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German Pages [261] Year 2021
Paul Michael Lützeler Michael Gehler
Die Europäische Union zwischen Konfusion und Vision Interdisziplinäre Fragestellungen
Institut für Geschichte der Universität Hildesheim
Arbeitskreis Europäische Integration Historische Forschungen Veröffentlichungen 13
Paul Michael Lützeler · Michael Gehler (Hrsg.)
DI E EU ROPÄ ISC H E U N ION Z W ISC H E N KON F USION U N D V ISION Interdisziplinäre Fragestellungen
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN
Gefördert durch Mittel des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld, der EU Aktion Jean Monnet Erasmus plus, der Stiftung Universität Hildesheim und der Washington University in St. Louis
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 Böhlau Verlag, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21359-81
Inhalt
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Michael Gehler · Paul Michael Lützeler Zwischen Konfusion und Vision. Einleitung zum Forschungsstand und Buch . . . . . 9
I. Kontroverse europäische Wertvorstellungen Silvio Vietta Europas Werte und ihre globalen Folgelasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Benjamin Krämer Populismus in, gegen und mit Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Christoph Ehland ‘The Continent is Isolated’. Das britische Selbstbild im Spiegel seiner Europavorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
II. EU-Essayistik der Intellektuellen Paul Michael Lützeler Gründerväter im literarischen Europadiskurs. Robert Menasse und Ulrike Guérot.. . 83 Antje Büssgen Die Schriftsteller als Intellektuelle und die EU: das Beispiel Robert Menasse . . . . .
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III. Migration als Herausforderung Florian Lippert Kulturelle Selbstreflexion in der europäischen „Flüchtlingskrise“ am Beispiel zeitgenössischer Dokumentarfilme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
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Inhalt
Martin Große Hüttmann Die EU als Ziel von Migration. Die Politik der Grenzen und die Grenzen der Politik .. 135
IV. Kontinuitäten mit neuen Akzentsetzungen Wolfgang Wessels Der Europäische Rat – Analyse und Narrativ einer Schlüsselinstitution der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Michael Gehler Vom Schlagwort der „Vereinigten Staaten von Europa“ zur Realität des Europas der vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Katharina Pabel Errungenschaften und aktuelle Herausforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
V. Zukunftsfragen europäischer Strategie Dominik Geppert Hat der Euro eine Zukunft? Nationale Kehrseiten einer europäischen Weltwährung .. 201 Gabriele Clemens Europäisierung von Außenpolitik?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Matthias Dembinski Die EU als Verteidigungsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Personenregister .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
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Vorwort An der Washington University in St. Louis leitete ich zwei Jahrzehnte lang das von mir begründete European Studies Program. Die Zielsetzung dieses M.A.-Studienganges war, Studierende in der Phase zwischen Bachelor und PhD. mit dem multi- und interdisziplinären Blick vertraut zu machen, den es erfordert, wenn man sich mit dem heutigen Europa allgemein oder mit der Europäischen Union speziell wissenschaftlich beschäftigen will. Parallel dazu veranstaltete ich eine Reihe von fächerübergreifenden Tagungen zur Rolle der Bundesrepublik Deutschland in Europa, zu Europa nach Maastricht (aus amerikanischer wie europäischer Perspektive), zur Reflexion des Kolonialismus in der Gegenwartsliteratur und zur afroamerikanischen Literatur und Musik in London, Paris und Berlin in der Zwischenkriegszeit. Das war auch im Sinne meines Stiftungslehrstuhls (Rosa May Distinguished University Professor in the Humanities). In der Zeit als Direktor dieses European Studies Programs schrieb ich auch mein 1992 publiziertes Buch Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. 1986 folgte ich der Einladung von Jürgen Kocka, mich an dem Jahresprojekt „Bürgertum im 19. Jahrhundert“ am Zentrum für interdisziplinäre Studien (ZiF) der Universität Bielefeld zu beteiligen. Das war ein Unternehmen nach meinem Geschmack, und so blieb ich durch Tagungen und Vorträge, zu denen mich u. a. Jörn Rüsen, Walter Erhart und Wolfgang Braungart einluden, dem ZiF verbunden. Dank Jürgen Kocka verbrachte ich auch ein Semester als Fellow an seinem Berlin Kolleg für vergleichende Geschichte Europas, wo ich an einer Reihe von multidisziplinären Diskussionsrunden teilnahm und mein Buch Kontinentalisierung: Das Europa der Schriftsteller (2007) fertigstellen konnte. So freute ich mich im Herbst 2019 über die Anfrage von Britta Padberg, der Wissenschaftsdirektorin am ZiF, ob ich eine interdisziplinäre Tagung zur Europäischen Union in Bielefeld am 26. und 27. Oktober 2020 veranstalten könne. Nach ihrem Wechsel zur Berlin-Brandenburgischen Akademie übernahm Marc Schalenberg als Akademischer Koordinator am ZiF die weitere Organisationsarbeit. Beide konnten mit der Unterstützung der Tagung durch Véronique Zanetti, der Geschäftsführenden Direktorin am ZiF rechnen. Selbst in der Europa-Forschung tätig, eröffnete sie die Tagung mit einer kundigen Einleitung und sicherte die Drucklegung dieses Bandes mit einem anteiligen Zuschuss. Ihnen allen sowie der tüchtigen Marina Hoffmann vom ZiF-Sekretariat sei herzlich gedankt. Die Gruppe der Referentinnen und Referenten war bald beisammen, wobei darauf geachtet wurde, dass Geistes- und Sozialwissenschaften etwa gleich stark vertreten sein würden und auch juristische Aspekte zu ihrem Recht kämen. Für den Abend am 27. Oktober 2020 hatten wir Friedrich Christian Delius zu einer Lesung (mit nachfolgender Diskussion) aus
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Vorwort
seinem Roman Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich (2019) gewonnen. Wie die Mehrzahl der Vorträge, war auch diese Lesung wegen der Pandemie über Zoom zugeschaltet. Das hatte den Vorteil, dass sich eine größere Zuhörerschaft dafür fand, als es bei einer regulären Veranstaltung der Fall gewesen wäre. Der Universitätsgesellschaft Bielefeld sei für die finanzielle und organisatorische Hilfe bei der Dichterlesung gedankt. Die Mehrzahl der Kolleginnen und Kollegen, die Vorträge hielten, hatte ich bereits bei anderen Europa-Tagungen, -Workshops oder -Diskussionsrunden kennengelernt, sei es in St. Louis, Köln, Groningen, Löwen, Hildesheim, Berlin oder Mainz. Besonders beeindruckt war ich zehn Jahre zuvor von dem Symposium, das Michael Gehler in Zusammenarbeit mit Silvio Vietta an der Stiftung Universität Hildesheim zum Thema „Europa – Europäisierung – Europäistik“ veranstaltet hatte, und dessen Ergebnis als Sammelband Europa – Europäisierung – Europäistik 2010 im Böhlau Verlag erschien. Wir einigten uns darauf, den ZiF-Sammelband in der von Michael Gehler beim gleichen Verlag 1993 begründeten Reihe „Arbeitskreis Europäische Integration“ zu veröffentlichen. Michael Gehler hat an der Stiftung Universität Hildesheim zum vierten Mal einen Jean-Monnet-Chair inne und leitet dort das Institut für Geschichte mit dem Schwerpunkt Vergleichende europäische Geschichte. Er ist einer der führenden Historiker der Europaforschung und sein Buch Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt (Erstveröffentlichung 2005, dritte stark erweiterte Fassung 2018) ist ein Standardwerk. Nachdem auch unsere Universitäten mit Druckkostenzuschüssen aushalfen, stand der Publikation der für diesen Band überarbeiteten und erweiterten Vorträge am ZiF nichts mehr im Wege. Das Buch versteht sich als Diskussionsbeitrag zu aktuellen und langfristigen Entwicklungen in der Europäischen Union, an deren Bestand und Erfolg uns gelegen ist. Er ist nicht zuletzt gedacht für Lehrende und Lernende in fächerübergreifenden Europa-Studiengängen. Die Herausgeber danken zuletzt Herrn Frank Binkowski für das Korrekturlesen und die Erstellung des Personenregisters sowie Michael Rauscher vom Verlag für die Finalisierung des Druckwerks. Paul Michael Lützeler Fellow am IFK in Wien Frühjahr 2021
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Zwischen Konfusion und Vision Einleitung zum Forschungsstand und Buch
Die Leistungen der zunächst westeuropäischen, dann gesamteuropäischen Staatengemeinschaft im nunmehr über sieben Jahrzehnte dauernden kontinentalen Friedens- und Integra tionsprozess sind erstaunlich. Sie ringen einem Respekt ab vor den Gründungsvätern der Montan-Union und der EWG in der Nachkriegszeit, aber auch vor den nachfolgenden Politikern, Parlamentariern und Kommissionspräsidenten, die in jedem Jahrzehnt vor und nach dem Ende des Kalten Krieges aufgrund ihrer zielgerichteten Politik neue Mitgliedsländer aufnehmen konnten. Die selbstgestellte Aufgabe bestand darin, die Union sowohl zu erweitern wie zu vertiefen, was nicht zeitgleich gelang, sondern vorentscheidenden oder nachvollziehenden Prozessen unterlag. Diese Bemühungen sind inzwischen an ihre Grenzen gestoßen, wie Krisen finanz-, migrations-, sicherheits-, währungs- und wirtschaftspolitischer, aber auch kultureller sowie rechtsstaatlicher und vertragsgemeinschaftlicher Art zeigen. Man denke, was die EU-Innenpolitik betrifft, an die Banken- und Finanzmarktkrise (2008– 2012), die seit 2015 anhaltende „Flüchtlingskrise“, aber auch an die Arbeitslosigkeit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Hinwendung zu autoritären Regierungspraktiken in Ländern Mittel- und Osteuropas, an die Ausländerfeindlichkeit und den Fremdenhass, Migrationsgegnerschaft, Organisationsprobleme und Verteilungskämpfe bei der Überwindung der Pandemie sowie die Infragestellung von Menschenrechtspositionen. Was Außenpolitisches bzw. die Nachbarschaftspolitik betrifft, verwandelte sich Großbritannien vom verspäteten Mitglied zum fremdgewordenen Partner, und bei einigen EU-Staaten tauchten Zweifel an der Bündnisverlässlichkeit im Rahmen der NATO auf. Der Eindruck von Ratlosigkeit und Konfusion beherrscht die Szene. Unser interdisziplinäres Symposium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld vom 26. bis 27. Oktober 2020 fragte gezielt und punktuell nach den Gründen von Konfusion und Krisen sowie nach Entwicklungen und Visionen, die die Integration befördern können. Die derzeitige Fachdiskussion in den Geistes-, Kultur-, Rechts- und Sozialwissenschaften steht im Zeichen einer grundlegenden Krise der Europäischen Union. Entsprechend kommt die Vokabel „Krise“ nicht selten in Titeln oder Untertiteln einschlägiger Buchveröffentlichungen vor. Wir wählten daher bewusst nicht diesen inflationär verwendeten Begriff, sondern stattdessen Konfusion und Vision. In der rezenten Europa-Diskussion spielen viele Publikationen aus jüngerer und jüngster Zeit eine Rolle, von denen einige angeführt und charakterisiert seien:
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Der niederländische Historiker, politische Philosoph, Ratgeber und Redenschreiber von Ex-EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, Luuk van Middelaar, ist in seinem 2013 erschienenen Werk The Passage to Europe. How a continent became a Union (die deutsche Ausgabe erschien 2016 unter dem Titel Vom Kontinent zur Union – Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa) nicht einer teleologischen Deutung der Geschichte von Europas Einigung verfallen. Er zeigt vielmehr, dass die Struktur der EU nicht unbedingt Resultat einer historischen Entwicklung war, die zwangsläufig von einer überschaubaren Gruppe interagierender Staatsmänner vor dem Hintergrund zweier für Europa desaströser Weltkriege gestaltet wurde. Er unterscheidet drei Diskurssphären: eine äußere, die alle Staaten Europas umfasse, eine innere des Gemeinschaftsraums und eine zwischen Mitgliedstaaten und der EU. Ihre Repräsentanten seien die eigentlichen Gestalter der EU und es liege an ihnen, der Öffentlichkeit zu erklären, welche Orientierung die europäische Integration nehmen und welches Ziel die EU verfolgen solle, um weitere Konfusion zu vermeiden. Middelaar erkennt drei Öffentlichkeitsstrategien, um aus den Menschen Unionsbürgerinnen und -bürger zu machen: eine deutsche (Weggefährten im gemeinsamen Schicksal zu gewinnen: „Creating Companions in Destiny“), eine römische (Versorgung des eigenen Kundenstammes: „Securing Clients“) und eine athenisch-griechische (regelmäßige Bewertung politischer Akteure, die im Namen des Demos Entscheidungen treffen: „Seducing the Chorus“). Der Grazer Europaforscher und Kulturhistoriker Peter Pichler hat mit seinen Studien zu Leben und Tod in der Europäischen Union (2014) und EUropa. Was die Europäische Union ist, was sie nicht ist und was sie einmal werden könnte (2016) auf der historischen, gegenwärtigen und zukünftigen Ebene unkonventionelle kulturwissenschaftliche Zugänge eröffnet. Er gibt ausgehend von der europäischen Komplexitätskrise Antworten auf historische Fragen, die der EU zu stellen seien. Für ein breiteres Publikum gedacht wird essayistisch der Forschungsstand zur Kulturgeschichte der Union skizziert. Pichler sieht in ihr eine Kulturgemeinschaft in Politik, Recht und Wirtschaft, insbesondere hinsichtlich Konsensfindungen bei Grenzziehungs- und Wertedebatten. Für Pichler steht die EU auch im Zeichen einer sich entwickelnden EUropa-Identität. Der Berliner Politikwissenschaftler Helmut Wagner bietet in Unser Europa: Die Kon struktion und Zukunft der Europäischen Union. Ein Unikat (2016) eine Neuinterpretation der EU. Trotz ihrer Unfertigkeit und der Vielzahl ihrer Akteure prophezeit er der Staatenunion ein langes Leben. Das liege an ihrer Originalität und spezifischen Stärke und habe mit der Begrenzung imperialer Attitüden und der Vermeidung außenpolitischer Abenteuer zu tun. Bezeichnend sei ferner der Erhalt einer staatlichen Vielfalt, deren Erfahrungsreichtum zur internationalen Friedenstiftung und globalen Sicherheit beitrügen. Sich auf Konfrontationen mit Moskau einzulassen, bedeute das Ende europäischer Selbstbestimmung, weil parallel dazu die Abhängigkeit des Kontinents von den USA zunehme. Dieser Gedanke Wagners ist sonst kaum in der Europaforschung anzutreffen. Der Publizist Thomas Schmid argumentierte in seinem Plädoyer Europa ist tot, es lebe Europa! Eine Weltmacht muss sich neu erfinden (2016), dass die EU wie aus früheren
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risen gestärkt und erneuert hervorgehen werde. Ein integrationspolitisches Übel sieht er in K der unentwegten Forderung nach „Mehr Europa!“ und „Weiter so!“-Phrasen oder in Ausrufen wie „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa!“ (Angela Merkel). Unkluge Antworten auf die jüngeren Krisenerscheinungen geben nach Schmid nicht nur die „fanatischen Berufseuropäer“, sondern auch die „Aufbruchsoptimisten“. Zu den „Berufseuropäern“ zählt Schmid Autoren wie Brendan Simms und Benjamin Zeeb, die den großen Willensakt „Vereinigte Staaten von Europa“ als Durchhaltedevise verkünden. Man denke an ihren Traktat Europa am Abgrund. Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa (2016). Das ist nach Schmid keine realistische Perspektive, sondern eine überholte, pathetische Parole. Auch den Sprüchen der „Aufbruchsdramatiker“, die eine „Epiphanie Europas“ (Ulrike Guérot) fordern, kann er nicht viel abgewinnen. Schmid sieht zwei Auswege aus dem Dilemma zwischen Konfusion und Vision: den politische Willen zur Fehlerkorrektur und zum Umbau des bestehenden Unionsgefüges. Dazu gehören für ihn der temporäre Rückzug aus der Eurozone für einzelne Mitglieder sowie eine flexible und liberale Interpretation der Verträge. Dabei plädiert er für die weichere Form der Assoziierung statt für eine eherne Mitgliedschaft. Gemeinschaftshandeln sollte vor allem in Bereichen der Asyl-, Grenzsicherungs-, Umwelt- und Verteidigungspolitik erfolgen. Existentiell für die Zukunft der EU werde die Befriedung und Stabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens sein. Ulrike Guérot lehrt Politikwissenschaften an der Donau-Universität Krems. Sie ist die entschiedene Verfechterin einer umstürzenden Einigungspolitik, was ihrem Pamphlet Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde (2017) zu entnehmen ist. Sie meint einen „Krieg gegen den inneren, unsichtbaren Feind des europäischen Geistes“ wahrnehmen zu können. Es sei ein Krieg zwischen Europa-Anhängern und EU-Gegnern sowie ein transnationaler Verteilungs- und Kulturkampf im Gange. Die Schlachten, die geschlagen würden, könnten weder von den Einzelnationen noch von der EU als Gemeinschaftsinstitution gewonnen werden. Verlierer in diesem Krieg sei die europäische liberale Demokratie. Als Allheilmittel bietet die Autorin in ihrem flammenden Appell die Gründung einer europäischen Republik an. Wie diese aber realisiert werden soll, bleibt die Frage. Guérot räumt ein, dass ein ökonomischer Treiber der europäischen Demokratie fehle und von der diffusen politischen Mitte keine Initiativen zu erwarten seien. „Pulse of Europe“ könne zwar als „Sonntagsdemonstration“ ein Nukleus für einen „europäischen Vormärz“ sein, doch sitze der größte Teil des europäischen „Volkes“ noch auf dem Biedermeiersofa. Ihre Vorschläge (Bürgerunion durch Wahlrechtsgleichheit, Fiskal-, Steuer-, Sozial- und Transferunion) laufen auf das Ende der nationalen Strukturen in den EU-Mitgliedstaaten als Nationen hinaus. In ihrem Wunsch, „die europäischen Nationalstaaten zu einer wirklichen politischen Einheit [zu] verschmelzen“, macht Guérot die Rechnung bewusst ohne die Nationen. Sie sind jedoch weiterhin für Europas Bevölkerungen stärker identitätsstiftend als eine fiktive europäische Republik in einer so imaginären wie ungewissen Zukunft. Aleida Assmanns Der Europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte (2018) ist eine geisteswissenschaftliche Studie, die an die Notwendigkeit der europäischen Einheit ge-
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mahnt. Sie erinnert an vier Lektionen aus der Geschichte des Kontinents: An die Sicherung von Frieden, von Rechtstaatlichkeit und Demokratie, von historischer Wahrheit und von der Unverhandelbarkeit der Menschenrechte. Die Konstanzer Literaturwissenschaftlerin fragt sich, was die EU noch zusammenhält und ob für sie ein Leitbild existiert. In Parallele zum ‚amerikanischen Traum‘ greift sie das Stichwort des Publizisten Jeremy Rifkin vom ‚europäischen Traum‘ auf und leitet aus der Geschichte vier Erkenntnisse ab, die für das offene Projekt Europa konstitutiv waren und geblieben sind: Die erste Lehre („Wie aus Erzfeinden kooperierende Nachbarn werden“) kann als eine der Sternstunden der Geschichte Europas bezeichnet werden. Erwachsen sei diese politische Entscheidung aus den Erfahrungen der beiden Weltkriege. Nach 1945 hätten die Siegermächte nicht wie 1919 mit Rache und Vergeltung gegen die Verlierer reagiert. Diesmal habe sich die Einsicht durchgesetzt, dass es um die gemeinsame Existenz und Überlebensfähigkeit gegangen sei. Die zweite Lehre („Die [Wieder-]Herstellung von Rechtsstaatlichkeit oder der Umbau von Diktaturen in Demokratien“) sollte ein weiterer Baustein der neuen europäischen Identität werden, der signalhaft eine globale Wirkung entfalten könnte. Die dritte Lehre („Historische Wahrheit und der Aufbau einer deutschen Erinnerungskultur“) ist in erster Linie auf Deutschland bezogen, hat aber auch eine europäische Dimension. Ergänzen ließe sich hier, dass diese Erinnerungskultur für die Gründergeneration der Gemeinschaften speziell wie auch für die Deutschen allgemein weit weniger im Vordergrund stand, als man rückblickend anzunehmen geneigt ist. Die deutsche Politik musste noch lange mit sich ringen, das nationalsozialistische Verbrechen des Holocaust in vollem Maße als historisches Faktum anzuerkennen, zu verurteilen und die politischen Konsequenzen daraus zu ziehen. Lange Zeit stand das Nicht-Thematisieren und Verschweigen im Vordergrund und von einer europäischen „Erinnerungskultur“ war in dem Jahrzehnt vor und nach den Römischen Verträgen (1957) nur ansatzweise bei wenigen Vertretern des transnationalen Europa-Diskurses die Rede. Die Intensität der Beschäftigung mit den Verbrechen der NS-Zeit nahm nach den Frankfurter Auschwitz-Prozessen in den frühen 1960er Jahren zu und verstärkte sich während der Zeit der Studentenbewegung und durch den öffentlichkeitswirksamen TV-Film „Holocaust“. Vollends durchgesetzt hat sich der deutsche Diskurs über den Holocaust erst nach dem Ende des Kalten Krieges im wiedervereinigten Land. Die von Aleida Assmann benannte vierte Lehre („Die Wiederentdeckung der Menschenrechte“) ist mit der zweiten eng verbunden. Was die frühe Europäische Menschenrechtskonvention des Europarates von 1950 betrifft, ist der Autorin zuzustimmen. Allerdings war die EU-Grundrechtecharta (im Jahre 2000 zwar feierlich verkündet, rechtsverbindlich aber erst ab 2009 wirksam) ein verspätetes Ergebnis historischer Elementarerlebnisse. Die weitere Entwicklung des gemeinschaftlich orientierten Europas kann als gesichert gelten, wenn diese gemeinsamen Fundamentalerfahrungen leitend bleiben. Assmann sieht daher in den Zäsuren 1945, 1989 und 2015 Marksteine auf dem Weg zur europäischen Selbstfindung: Kriegsende und Neubeginn, friedliche Revolution und das Ende des Kalten Krieges, globale Migrationskrise und europäische Zuwanderungspolitik. Ihr Buch ist daher auch „den Trägern und Stützen der Willkommenskultur“ gewidmet. Diese Kultur verzeichnete allerdings
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sinkende Akzeptanzwerte infolge der Asylpolitik in Deutschland wie in Europa allgemein. Dennoch kann man Assmanns Plädoyer, aus der Geschichte Europas zu lernen, nur unterstützen. Mit Lehren aus der Geschichte hatte der schon 2014 publizierte Band des belgischen Althistorikers David Engels Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der römischen Republik. Historische Parallelen zu tun. Die Untertitel des Buches ließen die pessimistische Sicht wie die Kühnheit der Thesen des Autors erkennen. Das Buch ist als Warnung vor einem kommenden cäsaristischen Imperialismus in Europa zu verstehen. Nach Engels, dessen Buch schon Jahre vor der Corona-Krise entstanden ist, steht die europäische Demokratie am Abgrund. Als Experte für die Geschichte des Imperium Romanum ist die Situation der EU für ihn vergleichbar mit dem Untergang der späten Römischen Republik. Aussagen von Philosophen und Schriftstellern der Antike stellt er statistische Zerfallsdaten zur Lage der Union gegenüber und stellt dabei bemerkenswerte Ähnlichkeiten und Gleichheiten fest. Das Ende des Weströmischen Reiches im Jahre 476 n. Chr. entspricht vermeintlich spiegelbildlich der Lage der EU von heute, denn was in beiden Fällen vorherrsche seien: Bürokratie, Technokratie, demographischer Rückgang im Inneren, Immigrationsdruck von außen, ein Trend zum ideologischen Fundamentalismus bei schleichenden Wertverlusten trotz permanenter Wertebetonung, Vertrauensverluste hinsichtlich der Handhabbarkeit von Krisen und der Steuerungsfähigkeit des politischen Systems sowie Verlust von Demokratie und Freiheit. Engels hat beim Blick auf die EU das Scheitern des römischen Reiches als Horrorszenarium vor Augen, wobei sich fragt, ob es einen neuen Augustus der EU nach den historischen Erfahrungen im 20. Jahrhundert überhaupt geben kann. In seinen geistreichen Ausführungen orientiert sich der Autor an dem vermeintlichen Untergangspropheten Oswald Spengler (dessen allgemein häufig zitiertes aber kaum wirklich gelesenes Werk handelte eigentlich vom Aufstieg Deutschlands zur Weltmacht) und versucht, dessen Annahmen zu bestätigen. Gleichzeitig macht Engels indirekt deutlich, wo der Hebel anzusetzen wäre, um die Katastrophe noch zu vermeiden: Er empfiehlt die Freilegung der Wurzeln der europäischen Identität und die Rückbesinnung auf die kulturelle Tradition Europas, die der gegenwärtigen Tendenz des Gleichmachens und Vereinheitlichens entgegenstehe. Vergleichbar problematisch sah der Historiker und Politologe Hans-Peter Schwarz die Situation Europas aufgrund der rapiden Zunahme von Flüchtlingszahlen im Jahre 2015. Sein Buch Die neue Völkerwanderung nach Europa. Über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheiten erschien 2017, im Jahr seines Todes. Er riet zu einer restriktiveren Zuwanderung, d. h. zu einer Einschränkung des Asylrechts. Die Eskalation der „Flüchtlingskrise“ im Spätsommer 2015 in Mitteleuropa hatte weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass Migration ein kontinentales Problem war, gleichwohl es längst schon globale Dimensionen besaß. Man konnte es nicht länger auf ein italienisches oder griechisches Debakel reduzieren und machte ein gemeinsames Agieren erforderlich, was sich aber als äußerst schwierig erwies. Seither ist die Frage der Ausgestaltung eines eu-
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ropäischen Flüchtlingsrechts auf der Agenda der EU-Kommission und der Mitgliedstaaten. Seitdem muss auch von einer West-Ost-Trennlinie gesprochen werden, wenn auch weder im Westen noch im Osten je einheitliche Pläne des weiteren Vorgehens entwickelt wurden. Der ehemalige Bonner Historiker und Politikwissenschaftler hat diese Zerreißprobe in der EU erkannt und analysiert. Die Krise hatte mit den Schreckensbildern von der Mittelmeerinsel Lampedusa eine lange Vorgeschichte. Schwarz legte den Finger in die Wunde der ungenügenden Gemeinschaftspolitik. Im Schengen-Abkommen und im EU-Asylrecht wies er Konstruktionsfehler nach und machte sie für die Verschärfung der Krise verantwortlich. Er kam auch auf das orientierungslose politische Agieren und Improvisieren der verantwortlichen Politiker zu sprechen und erkannte darin die sich verstärkenden Erosionstendenzen der EU. Schwarz begriff die Ereignisse von 2015 als weltpolitischen Vorgang mit weitreichenden Konsequenzen für die Legitimation von Politik überhaupt. Ob der historische Begriff der „Völkerwanderung“ zum besseren Verständnis hilfreich war, bleibt kontrovers. Sein Buch kann eher als zeitgeschichtliches Dokument eines erschütterten Konservativen begriffen werden und weniger als klassische geschichtswissenschaftliche Darstellung. Der von Frank Decker und Jürgen Rüttgers 2017 herausgegebene sozialwissenschaftliche Sammelband Europas Ende, Europas Anfang. Neue Perspektiven für die Europäische Union konzentriert sich auf Aspekte von Krisen (Brexit, Euro, Migrationsströme). Fast alle Beiträgerinnen und Beiträger möchten die Zukunftsfähigkeit der EU gesichert sehen. Die Suche nach Sicherungswegen gelingt, wobei kritische Reflexionen nicht ausbleiben: Als in Maastricht 1991 aus der EG die EU wurde, waren die Europäer nicht ausreichend darauf vorbereitet. Das bescherte 1992 in Frankreich nur ein äußerst knappes positives Votum. Mit dem „Verfassungsvertrag“ von 2005 ging es wieder um mehr Europa, worauf jetzt die Ablehnung in Frankreich deutlich ausfiel. Die Eingrenzung des ständigen Zugewinns an Kompetenzen der EU konnte durch das Subsidiaritätsprinzip nicht erreicht werden, weil es als Entscheidungsmaßstab nicht eingehalten worden sei. Die Einwanderungsfrage berge anhaltenden integrationspolitischen Sprengstoff. Die EU benötige mehr politische Handlungskraft nach außen und mehr pragmatisches Selbstverständnis im Inneren, um dem populistischen Aufstand zu begegnen. Dazu müssten aber auch klare Zielvorstellungen der EU entwickelt werden. Ob das ‚undemokratische‘ Brüssel ‚Hüter der Demokratie‘ in Europa sein könne, erscheint fraglich. Während das Trio EuGH-Kommission-EZB für das bonum commune Europas Verantwortung trage, spiele die Wählerlegitimation nach wie vor nur eine Nebenrolle. So entstehe ein Typus von EU-Politik, bei dem Entscheidungen größtenteils außerhalb demokratischer Formen getroffen würden. Diese EU müsse domestiziert werden, bevor man von ihr domestiziert werde. Ausführlich behandelt wird auch die mögliche Entwicklung des Euro. Statt für wachstumsschwache Mitglieder den Ausstieg aus dem Euro zu forcieren, sei es besser, ein monetäres Regime anzupeilen, das eine stabilisierende Koppelung zwischen dem Euro und den ihm nicht angehörenden Währungen vorsehe. Das sollte auf Basis eines Wechselkursmechanismus geschehen, wie er 1999 beim Übergang des 1979 geschaffenen Systems zur Währungsunion entwickelt worden sei. Im Außenverbund wäre dies ein gro-
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ßer „Euroblock“ mit international „floatenden“ Währungen. Das sei die bessere Lösung, weil sie einen Euro schaffe, der gegen innere Unsicherheiten gefeit sowie aufgrund seiner Größe strategisch handlungs- und währungspolitisch machtvoller sei. Der Band von Decker und Rüttgers verdeutlicht, dass es viele Chancen für einen Neuanfang der EU gibt und kein automatischer Rückfall in ein Europa der Nationalstaaten mit überholten Souveränitätsvorstellungen drohen muss. Alarmierend findet der Wirtschaftswissenschaftler Paul J. J. Welfens das Ausscheiden der Briten in seinem Buch von 2018: BREXIT aus Versehen. Europäische Union zwischen Desintegration und neuer EU . Er stellt beim Austritt des United Kingdom aus der EU fatale Fehler auf beiden Seiten fest. Um ein weiteres Desaster zu verhindern, müsse man in der EU gewillt sein, einen Reformkurs auf eine neue Europäische Union hin zu steuern. Welfens analysiert das sehr knapp ausgefallene und in seinen Folgen für Großbritannien wie für die EU weitreichende Referendum. Es war in England und Wales positiv ausgefallen, d. h. für den Austritt, hingegen in Nordirland und Schottland negativ, also für den Verbleib. Welfens beschreibt hier ein Jahrhundertereignis, das zu einer Schwächung der EU und zu einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses auf dem Kontinent führte. Ob die EU dadurch an Attraktivität verliert, bleibt abzuwarten. Anträge auf Beitritt und Mitgliedschaft haben nicht abgenommen, obwohl die Kommission in punkto Erweiterung, einmal abgesehen vom „Westbalkan“, nun stärker auf die Bremse steigt. Es ist Welfens Überzeugung, dass nach dem amerikanischen Jahrhundert ein asiatisches folgen dürfte (digital und innovationsstark), dem die EU nur bedingt gewachsen sei. Das Ergebnis des britischen Volksentscheids sieht Welfens als Resultat einer vor Irrtümern und Fehlern strotzenden Informationskampagne der Regierung Cameron. Das Negativ-Referendum sei auch darauf zurückzuführen, dass der britische Premierminister die Einkommensverluste als Folgewirkung des EU-Austritts nicht thematisiert habe. Nach Welfens verursacht der Brexit jedoch nicht den Untergang der EU. Die Integration sei fortführungsfähig, wenn eine Neo-EU besser aufgebaut würde. Der Politologe Thomas Roithner konzentriert sich in seiner Publikation Europa Macht Frieden. Die Rolle Österreichs (2018) auf den Aspekt der militärischen Verteidigung der EU und fordert eine neue Strategie für Europa. Der österreichische Friedensforscher, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler befasst sich im Rahmen des Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung mit der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dabei umreißt der von ihm herausgegebene Band einschneidende Veränderungen der europäischen Militärpolitik, die durch die terroristischen Attacken des 11. September 2001 vorangetrieben worden seien. Ausgegangen wird von der im Bundesverfassungsgesetz von 1955 festgeschriebenen „immerwährenden Neutralität“ seines Herkunftslandes. Es bleibt zu diskutieren, wie sich hier die EU verorten kann und zu fragen, ob Neutralität in ihren umkämpften Nachbarschaftsregionen als außenpolitischer Status ein konfliktlösendes Modell sein kann. Man denke an die Ukraine oder an das 1991 von der UdSSR unabhängig gewordene Turkmenistan, das sich 1995 für eine permanente Neutralität entschieden und sie verfassungsmäßig verankert hat. Das Urteil der Autoren in diesem Band
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ist geprägt von Skepsis angesichts einer aus ihrer Sicht zunehmenden Militarisierung der EU, die aber angesichts des Afghanistan-Debakels realistischer werden muss.. In der aktualisierten und stark erweiterten Monografie von Michael Gehler Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt (2018) geht es um die historischen Hintergründe, Ursprünge und Zusammenhänge zwischen den über Jahrhunderte hin entwickelten Europa-Visionen zum einen und um die seit 1949 bzw. 1952 geschaffenen europäischen Institutionen zum anderen. Die Europa-Pläne bewegten sich stets im Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wobei in Zeiten der Desorientierung, Krisen, Konfusion und Ungewissheiten immer Lösungen durch neue Einrichtungen und weiterführende Organe gefunden werden konnten. Das Buch zeigt, dass es ein wiederkehrendes Zusammenwirken von entwickelten Ideen und geschaffenen Institutionen gab, die verschiedene Formen der Europäisierungen nach sich zogen und so die Integration Westeuropas (1947/48–1991) und letztlich die noch fortgeführte weitgehende ökonomische und politische Vereinigung des Kontinents (1989/91–2004/07) ermöglichten. Trotz medialer und wissenschaftlicher Unkenrufe angesichts jüngster Herausforderungen und Krisen konnte wiederholt der Zusammenhalt der Union der Mitgliedstaaten mit ihren divergierenden Interessen aufgrund neuer Ideen, Institutionen und Visionen gewahrt bleiben. Der Basler Historiker Georg Kreis plädiert mit Gerechtigkeit für Europa. Eine Kritik der EU-Kritik (2018) für eine faire Betrachtungsweise des europäischen Integrationsgeschehens. Er fragt, ob die Kritik an der EU sachlich berechtigt sei oder der Unmut über sie einer allgemeinen Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen entspringe. Vielleicht werde nach einer negativen Projektionsfläche gesucht, die man glaubt, in „Brüssel“ gefunden zu haben. Manches ließe sich an der EU begründet kritisieren, wie die Bürokratie, das Demokratiedefizit, die Konstruktionsschwäche des Euro oder die mangelnde Solidarität in der Flüchtlingspolitik. Kreis bleibt dabei aber nicht stehen. Der Schweizer Historiker vergegenwärtigt die geschichtlichen Dimensionen der Integrationsgeschichte und zeigt, wie sich das Institutionengefüge der EU von heute mit seinen Verantwortungsbereichen entwickelt hat. Die Darstellung verbindet die einzelnen Stationen der europäischen Einigungsgeschichte mit den geschichts-, sozial-, kultur- und rechtswissenschaftlichen Debatten, die in den vergangenen Dezennien in Sachen europaweiter Politikverdrossenheit geführt worden sind. Die Arbeit des Münchner Zeithistorikers Kiran Klaus Patel Projekt Europa. Eine kritische Geschichte (2018) weist darauf hin, dass die Entwicklung der europäischen Integration von der Montan-Union bis zur EU der Lissabon-Verträge ständig von großen Krisen begleitet gewesen ist. Europa sei aus diesen Umbrüchen immer gestärkt hervorgegangen, und davon könne man auch nach dem Brexit ausgehen. Der EU-Krisenmodus in Permanenz ist für Patel in Betrachtung des gesamthistorischen Entwicklungsverlaufs nichts Neues. Seine kritische Geschichte der europäischen Integration, ausgehend vom Kalten Krieg bis zu dessen Überwindung in Europa, zeigt trotz aller Konfusion und jenseits von abgehobenen Visionen, dass inzwischen ein hoher Integrationsgrad erreicht worden ist und daher
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der Zustand der Union heute gelassener betrachtet werden kann. Ihre Selbstdarstellung hat an Strahlkraft nicht eingebüßt, sondern im Gegenteil noch gewonnen: Friedenssicherung, Wirtschaftswachstum und Werteorientierung stünden für ein weiter zusammenwachsendes Europa. Die Vorgängergemeinschaften sind laut Patel nicht einfach aus sich heraus erwachsen und zwangsläufig entstanden. Entgegen einem linearen Deutungsnarrativ macht Patel klar, dass eine Überzeichnung der Eigendarstellung der Union das Empfinden von gefühlten Krisen noch verstärken könne, zumal etwas für einzigartig und singulär gehalten werden könne, was eigentlich immer schon dagewesen sei. Krisenzeiten waren in der Regel Jahre des weiteren Aufbaus, von denen das gemeinschaftlich organisierte Europa im Sinne von Jean Monnet („Krisen sind die großen Einiger“) letztlich profitiert habe. Vergleichbar optimistisch gibt sich auch der Wiener Neuzeit-Historiker Wolfgang Schmale in seinem Buch Was wird aus der Europäischen Union? Geschichte und Zukunft (2018). Auch er ist von der Zukunftsfähigkeit der EU überzeugt. Vor lauter Herausforderungen komme die EU nicht mehr zur Ruhe, was sie wohl auch nicht vorhabe. Es gebe keine Wahl zwischen fortgesetztem Streit und anhaltendem Stillstand, zwischen Europa-Aktion und Europa-Müdigkeit in Zeiten von Banken- und Finanzkrise, des Brexit, des Populismus und der Corona-Pandemie. Schmale geht der Frage nach, woher all die Schwierigkeiten rühren und er stellt zur Diskussion, ob es Europa wirklich so schlecht gehe oder anders gewendet, ob es gar nicht so schlecht um den Kontinent bestellt sei. Seine Versiertheit als Historiker und sein überzeugtes Europäertum legen nahe, dass beim Blick auf die kulturellen Wurzeln der europäischen Identität das Verhältnis zwischen der Idee der Nation und dem Europa-Gedanken in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen sei. Damit macht er auch deutlich, wie die EU einen guten Weg in die Zukunft beschreiten kann. Klaus Weber und Henning Ottmann fragen in ihrem Gemeinschaftswerk Reshaping the European Union (2018) hingegen kritisch, ob die üblichen Vorstellungen von einer immer enger werdenden Union noch einen Sinn ergeben würden. Die Autoren drängen auf eine umfassende Reform der EU, die für ihre Überlebensfähigkeit unabdingbar sei. Ihre Anregungen setzen an tatsächlichen oder vermeintlichen Mängeln der EU an. An zukünftigen Vertragsänderungen müssten man ihrer Ansicht nach Bürgerschaften und nationalstaatliche Repräsentanten mehr teilhaben lassen und sie nicht erst am Ende eines Entscheidungsprozesses vor die Ja-oder-Nein-Alternative stellen. Der Europäische Rat sollte in seiner Führungsrolle gestärkt und der Rat der EU in seiner Bedeutung geschwächt werden. Im Lichte der Erfahrungen der Euro-Krise betonen Ottmann und Weber die Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für ihre Finanzen und die Notwendigkeit von Strukturreformen ihrer Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme. Bei aller Konsequenz der prononciert integrationskritischen Analyse mit einer deutlichen Präferenz für die Nationalstaaten erscheint fraglich, ob eine solche primär an den Interessen der Mitglieder orientierte EU die ihr von den Autoren zugedachten Hauptziele erreichen kann: nämlich den Ausgleich des immer geringer werdenden Einflusses kleinerer und mittlerer Länder im globalen Kontext, den Erhalt des Friedens sowie die Sicherung des Wohlstands im Sinne westlicher Zivilisation.
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Ganz anders gelagert sind die Forderungen der politischen Essayistin Ulrike Guérot in ihrem Buch Was ist die Nation? (2019). Sie hat inzwischen nach der Idee von der „europäischen Republik“ jene von der „Nation Europa“ entdeckt. So fragt sie nach dem Prinzip Nationalstaat für ein viel intensiver zu vereinigendes Europa als es die EU anstrebe. Ihr Text ist der Versuch, die Begriffe von „Nation“ und „Europa“ in einen gemeinsamen Sinnzusammenhang zu stellen. Guérot tendiert zur Ansicht, dass die europäische Integration bereits die Nationsbildung im Sinne einer europäischen Gesellschaft befördert habe und so erscheine die europäische Nation bereits am Horizont. Nur als vereinte und souveräne Nation sei die EU in der Lage, die Vielzahl der Krisen zu bewältigen und sich im Machtgefüge der Supermächte zu behaupten. Guérot ist aber skeptisch im Hinblick auf die Akzeptanz dieser Forderung durch die EU. Diese Skepsis ist begründet. Bismarck hat einmal so sarkastisch wie scharfsinnig formuliert: „Ich habe das Wort ‚Europa‘ immer im Munde derjenigen Politiker gefunden, die von anderen Mächten etwas verlangen, was sie im eigenen Namen nicht zu fordern wagten.“ Damit war nationale Interessenpolitik mit all ihren Egoismen und Engführungen gemeint. Daher scheint für Europa weniger der Begriff der Nation, der zu Eurozentrismus führen kann, sondern mehr der der Solidar- bzw. Verantwortungsgemeinschaft geeignet. Verwiesen sei auch auf die 2019 erschienene Studie von Jan Zielonka mit dem Titel Konterrevolution. Der Rückzug des liberalen Europa. Der in Oxford lehrende polnische Politikwissenschaftler argumentiert zutreffend, dass in zahlreichen europäischen Ländern rechtsgerichtete Tendenzen unverkennbar sind, die sich stärker werdend in den 1990er und 2000er Jahren artikulierten. Unter Verwendung einer marxistischen Formel sieht er die so bezeichnete „Konterrevolution“ im Gange. Zu überlegen ist, ob dieser Begriff ausreicht, um das Aufbegehren von bürgerrechtsorientierten und nationalistisch ausgerichteten Parteien hinreichend zu erfassen. Zuzustimmen wäre Zielonka, dass die allgemeine Aufbruchstimmung und die Euphorie von 1989 verflogen sind. Nach dem Abbau des Eisernen Vorhangs sind um das überstaatlich organisierte Europa noch höhere Grenzzäune errichtet worden. Im Zeichen der Euro- und Migrationskrise sieht Zielonka die EU vor einem Scherbenhaufen stehen. Einen zentralen Grund sieht er in der einseitigen Ausrichtung der europäischen Politiker auf einen Marktradikalismus im Zeichen eines entfesselten Neoliberalismus, der die Ideale der liberalen Demokratie zurückgestellt, wenn nicht verraten habe. Zielonka plädiert für eine offene europäische Gesellschaft und eine Neuerfindung des gemeinschaftlich organisierten Europas. Das Buch ist als Brief an seinen Lehrer, den 2009 verstorbenen Ralf Dahrendorf, konzipiert. In einem unumschränkt herrschenden Marktliberalismus, der seit dem Ende des Systemkonflikts von 1989 beschworen und umgesetzt worden sei, sieht Zielonka einen gravierenden Mangel der Politik der Liberalen. Dagegen wird der auch seinerzeit von Dahrendorf mitgetragene Sozialliberalismus der 1970er Jahre empfohlen, der den Wohlfahrtsstaat im Zeichen des sozialdemokratischen Jahrzehnts gefestigt habe. Zielonka versteht den Begriff des Populisten zur Charakterisierung von Demagogen als zu ungenau. Ob dafür der Terminus „Konterrevolutionär“ besser geeignet ist, bleibt fraglich. Zielonkas
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Befunde tragen zur Klärung bei, doch müssen die Lösungswege für die von ihm aufgezeigten Probleme noch genauer erörtert werden. Hannes Hofbauer hat sich mit Europa. Ein Nachruf (2020) zu Wort gemeldet. Folgt man seiner Analyse, hat sich das ursprünglich als Friedensprojekt für den europäischen Kontinent gegründete Unternehmen stark verändert. Am Anfang hätten Gemeinschaftssinn, Reisen ohne Kontrollen und abgestimmte einheitliche Regelungen im Vordergrund der Integration gestanden, doch habe sich die EU nach 1989 immer stärker als ein Machtzentrum mit geopolitischen Ambitionen entpuppt. Der Niedergang äußere sich in Arbeitslosigkeit, Brexit, „Flüchtlingskrise“ und Überschuldung zu Lasten zukünftiger Generationen. Der Glanz Europas sei verblasst, wenn man alte Maßstäbe anlege wie soziale Gerechtigkeit, Frieden an den inneren Konfliktlinien und äußeren Grenzen oder fairen Handel. Der Umgang mit Griechenland in der Eurokrise durch eine rigide Austeritätspolitik ist für den antiimperialistischen und neomarxistischen Wiener Sozial- und Wirtschaftshistoriker ein Beweis für die erwähnten Trends. Das einstige Friedensprojekt der EU sieht Hofbauer durch Brüssel missbraucht. In einer tour dʼhorizon der Europa-Ideen vom Hochmittelalter bis in die Gegenwart erfährt der Leser, dass nur wenige Konzeptionen im Kern wirklich altruistisch-friedlich, d. h. für ein sozial-utopisches Miteinander und nicht politisch instrumentalisiert einem anderen Zweck dienstbar gewesen seien. Hofbauer liefert ein Entlarvungsbuch, das den Kaiser ohne Kleider zeigt und die Selbstdarstellung von Brüssel als ideologische Begleiterscheinung ökonomischer Protektion brandmarkt: Die EU benötige für ihre Geschäfte weiter einen supranationalen Raum und einen entsprechenden militärischen Flankenschutz durch die NATO, um im ‚Drang nach Osten‘ eine neoliberal-hegemoniale Agenda zu verfolgen. Der Duisburg-Essener Historiker Wilfried Loth hat dagegen in seiner umsichtigen, 2020 aktualisierten Neuauflage Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte die grundlegende Veränderung der EU im turbulenten Jahrzehnt von 2010 bis 2020 beleuchtet (Griechenland-Krise, Flüchtlingsproblem, Populismus, Brexit, Pandemie). Loth unterstreicht den ergebnisoffenen Ausgang der weiteren Entwicklung, jenseits von Irreversibilitätsbeschwörung und Teleologie-Gläubigkeit, d. h. der angeblichen Unumkehrbarkeit und des steten Fortschreitens der europäischen Integration. In seiner 2020 vorgelegten Veröffentlichung Identität und Weltfähigkeit. Sichtweisen aus einem unruhigen Europa hat der Bonner Historiker und Politikwissenschaftler Ludger Kühnhardt seine Beobachtungen und Erkenntnisse gebündelt. Er erhellt die Zusammenhänge zwischen Fragen der europäischen Identität und jenen globalen Transformationen, die für das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts bezeichnend sind. Er sieht die Europäische Union mit der Aufgabe konfrontiert, außenpolitisch stärker aktiv, d. h. weltpolitikfähig zu werden, um geostrategisch interkontinental mitzureden zu können. Weltfähigkeit und Weltpolitikfähigkeit sind Begriffe, die Kühnhardt geprägt hat. Sie wurden von der deutschen und europäischen Politik gerne (ohne Verweis auf den Urheber) aufgegriffen und verwendet, so von Alexander Graf Lambsdorff oder Jean-Claude Juncker.
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In welchen Politikbereichen müsste die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft agieren? Diesen Fragen geht ein 2020 herausgegebenes Sammelwerk von Michael Gehler, Alexander Merkl und Kai Schinke nach. Im Spannungsfeld von europäischem Selbstanspruch und globaler Realität bieten einzelne Beiträge aus der Perspektive des ethischen Begriffs der Verantwortung sowohl grundlegende Analysen als auch Überlegungen zu konkreten Einzelthemen wie Migration, Sicherheit und Verteidigung oder Wirtschaft und Handel. Der Aachener Politikwissenschaftler Winfried Böttcher erkennt in Europa 2020. Von der Krise zur Utopie (2020) den notwendigen Bedarf an neuen Visionen für die Zukunft der EU. Das Jahrzehnt von 2010 bis 2020 begreift der ausgewiesene Enzyklopädist von Klassikern des europäischen Denkens. Friedens- und Europavorstellungen aus 700 Jahren europäischer Kulturgeschichte (2014) sowie von Europas vergessene Visionären. Rückbesinnung in Zeiten akuter Krisen (2019) im Rückblick als Krise humaner Fortschrittlichkeit. An sechs Ereignissen demonstriert er diese These mit Blick auf das europäische Verhalten in der „Flüchtlingskrise“, dem Ukraine-Konflikt, dem Brexit, der Natur als Politikum, dem Virus des Nationalismus und der Corona-Pandemie, also an Szenarien, die auch im kommenden Jahrzehnt die politische Agenda der EU bestimmen werden. Die EU habe in ihrer derzeitigen Verfassung keine Zukunft, so Böttcher, und eine Neugründung sei das Gebot der Stunde. Christiane Liermann Traniello, Matteo Scotto und Julian Stefenelli sehen in ihrem Band Vereinigte Staaten von Europa: Wunschbild, Alptraum, Utopie? (2020) den Zeitpunkt gekommen, um kritisch nachzufragen, ob das amerikanische Modell (noch) eine Möglichkeit für die europäischen Staaten biete. Der Band stellt sich aus historischer wie politikwissenschaftlicher Sicht der Debatte über die Umsetzung des Vorbilds der USA für das gemeinschaftliche Europa. Ist das Thema noch diskutierbar, oder rührt man damit an einen „destruktiven Mythos“? Die an der Universität Innsbruck tätigen Andrea Brait, Stefan Ehrenpreis und Stella Lange gehen in ihrem interdisziplinär angelegten Sammelwerk den im Buchtitel genannten Europakonzeptionen (2020) nach und erweitern damit die Perspektiven europawissenschaftlicher Forschung. Die Beiträge bewegen sich an den Schnittstellen von Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften und verdeutlichen, dass Europäisierung als Prozess einer permanenten Öffnung und nicht bloß als Produkt nationaler Konzeptionalisierungen verstanden werden kann. Es gelingt ihnen dabei, die Wurzeln und Elemente europäischer Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Europa von seinen Abweichungen, Verschiedenheiten und Unterschieden her zu denken, kann dabei hilfreich sein, um den Erfolg bzw. den Wirkungsgrad von Europäisierungen realistisch einzuschätzen. In ihrem Band über Ambivalenzen der Europäisierung liefern Timm Beichelt, Clara Maddalena Frysztacka, Claudia Weber und Susann Worschech Beiträge zur Neukonzeptionalisierung der Geschichte und Gegenwart Europas (2021). Letztere ist für alle Welt sichtbar voll von Antagonismen und Konfrontationen sowie fern von Bewältigung und Lösung. Im Jahre 2012 war der Europäischen Union noch der Friedensnobelpreis verliehen worden.
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Nach der gerade einmal überstandenen Banken- und Finanzmarktproblematik häuften sich aber weitere Herausforderungen zu einem komplexen Dauerkrisenzustand an. Die EU geriet an die Grenzen ihrer Fähigkeiten, überzeugende Antworten auf den globalen Klimawandel zu geben, die weltweite Migrationsfrage zu bewältigen oder angemessen und fair mit der Last der europäischen Kolonialgeschichte umzugehen, die eine Ausbeutungs- und Gewaltgeschichte gewesen ist. Die Beiträgerinnen und Beiträger demonstrieren in diesem Band exemplarisch, dass diese Krisen und Konflikte nicht als unbeabsichtigte Begleiterscheinungen einer ansonsten im besten Sinne erachteten Europäisierung zu verstehen sind, sondern ganz gegensätzlich als jene Zwiespältigkeiten, erwachsen aus Kolonialismus und Imperialismus, und in der vermeintlich modern anmutenden Form der Europäisierung implantiert sind. Die anhaltenden Konflikte, schwelenden Probleme und fortwährenden Widersprüche, die quasi außereuropäisch-externalisiert und in die Randzonen der EU verdrängt worden sind, kehren nun wieder und melden sich zurück, indem sie sich in den Metropolen und Zentren Europas manifestieren. Die von Beichelt, Frysztacka, Weber und Worschech präsentierten Analysen blenden diese Zwiespältigkeiten nicht aus, sondern beziehen sie in die Erscheinungen von Europäisierung mit ein, in der sie angelegt und in der Praxis der Gegenwart als fester Bestandteil integriert sind. Die von Europa bis 1914/18 geprägte hegemoniale Weltordnung, ausgehend von Aufklärung und Moderne mit allen ihren Schattenseiten und Ungleichheiten, wirkt bis heute nach. Inzwischen liegen auch erste Analysen und Zwischenbilanzen darüber vor, wie die EU im ersten Jahr mit der Covid19-Pandemie umgegangen ist, was aus einem Beitrag in dem von Manfried Rauchensteiner und Michael Gehler herausgegebenen Band zum Thema Corona und die Welt von gestern (2021) hervorgeht. Die EU reagierte verspätet auf Corona. Erst ab Mitte Februar 2020 registrierte Brüssel das verheerende Thema in seiner gesamten Tragweite und begann im Laufe des März zu überlegen, was zu tun sei. Man war nicht vorbereitet und entsprechend keine Folgenabschätzung vorhanden. Die Mitgliedstaaten beschlossen vorerst eigenmächtig, unabgestimmt und unabhängig im Alleingang vorzugehen. Es drohte durch Grenzschließungen ein Zusammenbruch des Binnenmarktes. Die Kommission hinkte mahnend mit Anregungen, Empfehlungen und Gesetzesinitiativen hinterher. Im Verbund der Europäischen Investitionsbank (EIB), des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der EZB, der Kommission und den Mitgliedstaaten erfolgten erste Maßnahmen gegen das Virus. Ein Wiederaufbau-Paket für Europa wurde mit 750 Milliarden € geschnürt, bestehend aus etwas mehr Krediten als Zuschüssen, und mit dem Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) verknüpft. Staats- und Regierungsspitzen sowie die Führungsspitzen der EU einigten sich am 21. Juli 2020 auf ein umfassendes Paket von insgesamt etwas mehr als 1,8 Billionen Euro für außerordentliche Aufbaumaßnahmen, die unter dem Motto „Next Generation EU“ nach entsprechenden Vorgaben zur Innovationsförderung und Modernisierung der betroffenen Staaten verteilt werden sollen. Es waren noch nie dagewesene Hilfsmaßnahmen, wobei erstmals eine Verschuldung der EU in Kauf genommen wurde. Die EU konzentrierte sich in Folge zu sehr auf die Entwicklung von Impfstoffen und vernachlässigte dabei die Frage der
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Massenproduktion. Bei der Beschaffung unterschätzte man zudem Probleme bei der Bestellung und die naturgemäß einzukalkierenden Verzögerungen bei der Verteilung. Aufklärung war weitgehend unterblieben oder erfolgte zu spät. Die gemeinsame Impfstoffbeschaffung rechtfertigend, erklärte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Anspielung auf die unterschiedlichen Herangehensweisen der Nationalstaaten und die daraus folgende Unbeweglichkeit der EU, dass sie ein großer Tanker und kein Schnellboot sei. Die mangelnde Krisenreaktionsfähigkeit lag auch am Dilemma der Institutionenstruktur in Brüssel, dem Nebeneinander und Ringen von Rat und Kommission um Einfluss und Kompetenzen, ein Verhältnis, das die Mitgliedstaaten so geschaffen haben und so auch geschehen lassen. Das komplexe Beziehungsgeflecht von geteilten und nicht-geteilten Zuständigkeiten zwischen mitgliedstaatlicher Souveränität und gemeinschaftlicher Supranationalität stellte sich durch die mehr oder weniger erfolgreiche Bekämpfung der Pandemie wieder aufs Neue. In all den genannten Werken werden Befunde, Beobachtungen und Bewertungen hinsichtlich Geschichte und Politik der EU festgehalten und Tendenzen der Diffusion, Konfusion und Vision herausgearbeitet, ohne diese immer explizit zu benennen. Dabei wird zum einen multi- oder interdisziplinär vorgegangen oder aber primär die Terminologie der jeweiligen Fächer genutzt, die von den Autorinnen und Autoren vertreten werden. Die fächerübergreifenden Arbeiten gaben ein Vorbild ab für diesen Sammelband, aber gleichzeitig kommen auch disziplinäre Ansätze zum Zuge. Wir trafen uns zu einer multidisziplinären Diskussion über die Krisen Europas im ZiF der Universität Bielefeld, und diese Gespräche wirkten sich auf die Studien aus, die wir nun hiermit vorlegen. Die Idee unseres Sammelbandes bestand darin, die genannten Fächer durch Europa-Fachleute vertreten zu sehen, ihnen jedoch durch den fächerübergreifenden Kontakt eine komplexere Sicht der Krisen-Konstellationen zu ermöglichen. Anders als in einigen der erwähnten Studien soll hier nicht der Versuch gemacht werden, die Schwächen der EU aus einem Punkt heraus zu erklären. Es werden Problemstellungen erörtert, wobei einseitig negative, quasi apokalyptische Untergangsszenarien wie auch allzu optimistische, gleichsam utopische Zukunftsentwürfe vermieden werden. Es geht direkt um konkret erfassbare und vermeidbare Fehlentwicklungen und Konfusionen und indirekt um antizipatorischvisionäre Szenarien, nicht jedoch um Heilsbotschaften. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes sparen nicht mit Negativdiagnosen, stellen aber gleichzeitig auch unterstützungsfähige Entwicklungen heraus. Die Expertinnen und Experten, die hier zu Wort kommen, unterrichten an deutschen, belgischen, österreichichischen und niederländischen Universitäten. Die eine Hälfte forscht in geistes-, die andere in sozialwissenschaftlich-juristischen Fächern. In der ersten Gruppe geht es um europäische Grundwerte und um Identitätsfragen auf der kontinentalen wie auf der nationalen Ebene. Ein besonderes Augenmerk gilt den essayistischen Beiträgen von Schriftstellern und Intellektuellen zum aktuellen Europadiskurs bzw. zur Kritik an Tendenzen innerhalb der Europäischen Union. Das Flüchtlingsthema wird zum einen aus dem Blickwinkel kritischer Film- und Fernsehreportagen, zum anderen aus der Perspektive der
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Politologie beleuchtet. Juristische Untersuchungen gelten den neuen Herausforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention wie auch dem Problembereich der Mehrsprachigkeit bei rechtlichen Vereinbarungen. Der oft gescholtene Europäische Rat wird in seiner geschichtlichen Entwicklung und zunehmenden Macht gezeigt, ein weiterer Beitrag diskutiert die alte Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ und wagt eine Prognose für die Zukunft. Um diese geht es auch in den letzten drei Beiträgen: Finanzpolitische und wirtschaftswissenschaftliche Ansätze kommen im Beitrag zum Euro als transnationaler Währung zum Zuge, und beim Blick auf den außenpolitischen Ehrgeiz der EU zeigt die historische Untersuchung, dass im Sinne einer gemeinschaftlichen bzw. vergemeinschafteten Außenpolitik, ausgehend von der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) und ihrer Nachfolger, noch viel zu tun bleibt. Vergleichbar sieht es auch in der gemeinsamen Verteidigungspolitik der EU aus, zu der der abschließende Beitrag als Analyse eines Militärexperten vorgelegt wird. Hier seien die 14 Aufsätze in ihrer Abfolge kurz vorgestellt: Nach Silvio Vietta ist Europa eine Werte- aber auch Schuldgemeinschaft, wobei er drei zusammenwirkende Werte-Familien unterscheidet: die Rationalitätskultur, die jüdisch-christliche Religion und den nationalen Patriotismus. Insbesondere die Rationalitätskultur mit der Erfindung von Wissenschaft, Philosophie, aber auch Demokratie, Freiheit, Individualität und Rechtssicherheit hat genuin europäische Werte erzeugt, das Christentum vor allem eine karitative Ethik. Seine wissenschaftlich-(kriegs-)technische Überlegenheit hat den Kontinent auch zu einer globalen Hegemonialmacht werden lassen: Rom in der Antike mit Hilfe von Kriegsmaschinen sowie in der Neuzeit die kolonisierenden Länder Europas mit Feuerwaffen und Organisationstechnologien. Dabei wurden die indigenen Völker und Kulturen marginalisiert und zum Teil ausgerottet, ein Schuldkapitel, das im postkolonialen Diskurs vergegenwärtigt wird. Im Kolonialismus der Neuzeit formierte sich die heutige Weltgesellschaft durch die modernen, technischen Kommunikationstechnologien. Hauptakteur dieser Weltgeschichte sei nicht der angeblich ‚alte weiße Mann‘, der nur für oberflächliche Betrachtungen aufscheint, sondern ein dahinter liegendes Kultursystem, nämlich jenes der Rationalitätskultur, die Ethnien, Nationen und Völker anderer Hautfarbe und Kontinente entweder praktizierten oder übernahmen und auf ihre Weise umsetzten. Der Populismus, so zeigt Benjamin Krämer, gilt heute als eine der größten Herausforderungen für die europäische Integration. Der Beitrag konzentriert sich auf den Rechtspopulismus, der als ethnischer Nationalismus und ideologisch-politischer Rechtskonservatismus beschrieben wird. Er zeigt, welche Verständnisse von Europa diese Ideologie impliziert, wie der Kontinent aus rechtspopulistischer Sicht nach außen abgegrenzt wird, vor allem vom „muslimischen“ und „afrikanischen“ Nicht-Europa, und welche inneren Grenzziehungen vorgenommen werden, die einerseits zwischen Ost- und West- sowie andererseits zwischen Nord- und Südeuropa erfolgen. Abschließend wird auf den antipopulistischen Diskurs eingegangen, der das Ziel hat, Europa gegen den Populismus zu verteidigen. Dabei wird
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deutlich, dass dieser Diskurs allerdings selbst zur Konfusion beitragen kann, wenn dem Populismus eine nicht demokratisch fundierte, sondern bloß technokratische, vermeintlich unideologische Politik gegenübergestellt wird. Christoph Ehland diskutiert den EU-Austritt der Briten aus kulturgeschichtlicher Per spektive. Der Brexit hat sich in einem quälenden Prozess der Verhandlungen und Neujustierungen über vier Jahre hingezogen und die Europäische Union in eine Debatte über ihre Grundausrichtung verwickelt, in der Konfusion und Vision eng beieinanderlagen. Die britische Position schien dabei oft von kurzfristiger innenpolitischer populistischer Agitation abhängig. Eine genauere mentalitätsgeschichtliche Analyse zeigt jedoch, wie sehr die vorgebrachten Argumente für den Brexit in den tieferen Schichtungen angestammter nationaler Grundvorstellungen verwurzelt sind, die über Jahrhunderte eine geradezu mythologische Aufladung erfahren haben. Neben dem Postulat von der historisch bedingten Sonder- bzw. Außenstellung Großbritanniens gegenüber Europa, ist es vor allem der Mythos der Inselnation als Schicksalsgemeinschaft, der vielen Briten eine Zukunft außerhalb des engeren Bezugsrahmens der europäischen Nachkriegsordnung verheißungsvoll erscheinen ließ. Im gegenwärtigen Europadiskurs der Intellektuellen spielt, so sieht es Paul Michael Lützeler, die Berufung auf Gründungsväter eine Rolle. Robert Menasse sorgte für einige Konfusion, als er wiederholt unberechtigterweise behauptete, Jean Monnet und Walter Hallstein hätten mit ihren Föderationsplänen die Nationalstaaten abzuschaffen versucht. Menasses Idee, die Nationen innerhalb der EU aufzulösen und die Regionen mit der Macht auszustatten, das vereinte Europa zu bauen, dürfte – als nicht praktikabel – kaum Zuspruch finden. Die meisten Gründungsväter hielten – jedenfalls auf nationaler Ebene – viel von sozialer Marktwirtschaft. Ulrike Guérot (unter Berufung auf Marcel Mauss) und Oskar Negt (in Abgrenzung von Jürgen Habermas) entwickeln Visionen von einer menschenrechtlich inspirierten Sozialordnung im vereinten Kontinent. Voraussetzung dafür wäre nach Guérot die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit, eine Forderung, die auch Aleida Assmann stellt. Der Aufsatz von Antje Büssgen widmet sich von den beiden titelgebenden Begriffen ausgehend stärker dem der „Vision“. Am Beispiel des kontrovers diskutierten österreichischen Schriftstellers Robert Menasse fragt sie nach dem Beitrag der Autoren als Intellektuelle zur gegenwärtigen Debatte über die europäische Integration. Dabei geht sie von der Beobachtung aus, dass sich Schriftsteller heute als öffentliche Personen selten systematisch und wiederholt, etwa in Reden und Essays, mit diesem politischen Großprojekt der Spätmoderne befassen. Dieses Schweigen der Intellektuellen steht im eklatanten Gegensatz zur reichen und langen Tradition des deutschsprachigen Europaessays. Menasse bildet in dieser Hinsicht seit dem Krisenjahr 2010 eine Ausnahme. Er hat sich seither in diesen literarisch-philosophischen Diskurs auf vielfältige Weise eingeschrieben und dabei in der Darstellung der europäischen Integration geschichtsphilosophische Erzählstrategien aktualisiert. Florian Lipperts Essay fokussiert zunächst auf den Widerstreit zweier Konzepte von Kultur im Kontext filmischer Erfassung der „Flüchtlingskrise“: Der Vorstellung statischer
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kultureller Ordnung und derjenigen eines dynamischen, veränderlichen kulturellen „Selbstbewusstseins“ (Zygmunt Bauman). Hinsichtlich entsprechender Formen kultureller Produktion führt Lippert die Unterscheidung zwischen kultureller Selbstreferenz (statisch) und Selbstreflexion (dynamisch) ein. Als Beispiele für die letztere Kategorie diskutiert der Beitrag sodann zeitgenössische Dokumentar- und Essayfilme, die einerseits die Perspektiven von Geflüchteten und Migranten integrieren und andererseits deren mediale Präsentation im europäischen Krisenkontext hinterfragen. Somit thematisieren die Filme Europas territoriale und gesellschaftliche Grenzziehungen und überschreiten dabei ihrerseits verschiedentlich Grenzen – zwischen filmischer Beobachtung und countersurveillance („Gegenüberwachung“) sowie auch zwischen Dokumentation und politischem Aktivismus. Die Frage, wie mit dem Thema Zuwanderung allgemein und dem Problem Flüchtlingszustrom speziell umgegangen werden soll, geht – so hält Martin Große Hüttmann fest – alle EU-Staaten etwas an, nicht nur Griechenland, Italien oder Spanien. Weil es im Kreis der Mitgliedstaaten aber (noch) keinen Konsens über den angemessenen Umgang mit diesen Herausforderungen gibt, bietet das Thema reichlich Stoff für Streit, und es hat beträchtlich zur Konfusion in der Politik der Europäischen Union beigetragen. Die seit 2015 gestiegenen Zahlen von Menschen, die vor Bürgerkrieg, Verfolgung und Perspektivlosigkeit in Richtung Europa geflohen sind, haben die europäische Asyl- und Zuwanderungspolitik auf eine harte Probe gestellt. Der Umgang der EU mit der „Flüchtlingskrise“ hat dabei tiefer liegende Probleme und Konflikte sichtbar werden lassen. Die Krise hat grundsätzliche Fragen über eine Politik der Grenzen und die Grenzen einer gesamteuropäischen Politik aufgeworfen. Wolfgang Wessels erinnert in seiner Studie über den Europäischen Rat daran, dass das Wirken dieser Säule im Institutionengefüge der Europäischen Union kontrovers diskutiert werde: Integrationspolitische Erzählungen sehen dieses Gremium als Hüter der nationalen Souveränität, der einen föderalen Ausbau der Union verhindere oder in legitimer Weise nationale Rechte wahre. Wie eine Analyse der Fälle jedoch dokumentiert, wirkt der Europäische Rat als Motor eines schrittweisen Ausbaus der Union, bei dem nationale und europäische Kompetenzen in einer vertikalen Fusion zusammengelegt und in einer horizontalen Fusion Verantwortlichkeiten zwischen den EU-Institutionen geteilt werden. Dieses Entscheidungszentrum ist der Schlüssel für eine spezifische Analyse der fundamentalen Entwicklungen der Union. Zur Fragestellung „Fusion“ oder „Konfusion“ ist festzuhalten: Für den notwendigen Konsens sucht der Europäische Rat Kompromisse, die die Komplexität und damit die Konfusion erhöhen. War der Slogan von den „Vereinigten Staaten von Europa“, so fragt Michael Gehler, als Abwandlung oder Übernahme des US-amerikanischen Modells gedacht? Im 19. Jh. diente er als Vorbild für ein neues und verjüngtes Europa. Als politischer Kampfbegriff ging er Hand in Hand mit einer europäischen Befreiungsideologie für unterdrückte Nationen, wobei Hoffnung auf Unterstützung durch die USA bestand. Anhänger und Verfechter von „Vereinigten Staaten von Europa“ waren politische Außenseiter, Exilanten und Oppositionelle. Selbst ein prominenter Fürsprecher wie Winston Churchill vermochte daran nur wenig zu
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ändern, zumal er sein eigenes Land von einer europäischen Mitgliedschaft ausnahm. Der frühe Streit um die Zugehörigkeit Großbritanniens zur EWG und zur EG (nicht reden vom Brexit) brachte dann mehr Konfusion als Klärung in die Debatte. Die Öffnung des Ostens 1989 bedeutete das Ende der Vision von einem Bundesstaat „Vereinigten Staaten von Europa“. Die USA seien kein Modell mehr für die Europäische Union von heute, so der Autor, die sich zum eigenständigen und neuartigen Gebilde entwickelt habe. Die Debatte über die EU als Konföderation oder Föderation im Kontext von Föderalismus und Zentralismus wird auf nicht absehbare Zeit fortbestehen. Katharina Pabel belegt, dass die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sich seit ihrem Inkrafttreten 1953 zu einem gemeinsamen Grundrechtsstandard für alle Mitgliedstaaten der EU und darüber hinaus für alle Staaten des Europarates entwickelt hat. Auch wenn das System des Grundrechtsschutzes durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kontinuierlicher Reformen bedarf, stellt die Möglichkeit der Individualbeschwerde an einen internationalen Gerichtshof eine Besonderheit des Konventionssystems dar. In Zeiten verschiedener „Konfusionen“ innerhalb der EU – man denke an die Migrationsfrage, an Zweifel hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit in einigen Mitgliedstaaten – stellt der Menschenrechtsschutz nach der EMRK daher einen stabilisierenden Faktor dar. Viele am EGMR verhandelte Fälle von Menschenrechtsverletzungen zeigen aber, dass die Vision der Verwirklichung eines europäischen Grundrechteraums – sogar in Staaten der EU selbst – noch lange nicht Realität ist. Dominik Geppert zeigt in seinem Aufsatz über den Euro, dass die Anfänge der europäischen Währungsunion erst allmählich ins Blickfeld der zeithistorischen Forschung geraten. Das hat mit dem beschränkten Aktenzugang zu tun, aber auch mit dem sperrigen und technischen Charakter der Gemeinschaftswährung. Zumeist ging es um den „Weg nach Maastricht“ und die Frage, ob der Euro der angebliche „Preis“ für die deutsche Wiedervereinigung gewesen sei. Geppert setzt die Akzente anders und nimmt zwei bisher weniger beachtete Punkte genauer in den Blick: einerseits die Beharrungskraft nationaler Traditionen und andererseits die globale Dimension des Themas. Zum einen betont er die Persistenz nationaler Denkschablonen und Wahrnehmungsmuster und analysiert, welche Handlungszwänge, Spannungslagen und Konfusionen sich daraus unter den Rahmenbedingungen einer gemeinsamen Institutionenordnung ergaben. Zum anderen fragt er, wie Weltwirtschaft und transnationale Finanzströme die Konzeption, Implementierung, Erhaltung und Gefährdung des Euro beeinflussen. Die Analyse von Gabriele Clemens zur EU-Außenpolitik widmet sich der Frage nach Europäisierungs- und Sozialisierungsprozessen in intergouvernementalen Politikfeldern der EG/EU und der Methodik zu deren Erfassung. Am Beispiel der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) in den 1970er Jahren – Vorläuferin der heutigen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU – wird gezeigt, dass trotz eines dichten Konsultationsmechanismus und günstiger Rahmenbedingungen für Sozialisierungsprozesse eine Europäisierung nationaler Außenpolitiken nur auf institutionell-administrativer Ebene
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stattfand, nicht hingegen auf der Ebene der Politikinhalte. Von Europäisierung im Sinne der Vision einer Ablösung bislang bestehender Präferenzbildungsprozesse von nationalen Bezügen zugunsten gemeinsam geteilter europäischer Ziele, Normen und Werte als Folge von Sozialisierungsprozessen kann in Bezug auf die Politikinhalte bis heute nicht die Rede sein; vielmehr bestimmt weiterhin das nutzenorientierte, kalkulatorische Interesse der Staaten die außenpolitische Zusammenarbeit auf GASP-Ebene. Die Europäische Union unternimmt, so konstatiert Matthias Dembinski in seinem Beitrag zur EU-Verteidigungspolitik, seit der Verabschiedung der „Globalen Strategie“ 2016 den abermaligen Versuch, sich als sicherheitspolitischer Akteur neu zu erfinden. Dabei formulieren Kommission und Mitgliedstaaten ambitionierte Visionen bis hin zum Ziel einer europäischen Armee. Gleichzeitig herrscht über Ziele und Wege erhebliche Konfusion und betonen selbst Vertreter der EU die Grenzen des Projekts Verteidigungsgemeinschaft und die Komplementarität mit der NATO. Der Beitrag prüft, ob die EU den Weg hin zu einer hochintegrierten Verteidigungsunion gehen sollte und ob sie sich auf diesem Weg befindet. Zur Beurteilung der normativen Frage schlägt er zwei Kriterien vor: die Legitimität und den äußeren Frieden. In Bezug auf die reale Entwicklung notiert der Beitrag bestenfalls eine evolutionäre Weiterentwicklung, sieht aber dennoch die Möglichkeit unbeabsichtigter spillover Effekte. Dieser Band bewegt sich ausgehend von verschiedenen Disziplinen und interdisziplinären Vergleichsmöglichkeiten im Begriffsspektrum von „Konfusion“ und „Vision“. Dieses Spannungsfeld ließe sich begrifflich noch weiter ausdifferenzieren und erweitern um die Termini „Divergenz“, „Diffusion“, „Konfrontration“ und „Konvergenz“ sowie um „Fusion“ und „Union“, was Aufgabe einer weiteren interdisziplinären Konferenz sein kann. Gestritten wurde zuletzt um die Frage der Beibehaltung spezifisch europäischer Werte, wobei sich fragte, ob diese tatsächlich so genuin europäisch oder nicht viel mehr universell sind. Historisch gesichert ist, dass Europa als geographischer Raum vom Atlantik bis zum Ural nie eine geschlossene Wertegemeinschaft bildete. Russland und die Türkei gingen und gehen zum Beispiel andere, ganz eigene Wege. Gilbert H. Gornig hält in einem Sammelwerk, gemeinsam herausgegeben mit Peter Hilpold, zum Thema Europas Grundrechte auf dem Prüfstand. Unter besonderer Berücksichtigung der Länder Mittel- und Osteuropas (2021) fest, dass selbst die EU „nicht als eine wirklich einheitliche Werte- oder Kulturgemeinschaft“ begriffen werden kann, jedoch der „Kern für einen gemeinsamen Grundwertebestand“ existiert. Dem kann nicht widersprochen werden, v. a. wenn man die historische Dimension dieses Zustandes bedenkt: Erst nach dem Zweiten Weltkrieg fixierte das gemeinschaftlich organisierte Europa durch Institutionen und Verträge europäische Grundwerte, basierend auf der Tradition der griechischen Philosophie, des römischen Rechts, des christlichen Kulturerbes sowie der Losungen der Französischen Revolution und erweiterte diese durch die Gleichheit von Mann und Frau, die Menschenwürde, die Nichtdiskriminierung und die Solidarität. Hinzu kamen Staatsprinzipien wie Demokratie, Frieden, Gerechtigkeit, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit, Toleranz und Umweltschutz. Erst im Übergang
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Michael Gehler · Paul Michael Lützeler
von den EG zur EU (1991-1993) formierte sich diese zu einer werteorientierten Gemeinschaft. Zuvor war bereits der Europarat mit der EMRK (in Kraft 1953) wegweisend. Die Achtung der Prinzipien der Grundrechte-Charta im Anhang des EU-Vertrags von Lissabon (in Kraft 2009) ist seither Bedingung für eine EU-Mitgliedschaft (Art. 49). Eine Zuwiderhandlung kann zur Suspendierung führen, wobei das Verfahren erst verspätet wie auch der Stimmrechtsentzug nur bei Einstimmigkeit der übrigen Mitglieder erfolgt (Art. 7). Sympathie und Zustimmung mit einem Abweichler führen zu einem zahnlosen Prozedere. So viel nur zum Stichwort „Konfrontation“: Es bleibt dann nur noch die Drohung mit Zahlungsstopp von milliardenhohen Fördergeldern. Bei aller Kritik an der Unbotmäßigkeit einiger der mitteleuropäischen Länder ist nicht zu übersehen, dass auch selbst bei EWGGründungsmitgliedern Beanstandung im Rechtsstaatsbereich und „Konvergenz“ nicht vollständig gegeben ist. Bei zu nachlässigem Agieren der Kommission gegenüber Abweichlern verstärkte das EU-Parlament mitunter auch den Druck auf die Brüsseler Behörde und scheute nicht die Klagswegbeschreitung gegen sie vor dem EuGH. „Divergenz“ besteht auch auf einem anderen Politikfeld: EU-Maßnahmen und mitgliedstaatliches Recht sind in der Asyl- und Migrationsfrage weder einheitlich noch europarechtskonform. Die Dublin-Verordnung von 2013 erwies sich als mangelhaft und kann mit Bezug auf die Grundrechtscharta angefochten werden. Die europäische Asylpolitik wird dem Anspruch von Solidarität nach wie vor nicht gerecht. Im Falle der Türkei wurde durch die Verletzung von Grund- und Menschenrechten wie der Meinungs- und Pressefreiheit ein Beitritt zur EU unrealistisch, was zur Diffusion und Konfrontation führt. Angesichts der heterogenen EU-Mitgliederstruktur, ihrer unterschiedlichen historischen Erfahrungen und politischen Kulturen können Tendenzen zu Diffusion, Konfrontation und Konfusion nicht überraschen. Um eine drohende Aufweichung des Kerns der Wertegemeinschaft zu verhindern, d. h. Divergenz aufzuheben, Konfrontation zu vermeiden, Konfusion zu überwinden, Konvergenz anzustreben und Fusion zu erreichen, sind Visionen erforderlich, zuvorderst aber Anpassungserfordernisse zur Rechtskonformität und Wertekompatibilität unabdingbar. Wie auf innerstaatlicher sind auch auf gemeinschaftlicher Ebene die Regeln der Mehrheitsgesellschaften und ihrer Mitglieder als normgebend zu akzeptieren und zu leben. Alles andere wäre nicht nur eine grundrechtswidrige Missachtung von europäischen Werten und eine ideologisch-motivierte Verkehrung der Realitäten, sondern auch eine demokratiepolitische Unverträglichkeit.
