine patrilineare Struktur der Familien gefördert haben könnte. Im Gegenteil: Wo immer in Europa ein starker grundherrlicher Einfluß auf die Familienverfassung der Landbevölkerung einwirkte, ergaben sich daraus Konsequenzen, die der Entstehung oder Erhaltung eines bestimmten Verwandtschaftssystems entgegenwirken mußten. Man denke dabei etwa an den Wiederverehelichungszwang für verwitwete Bäuerinnen unter Verbleib im Haus. Das Beispiel Polens ist hier besonders illustrativ (Kula 1972, S. 952). Man kann daher wohl sagen, daß sich in Zentralrußland die streng patrilineare Familienstruktur nicht wegen, sondern trotz des herrschaftlichen Einflusses erhalten haben dürfte. Die Einflußnahme der Gutsherren auf die Familienverhältnisse der Leibeigenen war j a auch hier vielfach sehr stark. Herrschaftliche Instruktionen beschäftigten sich mit Fragen des Heiratsalters und der Wiederverehelichung (Semevskij 1903, S. 302ff.; Aleksandrov 1976, S. 303 ff.). Familienteilungen bedurften der Zustimmung des Gutsherren (Semevskij 1903, S. 302 ff.). Einzelne Familienmitglieder konnten durch ihn versetzt werden. Trotz solcher Eingriffe vermochte jedoch die Landbevölkerung, sich die traditionelle Form des Zusammenlebens in patrilinearen Hausgemeinschaften zu bewahren. Ein Faktor, der sowohl die Patrilinearität als auch den komplexen Charakter der russischen Familien beeinflußt haben könnte, ist die spezifische Erbgewohnheit Von einem Erbrecht im engeren Sinne wird man ja vor der Aufhebung der Leibeigenschaft für die 184
Masse der Landbevölkerung kaum sprechen dürfen (Shinn 1961, S. 602ff.). Haxthausen berichtet für das Gouvernement Jaroslavl', daß hier im Falle einer Haushaltsteilung der Witwe ein Siebentel, den Töchtern j e ein Vierzehntel, den Söhnen je ein gleicher Teil an der Gesamtsumme auszubezahlen war (1,1847, S. 162). Haushaltsteilung der geschilderten Form waren freilich die Ausnahme. Im Normalfall verblieb Haus und Landbesitz zu ungeteilter Hand den überlebenden männlichen Angehörigen des Verstorbenen (Smith 1977, S. 82). Diese traditionelle Form der Besitzweiteigabe ausschließlich in männlicher Linie war sicher eine entscheidende Voraussetzung sowohl für die patrilineare Orientierung als auch für die komplexe Struktur der Hausgemeinschaften. Freilich muß hier wiederum einschränkend vermerkt werden, daß die gleiche Familienverfassung auch bei Bevölkerungsgruppen zu finden ist, die nicht Grund und Boden weiterzugeben hatten, wie etwa die Hofleute und die Fabriksleibeigenen. Es müssen also über die Bauernschaft hinausreichende Traditionen bestanden haben, die die allgemeine Verbreitung solcher Familienformen bewirkten. Weiters ist zu bedenken, daß auch Erbgewohnheiten letztlich nicht aus sich selbst erklärt werden können. Sie sind vielmehr stets Teil eines umfassenden Werte- und Normensystems, das mit der Gesamtheit der Vorstellungen von sozialen Bindungen durch Verwandtschaft engstens verflochten ist Solche allgemeine kulturelle Muster werden letztlich als Bedingung der vorgefundenen Familienstrukturen angenommen werden müssen. Sie liegen ihrem Ursprung nach sicher weit vor dem Zeitpunkt, dem die hier voigenommene Untersuchung gilt Robert Wheaton hat in seiner Studie über das Problem des „joint-family-households" mehrere europäische und außereuropäische Gesellschaften verliehen, bei denen sich das charakteristische Syndrom von patrilinearem Verwandtschaftssystem, Haushaltsgemeinschaften verheirateter Brüder und virilokaler Residenz findet (1975, S. 625 ff.). Zu den von ihm angeführten europäischen Beispielen ist das hier untersuchte Gebiet hinzuzufügen. Wheaton meinte, daß nur in einer dieser Gesellschaften - nämlich der chinesischen - der Haushalt zugleich auch Ort des gemeinsamen Familienkults war. Diesbezüglich ist zu ergänzen, daß ein solcher Zusammenhang auch für eine der von ihm genannten europäischen Gesellschaften zutrifft - nämlich das Verbreitungsgebiet der Zadruga auf der Balkanhalbinsel. Das sogenannte Slava-Fest zeigt hier in verchristlichter Form deutliche Spuren eines hausgebundenen Ahnenkults (Vinski 1938, S. 25 ff.; Schneeweiß 1935, S. 204ff., 213, 185
2 3 4 f f . ; Mitterauer 1979, S. 98). Zusammenhänge z w i s c h e n der Zadruga Südeuropas und russischen Familienformen wurden immer wieder herzustellen v e r s u c h t S o hat Kovalevsky (1891, S. 3 3 ) die Patrilinearität russischer Familienstrukturen in Parallele z u Verhältnissen bei südslawischen Völkern mit der Ahnenverehrung in Verbindung bringen w o l l e n (vgl. auch Vinski 1938, S. 5 6 ff.). D i e v o n ihm dafür ins Treffen geführten Hochzeitsbräuche sind aber sicherlich ein zu schwaches Aigument für derart weitreichende Schlüsse. Der Hinweis auf spezifische Formen des Ahnenbewußtseins in patrilinear organisierten Gesellschaften gibt freilich eine Richtung an, in der sinnvoll weiteigedacht werden könnte. Solche Überlegungen gehen allerdings w e i t über die hier möglichen Interpretationen des Untersuchungsmaterials hinaus. D i e A n a l y s e wird sich auf die A u s s a g e beschränken müssen, daß die vorgefundenen Familienstrukturen ihre entscheidenden Bedingungen im patrilinearen Verwandtschaftssystem haben, das seinerseits auf einer w e i t zurückreichenden Tradition der Vetgesellschaftungsformen in dies e m Raum beruhen dürfte.
Anmerkungen 1
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PLAKANS 1975 a u n d b, 1976, 1977, 1978; CZAP 1978 u n d 1980. D i e A u t o r e n
möchtcn Herrn Professor Q a p für seine zahlreichen Hinweise und Erläuterungen herzlich danken, die er ihnen in zahlreichen Gcsprächen während seines Studienaufenthalts in Wien im Sommcrsemcster 1980 gegeben hat. Ebenso sind sie Herrn Dr. Andreas MORTTSCH für seine wichtigen Diskussionsbeiträge verpflichtet. Die Forschungen über historische Familienformen in Österreich laufen im Rahmen eines vom „Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich finanzierten Projekts .Strukturwandel der Familie in Österreich seit dem 17. Jahrhundert'". Die aus diesem Projekt hervorgegangenen Arbeiten vgl. in der Bibliographie. Die dritte Revision erfolgte in den Jahren 1761-1767. Der größte Teil der Erhebungen fällt wie die hier unteniuehten auf die Jahre 1762/63. Über Zielsetzung und Durchführung der Revision vgl. allgemein DEN 1902, S. 19 ff. und KABUZAN 1963, S. 48 ff. Die dritte Revision unterscheidet sich wesentlich von den beiden vorangegangenen. Zum ersten Mal wurden damals auch weibliche Peisonen aufgenommen. Diese Revision ist damit die älteste, die überhaupt eine Rekonstruktion von Familien zuläßt (DEN 1902, S. 87 ff.; KABUZAN 1963, S. 65). CGADA (Central'nyj gosudarstvennyj archiv drevnich aktov), Fond 350, opis' 2, edinica chrancnija 4300; 4301. Jaroslavl' war im Untersuchungszeitraum die Hauptstadt der Provinz Jaroslavl', die einen Bestandteil des Gouvernements Moskau bildete. Diese Provinz bestand aus vier Kreisen (uezd). Erst 1796 wurde ein selbständiges Gouvernement Jaroslavl' gebildet (GOLOVSÖKOV 1889, S. 166 ff.). Im wichtigen Umschlagplatz Rybinsk an der Wolga lebten etwa nach dem Bericht Haxthausens im Winter nur 6.000 angesessene Einwohner. In den für die Flußschiffahrt geeigneten Sommermonaten stieg hingegen die Zahl der hier
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Tätigen auf 130.000, davon nur 3.500 Frauen. Es handelte sich bei diesen Saisonarbeitern zum größten Teil um Männer, die von den in dieser Region dominierenden adeligen Landgütern kamen (Haxthausen 1, S. 166). Für das Gut Misino in Rjazan' stellte CZAP 1980, S. 1%, fest, daß hier im frühen 19. Jahrhundert in etwa einem Drittel aller Haushalte eine oder mehrere Personen mitlebtcn, die nicht in der Landwirtschaft, sondern als Handwerker tätig waren. Diesen Sachverhalt stellt auch CZAP für Misino fest 1814 wurden hier von 128 Hauswesen nicht weniger als 28 von einem Witwer geleitet (1980, S. 224). CZAP konnte in Misino neunzehn Fälle von Haushalten feststellen, an deren Spitze eine Witwe oder eine Soldatenfrau stand. Bei letzteren war ja der Gatte jahrzehntelang abwesend, so daß sich eine analoge Struktur eigab. Für Jaroslavl' lassen sich aufgrund des Charakters der Quelle, wie schon oben angeführt, diesbezüglich keine exakten Angaben machen. ALEKSANDROV 1979, S. 45, berichtet, daß in dem von ihm untersuchten Dorf Nikol'skoe im Gouvernement Jaroslavl' im ausgehenden 18. und im frühen 19. Jahrhundert Falle vorkamen, in denen die Gutsverwaltung Witwen mit ihren Söhnen aus dem Familienverband der Schwiegereltern und Schwäger separierte. Diese Witwen schlossen aber dann offenbar keine zweite Ehe, so daß es nicht zu einer Beeinträchtigung der patrilinearen Familienstruktur kam. Seltener wurden hier Witwen mit Töchtern von der Hausgemeinschaft des verstorbenen Gatten abgetrennt. In solchen Fällen verehelichte sich nicht die Mutter, sondern eine der Tochter. Der Schwiegersohn nahm dann die Stellung eines primak ein (vgl. dazu unten). Das Fehlen einer Weitergabe des Hauses durch Zweitheiraten von Witwen ist sicher keine für ganz Osteuropa charakteristische Eischeinung. In Polen wurden etwa gerade im 18. Jahrhundert verwitwete Bauernfrauen vielfach von den Grundherren gezwungen, eine zweite Heirat einzugehen (KULA 1972, S. 952). Das Beispiel zeigt, daß offenbar im russischen Untereuchungsgebiet trotz einer ähnlich stark ausgebildeten Leibeigenschaft der Landbevölkerung traditionelle Verwandtschafts- und Familicnmustcr seitens der Grundherren weniger beeinflußt wurden. Zeugnisse für grundherriiehen Druck in Richtung auf eine Wiedetverehelichung von Witwen stammen erst aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (CZAP 1978, S. 115 ff.).
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Das reale Heiratsalter lag hier auch ein wenig über den von dem adeligen Gutsbesitzern geforderten Altersgrenzen Nach den Instruktionen des Fürsten M.M. SCerbatorv von 1758 waren auf dessen Gütern in der Provinz Jaroslavl' leibeigene Mädchen zu einer Heirat bis zum achtzehnten, Burschen bis zum zwanzigsten Lebensjahr verpflichtet (ALEKSANDROV 1976, S. 304). Eines der beiden unehelichen Kinder von Witwen hatte den adeligen Guisbesitzer zum Vater. Es erscheint bemerkenswert, daß dieses Kind das Patronymikon seines Taufpaten erhielt. Das Kind des geflohenen Hofknechts wird ausdrücklich als adoptiert bezeichnet Es bedurfte in diesem Falle also einer besonderen Aufnahme in die Hausgemeinschaft Zur Diskriminierung vorehelicher Sexualbeziehungen lediger Frauen vgl. ALEKSANDROV 1976, S. 297. Die Engliedcrung unehelicher Kinder in die Familie konnte in vielfältiger Weise erfolgen, die in allen Fällen zu komplizierten Strukturen der Hausgemeinschaften führte. So kam etwa eine besondere häufige Form der bäuerlichen Dreigenerationenfamilie durch das Zusammenleben mit unehelichen Kindern von Töchtern zustande (vgl. dazu MTITERAUER 1979, S. 137 ff.). „Im Frühjahr kommt der Knecht aus Wologda und wirtschaftet den Sommer über ganz nach Gutdünken" (1,1847, S. 199). Diese Lohnarbeiter kamen also offenbar in der Regel aus dem nördlich angrenzenden GouvememenL
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Sozialgeschichte der Familie als landeskundlicher Forschungsgegenstand* Auswertungsmöglichkeiten historischer Personenstandslisten 1972 veröffentlichte die „American Historical Review" einen inzwischen klassisch gewordenen Aufsatz: Lutz Karl Berkner, „The Stem Family and the Developmental Cycle of a Peasant Household: An Eighteenth-Centuiy Austrian Example".1 Berkner war bei Untersuchungen über die ländliche Hausindustrie des oberen Waldviertels in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Schloßarchiv Heidenreichstein auf eine „Seelenbeschreibung" der Herrschaft aus dem Jahre 1763 gestoßen.2 Er analysierte diese Personenstandsliste mit Methoden der elektronischen Datenverarbeitung, wobei die wechselnde Familienzusammensetzung nach dem Alter des Haushaltsvorstands im Mittelpunkt seines Interesses stand Diesen „developmental approach" hatte er aus der soziologischen Familienzyklusforschung übernommen, die sich mit dem Wandel der familiären Umwelt in den verschiedenen Phasen des Lebenslaufs beschäftigt 3 Der Ansatz erwies sich als fruchtbar. Die an lokalgeschichtlichem Material aus dem nördlichen Niederösterreich durchgeführte Studie wurde tausendfach zitiert. Sie hat in Problemstellung und Methode nicht unwesentlich zu jenem enormen Aufschwung beigetragen, den die Sozialgeschichte der Familie in den letzten Jahren erlebt hat 4 Der Hinweis auf den ungewöhnlichen Erfolg von Berkners Studie soll einerseits auf eine interessante Quellengattung aufmerksam machen, andererseits auf Auswertungsmöglichkeiten solcher Quellen, die lokale landeskundliche Studien in den Zusammenhang umfassender sozialgeschichtlicher Fragestellungen einordnen kön• Aus: Unsere Heimat 51 (1980), S. 243-271.
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nen. „Seelenbeschreibungen" wie die von Berkner benützte finden sich in örtlichen Archiven in sehr großer Zahl. Daß sie in Herrschaftsarchiven erhalten sind, ist eher die Ausnahme. Viel häufiger begegnen sie in Pfarrarchiven,5 gelegentlich auch in Gemeindearchiven. Manche Ahnenforscher mögen bei der Durchsicht von Matrikenbüchern schon auf solche Personenstandslisten gestoßen sein. Gelegentlich treten sie ja unmittelbar in Matrikenbände eingetragen auf, häufiger freilich als selbständige Handschriften diesen beigegeben. Von der Genealogie wurden allerdings solche Quellen bisher nicht benützt, obwohl sie auch für diese Disziplin recht ergiebig sein können. Gegenüber den in Stammbäumen und Ahnentafeln erfaßbaren Verwandtschaftszusammenhängen informieren sie über die jeweils in Haus- bzw. Haushaltsgemeinschaften zusammenlebenden Personen - unabhängig von deren verwandtschaftlichen Beziehungen. An dieser realen Einheit des Zusammenlebens in der Kleingruppe Familie ist nun die neue Sozialgeschichte der Familie vorrangig interessiert - weniger an Abstammungs- und Verwandtschaftszusammenhängen, die - für sich genommen - noch keine Interpretation sozialer Beziehungen zulassen. Personenstandslisten vom Typus der „Seelenbeschreibungen" haben daher für sie einen besonders hohen Quellenwert. Im internationalen Vergleich betrachtet ist die Überlieferung solcher Personenstandslisten in den österreichischen Ländern - und unter ihnen wiederum vor allem in Niederösterreich - besonders günstig. Als 1969 in Cambridge die erste internationale Konferenz zusammentrat, die sich komparativ mit historischen Haushalts- und Familienstrukturen befaßte, konnten sich die meisten der Referenten aus verschiedenen Regionen Europas nur auf eine einzige oder einige wenige Listen stützen.6 Bloß die englischen Beiträge waren breiter abgestützt 7 Dafür fehlten hier den Referenten wiederum vielfach Angaben über Alter und Berufe, die für die Auswertung solcher Listen besonders wichtig erscheinen. In Österreich hingegen konnten aufgrund der günstigen Quellenlage bereits die ersten Analysen historischer Familienformen vergleichend vorgehen, sei es synchron für verschiedene Gebiete, sei es diachron für die gleiche lokale Bevölkerung.8 Die seither durchgeführten Erhebungen haben gezeigt, daß die österreichischen Personenstandslisten sowohl nach ihrer Quantität als auch nach ihrer Qualität für einschlägige Arbeiten besonders günstige Voraussetzungen schaffen. 9 Personenstandslisten in der Art der Seelenbeschreibungen setzen in Österreich bereits sehr früh ein. Schon aus dem Jahre 1569 gibt 192
es eine Visitation der Stadt Salzburg, die komplette Angaben über die Zusammensetzung der einzelnen Familien enthält In Salzburg wurden schon sehr früh die Anweisungen des Konzils von Trient über die Anlage von „libri status animarum" aufgegriffen, die eine Grundlage für die Kontrolle der Rechtgläubigkeit bilden solltea Solche Seelenbücher sind im Hochstiftsterritorium für viele Pfarren bereits aus dem 17. Jahrhundert erhalten.10 Soweit bisher darüber Informationen vorliegen, sind die Beicht- und Kommunikantenregister dieser Zeit in Niederösterreich noch nicht in einer Form gestaltet, die eine Auswertung in Hinblick auf Haushalts- bzw. Familienformen zuließe.11 Schon früh wurde jedoch hier das Prinzip der Seelenbeschreibungen von weltlicher Seite übernommen. Die ältesten einschlägigen Quellen in Niederösterreich, die sich für die historische Familienforschung auswerten lassen, dürften zum Zweck der Steuererhebung angelegt worden sein.12 In Pfarren überlieferte Personenstandslisten mit vollständigen Angaben über Familienkonstellationen setzen hier in reicherem Maße erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein.13 Diese von den Pfarrern angefertigten Seelenbeschreibungen dienten offenbar sowohl geistlichen wie weltlichen Zwecken. Die jährliche „consignatio" bzw. „conscriptio animarum" war in der Passauer Diözese spätestens seit einem Dekret von 1764 vorgeschrieben.14 Schon 1754 hatte Maria Theresia die erste Volkszählung sowohl durch die Pfarrer als auch durch Herrschaftsbeamte durchführen lassen, wobei die Zahlweise durch die ersteren die exakteren Resultate erbrachte.15 Der Einsatz der Pfarrer für die statistischen Interessen des Staates erreichte unter Kaiser Joseph II. seinen Höhepunkt Der archivalischen Überlieferung nach zu schließen, scheint in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts die Anlage jährlicher Seelenbeschreibungen in den meisten Pfarren zur Regel geworden zu sein. Viele der langen Reihen jährlicher Pfarrzählungen setzen in dieser Zeit ein. Den ganzen Vormäiz hindurch wurde die Personenstandserhebung über die Pfarren mit großer Gründlichkeit durchgeführt Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gehen die kirchlichen Zählungen zurück, obwohl manche Pfarrer sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein den Usus der alten „Seelenbeschreibungen" fortsetzten. Dafür werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Ausbau des Volkszählungswesens die von staatlicher Seite angeordneten Personenstandserhebungen zahlreicher und hinsichtlich der gebotenen Informationen reichhaltiger. E n Musterbeispiel für diesen Typus der Personenstandslisten ist etwa die vollständig überlieferte Konskription der Stadt Wien von 1857.16 Wo sich das Urmaterial von 193
Volkszählungen in kommunalen Archiven erhalten hat, dort ist mitunter durch die Kombination von Personenstandslisten geistlicher und weltlicher Provenienz über Jahrhunderte hin ein Veigleich von historischen Formen der Familienzusammensetzung möglich. Die Möglichkeit eines Vergleichs von zumindest zwei Personenstandslisten desselben Orts über eine gewisse zeitliche Distanz hin ist eine der wesentlichsten Voraussetzungen für eine ertragreiche Auswertung dieser Quellengattung. Sicher lassen sich auch aus Einzellisten sinnvolle Ergebnisse für eine Sozialgeschichte der Familie ableiten. Quantitative Analysen können aus dem Vergleich der unterschiedlichen Familienformen bestimmter Teilgruppen der beschriebenen Bevölkerung zu wertvollen Schlüssen kommen, etwa durch eine Gegenüberstellung von Bauern und Kleinhäuslern, von Handwerkern und Lohnarbeitern. Schichtspezifische Unterschiede der Familienstruktur lassen sich auf diese Weise oft gut erfassen. Trotzdem besteht bei der Behandlung von Einzelschnitten die Gefahr, in der bloßen Deskription steckenzubleiben. Man beschränkt sich dann allzuleicht auf die Beschreibung der auftretenden Familienlypen bzw. deren jeweiliger Häufigkeitsverteilung, ohne nach einer Erklärung dafür zu fragen. Der Vergleich über eine mehr oder minder große zeitliche Distanz hingegen fordert eine Interpretation der festgestellten Unterschiede geradezu heraus. Erst auf dieser Ebene der Untersuchung wird das Moment des Wandels historischer Familienstrukturen faßbar und die Frage nach Faktoren, die diesen Wandel bewirkt haben könnten, aktuell. Umfassende wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedingungen veränderter Familienkonstellationen lassen sich so in den Griff bekommen wie etwa der Einfluß von Industrialisierung und Urbanisierung, von Agrarkonjunkturen und von demographischen Prozessen. Das lokale Einzelbeispiel gewinnt dadurch Indikatorfunktion für übergreifende Entwicklungszusammenhänge, die Frage nach Wechselbeziehungen zwischen Familie und Gesellschaftsstruktur tritt stärker in den Vordergrund Der diachrone Vergleich von zwei oder mehreren Personenstandslisten bietet jedenfalls eine besondere Chance, an einer regionalen Analyse von Familienkonstellationen überregional bedeutsame Erkenntnisse zu gewinnen. Je mehr solcher Listen vorliegen, umso größer ist die Aussicht, tragfähige Erklärungsmodelle für allgemeine Familienentwicklungstendenzen zu gewinnen. Besondere Interpretationsmöglichkeiten von historischen Personenstandslisten sind gegeben, wenn solche Listen über einen längeren Zeitraum jährlich angelegt wurden und in geschlossenen Serien erhalten sind Für eine Reihe niederösterreichischer Pfarren ist dies, 194
wie erwähnt, der Fall.17 In solchen Fällen lassen sich dann nicht nur familienrelevante Daten für die Gesamtbevölkerung der Pfarre in ihren kurz- und langfristigen Veränderungen verfolgen - auch der Wandel in der jeweiligen Zusammensetzung einzelner Familien im Ablauf des Familienzyklus wird bei einer derartigen Quellenlage erkennbar. Bezieht man die jährlichen Angaben der Seelenbeschreibungen über bestimmte Familien aufeinander, so ergibt sich ein dynamisches Bild der Familienstruktur. Wie in einem Film laufen vor dem Auge des Forschers die Phasen einzelner Familiengeschichten ab. Die Reaktionen der Familienzusammensetzung auf bestimmte Ereignisse wie Hofübeigabe, Heirat oder Tod eines Familienmitglieds treten deutlich in Erscheinung. Phänomene des Familienlebens werden in ihrer Dauer meßbar die Phase der Ehe, das Verbleiben von Kindern im Elternhaus, die Dienstdauer von Knechten und Mägden, das Zusammenleben mit den ins Ausgedinge gezogenen Altbauern. Durch das Verknüpfen der Angaben aus einer Abfolge von Listen entstehen gleichsam „Familienbiographien", die noch dazu den Vorteil haben, einheitlich standardisiert zu sein. Dadurch ergibt sich über die Interpretation biographischer Einzelabläufe hinaus noch die Möglichkeit einer quantifizierenden Zugangsweise. Eine solche familienzyklische Auswertung von langen Reihen jährlich angelegter Seelenbeschreibungen ist eine besondere Chance, die sich aufgrund der günstigen Quellenüberlieferung für landeskundliche Forschungen zur Sozialgeschichte der Familie in Niederösterreich ergibt. Diese Chance sollte entsprechend genützt werden. Neben den Auswertungsmöglichkeiten von Einzellisten bzw. korrespondierenden Listen derselben Pfarre wird daher im folgenden immer wieder auf den Erkenntniswert von seriellen Seelenbeschreibungen für die historische Familienforschung exemplarisch einzugehen sein.18 Bevor solche Beispiele für die Untersuchung von Personenstandslisten nach familiengeschichtlich relevanten Problemstellungen gebracht werden, erscheint es freilich notwendig, darauf hinzuweisen, daß diese Quellengattungen keineswegs die einzige und hinsichtlich vieler Fragen auch durchaus nicht die primäre zur Erforschung familienhistorisch wichtiger Themen darstellt Eine solche einseitige Überbewertung ist seitens maßgeblicher Gelehrter auf dem Gebiet der Sozialgeschichte der Familie erfolgt So hat sich der führende englische Familienforscher Peter Laslett von der „Cambridge Group for the History of Population and Social Structure" in der Einleitung seines 1972 erschienenen Standardwerks „Household and Family in Past Time" explizit gegen die 195
Verwendung von rechtlichen und literarischen Quellen ausgesprochen 19 und solche in seinen familiengeschichtlichen Arbeiten auch fast überhaupt nicht herangezogen. 20 Seiner Argumentation ist zu folgen, wenn er die Meinung vertritt, daß die Personenstandslisten die einzige Quellengattung darstellen, die alle Bevölkerungsgruppen gleichmäßig ohne schichtspezifische Verzerrung erfaßt Zu welchen Verzerrungen gerade die einseitige Auswertung literarischer Quellen führen kann, zeigt ein anderes Standardwerk der englischen Familienforschung, nämlich Lawrence Stones „The Family, Sex and Marriage in England 1500-1800". 2 1 Stone benützte zum überwiegenden Teil Quellen über Adelsfamilien und typisierte die Familienentwicklung in England dementsprechend einseitig nach den Familienverhältnissen der Oberschicht Nicht zu folgen ist Laslett freilich, wenn er für den höheren Quellenwert von Personenstandslisten deren angeblich größere „Objektivität" ins Treffen führt und bei Rechtsquellen „the possibility of plain lying" überlegt. 22 Zu Recht wurde ihm hier massiv widersprochen.23 Gerade Rechtsquellen wie Testamente, Übergabsverträge, Heiratskontrakte oder Verlassenschaftsabhandlungen stellen eine vorzügliche Quelle zur Sozialgeschichte der Familie dar. Man sollte solche Quellentypen nicht gegeneinander ausspielen. Besonders ertragreich erweisen sich nämlich Forschungen, denen es gelingt, verschiedene solcher Materialien in der Auswertung miteinander zu kombinieren.24 Auf solche Kombinationsmöglichkeiten ist noch näher einzugehen. Vom Arbeitsaufwand wie von der spezifischen Quellenlage her werden derartige Verbindungen von Quellentypen in der Regel freilich auf lokale Forschungen beschränkt bleiben müssen. Für den überregionalen Vergleich wird wegen ihres hohen Maßes an standardisierten Aussagen doch immer wieder auf Personenstandslisten als zentrale Quellengattung zurückzukommen sein. Ein zentrales Forschungsthema, zu dessen Behandlung am häufigsten Personenstandslisten aller Art herangezogen wurden, ist der Fragenkomplex der Familiengröße. Daß diesbezüglich kein anderer Quellentypus ähnlich aussagekräftig ist, liegt auf der Hand. Das Interesse an der Erfassung von Familiengrößen erscheint freilich in der Forschung ganz unterschiedlich motiviert Sehr häufig wurde die Frage nach der durchschnittlichen Familiengröße aus Erkenntnisinteressen gestellt, die mit der Sozialgeschichte der Familie nur in vermittelter Weise zu tun haben. Bei der Berechnung von Bevölkerungszahlen einzelner Siedlungen oder auch größerer Regionen sahen sich Demographen häufig vor die Situation gestellt, daß sie zwar bis weit zurück exakte Angaben über 196
Häuserzahlen besaßen, nicht aber über deren Bewohner. Vereinzelt überlieferte Personenstandslisten schienen dann die geeignete Quelle, um für größere Populationen durch Multiplikation der Hauseizahl mit einer durchschnittlichen Belagsziffer auf einen Näherungswert der Einwohnerzahl zu gelangen.25 Der Sozialhistoriker der Familie muß freilich bei einer solchen Voigangsweise gewisse Bedenken anmelden. Gerade lange Reihen jährlich angelegter Seelenbeschreibungen zeigen, daß insbesondere die Landbevölkerung hinsichtlich der Aufnahmefähigkeit von Hausgemeinschaften oft sehr flexibel war. Bei gleichbleibender Häuserzahl konnte dadurch die Einwohnerzahl einer lokalen Gemeinde innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte erstaunlich schwanken. Besonders deutlich zeigt sich dies etwa in der ersten Phase der Agrarrevolution.26 Die Intensivierung von Landwirtschaft und Viehzucht ohne parallel verlaufende Steigerung der Arbeitsproduktivität bewirkte, daß die Zahl der eingesetzten Arbeitskräfte stark zunahm. Es kam dadurch zu einer deutlichen Bevölkerungsvermehrung, ohne daß die Zahl der bäuerlichen Vollstellen angewachsen wäre. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität in der zweiten Phase der Agrarrevolution führte hingegen zu einer rückläufigen Entwicklung. Die Größe der bäuerlichen Hausgemeinschaften ging zurück und damit auch die Einwohnerzahl. Die Zahl der Häuser erfuhr dadurch jedoch keine wesentliche Veränderung. Solche Prozesse starker Schwankungen in den Belagziffem, wie sie sich für das 19. Jahrhundert aufgrund der Quellenüberlieferung klar nachweisen lassen, haben sich sehr wahrscheinlich auch in früheren Jahrhunderten abgespielt Jeder Versuch, durchschnittliche Einwohneizahlen pro Haus zeitlich zurückzuprojizieren, erscheint daher problematisch. Ebenso gilt das für die Verallgemeinerung lokaler Daten in größerem räumlichem Zusammenhang. Schon in der Nachbargemeinde konnte die Durchschnittsgröße der Hausgemeinschaften eine ganz andere sein.27 Viel wesentlicher als in Hinblick auf die Berechnung von Einwohnerzahlen erscheint die Frage nach der durchschnittlichen Größe historischer Familienformen in einem anderen Zusammenhang. Weit früher als die Geschichtswissenschaft hat sich die Familiensoziologie mit der Entwicklung der Familie als sozialer Gruppe beschäftigt. In der familiensoziologischen Literatur findet sich nun seit ihren Anfängen um die Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder die Behauptung, die Familie wäre im Zuge der Industrialisierung von umfassenderen Formen, in denen mehrere Generationen bzw. Angehörige eines größeren Verwandtschaftsver197