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I. Kontroverse europäische Wertvorstellungen
Silvio Vietta
Europas Werte und ihre globalen Folgelasten I. Wer oder was macht Geschichte oder: Die Mär vom „bösen alten weißen Mann“ Wer oder was macht eigentlich die Geschichte? Die Frage beschäftigt die Geschichtswissenschaft seit langem. Während die ältere Geschichtswissenschaft und -philosophie dazu neigte, den Sinn der Geschichte in immanenten Fortschrittsbewegungen zu sehen, neigt die Gegenwart wieder stark dazu, Menschen – vor allem Männer – für den (bösen) Gang der Geschichte verantwortlich zu machen und letztlich: den „bösen alten weißen Mann“ Europas. Insbesondere Feministinnen tendieren zu dieser Weltsicht, wie auch Sophie Passmanns Buch zeigt einschließlich seines großen Echos in den Medien.1 In den USA werden vielfach die Irrungen und Katastrophen der Geschichte mit den bösen „weißen Männern“ in Verbindung gebracht, insbesondere natürlich mit jenem Rassismus, der die USA praktisch seit ihrer Gründung als ungelöstes Problem verfolgt. Vielfach wird das „Ende des weißen Mannes“ sowohl prognostiziert als auch gefordert.2 Wer oder was hat aber die Geschichte der Neuzeit eigentlich geprägt? War es schlicht der „Weiße Mann“. Hat der „weiße Mann“ auf Grund seiner Hautfarbe die Indianer Nord- wie Südamerikas sowie andere indigene Völker besiegt und fast ausgerottet, weil er eine weiße Hautfarbe trägt? Die Vorstellung ist absurd. Die „Rothäute“ Nordamerikas waren zumeist exzellente Krieger, mutig, kraftvoll, widerstandsfähig. Von ihrer persönlichen Kampfkraft her waren die meisten wohl den weißen Siedlern in Nordamerika überlegen. Und trotzdem sind sie besiegt worden ebenso wie alle anderen indigenen Völker. Wenn es nicht an der Hautfarbe des weißen Mannes lag, woran dann? Die Antwort ist schlicht: Nicht der ‚weiße Mann‘ hat als ‚weißer Mann‘ in der Neuzeit große Teile der Erde unterworfen, sondern das Kultursystem, das er mit sich transportierte, das ihn wie ein Sicherheitskordon umgab: Feuerwaffen, die im Verlaufe der Neuzeit immer weitreichender und präziser wurden, aber auch das System der Finanzierung von Kolonialexpeditionen wie die Gründung der Britischen und Holländischen India-Kompanien 1600 und 1602, die europäi schen Bankengründungen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, die europäische Kartographierung der Erde, die Verbesserung und Sicherung der großen Handelsrouten von Europa aus, die Herstellung hochseetüchtiger Schiffe und Verbesserung der Navigationstechniken, 1 Sophie Passmann, Alte weiße Männer. Ein Schlichtungsversuch, Köln 2019. 2 Siehe Manfred Pohl, Das Ende des weißen Mannes. Eine Handlungsaufforderung, 2. Auflage, Berlin – Bonn 2007.
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Silvio Vietta
die neuen Verwaltungstechniken, kurz das ganze System der Rationalitätskultur einschließlich ihrer Irrationalismen wie die Gier nach Gold, Geld, Grund und Boden, die sie vorantrieb. Schon in der griechischen Antike beherrschten die rationalen Kriegstechniken – im Wesentlichen Phalanxformationen und Kriegsmaschinen – Jahrhunderte lang die damals bekannte Erde.3 Die jahrhundertlange Herrschaft des ‚weißen Mannes‘ war und ist also in Wahrheit die Dominanz eines Kultursystems, das anderen indogenen Kulturen um Jahrhunderte voraus war und machtpolitisch allen anderen Kultursystemen überlegen. Es war sicher nicht besser als diese Kultursysteme, aber stärker. Selbst kleine Kampfverbände der Spanier konnten so in Mittelamerika die großen Heere der Azteken und Inkas einschließlich deren schon hochentwickelten Kulturen überrennen und besiegen. Was ist das für ein Kultursystem, das damals und bis heute über machtpolitische Dominanzen entscheidet? Denn nicht der ‚weiße Mann‘ hat die Welt erobert, sondern seine Rationalitätskultur. Diese aber ist überhaupt nicht an den ‚weißen Mann‘ gebunden und kann von anderen Kulturen übernommen und verbessert werden. Es ist in der heutigen globalisierten Gesellschaft sogar so, dass ganz andere Ethnien, Phänotypen und Länder sich an deren Spitze gesetzt haben wie die Asiaten: Japaner, Koreaner, Chinesen, auch Inder. Über Macht und über finanziellen Erfolg eines Landes, eines Kontinents, einer Region und eines Volkes entscheidet aber in der globalen Gesellschaft der Rationalitätsstandard dieser Weltregion. Es ist der Rationalitätsstandard, der über die Produktivität einer Region, damit das Einkommen und den technischen Standard der internen Organisation, Wohlstand, Verteidigungsfähigkeit u. a. entscheidet. Anders formuliert: Die Kritik am ‚weißen Mann‘ betrifft eigentlich nur eine Äußerlichkeit: Dass die ersten Vertreter dieser dominanten Kulturform weißhäutig waren. Damit hat aber die Kulturform selbst nicht so viel zu tun. Und wie gesagt: Diese ist unterweilen gar nicht mehr nur in den Händen von Weißen, sondern in den Händen einer globalisierten Gesellschaft und deren Avantgarden. Die Unterscheidung von Weiß-sein von Personen und deren Kulturformen sollen sicher nicht die Brutalitäten, die von weißen Eroberern und Siedlern unter dem Schutz ihrer überlegenen Kulturformen gegen Indigene begangen wurden, negieren oder gar entschuldigen. Es waren und sind furchtbare Verbrechen darunter. Darauf kommen wir zurück. Aber es soll den Blick dafür schärfen, dass die Kategorie der Whiteness nicht das Essentielle einer westlichen Wertewelt beschreibt, eben weil sie nur ein körperliches, sprich phänotypisches Merkmal benennt. Dass die Kulturform daran nicht hängt, zeigt sich an der globalen Übertragbarkeit der europäischen Kultur, der sich heute die Weltzivilisation mit unterschiedlichen Erfolgen verschrieben hat. 3 Siehe Silvio Vietta, Rationalität. Eine Weltgeschichte, München 2012, mit Kapiteln über die Geschichte der rationalen Naturwissenschaften wie der Rationalisierung der Raumplanung, Zeitmessung, Kriegstechnik einschließlich deren Expansionsgeschichte, Geldwirtschaft u. a.
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Europas Werte und ihre globalen Folgelasten
Die Frage lautet also: Was also macht die europäische Wertewelt aus und wo entstand sie? Werfen wir einen Blick zurück in die Anfänge und die Erfindung der Rationalitätskultur.
II. Die Geburt der europäischen Wertewelt Es sind vor allem drei Wertefamilien, die Europas Geschichte geprägt haben und heute die Weltgesellschaft: 1. die Rationalitätskultur, 2. die jüdisch-christliche Religion und 3. der nationale Patriotismus.4 Fragen wir zunächst: Was sind eigentlich Werte? Man kann Werte vorläufig definieren als kollektive Leitvorstellungen für unser Denken und Handeln. Ich bezeichne mit ‚Werten‘ also nicht nur Hochwerte, sondern eben solche, die unser Denken und Handeln real gesteuert haben und steuern. Alle Menschen haben Werte, nach denen sie bewusst oder unbewusst denken und handeln. Werte haben also Steuerungsfunktion. Der Eine stellt Leistungswerte an die Spitze seines Handelns, ein Anderer soziale Werte, ein Dritter religiöse Werte, wieder ein Anderer patriotische Werte. Vor unserem inneren Auge entstehen sogleich Typen von Menschen, die die einen oder anderen Werte vertreten. Aus Werten werden auch persönliche Haltungen, „Tugenden“, generiert: Demut, Mildtätigkeit, Disziplin, Leistungsbereitschaf und Vaterlandsliebe aus den je unterschiedlichen Wertefamilien. Ich spreche von Wertefamilien, weil Werte nicht eigentlich strenge Systeme bilden. Man sagt ja, der oder jener Wert ist mit diesem ‚verwandt‘. Werte sind Markenzeichen auch von Parteien (christlich, sozial, liberal, kommunistisch, usw.). Historisch gesehen können ganze Epochen nach ihren Leitwerten oder Dominanten unterschieden werden und das ist ja auch schon ein gängiges Prinzip der Historiographie, wenn wir vom ‚christlichen Mittelalter‘ oder dem auf rationaler Produktion und Finanzwirtschaft beruhenden „Industriezeitalter“ sprechen.
Beginnen wir mit der Rationalitätskultur. Sie ist eine in der Geschichte der Menschheit neue Form der Wissenskultur, basierend auf dem Denkvermögen (griechisch lógos, lat. ratio), zu4 Ich beziehe mich im Folgenden auf mein Buch: Europas Werte. Geschichte – Konflikte – Perspektiven, Freiburg/Breisgau 2018. Zur politischen Geschichte von Europa siehe: Michael Gehler, Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt. Reinbek 2018. Die Hoffnungen, die sich mit dem modernen Europa verbinden und einen literarisch-essayistischen Ausdruck gefunden haben, hat Paul Michael Lützeler analysiert: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1992.
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nächst mit dem Ziel, den Kosmos, die Natur, selbst ‚rational‘ zu verstehen. Rational verstehen heißt: Die Natur nicht mehr aus dem Wirken mythischer Mächte – Göttern oder einem Gott – herzuleiten, sondern aus erkennbaren Gründen kausallogisch zu verstehen. So wird die Welt bei den vorsokratischen Philosophen hergeleitet aus materialen Stoffen wie Wasser (Thales von Milet), Feuer (Heraklit), Atomen (Demokrit), Zahlen (die Pythagoreer). Götter kommen nicht mehr vor oder nur noch marginal wie bei Parmenides, dem die Göttin Dike den wahren Weg des lógos weist. Der griechische rationale Kosmos ist aber ansonsten eine von Göttern gereinigte Welt, allein und nur mit dem Verstand zu erfassen, nicht mit den Sinnen oder dem Gefühl. Dabei geht es nicht nur um das Verstehen von Welt, sondern auch um praktische Anwendung und technische Neugestaltung. Und dabei macht insbesondere die Idee, die Welt mathematisch-geometrisch zu verstehen und zu gestalten, eine furiose Karriere in der Weltgeschichte. Die Griechen hatten noch eine einfache Mathematik. Sie kannten nicht die Zahl ‚0‘. Sie kam erst 1500 Jahre später aus Indien über die arabische Kultur nach Europa. Sie hielten die Zahlen auch für reale Wesenheiten und nicht für eine menschliche Kognitionsform. Aber die Idee, die Welt rein quantitativ zu erfassen und zu gestalten, wurde von den Pythagoreern verfolgt, und das bedeutete in der Tat eine Kulturrevolution. Die Griechen gingen daran, den Raum geometrisch zu vermessen, Städte geometrisch anzulegen wie die von den Persern zerstörte Stadt Milet Mitte des 5. Jh.s. v. Chr.: mit rechtwinkligen Straßen und Häuserblocks. Sie haben auch die Geldwirtschaft übernommen, also Waren und Dienstleistungen quantitativ zu bewerten. Sogar die Ästhetik der menschlichen Skulptur wird geometrisch proportional konstruiert. Schließlich haben die Griechen auch Kriegsformationen geometrisch angeordnet – die Phalanxformation – mit der sie die übermächtigen Perser 490 v. Chr. bei Marathon besiegen konnten. Sie erfanden und entwickelten somit eine rational-rechenbasierte Kultur –, und diese hat sich über die Jahrhunderte zur globalen Leitkultur entwickelt. „Und in der Tat hat ja alles, was man erkennen kann, Zahl“, schrieb schon Philolaos, ein Pythagoreer und Zeitgenosse des Sokrates. Und er fährt im selben Fragment fort: „Denn es ist nicht möglich, irgendetwas mit dem Gedanken zu erfassen oder zu erkennen ohne diese.“5 Man kann sagen: Das gilt erst recht im Zeitalter der Computer und der Durchdigitalisierung der Welt. Das eigene, möglichst quantitative Erkennenwollen ist nicht nur ein, es ist der Leitgedanke der abendländischen Rationalitätskultur. Aristoteles definiert den Menschen als ein „denkendes Lebewesen“ („zōon lógon échōn“, lat. „animal rationale“).6 Der deutsche Philosoph Immanuel Kant leitet aus der Denkanlage die zentrale Forderung aller Aufklärung ab: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“7 Und das Denksystem, das 5 Zitiert in: Hermann Diels, Fragmente der Vorsokratiker, Hamburg 1957, 19. 6 Aristoteles, Politeia 1253a. 7 Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, hrsg. und eingeleitet von Jürgen Zehbe, 2. verbesserte Auflage, Göttingen 1975, 55.
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sich dabei im wissenschaftlichen Bereich am nachdrücklichsten durchgesetzt hat, ist das der Mathematik einschließlich der Geometrie. Nun kann man einwenden: Haben denn nicht andere Kulturen auch gedacht und sogar hohe Formen von Mathematik entwickelt? Ja, natürlich. Die Griechen haben ja auch von ihren Nachbarkulturen viel übernommen: Die Geometrie von den Ägyptern, die Zahlenlehre von den Babyloniern, das Alphabet von den Phöniziern, wie schon Herodot wusste. Aber das Wissen in diesen archaischen Nachbarkulturen war immer geheimes Priesterwissen. Erst die Griechen erfinden die Philosophie-Wissenschaft – sie waren damals noch eins und ungetrennt – als ein offenes Erkenntnisprojekt auf rationaler Basis und verhandelbar in einer öffentlich-kritischen Diskussion. Die allerdings war auch mit Gefahren behaftet. Der erste Athener Philosoph Anaxagoras wie auch Sokrates wurden der Gottlosigkeit („asébeia“) angeklagt. Anaxagoras floh, Sokrates blieb. Er trank den Schierlingsbecher im Gefängnis, auch um sich keiner Blöße vor seinen Anklägern zu geben. Wie gesagt: Die quantitativ-mathematische Erkenntnisform war über die Jahrhunderte hinweg enorm erfolgreich. In der Neuzeit knüpften Kopernikus, Galilei, Descartes, Leibniz daran an. Heute beherrscht diese Erkenntnisform den ganzen Globus. Die Welt wird heute mathematisiert, digitalisiert, computerisiert, roboterisiert. Wie erwähnt, steht heute Europa gar nicht mehr in der vordersten Front. Andere Länder wie die USA, Japan, China, Indien haben die einst europäische Leitkultur der mathematischen Naturwissenschaften und Technik übernommen und bilden heute darin vielfach die Avantgarde. Denn die mathematischtechnische Zivilisation ist zur globalen Leitkultur geworden. Die Entdeckung des eigenen Denkens hatte auch enorme politische Folgen: sie veränderte das System der Politik. Die Griechen haben ihre Tyrannen vertrieben und ihre Freiheit verteidigt gegen die Übermacht der Perser in den historischen Schlachten von Marathon 490 v. Chr. und Salamis 480 v. Chr. Es gelang ihnen mit der erwähnten Strategie der Phalanx zu Lande und zu Wasser mit ihren kleinen wendigen Schiffen die persische Satrapie aus Griechenland zurückgeschlagen und so die auf dem eigenen Denken und Handeln begründete freiheitliche Demokratie allererst zu begründen und zu verteidigen. In einer berühmten Rede 431 v. Chr. preist Perikles ihre Vorteile, darunter auch Toleranz gegenüber Andersdenkenden.8 Weitere Werte der Wertefamilie der Rationalitätskultur sind, die Suche nach Wahrheit. Dazu gehört auch Kritikfähigkeit, Schulung des eigenen Denkens, also: Bildung der eigenen Individualität als Leitideen der europäischen Kultur und mit entsprechenden Institutions gründungen wie der Agorá als Platz für demokratische Abstimmungen, Gymnasien und Akademien für die Bildung. Eine große Leistung vor allem der römischen Antike war die Erfindung einer rationalen Rechtsordnung mit Prinzipien und Rechtsformen, die auch heute noch Leitwerte der Rechtsprechung sind. Gut angewandt gewähren sie dem Bürger Rechtssicherheit. Das waren zunächst nur die männlichen Vollbürger Athens, in der Geschichte der 8 Über diese Rede berichtet Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Buch 2, Kapitel 37 ff.
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Demokratie aber – zumindest nominell – alle Bürger. Und immer ist Freiheit die Bedingung der Möglichkeit eines selbstbestimmten politischen Lebens. Aber auch Wehrhaftigkeit in der Verteidigung der Werte, insbesondere der Werte der Freiheit und Demokratie. Schließlich der Wert der Technizität als praktische Umsetzung von Rationalität in Technik auf den verschiedensten Anwendungsgebieten. Insbesondere die Technizität hat für die jahrhundertelange machtpolitische Überlegenheit Europas im Zeitalter der Kolonisierung gesorgt, in dem die Welt von Europa aus kartographiert, erobert und kolonisiert wurde, – und dies mit technischer Überlegenheit der Waffen, aber zumeist schlimmen Folgen für die indigenen Völker. Seit der Erfindung der Elektrizität im 19. Jahrhundert und der damit möglich gewordene elektrischen Kommunikation – Telegraph, Telefon, Radio, Fernsehen, Internet, elektrische Antriebe – wurde die heutige Weltgesellschaft hergestellt. Wir erleben allerdings in unserer Gegenwart, dass vielfach die Naturwissenschaften und die Technik aus Europa in andere Kontinente übernommen und eigenständig weiterentwickelt wurden und werden, nicht aber die Werte der Demokratie, Freiheit, Persönlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte. Während die erste Wertefamilie der Rationalitätskultur eine stark säkularisierende Wirkung zeitigt, entfaltet die Wertefamilie der religiösen Werte ein ganz anderes, fast gegensätzliches Programm. Wenn die Gruppe (A) in erster Linie Wissens-Werte und entsprechende Verhaltensformen definiert, so die Gruppe (B) Glaubens-Werte: Die antike Welt war wenig karitativ. Wer arm oder krank oder schwach war, wurde deshalb nicht geschätzt, sondern verachtet. Das Christentum dreht diese Werthierarchie um. Bekannt ist das Jesuswort, das von Matthäus, Markus und Lukas überliefert ist: „Aber viele, die die Ersten sind, werden die Letzten, und die Letzten werden die Ersten sein.“9 Darin steckt eine Temporalbestimmung: Die heute die Ersten sein mögen, werden später oder am Ende eben die Letzten sein. Ein Riesentor zur Hoffnung auf ein Jenseits zum Diesseits, welches das Christentum aufstößt, und bekanntlich haben sich auch viele Menschen der Unterschichten – Sklaven, einfache Soldaten u. a. – dem frühen Christentum angeschlossen. Von besonderer Bedeutung sind also in der christlichen Religion karitative Werte wie Armenfürsorge, Nächstenliebe, Empathie für Arme und Kranke, die Idee der Gleichheit der Menschen, da sie Gott als gleiche nach seinem Ebenbild geschaffen hat, sowie Friedfertigkeit („Wer das Schwert nimmt, soll durchs Schwert umkommen“ Mt 26.52). Schließlich: Nachhaltigkeit, also Erhaltung der Schöpfung, ein Wert, der in unserer gegenwärtigen Klimakrise immer bedeutsamer wird. Die ersten Armenhäuser und Krankenanstalten entstanden im Umfeld mittelalterlicher Klöster und Kirchen. Mit der Aufklärung wurden diese Funktionen vielfach schon verstaat-
9 Mt 19.30, auch 20.16, ähnlich Mk 10.31 und Lk 13.30. Wahrscheinlich also ein originales Jesus-Wort, wenn drei Evangelisten es fast wörtlich mitteilen.
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licht. Sie führten im 20. Jahrhundert zum modernen Sozialstaat, wie er heute in Deutschland, beispielhaft und auch mit enormen Kosten praktiziert wird.10 Schließlich und letztlich die Wertegruppe (C): Der Patriotismus mit Wertschätzung der eigenen Nation, der Muttersprache, der Familie und der Heimat. Diese dritte Wertefamilie entspringt bereits in der Antike und erfährt im 19. Jahrhundert eine große Renaissance. Sie hat es im Augenblick am Schwersten. Sie wird diffamiert als egoistisch und europafeindlich. Aber da verwechselt man auch ‚nationales‘ mit ‚nationalistischem‘ und ‚chauvinistischem‘ Denken. Das Europa, das dessen Gründungsväter angedacht hatten, war immer ein „Europa der Vaterländer“, wie dies de Gaulle formulierte. Und wie auch anders? Der Nationalstaat ist nach wie vor die Instanz, die unser Leben am nachhaltigsten regelt durch Infrastrukturen, Bildungseinrichtungen und die genannten Sozialleistungen.
III. Europäischer Kolonialismus mit den Folgelasten einer pervertierten Europäischen Wertewelt Eine interessante Frage ist es, wie es kleinen Stadtstaaten wie Rom in der Antike, kleinen europäischen Ländern wie England, Holland, Spanien und Portugal in der Neuzeit möglich war, die zu ihren Zeiten bekannte Erde zu unterwerfen und Jahrhunderte lang zu kontrollieren. Brasilien ist über 90mal so groß wie Portugal, England kontrollierte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein Viertel der Erdmasse. Diesen kleinen Staaten standen riesige Räume und Millionen von Indigenen gegenüber. Wie war die Bildung von Weltreichen schon in der Antike und wie war der neuzeitliche Kolonialismus überhaupt möglich? Wir fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit jener Weltmachtspolitik, die in der Tat Antike und Neuzeit prägten. Die Antwort lautet sicher nicht: Weil die Eroberer weiß und die Eroberten rot, schwarz oder andersfarbig waren. Ginge es nach der ‚Whiteness‘, hätten die Kelten und Germanen die Römer besiegen müssen. Dass es umgekehrt war und die kleinen Europäer ganze Kontinente kolonisierten, hat mit der Hautfarbe überhaupt nichts zu tun, wohl aber mit dem Rationalitätsstandard der Kulturen, die aufeinander trafen, insbesondere mit der militärischen Entwicklung. In Amerika trafen Feuerwaffen auf Kriegsformationen aus früheren Epochen. Das war der entscheidende Unterschied. Ich möchte im Folgenden auf den neuzeitlichen Kolonialismus eingehen und auf die Werte, die ihn ermöglicht haben. Zunächst muss man sagen: Der europäische Kolonialismus hat sich im Laufe seiner über 450jährigen Geschichte stark gewandelt. Er war am Anfang stärker religiös motiviert. Die spanischen Könige und auch Portugal wollten – unter dem 10 Zur Geschichte der Sozialfürsorge siehe Christoph Sachße und Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bde I-IV, Stuttgart 1980 ff.
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Schutzschild des Papstes und der katholischen Kirche – mit der Kolonisation in Mittel- und Südamerika auch den ‚wahren Glauben‘ in diesen neuen Territorien verbreiten und damit auch eine Kompensation schaffen für die verlorenen Kreuzzüge im Nahen Osten.11 Die Pilgrimfathers fuhren nach Nordamerika, um dort eine neue christliche „City upon the Hill“ zu gründen, also eine Erneuerung des Christentums.12 Im Verlauf der Jahrhunderte schwächte sich diese religiöse Motivation ab zugunsten der materiellen ökonomischen Motive, die freilich von Anfang an dabei waren. Umgekehrt blieb bis zum Ende die religiöse Motivation erhalten wie beispielhaft die Argumentationen christlicher Missionare im Fall der verspäteten Kolonialmacht Deutschland zeigen. Aber nun die Frage: Wie überhaupt wirkte sich die europäische Wertewelt in der Geschichte der Kolonisierung aus? Schon kurz nach der Invasion spanischer Eroberer in Mittelamerika bemühte sich die philosophisch-juristische Schule der Universität von Salamanca um eine theologische Rechtfertigung dieser Geschichtsprozesse. Die Frage lautet also: Mit welchem Recht drangen spanische Eroberer in Gebiete vor, die bereits von Menschen und ihren indigenen Kulturen und Religionen besetzt waren? Hatten sie überhaupt ein Recht dazu? Diese Frage wird in der gesamten Kolonialgeschichte theologisch ähnlich beantwortet, und dies in katholischen wie protestantischen Siedlungsgebieten. Insofern haben einige der vorgebrachten Argumente, die im katholischen Spanien entwickelt wurden, Modellcharakter für alle von Europa ausgehenden Kolonisationsunternehmungen.13 Im Grunde haben die Überlegenheit der westlichen Kanonen und Gewehre zum Sieg der Invasoren über die zahlenmäßig ja weit überlegeneren Indios geführt. Genau diese machtpolitische Überlegenheit wird auch als Überlegenheit des christlichen Gottes über die ‚heidnischen Götzen‘ und Götter gedeutet und damit kommen wir auf das theologische Feld. Hier muss man allerdings berücksichtigen, dass die spanischen Theologen durchaus unterschiedliche Positionen vertraten und einige von ihnen, wie der Dominikanerpater Las Casas, auch heftige Kritik an den spanischen Eroberern und ihren Grausamkeiten gegen die Indios übten. Aber dass die Spanier grundsätzlich ein Recht hätten, die neu gefundenen Länder Amerikas zu kolonisieren, wird von keinem Kirchenmann bezweifelt. Wie aber lauten nun die theologischen Argumente? Theologisch sind es neben dem neutestamentarischen Missionsauftrag in Mt 28, 18–20 vor allem Argumente aus dem Alten Testament, die den spanischen Rechtfertigungsstrategen
11 Siehe Corinna Bucher, Christoph Kolumbus. Korsar und Kreuzfahrer, Darmstadt 2006, 172–175. 12 „City upon a Hill“ ist eine Trope aus einer Predigt John Winthrops an die Puritaner in Anlehnung an Mt 5,14 („Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein.“ (https:// de.wikipedia.org/wiki/City_upon_a_Hill, abgerufen 2.2.2021). 13 Zur englisch-protestantischen Mission siehe: Andrew Porter, Religion versus Empire? British Protestant Missionaries and Overseas Expansion. 1700–1914. Manchester – New York 2004 sowie Karl Hammer, Weltmission und Kolonialismus. Sendungsideen des 19. Jahrhunderts im Konflikt. München 1978.
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den Grund und Boden bereiten. Das verwundert nicht angesichts einer christlichen Morallehre, die nicht nur den Nächsten, sondern auch den Feind zu lieben gebietet.14 Im Alten Testament aber sieht es anders aus. Da gebietet der Gott Israels bei der Eroberung Kanaans in Genesis, Buch Exodus, diese Landnahme. Er befiehlt, dieses Land für das Volk Israel zu erobern. So teilt Gott in Gen 15, 18–21 Abraham direkt die Länder zu: „Deinen Nachkommen will ich dieses Land geben von dem Strom Ägyptens an bis an den großen Strom Euphrat.“ Und er zählt dann all die Völker auf, die damit in die Hände des Volkes Israel fallen, beziehungsweise von Ihnen verdrängt würden. In Gen 12, 2 hatte Gott ‚seinem‘ Volk schon versprochen, es „zum großen Volk“ zu machen, also dieses machtpolitisch zu stärken. Letzten Ende sollen ja auch „alle Menschen auf Erden“ von den drei Söhnen Noahs abstammen (Gen 9, 19). Insofern wäre der Einmarsch in Gebiete, die von anderen Völkern besiedelt sind, nur eine Rückholaktion. Im zweiten Buch Mosis (Exodus) spricht der jüdische Gott noch militanter zu Moses: „Halte, was ich dir heute gebiete. Siehe, ich will vor dir her ausstoßen die Amoriter, Kanaaniter, Hetiter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter. Hüte dich, einen Bund zu schließen mit den Bewohnern des Landes, in das du kommst, damit sie dir nicht zum Fallstrick werden in deiner Mitte; sondern ihre Altäre sollst du umstürzen und ihre Steinmale zerbrechen und ihre heiligen Pfähle umhauen.“ (Exod. 34, 11–13). Der eifersüchtige und kriegslüsterne Gott Israels rät hier seinem Volk zu Invasionen von nicht geringem Ausmaß von Kanaan bis Anatolien und dies nicht in versöhnlicher Absicht, sondern durchaus im wörtlichen Sinne umstürzlerisch und intolerant in Bezug auf deren Kulte und Götter. Es ist der eine und allmächtige Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde, Meister auch über alle Geschichte, wie ihn Jesaja 44, 24–28 schildert, der auch die anderen Völker wie die Perser und ihren König Kyros lenkt und somit Oberhaupt der Weltgeschichte selbst dort ist, wo das Volk Israel besiegt wird und in Gefangenschaft gerät. Mit diesen Argumenten aus dem Alten Testament im Gepäck mussten die spanischen wie auch puritanischen Theologen nur einen kleinen Gedankenschritt zur eigenen Selbstrechtfertigung vollziehen: Sie mussten das spanisch-christliche, bzw. puritanische Volk mit dem Volk Israel identifizieren. Wenn jenem Gott das Recht zum Einmarsch ins Land Kanaan verliehen hatte, warum sollte dann nicht derselbe Gott den Spaniern oder eben den besonders rechtgläubigen Puritanern das Recht zur Landnahme in Amerika zubilligen? Diese Eroberungs-Argumentation ruhte auch auf dem höheren und höchsten Glaubenssatz: Dass der Gott Israels der allmächtige und einzig wahre Gott sei. Den hatte das Volk Israel auf seiner Seite. Und diesen Gott haben jetzt eben auch die Spanier und andere christliche Eroberer auf der ihren. Denn dieser Glaubenssatz ist in der Tat das Hauptargument für alle christlichen Welteroberer, ob Katholiken, Protestanten, Anglikaner oder Calvinisten: Die Christen vertreten in der Neuzeit den allein wahren Gott, wie ihn das Volk Israel in der Frühzeit der Geschichte 14 Das Jesuswort: „Liebet eure Feinde.“ Mt 5, 44.
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vertreten hat und sie haben damit nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zur Verbreitung des Glaubens an ihn, zur Weltmission. Die Christen – damit die Spanier u. a. – sind, wie die Israeliten ehemals, das auserwählte Volk Gottes. Die Erde ist die Erde des HERRN, er hat sie geschaffen und somit sind die Christen befugt, sie für ihn (rück)zuerobern. Die Siege über die Indios sind daher auch Siege des wahren Gottes über falsche Götter und Götzen. Wie Bernhard von Clairvaux im Mittelalter Jerusalem zum Patrocinium der Christenheit erklärte, erklären jetzt spanische, u. a. Theologen wie der Großinquisitor Torquemada die ganze Welt zum „orbis christianum“: „Ein Volk, ein Reich, ein Glaube“.15 Man kann auch sagen: Mit dieser ‚christlichen‘ Überhöhung der neuzeitlichen Welteroberung beginnt auch ein neuzeitlicher Totalitarismus. Besonders für den Katholizismus gilt dabei: An die Stelle des christlichen Staates des Mittelalters ist in der Neuzeit ein „Staatschristentum“ getreten, in dem die Religion zentrale welt-integrierende Funktion erfüllt und den spanisch wie portugiesisch christlichen Königen das Recht gibt und sogar die Pflicht auferlegt zur Eroberung der ganzen Erde. Dabei hat sich nun das Verhältnis von Kirche zu Staat in der Neuzeit umgekehrt. Im Mittelalter war der Papst die treibende politische Kraft bei den Aufrufen zu den Kreuzzügen gewesen, in der Neuzeit lassen sich die spanischen und portugiesischen Könige vom Papst das Recht zur Kolonisierung der Neuen Welt auftragen.16 Damit verfügen sie auch über die im mittelalterlichen Investiturstreit stark umkämpften Rechte, dort Bistümer zu gründen, Bischöfe zu ernennen, um die christliche Mission dort durchzusetzen. In dem Vertrag von Tordesillas von 1494 wurde die Welt vom Papst Alexander VI. auf einer nord-südlichenLinie entlang der Kapverdischen Inseln in zwei Hälften aufgeteilt und verteilt: Alle Länder westlich sollten die Spanier erhalten, alle Länder östlich die Portugiesen. Der Vertrag wurde mehrfach korrigiert, dem schlauen und gut informierten Verhandlungsführer Portugals, Duarte Pacheco Pareira, gelang es, die Trennungslinie nach Westen zu verschieben und so ganz Brasilien einzuhamstern. Länder wie Frankreich und England waren verärgert, dass sie beim Weltverteilungsschacher leer ausgingen. Mitte des 16. Jahrhunderts formulierte der Theologe Juan López de Palacios Rubios 1513 ein „Requerimiento“ – eine ‚gesetzliche Anforderung‘ und ‚rechtliche Ermahnung‘ – mit der die spanisch-katholische Welteroberung rechtstheologisch begründet und so auch in den Kolonien durchgesetzt werden sollte. Der Text argumentiert im Namen der spanischen Könige mit drei zentralen Forderungen und auch Drohungen, und dies nun als Hauptrichtlinie für die Eroberung neuer Territorien17:
15 Mariano Delgado (Hrsg.), Gott in Lateinamerika. Texte aus fünf Jahrhunderten. Ein Lesebuch zur Geschichte, Düsseldorf 1991, 22. 16 Siehe Horst Pietschmann, Staat und staatliche Entwicklung am Beginn der spanischen Kolonisation Amerikas, Münster 1980, 50. 17 Abgedruckt in Delgado, Gott in Lateinamerika, 72–76.
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Erstens: Seit Adam hat sich die Menschheit vervielfacht. Aber Gott hat Petrus beauftragt – und damit den Papst –, „daß er über alle Menschen auf Erden Herr und Meister sei, dem alle zu gehorchen“ haben. Zweitens: Der von Gott beauftragte Papst hat den katholischen Königen Spaniens die eroberten Inseln und Festlandsgebiete übertragen sowie die neu eroberten Gebiete als ihre Herrschaftsgebiete zugewiesen. Die indigenen Völker haben damit die Pflicht, „daß ihr [die Indigenen] die Kirche als Oberherrn der ganzen Welt und in ihrem Namen den Hohenpriester, Papst genannt, sowie an seiner Statt seine Majestät als Herrn und König dieser Inseln und dieses Festlandes […] anerkennt […].“ Ordensbrüder sollen den Indigenen dies genauer erklären. Drittens: Wenn die Indigenen damit einverstanden sind, soll ihnen nichts Widriges angetan werden. Man soll sie auch nicht „zwingen“, Christen zu werden. Wenn sie sich aber nicht unterwerfen und Widerstand leisten, dann drohe ihnen ‚gerechter Krieg‘: „Wenn ihr das aber nicht tut und böswillig zögert, dann werde ich [im Auftrag des spanischen Königs], das versichern wir euch, mit Gottes Hilfe gewaltsam gegen euch vorgehen, euch überall und auf alle nur mögliche Art mit Krieg überziehen, euch unter das Joch und Gehorsam der Kirche und seiner Majestät beugen, eure Frauen und Kinder zu Sklaven machen, sie verkaufen und über sie nach dem Befehl Seiner Majestät verfügen. Wir werden euch euer Eigentum nehmen, euch schädigen und euch Übles antun, soviel wir nun können […].“ Also nicht nur eine Rechtfertigung der Invasionen gegenüber den Indigenen, sondern auch die Androhung ihrer Versklavung bei Widerstand. In Nordamerika vollzog sich die Kolonisation anders. Während die Spanier sich nicht in großer Zahl in den Kolonien ansiedelten, wurde Nordamerika durch Wellen von Aussiedlern in Besitz genommen, also ein nordamerikanischer Siedlungskolonialismus gegenüber einem spanisch-portugiesischen und auch französischen Ausbeutungskolonialismus. Das war allerdings ein Prozess, der für die einheimische Bevölkerung noch vernichtender war als die spanische Invasion. Die Indianer Nordamerikas waren nicht für die Zwangsarbeit zu rekrutieren und die Siedler verachteten sie, weil sie ihr Land ‚ungenutzt‘ ließen. Die ‚Wilden‘ erschienen vielen Siedlern als „Söhne des Satans“. So wurde die einheimische Bevölkerung der Indianer Nordamerikas von Anfang an, aber verstärkt noch einmal im 19. Jh., brutal zurückgedrängt und ausgerottet: Der „American Holocaust“, wie das der amerikanisch Soziologe David Stannard nennt.18 „Die Zahl der Native Americans“ verringerte sich innerhalb von hundert Jahren nach dem ersten Kontakt mit den Europäern um schätzungs-
18 David E. Stannard, American Holocaust. Columbus and the Conquest of the New World, Oxford 1992. – Jürgen Habermas’ Vereinnahmung des Holocaust im sog. „Historikerstreit“ als alleiniger deutscher Schuld ist in mehrerlei Hinsicht nicht zu halten. Der Holocaust begleitet die europäische Geschichte der Neuzeit von Anfang an, dies auch in der Form des Klassozid, aber natürlich auf dem jeweiligen Stand der Waffen- und Vernichtungstechnik.
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weise 90 Prozent.“19 Dabei wirkten neben den Feuerwaffen auch die von den Europäern eingeschleppten Krankheiten verheerend unter den Indianern. Und der Alkohol. Kein Geringerer als Benjamin Franklin – immerhin einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika –, sinnierte bei einem Rumgelage 1749 über dieses Mittel zur Indianervernichtung: „Und in der Tat, wenn es die Absicht der Vorsehung ist, diese Wilden auszurotten, um Platz für die (wirklichen) Kultivatoren der Erde zu machen, scheint es nicht ausgeschlossen, dass der Rum das auserwählte Mittel ist.“20 Zur Perversion der nordamerikanischen „Ausrottungs“-Politik vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert gehörte, dass sie sich als eine Art Gottes-Plan („Vorsehung“) eines auserwählten Volkes begriff, das mit seinem rationalen Zivilisationskonzept Gottes Willen auf Erden umzusetzen glaubte, um Amerika gewaltsam und unter Vernichtung großer Teile seiner Ureinwohner in ein „himmlisches Jerusalem“ zu verwandeln. Alle Widersacher – und als solche sah man eben die Indianer – waren damit „Widersacher Gottes“, „Kinder des Satans“ und „Unrat“. Sie wurden dementsprechend verfolgt und vernichtet. Der „American Holocaust“ als Begleiterscheinung der Demokratisierung der USA ist deren „Dark Side“ und radikalisierte sich noch einmal im 19. Jahrhundert, als sich die American Frontier immer weiter nach Westen vorschob. Der amerikanische Historiker Michael Mann hat diese „dunkle Seite der Demokratie“ eingehend beschrieben.21 Auch in Nordamerika übernahmen Theologen unter diesen Eindrücken Schutzfunktionen für die Indios, so der Quäker William Penn in Nordamerika, der es als ein „heiliges Experiment“ ansah, europäische Siedler und Indianer friedlich zu vereinen. Der Name „Philadelphia“ (Bruderliebe) erinnert an dieses Projekt. Und die sog. „Monroe-Doktrin“ von 1823 forderte geradezu ein Ende der europäischen Kolonialpolitik. Diese Doktrin diente allerdings auch der Einhegung Amerikas als amerikanischer Interessenzone. In Mittel- und Südamerika waren es die Dominikanerpater Antonio Montesinos und der erwähnte Bartholomé de Las Casas, die schon sehr früh gegenüber ihren Landsleuten eine kritische Funktion einnahmen. Montesinos wetterte in einer berühmten Adventspredigt von 1511 in Santo Domingo, „daß ihr [Spanier] alle in Todsünde lebt und darin sterben werdet wegen der Grausamkeit und Tyrannei, die ihr diesen Unschuldigen gegenüber anwendet. Sagt, mit welcher Berechtigung und mit welchem Recht haltet ihr diese Indios in so grausamer und schrecklicher Sklaverei? […] Sind sie keine Menschen? Haben sie keine vernunft19 Eckert, Andreas, Kolonialismus. Frankfurt/Main 2006, 27. 20 „And indeed if it be the Design of Providence to extirpate these Savages in order to make room for Cultivators of the Earth, it seems not improbable that Rum may be the appointed Means.“ https://de.wikiquote.org/wiki/ Benjamin_Franklin, abgerufen 5.1.2021. 21 Michael Mann, Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung. Aus dem Englischen von Walter Roller, Hamburg 2007. Es ist übrigens bemerkenswert, dass eine jüngere Geschichte der Vereinigten Staaten, die sich kritisch gibt in Beziehung auf die Rassensegregation, die Indianervernichtung nicht zu ihrem Thema macht: Jill Lepore, These Truths. A History of the United States, New York 2018. Um diese „Wahrheiten“ macht Lepore einen großen Bogen.
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begabten Seelen? Seid ihr nicht verpflichtet, sie zu lieben wie euch selbst?“22 Hier erinnert einer an den ursprünglich christlichen Auftrag in einer Sklavenhaltergesellschaft, in welcher – wie Montesinos auch ausführt –, die indianischen Sklaven in ihrem Übermaß an Arbeit und Fronlast nicht einmal genug zu essen bekommen. Wie gesagt: Mit der Kolonisierung der Neuen Welt entbrannte auch ein Konkurrenzkampf der Völker Europas um die Verteilung der Erde. Damit kommt der dritte Werteblock – Patriotismus und Nationalismus – in seiner negativen Form ins Spiel. Kolonialpolitik ist von Anfang an und wird immer mehr zu einem Konkurrenzkampf der europäischen Natio nen um die größten Territorien, Rohstoffquellen, Absatzmärkte, Herrschaftsgebiete, dies auch im Kampf mit den USA. Dieser Krieg der Nationen artete im 19. Jahrhundert aus zur Verteilungsschlacht um Afrika, dem sog. „scramble for Africa“, und führte Anfang des 20. Jahrhunderts im Zeitalter des Imperialismus fast konsequent in einen Ersten Weltkrieg zwischen den imperialen Großmächten um die Weltherrschaft. In allen Phasen des Kolonialismus war ein Hauptargument für die Vereinnahmung von Kolonien auch die nationale Positionierung eigener ökonomischer Interessen. Das gilt auch für die vergleichsweise spät gewonnenen deutschen Kolonien. Dabei sollte die Kolonisierung in Deutschland auch innenpolitisch wirken und die Arbeiterschaft von revolutionären Zielen ablenken. Deutschland brauche schließlich auch „einen Platz an der Sonne“, rief der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Bernhard von Bülow, in einer Reichstagsdebatte 1897. Die Kolonialpolitik sollte eine gesamtdeutsche Zielsetzung sein.23 Welche Rolle nahm die christliche Mission dabei ein? Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der evangelische Theologe Friedrich Fabri für einen deutschen Kolonialismus geworben und in der „Rheinischen Mission“ dafür geeignetes Personal ausgebildet. Seine Broschüre „Bedarf Deutschland der Kolonien?“ von 1879 brachte er das Thema auch in eine breitere Öffentlichkeit.24 Fabri führte verschiedene Gründe an: Armutsbekämpfung in Deutschland, Entwicklung der Kriegsmarine, Schutz des Handels und der deutschen Handelsmacht sowie Verbreitung der deutschen Sprache und Kultur im Ausland, dies sogar in einer möglichst weitgehenden „Handels-Freiheit“. „Gewichtiger freilich noch ist die Erwägung, daß ein Volk, das auf die Höhe politischer Macht-Entwicklung geführt ist, nur so lange seine geschichtliche Stellung mit Erfolg behaupten kann, als es sich als Träger einer CulturMission erkennt und beweist.“25 Im Nacheifern Englands und in Konkurrenz zu Frankreich ging es dabei auch um eine Aufgabe, in welche die neue politische Großmacht Deutschland hineinwachsen müsse: „Cultur-Mission“ als nationale Aufgabe. 22 Delgado, Gott in Lateinamerika, 146–147. 23 https://de.wikipedia.org/wiki/Platz_an_der_Sonne (abgerufen 2.1.2021). 24 https://geschichtsbuch.hamburg.de/wp-content/uploads/sites/255/2016/05/Quelle-Bedarf-Deutschland-derKolonien.pdf, (abgerufen 2.1.2021). 25 https://geschichtsbuch.hamburg.de/wp-content/uploads/sites/255/2016/05/Quelle-Bedarf-Deutschland-derKolonien.pdf, abgerufen 2.1.2021.
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Fabri ging es um eine Verquickung von Mission, nationaler Ökonomie und Politik: „Kolonialmission, Kolonialwirtschaft und [deutsche] Kolonialherrschaft waren in diesem Konzept der Kolonialmission in wechselseitiger Abhängigkeit zu einem magischen Dreieck vereint […].“26 Generell betonen die meisten Missionare als einen Hauptakt der Zivilisierung der afrikanischen ‚Heiden‘ und ‚Wilden‘, dass sie denen allererst Lesen und Schreiben sowie die Bedeutung geregelter Arbeit beibringen würden und damit die Indigenen ökonomietauglich machten. Darüber hinaus sieht Fabri in der Missionsarbeit die Vorhut für deutsche Handelsunternehmen und für politische Annexionen. Fabri wie auch viele katholische Missionare vertreten dabei auch einen Rassismus mit starker Abwertung der afrikanischen Völker. Die waren in der europäischen Kulturgeschichte bis dahin – von Ausnahmen wie Herder abgesehen – generell schlecht beleumdet. Kein geringerer als Hegel lässt sich zu vernichtenden Urteilen hinreißen: Es sei die „Unbändigkeit“, urteilt der große Weltphilosoph, „welche den Charakter des Neger bezeichnet. Dieser Zustand ist keiner Entwicklung und Bildung fähig, und wie wir sie heute sehen, sind sie immer gewesen.“27 Hegels Bild unterscheidet sich nur unbedeutend von jenen Reklamebildern, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Umlauf kamen und den „Neger“ genauso darstellen: ‚unbändig‘, tanzend, schreiend, zappelnd, eben einer rationalen Selbstkontrolle nicht fähig.28 Der katholische Chefmissionar Josef Schmidlin, der auch eine „Katholische Missionslehre“ veröffentlichte29, vertrat Positionen, die sich von der protestantischen Mission nicht sehr unterscheiden.30 Das nationale Element: Es sei eben eine deutsche Fahne, die über den deutschen Kolonien wehe, die „Missionare, die hier wirken, sind nicht mehr Franzosen oder Italiener, sondern deutsche Landsleute mit deutscher Sprache und deutscher Sitte“.31 Missionarische Zivilisationsvermittlung definiert Schmidlin so: „Die Mission ist es, die unsere Kolonien geistig erobert und innerlich assimiliert […;] das tiefere Ziel der Kolonial politik, die innere Kolonisation, muss ihm [dem deutschen Staat] die Mission vollbringen 26 Klaus Bade, Der Fall Friedrich Fabri, in: Ders. (Hrsg), Imperialismus und Kolonialmission, Wiesbaden 1982, 110. 27 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Geschichte, Werke Bd. 12, Frankfurt/Main 1970, 123. 28 Die nordamerikanische Entsprechung zu dieser Karikatur ist seit dem frühen 19. Jahrhundert die Figur des „Jim Crow“ („die schwarze Krähe Jim“), ebenfalls tanzend, singend, zappelnd dargestellt, aber auch verschlagen und faul. Die „Jim Crow-Gesetze“ und „Jim Crow“-Schulen dienten in den USA der Rassendiskriminierung und Aufrechterhaltung der Rassenhierarchie. 29 Josef Schmidlin, Katholische Missionslehre im Grundriss, Münster 1919. Sie erschien bereits 1923 in zweiter Auflage, obwohl Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg gar keine Kolonialmacht mehr war. 30 Schmidlin betont allerdings, „daß man in der katholischen Welt im Gegensatz zur protestantischen die Mission stets als etwas Selbstverständliches betrachtet und daher nicht viele Worte darüber gemacht hat“, Schmidlin, Katholische Missionslehre, 40. 31 Georg Evers, Die Anfänge der Missionswissenschaft: Josef Schmidlin in Münster, in: Silke Hensel/Barbara Rommé (Hrsg.), Aus Westfalen in die Südsee. Katholische Mission in deutschen Gebieten, Berlin 2018, 54– 55; Schmidlin hat sich auch durch eine vierbändige Papstgeschichte einen Namen gemacht.
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helfen“. Noch aggressiver heißt es: Nur die Mission bringe „die seelische Unterwürfigkeit und Anhänglichkeit der Eingeborenen“ zustande.32 Wenn wir resümieren, welche Werte die europäische Kolonialpolitik angetrieben hat, so sind es eben die drei Hautquellen der europäischen, später auch nordamerikanischen Kulturpolitik, aber in pervertierter Form gewesen: Erstens: Die Rationalitätskultur mit ihrer militärischen Überlegenheit, aber eben auch Überlegenheit auf vielen Kulturfeldern wie den ökonomischen Produktions- und Kommunikationsformen, Finanz-, Agrarpolitik u. a. Diese machtpolitisch effizienten rationalen Kulturformen beinhalten aber nicht das Recht, alle anderen Kulturen und deren machtpolitisch unterlegene Völker zurückzudrängen und sogar zu vernichten. Zweitens: Das religiöse Sendungsbewusstsein, abgeleitet vor allem aus dem Alten Testament. Auch das beinhaltet – zumindest in der Form des Christentums – keinerlei Recht, andersgläubige Völker versklaven und vernichten zu dürfen. Zumal in den USA, das seit Thomas Jeffersons grundlegendem, der Bibel entnommenem Satz Verfassungsrang gab: „all men are created equal“, stand solche Machtpolitik gegenüber den Indianern und Sklaven in ständigem Widerspruch mit eben dieser religiösen Fundierung der Verfassung der USA und mit der gesamten Lehre des Christentums. Schließlich das patriotische Argument: Auch dieses beinhaltet – bei allem nationalen Eigeninteresse – kein Recht, andere Nationen und Völker aus ihren Lebensräumen verdrängen und vernichten zu wollen. Die Antike kannte auch nicht solche Vernichtungspolitik. Die Römer unterwarfen Völker, machten sie tributpflichtig und verlangten die Anerkennung der Oberhoheit von Rom, aber ließen ihnen ihren Lebensraum und ihre Kulturen, wenn sie diese Auflagen erfüllten. Das „Imperium Romanum“ verfügte auch über ein differenziertes Bürgerrecht, das den unterworfenen Völkern die Chance gab, sich positiv in dieses zu integrieren.33 Der neuzeitliche Nationalismus verband sich aber schon früh mit einem religiös aufgeladenen Rassismus, der den unterworfenen Menschen vielfach jedes humane Lebensrecht absprach. Die europäische Kolonialpolitik ist also in dreierlei Hinsichten auch eine Form der massiven Perversion der europäischen Wertewelt gewesen und diese Verkehrung der Werte folgt der Geschichte Europas wie ein schwarzer Schatten bis heute. Europa war und ist eben nicht nur eine Werte-, sondern durch dessen kolonialgeschichtliche Pervertierung auch eine Schuldgemeinschaft. Mit dem Schuldbewusstsein kann sich aber auch ein Stolz auf die europäischen Werte verbinden, die ja eben den Maßstab für die Kritik an der Perversion der Werte darstellen und
32 Zitiert in Bade (Hrsg.), Imperialismus und Kolonialmission, XIII. 33 Dazu Kai Ruffing, Rom – das paradigmatische Imperium, in: Michael Gehler/Robert Rollinger (Hrsg.), Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche, Teil I, Wiesbaden 2014, 401–447, hier 426–429.
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dies auch schon in der Zeit der Kolonialisierung.34 Der sog. „scramble for Africa“ fand ja überhaupt erst nach der Verkündigung der menschlichen Grundrechte in der Französischen Revolution statt. Zu den menschlichen Grundrechten auf Basis der europäischen Wertewelt, wie sie auch von den Vereinten Nationen 1948 deklariert wurden, gehören die Rechte der Freiheiten des Individuums einschließlich der Meinungs-, Religions- und Gedankenfreiheit, das Recht auf Leben, der Demokratie als die dem freien Menschen angemessene politische Form sowie das Verbot der Sklaverei. Dazu gehört auch das Recht auf soziale Sicherheit, das in den meisten westlichen Ländern auch die karitativen Werte des Christentums mit ihren sozialpolitischen Leistungen im heutigen modernen Sozialstaat einschließt, diese aber nach eigener Wirtschaftsleitung und Politik sehr unterschiedlich ausgestaltete. Auch die großen Kulturleistungen der europäischen Nationen sind ein Grund, diese mit Stolz zu betrachten und zu bewahren. Europa ist und bleibt auch eine Wertegemeinschaft.
Bibliografie Aristoteles, Politik. Übersetzt von Eugen Rolfes. Philosophische Schriften 6 Bde., Bd. 4, Hamburg 1995. Bade, Klaus (Hrsg), Imperialismus und Kolonialmission, Wiesbaden 1982. Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1999. Bucher, Corinna, Christoph Kolumbus. Korsar und Kreuzfahrer, Darmstadt 2006. Delgado, Mariano (Hrsg.), Gott in Lateinamerika. Texte aus fünf Jahrhunderten. Ein Lesebuch zur Geschichte, Düsseldorf 1991. Diels, Hermann, Fragmente der Vorsokratiker, Hamburg 1957. Eckert, Andreas, Kolonialismus, Frankfurt/Main 2006. Evers, Georg, Die Anfänge der Missionswissenschaft: Josef Schmidlin in Münster, in: Silke Hensel/ Barbara Rommé (Hrsg.), Aus Westfalen in die Südsee. Katholische Mission in deutschen Gebieten, Berlin 2018. Gehler, Michael, Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt. Reinbek 2018. Habermas, Jürgen, Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, in: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, dritte Auflage, München 1987. Hammer, Karl, Weltmission und Kolonialismus. Sendungsideen des 19. Jahrhunderts im Konflikt, München 1978. Friedrich Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Philosophie der Geschichte, Werke Bd. 12., Frankfurt/Main 1970. 34 So haben neben Montesino, Las Casas, William Penn, Montaigne, Herder, die Brüder Humboldt viele andere den Kolonialismus schon heftig als eine Perversion der Humanität kritisiert. Ebenso kritisierten auch viele Kommunisten die Perversion der humanen Ideen des Kommunismus durch die Massenmorde des Klassozids.
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Hensel, Silke und Barbara Rommé (Hrsg.), Aus Westfalen in die Südsee. Katholische Mission in deutschen Gebieten, Berlin 2018. Kant, Immanuel, Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, hrsg. und eingeleitet von Jürgen Zehbe. 2. verbesserte Auflage, Göttingen 1975. Lepore, Jill, These Truths. A History of the United States, New York 2018. Lützeler, Paul Michael, Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1992. Mann, Michael, Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung. Aus dem Englischen von Walter Roller, Hamburg 2007. Passmann, Sophie, Alte weiße Männer. Ein Schlichtungsversuch, Köln 2019. Pietschmann, Horst, Staat und staatliche Entwicklung am Beginn der spanischen Kolonisation Amerikas, Münster 1980. Pohl, Manfred, Das Ende des weißen Mannes. Eine Handlungsaufforderung, 2. Auflage, Berlin – Bonn 2007. Porter, Andrew, Religion versus Empire? British Protestant Missionaries and Overseas Expansion. 1700–1914, Manchester–New York 2004. Sachße, Christoph/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bde I-IV, Stuttgart 1980 ff. Ruffing, Kai, Rom – das paradigmatische Imperium, in: Michael Gehler/Robert Rollinger (Hrsg.), Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche, Teil I, Wiesbaden 2014, 401–447. Schmidlin, Josef, Katholische Missionslehre im Grundriss, Münster 1919. Scholl-Latour, Peter, Die Angst des weißen Mannes. Ein Abgesang, Berlin 2009. Stannard, David E., American Holocaust. Columbus and the Conquest of the New World, Oxford 1992. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg. Vollständige Ausgabe. Übertragen von August Horneffer, Bremen 1957. Vietta, Silvio, Europas Werte. Geschichte – Konflikte – Perspektiven, Freiburg/Breisgau 2018. Vietta, Silvio, Rationalität. Eine Weltgeschichte, München 2012. Vitoria, Franziscus de: DE INDIS RECENTER INVENTIS ET DE JURE BELLI HISPANORUM IN BARBAROS. Vorlesungen über die kürzlich entdeckten Inder und das Recht der Spanier zum Krieg gegen die Barbaren. 1539. Lateinischer Text nebst deutscher Übersetzung, hrsg. von Dr. Walter Schätzel, Tübingen 1952.
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Populismus in, gegen und mit Europa Es ist viel von Populismus die Rede und das ist vor allem auch deshalb so, da man unter „Populismus“ so viel Verschiedenes fassen kann. Die Bedeutung reicht von einem euphemistischen Synonym für Rechtsextremismus bis hin zu jeder Politik, die einem nicht passt und die man für undurchdacht hält, die aber populär sein könnte. Dass aber „die Populisten“ gegen Europa sind, gilt als ausgemacht. Zu zeigen ist aber, dass diese vage Problemdiagnose nicht viel dazu beiträgt, aktuelle Herausforderungen für die europäische Integration durch den Populismus zu verstehen. Dazu muss der Begriff des Populismus geklärt werden, insbesondere des Rechtspopulismus, und es soll aufgezeigt werden, auf welchen Verständnissen von Europa und Grenzziehungen er basiert. Ein antipopulistischer Diskurs hat sich im Gegenzug das Ziel gesetzt, Europa gegen den Populismus zu verteidigen, wobei er allerdings selbst problematische Abgrenzungen vornimmt, wie abschließend argumentiert werden soll.
I. Der Rechtspopulismus Europas Wie in anderen Abhandlungen über den Populismus muss auch hier mit einer Beschreibung dessen begonnen werden, was unter diesem oft vage verwendeten Begriff zu verstehen bzw. nicht zu verstehen ist. Es geht hier um eine spezifische Ideologie, um den autoritären, illiberalen, antipluralistischen, exkludierenden rechten Populismus in Europa1, der nicht auf reine Demagogie zu reduzieren ist. Und ein pejorativer Begriff von Populismus, bei dem immer nur die anderen populistisch sein können, ist wissenschaftlich erst recht wenig fruchtbar. Trotzdem erscheint auch im akademischen Diskurs der Populismus zuweilen als das ganz Fremde, das mit der liberalen und demokratischen Gesellschaft wenig zu tun habe. Populismus kann unter anderem als Ideologie oder Diskurs verstanden werden. Dabei steht jeweils der Gegensatz zwischen einer als Volk und einer als Elite definierten Gruppe im Mittelpunkt.2 Das Verständnis als Ideologie betont, wie verschiedene Konzepte verknüpft 1 Gemeint ist hier nicht ein Linkspopulismus, der sich als liberal und pluralistisch versteht und der die Demokratie wiederbeleben und vertiefen möchte, indem er gerade die unterschiedlichsten politisch vernachlässigten Gruppen im richtigen Moment zu einem „Volk“ bündeln will und sich dadurch gegen die herrschenden Eliten wendet. Siehe Mouffe, For a left populism; Mouffe/Errejón, Podemos. Andere fragen jedoch kritisch, ob sich dieses Versprechen überhaupt einlösen lässt, diese politische Logik nicht zu abstrakt bleibt (siehe Jäger/ Borriello, Left-Populism on trial), und ob dieser Linkspopulismus nicht auch zum Personenkult und zum Nationalismus tendiert, siehe z. B. Fassin, Populisme, und Fassin, The blind spots of left populism. 2 Hierin sind sich die verschiedenen Schulen einig, außer vielleicht diejenige, die Populismus vor allem als
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werden und dadurch einen spezifischen Sinn erhalten3: Das Volk des Populismus ist etwa rechtschaffen, wird als prinzipiell homogen vorgestellt4, ist der Souverän. Die Elite hingegen wird als moralisch verkommen verstanden und repräsentiert das Volk und seinen Willen nicht mehr. Demokratisch sei es dann, den Volkswillen möglichst unvermittelt und energisch umzusetzen. Erst in Kombination mit weiteren Konzepten ergibt sich eine ausgebaute Ideologie wie ein Rechts- oder Linkspopulismus. Der Vorteil eines solchen ideologiebasierten Ansatzes ist es, dass man die Ideologien bzw. ihre Elemente sowohl in Parteiprogrammen als auch in Äußerungen in Politik und Medien oder in den persönlichen Haltungen von Menschen identifizieren und in Beziehung zueinander setzen kann. Wird Populismus theoretisch als Diskurs gefasst, so betont dies wiederum, wie das Volk erst performativ bestimmt wird. So sind Stellungnahmen zu ständig neuen politischen Gegenständen möglich und trotzdem kann eine gemeinsame Bewegung entstehen. Bislang unerfüllte Forderungen und Unzufriedenheiten aus der Bevölkerung werden demnach fortlaufend als äquivalente Probleme miteinander verknüpft (oder „verkettet“), nämlich als Ausdruck eines Gegensatzes zwischen Volk und Elite. Teile der Populismusforschung beschreiben ihren Gegenstand gerne über eine doppelte Abgrenzung, die als „horizontal“ und „vertikal“ charakterisiert wird.5 Bezeichnend für den Rechtspopulismus sei nicht nur die vertikale Unterscheidung von Volk und Elite, sondern auch die horizontale Abgrenzung gegenüber Minderheiten und anderen Nationen. Eine Beschreibung rechtspopulistischer Abgrenzungen als horizontal wäre jedoch euphemistisch. Rechtspopulist*innen nehmen zwar in der Tat oft in Anspruch, dass sie niemanden abwerten möchten, sondern nur das Inkompatible (z. B. verschiedene Völker und Kulturen) auseinanderhalten wollten. Sie würden sich auch lediglich gegen ungerechtfertigte Privilegien von Minderheiten wenden. Exklusion und Abgrenzung ist jedoch immer Ausgeschlossensein von etwas. Würde etwas nicht als Privileg verstanden, gäbe es auch keinen Anlass, andere, die daran teilhaben wollen, auszuschließen. Diese anderen, so wird impliziert, haben dieses Privileg nicht verdient. Es wird eine Hierarchisierung vorgenommen, die nicht immer in einer direkten Abwertung bestehen muss. Die Herabstufung fällt aber nicht selten auch offen menschenfeindlich aus.6 So sehr sich die Vertreter*innen des Rechtspopulismus als Stimmen der Benachteiligten begreifen, so deutlich wird gleichzeitig, dass es in der Sache um die Ver-
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Strategie sieht. Siehe z. B. Mudde/Rovira Kaltwasser, Populism; Laclau, On populist reason; Weyland, Clarifying a contested concept, zu den ideologischen, diskursiven und strategischen Auffassungen. So z. B. die Konzeption von Ideologien bei Freeden, Ideologies and political theory. Solche Unterstellungen der Homogenität sind keinesfalls auf den Rechtspopulismus beschränkt. Dieser treibt sie lediglich auf die Spitze, wenn auch sonst in politischen und sogar akademischen Diskursen eine prinzipielle kulturelle Homogenität einer „Gesellschaft“ (gemeint ist dann natürlich: Nation) unterstellt wird, eine Integration der Gesellschaft durch gemeinsame Werte, einen Gemeinwillen usw. Siehe Krämer, Gesellschaft als Gemeinschaft? Z.B. Jagers/Walgrave, Populism as political communication style. Casullo, Populist discourse on distributive social policies, 279, spricht von „punching downwards“ in Ergän-
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teidigung eines Privilegs geht, das man genießt, aber nicht teilen möchte. Selbst wenn man behauptet, dass die Minderheiten einem selbst gegenüber inzwischen privilegiert seien, so geht es doch darum, dass etwas einem selbst statt diesen Minderheiten zustehe. Als Angehöriger einer Nation habe man selbst – und nicht etwa die Neuankömmlinge – Anspruch auf den „hart erarbeiteten“ Wohlstand und auf Sozialleistungen. Als Mitglied einer heterosexuellen Familie bestehe man mit Recht auf besonderer Wertschätzung und Förderung, nämlich als Person, welche die traditionelle und natürliche Lebensweise wahrt und zum Fortbestand der Nation beiträgt. Es können sogar gewisse Minderheiten instrumentalisiert werden, um wiederum andere Gruppen auszugrenzen. Das eigene Land (bzw. seine Mehrheitsgesellschaft) oder Europa werden als modern, als liberal und aufgeklärt beschrieben. Seine Minderheiten seien aber durch die „rückständigen“, „unaufgeklärten“ anderen bedroht: Es sind vor allem „die Muslime“, „die Araber“ oder andere aus „archaischen“ und „Macho“-Kulturen, die als misogyn und homophob, antisemitisch oder illiberal gelten.7 Der Rechtspopulismus nimmt diese doppelte Abgrenzung vor, zu den Eliten und gegenüber Nicht-Volksangehörigen (einschließlich Minderheiten). Es ist jedoch sinnvoll, den Antagonismus Volk-Elite als das eigentlich populistische Element dieser Ideologie zu begreifen. Dann lässt sich analysieren, wie das populistische Verständnis von Demokratie und politischer Repräsentation sich mit nationalistischer Ideologie verschränkt, wie sich Populismus und Nationalismus gegenseitig Sinn verleihen.8 Das Volk wird dann ethnisch definiert und die Eliten würden die angestammte Bevölkerung gegenüber ethnischen Minderheiten benachteiligen. Die Repräsentanten des „wahren“ Volkes müssten die Macht von jener Elite zurückerobern, die Macht der supranationalen Organisationen gebrochen werden. So kann das Verhältnis der rechtspopulistischen Parteien zur Europäischen Union näher bestimmt werden, als wenn man alle Aspekte ihrer Politik unter „Populismus“ subsumiert bzw. einfach Typen des Populismus bildet, indem man die „vertikale“ und „horizontale“ Abgrenzung als zwei frei kombinierbare, recht unverbundene Elemente begreift.9 Der Rechtspopulismus ist „rechts“ durch seine ethnische bzw. kulturelle Definition des Volkes, ferner aber auch durch seinen gesellschaftspolitischen Konservativismus und Autoritarismus. Den Eliten wird vorgeworfen, die konventionelle, traditionelle bzw. natürlizung zum elitenfeindlichen „punching upwards“, wobei die Definition von „Eliten“ im Rechtspopulismus nicht unbedingt mit einer soziologischen Beschreibung sozialer Hierarchien übereinstimmen muss. 7 Zu solchen paradoxen pauschalisierenden Projektionen der Menschenfeindlichkeit und Illiberalität auf Außenstehende siehe z. B. Farris, In the name of women’s rights; Grimm/Kahmann, AfD und Judenbild; Kahmann, „The most ardent pro-Israel party“; Moffitt, Liberal illiberalism? 8 De Cleen/Stavrakakis, Distinctions and articulations. Demgegenüber wird bei anderen Varianten des Populismus das Volk anders definiert, und andere Formen des Nationalismus sehen sich z. B. nicht so sehr im Kampf gegen supranationale Eliten, sondern gegen andere Nationen. 9 So bei Jagers/Walgrave, Populism as political communication style, kritisch wiederum De Cleen/Stavrakakis, Distinctions and articulations.
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che Lebensweise des Volks und die Ordnung der Gesellschaft zu zerstören. Der behauptete Volkswille soll mit Macht durchgesetzt werden und andere politische Positionen werden delegitimiert. Gesellschaftliche Probleme sollen im Zweifelsfall eher durch Repression gelöst werden. All dies betrifft natürlich nur die Probleme, die man selbst anerkennt, während man die Problemdefinitionen anderer nicht akzeptiert. So werden z. B. politische Vorschläge zur Lösung ökologischer und sozialer Probleme als illiberal gebrandmarkt.10 Wenn einige Parteien pauschal als „rechtspopulistisch“ eingestuft werden, so heißt das nicht, dass alle ihre Positionierungen aus ihrem Populismus heraus zu erklären wären. Diese Parteien haben unterschiedliche ideologische Wurzeln, von völkisch, faschistisch oder neurechts bis zu agrarisch, rechtslibertär oder religiös-konservativ. Zudem haben sie unterschiedliche Strukturen, von den Ein-Personen-Pseudoparteien bis zu breiten Allianzen unterschiedlicher politischer Gruppierungen. Auch die AfD umgreift verschiedene dieser Strömungen.11 So ist speziell die Wirtschafts- und Sozialpolitik in rechtspopulistischen Parteien oft nicht eindeutig ideologisch und strategisch determiniert, sondern innerparteilich umstritten, wandelbar oder bewusst unscharf gehalten.12
II. Die Begrenzung Europas Innerhalb des rechtspopulistischen Diskurses sind die EU und Europa Symbole, die unterschiedliche Bedeutungen annehmen können. Ihre Bedeutung ist aber nicht beliebig, sondern speist sich aus zwei ideologischen Wurzeln: der populistischen und der gesellschaftspolitisch rechten, und hier vor allem dem Traditionalismus und Nationalismus. Die daraus erwachsenden politischen Botschaften zu Europa wechseln je nach Themenkonjunkturen bzw. aktuellen Situationen und Strategien. Immer aber geht es um drei wesentliche Zumutungen: die Macht der EU, wer nach Europa kommt und wer zu Europa gehört. Zunächst geht es dem Rechtspopulismus um die Begrenzung der Macht der EU, die als illegitime Über-Regierung gesehen wird. Nur das Volk des Nationalstaats kann in dieser Vorstellung ein Souverän sein. Die über die nationalen Regierungen oder die Europawahl zu den europäischen Institutionen verlaufenden Legitimationsketten werden nicht anerkannt. Die EU erscheint also nicht einfach als politische Entität, deren Struktur womöglich stärker
10 Siehe Harrison/Bruter, Mapping extreme right ideology, die die Ideologie der europäischen extremen Rechten unter zwei Hauptaspekten beschreiben: Erstens geht es um Autoritarismus (mit den Unteraspekten eines ultrakonservativen/reaktionären Gesellschaftsbildes und der Repression), zweitens um eine negativ definierte Identität (unterteilt in eine populistische und eine xenophobe Richtung). 11 Siehe etwa die verschiedenen Analysen in Häusler, Die Alternative für Deutschland. 12 Für eine aktuelle Literaturübersicht und differenzierte Analyse von Positionierungen siehe Enggist/Pinggera, Radical right parties and their welfare state stances. Ferner auch Ketola/Nordensvard, Reviewing the relationship between social policy and the contemporary populist radical right; Rovny/Polk, Still blurry?