bandes zusammengelebt hätten, auf die Eltern-Kind-Gruppe, die sogenannte „Kernfamilie", reduziert worden. So stellte Fr6d£ric Le Play (1806-1882) die These auf, daß die historische Familienform generell die dreigenerationale Stammfamilie („famille souche") gewesen wäre. 28 Emile Dürkheim entwickelte das „Kontraktionsgesetz", das einen allgemeinen Trend zu kleineren Familienformen im Lauf der Geschichte postuliert 29 Die Vorstellung von der Dominanz der Großfamilie in vorindustrieller Zeit im Vergleich zu der in der Gegenwart vorherrschenden Kleinfamilie ist freilich ein gedankliches Klischee, das sich weit über die Einflußzone der wissenschaftlichen Familiensoziologie hinaus verbreitet hat Die außerordentliche Zähigkeit, mit der an solchen Vorstellungen festgehalten wird, hängt mit deren ideologischen Implikationen zusammen. 30 Die angebliche Großfamilie der Vergangenheit wird als die „ursprüngliche", „natürliche" und daher richtige Ordnung der Familie den Zeitgenossen als Leitbild präsentiert In Hinblick auf die Bedeutung der Frage für das Gegenwartsbewußtsein erscheint es erstaunlich, daß erst so spät eine empirische Überprüfung an historischem Quellenmaterial stattfand.31 Personenstandslisten erwiesen sich dafür als das geeignete Material. Es ist im wesentlichen das Verdienst von Peter Laslett und seinen Mitarbeitern, durch den Vergleich regional breit gestreuter Untersuchungen den Mythos von der vorindustriellen Großfamilie zerstört zu haben. 32 Die außerordentlich scharfe Kontroverse um diese Frage ist freilich noch nicht beendet Lutz Karl Berkner hat in seinem eingangs erwähnten Artikel die Konzeption von L e Plays Stammfamilie aufgegriffen und gerade an niederösterreichischem Quellenmaterial zu erhärten versucht 3 3 Der große Erfolg von Berkners Studie hat bewirkt, daß die „Austrian Stem Family" als ein Prototyp der vorindustriellen Mehrgenerationenfamilie immer wieder in der internationalen Literatur aufscheint Zur Klärung dieser Frage wären weitere Forschungen an niederösterreichischen Personenstandslisten wünschenswert und weit über den engeren landeskundlichen Rahmen hinaus von Bedeutung. Die bisher erfolgten Analysen von Seelenbeschreibungen aus Niederösterreich zeigen ziemlich deutlich, daß Berkner in zweierlei Hinsicht zu korrigieren ist Zunächst ist er im Irrtum, wenn er niederösterreichische Mehrgenerationenfamilien als Stammfamilien im Sinne der Terminologie Le Plays bezeichnet 34 Ein Zusammenleben des alten Bauern als Vorstand der Hausgemeinschaft mit einem verheirateten Sohn und dessen Kindern begegnet nämlich hier nur in ganz seltenen Fällen und dann bloß als eine kurze Übergangsphase von ein oder zwei Jahren. 35 Haufi198
ger kommen Konstellationen vor, die neben dem Bauern, der Bäuerin und deren Kindern auch den Altbauern oder die Altbäuerin im Ausgedinge mitumfassen. Bei solchen Konstellationen handelt es sich freilich nicht um Stammfamilien im ursprünglichen Sinn der Bezeichnung. Zum zweiten hat Berkner die quantitative Bedeutung der Dreigenerationenfamilie im ländlichen Milieu Niederösterreichs in vorindustrieller Zeit bei weitem überschätzt Andere Formen der Hoffolge als durch Übergabe an den Sohn erscheinen hier sehr verbreitet - so etwa durch Wiederverehelichung der Witwe, bei der es nicht zu einer Mehigenerationenfamilie kommt, oder durch Verkauf. Die Zahlen der Familienformen mit Ausgedinge sind jedenfalls in Seelenbeschreibungen der zweiten Hälfte des 18. bzw. der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts noch nicht sehr beträchtlich.36 Erst gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts ist eine deutliche Zunahme zu beobachten.37 Die günstige Agrarkonjunktur dürfte dabei eine Rolle gespielt haben. Mit steigender Lebenserwartung nahm dann auch die Dauer der Ausgedinge zu. Beide Entwicklungen verliefen parallel zum Prozeß der Industrialisierung, ohne mit ihm in einem unmittelbaren Konnex zu stehen. Für Österreich läßt sich also überspitzt sagen, daß das Le Playsche Modell geradezu umzukehren wäre. Die Großfamilie als Mehlgenerationenfamilie hat im Zuge des Modemisierungsprozesses nicht ab-, sondern zugenommen. Ein besonders drastisches lokales Beispiel aus Niederösterreich möge dies illustrieren. Tafel 1: Generationenliefe der Familien in der Pfarre Maria Langegg 1788 bis 1970 (Angaben in Prozent)
1788 1875 1970
1 Generation
2 Generationen
13,2 11,3 18,3
80,2 72,2 43,5
3 Generationen 4 Generationen 6,6 16,5 35,7
_ -
2,6
Neben der starken Zunahme der Dreigenerationenfamilien im letzten Jahrhundert fällt an dieser Statistik vor allem auf, daß ländliche Vieigenerationenfamilien offenbar erst ein Ergebnis der jüngsten Entwicklung sind. Ihre Voraussetzung ist die steigende Lebenserwartung der letzten Jahrzehnte. In den Personenstandslisten aus dem österreichischen Raum, die bisher untersucht wurden, konnten vor dem 20. Jahrhundert unter Zehntausenden Familien nur einige wenige Fälle einer solchen Generationentiefe 199
festgestellt werden. In Zählungen der jüngsten Vergangenheit begegnen sie hingegen keineswegs selten. Wenn es in Gustav Schwabs Ballade „Das Gewitter" heißt: „Urahne, Großmutter, Mutter und Kind in dumpfer Stube beisammen sind", so entspricht diese Familienstruktur viel eher der Realität unserer Tage als den Verhältnissen zur Zeit des Dichters bzw. jener alteuropäischen Gesellschaft, in die man dieses Bild in romantischer Verklärung zurückzuprojizieren pflegt Einen ähnlichen Mythos wie die mehrgenerationale Großfamilie der vorindustriellen Zeit stellt auch die kinderreiche Großfamilie dar. Die Ergebnisse genealogischer Forschungen erwecken diesbezüglich manchmal einen falschen Eindruck. Im Vergleich zu den hohen Geburtenzahlen pro Ehe, die sich aus Matrikenauswertungen ergeben, sind die Zahlen der tatsächlich mit den Eltern zusammenlebenden Kinder nach dem Zeugnis der Seelenbeschreibungen und ähnlicher Personenstandslisten viel geringer. In der eben behandelten Pfarre Maria Langegg im Dunkelsteinerwald etwa schwankte die „soziale Kinderzahl" pro Familie in der Zeit von 1788 bis 1818 zwischen 2,2 und 2,4. Von 1828 bis 1848 stieg sie über 2,6 auf 3,2 und fiel dann über 3,0 im Jahre 1856 auf 2,5 im Jahre 1875.38 Im Jahre 1970 betrug sie dann 1,6. Diese Entwicklung ist sehr charakteristisch. Die niedrigen Werte des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts entsprechen der hohen Kindersterblichkeit dieser Zeit sowie der kürzeren Verweildauer im Elternhaus. Mit steigendem Arbeitskräftebedarf im Zuge der Intensivierung der Landwirtschaft blieben die Kinder länger auf dem Hof. Zugleich ging die Kindersterblichkeit zurück. Rationalisierung bzw. Technisierung der Landwirtschaft auf der einen Seite, Abwanderung in die Stadt auf der anderen bewirkten vor allem seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts einen Rückgang der Zahl zu Hause verbleibender Kinder.39 Das Einsetzen der Geburtenbeschränkung führte dann zu einer weiteren Reduktion. Ein gleichzeitiges Zusammenleben mit einer größeren Zahl von Kindern erscheint so eher als ein Übergangsphänomen, das in einigen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts durch den gestiegenen Arbeitskräftebedarf der Landwirtschaft bedingt sein dürfte. Auch in dieser Zeit liegt aber die „soziale Kinderzahl" deutlich unter der „genealogischen". Geht man weiter zurück, so ist die Zahl der in Hausgemeinschaft mit den Eltern lebenden Kinder viel geringer. Sie rechtfertigt es jedenfalls nicht, im Vergleich zur jüngeren Vergangenheit bzw. zur Gegenwart von der kinderreichen Großfamilie der vorindustriellen Zeit zu sprechen. 200
Soweit vorindustrielle Hausgemeinschaften tatsächlich einen größeren Personenkreis umfaßten, war das nicht so sehr durch Kinder, mitlebende Eltern und Verwandte bedingt, sondern durch Gesinde und Inwohner. Der Anteil dieser Gruppen an lokalen Populationen konnte j e ein Fünftel und mitunter sogar mehr ausmachen. Zu der durchschnittlichen Größe der Hausgemeinschaften trugen sie also nicht unwesentlich bei. Problematisch erscheint freilich aufgrund unseres heutigen Verständnisses des Wortes Familie, ob wir Knechte, Mägde und Inwohner als Familienangehörige betrachten dürfen. Das Wortverständnis der Gegenwart ist sehr stark an Verwandtschaftsbindungen orientiert Dementsprechend haben manche historische Familienforscher Gesinde und Inwohner grundsätzlich als familienfremde Personen angesehen. 40 Es stellt sich dabei freilich die Frage, ob man mit dieser Trennung der Gruppenrealität der jeweiligen Zeit gerecht wird Dies soll im folgenden an einem konkreten Beispiel diskutiert werden (siehe Tafel 2, S. 202). 41 Im Entwicklungszyklus der Hausgemeinschaft Wolfenreith Nr. 6 tritt 1795 ein vierzigjähriger Inwohner auf. Er konnte schon damals als zusätzliche Arbeitskraft auf dem Hof benötigt worden sein, da der Bauer bereits fünfundsiebzig Jahre alt war. Als dieser 1796 verstirbt, kommt er neuerlich auf den Hof; diesmal wird er freilich als Knecht in die Seelenbeschreibung eingetragen. Ab 1799 erscheint er wieder als Inwohner. Für den Verfasser der Seelenbeschreibung gab es offenbar in diesem Fall keine eindeutigen Zuordnungskriterien. Aus dem Ablauf des Entwicklungszyklus läßt sich vermuten, daß der Inwohner bzw. Knecht eine wichtige Position innerhalb der Hausgemeinschaft einnahm. Er füllte jene Lücke, die durch den Tod des Bauern entstanden war, und unterstützte offenbar die Witwe in der Wirtschaftsführung in der Zeit bis zur Übergabe an den jüngsten Sohn. Diese Annahme wird durch den Umstand erhärtet, daß es sich um einen jüngeren Bruder der Bäuerin handelte. Die Verwandtschaftsbeziehung war freilich für den Verfasser der Seelenbeschreibung nicht von besonderer Bedeutung. Er orientierte sich primär an der Rolle in der Hausgemeinschaft Dies trifft auch in zwei anderen Fällen des besprochenen Familienzyklus zu. Unmittelbar nach der Hofübernahme tritt ein junger Knecht auf, der ebenfalls mit der Altbäuerin namensgleich war. Sehr wahrscheinlich handelt es sich auch hier um einen Verwandten. Er verblieb fünf Jahre im Haus, eines davon gemeinsam mit dem neuerlich als Inwohner zurückgekehrten Bruder der Bäuerin. 201
Tafel 2: Entwicldungszykhis der Hausgemeinschaft Wolfenreith Nr. 6
\ I S9 •ι
S
scheidet aus * untereinander namenagleioh 202
ΓΤΠ Bruder der BOut
t I
11 12 ^13
13 14 16 18 τ ;
61* 62 53 54 55 56 67 58 59 60 ei 82 63 64t
1 1 1 1 1 1 1 55
57 58 69 60 61
TS
1
tft^ 61
62 63 64 es 6β 67 es 70 71
V
Als „Inwohnerin" wird seit der Hofübergabe auch die Altbäuerin selbst bezeichnet Wie in manchen anderen niederösterreichischen Pfarren wurde hier zwischen Altenteilern und den übrigen Inwohnern terminologisch nicht differenziert - ein Zeichen dafür, daß die Unterschiede zwischen diesen Rollen innerhalb der Hausgemeinschaft nicht sehr stark ausgeprägt gewesen sein können. Geht man in der historischen Familienforschung von einem Familienbegriff aus, der sich primär am Kriterium der Verwandtschaft orientiert, so müßte man bei der Berechnung von Familiengrößen oder der Aufstellung einer Familientypologie verwandte Gesindepersonen und Inwohner mitberücksichtigen, nichtverwandte hingegen ausschließen. Daß eine solche Unterscheidung in der Praxis undurchführbar und von der historischen Gruppenrealität gesehen unberechtigt ist, zeigen Entwicklungszyklen von Hausgemeinschaften wie der voigelegte ziemlich anschaulich. Einschlägige Beispiele ließen sich beliebig vermehren. In vielen Fallen begegnen Brüder und Schwestern von Bauern als Knechte und Mägde, vor allem in der ersten Phase nach der Hofübeigabe. 42 Soll man sie hinsichtlich ihrer Familienzugehörigkeit anders einstufen als das übrige Gesinde? Häufig sind Altenteiler oder Altenteilerinnen mit dem Besitzerpaar des Hofes nicht blutsverwandt Das kommt etwa vor, wenn der Altbauer ein zweites Mal geheiratet hatte, der Hof aber an ein Kind aus der ersten Ehe übeiging. Ein solches Zusammenleben mit der verwitweten Stiefmutter im Ausgedinge ist keineswegs selten. In ähnlicher Weise kann die Blutsverwandtschaft zu Altenteilern unterbrochen werden, wenn der Jungbauer früh stirbt und der Hof über die Schwiegertochter an deren zweiten Mann weitergeht 43 Eine Blutsveibindung fehlt vor allem in jenen Fällen, in denen ein Hof verkauft wird, die Altbauern jedoch ihre Ausgedingerechte gegenüber dem neuen Besitzer in Anspruch nehmen.44 Ist es sinnvoll, bei einer familienhistorischen Analyse zwischen blutsverwandten und nichtblutsverwandten Altenteilern zu unterscheiden? Selbst in der Gruppe der Kinder stellen sich ähnliche Probleme. Angenommene Ziehkinder, wie sie vor allem im 19. Jahrhundert in manchen Gegenden Niederösterreichs sehr zahlreich auftreten, haben zwar ihrer Stellung im Haus nach eindeutig die Position von Kindern, eine Blutsverwandtschaft muß freilich nicht bestehen. Im Vergleich zu Einzellisten zeigen serielle Seelenbeschreibungen, daß es sich bei Ziehkindern, die nicht als Verwandte ausgewiesen sind, tatsächlich oft um solche handelt 45 Besonders häufig werden illegitime Kinder von Bauerntöchtern als Ziehkinder der Großeltern geführt - in der Zeit der starken Dlegiti203
mitätszunahme um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein massenhaft auftretendes Phänomen.46 Soll in familienhistorischen Untersuchungen zwischen verwandten und nichtverwandten Ziehkindern differenziert werden? Die Schwierigkeit der familialen Rollenzuordnung von Ziehkindern erscheint noch dadurch kompliziert, daß sie häufig ab einem bestimmten Alter in den Seelenbeschreibungen als Knechte und Mägde geführt werden.47 Das gilt manchmal auch für Bauernkinder aus vorangegangenen Ehen.48 Durch mehrfache Wiedeiverehelichung von Witwern und Witwen kann es übrigens auch bei ihnen dazu kommen, daß „Kinder" mit dem hofbesitzenden Bauernpaar nicht blutsverwandt sind.49 Daß die Frage nach der Familienabgrenzung in historischer Zeit klarer gestellt und zum Teil auch klarer beantwortet werden kann, erscheint als das wichtigste Resultat der Debatte um Familiengrößen der Vergangenheit. Die bloße Berechnung von Mittelwerten der Familiengröße drohte zur statistischen Zahlenspielerei ohne wesentliche Aussagekraft zu werden. Die Abgrenzungsproblematik hingegen führt hinüber zu familialen Rollen bzw. zu familialen Funktionen und damit zur Wesensbestimmung familialer Gruppen in der Vergangenheit Sieht man, daß die Stellung in der Arbeitsorganisation der Hausgemeinschaft den Zeitgenossen für die Zurechnung zu diesem Personenverband entscheidend war, so wird man sich im Vergleich zur Gegenwart des spezifischen Charakters solcher Gruppierungen in vorindustrieller Zeit bewußt In einer Epoche, in der die Familienwirtschaft gesellschaftlich dominiert, kommt der Produktionsfunktion der Familie entscheidende Bedeutung zu. Die Zugehörigkeit des Gesindes zur Familie kann unter dieser Perspektive eindeutig positiv beurteilt werden. Schwieriger erscheint das Problem bei den Inwohnern. In Bauernhäusem werden sie häufig mitgearbeitet haben, zumindest in Zeiten intensiven Arbeitskräftebedarfs wie etwa während der Ernte. Bei ländlichen Kleinhäusern ist dies hingegen nicht anzunehmen, noch weniger in zentralen Siedlungen, in denen die Inwohner meist die Stellung selbständiger Mietparteien einnehmen. Zum Unterschied vom Gesinde durften sie heiraten. Damit war die Grundlage legitimer Fortpflanzung gegeben. Hinsichtlich der Reproduktionsund damit auch der Sozialisationsfunktion bildeten sie also selbständige Einheiten, auch wenn sie hinsichtlich der Produktion in eine größere Hausgemeinschaft eingegliedert und hausrechtlich abhängig waren. Wie es sich mit der Konsumtionsfunktion verhielt, läßt sich aufgrund der hier behandelten Quellen nicht entscheiden. Bei einzelnen Inwohnern wird das Essen an einem Tisch ge204
meinsam mit dem Bauern sicher häufiger voigekommen sein als bei Inwohnergruppen. Unter funktionalem Aspekt wird man bei diesen daher am besten von familialen Subsystemen bzw. von Subsystemen der Hausgemeinschaft sprechen. Solche Subsysteme sind übrigens auch gegeben, wenn eine Magd oder eine Inwohnerin gleichgültig ob sie verwandt oder nicht verwandt ist - mit einem unehelichen Kind in der Hausgemeinschaft mitlebt. Ebenso ist das Ausgedinge, das im Regelfall Verwandte umfaßt, eine „Gruppe in der Gruppe". Zum Altenteiler bzw. zur Altenteilerin können ja noch unversorgte Kinder, Enkelkinder oder Ziehkinder hinzukommen,50 gelegentlich sogar speziell ihnen zugeordnete Knechte und Mägde.51 Der Komplexität solcher Hausgemeinschaften muß auch bei einem Versuch, sie nach ihrer Zusammensetzung zu typisieren, Rechnung getragen werden. Dementsprechend sollte das Gesinde bzw. die Inwohner in einem System der Familientypen berücksichtigt werden. Die von der Familiensoziologie angebotenen Kategorien sind hingegen - gemäß den gegenwärtigen Familienverhältnissen - ausschließlich an Verwandtschaftskonstellationen orientiert. Nach ihnen hat sich bisher im wesentlichen auch die Sozialgeschichte der Familie gerichtet Das international am weitesten verbreitete System wurde von Peter Laslett entwickelt.52 Es unterscheidet neben Haushaltsformen, denen kein Familiencharakter zugesprochen wird, wie Einzelhaushalten von ledigen bzw. verwitweten Personen sowie unverheirateten Geschwistern, die zusammenleben, drei Hauptgruppen: Die erste Gruppe der einfachen Familienhaushalte („simple family household") gliedert sich in Ehepaare, Ehepaare mit Kindern und verwitwete Personen mit Kindern. Die zweite und dritte Gruppe werden als erweiterte („extended family households") und komplexe Haushalte („multiple family households") bezeichnet, je nachdem, ob zur „einfachen Familie" bloß einzelne Verwandte dazukommen oder Gruppen von Verwandten um ein Ehepaar. Je nach Richtung der Erweiterung wird von „extended upwards", „downwards" oder „laterally" gesprochen. Diesem rein an genealogischen Zusammenhängen orientierten Typenschema entspricht auch eine an genealogischen Darstellungsweisen orientierte graphische Ausdrucksform, die freilich bis zu einem gewissen Grad auch die Berücksichtigung nichtverwandter Personen zuläßt 53 Die in Tafel 2 in ihrem Entwicklungsprozeß wiedelgegebene Hausgemeinschaft Wolfenreith Nr. 6 würde sich zu drei verschiedenen Zeitpunkten nach diesem Schema folgenderweise darstellen: 205
Tafel 3: Schema der Hausgemeinschaft Wolfenreith Nr. 6 zu drei verschiedenen Zeitpunkten nach P. Laslett
1790
δλΚλ Δ männliches Familienmitglied Ο weibliches Familienmitglied
1800
1811
X-9
cTi
Δ © Familienoberhaupt unbekannte Verwandtschaftsbeziehung S Gesindeperson
Solche Typisierungen bzw. graphischen Darstellungsformen mögen ihren Wert haben, um überregional veigleichbare Kategorien zu bilden bzw. Anschaulichkeit in der Ausdrucksweise zu erreichen. Es darf darüber aber nicht vergessen werden, daß typologische Zuordnung von Familienformen und Berechnung von deren Häufigkeitsverteilung niemals Endziel sozialgeschichtlicher Forschung darstellen kann. Dieser geht es vielmehr um Interpretation von voigefundenen Sachverhalten, für die statistische Daten zunächst die Funktion haben, erklärungsbedürftige Sachverhalte aufzuzeigen. Wer primär an Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb von Familienverbänden interessiert ist, der wird mit Lasletts Schema sein Auslangen finden. Kategorien der Typenbildung und deren Darstellungsformen hängen ja stets vom jeweiligen Erkenntnisziel ab. Wem es beispielsweise um die Familie als Produktionseinheit geht, den wird es wohl wenig befriedigen, daß die exemplarisch hier herangezogene Familie 1790 einen „simple family household", 1800 einen „extended family household, extended laterally" und 1811 einen „extended family household, extended upwards" gebildet hat Für ihn wird es etwa wichtiger sein, nach der Zahl der Arbeitskräfte in der Familie zu fragen bzw. nach Rollen in der häuslichen Arbeitsorganisation zu typisieren. In einem solchen Fall ist beispielsweise die Kategorie „mit Kindern" zu unscharf. Es wird unterschieden werden müssen, ob die Kinder bzw. andere Familienangehörige voll, halb oder gar nicht in der häuslichen Produktion einsetzbar waren. Ebenso kann es von Interesse sein, in welchem Ausmaß sie an der Konsumtion teilhatten. Eine graphische Darstellung dieses Sachverhalts könnte dann etwa folgendermaßen aussehen:
206
Tafel 4: Schema der Hausgemeinschaft Wolfenreith Nr. 6 zu drei verschiedenen Zeitpunkten als Produklions- und Konsumtionseinheit nach D. Gaunt5* 1790 Ρ» 1 Κ Κ «- 11
Δ9
1800
Ρ-1 K Κ==1 1
6 ΓΑ Α Ρ«1Ρ-1Ρ-"/ιΡ-0
1811
Ρ
Α ό Α ό Ρ = 1Ρ - 1Ρ - 1Ρ = 1
Ρ - VJ
1 Κ- 1
κ Ρ- 1 Κ-1
Κ - 1 Κ - 1 Κ - '/4 Κ - '/ι Κ-IK « IK « 1Κ- 1
Ρ- 0 Ρ- ο
κ - ·/. κ - ·ι. Δ männliches Familienmitglied Ο weibliches Familienmitglied
Δ Ο Familienoberhaupt unbekannte Verwandtschaftsbeziehung S Gesindeperson
Gesamtproduktion — 4Vj Gesamtproduktion = 6 Gesamtkonsumtion = 5Vi Gesamtkonsumtion - 6
Gesamtproduktion = 5 Gesamtkonsumtion = 6 Vi
Gleichgültig ob man die graphische Ausdrucksform gelungen findet - ein Verzicht auf die zugrundegelegte Verwandtschaftsstruktur wäre im speziellen Untersuchungszusammenhang etwa durchaus denkbar das Beispiel zeigt jedenfalls anschaulich, daß Typisierung und deren Übertragung ins Schaubild jeweils vom gewählten Forschungsthema abhängig sind Wer sich mit familiären Erziehungsfragen beschäftigt, wird das jeweilige Lebensalter der Kinder in die Kategorienbildung aufzunehmen haben, wer sich für Familienzyklusprobleme interessiert, der wird nach Altersklassen des Haushaltsvorstands voigehen müssen etc. Kurz, es gibt nicht die Familientypologie schlechthin. Jede Festlegung auf ein einziges Kategorienschema beschränkt zugleich die möglichen Erkenntnisziele. Sieht man die Bildung von Familientypen mehr als Mittel, um einen bestimmten Erkenntniszweck zu erreichen, dann wird man insgesamt in der Typisierungsfrage zu einer flexibleren Haltung kommen. Damit ist zugleich die Möglichkeit zu einer stärker eigenständigen Arbeitsweise offen. Sollte sich die historische Landeskunde vermehrt um die Sozialgeschichte der Familie annehmen, so wäre nichts gefährlicher, als die ausgetretenen Pfade der bisherigen internationalen Familienforschung weiterzugehen und klassisch gewordene Typisierungen bzw. statistische Auszählungsweisen ohne Befragung auf ihre Sinnhaftigkeit zu übernehmen. Sicher vermag die Kenntnis von Themen und Methoden, die anderwärts in der historischen Familienforschung verwendet werden, viele Anregungen zu geben. Letztlich aber muß die Arbeit doch mit eigenstän207
diger Fragestellung und in Entsprechung zu der jeweils gegebenen spezifischen Quellensituation erfolgen. Der Versuch einer Typisierung von Familienformen hat nur dort Sinn, wo eine oder mehrere Einzellisten untersucht bzw. miteinander verglichen werden. Entwicklungszyklen, wie sie aus langen Reihen jährlicher Seelenbeschreibungen rekonstruiert werden können, entziehen sich im wesentlichen dem Versuch einer Typenbildung. Sicherlich kann man aufgrund bestimmter Phasenfolgen zu charakteristischen Verlaufstypen kommen. Gerade der hier wiederholt herangezogene Entwicklungszyklus läßt klar abgrenzbare Phasen in einer für bäuerliche Hausgemeinschaften ziemlich typischen Abfolge erkennen: von 1788 bis 1796 eine Phase in Kernfamilienkonstellation mit arbeitsfähigen Kindern ohne Gesinde, von 1797 bis 1800 eine Witwenphase, in der einige der erwachsenen Kinder schon das Haus verlassen haben, so daß Gesindepersonen (bzw. Inwohner) herangezogen werden müssen, die Phase nach der Hofübeigabe von 1807 bis 1819 bzw. 1821, in der ebenfalls Gesinde aufgenommen werden muß, da die Kinder zur Mitarbeit noch zu klein, die Altenteilerin dazu aber nicht mehr voll imstande ist, und schließlich wiederum die Kernfamilienphase mit herangewachsenen, arbeitsfähigen Kindern ab 1822. Man könnte nun aufgrund anderer Entwicklungszyklen ähnliche Phasenmodelle bilden und sie untereinander vergleichen. Charakteristische Unterschiede - etwa zwischen Bauern und Kleinhäuslern oder zwischen bäuerlichen Hausgemeinschaften mit unterschiedlichen Erbrechtsund Ausgedingegewohnheiten - könnten auf diese Weise deutlich werden. Wesentlichere Erkenntnisse vermittelt jedoch die detaillierte Einzelanalyse, die die jeweiligen Personenkonstellationen und ihre Bedingtheit durch bestimmte Familienereignisse zu interpretieren versucht. Exemplarische Ansätze zu einer solchen Analyse sollen im folgenden unter einer ganz spezifischen Perspektive versucht werden. Der Entwicklungszyklus der Hausgemeinschaft Wolfenreith Nr. 6 ist ein schönes Beispiel für eine in bäuerlichen Familien häufig anzutreffende Erscheinung, die man vereinfachend als „Rolleneigänzungszwang" charakterisieren könnte. Gemeint ist damit die aus dem Bedarf der Familienwirtschaft resultierende Notwendigkeit, ausfallende Arbeitskräfte immer wieder zu ersetzen - sei es, daß die neu eintretende Person in der Hausgemeinschaft dieselbe Position einnimmt, sei es, daß sie in einer anderen Position gleiche Aufgaben verrichtet. Bei familienwirtschaftlicher Produktion darf ein bestimmter minimaler Personenstand nicht unterschrit208
ten, in Hinblick auf den zur Verfügung stehenden Nahrungsspielraum aber auch ein bestimmter maximaler nicht überschritten werden. Dabei ist überdies noch in Hinblick auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung eine gewisse Balance männlicher und weiblicher Arbeitskräfte einzuhalten. Im Entwicklungszyklus der Hausgemeinschaft Wolfenreith Nr. 6 zeigt sich zunächst das Bedürfnis einer Entlastung. Sobald alle fünf Kinder das arbeitsfähige Alter erreicht haben, wird getrachtet, zumindest eines von ihnen auswärts in Dienst zu geben, wobei das Verlassen des Elternhauses zunächst bloß vorübergehend ist Eine entscheidende Zäsur tritt ein, als 1796 der Altbauer mit sechsundsiebzig Jahren stirbt Die Witwe ist erst zweiundvierzig. Der Normalfall wäre in der untersuchten Gegend eine Rolleneigänzung durch Wiederverehelichung gewesen (vgl. ζ. B. Tafel 5). Auch eine andere Lösung hätte sich angeboten. Der älteste Sohn stand bereits im dreiundzwanzigsten Lebensjahr, hätte also ohne weiteres übernehmen und selbst heiraten könnea Allerdings wäre es dadurch zu einem frühen und langen Ausgedinge der Mutter gekommen. Zudem galt in der Gegend Jüngstenerbrecht Der j üngste Sohn aber war erst vierzehn Jahre. Die Mutter hatte offenbar auch deswegen besonderes Interesse an der Einhaltung der Eibfolgeregeln, die sonst in einer solchen Notsituation wohl ohne größere Bedenken durchbrochen worden wären, weil zumindest der älteste Sohn aus einer früheren Ehe des verstorbenen Bauern gestammt haben dürfte. Die notwendige Rolleneigänzung wurde daher in der Form durchgeführt, daß die Witwe ihren ebenfalls verwitweten Bruder, der früher den Nachbarhof Wolfenreith Nr. 5 besessen hatte, zunächst als Knecht und dann als Inwohner ins Haus aufnahm. Er scheint in den nächsten Jahren die Wirtschaft geführt zu haben. Oese Zeit wurde genützt, um die drei älteren Kinder auswärts zu versorgen. Die beiden jüngsten, aus der eigenen Ehe stammenden Kinder holte die Bäuerin inzwischen zurück. Der Weggang zweier erwachsener Söhne machte freilich die Aufnahme eines Knechts notwendig. Bei relativ häufigem Wechsel blieb nun in dieser Position durch fast zwei Jahrzehnte ein jüngerer Mann zwischen sechzehn und fünfundzwanzig Jahren. Als 1805 auch die jüngste Tochter durch Heirat versorgt werden konnte, übergab die verwitwete Bäuerin an den jüngsten Sohn, der nun sofort heiratete. Die Hausfrauenposition wurde also unmittelbar wieder besetzt und zugleich der Arbeitskräftebestand von zwei erwachsenen Frauen beibehalten. Die erst dreiundfünfzigjährige Altenteilerin wird ja wohl zunächst noch mitgearbeitet haben. Eine zusätzliche weibliche Arbeitskraft war erst erforderlich, als 1809 209
das erste Kind des jungen Bauernpaares zur Welt kam. Bei der elfjährigen Magd dürfte es sich um eine Kindsdirn gehandelt haben. Während der nun folgenden Geburten wurde ziemlich regelmäßig eine Magd im Haus gehalten. Erst als die älteste Tochter selbst auf die jüngeren Geschwister aufpassen konnte, verzichtete man darauf. Nach dem 1818 erfolgten Tod der Altbäuerin trat sowohl eine sechzehnjährige Magd als auch eine einundsechzigjährige Inwohnerin in die Hausgemeinschaft ein - erstere wohl, um die ausgefallene Arbeitskraft zu ersetzen, letztere eher in Hinblick auf den freigewordenen Raum. Aber schon zwei Jahre darauf verzichtete man auf die Aufnahme einer Magd. Die beiden größeren Tochter waren ja schon dreizehn und acht Jahre alt Ebenso wurde auch kein Knecht mehr aufgenommen, als der älteste Sohn mit zwölf Jahren aus der Schule kam. Wie zwei Jahrzehnte zuvor ausscheidende Kinder durch Gesinde ersetzt wurden, so nun Knechte und Mägde durch die Kinder - eine für den Entwicklungszyklus bäuerlicher Hausgemeinschaften besonders charakteristische Erscheinung. Nicht immer war es möglich, eine derart ausbalancierte Personalstruktur aufrechtzuerhalten, wie das im Rahmen der hier interpretierten Hausgemeinschaft geschah. Manchmal standen im Bedarfsfall keine geeigneten Gesindepersonen zur Verfügung, so daß man mit weniger Arbeitskräften sein Auslangen finden mußte. Umgekehrt wirkte sich die Versoigungsfunktion der Familie häufig in der Weise aus, daß Verwandte als Ziehkinder, Gesinde oder Inwohner aufgenommen wurden, ohne daß ein Bedarf nach zusätzlichen Arbeitskräften bestanden hätte. Serielle Seelenbeschreibungen bringen dafür zahlreiche Beispiele - vor allem dann, wenn man sie auf Querbeziehungen zwischen mehreren Hausgemeinschaften befragt Die aus ökonomischen Motiven notwendige Rolleneigänzung ist also sicher nicht der einzige bedingende Faktor, der die jeweilige Zusammensetzung einer Hausgemeinschaft verständlich machen kann. In ihren Bedingungen und in ihren Auswirkungen am interessantesten ist die Rolleneigänzung in der zentralen Zone der Hausgemeinschaft, nämlich zwischen Hausherr und Hausfrau. Das Phänomen der Wiederverehelichung begegnet in den untersuchten Personenstandslisten so häufig, daß es berechtigt erscheint, auf diese Erscheinung gesondert einzugehea Es soll das am Beispiel des Entwicklungszyklus einer Hausgemeinschaft geschehen, die mit der zuvor behandelten durch das Nachbarschaftsverhältnis wie auch durch einige interessante Querbezüge verbunden ist (Tafel 5). 210