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zu demokratisieren sei. Vielmehr ist sie für die „hart“ euroskeptischen13 rechtspopulistischen Parteien bzw. Flügel eine illegitime Institution, geschaffen von einer transnationalen Elite. Der europabezogene Antielitismus beginnt bei der Idee, dass „in Brüssel“ inkompetente oder verblendete Bürokraten wirklichkeitsfremde Regelungen ersinnen. Das ist der banale, alltägliche Populismus, dessen Symbol die vermeintliche Verordnung über die Krümmung von Bananen ist. Und der europabezogene Antielitismus reicht bis hin zur Idee, dass dunkle Mächte mithilfe der EU perfide Pläne verwirklichen wollen, um die europäischen Völker selbst zu entmachten und gar durch Migration aufzulösen und auszutauschen. Das ist der verschwörungstheoretische Populismus, der nicht selten die antisemitische Vorstellung einer geheimen Herrschaft der „Kosmopoliten“ heraufbeschwört. Sein symbolisches Feindbild ist das Gesicht von George Soros, wie es in Ungarn plakatiert wurde. Jenseits dieser abstrakten Vorstellung einer abgehobenen, womöglich grundsätzlich illegitimen EU wird sie auch als Wirkungsfeld konkreter Ideologien und Kräfte verstanden, die dem Nationalismus und Traditionalismus zuwiderlaufen: „Gender“ wird als Kampfbegriff gegen die traditionelle oder natürliche Geschlechter- und Familienordnung verstanden, und letztlich als Gefahr den Fortbestand des Volkes als Abstammungsgemeinschaft.14 Umweltund Klimaschutz werden als Krieg gegen die konventionelle Lebensweise gesehen.15 Ein expansiver, umverteilender Staat und vor allem die länderübergreifende Umverteilung in Europa gelten als Enteignung und Geringschätzung der einheimischen „ehrlich“ Arbeitenden, deren Wertschöpfung vor allem ihnen selbst, ihren Familien und Landsleuten zugutekommen soll. Aber nicht allein der Populismus (im Sinne eines auf Volkssouveränität pochenden Antielitismus), ist gegen die EU gerichtet, sondern auch der Nationalismus. Der Diskurs der rechtsextremen Parteien läuft aber nicht darauf hinaus, dass anstelle eines vermeintlich zentralistischen Europas einfach die souveränen, die als gleichrangig imaginierten koexistierenden Nationen wiederhergestellt werden sollten, auch wenn das gelegentlich proklamiert wird. Auch im rechtspopulistischen Europadiskurs geht es vielmehr letztlich um Ausgrenzungen, Privilegien und Hierarchisierungen, darum, wer zu Europa gehören und wer nach Europa kommen darf, und wer zur eigenen Nation gehören und ins eigene Land kommen darf. Die Grenzziehungen sind keinesfalls immer konsistent. Ähnlich wie im Fall der inländischen Minderheiten werden wechselnde europäische Länder und verschiedene Herkunftsländer von Migrant*innen einmal ausgegrenzt und ein andermal eingeschlossen. Einige werden nicht selten vereinnahmt, um sich in einer neuen Allianz dann wiederum umso deut13 Zu „hart“ und „weich“ und anderen Dimensionen des Euroskeptizismus siehe Taggart, A touchstone of dissent. 14 Zu Varianten des „Anti-Genderismus“ siehe die Beiträge in Hark/Villa, Anti-Genderismus. 15 Zur rechtspopulistischen Klimawandelleugnung vgl. Krämer/Klingler, A bad political climate for climate research and trouble for gender studies.
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licher von dritten Ländern abgrenzen zu können. Nicht alle rechtspopulistischen Parteien und Führungspersönlichkeiten nehmen notwendigerweise dieselben Ausschließungen vor. Die Kombination von unterschiedlichen Positionen erschwert gerade auch die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene.16 Welche Grenzen werden typischerweise gezogen? Zunächst wird als wesentlichste Unterscheidung Europa von allem Uneuropäischen abgegrenzt. Weder geht es im Rechtspopulismus nur um das jeweils eigene Land in Abgrenzung zu allen anderen, noch um einen Nationalismus als Selbstgenügsamkeit oder -behauptung. Trotz gelegentlicher Reibereien haben deutsche Rechtspopulist*innen ja nicht grundsätzlich etwas gegen die „alteingesessene“ österreichische oder schwedische Bevölkerung. Insofern ist „ausländerfeindlich“ ein unzutreffender Begriff für die hier gegebene Art der Ausgrenzung. Europa wird im Rechtspopulismus aber eben auch nicht als Einheit definiert, denn dann wäre aus dieser Perspektive eine europäische Zentralregierung unproblematisch. Die Rechtspopulist*innen berufen sich durchaus auf Merkmale, die sie für ganz Europa oder für weite Teile davon für charakteristisch halten, um es nach außen hin abzugrenzen. Sieht man genauer hin, wird Europa aber oft nicht so sehr über gemeinsame substanzielle Merkmale, sondern eher negativ definiert: Seine Bevölkerung ist nicht unzivilisiert, nicht muslimisch, nicht vermehrungsfreudig usw. Man könnte tautologisch sagen: Seine Kultur ist nicht die, welche die anderen haben, deren Kultur nicht zu Europa passt. Ob nun Europa zwingend christlich sein muss, inwieweit es auch jüdisch sein kann, wie liberal es letztlich sein sollte (sofern einmal klargestellt ist, dass die anderen die wahren Illiberalen sind), wie weiß es sein muss bzw. wie sehr es über Abstammung definiert werden kann, wie sehr man stattdessen kulturelle Prägung verabsolutiert, Assimilation verlangt oder für unmöglich hält: All das kann bei dieser Abgrenzung offen bleiben. Entweder bleibt man aus strategischen Gründen vage oder es gelingt einem nicht, das Eigene auf den Punkt zu bringen. Die auf rechtspopulistischer Seite derzeit meistbeachtete Grenze Europas ist wohl das Mittelmeer. Hier vollzieht sich bei allen Differenzen im Inneren und innerhalb der Parteienfamilie die äußere symbolische Abschließung Europas. Das rechtspopulistische Lager ist aber nicht alleine, wenn es die damit einhergehende gewaltvolle Abschließung rechtfertigt. Es fordert diese nur am entschlossensten. Während einige in den rechtspopulistischen Parteien die Konsequenzen eher euphemistisch beschreiben oder als notwendiges Übel darstellen, hört man aus der zweiten Reihe dieses Lagers auch unverblümtere Rechtfertigungen oder zynische Kommentare zu den Lagern und Bootsunglücken. Hier operieren die rechtspopulistischen Parteien also nicht gegen, sondern mit Europa – mit einer gewissen Vorstellung von Europa gegen Außenstehende. Hier wird das Privileg, 16 Die Kooperation europäischer rechtspopulistischer Parteien wird durch solche und andere ideologische Differenzen eingeschränkt, aber einige Parteien wollen auch mit Blick auf ihre Wahrnehmung im eigenen Land nicht mit gewissen radikalen rechten Parteien aus anderen Ländern in Verbindung gebracht werden. Vgl. dazu McDonnell/Werner, International populism.
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in Europa leben zu dürfen, auf jene beschränkt, die vermeintlich sein Wesen verkörpern. Doch besteht mit Blick auf diese Abgrenzung und das tatsächlich angestrebte und implementierte Grenzregime kein absoluter Gegensatz zwischen rechtspopulistischen und anderen Parteien. Auch die alte Ostgrenze des „westlichen“ Europas ist nicht ganz verschwunden: Der vormals Eiserne Vorhang wurde zeitweise weiterhin als Grenze gegen befürchtete Billigarbeitskräfte aus den neuen östlichen Mitgliedsstaaten der EU verstanden. Und überhaupt war die sehr alte Stereotypisierung der Osteuropäer*innen mit der Erweiterung nicht überwunden. Hier haben wir es mit einer der Differenzierungen zu tun, die neben die große Unterscheidung zwischen Europa und Nicht-Europa treten. Diese zentrale Differenz besteht in den Augen der Populist*innen vor allem gegenüber dem „muslimischen“ und „afrikanischen“ Nicht-Europa, aber hinzu kommt diejenige zwischen Ost- und Westeuropa. Zwischen diesen Grenzziehungen besteht ein Zusammenhang. Die etablierten, traditionell nicht als populistisch geltenden Parteien Westeuropas haben mit der Furcht vor den Arbeitsmigranten aus Osteuropa (man denke an den „polnischen Klempner“) bereits Wahlkampf betrieben, und die rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen haben diese Ausgrenzung fortgeführt und radikalisiert.17 Andernorts wird die Differenz aber gerade umgekehrt. Die westeuropäischen Rechtspopulist*innen (und die mit ihnen wetteifernden oder kooperierenden Parteien und weite Teile des öffentlichen Diskurses in vielen westeuropäischen Ländern) konstruierten ein Gefälle des Europäischseins nach Osten hin. Die Bevölkerung Osteuropas wird als weniger europäisch klassifiziert, erscheint als wirtschaftlich und politisch rückständig, als geradezu prädisponiert zur unlauteren Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Dies wurde von den osteuropäischen Regierungen, insbesondere Ungarns, zum Anlass für eine eigene doppelte Grenzziehung genommen. Dort verstand man sich nun im Gegenteil als besonders „europäisch“, weil man den Kontinent nach Süden, zum Balkan hin, verteidigte, sich gleichsam an vorderster Front gegen die vordringenden muslimischen Migrant*innen befunden habe.18 Im Gegensatz zu den kosmopolitischen und undemokratischen „Brüsseler Bürokraten“, die (wie andere westeuropäische Regierungen, z. B. die deutsche) dem Multikulturalismus huldigten und die muslimische Masseneinwanderung befördern würden, stand man noch auf der Seite des „wirklichen“ Volkes und der souverä-
17 Zur Figur des polnischen Klempners siehe Böröcz/Sarkar, The unbearable whiteness of the polish plumber. Mehrere Studien haben die Anfeindungen gegenüber Pol*innen in Großbritannien im Umfeld des Brexit analysiert, z. B. Rzepnikowska, Racism and xenophobia experienced by Polish migrants. 18 Victor Orbán beharrt darauf, dass Ungar*innen, die im Vereinigten Königreich leben und arbeiten, keine „Migranten“ seien. Implizit wird diese Einordnung also als abwertend definiert, als mehr oder weniger rassifizierte Herunterstufung auf eine Ebene nahe den „wirklichen“ Migranten, und mit seinem Kampf gegen sie demonstriere Orbán, wie vollauf europäisch und weiß das ungarische Volk sei, so Böröcz/Sarkar, The unbearable whiteness of the polish plumber.
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nen Völker. Man verteidigt besonders entschlossen Europa als christlich, weiß und übrigens auch heteronormativ.19 Eine weitere Grenzziehung ist wie die zwischen Ost und West ebenfalls kein Alleinstellungsmerkmal der rechtspopulistischen Parteien, aber einige betonen sie ebenfalls stark: die Unterscheidung zwischen Nord- und Südeuropa. Geografisch ist die Grenzziehung schwer zu fassen: „Nord“ und „Süd“ stehen für wechselnde politische Lager und Allianzen.20 Aber diese werden doch nicht ganz zufällig durch hierarchisierende Unterscheidungen zwischen Regionen Europas repräsentiert, denen jeweils ein Arbeitsethos, ein Nationalcharakter und politischer Stil zugeschrieben wird. Die nördlichen „sparsamen“, „effizienten“, „produktiven“, „politisch gemäßigten“ Länder und Völker werden den südlichen gegenübergestellt, die mit ihrem ausschweifenden Lebensstil lieber auf Kosten anderer Schulden machen, statt wirtschaftlich und politisch anzupacken und ihre Ökonomie und ihr Sozialsystem zu reformieren. Es scheint, als müsse dort die Politik wegen der Undiszipliniertheit der Bevölkerung autoritärer sein und als sei auf diese Länder politisch und moralisch kein Verlass.21 In den „nördlichen“ Ländern entspringt der Nord-Süd-Unterscheidung zugleich eine Unterscheidung zwischen legitimer bzw. dominanter Kritik an der europäischen Integration und illegitimen bzw. marginalisierten Formen. Vielfach wird die vermehrte Ankunft von Flüchtlingen als entscheidender Moment für den Aufstieg der AfD gesehen. Im Vergleich zu früheren ähnlichen Parteien in Deutschland erhielt sie jedoch schon vor 2015 relativ viel Aufmerksamkeit, weil sie mit ihren europapolitischen Positionen als einzige Partei eine relevante Alternative zu den etablierten zu formulieren schien: eine wirtschaftspolitisch konservative Kritik der Europolitik. Eine klischeehaft nationalistisch formulierte Kritik ohne den Anspruch wirtschaftspolitischer Analyse wäre wohl in den Medien kaum beachtet worden. Während sich in anderen Ländern der Rechtspopulismus bereits etabliert hatte, dauerte es in Deutschland länger, bis er Fuß fasste, nämlich bis zu jener Gelegenheit, als sich eine scheinbar konservative Professorenpartei zu Wort meldete und auf eine offensichtliche Krise mit einer volkswirtschaftlich formulierten Kritik reagierte. So leuchteten trotz früher Anzeichen nicht sofort die Warnlichter für Nationalismus, Rassismus oder Rechtsextremismus auf. Die fiskalpolitisch konservative, „nördliche“ Opposition zum Euro und die Kritik an der EU erschien als legitim und erwies sich als Eintrittskarte der AfD in den Kreis der respektablen 19 Kallius, The East-South axis. Zur Vorstellung, „Gender(ismus)“ sei eine von globalen oder Brüsseler liberalen bzw. linken Eliten aufgezwungene, letztlich unterdrückerische Idee vgl. Korolczuk/Graff, Gender as “ebola from Brussels“. 20 Aus den „frugal five“ wurden z. B. die „frugal four“, nachdem Deutschland aus Sicht der anderen vier die Seiten gewechselt hatte, und die Lega (früher Lega Nord) zog bzw. zieht die Grenze sogar zwischen dem Norden und Süden des gleichen Landes, obwohl sie die entsprechende Rhetorik inzwischen vermeidet. 21 Zu solchen Stereotypen einer „moral geography“ siehe aktuell Bialasiewicz, National stereotypes in times of COVID-19, die dies am Beispiel der Niederlande aufzeigt, und zwar sowohl mit Blick auf den Rechtspopulismus im engeren Sinne wie auch auf die konservativen und liberalen Parteien. Sie verweist zudem auf die erbosten Reaktionen gerade in der italienischen Rechten.
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Parteien. Nach ihrer Etablierung konnte ihr die Aufmerksamkeit nicht mehr leicht entzogen werden, selbst als die von Anfang an mitschwingenden, von anderen Gründungsmitgliedern auch bereits früh deutlich vertretenen Ideologien zunehmend beachtet wurden. In manchen Fällen verläuft Europas Grenze aus rechtspopulistischer Sicht sogar am Jordan oder bei Jerusalem, denn Solidarität mit Israel und seiner Politik zu bekunden ist eine Strategie, dem Vorwurf des Antisemitismus vorzubeugen. Israel wird hier vor allem als Bollwerk eines „jüdisch-christlichen“ Westens gegenüber der islamischen Welt gefeiert. Das Denken in ethnisch oder kulturell homogenen Einheiten führt jedoch nicht nur zur Stereotypisierung alles (vermeintlich) Islamischen und zu entsprechender Ab- und Ausgrenzung und Feindseligkeit. Auch „die Juden“ in ihrer vermeintlichen Gesamtheit bleiben dabei ein fremdes „Volk“, das im ethnisch homogen vorgestellten eigenen Volk oft genug nur geduldet wird, von dem man Wohlverhalten erwartet, und das mehr mit Israel als mit der je eigenen Nation identifiziert wird.22 Rechtspopulistische Parteien und Bewegungen distanzieren sich jedoch oft nur zögerlich oder gar nicht von antisemitischen Äußerungen. Hier zeigt sich wieder die Politik der abgestuften Hierarchien. Darin kann eine Gruppe den „eigentlichen“ Angehörigen der eigenen Nation untergeordnet und dabei je nach Kontext oder Strategie vereinnahmt oder ausgegrenzt werden.
III. Die Verteidigung Europas gegen den Populismus Nun finden viele, dass Europa gegen den Populismus verteidigt werden müsse. So rechtfertigen dann auch bereitwillig oder etwas widerwillig die bestehenden Institutionen und die „Verteidigung“ Europas am Mittelmeer und andernorts, mit der Absicht, dem Rechtspopulismus so den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Europe and populism are viewed as the two extremes of a radical antithesis“23, so könnte man den anti-populistischen Diskurs in vielen etablierten Parteien und Qualitätsmedien unterschiedlicher europäischer Länder zusammenfassen. Die Wissenschaft hat sich neben der Erforschung des Populismus auch zunehmend der Analyse des Antipopulismus zugewandt.24 „Populismus“ dient demnach im antipopulistischen Diskurs als negatives Schlagwort, indem er mit Rechtspopulismus oder -extremismus und radikalem Euroskeptizismus gleichgesetzt wird, oder allgemeiner mit Irrationalität, Verantwortungslosigkeit, „einfachen Lösungen“ und mit schlechtem Stil.25 Der 22 Siehe zu diesem Verhältnis zum Judentum und zu Israel Grimm/Kahmann, AfD und Judenbild; Kahmann, The most ardent pro-Israel party; Pallade, Proisraelismus und Philosemitismus in rechtspopulistischen und rechtsextremen europäischen Parteien der Gegenwart. 23 Stavrakakis, The return of “the people”, 510. 24 Goyvaerts/De Cleen, Media, anti-populist discourse; Moffitt, The populism/anti-populism divide in Western Europe. 25 Stavrakakis, The return of “the people”; Moffitt, The populism/anti-populism divide in Western Europe. Mit Verweis auf Ostiguy, Populism: A socio-cultural approach, zeigt Moffitt auf, dass die Differenz Populismus-
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antipopulistische Diskurs liefert jedoch in der Regel keine klare ideologische Analyse des Populismus. So kann der vieldeutige Begriff „Populismus“ viele Funktionen erfüllen: Er kann als Euphemismus für Rechtsextremismus verwendet werden, wenn man diesen Begriff vermeiden möchte.26 Durch die strikte Gegenüberstellung von Antipopulismus bzw. proeuropäischer Haltung und Populismus umgeht man die Auseinandersetzung damit, wie nah man den „populistischen“ Parteien, Ideologien und Diskursen eventuell steht. Es bleibt unklar, wie normal und normalisiert der Rechtspopulismus und Rechtsextremismus geworden sind oder seine Vorstellungen letztlich schon lange waren.27 Man kann die eigene Politik als alternativlose, ideologiefreie, komplexe, gemäßigte, vielleicht auch unpopuläre, aber notwendige präsentieren. So lassen sich die unterschiedlichsten Formen der Opposition gegen eine unpopuläre technokratische, in der Tendenz neoliberale Politik als „populistisch“ delegitimieren.28 Dabei ist Technokratie keinesfalls das exakte Gegenteil des Populismus: Die behauptete Alternativlosigkeit technokratischer Politik wie auch der Alleinvertretungsanspruch des (illiberalen, autoritären) Populismus grenzen sich letztlich beide ab vom Parlamentarismus und Parteienwettbewerb, vom „Politischen“ im pejorativen Sinne.29 Es bleibt in beiden Politikverständnissen dann kein Raum mehr für eine Deliberation darüber, wie politische Probleme definiert und gelöst werden sollten. Politik ist eben mehr, als bei feststehenden, scheinbar alternativlosen Zielen die alternativlosen Mittel zu ihrer Verwirklichung zu wählen. Sie lässt sich auch nicht auf die Forderung reduzieren, dass der bereits längst feststehende Volkswille endlich implementiert werde oder eine Nation wieder zu sich selbst finden müsse. Ein im umfassenden Sinne demokratisches Verständnis von Politik ist also das ausgeschlossene Dritte des vorherrschenden antipopulistischen Diskurses. Was verschiedene Verständnisse von Populismus mit Demokratie zu tun haben, wird darin nicht differenziert genug analysiert.30 Unter „Populismus“ wird sehr Heterogenes zusammengefasst und der Begriff bleibt unscharf. Eingeschlossen in den Begriff ist aber meistens die extreme Rechte. So läuft der antipopulistische Diskurs oft gewollt oder ungewollt hinaus auf die Forderung, dass alle, die diesem Lager und dem radikalen Euroskeptizismus entgegentreten wollen, das vermeintliAntipopulismus im antipopulistischen Diskurs mit der soziokulturellen Differenz zwischen unten und oben, schlechtem und guten Stil korrespondiert. 26 Z. B. Goyvaerts/De Cleen, Media, anti-populist discourse, mit Verweisen auf weitere Quellen. 27 Nach Mudde, The populist radical right, wäre der Rechtspopulismus als „pathological normalcy“, nicht als „normal pathology“ zu bezeichnen, also nicht als etwas, das zwar einigermaßen normal geworden, aber dem Rest des politischen Spektrums und der politischen Kultur völlig fremd wäre, sondern als lediglich radikalere Interpretation gängiger Vorstellungen. 28 Stavrakakis, The return of „the people“. 29 Bickerton/Invernizzi Accetti, Populism and technocracy. 30 Für eine Übersicht zum Verhältnis von Populismus und Demokratie (wie auch zu Populismus und Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus) siehe Moffitt, Populism.
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che Gegenteil des Populismus akzeptieren sollten: eine gewisse technokratisch begründete Politik und ihre Verkörperung im Status quo der Institutionen der Europäischen Union.
IV. Zusammenfassung und Ausblick Wenn immer wieder versucht wird, die aktuellen Schwierigkeiten innerhalb der EU auf den Gegensatz „Europa versus Populismus“ zu bringen, handelt es sich doch um eine problematische Verkürzung. Einen solchen strengen Gegensatz zu behaupten, würde einem bestimmten Typ des Populismus Recht geben, der von sich behauptet, die einzig legitime Kritik an der europäischen Integration vorzubringen. Und es würde einem antipopulistischen Diskurs Recht geben, der die Kritik am eingeschlagenen spezifischen Pfad der europäischen Integration von vornherein delegitimieren will. Bei der Diskussion über Populismus gilt es also zunächst zu spezifizieren, welche politische Richtung genau gemeint ist. Geht es z. B. um den Rechtspopulismus, der heute in der Tat eine der größten Herausforderungen für die europäische Integration darstellt? Oft würde er allerdings besser als ein populistisch aufgeladener ethnischer Nationalismus und Rechtskonservatismus beschrieben. Vom Nationalismus bzw. Nativismus geht wohl die größte Bedrohung für die europäische Integration aus.31 Erst aus den verschiedenen Elementen dieser Ideologie bzw. dieses Diskurses heraus, den spezifisch populistischen und den spezifisch rechten, können divergierende Stellungnahmen verstanden werden, die „Europa“ unterschiedlich deuten, kritisieren, ein- und abgrenzen. Ein allzu einfaches Verständnis von Populismus reicht dafür hingegen nicht aus. Rechtspopulistische Vorstellungen von Europa müssen allerdings auch von anderen Konzepten der europäischen Integration und anderen Formen der Kritik an den europäischen Institutionen, ihrer Entwicklung und Politik unterschieden werden.32 Andernfalls gelingt es dem organisierten Rechtspopulismus, den kritischen Standpunkt für sich zu monopolisieren. Es bedarf also einer genauen Analyse von Begriffen mit fließender Bedeutung (wie Europa)33, von Mythen und Symboliken, von verschachtelten und sich überschneidenden Differenzen. Sie wurden hier als geografische Grenzziehungen versinnbildlicht (Mittelmeer, Balkan, Eiserner Vorhang, Alpen, Jordan), wohinter sich soziale Grenzziehungen verbergen. Es bedarf der Analyse von Äquivalenzketten (der verschiedenen Probleme, die auf Europa projiziert werden) und von Ketten der Hierarchisierung (z. B. nach dem Grad des Europä31 Moffitt, The populism/anti-populism divide in Western Europe, auch mit Verweis auf Stavrakakis, The return of „the people“, und mit der Beobachtung, dass keinesfalls alle populistischen Parteien in Europa euroskeptisch sind. 32 Ebd. 33 Hier wäre noch eine genauere Analyse mittels der Begriffe des „signifiant flottant“ bei Lévi-Strauss, Introduction à lʼœuvre de Marcel Mauss, oder des „floating signifier“ bei Laclau, On populist reason, möglich, auf die ich zugunsten einer anschaulicheren Rekonstruktion der Grenzziehungen verzichtet habe.
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ischseins34). Ebenso müssen die Äquivalenzen, Bedeutungsverschiebungen und Auslassungen im offiziösen antipopulistischen Europadiskurs, in den Diskursen etablierter Parteien und in akademischen Diskursen offengelegt werden – gerade auch mit Blick darauf, wo Hierarchisierungen, Essentialisierungen und Ausgrenzungen vorgenommen werden, die den rechtspopulistischen nicht ganz unähnlich sind.
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‘The Continent is Isolated’ Das britische Selbstbild im Spiegel seiner Europavorstellungen I. Vorbemerkungen Thematisch könnte die Frage von Großbritanniens Verhältnis zu Europa kaum aktueller sein. Die Verhandlungen über einen Handelsvertrag quälten sich hin bis zum 24. Dezember 2020 in einem stakkatohaften Wechsel zwischen dem vermeintlich erfolgreichen Abschluss und der Nachricht des endgültigen Scheiterns. Die EU neigt ihrem Klischee nach zu Lösungen, die die meist enggeflochtenen Gordischen Knoten des europäischen Interessengeflechts eher fünf Minuten nach als fünf Minuten vor Zwölf zerschlagen. Warum hätten die Verhandlungen um die Zukunft der Beziehungen zwischen den EU-Staaten und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland1 eine Ausnahme bilden sollen? Mit Blick auf die vielschichtigen Entwicklungen seit dem britischen Referendum zur EU-Mitgliedschaft stehen für den Kulturwissenschaftler weniger aktuelle Diskussionen im Mittelpunkt des Interesses, als vielmehr die langfristigen Einstellungen und Mentalitäten, wie sie sich an den neuralgischen Nahtstellen des tagtäglichen Geschehens abbilden. Prognosen zur Langzeitwirkung der erzielten Einigung können und sollen daher nicht Gegenstand dieser Diskussion sein. Dennoch ist zu beachten, dass die Wirkmacht langgewachsener soziokultureller Identitäten und daraus hervorgehender Einstellungen viel stärker in die Analysen auch aktueller Geschehnisse miteinbezogen werden, da letztere die entscheidende mentale Infrastruktur bestimmen, die überhaupt erst Bewegungen im realpolitischen Raum ermöglicht. Denn jenseits von Verschwörungstheorien, der wahrscheinlichen Einflussnahme von außen auf das Brexit-Geschehen2 und einer nicht selten hochmanipulativen Mobilisierungskampagne3 vor dem Referendum im Sommer 2016, ist der bekannte Ausgang und die sich daraus ergebenen Schwierigkeiten für Europa und das Vereinigte Königreich ohne eine spezifische Empfänglichkeit sehr weitgefasster und dem Wesen nach eher heterogener Wählerschichten für die Idee des Austritts kaum vorstellbar. Die Befürworter des Brexit hätten es wohl nicht vermocht, die entsprechenden Mehrheiten zunächst beim Referendum und nachfolgend im Parlament und schließlich bei den 1 Hiernach wird die Kurzform ‚Vereinigtes Königreich‘ verwendet. 2 Patrick Wintour, Russian bid to influence Brexit vote detailed in new US Senate report, in: The Guardian, 10.1.2018. 3 Ben Quinn, Boris Johnson lied during EU referendum campaign, court told, in: The Guardian, 23.5.2019.
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letzten Parlamentswahlen zu erhalten, hätten ihre Argumente nicht jenseits aktueller Befindlichkeiten auf ein festes Fundament langfristiger Einstellungen bauen können. Dabei muss festgehalten werden, dass sich diese Mehrheiten im Verlauf des Austrittsprozesses seit dem Sommer 2016 zu ihren Gunsten bewegten und zuletzt die Wahl von Boris Johnson im Herbst 2019 mit einem erdrutschhaften Sieg zu Gunsten der Konservativen dieses Mandat nochmals eindrucksvoll bestärkten.4 Dies ist trotz aller Unwägbarkeiten des Mehrheitswahlsystems britischer Provenienz bemerkenswert. Boris Johnson, der mit dem ebenso eingängigen wie enggeführten Wahlkampfslogan, „Get Brexit Done“, zur Unterhauswahl antrat, gewann eine historische Mehrheit. Gerade Letzteres deutet wiederum auf die enge Verwobenheit zwischen der in der Brexit-Entscheidung geronnenen, kurzfristigen politischen Meinungsfindung und langfristigeren, in der wahlberechtigten Bevölkerung tiefverankerten Einstellungen hin. Aus der Vielzahl der Einflussfaktoren, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind, soll für diesen Beitrag ein spezifischer kultureller Vektor herausgegriffen werden, der im britischen Verhältnis zu Europa stets eine besondere Rolle gespielt hat und auch in den Diskursarenen der Entscheidung zum EU-Austritt prominent in Erscheinung trat. Denn wenn es darum geht, zu verstehen, welche komplexen kulturellen Vorstellungen im Kollektivgedächtnis vieler Briten ihr politisches Denken und Handeln lenkt und schließlich dazu beitragen, eine Mehrheit der Wählenden dazu zu bewegen, sich auf ein relativ unbestimmtes Zukunftsszenario außerhalb des engeren europäischen Ordnungsrahmens einzulassen, dann ist das, was man recht prosaisch die „Inselmentalität“ der Briten nennen kann, vielleicht eine der wichtigsten Faktoren, die historisches Bewusstsein und realpolitisches Handeln in Beziehung zueinander setzt.
II. Die Inselmentalität Der wohl bekannteste Satz, der das Verhältnis der britischen Inseln mit dem europäischen Festland zu umreißen vermag, entstammt einer legendären Zeitungsmeldung, die angeblich besagte: „Dense fog in the Channel: Continent isolated.“5 Obwohl es diese Meldung nachweislich nie gegeben hat, klingt doch in der anglozentrischen Sicht dieser Fiktion des vom Nebel isolierten Festlands etwas an, was das distanzierte Verhältnis der Briten zu ihren europäischen Nachbarn treffend zu beschreiben scheint. Dass diese Vorstellung mehr Mythos als Realität ist und war, führt Brendan Simms in seinem kurz vor dem Referendum 2016 erschienenen Buch Britain’s Europe aus. Selbst wenn 4 Jon Henley, Boris Johnson wins huge majority on the promise to ‚get Brexit done’, in: The Guardian, 13.12.2019. 5 Tony Kushner, West is Best. Britain and European Immigration during the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: Richard Littlejohns/Sara Soncini (Hrsg.), Myth of Europe, Amsterdam– New York 2007, 222.
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man Simms eher konservativer Analyse nicht in allen Punkten folgen will, so ist das Ergebnis der Lektüre seiner historischen Studie des Verhältnisses der Briten zu Europa doch, dass die vielfältigen Verflechtungen zwischen dem Vereinigten Königreich und seinen europäischen Nachbarn erkennbar werden und die europäische Prägung auch von Großbritannien deutlich hervortritt. Trotzdem prägt die insulare Selbstwahrnehmung der Briten bis in die unmittelbare Gegenwart deren Vorstellung von ihrem Platz in der Welt und positioniert sie scheinbar außerhalb Europas. Nicht ohne Grund avancierten gerade die Fischereirechte in der letzten Phase der Verhandlungen zum fast unüberwindlichen Hindernis. In der Frage um die Verfügungsgewalt über seine Küstengewässer schwang die Vorstellung von Großbritannien als eine Insel implizit aber unüberhörbar mit. Rein wirtschaftlich war dieser Gegenstand zu keinem Zeitpunkt von wirklicher Bedeutung, jedoch symbolisch von der britischen Regierung überhöht, schien es hier jenseits monetärer Interessen um nichts weniger als die britische Identität zu gehen. Charlotte Raskopf nennt den Gegenstand noch am 23. Dezember 2020 im Magazin Capital, „ideologisch hoch aufgeladen“6. Von britischer Regierungsseite wurde gar offen über den Einsatz der Kriegsmarine gegen französische Fischkutter nachgedacht.7 Am Ende stand dann doch eine Einigung, bei der beide Seiten ihre Erfolge feierten: nicht untypisch für EU-europäische Lösungen. Dennoch bleibt die Inselvorstellung von Bedeutung für ein genaueres Verständnis der Vorgänge um den britischen EU-Austritt. Boris Johnson, der es wie wenige andere Politiker versteht, sich leichtfüßig von einem rhetorischen Register zum nächsten zu bewegen, in einem Moment den lateinisch zitierenden Intellektuellen gibt, der in Eton und Oxford eine Eliteausbildung genossen hat, um sich im nächsten Moment sprachlich zum jovialen Volkstribun zu wandeln, umspielt in seinen Äußerungen nicht selten das geografische Faktum mit der Idee des „coastal state“, des Küstenstaats, bis zum etwas pathetisch-altmodischen Bild von Großbritannien als „our island nation“. Johnson ist nicht der erste, der dies tut, und die hier anklingende Bildsprache reicht bis Shakespeare zurück und ist gleichzeitig gespickt mit Anklängen an die Rhetorik eines Winston Churchill. Die Vorstellung der Inselnation ist in Bezug auf Großbritannien selbstverständlich naheliegend und gerade deswegen im Repertoire von Johnson als besonders kalkuliert zu lesen. Denn in diesem topografisch treffenden Bild verschmelzen Nation und Geographie zu einer Einheit, wird der Gedanke des Kollektiven anhand einer geographischen Gegebenheit begründet. Obwohl das Bild sicherlich weniger mythisch konnotiert ist als beispielsweise die „Blut und Boden“-Ideologie der Nationalsozialisten, wohnt ihm aber doch eine schicksalshafte Verschränkung zwischen Geographie und nationaler Identität inne, die weitreichende Implikationen hat. Unzweifelhaft spielt der Inselstatus im britischen Selbstverständnis eine zentrale Rolle. Aber gerade weil dies so ist und kaum jemand sich üblicherweise anschickt, eben diese 6 Charlotte Raskopf, Brexit: Alles zum Streit um die Fischereirechte, in: Capital, 23.12.2020. 7 Kanishka Singh, Britainʼs navy to protect fishing waters in case of no-deal Brexit, in: Reuters, 11.12.2020.
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scheinbar so festgeschriebene Wahrheit auf ihre mentalitätspolitische Funktion zu hinterfragen, lohnt ein Blick auf das Entstehen einer veritablen „Inselmentalität“. Tatsächlich hat sich England, das bis zur so genannten „Union of the Crowns“ im Jahre 1603 eigenständig handelte, lange als kontinentaleuropäische Macht verstanden. Der Hundertjährige Krieg legt aufschlussreiches Zeugnis davon ab, wie englische Monarchen im ausgehenden Mittelalter um ihre Ansprüche auf den französischen Thron rangen und sich politisch wie militärisch auf dem europäischen Festland engagierten. Erst mit dem Verlust der Enklave Calais im Jahr 1558 ging dieser Anspruch als realpolitischer Aspekt englischer Außenpolitik endgültig verloren. Mit der zunächst vor allem politisch begründeten Reformation, die später aber auch ihre theologischen Neujustierungen im englischen Weltbild nach sich zog, wuchs zudem der ideologische Abstand zwischen der Insel und den katholisch dominierten Teilen von Festlandeuropa. Allerdings gehört es zu den gut gezimmerten Mythen britischer Geschichtsschreibung, dass man spätestens seit dem Bruch mit Rom in den 1530er Jahren seinen gänzlich eigenständigen Weg gegangen sei. Nicht ohne Grund wurde gerade diese These in der Zeit vor dem britischen EU-Referendum von Politikern wie Historikern intensiv debattiert.8 In History Today meldete sich beispielsweise der Historiker David Abulafia als Sprachrohr einer Vereinigung von britischen Historikern zu Wort, die es sich unter dem Namen Historians for Britain zur Aufgabe gemacht hat, aufzuzeigen, wie sich das Vereinigte Königreich vom Rest Europas unterscheidet: We aim to show how the United Kingdom has developed in a distinctive way by comparison with its continental neighbours. This has resulted in the creation of a different legal system based on precedent, rather than Roman law or Napoleonic codes; the British Parliament embodies principles of political conduct that have their roots in the 13th century or earlier; ancient institutions, such as the monarchy and several universities, have survived (and evolved) with scarcely a break over many centuries. This degree of continuity is unparalleled in continental Europe.9
Selbst wenn man geneigt ist, den britischen Inseln eine politikgeschichtliche Sonderstellung einzuräumen, muss doch festgehalten werden, dass dies nicht zu einer kulturellen Isolation führte bzw. dazu geeignet ist, diese anzustreben. Der Austausch mit den europäischen Nachbarn war vor und nach der Reformation intensiv und vielfältig. Gerade die Umwälzungen des Bruchs mit Rom förderten die Vernetzung Englands mit den Zentren des Protestantismus auf dem europäischen Festland. Stets erwies sich die britische Kulturlandschaft aufnahmefähig für fremde Einflüsse. Nicht zuletzt dynastische Verbindungen förderten den transeuropäischen Austausch, wie die des Niederländers Wilhelm von Oranien, der 1689 als William III. den englischen Thron bestieg, oder die der Hannoveraner Könige, die schließlich ab 1714 in Großbritannien die Geschicke lenkten. 8 Jochen Buchsteiner, Was (nicht) zusammengehört, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.5.2016. 9 David Abulafia, Britain: apart from or a part of Europe?, in: History Today, 11. 5 .2015.
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Auch die Historiker um Abulafia räumen diese vielfältigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Europa jenseits des Ärmelkanas ein. Um das Land jedoch in seiner historischen Identität klarer vom europäischen Kontinent abgrenzen zu können, werden eine Reihe historiographischer Eigenheiten betont, die das Land charakterisieren sollen. Insbesondere wird die Kontinuität der wesentlichen britischen Institutionen seit dem Mittelalter als Distinktionsmerkmal herausgestellt. Abulafia stellt dazu fest: How one votes in a referendum should be influenced by what sort of new offer is on the table following renegotiation of Britain’s position within the EU. That offer has to reflect the distinctive character of the United Kingdom, rooted in its largely uninterrupted history since the Middle Ages.10
In Hinsicht auf das politische System des Vereinigten Königreichs wird dabei regelmäßig die Vorstellung von der evolutionären statt einer revolutionären Entwicklung befördert. Diese Darstellung britischer Geschichtsverläufe ist allerdings bei genauerer Betrachtung durchaus trügerisch. Und das ist nicht nur der Fall, weil sie schwerlich auf Schottland, Nordirland und Wales gleichermaßen zutreffen. Denn ähnlich wie in fast allen anderen Gegenden Europas hat sich auch in Großbritannien das politische System in Schüben entwickelt und nicht wenige davon nahmen die Gestalt von revolutionären Eruptionen an. Nimmt man den englischen Bürgerkrieg und die königlose Phase der englischen Republik bis hin zur Inthronisation von Wilhelm von Oranien durch das Parlament, dann sind es am Ende doch auch in britischen Gefilden die Brüche und nicht ausschließlich die oft beschworenen Kontinuitäten, entlang derer sich das Gemeinwesen immer wieder neu kalibrieren musste. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich deswegen Großbritannien in Hinblick auf seine historischen Erfahrungen durchaus spezifisch, aber dann doch auch europäisch. Selbst wenn zu Recht an dieser Stelle eingewendet wird, dass seit 1689 das politische System des Vereinigten Königreichs immer wieder in der Lage war, sich innerhalb seiner Institutionen und daher eben nicht durch Revolutionen, sondern evolutionär an die gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen, dann darf dies trotzdem nicht unwidersprochen der Vorstellung vom britischen Sonderweg das Wort reden. Die Annahme, dass die Magna Carta fast zwangsläufig und ungebrochen den Weg in die konstitutionelle Monarchie bereitete und ein modernes Demokratieverständnis angelsächsischer Prägung vorbereitete, ist dann doch zu verkürzt, um der genaueren Prüfung standzuhalten. Interessanterweise erwuchs die Vorstellung von solchen Kontinuitäten und evolutionären Entwicklungen gerade aus dem Wunsch nach Veränderung. Für die liberalen Kräfte der Whig-Partei des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts lag in der Betonung der staatspolitischen Beständigkeit die Chance zum angestrebten Wandel des Sys-
10 Ebd.
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tems.11 Gerade britische Historiker des 19. Jahrhunderts, wie Henry Hallam oder Francis Palgrave, schrieben diesen Geschichtsentwurf fort und sahen, wie auch die Historians for Britain, die Kontinuität insbesondere im Fortbestand des Rechtssystems seit dem Mittelalter begründet.12 Die verbrieften, unveräußerlichen Freiheiten englischer Bürger avancieren in dieser Sicht der Dinge zum unbedingten Distinktionsmerkmal. Will man sich die Dynamik solcher historischen Vorstellungen im Kollektivgedächtnis vor Augen führen, dann markieren der Verlust von Calais und die Zeit der Tudordynastie im 16. Jahrhundert einen Wendepunkt im britischen Selbstverständnis. Es ist insbesondere die Zeit unter Elizabeth I. (reg. 1558–1603), in der sich die innere Konsolidierung einer zuvor von konfessionellen Gegensätzen und sozialen Umwälzungen stark geforderten Gesellschaft vollzog und sich das Land aufmachte, eine neue Position für sich in der Welt zu definieren. Ist in diesem Zusammenhang ein stetig schwelender Konflikt mit den katholischen Mächten Europas – allen voran dem habsburgischen Spanien – eine wichtige Triebfeder identitärer Selbstfindung Englands, gewinnt auch die Vorstellung der Inselnation in diesem Zusammenhang schnell an Bedeutung. Eingebettet in eine geschickte Selbstinszenierung der Tudors, wird das Bild der Inselnation zum Thema einer gezielten Propaganda. Der stete Konflikt mit dem katholischen Spanien, der letztendlich gescheiterte Versuch einer Invasion der britischen Inseln im Jahr 1588, lieferten die identitätspolitisch nützliche Kontrastfolie gegen das sich ein neues, genuin englisches Selbstverständnis formieren ließ. Spätestens William Shakespeare gibt dieser Vorstellung mit seiner bildgewaltigen Sprache einen festen Bezugspunkt. In Richard II., dem ersten Historienspiel einer Abfolge von vier Stücken, die sich mit Ereignissen der englischen Geschichte zwischen 1390 und 1420 beschäftigen, gelingt es Shakespeare, ein Selbstbild für die britische Insel zu formulieren, das in seinen wesentlichen Teilen und in seinem unbedingten Pathos bis heute nachwirkt. In diesem Stück zeigt er eine Szene, in der er dem sterbenden Kritiker des jungen und unverfrorenen Königs Richard eine seiner berühmtesten Reden in den Mund legt. In einer letzten Aufwallung der Sorge um die Sicherheit des Königreichs steigert sich John of Gaunt in eine patriotische Liebeserklärung an die Inselnation: This royal throne of kings, this scept’red isle, This earth of majesty, this seat of Mars, This other Eden, demi-paradise, This fortress built by Nature for herself Against infection and the hand of war, This happy breed of men, this little world, This precious stone set in the silver sea, 11 Peter Mandler, The English National Character. The History of an Idea from Edmund Burke to Tony Blair, New Haven– London 2006, 36. 12 Ebd., 37.
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Which serves it in the office of a wall Or as a moat defensive to a house, Against the envy of less happier lands,-This blessed plot, this earth, this realm, this England.13
Die Verklärung der britischen Insel in dieser wuchtigen Rede als Garten Eden und halbes Paradies wird hier verknüpft mit dem Bild der natürlichen Festung, das die Insel wie einen Edelstein vom Wasser umgeben zeigt, das ihr wie ein schützender Bestfestigungsgraben um eine Burg dient. Der Topos der von der Vorsehung gekrönten Insel, der „scept’red isle“, vereint somit die Überhöhung des geographischen Standorts mit militärischen Gesichtspunkten. Seine Zuspitzung auf die Gemeinschaft erfährt dieses Bild in der Idee des gesegneten Volkes, das diese kleine Insel bewohnt, „this happy breed of men, this little world“, um in der letzten Zeile sich zu dem elementaren Anspruch der Einheit zwischen Land, Königtum und Nation zu steigern, „This blessed plot, this earth, this realm, this England.“ Inmitten dieses gewaltigen und eindringlichen Sprachbildes darf man dessen weitere Implikationen nicht übersehen. Shakespeare entwirft für seine Landsleute nicht nur eine eindringliche Projektionsfolie ihrer Zugehörigkeit zu einer von Gott erwählten Inselnation, sondern er formuliert implizit deren imperialen Anspruch gleich mit: Sein dramatisches Pathos lässt völlig außer Acht, macht sogar vergessen, dass auf diesem „precious stone“ mehr als nur die englische Nation angesiedelt ist. Mit einem Aufführungsdatum Mitte der 1590er Jahre ist die Personalunion, die unter James I. ab 1603 die englische Nation mit der schottischen verbinden sollte, allerdings noch fern. Trotzdem befleißigt sich Shakespeares Stück an dieser Stelle eines Alleinanspruchs, der bereits die expansive Ideologie der Kolonialmacht ahnen lässt. So gründet Shakespeare eine expansive Ideologie auf eine defensiv-insulare Grundhaltung. Der weitere literarische Kontext, in den sich diese Zeilen fügen, sollte hier mitbedacht werden. Shakespeares sogenannte „Second Tetralogy“, sein zweiter Zyklus von vier Dramen zur englischen Geschichte des Mittelalters, befleißigt sich, die Legitimation der Tudordynastie zu stärken. Auf der propagandistischen Ebene dieser vielschichtigen historischen Personendramen inszeniert Shakespeare dafür ein Handlungsgeschehen, das sich mit der Nation als einer imaginierten Gemeinschaft auseinandersetzt. Stärkt das erste Stück, Richard II., geschickt das Bild der Inselnation als Schicksalsgemeinschaft und verwebt dieses implizit mit einem expansiven Denken, kehrt das letzte Stück des Zyklus, Henry V., in seiner triumphalen Überhöhung der Person des titelgebenden Königs an einen wesentlichen Ursprung englischen Selbstverständnisses zurück. Indem die Eröffnungsszene ausführlich das Salische Recht zum Gegenstand des Bühnengeschehens macht14, werden nochmals die Ansprüche englischer Könige auf den französischen Thron in Erinnerung gerufen. Zur Zeit der Aufführung im Jahr 1599 kann es kaum mehr um die Durchsetzung solcher vermeintli13 William Shakespeare, King Richard II., Akt II, Szene 1, Zeile 40–50. 14 William Shakespeare, Henry V, Akt I, Szene 1, Zeile 71–89 und Szene 2, Zeile 9–114.
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chen Rechtsansprüche gehen, die der mittelalterliche König im Stück noch mit einem Überfall auf Frankreich verfolgen darf. Vielmehr werden Anspruch und Realität subtil in Beziehung zueinander gesetzt und damit das unbedingte Zurückgeworfensein auf die Inselnation zum eigentlichen Appell. Das Bild der Inselgemeinschaft, für die die See einerseits einen Schutzwall gegenüber einer feindlichen Außenwelt darstellt, andererseits aber eben auch zum Ausgangspunkt und Ansporn eines globalen Blicks wird, ist Shakespeares nachhaltige Errungenschaft in diesem Historienzyklus.
III. Invasionsängste Jenseits des Pathos, das dem Shakespeare’schen Bild der „gekrönten Insel“ innewohnt, schwebt in diesen Vorstellungen von der Inselnation mit dem Meer als seinem Festungsgraben eben auch die permanente Angst der Verwundbarkeit mit. Invasionen und Invasionsängste bilden seither einen festen Bestandteil der britischen Geschichte. Immer wieder sah sich das Land mit realen und weniger realen Invasionsszenarien konfrontiert. Aber unabhängig davon, wie handfest die jeweilige Bedrohung ausfiel, rief sie die immer gleichen Befürchtungen und Ängste hervor. Die tatsächlich letzte erfolgreiche Invasion fand unter Wilhelm von Oranien statt, der zwar von einer parlamentarischen Mehrheit als protestantische Ablösung für den letzten Stuartkönig Jakob II. ins Land gerufen wurde, dessen staatsstreichmäßiges Kommen aus den Niederlanden aber durch eine gewaltige Invasionsarmee gesichert wurde.15 Mit der französischen Revolution und später der napoleonischen Kontinentalsperre tauchten am Horizont über dem Ärmelkanal tatsächlich sehr konkrete Bedrohungen auf. Wie viele andere europäische Nationen verfolgte auch England die Ereignisse in Frankreich mit tiefster Beunruhigung. Schnell machte sich die Politik die um sich greifende Angst zu Nutze. Eine Flut an satirischen Bildern kommentiert die Stimmung, die in der britischen Öffentlichkeit vorherrschend war und durchaus gezielt geschürt wurde. Der Karikaturist James Gillray veröffentlicht in dieser Zeit das satirische Blatt, John Bull bother’d (1792). Hier taucht als Identifikationsfolie die seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts bekannte Gestalt des John Bull auf, die wie der deutsche Michel als Personifikation des Nationalcharakters dient. Das Blatt zeigt den Volkscharakter neben dem Premierminister William Pitt dem Jüngeren, während diese ängstlich über dem Ärmelkanal nach imaginären Feinden Ausschau gehalten wird. Während Pitt Invasoren aus dem revolutionären Frankreich kommen wähnt, sieht John Bull lediglich einen Schwarm Gänse fliegen. Tatsächlich unterstellt Gillray in seinem satirischen Blatt dem Premier Minister, die politische Großwetterlage auszunutzen und durch falschen Alarmismus die Bürger zu verängstigen. Pitt hatte in der Tat mit Verweis auf die Vorgänge in Frankreich die Bürgerwehren aktiviert, was aber letztendlich eher innenpolitischen Erwägungen folgte.16 15 Lisa Jardine, Going Dutch. How England Plundered Holland’s Glory, London 2009, 1–19. 16 Herwig Guratzsch (Hrsg.), James Gillray. Meisterwerke der Karikatur, Stuttgart 1986, 202.
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Auch in seinem Blatt, Promis’d Horrors of the French Invasion (1796), beschäftigt sich Gillray wieder mit dem Schüren von Invasionsängsten. Das Geschehen zeigt, wie französische Revolutionäre mit aufgesteckten Bajonetten in London einmarschieren. Der Königspalast steht in Flammen, Regierungsmitglieder werden guillotiniert oder aufgehängt. Das Blatt wendet sich dieses Mal jedoch nicht gegen William Pitt, sondern nimmt vielmehr das Tun der oppositionellen Whig-Partei aufs Korn. Es zeigt den Oppositionsführer William Fox, wie er im Gefolge der feindlichen Invasoren den Regierungschef am Freiheitsbaum auspeitscht. So verrückt und belustigend sich die Szene ausnimmt, 1796 hatte das revolutionäre Frankreich in der Tat damit begonnen, in Brest eine Invasionsarmee zusammenzuziehen. Der Aufruf zur Mobilmachung in England war von den Whigs im Parlament als unnötige Panikmache scharf kritisiert worden. Ein Irrtum, denn kurz vor Weihnachten lief aus Brest tatsächlich eine französische Flotte gen England aus, die aber im Sturm vor Irland unterging.17 Abgesehen vom konkreten innenpolitischen Hintergrund, den der Künstler zurecht kritisch betrachtet, fügen sich diese Karikaturen auch in ihrer satirischen Brechung in eine weitergefasste Bildikonographie, die hier wie anderswo eine zugespitzte binäre Ordnungsvorstellung von Innen- gegen Außenwelt wiedergibt, die gleichbedeutend mit Ordnung gegenüber Chaos ist. Im Laufe der britischen Geschichte wird diese so simple und gerade deswegen so eindrückliche Polarität zu einem wichtigen Erklärungsmuster für die Einflüsse, die von außen auf das Land eindringen. Über die Geschichte hin stets wiederholt, bildet dieses Konvolut an Vorstellungen und Reaktionsschemata einen festen Bestandteil der britischen Wahrnehmung der Welt. Wenn die Invasionsängste auch zuweilen ziemliche Blüten treiben können, dann waren sie zumindest ab 1940 umso konkreter und realer. Als Winston Churchill am Tag seines Amtsantritts als Premierminister, dem 13. Mai 1940, seinen Landsleuten mitteilte, “I have nothing to offer but blood, toil, tears and sweat”,18 da tat er dies angesichts einer zusehends verzweifelten militärischen Lage in Belgien und Frankreich. Es gehört zum nationalen Mythos, dass Churchill in fast aussichtsloser Situation ein unwilliges Parlament nur mit der Kraft seines politischen Willens und der Wortgewalt seiner Reden vom Durchhalten überzeugen konnte. In seiner berühmtesten und oft zitierten Rede vor dem Unterhaus am 4. Juni 1940, stellt er die Gefahr einer deutschen Invasion gleich an den Beginn seiner Rede: Turning once again, and this time more generally, to the question of invasion, I would observe that there has never been a period in all these long centuries of which we boast when an absolute guarantee against invasion, still less against serious raids, could have been given to our people.19
17 Ebd., 218. 18 Winston Churchill, ‚Blood, toil, tears and sweat, 13 May 1940‘, in: Winston S. Churchill (Hrsg.), Never Give in! Winston Churchill’s Speeches, London 2013a, 167. 19 Winston Churchill, ‚Wars are not won by evacuations, 4 June 1940‘, in: Winston S. Churchill (Hrsg.), Never Give in! Winston Churchill’s Speeches, London 2013b, 177.
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In dieser wichtigsten seiner Parlamentsreden während des Krieges baut seine frappierende Ehrlichkeit auf die in der britischen Kollektivpsyche festverankerten Grundkonstanten der Inselmentalität. Wie auf einem Instrument spielt Churchills Rhetorik entlang dieser tiefsitzenden Reaktionsschemata: Even though large tracts of Europe and many old and famous States have fallen or may fall into the grip of the Gestapo and all the odious apparatus of Nazi rule, we shall not flag or fail. We shall go on to the end. We shall fight in France, we shall fight on the seas and oceans, we shall fight with growing confidence and growing strength in the air, we shall defend our island, whatever the cost may be. We shall fight on the beaches, we shall fight on the landing grounds, we shall fight in the fields and in the streets, we shall fight in the hills; we shall never surrender and if, which I do not for a moment believe, this island or a large part of it were subjugated and starving, then our Empire beyond the seas, armed and guarded by the British Fleet, would carry on the struggle, until, in God’s good time, the New World, with all its power and might, steps forth to the rescue and the liberation of the old.20
Die Vorstellung, dass die Insellage bei einer Invasion kein Zurückweichen kennt, keine Alternative zum Kampf bis zum Letzten vorhält, orchestriert die Argumentation in der bekanntesten Passage aus dieser Rede Churchills, in der er den Parlamentariern und seinen Landsleuten unmissverständlich die Dramatik der Situation eindringlich vor Augen führt: „We shall fight on the beaches, […] we shall never surrender.“ Auch wenn die historische Bilanz des Staatsmanns Winston Churchill durchaus ambivalent ausfällt und ihm wohl kaum unkritisch der Heroenstatus zugestanden werden kann, der ihm insbesondere in konservativen Kreisen regelmäßig angedichtet wird, dann ist sein Einsatz an dieser Stelle, um Großbritannien im Krieg gegen das Dritte Reich zu halten, unzweifelhaft von weltpolitischer Bedeutung gewesen und vielleicht sein größtes Verdienst überhaupt. Dass es aber gerade diese Rede vom 4. Juni 1940 werden sollte, die sich im Gedächtnis vieler festsetzte und bis heute als geradezu sprichwörtliche Zusammenfassung des britischen Durchhaltewillens während des Zweiten Weltkriegs gilt, hat zu keinem geringen Teil damit zu tun, dass Churchill auf feste Vorstellungen und Ansichten seiner Zuhörenden setzte und bewusst an die Inselmentalität der Nation appellierte. So ist es unter anderem zu erklären, dass er zunächst die Verteidigung der Insel in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellt und erst danach auch die Idee eines Sieges skizziert. Der Zweite Weltkrieg mit seinen Gefahren, Verwüstungen und Entbehrungen hat nochmals die ohnehin vorhandene Wirkkraft der Inselmentalität im britischen Kollektivgedächtnis erhöht. Nicht zuletzt Churchills Reden und die reale Bedrohung während der sogenannten Schlacht um England haben dazu beigetragen, dass auch später das rhetorische Arsenal an leicht abrufbaren Tropen erhalten blieb. Dass dies aber nicht immer inmitten von Kriegs20 Ebd., 178.
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geschehnissen der Fall war, sondern auch zunehmend in profaneren Zusammenhängen stattfand, weist auf die grundsätzliche Volatilität hin, die solchen kollektiven Einstellungsmustern am Ende innewohnt. Wie leicht diese angestammten Vorstellungsmuster abgerufen werden können, zeigte sich auch in den Debatten um die EU-Mitgliedschaft. Während des Höhepunkts der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 strebten nicht wenige Asylsuchende zur französischen Küste am Ärmelkanal und hofften auf eine Aufnahme im Vereinigten Königreich. Die Gründe dafür sind vielfältig und selbst wenn man zu dem Eindruck gelangen kann, dass viele auf den britischen Inseln etwas selbstverliebt annehmen möchten, dass praktisch alle in Europa ankommenden Flüchtlinge sich nichts sehnlicher wünschten, als ins Vereinigte Königreich zu gelangen, dann zeigen die tatsächlichen Zahlen, dass dem sicherlich nicht so ist. Trotzdem verursachten die in Calais im berüchtigten „Dschungel“ lagernden Hundertschaften von Flüchtlingen, die dort auf eine Chance hofften, als blinde Passagiere auf einem Lastwagen oder einer Fähre den Kanal zu überqueren, geradezu ausufernde Ängste bei vielen Briten.21 Die Organe der Boulevardpresse überschlugen sich derart in Schreckensszenarien dieser potentiell unkontrollierten Einwanderung, dass sich schließlich auch die Regierungspartei mit diesem Thema öffentlichkeitswirksam befasste. David Camerons Äußerungen am 30. Juli 2015 auf ITV News von einem „swarm of people“, der sich auf den Weg nach Großbritannien gemacht hätte,22 markiert einen neuralgischen Punkt in der Vorgeschichte des Referendums. Kritik kam schnell und von vielen Seiten.23 Cameron nahm in der Folge seine Formulierung zwar zurück, der Schaden war aber bereits entstanden, indem das Thema sozusagen von höchster Stelle diskursfähig gemacht worden war. Analysen der Aussagen von Brexitbefürwortern zeigten in der Folge, dass kein anderes Thema einen ähnlichen Stellenwert für ihre Entscheidung einnahm.24 Es sind die Boulevardblätter, wie der Express, die Daily Mail und The Sun, sowie Breitbart News und ähnliche populistische oder offen rechtsgerichtete Medien, die aktiv und mit Vehemenz die britischen Ur-Ängste für ihre politischen Absichten instrumentalisieren. Denn die langerlernte und fast schon instinkthaft vorhandene Inselmentalität schafft an dieser Stelle einen besonders fruchtbaren Boden für das Schüren von Unruhe, die dazu beitragen soll, innere Einheit gegen vorgeblich äußere Eindringlinge herzustellen. Auf diese Weise rücken die eigentlichen Probleme in den Hintergrund und angenommene Befindlichkeiten beginnen, den politischen Diskurs zu bestimmen.
21 Alan Travis, The only ‘migrant madness’ is the tabloid pretence about events in Calais, in: The Guardian, 30.7.2015. 22 Jessica Elgott/Matthew Taylor, Calais Crisis. Cameron condemned for ‘dehuminising’ description of migrants, in: The Guardian, 30.7.2015. 23 Ebd. 24 Matthew Goodwin, ‚Brexit Britain is in denial over immigration‘, in: Politico, 20.11.2017.
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Wie schon das Beispiel von David Cameron zeigt, können auch Regierungsverlautbarungen durchaus aktiv zur Festigung angstbesetzter Szenarien im öffentlichen Diskurs beitragen und gelegentlich sogar als Taktgeber fungieren. Wenn man die Debatte beobachtet, die sich vor und nach dem Referendum um die Frage der Einwanderung entspann, dann kann man feststellen, wie sich die Tonlage um diese Thematik zusehends verspannte. Insbesondere die Brexitbefürworter wussten das politische Kapital, das in den angestammten Reflexen der britischen Öffentlichkeit schlummert, für ihre Zwecke zu nutzen. Eine insulare Wahrnehmung der Welt in vereinfachenden binären Denkmustern von schützenswerter Innen- und gefahrverheißender Außenwelt ist dabei sicherlich nicht hilfreich. Schon das tradierte und gerne in der Presse bemühte Bild von Großbritannien auf der einen Seite des Ärmelkanals und einem ebenso undifferenzierten wie amorphen „Europe“, das unterschiedslos von der Bretagne bis ans Schwarze Meer zu reichen scheint, auf der anderen, ist nicht angetan, britische Sorgenszenarien abzubauen. Das so pauschalierte Andere, dieses „Europe“ oder eben „the continent“, als das Grundverschiedene von Großbritannien, kann leicht instrumentalisiert und dämonisiert werden. Es zeigt sich also, dass sich die Inselmentalität prinzipiell in zwei wiederkehrenden Szenarien niederschlägt: Einerseits ist sie – wie aufgezeigt – stets geprägt von Invasionsängsten und damit von einer starken Innen-Außen Polarität. Andererseits nährt sie die Vorstellung der unbedingten und fast schicksalhaften Eigenständigkeit. Nicht umsonst wechseln gerade in der politischen Kampagne zum Brexit Invasionsfantasien beständig mit dem Ruf nach Rückgewinnung der eigenstaatlichen Souveränität ab. Das dabei oft fraglich bleibt, was jeweils damit gemeint sein könnte, ist bezeichnend. Die vom inzwischen notorisch gewordenen Manager der Leave-Kampagne, Dominic Cummings, bei Facebook platzierten Anzeigen sprechen hier eine deutliche Sprache. Wieder und wieder wurden potentiellen Brexitbefürwortern Bildnachrichten zugesandt, die auf den Inselstatus des Landes anspielten. Wiederholt wurden die tiefverwurzelten Invasionsängste in diesen Nachrichten gezielt bedient. Die xenophobe Botschaft von Überfremdung und Verdrängung nutzte die hier besonders alerte Infrastruktur der Inselmentalität als nützlichen Ansatzpunkt und Verstärker. Simultan weckte der eingängige Hauptslogan der Kampagne, „Take back control“, das Gefühl, die Antwort auf die Probleme liege im Austritt aus der EU und der Rückgewinnung vermeintlich verlorener staatlicher Souveränität. Wenn der amtierende Premier Minister Boris Johnson seinen Landsleuten beinahe gebetsmühlenhaft in seinen Einlassungen zum Brexit von der Rückgewinnung von Freiheit und Eigenständigkeit vorschwärmt, dann tut er dies in steter Bezugnahme auf diese kollektiven Vorstellungsmuster.25
25 Boris Johnson, Prime Minister’s statement on EU negotiations, 24 December 2020.
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IV. Ausblick: Global Britain? Das Gefühl, am Rande zu stehen, den europäischen Wirrnissen sozusagen von außen zuzusehen, liefert vielleicht die wichtigste Sichtachse im Selbstvergewisserungsbild der Briten, das die Leave-Kampagne für sich zu nutzen wusste. Systematisch wurde der Eindruck erweckt, dass außerhalb des Vereinigten Königreichs das unkontrollierbare Chaos vorherrsche und nur eine Rückbesinnung auf die natürlichen Grenzen auch als institutionelle Grenzen, das Land schützen könne. Die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 verstärkte mit seinen Bildern diese Wahrnehmung. Dass sich im Zuge der Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU über die letzten Jahre eine immer bewusstere und vielleicht auch trotzigere Politik der Selbstmarginalisierung der Briten abzuzeichnen begann, mag in Hinblick auf deren sonst doch sprichwörtlichen Pragmatismus dennoch erstaunen. Wenn Churchill in seiner berühmten Rede auf den Inselstatus anspielt, so aus Verzweiflung in auswegloser Situation. Doch, mag gefragt werden, wer wählt schon freiwillig die politische wie wirtschaftliche Isolation? Wer kann einen solchen Kurs seinen Wählern verständlich machen und sie davon mehrheitlich überzeugen? Um dies zu erklären, muss man sich die spezifischen Assoziationen ansehen, die bei dieser Außenseiterposition mitschwingen. Denn das britische Gefühl der insularen Randlage ist sicherlich von dem anderer Länder, wie beispielsweise Irland, um ein geographisch naheliegendes Beispiel zu nennen, grundverschieden. Wo sich Irland ohne die EU isoliert und abgeschnitten fühlen würde, liegt die Sache bei den Briten offenkundig anders. Denn die britische Randlage wurde über Jahrhunderte durch deren Einbettung in die globalen Kontexte eines weltumspannenden Kolonialreichs praktisch aufgehoben. Und auch jetzt spielt dieser erweiterte Bezugsrahmen eine entscheidende Rolle. Es ist nicht unwichtig festzustellen, das im Selbstverständnis vieler Befürworter des EU-Austritts eben nicht Provinzialität und Abgrenzung vorherrschen – und schon gar nicht die Furcht davor –, sondern, dass sie ganz im Gegenteil weitergesteckte Ziele im Sinn haben. Im Zuge der Kampagne für das Verlassen der EU wurde regelmäßig beteuert, dass man sich zwar aus den EU-Institutionen zurückziehen wolle, dadurch aber keinen isolationistischen Kurs einschlage, sondern eine viel weitere, globale Öffnung des Landes anstrebe. Michael Gove, eine der frühen politischen Gallionsfiguren der Leave-Kampagne, skizzierte die durch den Brexit ermöglichte neue Perspektive für sein Land: Instead of grumbling and complaining about the things we can’t change and growing resentful and bitter, we can shape an optimistic, forward-looking and genuinely internationalist alternative to the path the EU is going down.26 26 Michael Gove, ‚Statement from Michael Gove MP, Secretary of State for Justice, on the EU Referendum‘, in: Facebook, 20.02.2016.
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Was diese „internationalist alternative“ sein soll, brachte David Davis, der spätere Minister für den EU-Austritt, schon vor dem Referendum auf den Punkt: We must see Brexit as a great opportunity to refocus our economy on global, rather than regional, trade. This is an opportunity to renew our strong relationships with Commonwealth and Anglosphere countries. […] So it is time we unshackled ourselves, and began to focus policy on trading with the wider world, rather than just within Europe.27
Was diese und ähnliche Ansichten klarmachen, ist, dass der Brexit kaum vorstellbar wäre, hätte es da nicht zumindest das Gefühl gegeben, auf einen anderen politischen wie kulturellen Ordnungsraum zurückfallen zu können. Ob nun das Commonwealth als Nachfolgeorganisation des Empire, oder aber der enger gefasste Raum der sogenannten ‚Anglosphere‘, als neuer Handlungskontext des Vereinigten Königreichs mehr Illusion als denn realpolitische Größe ist, bleibt abzuwarten. Interessanterweise haben gerade die Beamten des britischen Außenministeriums die Vision eines „Global Britain“, wie sie die Konservativen unmittelbar nach dem EU-Referendum zum Schlagwort ihrer politischen Neuausrichtung gemacht hatten, intern als „Empire 2.0“-Träume abgetan.28 Dass diese Idee aber weiterhin in den Köpfen der Befürworter des Verlassens der EU auch mit einem lediglich minimalen Handelsvertrag eine feste Größe darstellt, ist den verschiedenen Verlautbarungen der Kabinettsmitglieder der Regierung Johnson zu entnehmen. Im Herzen des Rufs nach einer Rückbesinnung auf die kosmopolitische Freihandelstradition des Vereinigten Königreichs, der von nicht wenigen der politischen Schwergewichte im neuen, von Brexitbefürwortern dominierten Kabinett unter Boris Johnson vorgebracht wird, steht aber vor allem der Glaube, im Rahmen der Staaten des Commonwealth einen ehedem angestammten politischen wie wirtschaftlichen Handlungsrahmen für das Land zurückgewinnen zu können. Die Vorsilbe „zurück-“ ist dabei entscheidend. Tatsächlich wird von konservativen Stimmen immer wieder angemerkt, dass der EWG-Beitritt des Vereinigten Königreichs 1973 das Land nicht nur seiner globalen Verbindungen beraubt hätte, sondern einem Verrat an den Ländern des ehemaligen Empires gleichgekommen sei. Impliziert in dieser Sicht der Dinge ist eine moralische Verpflichtung gegenüber den ehemals kolonial mit dem Vereinigten Königreich verbundenen Nationen. Das Argument ist spannend, nicht nur, weil es von einem eher unzeitgemäßen kolonialen Sendungsbewusstsein zeugt, sondern auch, da der Beweis längst erbracht ist, dass diese Vorstellungen von den verschiedenen Nationen des Commonwealth und der Anglosphere nicht unwidersprochen geteilt werden. Tatsächlich verhielt sich die Mehrzahl der Angesprochenen eher reserviert. 27 Zitiert nach Ben Wellings, ‚The Anglosphere in the Brexit Referendum‘, in: Revue Française de Civilisation Britannique (XXII-2) 2017, 2. 28 James Blitz, Post-Brexit delusions about Empire 2.0, in: Financial Times, 7.3.2017.
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Erst mit dem Aufstieg von Donald Trump war zumindest am US-amerikanischen Horizont ein Silberstreif für die Brexitbefürwortern zu verzeichnen, nachdem sich zuvor die US-Administration unter Barack Obama noch offen ablehnend gezeigt hatte.29 Damals noch Bürgermeister Londons, ereiferte sich in der Folge Boris Johnson 2016 in der Boulevardzeitung The Sun über das Entfernen einer Churchill-Büste aus Obamas Oval Office. Wenig implizit unterstellte er dem US-Präsidenten, dass dieser wohl auf Grund seiner „halb-Kenianischen“ Abstammung einen Groll gegenüber dem britischen Empire und dem britischen Kriegspremier hegen würde. Wörtlich schrieb er in seinem Gastbeitrag: „Some said it was a snub to Britain. Some said it was a symbol of the part-Kenyan President’s ancestral dislike of the British empire.“30 Selbst wenn Johnson geschickt die rassistische Botschaft anderen in den Mund legt, wo er schreibt, „some said“, seine typisch polemische Einlassung hat es zweifelsohne in sich. Nimmt man diesen Seitenhieb genauer in Betracht, dann muss man auch den in der Tendenz rassistischen Kern der Anglosphere-Vorstellung bemerken, wie sie von Brexitbefürwortern zuweilen entworfen wird. Das Empire, über dem einst die Sonne nicht unterging, ist bei dieser Vision verdächtig auf die Gebiete geschrumpft, die vorwiegend weiße Siedlergesellschaften darstellen: die USA, Kanada, Australien und Neuseeland. Wenig unverhohlen entsteht die Vision einer „Pan-Saxon Alliance“ neu, die schon um die Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert kursierte.31 Die Autoren des 2016 als Onlinedatenbank veröffentlichten „Legacies“ Projekts zur Bedeutung der Sklaverei für die wirtschaftliche Entwicklung des Vereinigten Königreichs im 18. und 19. Jahrhundert weisen in ihrer Begleitstudie darauf hin, dass es bzgl. wesentlicher Aspekte der Kolonialgeschichte, wie u. a. dem Sklavenhandel, in Großbritannien eine nationale Amnesie gäbe.32 In Zeiten eines grassierenden Populismus kann eine vergessene oder unterdrückte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit leicht zur politischen Nemesis werden. Oder, wie Duncan Bell im Prospect Magazine schon 2017 warnte, bevor man sich versieht, ist man eingeladen, zurück in die Zukunft zu marschieren: Like so much else about the current moment—from the planned restoration of grammar schools to cries for relaunching the Royal Yacht Britannia—the past serves as inspiration and guide. We are invited to march back to the future.33
29 Jochen Buchsteiner, Paukenschlag mit Overtüre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.4.2016. 30 Boris Johnson, ‚UK and America can be better friends than ever Mr Obama … if we LEAVE the EU‘, in: The Sun, 22.4.2016. 31 Michael Kenny/Nick Pearce, Shadows of the Empire. The Anglosphere in British Politics, Cambridge 2018, 21. 32 Catherine Hall et al., Legacies of British Slave Ownership. Colonial Slavery and the Formation of Victorian Britain, Cambridge 2016, 1–2. 33 Duncan Bell, ‚The Anglosphere. New enthusiasm for an old dream‘, in: Prospect, 19.1.2017.
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II. EU-Essayistik der Intellektuellen
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Gründerväter im literarischen Europadiskurs Robert Menasse und Ulrike Guérot I. Vorbemerkung 2018 veröffentlichte Günter Blamberger in einem von Michael Braun herausgegebenen Band den Essay „Minima Europeana“ zum Thema der europäischen Gegenwartsdichtung.1 Blamberger interpretierte Erzählungen aus einer von Thomas Geiger 2015 zusammengestellten Anthologie, die den Untertitel „Eine literarische Reise durch Europa“2 trug: eine Sammlung von Geschichten aus den Staaten der Europäischen Union. Ich greife drei Stichworte aus Blambergers Essay auf, die dazu angetan sind, die literaturwissenschaftliche Diskussion um den Europadiskurs weiterzubringen. Erstens: das „Wissen von Europa“3 in der Erzählliteratur; zweitens: das „futurische Denken“4 in Abgrenzung von utopischen Entwürfen; drittens Goethes „Literator“5 als Medium der Verständigung. Ausgehend von Blambergers drei Stichworten möchte ich auf die definitorischen Unterschiede zwischen „europäischer Literatur“ und „Europa-Literatur“ hinweisen: erstens gattungstheoretisch, zweitens geistesgeschichtlich und drittens kommunikationsmethodisch. Gattungstheoretisch gesprochen ist „Europäische Literatur“ ein sehr genereller Begriff, umfasst er doch alle in Europa existierenden dichterischen Untergattungen von Essay, Drama, erzählender Literatur und Lyrik, wobei diese Hauptgattungen wiederum zahllose Spezifizierungen kennen. Auch der Essay ist eine literarische Gattung, wenngleich das in Gesamtdarstellungen literarischer Epochen nicht selten vergessen wird. Innerhalb der proteushaften Essayistik wiederum gibt es eine Untergattung, die man zurecht als „Europa-Essay“ bezeichnet. Bei ihm geht es primär um die Erfassung von kontinentalen Tendenzen in Vergangenheit und Gegenwart und einer möglichen Zukunft. Im engeren Sinne stehen hier 1 Günter Blamberger, Minima Europeana: Wie europäische Gegenwartsliteratur unser Wissen von Europa formt, in: Michael Braun (Hrsg.), Deutsche Literatur und europäische Zeitgeschichte, Tübingen 2018, 265– 274. 2 Thomas Geiger (Hrsg.), Luftsprünge: Eine literarische Reise durch Europa, München 2015. 3 Vgl. dazu auch Paul Michael Lützeler, Kontinentalisierung: Das Europa der Schriftsteller. Bielefeld 2007. 4 Vgl. dazu auch Leslie A. Adelson, „Experiment Mars: Contemporary German Literature, Imaginative Ethno scapes, and the New Futurism“, in: Mark W. Rectanus (Hrsg.), Über Gegenwartsliteratur. Interpretationen und Interventionen, Bielefeld 2008, 13–22. 5 Paul Michael Lützeler, Zur Zukunft der Nationalphilologien: Europäische Kontexte und weltliterarische Aspekte, in: IASL 45 (2020), 1, 69–83.