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Sicherlich ist der gewählte Fall besonders extrem. Im ganzen Untersuchungszeitraum von 1788 bis 1856 wurde der Hof nur durch Wiederverehelichung weitelgegeben. Kein einziges Mal kam es in dieser Zeit zu einer Generationenabfolge durch einen Übergabsvertrag. Dementsprechend fehlt das Ausgedinge. In keiner Phase ist ein Zusammenleben von drei Generationen gegeben. Eine lange Stiefgeschwisterreihe erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte. In Hinblick auf die Größe der Altersabstände kann man bei ihnen freilich kaum mehr von einer generationalen Einheit sprechen. Die Gründe für diese lange Sequenz immer neuer Wiederverehelichungen wird man auf verschiedenen Ebenen suchen müssen. Sie liegen einesteils in allgemeinen makrostrukturellen Bedingungen, andernteils in spezifischen Konstellationen, die nur aus dem Ablauf des individuellen Entwicklungszyklus verständlich sind Die makrostrukturellen Faktoren, die die Häufigkeit von Wiederverehelichungen bedingten, scheinen vom 17. zum 19. Jahrhundert hin immer mehr an Bedeutung verloren zu haben. Dies wird jedenfalls durch exemplarische Analysen von Heiratsmatriken wahrscheinlich gemacht 55 Grobe Indikatoren, die in die gleiche Richtung deuten, lassen sich auch aus der Analyse von Seelenbeschreibungen entnehmen. Ehen, in denen einer der Partner bedeutend älter ist, gehen in dieser Zeit stark zurück. Große Altersunterschiede - vor allem solche von der Frau zum Mann - sind ja ein Indiz für Zweitehen. Ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert kann der Rückgang auch anhand serieller Seelenbeschreibungen anschaulich verfolgt werden.56 Die Gründe dieses demographischen Phänomens, das für die Formen historischer Familienverfassung von größter Bedeutung ist, sind bisher noch nicht eingehend untersucht worden. Auch in der internationalen Literatur finden sich kaum Erklärungsversuche. Eine eingehende Beschäftigung mit diesem Phänomen wäre sicher eine lohnende Aufgabe. Hier können bloß einige Ansatzpunkte für weitere Überlegungen vorgelegt werden - und dies in Beschränkung auf die ländliche Bevölkerung. Die arbeitsoiganisatorische Perspektive des Problems wurde schon erörtert Die strikte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung auf dem Bauernhof ließ es nicht zu, daß eine der beiden zentralen Rollen auf längere Zeit unbesetzt blieb. Zu einer geordneten Wirtschaftsführung gehörten Mann und Frau, Bauer und Bäuerin.57 Freilich wäre in manchen Fällen, in denen ein Witwer oder eine Witwe ein zweites Mal heirateten, diese Rollenergänzung ebenso durch Übergabe an den Hoferben und dessen Verehelichung möglich gewesen. Auch der hier wiedelgegebene Entwicklungszyklus 212
einer bäuerlichen Hausgemeinschaft zeigt solche Konstellationen. Die Wiederverehelichung war freilich in solchen Fällen die einfachere und weniger belastende Lösung. Die Einrichtung eines Ausgedinges konnte vermieden werden, ebenso die Abfindung der Geschwister des Hofeiben innerhalb eines kurzen Zeitraums. Diese geringere Belastung des Hofes lag sowohl im Interesse des verwitweten Partners als auch des Grundherrn, dem in Hinblick auf die Abgabenleistung viel daran liegen mußte, die Verschuldung des Hofes zu minimieren. Mit grundherrlichem Einfluß ist im bäuerlichen Heiratsverhalten jedenfalls bis in die josephinische Zeit zu rechnen. Überall dort, wo beim Besitzerwechsel Abgaben fällig waren, hatte der Grundherr ein zusätzliches Interesse, die Weitergabe durch Wiederverehelichung gegenüber der Generationenfolge zu begünstigen. Die Abnahme der bäuerlichen Wiederverehelichung könnte also mit dem Rückgang grundherrlichen Einflusses in Zusammenhang stehen. Eine zweite makrostrukturelle Bedingung für die Häufigkeit der Wiederverehelichung liegt in Veränderungen der Lebenserwartung. Zu neuerlichen Heiraten von Witwen und Witwern kam es vor allem dann, wenn der Partner in mittlerem Lebensalter verstarb. Auch der hier wiedelgegebene Entwicklungszyklus einer Hausgemeinschaft illustriert dies anschaulich. Für die Sterblichkeit in den mittleren Lebensjahren spielten Seuchen und Epidemien eine sehr große Rolle. Pfarrmatriken aus älterer Zeit zeigen anschaulich, wie auf Seuchenjahre mit hoher Sterblichkeit Jahre besonderer Heiratshäufigkeit folgen, bei denen die Zahl der Zweitheiraten stark ins Gewicht fällt 5 8 Der in seinen Ursachen noch nicht befriedigend geklärte Rückgang der Seuchen, vor allem im Verlauf des 18. Jahrhunderts, hat wohl auch zu einer Abnahme der Wiederverehelichungen beigetragen. Die rechtliche Grundlage der Wiederverehelichung von Witwen bildete die eheliche Gütergemeinschaft, durch die die verwitwete Bäuerin den zweiten Mann zum Mitbesitzer machen konnte.59 Nur in solchen ländlichen Gegenden, in denen diese Rechtsform verbreitet war, finden sich Mehrfachverehelichungen als eine häufige Erscheinung. An diesen besitzrechtlichen Voraussetzungen änderte sich im hier untersuchten Zeitraum in Niederösterreich nichts. Der radikale Versuch Josephs Π., die Rechte der Witwe zugunsten der Erbfolge des ältesten Sohnes zu beschneiden, blieb ohne Konsequenzen.60 Die Auswirkungen häufiger Wiederverehelichung lassen sich in historischen Personenstandslisten vor allem über Alterskonstellatio213
nen vermittelt interpretieren. Neben den jeweiligen Rollenkonstellationen sind j a die Alterskonstellationen insgesamt die aussagekräftigsten Informationen dieser Quellengattung. Leider enthalten keineswegs alle Seelenbeschreibungen Altersangaben. Im Falle serieller Seelenbeschreibungen lassen sie sich mitunter von einer l i s t e auf alle übrigen übertragen. Bei dem hier analysierten Beispiel sind sie lückenlos überliefert, so daß die altersmäßigen Auswirkungen der häufigen Wiederverehelichung gut zu beobachten sind Besonders drastisch ist der Altersunterschied bei der 1805 geschlossenen Zweitehe der Bäuerin mit einem um sechzehn Jahre jüngeren Partner. Der junge Bauer war in den Jahren vor seiner Heirat von 1802 bis 1804 auf dem nahegelegenen Hof Wolfenreith Nr. 6 als Knecht tätig gewesen (vgl. Tafel 4). Aus dem Heiratskontrakt wissen wir, daß er dort ein Verhältnis mit der um sieben Jahre älteren Tochter des Hauses gehabt hatte. Die neue Ehefrau mußte nämlich die Mithaftung für eine Entschädigung übernehmen, falls diese Beziehung zu einer Schwangerschaft des Mädchens führen sollte. 61 Schlaglichtartig erhellt diese Verabredung die Situation, unter der solche ungleiche Ehen geschlossen wurden. Die Chance, selbständiger Bauer zu werden, war für den jungen Knecht ein so starkes Motiv, daß er die bestehende Beziehung kurzfristig abbrach und die weitaus ältere Witwe heiratete. O e s e rein ökonomische Kalkulation war sicherlich allen Beteiligten voll bewußt Es klingt daher auch ziemlich unglaubwürdig, wenn es in einem anderen Heiratskontrakt dieser Pfarre zwischen einem einundzwanzigjährigen völlig besitzlosen Bräutigam und einer hofbesitzenden Witwe von fünfzig Jahren heißt, er widerlege deren reiches Heiratsgut lediglich „mit seiner Uebe". 6 2 Über die emotionale Basis solcher Ehen dürfte sich niemand einer Illusion hingegeben haben. Was das Eheleben derart ungleicher Paare betrifft, sind wir auf die trockenen Daten der Altersrelationen angewiesen. Es fällt auf, daß die Zweitehen solcher Aufsteiger durch Witwenheirat meist mit einer bedeutend jüngeren Partnerin erfolgten. Auch auf Wolfenreith Nr. 4 war es so: Kuiz nachdem die erste Gattin mit zweiundsechzig Jahren verschieden war, heiratete der siebenundvierzigjährige Bauer eine Siebenundzwanzigjährige. Der Altersunterschied zwischen den beiden Frauen betrug nicht weniger als siebenunddreißig Jahre. Das junge Glück war freilich nur von kurzer Dauer. Schon im Jahr darauf verstarb der Bauer. Die Witwe ging sofort eine zweite Ehe ein, diesmal mit einem nur wenig jüngeren Partner. Als sie ein paar Jahre darauf zum zweiten Mal Witwe wurde, bot sie ihrerseits 214
einem jungen Mann die Chance zu raschem Aufstieg. Der Altersabstand von sechzehn Jahren war der gleiche wie der in der Erstehe ihres ersten Mannes. Ahnlich wie für die Beziehungen der Ehegatten werfen Alterskonstellationen aufgrund von Wiederverehelichungen auch für die Eltern-Kind-Beziehungen manche Fragen auf. Auf Wolfenreith Nr. 4 hatte der älteste Sohn aus erster Ehe kurz vor oder in unmittelbarem Zusammenhang mit der zweiten Heirat der Mutter den Hof verlassen. Der neue Bauer, zu dessen Gunsten er seine Übernahmechancen hatte aufgeben müssen, war nur um drei Jahre älter als er selbst Der weitere Lebensweg des übeigangenen Sohnes erweist sich aufgrund der Seelenbeschreibungen als sehr wechselvoll. Er lebte kurzfristig in verschiedenen Kleinhäusern als Inwohner, zeitweise auch als Besitzer. Zum Bauer brachte er es nicht Wie mag sein Verhältnis zu dem fast gleichaltrigen und um so viel erfolgreicheren Stiefvater gewesen sein, wie zur Mutter, deren überraschende Heirat ihn den Hof gekostet hatte? Das Schicksal seiner leiblichen Geschwister war nicht viel besser. Sie verblieben zwar im Haus, wurden aber bezeichnenderweise ab dem Jahre 1821 hier als Knecht und Magd geführt Übernahmeaussichten hatten sie wohl keine, da aus der zweiten Ehe Kinder hervorgegangen waren. Der Sohn blieb auch nach dem Tod der Mutter im Haus und erlebte hier die zweite Heirat seines Stiefvaters. Die neue Stiefmutter war um fünf Jahre jünger als er selbst Mehrfachverehelichungen führten oft zu besonders langen Geschwisterreihen. In extremer Weise tritt dann eine Erscheinung auf, die ganz allgemein die Entwicklungszyklen bäuerlicher Hausgemeinschaften in der Veigangenheit von modernen Familienzyklen unterscheidet Die geringeren Altersabstände bewirken heute, daß Geschwister ziemlich gleichzeitig bestimmte Lebensphasen durchlaufen, nach denen dann auch seitens der Familiensoziologie die einzelnen Phasen des Familienzyklus charakterisiert werden, wie Vorschulalter, Schulzeit etc. In historischen Hausgemeinschaften fehlt diese Erlebnisgemeinschaft relativ altersgleicher Geschwister. Die Abstände waren oft so groß, daß eine solche Entsprechung eher mit Neffen oder Nichten bestand - sei es, daß besonders früh an einen älteren Bruder übergeben wurde, sei es, daß eine ältere Schwester ein uneheliches Kind in die Familie brachte. Bei Mehrfachverehelichungen war die Chance, daß es zu einer solchen Konstellation kam, in besonderem Maße gegeben.63 Neben den Angaben über Alters- und Rollenstruktur von Familien informieren die Seelenbeschreibungen mitunter auch über die 215
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Erwerbstätigkeit Solche Angaben sind insofern von besonderem Wert, als sie eine Interpretation von Familienkonstellationen nach arbeitsspezifischen Bedingungen zulassen. In einer Epoche, in der die Familienwirtschaft die dominante Form der Arbeitsorganisation darstellte, ist praktisch nur bei Familienvätern mit Berufsangaben zu rechnen. Erst mit der Auflösung der Einheit von Arbeitsstätte und Wohnung und dem Vordringen der individuellen Lohnarbeit begegnen auch bei Familienangehörigen solche Hinweise. Dies ist - den arbeitsorganisatorischen Verhältnissen entsprechend - am frühesten in städtischen Personenstandslisten der Fall. Auf dem Land finden sich über die Hausherren hinausgehend Angaben über die Erwerbstätigkeit zuerst bei den Inwohnern. Sie waren ja am schwächsten in das Haus als Produktionsgemeinschaft integriert und hatten neben der Mitarbeit in diesem Rahmen zumeist noch andere Erwerbsquellen. Freilich erfolgte die Sicherung des Lebensunterhalts bei ihnen in der Regel durch so vielfältige Tätigkeiten, daß ein Beruf im heutigen Verständnis des Wortes gar nicht angegeben werden konnte. Stand dabei die Lohnarbeit im Vordergrund, so begnügte man sich im Fall einer Berufsangabe mit dem Hinweis Taglöhner. Erfolgte der Mischerwerb durch handwerkliche Tätigkeiten, so finden sich gelegentlich Doppelbezeichnungen wie ζ. B. „Weber und Maurer" oder „Schneider und Weber". Auch bei selbständigen Kleinhäuslern war die Erwerbssituation manchmal ähnlich wie bei den Inwohnern, so daß hier ebenso vielfach keine Berufsangaben im heutigen Sinne auftreten. Für einen Vergleich von spezifischen Familienstrukturen ist freilich schon viel gewonnen, wenn die Häusler, Hüttler, Söldner, Keuschler oder wie sonst diese Kleinstelleninhaber genannt werden, von den Bauern getrennt werden können. In Streusiedlungsgebieten hilft diesbezüglich mitunter die Hausbezeichnung weiter, aus der ja zumeist hervorgeht, ob es sich um einen Hof oder ein Kleinhaus handelt Analysen über den Zusammenhang von Familienstruktur und Erwerbstätigkeit können wiederum sowohl aufgrund aggregierter Daten mit quantifizierenden Methoden als auch durch Interpretation spezifischer Einzelhaushalte durchgeführt werden. Die letztere Voigangsweise empfiehlt sich insbesondere dann, wenn eine lange Reihe jährlicher Seelenbeschreibungen vorliegt In Gegenüberstellung zu den behandelten Entwicklungszyklen bäuerlicher Hausgemeinschaften soll dies hier mit einem Handwerkerhaus aus kleinstädtischem Milieu versucht werden. Bereits im ersten Jahr, in dem wir den Entwicklungszyklus dieser Weberfamilie aus Gmünd verfolgen können, wurde der 218
Hausherr Witwer. Entgegen den alten zünftischen Traditionen, nach denen der Meister stets verheiratet sein sollte,64 heiratete der Familienvater hier nicht mehr. Es ist dies eine Erscheinung, die wir bei den Webern dieser Gegend nach den untersuchten Quellen auch sonst vielfach feststellen können - übrigens auch bei den Meisterswitwen. Im gegebenen Fall war eine Wiederverehelichung des Witwers schon deswegen nicht notwendig, weil mehrere erwachsene Tochter im Haus lebten. Der einzige Sohn war noch zu jung, um das väterliche Handwerk zu übernehmen. Er verließ mit fünfzehn Jahren das Haus - offenbar, um auswärts die Lehrzeit zu absolvieren. Es fällt auf, daß unmittelbar vor seinem Weggang und unmittelbar nach seiner Rückkehr ein Geselle aufgenommen wurde, nicht jedoch während seiner Abwesenheit Ein Rolleneigänzungszwang im Sinne der Herstellung eines bestimmten Arbeitskräftepotentials war im Handwerkerbetrieb nicht in gleicher Weise gegeben wie im Bauernhaus. Der Arbeitskräftebedarf hing ja nicht von einer gleichbleibenden Besitzgröße ab, sondern von einer wechselnden Nachfragesituation. Charakteristisch erscheint, daß der Sohn nach seiner auswärtigen Lehrzeit ins Vaterhaus zurückkehrt Das war bei Handwerkern keinesfalls die Regel, kam aber umso häufiger vor, wenn mit dem Gewerbe der Besitz eines Hauses verbunden war.65 Diese Situation erscheint im behandelten Fall gegeben. Freilich übernahm hier der Sohn nur für kurz die Hausherrenstellung. Nach einem Jahr folgte ihm seine Schwester mit ihrem eben angetrauten Ehemann. Der Wechsel in der Hausherrenposition ist im untersuchten Weberhaushalt eine tiefeigreifende Zäsur als in den zuvor behandelten bäuerlichen Hausgemeinschaften. Außer über die erbende Tochter ist keine personale Kontinuität gegeben: kein Ausgedinge wird eingerichtet, keine Geschwister verbleiben im Haus. Der alte Vater kehrt zwar nach siebzehn Jahren als Inwohner zurück, scheidet aber schon bald wieder aus. Die Einrichtung des Ausgedinges ist dem zünftischen Handwerk im Prinzip fremd. 66 Im Untersuchungsraum hatte sie sich zwar durch die enge Verflechtung der verlegten Landweber mit dem bäuerlichen Milieu ihrer Umgebung auch bei jenen verbreitet,67 im behandelten Fall wurde jedoch darauf verzichtet Auch sonst begegnet ein Zusammenleben der engeren Htem-Kind-Gruppe mit Verwandten im Rahmen der Hausgemeinschaft viel seltener als bei Bauern. Von den vielen Gesellen und Lehrlingen, die im Lauf der vier untersuchten Jahrzehnte aufgenommen wurden, ist kein einziger mit der Familie des Hausbesitzers verwandt. Für Handwerksverhältnisse erscheint dies charakteristisch. Anders als bei Bauern spielten Verwandtschaftsver219
bindungen bei der Wahl des Dienstplatzes eine völlig untergeordnete Rolle. Dies gilt jedenfalls für die betrieblichen Mitarbeiter. Von den Mägden ist eine mit dem Hausherren namensgleich. Auch unter den zahlreichen Inwohnern der Hausgemeinschaft findet sich nur ein einziger Verwandter. 1840 wurde kurzfristig der 1832 aus dem Haus gegangene älteste Sohn mit seiner Familie aufgenommen, freilich auch nur als Übeibrückung für ein Jahr. Er hatte wie der Vater das Weberhandwerk eigriffen. Von den übrigen Inwohnern war nur ein einziger Weber. Es findet sich weiters ein Uhrmacher, ein Teichgräber und ein Schneider, dessen Frau, wie aus ihrer Berufsbezeichnung hervorgeht, das Handwerk ihres verstorbenen Mannes fortsetzte. Sie dürfte freilich auch nebenher durch Weberei den Lebensunterhalt der Familie bestritten haben, da sie einen Webergesellen beschäftigte - offenbar ein Beispiel für die bereits erwähnte Form des Mischerwerbs. Die eigenständigen Erwerbsquellen der verschiedenen Inwohnergruppen deuten darauf hin, daß diese weit weniger stark in die Hausgemeinschaft integriert waren, als das für Inwohner von Bauern angenommen werden darf. Handwerker, die als Inwohner lebten, hatten selbstverständlich ganz andere Familienverhältnisse als hausbesitzende Gewerbetreibende. Schon aus räumlichen Gründen mußten sie sich früh von ihren Kindern trennen. Ein dauerhaftes Zusammenleben mit heranwachsenden Kindern war vom Arbeitskräftebedarf nicht notwendig. Im Gegenteil - bei der schmalen Erwerbsgrundlage stellte eine größere Kinderzahl eher eine Belastung dar. Vor allem aber gab es weder ein Haus noch Produktionsmittel in einem Maß zu vererben, daß dadurch ein Anreiz zum Verbleib bei den Eltern gegeben gewesen wäre. Bei den als Mieter oder als Inwohner lebenden Handwerkern sind daher kleinere Familien die Regel. Zum Unterschied von bäuerlichen Verhältnissen kommen auch kinderlose Paare vor. Mit zunehmender Größe städtischer Siedlungen treten solche Erscheinungen verstärkt auf. Vergleichende Analysen des Zusammenhangs von Erwerbstätigkeit und Familienstruktur lassen sich bei Großgruppen wie Handwerkern oder Bauern durchaus auf quantifizierender Ebene durchführen. Aufschlüsse über arbeitsorganisatorische Bedingungen des Zusammenlebens in Hausgemeinschaften können jedoch auch aus Einzelbeispielen in Seelenbeschreibungen gewonnen werden selbst dann, wenn keine fortlaufenden Listen erhalten sind. Als Beispiel sei hier etwa auf herrschaftliche Meierhöfe verwiesen.68 Ahnlich interessante Sonderfälle sind frühe industrielle Großbetriebe, bei denen die Arbeitskräfte noch zur Gänze oder zumindest 220
teilweise im Betrieb wohnen, also im Rahmen einer umfassenden Hausgemeinschaft leben. Der Übergang von solchen patriarchalischen Formen zur Trennung von Arbeitsstätte und Wohnung läßt sich in Seelenbeschreibungen mitunter recht gut verfolgen. 69 Insgesamt erscheint es aufschlußreich, anhand von historischen Personenstandslisten der Frage nachzugehen, inwieweit in Großhaushalten noch traditionelle „familiale" Strukturen fortleben. An solchen Großhaushalten wären etwa Adelshäuser zu nennen - sowohl ländliche Herrschaftssitze als auch Stadtpalais - , weiters klösterliche Hausgemeinschaften oder andere Formen von Anstaltshaushalten wie etwa Spitäler. Gerade solche Sonderfälle von Hausgemeinschaften erscheinen als ein lohnender Gegenstand von Spezialanalysen auf der Basis von Seelenbeschreibungea Über den engeren Rahmen historischer Familienforschung geht eine solche Themenstellung zwar hinaus - im weiteren Kontext einer sozialhistorischen Beschäftigung mit familialen Sozialformen käme ihr freilich große Bedeutung zu. Gelegentlich bieten historische Personenstandslisten auch Angaben über die örtliche Herkunft der verzeichneten Personen. Dies gilt vor allem für das Urmaterial von Konskriptionen und Volkszählungen. Über demographische Mobilitäts- und Wanderungsanalysen70 hinaus sind solche Hinweise auch für die Sozialgeschichte der Familie von großem Interesse. Zwar lassen sich regionale Heiratskreise oft exakter durch Heiratsmatriken ermitteln, diese Quelle ermöglicht jedoch die schichtspezifische Analyse des Konnubiums nicht in gleicher Weise, wie das aufgrund von Personenstandslisten möglich ist Personenstandslisten zeigen in ländlichen Gebieten sehr deutlich, daß gerade die reicheren Bauern einer Pfarre meist sehr eng untereinander versippt waren. Aus längeren Reihen serieller Seelenbeschreibungen lassen sich mitunter sogar aufgrund der Verbindungen zwischen den einzelnen Hausgemeinschaften langfristige Erb- und Heiratsstrategien rekonstruieren.71 Mit abnehmender Sozialschicht werden die Heiratskreise räumlich immer weiter. Unter den Inwohnern herrscht die größte Mobilität Die Ehepartner haben oft weit voneinander entfernte Herkunftsorte. Ähnlich interessant für Untersuchungen zur Sozialgeschichte der Familie sind die Geburtsorte des Gesindes bzw. der betrieblichen Mitarbeiter von Handwerkern. Bei Knechten und Mägden ergeben sich daraus häufig Hinweise auf Formen der Gesindevermittlung, sei es, daß sie durch verwandtschaftliche Beziehungen oder auf Basis der Nachbarschaft erfolgte. Bei Handwerksgesellen lassen sich dadurch Wanderwege rekonstruieren, die den im Vergleich zum bäuerlichen 221
Milieu ungleich größeren Enzugsbereich dieser Bevölkerungsgruppe in der Zusammensetzung der Hausgemeinschaften anschaulich vor Augen führen. Beschäftigt man sich mit dem Quellenwert historischer Personenstandslisten, so ist schließlich auf die Namen als Quelle zu verweisen. Familiengeschichtlich interessante Schlußfolgerungen sind etwa möglich, wenn illegitime Kinder den Familiennamen des Vaters erhalten72 oder Frauen auch in der Ehe weiterhin mit ihrem Mädchennamen geführt werden. Die Vornamengebung erlaubt vor allem bei seriellen Seelenbeschreibungen Überlegungen über individuelle Motivationen oder brauchtumsmäßig festgelegte Regelmäßigkeiten der innerfamilialen Weitergabe von Namen. Über die Sozialgeschichte der Familie hinaus können Analysen des Wandels im Namengut lokaler Populationen interessante mentalitätsgeschichtliche Entwicklungen erschließen.73 Für die quantifizierende Auswertung von historischen Personenstandslisten ist es ein Vorteil, daß sie in hohem Maß standardisiert und daher auf einige wenige Grundinformationen beschränkt sind Wer über die manchmal etwas trockene Interpretation aggregierter Daten hinaus auch individuelle Familienschicksale in die Analyse einbeziehen will, der wird es als positiv empfinden, wenn gelegentlich erläuternde Zusätze vorkommen, wie das gerade in den älteren Seelenbeschreibungen manchmal der Fall ist. Es steckt ein Stück Lebensgeschichte von überindividueller Bedeutsamkeit dahinter, wenn bei einem zweiundvieizigjährigen Kleinhäusler, der mit einer dreiundsiebzigjährigen Frau verheiratet war, von späterer Hand die Anmerkung „emigravit" hinzugefügt wurde. In Zusammenhang mit Visitationen angelegte Personenstandslisten bringen mitunter interessante Hinweise auf sittliche Zustände, wie etwa der Zusatz bei einer verheirateten Frau „ter mater ante matrimonium". Wenn auf einem Bauernhof gelegentlich ein Bruder oder eine Schwester besonders lange auf dem Hof verbleiben, so lassen Beifügungen wie „stumm", „taub" oder „nit weltläufig" die Konstellation auf einmal in einem anderen licht erscheinen. Die Versoigungsfunktion der Familie wird in einer sehr unmittelbaren Form faßbar. Der große Erkenntniswert etgänzender Informationen kommt vor allem dann zum Tragen, wenn man Personenstandslisten mit anderen Quellen zur Sozialgeschichte der Familie verbindet Eine solche Kombination erhöht schlagartig die Interpretationsmöglichkeiten. In einer lokalgeschichtlichen Studie sollte man daher grundsätzlich eine Zusammenschau historischer Personenstandslisten mit anderen Quellengattungen anstreben. Bei einem breiter angelegten 222
überregionalen Vergleich wird ein solcher Versuch freilich aufgrund des Zeitaufwands wie auch aufgrund der Veigleichbarkeit der Zusatzquellen bedeutend schwieriger sein. E n e stets mögliche, freilich auch besonders aufwendige Kombinationsmöglichkeit ist die Verbindung von Personenstandslisten und Pfarrmatriken. Pfarrmatriken sind ja auch für sich genommen eine interessante familiengeschichtliche Quelle. Sie ermöglichen freilich nur die Rekonstruktion der „genealogischen Familie", nie die der „sozialen" als der Gruppe der tatsächlich miteinander in Haus- bzw. Haushaltsgemeinschaft lebenden Personen. Die Ahnenforschung aufgrund von Pfarrmatriken hat eine weit zurückreichende Tradition. Freilich stand bei den Genealogen in der Regel bloß das Interesse an einzelnen Familien im Vordergrund. Eine zusammenfassende Interpretation von vitalstatistischen Daten für eine ganze Pfarre wurde nur selten versucht 74 Solche statistischen Analysen haben eher bevölkerungswissenschaftlich interessierte Sozialgeographen durchgeführt - diese jedoch wiederum ohne eingehendere Beschäftigung mit familialen Bedingungen.75 Seitens der Geschichtswissenschaft befaßt sich in den letzten Jahren vor allem die historische Demographie mit derartigen Fragen. Die von Frankreich ausgehende Methode der „Familienrekonstitution" ist geradezu zu einem Modethema geworden. Die Zahl der Pfarrstudien, die dem Vorbild des von Michel Fleury und Louis Henry dafür entwickelten Leitfadens folgen, ist schon kaum mehr überblickbar.76 Freilich werden langsam auch die Grenzen des Nutzens solcher Studien sichtbar, soweit sie ohne überregionalen Vergleich bzw. ohne ergänzende Quellen durchgeführt sind. Gerade Familienrekonstitutionen und Analysen von Personenstandslisten könnten einander gut ergänzen. Personenstandslisten etwa bieten den schicht- und familienspezifischen Hintergrund zum Verständnis von vitalstatistischen Daten wie Heiratsalter, eheliche Fruchtbarkeit oder Höhe der Illegitimitats raten. Umgekehrt vermitteln die Familienrekonstitutionen wichtige ergänzende Angaben, beispielsweise über die Verwandtschaftsverhältnisse der in den einzelnen Hausgemeinschaften zusammenlebenden Personen. E n e Zusammenschau zwischen Matriken und Seelenbeschreibungen erscheint vor allem dort unerläßlich, wo die letzteren keine Altersangaben enthalten. Interpretationen historischer Personenstandslisten gewinnen viel an Aussagekraft und an Lebendigkeit in der Wiedergabe historischer Verhältnisse, wenn man sie mit Rechtsquellen wie Heiratskontrakten und Übergabeverträgen verbindet 77 Solche Quellen geben Enblicke in die realen Lebensbeziehungen, etwa zwischen 223
Bauern und Altenteilern, ebenso aber auch in die wirtschaftlichen Untergründe der personellen Strukturen, die wir in den Listen vorfinden. Gerade die Ergänzung durch ökonomische Daten ist für die Analyse von Familienkonstellationen von enormem Wert Es genügt beispielsweise, bloß die Besitzgrößen mit der Größe und Zusammensetzung von Hausgemeinschaften in Beziehung zu setzen, um den Ertrag einer quantitativen Analyse von Seelenbeschreibungen um ein Vielfaches zu erhöhea Aus der Vielzahl möglicher Quellen, die sinnvoll mit historischen Personenstandslisten kombiniert werden können, soll auf eine noch besonders hingewiesen werden, nämlich die mündliche Überlieferung. Die einerseits von der Volkskunde, andererseits von verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen schon lange geübten Befragungsmethoden beginnen neuerdings auch in historischen Untersuchungen an Bedeutung zu gewinnen. Da die diesbezüglichen Anstöße in erster Linie von der angloamerikanischen Forschung ausgegangen sind, hat sich auch im deutschsprachigen Raum dafür die Bezeichnung Oral Histoiy durchgesetzt 78 Selbst weit zurückliegende Erscheinungen, die uns durch historische Personenstandslisten überliefert sind, können durch Befragungen besser verständlich gemacht werden. Wenn etwa in manchen Gebieten Niederösterreichs uneheliche Kinder von Mägden nach dem Befund der Seelenbeschreibung häufig bei ihrer Mutter verblieben, so wird man solche Konstellationen aufgrund sozialisationstheoretischer Überlegungen wahrscheinlich aufs erste sehr positiv beurteilen, jedenfalls besser als die viel öfter anzutreffende frühe Trennung von der Mutter. Hört man dann freilich, daß gerade solche Mägde seitens der Dienstgeber besonders ausgebeutet werden konnten und wurden, so wird sich die Bewertung wahrscheinlich etwas verschieben. Ein anderes Beispiel für den Erklärungswert von Befragungen: Sehr häufig zeigen Seelenbeschreibungen, daß als erster Dienstplatz für junges Gesinde meist die Häuser von Verwandten ausgesucht wurden. Hört man von konkreten Einzelfällen, in denen junge Knechte durch zu starke körperliche Belastung in den Entwicklungsjahren zu Krüppeln wurden, so erscheint es besser verständlich, warum man sie gerne zunächst in der Verwandtschaft beließ. In Hinblick auf den Wert solcher Kombinationen wird im Rahmen jener Forschungsprojekte zur Sozialgeschichte der Familie, von deren bisherigen Ergebnissen hier auszugsweise berichtet wurde, auch eine Oral-Histoiy-Studie in einer niederösterreichischen Pfarre durchgeführt, für die eine lange Reihe serieller Seelenbeschreibungen überliefert ist.