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jene Versuche im Vordergrund, die erstens Gemeinsamkeit, Ähnlichkeit und Differenz in der kulturellen Vielfalt des Kontinents konturieren sowie zweitens mögliche Unifikationsprojekte wirtschaftlicher oder friedenspolitischer Art propagieren. „Europa-Literatur“ ist also etwas Anderes als „europäische Literatur“. Innerhalb der „Europa-Literatur“ spielt der Essay die wichtigste Rolle. „Wissen von Europa“ vermitteln auf jeweils andere Weise sowohl die Essays wie die fiktionalen oder biografischen Erzählungen. Es gibt auch Europa-Romane.6 Sie sind nicht auf aktuelle gesellschaftskritische Interventionen bedacht, sondern versuchen kontinentale Kulturkrisen qua Erzählung zu verdeutlichen. Im 20. Jahrhundert kann man da an Romain Rollands Jean-Christophe, an Thomas Manns Der Zauberberg, an Hermann Brochs Der Tod des Vergil denken, und in der Gegenwart fallen einem Titel wie Brabant von Hans Pleschinski7 und Die Hauptstadt von Robert Menasse8 ein. Geistesgeschichtlich gesehen sind die Europa-Essays keine utopischen Phantasien von Orten, die es nirgends gab oder geben wird. Sie stehen nicht in der Tradition eines Thomas Morus, Tommaso Campanella oder Étienne Cabet. Es sind vielmehr futurische Entwürfe mit einem Sinn fürs Mögliche. Sie eröffnen Perspektiven zur Überwindung aktueller Krisen und zur Vermeidung von künftigen Kriegen. Sie sind keinesfalls immer im Augenblick realisierbar, verstehen sich aber als Antizipationen, als denkerische Vorarbeiten, die in Zukunft Veränderungen erleichtern können. So lesen sich jedenfalls die Essays von Franzosen wie St. Pierre, Rousseau, St. Simon und Victor Hugo, von Autoren und Autorinnen aus Österreich wie Hugo von Hofmannsthal und Bertha von Suttner, von Deutschen wie Heinrich Heine und Thomas Mann und in der Gegenwart von Westeuropäern wie Adolf Muschg, Ilma Rakusa, Cees Nooteboom, Barbara Frischmuth, Hans Magnus Enzensberger, Yoko Tawada und Robert Menasse sowie von Mittel- oder Osteuropäern wie Claudio Magris, Václav Havel, Milan Kundera, György Konrád und Andrzej Szczypiorski. Kommunikationsmethodisch betrachtet unterscheidet sich die europäische als kontinentale Literatur von der der Weltliteratur. In den letzten 20 Jahren ist international viel über Weltliteratur geschrieben worden (man denke an Studien von Pascale Casanova, David Damrosch und Franco Moretti). Besonders David Damrosch berief sich dabei gerne auf Goethes Anmerkungen zur Weltliteratur, und mir scheint, dass er – ähnlich wie Günter Blamberger – den Begriff des „Literators“ verstanden hat. Goethe rückübersetzte ja nicht lediglich das französische Wort „littérateur“ (also Literat) ins Lateinische. Er meinte mehr als nur den Autor und bezog sich auf alle vermittelnden Agenten, also auf jene, die am Geschäft des Übersetzens beteiligt sind, auch auf die Verleger, die Buchhändler und die Kriti6 Lena Wetenkamp, Europa erzählt, verortet, erinnert: Europa-Diskurse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Würzburg 2017. Es gibt auch Gedichte, die zur Europa-Literatur gezählt werden können. Vgl. Rüdiger Görner, Das Europäische in Schillers Lyrik, in: Ders., Europa wagen! Aufzeichnungen, Interventionen und Bekenntnisse, Baden-Baden 2020, 51–70. 7 Hans Pleschinski, Brabant. Roman zur See, Frankfurt/Main 1995. 8 Robert Menasse, Die Hauptstadt. Roman. Frankfurt/Main 2017.
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ker. Goethe sprach sowohl von einer „europäischen“ Weltliteratur wie von einer „allgemeinen Weltliteratur“.9 Eine neue transkulturelle Auseinandersetzung wie sie zum Begriff der Weltliteratur eingesetzt hat, wünscht man sich auch für den der europäischen Dichtung. Da haben deutsche Kosmopoliten von Herder über die Schlegel-Brüder bis Ernst Robert Curtius schon Vorarbeit geleistet. Die Europa-Literatur als Teil der europäischen Literatur trägt ihrer Tendenz nach transnationale Züge, weil sie ästhetisch den kontinentalen Formenreichtum reflektiert und thematisch auf die Entwicklung des ganzen Erdteils bezogen ist. Das bedeutet aber nicht, dass die nationale Ebene ignoriert werden kann oder dass man sie im Hinblick auf die konkrete europäische Einigung ausschalten könnte. Mit der Frage, wie die Nationen am Aufbau der europäischen Integration in der Vergangenheit beteiligt waren und in Zukunft sein können, beschäftigt sich dieser Beitrag. Das ist nötig, weil sich die zeitgenössische Europa-Essayistik mit Vorstellungen der Gründungsväter der EWG10 beschäftigt und es dabei zu gravierenden Missverständnissen gekommen ist.
II. Karolingische Preisreden Einen lebhaften Dialog zwischen Schriftstellern über Europa, seine politische Verfasstheit und kulturelle Eigenart gibt es schon seit der frühen Neuzeit.11 Unter Autoren denkt man bereits seit Romantik und Vormärz über mögliche staatliche Formen eines politisch geeinten Kontinents nach.12 Provozierte nicht in den 1920er Jahren Richard Coudenhove-Kalergis Schrift und Bewegung Pan-Europa die denkbar lebhafteste Diskussion unter den europäischen Intellektuellen über künftige kontinentale Gemeinschaftsformen?13 Publizierte nicht Julien Benda kurz vor Hitler seine weitsichtige „Rede an die europäische Nation“?14 Eine Schrift, die, lange vergessen, von Antje Büssgen wiederentdeckt wurde. Gab es nicht seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Phasen, in denen Schriftsteller zahllose pro-europäische Stellungnahmen verfassten? Zu denken ist erstens an die Zeit zwischen 1945 und 1957, also vom Kriegsende bis zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und zweitens 9 Hendrik Birus, Goethes Idee der Weltliteratur. Eine historische Vergegenwärtigung, in: Manfred Schmeling (Hrsg.), Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven, Würzburg 1995, 5–28. 10 Vgl. Martin Große Hüttmann, Prägende Persönlichkeiten in der Geschichte der EU-Integration, in: Peter Becker/Barbara Lippert (Hrsg.), Handbuch Europäische Integration, Wiesbaden 2019, 1–27. 11 Nicolas Detering, Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit, Köln 2017. 12 Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Europa. Analysen und Visionen der Romantiker, Frankfurt/Main 1982. 13 Paul Michael Lützeler, Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1992, 272–364. Zu dem Folgenden vgl. auch die Seiten 402–441. 14 Antje Büssgen, „Umwege zu einem geeinten Europa. Zum Verhältnis von Kultur und Politik bei Friedrich Schiller, Stefan Zweig und Julien Benda“, in: Martina Wörgötter (Hrsg.), Stefan Zweig. Positionen der Moderne, Würzburg 2017, 91–130.
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an die Dekade zwischen 1985 und 1995, als die „Jalta-Teilung“ des Kontinents überwunden wurde.15 Nach 1945 sprachen Autoren wie T.S. Eliot, Ernst Jünger und Alfred Andersch nicht ins Leere, wie der Haager Europa-Kongress im Mai 1948 zeigte. Der reagierte auf die Begeisterung in Teilen der westeuropäischen Jugend für das Projekt einer kontinentalen Kooperation. Damals kamen in der niederländischen Hauptstadt Möglichkeiten eines kulturellen europäischen Austausches zur Sprache, ja gar einer politischen Föderation Europas. Zu ihren Teilnehmern zählten unter anderem François Mitterrand, Konrad Adenauer, Walter Hallstein und Altiero Spinelli, die sich danach für eine Politik der europäischen Integration engagierten.16 Die zweite Phase fiel in die Jahre um 1990. Aus der mittel- und osteuropäischen Dissidenten-Bewegung heraus entwickelte sich eine Diskussion um die Rolle eines nicht mehr geteilten Europas zwischen den Machtblöcken USA und Sowjetunion. Entscheidende Impulse lieferten Autoren wie Milan Kundera, Václav Havel und György Konrád. Heute liegt 1989 bereits mehr als drei Jahrzehnte zurück und zu überlegen ist, ob man die Chance einer kontinentalen Neuordnung gut genutzt hat. Anders als nach 1945 und in den Jahren vor 1990 lassen sich heute die Essayisten unter den Autoren nur selten auf eine öffentliche Grundsatzdebatte über Europa ein. In mancher Hinsicht sind sich das ehemalige Ost- und das frühere West-Deutschland fremd geblieben,17 und so ist das Land, was Fragen der ökonomischen und kulturellen Einheit betrifft, nach wie vor stark mit sich selbst beschäftigt. Und ist die Bundesrepublik nicht längst ein sogenannter „global player“ geworden, dessen Kontakte in Wirtschaft und Wissenschaft weit über die europäischen Grenzen hinausreichen? Hinzu kommen internationale Verwerfungen mit Flüchtlingswellen aus dem Nahen Osten und Afrika, womit sich die meisten Deutschen überfordert sehen. Und auch die Seuche Covid-19 ist nicht dazu angetan, eine neue EuropaEuphorie zu entfachen. In den ersten elf Jahren seines Bestehens erhielten den 1950 von der Stadt Aachen gestifteten Karlspreis alle Politiker, die maßgeblich an der Gründung von Montanunion und Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft beteiligt gewesen waren: Alcide De Gasperi, Jean Monnet, der bereits erwähnte Konrad Adenauer, Paul-Henri Spaak, Robert Schuman, Joseph Bech und Walter Hallstein. Alle Gründungsväter nahmen die Gelegenheit wahr, in den Dankesreden zum Karlspreis ihre Europa-Perspektiven zu erläutern. Da kommt viel rückwärtsgewandt Pathetisch-Prophetisches vor, etwa die als exemplarisch verstandene vorstaatliche Bildungspolitik Karls des Großen. Dessen Reich war geografisch gesehen mit der Montan-Union der sechs Mitgliedsländer nahezu identisch. Damit hören aber die möglichen Parallelen zwischen dem Frankenreich und der EWG auch schon auf. War Carolus Magnus Verfechter eines kontinentalen Friedenskonzepts? Oder brach er sein Leben lang 15 Lützeler, Die Schriftsteller, 402–482. 16 Wilfried Loth, Vor 60 Jahren: Der Haager Europa-Kongress, in: integration (2008), Heft 31, 179–190. 17 Der Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer (Hrsg.), Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Frankfurt/Main 2018.
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Eroberungskriege vom Zaun? Konnte man von einem freiwilligen Zusammenschluss der Völkerschaften Westeuropas unter seiner Dominanz reden (wenn denn von Völkerschaften zu dieser Zeit überhaupt die Rede sein konnte)? Hatte sein Herrschaftsverständnis irgendetwas mit jenen demokratischen Regierungsvorstellungen zu tun, die von den verantwortlichen Baumeistern eines neuen West-Europas in der Nachkriegszeit geteilt wurden? Konnte es im religiös-weltanschaulichen Bereich einen größeren Gegensatz geben als den zwischen dem päpstlich-kaiserlich-lateinisch-westlichen Christentum der Zeit um 800 und dem weltanschaulich wie ideologisch uneinheitlichen Europa von 1950? Wie sollte zudem das karolingische Reich, das bereits nach einem halben Jahrhundert in drei sich bekriegende Teile zerfiel, ein Modell des künftigen Europas abgeben, das als Friedensreich auf lange Sicht geplant war? Die karolingische Abendland-Ideologie der 1950er Jahre ist heute schwer nachvollziehbar. Auf die sachlich-antizipierenden Europa-Konzepte von zwei besonders profilierten und aktiven Karls-Preisträgern soll jedoch eingegangen werden: auf die von Jean Monnet und Walter Hallstein.
III. Monnets und Hallsteins Föderationsvorstellungen Jean Monnet erhielt den Karlspreis 1953 als er der erste Präsident der Hohen Behörde der Montanunion war. Er sah in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) den „wirklichen Anfang Europas“, da hier die „sechs Parlamente“ der Mitgliedsländer „einen Teil ihrer Souveränität“ auf die „Hohe Behörde […] übertragen“ hatten“.18 Monnet betonte „das endgültige Verschwinden des jahrhundertelangen, zerstörerischen deutsch-französischen Gegensatzes“19. Von hier ausgehend geißelte er allgemein die früheren nationalen Antagonismen, die nun „durch die Einigung der Europäer“20 überwunden werden könnten. So sehr er sich gegen den fatalen Nationalismus der Einzelstaaten im Europa der Vergangenheit wandte, so sehr setzte er die Hoffnung auf eine neue Kooperation der Nationen in der Gegenwart. Als 1957 dem Belgier Paul Henri Spaak der Karlspreis verliehen wurde, hielt Jean Monnet die Laudatio. Damals waren gerade die Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) unterzeichnet worden, und Paul Henri Spaak war daran federführend beteiligt gewesen. Monnet vertrat unter den Föderalisten die Vorstellung der pragmatischen Funktionalisten, die durch schrittweise Weiterung der Integration des Kontinents auf allen Gebieten (und nicht aus einer Verfassung heraus) den europäischen Bundesstaat bauen wollten. Für Monnet war der EWG-Vertrag eine entscheidende Station
18 Franco Bettin/Anke Büttner (Hrsg.), 50 Jahre Internationaler Karlspreis zu Aachen 1950–2000, Aachen–Monschau 2000, 57. 19 Ebd. 20 Ebd., 58.
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auf dem Weg zu seinem Ziel der Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“21. Monnet widmete diesem Lebensziel ein ganzes Kapitel in seinen Memoiren. Dort berichtet er über das von ihm 1955 eingerichtete und von ihm 1975 aufgelöste „Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa“.22 Im avisierten europäischen Bundesstaat sollten die Einzelnationen nicht wie in einem zentralistisch organisierten Machtgefüge abgeschafft werden, sondern als Teile eines Bundes mit abgestimmten Kompetenzen existieren, vergleichbar in etwa den föderativ organisierten Kantonen der Schweiz, den Ländern der Bundesrepublik Deutschland und den „states“ der Vereinigten Staaten von Amerika. Monnet, der sich für längere Zeit in den 1920er, 1930er und 1940er Jahren als Geschäftsmann, Bankier und Politikberater in den USA aufhielt, war ein Bewunderer der Vereinigten Staaten.23 Ohne die Amerikaerfahrung wäre er kein Föderalist geworden. Als Franzose aus einer reichen bürgerlichen Familie war er politisch in den Vorstellungen des zentralistischen Machtstaates aufgewachsen. Sein Seitenwechsel aus der Welt von Krieg, Kommando, Machtkonzentration und Souveränitätsbehauptung zu der von Friede, Diplomatie, Föderation und Souveränitätskonzession, d. h. die zunehmende Distanz zur Napoleonischen Sphäre und die wachsende Nähe zum Denken von Thomas Jefferson kam der Integration Europas zugute. Monnet hatte nicht nur keine Einwände gegen die Gruppe der nationalen Staatschefs in der EWG, sondern setzte große Hoffnungen auf sie. Er löste sein Aktionskomitee nach zwanzig Jahren auf, weil er der Überzeugung war, dass der Europäische Rat die Arbeit des Komitees fortsetzen werde.24 Als Walter Hallstein 1961 mit dem Karlspreis geehrt wurde, hielt Jean Monnet wiederum die Laudatio. Monnet sah die Wahlverwandtschaft zwischen sich und Hallstein darin begründet, dass sie beide durch Integration die europäische Einheit erreichen wollten.25 Anders als Monnet zählte Hallstein allerdings nur bedingt zu den Funktionalisten unter den Föderationsbefürwortern. Im Gegensatz zu Monnet strebte er den europäischen Bundesstaat mit Hilfe einer Verfassung an. In seiner eigenen Ansprache zitierte Hallstein zustimmend die Parole, die Churchill in seiner Zürich-Rede von 194626 ausgegeben hatte: dass der Kontinent
21 Ebd. 73. 22 Jean Monnet, Erinnerungen eines Europäers. Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt. Baden-Baden 1988, 513–545. Vgl. auch das folgende Kapitel in Monnets Erinnerungen: „Die politische Einheit. Auf dem Weg zur Konföderation“, 547–566. Hier beschreibt Monnet, wie er wegen der Widerstände gegen eine Föderation durchaus als Schritt hin zum Ziel eines Bundesstaates eine Konföderation (einen Staatenbund) akzeptiert. Dazu heißt es: „Ich für meinen Teil zweifele nicht daran, daß eine Konföderation eines Tages zu einer Föderation führen wird.“ (554). 23 Ebd. (5. und 6. Kapitel). 24 Vgl. Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa, https://de.wikipedia.org/wiki/Aktionskomitee_ f%C3%BCr_die_Vereinigten_Staaten_von_Europa (abgerufen 12.11.2020). 25 Bettin/Büttner, 50 Jahre, 95. 26 Winston Churchill, „The Tragedy of Europa“, in: Ders. Complete Speeches 1897–1963, vol. VII 1943–1949, ed. by Robert Rhodes James. New York et al. 1974, 7379–7382. Churchill hielt die Rede an der Universität Zürich am 19. September 1946.
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(allerdings ohne Großbritannien) „eine Art von Vereinigten Staaten von Europa“27 schaffen solle. Hallstein plädierte in seinem Spätwerk Der unvollendete Bundesstaat28 von 1969 für einen „Bundesstaat, nicht einen Einheitsstaat“. Als Ziel gab er hier die „Vereinigten Staaten von Westeuropa“29 aus. Die stellte er sich „bundesstaatsähnlich“ strukturiert vor, wobei das „Eigenständige des Nationalen“30 erhalten bleiben müsse. Sowohl Monnet wie Hallstein vertrauten auf die Kraft der Nationen, eine europäische Föderation zu etablieren.
IV. Robert Menasse und seine Berufung auf die Gründungsväter Die beiden Gründungsväter Hallstein und Monnet werden aber von Europa-Essayisten der Urenkel-Generation – wie Robert Menasse und Ulrike Guérot – für ihre ganz anderen Europa-Visionen als Eideshelfer angerufen. In seinen Essaybänden wünscht Menasse den Untergang der europäischen Einzelnationen herbei und träumt von einer Europa-Föderation der Regionen.31 Für ihn sind die Regierungschefs der Mitgliedsländer wie sie im Europäischen Rat vertreten sind, die Verhinderer der europäischen Einheit. Die „demokratische Legitimation“ des Europäischen Rates sei „bloße Chimäre“, da die „Regierungschefs“ in „nationalen Wahlen“ an die Macht gekommen seien, bei denen Erwägungen über die Kompetenz „supranationale Entscheidungen“32 zu treffen, keine Rolle gespielt hätten. Den Europäischen Rat will Menasse aus dem Machtgefüge der EU verbannt sehen und führt dabei drei Argumente an: erstens sei für diese Institution ein selbstevidenter Nationalismus charakteristisch; zweitens verletze sie das Subsidiaritätsprinzip und drittens entspreche sie nicht den Absichten der Gründungsväter. Erstens zum inkriminierten Nationalismus: Muss man Nation und Nationalismus als untrennbar miteinander verbunden sehen?33 Dass die europäische Bewegung sich die Überwindung des Nationalismus auf die Fahnen geschrieben hat, ist richtig. Aber haben die Europastrategen auch die Abschaffung der Nationalstaaten 27 Bettin/Büttner (Hrsg.), 50 Jahre, 97. 28 Walter Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat. Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse. Unter Mitarbeit von Hans Herbert Götz und Karl-Heinz Narjes, Düsseldorf 1969. 29 Ingrid Piela, Walter Hallstein – Jurist und gestaltender Europapolitiker der ersten Stunde. Politische und institutionelle Visionen des ersten Präsidenten der EWG-Kommission (1958–1967), Berlin 2012, 93. 30 Ebd., 94. 31 Antje Büssgen, Radikale Revolution: Der Wandel von Robert Menasses europapolitischer Haltung. Von den Frankfurter Poetikvorlesungen zum Europäischen Landboten, in: Michael Braun (Hrsg.), Deutsche Literatur und europäische Zeitgeschichte, Tübingen 2018, 233–254. 32 Robert Menasse, Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss, Wien 2012, 36. 33 Aleida Assmann, Die Wiedererfindung der Nation, München 2020, 27. Sie wendet sich in ihrer Kritik an Menasse gegen die Verwischung der Unterschiede zwischen Nationalem und Nationalistischem. Dabei zitiert sie Paul Michael Lützeler, National ist nicht gleich nationalistisch. Robert Menasses Thesen zu Europa, in: Der Tagesspiegel (9.1.2019), 19.
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gewollt? Die Montanunion, die EWG, die Europäische Gemeinschaft und die Europäische Union sind von Nationen gebaut worden. Haben die nicht freiwillig auf Teile ihrer Souveränität verzichtet, indem sie supranationale Institutionen wie die Hohe Behörde und die Kommission schufen? Zweitens zum Subsidiaritätsprinzip und der Favorisierung der Regionen: Nicht die Nationen, sondern die Regionen sollen nach den Vorstellungen von Menasse „ihre Abgeordneten ins Parlament“ wählen, und dieses wiederum müsse den „Kommissionspräsidenten“ und die „Kommissare“ bestimmen. Die konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips – so Menasse – führe dazu, dass „die Nationen nach und nach verschwinden“ würden. Aber hat die Einführung des Subsidiaritätsprinzips in der EU nicht ein ganz anderes Ziel? Im Vertrag von Lissabon34 ist es in Artikel 5, Absatz 3 nachzuschlagen. Das Subsidiaritätsprinzip sichert, dass lokale Verwaltungen für Lokales, regionale Administrationen für Regionales, nationale Regierungen für Nationales und die Brüsseler EU-Behörden für Kontinentales zuständig sind. Es führt keineswegs zur Dominanz der Regionen und zur Abschaffung der Nationen. Im Gegenteil, es sichert die Existenz der Mitgliedstaaten als Nationen. Drittens zur Berufung auf die Gründungsväter. Menasse begeistert sich für die angebliche „Utopie“ der Europa-Pioniere der 1950er Jahre. Nach dem Willen von Jean Monnet und Walter Hallstein sollten, wie der Autor schreibt, die „Nationalstaaten […] absterben“.35 Zum Beleg wird auf die Memoiren Jean Monnets verwiesen. Für Monnet aber war – wie erwähnt – der EWG-Vertrag eine entscheidende Station auf dem Weg zu seinem Ziel, dem Aufbau der „Vereinigten Staaten von Europa“ als Föderation der europäischen Nationalstaaten. Hallstein sah das ähnlich. Auf ihn beruft Menasse sich bei seiner Vision vom Verschwinden der Nationalstaaten mit erfundenen Zitaten. Er selbst hat nachträglich zugegeben, dass die Zitate „nicht ‚existent‘“ seien, doch würden sie „durch andere Aussagen von Hallstein inhaltlich gestützt“. Ihm ginge es nicht um „das ‚Wörtliche‘“, sondern „um den Sinn“.36 Die „anderen Aussagen“ werden aber nicht zitiert und können nicht angeführt werden, weil sie nicht exis-
34 https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/02be9e3d-561d-4ed3-b78f-1be170d19127 (abgerufen 15.11.2020). 35 Menasse, Landbote, 12. 36 Ansgar Graw, „Menasses Co-Autorin sagt, sie wusste nichts von falschen Zitaten“. Welt-online. 27.12.2018: https://www.welt.de/politik/deutschland/article186139730/Falsche-Zitate-Co-Autorin-Ulrike-Guerot-zumFall-Robert-Menasse.html (abgerufen 21.10.2020).2019 erhielt Robert Menasse verdienterweise die CarlZuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz. In einer gemeinsamen Erklärung vom 7. Januar 2019 mit der Ministerpräsidentin Malu Dreyer hielt Menasse fest: „Es war ein Fehler von mir, Walter Hallstein in öffentlichen Äußerungen und nicht-fiktionalen Texten Zitate zuzuschreiben, die er wörtlich so nicht gesagt hat. Es war unüberlegt, dass ich im Vertrauen auf Hörensagen die Antrittsrede von Hallstein in Auschwitz verortet habe. Diese hat dort nicht stattgefunden. Das hätte ich überprüfen müssen. Ich habe diese Fehler nicht absichtsvoll und nicht mit dem Ziel der Täuschung begangen […] und entschuldige mich bei allen, die sich getäuscht fühlen.“ (https://www.rlp.de/de/service/pressemeldungen/einzelansicht/news/detail/News/dreyerund-menasse-vorbehaltlose-ankerkennung-von-fakten-gehoert-zum-wertefundament-unserer-liberalen), abgerufen 18.3.2021.
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tieren. Auch dieses „Sinn“-Argument entbehrt jeder Grundlage. Hallstein hat nie als Ziel der Europäischen Gemeinschaft ausgegeben, die Nationen des Kontinents abzuschaffen.
V. Ulrike Guérot und ihr Konzept der „Nation Europa“ Hier ist auch die publizistisch tätige Europa-Aktivistin und Kremser Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot zu erwähnen, die 2017 gemeinsam mit Robert Menasse das „Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik“ veröffentlichte. Darin ist einer der markanten Menasseschen Hallstein-Sprüche zu finden: „Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee“.37 Das ist Menasse, nicht Hallstein. Für die falschen, von ihr nicht überprüften Hallstein-Zitate hat Ulrike Guérot sich inzwischen entschuldigt.38 In dem Manifest wird die Meinung vertreten, dass es sich bei der Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ um eine „geschichtsignorante Phrase“ handle, die man nicht „aufzuwärmen“ gedenke. Die Schaffung der europäischen Vereinigten Staaten war aber genau das Ziel, das sowohl Hallstein wie Monnet anstrebten. Das Manifest ist ein Plädoyer für ein „nachnationales Konzept“ der EU, für eine „transnationale Demokratie“, für die „Begründung einer Europäischen Republik“. Es enthält bereits die nie aufzugebende Forderung nach „sozialer Gerechtigkeit“ (inklusive einer „europäischen Altersversorgung“), ein Thema, das Oskar Negt in seinem Gesellschaftsentwurf Europa von 2012 in den Vordergrund gerückt hatte. Negt fordert eine „soziale Basis“ der EU-Politik und erinnert daran, „dass die sozialstaatliche Entwicklung in den europäischen Kernländern Verfassungsrang“ habe. So erkennt er in der „Weiterentwicklung des Sozialstaates“ ein „wesentliches Element im Prozess der europäischen Einigung“.39 Negt kritisiert, dass Jürgen Habermas in seinem Essay Zur Verfassung Europas von 201140 den sozialstaatlichen Aspekt ausklammert. Er zitiert Habermas: „Die Europäische Union wird sich langfristig nur stabilisieren können, wenn sie die unter dem Zwang ökonomischer Imperative fälligen Schritte zu einer Koordinierung der relevanten Politiken nicht im bisher üblichen goubernativ-bürokratischen Stil , sondern auf dem Weg einer hinreichenden demokratischen Verrechtlichung vollzieht.“41 Dazu bemerkt Negt, dass es ihn „bei der Lektüre irritiert, um nicht zu sagen, erschreckt“ habe, „wie selbst er bestimmte Wirklichkeitsbereiche, die auf der Unterseite der Gesellschaft, vielleicht auf sozialen Schattenseiten liegen, vergisst
37 Die Presse https://www.diepresse.com/1379843/manifest-fur-die-begrundung-einer-europaischen-republik (abgerufen 21.10.2020). Das Manifest ist enthalten in dem Buch: Robert Menasse/Ulrike Guérot. Kritik der Europäischen Vernunft, Siegburg 2017. 38 Vgl. Graw, Menasses Co-Autorin. 39 Oskar Negt, Gesellschaftsentwurf Europa. Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen. Göttingen 2012, 17, 18, 19. 40 Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin 2011. 41 Ebd. 55; bei Negt, Gesellschaftsentwurf, 16–17.
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oder ausspart.“42 Zwar spreche Habermas „in einem dem Buch vorangestellten Artikel von den realistischen Utopien der Menschenwürde, der Menschenrechte;43 aber sie kommen unten nicht an, kein Wort zur Beziehung zwischen Arbeit und Menschenwürde, kein Wort über die Bedeutung des Sozialstaates für die europäische Integration.“44 Das ist das Hauptthema in Guérots neuem Buch Was ist die Nation?45 Auch mit Oskar Negt hat Ulrike Guérot gemeinsam publiziert; so ihre Schrift Europa jetzt! Eine Ermutigung46 von 2018, und der Einfluss von Negt auf ihr neues Buch ist nicht zu übersehen.47 Den eigentlichen Anstoß zu Guérots Was ist die Nation? gab aber eine Fragment gebliebene Studie des französischen Soziologen und Anthropologen Marcel Mauss. Sie wurde von Mauss gegen Ende des Ersten Weltkriegs begonnen, dann aber in den frühen 1920er Jahren abgebrochen und erst aus dem Nachlass publiziert. Auf Deutsch erschien die Schrift 2017 unter dem Titel Die Nation oder der Sinn fürs Soziale48. Mauss gehörte zu den vielen Intellektuellen, die wie Romain Rolland, Heinrich Mann und Hermann Hesse bereits während des Ersten Weltkriegs erkannten, dass Europa dabei war, Selbstmord zu begehen. Sie alle setzten dem Krieg der Nationen die Idee einer Frieden garantierenden Union Europas entgegen.49 Attraktiv war für Guérot, dass Marcel Mauss eine Art dritten Weg zwischen Planökonomie und freier Wirtschaft vorschlug, bei dem die soziale Sicherung der arbeitenden Bevölkerung garantiert wäre und die Gewerkschaften in der kontinentalen Politik eine wichtige Rolle spielen würden. Hatte Guérot bisher wie Robert Menasse Nation, Chauvinismus und Kriegstreiberei in einer unabdingbar gegebenen Interrelation gesehen, fand sie bei Mauss eine Definition, die sie zu einer Revision ihrer Einschätzung von Nation veranlassten. Es ist nicht leicht nachzuvollziehen, was Guérot an dieser Bestimmung der Nation so faszinierte, denn sie ist, was ihre kulturelle Komponente betrifft, mehr dem 18. oder 19. Jahrhundert verpflichtet als dem 21. Jahrhundert. Unter einer Nation versteht Mauss „eine materiell und moralisch integrierte Gesellschaft mit einer stabilen und konstanten Zentralmacht, feststehenden Grenzen und einer relativen sittlichen, geistigen und kulturellen Einheit der Einwohner, die bewusst für den Staat und seine Gesetze eintreten“.50 So viel kontinentale Einheit und Harmonie wünschte sich zuletzt Novalis in seiner Europa-Rede von 1799. Guérot lobt 42 Negt, Gesellschaftsentwurf, 17. 43 Jürgen Habermas, Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, in: Habermas, Zur Verfassung, 13–38. 44 Ebd., 17–18. 45 Ulrike Guérot, Was ist die Nation?, Göttingen 2019. 46 Ulrike Guérot, Europa jetzt! Eine Ermutigung. Mit Oskar Negt, Tom Kehrbaum und Emanuel Herold, Göttingen 2018. 47 Negts Buch wird in Was ist eine Nation?, 19 auch einmal zitiert. 48 Marcel Mauss, Die Nation oder der Sinn fürs Soziale, Frankfurt/Main 2017. Die französische Ausgabe: Marcel Mauss. La nation, ou le sens du social: Édition et présentation de Jean Terrier et Marcel Fournier, Paris 2018. 49 Lützeler, Die Schriftsteller, 225–271. 50 Guérot, Nation?, 65; Mauss, Die Nation, 84.
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Mauss vor allem deswegen, weil er von der Nation das Bild einer Solidargemeinschaft entwerfe, in der eine Balance von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen erreicht werde.51 Martialisches und Chauvinistisches, das für die Konkurrenzsituation der Einzelnationen in Europa bezeichnend gewesen sei, werde in einer europäischen Föderation verschwinden. Es spiele dann keine Rolle mehr, weil die inneren sozialpolitischen Streitpunkte ausgeräumt wären. Kriege hätten – das habe sich 1914 wieder gezeigt – ihre Gründe in der Überführung von internen sozialen Konflikten in Bereiche außenpolitischer Militäraktion. Die Autorin meint, dass Marcel Mauss ein Modell für ein künftiges föderales Europa im Sinne einer Nation Europa entwerfe. Inspiriert durch Mauss fordert sie, die Europäsche Union solle nicht nur Rechtstaatlichkeit, sondern auch Sozialstaatlichkeit garantieren. Das sind Forderungen, die im Geist der Menschenrechte gestellt werden und ihr Wiederaufgreifen durch Guérot ist nur zu begrüßen. Nach der ökonomischen und monetären Integration gehe es nun um das neue Europa-Projekt der „Sozialstaatlichkeit“.52 Die juristische und die soziale Ebene dürften nicht entkoppelt werden, sondern müssten aufeinander abgestimmt sein. Das sei vordringlich. Danach sei an weitere Schritte zur Unifikation der Nation Europa zu denken, etwa an die militärische hin zu einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft. In ihrem Buch Warum Europa eine Republik werden muss! hatte Guérot noch auf die Regionen als Föderationspartner gesetzt. Beim Lesen von Was ist eine Nation? merkt man bald, dass sie den Regionen-Enthusiasmus mehr und mehr ihrem ehemaligen Mitstreiter Menasse überlässt. Andererseits kann sie sich aber auch nicht dazu entschließen, es bei der bloßen Vision einer Nationen-Vereinigung zu belassen. An einer Stelle heißt es: „Alle europäischen Regionen respektive Nationen in einem europäischen Nationalstaat zu einen, wäre doch eine schöne Perspektive?“53 Was soll man sich darunter vorstellen? Die fehlende Antwort auf diese Frage ist eine gravierende Schwachstelle des Buches. Im Plan für einen Bundesstaat muss schon gesagt werden, welche politischen Einheiten denn föderiert werden sollen. Auf jeden Fall sehnt Guérot den starken europäischen Bundesstaat als Europäische Republik bzw. als Nation Europa mit einer eigenen Verfassung herbei. Dort sollen die Mitgliedsregionen und/oder Mitgliedsländer nicht mehr durch die Regierungschefs vertreten werden, sondern nur durch das direkt von der Bürgerschaft gewählte Parlament. Mit Menasse teilt sie die Auffassung von der Überflüssigkeit des Europäischen Rates bei der Bestimmung der Politik in Europa. Hatte die Autorin noch ein Jahr zuvor u. a. mit Oskar Negt die Schrift Europa jetzt! Eine Ermutigung publiziert, so beendet sie das Buch Was ist eine Nation? mit einem Kassandraruf, dem man den Titel „Europa morgen! Eine Entmutigung“ geben könnte. Es ist eine Art von Europa-Pessimismus, den sie hier an den Tag legt, wie er sonst nur unter EU-Skeptikern
51 Guérot, Nation? 68. 52 Ebd., 73. 53 Ebd., 45.
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wie Dirk Jörke verbreitet ist. Jörkes Argument in seinem Buch Die Größe der Demokratie54 ist, dass die Europäische Union viel zu groß sei, als dass sie demokratisch regiert werden könne. Er empfiehlt den genau entgegengesetzten Prozess: Desintegration statt weitere Vereinigung, d. h. die Mitgliedsstaaten der EU sollen Souveränität und Eigenstaatlichkeit zurückgewinnen und sich den Status einer lockeren Konföderation geben. Die Kommission in Brüssel würde zum Büro einer Bundesversammlung mutieren, in der die Regierungschefs der Einzelnationen das Sagen haben. Bei dem, was Jörke beschreibt, denkt man an das Modell des Deutschen Bundes, auf das sich die deutschen Staaten 1815 einigten. Als habe sie vor EU-Status-Quo-Verteidigern und unbeirrbaren Globalisierern bereits kapituliert, bekennt Ulrike Guérot am Schluss des Buches ihren Pessimismus: Die Einheit Europas, ganz egal, ob als Vereinigte Staaten von Europa oder als Europäische Republik, wird nicht stattfinden. […] Wahrscheinlich können die europäischen Bürger nicht mehr tun, als in den nächsten Jahren zu Zeitzeugen des europäischen Verfalls zu werden […] Im transnationalen Raum verweben sich vor allem globale Unterschicht und Oberschicht zu einem dicken Geflecht aus neo-feudalen Lebenszusammenhängen, die mit ‚klassischen‘ Natio nen nichts mehr zu tun haben – ähnlich dem Mittelalter. […] Noch scheiterte Europa nicht an der populistischen oder nationalistischen Bedrohung. Sondern an einer EU, die in den Dimensionen der zweitausendjährigen Geschichte Europas in nicht gekanntem Ausmaß das Ideengut der Republik und des Gemeinwohls veräußert und die es nicht geschafft hat, das europäische Einigungsprojekt an dieses Erbe zu binden.55
Guérots hoffnungsvoll-europäische Langzeitperspektive wie auch ihr pessimistischer Blick auf die gegenwärtige Krise der EU sind Konstanten im zeitgenössischen kritischen Europadiskurs und müssen diskutiert werden. Jenseits der Stimmungsamplituden, die hier bemerkbar werden, kann es aber nicht schaden, sich auf die Anstrengungen und Perspektiven der Gründungsväter zu besinnen. War es nicht ein Zeichen von Weitsicht, dass sie ein ausbalanciertes Staatenmodell für die Europäische Föderation entwarfen? Ein Modell, mit dem verhindert werden sollte, dass die Einzelnation an der Union zerbrechen und die Gemeinschaft am Egoismus ihrer Mitgliedsländer scheitern würde. Die Gründungsväter waren gleichzeitig Visionäre und Praktiker. Persönlichkeiten ihres Kalibers sähen auch heute Wege und Möglichkeiten, das kontinentale Schiff auf das Ziel des europäischen Bundesstaates zuzusteuern. Den Namen für eine solche Föderation gibt es schon: Er heißt nicht imitativ Vereinigte Staaten von Europa, sondern Europäische Union. Man wird sehen, ob die in 1001 kleinen Schritten vorwärts, ob sie wie die Echternacher Springprozession im Polka-Rhythmus in zwei oder drei Schritten nach vorne und einem Schritt zurück erfolgt oder ob sie in einem 54 Dirk Jörke. Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation, Frankfurt/Main 2019. 55 Ulrike Guérot, Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde, 2. Auflage Berlin 2017, 186–190.
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Kairos-Moment sprunghaft entsprechend der Sachlogik ihrer Begründung zur Föderation der Nationen mutiert.56 Das United Kingdom hat seinen Rückschritt zum bloßen Nationalstaat mit Brexit vollzogen. Was Menasse in seinen Schriften nicht thematisiert ist die Frage, warum aber auch andere große Nationalstaaten wie Deutschland, Frankreich und Italien solche Schwierigkeiten haben, von ihren nationalen Egoismen loszukommen und sich zu einem genuin europäischen Denken und Verhalten durchzuringen. Das ist anders bei Ulrike Guérot, die vorübergehend die These von der Abschaffung der Nationalstaaten mit Menasse teilte.57 Sie und Aleida Assmann, in deren neuem Europa-Buch58 sich sonst keine Übereinstimmungen mit Guérot ausmachen lassen, erinnern beide an die Last des kolonialen Erbes, an der sie ideologisch noch tragen, auch wenn sich im Fall von Frankreich und Großbritannien die Imperien im Lauf der Nachkriegsjahrzehnte auflösten, und wenn mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Fantasien von neuen Kolonialgebieten im Osten Europas (siehe Deutschland) und in Afrika (siehe Italien) wie Seifenblasen zerplatzten. Es zeigte sich bald, dass sich die neuen Dominanzansprüche dieser Imperien (und man vergesse nicht, dass das Deutsche Reich 1914 die drittgrößte Kolonialmacht der Welt war) auf die Europäische Gemeinschaft bzw. Union übertrugen. Guérot trifft einen wichtigen Aspekt des europäischen Föderationsprojekts, wenn sie schreibt: „Die Ursprünge der heutigen Krisen liegen in der Kolonialzeit und in postkolonialen europäischen oder westlichen Interventionen.“59 Aleida Assmann beschäftigt sich mehr mit den politischen Werten Europas (wie Friede, Demokratie und Menschenrechten) als mit Staatsmodellen von Föderation und Konföderation. Sie betont aber ebenfalls, dass „die EU auch eine Erbengemeinschaft“ sei, „deren Nationen eine gemeinsame Geschichte mit ihren ehemaligen Kolonien verbindet“. Und sie erkennt: „Es wird immer offensichtlicher, dass die Fokussierung der europäischen Erinnerung auf die beiden Weltkriege und den Holocaust lange eine andere Zeitschicht verdeckt hat, und das ist die europäische Kolonialgeschichte.“60 Es ist gerade die gegensätzliche Kolonial-Erfahrung der heutigen Mitgliedsstaaten der EU aus West- bzw. aus Mittel- und Osteuropa, die die innereuropäische Kommunikation so erschwert. Während die meisten Nationen aus dem Westen Subjekte des Kolonialismus waren, waren die mittel- und osteuropäischen Staaten Objekte von Kolonialprojekten Deutschlands, Österreichs, Russlands und des Osmanischen Reiches. 56 Zur Zukunft der EU vgl. Michael Gehler, Die EU im 21. Jahrhundert – Zukunftsperspektiven mit Blick auf die europäische Identitätsbildung, in: Ders., Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt, Reinbek 2018, 608–640. 57 Ebd. Hier zitierte sie Menasse an keiner Stelle. In dem Artikel von Ansgar Graw, der unter dem Titel „Menasses Co-Autorin sagt, sie wusste nichts von falschen Zitaten“ in: Die Welt, 27.12.2018 erschien, wird sie dahingehend zitiert, dass sie ihre Meinung zur Rolle der Nationen in der EU geändert habe. Menasses Verständnis eines „nachnationalen Europas“ teile sie nicht mehr. 58 Aleida Assmann, Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte, München 2018. 59 Guérot, Der neue Bürgerkrieg, 16. 60 Assmann, Der europäische Traum, 177.
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Hat sich in den westeuropäischen Staaten, die sowohl Regionen außerhalb wie innerhalb Europas kolonisierten, viel von dem ehemaligen Konkurrenzdenken der Imperien erhalten, kommen die mittel- und osteuropäischen Länder nicht von ihren Erfahrungen als bedrängte, unterdrückte, ausgebeutete, aufgeteilte Nationen, als Spielbälle der Kolonialmächte weg. Die Sehnsucht nach Dominanz in der EU wird in den westeuropäischen Ländern zu selten eingestanden und reflektiert, und die Angst vor dieser Dominanz ist den mittel- und osteuropäischen ein zu wenig diskutiertes Problem. Hier ist noch eine Menge an „Vergangenheitsbewältigung“ und an Verständigungswillen nötig, um gegenseitiges Vertrauen zwischen den EU-Mitgliedsländern zu schaffen. Dieses Vertrauen ist aber die Voraussetzung eines Denkens und Handelns in transnationalen, d. h. europäischen Kategorien.
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Die Schriftsteller als Intellektuelle und die EU: das Beispiel Robert Menasse I. Wien 2006: Habermas über das Schweigen der Intellektuellen zur Zukunft der EU Als Jürgen Habermas an der Universität Wien am 9. März 2006 bei der Entgegennahme des Bruno-Kreisky-Preises eine Dankesrede hielt, hätte er gerne darüber gesprochen, was ihn „heute am meisten aufregt, die Zukunft Europas nämlich“, aber, so fuhr er fort, das sei ein Thema, das die meisten „abstrakt und langweilig“, fänden, „ein so blasses Thema“.1 In Wien über Europa zu sprechen hätte Sinn ergeben, denn Österreich hatte in diesem Jahr den Vorsitz des Europäischen Rates inne, zudem befand man sich 2006 in der Zeit, in der die Ratifizierung des Lissaboner Vertrags bevorstand, in der über eine „Verfassung Europas“ diskutiert wurde, nachdem in Frankreich und den Niederlanden Referenden zu dieser Frage negativ entschieden worden waren. Habermas war aber gebeten worden, über die Rolle des Intellektuellen zu sprechen, natürlich musste er dem Anlass der Preisverleihung Rechnung tragend sein Thema so ausrichten, dass zunächst einmal der Namensgeber des Preises und die verleihende Institution, das Karl-Renner-Institut, gewürdigt wurden. So zollte er im ersten Teil seiner Dankesrede dem Austromarxismus der Zwischenkriegszeit seinen Dank ab, indem er darlegte, welche Einsichten er als junger Wissenschaftler Schriften Karl Renners, Max Adlers oder Otto Bauers verdankte.2 Habermas hatte ihre Texte in Frankfurt am Main gelesen, wo er ab 1956 am Institut für Sozialforschung als Assistent Theodor Adornos arbeitete. Es sei aber bei den genannten österreichischen Autoren gewesen, so erinnert er sich, dass er Antworten auf Fragestellungen gefunden habe, die er im Milieu des Frankfurter Instituts in den fünfziger Jahren nicht erhielt. Drei Dinge seien das gewesen: Die Verbindung der philosophischen Theorie mit der politischen Praxis, die Öffnung der marxistischen Gesellschaftstheorie für Erkenntnisse der Wissenschaft und die rückhaltlose Akzeptanz des demokratischen Rechtsstaats, der radikalreformerischen Zielen nicht geopfert werden dürfe.3 Den Namensgeber des ihm verliehenen Preises, Bruno Kreisky, würdigte Habermas durch den Hinweis, dass es in Österreich Kreisky gewesen war, der nach der Rückkehr aus dem Exil „die Klassengesellschaft sozialstaatlich befriedet und in eine Bürgergesellschaft 1 Jürgen Habermas, Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen. Die Rolle des Intellektuellen und die Sache Europas, in: Ders., Ach, Europa. Kleine Politische Schriften XI, Frankfurt/Main 2008, 77–87, 85. 2 Ebd., 77–80. 3 Vgl. ebd., 78.
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transformiert“4 habe. Nachdem so also der ehrende Tribut an den Redeanlass geleistet war, kam Habermas auf sein Auftragsthema – die Rolle des Intellektuellen – und damit verbunden eben doch auch zu dem Problem, das ihn als Zeitgenossen bis heute umtreibt: die Zukunft Europas. Das wiederum hat durchaus mit der Reflexion von Fragen sozialer Befriedung im Rahmen rechtsstaatlicher Bedingungen zu tun, also mit dem, was gerade nach den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit als sozialhistorische Errungenschaft der westlichen demokratischen Gesellschaften nach 1945 gilt: Denn Habermas verlieh seiner Befürchtung Ausdruck, dass wenn die ach so blasse und langweilige Frage nach dem tieferen Zweck und der künftigen politischen Gestalt europäischer Integration nicht geklärt werde – er hatte die Europawahlen 2009 im Blick –, die Zukunft der Europäischen Union „im Sinne der neoliberalen Orthodoxie entschieden“ werden würde: Wenn wir um eines faulen Friedens willen das heikle Thema vermeiden und uns auf dem üblichen Kompromisswege weiter durchwursteln, lassen wir der Dynamik der entfesselten Märkte freien Lauf und sehen zu, wie sogar die bestehende politische Gestaltungsmacht der Europäi schen Union zugunsten einer diffus erweiterten europäischen Freihandelszone abgewickelt wird. Im europäischen Einigungsprozess stehen wir zum ersten Mal vor der Gefahr eines Rückfalls hinter den erreichten Stand der Integration.5
Daher, so appellierte er an sein Wiener Publikum, müsse man sich aufregen über das langweilige und abstrakte Thema Europa, müsse man die „Lähmungsstarre nach dem Scheitern der beiden Verfassungsreferenden“ abschütteln und die „polarisierende Frage nach der finalité, dem Worumwillen der europäischen Einigung“6 klären. Habermas plädierte 2006 für ein europaweites Referendum über die Verfassungsfrage.7 Die Relevanz des vermeintlich langweiligen, in Wahrheit also eher heiklen Themas europäischer Zukunft begründete Habermas damit, dass es um die künftige Handlungsfähigkeit der EU angesichts brennender Probleme der Gegenwart gehe. Er nannte zwei Punkte: Erstens, dass der Nationalstaat wirtschaftspolitisch in Zeiten fortschreitender Globalisierung 4 Ebd., 79. 5 Ebd., 85. 6 Ebd. 7 Zum Schicksal der Verfassungsfrage in der Politik seit Mitte der 1980er Jahre und ihrer ungeminderten Relevanz siehe das äußerst lesenswerte Plädoyer eines europapolitischen Praktikers, des langjährigen Generalsekretärs der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament (2007–2020): Martin Kamp, Europa braucht eine Verfassung, in: Paneuropa Deutschland, August 2020, 9–11. Kamp widmet sich „der alten Frage nach der Finalität“ und appelliert, „die kollektive und nicht mehr provisorische Identität unseres Kontinents“ nicht weiter zu verdrängen: „Europa braucht ein neues Gründungsdokument, einen Text, den jeder versteht und auf den sich jeder berufen kann, der an die Hoffnung und Phantasie der Bürger Europas appelliert. Es ist Zeit, mutig die europäische Selbstvergessenheit aufzugeben. Europa braucht eine Vision. Dies kann nur die Verfassung einer parlamentarisch-repräsentativen europäischen Demokratie sein“ (ebd., 11).
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keine ausreichende Steuerungsfähigkeit mehr besitze, um „die eingewöhnten sozialpolitischen Ansprüche, überhaupt die Nachfrage nach kollektiven Gütern und öffentlichen Dienstleistungen […] in gebotenem Umfang befriedigen“8 zu können. Habermas hob also hervor, was die soziologische und politologische Globalisierungsforschung ungefähr zeitgleich feststellte: den zunehmenden Machtverlust des Nationalstaates unter den Bedingungen ökonomischer und technologischer Globalisierung.9 Daher, so Habermas, sei der Rückgewinn der „politischen Gestaltungskraft auf supranationaler Ebene“ so wichtig, also die reklamierte Vertiefung der EU zu einer echten, souveränen politischen Union, demokratisch legitimiert durch ein Votum der Bevölkerungen.10 Auch außenpolitisch, das ist der zweite Punkt, monierte Habermas schon vor bald nunmehr 15 Jahren, dass die EU nicht handlungsfähig sein werde im Vergleich zu den USA, China, Indien und Japan. Der Wandel im Verhältnis zwischen den USA und Europa, den wir nicht erst mit der Präsidentschaft Donald Trumps in so ungeahnter Weise erlebten, zeichnete sich schon 2006 klar ab. Habermas verwies auf den Irakkrieg und mahnte, dass eine handlungsfähige EU eine eigene Streitmacht besitzen müsse, um notfalls „unseren eigenen Vorstellungen von Völkerrecht, Folterverbot und Kriegsstrafrecht treu zu bleiben“.11 Und die Intellektuellen bei alledem, bei der Drohung fundamentaler Gefahren für den Erhalt solch historischer Errungenschaften wie Sozialausgleich und liberal-universale Rechte und Werte? Wo waren die Intellektuellen im Europa-Diskurs jener Jahre, so muss man doch fragen, da Habermas ja gebeten worden war, in Wien über die Rolle des Intellektuellen zu sprechen? Über Europa und die Intellektuellen, wie der präzisierende Untertitel seines Vortrags lautet, sprach Habermas aber eigentlich gerade nicht, und dieses blanc, diese Auslassung scheint bezeichnend, denn sie besagt, dass er sich in seiner Sorge um die Zukunft Europas weitgehend alleine sah. Allerdings doch nicht ganz: Denn Habermas schloss seine Wiener Dankesrede mit dem Hinweis, sich in der Gesellschaft eines Politikers zu wissen, der, so sagte er, „die Nase vorn habe“ und ihn, den Intellektuellen „ins Schlepptau“12 genommen habe. Die Rede ist von Guy Verhofstadt, dem damaligen belgischen Ministerpräsidenten, der 2006 ein Manifest zu den Vereinigten Staaten von Europa13 veröffentlicht hatte. „An diesem Beispiel sehen Sie“, so Habermas, „dass Politiker, die die Nase vorn haben, Intellektuelle ins Schlepptau nehmen können.“14
8 Habermas, Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen, 85–86. 9 Beispielhaft sei verwiesen auf die differenzierte Einschätzung von Manuell Castells, Die Macht der Identität. Das Informationszeitalter. Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Bd. 2, 2. Auflage, Wiesbaden 2017, 296–309 u. 343–349. 10 Habermas, Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen, 86. 11 Ebd., 86–87. 12 Ebd., 87. 13 Guy Verhofstadt, Die Vereinigten Staaten von Europa: Manifest für ein neues Europa, Eupen 2006. 14 Habermas, Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen, 87.
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Der Politiker, der „die Nase vorn hat“, der avantgardistische Positionen vertritt und damit den Intellektuellen ins Schlepptau nimmt? Nach dem Rollenverständnis des klassischen Intellektuellendiskurses15 hätte sich das Publikum an der Universität Wien verwundert die Augen reiben müssen und ausrufen, da stimmt was nicht, verkehrte Welt! Habermas’ spielerisch-ironische Abschlussvolte mit seiner Reverenz gegenüber dem belgischen Ministerpräsidenten lese ich daher so, dass in der „Sache Europas“ die eigene Zunft, die Intellektuellen, versagten, dass sie ihre Rolle als geistige Speerspitze, als Avantgarde, die mit seismographischem Spürsinn beginnende Verwerfungen der liberalen Gesellschaftsordnung frühzeitig erkennt und warnend anprangern sollte, bis dato nicht erfüllt habe. Der Intellektuelle als jemand, der egalitäre und universalistische Projekte im öffentlichen Diskurs gegen den bequem beharrenden Mainstream verteidigt und vorantreibt, der sich alarmierend und appellierend einmischt, der in unorthodoxen Alternativen denken kann – in der „Sache Europas“, so legte Habermas 2006 nahe, ist er weitgehend absent, bleibt zumindest stumm. Dabei hatte Habermas natürlich auch die veränderte Situation des Intellektuellen in der postmodernen Mediengesellschaft bedacht, hat den historischen Rollenwandel vom Parteiintellektuellen über den idealtypischen, engagierten Intellektuellen, wie man ihn nach 1945 mit Albert Camus und Jean-Paul Sartre kannte, mit Max Frisch und Heinrich Böll, rekonstruiert, um dann den Bedeutungsverlust dieses Intellektuellentypus in der Ära von Fernseh-Talkrunden und Internet zu konstatieren.16 Die „einzige Fähigkeit, die den Intellektuellen auch heute noch auszeichnen könnte“, so resümiert er schließlich, sei ein „avantgardistische[r] Spürsinn für Relevanzen. Er muss sich zu einem Zeitpunkt aufregen können, wenn andere noch beim business as usual sind.“17
II. Frankfurt am Main 2005: Menasse über das Projekt der Moderne und die EU Als der Wiener Schriftsteller Robert Menasse im Sommer 2005 die Frankfurter Poetikvorlesungen innehatte und im legendären Adorno-Hörsaal der Universität Frankfurt sprach,18 bot 15 Siehe etwa Zygmunt Bauman, Unerwiderte Liebe. Die Macht, die Intellektuellen und die Macht der Intellektuellen, in: Ute Daniel/Wolfram Siemann (Hrsg.), Propaganda. Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung (1789–1989), Frankfurt/Main 1994, 172–200. Klassisch ist die Mahnschrift der Zwischenkriegszeit von Julien Benda, La trahison des clercs, Paris 1927, deutsche Übersetzung: Der Verrat der Intellektuellen, München – Wien 1978. Zu beiden Texten wie zur Rolle des Intellektuellen: Antje Büssgen, Intellektuelle in der Weimarer Republik, in: Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ein Forschungsreferat, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, 11. Sonderheft, Tübingen 2000, 161–247. 16 Habermas, Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen, 81–82. 17 Ebd., 84. 18 Robert Menasse, Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung. Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt/Main 2006.
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er seinem Publikum just am früheren Wirkungsort von Adorno und Habermas europapolitisch intellektuelles business as usual: Er fokussierte sich auf das schon damals hinlänglich bekannte und viel debattierte Demokratiedefizit europäischer Politik, die, so Menasse, unter Missachtung der nationalen Parlamente Regierungsentscheidungen in den jeweiligen Mitgliedsländern steuere. Menasse trat so als Anwalt von national definierten Bürgerrechten und nationaler Souveränität auf, wobei er das kapitalistische Wirtschaftssystem mit seiner „Systemlogik“ für diesen Übergriff in nationale parlamentarische Zuständigkeiten verantwortlich machte: Unser System versprach wachsende Freiheit, Sicherheit und Partizipation – es hat dieses Versprechen erfüllt. Leider nicht uns. Sondern nur dem Kapital. Das sich nach 1945 uns noch einmal ganz unschuldig angedient hatte als bloße ökonomische Grundlage unserer Freiheit. Man wird wahrscheinlich im Rückblick einmal feststellen, daß die EU von den demokratischen kapitalistischen Staaten zur Überwindung der Demokratie gegründet wurde. Eine sanfte, unbemerkte Revolution. Noch. Noch sanft.19
Thematisch widmete Menasse seine ganz und gar politischen Poetikvorträge der beherrschenden Aktualität dieser Jahre, Themen, die auch Habermas in seiner Wiener Preisrede im folgenden Frühjahr ansprechen sollte: Globalisierung, ökonomische Liberalisierung, Gewalt, Menschenrechtsverletzung und islamistischer Terror. All das reflektierte Menasse, der nicht nur promovierter Germanist, sondern auch Philosoph und ausgezeichneter Hegelkenner ist, in historischen, geschichtsphilosophischen Bezügen, um über den „emphatische[n] Anspruch der Aufklärung“20 und die Zukunftsfähigkeit des „Projekt[s| Moderne“21 im frühen 21. Jahrhundert zu sprechen und in diesen ideengeschichtlichen und programmatischen Bezügen schließlich die Aufgabe literarischen Schreibens zu bestimmen, sein intellektuelles Selbstverständnis als Dichter also: Engagement, der klassische Anspruch des Bürgers als Citoyen und nach dessen Verschwinden der Anspruch des aufgeklärten Intellektuellen und Dichters, setzte ein gesellschaftliches Subjekt voraus, dem er [der Intellektuelle, A.B.] sich anschließen, das er befördern, dem er sich untertänig an die Spitze setzen, das er selbstkritisch solidarisch begleiten wollte. […] Dieses gesellschaftliche Subjekt, […] das die engagierten Autoren der Moderne einfach voraussetzten, hat sich als Chimäre erwiesen. […]22
19 Ebd., 85. 20 Ebd., 20. 21 Ebd., 24. 22 Ebd., 29 u. 30–31 (Zitat).
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Die Zukunft, so Menasses resignative Diagnose, sei „heute im gesellschaftlichen Bewußtsein kaum noch als gesellschaftliches Projekt vorstellbar. Und schon gar nicht als eines, das über die gegebenen Systembedingungen hinausweist.“23 – Es ist, als hätte er nicht an das Projekt Europa gedacht und als ob Habermas im folgenden Frühjahr seinen Vortrag wie eine Replik auf Menasses Frankfurter Vorträge gehalten hätte, es ist, als hätte er ihm in Wien zugerufen: Europa ist die Antwort! Die Zukunft als gesellschaftliches Projekt heißt Europa!
III. Brüssel ab 2009: Menasses europapolitischer Wandel und sein Schreiben für Europa Menasse hat seine Positionen grundlegend geändert, sowohl hinsichtlich der finalité der Europäischen Integration nach 1945 als auch hinsichtlich der Wirkungsmöglichkeiten des Schriftstellers als Intellektuellen. Denn bekanntlich ist er vom Kritiker der Europäischen Union zu ihrem enthusiastischen öffentlichen Fürsprecher geworden, zu einem publizistisch aktiven, engagierten Interpreten und Verfechter des europäischen Integrationsprojekts nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieser Positionswandel, der sich in den Jahren 2009 bis 2012 vollzog,24 hat zunächst zu einer Reihe von essayistischen Stellungnahmen geführt, zu unzähligen Vorträgen in politischen und kulturellen Institutionen, zu Zeitungsartikeln, Interviews, Manifesten und Aktionen, um dann 2017 in dem Roman Die Hauptstadt25 seinen lange erstrebten literarischen Niederschlag zu finden. Denn der Roman war von Beginn an, ab 2010, die eigentliche finalité von Menasses in Brüssel unternommenen Recherchen. Die publizistischen und essayistischen Schriften, mit denen er ab 2010 als proeuropäisch engagierter Intellektueller allmählich an die Öffentlichkeit trat, waren gleichsam ungeplante Nebenprodukte, die sich aus der über Jahre hinziehenden Arbeit am Romanprojekt, aber auch durch die sich gleichzeitig überschlagenden europa- und weltpolitischen Ereignisse dieser Jahre ergaben – vom Ausbruch der Finanzkrise 2009 in Amerika über die terroristischen Anschläge in Paris und Brüssel bis hin zum Brexit. Für den Roman erhielt Menasse 2017 den Deutschen Buchpreis. Für den in Buchform 2012 vorgelegten Essay Der europäische Landbote26 erhielt er 2014 den Europäischen Buchpreis. Der in der deutschsprachigen Medienlandschaft leider kaum wahrgenommene Europäische Buchpreis geht auf eine französische Initiative, u. a. Jacques Delors’, zurück
23 Ebd., 66. 24 Siehe Antje Büssgen, Radikale Revolution: Der Wandel von Robert Menasses europapolitischer Haltung. Von den Frankfurter Poetikvorlesungen zum Europäischen Landboten, in: Michael Braun (Hrsg.), Deutsche Literatur und europäische Zeitgeschichte. Paul Michael Lützeler zum 75. Geburtstag, Tübingen 2018, 233–256. 25 Robert Menasse, Die Hauptstadt. Roman, [Berlin] 2017. 26 Robert Menasse, Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss, Wien 2012.
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und wird jährlich im Europäischen Parlament in Brüssel verliehen. Menasses Laudator 2014 war der damalige Parlamentspräsident Martin Schulz. Im Folgenden werden einige Etappen von Menasses europapolitischem Wandel skizziert, auch wie ich ihn selbst in Brüssel mitvollziehen und beobachten konnte, um dann zu Überlegungen zu gelangen, die das Verhältnis von Literatur, Geschichtsschreibung und europäischer Integration betreffen und die Rolle des (Schriftstellers als) Intellektuellen. Im Winter 2008 war Robert Menasse an die Université Saint-Louis in Brüssel eingeladen, um im Rahmen einer Tagung über Max Frisch als Intellektuellen zu diskutieren.27 Auf Bitten des Veranstalters moderierte ich die Debatte und kam so mit Menasse über die EU-Kritik seiner Frankfurter Poetikvorlesungen ins Gespräch, wobei ich ihn auf die literarische Tradition des europäischen Essays, beginnend mit Novalis Die Christenheit oder Europa bis hin zu Enzensbergers kurzem Essay der späten 1980er Jahre, Brüssel oder Europa. Eins von beidem, aufmerksam machte wie auf die einschlägigen Anthologien und Forschungen Paul Michael Lützelers zum Thema. Im Frühjahr 2010 war Menasse im Brüsseler Literaturhaus Passa Porta für einige Wochen Writer in Residence, was er zur Recherche für die Arbeit an einem neuen Roman nutzte, der in den Brüsseler EU-Institutionen spielen und einen Kommissionsbeamten zum Protagonisten haben sollte, im übrigen die Geschichte der europäischen Integration mit der Erinnerung an Krieg und NS-Verbrechen in einer abenteuerlichen Kriminalgeschichte verknüpfen wollte. Sein Romanprojekt war also geboren, der Wandel seiner europapolitischen Position hatte eingesetzt. Ich lud Menasse an die frankophone Universität Löwen ein, um mit dem Gastredner Paul Michael Lützeler und Studierenden über Europa zu diskutieren. Im Sommer 2011 erschien von Hans Magnus Enzensberger ein EUkritischer Essay bei Suhrkamp unter dem Titel Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas.28 Die ganzen Oder Verknüpfungen der erwähnten Titel von Essays aus der Feder von Schriftstellern lassen erkennen, dass man sich hier bewusst in die Nachfolge des Novalis stellt – Die Christenheit oder Europa –, jenes Inauguraltextes also, der den deutschsprachigen Europa-Essay von Schriftstellern begründet hat und damit eine Tradition, die Lützeler als epochenübergreifendes Textkorpus des literarischen Europa-Diskurses entdeckt hat und seit Jahrzehnten erforscht.29 Konstitutives Thema dieses Diskurses ist die politische Vision eines friedlich geeinten Europas, von Dichtern in ihrer Rolle als öffentliche Intellektuelle entworfen und propagiert, und zwar immer wieder gerade in Krisen- und Kriegszeiten 27 Die Beiträge der Tagung sind bei Wallstein erschienen: Daniel de Vin (Hrsg.), Max Frisch. Poet und Citoyen, Stuttgart 2011. 28 Hans Magnus Enzensberger, Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas, Berlin 2011. 29 Siehe vor allem sein Standardwerk Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. München 1992, ferner die beiden Anthologien Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Plädoyers für Europa. Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller 1915–1949, Frankfurt/Main 1987, und ders. (Hrsg.), Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger, Frankfurt/Main 1994, sowie die Studie Kontinentalisierung: Das Europa der Schriftsteller, Bielefeld 2015.
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europäischer Politik, somit konzipiert als Gegenbild zu ihrer realpolitischen Erfahrung und als politisches Handeln stimulieren sollendes Telos für die nahe und mittlere Zukunft. Es käme einer „Geschichtsverfälschung“ gleich, so Lützeler,30 den Beitrag dieser Schriften und ihrer Wirkung für die Realisierung des Integrationsprojekts nach dem Zweiten Weltkrieg zu unterschätzen. Während sich Menasse also in Brüssel um eine zeitgemäße Auffassung europäischer Integrationspolitik in Recherche-Gesprächen mit Beamten und Parlamentariern bemühte, wirtschaftswissenschaftliche und politologische Studien las, sich mit der kleinteiligen Geschichte des Integrationsprozesses nach 1945 vertraut machte und während gleichzeitig nach Ausbruch der amerikanischen und dann globalen Finanzkrise das Schicksal der europäischen Währungsunion als Motor der politischen Integration auf dem Spiel stand, da legte Enzensberger seinen polemischen, kaum recherchierten und EU-feindlichen Essay über das Monster Brüssel vor, der die EU als eine die Bürger entmündigende Diktatur darstellt, agierend allein im Interesse der Ökonomie, des Kapitals – europapolitisch intellektuelles buisiness as usual.31 Menasse hatte das inzwischen hinter sich gelassen. Enzensberger frischte im Grunde nur seine Thesen der späten 1980er Jahre auf, die kurz vor dem Maastrichter Vertrag entstanden waren.32 Im übrigen vereinnahmte er für die eigene, inzwischen altvertraute EU-Schelte grob sinnentstellend eine vorsichtig abwägende demokratietheoretische Überlegung Menasses, die 2010 in der Wochenzeitung Die Zeit publiziert worden war und gleichsam als medialer Auftakt zu Menasses EU-politischem Wandel gelesen werden kann.33 Menasse musste sich also wohl zu einer Replik und einem eigenständigen Essay herausgefordert sehen, der mit dem Europäischen Landboten ein Jahr später dann ebenfalls bei Suhrkamp erschien. Sein Untertitel lautet – und die Oder-Konjunktion verwundert nicht mehr: Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss. Das Signal der Oder-Konjunktion im Titel deutschsprachiger Europa-Essays funktioniert in anderen Sprachen freilich nicht umstandslos und so heißt Menasses Essay in der 2015 erschienenen französischen Übersetzung schlicht: Un messager pour l’Europe. Plaidoyer contre les nationalismes.34
30 Lützeler, Hoffnung Europa, 8. – Zur Geschichte der Europa-Entwürfe von Schriftstellern, Philosophen und Politikern, von Dante bis Monnet, siehe Michael Gehler: Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt, 3. komplett überarbeitete und erheblich erweiterte Auflage, Reinbek 2018, 91–204. 31 Zu Enzensbergers Essay siehe Antje Büssgen, Der Europa-Diskurs von Intellektuellen in Zeiten der Krise. Zu Robert Menasses und Hans Magnus Enzensbergers Europa-Essays der Jahre 2010–2012, in: Peter Hanenberg/ Isabel Capeloa Gil (Hrsg.), Der literarische Europa-Diskurs. Festschrift für Paul Michael Lützeler zum 70. Geburtstag, Würzburg 2013, 193–216. 32 Ebd., 204–205. 33 Ebd., 206. 34 Robert Menasse, Un messager pour l’Europe. Plaidoyer contre les nationalismes. Traduit de l’allemand (Autriche) par Dominique Venard, [Paris] 2015.
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Ausgehend von der gegenwärtigen Krise der EU – um 2010/11 war sie von der Debatte um die Währungsunion und die sogenannte Griechenland-Rettung bestimmt – liefert Menasse im Europäischen Landboten in wiederholten Erinnerungsschleifen eine disruptiv erzählte kleine Geschichte der Integration seit dem Zweiten Weltkrieg, wobei seine These lautet: Europa sollte nach 1945 langfristig eine nachnationale politische Gemeinschaft werden, in der nationale Egoismen und nationalistische Gesinnungen als kriegstreibendes Verfeindungsstimulans durch politische Integration stillgestellt würden, sie also dank einer engen ökonomischen und politischen transnationalen Verflechtung niemals wieder ein Ausmaß von Gewalt und Zerstörung wie in den beiden Weltkriegen entfalten könnten. In Fortsetzung des so charakterisierten Werks der Gründervätergeneration35 sollten künftig, das ist Menasses europäische Zukunftsvision, die Regionen an die Stelle des historischen Nationalstaats rücken, wobei, das sei kritisch eingewendet, er nicht begründen kann, weshalb eine Region prinzipiell weniger Verfeindungspotential entfalten sollte als die größere territoriale und politische Kategorie des Nationalstaats. Für den Machtverlust des Nationalstaats in Zeiten der Globalisierung verwendet Menasse interessanterweise die ungewöhnliche Metapher vom „Absterben“36 des Nationalstaats, meines Erachtens hat er sie von Ulrich Beck und Edgar Grande übernommen, die sie 2004 in ihrem Buch Das kosmopolitische Europa erfinden, offenbar um nationale Kategorien zu Beginn des 21. Jahrhunderts als museal, als nicht zukunftsfähig zu erweisen. Sie schreiben: „[…] die nationale Konstellation läuft aus […], ihre Zivilisationsideen und Schlüsselinstitutionen sterben ab, werden ausgestopft, ausgestellt und zur folkloristischen Verwertung freigegeben.“37 Doch ob Region oder Nationalstaat – die Frage, in welcher Kategorie der Vergesellschaftung von Gruppen und Völkern europäische Politikarbeit sich künftig idealerweise vollziehen sollte, steht nicht im Zentrum des Essays und wird auch erst gegen Ende des Textes, als aus der Krisenanalyse abgeleitete Konsequenz und persönliche Vision,38 thematisiert. Im Zentrum stehen durchgehend vielmehr zwei Fragen. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch die insgesamt 37 durchnummerierten Kapitel, die manchmal nicht länger als nur ein kurzer Abschnitt sind: Wozu wurde die Integration nach dem Zweiten Weltkrieg von den Gründungsvätern betrieben und von ihren wichtigen Nachfolgern schrittweise ausgeweitet? Wieso geht die Integration gegenwärtig aber nicht weiter und droht vielmehr – im Angesicht der globalen Finanzkrise und des erstarkenden Populismus und Nationalismus – gar ins Gegenteil umzukippen, sei es durch ein Zerbrechen 35 Siehe dazu den Beitrag von Paul Michael Lützeler im vorliegenden Band. 36 Menasse, Der Europäische Landbote, 13. 37 Ulrich Beck/Edgar Grande, Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt/Main 2004, 59. 38 Über ein Europa der Regionen, Denis de Rougement als Vordenker dieser Idee und das Vorbild der Schweiz sprach Menasse mit der Kuratorin Cathérine Hug im Rahmen der Ausstellung Europa. Die Zukunft der Geschichte, die vom 12. Juni – 6. September 2015 im Kunsthaus Zürich stattfand, in: Cathérine Hug, in Zusammenarbeit mit Robert Menasse (Hrsg.): Europa. Die Zukunft der Geschichte, Katalog, Zürich 2015, 10–19, 12–13.
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(beginnend etwa mit dem erwogenen Austritt Griechenlands aus der Währungsunion) oder durch ihre schleichende Dekomposition, durch zunehmende Wirkungslosigkeit wegen der nicht zu zähmenden Kraft nationaler Egoismen und des zermürbenden Reibungsverlusts einer Politikarbeit in nicht-reformierten Institutionen also? Auf die erste Frage, die nach der finalité, antwortet Menasse, indem er das Friedensprojekt als ursprüngliches und eigentliches Motiv und Movens der politisch maßgeblich Verantwortlichen nach 1945 in Erinnerung bringt – also nicht mehr wie noch in Frankfurt 2005 mit dem Verweis auf die Eigenmacht der kapitalistischen Ökonomie. Die wird nun vielmehr zum bloßen Vehikel des höheren Friedensziels umgedeutet und degradiert. Auf die zweite Frage antwortet Menasse, indem er Aufgaben und Funktionsweise der drei großen Institutionen in Brüssel eingängig beschreibt, ihr Zusammenspiel historisch erklärt, dann aber auch zu verstehen gibt, dass eine Reformierung dieser in Jahrzehnten gewachsenen institutionellen Architektur am gegebenen historischen Punkt der Entwicklung dringend notwendig wäre. Dabei steht für ihn der Europäische Rat im Fokus der Kritik, weil er hier beobachtet, wie die Durchsetzung nationaler Interessen durch national gewählte und legitimierte Politiker gegenüber – theoretisch – gemeinschaftlich europäischen Interessen im Zweifelsfall obsiegt. Das ‚Europäische‘ kann demzufolge in der gegebenen politischen Architektur der EU lediglich im Erreichen des kleinsten gemeinsamen Nenners bestehen. Menasses analytischer Zugriff auf die Integrationsgeschichte ist also genealogisch: Die Probleme europäischer Politik sollen begreifbar gemacht werden als Folgen einer schwierigen Genese transnationaler Verflechtung (über den Umweg der Ökonomie und als Elitenprojekt oft genug eher gegen den Willen der Bevölkerungen denn als mit ihrer Unterstützung), also eben weil die Integration ja nach 1945 doch nicht auf einer tabula rasa als kohärenter politischer Neuanfang mit wirklich europäischen Institutionen für wesentliche Politikbereiche realisiert werden konnte, sondern beginnend mit der Montanunion nur Stück für Stück in vielen kleinen Schritten und Kompromisslösungen. Menasse lässt so, im Zusammenspiel von Genealogie und Zeitkritik, für die Politikarbeit, die im gegenwärtigen europäischen Institutionengefüge von Rat, Kommission und Parlament geleistet wird, Widerstrebendes, Lähmendes und Paradoxes als auch historisch und institutionell bedingt erkennbar werden. Das scheint mit Blick auf das breite Publikum, das der politische Essay eines prominenten Schriftstellers erreicht, eine nicht zu unterschätzende Aufklärungs- und proeuropäische Popularisierungsleistung, zumal um 2012 der intellektuelle Europa-Diskurs – trotz Habermas’ Monitum und einer ähnlich lautenden Klage, die 2011 Thomas Assheuer in der ZEIT vorbrachte,39 nach wie vor so gut wie inexistent war. Aus seiner genealogisch verfahrenden Krisenanalyse leitet Menasse dann schließlich die Vision eines künftigen, für ihn: eines nachnationalen Europas der Regionen ab. Dabei, so soll das Folgende zeigen, verfährt er in seiner Darstellung, erzählerisch, aber nicht nur ge39 Thomas Assheuer, Kalte Liebe. Eines Tages wird man fragen: Wo waren eigentlich die Intellektuellen, als Europa zu Bruch ging?, in: Die Zeit, 10.11.2011.
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nealogisch, sondern teleologisch – womit er sich mit dem Landboten nicht nur in die Tradition des deutschsprachigen Europadiskurses einschreibt, sondern als Hegelianer auch in die geschichtsphilosophische Tradition des deutschen Idealismus. Denn in seiner erzählenden Darstellung unterstellt Menasse dem Gang der europapolitischen Ereignisse nach 1945 einen „Zweck“40, den dieser an sich so nicht hatte, zumindest nicht ausweislich empirischer Fakten. So lautet, vereinfacht zusammengefasst, Schillers Definition des teleologischen Verfahrens der Geschichtsschreibung in seiner Jenenser Antrittsrede über den Sinn des Geschichtsstudiums. Und zu welchem Zweck sollte der Geschichtserzähler ein teleologisches Verfahren einsetzen? Schillers Antwort lautet: Zur Handlungsstimulierung, um „einen belebenen Sporn“41 des Handelns im Sinne emanzipatorischer Praxis beim Publikum zu entfachen, mehr noch, um ihn zu bewahren. Denn das Studium der Geschichte als krude und fragmentarische Faktengeschichte, so führte Schiller seinem studentischen Publikum in Jena im Mai 1789 vor Augen, droht immer wieder, das Gefühl des „Ekels“42 hervorzurufen und damit eine resignierte Abwendung von der Geschichte. Dann aber, so muss man ergänzen, würde das Prinzip der Historia Magistra vitae, des Aus-der-Geschichte-Lernens, hinfällig.43 Das aber, Lehren aus der Geschichte ziehen, wollte der leidenschaftliche Menschenerzieher Schiller ohnehin, und Menasse für die Geschichte Europas am Beginn des 21. Jahrhunderts unbedingt auch. Sein „Zweck“ in der Erzählung und Prospektion von Europäisierung lautet daher: die Überwindung von Nationalismus im Dienste des „Nie wieder“, also um eine dauerhafte Bannung von Krieg und Genozid in Europa nach der Erfahrung von zwei Weltkriegen und des Holocaust verbindlich, und das wäre: institutionell, rechtlich und demokratisch, absichern zu können.44 Dass die Deutung des Europäischen Landboten wie seines revidierten Europabildes nach 2010/2012 mit geschichtsphilosophischen Begriffen möglich ist und wohl die wirkungsästhetische Absicht des Autors zu erfassen vermag, lässt eine Rede erkennen, die Menasse 2014 im Sammelband Heimat ist die schönste Utopie. Reden (wir) über Europa veröffentlicht hat. Ihr Titel ist Programm: Von der Schwierigkeit und der Notwendigkeit, aus der Geschichte eine Idee zu machen. Dort heißt es, nach Zitation von Vertretern des literarischen Europadiskurses der Zwischenkriegszeit, von Heinrich Mann und Stefan Zweig:
40 Friedrich Schiller: Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 17, Karl-Heinz Hahn (Hrsg.), Historische Schriften. Erster Teil, Weimar 1970, 359–376, 374. 41 Ebd., 374. 42 Ebd., 365. 43 Zu Schillers Geschichtsphilosophie siehe Antje Büssgen, Die Ketten ästhetischer Geschichtsbildung als Garanten der Handlungsfreiheit: Schillers und Nietzsches Historienschriften, in: Friedrike F. Günther/Enrico Müller (Hrsg.), „In Ketten tanzen“. Nietzsche über freie und unfreie Geister, Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 26 (2019), 57–84. 44 Siehe Hug/Menasse, Europa. Die Zukunft der Geschichte, 13–14.
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Das war die Erfahrung. Die Gründer des Europäischen Projekts haben deshalb bewusst einen Prozess eingeleitet, der nach und nach zur Schwächung nationaler Souveränität, schließlich zur Überwindung der Nationalstaaten führen soll. Ein klares Bild von der Zukunft, davon, wie ein nachnationales Europa am Ende verfasst und politisch organisiert sein sollte, hatten sie nicht – ihr Anspruch an die Zukunft war, dass sich die Geschichte, die Europa zerstört hatte, nicht wiederholen möge. Die Zukunft war also zunächst nichts anderes als ein „Nie wieder!“ in Hinblick auf die europäische Geschichte, soweit sie geprägt war von nationalen Aggressionen. Dabei konnten sie noch gar nicht wissen, dass die weitere globale Entwicklung ihnen Recht geben und damit Europa weltweit zur Avantgarde machen würde [45…] In diesem Gefüge ist die Europäische Union heute tatsächlich Avantgarde, das einzige politische Gebilde weltweit, das bewusst und programmatisch versucht, den unvermeidlichen schrittweisen Verlust der Souveränität der Nationalstaaten in institutionalisierter Gemeinschaftspolitik und wachsender transnationaler Demokratie aufzuheben, und das bereits seit mehr als sechzig Jahren. Dieser Prozess erscheint im Licht der Geschichte doch so vernünftig, dass man seine Idee faszinierend erzählen und die notwendigen Schritte überzeugend argumentieren könnte. Tatsächlich aber wird die Weiterentwicklung der Europäischen Union heute wieder durch wachsende Renationalisierung der Politiken der Mitgliedsstaaten und der Stimmung ihrer Bevölkerungen gebremst und […] blockiert. […] Hier sieht man, wie schwierig es ist, und zugleich wie notwendig es wäre, aus historischen Erfahrungen eine nachhaltige Idee zu machen.46
Im Europäischen Landboten erzählt Menasse die Umsetzung der Idee europäischer Integration von der Nachkriegszeit bis zum Zeitalter der Globalisierung47 so: Ihr „historische[r] Vernunftgrund“48 sei der Wille einer von zwei Weltkriegen geprägten Gruppe politischer Handlungsträger gewesen, „den Nationalismus in einer nachnationalen Entwicklung zu überwinden“.49 Dass diese Idee als „Elitenprojekt“50 schon nach dem Zweiten Weltkrieg „nicht mehrheitsfähig“51 gewesen sei, verschweigt Menasse nicht, sondern wendet nun das demokratische Defizit in einen heroischen Gewinn großer Einzelner um, wenn er schreibt,
45 Robert Menasse, Von der Schwierigkeit und der Notwendigkeit, aus der Geschichte eine Idee zu machen, in: Ders., Heimat ist die schönste Utopie. Reden (wir) über Europa, Berlin 2014, 7–22, 16. 46 Ebd., 18 u 19. 47 Zu Menasses Essay im Kontext der Globalisierungstheorie siehe: Antje Büssgen, Europa nach den Nationen? Das europäische Projekt im Zeitalter von Postdemokratie und Globalisierung. Zu Robert Menasses Analyse der europäischen Integration in seinem Essay „Der Europäische Landbote“ (2012), in: Tomislav Zelić/Zaneta Sambunjak/Anita Pavić Pintarić (Hrsg.), Europa? Zur Kulturgeschichte einer Idee, Würzburg 2015, 297–326. 48 Menasse, Der Europäische Landbote, 9. 49 Ebd. 50 Ebd., 13. 51 Ebd.
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Die Schriftsteller als Intellektuelle und die EU: das Beispiel Robert Menasse
dass die Gründungsväter als Menschen „politische Größe hatten“52, gerade weil sie das Einigungswerk in kleinen Schritten auch gegen die öffentliche Meinung durchsetzten. Die progressive wirtschaftliche Verflechtung von der Montanunion bis zum Binnenmarkt liest Menasse nun als „historische List der Vernunft“53, als Trick gleichsam, den langfristigen Plan transnationaler Integration pragmatisch und unspektakulär, also zunächst auf dem Umweg der Ökonomie abzusichern. Der Appell, der von Menasses geschichtsphilosophisch inspirierter Erzählung europäischer Integrationsgeschichte nach 1945 ausgeht, ist gegen Ende der Lektüre seines Essays eindeutig: Bei allem Verständnis für die strategische Umwegoption im Blick zurück auf die Genese der heutigen EU-Konstruktion müsse die Logik der kleinen Schritte und des großen Umwegs nun verlassen werden und der Prozess europäischer Integration endlich auf die Zielgerade gelenkt werden, und zwar durch eine konsequente Reform des institutionellen Gefüges in Brüssel. Nur dann, so versteht man, kann Menasse zufolge das große Erbe der Gründervätergeneration und ihrer Nachfolger über Krisenmomente hinweg in die Zukunft gerettet werden und Europa eine politische Verfassung erhalten – im doppelten Wortsinn: als institutionelle politische Architektur wie als juristischer Gründungsakt –, die sich auf der Höhe der Zeit einer globalisierten Epoche befindet.
IV. Die Schriftsteller als Intellektuelle und die Zukunft Europas Menasse scheint den Wiener Zuruf von Habermas schließlich gehört zu haben, er regt sich seither auf über die Zukunft Europas. Anders gesagt: Er hat nicht starrsinnig auf alten EUskeptischen Positionen beharrt, sondern hatte den Mut, als öffentliche Person einen Positionswandel zu vollziehen, sich dazu zu bekennen, ihn nachvollziehbar zu machen und zur Debatte zu stellen. Er hätte auch nur schweigen können zu Europa, sei es, um Differenzierungen und Revisionen nicht eingestehen zu müssen, oder einfach, um das vermeintlich langweilig-abstrakte Thema und heikle Eisen der Zukunft der EU als politischer Autor gar nicht erst zu berühren. Würde Assheuers in der Zeit 2011 warnend erhobene Frage, wo denn die Intellektuellen beim hypothetischen Untergang der EU gewesen seien, jemals ernsthaft erwogen werden müssen, so könnte Menasse bislang als einer der wenigen Schriftsteller der Gegenwart sagen, wo er denn gewesen war. Ein Versagen in seiner Rolle als Intellektueller oder einen „Verrat“ an der Verteidigung universalistisch-emanzipatorischer Werte und Projekte in Krisenzeiten (Julien Benda)54 muss er sich mit Blick auf das große europäische Kon-
52 Ebd., 11. 53 Menasse, Der Europäische Landbote, 42. 54 Siehe Büssgen, Intellektuelle in der Weimarer Republik, 163–169, und dies., Der Europa-Diskurs von Intellektuellen in Zeiten der Krise, 199–200.
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Antje Büssgen
tinentalisierungsprojekt55 der Gegenwart somit nicht vorwerfen. Unnötig scheint daher, was zur medialen Debatte geführt hat, die 2019 um Zitate und Redeorte entbrannte, die Menasse Walter Hallstein und Jean Monnet sowohl im Hauptstadt-Roman als auch in Reden und Essays zugeschrieben hat.56 Argumentativ erforderlich waren diese vermeintlichen Autoritätsbelege, die Vereinnahmungen Hallsteins und Monnets für eigene Deutungen und Visionen freilich nicht, unzulässig, wenn man fiktionale von faktualen Aussagen eines Künstlers strikt unterscheidet und textlogische Gattungsgrenzen und Aussagekontexte respektiert. Wissenschaft und Medien müssen das in ihrer eigenen Praxis unbedingt tun. Die sachliche Korrektur der falschen Zuschreibungen Menasses war daher nicht minder unerlässlich. Man kann Menasses Grenzüberschreitungen aber auch als künstlerische Strategien einer spezifischen Werkpoetik sehen, eines „Gesamtkunstwerk[s] […], das der Vermittlung einer politischen Botschaft dient“57 und in dem solche Unterscheidungen verwischen, woraus allerdings eben intellektuelle Rollenkonflikte und Normverletzungen entstehen.58 Dass Walter Hallstein, der erste Kommissionspräsident, in der frühen Phase europäischer Integration und in der HochZeit des Kalten Krieges eine Antrittsrede in seiner Funktion just in Auschwitz gehalten haben sollte, musste auch ohne genaue wissenschaftliche Prüfung stutzen lassen – aber für die produktive Einbildungskraft, ästhetisch also, ist es ein höchst stimulierendes und sinnstiftendes „kräftige[s] Wahnbild[]“ (Nietzsche)59. Es suggeriert retrospektiv, in einer teleologischen Erzählung der Integrationsgeschichte, den demonstrativen symbolpolitischen Beginn europäischer Politik als Friedenspolitik und Ausdruck des „Nie wieder“ seit der Frühphase der Integration. Tatsächlich aber war es erst Romano Prodi, der zu Beginn seiner Amtszeit nach Auschwitz reiste und dort am 1. Oktober 1999 eine Rede hielt.60 Die mediale Aufregung, die durch Menasses Vereinnahmung Hallsteins und Monnets entstanden war, schien in Schärfe und Ton disproportioniert und sollte insgesamt doch die Leistung nicht überdecken, dass Menasse als leidenschaftlicher und streitbarer politischer Autor zur Wiederbelebung und Befeuerung der öffentlichen Debatte über Europa im deutschsprachigen Raum wesentlich beigetragen hat, wenn er sie mit dem Landboten nicht überhaupt erst bewirkt hat. Als Schriftsteller steht Menasse aber auch Jahre später weitgehend fast al55 Siehe Lützeler, Kontinentalisierung. 56 Siehe Vera K. Kostial, Robert Menasse und der Hallstein-Skandal. Zu Werkpoetik und Rezeption eines politischen Schriftstellers, in: Philologie im Netz (2021), Beiheft 25: Prekäre Fakten, umstrittene Fiktionen, 139–162. 57 Kostial, Menasse und der Hallstein-Skandal, 157. 58 Ebd. 59 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 2., durchges. Auflage, München 1988, Bd. 1, 243–334, 299. Zu Nietzsches Plädoyer für ästhetische Verfahren in der Geschichtsschreibung vgl. Büssgen, Die Ketten ästhetischer Geschichtsbildung, 77–84. 60 Siehe die Homepage der Europäischen Kommission https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ SPEECH_99_119.
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Die Schriftsteller als Intellektuelle und die EU: das Beispiel Robert Menasse
leine auf diesem thematischen Feld, das eine weithin sichtbare Pluralität der Stimmen, Positionen und Perspektiven dringend bräuchte.
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Antje Büssgen
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III. Migration als Herausforderung
Florian Lippert
Kulturelle Selbstreflexion in der europäischen „Flüchtlingskrise“ am Beispiel zeitgenössischer Dokumentarfilme1 I. Kulturelle Selbstreflexion und die Krise Die europäische „Flüchtlingskrise“2 war und ist eine Krise Europas. Während an den Grenzen des Kontinents weiterhin Menschen sterben, sind die europäischen Gesellschaften in zunehmendem Maße mit sich selbst befasst. Schon der eingebürgerte Begriff ist Ergebnis eines mehr oder minder subtilen Übersetzungsprozesses: Bezeichnet „Krise“ im Bezug auf viele Herkunftsländer Kriege, ethnische Säuberungen oder Hungersnöte, wird sie im Zielkontinent zum Sammelbegriff für politische, kulturelle und soziale Konflikte, in deren Kontext die „Illegalen“ oftmals nicht als Bedrohte, sondern als Bedrohung wahrgenommen werden.3 Die Verwicklung der EU-Grenzschutzagentur Frontex in illegale pushbacks ist nur die jüngste von zunehmend brutalen Konsequenzen, die aus „Übersetzungen“ humanitärer Katastrophen in ihrerseits immer heftigere innereuropäische „Krisen“-Diskurse folgen. Eines der zentralen Themen dieser Diskurse ist die Kultur. Wie Lars Rensmann gezeigt hat, handelt es sich hierbei um den wichtigsten Streitpunkt in den Auseinandersetzungen um die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten in europäische Gesellschaften: Noch stärker als etwa Kontroversen um ökonomische Ungleichheit habe die Furcht vor „kultureller Veränderung“ zum Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen geführt,4 die wiederum als Motoren kulturbezogener „Krisen“-Diskurse fungieren. In der Tat pro1 Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und aktualisierte Übersetzung eines Textes, der in der chilenischen Zeitschrift Perspectivas de la Comunicación erschienen ist: Florian Lippert, Watching Europe Watching its Borders. Cultural Self-Reflection and Surveillance in Films about Migration, in: Perspectivas de la Comunicación 11 (2018), 95–150. 2 Im Folgenden wird der Begriff „Flüchtlingskrise“ in Anführungsstrichen verwendet, als zitathafter Verweis auf seinen häufigen Gebrauch in der Medienberichterstattung. Inwiefern solch affirmativer Gebrauch, der oft nicht zwischen Flucht und Migration unterscheidet, kritisch ist, wird zu Beginn dieses Kapitels erläutert. Weiterhin verwende ich die Begriffe „Flüchtling“ und „Migrant“ gemäß den Definitionen des UNHCR und der Vereinten Nationen: „Refugees are persons fleeing armed conflict or persecution. […] Migrants choose to move not because of a direct threat of persecution or death, but mainly to improve their lives by finding work, or in some cases for education, family reunion, or other reasons.“ Vgl. UNHCR, ‘Refugee’ or ‘migrant’. 3 Zur Frage, inwiefern die Begriffe „Flüchtlingskrise“ und „Migrationskrise“ viel eher auf innereuropäische politische Auseinandersetzungen fokussieren als auf die Perspektive der betroffenen Migranten, vgl. Sambaraju et al., The European Union. 4 Rensmann, The Noisy Counter-Revolution.
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pagieren Nationalisten und Rechtspopulisten in vielen EU-Staaten in den letzten Jahren eine neue Wertschätzung für etwas, das sie als „westliche“ oder „europäische Kultur“ bezeichnen, während ihre Gegner auf Europas transkulturelles Erbe etwa hinsichtlich früherer kontinent- und religionsübergreifender Flucht- und Migrationsbewegungen verweisen. Sehen konservative Analysten einen neuen kulturellen „Clash of Civilizations“ nach Samuel Huntingtons berüchtigter Vision heraufziehen, betrachten andere Kultur als grundsätzlich in steter Veränderung begriffen und sehen gerade die besondere Diversität der EU als zentrale Grundlage ihrer kulturellen Prosperität.5 Letztere kritisieren „den Gedanken einer ‚Identität‘ von Kultur (ihrer ‚Einheit‘, ‚Totalität‘ und ‚Spezifizität‘) als Ergebnis einer sorgfältig gezogenen und gesicherten Grenze, wenngleich die Schöpfer und Verteidiger solcher Grenzen in der Regel darauf beharren, dass die Ursache und Wirkung sich genau umgekehrt zueinander verhalten“.6 Offenkundig spiegelt sich in diesem Perspektivenstreit auch jene notorische Komplexität des vielschichtigen Begriffs der „Kultur“ wider, die im Akademischen bekanntermaßen eine ganze Reihe eigener Subdisziplinen hervorgebracht hat. Im Kontext der angesprochenen Beispiele bietet sich Terry Eagletons „Kultur als“-Differenzierung als sinnvoller Rahmen an. Eagleton unterscheidet zwischen „Kultur als Identität“, „als Zivilität“, „als Kommerz“ und „als radikalem Protest“. Zur Sphäre der „Kultur als Identität“ führt er aus: Gehört die Identitätspolitik zu den emanzipatorischsten zeitgenössischen Bewegungen, so sind manche ihrer Ausformungen doch geschlossen, intolerant und suprematistisch. Blind für die Notwendigkeit einer weiterreichenden politischen Solidarität, repräsentieren sie eine Art von Gruppenindividualismus, der das dominante gesellschaftliche Ethos ebensosehr widerspiegelt, wie er ihm widerspricht. […] Im schlimmsten Falle gerät die offene Gesellschaft zu einer solchen, die das Entstehen von lauter geschlossenen Kulturen ermutigt.7
Diese Paradoxie von „offener Geschlossenheit“ kennzeichnet auch den „internationalen Nationalismus“ und die neuentdeckten Europa-„Ideale“ mancher gegenwärtiger Befürworter der „Festung Europa“, die ein ursprünglich integratives Projekt zu einem exklusiven uminterpretieren. Zudem kann die Paradoxie als ein Beispiel für eine allgemeine Antinomie angesehen werden, die Zygmunt Bauman als grundlegend für moderne Kultur im übergreifenden Sinne herausgestellt hat, nämlich für die permanente Spannung zwischen Ordnung und Veränderung. Unter der Überschrift „Culture as self-consciousness of modern society“ argumentiert Bauman, dass genau diese Spannung die wichtigste Antriebskraft der Kultur der Moderne sei. Schwinde der transzendentale Glaube an eine jenseitige oder übergeordnete Bedeutung 5 Bauman, Culture in a liquid modern world. 6 Bauman, Culture as praxis, xxxi. Meine Übersetzung. 7 Eagleton, Was ist Kultur?, 180.
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unserer Taten, so würden die Taten selbst zum absoluten Wert. Die Ordnung, die sich durch diese Taten etabliert, ist indes zwangsläufig eine fluktuierende, veränderliche: „Menschengemachte Ordnung ist undenkbar ohne Entscheidungsfreiheit. […] Indes […] resultiert diese Freiheit somit letztlich in einer Realität, der sich der Mensch nicht ohne Weiteres widersetzen kann“.8 Entsprechend sei moderne Kultur von beständiger Selbsthinterfragung und -transformation gekennzeichnet: von „permanenter Veränderung“, welche sich aber gerade aus dem menschlichen „Streben nach Ordnung“ speise. Im Folgenden soll Baumans Begriff der Kultur als dynamisches, veränderliches „Selbstbewusstsein“ der Gesellschaft (im Gegensatz zur Selbstaffirmation oder -identifikation mit einer fixen, unveränderlichen „Ordnung“) als Ausgangspunkt für eine Diskussion dessen dienen, was ich als Formen kultureller Selbstreflexion – im Gegensatz zu Formen statischer, hermetischer Selbstreferenz – bezeichne. Baumans Begriff impliziert sowohl eine Notwendigkeit, über das kulturelle „Selbst“ zu reflektieren, als auch die stets vorhandene Möglichkeit, dass sich das „Selbst“ auf dieser Grundlage verändere. Diesbezüglich unterscheidet sich Selbstreflexion fundamental von jedweder Reflexion auf Äußeres: Das Reflektieren über einen Stein wird den Stein nicht verändern, während das Reflektieren über das Selbst sehr wohl Veränderungen des Selbst anstoßen kann; Selbstreflexion gehört somit zum transformativen Element der Kultur nach Bauman. Im Gegensatz hierzu bezeichnet Selbstreferenz deren Ordnungsaspekt, den Bezug auf ein fixes, stabiles Selbst. Entsprechend werde ich die beiden Begriffe verwenden, um kulturelle Konsequenzen der europäischen „Flüchtlingskrise“ in zwei entgegengesetzten Stoßrichtungen zu beschreiben: • Selbstreferenz ist ein Charakteristikum statischer Konzeptionen von Kultur, in denen kulturelle Produktion letztlich allein der Selbstvergewisserung, -verteidigung und -bestätigung im Rahmen des status quo dient. Im Kontext der „Krise“ zeigt sie sich etwa in der eingangs angesprochenen „Übersetzung“ humanitärer Notfälle in Flüchtlings-„Wellen“ und „-ströme“, die ein als hermetisch verstandenes „Eigenes“ zu „überfluten“ drohen. • Selbstreflexion hingegen bezeichnet Formen kultureller Produktion, die solche Zirkularität zu durchbrechen trachten. Sie lassen sich als „Kultur als Protest“ im Sinne Eagletons sowie als transformative Elemente im Sinne Baumans bezeichnen, positionieren sich aber nicht außerhalb der kulturellen Rahmen, in denen sie entstanden. Vielmehr zielen Sie darauf ab, diese Rahmen von innen zu hinterfragen. Im Kontext der „Krise“ problematisieren sie etwa diskriminierende diskursive Praxen in Europa (wie z. B. den Gebrauch von „Naturgewalt“-Metaphern für Menschen). Der Begriff „Selbstreflexion“ mag Assoziationen mit ästhetizistischer Spielerei wecken, wie sie häufig vereinfachend postmoderner Kultur – in einem engen, elitären Sinne – zugeschrieben wird. Solche Zuschreibungen sind indes, wie ich ausführlich in anderen Bei-
8 Bauman, Culture as praxis, xiv (Meine Übersetzung).
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trägen zu ästhetischer Selbstreflexion und Selbstreferenz dargelegt habe, nicht zutreffend.9 Grundsätzlich finden sich Formen kultureller Selbstreflexivität in allen Epochen der Kulturgeschichte und in einer Vielzahl kultureller Diskurse – vom Gilgamesch-Epos über die platonische Philosophie zur Homerischen Epik, und von der Pädagogik der Aufklärung bis zur modernen Psychotherapie. Selbstreflexivität kann somit, wie Martin Mann dargelegt hat, nicht auf die „Eigenschaft“ einer einzelnen Epoche reduziert werden; vielmehr ist zu unterscheiden zwischen Selbstreflexion als geschichtsübergreifendem Phänomen einerseits und der großen Menge seiner jeweils historisch spezifizierbaren Funktionen andererseits.10 Entsprechend ist auch die Reduzierung des Prinzips auf Elitarismus und Ästhetizismus nicht haltbar: So hat Selbstreflexion etwa auch als grundlegende philosophische, epistemologische und alltagskulturelle Praxis in diversen Bereichen und Stufen der Kulturgeschichte wichtige Rollen gespielt.11 Im Folgenden werde ich einen exemplarischen Fall kultureller Selbstreflexion im Kontext der europäischen „Flüchtlingskrise“ behandeln: Die Darstellung europäischer Grenzen in zeitgenössischen Dokumentar- und Essayfilmen, mit besonderem Fokus auf die Repräsentation, Diskussion und Hinterfragung von Praktiken der Grenzüberwachung und -kontrolle. Hierzu werde ich im folgenden Kapitel überblickshaft eine Reihe von Arbeiten besprechen, die im doppelten Wortsinn als „Grenzfilme“ zu bezeichnen sind: Arbeiten, die Europas territoriale und gesellschaftliche Grenzziehungen thematisieren und hierbei ihrerseits vielfach Grenzen überschreiten – zwischen filmischer Beobachtung und countersurveillance („Gegenüberwachung“), und auch zwischen Dokumentation und politischem Aktivismus. Es folgen eine ausführliche Fallstudie zu einem besonders vielschichtigem Fall, Nikolaus Geyrhalters Dokumentarfilm Abendland, und schließlich ein knapper Ausblick auf weitere Forschung zur kulturellen Selbstreflexion.
II. Selbstreflexion in Grenzfilmen: Zur Sichtbarmachung der Sichtbarmachung In den letzten Jahren ist die Zahl kritischer Dokumentar- und Essayfilme, die neue Perspektiven auf die Grenzen der EU zu eröffnen versuchen, stark angestiegen. Ein Kennzeichen dieser Filme ist der dezidierte Bruch mit standardisierten Narrativen, wie sie etwa die Berichterstattung in Fernsehen und Internet häufig kennzeichnen. Wie einschlägige Studien zu dieser Berichterstattung zeigen, sind solche Narrative dominiert von „Innenperspektiven“, aus denen Grenzen oft als abstrakte „Schwellen“ zwischen einem ökonomisch und kulturell 9 Lippert, Autopoiesis; ders., Narrowing circles; ders., Selbstreferenz in Literatur und Wissenschaft; ders., Auto(r)fiktionen; ders., Public Self-reflection; Lippert/Schmid, Read thyself. 10 Mann, Das Erscheinen, 14–17. 11 Lippert, Public Self-reflection.
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homogenen „Eigenen“ und der Außenwelt erscheinen;12 vernachlässigt werden oft etwa die individuellen Hintergründe der Flüchtlinge und Migranten. Im Kontrast hierzu schneiden viele der Filme, die im Folgenden behandelt werden, Innen- und Außenperspektive ineinander, zeigen Grenzgebiete als Todesfallen und Schauplätze inhumaner „Rückführungs“Praktiken, aber auch als ganz konkrete Orte des täglichen Lebens und der Heimat (etwa der Bewohner von Hotspots wie Lampedusa). Anhand innovativer ästhetischer Techniken verhandeln sie die komplexen Verflechtungen von Globalisierung, Flucht und Migration. Und anhand der Kontextualisierung mit den diversen anderen „Krisen“ der letzten Jahre stellen Sie eine grundlegende Dialektik der gegenwärtigen EU heraus, nämlich den Dualismus von innerer Homogenisierung und äußerer Abschottung, innerem debordering und äußerem rebordering.13 Auch die seit den Gründungstagen der Border Studies vielfach diskutierte „Gemachtheit“ von Grenzen, ihr Status als „sozio-territoriale Konstrukte“, gerät so erneut in den Blick; insbesondere werden epistemologische und ethische Fragen über die grundlegende Natur von Grenzen, die von der soziologisch orientierten Forschung lange vernachlässigt worden sind, neu verhandelt.14 Dass gerade Dokumentar- und Essayfilme das Potenzial haben können, kritische Gegenbilder zur dominanten Medienberichterstattung zu generieren, lässt sich auch medienhistorisch nachvollziehen. Von Beginn an war die Geschichte des Dokumentarfilms geprägt von Debatten über seine politische Wirkungsmacht, seine ethischen Dimensionen und die Verantwortung der Filmemachenden.15 Vieldiskutierte Fragen waren etwa, welche Macht der Akt des Filmens und die Bearbeitung des Filmmaterials über die Gefilmten und über das Wirklichkeitsverständnis des Betrachters haben, und wie sehr dieser Akt und diese Bearbeitung im filmischen Produkt sichtbar sein sollten.16 In der vielfach medialisierten, digitalen Gegenwart lassen sich solche Fragen zum Zusammenhang von (Film-)Technologie und Macht nun nicht mehr nur im Kontext professioneller Filmproduktion stellen, sondern auch, wie im Folgenden zu referieren sein wird, auf andere filmtechnische Praktiken wie die der Grenzüberwachung: Viele der im Folgenden zu besprechenden Grenzfilme referieren direkt auf Technologien und Praktiken der Überwachung, Visualisierung und Kontrolle, wie sie tatsächlich bei der Grenzsicherung und in verwandten Überwachungssettings eingesetzt werden. Der „Blick“ der Überwachungskamera spielt für die gegenwärtigen Machtkonstellationen der Grenzsicherung eine zentrale Rolle – sowohl hinsichtlich seiner eigentlichen Kontroll- und Erfassungsfunktionen als auch hinsichtlich seiner Re-Präsentation in der Medienberichterstattung.17 Wie Esther Peeren ar12 Chouliaraki et al., The European ‘Migration Crisis’; Berry et al., Press coverage. 13 Scott, European politics. 14 van Houtum, The geopolitics. 15 Hohenberger, Bilder des Wirklichen. 16 Dave Saunders, Direct Cinema. 17 Adey, Borders.
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gumentiert, kann etwa die Verwendung von Überwachungs-Filmmaterial von großer Bedeutung für gängige Rahmungen (frames) in der Medienberichterstattung über Migration sein.18 Erwiesen ist etwa, dass sie Vorurteile und ungerechtfertigte Kriminalisierung begünstigt.19 Um solche Probleme standardisierter Visualisierungen aufzuzeigen und zugleich buchstäbliche Gegenperspektiven anzubieten, subvertieren die unten besprochenen Filmemacher den Einsatz von Überwachungstechnologien, indem sie etwa die Überwachten ihrerseits mit Kameras ausstatten und somit Akte des „Gegenfilmens“ ermöglichen, oder indem sie selbst filmisch dokumentieren, was hinter den Kulissen des Überwachungsapparats vor sich geht. Überwachungspraktiken werden nicht nur auf der Ebene des Diskurses (oder Viskurses) diskutiert und problematisiert, sondern auch demonstriert, verwendet, integriert, kopiert und subvertiert. Etliche Arbeiten enthüllen dabei auch ihre eigenen Verfahren und diskutieren selbstreflexiv die Beteiligung des Filmemachers an dem, was zu sehen ist. Basierend auf diesen unterschiedlichen Strategien und Techniken können „Grenzfilme“ in drei grobe Kategorien unterteilt werden, je nachdem, an welchem Ort die filmische Reflexion überwiegend stattfindet: 1. Vor der Kamera Die erste Kategorie umfasst Filme, die Filmmaterial von tatsächlichen Überwachungskameras in ihre eigenen kritischen Erzählungen integrieren, ästhetische Merkmale von Überwachungsbildern kopieren und / oder selbst Formen der countersurveillance durchführen.20 Unter diesem Begriff der „Gegenüberwachung“ beschreibt John McGrath eine Reihe kultureller Praxen und Formate, die hegemoniale Überwachungspraktiken kopieren und transformieren – beispielsweise den Gebrauch von Kameras durch Demonstranten bei politischen Kundgebungen zur Dokumentation von Polizeigewalt und als „Gegengewicht“ zu den Kameras der Polizei. Übertragen auf das Grenzszenario implizieren solche Praxen oft die Kritik an bestehenden, im Beobachtungsverhältnis abgebildeten Machtverhältnissen, im ursprünglichen Sinne von sousveillance als Beobachtung „von unten“, im Kontrast zum gängigen, aus dem Französischen ins Englische übernommenen Terminus für „Überwachung“, surveillance (wörtlich „Beobachtung von oben“).21 „Jüngste Beispiele für solche Grenzfilme sind Formate, in denen Migranten selbst Kameras tragen, um ihre Reisen und Erfahrungen in Grenzgebieten zu dokumentieren, wie in Abou Bakar Sidibés, Estephan Wagners und Moritz Sieberts Les Sauteurs – Those who jump (2016). Der Großteil des verwendeten Filmmaterials stammt von Sidibé, einem Migranten aus Mali, und dokumentiert das Leben in einem der illegalen Lager auf dem Berg Gurugu auf der marokkanischen Seite der Grenze zur spa18 Peeren, Refocalizing irregular migration. 19 Coleman/McCahill, Surveillance and crime. 20 McGrath, Loving Big Brother, 196. 21 Mann et al., Sousveillance.
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Kulturelle Selbstreflexion in der europäischen „Flüchtlingskrise“ am Beispiel zeitgenössischer Dokumentarfilme
Abb. 1: Sequenz aus Les Sauteurs – Those who jump. Copyright und Quelle: www.estephanwagner.com.
nischen Exklave Melilla. Diese sehr persönlichen, zuweilen intimen Bilder von Menschen, die auf die Gelegenheit warten, die Zäune zur europäischen Seite zu überwinden (Abb. 1), wurden zunächst mit Sidibés selbstreflexiven Off-Kommentaren darüber, wie der Akt des Filmens seine Perspektive verändert, kombiniert. In einem zweiten Schnitt wurden sie von Wagner und Siebert mit Überwachungsmaterial der spanischen Behörden gegengeschnitten: Stummen Nachtsichtkamera-Aufnahmen von „leuchtenden“ Figuren, die sich durch dunkle Landschaften schleichen, und „Schwärme“ anonymer, kaum voneinander unterscheidbarer Körper, die über die Grenzzäune klettern (Abb. 2). Die entindividualisierende, entmenschlichende und Bedrohung suggerierende Wirkung dieser Bilder, mit denen der Betrachter aus Fernseh- und Online-Nachrichtenformaten vertraut ist (bei denen solches Material meist im Kontext krimineller Handlungen präsentiert wird), wird durch die direkte Konfrontation mit Sidibés eigenen „Gegen“-Bildern umso offensichtlicher. Ähnliche Effekte sind in der BBC-Miniserie Exodus: Our journey to Europe (2016) zu beobachten, für die Flüchtlinge und Migranten aus verschiedenen Ländern Kameras erhielten, um ihre Reisen mit Schlauchbooten im Mittelmeer oder mit Lastwagen durch den Kanaltunnel zwischen Frankreich und Großbritannien zu dokumentieren. In Laura Waddingtons Border (2004) schließt sich die Regisseurin Migranten an, die sich auf den Feldern rund um das Rote-Kreuz-Lager Sangatte in Frankreich verstecken und versuchen, mit Lastwagen und Güterzügen in den Tunnel nach England zu gelangen. Ein prominenter Fall der Umfunktionierung von Überwachungsdrohnen ist Ai Wei Weis Biennale-Beitrag Human Flow aus dem Jahr 2017 in Venedig, der den Wimmeleffekt der Vogelperspektive nutzt, ihn jedoch von der Aura der Bedrohung befreit. In ähnlicher Weise
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Abb. 2: Sequenz aus Les Sauteurs – Those who jump. Copyright und Quelle: www.estephanwagner.com
zielen Kevin McElvaneys Fotoprojekt Refugee Cameras oder Richard Mosses filmische und fotografische Arbeiten für seine Incoming- Ausstellung (2017) darauf ab, den überwachungstechnologischen Fokus radikal zu verschieben: Während McElvaney Einwegkameras unter Migranten verteilte und die Bilder dokumentiert, die sie ihm schickten, verwendet Mosse hochwertige militärische Wärmebildkameras, die Körperwärme aus einer Entfernung von bis zu 30 Kilometern erfassen können. Im Gegensatz zu ihrer Standardanwendung in militärischen Auseinandersetzungen und bei der Grenzüberwachung verwendet Mosse sie für Nahaufnahmen von Migrantengesichtern. 2. Jenseits der Kamera Mosses Arbeit kann auch als Übergangsbeispiel für Filme angesehen werden, die die Verwendung anderer komplexer Überwachungstechnologien wie multisensorischem Mapping und Tracking dokumentieren oder subvertieren. Solche Formen der surveillant assemblage,
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Abb. 3: Sequenz aus Liquid Traces – The Left-to-die Boat Case. Copyright und Quelle: Forensic Oceanography, https://forensic-architecture.org/subdomain/forensic-oceanography
der Kombination einander ergänzender digitaler Technologien,22 werden in den entsprechenden Arbeiten ihrerseits als Praktiken der buchstäblichen Entmenschlichung herausgestellt. Ein aktuelles Beispiel ist die Arbeit der Gruppe Forensic Architecture, die an der Goldsmiths University Medienforschung und virtuelle Rekonstruktion von Ereignissen im Auftrag von Menschenrechtsorganisationen betreibt. So befasst sich der Film Liquid Traces (2015) von Charles Heller und Lorenzo Pezzani mit dem Fall des „Left-to-Die“-Bootes, das im März 2011 mit 72 Flüchtlingen und Migranten an Bord von Tripolis mit Kurs auf Lampedusa ablegte. Nachdem der Treibstoff ausgegangen war, trieb das Boot zwei Wochen lang im Mittelmeer, 63 der Migranten starben an Durst oder Hunger. In Interviews mit Forensic Architecture berichteten die Überlebenden über eine Reihe von Begegnungen (mit einem Militärhubschrauber, einem Militärflugzeug, einem Militärschiff und Fischerbooten) auf dem Meer, das zu jener Zeit aufgrund des libyschen Bürgerkriegs und der von der NATO geführten militärischen Intervention massiv überwacht wurde. Heller, Pezzani und ihr Team prüften und rekonstruierten die genauen Ereignisse unter Verwendung von Überwachungsdaten aus verschiedenen Quellen und remote sensing-Technologien wie satellitenbasiertem Synthetic Aperture-Radar und kommerziellen Schiffsverfolgungssystemen sowie einem Datenprotokoll des Satellitentelefons des Schiffsführers. Das Ergebnis war ein Bericht, der in mehreren Gerichtsverfahren als Beweismittel verwendet wurde, und ein Animationsfilm, in dem die erhaltenen Daten kombiniert und sichtbar gemacht werden: eine präzise dokumen22 Haggerty/Ericson, The surveillant assemblage.
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tarische Rekonstruktion, die gerade in ihrer technischen Nüchternheit ein zutiefst erschütterndes Licht auf den Fall wirft (Abb. 3). Eine subtilere, aber dennoch effektive Diskussion zur Technologisierung und Mediatisierung von Überwachung findet sich in Gianfranco Rosis Oscar-nominierten Fuocoammare (2016). In einer meisterhaft geschnittenen Rettungssequenz erleben wir eine Art filmtechnischer „Menschwerdung“ von Migranten in mehreren Schritten: Von einem abstrakten Punkt auf einem Radar-Display über weit entfernte Körper, die im „Wimmelbild“ der Hubschrauberkamera erfasst werden, bis zu tatsächlichen Personen, die in extremen Nahaufnahmen direkt in die Kamera blicken. Dennoch wird die technisch etablierte Distanz nicht vollständig aufgehoben: Die Kamera bleibt hinter der Fensterscheibe im Inneren des Marineschiffes und filmt die „draußen“ bleibenden Migranten. Dies entspricht dem allgemeinen Ansatz des Films, die Trennung zwischen Insidern und Outsidern im Film nicht nur zu thematisieren, sondern filmtechnisch nachzuvollziehen: Während die Einwohner von Lampedusa bei reenactments ihres Lebensalltags zu beobachten sind, bleiben Migranten buchstäblich Gegenstand der Beobachtung. Obwohl beide Gruppen dieselbe Insel „teilen“, treffen sie sich nie. 3. Hinter der Kamera Die dritte Kategorie schließlich umfasst Filme, mit denen das Leben an Europas Außengrenzen im Kontext von Überwachung und Medialisierung auf eher konventionelle Weise dokumentiert wird: Durch Blicke hinter die Kulissen von Überwachungs- und Rückkehrhilfezentren oder von Nachrichtenproduktion zum Thema, aber etwa auch durch die Darstellung von Rettungsmissionen. Maria Iorios und Raphaël Cuomos Sudeuropa (2007) und Jakob Brossmanns Lampedusa im Winter (2015) haben nicht nur denselben Schauplatz wie Fuocoammare, sondern teilen mit Rosi den Ansatz, Einwohner- und Migrantenperspektiven miteinander zu konfrontieren. In 4.1 Miles (2016), einem weiteren Oscar-nominierten Film (für den besten dokumentarischen Kurzfilm), begleitet Regisseurin Daphne Matziaraki die Seerettungsmissionen eines Kapitäns der Küstenwache und seiner Besatzung vor der griechischen Insel Lesbos. Die Grenze zwischen Dokumentation und Partizipation – in der Vergangenheit Gegenstand vielfältiger ideologischer Debatten, wie eingangs angesprochen – wird von Matziaraki von der ersten Einstellung an radikal in Frage gestellt, als die Regisseurin bei einem Noteinsatz dem Befehl eines Besatzungsmitglieds folgt, die Kamera abzulegen und ein weinendes Baby zu halten, das gerade aus einem überfüllten Schiff gerettet wurde. Die Dringlichkeit einer Mission, bei der wenige Einheimische ohne ausreichende Unterstützung aus dem übrigen Europa in höchster Bedrängnis Leben zu retten versuchen – manchmal ohne Erfolg, wie der Film drastisch zeigt –, durchbricht die Distanz der dokumentarischen „Außenbeobachtung“. Wie die diskutierten Beispiele zeigen, sind die drei vorgeschlagenen Kategorien nicht als strikte Festlegungen zu verstehen, sondern nur als Orientierungsgrößen, zwischen denen es Übergänge und Überlappungen gibt. So wird auch die nun folgende detaillierte Fallstudie
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zu Nikolaus Geyrhalters Abendland in vielerlei Hinsicht als Beispiel für die dritte Kategorie gelten können, weist indes auch Verbindungen mit den anderen auf.
III. Grenzen und ihre Medialisierung in Nikolaus Geyrhalters Abendland 1. Drinnen und draußen Der Essayfilm Abendland (2011) des österreichischen Regisseurs Nikolaus Geyrhalter entwickelt ein breites Panorama der europäischen Gesellschaft und ihres Umgangs mit Flucht und Migration am Vorabend der aktuellen Krise. Strukturell lässt er sich als assoziatives Kaleidoskop beschreiben, das an diversen repräsentativen Orten in Europa und an Europas Grenzen gedreht wurde. Geyrhalter, der auch für die Kameraarbeit verantwortlich zeichnet, und sein Cutter und Dramaturg Wolfgang Widerhofer verzichten auf eine kohärente Erzählung im klassischen Sinn. Stattdessen kombinieren sie unkommentierte Sequenzen, die an verschiedenen, oft anonymen Orten in elf europäischen Ländern spielen – unter anderem in einem Krankenhaus, einem Nachtclub, einer Polizeischule, einem Erotikclub, zwei Flughäfen und einem Krematorium – mit Szenen von den geografischen und gesellschaftlichen Peripherien Europas: Von Patrouillen an der Grenze zwischen der Slowakei und der Ukraine und an den Zäunen der spanischen Exklave Melilla, von der Evakuierung des Roma-Lagers Casilino in Italien, und aus der „Rückkehrberatung“ für abgelehnte Asylbewerber in Basel. Verbunden werden die teilweise sehr heterogenen Sequenzen und Schauplätze durch drei Motive, die allesamt im Titel des Films aufscheinen: Es geht darum, was die „abendländischen“ Gesellschaften eint (und was von ihnen ausgeschlossen wird); gezeigt werden ausschließlich Abend- und Nachtaufnahmen; und schließlich rufen einige der Sequenzen Assoziationen mit westlicher Dekandenz auf, wie sie Oswald Spengler im berühmt-berüchtigten kulturpessimistischen Standardwerk Der Untergang des Abendlandes (1918–1922) diskutiert hatte. Hinsichtlich dieses letzteren Punktes ist die Stoßrichtung des Films indes eine völlig andere als diejenige Spenglers: Während der rechtskonservative Historiker die Wurzeln westlicher Dekadenz unter anderem in überzogenem Sicherheitsdenken und überflüssiger Fürsorge zu erkennen geglaubt hatte, erscheinen Fürsorge und Sicherheit in Geyrhalters nächtlichen Europasequenzen als durchaus positiv: Wir sehen Frühgeborene, die in einer High-Tech-Abteilung für Neonatologie betreut werden; professionell versorgte Bewohner eines Seniorenheims; mitfühlende Berater der Telefonseelsorge; und pflichtbewusste Angestellte aller Art beim Kochen, Reinigen, Montieren, oder beim Sortieren von Post. Selbst ziviler Ungehorsam hat seine Routine: Demonstranten, die einen Castor-Transportzug blockieren (nach einer obligatorischen Techno-Aufwärmparty auf den Gleisen), werden von Polizisten fast freundlich fortgetragen; jeder kennt seine Rolle, tut seine Pflicht, für alle(s) ist gesorgt. Gleichermaßen sorgfältig und souverän gestaltet sich Geyrhalters und Widerhofers
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filmtechnische und erzählerische Umsetzung: Sehr lange, wohlkomponierte Einstellungen und sorgfältig ausgeführte tracking shots, die oft durch subtile und raffinierte match cuts miteinander verbunden werden. Im Gegensatz zu Spenglers Text zeigen ihr Film Sicherheit und Fürsorge als etwas Schönes, das das Leben in den wohlhabenden Teilen Europas charakterisiert. Genauere Ortsbestimmungen fehlen dabei oft; die Szenen, die wir sehen, stehen prototypisch für jene Teile des „Inneren“. Gänzlich Anderes gilt indes für das „Außen“. Dieses „Außen“ ist, wie bereits erwähnt, im doppelten Sinne peripher: Wir sehen einerseits massiv geschützte Grenzen und andererseits diejenigen, die nicht an Wohlstand und Fürsorge teilnehmen: Roma-Familien diskutieren über ihren Umzug, bevor das Lager geräumt wird; ein abgelehnter nigerianischer Asylbewerber, den die Internationale Organisation für Migration Hilfe für seine „freiwillige“ Rückkehr anbietet; unbegleitete, in Calais aufgegriffene Flüchtlingskinder. Alle diese Sequenzen sind perfekt in den ästhetischen Fluss des Films integriert, ebenso sorgfältig gefilmt und durch formale, perspektivische und motivische match cuts mit den Szenen des Wohlstands verbunden. Die Schrecken des „äußeren“ Krieges und der Armut scheinen Teil der europäischen Routine zu sein, wenn auch normalerweise nur im Rahmen des Nachrichtenkonsums. Dementsprechend demonstriert Geyrhalter bei der Darstellung des TV-Produktionsprozesses im Skynews-Fernsehstudio im englischen Isleworth die groteske Seite alltäglicher Nachrichten-Melange, treffend zusammengefasst von einem Redakteur, der eine Nachrichtensprecherin an die heutige Themenreihenfolge erinnert: „Ärzte, Zerstörung, Wetter“.23 Von britischen Touristen, die trotz ETA-Bombenangriffen auf Mallorca Urlaub machen wollen, geht die „Reise“ zum Zusammenbruch eines Gebäude in Karatschi mit 16 Toten, und von 132 unbegleiteten Migrantenkindern, die in Calais festgesetzt sind (das „große Problem“ sei, so der Reporter, dass sie als Minderjährige „nicht abgeschoben werden können“, 36:24) zu den neuen Verkaufsstrategien des Modelabels Burberry. Dieser letztere abrupte Übergang wird von Geyrhalter in einem 90-Grad-Winkel zur aktiven Studio-Kamera gefilmt: Während die Sprecherin das Thema und die Blickrichtung bereits geändert hat, sehen wir immer noch das letzte Hintergrundbild, das Sekunden zuvor verwendet wurde und von Polizisten umgebene Migrantenkinder zeigt – und das Bizarre des medialen Aufmerksamkeitswechsels von äußerer Not zu innerem Überfluss entblößt. 2. Ein filmisches synopticon Ein zweites, ebenso wichtiges Thema des Films in Bezug auf alltägliche Medienpraktiken ist das Thema Überwachung. Das erste, was Geyrhalters Kamera uns zeigt, ist eine andere Kamera, montiert auf einem Auto des Grenzschutzes in der Nähe von Sobrance an der äußeren EU-Grenze zwischen der Slowakei und der Ukraine. Während die tatsächlichen Be23 Geyrhalter, Abendland, 34:37. Im Folgenden beziehen sich unkommentierte Zeitangaben im Text auf diesen Film.
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Abb. 4: Sequenz aus Abendland. Copyright und Quelle: Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion, https://www.geyrhalterfilm.com/
obachtungsbemühungen des Fahrers eher unspektakulär bleiben – alles, was er mit seinen Nachtsichtbildschirmen „einfangen“ kann, sind ein Kaninchen und seine Kollegen – etabliert diese Eröffnungssequenz Überwachung als thematischen Rahmen des Films, der am Ende durch eine weitere, ebenso ereignislose und groteske Grenzpatrouillensequenz in der spanischen Exklave Melilla geschlossen wird. Beide Sequenzen zeigen die Ränder des „Inneren“ als surreale, hochtechnisierte und grell beleuchtete „Inseln“ in der Dunkelheit der europäischen Nacht (Abb. 4). Die Darstellung von Überwachungspraktiken ist indes nicht auf Grenzschauplätze beschränkt. Im Büro einer Londoner Sicherheitsfirma sehen wir vier Mitarbeiter vor einer Wand von etwa 100 Bildschirmen, die Bilder von Überwachungskameras in der ganzen Stadt zeigen – ein beeindruckender, aber auch skurriler Anblick (Abb. 5). Welche Bilder werden aus der riesigen Flut zur genaueren Betrachtung ausgewählt? Als Geyrhalters Kamera einen einzelnen Mitarbeiter herausgreift, erkennen wir: In dessen Fall sind es hauptsächlich schwarze Männer, Bettler und ein Rollstuhlfahrer, laut dem Wachmann ein „Unruhestifter“, der „definitiv seine Behinderung ausnutzt“ (23:20). Der Eindruck von racial und social profiling sowie vorurteilsbedingter Selektivität ist offenkundig. In Rückbezug auf Geyrhalters eigene „Beobachtungen“ erkennen wir sein Verfahren erneut als subversive Kopie alltäglicher Medienpraxis: Die Sequenz in der Überwachungszentrale, präsentiert nach
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Abb. 5: Sequenz aus Abendland. Copyright und Quelle: Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion, https://www.geyrhalterfilm.com/
20 Minuten in Geyrhalters filmischem Kaleidoskop, macht eben jene Fragen, die sich im Bewusstsein des Betrachters mittlerweile zum Film herausgebildet haben mögen, im Film explizit: Worauf fokussiert die Beobachtung, und warum? In dieser Hinsicht erscheint der gesamte Film als eine Art Trainingseinheit für die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins für Fragen der filmischen Selektivität – sowohl in Bezug auf Geyrhalters Auswahl aus einem Korpus, der ursprünglich aus 170 Stunden Material bestand, aufgenommen an 28 Orten in 11 verschiedenen Ländern, als auch in Bezug auf die gezeigte Überwachungspraxis. Zum einen zeigt Abendland somit Beispiele für eine Überwachungskultur, die David Lyon als „umgekehrtes Panoptikum“ bezeichnet hat – die also nicht mehr, wie Jeremy Benthams berühmtes panopticon-Gefängnis, die Kontrolle von Insassen zum Ziel hat, sondern vielmehr bestimmte Elemente draußen halten soll.24 Zum anderen etabliert Geyrhalter durch die filmische „Beobachtung der Beobachter“ – um Niklas Luhmanns bekannte Formel zu zweckentfremden25 – eine subversive Form der „Gegenüberwachung“, nämlich, mit Thomas Mathiesen gesprochen, ein kritisches synopticon:26 Mögen, ganz nach Bentham, die Wenigen weiterhin die Vielen beobachten, so ermöglicht es Abendland jenen „Vielen“, den beobachtenden Blick zu erwidern. 24 Lyon, Liquid surveillance, 329. 25 Gerade in solcher Beobachtung „zweiter Ordnung“ erkannte Luhmann eine Möglichkeit, die „blinden Flecke“ eines Systems aufzudecken – vgl. Lippert, Selbstreferenz, 94. 26 Mathiesen, The viewer society.
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Abb. 6: Sequenz aus Abendland. Copyright und Quelle: Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion, https://www. geyrhalterfilm.com/
3. Borderscapes Schließlich zeigt Geyrhalters Film, wie oben angesprochen, auch Schauplätze, die als „interne Peripherien“ bezeichnet werden können – angelehnt an Rajarams und Grundy-Warrs Konzept der borderscapes27 (wörtlich übersetzt etwa „Grenz-Schaften“, in Anlehnung an landscape, „Landschaft“): Viele Praktiken der „Grenzziehung“, wie Screening, datenbasierte Überwachung und Beurteilung, sind nicht auf jene physischen Orte beschränkt, die wir als Grenzen bezeichnen. Ein Beispiel in Abendland ist die „Rückkehrberatung“ für abgelehnte Asylbewerber im Basler „Empfangs- und Verfahrenszentrum“. Ein abgelehnter Asylbewerber aus Nigeria wird von einer Mitarbeiterin der Internationalen Organisation für Migration über seine „Optionen“ informiert: Er kann Berufung einlegen (99 % werden abgelehnt); illegal in Europa bleiben und „ein oder zwei Jahre seines Lebens verschwenden“ (1:08:20); oder „freiwillig“ (1:06:54) und „in Würde“ (1:07:05) zurückkehren, unterstützt von der IOM , um „etwas Neues zu beginnen“ (1:08:20), vielleicht ein „kleines Geschäft“ zu eröffnen“ (1:08:34). Die Beraterin klingt hierbei zuweilen eher wie ein life coach aus der Ersten Welt („Es ist Ihre Entscheidung. Es ist Ihr Leben“, 1:09:06), was angesichts des Hinweises des Bewerbers auf die massiv unsichere politische Situation in Nigeria nach dem Tod von Präsident YarʼAdua recht grotesk anmutet. Trotz dieses impliziten Gegensatzes der Perspektiven bleibt das gesamte Gespräch völlig frei von expliziten Konflikten und im ruhigen 27 Rajaram/Grundy-Warr, Borderscapes.
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Fluss des übrigen Filmgeschehens – die Entscheidungen sind bereits gefallen, die Grenzen bereits gezogen. Der folgende match cut zu einem Flugzeug, das von der Polizei geleitete Passagiere aufnimmt, zeigt das Standardergebnis jenes standardisierten Verfahrens, dessen Zeuge wir wurden. Die Sequenz endet mit einer langen Einstellung, die das Zentrum als eine weitere surreale nächtliche Leucht-Insel zeigt (Abb. 6): eine borderscape, die auffallend jenen tatsächlichen Grenzen ähnelt, die sowohl Europa als auch Geyrhalters Film umrahmen.
IV. Schluss Beobachtung kann sich, in Luhmanns bekannter Diktion,28 niemals vollständig selbst beobachten, und ebenso wenig ist es einer Kultur möglich, sich selbst vollständig „von außen“ zu reflektieren. Indes ist partielle Reflexion, wie eingangs mit Bauman argumentiert, ein essenzieller Bestandteil kultureller Praxis; der hier verhandelte Beispielfall – filmische Selbstreflexion auf filmische Überwachungspraktiken – zeigt exemplarisch, welche Formen sie annehmen kann. Im Hinblick auf die „Flüchtlingskrise“ ist dieser Fall nicht mehr und nicht weniger als ein Baustein eines größeren Fragengebäudes: Welche anderen Formen kultureller Selbstreflexion gibt es im Kontext der „Krise“? Welche lassen sich etwa in der vielgescholtenen Medienberichterstattung ausmachen? Und was geschähe, wenn die Politik in diesem Kontext eine ähnliche Bereitschaft entwickeln würde, öffentlich frühere Fehler im eigenen Handeln einzugestehen, wie derzeit im Zusammenhang mit der Pandemie? Wie diese Fragen zusammenzubringen wären und welches Theorieinstrumentarium hierzu vonnöten wäre, habe ich an anderer Stelle ausführlich dargestellt.29 Ihre Beantwortung wird für die Bewältigung der bedeutendsten „Krise“ unserer Zeit eine wichtige Rolle spielen.
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28 Luhmann, Soziale Systeme, 51. 29 Lippert, Public self-reflection.
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Die EU als Ziel von Migration Die Politik der Grenzen und die Grenzen der Politik I. Einleitung „Massenmigration ist Teil des europäischen Schicksals“ – so beschreibt der niederländische Autor Geert Mak in seinem Buch „Große Erwartungen“ die Erfahrungen Europas im 20. Jahrhundert.1 Er erinnert an die massenhafte Migration im Zusammenhang mit der Russischen Revolution und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches sowie an die millionenfache Flucht und Vertreibung im Zuge des Zweiten Weltkriegs und in der Folge des Vernichtungskrieges Nazi-Deutschlands. Auch in den 1950er und 1960er Jahren waren Flucht und Migration innerhalb Europas und nach Europa das Schicksal von Millionen. Geert Mak bezeichnet es als eine der „größten Leistungen Nachkriegseuropas, dass es inmitten von Chaos und Zerstörung für fast all diese Migranten eine neue Heimat“ geboten habe.2 Einige Jahrzehnte später wurde Europa, genauer: die Europäische Union, wieder das Ziel von Migration. Es wurde zur Hoffnung für hunderttausende Menschen aus Regionen und Ländern, in denen Bürgerkriege, Hunger, Elend und Verzweiflung herrschen. Die Zahlen und Verhältnisse damals und heute, seit 2015, sind kaum zu vergleichen: „Diese Flüchtlingsströme – wenn diese naturgewaltige Metapher erlaubt ist – waren (…) ein Rinnsal im Vergleich zu dem, was aufgrund des Nationalsozialismus und dann nach dem Zweiten Weltkrieg folgte“.3 Gleichwohl hat das Thema Migration nach Europa zu einer tiefen Krise der EU geführt und die „Flüchtlingskrise“ zu einer von mehreren Krisen, mit denen die EU konfrontiert wurde, gemacht.4 Die täglichen Bilder und Berichte seit dem Sommer 2015 haben einerseits eine große Hilfsbereitschaft, gerade auch in Deutschland („Willkommenskultur“), aber auch Abwehr und Unsicherheit andererseits sichtbar werden lassen. Der Schriftsteller Navid Kermani beschreibt in seinem Reportage-Buch „Einbruch der Wirklichkeit“ die aus seiner Sicht biblisch anmutenden Bilder der Flüchtlingstrecks.5
1 Geert Mak, Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums (1999–2019), München 2020, 392. 2 Ebd. 3 Philipp Ther, Die Außenseiter. Flucht, Migration und Integration im modernen Europa, Berlin 2017, 8. 4 Vgl. dazu Marianne Riddervold/Jarle Trondal/Akasemi Newsome (Hrsg.), The Palgrave Handbook of EU Crises, Cham 2021. 5 Navid Kermani, Einbruch der Wirklichkeit, München 2016.
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Die EU und ihre Mitgliedstaaten hatten zu diesem Zeitpunkt noch mit den Nachwirkungen der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise zu kämpfen, als sie 2015 mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ konfrontiert wurden. Zur einen Krise kam also noch eine zweite hinzu. Der Begriff „Krise“ wird in der öffentlichen Debatte häufig synonym verwendet mit Problem und Herausforderungen. Krise in einem engeren Sinne, so wie ich es hier verstehe, meint aber, dass eine Sache Spitz auf Knopf steht. Eine Krise bedeutet eine Situation, in der etwa ein politisches System eine Funktionskrise und/oder eine Legitimationskrise erfährt und in der eine Entscheidung notwendig ist. Der Historiker Reinhart Koselleck spricht hier von „harten Alternativen“, zwischen denen politische Akteure wählen müssen.6 Die EU stand und steht bis heute beim Thema Migration, Asyl und Zuwanderung vor der Entscheidung, wie sie ihrer internationalen Verantwortung für Sicherheit und Entwicklung gerecht wird und wie sie gleichzeitig die Migration, die auch die Frage nach der Integration von Geflüchteten aufwirft, steuern bzw. organisieren kann. Am Ende sind hier auch wichtige Fragen von „Wirtschafts-, Sozial- und Bürgerstaatlichkeit“ zu klären, denn Migration in und nach Europa „findet immer in eine staatliche Gemeinschaft hinein statt“, wie Martin Nettesheim betont.7 Das Thema Migration berührt also auch die Frage, ob sich die Europäische Union auch und gerade in der Krise als politische und solidarische Gemeinschaft versteht und ob sie sich – zumindest in einer langfristigen Perspektive – als „Einwanderungsland“ begreift wie Kanada oder die USA. Die Europäische Union ist kein Staat im klassischen Sinne, sie lässt sich vielmehr als Mehrebenensystem beschreiben. In diesem System spielen die Mitgliedstaaten und ihre Regierungen zusammen mit den supranationalen Institutionen (EU-Kommission, Europäisches Parlament, Europäischer Gerichtshof) zentrale Rollen. Die politische Verantwortung für die Migrations- und Asylpolitik und auch den Grenzschutz ist in der EU, wie in vielen anderen Politikbereichen auch, auf unterschiedlichen Ebenen des Mehrebenensystems angesiedelt – der supranationalen, der mitgliedstaatlichen und der regionalen bzw. lokalen Ebene. Daraus hat sich im Laufe der Zeit ein komplexes politisches System der exklusiven und geteilten Kompetenzen und eine für die EU typische Art der „Politikverflechtung“8 ergeben. Auf der Grundlage der Theorie der „Politikverflechtung“ lässt sich die erste These formulieren, die ich in meinem Beitrag diskutieren möchte: Die Merkmale des EU-Mehrebenensystems und die damit einhergehende Form der Aufgabenverteilung beeinflussen die Art und Weise, wie in der Europäischen Union und in ihren Mitgliedstaaten die Themen Grenzschutz, Migration und Asyl organisiert werden. Es lässt sich hier ein „regime effect“ beobachten, also ein Zu6 Vgl. dazu mit entsprechenden Nachweisen zu Krisen-Konzepten Michèle Knodt/Martin Große Hüttmann/ Alexander Kobusch, Die EU in der Polykrise: Folgen für das Mehrebenen-Regieren, in: Andreas Grimmel (Hrsg.), Die Europäische Union. Zwischen Integration und Desintegration, Baden-Baden 2020, 119–151. 7 Martin Nettesheim, Migration im Spannungsfeld von Freizügigkeit und Demokratie, in: Archiv des öffentlichen Rechts 144 (2019), Heft 3, 361. 8 Sabine Riedel, Grenzschutz, Migration und Asyl. Wege der Europäischen Union aus der Politikverflechtungsfalle. Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin 2020.
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sammenhang erkennen zwischen dem EU-Mehrebenensystem auf der einen Seite und den Herausforderungen der Migrations- und Asylpolitik auf der anderen Seite.9 Die „Flüchtlingskrise“ hat bis heute sichtbare Auswirkungen auf die Europäische Union und das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten belastet. Der bulgarische Politikwissenschaftler und EU-Experte Ivan Krastev beschreibt die Folgen so: „Die Flüchtlingskrise sorgt […] für eine bittere Spaltung der Europäischen Union und eine Wiederbelebung der OstWest-Spaltung, die 1989 überwunden wurde.“10 Seit 2015 hatten die Europäische Kommission und die EU eine Reihe von Vorschlägen präsentiert und Maßnahmen beschlossen, die aber keine grundsätzliche Lösung oder eine Beilegung des politischen Streits im Kreis der EU-Staaten gebracht hätten. Die auf dem Tisch liegenden Lösungen sind, um mit Paul Watzlawick zu sprechen, das eigentliche Problem. Weshalb? Bei kaum einem anderen Thema gehen die Vorstellungen über die „richtige“ Migrations- und Asylpolitik so sehr auseinander wie auf diesem Gebiet. Hier zeigen sich im Kreis der Mitgliedstaaten ganz unterschiedliche Präferenzen und Interessen.11 Während in Ungarn und Polen die politische Führung die Zuwanderung in die EU nicht steuern, sondern verhindern will, streben viele Mitgliedstaaten wie Deutschland und andere eine Reform der Migrations- und Asylpolitik der EU an, die – zumindest langfristig – eine nach bestimmten Kriterien ausgerichtete Umverteilung und Lastenteilung erreichen soll. Da sich der Streit im Kreis der Mitgliedstaaten nicht nur um das Wie, also über die Details und Instrumente dreht, sondern auch um das Ob, stoßen politische Kompromisse und die für die EU typischen „Paketlösungen“ oder auch eine Politik des (finanziellen) Ausgleichs an ihre Grenzen. Am Beispiel der Asyl- und Migrationspolitik, die auch eine Politik der Grenzen ist, zeigen sich, so lautet meine zweite These, die Grenzen der Politik. Im folgenden Kapitel will ich erläutern, wie sich die Europäische Union in den vergangenen Jahrzehnten darum bemüht hat, in einem Politikfeld, das zunächst neu war für sie, eine Reihe von Regeln zu etablieren und erste Schritte in Richtung Harmonisierung zu gehen. Die zentrale Frage, die ich im Folgenden diskutieren werde und zu beantworten suche, ist die nach dem Umgang der Europäischen Union mit den Herausforderungen und Krisen, den Prozessen der Integration („mehr Europa“) einerseits und Desintegration („nationale Reflexe“) andererseits auf dem Gebiet der Asyl- und Migrationspolitik.
9 Vgl. dazu Katharina Natter, Rethinking immigration policy theory beyond ‘Western liberal democracies’, in: Comparative Migration Studies 6 (2018), Heft 4, 1–21. 10 Ivan Krastev, Europadämmerung. Ein Essay, Berlin 2017, 53. 11 Natascha Zaun, State as Gatekeepers in EU Asylum Politics: Explaining the Non-adaption of a Refugee Quota System, in: Journal of Common Market Studies 56 (2018), Heft 1, 44–62.
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II. Migration, Asyl, Grenzschutz und Europäische Staatlichkeit – wie hängen diese Fragen miteinander zusammen? Die EU scheut jeglichen Hinweis auf eine eigene, also „europäische“ oder „supranationale“ Staatlichkeit wie der Teufel das Weihwasser. An vielen Stellen im Primärrecht wird ausdrücklich betont, dass die Mitgliedstaaten die zentralen Akteure des europäischen Einigungsprozesses sind. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem „Maastricht-Urteil“ von 1993 den EU-Staaten und ihren Regierungen die Funktion als „Herren der Verträge“ zugewiesen, wonach sie das letzte Wort haben, wenn es um Änderungen des EU-Vertrages geht.12 Den EU-Organen wie der Kommission oder dem Europäischen Parlament kommt in dieser intergouvernementalistischen Perspektive nur eine untergeordnete Rolle zu. Gleichwohl hat die EU eine eigene Form von „Staatlichkeit“ entwickelt; ich spreche hier bewusst von „Staatlichkeit“ und nicht von „Staat“, weil dieser Begriff zu eng gefasst wäre und nolens volens beim Leser und der Leserin das Bild des klassischen Nationalstaates evozieren würde. Die Europäische Union ist in diesem weiter gefassten Konzept eine bestimmte, historisch kontingente Ausprägung von „Staatlichkeit“ wie auch andere Formen der politischen und ökonomischen Ordnung, die sich in der Geschichte und auch in anderen Regionen der Welt herausgebildet haben. Der klassische Nationalstaat, wie er sich zu einer bestimmten Zeit unter ganz bestimmten Voraussetzungen in Europa entwickelt hat, kann also nicht als Norm oder Normalfall angesehen werden – dies wäre nicht nur eurozentristisch gedacht, sondern würde die ganze Breite an Modellen politischer Ordnung und die „Vielfalt des Regierens“ ausblenden.13 Spätestens mit dem Vertrag von Maastricht (1993) hat sich eine EU-typische Art von „State-building“ gezeigt.14 Was waren damals und was sind bis heute die treibenden Kräfte dieser Entwicklung? Wolfgang Wessels und Andreas Hofmann sehen die EU-Mitgliedstaaten in einem Dilemma, es schlagen gewissermaßen zwei Seelen in ihrer Brust. Zum einen sehen sie bei vielen Problemen, dass ihre Ressourcen nicht ausreichen, um mit Herausforderungen wie dem Klimawandel fertig zu werden. In solchen Fällen folgen sie einem Problemlösungsinstinkt und übertragen Kompetenzen auf die EU-Ebene. Zum anderen verteidigen sie jedoch ihre Staatsaufgaben und ihre Autonomie – sie folgen also ihrem Souveränitätsre12 BVerfGE 89, 155. 13 Anke Draude, Die Vielfalt des Regierens. Eine Governance-Konzeption jenseits des Eurozentrismus, Frankfurt/Main – New York 2012. Vgl. dazu auch die instruktiven Überlegungen von Gunnar Folke Schuppert, Von Staat zu Staatlichkeit – Konturen einer zeitgemäßen Staatlichkeitswissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Von Staat zu Staatlichkeit. Beiträge zu einer multidisziplinären Staatlichkeitswissenschaft, Baden-Baden 2019, 11–39. 14 Vgl. dazu Hans-Jürgen Bieling/Martin Große Hüttmann, Staatlichkeit in der Europäischen Union: Dynamiken und Narrative, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Von Staat zu Staatlichkeit. Beiträge zu einer multidisziplinären Staatlichkeitswissenschaft, Baden-Baden 2019, 117–146 (mit weiteren Nachweisen) und Kathleen McNamara, Authority Under Construction: The European Union in Comparative Political Perspective, in: Journal of Common Market Studies 56 (2018), Heft 7, 1510–1525.
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flex. Dieser stellt eine Hürde dar für den Transfer von Kompetenzen und lässt ihn nur unter ganz bestimmten Bedingungen möglich werden.15 Der Vertrag von Maastricht hat nicht nur die Grundlagen geschaffen für die spätere Einführung einer gemeinsamen Währung, sondern auch den Weg eingeschlagen in Richtung „Europäisierung“ weiterer Staatsaufgaben wie der Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Justiz- und Innenpolitik. Der zuletzt genannte Themenbereich umfasst die Felder Asyl, Migration und Grenzschutz – also die Politikbereiche, um die es im vorliegenden Beitrag gehen soll. Es ist kein Zufall, dass im Umfeld der Ratifizierung des Vertrags von Maastricht eine politikwissenschaftliche Debatte um die „Staatswerdung“ der EU aufgekommen ist.16 Mit „Maastricht“ hat sich die Europäische Gemeinschaft nicht nur umbenannt in „Europäische Union“, das war sehr viel mehr als der Austausch eines Etiketts. Der Maastrichter Vertrag hat dem Integrationsprozess, der in den 1980er Jahren mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) neuen Schwung bekommen hat, zusätzlichen Auftrieb gegeben. Er hat den mit der EEA eingeschlagenen Weg der Vertiefung der ökonomischen Integration im Rahmen des Binnenmarkt-Projektes (die „vier Freiheiten“ von Waren, Kapital, Dienstleitungen und Personen) erweitert um eine Politik der Integration klassischer Staatsaufgaben.17 Die Politikwissenschaftler Philipp Genschel und Markus Jachtenfuchs haben diesen Schritt so beschrieben: „From Market Integration to the Core State Powers“.18 Sie beobachten bei der Integration und „Europäisierung“ von Politikfeldern und Kompetenzen, die den Kern der klassischen Nationalstaatlichkeit ausmachen, ähnliche Muster wie bei der Wirtschaftsintegration – es geht darum, die (negativen) Folgen von Interdependenz, die sich aus der immer engeren Zusammenarbeit und Verflechtung der Mitgliedstaaten in einzelnen Politikbereichen ergeben, durch eine Politik der gemeinsamen Problemlösung und Überwachung der Regeln zu minimieren. Aus der Schaffung eines Gemeinsamen Marktes und den damit einhergehenden Interdependenzen ergibt sich eine entsprechende Nachfrage nach zusätzlicher Integration („mehr Europa“) auf diesem Feld. Eine Politik der Harmonisierung, also einer Angleichung der nationalen Regulierungssysteme, ist ein „sachlogischer“ Schritt in Richtung mehr Europäischer Staatlichkeit, die sich aus der Binnenmarkt-Idee ergibt. Das, was der erste Kommissionspräsident Walter Hallstein als „Sachlogik“ beschrie15 Wolfgang Wessels/Andreas Hofmann, Wächter des Nationalstaats oder Föderator wider Willen? Der Einfluss des Europäischen Rates auf die Entwicklung der Staatlichkeit in Europa, in: Hans-Jürgen Bieling/Martin Große Hüttmann (Hrsg.), Europäische Staatlichkeit. Zwischen Krise und Integration, Wiesbaden 2016, 113– 131. 16 Rudolf Wildenmann (Hrsg.), Staatswerdung Europas? Optionen für eine Europäische Union, Baden-Baden 1991. 17 Zur Vorgeschichte des Vertrags von Maastricht vgl. Michael Gehler/Winfried Loth (Hrsg.), Reshaping Europe. Towards a Political, Economic and Monetary Union, 1984–1989, Baden-Baden 2020. 18 Philipp Genschel/Markus Jachtenfuchs, From Market Integration to the Core State Powers: the Eurozone Crisis, the Refugee Crisis and Integration Theory, in: Journal of Common Market Studies, 56 (2018), Heft 1, 178–196.
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ben hat und was Neofunktionalisten wie Ernst B. Haas als „spill-over“ bezeichnet haben, wird aber nicht automatisch wirksam. Es gibt keine „unsichtbare Hand“ im Sinne von Adam Smith, die den Integrationsprozess in diesem Sinne in Richtung mehr Integration lenken würde. Eine Übertragung von neuen Kompetenzen von der mitgliedstaatlichen auf die EUEbene ist erst dann möglich – und hier kommen die EU-Staaten als „Herren der Verträge“ ins Spiel –, wenn es einen Konsens der Regierungen gibt und eine entsprechende Änderung des Vertrags einstimmig beschlossen wird. In der Vergangenheit, auch darauf verweisen Philipp Genschel und Markus Jachtenfuchs zu Recht hin, war eine Politik der ökonomischen Integration auch deshalb so erfolgreich, weil sich politische und wirtschaftliche Eliten und Netzwerke (z. B. europaweite Unternehmerverbände) in ihren Zielen und Strategien einig waren und sich die Europäische Kommission zum Vorreiter der Binnenmarktintegration gemacht hat. Mit ihrem Weißbuch hat die Brüsseler Behörde die rechtlichen Grundlagen für dieses Projekt gelegt. Diese Harmonisierungs-Logik hat, zumindest am Anfang, auch auf dem Feld der europäischen Migrations- und Asylpolitik gegriffen.