224
Die Kombination von Personenstandslisten mit anderen Quellengattungen ist ebenso wie der überregionale Veigleich solcher Listen eine zeitlich und - wenn mit Methoden der EDV gearbeitet wird - auch kostenmäßig sehr aufwendige Forschungsarbeit. Isolierte Einzelforschung erscheint hier wenig zielführend Kooperation, koordinierte Behandlung paralleler Fragestellungen und gegenseitige Information vermag den Ertrag der Arbeit wesentlich zu steigern. Deutlich zeigt dies das Beispiel der „Cambridge Group for the History of Population and Social Structure", in der ein Team von Hochschulhistorikern mit Lokalforschem zusammenarbeitet, die an Fragen der historischen Demographie und Familienforschung interessiert sind Die international verbreitete Zeitschrift „Local Population Studies" ist der Niederschlag dieser Kooperation. Solche Arbeitsformen lassen sich gewiß nicht unmittelbar kopieren. Sollte sich die historische Landeskunde auch in Österreich stärker Themenstellungen zuwenden, wie sie etwa in England und Frankreich auf der Basis von Personenstandslisten behandelt werden, so erschiene es jedoch wünschenswert, dafür geeignete Formen der Zusammenarbeit zu finden. Seitens der Forschungsprojekte zur Sozialgeschichte der Familie, aus deren Tätigkeit hier berichtet wurde, könnte dafür auf breiter Basis Veigleichsmaterial angeboten werden, das für EDV-Auswertung aufbereitet ist und Interessenten zur Verfügung steht Ein Gleiches gilt für die im Rahmen der Forschungsvorhaben angelegten bibliographischen Behelfe. Umgekehrt ist für die Projektmitarbeiter die Kenntnis von einschlägigen lokalen Quellenbeständen von großem Wert, vor allem aber von Informationen über deren Auswertung. Eine erfolgreiche Arbeit auf solchen Gebieten, die für die historische Landeskunde in Österreich im wesentlichen doch noch wissenschaftliches Neuland darstellen, wird wohl nur dann möglich sein, wenn einerseits räumlich umgreifende Analysen in exakter und gründlicher Lokalforschung abgesichert sind andererseits aber Lokalforschungen um Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse parallel konzipierter Studien Bescheid wissen.
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Anmerkungen 1 2
American Historical Review 77, 1972, S. 398-418. Die auf der Basis dieser Foischungen entstandene Dissertation Lutz Κ. BERKNERS, Family, Social Structure and Rural Industry. A Comparative Study of the Waldviertel and The Pays de Caux in the 18 ή Century, Harvard 1973, ist bisher ungedruckt. Eine Kopie des Manuskripts befindet sich in der Bibliothek des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Über die Sozialgeschichte der Familie hinaus bietet die Arbeit wertvolle Informationen und Anregungen über die Entwicklung der ländlichen Hausindustrie - einen Themenbereich, der seitens der Wirtschaftsgeschichte zunehmend in den Vordergrund gerückt wird. Vgl. dazu etwa die vieldiskuticrte Arbeit von Peter KWEOTE/Hans MEDICK/Jürgen SCHLUMBCH IM, Industrialisierung v o r der Industrialisierung, Göt-
3
tingen 1977. Einen guten zusammenfassenden Überblick über die neuere Familienzyklusforschung mit zahlreichen Hinweisen auf weiterführende Literatur bietet Reni KÖNIG, Soziologie der Familie, in: Handbuch zur empirischen Sazialforschung 7, 2
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1976, S. 115 ff.
Die erstaunliche Bedeutungszunahme dieser sozialgeschichtlichen Forschungslichtung läßt sich - auf den quantitativen Aspekt beschränkt - aus dem Vergleich zweier Bibliographien der letzten Jahre illustrieren. 1977 veröffentlichte James Wallace MILDEN 1.302 Titel mit kurzen Abstracts (The Family in Past Time. A Guide to the Literature, New York/London 1977). Hier sind die englischsprachigen Publikationen bis 1975 zusammengefaßt. 1980 erschien eine Auswahlbibliographie zur gleichen Thematik, die freilich über die englischsprachige Literatur hinausgeht, mit nicht weniger als 6.205 Titeln (Gerald L SOUDAY, History of the Family and Kinship: A Select International Bibliography, New York 1980). Vgl. dazu Gerhard WINNER, Über niederösterreichische Pfarrarchive und die Quellenlage für Pfarrgeschichten der neuesten Zeit, UH45, 1974, S. 31. Diese Beiträge wurden in dem von Peter LASLETT und Richard WALL herausgegebenen Sammelband „Household and Family in Past Time", Cambridge 1972, publiziert Der Band bietet bisher die beste überregional vergleichende Zusammenschau historischer Familienstrukturen. Ein Fortsetzungsband unter der Leitung derselben Herausgeber unter dem Titel „Family Forms in Historie Europe" erschien 1983. Hier sind auch einschlägige Forschungen aus Österreich mit zwei Beiträgen vertreten. Vbr allem Peter LASLEIT, Mean Household Size in England since the Sixteenth Century, in: LASLEIT/WALL (Hg.), Household and Family, S. 125-158, in: Fortführung von Peter LASLETT, Size and Structure of the Household in England over three Centuries. Population Studies 23, 1969, S. 199 - 224. - Vergleichende Zusammenfassungen auf der Basis lokaler bzw. regionaler Analysen historischer Personenstandslistcn liegen seither für Frankreich (Pierre GOUBERT, Family and Province. A Contribution to the Knowledge of Family Structure in Early Modern France. Journal of Family History 2, 1977, S. 179-197) und für Ungarn (Rudolf ANDORKA, Peasant Family Structure in the Eighteenth and Nineteenth Centuries. Ethnographica 8 6 , 1 9 7 5 , S. 3 4 1 - 3 6 5 ) vor.
8
Michael MITTERAUER, Zur Familicnstruktur in ländlichen Gebieten Österreichs im 17. Jahrhundert, in: Heimold HELCZMANOVSZKI (Hg.), Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Österreichs, Wien 1973, S. 167-224. - DERS., Vorindustrielle Familienformcn. Zur Funktionsentlastung des „ganzen Hauses" im 17. und 18. Jahrhundert, Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 2,1975, S. 123-185. Neudruck in: DERS., Grundtypen alteuropäischer Sozialformen. Haus
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und Gemeinde in vorindustriellen Gesellschaften, Stuttgart 1979, S. 35-97. DERS., Auswirkungen von Urbanisierung und Frühindustrialisierung auf die Familienverfassung an Beispielen des österreichischen Raumes, in: Werner CONZE (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 53-146. Diese Erhebungen erfolgten im Rahmen eines vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich geförderten Forschungsprojektes „Strukturwandel der Familie in Österreich seit dem 17. Jahrhundert". Vgl. die Zusammenstellung bei MTITERAUER, Auswirkungen (wie Anm. 8), S. 134 f. Im Stiftsarchiv Klostemeubuig etwa finden sich Kommunikantenlisten von Stiftspfarren aus dem 17. Jahrhundert, die nicht nach Häusern, sondern nach lägen des Empfanges der Ostersakramente angelegt wurden (Stiftsarchiv Klosterneuburg, Kart 112, fol. 22 2 , Nr. 22). Jean Paul LEHNERS, Haus und Familie im Markt Stockerau am Ende des 17. Jahrhunderts. UH45, 1974, S. 224. - MTITERAUER, Familienstruktur (wie Anm. 8), S. 209. Für die beiden westlichen Landcsviertel Niederösterreichs bieten die Inventare des SL Püllcner Diözesanarchivs einen ausgezeichneten Überblick über die Bestände der einzelnen Pfarrarchive. Ein Großteil dieser Archivalien ist in SL Pölten zentralisiert Für die beiden östlichen Landesviertel ist ein vergleichbarer Gesamtüberblick nicht möglich. Auf ein Dekret des bischöflichen Konsistoriums von 1764 als Grundlage der jährlichen Seelenbeschreibung beruft sich der Pfarrer von Kierling bei seinen wiederholten Berichten über die Durchführung dieser Zählung in seiner Pfarrchronik (Protocollum Ecclesiae Kirchlingensis ab anno MDCCLXI usque ad annum MDCCLXXII inclusive, Stiftsarchiv Klostemeubuig). Christel DURDDC, Bevölkerungs- und Sozialstatistik in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert, in: Heimold HELCZMANOVSZKI (Hg.), Beiträge zur Bcvölkerungsund Sozialgeschichte Österreichs, 1973, S. 227. Über diese Quelle und ihre Auswertungsmöglichkeiten vgl. die Beiträge in Heft 35/3 der Wiener Gcschichtsblätter, 1980, insbesondere Josef EHMER, \folkszählungslistcn als Quelle der Sozialgeschichte. Eine vergleichbar gute Überlieferung serieller Seelenbeschreibungen läßt sich für Österreich sonst nur im Land Oberösterrcich nachweisen. In Salzburg gibt es für den gleichen Zeitraum zwar auch jährlich durchgeführte Zählungen, ihnen lag jedoch in der Regel nicht eine detaillierte Aufnahme aller Angehörigen der Pfarre nach Name, familiärer Rolle, Stand und Alter zugrunde. Einen methodologischen und inhaltlichen Überblick über die Auswertungsmöglichkeiten von seriellen Scclenbeschreibungcn versuchte an Beispielen aus nieder- und oberösterreichischem Quellcnmaterial die Studie: Michael MTITERAUER/ Reinhard SIEDCR, The Developmental Process of Domestic Groups: Problems of Reconstruction and Possibilities of Interpretation. Journal of Family History 4, 1979, S. 257-284. - Vgl. auch Reinhard SIEDER, Strukturprobleme der ländlichen Familie im 19. Jahrhundert Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 41, 1978, S. 173-217. - Ferner Peter SCHMIDTBAUER, Modell einer lokalen Krise. Zur Sozialgeschichte einer Innvicrtler Gemeinde. Ebenda, S. 219 - 240. Beispiele der Interpretation von Ehtwicklungszyklen auch bei Michael MTITERAUER, Familienformen und Illegitimität in ländlichen Gebieten Österreichs. Archiv für Sozialgeschichte 19, 1979, S. 123-188. Als exemplarische Lokalstudien, die sich auf serielle Scelenbeschreibungen stützen, sind zu nennen: Gertrude OSTRAWSKY, Zur Zusammensetzung der Hausgemeinschaften in der Pfarre Maria
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Langegg im Dunkelsteinerwald 1788-1875. Sozioökonomische Voraussetzungen von Familienformen und der Dauer des Zusammenlebens. Phil. Diss. Wien (masch., 1979). - Eleonore KRABICKA, Übergabemuster ländlicher Hausgemeinschaften am Beispiel der Pfarre Andrichsfurt 1813-1873. Hausarbeit am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien (masch., 1979). Peter LASLETT, Introduction: The History of the Family, in: LASLETT/WAIJL, Household and Family in Past Urne, Cambridge 1972, S. 11 ff., vor allem S. 16. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Aufsätze Peter LASLETO zur Sozialgeschichte der Familie bietet der Sammelband: Family Life and Illicit Love in Earlier Generations, Cambridge 1977. London 1977. Introduction, S. 16. Lutz-Karl BERKNER, The Use and Misuse of Census Data for the Historical Analysis of Family Structure. Journal of Interdisciplinary History 5,1975, S. 724. Die in diesem Artikel ausgetragene Kontroverse erscheint insgesamt für die Probleme und Möglichkeiten der Aaswertung von Personenstandslisten für die Sozialgeschichte der Familie grundlegend. - Eine Stellungnahme zu den einzelnen Kontroverspunkten aus der Perspektive des österreichischen Quellenmaterials bei Michael MITTERAUER, Familiengröße - Familientypen - Familienzyklus, in: Historische Familienfoischung und Demographie, hg. von Hans Ulrich WEHLER, Geschichte und Gesellschaft 1, 1975, S. 226 -255. Dies veisucht etwa OSTRAWSKY, Hausgemeinschaften (siehe Anm. 18). In sehr differenzierter Weise wurde diese Methode in Österreich zuletzt von Kurt KLEIN, Die Bevölkerung Österreichs vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Hei mold HELCZMANOVSZKI (Hg.), Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgcschichte Österreichs, Wien 1973, S. 47-112, angewandt. Vgl. dazu Michael ΜΓΓΠ-RAUER, Influences of the Agrarian Revolution in Peasant Family Structure in Austria, in: Festschrift Vassar, Tallinn 1981, vor allem Tafel 1. Dies ist etwa bei zwei benachbarten Salzburger Pfarren in den Jahren 1648/49 der Fall, von denen die eine einen Schnitt von 7,72 die andere von 5,94 Personen pro Haus aufweist. Vgl. dazu MITTERAUER, Familienstruktur (wie Anm. 8), S. 180. Frederic LE PLAY, Les ouvriers Europdens, Paris/Tours 1877-1879. - DERS., L'organisation de la fami lie selon le vrai modüle signalß par l'histoire de toutes les races et de toutes les temps, Paris/Tours 1875 und 1884. Emile DÜRKHEIM, Le famille conjugale. Revue philosophique 1921. Vgl. dazu Michael MTITERAUER, Der Mythos von der vorindustriellen Großfamilie, in: Seminar Familie und Gescllschaftsstruktur (hg. von Heidi ROSENBAUM, Frankfurt am Main 1978), S. 128 ff. - DERS. und Reinhard SIEDER, Vom Patriarchat zur Partnerschaft, München 1980, S. 38 ff. Hier ist auch die neuere Literatur zu diesem Fragenkomplex zusammengefaßt Eine solche Überprüfung wurde zum ersten Mal von Emil J. WALTER, Kritik einiger familien-soziologischer Begriffe im Lichte der politischen Arithmetik des 18. Jahrhunderts. Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik 97, 1961, S. 64-75, vorgenommen, freilich ohne eine besondere Breitenwirkung zu erreichea LASLEIT/WALL (1%.), Household and Family in Past Time. - Vgl. auch Peter LASLETT, Characteristics of the Western Family considered over Time. Journal of Family History 7, 1977, S. 89-116. Vgl. Anm. 1. MTITERAUER, V o r i n d u s t r i c l l e F a m i l i e n f o r m e n ( w i e A n m . 8), S . 1 3 4 . -
Mythos (wie Anm. 30), S. 138 f. bzw. 48 ff.
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DERS.,
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Berkner fand in der von ihm analysierten Seelcnbeschreibung von Heidenreichstein einige wenige Fälle trigenerativer Familienformen, in denen Bauern, die noch nicht übergeben hatten, mit einem verheirateten Sohn zusammenlebten. Hier handelt es sich um echte Stammfamilien im Sinne Le Plays. Berkner setzte diese Form mit der auch nach seinem Material viel häufigeren Konstellation der Ausgedingefamilie glcich (S. 400). Nun sind aus der nahe bei Heidenreichstein gelegenen Pfarre Gmünd serielle Seelenbeschreibungen für die Jahre 1801-1842 überliefert (Diözesanarchiv St. Pölten, Pfarrarchiv Gmünd), aus denen hervorgeht, daß in dieser Gegend gelegentlich tatsächlich die Hochzeit des Erben schon ein bis zwei Jahre vor der Hofübeigabe stattfand - eine für niederösterreichische Verhältnisse eher atypische Erscheinung. Die jährlich angelegten Seelenbeschreibungen zeigen aber auch eindeutig, daß es sich dabei nur um eine relativ kurze Übergangsphase gehandelt hat (vgl. etwa den Entwicklungszyklus der Hausgemeinschaft Grillenstein Nr. 7 bei SIEDER, Stnikturprobleme [wie Anm. 13], Abb. 10, S. 206). MTITERAUER, Auswirkungen (wie Anm. 8), S. 142 ff. - Für das ausgehende 17. Jahrhundert vgl. MTITERAUER, Familienstruktur (wie Anm. 8), S. 212 ff. MTITERAUER, A u s w i r k u n g e n ( w i e A n m . 8), S. 120.
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OSTRAWSKY, H a u s g e m e i n s c h a f t e n ( w i e A n m . 18), T a b . 10/2, S. 3 5 3 .
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MTITERAUER, I n f l u e n c e s ( w i e A n m . 26).
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So etwa BERKNER, Stem Family (wie Anm. 1), in seiner Unterscheidung zwischen Familienzyklus und Haashaltszyklus, S. 418; LASLETT rechnet das Gesinde zwar zur Familie, berücksichtigt es jedoch in seiner Typologie von Haushaltskonstellationen nicht und orientiert sich bei dieser ausschließlich an Verwandtschaftsbeziehungen (Introduction [wie Anm. 19], S. 31). Inwohner betrachtet er als Familienfremde. Zu dieser Problematik ausführlich MITTERAUER, Familiengröße (wie Anm. 23). Nach Seelenbeschreibungen der Pfarre Maria Langegg, Pfarrarchiv Maria Langegg, Diözesanarchiv SL Pölten.
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SIEDER, S t n i k t u r p r o b l e m e ( w i e A n m . 18), A b b . 2, S . 2 0 0 . - MITTERAUER/SIEDER,
Developmental Process (wie Anm. 18), L 3, S. 271. - MTITERAUER, Auswirkungen (wie Anm. 8), S. 136. 43
SIEDER, S t n i k t u r p r o b l e m e ( w i e A n m . 18), A b b . 2, S. 2 0 0 u n d A b b . 17, S. 2 1 2 .
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MITTERAUER/SIEDER, Developmental Process (wie Anm. 18), L 2, S. 268 f.
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SIEDER, S t n i k t u r p r o b l e m e ( w i e A n m . 18), A b b . 14, S. 2 1 0 u n d A b b . 2 0 , S. 2 1 5 .
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Beispiele für illegitime Kinder von Töchtern, die bei den Großeltem aufgezogen werden, bei SIEDER, Slniklurproblcme (wie Anm. 18), Abb. 12, S. 208, Abb. 13, S. 2 0 9 , A b b . 14, S. 2 1 0 , u n d A b b . 2 0 , S. 2 1 5 . - MTITERAUER, F a m i l i e n f o r m e n u n d
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51 52
Illegitimität (wie Anm. 18), S. 175 ff. MIITERAUER/SIEDER, Developmental Process (wie Anm. 18), L 2, S. 265. MTTTERAUER/SIEDER, Developmental Process (wie Anm. 18), L 2, S. 264. MTITERAUER, F a m i l i e n s t r u k t u r ( w i e A n m . 8), S. 1 7 4 f. SIEDER, S t n i k t u r p r o b l e m e ( w i e A n m . 18), A b b . 1, S. 149, A b b . 2, S. 2 0 0 , A b b . 3,
S. 201, Abb. 9, S. 205, Abb. 10, S. 206, Abb. 11, S. 207, Abb. 12, S. 208, Abb. 13, S. 209, Abb. 14, S. 210, und Abb. 17, S. 212. MITTERAUER/SIEDER, Developmental Process (wie Anm. 18), L 4, S. 272. LAS LUIT, Introduction (wie Anm. 19), S. 31. Vgl. auch Eugene HAMMEL/Peter LAS LETT, Comparing Household Structure over Time and between Cultures. Comparative Studies in Society and History 16, 1974, S. 73-109.
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LASLEIT, I n t r o d u c t i o n ( w i e A n m . 19), S. 4 1 .
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David GAUNT, Formen der Altersversorgung in Bauernfamilien Nord- und Mitteleuropas, in: Michael MTITERAUER/Reinhard SIEDER (Hg.), Historische Familienforschung, Frankfurt am Main 1982, S. 175 ff.
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Etwa Jean Paul LBINERS, Die Pfarre Stockerau im 17. und 18. Jahrhundert, in: Heimold HELCZMANOVSZKI (Hg.), Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Österreichs, Wien 1973, S. 944.
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OSTRAWSKY, H a u s g e m e i n s c h a f t e n ( w i e A n m . 18), T i b . 5, S. 3 4 3 .
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Helmuth FEIGL, Bäuerliches Erbrecht und Erbgewohnheiten in Niederösterreich. Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich, Neue Folge 37,1956/57, S. 170.
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LEHNERS, S t o c k e r a u ( w i e A n m . 55), S. 3 9 4 f f . - MTITERAUER, F a m i l i e n s t r u k t u r
(wie Anm. 8), S. 187 f. FEIGL, Bäuerliches Erbrecht (wie Anm. 57), S. 164 ff. FteiGL, Bäuerliches Erbrecht (wie Anm. 57), S. 171. Die hier getroffene Feststellung, daß sich die bäuerlichen Erbgewohnheiten in der Praxis nicht veränderten, wird durch die Analyse serieller Seelenbeschreibungen der Zeit eindrucksvoll bestätigt
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OSTRAWSKY, H a u s g e m e i n s c h a f t e n ( w i e A n m . 18), S. 7 5 f f .
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OSTRAWSKY, H a u s g e m e i n s c h a f t e n ( w i e A n m . 18), S. 9 3 .
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Vgl. etwa den Entwickicrzyklus der Hausgemeinschaft Rappoltenkinchen Nr. 13 bei MITTERAUER/SIEDER, Developmental Process (wie Anm. 18), t 2, S. 168.
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MTITERAUER, A u s w i r k u n g e n ( w i e A n m . 9), S. 7 9 f.
65
Michael MTITERAUER, Zur familicnbetrieblichen Struktur im zünftischen Handwerk, in: Wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge. Festschrift für Alfred Hoffmann, 1979, S. 194 ff. - DERS., Gnindtypen alteuropäischer Sozialfoimen (wie Anm. 8), S. 1 0 3 f. Ebenda
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SIEDER, S t r u k t u r p r o b l e m e ( w i e A n m . 18), A b b . 9, S. 2 0 5 u n d A b b . 10, S. 2 0 6 .
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OSTRAWSKY, Hausgemeinschaften (wie Anm. 13), S. 282ff.
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MITTERAUER, A u s w i r k u n g e n ( w i e A n m . 8), S . 110 f f . - V g l . a u c h BIMER, K o n -
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skriptionen (wie Anm. 16). Vgl. dazu Heinz FASSMANN, Zur Altcisverteilung und Zuwanderungsstruktur der Wiener Bevölkerung um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Wiener Geschichtsblätter 35, 1980. MTTTERAUER/SIEDER, Developmental Process (wie Anm. 18), S. 262 ff. MTITERAUER, Familienformcn und Illegitimität (wie Anm. 18), S. 140. Peter SCIIMIDTBAUER, Zur Veränderung der Vomamengebung im 19. Jahrhundert Österreichische Namenforschung 1976, S. 25 - 3 2 . - DERS., Vornamen in einer ehemals gemischtsprachigen Gemeinde im Marchfeld. Österreichische Namenf o r s c h u n g 1 9 7 7 , S. 1 9 - 2 2 .