III. Instrumente, Akteure und Konflikte in der EU-Migrations- und Asylpolitik Um die jüngeren, also die seit Mitte der 2010er Jahre zu beobachtenden Entwicklungen im Bereich der EU-Migrations- und Asylpolitik einordnen zu können, ist ein kurzer Blick zurück erforderlich. Mit der Vollendung des Binnenmarktes in der ersten Hälfte der 1990er Jahre war nicht nur ein ökonomisches Megaprojekt realisiert worden. Der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen und die Abschaffung von Binnengrenzkontrollen hatten auch Folgen für die Politikfelder Asyl und Migration. Am Beispiel des Binnenmarktprojektes lässt sich der Zusammenhang zwischen Politik und Wirtschaft illustrieren: In der politikwissenschaftlichen Europaforschung wird diese Verknüpfung seit jeher mit der oben erwähnten funktionalistischen „Sachlogik“ beschrieben, wonach ein Schritt in Richtung mehr Integration nach einer „spill over“-Logik weitere Integrationsschritte nach sich ziehen kann. Es gilt das Motto, das Walter Hallstein, der erste Präsident der Europäischen Kommission, so beschrieben hat: „Wer A sagt, muss auch B sagen“.19 Wenn die Mitgliedstaaten die Binnengrenzkontrollen im Zuge der Schaffung eines Gemeinsamen Marktes abschaffen, kann daraus ein nächster Schritt in Richtung „mehr Europa“ folgen: Da von nun an Personen, die aus Drittstaaten in dieses „grenzenlose“ Europa einreisen, und in einem Staat Asyl beantragen, auch – zumindest theoretisch – in jedes andere Land der Europäischen Gemeinschaft weiterreisen können, besteht hier ein Regelungsbedarf. Mit der Unter19 Vgl. zum Folgenden Martin Große Hüttmann, Die Migrations- und Asylpolitik der Europäischen Union, in: Karl-Heinz Meier-Braun/Reinhold Weber (Hrsg.), Deutschland Einwanderungsland, 3. Auflage, Stuttgart 2017, 255–266.
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zeichnung des Vertrags von Schengen im Jahre 1985 hatten sich zunächst fünf EG-Staaten darauf verständigt, ihre Binnengrenzkontrollen abzuschaffen; die beteiligten Staaten waren die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Belgien, die Niederlande sowie Luxemburg. Diese Gruppe hat sich darauf verständigt, von nun an auch in der Migrations-, Asyl- und Visapolitik enger zu kooperieren. Da die genannten Bereiche traditionell zu den klassischen Staatsaufgaben gehören, war dies ein erster Schritt in Richtung einer Europäischen Staatlichkeit. Die beteiligten Staaten waren hier ihrem Koordinationsreflex gefolgt und haben ihre Souveränitätsreflexe unterdrückt. Im Zuge der „Schengen“-Kooperation ging es zum Beispiel darum, die Vorschriften für die Einreise und die Ausgabe von Visa an Drittstaatenangehörige zu vereinheitlichen und um die Harmonisierung der Asylpolitik, die Bekämpfung des Drogenhandels sowie eine engere Zusammenarbeit zwischen den nationalen Polizei- und Justizbehörden. Diese Kooperation war zunächst rein intergouvernemental angelegt, das heißt, es waren die mitgliedstaatlichen Regierungen und ihre Behörden und Beamtenapparate in den Innen- und Justizministerien, die sich auf Minister- und Beamtenebene regelmäßig getroffen und abgestimmt haben. Nach und nach haben sich weitere EG-Staaten diesem Netzwerk angeschlossen – jedoch nicht alle. Von den ehemals 28 EU-Staaten waren Großbritannien, Irland, Dänemark sowie Bulgarien, Zypern, Rumänien und Kroatien nicht Teil der Schengen-Kooperation bzw. sie hatten nicht in allen Bereichen partizipiert. Gleichzeitig gibt es auch Schengen-Staaten, die nicht Mitglied in der EU sind; dazu gehören die Schweiz, Liechtenstein, Island und Norwegen. Solche Teilmitgliedschaften sind ein Merkmal der Migrations- und Asylpolitik der EU und typisch für die „differenzierte Integration“ in diesem Politikfeld.20 Mit der Abschaffung der Binnengrenzkontrollen in Europa wuchs der Druck, die Überwachung an die Außengrenzen der EG zu verlagern. Da die spanische oder italienische Außengrenze in einem „grenzenlosen Europa“ zu einer gesamteuropäischen Grenze wurde, kam den Mittelmeeranrainerstaaten eine neue Aufgabe zu, da sie ihre Grenzen, die nun zu „Staatsgrenzen“ der Europäischen Gemeinschaft wurden, stellvertretend für alle anderen kontrollieren mussten. Mit „Schengen“ wurde die EG – von außen betrachtet – zu einem einheitlichen politischen Raum. Da eine rein intergouvernemental angelegte Zusammenarbeit jedoch häufig wenig effektiv und effizient ist, wuchs der Bedarf, die Kooperation zu „europäisieren“, sie also durch eine Verankerung im EU-Vertrag („Primärrecht“) zu stärken und die vorhandenen supranationalen Verfahren und Instrumente zu nutzen. Dieser Weg wurde dann im Zuge der Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht eingeschlagen. Mit dem Maastrichter Vertrag wurde ein erster Schritt in Richtung einer echten „Europäisierung“ und „Harmonisierung“ unternommen, etwa im Zuge einer Angleichung der Standards der Asyl- und Visapolitik in den Mitgliedstaaten. Mit „Maastricht“ wurden zum ersten Mal die für die nationale Souveränität typischen Bereiche Justiz- und Innenpolitik, also das, was in 20 Funda Tekin, Differentiated integration at work: The institutionalisation and implementation of opt-outs from European integration in the area of freedom, security and justice, Baden-Baden 2016.
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der Theorie des Intergouvernementalismus als „high politics“ beschrieben wird, im europäischen Primärrecht verankert. In den 1990er Jahren startete eine Serie von Vertragsänderungen. Die jeweiligen Regierungskonferenzen, die die EU auf den Prüfstand gestellt haben, passten das Regelwerk der Europäischen Union an.21 Entsprechende Änderungen galten auch und gerade auf dem Feld der Asyl- und Migrationspolitik als notwendig. Mit dem Vertrag von Amsterdam, der 1997 unterzeichnet wurde, verständigten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs auf eine „Vergemeinschaftung“ dieser Politikfelder. Von nun an konnte die EU-Kommission ihrer klassischen Aufgabe als „Motor der Integration“ tatsächlich gerecht werden. Mit der bislang jüngsten Vertragsänderung, die 2009 wirksam geworden ist, wurden auch die Mitwirkungs- und Kontrollrechte des Europäischen Parlaments ausgebaut und das bestehende „Demokratiedefizit“ in den Politikfeldern der Justiz- und Innenpolitik abgebaut. Vor dem Hintergrund der neuen Handlungsspielräume hat die EU-Kommission seit den 2000er Jahren ein wahres Feuerwerk an Richtlinien, Instrumenten und Programmen gezündet und den mitgliedstaatlichen Regierungen und dem Europäischen Parlament zur Entscheidung vorgelegt. Im finnischen Tampere wurde im Oktober 1999 das Ziel der Schaffung eines europaweiten „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ konkretisiert; dieses neue Leitbild liefert den vielen Einzelmaßnahmen ein gemeinsames Dach. Der 2007 unterzeichnete Vertrag von Lissabon hat den Weg der schrittweisen Erweiterung der politischen und rechtlichen Instrumente fortgesetzt. In der Asylpolitik ging es vor allem darum, einheitliche Mindeststandards und Verfahren in den EU-Staaten zu organisieren.22 Der Aufbau eines „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS) in den Jahren 1999 bis 2004 (erste Phase) war ein nächster Schritt der Harmonisierung. Eine ganze Reihe von Richtlinien und Verordnungen hat die EU beschlossen, um die Verfahren in den Mitgliedstaaten anzugleichen (z. B. Anerkennungsrichtlinie, Eurodac-Verordnung, Dublin-IIIVerordnung, Richtlinie über die Aufnahmebedingungen und die Asylverfahrensrichtlinie). Immer wieder hat sich der Europäische Rat, also die Versammlung der Staats- und Regierungschefs, mit diesen Fragen beschäftigt. Ein Beispiel für die Brüsseler Arbeitsteilung ist die Verabschiedung der „Strategischen Leitlinien“ zur Umsetzung der Einzelpläne im Kontext des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Juni 2014, die zurückgehen auf die Mitteilung der EU-Kommission vom März 2014, die wiederum auf der Basis des „Stockholmer Programms“ beschlossen wurde. Das Stockholmer Programm hat der Europäische Rat am 10. Dezember 2009 verabschiedet; damit hat er für die Jahre 2010 bis 2014 eine mittelfristig angelegte Planung aufgelegt, mit der die wichtigsten Probleme angegangen 21 Vgl. dazu ausführlich Martin Große Hüttmann, Reformen durch Regierungskonferenzen. Struktur und Wandel von Vertragsänderungen in der Europäischen Union, Tübingen 2018 (Download über: https://publikationen. uni-tuebingen.de). 22 Vgl. zum Folgenden (mit entsprechenden Nachweisen zu den Einzelmaßnahmen): Europäisches Parlament, Asylpolitik. Kurzdarstellungen über die Europäische Union, Brüssel 2021.
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werden sollten. Ein zentrales Thema war schon damals die Gewährung von Solidarität gegenüber den am meisten von Migration belasteten EU-Staaten, etwa den Mittelmeeranrainern. Dem neu geschaffenen EU-Unterstützungsbüro EASO sollte dabei eine zentrale Rolle zukommen. Im Mai 2015 legte die EU-Kommission eine „Europäische Migrationsagenda“ vor, mit der sie weitere Vorschläge präsentierte, die in der Folgezeit noch wichtig werden sollten. Dazu gehören der sogenannte „Hotspot“-Ansatz, mit dem Staaten vor Ort geholfen werden soll, die ankommenden Flüchtlinge zu registrieren und zu versorgen. Damit eng zusammen hängt der Vorschlag, ankommende Personen, die internationalen Schutz benötigen, umzusiedeln. Diese Idee geht zurück auf die besonders betroffenen Staaten Griechenland und Italien. Viele andere Vorschläge wurden in der Migrationsagenda präsentiert. Das bedeutet, dass die EU in der Theorie gut vorbereitet war auf das, was als „Flüchtlingskrise“ dann in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Das Problem freilich war, dass diese Vorschläge zunächst nur auf dem Papier standen und auch die anderen Ideen, die die Kommission seit Jahren immer wieder eingebracht hatte, noch nicht umgesetzt waren. Die „Flüchtlingskrise“ innerhalb der EU Als sich im Laufe des Jahres 2015 das, was später als „Flüchtlingskrise“ beschreiben werden würde, abzeichnete, wuchs der politische Handlungsdruck von Tag zu Tag. Das Ausmaß der Krise wird oft in Zahlen und im Anstieg der Asylantragszahlen (Erst- und Folgeanträge) in den 28 EU-Staaten gemessen: Entsprechende Schaubilder zeigen für die Jahre zwischen 1998 bis 2013 Asylanträge in der Höhe zwischen 200.000 und 400.000. Ab 2014 steigen die Zahlen dann deutlich an und erreichen 2015 einen bisherigen Höchststand von 1,3 Mio. Die Verteilung auf die EU-Staaten ist sehr asymmetrisch. An diesem Muster hat sich auch in den Folgejahren wenig geändert. Von den knapp 700.000 Erstanträgen, die 2019 gestellt wurden, fielen – in absoluten Zahlen ausgedrückt – die meisten auf Deutschland (142.450), Frankreich (138.290), Spanien (115.175), Griechenland (74.910) und Italien (35.005). Rechnet man die Antragszahlen im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, ergibt sich folgendes Bild: Dann stehen die Mittelmeerstaaten Zypern, Malta und Griechenland auf den ersten drei Plätzen.23 Die EU hat in der Krisensituation des Jahres 2015 versucht, durch eine Reihe von Ad hoc-Reformen die vorhandenen Instrumente zu stärken bzw. die vorliegenden Pläne rascher umzusetzen als ursprünglich geplant. In diesem Härtetest der Migrations- und Asylpolitik standen vor allem die EU-Staaten im Mittelpunkt, die aufgrund ihrer geographischen Lage oder als Zielländer besonders betroffen waren: Ungarn, Österreich, Schweden und Deutschland. Später standen dann auch die seit Jahren mit irregulärer Migration konfrontierten Mittelmeeranrainerstaaten Italien, Spanien und insbesondere Griechenland, aber auch Malta 23 Die Zahlen stammen von der Europäischen Union (Eurostat) bzw. vom UNHCR (abgerufen 3.3.2021).
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im Fokus. Je nachdem, auf welchen Routen die Geflüchteten nach Europa kamen – über die Mittelmeer- oder die Balkan-Route – änderten sich der mediale Fokus und die politischen Reaktionen. Eine Lösung war angesichts der dramatischen Entwicklungen und der sich abzeichnenden humanitären Katastrophe dringend geboten. Wie eine Lösung dieser Krise – die nicht nur ein europäisches, sondern globales Thema ist – aussehen könnte, war im Kreis der Mitgliedstaaten jedoch umstritten. Zwischen den europäischen Regierungen, vor allem zwischen den ost- und westeuropäischen, wurden Konfliktlinien und tiefe Gräben beim Thema Migration und Asyl sichtbar, die eine einvernehmliche Lösung von Anfang an wenig wahrscheinlich machten. Da die Zahlen der Geflüchteten in der Hochphase im Herbst 2015 täglich stiegen, können das Tempo und die Intensität der Krise als sehr hoch beschrieben werden. Dieser Handlungsdruck hatte jedoch nicht ausgereicht, grundlegende Reformen des Dublin-Systems auf den Weg zu bringen oder die bereits vorhandenen Instrumente und Richtlinien zur Europäisierung der Asyl- und Zuwanderungspolitik auf der Ebene der Mitgliedstaaten in der Praxis auch umzusetzen. Die EU-Kommission hatte, wie bereits erwähnt, seit Ende der 1990er Jahre, also schon sehr lange vor der „Flüchtlingskrise“, Pläne für eine umfassende Reform der Asyl- und Migrationspolitik entwickelt. Ein „Gemeinsames Europäisches Asylsystem“ (GEAS) stand als Leitbild für unterschiedliche Richtlinien und Maßnahmen zur Vereinheitlichung der nationalen Regelungen. Eine zentrale Idee war dabei, die Geflüchteten über eine Quote auf die einzelnen EU-Länder zu verteilen. Als diese Regelung in der Hochphase der „Flüchtlingskrise“ 2015/16 zur Anwendung kommen sollte, scheiterte sie jedoch am politischen Widerstand einzelner Länder. Vor allem die Visegrád-Staaten hatten sich gegen solche Pläne gestemmt, so dass die Vorstellung einer europaweiten solidarischen Umverteilung ins Leere lief. Der politische Druck, Lösungen zu finden, reichte nur soweit, die vorhandenen Instrumente, etwa die Grenzschutzagentur Frontex oder die Asylbehörde EASO personell und finanziell auszubauen und den Schutz der EU-Außengrenzen zu stärken. Eine Politik der restriktiven Maßnahmen und der Abschottung war der kleinste gemeinsame Nenner im Kreis der EUStaaten. Kritiker sprachen deshalb auch von einer „Orbanisierung“ der EU-Migrationspolitik – benannt nach dem ungarischen Ministerpräsidenten, der sich als einer der Wortführer für eine restriktive Politik der EU verstand und eine Lösung der Krise im Bau von Grenzbefestigungen sah.24 Der Vorwurf lautet darüber hinaus, dass die EU mit Regimen kooperiere, die selber die Menschenrechte verletzen, und dass sie Diktatoren die Rolle von „Türstehern Europas“ übertragen würde.25 In diesem Zusammenhang ist auch die 2016 getroffene Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei über die Rücknahme von Geflüchteten zu
24 Steve Peers, The Orbanisation of EU asylum law: the latest EU asylum proposal. Blog EU Law Analysis, 6.5.2016 (https://eulawanalysis.blogspot.com). 25 Christian Jakob/Simone Schlindwein, Diktatoren als Türsteher Europas. Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert, Berlin 2017.
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erwähnen.26 Die Politik der EU, die „Lösung“ der Migrationskrise zu exterritorialisieren, also die Kontrolle der Migration nach außen zu verlagern, autoritäre Staaten in Nordafrika mit technischem Gerät zur Grenzkontrolle auszurüsten und die Außen- und Sicherheitspolitik der EU verstärkt auch auf die Ziele der Migrationspolitik auszurichten, ist von vielen Beobachtern kritisiert worden.27 Da die Versuche der EU, auf dem Gebiet der Asyl- und Migrationspolitik eine einheitliche Linie zu verfolgen, die Grenzen der Solidarität im Kreis der Mitgliedstaaten einerseits und die Schwächen des Schengen- und Dublin-Systems in der Krise deutlich gemacht haben, legte die EU-Kommission im September 2020 ein neues Paket vor. Dieses Paket beinhaltet neue und alte Vorschläge und Maßnahmen auf den Feldern Migration, Asyl, Integration und Grenzmanagement. Damit wollte die Kommission die festgefahrene Debatte aufbrechen.28 Eine zentrale Prämisse dieses „Migrations- und Asylpakets“ war, dass „kein Mitgliedstaat eine unverhältnismäßige Verantwortung tragen sollte und alle Mitgliedstaaten ihren Teil zur Solidarität beitragen sollten“29. Damit hat die Kommission und mit ihr die gesamte EU ihre Lehren aus der Krise gezogen und nun ein System der „flexiblen“ Solidarität entwickelt, demzufolge die Regierungen der EU-Staaten nicht verpflichtet werden können, Geflüchtete in ihrem Land aufzunehmen, sondern sich im Bereich des Außengrenzschutzes oder bei der Rückführung von Migranten, deren Asylanträge abgelehnt wurden, engagieren können. Das Ziel war nach Ansicht von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine „faire Balance zwischen Solidarität und Verantwortung“ herzustellen.30 Gleichzeitig waren die Vorschläge auch ein Eingeständnis, dass der bisherige Weg an seine Grenzen gekommen ist.
IV. Der Asyl- und Migrationspakt der EU-Kommission vom September 2020: Das Ergebnis eines politischen Lernprozesses? Am 23. September 2020 präsentierte die Europäische Kommission einen „Pakt für Migration und Asyl“. Eigentlich hätte das Maßnahmenpaket, das sich aus zehn einzelnen Gesetzesvorschlägen zusammensetzt, schon sehr viel früher vorgelegt werden sollen. Das Papier ist das Ergebnis eines politischen Lernprozesses der Europäischen Kommission und der EU 26 Tekin, Funda, Fünf Jahre EU-Türkei-Erklärung und die Frage nach dem institutionellen Blickwechsel in den bilateralen Beziehungen, in: integration 43 (2020), Heft 4, 295–309. 27 Annegret Bendiek/Raphael Bossong, Grenzverschiebungen in Europas Außen- und Sicherheitspolitik, SWPStudie, Berlin 2019. 28 Vgl. dazu Steve Peers, First Analysis of the EU’s new asylum proposals. Blog EU Law Analysis, 25.9.2020 (https://eulawanalysis.blogspot.com). 29 Europäische Kommission, Ein neues Migrations- und Asylpaket, Brüssel, den 23.9.2020 (COM(2020) 609 final. 30 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.9.2020.
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insgesamt sowie der Erfahrung, dass viele Reformvorschläge im Kreis der Mitgliedstaaten nicht konsensfähig waren.31 Drei Ziele stehen im Zentrum das neuen Paktes und der damit verknüpften Reform des Dublin-Systems: die Beschleunigung der Asylverfahren, eine Verpflichtung zur europäischen Solidarität und deren „Flexibilisierung“. Vor allem der zuletzt genannte Aspekt kann als Lehre aus dem Scheitern der Idee, einen Umverteilungsmechanismus zu etablieren, gelesen werden. Experten wie Lucas Rasche und Marie Walter-Franke bezweifeln jedoch, dass die von der Kommission verfolgten Ziele alle erreicht werden können.32 Das was in den letzten Jahren nicht erreicht wurde, soll nun durch den Pakt möglich werden. Alle EU-Staaten sollen in die Pflicht genommen werden – unabhängig von ihrer unterschiedlichen „Betroffenheit“ und ihren generellen Vorbehalten, die sie zu Unterstützern oder vehementen Gegnern einer Lastenteilung und Umverteilung von Geflüchteten gemacht haben. Nun werden alle zur Solidarität verpflichtet, diese soll aber „flexibel“ praktiziert werden. Damit sollen alle EU-Staaten, so die Idee der Kommission, ins Boot geholt werden – also die besonders belastete Gruppe der Mittelmeerstaaten, aber auch EU-Länder wie Deutschland oder Schweden, die von Sekundärmigration betroffen sind und auch die Staaten, die wie Ungarn und Polen eine Politik der Abschottung bevorzugten und sich kategorisch gegen die Aufnahme von Geflüchteten aus „fremden Kulturkreisen“ ausgesprochen haben. Was wie die Quadratur des Kreises erscheint, ist das Ergebnis eines intensiven Abstimmungsprozesses der Kommission mit den europäischen Hauptstädten, in der die Blockadehaltung einiger Staaten aufgebrochen werden sollte. Der Vorschlag setzt an drei unterschiedlichen Stellschrauben an: mit einer Drehung an der ersten sollen die Asylverfahren an den Außengrenzen effektiver gestaltet und schneller abgeschlossen werden. Ein sogenanntes „pre-entry screening“, also eine „Vorauswahl an den Außengrenzen“33, soll darüber entscheiden, ob ein Asylsuchender in einem regulären Asylverfahren echte Chancen auf eine Anerkennung haben würde. Dahinter steht folgende Idee: „Je weniger Asylsuchende umverteilt werden müssen, desto eher unterstützen bisher skeptische Mitgliedstaaten – wie die Visegrád-Gruppe oder Österreich – den Kommissionsvorschlag“.34 Damit ist auch schon die zweite Stellschraube angesprochen – die Umverteilung von Geflüchteten auf die einzelnen EU-Staaten. Die dritte Schraube, mit der die Blockade aufgebrochen werden soll, setzt an einem flexiblen Modell der Ausübung von Solidarität an. Die bisherigen Vorschläge der Kommission zielten darauf ab, dass die Geflüchteten, die einen entsprechenden Aufenthaltsstatus erworben haben, nach bestimmten Kriterien wie Bevölkerungsgröße oder Wirtschaftskraft auf die EU-Staaten verteilt werden. Da sich einzelne Staaten wie Ungarn oder Polen entschieden geweigert hatten, diese Form einer – aus deren 31 Vgl. zum Folgenden Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.9.2020 (online). 32 Lucas Rasche/Marie Walter-Franke, EU-Grenzverfahren: eindeutig, fair und schnell? Der „New Pact“ im Check, Hertie School Jacques Delors Centre, Policy Brief, 21.12.2020, Berlin. 33 Süddeutsche Zeitung, 25.9.2020. 34 Rasche/Walter-Franke, EU-Grenzverfahren, 2.
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Sicht – erzwungenen Solidarität zu akzeptieren, hat es die EU-Kommission in ihrem Vorschlag den Staaten überlassen, nicht ob, sondern wie sie Solidarität üben. Das kann durch die Aufnahme von Geflüchteten geschehen oder aber durch sogenannte „Rückführungspatenschaften“, also die Übernahme von Verantwortung bei der Abschiebung von Personen aus Drittstaaten, die kein Bleiberecht haben. Beobachter sahen dies als einen „Schachzug der Kommission, um einen Regierungschef wie Viktor Orbán aus der Reserve zu locken“. Denn der könne zwar Umsiedlungen ablehnen, aber wohl nicht Abschiebungen.35 Damit ist in der Europäischen Asylpolitik ein „neuer Ton“ angeschlagen worden, der als das Ergebnis eines politischen Lernprozesses gedeutet werden kann, weil die Blockade einzelner EU-Staaten nur aufgebrochen werden konnte, indem man diesen „Veto-Spielern“ sehr weit entgegengekommen ist.36 Diese Zugeständnisse bieten jedoch keine nachhaltige Problemlösung, sondern schaffen vielmehr an anderer Stelle neue Probleme. Viele Beobachter haben in ersten Reaktionen auf die Kommissionsvorschläge deutlich gemacht, dass die versprochene Beschleunigung der Verfahren erkauft wird mit Abstrichen an der Fairness und mit Zweifeln, ob diese Verfahren, wenn sie in breitem Maßstab zum Einsatz kommen, mit EURecht und den Vorgaben zum Schutz besonderer Gruppen (z. B. unbegleitete Minderjährige) in Einklang zu bringen sind.37 Auch hier zeigen sich also die Grenzen dessen, was politisch zu regeln ist.
V. Schlussfolgerungen und Ausblick Am Beispiel der EU-Asyl- und Migrationspolitik zeigen sich – wie in einem Brennglas verdichtet – mehrere Besonderheiten, die die EU-Politik in den letzten Jahren geprägt haben. Zum einen ist die zentrale Rolle des Europäischen Rates als Impulsgeber zu nennen bzw. als Ort, an dem die Staats- und Regierungschefs sich mit einem Thema auseinandersetzen, das den Kernbestand staatlicher Kompetenzen berührt, das heißt die Frage nach Inklusion und Exklusion von Angehörigen von Drittstaaten. In einem Mehrebenensystem wie der Europäischen Union, in dem die Binnengrenzkontrollen abgeschafft sind und in dem die Harmonisierung und Europäisierung der nationalstaatlichen Asyl- und Zuwanderungspolitik weit fortgeschritten ist, sind diese Fragen auf der einen Seite längst keine „inneren Angelegenheiten“ mehr, die nur national entschieden werden könnten. Auf der anderen Seite ist die EU jedoch (noch) kein Staat, so dass es nicht verwundert, dass sich gerade an dieser Frage von Inklusion und Exklusion tiefe Gräben auftun und der Streit im Kreis der Mitgliedstaaten besonders heftig ausfällt. Auch in den Mitgliedstaaten selbst und in den europäischen Gesellschaften haben die Themen Migration und Asyl zu einem neuen Maß an Polarisierung 35 Thomas Gutschker, Der neue Ton in der Asylpolitik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.9.2020. 36 Ebd. 37 Rasche/Walter-Franke, EU-Grenzverfahren.
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geführt und den rechtspopulistischen Parteien europaweit neue Wahlerfolge beschert und sie teilweise sogar in die Regierungsverantwortung gebracht. Aus dieser politischen Gemengelage hat sich ein neues Maß an Konfusion ergeben, aber gleichzeitig tun sich auch Chancen auf, neue Visionen zu entwickeln, die der Verantwortung der Europäischen Union für eine humanitäre Politik auf den Gebieten von Asyl und Migration gerecht werden und die Grenzen einer Politik, die nur auf Grenzen setzt, im Auge behält. Die Europäische Union ist auch in der Frage der Zuwanderung eine „Verantwortungsgemeinschaft“, die sich ihrer (globalen) Verantwortung nicht entziehen kann.38 Gerald Knaus, einer der führenden Experten für Migrations- und Asylpolitik beendet sein Buch „Welche Grenzen brauchen wir?“ in diesem Sinne mit einem Appell: „Europa sollte in einer Zeit, in der das Recht auf Asyl weltweit unter Druck geraten ist, ein Leuchtturm für eine humanitäre Flüchtlingspolitik sein.“39
Bibliografie Bendiek, Annegret/Raphael Bossong: Grenzverschiebungen in Europas Außen- und Sicherheitspolitik, SWP-Studie, Berlin 2019. Bieling, Hans-Jürgen/Martin Große Hüttmann, Staatlichkeit in der Europäischen Union: Dynamiken und Narrative, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Von Staat zu Staatlichkeit. Beiträge zu einer multidisziplinären Staatlichkeitswissenschaft, Baden-Baden 2019, 117–146. Draude, Anke, Die Vielfalt des Regierens. Eine Governance-Konzeption jenseits des Eurozentrismus, Frankfurt/Main–New York 2012. Europäisches Parlament, Asylpolitik. Kurzdarstellungen über die Europäische Union, Brüssel 2021. Gehler, Michael/Alexander Merkl/Kai Schinke (Hrsg.), Die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft. Anspruch und Wirklichkeit, Wien–Köln–Weimar 2020. Gehler, Michael/Wilfried Loth (Hrsg.), Reshaping Europe. Towards a Political, Economic and Monetary Union, 1984–1989, Baden-Baden 2020. Genschel, Philipp/Markus Jachtenfuchs, From Market Integration to the Core State Powers: the Eurozone Crisis, the Refugee Crisis and Integration Theory, in: Journal of Common Market Studies 56 (2018), Heft 1, 178–196. Grimmel, Andreas (Hrsg.), Die neue Europäische Union. Zwischen Integration und Desintegration, Baden-Baden 2020. Große Hüttmann, Martin, Die Migrations- und Asylpolitik der Europäischen Union, in: Karl-Heinz Meier-Braun/Reinhold Weber (Hrsg.), Deutschland Einwanderungsland, 3. Auflage, Stuttgart 2017, 255–266.
38 Danielle Gluns/Hannes Schammann, Die EU und die globale Migration als gegenwärtige Herausforderung und bleibende Zukunftsfrage, in: Michael Gehler/Alexander Merkl/Kai Schinke (Hrsg.), Die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft. Anspruch und Wirklichkeit, Wien – Köln –Weimar 2020, 235–256. 39 Gerald Knaus, Welche Grenzen brauchen wir? Zwischen Empathie und Angst – Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl, München 2020, 287.
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Die EU als Ziel von Migration
Große Hüttmann, Martin, Hart an der Grenze: Die jüngste Krise der Asyl- und Migrationspolitik der Europäischen Union, in: Deutschland & Europa 36 (2019), Heft 77, 70–79. Große Hüttmann, Martin, Reformen durch Regierungskonferenzen: Struktur und Wandel von Vertragsänderungen in der Europäischen Union, Tübingen 2018 (https://publikationen.uni-tuebingen. de). Hrbek, Rudolf/Martin Große Hüttmann (Hrsg.), Hoffnung Europa – Die EU als Raum und Ziel von Migration, Baden-Baden 2017. Jakob, Christian/Simone Schlindwein, Diktatoren als Türsteher Europas. Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert, Berlin 2017. Kermani, Navid, Einbruch der Wirklichkeit, München 2016. Knaus, Gerald, Welche Grenzen brauchen wir? Zwischen Empathie und Angst – Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl, München 2020. Knodt, Michèle/Martin Große Hüttmann/Alexander Kobusch, Die EU in der Polykrise: Folgen für das Mehrebenen-Regieren, in: Andreas Grimmel (Hrsg.), Die Europäische Union. Zwischen Integration und Desintegration, Baden-Baden 2020, 119–151. Krastev, Ivan, Europadämmerung. Ein Essay, Berlin 2017. Lavenex, Sandra, ‚Failing Forward‘ Towards Which Europe? Organized Hypocrisy in the Common European Asylum System, in: Journal of Common Market Studies 56 (2018), Heft 5, 1195–1212. Mak, Geert, Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums (1999–2019), München 2020. McNamara, Kathleen, Authority Under Construction: The European Union in Comparative Political Perspective, in: Journal of Common Market Studies 56 (2018), Heft 7, 1510–1525. Natter, Katharina, Rethinking immigration policy theory beyond ‚Western liberal democracies‘, in: Comparative Migration Studies 6 (2018), Heft 4, 1–21. Nettesheim, Martin, Migration im Spannungsfeld von Freizügigkeit und Demokratie, in: Archiv des öffentlichen Rechts 144 (2019), Heft 3, 358–424. Peers, Steve, First Analysis of the EU’s new asylum proposals. Blog EU Law Analysis, 25.9.2020 (https://eulawanalysis.blogspot.com). Peers, Steve, The Orbanisation of EU asylum law: the latest EU asylum proposal. Blog EU Law Analysi, 6.5.2016 (https://eulawanalysis.blogspot.com). Rasche, Lucas/Marie Walter-Franke, EU-Grenzverfahren: eindeutig, fair und schnell? Der „New Pact“ im Check, Hertie School Jacques Delors Centre, Policy Brief, 21.12.2020, Berlin. Riddervold, Marianne/Jarle Trondal/Akasemi Newsome (Hrsg.), The Palgrave Handbook of EU Crises, Cham 2021. Riedel, Sabine, Grenzschutz, Migration und Asyl. Wege der Europäischen Union aus der Politikverflechtungsfall. Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin 2020. Saracino, Daniele, Solidarität in der Asylpolitik der Europäischen Union, Wiesbaden 2019. Schuppert, Gunnar Folke, Von Staat zu Staatlichkeit – Konturen einer zeitgemäßen Staatlichkeitswissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Von Staat zu Staatlichkeit. Beiträge zu einer multidisziplinären Staatlichkeitswissenschaft, Baden-Baden 2019, 11–39. Tekin, Funda, Differentiated integration at work: The institutionalisation and implementation of optouts from European integration in the area of freedom, security and justice, Baden-Baden 2016.
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Martin Große Hüttmann
Tekin, Funda, Fünf Jahre EU-Türkei-Erklärung und die Frage nach dem institutionellen Blickwechsel in den bilateralen Beziehungen, in: integration 43 (2020), Heft 4, 295–309. Ther, Philipp, Die Außenseiter. Flucht, Migration und Integration im modernen Europa, Berlin 2017. Wessels, Wolfgang/Andreas Hofmann, Wächter des Nationalstaats oder Föderator wider Willen? Der Einfluss des Europäischen Rates auf die Entwicklung der Staatlichkeit in Europa, in: Hans-Jürgen Bieling/Martin Große Hüttmann (Hrsg.), Europäische Staatlichkeit. Zwischen Krise und Integration, Wiesbaden 2016, 113–131. Wildenmann, Rudolf (Hrsg.), Staatswerdung Europas? Optionen für eine Europäische Union, BadenBaden 1991. Zaun, Natascha, States as Gatekeepers in EU Asylum Politics: Explaining the Non-adaption of a Refugee Quota System, in: Journal of Common Market Studies 56 (2018), Heft 1, 44–62.
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IV. Kontinuitäten mit neuen Akzentsetzungen
Wolfgang Wessels
Der Europäische Rat – Analyse und Narrativ einer Schlüsselinstitution der Europäischen Union1 I. Zur integrationspolitischen Relevanz des Europäischen Rats Wer die Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses aufmerksam verfolgt, wird immer wieder auf eine Institution stoßen, die Entscheidungen von grundlegender Bedeutung trifft. Der Europäische Rat – also die Staats- und Regierungschefs der seit Ende Januar 2020 siebenundzwanzig Mitgliedstaaten sowie die Präsidentin der Europäischen Kommission und der Präsident des Europäischen Rates – hat seit den 1970er Jahren in der Geschichte des Auf- und Ausbaus der Europäischen Union (EU) immer wieder historische Weichenstellungen bei der Vertiefung und Erweiterung des EU-Systems vorgenommen. Diese Institution hat seit der Einheitlichen Europäischen Akte Mitte der 1980er Jahre de facto oder de jure als konstitutioneller Architekt alle Vertragsrevisionen beschlossen. Vom Maastrichter bis zum Lissabonner Vertrag sind die Verträge nach den Orten benannt, in denen die Staats- und Regierungschefs als Vertreter der „Herren der Verträge“2 nach mühsamen und kontroversen Verhandlungen die Texte im notwendigen Konsens beschlossen haben, der in der Regel durch einen hohen Grad an Komplexität geprägt ist. Tabelle 1: Übersicht über das Inkrafttreten von Verträgen und Vertragsänderungen Jahr
Inkrafttreten von Verträgen und Vertragsänderungen
1952
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)
1958
Römische Verträge zur Gründung der „Europäischen Atomgemeinschaft“ (EURATOM) und der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG)
1967
Fusionsvertrag zur Einsetzung gemeinsamer Exekutivorgane der Europäischen Gemeinschaften
1969
Gipfel von Den Haag
1987
Einheitliche Europäische Akte (EEA)
1 Der Beitrag greift zurück auf mehrere Arbeiten des Autors, so insbesondere Wolfgang Wessels, The European Council, London 2016, Darius Ribbe/Wolfgang Wessels; Vertiefung, Erweiterung und Differenzierung im Zeichen der Krisen. Ein Vier-Stufen-Modell europäischer Integration, in: Andreas Grimmel (Hrsg.), Die neue Europäische Union, Baden-Baden 2020 sowie Lea Hopp/Wolfgang Wessels, Der Europäische Rat, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 2020, Baden-Baden 2021 2 Bundesverfassungsgericht, Leitsätze zum Urteil des zweiten Senats vom 30. Juni 2009, 2 BvE 2/08, Rn. 150.
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Wolfgang Wessels Jahr
Inkrafttreten von Verträgen und Vertragsänderungen
1993
Vertrag von Maastricht
1999
Vertrag von Amsterdam
2003
Vertrag von Nizza
2004
Unterzeichnung des Vertrags über eine Verfassung für Europa
2005
Scheitern des Vertrags über eine Verfassung für Europa im französischen und niederländischen Referendum
2009
Vertrag von Lissabon (Quelle: Eigene Darstellung, vgl. auch Wolfgang Wessels, The European Council, London 2016).
Diese Dokumente legen nicht nur Ziele, Kompetenzen und Verfahren für die Organe fest, sondern formulieren auch wesentliche Merkmale einer europäischen Identität. Auch die Grundsatzentscheidungen zu Erweiterungen der EU wurden seit der Gipfelkonferenz von Den Haag am 1. Dezember 1969 von den Staats- und Regierungschefs getroffen. Auch bei dem nach Grönland einzigen Fall des Austritts, dem 2020 vollzogenen Brexit, hat der Europäische Rat richtungsweisende Leitlinien vorgegeben. Zu zentralen Gestaltungsfragen – so zur Wirtschafts- und Währungsunion, zum EU-Budget sowie zur Innen- und Justizpolitik im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – musste und wollte jede Generation der Führungspersönlichkeiten im Europäischen Rat3 den entscheidenden Beschluss als politische Letztinstanz fassen. Die Beratungsgegenstände auf den Gipfeln sind ein Spiegel politischer und öffentlicher Diskussionen. So haben die Mitglieder dieses Gremiums in den letzten Jahren Zielvorstellungen zur Migration, zum Klimawandel, der Beziehungen zur Türkei und zur Digitalisierung formuliert. Auch mit generellen Erklärungen und der Verabschiedung von strategischen Agenden setzen sie Vorgaben, die aber häufig mehrdeutig sind und selten zu konkreten Entscheidungen führen. Wie ein Überblick über die Schlussfolgerungen 2019/2020 dokumentiert (siehe Tabelle 2), beschäftigt sich der Europäische Rat mit einer breiten Themenpalette, die eine staatsähnliche Tagesordnung erkennen lässt. Tabelle 2: Übersicht wichtiger Themen des Europäischen Rats (Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, Juni 2019 bis Juli 2020) Covid-19-Pandemie Eindämmung der Pandemie: Eindämmung der Ausbreitung des Virus, Bereitstellung medizinischer Ausrüstung, Förderung der Forschung und Bewältigung der sozio-ökonomischen Folgen Eindämmung der ökonomischen Folgen der Pandemie: Beschluss über die Aufbau- und Resilienzfazilität
3 Vgl. für eine entsprechende Phasenbildung Wolfgang Wessels, The European Council, London 2016, 44
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Der Europäische Rat – Analyse und Narrativ einer Schlüsselinstitution der Europäischen Union Migration und Flüchtlinge EU-Außengrenzen: Solidaritätsbekundung mit Griechenland und weiteren Mitgliedstaaten mit EU-Außengrenzen Finanzen, Euro, Wirtschaft und Binnenmarkt Budget: Verhandlungen um den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) für 2021–2027 WWU: Weitere Schritte zu den Reformpakten des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und zur Stärkung der Bankenunion „Brexit“ Abkommen: Billigung des Austrittsabkommens Zeitplan: Betonung eines geordneten Austrittes des Vereinigten Königreiches Personal: Begrüßung der Wiederernennung von Michel Barnier als Chefunterhändler Klima- und Energiepolitik Klimawandel: Anerkennung der Ergebnisse des Klimagipfels der Vereinten Nationen 2019, Ziel einer klima neutralen Union bis 2050 in Einklang mit dem Pariser Übereinkommen, Ziel zukünftige politische Maßnahmen und Rechtsvorschriften der EU mit Klimaschutzzielen in Einklang zu bringen unter Beachtung der Wett bewerbsfähigkeit der EU, Entscheidung über nationalen Energiemix bleibt in der Verantwortung der Mitgliedstaaten Institutionelle Fragen und Personalentscheidungen Konferenz über die Zukunft Europas: Konferenz soll 2020 beginnen und 2022 enden und auf den Bürgerdialogen der letzten Jahre aufbauen. EU-Organe und Mitgliedstaaten (mit deren Parlamenten) sollen gemeinsam Verantwortung tragen und unter Achtung des institutionellen Gleichgewichts einbezogen werden Personalentscheidungen: Annahme des Beschlusses über die Ernennung von Christine Lagarde als Präsidentin der Europäischen Zentralbank Auswärtiges Türkei: Verurteilung des rechtswidrigen Vorgehens der Türkei im Nordosten Syriens, Verurteilung der rechtswidrigen Bohrungen der Türkei in Zyperns Mittelmeerraum Syrien: Verurteilung der Militäroffensive in Idlib durch das syrische Regime, Verstärkung der humanitären Hilfe Beitritts- und Assoziierungsabkommen: Begrüßung der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nord-Mazedonien und Albanien Mehrjähriger Finanzrahmen Beschluss über die Höhe und die Aufteilung der Ausgaben auf die einzelnen Politikbereiche des Mehrjährigen Finanzrahmens 2021–2027 Strategische Agenda 2019–2024 Vier Prioritäten: Schutz der Bürgerinnen und Bürger und der Freiheiten; Entwicklung einer soliden und dynamischen wirtschaftlichen Basis; Verwirklichung eines klimaneutralen, grünen, fairen und sozialen Europas; Förderung der Interessen und Werte Europas in der Welt Quelle: Lea Hopp/Wolfgang Wessels, Der Europäische Rat, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 2020, Baden-Baden 2020, 93.
Eine besonders herausgehobene und nachhaltige Rolle spielt der Europäische Rat im Management von Krisen, die wesentliche Elemente in der Integrationsgeschichte bilden. Der im nächsten Abschnitt exemplarisch dargestellte Fall lässt wesentliche Muster der integrationspolitischen Rolle des Europäischen Rats erkennen.
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Wolfgang Wessels
Angesichts der Bedeutung der Institution ist es nicht überraschend, dass das Wirken und die Wirkungen des Europäischen Rats in der politischen und wissenschaftlichen Debatte kontrovers diskutiert werden. Integrationspolitische Erzählungen sehen dieses Gremium als Hüter der nationalen Souveränität, der aus Sicht des Europäischen Parlaments (EP) einen föderalen Ausbau der Union verhindert oder – in einer alternativen Sicht – legitimer Weise die Rechte der Mitgliedstaaten wahrt. Für den Autor des Beitrags wirkt der Europäische Rat als Motor und Architekt eines schrittweisen Ausbaus der Union zu einem spezifischen Mehrebenensystem: in und durch den Europäischen Rat legen EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten nationale und europäische Kompetenzen und Handlungsinstrumente in einer vertikalen Fusion zusammen und teilen dabei in einer horizontalen Fusion Verantwortlichkeiten und Legitimität zwischen den EU-Institutionen. Dieses Entscheidungszentrum ist so der Schlüssel für ein besonderes Verständnis und eine spezifische Analyse der fundamentalen Entwicklungen der Union selbst wie auch gleichzeitig der Mitgliedstaaten. Ich verstehe diese Institution als Träger eines Prozesses, der den Nationalstaat bei wesentlichen Aufgaben unterstützt, ihn damit aber auch verändert. Mit Blick auf ihre Problemlösungsfähigkeiten sehen die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, durch den Ausbau und durch die Nutzung der Unionsinstrumente zentrale Aufgaben öffentlicher Politik effektiver anzugehen. Mit Blick auf die Fragestellung „Fusion“ oder „Konfusion“ sehe ich eine Gleichzeitigkeit: Angesichts der Notwendigkeit, einen Konsens unter den nationalen Führungspersönlichkeiten zu erzielen, hat der Europäische Rat immer wieder Kompromisse finden müssen, die die Komplexität der Verfahren erhöht haben. Für den Beobachter tragen die Beschlüsse nachhaltig und regelmäßig zur Konfusion bei, wie die mehrdeutigen und häufig schwierig nachzuvollziehenden Schlussfolgerungen immer wieder dokumentieren. Die eingebaute Dynamik der Entscheidungen führt dabei in und durch diese Kompromisse zur Verstärkung der Fusionsprozesse. In einer historischen Bilanz haben die „Herren der Verträge“ durch den Europäischen Rat schrittweise jeweils begrenzte Stufen im Integrationsprozess eingeleitet.
II. Ein exemplarischer Fall: Das Corona Krisenmanagement Zur Analyse des Wirkens und der Wirkungen des Europäischen Rats ist die Rolle dieser Schlüsselinstitution beim Krisenmanagement zu untersuchen. Zunächst ist ein Rückblick auf die Geschichte der Einigung notwendig. Krisen sind ein fester Bestandteil der Integrationsentwicklungen. Seit den 1970er Jahren haben nationale Spitzenpolitiker teils gedrängt, teils aufgrund eigenen Gestaltungwillens immer wieder in und durch die EU auf innere und äußere Krisen Europas reagiert. Dabei hat sich jede Generation von Staats- und Regierungschefs wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg im Europäischen Rat für eine gemeinsame Bewältigung der besonderen Herausforderungen engagiert: Sie schufen inner- und außerhalb der vertraglichen Regelwerke der Union Instrumente und Verfahren zur Krisenbewältigung. Rückblickend hatten sie häufig gravierende Entscheidungen zu treffen, die
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Der Europäische Rat – Analyse und Narrativ einer Schlüsselinstitution der Europäischen Union
bei dramatischen Krisensitzungen unter dem Druck der Herausforderungen bisherige integra tionspolitische Tabus brachen. Der Methode Monnet folgend fassten sie dabei jeweils begrenzte aber real wirkende Beschlüsse. Eine langfristig angelegte Finalität stand nicht zur Debatte. Vielleicht mehr als in anderen Fällen sahen im Frühjahr 2020 die Mitglieder des Europäischen Rats „Europa vor einer historischen Herausforderung“.4 Auf den Ausbruch der COVID-19-Pandemie reagierten die Mitglieder des Europäischen Rats zeitnah mit vier Videokonferenzen, bevor sie sich dann bei einer Marathonsitzung von fünf Tagen und vier Nächten vom 17. Juli bis 21. Juli 2020 in Brüssel auf ein Finanzpaket bisher einmaliger Größenordnung einigten. Wie bei der Finanzkrise zu Beginn des Jahrzehnts wurden Entscheidungen als „unausweichlich“ verstanden, die einige Monate zuvor noch „undenkbar“ waren.5 Angesichts gemeinsam wahrgenommener Herausforderungen beschlossen die Staatsund Regierungschefs zeitnah eine Reihe von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie – so insbesondere die Verbesserung der Zusammenarbeit im Gesundheitswesen, die Produktion von medizinischen Gütern zur Erreichung einer „strategischen Autonomie“, die Unterstützung von Maßnahmen der Europäischen Kommission in Beihilfeverfahren sowie der Europäischen Zentralbank (EZB), der Europäischen Investitionsbank (EIB) und des Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM). Zu zentraler Kontroverse wurden dagegen Fragen zur Finanzierung von Maßnahmen gegen sozioökonomische Folgen der Pandemie. Neben dem Umfang des finanziellen Maßnahmenpakets standen die Mechanismen der Vergabe sowie die Aufteilung zwischen Zuschüssen und Krediten im Vordergrund der Diskussion. Wie bei anderen zentralen Gestaltungfragen und früheren Krisenmaßnahmen sind erhebliche Konfrontationen und Konflikte in den Verhandlungen zwischen den Mitgliedern zu beobachten. Erkennbar war eine Reihe von Koalitionen, die bekannte Muster der Interessenkonvergenzen und -divergenzen bestätigten und geringfügig ergänzten und modifizierten. Wie bereits während der Eurokrise zu Beginn des Jahrzehnts zeichnete sich zunächst eine Nord-Süd-Spaltung ab. Gegen die Forderung einer Gruppe von südlichen Mitgliedstaaten für ein umfassendes gemeinsam finanziertes Ausgabenpaket sprachen sich nördliche Mitgliedstaaten unter der Führung der Niederlande, die sogenannten „Sparsamen Vier“, gegen eine gemeinsame Schuldenfinanzierung von nicht rückzahlbaren Ausgaben aus. Auch als typisches Muster auf dem Weg zu einem Konsens im Europäischen Rat ist eine deutsch-französische Initiative zu beobachten, die Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron am 18. Mai 2020 vorstellten.6 4 Außerordentliche Tagung des Europäischen Rats vom 21.7.2020, 1, abrufbar unter: https://www.consilium. europa.eu/media/45136/210720-euco-final-conclusions-de.pdf (abgerufen 21.5.2021). 5 Herman Van Rompuy: Europe in the storm. Promise and prejudice, Leuven 2014, 57. 6 Bundesregierung: Deutsch-französische Initiative. Gestärkt aus der Krise kommen, 18.5.2020, abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/dt-franz-initiative-1753644 (abgerufen 12.10.2020).
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Sie übernahmen beziehungsweise reklamierten damit wieder eine Führungsrolle, die von vielen Mitgliedern wohl mit einer allgemeinen Zustimmung angenommen wurde – auch und gerade, wenn sie einigen Mitgliedern erlaubte, auf eigene Interessen und Positionen zu verweisen. In den Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten blockierte dann auch eine andere Kontroverse die Beschlussfassung, die verkürzt als „Ost-West“ Teilung bezeichnet wird: Mit Blick auf den Charakter der Union als Wertegemeinschaft forderten viele Mitgliedstaaten und besonders nachhaltig auch das Europäische Parlament eine Verknüpfung der Ausgaben mit der Einhaltung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips. Die Visegrád-Gruppe, insbesondere Ungarn und Polen, sprach sich jedoch vehement gegen die Einführung von Konditionalitäten aus und drohte mit einem Veto. Erst auf einer weiteren Sitzung im Dezember 2020 konnte sich der Europäische Rat auf eine mehrdeutige Kompromissformel einigen. Im Zuge der Marathonsitzung im Juli 2020 beschlossen die Staats- und Regierungschefs darüber hinaus Verfahren für die Nutzung der neuen Mittel, die nach den Erwartungen des Artikels (siehe oben) durch eine Erhöhung der Konfusion und damit Stärkung der Fusionstrends geprägt sind. Die vorgesehenen Verfahren für die Beschlussfassung und Umsetzung der Ausgaben der neuen Fonds sind schwierig nachzuvollziehen, aber sie führen zu einer Zusammenlegung nationaler und europäischer Handlungsinstrumente (vertikale Fusion) und zur Bündelung von Verantwortungen zwischen den Institutionen (horizontale Fusion). Die wesentlichen Aufgaben der Planung und Umsetzung müssen nationale Politikerinnen und Politiker sowie Verwaltungen nach gemeinsam beschlossenen Vorgaben der EU Institutionen übernehmen. Mit Blick auf die Beziehungen zu anderen EU Institutionen ist in allen diesen Fällen eine enge Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission festzustellen. Von erheblicher Bedeutung für das gesamte EU System wird in Zukunft sein, dass die nationalen Führungskräfte die Rolle der Kommission bei der Durchführung der Programme als Exekutivbehörde und als Kontroll- und Überwachungsinstanz nachhaltig gestärkt haben. Neben der Europäischen Kommission spielt insbesondere mit Blick auf die Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen das Europäische Parlament als Veto-(Mit-)Spieler innerhalb der EU eine relevante Rolle. Ausgehend von den Vertragsvorgaben fordern die Abgeordneten auch eine stärkere Beteiligung.
III. Schlussfolgerung: Durch die Krise zum schrittweisen Ausbau eines EU-Mehrebenen-Staates Mit den Gipfelbeschlüssen zu einem bisher einmaligen Mega-Finanzpaket im Juli 2020 hat der Europäische Rat erneut dokumentiert, dass die Mitgliedstaaten diese Union für absolut notwendig halten. Somit lässt sich in existenziellen Krisen und nun in besonderer Weise in der Covid-19-Pandemie die Sicht eines führenden britischen Historikers bestätigen, der
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die europäische Integration schon in den Gründerjahren der Europäischen Gemeinschaft als „europäische Rettung des Nationalstaats“ verstand („The European Rescue of the Nation State“7). Die Beschlüsse des Europäischen Rats zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie werden in einer Langzeitbetrachtung schon als ein „Hamiltonischer Moment“8 gesehen und diskutiert.9 Mit der Möglichkeit, Schulden zu machen und Steuern zu erheben, wird der Europäische Rat als die treibende Kraft gesehen, das EU-System auf den Weg zu einer eigenen Staatlichkeit zu gestalten. Ebenfalls in einer historischen (Schnell-)Einschätzung charakterisierte der Präsident des Europäischen Rats, Charles Michel, die Beschlüsse des Europäischen Rats als „Kopernikanische Wende“.10 Auch die Metapher des Überschreitens des „Rubikons“11 wird zur Charakterisierung der Entscheidungen genutzt: Danach haben die Staats- und Regierungschefs einen Weg eingeschlagen, der als unumkehrbar beschrieben wird, wobei aber der Endpunkt des Weges, die immer wieder beschworene Finalität, weiter im Dunkeln bleibt. Mit Blick auf die Ausgangthese hat der Europäische Rat erneut die Rolle als Motor eines Prozesses übernommen, der erhebliche Schritte auf dem Weg zu einem fusionierten Mehrebenensystem vorzeichnet. Annahmen und Befunde mehrerer Integrationstheorien – so verschiedene Varianten des Neofunktionalismus und des Intergouvernementalismus – können damit erkenntnissteigernd verknüpft werden. Konfusion und Fusion bleiben zwei Seiten einer Medaille in dem Entwicklungsprozess. Unklar bleibt weiterhin, wohin die Stufenentwicklung führen wird und ob sie angesichts noch unbekannter Herausforderungen krisenfest bleiben wird.
Bibliografie Anghel, Suzana/Ralf Drachenberg, The European Council as COVID-19 crisis manager: A comparison with previous crises, in: European Parliamentary Research Service (EPRS), March 2020. https:// www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2020/642822/EPRS_BRI(2020)642822_EN.pdf (abgerufen 15.8.2021). Anghel, Suzana/Ralf Drachenberg, Charles Michel as President of the European Council: The first 100+ days. In: EPRS March 2020. https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/ 2020/642821/EPRS_BRI(2020)642821_EN.pdf (abgerufen 21.5.2021).
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Wolfgang Wessels
Bundesregierung, Deutsch-französische Initiative. Gestärkt aus der Krise kommen. https://www.bun desregierung.de/breg-de/aktuelles/dt-franz-initiative-1753644 (abgerufen 15.8.2021). Dausend, Peter/Mark Schieritz, „Jemand muss vorangehen“: Vizekanzler Olaf Scholz will Europa umbauen – und denkt dabei an die Vereinigten Staaten von Amerika [Interview], in: Die Zeit, 75 (20.5.2020), 22, 5. Drachenberg, Ralf, European Council Leaders’ Agenda 2020–21, in: EPRS October 2020. https:// www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/ATAG/2020/654192/EPRS_ATA(2020)654192_EN.pdf (abgerufen 15.8.2021). Hopp, Lea/Wolfgang Wessels, Europäischer Rat, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels/ Funda Tekin: Europa von A bis Z. Taschenbuch der Europäischen Integration, 15. Auflage; Wiesbaden 2020, 241–246. Milward, Alan S., The European Rescue of the Nation State, London–New York 2005. Morgan, Sam, The Brief – Staring at the other side of the Rubicon, in: Euractiv, 2.9.2020, https://www. euractiv.com/section/politics/opinion/the-brief-staring-at-the-other-side-of-the-rubicon/. Mussler, Werner, Erheblich mehr Geld für Zukunftsinvestitionen als früher, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.7.2020. Pirozzi, Nicoletta, The European Council and Europe’s Magic Lantern. Istituto Affari Internazionali: IAI Commentaries 20 (54), July 2020. https://www.iai.it/en/pubblicazioni/european-council-andeuropes-magic-lantern (abgerufen 1.5.2021). Ribbe, Darius/Wolfgang Wessels, Vertiefung, Erweiterung und Differenzierung im Zeichen der Krisen: Ein Vier-Stufen-Modell europäischer Integration, in: Andreas Grimmel: Die neue Europäische Union. Zwischen Integration und Desintegration. Baden-Baden 2020, 261–289. Sinn, Hans-Werner, Der Hamilton-Moment. Finanzminister Scholz vergleicht die hohe Kreditaufnahme der EU mit Amerikas Gründung. Das hätte er besser nicht getan, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung; 22.5.2020, 17. Van Rompuy, Herman, Europe in the Storm. Promise and Prejudice, Leuven 2014. Website TRACK Project: Teaching and Researching the European Council https://track.uni-koeln.de/ de (abgerufen 22.5.2021). Wessels, Wolfgang. The European Council, London 2016.
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Michael Gehler
Vom Schlagwort der „Vereinigten Staaten von Europa“ zur Realität des Europas der vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert I. Die Ursprünge der Idee von den „Vereinigten Staaten von Europa“ Europa-Ideen kamen verstärkt seit der Frühen Neuzeit auf. Weder in Athen noch in Rom oder im Mittelalter hatten zuvor solche einen „tieferen Sinngehalt“.1 Im 18. und 19. Jahrhundert wurde der Europa-Gedanke im Sinne der Einigung des Kontinents konkreter und manifester. Der Kur-Mainzer Historiker Nicolaus Vogt verfasste im Geiste des Juristen Justus Möser und Johann Gottfried Herders eine Schrift „Über die Europäische Republik“ (1789), die ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Egoismus, Patriotismus und Kosmopolitismus ein mahnte.2 Der Göttinger Historiker Arnold Hermann Ludwig Heeren begriff Europa als ein westliches Thema, beschränkt auf die „Hauptländer“ Frankreich, Deutschland, Italien und England, bestimmt durch Humanismus und Reformation. In seiner Studie über die „Entwicklung der politischen Folgen der Reformation für Europa“ (1802) blickte er über den eigenen Kontinent hinaus nach Amerika, wo er ein „verjüngtes Europa“ aufblühen zu erkennen glaubte.3 Ideengeber für eine Einigung Europas hatten eine lange Tradition und beschäftigten sich seit dem 18. Jahrhundert mit Begriffen wie „Bund“, „Föderation“, „Konföderation“ oder „Staatenbund“, die allerdings in den einzelnen Nationen unterschiedliche Bedeutung hatten.4 Der dänische Staatsrat und Professor in Kopenhagen, Konrad Georg Friedrich Elias von Schmidt-Phiseldeck, sah die „Heilige Allianz“ als Art „europäischen Landfrieden“. Er nahm v. a. aber die Wiener Kongressakte vom 9. Juni 1815 als Ausgangspunkt seiner Überlegungen für eine Publikation „Europa und Amerika oder Die künftigen Verhältnisse der civilisierten Welt“ (1820). Neben der nordamerikanischen Union betrachtete er den Deut1 Heinz Gollwitzer, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1964, 20. 2 Ebd., 81–82. 3 Ebd., 85–86. 4 Wolf D. Gruner, Völkerbund, Europäische Föderation oder internationales Schiedsgericht? Die Diskussion über neue Formen der europäischen und internationalen Beziehungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Ders., Deutschland mitten in Europa, Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte, Bd. 5, Hamburg 1991, 173–224, hier 173–174.
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schen Bund als Vorbild für eine europäische Föderation und Frankfurt am Main als freie Stadt aufgrund der günstigen geographischen Lage und ihrer republikanischen Verfassung für die geeignete europäische Bundeshauptstadt.5 Als weltpolitischer Vordenker, wie Heinz Gollwitzer ihn bezeichnete, vermeinte Schmidt-Phiseldeck weit vorausschauend zu erkennen, dass durch Nordamerika „der Weltthron Europas aus den Angeln gehoben werde“, wie Gollwitzer das sehr bildhaft-umschmückt nannte. Schmidt-Phiseldeck hielt als einen seiner Leitgedanken fest: „So wie Europa durch die Folgen der Entdeckung und Kolonisierung von Amerika eine neue Gestalt erhielt, so muß sich auch durch die Emanzipation des letzteren die Gestalt desselben abermals durchaus verändern.“6 Es besteht eine gewisse Widersprüchlichkeit der Epoche des aufkommenden Nationalismus, dass zumindest in seiner liberalen Frühphase die revolutionäre Forderung nach einer bundesstaatlichen Einheit der republikanischen Nationalstaaten Europas aufgestellt w urde.7 Im Rahmen des vormärzlichen republikanischen Europäismus trat das „Junge Europa“ mit Exponenten wie dem französischen Schriftsteller Victor Hugo sowie den italienischen Freiheitsverfechtern und Risorgimento-Vertretern wie Giuseppe Mazzini und Giuseppe Garibaldi hervor, die gleichermaßen das Motto der „Vereinigten Staaten von Europa“ für die Zukunft des Kontinents ausgegeben hatten. Bemerkenswert waren die Aktivitäten von Mazzini mit der Gründung des „Jungen Italien“ (1831) in Marseille und des „Jungen Europa“ (1834) in Bern, in dem sich politisch-liberale Vorstellungen und romantisch-literarisches Schrifttum verbanden.8 Mazzini hielt Europa für den „Hebel der Welt“ – nicht von Amerika ausgehend sei der Kampf für Freiheit und Menschlichkeit zu erwarten. Er versuchte auch demgemäß (vergeblich) den radikaldemokratischen deutschen Revolutionär Carl Schurz von seiner Auswanderung in die Vereinigten Staaten abzuhalten.9 Der schottische Journalist und Politiker Charles Mackay behauptete, als erster die Losung der „Vereinigten Staaten von Europa“ in die Welt gesetzt und damit öffentlich gemacht zu haben. Am 1. Februar 1848 hatte er in der radikal-demokratischen Zeitung The London Telegraph der englischen demokratischen Bewegung die entsprechende Wortkombination artikuliert.10 In den Jahren 1849/50 stellte er im House of Commons in London Anträge auf 5 Jürgen Nielsen-Sikora, Conrad Georg Friedrich Elias von Schmidt-Phiseldek [sic!] (1770–1832), in: Winfried Böttcher, Klassiker des Europäischen Denkens: Friedens- und Europavorstellungen. Aus 700 Jahren Europäi scher Kulturgeschichte, Baden-Baden 2014, 297–302. 6 Gollwitzer, Europabild, 197–199. 7 Michael Gehler, Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt, Reinbek/Hamburg 2018, 130– 134. 8 Gollwitzer, Europabild, 244; Lara Piccardo, Dalla patria all’umanità. LʼEuropa di Giuseppe Mazzini, Bologna 2020. siehe zur Thematik auch: Paul Michael Lützeler, Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1992, 144–189. 9 Ebd., 245. 10 Anton Ernstberger, Charles Mackay und die Idee der Vereinigten Staaten von Europa im Jahre 1848, in: Historische Zeitschrift Bd. 146 (1932), 263–303.
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Einführung einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit und allgemeine Abrüstung. Mackay ging davon aus, dass nur Europa der Hort der Freiheit sei, nicht Nordamerika, wo noch die Sklaverei herrschte.11 Mit dem Motto warb er für einen politischen Neuaufbau des Kontinents als konföderierten Friedensbund.12 Vergleichbare Ideen und Überlegungen kreisten in Zirkeln des internationalen Exils in Frankreich (Paris und Straßburg), der Schweiz (Bern und Genf) und Großbritannien (London).13 Die gemeinsame Emigrationserfahrung erzeugte dabei ein Klima der demokratisch-europäischen Solidarität, die aber inhomogen und fragil blieb wie auch unter den europäischen Christlich-Sozialen, v. a. aber den Katholisch-Konservativen, repräsentiert durch die „Schwarze Internationale“ in Genf.14 Der Slogan von Mackay fand in deutschen und französischen Zeitungen Eingang. Er war am Kontinent ein Schlagwort der liberal-demokratischen Bewegung, die gegen den Absolutismus der „Heiligen Allianz der Fürsten“ (1815) ausgerichtet war und die durch eine zukünftige „Heilige Allianz der Völker“ ersetzt sehen wollte. Der Slogan hatte primär eine gesellschaftliche und innenpolitische Dimension im Sinne eines gesellschaftlichen und politischen Kampfbegriffs. Er war weit weniger mit einem Verfassungsprogramm für ein politisch geeintes Europa verbunden.15 Pazifistische Strömungen verbanden sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit visionären Europavorstellungen. Der Junghegelianer, Philosoph und Schriftsteller Arnold Ruge wünschte einen Völkerkongress ins Leben zu rufen, „zu dem Zwecke einer allgemeinen europäischen Entwaffnung“. Für ihn waren die Vereinigten Staaten von Amerika und die Schweiz Vorbilder.16 Es entwickelte sich eine europäische Befreiungsideologie, die Freiheit und Frieden für Polen und Italien forderte und sich gegen Autokratien wie das zaristische Russland oder die neoabsolutistische Habsburgermonarchie richtete. Mazzini plädierte 1848 in seiner Programmschrift „La Santa Alleanza dei Popoli“ für die Bildung der „Vereinigten Staaten von
11 Gollwitzer, Europabild, 245. 12 London Telegraph, April 1, 1848/2 e f, zit. n. Ernstberger, Mackay, 277, siehe zu dieser einschlägigen Thematik wie auch sprachgeschichtlich weiterführend: Nestor Schumacher, Der Wortschatz der Europäischen Integration. Eine onomasiologische Untersuchung des sog. ‚europäischen Sprachgebrauchs‘ im politischen und institutionellen Bereich, Düsseldorf 1976, 167–171. 13 Gollwitzer, Europabild, 244. 14 Emiel Lamberts, The Black International: 1870–1878: LʼInternationale Noire 1870–1878. The Holy See and Militant Catholicism in Europe/Le Saint-Siege Et Le Catholicisme Militant En Europe (Kadoc-Studies 29), KU Leuven 2002; Johannes Grossmann, Die Internationale der Konservativen. Transnationale Elitenzirkel und private Außenpolitik in Westeuropa seit 1945 (Studien zur Internationalen Geschichte 35), München 2014. 15 Pierre Renouvin, Les idées et les projets d’Union européenne au 19ème siècle, Publications de la Conciliation Internationale, Bulletin n° 6, 1931, 35–36. 16 Gollwitzer, Europabild, 259.
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Europa“ (1849): „Senza riconoscimento di Nazionalità liberam ente e spontaneam ente constituete, non avremo mai gli Stati Uniti dʼEuropa.“17 Am 21. August 1849 hatte Victor Hugo in seiner Eröffnungsrede als Präsident des Weltfriedenskongress in Paris erklärt: „Un jour viendra où l’on verra ces deux groupes immenses, les Etats-Unis d’Amérique, les Etats-Unis d’Europe, placés l’un en face de l’autre, se tendant la main par-dessus les mers.“18 Hugo rief am 17. Juli 1851 als Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung aus: „Le peuple français a taillé dans un granit indestructible et posé au millieu même du vieux continent monarchique la première pierre de cet immense édifice de l’avenir, qui s’appellera un jour les Etats-Unis dʼEurope“, worauf der Abgeordnete Charles de Montalembert dazwischenrief: „Les Etats-Unis d’Europe! C’est trop fort, Hugo est fou!“19 Der preußische Diplomat, Gelehrte und Staatsmann Christian Karl Josias von Bunsen sah in der republikanischen Verfassung der USA ein Vorbild für Europa. Er äußerte den Wunsch, nach dem Modell der USA die „Vereinigten Staaten von Deutschland“ zu bilden.20 Carl Ferdinand Julius Fröbel, führender Politiker der demokratischen Bewegung im Vormärz und Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, sprach sich nicht nur gegen den „Nationalitätenschwindel“ aus, sondern auch für ihr Zusammenwirken in einer „freien Bundesbrüderschaft in einem System föderativer Demokratie“ nach dem Vorbild der Schweiz und Amerikas. Aufgrund der nationalstaatlichen Atomisierungen, Partikularismen und Souveränitäten machte Fröbel auf den Umstand aufmerksam, dass sich mit den USA bereits ein halber Erdteil als Bundestaat konstituiert habe.21 Nach dem Scheitern der Revolution 1848/49 wandte sich Fröbel dem „Flüchtlings Morgenland“ Amerika zu, wo er zum Kosmopolitiker wurde. Aus dem Linksdemokraten wurde ein bürgerlicher Wirtschaftsliberaler mit Sympathien für den freien Wettbewerb und die Sinnhaftigkeit von Machtpolitik.22
17 [Übersetzung:] „Ohne die Anerkennung von liberam ente und spontaneam ente constituete [Frei sein und frei entscheiden] werden wir niemals die Vereinigten Staaten von Europa haben.“ Scritti editi e inediti di Giuseppe Mazzini, Mailand 1864, Bd. 8, 207. 18 [Übersetzung:] „Der Tag wird kommen, an dem die beiden großen Ländergruppen, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Vereinigten Staaten von Europa sich von Angesicht zu Angesicht die Hände über die Meere reichen werden.“ Jacob Ter Meulen, Der Gedanke der Internationalen Organisation in seiner Entwicklung, 3 Bde., Den Haag, 1917, 1929 und 1940, Bd. I: 1300–1880; Bd. II, 1. Stück: 1789–1870; Bd. II, 2. Stück: 1867–1889, hier Bd. II, 318. 19 [Übersetzungen]: „Das französische Volk hat im Herzen des alten monarchischen Kontinents aus unzerstörbarem Granit den Grundstein für das gewaltige Bauwerk der Zukunft gelegt, das eines Tages die Vereinigten Staaten von Europa heißen wird“; „Die Vereinigten Staaten von Europa! Es ist zu laut, Hugo ist verrückt!“ Œuvres complètes de Victor Hugo, Actes et Paroles, Tome I, Paris 1882, 425. 20 Gollwitzer, Europabild, 266. 21 Ebd., 306. 22 Ebd., 307.
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In einem Artikel in der New Yorker Allgemeinen Zeitung vom 19. Februar 1852 sah er für Europa nur die Alternative „cosaque ou républicain“ auch in Anknüpfung an eine Rede des ungarischen Freiheitshelden und Unabhängigkeitskämpfers Lajos Kossuth, wonach Europa entweder einer Zukunft des amerikanischen Republikanismus entgegengehe oder gar keiner. Fröbel erkannte in Nordamerika und im russischen Zarenreich die Extreme der Politik ihrer Zeit und Europa im Widerstreit dieser Interessengegensätze als Kampf- und Schauplatz.23 Er ließ dabei offen, ob sich die „Staatengruppe des europäischen Abendlandes“ oder „Westeuropa“, wie er zusammenfassend das gesamte nicht-russische Europa bezeichnete, zu einer neuen Ordnung zusammenschließen würde. Er setzte seine Hoffnung darauf, dass Russland und Amerika Europa das Bewusstsein aufzwingen würden, das dazu führen würde, „ein zusammengehöriges Drittes zu sein“.24 Fröbel kann als Vordenker eines Europas als „dritte Kraft“ gelten.25 Im Spannungsfeld eines ungehemmten Individualismus des Westens und einer erzwungenen Staatsfürsorge des Ostens sah Fröbel alternativ dazu ein „System des demokratischen Sozialismus Europas“.26 Seine Hoffnung auf Überwindung des nationalstaatlichen Separatismus gründete sich auf einer europäischen Eidgenossenschaft, handelspolitischer Vereinheitlichung und europäischen Kongressen.27 Im Jahre 1867 wurde in Genf infolge eines Kongresses der Friedens- und Freiheitsliga, der auch zur Frage der Gestaltung eines zukünftigen Europas Stellung bezog, eine Zeitschrift gegründet, die den Titel Les Etats-Unis dʼEurope führte und einige Jahre in französischer, deutscher und italienischer Sprache erschien.28 Das Schlagwort wurde weiter vor dem Ersten Weltkrieg benutzt. 1900 berief der französische Wirtschaftler Paul Leroy- Beaulieu einen Kongress nach Paris ein, um das Thema „Les Etats-Unis d’Europe“ zu erörtern.29 In der Zeitung Sozial-Demokrat vom 23. August 1915 ließ sich Wladimir Iljitsch Uljanow zum Schlagwort der „Vereinigten Staaten von Europa“ sehr kritisch aus: „So ist in der Epoche [des Imperialismus, Anm. MG] der höchsten Entwicklung des Kapitalismus die Ausraubung von rund einer Milliarde Erdbewohnern durch ein Häuflein von [europäischen, Anm. MG] Großmächten organisiert.“ Daher seien „Vereinigte Staaten von Europa“ unter kapitalistischen Verhältnissen gleichbedeutend mit einem „Übereinkommen über die Teilung der Kolonien“. Natürlich seien zeitweilige Abkommen zwischen Kapitalisten und den Mächten
23 Ebd., 309. 24 Ebd., 311. 25 Ebd., 311–312. 26 Ebd., 312. 27 Julius Fröbel, Amerika, Europa und die politischen Gesichtspunkte der Gegenwart, Berlin 1859, 209. 28 Jean Dubois, Le vocabulaire politique et social en France de 1869 à 1872. A travers les œuvres des écrivains, les revues et les journaux, Thèse de l’Université de Paris (Doctorat ès Lettres), Paris 1962, 297. 29 Ter Meulen, Intégration, 5.
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und in diesem Sinne auch die ‚Vereinigten Staaten von Europa‘ möglich als ‚Abkommen der europäischen Kapitalisten‘.“30 Damit war der späteren Fundamentalkritik der realexistierenden sozialistischen Staaten Europas an der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) der Weg zur antiimperialistischen Propaganda gegen den vermeintlichen ‚Kartell-‘ und ‚Monopolkapitalismus‘ der Europäischen Gemeinschaften (EG) geebnet.
II. Konjunktur und Niedergang des Schlagworts in der Zwischenkriegszeit sowie seine Wiederbelebung im Exil Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs führten zur Gründung der Paneuropa-Union von Richard Coudenhove-Kalergi (1923) und zum Europaplan von Aristide Briand (1930).31 Coudenhove-Kalergi fragte sich angesichts des wirtschaftlichen Aufstiegs der USA und der drohenden Gefahr des Bolschewismus, den er als „europäische Kulturkatastrophe“32 begriff, ob Europa überhaupt noch in der Lage sei, infolge politischer und wirtschaftlicher Zersplitterung Frieden und Selbstständigkeit den wachsenden außereuropäischen Weltmächten gegenüber wahren zu können oder ob es gezwungen sei, sich zur Rettung seiner Existenz zu einem Staatenbund organisieren zu müssen. Er sah die Gefahr, dass Europa zwischen der Sowjetunion und den USA „zerrieben“ würde.33 Die Forderung war eindeutig: „Die Paneuropa-Bewegung will die Errichtung der Vereinigten Staaten von Europa als europäischen Staatenbund und Zollverein.“34 Explizit forderte er eine „europäische Monroedoktrin“ nach dem Motto „Europa den Europäern!“35 Dabei nahm sich Coudenhove-Kalergi anfänglich die Panamerikanische Union als Vorbild.
30 Gehler, Europa, 140–142, hier 141. 31 Wilfried Loth, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt/Main–New York 2014, 2. Auflage 2020, 10; Michael Gehler, From Saint-Germain to Lisbon, Austriaʼs Long Road from Disintegrated to United Europe 1919–2009 (Österreichische Akademie der Wissenschaften/Philosophisch Historische Klasse, Internationale Geschichte/International History 5), Wien 2020, 66–68. 32 Anita Ziegerhofer, Entweder sich dem Bolschewismus zu unterwerfen – oder ihn abzuwehren! Coudenhoves Paneuropa als „Speerspitze“ gegen den Kommunismus?, in: Michael Gehler/Andrea Brait/Philipp Strobl (Hrsg.), Geschichte schreiben – Geschichte vermitteln. Inner- und interdisziplinäre Perspektiven auf die Europaforschung. Hildesheimer Europagespräche V (Historische Europa-Studien – Geschichte in Erfahrung, Gegenwart und Zukunft 21), 2 Bde, Hildesheim–Zürich–New York 2020, Bd. 2: 97–119. 33 Richard Coudenhove-Kalergi, Kampf um Europa, III. Band, Wien–Leipzig 1928, 4. 34 Ebd., 3. 35 Ebd., 139; Ders., Kommen die Vereinigten Staaten von Europa?, Glarus 1938; siehe auch das Standardwerk von Anita Ziegerhofer-Prettenthaler, Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien–Köln–Weimar 2004.
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Das Schlagwort der „Vereinigten Staaten von Europa“ wurde in den 1920er Jahren weiter aufgegriffen und vom Begründer der Paneuropa Union abwechslungsweise propagiert: „Die Krönung der europäischen Bestrebungen wäre die Konstituierung der Vereinigten Staaten von Europa nach dem Muster der Vereinigten Staaten von Amerika“,36 hielt er in der Gründungs- und Formationsphase der Paneuropa-Union fest. Als zu zentralistisch für Europa wurde von ihm jedoch das Modell des US-Bundesstaates erachtet. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ sollten sich losgelöst vom Völkerbund und im engeren Sinne ohne Großbritannien entwickeln. Für Paneuropa waren laut Coudenhove-Kalergi zwei Kammern vorgesehen, ein Völker- und ein Staatenhaus, wobei ersteres aus 300 Abgeordneten für je eine Million Europäer und letzteres aus 27 Regierungsvertretern bestehen sollten.37 Wilhelm Heile von der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) griff als erster deutscher Nachkriegspolitiker in der Wochenschrift Die Hilfe die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ auf,38 wobei er in Konkurrenz zu Coudenhove-Kalergi für die Bildung eines europäischen Staatenbundes eintrat, darin die Basis für die Befriedung Europas und damit auch eine Möglichkeit zur Beseitigung der durch den Versailler Vertrag etablierten Friedensordnung für das Deutsche Reich erblickte.39 Mit seiner Konzeption zukünftiger supranationaler Integration in bundesstaatlicher Form war er laut Jürgen C. Heß als einer „der aktivsten der führenden Proeuropäer in der Weimarer Republik“ seiner Zeit voraus.40 Heile war dabei weniger stark wie Coudenhove an der Panamerikanischen Union und den USA, sondern an der großdeutschen Mitteleuropa-Idee von Friedrich Naumann orientiert, ohne dessen hegemonial-machtpolitische Intentionen für Deutschland zur Gänze zu teilen.41 Als erste Regierungspartei der Weimarer Republik und in Europa nahm die SPD auf ihrem Parteitag vom 13. bis 18. September 1925 in Heidelberg die Forderung nach Realisierung der „Vereinigten Staaten von Europa“ in ihr bis zum Parteitag in Bad Godesberg 1959 geltendes Programm auf und zwar mit der Formulierung: „Sie tritt ein für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit, für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, um damit zur Interessensolidarität der Völker aller Kontinente zu gelangen.“42 Es gab jedoch auch Kritik, Polemik und Verunglimpfung des allmählich gängig werdenden Mottos.
36 Richard N. Coudenhove-Kalergi, Paneuropa, 2. Auflage, Wien 1924, 151. 37 Ebd., 140–142. 38 Wilhelm Heile, Die Vereinigten Staaten von Europa, in: Die Hilfe, 25. 6. 1922, Nr. 18, 274–276. 39 Hermann Greve, Wilhelm Heile. Portrait eines Gründervaters der Europa-Union, in: Europa-Union Deutschland. 70 Jahre Einsatz für ein föderales Europa, Berlin 2016, 6–26, hier 14–16. 40 Jürgen C. Heß, Europagedanke und nationaler Revisionismus. Überlegungen zu ihrer Verknüpfung in der Weimarer Republik am Beispiel Wilhelm Heiles, in: Historische Zeitschrift Bd. 225 (1977), 572–622. 41 Greve, Heile, 15. 42 Siehe hierzu auch Heinrich August Winkler, Klassenbewegung oder Volkspartei? Zur sozialdemokratischen Programmdebatte 1920–1925, in: Geschichte und Gesellschaft 8 (1982), Heft 1, 9–54.
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Der deutsche Historiker und Friedensaktivist Ludwig Quidde erblickte in den „Vereinigten Staaten von Europa“ „ein Schlagwort aus den Anfängen des organisierten europäischen Pazifismus.“43 Der österreichisch-deutsche Nationalökonom Gustav Stolper verstand darunter „eine Begriffs-Camouflage, die hier mit dem Begriff ‚Staat‘ getrieben wird. Die ‚Vereinigten Staaten von Amerika‘ sind eben nicht vereinigte Staaten im europäischen Begriff, sondern Provinzen mit einem besonderen hohen Maß an Autonomie.“44 Die Parole war weiterhin konflikträchtig und löste Kontroversen aus. Sie wurde von Kritikern umformuliert und damit abgewertet. Die französische Zeitung Le Figaro sprach 1930 von „Les Etats désunis d’Europe“ und der Berliner Börsen-Courier im Jahr darauf von den 26 „Unvereinigten Staaten von Europa“.45 Positiv hingegen bzw. realitätskonformer wendete der frühere Reichskanzler und spätere Außenminister Gustav Stresemann den Begriff. Man brauche nur „geeinte Staaten von Europa“ statt „Vereinigte Staaten“ zu sagen, dann sei die Aufgabe richtig gesehen und [dem] könnten auch die Nationalisten zustimmen.46 Im Zeichen von radikalisiertem Nationalismus, Protektionismus und dem Scheitern des Völkerbundes waren alle europäischen Föderationsideen unrealistisch geworden: Die Diktatoren Europas waren an den „Vereinigten Staaten von Europa“ nicht interessiert.47 Während des Krieges gab es zahlreiche Vorschläge, Ideen eines europäischen Bundesstaates als „Vereinigte Staaten von Europa“ umzusetzen, wobei gesondert auf das europäische Exil in London zu verweisen ist.48 Der deutsche und spätere Schweizer Schriftsteller Emil Ludwig legte zu Beginn des Krieges 1940 einen Verfassungsentwurf für die „Vereinigten Staaten von Europa“ vor: „Jetzt ist die Zeit gekommen, diese engere und gesündere Form Vereinigung an Stelle des Völkerbunds zu setzen.“ Er hielt fest: „Europa wird also in festen Machtstrukturen geeinigt werden oder gar nicht.“49 Auf der Gefängnisinsel Ventotene hatte 1941 Altiero Spinelli das „Manifest von Ventotene“ verfasst, in dem die „Vereinigten Staaten von Europa“ eingefordert wurden.50 Mit Hilfe einer Verfassung sollten „die Macht- und Souveränitätsansprüche der Nationalstaaten dau-
43 Ludwig Quidde, Vereinigte Staaten von Europa, in: Berliner Tageblatt, 22. 5. 1926. 44 Gustav Stolper, Staat – Nation – Wirtschaft, in: Hans Heiman (Hrsg.), Die Europäische Zollunion, Beiträge zu Problem und Lösung, Berlin 1926, 46. 45 Dorothee Backhaus, Die Europa-Bewegung in der Politik nach dem Ersten Weltkrieg und ihr Widerhall in der Presse von 1918 bis 1933, Dissertation München 1951, 135; ein vergleichbares Beispiel ist die Zeitung La Liberté, 17.10.1929. Sie nannte Edouard Herriot „Le Paneuropéen.“ Ebd., 136; siehe auch Edouard Herriot, Vereinigte Staaten von Europa, Leipzig 1930. 46 Walter Görlitz, Gustav Stresemann, Heidelberg 1947, 278. 47 Wolf D. Gruner/Wichard Woyke, Europa-Lexikon. Länder – Politik – Institutionen, München 2004, 2. Auflage 2007, 41. 48 Gehler, Europa, 182–186. 49 Gruner, Völkerbund, 173–224, hier 221–222. 50 Andreas Grimmel/Cord Jakobeit, Politische Theorien der Europäischen Integration, Wiesbaden 2009, 19.
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erhaft überwunden“ werden.51 Laut Spinelli hatte der Nationalstaat aufgrund der Erfahrungen aus zwei Weltkriegen nicht nur versagt, sondern auch ausgedient. Er entwickelte einen „radikal-demokratischen Ansatz“, wie er ihn selbst nannte, um „eine einmalige, umfassende und endgültige Lösung für die Probleme Europas“ zu finden.52 Der Historiker Michael Burgess ordnete Spinellis Ideen und das Manifesto folgendermaßen ein: „Probably the most famous federal documents to emerge during the war years.“53 Im Jahre 1984 legte Spinelli im Europäischen Parlament einen Verfassungsentwurf für eine Politische Union vor, den die Staats- und Regierungschefs jedoch dilatorisch behandelten. Wir kommen noch darauf zurück. Die Sache war weder in dieser Zeit reif dafür, noch 40 Jahre später.
III. Wiederaufnahme des Schlagworts nach 1945 im Zeichen nationalstaatlicher Interessen Nach dem Zweiten Weltkrieg bekam das Schlagwort „Vereinigte Staaten von Europa“ eine verstärkte Bedeutung durch den Ausbruch des Kalten Kriegs und die Zuspitzung des OstWest-Gegensatzes im Zeichen eines sich noch verschärfenden Antikommunismus. Winston S. Churchill nahm in seiner berühmt gewordenen Ansprache an der Universität Zürich am 19. September 194654 explizit Bezug auf Coudenhove-Kalergi.55 Die Rede des britischen Oppositionspolitikers enthielt die Forderung, „eine Art Vereinigte Staaten von Europa zu schaffen“, wobei einerseits Großbritannien diese Initiative fördern sollte, andererseits aber außen vor bleiben wollte.56 Der Wiener Neuzeit-Historiker Wolfgang Schmale spricht vom „Churchill Moment“,57 der sicher mehr als nur ein Augenblick war, nämlich ein gewisser zeitspezifischer Hype, der vor allem unter Akademikern und Intellektuellen, aber auch unter Bürgerinnen und Bür51 Anita Prettenthaler-Ziegerhofer, Europäische Integrationsgeschichte, Innsbruck–Wien–Bozen 3. Auflage 2012, 52–53. 52 Gruner/Woyke, Europa-Lexikon, 42. 53 Michael Burgess, Federalism and European Union: Political Ideas, Influences, and Strategies in the European Community, 1972–1987, London 1989, 31. 54 EUROPA, Dokumente zur Frage der europäischen Einigung, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amtes von R. Oldenbourg, München 1962, 3 Bde, Dokumente und Berichte des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Bd. I, 113, zur Rede Churchills siehe https://www.cvce.eu/de/obj/address_given_by_winston_churchill_zurich_19_september_1946-en-eacb02e7-ea6b-4299-aa43-10819f0d44bf.html (abgerufen 1.5.2021). 55 Randolph S. Churchill, The Sinews of Peace, Post-War Speeches by Winston S. Churchill 1947–1948, London 1948, 82. 56 Ebd. 57 Wolfgang Schmale, For a Democratic “United States of Europe” (1918–1951). Freemasons – Human Rights Leagues – Winston S. Churchill – Individual Citizens (Studien zur Geschichte der Europäischen Integration 33), Stuttgart 2019, 11–16, 125–148.
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gern einige Jahre, von 1946 bis wahrscheinlich Anfang der 1950er Jahre, anhielt, die jedoch mit der Gründung der Montanunion eine deutliche Antwort erhielten. Sie war praktisch eine Absage durch die sich etablierende und institutionalisierende Europa-Technokratie der EGKS an die sich gerade auch formierende europäische Zivilgesellschaft. Die Architekten der Montanunion verstanden sich damit von den Ideen der föderalistisch-idealistisch orientierten Europa-Verbände abzusetzen.58 Churchills Rede rüttelte auf, obwohl den davon angetanen Zeitgenossen gar nicht immer völlig klar war, dass aus der Sicht des Kalten Kriegers dies ein Festlands- und Festungseuropa ohne Großbritannien und kein bundesstaatliches Europa sein sollte.59 Parallel zu seiner Rede trafen sich vom 15. bis 22. September 1946 europäische Föderalisten im Schweizer Hertenstein und traten für eine föderale Einigung des Kontinents ein.60 Aufgewertet durch den Appell Churchills setzte schon am 17. Dezember 1946 die „Union Européene des Fédéralistes“ (UEF) unter Hendrik Brugmans in Paris auf ein sozialdemokratisches Europa als „dritte Kraft“, um die „Eigenständigkeit“ Europas zu wahren.61 Brugmans war erster Präsident der UEF und hielt beim Haager Europa-Kongress am 7. Mai 1948 die Eröffnungsrede. Zwei Jahre später begründete er das Europakolleg in Brügge, dem er bis 1972 als Rektor diente.62 Die UEF propagierte 1947 in Montreux eine „Theorie des dynamischen Föderalismus“.63 Aus der wirtschaftlichen Entwicklung sollte schrittweise eine europäische Verfassung entstehen.64 Nachdem Churchill das alte Schlagwort von den „Vereinigten Staaten von Europa“ neu belebt hatte, erschien es in den meisten Manifesten und Projekten der Europa-Föderalisten als Bezeichnung für das Endziel ihrer Bestrebungen. Von den zahlreichen Belegen sei der „Interlaken-Plan“ der Europäischen Parlamentarier Union (1948) von Coudenhove-Kalergi genannt, in dem vorgeschlagen wurde „unsere Staaten zu einer Föderation der Vereinigten Staaten von Europa zu vereinigen.“65
58 Christina Norwig, Die erste europäische Generation. Europakonstruktionen in der Europäischen Jugendkampagne 1951–1958 (Göttinger Studien zur Generationenforschung 21), Göttingen 2016, 331–342, siehe auch Michael Burgess, Federate or Perish. The Continuity and Persistence of the Federal Idea in Europe, 1917– 1957, in: Mark Hewitson/Matthew DʼAuria (Eds.), Europe in Crisis. Intellectuals and the European Idea, 1917–1957, New York 2012. 59 Paul-Henri Spaak, Memoiren eines Europäers, Hamburg 1969, 263–264. Auf die Churchill 1947 gestellte Frage „Was ist Europa?“ soll er geantwortet haben: „Ein Kehrichthaufen, ein Leichenhaus, eine Brutstätte für Seuchen und Haß“, Gruner/Woyke, Europa-Lexikon, 44. 60 Europa-Union Deutschland, 70 Jahre Einsatz, 36. 61 Loth, Europas Einigung, 14. 62 Klaus Brummer, Der Europarat. Eine Einführung, Wiesbaden 2008, 22. 63 Ludolf Herbst, Die zeitgenössiche Integrationstheorie und die Anfänge der europäischen Einigung 1947– 1950, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34 (1986), Heft 2, 161–205, hier 198. 64 Ebd. 65 Oldenbourg (Hrsg.), Europa, Dokumente, Bd. I, 137; Martin Posselt, Richard Coudenhove-Kalergi und die
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Die Losung blieb zunächst so aktuell wie schillernd. Europäische Vereinigungen nannten sich in Folge weiter so wie die im Zeichen des Haager Europakongresses 1948 gegründete „Sozialistische Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa“, aus der 1959 das Mouvement Gauche Européenne und 1971 die Sozialdemokratische Europäische Bewegung hervorgingen.66 Der am 5. Mai 1949 in London begründete Europarat blieb aber weit hinter den Erwartungen der Föderalisten und Konstitutionalisten zurück, die auf eine Verfassungsgebende Versammlung und einen europäischen Bundesstaat gehofft hatten. Die Enttäuschung war groß, weil es nur eine Beratende Versammlung gegeben hatte.67 Im Jahre 1955 initiierte der ehemalige Chef des französischen Planungskommissariats und Präsident der Hohen Behörde der Montanunion (1952–1955), der Unternehmer Jean Monnet, das „Comité d’Action pour les Etats-Unis d’Europe“ („Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa“), in dem führende politische und gewerkschaftliche Persönlichkeiten der späteren EWG-Länder in kleinem, aber einflußreichem Kreise tätig wurden68 und nach Vorstellungen des Initiators die Idee eines europäischen Bundestaates vorantreiben sollten. Wenngleich dieses Ziel nicht erreicht werden konnte, war das Aktionskomitee an der Bildung des 1974 etablierten zunächst außervertraglichen Europäischen Rates nicht unerheblich beteiligt und löste sich im Folgejahr auf. Die ehrgeizigste Initiative bildete der „Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union“ des Europäischen Parlaments, ausgehend von Ideen von Spinelli, der nach über dreijähriger Beratungszeit am 14. Februar 1984 mit 232 gegen 31 Stimmen bei 43 Enthaltungen beschlossen wurde. Dieser Verfassungsentwurf war ein ratifikationsbedürftiger Vertrag. Die Union wurde darin mit einer bundesstaatlichen oder föderationsähnlichen Konstruktion gleichgesetzt. Die mitgliedstaatlichen Reaktionen zeigten jedoch, dass an die Realisierung eines so weitreichenden Konzepts noch lange nicht zu denken war.69 Die Idee von den „Vereinigten Staaten von Europa“ blieb bis Anfang der 1990er Jahre im Zeichen der 12er Gemeinschaft der EG in akademischer, intellektueller, europaparlamentarischer und verbandspolitischer Diskussion. Die Ereignisse von 1989 sollten dieser Konzeption und den damit korrespondierenden Gedanken des europäischen Bundestaates aber keine aussichtsreiche und gute Zukunft verheißen. Dieses Jahr sollte den Anfang vom Ende des Traums von den „Vereinigten Staaten von Europa“ einleiten – nicht in geographischer und räumlicher, sondern in bundesstaatlicher verfassungsspezifischer Hinsicht. Die Öffnung Europäische Parlamentarier-Union. Eine parlamentarische Bewegung für eine „Europäische Konstituante“ (1946–1952), I–II Bde, Dissertation Karl-Franzens-Universität Graz 1987. 66 Siehe hierzu das Grundlagenwerk von Walter Lipgens (Hrsg.), 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung. Dokumente 1939–1984. Von den Schriften der Widerstandsbewegung bis zum Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments, Bonn 1986. 67 Richard N. Coudenhove-Kalergi, Geschichte der Paneuropabewegung 1922–1962, Basel–Wien 1962, 17–18. 68 Schumacher, Der Wortschatz, 171. 69 Gehler, Europa, 335.
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des Ostens Europas mit einer Vielzahl neuer und wenig europäisierter EU-Kandidatenländer mit einem Zuwachs an Nationalismus und Renationalisierung sollte die Anhänger und Befürworter einer europäischen Föderation vor ungeahnte Herausforderungen bezüglich der neuen Mitglieder stellen – nicht zuletzt aufgrund ihrer belasteten Vergangenheiten und überzogenen Erwartungen an die EU. Selbst die deutsche Christdemokratie, die in ihrer Programmatik durchgehend die Vorstellung der „Vereinigten Staaten von Europa“ verankert hatte, musste umdenken lernen, ein Vorgang, der von der höchsten Spitze ausging und quasi „verordnet“ wurde. Anfang der 1990er Jahre betonte Helmut Kohl gegenüber Euroskeptikern in den eigenen Reihen, dass er zwar für die EG eine föderale Lösung im Sinn habe, diese aber nicht als die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ missverstanden werden dürfe. Beim dritten gesamtdeutschen Parteitag der CDU vom 25. bis 28. Oktober 1992 in Düsseldorf wurde allen Mitgliedern die Umdeutung des Begriffs und eine Wende zu einer neuen Europa-Terminologie vor Augen geführt. Viele CDU-Politiker bis hin zu Kohl hatten die gängige Formel der „Vereinigten Staaten von Europa“ zumeist so selbstverständlich wie undurchdacht übernommen, insbesondere vor der Hintergrundfolie des Kalten Krieges und der transatlantischen Bündnispartnerschaft (nicht ohne Grund) die Unterschiede zu den USA zu verdeutlichen unterlassen, zumal diese im Vergleich zur EG beträchtlich waren. Der Bundeskanzler gab zu bedenken, dass es bei dem sehr strittigen Referendum über den Maastrichter Unionsvertrag in Frankreich vom 20. September 1992 sehr geschadet habe, von den „Vereinigten Staaten von Europa“ zu sprechen, weil diese Formel gerade in diesem Land zu sehr an die Vereinigten Staaten von Amerika erinnere. Er führte weiter aus, dass die Lage in den USA eine völlig andere als in Europa mit seinen verschiedenen nationalen Identitäten sei.70 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist der Befund, dass Exponenten deutscher Christlicher Demokratie und ausgewiesene Kenner der sich nun quantitativ wie qualitativ wandelnden EG zur EU sowie Vor- und Zukunftsdenker der deutschen Europapolitik bereits 1991 ein Buch mit dem geänderten Titel „Europas vereinigte Staaten“ veröffentlichten,71 was den bestehenden integrationspolitischen Realitäten angepasster erschien. Wenige Jahre später machte der deutsche Philosoph Hermann Lübbe klar, dass das Ende der Losung der „Vereinigten Staaten von Europa“ gekommen sei.72 Was war damit gemeint? Im Zeichen der Aufnahme von 10 bis 12 neuen EU-Mitgliedern musste allen kritischen Beobachtern klar sein, dass „Vereinigte Staaten von Europa“ im Sinne der Verwirklichung eines Bundestaates in weite Ferne gerückt sein würden. Das drückte auch der frühere französische Staatspräsident und Präsident des Verfassungskonvents zur Zukunft der EU, Valéry Giscard 70 Michael Gehler/Marcus Gonschor, Ein europäisches Gewissen. Hans-Gert Pöttering. Biographie (mit einem Vorwort von Donald Tusk), Freiburg–Basel–Wien 2020, 234. 71 Ludger Kühnhardt/Hans-Gert Pöttering, Europas vereinigte Staaten. Annäherungen an Werte und Ziele (Texte + Thesen 237), Zürich 1991. 72 Hermann Lübbe, Abschied vom Superstaat – Vereinigte Staaten von Europa wird es nicht geben, Berlin 1994.
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d’Estaing, aus. Mit der Aussicht auf die EU-„Osterweiterung“ war das Thema Bundestaat Europa – von Ausnahmen abgesehen73 – nicht mehr auf der aktuellen Agenda, wenn es das zuvor überhaupt noch gewesen war.74 In einer historischen Rede im Audimax der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im Rahmen des ZEI-Europaforums am 14. Januar 2002 führte Alt-Bundeskanzler Kohl anlässlich der kurz zuvor eingeführten Realwährung des Euro aus: Die Frage stellt sich: Welches Europa wollen wir eigentlich? Ich muß Ihnen gestehen, daß ich viele Jahre hindurch die Position vertrat, wir könnten die Vereinigten Staaten von Europa schaffen. Dieses Wort hat aber eine falsche Assoziation geweckt, nämlich die der Vereinigten Staaten von Amerika. Doch wir sind nicht und werden nicht vergleichbar sein mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Denn jedes Land hat in diesem Haus Europa seine eigene Identität. Die Franzosen bleiben Franzosen, die Engländer bleiben Engländer, die Italiener bleiben Italiener. Europa wird ein Europa der Vaterländer bleiben. Wir wollen keinen Zentralstaat haben, der von einer Stelle aus Alles und Jedes regelt. Deshalb halte ich am Prinzip der Subsidiarität fest. Das heißt: Die Probleme müssen auf der Ebene gelöst werden, auf der sie am besten gelöst werden können, nämlich nahe bei den Menschen.75
Auf dem Höhepunkt und als Konsequenz der „Euro-Krise“ entpuppte sich die deutsche Arbeitsministerin Ursula von der Leyen im August 2011 als Befürworterin eines europäischen Bundesstaates: „Mein Ziel sind die Vereinigten Staaten von Europa – nach dem Muster der föderalen Staaten Schweiz, Deutschland oder den USA“, hielt sie ganz entschlossen und entschieden fest. Dabei bliebe ihrer Auffassung nach weiterhin viel Platz für „lebensnahe Gestaltung in den Ländern und Regionen, aber in wichtigen finanz-, steuer- und wirtschaftspolitischen Fragen nutzen wir den Größenvorteil Europas“, denn um im globalen Wettbewerb zu bestehen, reiche eine gemeinsame Währung nicht aus. Man brauche „eine politische Union“. Von der Leyen warnte vor einem Auseinanderbrechen des gemeinschaftlich organisierten Kontinents, denn dann „werden sich unterschiedlichste Allianzen in Europa bilden, mit allen Gefahren für den Gemeinsamen Binnenmarkt und die politische Zusammenarbeit“.76 73 Unter diesem Motto etwas verschämt nur auf dem Buchrücken mit der Frage versehen „Die ‚Vereinigten Staaten von Europa‘. Ein utopischer Traum?“ erschien das Büchlein des Außenministers Frank-Walter Steinmeier, Europa ist die Lösung. Churchills Vermächtnis, Salzburg 2016. 74 Gehler, Europa, 428–447. 75 Helmut Kohl, Der Euro und die Zukunft Europas (ZEI Discussion Paper C 103), Bonn 2002, https://www.zei. uni-bonn.de/dateien/discussion-paper/dp_c103_kohl.pdf (abgerufen 1.5.2021). 76 Von der Leyen will Vereinigte Staaten von Europa. Die Arbeitsministerin mischt sich erneut in die EuroDebatte ein: Sie warnt vor einem Auseinanderbrechen Europas – und fordert einen Ausbau der politischen Union, in: Zeitonline, 27.8.2011, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2011-08/leyen-politische-unioneuropa (abgerufen 10.1.2021).
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Seit der Annexion der Krim durch die Russische Föderation und dem von ihrer Führung provozierten und unterstützten Krieg in der Ostukraine seit 2014/15 war das Friedensprojekt Europa mit einem deutlichen Fragezeichen versehen.77 Die räumliche Ausweitung von „Vereinigten Staaten von Europa“ war damit an eine empfindliche äußere Grenze gestoßen. Moskau zog eine blutige Trennlinie. Es dokumentierte mit diesen völkerrechtswidrigen Maßnahmen das Ende der Möglichkeiten der „Vereinigten Staaten von Europa“ im Osten Europas. Noch bevor sie im Jahre 2019 zur EU-Kommissionspräsidentin78 aufsteigen sollte, ließ sich von der Leyen als deutsche Verteidigungsministerin auf realistischere Weise zum Thema „Vereinigte Staaten von Europa“ vernehmen: „Die Menschen wollen erst mal sehen, dass Europa konkrete Probleme etwa bei den Themen Sicherheit, Klima oder gemeinsame Handelsinteressen erfolgreich bearbeitet. Dann wächst Vertrauen. Vorher das ganz große Rad zu drehen hieße, das Pferd vom falschen Ende her aufzuzäumen. Das habe ich in den vergangenen Jahren gelernt.“79 Während unter den politischen Akteuren in den Staatskanzleien und Ministerien längst neben dem gängig bestehenden Europa-Pragmatismus auch ernüchterter europapolitischer Realismus Einzug gehalten hatte, äußerten sich Akademiker, Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller bis in die jüngere Zeit hinein wiederholt recht optimistisch, um nicht zu sagen unkritisch über die Aussichten von „Vereinigten Staaten von Europa“, wie zuletzt die Historiker Brendan Simms und Benjamin Zeeb.80 Sowohl die historisch gewachsene nationalstaatliche Realität Europas wurde dabei verkannt als auch das souveränitätspolitische Beharrungsvermögen der Mitgliedstaaten unterschätzt.81 Einfach zu sagen „Die Amerikaner haben sich damals hingesetzt und einen neuen Staat erfunden. So müssen wir das auch in Europa machen“82 wirkt wie Traumtänzerei im Wolkenkuckucksheim mit völligem Wirklichkeitsverlust. Wer konkret einen solchen europäischen Bundesstaat nach dem Muster der USA umsetzen sollte, blieb in den abgehobenen und vagen Debatten nebulos, verschwommen und letztlich unbeantwortet.83
77 Hans Joas, Friedensprojekt Europa?, München 2020. 78 Zur Ausgangsposition noch vor Ausbruch der Pandemie: Michael Gehler, Ein aussichtsloses Unternehmen? Ursula von der Leyens neue Kommission, in: Europäische Rundschau 48 (2020), Heft 1, 53–60. 79 „Wir atmen alle auf.“ Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, 58 (CDU), zeigt sich als Fan von Emmanuel Macron und nimmt Abschied von ihrer Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa, in: Der Spiegel 18/2007, 32–33. 80 Brendan Simms/Benjamin Zeeb, Europa am Abgrund. Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa, 2. Auflage, München 2016, 95–130. 81 „Nationen sind Fiktionen“, so Ulrike Guérot, Gründerin des European Democracy Labs, https://www.goethe. de/ins/gb/de/kul/foc/erp/20846446.html (abgerufen 10.1.2021). 82 Plädoyer für ein Vereinigtes Europa. Historiker Brendan Simms über den Brexit und warum sich Europa Großbritannien und die USA zum Vorbild nehmen sollte, in: Wiener Zeitung, 29.6.2016, 6. 83 Richard Herzinger, Wer soll denn all die schönen Dinge ins Werk setzen? Big Bang statt Klein-Klein: Brendan Simms und Benjamin Zeeb wollen die EU neu erfinden, in: Die Welt, 12.3.2016, 9.
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IV. Im Spannungsfeld der zwei klassischen Integrationstheorien Früh zeichnete sich bereits durch die nach 1945 aufkommenden Integrationstheorien von Politikwissenschaftlern im europäischen Exil in den USA ab, dass „Vereinigte Staaten von Europa“ nach dem Muster der USA in der Praxis schwerlich realisierbar sind. Der Föderalismus ging von einer europäischen Staatsbildung und nationaler Integration aus.84 Einer seiner Hauptexponenten war Carl Joachim Friedrich85, demzufolge Föderalismus „immer die Vereinigung unterschiedlicher politischer Gesamtheiten“ meint.86 Ziel der Föderalisten war es, analog den USA Souveränitätsrechte einer bundesstaatlichen Ordnung zu übertragen.87 Sie orientierten sich am Vorbild der 13 US-amerikanischen Bundesstaaten, deren Grundidee von den Niederlanden und der Schweiz stammte.88 Europas Nationalstaaten sollten gleichsam in einem europäischen Bundesstaat aufgehen.89 Nicht zuletzt waren verschiedene europäische Exilregierungen in London von der Überzeugung ausgegangen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg eine Organisationsform gefunden werden müsse, die den Frieden dauerhaft sichern würde.90 Unter ihnen existierte keine einheitliche Föderalismustheorie, sondern eine „Vielzahl unterschiedlicher Ansätze und Visionen für ein geeintes Europa“.91 Friedrich war ebenfalls von den Möglichkeiten des Föderalismus überzeugt, anders als Spinelli wollte er aber nicht eine „Einigung auf einen Schlag“ (so wie es später auch Robert Schuman in seiner berühmten Rede vom 9. Mai 1950 zur Ankündigung des Projekts einer europäischen Kohle- und Stahlgemeinschaft ausschloss), denn für Friedrich gab es nicht „die eine politische Ideallösung“, die zur stärkeren Integration mittels föderativer Elemente führe.92 Der sich vom Föderalismus abgrenzende Funktionalismus ging auf eine Integrationstheo rie von David Mitrany93 zurück, die in den 1940er Jahren als Erklärungsversuch für „ein weltweit funktionierendes Friedenssystem“ entwickelt wurde und bis heute als eine der zen84 Burgess, Federalism, 26. 85 Ireneusz Pawel Karolewski, Die künftige Gestalt Europas: Funktionalismus oder Föderalismus? Am Beispiel der Osterweiterung der Europäischen Union, in: Heinz Kleger (Hrsg.), Region – Nation – Europa, Band 1, Diss. Münster 2000, 60; Grimmelt/Jakobeit, Politische Theorien der Europäischen Integration, 20–21. 86 Carl J. Friedrich, Nationaler und internationaler Föderalismus in Theorie und Praxis, in: Politische Vierteljahresschrift Bd. 5 (1964), Nr. 2, 154–187, hier 154. 87 Herbst, Die zeitgenössische Integrationstheorie und die Anfänge der europäischen Einigung 1947–1950, 171. 88 Ebd., 197. 89 Grimmel/Jakobeit, Politische Theorien der Europäischen Integration, 19. 90 Gruner, Völkerbund, Europäische Föderation oder internationales Schiedsgericht?, 173–224, hier 222. 91 Grimmel/Jakobeit, Politische Theorien der Europäischen Integration, 20. 92 Ebd., 36. 93 David Mitrany (1888–1975), gebürtiger Rumäne, Studien in Hamburg und London, Lehraufträge in den USA, Arbeit für das State Department während des Kriegs, Hauptwerke: The Progress of International Government, London 1933; Ders., A Working Peace System, Chicago 1943; Grimmel/Jakobeit, Politische Theorien der Europäischen Integration, 20; Gehler, Europa, 203.
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tralen Theorien zur Erklärung von Kooperationsbeziehungen zwischen Staaten bezeichnet wird und auch gilt.94 Aus seiner Sicht gab es keinen Beweis dafür, dass Menschen in den Nationalstaaten Europas eine europäische Föderation wirklich wünschten. Eine weitere Gefahr sah er darin, dass zwei mächtige Föderationen gegeneinander agieren könnten.95 Für Mitrany waren die europäischen Föderalisten von ihrer Idee so überzeugt, dass sie gar nicht fragten, wie die Föderation wirklich funktionieren und existieren könnte.96 Diese Idee sei aus der Euphorie der Debatten über formale Verfassungskonstruktionen entstanden, die die Macht einerseits an eine zentrale Stelle geben sollte, andererseits aber die der Regierung begrenzen wollte.97 Daher waren für Mitrany die „Vereinigten Staaten von Europa“ nur „ein künstliches Gebilde, das nicht automatisch zu einer harmonischen Gemeinschaft“ führe.98 Er sah dagegen für Staaten drei Optionen, sich zu organisieren: (1) Eine lose Vereinigung wie der Völkerbund, die die Staaten nicht wirklich betrifft und damit kaum Einfluss nimmt. (2) Eine föderale Struktur, deren Nachteile er auch deutlich erkannte. (3) Eine funktionalistische Vorgehensweise, die Autoritäten in einem bestimmten Bereich verändert.99 Im funktionalistischen Ansatz erblickte Mitrany einen Ausweg aus dem Dilemma des „either too loose or too narrow“, der in ausgewählten Feldern die Zusammenarbeit in internationalen Organisationen ermöglichen sollte.100 Beispiele für funktionale internationale Organisationen waren für ihn die International Postal Union oder die International Telegraph Union.101 Durch die liberalen und dynamischen Entwicklungen sollten nach Mitrany nicht nationale Strukturen aufgebrochen, sondern Verantwortlichkeiten nach Funktionen neu verteilt werden.102 Der Schuman-Plan entsprach in seiner Entstehung für Mitrany weder eindeutig einem funktionalistischen noch einem föderalistischen Ansatz.103 Genau diese Mischung sollte allerdings die Geschichte der europäischen Integration von der EGKS bis zur EU ausmachen! Weder die föderalistische noch die funktionalistische Theorie konnten per se das Modell der „Vereinigten Staaten von Europa“ nach amerikanischem Muster zur Gänze erfüllen. Die funktionalistische sollte jedoch der Entwicklung und Gestaltung der EU näher kommen als die föderalistische Theorie.
94 Wolfgang Merkel, Die Europäische Integration und das Elend der Theorie, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), Heft 2, 302–338. 95 Mitrany, A Working Peace System, 152–153. 96 Ebd., 190. 97 Ebd., 156. 98 Grimmel/Jakobeit, Politische Theorien der Europäischen Integration, 52; Mitrany, A Working Peace System, 156–157. 99 Mitrany, A Working Peace System, 27. 100 Ebd. Oder anders ausgedrückt: „Sovereignty cannot in fact be transferred effectively through a formula, only through a function.“ Ebd., 31. 101 Ebd., 108 und 133. 102 Ebd., 84–85. 103 Ebd., 168.
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V. Zusammenfassende Thesen und Schlussfolgerung: Nicht nur Konfusion und Vision, sondern auch Synthese zwischen Konföderation und Föderation 1. Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden im 19. Jahrhundert von Frühdemokraten und -liberalen sowie Intellektuellen (Advokaten, Journalisten, Schriftstellern) als Vorbild für ein lebensfrohes, neues und verjüngtes Europa wahrgenommen und als Idee weitergetragen. 2. Die republikanische Verfassung der USA galt Befürwortern der „Vereinigten Staaten von Europa“ als Referenzpunkt und Vorbild. Der anhaltende Zustand der Sklaverei und der Streit über ihre Beibehaltung, der in einen blutigen Bürger- und Sezessionskrieg mündete, schreckten Einigungsbefürworter des Kontinents aber auch ab, so dass die USA schwerlich als ein Muster für Freiheit und Gleichheit begriffen werden konnten. 3. Der Slogan „Vereinigte Staaten von Europa“ hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts primär eine innen- und gesellschaftspolitische Dimension im Sinne eines politischen Kampfbegriffs, als mit einem außenpolitisch ausgerichteten und einem verfassungsspezifischen Programm für ein politisch geeintes Europa ausgestattet zu sein, um damit auch entsprechend erfolgreich zu werben. 4. In der Emigration Europas entstand ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein europäischer Solidarismus, der sich an positiven Leitbildern der Vereinigten Staaten von Amerika mit Demokratie, Freiheit und Menschenrechten orientierte, jener USA, die selbst auch als Aufnahmeland für Exilanten und Modell für „Vereinigte Staaten von Europa“ dienten. 5. Der Linksliberalismus der europäischen Exilanten in Nordamerika konnte sich zu einem Wirtschaftsliberalismus im Sinne einer Anerkennung und Bewunderung des Wettbe werbsprinzips in den USA wandeln. Diese Erkenntnis wirkte zum Teil wieder auf den Kontinent zurück. 6. Eine europäische Befreiungsideologie, die Freiheit und Frieden für unterdrückte Nationen und Völker wie Italien, Polen oder Ungarn forderte, war parallel mit einer Stoßrichtung gegen autokratische Herrschaftsformen verbunden, die gleichzeitig mit der Hoffnung einer Unterstützung durch die USA verknüpft war. Dieses Muster blieb bis ins 21. Jahrhundert relevant, wenn an die unabhängig werdenden und ihre Souveränität verteidigenden mittel- und osteuropäischen Staaten nach 1989 gedacht wird. 7. Durch das sich bahnbrechende nationalstaatliche Prinzip und das europäische Mächtekonzert am Kontinent des 19. Jahrhunderts war für die politischen Entscheidungsträger die Parole von den „Vereinigten Staaten von Europa“ ein nicht naheliegendes Gegenprojekt und, wenn überhaupt, bestenfalls ein zweitrangiges Anliegen. Diese Gegenvorstellung zum nationalen Souveränitätsprinzip verkam deshalb zu einem unrealistischen politischen Schlagwort.
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8. Die „Vereinigten Staaten“ existierten bereits in Nordamerika, woraus sich für die Vorstellung der „Vereinigten Staaten von Europa“ durch Authentizitäts- und Originalitätsmängel eine automatische Wertminderung ergab, zumal ein solches Konzept nur als eine Kopie der scheinbar weit attraktiveren USA erschien. 9. Der im Vergleich zur nationalen Identifikation feststellbare Mangel an Emotionalität für ein geeintes Europa und das Defizit eines gemeinsam empfundenen europäischen Mythos erschwerten den Glauben an „Vereinigte Staaten von Europa“. 10. Ideengeber und Verfechter der „Vereinigten Staaten von Europa“ verfügten vor 1945 nicht über die politischen Machtmittel, um ihre Vorstellungen durchzusetzen. Es waren bis zum Zweiten Weltkrieg politische Außenseiter, Außenstehende, Exilanten, Oppositionelle oder Querdenker im besten Sinne, wodurch sich immer wieder Akzeptanz- und Attraktivitätsprobleme für diese Idee in breiteren Bevölkerungsschichten ergaben. 11. Nach dem Zweiten Weltkrieg bekam die Losung von den „Vereinigten Staaten von Europa“ eine gesteigerte Bedeutung und einen Prestigezuwachs durch den prominenten Fürsprecher Churchill, der sich allerdings nicht für eine britische Mitwirkung an diesem Projekt aussprach. Sein Plädoyer galt letztlich nur einer konkreten Politik für eine westeuropäische Teilintegration. Die Debatte über die Idee eines Europa als „dritte Kraft“ (1946–1949) blieb nur ein Intermezzo und ging im Zeichen der Eskalation des Kalten Krieges völlig unter. Damit war der paneuropäischen Idee von „Vereinigten Staaten von Europa“ für den gesamten Kontinent eine wesentliche Grundlage entzogen. 12. Churchill griff zwar das alte Schlagwort auf und förderte damit dessen Übernahme durch Föderalisten in Europa, ohne allerdings hinlänglich klarzumachen, dass er Großbritannien nicht in einen europäischen Bundestaat einbezogen sehen wollte (geschweige denn einen solchen gegen die Interessen der USA zu unterstützen), was sich von kurzzeitigen Abweichungen und Unterbrechungen abgesehen zur Kontinuität einer reservierten und zurückhaltenden britischen Europapolitik vom Labour-Führer Clement Attlee und in gesteigerter Form bis zu dem Rechtspopulisten Boris Johnson entwickeln sollte. 13. Das Jahr 1989 sollte mit dem „Fall der Mauer“ kurioser- und paradoxerweise den Anfang vom Ende des Traums von den „Vereinigten Staaten von Europa“ als europäischer Bundesstaat bedeuten – nicht in geographischer und räumlicher, aber in inhaltlicher und verfassungsstaatlicher Hinsicht. Die Öffnung der Mitte und des Ostens Europas brachte viele, neue und weit weniger europäisierte Nationalstaaten als junge EU-Mitglieder, verbunden mit einem erheblichen Anstieg an Nationalismus- und Renationalisierungswellen mit sich. 14. Die Idee von „Vereinigten Staaten von Europa“ blieb bis Anfang der 1990er Jahre im Zeichen der 12er Gemeinschaft der Europäischen Gemeinschaften in Diskussion, verlor aber an Legitimation und Überzeugungskraft angesichts wiederkehrender und zuletzt zunehmender Tendenzen der Renationalisierung sowie im Zeichen der bevorstehenden EU-„Osterweiterung“ – also zeitlich noch vor dem Krisenjahrzehnt (2009–2019) ante Corona.
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15. Im Zuge der Entfremdungen und Verwerfungen im transatlantischen Verhältnis unter der Administration von George W. Bush (2000–2008) waren im öffentlichen Diskurs modellähnliche Berufungen auf die USA im Sinne von „Vereinigte Staaten von Europa“ gänzlich in den Hintergrund getreten. Diese Tendenz sollte sich mit Blick auf die Politik von US-Präsident Donald Trump (2017–2021) noch verstärken. Die Frage nach den „Vereinigten Staaten von Europa“ stellt sich heute nicht mehr. Es reicht aus, wenn die EU-Mitgliedstaaten den Zusammenhalt ihrer eigenen Union wahren, vereint bleiben und vernünftig zusammenarbeiten. Die USA sind allerspätestens seit den Verstörungen und Verunglimpfungen im Zeichen der Politik von Trump kein politisches Referenzmodell mehr, wenn sie es in handhabbarer Weise und übertragbarer Form je waren. Die EU selbst braucht auch gar kein Vorbild. Sie ist nicht nur ein völlig eigenständiges und neuartiges Gebilde, sondern es fragt sich inzwischen auch, ob sie ein postnationales und postmodernes Imperium ist,104 das den Abfall des Vereinigten Königreichs oder auch nur von England und Wales verkraften kann. Die EU bewegte sich in ihrer kurzen Geschichte nicht nur zwischen Konfusion und Vision, sondern vielmehr auch zwischen Staatenbund und Bundesstaat, ausgerichtet vorwiegend nach europäischen Modellen wie jenen Deutschlands (Föderalismus) und Frankreichs (Zentralismus). Dieses Gemisch aus Konföderation und Föderation sowie Föderalismus und Zentralismus wird nach Lage der Dinge noch länger Bestand haben. Alan S. Milward hat losgelöst von den Träumereien der „Vereinigten Staaten von Europa“ mit der Ansage von der „Europäischen Rettung des Nationalstaates“ für die 1950er Jahre und die Folgezeit eine wirkmächtige These zur Geschichte der europäischen Integration formuliert. Unabhängig von der Idee und dem Traum von „Vereinigten Staaten von Europa“ geht es heute für Europas vereinigte Staaten um „die Europäische Bewahrung des Nationalstaates in einer verfestigten EU in Zeiten der Globalisierung“.105
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Vom Schlagwort der „Vereinigten Staaten von Europa“ zur Realität des Europas der vereinigten Staaten
Merkel, Wolfgang, Die Europäische Integration und das Elend der Theorie, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), Heft 2, 302–338. Middelaar, Luuk, Vom Kontinent zur Union. Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa, Berlin 2016. Milward, Alan S., The European Rescue of the Nation State, Berkeley–Los Angeles–London 1992 Neuss, Beate, Geburtshelfer Europas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im Europäischen Integrationsprozess 1945–1958, Baden-Baden 2000. Norwig, Christina, Die erste europäische Generation. Europakonstruktionen in der Europäischen Jugendkampagne 1951–1958 (Göttinger Studien zur Generationenforschung 21), Göttingen 2016. Paul, Ina Ulrike/Schulze, Hagen, Europäische Geschichte: Quellen Und Materialien, München 1994. Piccardo, Lara, Dalla patria allʼumanità. LʼEuropa di Giuseppe Mazzini, Bologna 2020. Pichler, Peter, EUropa. Was die Europäische Union ist, was Sie nicht ist und was sie einmal werden könnte, Graz 2016. Posselt, Martin, Richard Coudenhove-Kalergi und die Europäische Parlamentarier-Union. Eine parlamentarische Bewegung für eine „Europäische Konstituante“ (1946–1952), I-II Bde, Dissertation Karl-Franzens-Universität Graz 1987. Schmale, Wolfgang, For a Democratic “United States of Europe” (1918–1951). Freemasons – Human Rughts Leagues – Winston S. Churchill – Individual Citizens (Studien zur Geschichte der Europäischen Integration 33), Stuttgart 2019. Simms, Brendan/Zeeb, Benjamin, Europa am Abgrund. Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa, München 2. Auflage 2016. Steinmeier, Frank-Walter, Europa ist die Lösung. Churchills Vermächtnis, Salzburg 2016. Ziegerhofer, Anita/Pichler, Johannes W./Likar, Reinhard (Hrsg.), Die „Vereinigten Staaten von Europa“. Dokumente eines Werdens, Wien 1999. Ziegerhofer-Prettenthaler, Anita, Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien–Köln–Weimar 2004. Ziegerhofer-Prettenthaler, Anita, Europäische Integrationsgeschichte, 3. Auflage, Innsbruck – Wien– Bozen, 2012.
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Errungenschaften und aktuelle Herausforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention I. Die EMRK als gemeineuropäischer Grundrechtskatalog Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist unter dem Eindruck der systematischen Missachtung von Menschenrechten während der Herrschaft der Nationalsozialisten und des Zweiten Weltkriegs entstanden.1 Am 4. November 1950 wurde die Konvention in Rom unterzeichnet, und zwar unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen und die Satzung des Europarates.2 Auf regionaler Ebene war die EMRK das erste Instrument des Menschenrechtsschutzes. Bis heute nimmt die EMRK eine gewisse Vorbildfunktion für andere regionale Menschenrechtsschutzsysteme wahr. Nach Erreichen der erforderlichen Anzahl von 10 Ratifikationen trat die EMRK im September 1953 in Kraft. Die Bundesrepublik Deutschland gehörte zu den Mitgliedstaaten der ersten Stunde, ebenso wie die drei skandinavischen Staaten Dänemark, Schweden und Norwegen, Belgien, Großbritannien, Irland und Luxemburg. Sukzessive hat sich der Kreis der Mitgliedstaaten zur Konvention erweitert. Im Jahr 1990 zählte die Konvention 22 Mitgliedstaaten; sie umfasste fast alle demokratischen Staaten Europas3 und reichte deutlich über den Kreis der Staaten der Europäischen Union hinaus. In den folgenden Jahren öffneten sich Europarat und Europäische Menschenrechtskonvention für die Transformationsstaaten Mittel- und Osteuropas.4 Zum Ende der 1990er Jahre wies die Konvention 47 Mitgliedstaaten auf – ihre Zahl hatte sich also mehr als verdoppelt. Dass diese Entwicklung große Herausforderungen an das Konventionssystem stellte, liegt auf der Hand.5 1 Bereits 1950 einigte sich das Ministerkomitee des ebenfalls nach Kriegsende entstandenen Europarates auf den Text der EMRK, der in relativ kurzer Zeit (in einem Ausschuss der Beratenden/Parlamentarischen Versammlung des Europarats und nachfolgend in einem Ausschuss von Regierungsvertretern, eingesetzt vom Ministerkomitee) entwickelt wurde. Diese Entwicklung fand gewissermaßen in Anlehnung an die Entwicklung und Verabschiedung des Textes der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf universaler Ebene im Kontext der Vereinten Nationen statt, die bereits 1948 angenommen wurde. 2 Zur Entstehung der EMRK siehe Ed Bates, The Evolution of the European Convention on Human Rights, Oxford 2010; Oliver Dörr, European Convention on Human Rights, in: Marten Breuer/Stefanie Schmahl (Hrsg.), The Council of Europe, Oxford 2017, 466–471. 3 Ausnahmen waren Finnland, Andorra und Monaco, die aber heute ebenfalls Mitglied der EMRK sind. 4 Angelika Nußberger, The European Court of Human Rights, Oxford 2020, 25–27. 5 Dazu noch einmal Bates, Evolution, 477–480; Nußberger, Court of Human Rights, 29–34.
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Wirft man einen Blick auf die in der Konvention verankerten Grund- und Menschenrechte, findet man – in starker Anlehnung an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO – einen recht umfassenden Katalog an Gewährleistungen, beginnend mit den Fundamentalgarantien (Recht auf Leben, Folterverbot und Verbot der Sklaverei), der Gewährleistung der persönlichen Freiheit, dem Recht auf Zugang zu Gericht und ein faires Verfahren, gefolgt von den klassischen Freiheitsrechten (Schutz des Privat- und Familienlebens, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Recht auf Eheschließung). Hinzu kommt ein Diskriminierungsverbot, das alle Garantien der Konvention ergänzt.6 In der Stammfassung der EMRK fehlte noch das Eigentumsgrundrecht. Es ist wie das Recht auf Bildung und das Recht auf freie Wahlen im ersten Zusatzprotokoll zur EMRK enthalten, das nur ein Jahr nach der Konvention in Kraft getreten ist. Die genannten Rechte waren, weil man sich zunächst nicht auf sie einigen konnte, aus der Stammfassung der Konvention herausgefallen und wurden wenig später in ein Protokoll zur EMRK aufgenommen, dem wiederum die Staaten zustimmen mussten.7 Zusatzprotokolle bieten eine Möglichkeit der Ergänzung der Gewährleistungen der Konvention. Hervorzuheben sind das 6. und das 12. Zusatzprotokoll, mit denen die Todesstrafe zunächst in Kriegszeiten, dann überhaupt abgeschafft wurde. Da fast alle Staaten des Europarates sowohl das 6. als auch das 12. Zusatzprotokoll ratifiziert haben, ist Europa weitgehend eine todesstrafenfreie Zone.8 Mit dem 4. und mit dem 7. Protokoll wurden zusätzliche Garantien verankert, und zwar Ein- und Ausreiserechte von Staatsbürgern, die Freizügigkeit sowie das Verbot der Kollektivausweisung (4. Protokoll) und besondere Verfahrensrechte (7. Protokoll). Das 12. Protokoll enthält einen allgemeinen Gleichheitssatz.9 Verpflichtet zur Einhaltung der in den Zusatzprotokollen gewährleisteten Garantien sind nur diejenigen Staaten, die das jeweilige Protokoll ratifiziert haben. So entsteht eine gewisse Differenzierung im Verpflichtungsumfang der Mitgliedstaaten.10 Deutschland hat etwa das 7. Zusatzprotokoll und das 12. Zusatzprotokoll nicht ratifiziert, die Schweiz hat (wegen des Eigentumsgrundrechts) das 1. Zusatzprotokoll bis heute nicht
6 Zum Gewährleistungsumfang des (akzessorischen) Diskriminierungsverbots nach Art. 14 EMRK vgl. David Harris/Michael O’Boyle/Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, 4. Auflage Oxford 2018, 764–767; Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Auflage München 2021, § 26 Rn. 1–4. 7 Harris/O’Boyle/Warbrick, Law of the Convention, 849. 8 Ausnahme bilden Russland, Armenien und Aserbaidschan, die das 13. Zusatzprotokoll mit dem Verbot der Todesstrafe in Kriegszeiten nicht ratifiziert haben (Stand: Januar 2021). Siehe auch Jens Meyer-Ladewig/Stefan Harrendorf/Stefan König, in: Jens Meyer-Ladewig/Martin Nettesheim/Stefan v. Raumer (Hrsg.), EMRK. Handkommentar, 4. Auflage München 2017, Art. 1 Prot. Nr. 6 Rn. 1–5, Art. 1 Prot. Nr. 13 Rn. 1. 9 Das 12. ZP wurde bislang nur von 20 Staaten ratifiziert, unter diesen befinden sich nur zehn Mitgliedstaaten der EU (Ratifikationsstand: Januar 2021). 10 Jacobs/White/Ovey, The European Convention on Human Rights, 7. Auflage Oxford 2017, 6–7; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 1 Rn. 4.
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ratifiziert, und Russland, Armenien und Aserbeidschan haben – wie erwähnt – das 13. Zusatzprotokoll mit dem Verbot der Todesstrafe in Kriegszeiten bis heute nicht ratifiziert. Insgesamt kann man aber feststellen, dass der Bestand an Grund- und Menschenrechten, die im System der Konvention gewährleistet werden, relativ stabil ist und die Unterschiede im Gewährleistungsumfang zwischen den Mitgliedstaaten gesamthaft betrachtet gering sind. Dafür, dass auch neue grundrechtliche Gefährdungen an konventionsrechtlichen Maßstäben gemessen werden können, sorgt die dynamische Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (siehe dazu III.). Die EMRK lässt sich daher als gemeineuropäischer Grundrechtsbestand qualifizieren.11 Dieser Befund wird auch dadurch bestätigt, dass bei der Entstehung der Grundrechtecharta der Europäischen Union die Konvention für viele einzelne Garantien Vorbild war und schlicht übernommen wurde.12
II. Das Individualbeschwerderecht als Herzstück des Grundrechtsschutzsystems der EMRK Die Gewährleistung von Grundrechten ist das eine, ihre Durchsetzung und insbesondere ihre gerichtliche Geltendmachung ist das andere. Die Europäische Menschenrechtskonvention nimmt mit der Einrichtung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg im internationalen Vergleich eine Sonderstellung ein. Die Besonderheit ist das Individualbeschwerderecht an den Straßburger Gerichtshof. Nach der Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges hat jeder der ca. 850 Mio. Einwohner der Konventionsstaaten die Möglichkeit, sich mit der Behauptung, in einem oder mehreren Grundrechten der Konvention verletzt zu sein, an den Menschenrechtsgerichtshof zu wenden.13 Der Gerichtshof prüft dies und stellt mit verbindlicher Wirkung gegenüber dem betroffenen Staat fest, ob eine Grundrechtsverletzung vorliegt oder nicht.14
11 Vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 1 Rn. 3 m.w.N.; Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, 4. Auflage Heidelberg 2019, Rn. 667: „europäische Menschenrechtsverfassung“. 12 Zum Einfluss der EMRK auf die Grundrechtecharta vgl. Christoph Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 2001, 1 (2–10); die (offiziellen) Erläuterungen zur Grundrechtecharta (ABl. EG 2000, C 364/01) weisen die Parallelitäten der Charta-Rechte zu den Garantien der EMRK im Einzelnen aus. 13 Zur Zulässigkeit und zum Verfahren der Individualbeschwerde siehe Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel/Karoline Edtstadler, Verfahren vor dem EGMR, in: Wilhelm Bergthaler/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Musterhandbuch Öffentliches Recht, Loseblatt Wien (Stand: 2020), 2018; Holger Hembach, Die Beschwerde beim EGMR, Wien 2021. 14 Zur Bindungswirkung der Entscheidungen des EGMR nach Art. 46 EMRK siehe Wolfgang Cremer, Rechtskraft und Bindungswirkung von Urteilen des EGMR, Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ) 2012, 493–498; Marten Breuer, in: Ulrich Karpenstein/Franz Mayer (Hrsg.), EMRK. Kommentar, 2. Auflage München 2015, Art. 46 Rn. 1 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 16.
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Die Unterwerfung unter den Rechtsschutzmechanismus der Konvention, der zu Beginn zweigliedrig war und aus der Kommission und dem Gerichtshof bestand, war zunächst freiwillig. Im Gegensatz zu Großbritannien anerkannte Deutschland bereits 1955 das Individualbeschwerderecht, Großbritannien folgte erst 1966. Österreich ratifizierte die Konvention mit gleichzeitiger Anerkennung des Individualbeschwerderechts 1958, Frankreich erkannte erst im Jahr 1981 das Individualbeschwerderecht an. In den 1980er Jahren führte eine Vielzahl von Beschwerden, insbesondere wegen überlanger Verfahrensdauer vor allem gegen Italien, und die Folgen der Anerkennung des Individualbeschwerderechts durch die beiden bevölkerungsreichen Mitgliedstaaten Frankreich und Türkei zu einer Belastung des Konventionssystems, die Reformen unabweisbar machte. In dieser Situation entschloss man sich zu einer Neuordnung des Rechtsschutzmechanismus dergestalt, dass das Nebeneinander von zwei Organen, Kommission und Gerichtshof, beseitigt und ein neuer ständiger Gerichtshof geschaffen wurde. Die Anerkennung des Individualbeschwerderechts wurde obligatorisch.15 Die große Be- und Überlastung des Gerichtshofs hat zu einer kontinuierlichen Reformdiskussion und zu etlichen Reformschritten in der Organisation des Gerichtshofs und im Verfahren der Individualbeschwerde geführt. Diese Reformschritte zielten darauf ab, aussichtslose Beschwerden möglichst rasch und effektiv auszufiltern; außerdem sollten Fälle, die aufgrund einer Vielzahl von gleichgelagerten Menschenrechtsverletzungen an den Gerichtshof herangetragen wurden, auf der Basis der bereits ergangenen Rechtsprechung – etwa zum Recht auf angemessene Verfahrensdauer – zügig erledigt werden (pilot judgments, well-established-case law Fälle). Diese Reformen haben zum Teil gegriffen.16 Nichtsdestotrotz ist die Belastung des Gerichtshofs nach wie vor enorm.17 Die Herausforderung an die Reformierung von Organisation und Verfahren des EGMR ist eine doppelte, die zum Teil in einem Spannungsverhältnis steht. Die strengere Fassung von Zulässigkeitsgründen, die möglichst rasche Abarbeitung von unzulässigen Beschwerden und die effektive Behandlung von Wiederholungsfällen sind unbedingt notwendig, um die Funktionsfähigkeit des Systems zu erhalten. Gleichzeitig ist alles daran zu setzen, um das Individualbeschwerderecht als solches nicht auszuhöhlen und etwa nur noch „Musterfälle“ einer Entscheidung des Gerichtshofs zuzuführen oder ein freies Annahmerecht des Gerichtshofs zu etablieren. Das Individualbeschwerderecht als „Herzstück“ des Grund-
15 Zur Entwicklung siehe Bates, Evolution, 432 ff.; Nußberger, Convention, 27 f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 6. 16 Patricia Egli, Zur Reform des Rechtsschutzsystems der Europäischen Menschenrechtskonvention, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 2014, 759–770; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 6 Rn. 4; § 8 Rn. 2–3. 17 Nach dem Jahresbericht (annual report) des EGMR für 2019 gelangten ca. 42.000 Beschwerden neu an den Gerichtshof; es gab ca. 40.000 Erledigungen und einen Gesamtrückstau von 60.000 Beschwerden (Zahlen beziehen sich auf Verfahren, die einem richterlichen Spruchkörper zugewiesen wurden), https://www.echr. coe.int/Documents/Annual_report_2019_ENG.pdf (abgerufen 15.1.2021).
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rechtsschutzsystems der EMRK18 ist gerade für Menschen, die in Staaten leben, in denen der Rechtsstaat schwankt oder schon beschädigt ist und die kein Vertrauen in die eigene Justiz haben, ein Instrument, um auf der europäischen Ebene eine Feststellung von Menschenrechtsverletzungen durch ein Gericht zu erreichen, sichtbar für alle, begründet und entschieden von internationalen Richterinnen und Richtern. Es wundert daher nicht, dass die Namen vieler bekannter Oppositionspolitiker osteuropäischer Staaten oder der Türkei in den vom Gerichtshof entschiedenen Fällen auftauchen,19 ohne damit sagen zu wollen, dass die Verfahren von vielleicht weniger bekannten Personen von geringerer Bedeutung wären. Bei allem Reformbedarf ist es eine Notwendigkeit, das Individualbeschwerderecht zu erhalten. In diesem Zusammenhang zeigt sich eine Herausforderung an das Rechtsschutzsystem der EMRK, die nicht nur auf der reinen Quantität an Fällen beruht, sondern struktureller Natur ist und deshalb die Gefahr der Überforderung des Systems in sich trägt. Das Kon ventionssystem ist auf Subsidiarität in dem Sinn angelegt, dass es zuerst die Mitgliedstaaten sind, die die Konventionsrechte schützen und umsetzen.20 Das ergibt sich aus Art. 13 EMRK, der alle Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, im innerstaatlichen Bereich effektive Rechtsbehelfe zur Durchsetzung der Konventionsrechte vorzusehen. Die Beschwerde an den EGMR ist – wie schon gesagt – erst nach der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zulässig (vgl Art. 35 EMRK). Es ist eine strukturelle Überforderung des Konventionssystems, wenn der EGMR nicht gelegentliche Menschenrechtsverletzungen in einem Mitgliedstaat feststellen muss, sondern mit einer Situation in einem Staat konfrontiert ist, in der Menschenrechte geradezu systematisch verletzt werden. Man denke an das NichtFunktionieren des Gerichtssystems in Italien, in dem Urteile nicht in angemessener Zeit gefällt werden und – wenn sie denn gefällt sind – nicht vollstreckt werden. Man denke an die Situation in Gefängnissen in Rumänien (und anderen Ländern), in denen nicht ein einzelner Inhaftierter unmenschlich behandelt wird, sondern die äußeren Bedingungen dergestalt sind, dass viele Inhaftierte entgegen den Maßstäben der Konvention behandelt werden. Insofern müssen unbedingt neben dem Individualbeschwerderecht – das sich ebenfalls darauf einstellen muss – Strategien entwickelt werden, die diese systematischen Menschenrechtsverletzungen als solche beseitigen.21
18 Christian Tomuschat, Individueller Rechtsschutz: das Herzstück des „ordre public européen“ nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, EuGRZ 2003, 95; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 9 Rn. 1. 19 Beispielhaft seien genannt EGMR, 13.4.2013, Tymoshenko ./. UKR, Nr. 49872/11; 25.7.2013, Khodorkovskiy u. Lebedev ./. RUS, Nr. 11082/06 u. 13772/05; 15.11.2018 (GK), Navalnyy ./. RUS, Nr. 29580/12; 20 Vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 184–185 mit Nachweisen der Rechtsprechung. 21 Ein Beispiel ist das European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman and Degrading Treatment or Punishment (CPT), das Haftanstalten besucht und die Haftbedingungen dort regelmäßig kontrolliert und, wenn erforderlich, Verbesserungen empfiehlt; siehe https://www.coe.int/en/web/cpt (abgerufen 15.1.2021).
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III. Die Herausbildung von grundrechtlichen Standards Eine große Errungenschaft der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR ist es, dass sich über die Jahre der Rechtsprechung grundrechtliche Standards entwickelt haben, die die Grundrechte der Konvention konkretisieren und Maßstab für das Handeln aller staatlichen Organe in den Konventionsstaaten sind. In den aufgrund der Individualbeschwerden entschiedenen Einzelfälle legt der Gerichtshof die jeweils für die grundrechtliche Beurteilung relevanten Kriterien dar, die dann auch in Folgeentscheidungen maßgeblich sein werden. Auch wenn sich der Bestand an Konventionsrechten seit ihrem Entstehen vor 70 Jahren nur in geringem Maße geändert hat, sorgt die Rechtsprechung des EGMR dafür, dass sich der Grundrechtsschutz weiterentwickelt und auch die aktuellen Bedrohungen der Grundrechte bewältigen kann. Auslegungsmethoden wie die „dynamische“ Auslegung oder die Auslegung mit Blick auf die „present day conditions“ oder das Verständnis der EMRK als „living instrument“,22 die der Gerichtshof im Sinne einer effektiven Durchsetzung der Konvention anwendet, sorgen dafür, dass die Rechtsprechung nicht in den fünfziger Jahren stehen geblieben ist, um es etwas plakativ auszudrücken. Einige Beispiele sollen dies illustrieren: 1. Rechtstellung Homosexueller und Transsexueller Aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) und dem Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK) hat der EGMR in seiner Rechtsprechung die Achtung der sexuellen Selbstbestimmung als Teil des Privatlebens angesehen. Das Eingehen einer homosexuellen Partnerschaft ist daher jedenfalls durch Art. 8 EMRK geschützt;23 wenn es sich um eine stabile Partnerschaft handelt, zu der möglicherweise auch noch Kinder gehören, genießt sie auch den Schutz des Familienlebens.24 Durch diese Rechtsprechung sind seit den 1980er Jahren viele Homosexuelle betreffende Regeln im Straf-, Zivil- und speziell im Familienrecht in etlichen Staaten hinterfragt worden und Diskriminierungen abgebaut worden. Transsexuelle haben nach der EMRK zwar noch keinen Anspruch auf Durchführung einer Geschlechtsumwandlung,25 wenn aber eine solche durchgeführt wurde, besteht ein Recht 22 Zur Interpretation der EMRK als „living instrument“ durch den EGMR siehe Harris/O’Boyle/Warbrick, Law of the Convention, 8–9; Jacobs/White/Ovey, European Convention, 76–80; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5 Rn. 14–16. 23 EGMR, 22.10.1981, Dudgeon ./. GBR, Nr. 7525/76, Z. 41; EGMR, 26.10.1988, Norris ./. IRL, Nr. 10581/83, Z. 38. 24 EGMR, 13.6.1979, Marckx ./. BEL, Nr. 6833/74, Z. 31; EGMR, 18.12.1986, Johnston u. a. ./. IRL, Nr. 9697/82, Z. 55; EGMR, 26.5.1994, Keegan ./. IRL, Nr. 16969/90, Z. 44; EGMR, 13.7.2000, Elsholz ./. GER, Nr. 25735/94, Z. 43; EGMR, 12.7.2001 (GK), K. u. T. ./. FIN, Nr. 25702/94, Z. 150; EGMR, 15.6.2016, Novruk u. a. ./. RUS, Nr. 31039/11 u. a., Z. 85. 25 EGMR, 10.3.2015, Y. Y. ./. TUR, Nr. 14793/08, Z. 65 f.
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auf Umsetzung in den Dokumenten und genießt dann die Person die Rechte als Mann bzw. als Frau, wenn es um die Eheschließung geht.26 Zurückhaltender bewertet der EGMR Fragestellungen wie die Rechtmäßigkeit von Leihmutterschaft,27 das Recht von Homosexuellen auf Adoption von Kindern28 oder auch das Recht von gleichgeschlechtlichen Paaren, eine Ehe einzugehen.29 Insofern berücksichtigt er den fehlenden Konsens in den Staaten der EMRK und überlässt die Fragen dem nationalen Gesetzgeber. Man spricht insofern von einem „margin of appreciation“, den der EGMR den Mitgliedstaaten zuerkennt.30 Diese Vorgehensweise erscheint unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten generell gesprochen richtig: Die Fortentwicklung des Rechts sollte durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber erfolgen und nicht durch ein (internationales) Gericht. Gleichzeitig wird durch diese Vorgehensweise auch die Akzeptanz von Straßburger Entscheidungen bedacht. 2. Meinungs- und Pressefreiheit Im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit hat der EGMR seit der frühesten Rechtsprechung Standards gesetzt. Ganz generell gesprochen hat er immer wieder die besondere Bedeutung der Meinungsfreiheit für den demokratischen Prozess hervorgehoben und die Presse in ihrer Funktion als „public watchdog“ gewürdigt.31 Dieses Grundverständnis führte zu einem weitreichenden Schutz von Meinungsäußerungen, deren Beschränkungen sei es durch Gerichtsurteile oder gesetzliche Regelungen in den Mitgliedstaaten strikten Rechtfertigungsprüfungen unterliegen. Die Rechtsprechung in vielen Konventionsstaaten hatte die besondere Gewichtung der 26 EGMR, 11.7.2002 (GK), I. ./. GBR, Nr. 25680/94, Z. 77 ff.; EGMR, 11.7.2002 (GK), Christine Goodwin ./. GBR, Nr. 28957/95, Z. 97 ff. 27 Ein Anspruch auf Zugang zur Leihmutterschaft folgt aus der Konvention nicht; allerdings hat der EGMR in Zusammenhang mit im Ausland durchgeführten Leihmutterschaften Rechte des Kindes auf rechtliche Anerkennung der Elternschaft anerkannt, EGMR, 26.6.2014, Mennesson ./. FRA, Nr. 65192/11, Z. 100 f.; EGMR, 26. 6.2014, Labassee ./. FRA, Nr. 65941/11, Z. 79–80. Vgl. auch EGMR, 10.4.2019, P16–2018–001 (Gutachten). FRA, Nr. 65941/11, Z. 79f. 28 EGMR, 26. 2.2002, Fretté ./. FRA, Nr. 36515/97, Z. 41; EGMR, 22.1.2008 (GK), E.B. ./. FRA, Nr. 43546/02, Z. 70. Staaten können die Adoptionsmöglichkeit auf verheiratete Paare beschränken und damit homosexuelle Paare ausschließen, wenn diese nicht heiraten können. Wenn ein Staat aber ein Recht auf Stiefkindadoption durch unverheiratete heterosexuelle Paare zulässt, muss er es unter Berücksichtigung des Diskriminierungsverbots auch homosexuellen unverheirateten Paaren zuerkennen, EGMR, 19.2.2013 (GK), X. u. A. ./. AUT, Nr. 19010/07, Z. 105 ff. 29 EGMR, 21.7.2015, Oliari u. a. ./. ITA, Nr. 18766/11 u. a., Z. 178. Der EGMR verweist jedoch auf einen internationalen Trend zur rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, so dass eine Abänderung dieser Rechtsprechung in Zukunft durchaus möglich erscheint. 30 Zu diesem Topos siehe etwa Harris/O’Boyle/Warbrick, Law of the Convention, 14–17; Jacobs/White/Orvey, European Convention, 360–368; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rn. 20–23. 31 Grundlegend EGMR, 7.12.1976, Kjeldsen u. a. ./. DEN, Nr. 5095/71 u. a., Z. 52. Siehe mit umfangreichen Nachweisen der Rechtsprechung Stephanie Schiedermair, in: Katharina Pabel/Stefanie Schmahl (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur EMRK, Loseblatt Köln (Stand: 2020), Art. 10 EMRK, 2013, Rn. 67.
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Meinungsfreiheit durch den EGMR zu berücksichtigen und ihre Praxis etwa im Hinblick auf den Schutz vor Beleidigungen nachzujustieren. In Deutschland hingegen führte die Straßburger Judikatur in den sogenannten Caroline-Fällen zu einer Nachschärfung im Hinblick auf den Persönlichkeitsschutz gerade von Prominenten in der medialen Berichterstattung.32 Die Interpretationsoffenheit der Grundrechte lässt es zu, auch neue Fragestellungen in Bezug auf die Meinungsfreiheit am „alten“ Maßstab zu messen. So hat der EGMR in jüngerer Zeit die Frage der Verantwortlichkeit für den Inhalt von Hyperlinks unter bestimmten Voraussetzungen zugunsten der veröffentlichenden Plattform entschieden.33 Auch die Frage der Blockade von Webpages war wiederholt Gegenstand von Beschwerden.34 Stets hielt der EGMR an seiner Grundhaltung zugunsten eines möglichst freien Diskurses fest. Um Grenzziehungen etwa zur Bekämpfung von hate speech wird in den an den Gerichtshof herangetragenen Fällen immer wieder gerungen. Der Aufruf zu Gewalt und Aufhetzung rechtfertigt regelmäßig ein Eingreifen des Staates.35 Wo es nach dem gegenwärtigen Stand der Judikatur noch an einem Standard fehlt, ist die Frage nach der Grenzziehung zwischen der Meinungsäußerungsfreiheit und dem Verbreiten von sogenannten fake news über das Internet und vor allem in social media. Hier entstehen durch die Ausübung der Meinungsfreiheit möglicherweise Gefährdungen für den demokratischen Prozess. Strategien, wie Staaten darauf angemessen reagieren können, stehen erst am Anfang ihrer Entwicklung.36 3. Zugang zu Gericht Das Recht auf Zugang zu Gericht und auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) ist eine der zentralen Garantien der EMRK, die in vielen Staaten zu kleinem und großem Anpassungsbedarf in der Organisation der Gerichtsbarkeit und der Ausgestaltung des Gerichtsverfahrens geführt hat. Das betraf auch und gerade die „alten“ Konventionsstaaten mit ihren unterschiedlich ausgeprägten rechtsstaatlichen Traditionen. Die Verurteilungen wegen der Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer sind zahlenmäßig die meisten in den Straßburger Urteilen und betreffen viele Mitgliedstaaten. Neben anderen Staaten hat auch Deutschland hier sein Gerichtssystem organisatorisch und verfahrensrechtlich anpassen müssen und insbesondere Beschleunigungsrechtsbehelfe eingeführt.37 In Österreich hat das 32 EGMR, 24.6.2004, v. Hannover (Nr. 1) ./. GER, Nr. 59320/00, Z. 65; EGMR, 7.2.2012 (GK), v. Hannover (Nr. 2) ./. GER, Nr. 40660/08 u. a., Z. 104 ff.; dazu Schiedermair, in: Pabel/Schmahl, Art. 10 EMRK, Rn. 86 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 49 jeweils mit weiterführenden Hinweisen. 33 EGMR, 4.12.2018, Magyar Jeti Zrt ./. HUN, Nr. 11257/16, Z. 74 ff. 34 Jüngst EGMR, 23.6.2020, Vladimir Kharitonov u. a. ./. RUS, Nr. 10795/14 u. a., Z. 38 ff. 35 Z.B. EGMR, 4.12.2003, Gündüz ./. TUR, Nr. 35071/97, Z. 51; dazu umfassend Struth, Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung, 2019. 36 Dazu Katharina Pabel, Internet und Kommunikationsfreiheiten im Licht der EMRK, JRP 2020, 101–108. 37 Gesetz über den Rechtsschutz bei unangemessen langen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren v. 24.11.2011, BGBl. I Nr. 60 v. 2.12.2011.