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Zu solchen Ansätzen in der Genealogie vgl. vor allem Walter SCHAUB, Sozialgenealogie - Probleme und Methoden. Blätter für deutsche Landesgeschichte 110, 1974, S. 1 - 2 8 . - Weiters Hermann MITGAU, Die Genealogie als bevölkeningswissenschafüiche Quelle und Lehre von der sozialen „Vererbung". Studium Generale 9,1956, S. 523-526. - DERS., Zur Entwicklung der genealogischen Soziologie. Genealogisches Jahrbuch 5,1965, S. 5 - 2 1 . - Heinrich SCHADE, Familiensoziologische Ergebnisse einer genealogischen Erhebung. Familie und Vblk 5, 1956, S. 209 - 2 1 3 . Zu nennen sind in diesem Zusammenhang aus Österreich vor allem zahlreiche Lokalstudien der Innsbrucker sozialgeographischen Schule. Exemplarisch sei hingewiesen auf: Franz FLIRI, Bevölkerungsgeographische Untersuchungen im Unterinntal, 1948, und Ernest TROGER, Bevölkerungsgeographie des Zillertales, 1954.
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Michel FISJRY/Louis HENRY, Des registres paroissaux ä l'histoire de la population, Paris 1965, 2 1976. - Zusammenfassend über diese Forschungsrichtung Arthur Ε IMHOF, Einführung in die Historische Demographie, München 1977,
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S. 18 ff. - Ene exemplarische Studie nach dieser Methode bietet für den niederösterrcichischen Raum Jean Paul LEHNERS, Stockerau (wie Anm. 55). Zahlreiche Beispiele bei QSTRAWSKY, Hausgemeinschaften (wie Anm. 19). Zusammenfassend dazu neuerdings Lutz NIETHAMMER (Hg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History", Frankfurt am Main 1980.
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Gesindeehen in ländlichen Gebieten Kärntens ein Sonderfall historischer Familienbildung' Mit dem bäuerlichen Gesindewesen hat sich die sozial- und wirtschaftshistorische Forschung in Österreich bisher nur wenig beschäftigt 1 Bezüglich der städtischen Dienstboten ist die Situation nicht viel besser.2 Die relativ geringe Beachtung dieser Thematik ist freilich keineswegs auf die österreichische Forschung beschränkt Auch international gesehen scheint es sich hier um ein nur selten berücksichtigtes Arbeitsgebiet zu handeln.3 Dies ist umso erstaunlicher, als das Gesinde nicht nur quantitativ eine in historischen Zeiten besonders bedeutsame Bevölkerungsgruppe darstellt; auch qualitativ sind - soweit bisherige Untersuchungen dies erkennen lassen - aus der Beschäftigung mit Fragen des Dienstbotenwesens aus sehr unterschiedlichen Forschungsansätzen wichtige Einsichten zu gewinnen. Ziemlich offenkundig ist es, daß dieses Thema für die historische Demographie entscheidende Bedeutung hat Gegebenheiten des Gesindedienstes beeinflussen die altersspezifische Migrationshäufigkeit 4 Alteisschichtung und Sexualproportion lokaler Populationen erscheinen dadurch maßgeblich bestimmt Illegitimitätsquoten werden aus der Häufigkeit und Dauer des Gesindedienstes verständlich. Vor allem aber verweisen Zusammenhänge zwischen Gesindedienst und Heiratsalter auf Erklärungsmöglichkeiten zentraler demographischer Fragen.5 Das für West- und Mitteleuropa charakteristische „European marriage pattern", das sich so deutlich vom ost- und außereuropäischen Heiratsverhalten unterscheidet, scheint im wesentlichen durch die Länge der Gesindedienstphase verursacht zu sein.6 Diesem Phänomen, das von der Forschung bisher sicher noch nicht ausreichend beachtet wurde, dürfte überhaupt eine Schlüsselrolle für die Erklärung der spezifisch europäi* Aus: Grazer Forschungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bd. 13 (1978), S. 227-246.
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sehen Sozialentwicklung zukommen.7 Eine solche Sicht des Gesindethemas würde auf Zusammenhänge verweisen, die weit über die Probleme der historischen Demographie im engeren Sinne hinausführen. Für die Wirtschaftsgeschichte eröffnet die Beschäftigung mit Gesindefragen den Zugang zu Grundstrukturen der Arbeitsorganisation, vor allem für die vorindustrielle Zeit 8 Solange die Familienwirtschaft die maßgebliche betriebliche Einheit darstellt, wird gerade an der Hereinnahme zusätzlicher Arbeitskräfte erkennbar, welcher personelle Bedarf sich aus den Produktionsbedingungen jeweils ergibt 9 Der Weg zur Ausbildung moderner Betriebsformen ist durch die Überwindung der Hausgemeinschaft als Rahmen der Arbeitsorganisation charakterisiert Auch dieser Prozeß wird aus der Beschäftigung mit Fragen des Gesindedienstes greifbar.10 Die Rolle des Gesindes als familiale Arbeitskraft schlägt die Brücke zu der allgemeineren sozialgeschichtlichen Fragestellung der Bedeutung der im Haus mitlebenden Mitarbeiter für die Familienstruktur. Mit der Produktionsfunktion der Familie, die die Aufnahme von Gesinde notwendig macht, ist ja bloß eine - wenn auch eine besonders wichtige - Funktion der Familie angesprochen. Sie ist mit anderen Funktionen, wie etwa der Sozialisation oder der Reproduktion, aufs engste verflochten. Welche Bedeutung in diesem Gesamtzusammenhang dem Gesinde zukommt, wird von der Sozialgeschichte der Familie bisher noch viel zuwenig beachtet Der Grund dafür dürfte vor allem in der einseitigen Orientierung der historischen Familienforschung an der Familie als Verwandtschaftsgruppierung liegen.11 Mit einer solchen Betrachtungsweise wird man freilich den Besonderheiten historischer Familienformen nicht entsprechend gerecht Für die soziale Realität des Zusammenlebens in der Kleingruppe kommt dem Gesinde weit mehr Bedeutung zu als den Verwandten. Würde sich die historische Familienforschung stärker mit der Rolle des Gesindes beschäftigen, so könnte zumindest eine anachronistische Sicht ihres hauptsächlichen Untersuchungsobjekts vermieden werden. Mit der für diesen Artikel gewählten Fragestellung ist freilich nicht beabsichtigt, generelle Probleme des Gesindewesens in umfassender Weise zu thematisieren. Im Gegenteil: Es sollen hier an einer regionalen Fallstudie Ausnahmeerscheinungen untersucht werden. Dienstboten sind in der Regel ledige Personea Hier geht es um verheiratete Knechte und Mägde. Das Gesinde ist im allgemeinen als eine Altersklasse einer Population aufzufassen, die 234
sich primär aus Jugendlichen zusammensetzt. Hier wird vor allem von Dienstpersonal in höheren Altersstufen gesprochen werden. Das Gesinde rechnet man in der Forschung ganz zu Recht zur Familie des Dienstgebers. Hier sollen Knechte und Magde behandelt werden, die durch Eheschließung und Kinderzeugung selbst Familien begründeten, ohne dabei aber die Hausgemeinschaft mit ihren Herren aufzugeben. Gesinde also in einer Sondersituation. Dieser Sondersituation soll näher nachgegangen werden, weil sie Besonderheiten der Arbeitsorganisation voraussetzt, weil sie in ihren Auswirkungen demographische Besonderheiten zur Folge hat, schließlich weil sie zu Besonderheiten der Familienverfassung führt, die soweit gehen, daß die Anwendung des sozialwissenschaftlichen Familienbegriffs auf derart entstandene Gruppierungen fragwürdig wird Der Sinn einer solchen Beschäftigung mit Ausnahmeerscheinungen ist nicht der Reiz des Außergewöhnlichen. Vielmehr geht es darum, an einem Extremfall die Bandbreite historischer Familienformen sichtbar zu machen. Die Erkenntnis solcher Variabilität schließt es aus, die Familie als eine naturhaft bedingte und daher überzeitlich gleichbleibende Konstante des sozialen Lebens anzusehen. Sie verweist vielmehr auf die starke Abhängigkeit der Familie von gesellschaftlichen Faktoren, deren steter Wandel auch die Veränderbarkeit der Familie bedingt Jene Sonderformen historischer Familienbildung, wie sie hier näher vorgestellt werden sollen, sind für den Forscher nur aufgrund einer besonders günstigen Quellenlage analysierbar. Eine sehr wichtige Quelle, die über die Situation des Gesindes und vor allem auch über seine jeweilige Einordnung in Familienverbände Aufschluß gibt, stellen Personenstandsregister verschiedener Art dar in Österreich insbesondere die sogenannten „Seelenbücher" oder „Seelenbeschreibungen". Solche „Libri status animarum" geben in der Regel keine näheren Angaben über den Stand der aufgezählten Personen. Für die Verfasser war es zumeist völlig klar Hausherren und Hausfrauen sind verheiratet, Kinder und Gesinde ledig. Bloß bei Inwohnern und Altenteilem findet sich häufiger ein Zusatz, aus dem zu erkennen ist, ob es sich um ledige, verheiratete oder verwitwete Personen handelt. Aus Kärnten ist nun ein größerer Bestand solcher „Seelenbücher" aus der zweiten Hälfte des 18. und dem frühen 19. Jahrhundert erhalten, in denen durchgehend Eintragungen über den Stand der aufgezählten Personen vorgenommen wurden. Hier war offenbar die Entsprechung zwischen der Rolle im Haus und einem bestimmten Stand keineswegs so selbstverständlich. Tatsächlich begegnen uns in diesen Quellen relativ häufig 235
Personen, die man aufgrund der Konstellation der Hausgemeinschaft für ledig gehalten hätte, als verheiratet Besonders oft treten verehelichte Knechte auf, etwas seltener verheiratete Mägde. Dafür werden in vielen Fällen alleinlebende Inwohnerinnen als verheiratet ausgewiesen. Auch bei erwachsenen Söhnen und Töchtern des Hausvaters erscheint mitunter ein solcher Vermerk, ohne daß Schwiegertöchter oder Schwiegersöhne im Hausverband angeführt würden. In allen diesen Fällen handelt es sich offenbar um gültig geschlossene Ehen, die aber keine reale Lebensgemeinschaft der beiden Partner innerhalb eines gemeinsamen Familienveibands zur Folge hatten - eine ungewöhnliche Erscheinung, die sicher eine genauere Untersuchung rechtfertigt Daß das angesprochene Phänomen keine singuläre Enzeierscheinung darstellt, wird durch die Breite des analysierten Materials sichergestellt Die zwanzig untersuchten Seelenbücher stammen aus dreizehn Pfarren des Glan-, Gurk- und Metnitztales, die insgesamt in etwa das Territorium der Diözese Gurk im Untersuchungszeitraum abdecken.12 Die meisten dieser Pfarrbeschreibungen gehen auf eine Erhebung des Gurker Bischofs von 1757 bzw. 1759 zurück. Die daraufhin von den Pfarrern angelegten Verzeichnisse befinden sich durchgehend im Diözesanarchiv Klagenfurt Einige jüngere Seelenbücher aus den einzelnen Pfarrarchiven konnten das Gesamtbild ergänzen und abrunden. Verheiratete Personen, die nicht mit ihrem Ehepartner zusammenleben, begegnen in allen untersuchten Seelenbeschreibungen. Insgesamt handelt es sich um etwa dreihundertsiebzig Fälle. Die Gesamtzahl läßt sich insofern nicht exakt angeben, als mitunter in einer Hausgemeinschaft zwei verehelichte Personen verschiedenen Geschlechts genannt werden, bei denen nicht festgestellt werden kann, ob sie ein Ehepaar bilden. Da es im Untersuchungsraum in der fraglichen Zeit üblich war, daß Frauen nach der Heirat den Namen ihrer Herkunftsfamilie beibehielten, ist aus der Gleichheit des Familiennamens auf eine eheliche Beziehung kein Schluß zu ziehen. Im Gegenteil: Wenn etwa auf einem Hof zwei namensgleiche verheiratete Gesindepersonen aufscheinen, so läßt sich mit ziemlicher Sicherheit sagen, daß sie zwar miteinander verwandt, aber nicht miteinander verheiratet waren. Der Schluß auf eheliche Beziehung ist vielmehr nur dann erlaubt, wenn die Kinder einer verheirateten Magd oder Inwohnerin, die in den Seelenbüchern stets unmittelbar nach ihrer Mutter genannt werden, den Namen eines auf dem Hof lebenden, ebenfalls verheirateten Knechtes tragen. Die Zahl der Fälle verheirateter Knechte und Mägde, die in 236
einer Hausgemeinschaft zusammenleben, ohne daß sich über ihre Beziehung zueinander eine Aussage machen läßt, sind freilich nicht sehr groß. Die Gesamtsumme kann dadurch kaum wesentlich beeinflußt werden. Die Verteilung solcher von ihrem Ehepartner getrennt lebender Personen auf die einzelnen untersuchten Pfarren ist sehr unterschiedlich. Berechnet man deren Anteil an den verheirateten Pfarrbewohnern insgesamt, so ergibt sich eine ziemlich starke Streuung der Werte. Relativ hoch ist der Prozentsatz der vom Partner getrennt Lebenden etwa in der Pfarre Zweinitz im Gurktal im Jahre 1770. Er beträgt hier 17,9 Prozent Am nächsten kommen ihm die Werte der nahegelegenen Pfarre Glödnitz von 1757 mit 14,8 Prozent und der Pfarre Friedlach im Glantal von 1759 mit 13,9 Prozent Solchen verhältnismäßig hohen Quoten steht ein Anteil von nur 1,8 Prozent in der Pfarre Grades im Metnitztal für das Jahr 1757 gegenüber. Diese kleine Pfarigemeinde beschränkte sich bloß auf den gleichnamigen Marktort Bauernhöfe finden sich hier keine. Daraus ergibt sich ein erster Hinweis darauf, daß das untersuchte Phänomen eine Erscheinung vorwiegend des ländlichen Raumes darstellt, hier wiederum insbesondere der großen bäuerlichen Höfe. Ein deutliches Gefälle des Anteils der vom Partner getrennt Lebenden an den Verheirateten insgesamt läßt sich in räumlicher Hinsicht nicht feststellen. In den offeneren Gebieten des Glantals sind ähnlich hohe Werte anzutreffen wie etwa in stärker gebirgigen Gegenden weiter nördlich. Auch in der zeitlichen Abfolge ergeben sich keine klaren Trends. Schon innerhalb weniger Jahre kann sich die Situation grundlegend ändern. So sinkt der Prozentsatz in der Pfarre Weitensfeld im Gurktal von 1757 auf 1759 auf ein Drittel ab. In der Pfarre Zweinitz liegen die Werte von 1770 und 1803 ziemlich hoch, von 1757 und 1786 hingegen verhältnismäßig niedrig. Die Ursachen solcher Schwankungen sind schwer feststellbar. Hier könnte wohl nur eine umfassende Analyse der Trauungsbücher weiterhelfen. Der langfristige Gesamttrend wird aber wohl als fallend anzunehmen sein. Die weitaus größte Gruppe unter den vom Ehepartner getrennt lebenden Personen machen die Knechte aus. Sie dominieren mit hundertzweiundsiebzig eindeutig auf der Seite der Männer. Das Übergewicht der Mägde unter den getrennt lebenden Verheirateten ist nicht so deutlich. Hier stehen neunzig weiblichen Dienstboten nicht weniger als einundsechzig „Gästinnen" und Inwohnerinnen gegenüber.13 Dieses Zahlenverhältnis legt die Annahme nahe, daß viele der verheirateten Mägde später ihr Dienstverhältnis lösten und 237
in gelockerter Abhängigkeit innerhalb einer Hausgemeinschaft mitlebten. Aber auch bei ihnen stand der Gesindestatus am Anfang.
Lage der untersuchten Pfarren
Zusammenhänge mit dem Gesindedienst lassen sich selbst bei Bauernsöhnen und -töchtern feststellen, die noch vor der Übernahme eines Hofes heirateten. Das Taufbuch der Pfarre Zweinitz nennt 1771 als Eltern eines Kindes den „famulus et filius" des Pötschgerbauern und die „famula et filia" des Pieckbauem. Bei einer Taufe des Jahres 1776 ist als Vater der „famulus apud suum parentem vulgo der Hohenfrieger" eingetragen.14 Söhne als Knechte begeg238
nen in den untersuchten Quellen auch sonst gelegentlich. Ihnen war offenbar eine Heirat zu Lebzeiten des Vaters eher möglich. Es deutet also vieles darauf hin, daß Ehen, bei denen die Partner auf Zeit oder auf Dauer voneinander getrennt lebten, ihre entscheidende Wurzel im Gesindedienstverhältnis der betreffenden Personen hatten. Man wird diesen Sondertypus daher wohl zu Recht als Gesindeehen qualifizieren dürfen. Die Charakteristik „Gesindeehen" für die ehelichen Beziehungen getrennt lebender Partner erscheint für das Untersuchungsgebiet auch unter einem anderen Aspekt gerechtfertigt Von den einhundertneunzig in den untersuchten Seelenbüchern als verheiratet bezeichneten Knechten lebten nur achtzehn, also weniger als ein Zehntel, zum Zeitpunkt der Personenstandserhebung mit ihrer Frau zusammen. Bei den Mägden waren es gar nur sechs von neunzig. Zählt man die als „des Knechtes Weib" bezeichneten Personen zu den weiblichen Dienstboten, so würde sich der Anteil ein wenig erhöhen. Solche Zahlen bedeuten natürlich nicht, daß bei diesen wenigen Knechten und Mägden eine dauerhafte eheliche Lebensgemeinschaft gegeben war. Der Querschnitt einer Seelenbeschreibung erfaßt ja jeweils nur die Verhältnisse in einer bestimmten Phase des individuellen Lebenszyklus. Der hohe Anteil der getrennt Lebenden legt den Schluß nahe, daß bei jeder Ehe von Gesindepersonen mit einem mehr oder minder langen Abschnitt zu rechnen ist, in dem die beiden Partner nicht derselben Hausgemeinschaft angehörten. Verheiratete Knechte und Mägde finden sich in den untersuchten Quellen besonders häufig auf gesindereichen, großen Hofen - hier zumeist dann mehrere nebeneinander. Dazu einige Beispiele: Auf Schloß Pregrad in der Pfarre Zweinitz waren 1757 von zwanzig Knechten drei, von sieben Mägden eine verheiratet, auf Schloß Gradenegg in der gleichnamigen Pfarre im selben Jahr von elf Knechten zwei und von vier Mägden eine. In dem zum Schloß Glanegg in der Pfarre Friedlach gehörigen Meierhof waren 1757 ebenso elf Knechte und vier Mägde beschäftigt Fünf der Knechte werden als verehelicht bezeichnet; einer von ihnen lebte hier mit Frau und Tochter. Dazu kam noch ein zum Meierhof gehöriger Müller mit seiner Familie. Sehr gesindereiche Wirtschaftshöfe waren vielfach mit den Pfarrhöfen verbunden. So nennt die Seelenbeschreibung der Pfarre Pulst im Glantal von 1759 für den Pfarrhof fünfzehn Knechte und Mägde. Der Meierknecht und zwei weitere Knechte waren verheiratet Eine ähnliche Konstellation ergibt sich nach dem Seelenbuch von 1757 für den Pfarrhof in Sirnitz im oberen Gurktal. Auch hier waren neben dem Meierknecht noch 239
zwei andere Knechte verehelicht Der Gesindestand betrug damals neun Personen. Viele große Bauernhöfe standen den herrschaftlichen Meierhöfen und den Pfarrhöfen an Gesindereichtum keineswegs nach. Auch bei ihnen finden sich dann oft mehrere verheiratete Knechte und Mägde innerhalb einer Hausgemeinschaft Beim „Wolfgang zu Aiblach" etwa zählt die Seelenbeschreibung der Pfarre Friedlach von 1757 achtzehn erwachsene Dienstleute auf. Von ihnen waren ein Knecht und zwei Mägde verheiratet Der Knecht lebte mit seiner Frau und zwei Kindern am Hof. Die Ehegatten der beiden Mägde sind auswärts zu suchen. Drei weitere Mägde waren zwar ledig, lebten aber mit ihren unehelichen Kindern zusammen, von denen zwei selbst schon im Gesindedienst standen. Von den dreizehn Gesindepersonen der Stränacher-Hube in derselben Pfarre waren zwei Knechte und eine Magd verehelicht, auf der benachbarten Trattnig-Hube von neun Dienstleuten zwei Knechte und drei Mägde. Aus der Pfarre Glödnitz verdient der Rossmann-Hof Erwähnung, wo der erste, zweite und dritte von sechs Knechten sowie eine von sechs Mägden als verheiratet genannt werden, weiters der Amthof mit vier verehelichten Knechten von dreizehn bei einem Gesamtgesindestand von neunzehn Personen. Schließlich seien noch zwei Beispiele aus der Pfarre Zweinitz erwähnt Der größte Bauernhof der Pfarre, der „Zehner am Aiding" hatte 1757 vierzehn Knechte und vier Mägde im Dienst Der Meierknecht und ein weiterer haben im Seelenbuch den Vermerk „ehelich". 1770 betrug der Gesindestand elf Knechte und fünf Mägde. Je ein Knecht und eine Magd waren verheiratet Der benachbarte Hof des „Modi am Aiding" beschäftigte im Jahre 1803 zwar nur fünf Personen, von ihnen waren jedoch zwei Knechte und eine Magd eine Ehe eingegangen. Die Frau des einen Knechts lebte als „Gästin" in der zum Hof gehörigen Keusche. Daß gerade sehr große Höfe oft mehrere verheiratete Gesindepersonen in Dienst hatten, kann sicherlich nicht aus besonderen räumlichen Gegebenheiten befriedigend erklärt werden. In den meisten Fällen lebten ja die verheirateten Knechte hier gar nicht mit ihren Frauen und Kindern zusammen. Auch mit dem Interesse an einer dauerhaften Bindung von Arbeitskräften an den Hof durch Erlaubnis der Eheschließung kann die Erscheinung wohl kaum etwas zu tun haben. Eine solche Bindung wäre ja nur dann gegeben gewesen, wenn der Ehepartner bzw. die Familie der betreffenden Dienstleute am Hof Wohnrechte eingeräumt erhalten hätten. Der starke Wechsel des Gesindes, wie er in kuiz nacheinander angeleg240
ten Seelenbüchern deutlich zum Ausdruck kommt, zeigt überdies deutlich, daß gar kein Interesse an längeren Arbeitsverhältnissen bestanden haben dürfte. Vielleicht ist die Häufung verheirateten Gesindes gerade auf den großen Höfen aus dem Nachwirken älterer Gegebenheiten zu erklären. Solche Hofe könnten zum Teil auf frühere Meierhöfe zurückgehen bzw. nach deren Vorbild organisiert worden sein. Dafür spräche, daß häufig gerade der erste Knecht, der mitunter auch ausdrücklich als der Meierknecht bezeichnet wird, in den Quellen als verehelicht vermerkt ist Derartige Zusammenhänge mit einem älteren Meierhofsystem würden auf weit zurückreichende Kontinuitäten hinweisen und eine Erklärung der charakteristischen Form dieser Gesindeehen aus mittelalterlichen Verhältnissen nahelegea E n Zweites, das bei der Durchsicht des verheirateten Gesindes in den untersuchten Quellen auffällt, ist die häufige Namensgleichheit mit dem Bauern oder der Bäuerin. Ebenso begegnen einige Male verehelichte Knechte und Mägde, die untereinander namensgleich sind Beide Phänomene dürften in denselben Zusammenhang einzuordnen sein. Nicht immer wird dabei der Hintergrund so deutlich wie in einer Eintragung des Seelenbuchs der Pfarre Feistritz von 1759: Als Dienstleute am Hof des „Leonhard in Jauernig" sind hier ein Knecht und eine Magd verzeichnet, die den gleichen Namen wie der Bauer tragen. Ausdrücklich heißt es, daß es sich um dessen Bruder und Schwester handle. Beachtenswert erscheint, daß in einer zwei Jahre zuvor angelegten Seelenbeschreibung nur die Schwester vorkommt Der Bruder hatte sich also bis zu seiner Verehelichung nicht durchwegs auf dem Hofe aufgehalt e a Nicht immer freilich liegen die Dinge so klar wie in diesem Fall. Auf der Lämmer-Hube in derselben Pfarre leben 1757 drei Knechte, die mit der Bäuerin namensgleich sind Dem Alter nach zu schließen gehören sie verschiedenen Generationen an. Der älteste der drei Knechte wird 1759 als verheiratet genannt Die Gattin ist wohl eine auf demselben Hof lebende Magd, die ebenso schon 1757 eingetragen ist Man wird kaum daran zweifeln dürfen, daß die in dieser Hausgemeinschaft zusammenlebenden gleichnamigen Personen untereinander verwandt waren. Der Verwandtschaftszusammenhang innerhalb der Gruppe läßt sich hier freilich nicht rekonstruieren. Als drittes Beispiel sei ein Fall aus der Pfarre Glödnitz aus dem Jahre 1757 herausgegriffen. Die drei am FarcherHof damals beschäftigten Dienstleute waren untereinander namensgleich. Mit dem Bauern oder der Bäuerin ist zwar keine derartige Übereinstimmung gegeben, wie diese stammten jedoch alle drei aus 241
Stadl in der Steiermark, so daß auch hier ein Zusammenhang bestanden haben dürfte. Zwei von ihnen - ein Knecht und eine Magd - sind als verheiratet eingetragen. Die zahlreichen Fälle der Namensgleichheit verheirateter Dienstboten mit einer anderen Person der Hausgemeinschaft legen den Schluß nahe, daß es nach einer Eheschließung für einen Knecht oder eine Magd leichter war, im Haus eines Verwandten Aufnahme zu finden als bei Fremden. Dafür spricht auch, daß unter den Namensgleichen etwas häufiger ein Zusammenleben mit der Frau oder mit Frau und Kind vorkommt Offenbar wirkte sich dabei die Schutzfunktion der Familie aus.15 In vielen Fällen wird man freilich anzunehmen haben, daß es sich nicht um eine Rückkehr ins Haus nach der Heirat, sondern um eine Eheschließung in der Hausgemeinschaft lebender Personen handelt. Hier ist dann die Vermutung naheliegend, daß die Genehmigung der Heirat seitens des Hausherrn eher bei mit ihm verwandten Personen erfolgte. Über den Verlauf von Gesindeehen sind vielfach aus den Eintragungen der Seelenbücher indirekte Schlüsse möglich. Ergänzendes Material liefern Stichproben aus Trauungs- und Taufmatriken, wie sie für die Pfarre Zweinitz vorgenommen wurden. In der bei weitem überwiegenden Zahl der Fälle lebten die Brautleute schon bei der Eheschließung nicht zusammen. Zumeist waren sie sogar in verschiedenen Pfarren in Dienst Dienst im selben Hause läßt sich in der Zeit zwischen 1770 und 1786 in Zweinitz nur ein einziges Mal feststellen. Freilich sind die Angaben der Trauungsbücher für diesen Zeitraum unvollständig. Ein Kennenlernen der Brautleute durch gemeinsamen Gesindedienst wird bei den geringen Kontaktmöglichkeiten der Dienstleute außerhalb des Hauses doch öfters vorgekommen sein. An Distanzen zwischen den Wohnorten der beiden Partner begegnen Entfernungen wie etwa zwischen Zweinitz und Reichenau im obersten Gurktal. In der Regel waren jedoch die Brautleute in Nachbarpfarren in Dienst Ein ähnliches Bild ergeben die Eintragungen des Zweinitzer Taufbuchs aus derselben Zeit In vier Fällen dienten Knecht und Magd bei der Geburt des Kindes auf demselben Hof. Viel häufiger waren sie in verschiedenen Häusern der Pfarre beschäftigt. Bei den keineswegs seltenen Ehen mit Auswärtigen dominierten wiederum Partner aus Nachbarpfarren. Wenn auch nach den Angaben der Pfarrmatriken schon von Anfang an in den Gesindeehen das getrennte Leben bei weitem vorherrschte, so war doch wohl in der Frühphase am ehesten Gemeinsamkeit gegeben. Dies geht jedenfalls aus den in den 242
Seelenbüchern überlieferten Konstellationen hervor. In den relativ seltenen Fällen, in denen beide Partner im selben Haus anzutreffen sind, war meist die Gattin noch relativ jung, so daß geschlossen werden darf, daß die Eheschließung noch nicht sehr weit zurücklag. Bei zwei Mägden, die mit ihrem Mann zusammenlebten, war das einzige Kind erst ein halbes Jahr alt Auch sonst begegnen gelegentlich zusammenlebende Gesindepaare mit sehr kleinen Kindern. Wenn die Ehepartner sich nach der Geburt eines Kindes wieder trennten bzw. wenn sie überhaupt nie im selben Haus lebten, so verblieb das Kind natürlich bei der Mutter. Bloß zwei Ausnahmesituationen lassen sich diesbezüglich aus den Quellen erschließen. Die eine war gegeben, wenn es sich um Kinder eines zu Hause lebenden Bauernsohnes und einer mit ihm verheirateten auswärtigen Magd handelte. In diesem Fall wurden die Kinder bei den väterlichen Großeltem aufgezogen. Die andere Ausnahmesituation trat ein, wenn die Mutter starb; dann konnte das Kind auch bei dem im Gesindedienst stehenden Vater verbleiben. Im gesamten Untersuchungsmaterial begegnet dieser Fall jedoch nur ein einziges Mal. Wie lange nach der Geburt eines Kindes die Gesindefamilie bzw. die Mutter mit dem Kind auf demselben Hof blieb, läßt sich aus den untersuchten Quellen nur in wenigen Fällen erschließen. Dabei ergibt sich kein einheitliches Bild. Einerseits begegnen Mägde oder Gesindeehepaare mit einem sehr kleinen Kind, das in einer anderen Pfarre geboren ist; hier liegt also ein baldiger Ortswechsel vor.16 Andererseits läßt sich vereinzelt ein Verbleiben über mehrere Jahre wahrscheinlich machen.17 Insgesamt liegt kein Hinweis vor, daß verheiratetes Gesinde weniger oft den Dienst gewechselt hätte als unverheiratetes. Nach der Geburt des ersten oder eines weiteren Kindes gaben viele verheiratete Mägde den Gesindedienst auf und lebten als „Gästinnen" auf dem Bauernhof. Wahrscheinlich arbeiteten sie weiterhin mit, um sich das Wohnrecht und vielleicht auch die Kost zu verdienen; von den vollen Dienstverpflichtungen des Gesindes waren sie damit jedoch entbunden. Mit den Aufgaben der Kinderaufzucht ließen sich diese wohl nicht mehr ganz vereinbaren. „Famula et nunc incola" charakterisiert das Zweinitzer Taufbuch in einem Fall diesen charakteristischen Prozeß. Daß Geburt und Erziehung der Kinder den Hauptgrund für einen solchen Wechsel bildeten, wird durch mehrere Umstände nahegelegt Zunächst fehlt ein vergleichbarer Übergang bei den verheirateten Knechten, die ja keine unmittelbare Sorgepflicht hatten. Sie blieben oft bis ins hohe Alter im Gesindedienst Männliche „Gastleute" treten in den „See243
lenbüchern" nur sehr selten auf. Ob der Knechtsstatus bei ihnen eine Vorstufe gebildet hat, läßt sich aus den Seelenbüchern nicht erschließen. Weiters liegen die alleinlebenden verheirateten „Gästinnen" altersmäßig deutlich über den Mägden. Vor allem aber treten sie häufiger gemeinsam mit Kindern auf als diese. Während von den verheirateten Mägden nicht einmal dreißig Prozent mit eigenen Kindern zusammenleben, sind es bei den verheirateten Inwohnerinnen mehr als die Hälfte. Zudem erscheinen bei den letzteren etwas höhere Kinderzahlen. Freilich begegnet auch unter den verehelichten Mägden eine mit vier Kindern. Hier handelt es sich aber offenbar um einen Ausnahmefall.18 Sonst erscheint in den untersuchten Quellen keine verheiratete Magd mit mehr als zwei Kindern. Die Geburt des ersten oder zweiten Kindes scheint also grundsätzlich mit dem Übergang in den Inwohnerstatus verbunden gewesen zu sein. Neben dem Wechsel vom Gesinde zu den „Gastleuten" ist für die verheirateten Mägde - mit oder ohne Kinder - auch noch ein anderer Weg zu bedenken. Waren sie mit einem erbenden Bauernsohn verehelicht, so wurden sie nach dem Tod oder der Übergabe des Altbauern Bäuerin. Bis dahin gingen sie jedoch vielfach noch auswärts dem Gesindedienst nach, gelegentlich sogar, wenn bereits Kinder vorhanden waren. Verheiratete Bauernsöhne, deren Frauen nicht in der Hausgemeinschaft lebten, sind jedenfalls nach den untersuchten Quellen keine Seltenheit Die Kinderzahlen erscheinen, wie schon gesagt, sowohl bei den verheirateten Mägden als auch den verheirateten „Gästinnen" relativ niedrig. Bei ersteren sind es grundsätzlich nie mehr als zwei, bei letzteren begegnen auch nur fünf Fälle mit drei Kindern. Diese Situation läßt zweierlei Schlüsse zu. Zunächst legt sie die Annahme nahe, daß die Gesindekinder besonders früh ihre Eltern bzw. ihre Mütter verließen. Tatsächlich lassen sich bei den verheirateten Mägden keine Kinder über zehn Jahre feststellen, bei den verheirateten Inwohnerinnen auch nur sehr selten. In den untersuchten Gebieten wurde der Gesindedienst vielfach schon sehr früh angetreten. Unter den „Halterbuben" und „Halterdirndeln" finden sich wiederholt Kinder von erst neun oder zehn Jahren. Hier handelt es sich also wohl primär um den Nachwuchs der Gesindeehepaare bzw. auch der ledigen Mägde. Trotz dieser frühen Trennung der Gesindekinder von ihrer Mutter ließen sich jedoch die niedrigen Kinderzahlen bei verheirateten Mägden und Inwohnerinnen nicht erklären, wären diese genauso fruchtbar gewesen wie die Bäuerinnen der Gegend Die 244
Differenz kann nicht nur in der „sozialen", sondern muß auch in der „genealogischen" Kindeizahl liegen. Über das frühe Verlassen der Mutter hinaus wird auch eine geringere Geburtenhäufigkeit der verheirateten Mägde und „Gästinnen" anzunehmen sein. Bei den Bäuerinnen kam es ja innerhalb eines Jahrzehnts in der Regel zu weit mehr als bloß zwei oder drei Geburten. Die Stichproben aus den Taufbüchern zeigen auch deutlich den Unterschied. Nur bei ganz wenigen Gesindeehepaaren folgte auf die erste Geburt in den nächsten Jahren eine zweite oder dritte. In vielen Fällen blieb es offenbar bei bloß einem Kind. Als Ursache dieser Erscheinung wird man wohl weniger an eine zielstrebige Geburtenbeschränkung bei den Gesindeehepaaren denken dürfen. Viel wahrscheinlicher ist es, daß die niedrige Geburtenhäufigkeit eine Auswirkung des geringen Kontakts zwischen den Ehepartnern war. Lebten sie auf verschiedenen Höfen, so ließen die Aibeitsveipflichtungen des Gesindedienstes bloß ein Zusammentreffen an den Sonn- und Feiertagen zu. Wie weit ein Übernachten außer Haus den verheirateten Knechten und Mägden dieser Gegend gestattet wurde, wissen wir nicht In der Regel war es den Dienstboten untersagt Die spärlichen Nachrichten der untersuchten Quellen über die Dienstorte des verheirateten Gesindes zeigen, daß ein Zusammenkommen oft mit der Überwindung größerer Distanzen verbunden war.19 Häufig bedeutete es mehrere Gehstunden, noch dazu in gebirgigem Gelände. Im Winter werden vielfach überhaupt keine Kontaktmöglichkeiten bestanden haben. So darf man sich die ehelichen Beziehungen zwischen verheirateten Knechten und Mägden im Regelfall wohl nur als sehr locker vorstellen. Bedenkt man diese vermutlich sehr geringe Intensität der Bindung in Gesindeehepaaren, so erscheint der Unterschied zu „unvollständigen Familien" aufgrund von unehelichen Geburten nicht allzu groß. Auch bei Gesindeehen handelte es sich wahrscheinlich vielfach um voreheliche Zeugungen, bei denen die Heirat dann primär dazu diente, die Legitimität des Kindes sicherzustellen. Hinsichtlich der Eltem-Kind-Beziehungen ergab sich wohl kaum eine wesentliche Differenz. Da wie dort lag die Aufzucht des Kindes bzw. der Kinder fast ausschließlich in den Händen der Mutter. Da wie dort war der Kontakt zum Vater minimal. Übereinstimmung ergibt sich auch in der relativ kurzen Dauer des Zusammenlebens mit der Mutter. Ledige wie eheliche Gesindekinder traten sehr früh selbst den Gesindedienst an. Bis dahin dürfte in beiden Fällen die Mutter-Kind-Gruppe keine selbständige, in sich abgeschlossene Einheit gebildet habea Sie 245
war vielmehr stark in die umfassendere Gruppierung der bäuerlichen Hausgemeinschaft integriert Derart gelockerte Eheformen, wie sie durch die Gesindeheiraten im Untersuchungsraum bestanden haben, dürften über den engeren Kreis der eigentlichen Dienstleute hinausgewirkt haben. Von den alleinlebenden, aber verheirateten „Gästinnen" war schon ausführlich die Rede. Der unmittelbare Zusammenhang mit der Gesindeehe ist hier durch den vorangegangenen Status als Magd gegeben. Aber auch die Eheschließungen von Bauernsöhnen und Bauerntöchtern vor der Hofübernahme wird man in einem weiteren Verständnis noch zu den Gesindeehen rechnen dürfen. Lebte das Paar getrennt, so war ja der jeweilige Partner zunächst meist noch Magd oder Knecht Die erwachsenen Bauernkinder selbst hatten einen gesindeähnlichen Status.20 Überraschend erscheint es zunächst, wenn auch unter den Inhabern selbständiger Häuser Männer und Frauen begegnen, die zwar verheiratet sind, aber nicht mit dem Ehepartner zusammenleben. Sogar unter den Müttern der Inhaber begegnet viermal eine solche Konstellation. Mit zwei Ausnahmen21 handelt es sich in allen diesen Fällen um kleine Güter. Mitunter werden diese ausdrücklich als „Keuschen" bezeichnet Hier wird wohl anzunehmen sein, daß es einem Gesindeehepaar geglückt war, ein kleines Anwesen zu erwerben. Während ein Ehepartner die zugehörigen Gründe bewirtschaftete, verblieb der andere weiterhin im Dienst Gelegentlich mag ein solcher Keuschler auch seine Mutter zu sich genommen haben, während der Vater noch als Taglöhner oder Knecht arbeitete. Sehr alte Knechte sind nach den untersuchten Quellen in diesem Gebiet durchaus keine Seltenheit Auch in solchen Fällen scheint als ein auswärtiges Gesindedienstverhältnis eines Partners den Hinteigrund für die ungewöhnliche Struktur der Hausgemeinschaft zu bilden. Zu betonen ist freilich, daß der Erweib eines kleinen Anwesens durch im Gesindedienst stehende verheiratete Personen in dieser Gegend die Ausnahme gewesen sein dürfte. Er bildete hier jedenfalls keineswegs die Voraussetzung für die Eheschließung. Als Bedingung von Gesindeheiraten erscheint der Besitz einer Hütte bzw. eines kleinen Anwesens in weiten Gebieten Ostmitteleuropas und Südosteuropas. Für Rumänien, die Slowakei, den ganzen Karpatenraum, die ungarische Tiefebene oder die Batschka lassen sich solche Verhältnisse nachweisen.22 Auch dort kann es dann zu einer Trennung des Ehepaares auf Zeit oder auf Dauer kommen, wobei vor allem die eigenständigen Oiganisationsformen der Knechte für die Weidenwirtschaft als verursachender Faktor 246
anzusehen ist Eine völlige Integration von verheirateten Knechten und Mägden in den Haushalt ihres Dienstgebers ohne eigene Wohnstätte läßt sich in diesen Gebieten jedoch nicht nachweisen. Verheiratetes Gesinde mit eigener Behausung ist auf großen Meierhöfen des ostmitteleuropäischen Raumes, vor allem im 19. Jahrhundert, eine weitverbreitete Erscheinung. Aber auch zu diesem Typus ist bei den behandelten Gesindeehen des Kärntner Raums keine unmittelbare Analogie gegeben. Schließlich läßt sich im östlichen Mitteleuropa verheiratetes Gesinde feststellen, das unmittelbar beim bäuerlichen Dienstgeber wohnt und sozusagen eine Subgruppe der Hausgemeinschaft des Bauern bildet Das ist etwa in Kurland gerade in dem hier untersuchten Zeitraum der Fall.23 Zu einer Trennung der Partner kommt es jedoch dabei nicht Im deutschsprachigen Raum wie im gesamten Westeuropa fehlte verheiratetes bäuerliches Gesinde grundsätzlich. Das gilt auch für die österreichischen Alpenländer mit Ausnahme Kärntens. Jedenfalls findet sich in der Literatur diesbezüglich kein Hinweis, und auch die einschlägigen Quellen wie Seelenbeschreibungen, Konskriptionen etc. haben - soweit sie bisher untersucht wurden - keine diesbezüglichen Hinweise ergeben. In Tirol soll es vereinzelt zu Eheschließungen von ländlichen Dienstboten gekommen sein.24 Die diesbezüglichen Nachrichten stammen freilich aus viel späterer Zeit 25 Die für die zweite Hälfe des 18. Jahrhunderts in ländlichen Gebieten Kärntens nachweisbaren Gesindeehen ohne Haushaltsgemeinschaft sind also im überregionalen Vergleich nach dem heutigen Forschungsstand eine Ausnahmeerscheinung. Was zu solcher Sonderentwicklung geführt hat, läßt sich aus dem untersuchten Quellenmaterial nicht feststellen. Es können auf dieser Basis bloß Begleitphänomene aufgezeigt werden, die vielleicht als Gesamtmuster eine strukturelle Erklärung vorbereiten. Dabei ist zunächst auf eine von den Verhältnissen in den übrigen österreichischen Ländern deutlich abweichende Zusammensetzung der Inwohner zu verweisen. Während man sonst eine breite Schicht männlicher und weiblicher Inwohner findet, von denen viele verheiratet sind und auch mit ihrem Ehepartner bzw. den gemeinsamen Kindern zusammenwohnen, begegnen in den hier untersuchten Quellen kaum männliche Inwohner. Die „Gastleute" setzen sich fast ausschließlich aus ledigen, verheirateten und verwitweten Frauen und deren Kindern zusammen. Dafür ist die Gruppe des männlichen Gesindes überproportional stark vertreten. Bei ihr fällt auf, daß die Altersstreuung gewisse Besonderheiten zeigt Wahrend in benachbarten
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Ländern - etwa Salzburg und Tirol - Knechte von über fünfzig Jahren eine Seltenheit sind, begegnen sie hier ziemlich häufig. Das männliche Gesinde ist in dieser Gegend also weit davon entfernt, eine homogene Altersklasse zu bilden. Der Gesindestatus mit seiner engen Bindung an das Haus des jeweiligen Dienstgebers scheint hier vor allem für die Knechte, partiell aber auch für die Mägde, lebenslänglich gewesen zu sein. In der Regel wechselt der Knecht nicht in einem bestimmten Alter in die Rolle des Inwohners. Und auch bei Mägden dürfte es dazu nur unter besonderen Voraussetzungen wie etwa der Sorgepflicht für Kinder gekommen sein. Diese schwache Ausbildung des Instituts der Inwohner kann als einer der Gründe dafür angenommen werden, daß die Bauernfamilien des untersuchten Gebietes soviel Gesinde hatten; sicher aber ist das nicht der einzige Grund dafür. Vergleicht man die Zahl der Knechte und Mägde in den behandelten Pfarren des Glan-, Gurk- und Metnitztales mit den gleichzeitigen Gesindezahlen in anderen österreichischen Ländern, so findet man dazu kein Gegenstück. Die Ursachen dieses enorm hohen Arbeitskräftebedarfs wären sicher einer näheren Untersuchung wert Der außerordentliche Gesindereichtum allein ist freilich kein zureichender Grund dafür, daß in dieser Gegend Knechten und Mägden die Verehelichung zugestanden wurde. Schon eher ist dafür die auffallend starke Altersstreuung ins Treffen zu führen. Während in benachbarten Gebieten den prinzipiell ledigen Knechten und Mägden ab einem gewissen Alter als Inwohnern die Heirat erlaubt wurde, erhielten sie hier dasselbe Recht, ohne aus dem Gesindedienst entlassen zu werden. Dadurch war dann freilich ein weitgehend getrenntes Leben der Ehepartner erforderlich. Die grundsätzliche Vereinbarkeit von Gesindedienst und Familiengründung setzt allerdings eine besondere historische Tradition voraus. Auf in Egenregie betriebenen herrschaftlichen Wirtschaftshöfen war im Mittelalter in der Zeit der sogenannten Villikationsverfassung für „servi" bzw. „mancipia" durchaus die Ehe-Möglichkeit gegeben. Es gab hier keine Differenzierung in grundsätzlich verheiratete Bauern, grundsätzlich ledige Knechte und Inwohner, denen der Weg zur Heirat offenstand Es gab nur die einheitliche Gruppe der den Hof bewirtschaftenden Dienstleute. Aus ihr scheint zumindest der erste Knecht, der Meier, im allgemeinen verheiratet gewesen zu sein. Mit der Vermehrung der gegen Abgaben und Dienstleistungen ausgegebenen Höfe an „servi casati" und schließlich mit der zunehmenden Auflösung der Villikationsverfassung haben sich diese Verhältnisse grundlegend verändert.26 Es mag sein, daß in Kärnten ältere 248
Gegebenheiten stärker und länger nachgelebt haben. Um eine solche Vermutung zu erhärten, bedürfte es freilich eingehender Studien zum Strukturwandel der Agrarverfassung in diesem Raum im überregionalen Vergleich, wie sie bisher leider nicht vorliegen. Zu jenem besonderen Muster ländlicher Sozialstrukturen, in dessen Kontext wohl die getrennt lebenden Gesindeehepaare des Untersuchungsraumes einzuordnen sind, gehört auch noch eine andere Erscheinung, die erst in späterer Zeit deutlich zu fassen ist: nämlich der enorm hohe Anteil illegitimer Kinder. Exakte Zahlen liegen diesbezüglich erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor. Für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg seien die diesbezüglichen Werte für Kärnten im Vergleich mit anderen Ländern der Habsburgermonarchie im Überblick zusammengestellt 27 Unehelichen-Zahlen* in der österreichischen Reichshälfte 1850 bis 1910
Österr. unter der Erms Ostern ober der Enns Salzburg Steiermark Kärnten Krain Küstenland Tirol +\t>raribcig Böhmen Mähren Schlesien Galizien Bukowina Dalmatien
1850/51
1857
1869
1880
1890
1900
1910
26,26 19,00 22,98 23,67 33,92 7,07 6,55 5,42 13,22 11,62 12,83 7,50 6,52 3,19
28,71 21,91 27,29 27,24 40,88 10,30 8,09 5,31 16,05 14,42 14,86 10,41 10,41 3,21
30,27 20,42 29,64 29,96 47,20 10,84 6,65 6,27 14,56 11,16 10,00 7,74 10,14 3,39
26,50 17,47 28,40 25,42 46,34 8,13 7,76 1,26 14,56 12,30 8,77 9,00 14,41 13,01
25,97 18,85 26,91 25,13 44,17 7,84 5,60 5,61 13,35 10,46 10,30 14,07 12,80 3,43
23,85 17,79 25,18 23,54 46,78 6,39 6,36 6,95 13,06 9,65 10,05 11,63 11,62 4,20
22,40 19,10 25,17 24,06 37,02 6,36 7,77 7,38 12,32 9,48 10,00 8,79 10,03 3,87
* Auf 100 Lebendgeborene entfallen unehelich Lebendgeborene.
Die Tabelle zeigt klar, daß für den ganzen betrachteten Zeitraum der Anteil der illegitim geborenen Kinder in Kärnten weit über dem Durchschnitt der übrigen Kronländer lag. Selbst im Veigleich mit anderen Alpenländern wie dem benachbarten Salzburg oder der Steiermark sticht die hohe Illegitimitätsquote Kärntens deutlich hervor. Eine Aufnahme von Daten anderer europäischer Regionen würde erweisen, daß es sich auch im internationalen Vergleich absolut um Spitzenwerte handelt Die für Kärnten berechneten Unehelichenziffern korrelieren auffallend mit anderen demographischen Schlüsselwerten. So ist 249
ein deutlicher Zusammenhang mit extrem niedrigen Trauungsziffern und einem relativ hohen Heiratsalter gegeben.28 Einer der wichtigsten Faktoren für die Höhe des durchschnittlichen Heiratsalters war im 19. Jahrhundert der jeweilige Anteil des Gesindes an der Gesamtbevölkerung.29 Wenn sich nun gerade in ländlichen Gebieten Kärntens außerordentlich große Gesindezahlen nachweisen lassen, so wird man wohl darin einen wesentlichen Grund für die hohe Dlegitimitätsquote sehen dürfen. Hohe Unehelichenziffern setzten hohe Prozentsätze ledigen Gesindes voraus. Versucht man einen Zusammenhang zwischen den Dlegitimitätsquoten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem Phänomen der Gesindeehen in der zweiten Hälfte des 18. herzustellen, so gilt es, das Abkommen der Heiratsmöglichkeit von Knechten und Mägden zu erklären. Einer der bedingenden Faktoren ist vielleicht in staatlichen Maßnahmen zu sehen. Der unter Maria Theresia und Joseph Π. aus bevölkerungspolitischen Gründen abgeschaffte, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch wieder eingeführte und verschärfte Ehekonsens könnte bei diesem Wandlungsprozeß eine Rolle gespielt haben. Durch den sogenannten politischen Ehekonsens sollten ja gerade minderbemittelte Personen, und unter ihnen wiederum vor allem die Dienstboten, von einer Eheschließung abgehalten werden.30 Grundsätzlich aber war, wie schon betont wurde, zwischen den relativ lockeren ehelichen Beziehungen der getrennt lebenden Knechte und Mägde und den illegitimen Verhältnissen des Gesindes kein so essentieller Unterschied. Die institutionelle Legitimierung durch die formelle Eheschließung war wohl vor allem eine Forderung der Kirche, die an den tatsächlichen Gegebenheiten des weitgehend getrennten Lebens nichts änderte. So ist es durchaus denkbar, daß die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts relativ häufigen Ehen von bäuerlichen Dienstboten eine Vorstufe der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so stark verbreiteten illegitimen Beziehungen waren. Allerdings lassen schon die älteren Quellen einen ganz beträchtlichen Anteil unehelicher Kinder von Mägden erschließen. Die weitgehende Duldung geschlechtlicher Beziehungen der Dienstleute - sei es daß sie kirchlich legitimiert waren oder nicht dürfte in diesem Gebiet, in dem der lebenslängliche Gesindedienst so stark verbreitet war, schon eine ziemlich weit zurückreichende Tradition haben. In Hinblick auf das getrennte Leben und die relativ lockeren Beziehungen von Gesindeehepaaren, wie wir sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Untersuchungsraum antreffen, stellt 250
sich abschließend die Frage, inwieweit solche Gruppierungen überhaupt als Familien anzusprechen sind Geht man von einer institutionalistischen Sicht aus, so ist die Frage eindeutig zu bejahen. Es handelte sich um eine kirchlich und damit im Sinne der Zeit gesellschaftlich legitimierte Zweierbeziehung, aus der in der Regel Nachwuchs hervorging. Eine rechtlich fundierte Eltern-Kind-Gruppe im Sinne der Institution „Kernfamilie" ist also voll gegebea Wählt man eine soziologische Gruppenkonzeption zum Ausgangspunkt, wie etwa die von Charles H. Cooley, und stellt die Frage, ob ein solches Sozialgebilde als Primärgruppe anzusehen ist, wie es für die Familie gängig angenommen wird, so ist sicherlich negativ zu antworten. Um eine „intimate face-to-face association and cooperation" handelte es sich bei getrennt lebenden Gesindeehepaaren und deren Kindern gewiß nicht Als Primäigruppe ist vielmehr jene bäuerliche Hausgemeinschaft anzusprechen, in der die verheiratete Magd mit ihrem Kind bzw. ihren Kindern lebte. In den meisten Versuchen, Familie in ihrem Wesen zu bestimmen, spielt das Kriterium des gemeinsamen Wohnorts bzw. des gemeinsamen Haushalts eine entscheidende Rolle. So heißt es etwa bei Ren6 König: „Es muß in allen Formen der Familie gesichert sein, daß Mann und Frau sich vereinigen und danach zusammenbleiben, um ihre Nachkommenschaft gemeinsam aufzuziehen."31 Ernest Butgess definiert die Familie als „eine Anzahl von Personen, die durch Heirat, Blutsbande oder Adoption verbunden ist Sie bilden zusammen einen Haushalt, beeinflussen sich gegenseitig . . ."32 Friedhelm Neidhardt formuliert: „(Die Familie) hat sich in modernen Gesellschaften überwiegend als Kleinfamilie organisiert, d. h. relativ unabhängig von weiteren Verwandtschaftszirkeln als eine Gruppe, in der Eltern und unselbständige Kinder exklusiv in einem gemeinsamen Haushalt leben."33 Von Seiten der Sozialgeschichte sieht Peter Laslett die Familie „as a group of persons living together, a household, what we shall call a coresident domestic group". Als maßgebliche Bedingung nimmt er das örtliche Kriterium des „Schlafens unter einem Dach" an.34 Das Merkmal der Koresidenz wird in der Familiensoziologie wie in der Ethnologie als so selbstverständlich angesehen, daß Familienformen nach der Wahl des Wohnsitzes generell in „patrilokale", „matri-" bzw. „uxorilokale" und „neolokale" Familien eingeteilt werdea 3 5 Die untersuchten Gesindeehepaare würden selbst für die Phase eines eventuellen Zusammenlebens nicht unter dieser Typologie zu subsumieren sein. Man müßte für sie eine neue Kategorie des „dominolokalen" Wohnsitzes einführen. In der Regel ist aber, wie gezeigt 251
wurde, das entscheidende Kriterium der Koresidenz bei ihnen nicht erfüllt Unter dieser Perspektive wäre also solchen Gruppierungen sicher die Familienqualität abzusprechen. Geht man von Typisierungsversuchen der Familiensoziologie aus, so könnte man die zusammenlebende Mutter-Kind-Gruppe unter Hinweglassung des getrennt lebenden Vaters als eine „unvollständige Familie" einstufen. Unter diesem Begriff werden ja nicht bloß nur durch Verwitwung entstandene Restfamilien verstanden, sondern auch Gruppierungen, wie sie sich durch Trennung bzw. durch langfristige Abwesenheit eines Hternteils eigeben.36 Den besonderen Gegebenheiten der behandelten historischen Gruppenbildung würde man freilich durch eine solche Einstufung auch nicht gerecht Die Magd mit ihrem ehelichen Kind lebt ja ihrerseits wiederum in die bäuerliche Hausgemeinschaft eingeordnet Sie ißt mit den Bauersleuten am selben Tisch, schläft unter demselben Dach, ihr Kind wächst gemeinsam mit den Bauernkindern auf. Die Mutter-Kind-Gruppe läßt sich also nicht isoliert für sich, sondern höchstens als ein Subsystem der umfassenden bäuerlichen Familiengemeinschaft auffassen. Betrachtet man die getrennt lebenden Gesindeehepaare mit ihren Kindern unter funktionalem Aspekt, so läßt sich sagen, daß gewisse Familienfunktionen dieser Gruppierung zukommen. Eindeutig ist die Reproduktionsfunktion gegeben. Aber auch die Funktion der sozialen Plazierung des Kindes durch die Eltern liegt vor. Das Kind des Gesindeehepaares wird ja nicht nach dem Status des Bauern, in dessen Haus es aufwächst, eingestuft, sondern nach dem seiner leiblichen Eltern. Die Sozialisationsfunktion ist hingegen nicht so klar zuzuordnen. Als Sozialisationsinstanz kommen kaum der Vater, primär sicher die Mutter, daneben aber auch die übrigen Personen der bäuerlichen Hausgemeinschaft in Frage, also der Bauer und die Bäuerin, das übrige Gesinde, ebenso die Bauernkinder als peer-group, in der das Kind lebt Die für historische Familienformen so zentrale Produktionsfunktion liegt sicher bei der Bauernfamilie als ganzer. Sie ist der maßgebliche Rahmen der Aibeitsoiganisation, an der jedenfalls die Mutter als Magd, partiell aber auch schon das heranwachsende Gesindekind teilnimmt Dieser größere Kreis ist auch der Träger der familialen Schutzfunktion. Die sonst an eine Primäigruppe gebundenen Familienfunktionen sind also hier auf zwei Gruppierungen verteilt Solche Überlegungen sind nicht deshalb von Bedeutung, weil es besonders wichtig wäre, ob man für den untersuchten Sonderfall die Etikette „Familie" im exakten Wortverständnis gebrauchen darf 252
oder nicht Ebensowenig geht es um die Verifizierung oder Falsifizierung der einen oder anderen Familiendefinition. Es sollte vielmehr an einem extremen Fall aufgezeigt werden, wie reich an Sonderformen das Spektrum historischer Familienstrukturen ist In Hinblick auf diese große Variabilität erscheint es kaum mehr möglich, die Familie als eine naturhaft bedingte Sozialform, eine überzeitlich gleichbleibende anthropologische Konstante zu sehen. Dies zu erkennen ist wichtig - aus der Geschichte für die Gegenwart
Anmerkungen 1
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Eine Ausnahme bildet diesbezüglich für die Steiermark Othmar PICKL, Arbeitskräfte und Viehbesatz sowie Vcrmögensveihältnisse stciermärkischer Bauernhöfe im 16. Jahrhundert, ia· Festschrift für Wilhelm Abel 2, 1975, S. 143; DERS., Landflucht im 16. Jahrhundert? Untersuchung zur Bevölkerungs- und Sozialstruktur einiger obere teiriseher Pfarren des 16. Jahrhunderts, in: Blätter für Heimatkunde 41,1971, S. 151 ff.; für Oberösterreich: Bauemi and Oberösterreich, hg. von Alfred HOFFMANN, 1974, S. 492 ff.; für Tirol unter einseitig rechtshistorischcm Aspekt Otto STOLZ, Zur Geschichte der landwirtschaftlichen Dienstboten in Tirol, Festschrift Karl Haff, 1950, S. 185 ff.; von volkskundlicher Seite mit historischen Perspektiven Johannes GRIESSMAIER, Knecht und Magd in Südtirol, Veröffentlichungen der Universität Innsbruck 1, 1970. Ein Neuansatz hier bei Hannes STEKL, Hausrechtliche Abhängigkeit in der industriellen Gesellschaft, das häusliche Personal vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, im Wiener Geschichtsblätter 30, 1975, S. 301 ff. Für Deutschland sind an neueren Publikationen vor allem die Arbeiten von Rolf ENCODING ZU nennen. Sie sind zusammengefaßt in der Aufsatzsammlung: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 4, 1973; für England: Leonore DAVIDOFF, Mastered for Life: Servant and Wife in Victorian and Edwardian England, in: Journal of Social History 7, 1974, S. 406 ff.; für Frankreich: Teresa MCBRIDE, Social Mobility for the Lower Classes: Domestic Servants in France, in: Journal of Social History 8, 1975, S. 63 ff., beide mit weiterführenden Literaturhinweisen. Die genannten Aibeiten beschäftigen sich fast ausschließlich mit städtischem Haushaltsgesinde der neueren Zeit Für die internationale Fotschungssituation charakteristisch ist die relativ geringe Beachtung, die dann Gesinde in dem Sammelband „Household and Family in Past Time" (hg. von Peter LASLETT/Richard WALL, 1972) beigemessen wird. Roger SCHOFIELD, Age-specific mobility in an eighteenth century English parish, Annales de Demographie Historique, S. 261 ff. John KNODEL/Mary Jo MAYNES, Urban and Rural Marriage Patterns in Imperial Germany, Journal of Familiy History 1, 1976, S. 147 ff. Die Charaktcrisüka des „European marriage pattern" beschreibt die grundlegende Studie von John HAJNAL, European marriage patterns in Perspective, in: Populat i o n a n d H i s t o i y , hg. v o n D . V . G L A S S / D . E C EVERSLEY, 1 9 6 5 , S. 1 0 1 f f . Ü b e r
die Zusammenhänge zwischen Gesindedienstphase und Heiratsalter. Michael
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MTITERAUER/ Reinhard SIEDER, Vom Patriarchat zur Partnetschaft, Beck'sche Schwaize Reihe 158, 1977, S. 61 f. Das relativ hohe I-fciratsalter führte in West- und Mitteleuropa beispielsweise zu einer außerordentlichen Verlängerung der Jugendphase, die außerhalb dieses Raumes kein Gegenstück findet Aus diesem demographischen Phänomen erklärt sich die große Bedeutung, die hier den Vergesellschaftungsformen der männlichen Jugend zukommt Solche Jugendbünde stellen einerseits eine Wurzel bzw. ein maßgebliches Votbild für genossenschaftliche Organisationsformen überhaupt dar, wie sie für die europäische Sozialentwicklung besonders charakteristisch erscheinen. Andererseits treten derartige Gruppierungen von Jugendlichen vielfach als Träger von Protest- und Emeuerungsbcw egungen auf, deren gesellschaftsverändernde Rolle viel zur Beschleunigung von Prozessen des sozialen Wandels beigetragen haben könnte. Vgl. dazu Michael MTITERAUER, Jugendgrupp e a in: Jugend im historischen Wandel, Beiträge zur historischen Sozialkunde 6, 1976, S. 35 ff. Michael MITTERAUER, Vorindustrielle Familienformen, Zur Funktionsentlastung des „ganzen Hauses" im 17. und 18. Jahrhundert, in: Fürst, Bürger, Mensch, Wiener Beiträge zur Gcschichte der Neuzeit 2, 1975, S. 123 ff. Für die bäuerliche Familie und ihren Arbeitskräftebedarf im Ablauf des Familienzyklus vgl. Lutz K. BERKNER, The Stem Family and the Developmental Cycle of the Peasant Household: An Eighteenth-Century Austrian Example, in: American Historical Review 77, 1972, S. 298 ff. Michael MTITERAUER, Auswirkungen von Urbanisierung und Friihindustrialisierung auf die Familienverfassung an Beispielen des österreichischen Raumes, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, hg. von Werner CONZE, Industrielle Welt 21, 1976, S. 55. Dazu ausführlicher Michael MTITERAUER, Familiengröße - Familientypen Familienzyklus, in: Historische Familienforschung und Demographie, Geschichte und Gesellschaft 1,1975, S. 232 ff. Vgl. die Karte im Anhang. Im einzelnen handelt es sich um die Seelenbücher der Pfarren Feistritz von 1759, Friedlach von 1757 und 1875, Glödnitz von 1757, Grades von 1757, Gradenegg von 1757, Ingolstal von 1757 und 1759, Kraig von 1757 (nur neuzugezogene Personen erfaßt), Metnitz von 1757, Pulst von 1757 und 1803, Simitz von 1757 und 1759, Steinbichl von 1757, Weitensfeld von 1757 und 1759, Zweinitz von 1757, 1770, 1786 und 1803. Als „Gastleut", „Gäste" und „Gästinnen" werden in Kärnten die Inwohner bezeichnet Vereinzelt findet sich in den untersuchten Quellen ein Nebeneinander der Bezeichnungen „Gäste" und „Inwohner", wobei das unterscheidende Kriterium nicht erkennbar ist Liber Baptizatorum Parochialis Ecclcsiae S. Aegidii in Zweinitz 1770-1792, S. 2 f. und S. 24. Dies wird etwa am Fall einer Baderstochter aus dem Markt Weitensfeld deutlich. 1757 lebte sie nicht im elterlichen Haushalt. Offenbar war sie als Magd auswärts beschäftigt Zwei Jahre später findet sie sich mit einer einjährigen Tochter in ihrer Herkunftsfamilie. Sie wird ausdrücklich als verheiratet bezeichnet Ihr Mann lebte freilich getrennt von ihr. In Glödnitz begegnet 1757 ein Knechtsehepaar, dessen sechs Monate alter Sohn in S t Georgen bei Straßburg geboren ist Beim einjährigen Sohn einer Inwohnerin aus Simitz wird Glödnitz als Geburtsort angegebea Die zweijährige Tochter eines Knechtsehepaares in Kraig war in Spittal an der Drau geboren etc. Auf dem Hof des „Magnus an der Eden" in Glödnitz begegnet 1757 eine verheiratete „Gästin", die wohl vorher Magd war, gemeinsam mit zwei Kindern.
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Der sechsjährige Sohn trägt genau wie der Hofbesitzer den in dieser Gegend sonst nicht auftretenden Namen Magnus. Der Bauer stammt nach Angabe des Seelenbuches aus dem Schwarzwald Diese Herkunft erklärt wohl den seltsamen Namen. Wenn nun auch der Sohn der Gästin diesen Namen trägt, so wurde er wohl nach dem Bauern benannt Das aber bedeutet, daß die Gästin schon sechs Jahre vor der Anlage des Seelcnbuches auf dem Hof gelebt haben muß. Es handelt sich hier um eine einunddreißigjährige Magd beim Feistritzer Bauern in der Pfarre Glödnitz. Sie selbst wie auch ihre vier Kinder sind mit dem Bauern namensgleich. Das heißt, daß sowohl sie als auch der Vater der Kinder zum Verwandtenkreis des Hofinhabers gehört haben müssea Nun ist aber auch der dreißigjährige älteste Sohn des Bauern als verheiratet eingetragen. Höchstwahrscheinlich handelt es sich daher bei der Magd um dessen Frau, also die zukünftige Bäuerin. Am ehesten geben darüber die Ttauungs- und Taufmatriken Auskunft In den untersuchten Seelenbüchem finden sich bloß ein einziges Mal darüber Eintragungen. Bei einem fünfunddreißigjährigen Knecht des Stampfer-Bauern in der Pfarre Feistritz heißt es „des weib in Altenmarkt", beim zweiten Knecht desselben Bauern, der bereits zweiundsechzig Jahre alt war, ist vetzeichnet „des weib in SL Salvator". Auf dem Weg von Feistritz nach Altenmarkt war der Gebiigszug zwischen Metnitz- und Gurktal zu überwinden. SL Salvator liegt von Freistritz etwa 10 Kilometer die Metnitz abwärts kurz vor Friesach. Vgl. oben S. 238 f. Die Ausnahmen bilden der große Görtschach-Hof in der Pfarre Glödnitz, der 1757 von einer verheirateten Bäuerin allein geführt wird, deren Gatte nach der Zählung von 1759 allerdings wieder anwesend ist, sowie ein Kaufhaus in Weitensfeld, in dem die Mutter des Besitzeis nach den Angaben sowohl der Zählung von 1757 als auch der von 1759 verheiratet ist, aber nicht mit ihrem Manne zusammenlebt Für beide Fälle findet sich nach den bearbeiteten Quellen keine befriedigende Erklärung. Freundliche Mitteilung von Professor Karolyi Gaal (Wien); zu Ungarn auch Edith FEL/Tamäs HOFER, Bäuerliche Denkweise in Wirtschaft und Haushalt, Veröffentlichungen des Instituts für mitteleuropäische Vblksforschung an der Philipps-Universität Marburg A 7, 1972, S. 176. Andrejs PLAKANS, Peasant Farmsteads and Households in the Baltic Littoral, 1797, Comparative Studies in Society and Histoty 17, 1975, S. 31. STOLZ, Zur Gcschichte der landwirtschaftlichen Dienstboten Tirols, S. 192. GRUSSMAIER, Knecht und Magd in Südtirol, S. 26. Als Sonderfall aus älterer Zeit wäre zu erwähnen, daß in einer mit dem Kärntner Untersuchungsmaterial etwa zeitglcichen Seclcnbeschreibung der Pfarre Zell am Ziller zwei Gesindeehepaare begegnen. Sie leben allerdings gemeinsam im Haushalt ihres Dienstgebeis (Liber animamm Parochiac Zellensis in valle Zilleriana, anno 1779, Pfarraichiv Zell am Ziller). Diese Entwicklung für Kärnten im Überblick behandelt bei: Karl DINKLAGE, Geschichte der Kärntner Landwirtschaft, 1966, S. 29 ff. Birgit BOUDGNISE-LHJCHIH^MÜLLER, Bevölkerungsentwicklung und Berufsstmktur, Gesundheits- und Fürsoigewesen in Österreich 1750-1918, Materialien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1, 1977, Tab. 44, Tabellenteil S. 126. Ebenda.
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KNODEL/MAYNES, S. 147 ff.
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STOLZ, S. 129 f.
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Rcn6 KÖNIG, Soziologie der Familie, Handbuch der Empirischen Sozialforschung 2, 1969, S. 196.
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Ernest W. BURGESS/Harvey J. LOCKE, The Family, 1945, ziL nach Übersetzung, in: Familiensoziologie, Ein Reader als Einführung, hg. von Dieter CLAESSENS/ Petra MILLHOFER, 1 9 7 3 , S. 6 7 . Friedhelm NHDHAROT, Strukturbedingungen und Probleme familialer Sozialisation, in: CLAESSENS/MILLHOFER, S. 2 0 5 . Gegen die Annahme des gemeinsamen Wohnsitzes als konstitutives Kriterium von Familie spricht sich aus: Robert F. WINCH, Theoretische Ansätze in der Untersuchung der Familie, in: Soziologie der Familie, Sonderheft 14 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1 9 7 0 , S. 2 6 f. Peter LASLETT, Introduction, in: Household and Family in Past Time, hg. von P. LASLETT/R. WALL, 1970, S. 1 u n d S. 2 3 ff.
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William J. GOODE, Soziologie der Familie, Grundfragen der Soziologie 8, 1967, S.96.
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KÖNIG, S o z i o l o g i e d e r F a m i l i e , S . 2 5 8 ff.
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Gesindeleben im Alpenraum* Die Beschäftigung der Sozialgeschichte mit den Lebensverhältnissen ländlicher und städtischer Dienstboten ist aus der historischen Familienforschung herausgewachsen. Dienstboten waren ja - dem Verständnis früherer Zeiten entsprechend - in mehr oder minder ausgeprägter Form Angehörige des Familienverbandes bzw. der Haushaltsgemeinschaft. Quellen und methodische Zugangsweisen der historischen Familienforschung haben daher auch für die Sozialgeschichte des Gesindes zentrale Bedeutung. Diesbezüglich stehen einander extreme Positionen gegenüber. Die Charakteristik des Gegensatzes durch die Typisierung als „demographic approach" und „sentiments approach" erfaßt die Forschungssituation in treffender Weise.1 Der „demographic approach" geht in der Familienwie in der Gesindeforschung primär von quantifizierbaren Quellenbeständen aus - von Zensuslisten, Haushaltszählungen, „Libri status animarum" und ähnlichen Zeugnissen. Ihm steht eine Zugangsweise gegenüber, die die Aussagekraft solcher numerischer Quellen in Frage stellt und die davon ausgeht, daß die wesentlichen Aussagen nicht aus quantifizierbaren Informationen gewonnen werden. Vertreter dieser Richtung sind vor allem unter den „Oral historians" zu finden. Mit der Methode der Oral History läßt sich freilich nur die jüngste Vergangenheit erfassen. Für weiter zurückliegende Zeiten liegt vergleichbares Material vor allem in Autobiographien, Memoiren, Tagebüchern, Briefen und ähnlichen lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen vor. Die hier vorgelegte Studie zur Geschichte des Gesindewesens im Alpenraum ist um eine Annäherung dieser beiden gegensätzlichen Zugangsweisen bemüht Sie stützt sich hinsichtlich der statistischen Angaben auf Personenstandslisten, wie sie von einer Forschergruppe des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien seit 1973 gesammelt wurden. Ein Großteil dieser * Aus: Quademi storici, nuova serie 68 (1988), S. 437-467.
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Listen ist in einer Weise bearbeitet, daß eine Auswertung mit Methoden der EDV möglich ist 2 Von dieser „Vienna Data Base on European Family Histoiy", die Quellen aus sechs europäischen Ländern erfaßt, wird hier vor allem Material aus einundvierzig ländlichen Gemeinden Österreichs in Hinblick auf Fragen des Gesindelebens herangezogen (insgesamt 119.949 Personen). Neben den mit EDV auswertbaren Listen liegen jedoch in der Sammlung auch Quellenbestände vor, die in anderer Weise bearbeitet wurden. Es handelt sich dabei um die sogenannten „seriellen Seelenbeschreibungen" - jährlich angelegte Personenstandslisten von Pfarrgemeinden, die es ermöglichen, die Zusammensetzung von Haushalts- bzw. Hausgemeinschaften über mehrere Jahrzehnte in allen Veränderungen zu verfolgen. 3 Durch diesen Quellentypus werden individuelle Familien- und Lebensgeschichten rekonstruierbar allerdings in einer stark standardisierten Form. Dadurch läßt sich eine Verbindung herstellen zu Darstellungen von Familien- und Lebensgeschichten wie sie in Autobiographien überliefert sind. Im Rahmen der familienhistorischen Forschung am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien wurde hier auch eine „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen" begonnen, die sich um die Sammlung populärer Autobiographik bemüht 4 Fast siebenhundert Personen haben bisher solche Aufzeichnungen der „Dokumentation" überlassen. Lebensgeschichten aus ländlichen Unterschichten sind unter ihnen besonders stark vertreten. Die Sammlung eignet sich daher gut für eine Untersuchung über Gesindeleben. In der Kombination von Informationen dieser beiden Quellenbestände lassen sich „harte" und „weiche Daten" miteinander verbinden. Die Möglichkeiten und Grenzen der beiden skizzierten Zugangsweisen der historischen Familienforschung bzw. der Sozialgeschichte des Gesindewesens werden dabei deutlich sichtbar. Gleichsam als Leitlinie für die Darstellung von Problemfeldern des Gesindelebens in früherer Zeit soll der folgenden Studie die Lebensgeschichte der Maria Dorfmann, geb. Mayrhofer, aus Barbian nahe bei Bressanone/Brixen in Südtirol zugrunde gelegt werden. Als Quelle für die Geschichte des Gesindewesens im Alpenraum ist diese Autobiographie von außerordentlichem Wert Während lebensgeschichtliche Selbstzeugnisse aus diesem sozialen Milieu sonst meist erst aus einer Zeit vorliegen, in der alle Formen des Dienstverhältnisses nur mehr eine im Ausklingen befindliche Relikterscheinung darstellten, war in Maria Dorfmanns Jugend das 258
Gesindewesen noch in voller Blüte. Die Autorin ist 1831 geboren und verbrachte ihre Zeit als Magd in den Jahren vor bzw. um die Mitte des 19. Jahrhunderts. E n Selbstzeugnis einer Dienstmagd aus dieser Zeit stellt europaweit ein Unikat dar. Vielfach waren Dienstboten damals noch gar nicht in der Lage, über ihr Leben Aufzeichnungen anzufertigen. Jedenfalls fehlte ihnen in der Regel die Motivation dazu. Maria Dorfmann hat ihre Geschichte in den Jahren 1916/17 geschrieben, und zwar auf Anregung eines volkskundlich interessierten Dienstgebers, des Besitzers von Schloß Summersbeig, wo die Witwe einige Jahre als Schloßaufseherin verbrachte, weswegen sie auch den Beinamen „Schloßmoidl" (Moidl =Maria) bekam.5 Die „Schloßmoidl" beherrschte die Hochsprache nicht Sie schrieb daher in ihrem - heute schwer verständlichen - Südtiroler Dialekt Wie in der Edition wird diese eigentümliche, für die Autorin charakteristische Sprach- und Schreibform bei den hier zitierten Stellen beibehalten. In der Darstellung ihrer Kindheit erzählt Maria Dorfmann: „Noher bold i acht Johr alt gewordn binn, nocher hot mi die Mueter zunn an Baum getun, as a mol i von der Kost binn vortkommen, ober nur lei in Summer. In Winter hon i wieder gemiet hoam gian. In Langes, wenn die Schuele wieder ausgongan, bin i wieder zu an Baurn kummen und a seu vort bis i zwölf Jahr alt bin gewordn." („Als ich dann acht Jahre alt geworden bin, da hat mich die Mutter zu einem Bauern gegeben, damit sie mich nicht mehr verköstigen mußte, allerdings nur über den Sommer. Im Winter habe ich wieder nach Hause müssen, um in die Schule zu gehen. Im Frühjahr, wenn die Schule vorbei war, bin ich wieder zu einem Bauern gekommen, und so ist es weitergegangen, bis ich zwölf Jahre alt geworden bin.") „The age at leaving home" ist ein in der quantifizierend orientierten historischen Familienforschung viel behandeltes Thema.6 Wann hat nun die kleine Maria Mayrhofer ihr Elternhaus verlassen, um den Gesindedienst anzutreten - mit acht oder mit zwölf Jahren? Die autobiographische Darstellung zeigt, daß sich eine solche Frage nicht so eindeutig entscheiden läßt, wie das aufgrund jener Quellen erscheint, die die statistisch arbeitende Forschung ihren Untersuchungen zugrunde legt Ein im Sommer angelegter „Liber status animarum" hätte Maria Mayrhofer als Magd, ein im Winter angelegter als Haustochter ausgewiesen. Zensuslisten vermitteln das Bild eines eindeutigen entweder-oder. Auch jährlich angelegte Personenstandslisten vom Typ der „seriellen Seelenbeschreibungen" erwecken den Bndruck einer klar faßbaren Zäsur zwischen 259
der Stellung als Kind im Elternhaus und als Dienstbote auf dem Bauernhof. Die Realität ist komplexer. Man konnte auch, nachdem man bereits den Gesindedienst angetreten hatte, immer wieder nach Hause zurückkehren - übrigens nicht nur im jahreszeitlichen Wechsel, sondern über ganze Jahre. Der auf den Sommer beschränkte Gesindedienst der Maria Mayrhofer ist keine Ausnahmeerscheinung. Auch andere Biographien berichten darüber.7 In Nordtirol und dem angrenzenden Vorarlberg wurde es zu einem Massenphänomen, daß Kinder im Sommer bei Bauern in benachbarten Gebieten Schwabens vor allem als Viehhüter im Dienst standen.8 Diese Wanderung der sogenannten „Schwabenkinder" hielt sich bis weit ins 20. Jahrhundert Auch wenn das Schulmädchen Maria Mayrhofer noch nicht mit acht Jahren von ihrem Elternhaus Abschied nehmen mußte, so eigibt sich aus ihrer Lebensgeschichte doch klar, daß sie von diesem Zeitpunkt an kontinuierlich bei Bauern im Dienst stand Das ist ein relativ früher Eintritt ins Gesindeleben. Unter den Autorinnen und Autoren, deren lebensgeschichtliche Aufzeichnungen in die Wiener Dokumentation aufgenommen wurden, finden sich Parallelfälle. So erhielt die als erste publizierte Autobiographie dieser Sammlung von Maria Gremel den Titel „Mit neun Jahren im Dienst". Gegenüber heutigen Vorstellungen von Kindheit wirkt ein so frühzeitiger Übergang ins Arbeitsleben außer Haus besonders stark als Kontrast Maria Gremel, die um die Jahrhundertwende geboren ist, schildert in ihrer Lebensgeschichte, daß ihr Vater gar schon mit vier Jahren zu einem Bauern gegeben wurde und überhaupt nicht die Schule besuchen konnte, weil er Schafe hüten mußte.9 Solche Berichte könnten dazu verleiten, dem Gesindedienst im Kindesalter ganz allgemein eine besondere Bedeütung beizumessen - eine Einschätzung, die durchaus auch in maßgeblichen familienhistorischen Arbeiten begegnet 10 Gegenüber vorschnellen Verallgemeinerungen aufgrund individualgeschichtlicher Zeugnisse stellen wiederum die statistisch auswertbaren Massenquellen ein notwendiges Korrektiv dar. Ein Überblick über die Altersstruktur des Gesindes, wie ihn das in der Wiener Datenbank gespeicherte Material ermöglicht, rückt diesbezüglich die Akzente zurecht Daß der Entritt in den Gesindedienst mit acht oder neun Jahren nicht der Regelfall war, wird aus den sehr niedrigen Prozentsätzen der Altersgruppe unter zehn Jahren am Gesinde insgesamt wohl deutlich. Analoge Schlüsse können gezogen werden, wenn man den Anteil des Gesindes an den einzelnen Altersgruppen betrachtet Daß die entscheidende Zunahme erst ab der Mitte des zweiten Lebens260
Jahrzehnts erfolgt, sei am Beispiel einiger besonders gesindereicher ländlicher Pfarrgemeinden des Ostalpenraumes dargestellt
Tabelle 1: Altersstruktur des Gesindes in 41 österreichischen Gemeinden11 (Angaben in Prozent) Alteisgruppe 0 - 9 Jahre 1 0 - 1 9 Jahre 2 0 - 2 9 Jahre 3 0 - 3 9 Jahre 4 0 - 4 9 Jahre über 50 Jahre
weibl.
männl.
17. Jh.
18. Jh.
19. Jh.
20. Jh.
0,4 24,0 43,1 18,2 7,8 6,4
0,6 25,9 37,3 19,6 8,9 7,7
0,8 33,7 46,3 13,1 4,1 2,0
0,9 25,3 42,4 16,0 8,7 6,6
0,1 28,1 37,3 19,7 8,3 6,5
38,8 27,8 17,7 5,5 10,2
_
Tabelle 2: Anteil des Gesindes an einzelnen Altersgruppen Pfangemeinde Abtenau (Salzburg) Andrichsfurt (Oberösterreich) Simitz (Kärnten) Thalgau (Salzburg)
Erhebungsjahr
10-14 Jahre
15-19 Jahre
20-24 Jahre
25-29 Jahre
1632 1790 1813 1909 1757 1648 1750
12,2 11,4 36,6 27,6 28,6 8,7 10,7
31,9 28,2 65,4 64,1 57,0 26,6 41,7
38,2 39,9 50,0 57,1 55,4 39,6 45,4
21,5 37,6 41,9 37,5 41,2 37,1 36,5
Bei allen zeitlichen und räumlichen Differenzierungen dieser Daten zeigt sich, daß der Eintritt in den Gesindedienst in verschiedenen Schüben bis um die Mitte des dritten Lebensjahrzehnts erfolgt sein muß. Erst ab diesem Zeitpunkt sind die Prozentsätze überall rückläufig. Die starke Streuung der Eintrittstermine läßt es als wenig sinnvoll erscheinen, für lokale Populationen generelle Durchschnittswerte zu berechnen. Grundsätzlich wäre das ja möglich - nicht auf der Basis einzelner Personenstandslisten, wohl aber auf der Grundlage serieller Seelenbeschreibungen. Gerade diese aber zeigen deutlich, daß es kein „Normalalter" für den Eintritt in den Gesindedienst gibt Der Eintritt richtet sich nicht nach einer einheitlichen gesellschaftlichen Regel, sondern nach individuellen Gegebenheiten der jeweiligen Familienverhältnisse. Aus den Veränderungsprozessen einzelner Familienzyklen wird erkennbar, welche spezifischen Bedingungen zum Ausscheiden eines Kindes bzw. eines Jugendlichen aus dem Familienverband geführt haben könn261
ten. Noch deutlicher ist diesbezüglich die Sprache der Autobiographien. Wo die seriellen Seelenbeschreibungen Vermutungen nahelegen, formulieren lebensgeschichtliche Aufzeichnungen oft explizit die aus der Familiensituation abgeleitete Notwendigkeit, ein Kind zum Bauern in Dienst zu geben. Bei der achtjährigen Maria Mayrhofer war das Motiv der Mutter, die Tochter als Magd zu einem Bauern zu geben, „as a mol i von der Kost binn vortkommen". Die Kinder ernähren zu können, war bei allen Familien ländlicher Unterschichten ein Problem. Zur Landarmut ist die Familie Mayrhofer aus Barbian eindeutig zu rechnen. Die Tochter schildert: Der Vater war Kleinhäusler und starb schon mit sechsunddreißig Jahren. Die achtundzwanzigj ährige Witwe blieb mit vier Kleinkindern zurück, von denen eines kurz nach dem Tod des Vaters verstarb. Maria - die Älteste - war damals vier bis fünf Jahre alt, trotz der Not der Mutter noch zu jung, um sie wegzugeben. In Familien, in denen solche Armut herrschte, hatten die Erstgeborenen die geringsten Chancen auf ein längeres Zusammenleben mit den Eltern oder dem verwitweten Elternteil. Vom Zwang, einen Esser vom Usch wegzubekommen, waren primär sie betroffen. Mit acht Jahren auf Zeit und nach dem Ende der Schulpflicht mit zwölf auf Dauer in den Gesindedienst überzutreten, scheint für die Mutter hier der frühest denkbare Zeitpunkt gewesen zu sein. Nicht immer war überhaupt eine solche begrenzte Entscheidungsfreiheit über den Zeitpunkt gegeben. Oft zwangen familiäre Unglücksfälle zum unmittelbaren Handeln. Eine Zeitgenossin der Maria Mayrhofer-Dorfmann, die 1844 geborene Theresia Sittenthaler aus Innersee in Oberösterreich hat ihrem Enkel in den 1920er Jahren über ihre Kindheit Erzählungen überliefert, die von diesem stenographisch aufgezeichnet wurden - ein bemerkenswertes frühes Zeugnis populärer Oral Histoiy. Der Stiefvater Theresia Sittenthalers war ein Kleinhäusler. Theresia berichtet: „Vier Jahre nach seinem Tod hat auch die Mutter in die Ewigkeit müssen. Unser kleines Vaterhaus wurde verkauft, und der Erlös und die übrigen Sachen wurden für uns aufgehoben. Die zwei Buben, der Johann und der Sepperl, sind bei ihrem Taufgöden, beim Meister in Viertelbach, aufgenommen worden, ich aber habe mit zwölf Jahren zu Bauern müssen."12 Anders als bei den Mayrhofer-Mädchen handelte es sich hier um Vollwaisen. Interessant ist das unterschiedliche Schicksal der einzelnen Kinder. Die schon zwölfjährige Älteste wurde Magd. Die offenbar bedeutend jüngeren Stiefbrüder übernahm deren Taufpate als Ziehkinder. Für den Gesindedienst
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wurden sie offenbar noch als zu jung angesehen. Die Grenzen zwischen Ziehkindern und Gesinde waren allerdings vielfach fließend Serielle Seelenbeschreibungen zeigen, daß heranwachsende Ziehkinder in den Listen oft als Mägde und Knechte weitergeführt werden. E n e klare Altersgrenze für diesen Übelgang ist nicht ersichtlich. Umgekehrt dürfte junges Gesinde vielfach eine ziehkindähnliche Stellung gehabt haben. Sehr häufig war der erste Dienstplatz bei Verwandten. In Enzellisten ist der Prozentsatz von namensgleichen Dienstgebem bei jungem Gesinde auffällig hoch, insbesondere bei jungen Mägden. Serielle Listen zeigen ebenso, daß man Jugendliche zu Beginn ihrer Dienstzeit gerne bei nahestehenden Personen in Obhut sah. Neben Verwandten konnten das auch die Taufpaten sein. Im Fall der frühen Verwaisung mußten diese oft nicht als Dienstgeber, sondern als Zieheltern einspringen, wie das bei den Stiefbrüdern der Theresia Sittenthaler der Fall war. Der frühe Entritt von Kindern in den Gesindedienst konnte auch durch andere familiale Notsituationen bedingt sein. Bnen Extremfall dieser Art noch aus den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts schildert Barbara Waß aus der Familie ihres Vaters.12® Die Großeltern besaßen ein abgelegenes altes Kleinhaus in der Salzburger Pfarre Abtenau. E n Hochwasser machte dieses Haus praktisch unbewohnbar „Tagelang hat die Großmutter in einem Korb E d e hinaufgetragen und versucht, sie mit Holzpflöcken zu befestigen. Dann begann es wieder zu regnen, und alles war umsonst Finanzielle Schwierigkeiten gab es ohnehin immer, und so verkauften meine Großeltern das Häusel. Damit löste sich die Familie meines Vaters praktisch auf. Ε selbst war ohnehin schon weg, die anderen Geschwister, soweit sie noch zu Hause waren, kamen zu verschiedenen Bauern. Großmutter ging als Sennerin und im Winter als Magd zu einem Bauern, und Großvater wurde wieder Knecht" Sicher handelt es sich hier um einen Extremfall. Daß ein Ehepaar durch eine solche Naturkatastrophe veranlaßt auseinandeigeht und sich als Magd und Knecht verdingt, mag nicht allzu häufig geschehen sein. Daß die Aufgabe der bisherigen Behausung die Weggabe von Kindern zu Bauern die Folge hatte, scheint öfter vorgekommen zu sein ob als Ziehkinder oder als Gesinde bleibt in diesem Falle offen. Der Zusammenhang von labilen Wohnverhältnissen und Entritt der Kinder in den Gesindedienst begegnet bei Familien aus ländlichen Unterschichten häufig. Deutlicher als die autobiographischen Darstellungen zeigen das serielle Seelenbeschreibungen. Vor allem bei der Gruppe der sogenannten „Inwohner" waren die Möglichkeiten des Zusammenlebens von Etern und heranwachsenden Kindern 263
sehr stark von den jeweiligen räumlichen Bedingungen abhängig. Inwohner waren Mitbewohner. Sie besaßen kein eigenes Haus, sondern lebten in Hausgemeinschaft mit Bauern oder Kleinhäuslern. Das Wohnrecht mußten sie durch Mitarbeit entgelten, seltener dafür Miete zahlen. Diese soziale Gruppe war innerhalb der Landbevölkerung am stärksten Fluktuationen ausgesetzt Ein Wohnungswechsel hatte bei Inwohnerfamilien häufig das Ausscheiden von Kindern zur Folge, die dann zumeist als Magd oder Knecht zu einem Bauern in Dienst gingen. Der Familienzyklus einer Familie aus der Pfarre Pennewang in Oberösterreich soll derartige Zusammenhänge illustrieren (siehe Abbildung 1, S. 265).13 Die skizzierte Inwohnerfamilie ist auf den verschiedenen Stationen ihres Wechsels von Haus zu Haus sehr unterschiedlich zusammengesetzt Eine einschneidende Zäsur dürfte für sie das Jahr 1842 gewesen sein. Nachdem kurzfristig drei Kinder und ein Enkelkind mitgelebt hatten - eine Tochter war kurz zuvor mit einem unehelichen Kind zu den Eltern zurückgekehrt - , lebten sie in der Folgezeit im neuen Quartier nur mehr mit einem Kind zusammen. Die älteste Tochter scheint in den Gesindedienst zurückgegangen, die Fünfzehnjährige in diesen eingetreten zu sein. Der Zyklus zeigt aber nicht nur Ausscheiden von Kindern aus Anlaß des Wohnungswechsels. Wenige Jahre später scheint der umgekehrte Fall eingetreten zu sein. Ein Jahr, nachdem ein Kind mit dreizehn Jahren die Eltern verließ, übersiedelte das nunmehr ohne Kinder lebende Paar in ein anderes Haus. Für die Kinder ländlicher Inwohner war es selbstverständlich, daß sie ihre Eltern verlassen mußten, um sich als Magd oder Knecht bei einem Bauern zu verdingen. Meist traten sie schon relativ früh in diese Lebensphase ein. Auch die Mehrzahl der Häuslerkinder ging diesen Weg. Bei Bauernkindern hingegen war das anders. Erbende Söhne übernahmen den väterlichen Hof, ohne vorher als Knecht gedient zu haben. Bauerntöchter heirateten und wurden Bäuerinnen, ohne je Magd gewesen zu sein. Selbst wenn Bauernkinder Gesindedienst verrichteten, so verlief ihr Weg oft anders als der von Kindern aus der ländlichen Unterschicht Im gesamten Ostalpenraum war es eine weit verbreitete Erscheinung, daß nichterbende Tochter und Söhne nach der Hofübergabe als Mägde und Knechte im Familienbetrieb verblieben. Einzelne Personenstandslisten zeigen eine Fülle von Fällen mit dem Bauern gleichnamiger Dienstboten, bei denen es sich offenkundig um ledige Geschwister handelte. In seriellen Seelenbeschreibungen wird dieser Zusammenhang eindeutig. Ein Beispiel dafür aus der schon zitierten 264
Abbildung 1: Entwicklungszyklus einer Inwohnerfamilie; Pfarre Pennewang
265
oberösterreichischen Pfarre Pennewang sei zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts erläutert (siehe Abbildung 2).14
Abbildung 2: Entwicklungszyklus der Hausgemeinschaft Baiting Nr. 1; Pfarre Pennewang HU
Tochter
Mägde
Knechte
Ausgedinge
1806
65
64
1807
66
65
1808
67
66
1809
3U
26
1 810
31
27
1811
32
28
1812
33
1813
34
1814
35
1815
36
1816
37
3 2 56 U 33
1817
38
34
1818
39
3 5 17
1819
40
36
41
-
23
1820
41
37
1821
42
38
42 4 θ c 49
1822
43
39
1823
44
40
2 3 17 37 " I T 18 3 8 U 19 U 20
1824
45
41
55
1825
46
42
-CT
1826
47
43
1 827
48
44
1828
49
4 5 |27
1829
50
46
L 45
1 Θ30
51
i 47
46
1831
52
27
20
24
28
21
25
29
22
23
43 L. 4 3
50
60 33 U 34 U 3 0 5 8 19 TT 20 31 29
49
i ,
57
» Se Γ u 40 41
53 L.
42
50 15 L.
39
13 44 U 14
40 45 17 U U 42 22 43 L L>
U
27 28 —er 2 2 16
28 S6 57
40
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58
122
26
17 U
48
59
49 6 0 50 61
17
)
51 6 2 52 63
Wie im angeführten Fall erfolgt der Wechsel von der Tochter zur Magd bzw. vom Sohn zum Knecht nach Aussage der Personenstandslisten formal stets bei der Generationsablöse in der Inhaberschaft des Hofes, in diesem Fall nach dem Tod des siebenundsechzigjährigen Bauern. Man wird aber wohl kaum der sozialen Realität entsprechen, wenn man feststellt, der jüngere Sohn habe mit fünfundzwanzig Jahren, seine Schwester mit zweiundzwanzig Jahren den Gesindedienst angetreten. In solchen Fällen verzerrt die statistische Auswertung der Personenstandslisten das Bild. Autobiographien kommen der Wirklichkeit näher. Maria Mayrhofer erzählt über einen ihrer frühen Dienstplätze: ,Ja its binn i ban Gasser in Saubach in Dienst ingstonen. Saubach keart a zu Barbian. Der 266
Gasser is a groaser Baur. Do sein 2 Söne und 2 Tochter gewödn. Der öltere Sohn ist Groasknecht gewödn, ober a Lump durch und durch, die ältere Tochter ist Häuserin gewödn, und die jüngere Groasdiern. Ober dös sein 2 stolze Gänze gebödn. Der jüngere Sohn, der Qxn gefütert hot, der hot wienig k r ö t . . . Mir hobn 7 Küe kot Die Sorge für als hon i kot, weil i groase Fieherin wahr, und mei Schwester klona."15 (Ja, jetzt bin ich beim Gasser in Saubach in den Dienst eingetreten. Saubach gehört auch zu Baibian. Der Gasser ist ein großer Bauer. Da waren zwei Söhne und zwei Tochter. Der ältere Sohn ist Großknecht gewesen, ein Lump durch und durch. Die ältere Tochter ist Häuserin gewesen und die jüngere Großdirn. Aber das waren zwei stolze Gänse! Der jüngere Sohn hat die Ochsen gefüttert, der hat wenig geredet... Wir haben sieben Kühe gehabt Die Sorge für alles habe ich gehabt, weil ich große Viehmagd war, meine Schwester war kleine.) Die Stelle zeigt deutlich, daß in der inneren Organisation der bäuerlichen Hausgemeinschaft die erwachsenen Kinder des Bauern klar umschriebene Gesindepositionen eingenommen haben. Die Gesindehierarchie des Hofes umfaßt die vier Bauemkinder genauso wie die beiden Häuslerkinder, nämlich Maria Mayrhofer und ihre jüngere Schwester, die bezeichnenderweise gleichsam unter dem Schutz der älteren ihren Gesindedienst begann - ein Phänomen, das sich auch sonst häufig zwischen älteren und jüngeren Geschwistern beobachten läßt Wäre uns die Situation am Gasserhof zu Saubach durch eine Seelenbeschreibung überliefert, so würden wir von der gesindegleichen Position der vier Bauemkinder überhaupt nichts erfahren. Dabei ist die Situation nicht so unähnlich der, wie sie für den etwas kleineren Hof Baiting Nr. 1 in der Pfarre Pennewang aus seriellen Seelenbeschreibungen rekonstruiert werden konnte. Vergleichbar ist vor allem die Position der „Häuserin". In Tirol wird mit dieser Bezeichnung jene weibliche Arbeitskraft charakterisiert, die die ausgefallene Bäuerin ersetzt, also in der Regel die erste Magd. Beim offenbar verwitweten Gasserbauer übte diese Funktion die ältere Tochter aus. Analog dazu ist in Baiting die Rolle der Schwester des ledig gebliebenen Bauern zu sehen, die ihm Jahrzehnte hindurch die Hauswirtschaft geführt zu haben scheint Während die Schwester und der Bruder des Bauern in Baiting in der Gesindegruppe einen Faktor der Kontinuität darstellten, wechselte das übrige Gesinde mitunter schon nach einem Jahr, mitunter nach zwei oder drei Jahren. Kontinuierlich lang dienendes Personal, wie es hier offenbar durch den Zusammenhalt der Geschwisteigruppe bedingt wurde, stellte auf Bauernhöfen eher die Ausnahme dar. 267
Die Gesindedienstphase ist eine Phase der Mobilität Große Hausgemeinschaften mit vielen Dienstboten sind durch ein ständiges Kommen und Gehen gekennzeichnet In Entwicklungszyklen, wie sie sich aus seriellen Seelenbeschreibungen rekonstruieren lassen, wird dieser starke Wechsel optisch augenfällig und statistisch faßbar.16 Aufgrund dieses Quellentypus erscheint das Phänomen der Gesindemobilität beschreibbar, aber nicht erklärbar. Lebensgeschichtliche Aufzeichnungen können diesbezüglich gegenüber dem quantifizierbaren Material in der Interpretation weiterhelfen. Besonders deutlich werden die Formen und die Gründe der Gesindemobilität in den Erzählungen von Maria Mayrhofers etwas jüngerer Zeitgenossin Theresia Sittenthaler faßbar, die übrigens nicht weit entfernt von der Pfarre Pennewang in Oberösterreich im Dienst gestanden ist Über ihren ersten Dienstplatz mit zwölf Jahren berichtet sie: „Beim Auböck in Aubach habe ich es nicht lange ausgehalten. Denn die Mägde haben mich sekkiert bis aufs Blut, weil ich einmal der Bäuerin verraten habe, daß die Mannsbilder in die Kammer kommen."17 Für das Verbleiben in einem Bauernhaus war es also offenbar wichtig, daß man sich mit dem übrigen Gesinde gut verstand Noch wichtiger war das Verhältnis zu den Bauersleuten. Daß sie der Bauer des Diebstahls von Äpfeln verdächtigte, führt Theresia Sittenthaler als zweiten Grund an, weswegen sie ihren ersten Dienstplatz verließ. Sie setzt fort: „Ich stand beim Kainz in Hof in der Wendlinger Pfarr ein. Für drei Gulden im ersten, vier im zweiten und sieben im dritten Jahr mußte ich fleißig arbeiten. Ein paar Schuhe waren auch noch ausbedungen. Die Bauersleute waren sehr brav, besonders die Bäuerin. Ich durfte die Feiertagsschule in Wendling besuchen." Hier kommt der für Verbleiben oder Wechsel wohl entscheidende Punkt zur Sprache: die Höhe des Lohns. Von drei auf sieben Gulden - das war ein gewaltiger Sprung! Die Steigerung konnte wohl nur dann erreicht werden, wenn ähnlich hohe Angebote in der Nachbarschaft in Frage kamen. Theresia Sittenthaler war offenbar in dieser Zeit körperlich herangewachsen und konnte sich ihre höhere Leistungsfähigkeit honorieren lassen. Schuhe waren wie Kleider ein Teil des Naturallohns. Die Erlaubnis zum Besuch der Feiertagsschule war wohl ein persönlich ausbedungenes Extra. „Im vierten Jahr meiner Dienstzeit nahm mich der Schulmeister Studener in St Geoigen zu sich. Seine Frau war eine Schwester meiner Mutter. Da war ich wie ein Kind des Hauses." Nicht immer waren freilich solche Dienstplätze bei Verwandten besonders begehrt Es kam auch vor, daß man dort besonders ausgebeutet wurde. 268
„Dann", berichtet Theresia Sittenthaler, „wurde ich Kellnerin. Zwölf Gulden im Jahr, ein paar Trittlinge (Hausschuhe) und ein paar feste Schuhe waren mein Jahresgehalt Das Geld ging fast alles fürs .Gwandten' (Kauf von Gewand) drauf. Als Große Dim diente ich sechs Jahre beim Starlinger in Stadl und sieben Jahre beim Bauern in Furt (Gemeinde Hofkirchen). Mein jährlicher Lohn war zwanzig Gulden, davon konnte ich mir auch etwas sparen." Wie kaum eine andere ehemalige Magd schildert Theresia Sittenthaler in ihrem lebensgeschichtlichen Bericht ihre Dienstzeit als einen Aufstieg zu höherer Bezahlung und besseren Positionen in der Gesindehierarchie. Sich Geld ersparen zu können, war das zentrale Problem. Nur mit Ersparnissen konnte man ans Heiraten denken und damit an ein Ende des Gesindestatus. Lebenslänglich Knecht oder Magd bleiben wollte niemand Die Gesindezeit war eine Durchgangsphase. Wollte man sie beenden, mußte man ein Optimum an Gehalt erreichen. Und das setzte eine ständige Bereitschaft zum Dienstplatzwechsel voraus. Maria Mayrhofer schildert ihre Mägdelaufbahn knapper „Nocher bin i nimmer hoam kemmen und binn olm ba die Baurn gewedn und i bin alleweil a bisl größer und a bisl stärker gewordn. Nocher hon i müesn Küe füetrn. Nocher hon i 10 Johr Küe gfüetert Nocher bin i Klaussen inner kemmen zum Noibök als Hausdiern. Do hon i gemiet alle Toge bachen, Brodbachen helfen; da war i nur a Johr. Nocher bin i in Gufidaun her keme san Unteibihler, so hon i wieder Küe gefüetert a Johr. Do bin i schun in 25sten Johr. Do hon i nacher in Schmölzerseppel a bisl können glernt, denn Josef Dorfmann. Nocher bin i zum Martscholer oidn kemmen, nur a Johr."18 (Danach - nach dem Schulaustritt - bin ich nicht mehr nach Hause gekommen und bin immer bei Bauern gewesen und bin immer ein wenig größer und ein wenig stärker geworden. Dann mußte ich Kühe füttern. Ich habe zehn Jahre Kühe gefüttert Danach bin ich nach Klausen [Chiuso] zum Neubäck als Hausdirn gekommen. Da habe ich alle Tage backen müssen, Brotbacken helfen; da war ich nur ein Jahr. Danach bin ich nach Gufidaun zum Unterbihlerfbauem] gekommen; da hab ich wieder ein Jahr Kühe gefüttert Da bin ich schon im fünfundzwanzigsten Lebensjahr gewesen. Da hab ich dann den Schmelzerseppele, den Josef Dorfmann [den späteren Ehemann] kennengelernt Nachher bin ich zum Marschaller[bauern] gekommen, nur auf ein Jahr.) Maria Mayrhofer geht in dieser Kurzfassung ihrer Mägdezeit nicht auf alle Dienstplatzwechsel im einzelnen ein. Bemerkenswert erscheint ihr vor allem der Gegensalz ihrer Arbeit als Kuhmagd bei 269
Bauern und als Hausmagd beim Bäcker in der Kleinstadt Klausen. Entgegen der Bezeichnung „Hausdim" ist sie hier nicht im Haushalt, sondern im Gewerbebetrieb tätig. Gründe für den Wechsel von Dienstplätzen werden außerhalb dieser Kurzfassung gelegenflich faßbar. So verläßt sie etwa den Gasserbauern in ihrer Heimatgemeinde Barbian nach zwei Jahren Dienst, als man ihr nachsagt, sie hätte eine „Bekanntschaft" mit dem jüngeren Sohn des Bauern.19 Sie dient längere Zeit außerhalb ihres Herkunftsorts. Noch im Alter von etwa fünfundzwanzig Jahren will sie ihre Mutter dorthin zurückholen und trifft diesbezüglich bereits mit einer Bäuerin eine Verabredung. Maria Mayrhofer setzt sich jedoch gegen ihre Mutter durch und folgt der Einladung, die von einer anderen Bäuerin an sie ergangen ist 2 0 Daß die Eltern auf Dienstplatzwahl und Dienstplatzwechsel Einfluß nahmen, scheint nicht selten vorgekommen zu sein. Bei jüngerem Gesinde war das sicher häufiger der Fall als bei älterem. Allein die Formulierungen lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen signalisieren diesen altersbedingten Wechsel. „Hot mi die Muetter zunn a Baurn getun", heißt es bei Maria Mayrhofer anfangs, später „Binn i in Dienst ingstonen (eingestanden)".21 Den Konflikt zwischen Eltemwünschen und eigenen Plänen zeigt sehr anschaulich eine Erzählung von Maria Gremel aus ihrem achtzehnten Lebensjahr „Als meine Mutter noch lebte, machten sich meine Eltern miteinander aus, daß ich im kommenden Jahr wieder zu einem Bauern in Dienst gehen sollte. Dienstbotenwechsel gab es nur zu Lichtmessen (Maria Lichtmeß, 2. Februar). Vorher mußte man es aushandeln und bekam ein Silberstück zu fünf Kronen als Leutkauf; dieses mußte man verdoppeln, wenn man dann nicht im Dienst dort eintrat. Ich muß vorausschicken, daß dies ohne mein Wissen geschah. Vater ging hin und handelte den Lohn und alles aus, ohne mir etwas zu sagen. Als Mutter starb, ging ich ja wieder auf meinen alten Dienstplatz zurück, wie es vorher ausgemacht war. Einige Wochen später gab mir Vater dann das Silberstück und sagte mir, daß ich nun zu dem anderen Bauern in den Dienst gehen müsse. Natürlich mußte ich erst kündigen. Ich hätte es ja richtiger gefunden, wenn Vater gegangen wäre, um zu kündigen. Doch als folgsame Tochter tat ich, was man von mir verlangte. Da es aber nicht meine Sache war, mir einen anderen Posten zu suchen, so ärgerte ich mich mächtig, als dann bei meiner Kündigung die Schimpfwörter nur so auf mich niederprasselten. Was ich mir denn zu tun getraue, aus Erbarmen nahmen sie mich auf, weil Mutter 270
krank war, so viele Jahre hatten sie mich nur zum Fressen (noch immer geisterte das abscheuliche Wort um mich herum), zur Arbeit war ich so viele Jahre nicht zu gebrauchen. Dies und vieles mehr hat man mir vorgeworfen; jetzt weil ich schon so tüchtig sei, wolle ich woanders hingehen. Ich selber wollte es ja gar nicht und blieb. Also mußte ich das Silberstück nehmen und noch eines von mir dazulegen und zum Hammerbauern gehen, um mich dort abermals demütigen zu lassen, weil ich den Dienst nicht antreten wollte."22 Die Stelle ist für das Verhältnis von Dienstboten zu ihren Eltern im allgemeinen und für deren Enflußnahme auf den Dienstplatzwechsel der Kinder im besonderen von Interesse. Generell zeigt sie, daß der Kontakt zum Elternhaus auch nach neunjähriger Abwesenheit noch sehr intensiv sein konnte. Kurz vor dem Tod der Mutter verläßt die Tochter den Dienstplatz, um die Führung des Haushalts in der Herkunftsfamilie zu übernehmen. Dieses Phänomen läßt sich auch in Familienzyklen beobachten, die aus seriellen Seelenbeschreibungen rekonstruiert wurden. In Notsituationen der Eltern, vor allem bei Pflegebedürftigkeit im Alter, kehren im Gesindedienst stehende Tochter ins Elternhaus zurück. Dieselbe Erscheinung findet sich umgekehrt auch in Notsituationen der Tochter. Wenn sie etwa ein uneheliches Kind zur Welt brachten, wurden sie häufig für kurze Zeit zu Hause aufgenommen. Bezüglich dieser Kontakte zum Elternhaus während der Gesindedienstzeit dürfte es allerdings geschlechtsspezifische Unterschiede gegeben haben. Bei Söhnen, die auswärts im Dienst standen, läßt sich eine kurzfristige Rückkehr ins Elternhaus weit seltener feststellen als bei Töchtern. Der elterliche Eingriff in die Dienstplatzwahl steht in der berichteten Situation nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der krankheitsbedingten Rückkehr. Hinsichtlich der Präjudizierung der Tochter war Maria Gremels Vater viel weiter gegangen als Maria Mayrhofers Mutter in Barbian. Er hatte mit dem künftigen Dienstgeber nicht nur eine mündliche Verabredung getroffen, sondern - ohne die Tochter zu fragen - den das neue Arbeitsverhältnis konstituierenden Rechtsakt gesetzt, indem er den „Leutkauf" für seine Tochter entgegennahm. Die Komplikationen, die sich daraus ergaben, schildert die Autorin mit drastischen Worten. Die Situation war für sie besonders schwierig, da sie gerade jenem Bauern kündigen sollte, bei dem sie seit ihrem zehnten Lebensjahr gearbeitet hatte und ihrer eigenen Erzählung nach in vielen Belangen wie ein Ziehkind behandelt worden war. Auch in diesem Fall setzte sich in der Dienstplatzentscheidung die erwachsene Tochter gegen die Eltern durch. 271
Sicher waren nicht alle Entscheidungen über Wechsel oder Verbleib von der gleichen Dramatik wie im Fall der Maria Gremel. Das Beispiel zeigt jedoch Probleme des Gesindelebens, die die trockenen Daten der Personenstandslisten nur ahnen lassen. Aufgrund von seriellen Seelenbeschreibungen kann man auszählen, wieviel Mägde und Knechte nach ein, zwei oder drei Jahren ausschieden, daß sehr junges Gesinde eher etwas länger in einem Haus verblieb, daß auf großen Höfen häufiger gewechselt wurde als auf kleineren. Konfrontiert mit den lebensgeschichtlichen Schilderungen über konkrete Situationen des Wechsels werden solche statistische Daten in ihrer Kargheit und der Dürftigkeit ihrer Aussagekraft voll bewußt Serielle Seelenbeschreibungen beleuchten das Gesindeleben primär aus der Perspektive einer bestimmten Hausgemeinschaft, in die Gesinde aufgenommen wird und aus der es ausscheidet. Die für Wechsel oder Verbleib bestimmenden Interessen der Familienwirtschaft werden so erkennbar - etwa wenn ein Knecht ausscheiden muß, sobald der Sohn des Hauses das arbeitsfähige Alter erreicht hat 2 3 Lebensgeschichtliche Aufzeichnungen stellen hingegen die Motivation der betroffenen Subjekte in den Vordergrund bzw. die Entscheidungsbedingungen und Einflüsse, die von der Herkunftsfamilie her kommen. In der Regel ist die regionale Mobilität des ländlichen Gesindes so groß, daß sich der Lebensweg einer Magd oder eines Knechts aufgrund der Personenstandslisten einer Pfarre gar nicht vollständig rekonstruieren läßt Ein Ausnahmefall, in dem das fast durchgehend möglich erscheint, soll im folgenden vorgestellt werden (siehe Abbildung 3, S. 273).24 Die Knechtslaufbahn des Sebastian Mittermayer aus der Pfarre Pennewang ist insofern ungewöhnlich, als sie bis in sein siebentes Lebensjahrzehnt hineinreicht, vielleicht sogar bis zu seinem Lebensende. Im Normalfall war der Gesindestatus - wie schon betont - eine Durchgangsphase, die je nach Region und Epoche in unterschiedlichem Alter durch die Heirat abgeschlossen wurde. Durch diese lange Dauer lassen sich im Leben des Sebastian Mittermayer viele Wechsel des Dienstplatzes verfolgen. In der Pfarre Pennewang diente er insgesamt in vierzehn Bauernhäusem. Auf drei Höfen diente er zweimal, auf einem sogar dreimal. Im allgemeinen lagen vor der Rückkehr nur kürzere Dienstzeiten auf anderen Höfen. Allerdings verdingte er sich mit vierundvierzig Jahren in einem Bauemhaus, in dem er schon zwischen sechzehn und achtzehn Jahren gedient hatte. Diese Rückkehr an frühere Dienstplätze, wie sie sich auch in Entwicklungszyklen einzelner 272
Abbildung 3: Individueller Lebenszyklus eines Knechts; Pfarre Pennewang
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Hausgemeinschaften zeigt, deutet darauf hin, daß durch den Gesindedienst - auch wenn er nur von kurzer Dauer war - soziale Beziehungen entstanden, an die später wieder angeknüpft werden konnte. Bei Maria Mayrhofer war das auch der Fall. Beim Neubäck in Klausen hatte sie, obwohl Kuhmagd, mit etwa zweiundzwanzig Jahren ein Jahr als Hausdirn gedient Mit etwa siebenundzwanzig Jahren kehrte sie zurück: „Ja nocher bin i wieder zan Noibök auf Klausn oidn kemmen, wo i früher gewöden bin. Die Moasterin hat alleweil gsag: ,Du muaßt mir noamal heigien.' Ja nocher, wenn i in Schloß bin e gewösn, nor han i gsag: .Moastrin, s negst Johr geh i enk her.' ,Ja' hot si gsag, ,und bleibn mußt du ban ins, bis du heiraten tuest.' - ,Ja', ha i gsag, ,i bleib schun bis i heirat' Und es is a wohr gewordn. Mir hobn nocher in Herbst krot in 4ten November Hoazet kot 1858."25 („Ja, dann bin ich wieder zum Neubäck nach Klausen hinuntergekommen, wo ich früher gewesen bin. Die Meisterin hat immer gesagt: ,Du mußt noch einmal zu mir kommen und bis zur Heirat bleiben.' ,Ja', hab ich gesagt, ,ich bleib schon bis zur Heirat.' Und das hat sich dann auch bewahrheitet Wir haben im Herbst danach am 4. November 1858 geheiratet") In diesem Fall wurde offenbar der Kontakt durch das starke Interesse der Bäckermeistersfrau aufrechterhalten, die eine tüchtige Arbeitskraft wiedelgewinnen wollte. Solche ökonomischen Interessen schließen nicht aus, daß durch das Dienstverhältnis intensive persönliche Bindungen entstanden. Von einer Bäuerin in Gufidaun, bei der sie auch nicht sehr lange im Dienst gestanden war, erzählt Maria Mayrhofer, wie sie sie hinsichtlich ihres Verhaltens in der Beziehung zu ihrem späteren Mann beraten habe und wie sie diesbezüglich gegenüber der eher zurückhaltenden Mutter vermittelt habe.26 Hier bestand offenbar ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Magd und Dienstgeberin, das es ermöglichte, auch sehr private Angelegenheiten zu besprechen. In solchen Fällen läßt sich sagen, daß das Gesinde wirklich eine kindesgleiche Stellung gehabt hat Als familienzugehörig wurde es grundsätzlich angesehen. Maria Mayrhofer hieß etwa, solange sie beim Unteibihler-Bauer in Gufidaun in Dienst stand, die „Bihler-Moidl".27 Diese formale Zurechnung zur Hausgemeinschaft mußte freilich nicht auch auf der emotionalen Ebene eine Entsprechung finden. Nicht nur bezüglich der Beziehungen zu den Eltern und Dienstgebern können die lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen mehr bzw. anderes berichten als statistisch auswertbare Personenstandslisten - dasselbe gilt auch für das Verhältnis des Gesindes unterein274
ander. Personenstandslisten beschränken sich auf Zahlen und Alter von Arbeitskräften auf Bauernhöfen; serielle Seelenbeschreibungen ergänzen diese Informationen um das Moment der Veränderung in der Zusammensetzung des Gesindes. Solche Daten sind aufschlußreich, weil sie generalisierbare Basisinformationen liefern. Exemplarisch für die Aussagekraft solcher Quellen seien für einige Pfangemeinden des Ostalpenraums Durchschnittsalterswerte für die einzelnen Rangpositionen der Gesindehierarchie angegeben (siehe Tabellen 3 a und 3 b, S. 276, 277.28 Die Werte aus den einzelnen Pfangemeinden zeigen übereinstimmend, daß Gesindehierarchien altersmäßig sehr stark gestaffelt waren. Daraus kann wohl auf klare Über- und Unterordnungsverhältnisse geschlossen werden. Die Altersstaffelung erscheint umso ausgeprägter, je größer der Hof war. Auf einem Hof mit vier Knechten war der jüngste Knecht in der Regel jünger, der älteste älter als auf einem Hof mit zwei Knechten. Auf großen Hofen dürfte die Situation von sehr jungem Gesinde in Hinblick auf die Mehreahl übergeordneter Dienstboten besonders schwierig gewesen sein. Das Grundprinzip starker Altersstaffelung zeigt sich bei allen ausgewerteten Personenstandslisten. Gewisse Differenzierungen in zeitlicher und regionaler Hinsicht bedeuten nur graduelle Unterschiede. So scheint man im 17. Jahrhundert früher aus dem Gesindedienst ausgeschieden zu sein als in späteren Jahrhundertea Der Gesindedienst konzentrierte sich damals offenbar noch stärker auf die Jugendphase. Hohe Werte der ältesten Mägde und Knechte finden sich besonders in jenen Regionen, in denen manche Dienstboten lebenslänglich keine Heiratsmöglichkeiten hatten. Was bedeutete es nun in der sozialen Wirklichkeit des Gesindelebens, die jüngste von drei Mägden, der älteste von vier Knechten zu sein? Hinsichtlich der Aibeitsveipflichtungen und den daraus abgeleiteten personalen Zuordnungen bestanden diesbezüglich klare Verhältnisse. Maria Mayrhofers jüngere Schwester war am Gasserhof in Baibian als „kleine Viecherin" der Schwester als „großer Viecherin" zugeordnet und unterstellt 29 Mitunter geben Personenstandslisten zumindest bei einzelnen Höfen differenzierende Angaben über die Arbeitsfunktionen der einzelnen Gesindepersonen. Wenn eine junge Magd als „Kindsdirn", „Kuchlmensch", „Hühnermensch" oder „Saudirn" beschrieben ist, so läßt sich einiges daraus ableiten, ebenso wenn ein Knecht „Meierknecht", das ist Stellvertreter des Bauern, genannt wird Derartige Differenzierungen finden sich jedoch in keiner Personenstandsliste durchgehend. Sie fehlen etwa fast immer bei den kleineren Höfen, auf 275
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