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Errungenschaften und aktuelle Herausforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention
Recht auf Zugang zu Gericht letztlich zu einer in mehreren Etappen eingeführten Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz geführt – eine Änderung, die eine grundlegende Neuordnung des Rechtsschutzsystems im öffentlichen Recht mit sich brachte.38 Nur kurz soll an das Thema der Sicherungsverwahrung erinnert werden, das in Deutschland aufgrund der Straßburger Rechtsprechung neu geregelt werden musste.39 4. Situation in Gefängnissen Schon früh hat der EGMR Standards für die Behandlung von Inhaftierten aus den verschiedenen Gewährleistungen der Konvention entwickelt. Sie betreffen etwa den Schutz der Korrespondenz von Gefangenen, eine Frage, für die der EGMR bereits in den achtziger und neunziger Jahren Anforderungen aus dem Recht auf Schutz der Korrespondenz nach Art. 8 EMRK abgleitet hat.40 Sie betreffen auch den Kontakt zwischen Anwalt und Inhaftiertem, insbesondere im Hinblick auf die Gewährleistung des Rechts auf angemessene Verteidigung.41 Weitere durch den Straßburger Gerichtshof entwickelte Standards betreffen die Behandlung von Gefangenen. Insbesondere muss der Staat wirksame Maßnahmen gegen Misshandlungen von Inhaftierten durch Angestellte im Gefängnis oder durch Mitgefangene ergreifen.42 Sie betreffen außerdem die Unterbringung von Inhaftierten: den Platzbedarf für jede Person, die hygienischen Verhältnisse, medizinische Versorgung usw.43 In der Struktur der Individualbeschwerde liegt es, dass es nicht Aufgabe des EGMR ist, positiv Mindestanforderungen zu formulieren, sondern negativ festzustellen, wenn die Bedingungen so schlecht sind, dass sie als unmenschliche Behandlung im Sinne von Artikel 3 EMRK zu qualifizieren sind.
38 Die Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz wurde im Jahr 2014 eingeführt und erforderte eine Verfassungsänderung (BGBl. I 51/2021). Zur Entwicklung vgl. Thomas Olechowski, Historische Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich, in: Johannes Fischer/Katharina Pabel/Nicolas Raschauer (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2. Auflage Wien 2019, Kap. 1 Rn. 27–45. 39 EGMR, 17.12.2009, M. ./. GER, Nr. 19359/04; BVerfG 128, 326ff., 297 (315f.); dazu Christoph Grabenwarter, Die deutsche Sicherungsverwahrung als Treffpunkt grundrechtlicher Parallelwelten, EuGRZ 2012, 507. 40 EGMR, 25.3.1983, Silver ./. GBR, Nr. 5947/72; 25.2.1992, Pfeifer u. Plankl ./. AUT, Nr. 10802/84;, 25.3.1992, Campbell ./. GBR,Nr. 13590/88; 14.3.2002, Puzinas ./. LTU, Nr. 44800/98; EGMR, 1.10.2009, Tsonyo Tsonev ./. BUL, Nr. 33726/03. 41 EGMR, 25.3.1992, Campbell ./. GBR, Nr. 13590/88; EGMR, 24.7.2001, Valasinas ./. LTU, Nr. 44558/98; EGMR, 29.1.2002, A. B. ./. NED, Nr. 37328/97; EGMR, 22.5.2008, Petrov ./. BUL, Nr. 15197/02. 42 EGMR, 14.3.2002, Edwards ./. GBR, r. 46477/99, Z. 63 f.; EGMR, 1.7.2010, Davydov u. a. ./. UKR, Nr. 17674/02 u. a., Z. 268; EGMR, 22.12.2009, Palushi ./. AUT, Nr. 27900/04, Z. 63. 43 EGMR, 8.1.2013, Torreggiani u. a. ./. ITA, Nr. 43517/09 u. a., Z. 68; EGMR, 6.9.2016, Alimov ./. TUR, Nr. 14344/13, Z. 77; EGMR, 20.10.2016 (GK), Muršić ./. CRO, Nr. 7334/13, Z. 124 (Überbelegung); EGMR, 10.3.2009 (GK), Paladi ./. MDA, Nr. 39806/05, Z. 72; EGMR, 9.1.2014, Budanov ./. RUS, Nr. 66583/11, Z. 65 (medizinische Versorgung).
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Es ist bekannt, dass die Situation in Gefängnissen in Staaten Mittel- und Osteuropas katastrophal ist. Die massive Überbelegung der Haftanstalten ist ein Grundproblem, das zu Bedingungen führt, die mit den Standards der Konvention nicht vereinbar sind. Rumänien, Russland, aber auch die Türkei und andere Staaten müssen hier genannt werden, die immer wieder wegen Verletzung der Menschenrechte in Gefängnissen in Straßburg verurteilt werden. Was aber kann man machen, wenn die finanziellen Ressourcen der Staaten nicht ausreichen, um selbst bei entsprechendem politischen Willen eine schnelle Verbesserung der Situation in den Haftanstalten herbeizuführen?
IV. Die effektive Umsetzung von Urteilen der EGMR Damit ist eine Überleitung zu Fragen der effektiven Umsetzung von Urteilen des EGMR geschaffen. Urteile des EGMR binden zunächst einmal nur die Parteien des Verfahrens: den Staat, gegen den Beschwerde erhoben wurde, und den Beschwerdeführer. Wird eine Konventionsverletzung festgestellt, so hat der Staat diese abzustellen und dem Betroffenen nach Urteil des EGMR eine Entschädigung zu zahlen.44 Auch wenn die formale Bindungswirkung auf diese inter partes Wirkung beschränkt ist, so entfalten die Urteile doch über den Einzelfall hinaus Wirkungen. So wird es der betroffene Staat vermeiden, in Zukunft ähnliche Verurteilungen in Straßburg zu riskieren, und Vorkehrungen tatsächlicher und/oder rechtlicher Art treffen. Er wird also – um im Beispiel zu bleiben – Bestrebungen an den Tag legen, die Situation in den Gefängnissen zu verbessern, er wird Gefängnisangestellte in der angemessenen Behandlung der Insassen schulen, er wird – wo nötig – die rechtlichen Grundlagen ändern. Tatsächlich sieht das Konventionssystem eine Überwachung der Umsetzung von Urteilen des EGMR vor, was vielleicht weniger bekannt ist als das System der Individualbeschwerde vor dem EGMR. Zentrales Organ ist hier das Ministerkomitee des Europarates. Ihm werden die Urteile des EGMR, in denen eine Konventionsverletzung festgestellt wurde, zugeleitet. In einem Dialog mit dem verurteilten Staat hat dieser dem Ministerkomitee darzulegen, welche Maßnahmen er ergreift, um die festgestellte Konventionsverletzung abzustellen und zu verhindern, dass ähnliche Verletzungen in Zukunft auftreten. Der Staat hätte also die oben skizzierten Maßnahmen dem Ministerrat mitzuteilen, wobei die Auswahl der Maßnahmen beim Staat liegt, die Effektivität der Umsetzung aber vom Ministerrat beurteilt wird. Erst wenn der Ministerrat von der effektiven und vollständigen Umsetzung überzeugt ist, ist das Umsetzungsverfahren beendet. Bis dahin bleibt der Fall auf der Tagesordnung des Ministerkomitees und der betreffende Staat unter dem Druck, weiterhin Rechenschaft über die Abstellung der Konventionsverletzung geben zu müssen.45 44 Zur Entschädigung siehe Nicola Wenzel, in: Karpenstein/Mayer, Art. 41 Rn. 24 ff.; Jens Meyer-Ladewig/ Kathrin Brunozzi, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer, Art. 41 Rn. 7 ff. 45 Zur Überwachung der Urteile des EGMR siehe Katharina Pabel, Ministerkomitee und EMRK: Fremdkörper
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Das Überwachungsverfahren zur Umsetzung der EGMR-Urteile ist kein Vollstreckungsverfahren. Das kann es im völkerrechtlichen Bereich auch nicht geben. Aber es existiert immerhin ein Verfahren, mit dem die Umsetzung der Urteile überwacht wird: Die Wirkung der Befassung des Ministerkomitees mit dem eine Verletzung feststellenden Urteil und seiner Umsetzung darf nicht unterschätzt werden. Die einzelnen Etappen der Überwachung sind übrigens im Internet veröffentlicht und damit für jeden einsehbar.46 Die Involvierung des Ministerkomitees zeigt, dass es sich um einen politischen Prozess in rechtlichen Bahnen handelt. Möglicherweise ist gerade diese Dialogform geeignet, Fortschritte bei der Verbesserung des Menschenrechtsschutzes zu erreichen. Es kann – um auf das Beispiel der Haftbedingungen zurückzukommen – durchaus Rücksicht darauf genommen werden, dass nicht von heute auf morgen neue Gefängnisse gebaut werde können und damit die Platzprobleme gelöst sind. Bestimmte Maßnahmen, die die Situation der Inhaftierten verbessern, können aber sofort umgesetzt werden, worauf das Ministerkomitee bestehen wird. Die effektive Umsetzung steht und fällt mit dem Willen des betroffenen Staates. Wenn dieser eine Umsetzung verweigert, bleiben dem Ministerkomitee als ultima ratio nur die Suspendierung des Stimmrechts im Ministerkomitee oder der Ausschluss aus dem Europarat, Maßnahmen, die bislang nicht ergriffen wurden.
V. Migration und Menschenrechte Auch im Bereich der Migration ist die Funktion des EGMR die, auf der Grundlage der Entscheidung von Einzelfällen Standards des gemeineuropäischen Menschenrechtsschutzes zu entwickeln und gegenüber den Konventionsstaaten durchzusetzen. Im Folgenden wird der Stand der Rechtsprechung skizziert: Die EMRK gewährt kein Recht auf Asyl oder Zuwanderung.47 Auch das Recht auf Einreise steht nur Staatsbürgern des jeweiligen Landes zu.48 Insofern sind für die Frage der Gewährung von Asyl oder anderen Aufenthaltstiteln keine Standards durch die Straßburger Judikatur zu erwarten. Wichtig ist jedoch die Rechtsprechung, die aus den Fundamentalgarantien der Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) und Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) entwickelt wurden. Das Gleiche gilt für jene Rechtsprechung, die aus dem Recht auf Privat- und Familienleben nach Art. 8 EMRK Schranken für aufenthaltsbeendende Maßnahmen (wie vor allem Ausweisung und Abschieoder (noch) essentieller Bestandteil?, in: Andreas Zimmermann (Hrsg.), 60 Jahre Europäischen Menschenrechtskonvention, 2014, 81–101. 46 Die einschlägige Datenbank findet sich unter https://hudoc.exec.coe.int/eng#{%22EXECDocumentTypeColl ection%22:[%22CEC%22]} (abgerufen 15.1.2021). 47 St. Rechtsprechung, vgl. etwa EGMR, 30.10.1991, Vilvarajah u. a. ./. GBR, Nr. 13163/87, Z. 192; EGMR, 23.2.2012 (GK), Hirsi Jamaa u. a. ./. ITA, Nr. 27765/09, Z. 113. 48 Die entsprechende Garantie ist in Art. 3 4. ZP EMRK verankert.
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bung) deduziert hat. Personen, denen in dem Staat, in den sie abgeschoben werden sollen, Gefahr für das Leben, die Gefahr von Folter oder unmenschlicher Behandlung droht, dürfen nicht ausgewiesen oder abgeschoben werden.49 Auch das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens hindert die Ausweisung oder Abschiebung, wenn dadurch in unverhältnismäßiger Weise das Privat- oder Familienleben der betroffenen Person beeinträchtigt wird.50 Die Rechtsprechung hat für beide Fallgruppen umfangreiche und detaillierte Kriterien entwickelt, die menschenrechtliche Standards für die Verhängung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen setzen. Diese Judikatur wirkte sich auf das Dublin-II-Regime der Union aus, das eine Überstellung der Flüchtlinge zur Verfahrensdurchführung in den Staat vorsieht, in dem sie die Union betreten haben. Der EGMR hat auch die Überstellung eines Asylbewerbers im Rahmen der Regelungen des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts von einem Mitgliedstaat der EU in einen anderen Mitgliedstaat am Maßstab des Verbots unmenschlicher Behandlung überprüft. Grundlegend ist der Fall M. S. S., in dem der Gerichtshof die Überstellung eines Asylbewerbers gemäß den Bestimmungen der Dublin-II-Verordnung von Belgien nach Griechenland am Maßstab der Konvention zu überprüfen hatte.51 Der EGMR stellte in diesem Fall eine Verletzung von Art. 3 EMRK fest, da die belgischen Behörden wussten oder hätten wissen müssen, dass Asylbewerber keine Gewähr dafür haben, dass ihr Antrag eine ernsthafte Prüfung durch die griechischen Behörden erfährt. Darüber hinaus wurde eine Verletzung dieses Artikels festgestellt, da Belgien den Beschwerdeführer nach Griechenland überstellt hatte, obwohl die Behörden Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Anhalte- und Lebensbedingungen von Asylbewerbern haben mussten. Der EGMR ließ also nicht genügen, dass Griechenland wie Belgien an die EMRK und das Unionsrecht gebunden waren, sondern verlangte eine Überprüfung der tatsächlichen Umstände im Zielland. Mit dieser Entscheidung aus dem Jahr 2011 und ihren Nachfolgeentscheidungen52 wurde allerdings das Dublin-System in Frage gestellt, das darauf beruht, dass grundsätzlich jeder beteiligte Staat gleichermaßen in der Lage ist, ein Asylverfahren durchzuführen und während dieser Zeit die Asylbewerber angemessen zu versorgen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat sich später dem EGMR insofern angeschlossen, als auch er Überstellungen innerhalb der EU an Menschenrechten gemessen und gegebenenfalls für unzulässig 49 St. Rechtsprechung, vgl. etwa EGMR, 7.7.1989, Soering ./. GBR, Nr. 14038/88, Z. 82 ff.; EGMR, 15.11.1996, Chahal ./. GBR, Nr. 22414/93, Z. 80 u.v. a. Nachweise z. B. bei Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 20 Rn. 77 ff. 50 EGMR, 2.8.2001, Boultif ./. SUI, Nr. 54273/00, Z. 39; EGMR, 23.6.2008, Maslov./. AUT, Nr. 1638/03, Z. 73; EGMR, 12.9.2012, Nada ./. SUI, Nr. 10583/08, Z. 164; EGMR, 16.4.2013, Udeh ./. SUI, Nr. 12020/09, Z. 44. Siehe dazu auch Katharina Pabel, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Verwaltungsgericht, in: Ralf-Peter Schenke/Joachim Suerbaum (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Europäischen Union, Baden-Baden 2016, 121 (128–133). 51 EGMR, 21.1.2011 (GK), M.S.S. ./. BEL, GRE, Nr. 30696/09. 52 EGMR, 3.7.2014, Mohammadi ./. AUT, Nr. 71932/12, Z. 60; EGMR, 4.11.2014 (GK), Tarakhel ./. SUI, Nr. 29217/12, Z. 88 ff.
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erklärt hat.53 Eigentlich war und ist das ein deutliches Warnsignal, dass das unionsrechtliche Flüchtlingsregime nicht umfassend funktioniert.54 Nach der Jahrtausendwende hat das Verbot der Kollektivausweisung nach Artikel 4, 4. Zusatzprotokoll EMRK Bedeutung für den Umgang mit Flüchtlingen und Asylbewerbern gewonnen. Das Grundrecht hindert die Staaten nicht daran, die Einwanderung gesetzlich zu regeln. Verbotene Kollektivausweisungen sind solche, bei denen keine Einzelfallprüfung stattfindet und Personengruppen nach generellen Kriterien, wie Staatsangehörigkeit, Rasse oder Hautfarbe, ausgewiesen werden. Eine Einzelfallprüfung verlangt mindestens eine Identitätsfeststellung und eine Information in einer für die Betroffenen verständlichen Sprache.55 Auch in Situationen, in denen Mitgliedstaaten mit einem großen Zustrom von Flüchtlingen und Asylbewerbern konfrontiert sind, darf bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen nicht auf eine Einzelfallprüfung verzichtet werden.56 So hat der EGMR im Jahr 2012 im Zusammenhang mit afrikanischen Flüchtlingen, die per Boot nach Europa zu gelangen versuchten, einen Verstoß gegen das Verbot von Kollektivausweisungen durch Italien festgestellt.57 Er erklärte darin Artikel 4, 4. Zusatzprotokoll auch in jenen Fällen für anwendbar, in denen Flüchtlinge vom Militär auf hoher See aufgegriffen und ohne Einzelfallprüfung in den Drittstaat, von dem aus das Schiff gestartet ist, zurückgebracht werden (im Fall Libyen). In der weiteren Rechtsprechung hat der EGMR bestätigt, dass diese Pflicht zur Einzelfallprüfung für den Staat, in dem die Flüchtlinge ankommen auch dann besteht, wenn gemäß dem Dublin-Regime innerhalb der EU jenes Land zur Bearbeitung des Asylverfahrens zuständig ist, das von den Asylbewerbern als erstes EU-Land betreten wurde.58 Der EGMR unterstreicht in diesem Fall erneut die menschenrechtlichen Anforderungen bei der Durchführung des Dublin-II-Regimes. In einem jüngeren Fall stellte der EGMR keine Kollektivausweisung fest: Eine Gruppe von Flüchtlingen war durch Überquerung der Grenzanlagen an der marokkanischen Landgrenze in die spanische Enklave Medellin illegal eingewandert, ohne die Möglichkeiten der 53 EuGH 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10, Rn. 75 ff. – N.S. u. a. So auch EuGH 16.2.2017 – C-578/16 PPU, Rn. 59 ff. – C.K. u. a.; EuGH 19.3.2019 – C-163/17, Rn. 82 ff. – Jawo. 54 Vgl. Andreas v. Arnauld, Konventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik – Neujustierung durch das Urteil des EGMR im Fall M.S.S. ./. Belgien und Griechenland, EuGRZ 2011, 238; Angelika Nußberger, Flüchtlingsschicksale zwischen Völkerrecht und Politik, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2016, 820–821; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 20 Rn. 87. 55 EGMR, 23.2.2012 (GK), Hirsi Jamaa u. a. ./. ITA, Nr. 27765/09, Z. 185; EGMR, 21.10.2014, Sharifi u. a. ./. ITA u. GRE, Nr. 16643/09, Z. 217 Art. 4 4. ZP EMRK garantiert aber nicht unter allen Umständen das Recht auf eine individuelle Befragung. Die Anforderungen können schon dann erfüllt sein, wenn der Betroffene eine effektive Möglichkeit hat, Argumente gegen seine Ausweisung vorzubringen, und diese von den Behörden des belangten Staates in angemessener Weise geprüft werden. 56 EGMR, 23.2.2012 (GK), Hirsi Jamaa u. a. ./. ITA, Nr. 27765/09, Z. 179; EGMR, 3.7.2014 (GK), GEO ./. RUS, Nr. 13255/07, Z. 177; EGMR, 21.10.2014, Sharifi u. a. ./. ITA u. GRE, Nr. 16643/09, Z. 224. 57 EGMR, 23.2.2012 (GK), Hirsi Jamaa u. a. ./. ITA, Nr. 27765/09, Z. 166 ff., 185. 58 EGMR, 21.10.2014, Sharifi u. a. ./. ITA u. GRE, Nr. 16643/09, Z. 223.
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legalen Einreise ausgeschöpft zu haben.59 Dieses Urteil ist zum Teil sehr kritisch aufgenommen worden. Dem EGMR wurde vorgeworfen, die im Verbot der Kollektivausweisung entwickelten Standards bei der Prüfung des Asylbegehrens abgesenkt zu haben. Die nachfolgenden Straßburger Entscheidungen zeigen aber, dass der Gerichtshof jedenfalls nicht grundsätzlich die Anforderungen an die individuelle Überprüfung von Ausweisungsentscheidungen gesenkt hat.60 Ob im kritisierten Urteil für den EGMR die besondere Situation der illegalen Überwindung der Grenzanlagen durch eine Gruppe von Migranten den Ausschlag gegeben hat, kann nur vermutet werden.
VI. Die Absicherung der Rechtsstaatlichkeit in den Konventionsstaaten In den letzten Jahren hat die rechtsstaatliche Entwicklung in einigen Staaten Europas Anlass zur Sorge gegeben. Ungarn und Polen stehen dabei im Mittelpunkt, sind aber wohl nicht die einzigen Staaten des Europarats und der Europäischen Union, deren rechtsstaatliche Strukturen angegriffen sind. Welche Rolle kann in diesem Zusammenhang die EMRK spielen, um die Rechtsstaatlichkeit in ihren Mitgliedstaaten abzusichern? Zum einen kann festgehalten werden, dass die Konvention eine Grundlage für die materiellen Anforderungen an eine rechtsstaatliche Justiz, insbesondere das Recht auf Zugang zu Gericht, das gleichzeitig Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Spruchkörpers aufgestellt, enthält.61 Diese sind durch die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs soweit konkretisiert worden, dass ein Prüfungsmaßstab für die Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit der Justiz vorliegt. Das auf die Individualbeschwerde ausgerichtete System des Rechtsschutzes ist allerdings weniger geeignet, Entwicklungen, die etwa die Unabhängigkeit der Justiz strukturell untergraben, rasch genug aufzugreifen. Der passende Fall muss erst einmal nach Straßburg gebracht werden: das geht innerstaatlich keineswegs schnell, und auch das Verfahren vor dem EGMR nimmt Zeit in Anspruch. Wie praktisch effektiv ist die Möglichkeit des Einzelnen, die fehlende Unabhängigkeit des Gerichts in seinem Fall wahrzunehmen und für die Grundrechtsbeschwerde auf den Punkt zu bringen? Hier erscheinen die Möglichkeiten der Kontrolle durch den EuGH in Luxemburg deutlich wirkungsvoller. Er hat in seiner jüngeren Rechtsprechung die Möglichkeit geschaffen, in ganz unterschiedlichen Konstellationen zu einer recht allgemeinen Überprüfung der Unabhängigkeit der Justiz eines Mitgliedstaates zu kommen.62 59 EGMR, 13.2.2020 (GK), N.D. u. N.T. ./. ESP, Nr. 8675/15, Z. 200 ff. 60 EGMR, 25.6.2020, Moustahi ./. FRA, Nr. 9347/14; EGMR, 23.7.2020, M.K. u. a. ./. POL, Nr. 40503/17 u. a. 61 Die entsprechenden Gewährleistungen folgen aus Art. 6 EMRK, dazu z. B. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 29–65. 62 Vgl. u. a. EuGH 6.10.2015 – C-362/14, Rn. 95 – Schrems/Data Protection Commissioner; EuGH 28.3.2017
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Nicht zuletzt ist auch die Durchsetzungskraft eines Urteils aus Luxemburg im Kontext der EU wirkungsvoller als jene im Kontext der EMRK: man denke nur an Vertragsverletzungsverfahren. Der „gute Wille“, von dem bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen zuvor schon die Rede war, wird bei jenen Staaten, deren Rechtsstaatlichkeit „umgebaut“ wird, kaum vorhanden sein. Man müsste wohl von einer Überforderung des Konventionssystems sprechen, wollte man von ihm die Absicherung der Rechtsstaatlichkeit in den Konventionsstaaten im Krisenfall erwarten. Was die Konvention leisten kann, sind „Nadelstiche“ – eine Formulierung, die Angelika Nußberger, die ehemalige deutsche Richterin am EGMR, auch für Situationen gewählt hat, in denen Konventionsstaaten in eine illiberale Herrschaft gleiten.63
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– C-72/15, Rn. 73 – PJSC Rosneft Oil Company; EuGH 27.2.2018 – C-64/16, Rn. 36 – Associação Sindical dos Juízes Portugueses/Tribunal de Contas; EuGH 24.6.2019 – C-619/18, Rn. 55 – Kommission/Polen; EuGH 5.11.2019 – C-192/18, Rn. 103 – Kommission/Polen. In dieser Judikatur stellt der EuGH einen Konnex zwischen der Pflicht der Mitgliedstaaten, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, um einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu gewährleisten (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV), und der grundrechtlichen Gewährleistung des Art. 47 GRC her. Die Mitgliedstaaten sind danach verpflichtet, ein System von Rechtsbehelfen zu schaffen, mit dem eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleistet ist. Durch die Zusammenführung von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsschutz werden mehrere rechtsdogmatische „Effekte“ erzielt. Erstens werden auf diese Weise die Anforderungen an ein Gericht (auf Gesetz beruhend, bestimmte Organisationsgarantien und vor allem die Notwendigkeit der Unabhängigkeit) aus dem Grundrecht in die Bestimmung des Art. 19 Abs. 1 EUV „infiltriert“. Die über Jahre entwickelte Rechtsprechung des EuGH und des EGMR zu den Anforderungen an die Gerichtsqualität („Tribunal“) werden so für Art. 19 EUV fruchtbar gemacht. Auf diese Weise wird zweitens eine Kontrolle insbesondere der Unabhängigkeit eines mitgliedstaatlichen Gerichts durch den EuGH ermöglicht. Insbesondere können im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens oder auch eines Vertragsverletzungsverfahrens mögliche Verstöße gegen Art. 19 EUV (etwa wegen mangelnder Unabhängigkeit eines zuständigen nationalen Gerichts) geltend gemacht werden. 63 Angelika Nußberger, Europa, deine Menschenrechte, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ) (2020), 395.
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Katharina Pabel
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V. Zukunftsfragen europäischer Strategie
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Hat der Euro eine Zukunft? Nationale Kehrseiten einer europäischen Weltwährung I. Der Euro: eine Kurzbiografie Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs, der am 13. und 14. Dezember 1996 in Dublin zusammenkam, diskutierte vor allem ein Thema: den Beginn der Europäischen Währungsunion, die als „europäische Antwort auf die Globalisierung“ gedacht war, wie der deutsche Finanzminister Theo Waigel rückblickend formulierte.1 Die in der irischen Hauptstadt versammelten Staatsleute wollten demonstrieren, dass die Gemeinschaftswährung, auf die man sich 1992 im Vertrag von Maastricht geeinigt hatte, Gestalt annahm. Als greifbares Zeichen der Fortschritte, die man auf dem Weg zum Euro erzielt hatte, wurden in Dublin und zeitgleich am Sitz der künftigen Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt die Entwürfe für die Geldscheine der neuen Währung präsentiert. Die Banknoten, vom grünlichen Fünf-Euro-Schein bis zum (später wieder abgeschafften) violetten 500-Euro-Schein, sollten in Umlauf kommen, sobald die Mitgliedsstaaten alle Beitrittskriterien erfüllt und eine Vorlaufzeit von drei Jahren durchschritten hatten; in dieser Übergangsperiode würde die europäische Währung zunächst als Buchgeld existieren, ehe sie dann auch in bar verfügbar sein und sich nach der Vorstellung ihrer Schöpfer rasch als Weltreservewährung in Ergänzung und Konkurrenz zum US-Dollar bewähren sollte. Die stilisierten Fenster und Tore, die auf der Vorderseite der Geldscheine zu sehen waren, standen für Europas „Geist der Offenheit“, wie der designierte erste EZB-Präsident, der Niederländer Wim Duisenberg, erklärte. Die Brücken auf der Rückseite symbolisierten den „Weg der Kommunikation“ innerhalb der EU, aber auch mit anderen Teilen der Welt. Man habe den „Vorabend der Geburt einer einheitlichen Währung“ erlebt, verkündete der Europäische Kommissar für Wirtschaft, Währung und Finanzen Yves-Thibault de Silguy optimistisch.2 Hinter den Kulissen ging es allerdings weniger zukunftsgewiss und harmonisch zu. Der deutsche Finanzminister Theo Waigel forderte, die bereits beschlossenen Beitrittskriterien (Stabilität von Preisniveau, Haushalt, Wechselkurs und langfristigen Zinssätzen) durch möglichst verbindliche Vereinbarungen über die Fiskalpolitik der Mitgliedsstaaten nach Beginn der Währungsunion zu ergänzen. Er verlangte Sanktionen, sollte das Haushaltsdefizit eines Landes die in Maastricht vereinbarte Obergrenze von 3 % des Brut1 Theo Waigel, Ehrlichkeit ist eine Währung, Berlin 2019, 247. 2 Zitate aus: Der Spiegel 51/1996, 80–81.
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toinlandsproduktes überschreiten. In Frankreich und anderswo regte sich Widerstand. Der ehemalige Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing beklagte in der Nationalversammlung deutsche Vormachtgelüste und forderte: „Zusammenarbeit ja! Unterwerfung nein!“3 In Dublin spitzte sich die Auseinandersetzung auf die Frage zu, ob Strafen für Verstöße gegen die Defizitregeln automatisch fällig werden sollten (wie die Deutschen und Niederländer verlangten) oder nur auf ausdrücklichen Beschluss der Regierungen (das war die Position der meisten anderen Länder unter Führung Frankreichs). Zudem war strittig, unter welchen Bedingungen ein Land, das unter einer Rezession litt, Ausnahmen von der DreiProzent-Regel erwarten durfte.4 So kleinteilig diese Fragen erscheinen, so heftig waren sie umkämpft. Zeitzeugen berichteten, zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac sei es fast zu einem Handgemenge gekommen.5 Waigel erinnerte sich später, der niederländische Ministerpräsident Wim Kok habe daneben gestanden und gerufen: „Helmut, gib nicht nach!“6 Die Vehemenz der Kontroverse wird nur verständlich, wenn man bedenkt, dass im Gewand der Detailregelungen Grundsatzfragen ausgefochten wurden. Zwar stand seit 1992 fest, dass es eine europäische Gemeinschaftswährung geben werde. Wann sie beginnen würde, welche Länder ihr angehören könnten, wie sie im Einzelnen funktionieren und welchen Zielsetzungen sie dienen sollte, war jedoch 1996 noch offen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat sich die zeithistorische Forschung bisher kaum mit diesen Fragen beschäftigt.7 Das hat mit dem beschränkten Aktenzugang zu tun, aber auch mit dem sperrigen und technischen Charakter der europäischen Gemeinschaftswährung. Im Mittelpunkt des Interesses standen, wenn überhaupt, meist innereuropäische Entwicklungen in der „Wendezeit“ um 1989/90.8 Mit Blick auf die Währung ging es dabei zumeist um den „Weg nach Maastricht“ und die Frage, ob der Euro der „Preis für die Wiedervereinigung“ war.9
3 Zitiert nach: Die Zeit 50/1996, 6. 12. 1996. 4 Pierre de Boissieu u. a., National Leaders and the Making of Europe. Key Episodes in the Life of the European Council, London 2015, Kapitel 10 (Which Road to Fiscal Rectitude for the Euro), 155–162. 5 David Marsh, The Euro. The Battle for the New Global Currency, New Haven–London 2011, 201. 6 Waigel, Ehrlichkeit, 239. 7 Drei Ausnahmen mit ganz unterschiedlichen Deutungen des europäischen Einigungsprozesses sind John Gillingham, European Integration 1950–2003. Superstate or New Market Economy?, Cambridge/Mass. 2003; Wilfried Loth, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt–New York 2014; Michael Gehler, Europas Weg. Von der Utopie zur Zukunft der EU, überarbeitete Neuauflage Innsbruck–Wien–Bozen 2020. 8 Kristina Spohr, Wendezeit. Die Neuordnung der Welt nach 1989, München 2019; Michael Gehler/Maximilian Graf (Hrsg.), Europa und die deutsche Einheit. Beobachtungen, Entscheidungen und Folgen, Göttingen 2017. 9 Kenneth Dyson/Kevin Featherstone, The Road to Maastricht. Negotiating Economic and Monetary Union, Oxford 1999; Wilfried Loth, Helmuth Kohl und die Währungsunion, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), Heft 1, 455–480; Dominik Geppert, Der Euro. Geburt aus dem Geist der Wiedervereinigung?, in: Tilman Mayer (Hrsg.), In der Mitte Europas. Deutschlandforschung aus nationaler und internationaler Perspektive, Berlin 2016, 9–29.
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Der folgende Beitrag setzt die Akzente anders und nimmt zwei bisher weniger beachtete Punkte genauer in den Blick: einerseits die Beharrungskraft nationaler Traditionen und andererseits die globale Dimension des Euro. Zum einen betone ich die Persistenz nationaler Denkschablonen und Wahrnehmungsmuster und analysiere, welche Handlungszwänge und Spannungslagen sich daraus unter den Rahmenbedingungen einer gemeinsamen Institutionenordnung ergaben.10 Zum anderen frage ich, wie Weltwirtschaft und transnationale Finanzströme die Konzeption, Implementierung, Erhaltung und Gefährdung des Euro beeinflussten.11 Mit Blick auf die nationalen Pfadabhängigkeiten einerseits sowie die globalen Ermöglichungsbedingungen und Gefährdungsfaktoren des Euro andererseits lassen sich vier Phasen unterscheiden: In der ersten Phase vom Ende des Bretton-Woods-Systems Anfang der 1970er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre stellten die Turbulenzen im internationalen Währungssystem ein wichtiges, wenn auch nicht das entscheidende Motiv für die verschiedenen Anläufe dar, nationale Ansätze zu überwinden und zu einer einheitlichen europäischen Währungspolitik zu gelangen; diese Bemühungen mündeten schließlich in die schwierige Geburt des Maastricht-Vertrags. In einer zweiten Phase bis 2007/2008 trugen ungleich günstigere weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen dazu bei, dass nationale Traditionen und Sichtweisen weniger bedeutsam erschienen und der Euro eine vergleichsweise behütete Kindheit erlebte. Das änderte sich in der dritten Phase seit der von den USA ausgehenden globalen Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise, die auf brachiale Weise die Konstruktionsmängel der europäischen Gemeinschaftswährung offenlegte, fortbestehende nationale Diskrepanzen durchscheinen ließ, Disparitäten zwischen den Mitgliedsstaaten verschärfte und dafür sorgte, dass die Gemeinschaftswährung eine unruhige Adoleszenz zu durchleben hatte. Eine vierte Phase begann schließlich mit der Corona-Krise. Sie weckte einerseits die Befürchtung, nationale Ungleichgewichte, insbesondere zwischen den weniger stark verschuldeten Staaten Nordeuropas und den Hochschuldenländern Südeuropas, würden durch die Pandemie verschärft. Andererseits bewirkte sie mit der französisch-deutschen Initiative eines Hilfsfonds, der nicht durch Beiträge der einzelnen Mitgliedsstaaten, sondern über die Aufnahme gemeinsamer europäischer Schulden finanziert wird, einen weiteren Vergemeinschaftungsschub. Das führt zu der abschließenden Frage, ob der Euro nach glücklicher Kindheit und traumatischer Adoleszenz das Leben eines gesunden Erwachsenen führen kann oder ob ihm eine Zukunft als chronischer Pflegefall blüht.
10 Ich setze damit Beobachtungen fort, die ich an anderer Stelle begonnen habe; siehe Dominik Geppert, Die europäische Union in historischer Perspektive, in: Gregor Kirchhof u. a. (Hrsg.), Von Ursprung und Ziel der Europäischen Union, 2. Auflage, Tübingen 2016, 29–43. 11 Vgl. hierzu die knappen Vorüberlegungen in: Dominik Geppert, Eine europäische Währung in einer globalisierten Welt, in: Andreas Fahrmeir (Hrsg.), Deutschland. Globalgeschichte einer Nation, München 2020, 798–802.
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II. Eine komplizierte Schwangerschaft Sucht man nach den Triebkräften für die Entstehung einer europäischen Gemeinschaftswährung, so stößt man auf eine knappe Handvoll strategischer Grundüberlegungen. Hierzu zählen erstens der Wunsch nach einer Vertiefung der deutsch-französischen Verständigung; zweitens das Bedürfnis nach Einhegung des ökonomischen und währungspolitischen Übergewichts der Bundesrepublik Deutschland in Europa; und drittens das Bestreben, Wechselkursrisiken zu minimieren, um auf diese Weise das Wirtschaftswachstum sowie den innereuropäischen Handel zu stärken.12 Daneben spielte viertens schon früh auch der Wunsch eine Rolle, eine europäische Ergänzung oder Gegenmacht zum US-Dollar als globaler Leitwährung zu schaffen und mit ihrer Hilfe den europäischen Kapitalverkehr in einer volatilen Währungswelt auf ein berechenbares und belastbares Fundament zu stellen.13 Entsprechend intensivierten sich die Diskussionen über eine europäische Gemeinschaftswährung meist dann, wenn das Weltwährungssystem von Erschütterungen heimgesucht wurde. In den späten 1960er Jahren geriet der Dollar durch die Kosten des amerikanischen Vietnamkrieges und durch das daraus resultierende hohe Haushaltsdefizit in die Krise. Auf dem Dollar basierte jedoch das System fester Wechselkurse von Bretton-Woods, dessen Zusammenbruch sich nun abzuzeichnen begann. Damit stellte sich auch für die Mitgliedsstaaten der EG verschärft die Frage nach einer Absicherung gegen starke Wechselkursschwankungen, die – wie vor allem die kontinentaleuropäischen Länder überzeugt waren – zu einer Destabilisierung der Wirtschaft beitrugen. Vor diesem Hintergrund entstanden erste Ansätze zur Schaffung einer europäischen Währungsunion: Der 1970 veröffentlichte Werner-Plan sah die stufenweise Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion bis 1980 vor. Er scheiterte nicht nur an den erwähnten wirtschaftlichen und währungspolitischen Turbulenzen, sondern auch an unterschiedlichen Vorstellungen in Paris und Bonn, wie eine monetäre Integration am besten zu verwirklichen sei, wobei sich unterschiedlich gelagerte Interessen einerseits und verschiedenartige Währungskulturen andererseits überlagerten und gegenseitig verstärkten. Länder mit Leistungsbilanzüberschüssen wie die Bundesrepublik oder die Niederlande verlangten eine Konvergenz der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Vorstellungen in den prospektiven Mitgliedsländern als Voraussetzung einer Währungsunion, die sie sich als krönenden Abschluss des Integrationsprozesses vorstellten – das war die sogenannte Krönungstheorie der „Ökonomisten“. Länder wie Frankreich oder Belgien, die Defizite in der Leistungsbilanz aufgebaut hatten, plädierten für den umgekehrten Weg einer raschen Fixierung der Wechselkurse als Voraus12 Vgl. hierzu ausführlicher: Dominik Geppert, Ein Europa, das es nicht gibt. Die historische Sprengkraft des Euro, München 2013. 13 Hierzu und zum Folgenden siehe Harold James, Making the European Monetary Union, Cambridge/Mass. – London 2012, besonders 387.
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setzung wirtschaftlicher und politischer Angleichungsprozesse, die sich als Folge einer gemeinsamen Währung dann gleichsam automatisch einstellen würden.14 In der Vorstellungswelt dieser „Monetaristen“ (nicht zu verwechseln mit den Anhängern Milton Friedmans, die ebenfalls als „Monetaristen“ bezeichnet wurden) war die gemeinsame Währung nicht Krönung, sondern Lokomotive des europäischen Integrationsprozesses (die sogenannte Lokomotivtheorie). Nachdem man als Kompromiss versucht hatte, beide Theorien miteinander zu verbinden, zerplatzte der Plan schließlich an der französischen Weigerung, zusätzliche Gemeinschaftskompetenzen in der Währungspolitik zu schaffen und damit weitere Souveränitätsrechte abzugeben.15 Nach dem Scheitern des Werner-Plans und mit der Auflösung des Währungssystems von Bretton-Woods etablierten die EG-Staaten mit der sogenannten Währungsschlange 1972 gleichsam ein regionales Ersatzsystem, in dem sie ihre Währungen innerhalb gewisser Bandbreiten aneinanderbanden. In rascher Folge stattfindende Korrekturen, Austritte und Wiedereintritte setzten die Schlange jedoch immer wieder unter Druck und animierten die europäischen Staatsleute dazu, stabilere Formen der Zusammenarbeit zu suchen.16 Ende der 1970er Jahre wurden die Diskussionen erneut angeheizt. Wieder spielte der Verfall des Dollarpreises eine Rolle. Das Ergebnis war das 1979 ins Leben gerufene Europäische Währungssystem (EWS), das feste, aber anpassungsfähige Wechselkurse zwischen den Währungen der teilnehmenden Staaten vorsah.17 Anders als in der Währungsschlange sollte es im EWS nicht nur einseitige Anpassungen des Wechselkurses geben, sondern ein solidarisches System koordinierter Auf- und Abwertungen. Über den reinen Wechselkursmechanismus hinaus wurde mit dem ECU erstmals eine europäische Währungseinheit geschaffen. Außerdem gab es nun keinen externen Anker mehr, die Bindung an den Dollar entfiel, was im Endeffekt dazu führte, dass sich die D-Mark als interne Leitwährung im EWS etablierte. Auch für dieses System blieben die Schwankungen des Dollarkurses in den 1980er Jahren jedoch von Bedeutung: in der ersten Hälfte der Dekade stieg der Dollar stark, danach sank er drastisch, mit einem Tiefpunkt während der amerikanischen Rezession 1990/91. Das wirkte sich besonders auf die D-Mark aus, die sich zu einer international gehandelten 14 Vgl. etwa Heinz Handler, Vom Bancor zum Euro. Die Beispielwirkung des IWF für die europäische Währungsintegration, in: Michael Gehler/Marcus Gonschor (Hrsg. unter Mitarbeit von Severin Cramm und Miriam Hetzel), Banken, Finanzen und Wirtschaft im Kontext europäischer und globaler Krisen. Hildesheimer Europagespräche III (Historische Europa-Studien 11), Hildesheim–Zürich–New York 2015, 23–85, hier 47–48. 15 Andreas Wilkens, Der Werner-Plan. Währung, Politik und Europa 1968–1971, in: Franz Knipping/Matthias Schönwald (Hrsg.), Aufbruch zum Europa der zweiten Generation. Die europäische Einigung 1969–1984, Trier 2004, 217–244. 16 Hans Tietmeyer, Der Euro – seine Geschichte und die Chancen seiner Zukunft, in: Gehler u. a. (Hrsg.), Banken, 115- 162, hier 117. 17 Vgl. Peter Ludlow, The Making of the European Monetary System. A Case Study of Politics in the European Community, London 1982; Emmanuel Mourlon-Druol, A Europe Made of Money. The Emergence of the European Monetary System, Ithaca–New York 2012.
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Anlage- und Reservewährung entwickelte und damit als eine Anlagealternative zum Dollar fungierte: Ein Verfall des Dollarkurses machte eine Anlage in D-Mark attraktiver. Die dadurch erhöhte Nachfrage trieb den Kurs der D-Mark in die Höhe, was wiederum die anderen Währungen im EWS unter Druck setzte. In Kombination mit der Hochzinspolitik der Bundesbank im Gefolge der deutschen Wiedervereinigung kam es zu erheblichen Transfers aus dem Dollar in die D-Mark. Die spekulativen Zuflüsse führten zu einer Überbewertung der deutschen Währung und machten deutsche Exporte teurer. Darüber hinaus zogen sie auch die französische Exportwirtschaft in Mitleidenschaft. Denn die französische Zentralbank hatte den Franc an die D-Mark gekoppelt, teils mit dem Ziel der Inflationsbekämpfung, teils um aus Prestigegründen mit der D-Mark gleichzuziehen und eine spätere Währungsunion zu ermöglichen.18 Faktisch bestimmte die Bundesbank die Richtlinien der Geldpolitik nicht nur für die Bundesrepublik, sondern auch für die anderen Mitgliedsländer, deren Zentralbanken den Vorgaben aus Frankfurt folgten. Als Hüterin der informellen Leitwährung im Rahmen des EWS hatte sie in gewisser Weise weniger zur Aufrechterhaltung der Parität beizutragen als die Zentralbanken von Ländern mit schwächerer Währung. Diese Zentralbanken kauften in währungsstarken Zeiten D-Mark-Bestände und verkauften diese in aller Regel bei drohender Schwächung zur Stützung ihrer Währung, schon bevor die förmliche Grenze zur Intervention erreicht wurde, an der dann auch die Bundesbank zum Eingreifen verpflichtet gewesen wäre.19 Dennoch musste der Franc in den 1980er Jahren gegenüber der D-Mark erneut drei Mal abgewertet werden. Insgesamt verlor er zwischen 1975 und 1995 gegenüber der DMark um 48 % an Wert.20
III. Eine glückliche Kindheit Anders als in den 1970er Jahren gelang in den Weltwährungsturbulenzen Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre der Durchbruch zu einer europäischen Währung. Werner-Plan und Währungsschlange waren nicht zuletzt durch das Ende von Bretton Woods und die erste Ölkrise gescheitert. Die zweite Weltwirtschaftskrise 1979 hatte das EWS gleich nach seiner Entstehung geschwächt und alle Versuche, es zu einer gemeinsamen europäischen Währung auszubauen, im Keim erstickt. Dass die Pläne für eine umfassende Europäische Währungsunion zehn Jahre später nicht ein ähnliches Schicksal erlitten, lag maßgeblich an politischen Erwägungen. Mit Helmut Kohl und François Mitterrand verfügten die politischen Prota18 Dyson/Featherstone, Road to Maastricht; James, European Monetary Union, 181–209. 19 Loth, Helmut Kohl und die Währungsunion, 456–457; Horst Ungerer, A Concise History of European Monetary Integration. From EPU to EMU, Westport/Ct. 1997, 163. 20 Zahlen nach Sieghard Rometsch, Die Euro-Rettung ist gefährlich, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.5.2013.
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gonisten anders als zehn Jahre zuvor Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing über keinen ausgeprägten ökonomischen Sachverstand. Sie straften technische Details eher mit Nichtachtung und waren entschlossen, ihre Pläne auch gegen Widerstände der Fachleute durchzusetzen. Es lag durchaus in der Logik der französischen Europapolitik, dass man in Paris daran interessiert war, die D-Mark zu vergemeinschaften und damit die währungspolitische Hegemonie der Bundesbank zu brechen. Dieser französische Wunsch war keine Reaktion auf die deutsche Wiedervereinigung, sondern schon in den 1980er Jahren Ziel der Pariser Politik. Die Vergemeinschaftung der D-Mark war das beharrlich verfolgte strategische Ziel der französischen Europapolitik, für das Präsident Mitterrand und seine Nachfolger große soziale und ökonomische Kosten in Kauf nahmen – am dramatischsten im Kampf um den Verbleib des Franc im EWS 1992/93, als Abwertungsdruck den Verbleib in den vorgeschriebenen Bandbreiten der Wechselkurse gefährdete.21 Für die Bundesregierung stellte die Frage der Europäischen Währungsunion in erster Linie kein wirtschaftliches Problem dar, sondern ein politisches. Es ging ihr um die deutsch-französischen Beziehungen, um die Glaubwürdigkeit der deutschen Europapolitik und darum, die Sorge der anderen Europäer, insbesondere der Franzosen, vor einer Abwendung der Deutschen von der EG zu zerstreuen. Zugleich spielte immer auch das Bestreben der FDP eine Rolle, sich parteipolitisch als Europa-Partei und als Triebkraft entsprechender Projekte in der bürgerlichen Koalition zu profilieren. Somit standen vor allem Überlegungen der zwischenstaatlichen Beziehungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, speziell das Kräfteverhältnis zwischen Deutschland und Frankreich, im Mittelpunkt. Aber auch das Bestreben, die Abhängigkeit vom Dollar zu verringern, blieb ein Motiv. Insofern stand Unbehagen angesichts der Vormacht des Dollars im internationalen Währungssystem durchaus als Pate an der Wiege des Euro.22 Außerdem trug auch die institutionelle Gestaltung der Währungsunion dazu bei, dass die europäische Gemeinschaftswährung damals tatsächlich auf den Weg gebracht wurde. Zwischenzeitlich fand auch außerhalb der Bundesrepublik die Konzeption einer unabhängigen Notenbank breitere Unterstützung. Nach dieser Vorstellung wurde die Notenbank von den Einflüssen der Politik frei gehalten: sie war nur auf den Erhalt des Geldwertes ausgerichtet und sollte sich auf keine anderen Aufgaben – etwa in der Konjunktur- oder Arbeitsmarktpolitik – einlassen.23 Insbesondere in Frankreich, aber auch in Großbritannien, gewann die Einschätzung an Boden, die Bundesbank sei in den zurückliegenden Jahrzehnten erfolgreicher gewesen als die eigenen Zentralbanken, die bis dahin dem französischen Finanzministerium beziehungsweise dem britischen Schatzamt unterstanden. Zwar gab es in Paris wie in London auch Kritiker und Gegenwehr, dennoch gelang es in den 1990er Jahren, die EZB auf der Grundlage dieses neuen Konsenses nach dem deutschen Modell zu entwerfen. Die Übertragung 21 Siehe Marsh, Battle, 168–181. 22 James, European Monetary Union, 387. 23 Hierzu und zum Folgenden ebd., 265–323.
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des Bundesbankmodells auf die neue europäische Institution erleichterte es dem deutschen Bundeskanzler, eine misstrauische deutsche Öffentlichkeit davon zu überzeugen, der Euro werde so stabil und erfolgreich sein wie die D-Mark. Außerdem war es für die besonders skeptischen Bundesbanker unter diesen Umständen schwierig, die neue Institution rundweg abzulehnen, zumal man in den 1990er Jahren auch in Frankfurt zunehmend von der Sorge geplagt wurde, der deutsche Export werde durch ständige Abwertungen in EU-Ländern mit schwächerer Währung in Mitleidenschaft gezogen.24 Hinzu kam im Kontrast zu den 1970er Jahren Rückenwind, nicht Gegenwind aus der Weltwirtschaft. Besonders wichtig war ironischerweise, dass der Dollar seit 1995 wieder an Wert gewann. Das verringerte die spekulativen Kapitalzuflüsse nach Deutschland, schwächte die DMark, stärkte den deutschen Export und gestattete es der Bundesbank, die Zinsen zu senken. In der Folge ermöglichte das Ende der deutschen Hochzinspolitik seit langem herbeigesehnte Zinssenkungen in anderen europäischen Ländern, vor allem in Frankreich. Der Run auf den Dollar in Bill Clintons zweiter Amtszeit, so hat der britische Finanzjournalist David Marsh einmal bemerkt, habe faktisch die Europäische Währungsunion gerettet: eine ironische Wendung, wenn man bedenkt, dass ein wesentliches Motiv des Projekts darin bestand, die europäische Abhängigkeit von den Launen der amerikanischen Geldpolitik zu mindern.25 Trotz der günstigen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen fiel es fast allen künftigen Mitgliedsstaaten der Währungsunion schwer, die Maastricht-Kriterien zu erfüllen. Vielerorts griff man zu Methoden kreativer Buchführung, um in der ersten Runde, die 1999 beginnen sollte, dabei zu sein. Die statistischen Manipulationsversuche steigerten zwar nicht gerade das öffentliche Vertrauen in das Projekt, doch stellten sie sicher, dass bis auf Griechenland alle elf zum Beitritt entschlossenen Länder die Kriterien (mit Abstrichen bei der italienischen Staatsschuld) formal erfüllten, und Anfang 1999 gemeinsam in die neue Währung starten konnten. Als der Euro zum 1. Januar 2002 als Bargeld in Umlauf kam, war auch Griechenland dabei, das in der Zwischenzeit erhebliche Anstrengungen unternommen hatte, die Beitrittsbedingungen zu erfüllen oder – wie sich im Nachhinein herausstellte – in den vorgelegten Bilanzen wenigstens diesen Anschein zu erwecken vermochte. Für den weiteren Gang der Dinge war entscheidend, dass sich die verschiedenen Mitgliedsstaaten in den ersten Jahren der Währungsunion unterschiedlich entwickelten. Länder mit zuvor eher schwachen Währungen profitierten von niedrigeren Zinsen. In Deutschland hingegen erfüllten sich die Erwartungen, die man in die Gemeinschaftswährung gesetzt hatte, zunächst nicht. Das Land litt unter schwachen Wachstumsraten und hoher Arbeitslosigkeit. Die Probleme hatten überwiegend strukturelle Ursachen. Sie hingen aber zum Teil auch mit dem überhöhten Wechselkurs zusammen, zu dem das Land in die Währungsunion eingetreten war. Insofern stimmt die These, die Deutschen hätten wie niemand sonst wirtschaftlich vom Euro profitiert, für die Zeit bis etwa 2005 nicht. 24 So auch Loth, Europas Einigung, 319. 25 Marsh, Battle, 183.
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In dieser Situation reformierte die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder Arbeitsmarkt und Sozialstaat.26 Die Gewerkschaften übten über Jahre hinweg Zurückhaltung bei den Lohnabschlüssen. Viele Deutsche arbeiteten bei gleichem, teilweise sinkendem Realeinkommen länger, während in anderen Ländern der Währungsunion die Löhne stiegen. Umgekehrt blieben die Strukturreformen weitgehend aus, von denen man gehofft hatte, dass sie in Weichwährungsländern als Folge der Einführung des Euro durchgeführt würden. Die verringerten Zinslasten wurden kaum oder gar nicht zum Abbau der Staatsverschuldung genutzt. Stattdessen stiegen in einigen Ländern, beispielsweise in Griechenland, die Staatsausgaben. Anderswo, etwa in Spanien oder Irland, verschuldeten sich die privaten Haushalte. Die Ursache war in beiden Fällen dieselbe: In Ländern, die an hohe Inflationsraten und Zinssätze gewöhnt waren, konnten Regierungen, Unternehmen und Privatleute nach der Einführung des Euro mit einem Mal zu historisch günstigen Konditionen Geld leihen. Anders als erhofft, glichen sich die Wirtschaftsmodelle in der Eurozone nicht einander an. Im Gegenteil: die Wettbewerbsfähigkeit der verschiedenen Mitgliedstaaten der Währungsunion driftete auseinander.
IV. Eine schwierige Jugend Unter den weltwirtschaftlichen Bedingungen der späten 1990er und frühen 2000er Jahre fielen die volkswirtschaftlichen Disparitäten im Euroraum nicht weiter auf. Das änderte sich, als nach 2007 die von den USA ausgehende Weltwirtschafts- und Finanzkrise mit aller Wucht auf Europa durchschlug. Dabei waren das Zerplatzen der Immobilienblase in den USA und die Insolvenz der Lehman-Bank 2008 nur Anlass, aber nicht Ursache für die Schwierigkeiten in der EU.27 Die globalen Finanzmärkte, deren Größe und Transaktionsgeschwindigkeit durch Deregulierung und Globalisierung seit den 1990er Jahren immer stärker außer Kontrolle geraten waren, spitzten die Notlage zu. Nachdem die Märkte die unterschiedlichen Risiken für Staatsanleihen in der Eurozone lange ignoriert hatten, verfielen sie ins andere Extrem und blieben gegenüber den eingeleiteten Rettungsmaßnahmen skeptisch. Daher sahen sich die verschuldeten Staaten vor allem in Europas Süden trotz ihrer zum Teil beträchtlichen Sparbemühungen mit weiter wachsenden Zinslasten konfrontiert. Das Kernproblem jedoch, das allen Schwierigkeiten in der Eurozone zugrunde lag, hatte mit den von Amerika ausgehenden Turbulenzen nichts zu tun. Mit der Einführung des Euro war innerhalb der Währungsunion ein System fester Wechselkurse etabliert worden. Damit verloren die Länder der Eurozone einen Mechanismus zur Anpassung an asymmetrische wirtschaftliche Schocks. Zusätzlich kompliziert wurde die Situation dadurch, dass sich die allgemeine Wertschätzung unabhängiger Zentralbanken als wenig dauerhaft erwies. In der Weltfinanzkrise seit 2008 setzte sich in vielen Staaten – von den USA über Großbritannien 26 Edgar Wolfrum, Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998–2005, München 2013, 528–583. 27 Adam Tooze, Crashed. Wie die Finanzkrise die Welt verändert hat, München 2013.
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bis Japan – wieder die Ansicht durch, im Zweifelsfall müsse es einen Vorrang der Politik geben. Die EZB bildete in dieser Hinsicht keine Ausnahme; dort stand der Bundesbankpräsident mit seinem Insistieren auf der im Maastricht-Vertrag festgeschriebenen Autonomie angesichts einer ausgeprägten Tendenz zur Politisierung der Währung oft genug isoliert da. Die Malaise des Euro war nicht zuletzt deswegen so hartnäckig, weil aufgrund unterschiedlich vorgeprägter nationaler Denkweisen weder über die Ursachen der Probleme noch über mögliche Auswege und wünschenswerte Zukunftsszenarien Einigkeit zu erzielen war (und ist).28 In gewisser Hinsicht waren die Diskrepanzen, die insbesondere zwischen französischen und deutschen Ansichten in der Euro-Krise auftraten, eine Wiederkehr der Kontroverse zwischen Ökonomisten und Monetaristen in neuem Gewand. Die föderale Tradition Deutschlands sah ein verbindliches Regelwerk als Rahmen der Konfliktaustragung in einem heterogenen Gemeinwesen vor. Frankreichs zentralstaatliches Erbe präferierte hingegen die Flexibilität und Handlungsfähigkeit einer starken Exekutive im Dienste des Allgemeinwohls. Für die ordoliberale Schule der deutschen Volkswirtschaftslehre war der Grundsatz der Haftung wichtig. In der französischen Denkweise blieb die revolutionäre Parole der Solidarität der Starken für die Schwachen bestimmend. Französische Ökonomen interpretierten die Schulden von Banken oder Staaten eher als vorübergehende Liquiditätsprobleme, die durch Interventionen des Staates überwunden werden können. Ihre deutschen Kollegen tendierten dazu, die Solvenz der betreffenden Institute oder Länder in Frage zu stellen. Daraus ergaben sich in Krisensituationen gegensätzliche Handlungsempfehlungen: im deutschen Fall für Sparmaßnahmen, um grundlegende Verhaltensänderungen zu bewirken; aus französischer Sicht gegen scharfe Einschnitte, die Liquiditätsschwierigkeiten angeblich verschlimmern und tatsächliche Insolvenzen erst herbeiführen. Anglo-amerikanische Ökonomen schenkten Haftungsfragen weniger Aufmerksamkeit, veranschlagten die Gefahren des Moral Hazard geringer und forderten in Krisenlagen das tatkräftige Eingreifen des Staates. Sie lagen damit in wichtigen Streitfragen der Eurokrise näher bei der französischen als bei der deutschen Position. Diese Präferenzen helfen zu erklären, warum die diskursbestimmende Wirtschaftspresse englischer Sprache vom Wall Street Journal über die New York Times bis zum Economist und der Financial Times kaum Sympathien für deutsche Bedenken aufbrachte.
V. Langfristige Gesundung oder eine Zukunft als chronischer Pflegefall? Die verschiedenen national geprägten Interessen und Denkmuster waren auch entscheidend für die Bewertung der Veränderungen, die im Jahr 2020 als Reaktion auf die Corona-Pan-
28 So die These von Markus Brunnermeier/Harold James/Jean-Pierre Landau, Euro. Der Kampf der Wirtschaftskulturen, München 2018.
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demie stattfanden.29 Aus Sicht der Bundesregierung handelte es sich bei der gemeinsamen Schuldenaufnahme um eine einmalige Kraftanstrengung. Im Fokus stand eine gemeinsame Hilfsaktion, um den am stärksten von der Pandemie betroffenen Ländern wieder auf die Beine zu helfen – und die Disparitäten zwischen Deutschland und Südeuropa nicht noch größer werden zu lassen. In Paris, Rom und Madrid – oder auch in Brüssel – teilte man diese Ansicht nicht. Dort ging man eher davon aus, dass es unter dem Druck der Krise und mit dem Appell an Solidarität und Mitgefühl gelungen war, die Deutschen über ihren Schatten springen zu lassen, so dass sie (endlich) einer förmlichen und permanenten Transferunion zustimmten. Das Mittel der Wahl nannte man zwar mit Rücksicht auf Angela Merkel nicht Eurobonds (weil die Bundeskanzlerin das für ihre Lebenszeit ausgeschlossen hatte).30 Aber de facto liefen die Corona-Bonds aus französischer, italienischer oder spanischer Sicht genau darauf hinaus.31 Unterstützt wurde der Eindruck einer auf Dauer und Ausbau angelegten Schuldengemeinschaft durch die auch in Deutschland von führenden Politikern wie dem sozialdemokratischen Bundesfinanzminister Olaf Scholz zu vernehmende Rede von einem „Hamilton-Moment“ der europäischen Geschichte. Die Formulierung zielte – in Analogie zur Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika durch Begründung einer gemeinsamen Staatsschuld im Jahr 1790 – gleichsam auf die fiskalische Grundsteinlegung eines europäischen Staates.32 Kritiker verwiesen hingegen auf die Folgeprobleme der Schuldenföderalisierung in den USA.33 Sie konstatierten mit dem amerikanischen Wirtschaftshistoriker Harold James, die von Alexander Hamilton als US-Finanzminister vorangetriebene Fiskalunion habe sich „nicht als Bindemittel, sondern als explosiv“ erwiesen. Sie habe die Gläubiger in falscher Sicherheit gewiegt und zu übermäßig riskanten Investitionen verführt – mit dem Effekt, dass die entstandene Blase in der zweiten Hälfte der 1830er Jahre geplatzt sei. Zudem hätten der jungen Republik nicht nur handlungsfähige Institutionen zur Absicherung einer gemeinsamen Staatsschuld gefehlt, sondern auch ein Konsens (zwischen Nord- und Südstaaten) über gemeinsame Werte als moralische Grundlage der Union. Die Europäer, so Harold James, fänden heute Gefallen am praktischen Aspekt von Hamiltons Argumentation – also der Vorstellung, dass sich durch eine Vergemeinschaftung der Schulden günstigere Kredite aufnehmen lassen könnten. Eine Antwort auf die Frage der politischen Institutionen oder der gemeinschaftlichen Tugend der Bürger, die für Hamilton entscheidend war, hätten sie allerdings nicht gefunden.34 29 Als erste Bestandsaufnahme aus zeithistorischer Perspektive siehe Gehler, Europas Weg, 283–288; Ders., Europa wachte langsam auf, handelte verspätet und ringt weiter mit sich. Die EU und ihr Umgang mit der Corona-Krise 2020, in: Manfried Rauchensteiner/Michael Gehler (Hrsg.), Corona und die Welt von gestern, Wien 2021, 67–94, 272–276. 30 Siehe etwa Handelsblatt, 27.6.2012. 31 Hans-Werner Sinn, Der Corona-Schock. Wie die Wirtschaft überlebt, Freiburg/Breisgau 2020, 176–185. 32 Olaf Scholz, „Jemand muss vorangehen“, Interview in: Die Zeit 22/2020, 20.5.2020. 33 Sinn, Corona-Schock, 11–12. 34 Harold James, Alexander Hamilton und die Eurozone, in: Project Syndicate, 5.3.2012 https://www.projectsyndicate.org/commentary/alexander-hamilton-s-eurozone-tour/german (abgerufen 9.1.2021).
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Für die Europäische Union sind daher in den unterschiedlichen Sichtweisen auf Funktion, Dauer und Wesen der Corona-Bonds neue politische Konflikte vorprogrammiert: innerhalb der Bundesrepublik zwischen Befürwortern einer weitergehenden europäischen Integration im fiskalischen Bereich und Verfechtern strikterer Haushaltsdisziplin auf nationaler Ebene, aber vor allem auch zwischen den verschiedenen Mitgliedsländern der EU und der Eurozone, in erster Linie zwischen den stabilitätsorientierten Ländern mit Leistungsbilanzüberschüssen im Norden und den Staaten mit defizitärer Leistungsbilanz im Süden des Kontinents, die auf eine lange Geschichte der Schuldenbereinigung durch Inflationierung zurückblicken. Hat der Euro angesichts derartiger Konstellationen und Konfliktlagen eine Zukunft? Die Antwort lautet ziemlich eindeutig: „auf absehbare Zeit, ja“. Kein politischer Akteur in irgendeinem Land der Eurozone, der sich auch nur halbwegs in Sichtweite von Regierungsverantwortung befindet, macht sich derzeit für eine Abschaffung des Euro stark. Die Risiken und Folgekosten wären einfach zu groß. Die interessantere Frage lautet daher: Welche Zukunft hat der Euro? Drei Szenarien erscheinen möglich. Die wahrscheinlichste Variante ist der französische Weg: Darin wird der aus gemeinsamen Schulden finanzierte Corona-Hilfsfonds auf Dauer gestellt. Die Gelder werden mittel- und langfristig auch für Dinge ausgegeben, die nichts oder kaum etwas mit der Pandemie zu tun haben. Nicht umsonst haben sich die italienische und auch die französische Regierung heftig gegen eine enge Zweckbindung der Mittel gewehrt. Nicht zufällig weist der Verteilungsplan der EU-Kommission schon jetzt kaum eine erkennbare Beziehung zur Pandemie auf. Für den französischen Weg spricht auch die Beharrungskraft von Institutionen. Bisher bestehen alle aus den unterschiedlichsten Krisen geborenen Institutionen der EU bzw. der Eurozone fort. Sie entwickeln ein Eigenleben und finden neue Aufgaben, wenn die ursprünglichen erledigt sind. Für dieses Szenario spricht schließlich auch die Tatsache, dass die EU mit dem Austritt Großbritanniens einen großen Schritt hin zur Reduktion auf einen wirtschaftlich und fiskalisch festgezurrten Euroraum mit süd- und westeuropäischer Schlagseite getan hat.35 Aus deutscher Sicht hat der französische Weg all die Nachteile, die einmal gegen die Einführung von Eurobonds gesprochen haben: vom Moral Hazard über die damit verbundenen Inflationsgefahren bis zu dem verfassungsrechtlichen Problem, dass eine Gemeinschaftshaftung die Budgethoheit des Bundestages aushebelt, die im Grundgesetz mit einer Ewigkeitsgarantie versehen ist. Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften in einer global vernetzten Weltwirtschaft spielt in diesem Szenario eine untergeordnete Rolle. Sie ist jedoch für eine auf den Export orientierte Wirtschaft wie die deutsche von enormer und
35 Ein eloquentes Plädoyer für die französische Sichtweise – freilich vor der Corona-Krise – findet sich bei Sylvie Goulard, Währungsunion: Über den Euro hinaus?, in: Gregor Kirchof u. a. (Hrsg.), Europa: In Vielfalt geeint! 30 Perspektiven zur Rettung Europas vor sich selbst, München 2020, 249–262.
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wachsender Bedeutung. Schließlich liegen die Wachstumsmärkte vieler deutscher Unternehmen eher außerhalb als innerhalb der Eurozone.36 Der deutsche Weg würde daher nach der Überwindung der schlimmsten Pandemiefolgen möglichst rasch zu einem System fiskalischer Selbstverantwortung der beteiligten Länder zurückführen.37 Das heißt: keine europäische Arbeitslosenversicherung, möglichst rascher Rückbau des Kurzarbeitergeldes und keine gemeinsame Einlagensicherung im Bankwesen. Hierzu gehörte auch das, was der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble auf dem Höhepunkt der Griechenlandkrise 2015 offenbar im Sinn hatte: die Möglichkeit, dass ein Land vorübergehend aus der Währungsunion ausscheidet, um sich mit einer abgewerteten Währung neu aufzustellen und später gegebenenfalls mit einem günstigeren Wechselkurs wieder dem Euro beizutreten. Eine „atmende Währungsunion“ hat der Ökonom Hans-Werner Sinn das genannt.38 Dieses Szenario ist unwahrscheinlicher als die Fortsetzung des französischen Weges, aber immer noch wahrscheinlicher als das dritte Szenario, das hier zu skizzieren ist: der große deutsch-französische Tauschhandel. Ein solches Tauschgeschäft würde zu der ursprünglichen Idee zurückführen, dass eine Wirtschafts- und Währungsunion nur zusammen mit einer Politischen Union funktionieren kann – also im Rahmen der Gründung eines europäischen Staates mit einer europäischen Regierung, mit einem europäischen Parlament, das diese Regierung bestimmt und kontrolliert, mit einem europäischen Gewaltmonopol nach innen und außen, also auch mit einer europäischen Armee und einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik. François Mitterrand hat Mitte der 1980er Jahre einmal vorsichtige Anzeichen von sich gegeben, zu einem derartigen Tauschhandel bereit zu sein. D-Mark gegen Force de frappe hätte das Geschäft damals gelautet.39 Ob das Angebot ernst gemeint war, wurde von deutscher Seite nie ausgelotet, auch weil im Zuge des weltpolitischen Umbruchs 1989/90 die Fragen von Währungsunion auf der einen und Politischer Union auf der anderen Seite in Form zweier unterschiedlicher Regierungskonferenzen entkoppelt wurden – mit dem Ergebnis, dass die Währungsunion Realität wurde und die Politische Union nicht. Heute würde das Geschäft womöglich auf einen Tausch von einer echten Fiskalunion, wie Frankreich sie seit langem wünscht, gegen eine echte Politische Union hinauslaufen, von der bisher noch jede Bundesregierung behauptet hat, sie bleibe das deutsche Fernziel.
36 Ein entschiedener Verfechter des deutschen Standpunkts ist Ottmar Issing, Ökonomie: Wirtschaft und Währung – Irrwege der europäischen Integration, ebd., 397–423. 37 Zum Folgenden siehe auch Sinn, Corona-Schock, 186–199. 38 Erstmals in: Hans-Werner Sinn, Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel, München 2015. 39 Siehe Hans-Peter Schwarz, Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München 2012, 419–439.
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VI. Zusammenfassung Dass es zu einem derartigen Tauschhandel vermutlich nicht kommen wird, unterstreicht noch einmal die fortbestehende Bedeutung unterschiedlicher Denkmuster und Wahrnehmungsweisen, wenn es um Aufgaben und Funktionen der europäischen Gemeinschaftswährung geht. Blickt man zurück auf die mehr als ein halbes Jahrhundert andauernden Diskussionen um die Einführung einer europäischen Währung – vom Werner-Plan 1970 über die Einführung des EWS 1979, den Vertrag von Maastricht 1992 und den Dubliner Gipfel 1996 bis zur europäischen Staatschuldenkrise seit 2010 –, so fällt auf, wie wenig sich die national vorgeprägten Argumentationsmuster und Wahrnehmungsweisen verändert haben.40 Auf dem zu Beginn dieses Beitrags beschriebenen Gipfel von Dublin schimpfte der französische Präsident den Bundesfinanzminister einen „deutschen Technokraten“, dem man in einer eminent politischen Frage wie der Währung nicht das letzte Wort überlassen dürfe.41 Der Präsident der deutschen Volks- und Raiffeisenbanken hingegen spottete, jedermann wisse, „daß die Franzosen Weltmeister in Sachen Kosmetik sind und die Italiener etwas von gefälligem Design verstehen“, aber das dürfe sich nicht auf die Währungsunion auswirken.42 Die deutsche Position blieb, ähnlich wie in der Eurokrise seit 2010, auf den rechtlichen und institutionellen Rahmen fixiert.43 Sie folgte einem Primat der Stabilität und setzte auf fachliche Expertise statt politischer Anleitung. Prägende historische Erfahrungen waren die lange föderalistische Tradition und das Trauma der Geldentwertung nach zwei verlorenen Weltkriegen im „Jahrhundert der Inflationen“44. In den französischen Vorstellungen hatte die Sozialpolitik Vorrang vor der Währungspolitik, um einen Primat der „Politik“ gegenüber der „Wirtschaft“ zu sichern und der universalistischen Zivilisations- und Fortschrittsidee der französischen Republik mit ihrem Leitgedanken zentralstaatlicher demokratischer Kontrolle und Legitimation gerecht zu werden. Historische Währungserfahrungen als Bestandteile des kollektiven Gedächtnisses einer Nation, so hat es Bernhard Löffler einmal formuliert, müssen sich in bestimmten handfesten 40 Vgl. allgemein zur Langlebigkeit historischer Währungserfahrungen als Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses von Nationen Bernhard Löffler, Währungsgeschichte als Kulturgeschichte? Konzeptionelle Leitlinien und analytische Probleme kulturhistorischer Ansätze auf wirtschafts- und währungsgeschichtlichem Feld, in: Ders. (Hrsg.), Die kulturelle Seite der Währung. Europäische Währungskulturen, Geldwerterfahrungen und Notenbanksysteme im 20. Jahrhundert (Beiheft der Historischen Zeitschrift 50), München 2010, 3–35. 41 Waigel, Ehrlichkeit, 238. 42 Zitiert in: Die Zeit 50/1996, 6. 12. 1996; allgemein zu den deutsch-französischen Gegensätzen vgl. Bernhard Löffler, „Eine Art Religionskrieg“. Argumentationsmuster, Diskursstrategien und politische Symbolik in den deutsch-französischen Debatten um die Einführung des Euro, in: Ders. (Hrsg.), Die kulturelle Seite, 123–168. 43 Siehe hierzu und zum Folgenden Löffler, Religionskrieg. 44 Erwin Hielscher, Das Jahrhundert der Inflationen in Deutschland. Ein Beitrag aus der Bundesrepublik Deutschland, München–Wien 1968; zur Bedeutung der föderalistischen Tradition siehe Dominik Geppert, The Power of History. British and German Views of the European, National and Imperial Past, in: Contemporary European History 28 (2019), Heft 3, 14–18.
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Institutionen wie einem Notenbank- und Währungssystem gleichsam materialisieren und verdichten, um dauerhaft Wirkung entfalten zu können. Andersherum bedürften solche Institutionen ihrerseits einer Legitimierung durch ideelle Grundlagen und tradierte Gewissheiten, um im politischen oder wirtschaftlichen Alltag Akzeptanz gewinnen zu können.45 Hier liegt aus historischer Perspektive eine wichtige Schwäche der europäischen Währung. Insofern waren die europäischen Münzen, die zusammen mit den Banknoten auf dem Dubliner Ratstreffen vorgestellt wurden, passend gestaltet: Auf der einen Seite prangte die Ziffer mit dem jeweiligen Wert in einem einheitlichen europäischen Design. Auf der anderen Seite waren das Eurozeichen, das Jahr der Prägung und zwölf Sterne in einem je nationalen Design zu sehen. Man könnte auch sagen: Die europäische Währung behielt (und behält) im Zeitalter der Globalisierung eine nationale Kehrseite, die nicht zu unterschätzen ist.
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45 Bernhard Löffler, Währungsgeschichte als Kulturgeschichte?, in: Ders. (Hrsg.), Die kulturelle Seite, 3–35.
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Europäisierung von Außenpolitik? I. Einleitung Der Begriff „Europäisierung“ erlebt in den letzten Jahren eine fast inflationäre Verwendung und findet sich in zahlreichen Buchtiteln, ohne dass in der Regel eine genaue Erläuterung des Begriffes erfolgt oder seine methodischen Implikationen reflektiert werden. Auch in Bezug auf die Außenpolitik ist vielfach davon die Rede, dass durch die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU eine zunehmende Europäisierung nationaler Außenpolitik stattgefunden habe bzw. in Zukunft weiter stattfinden werde.1 Was aber bedeutet Europäisierung genau und vor allem, wie kann man solche möglicherweise stattfindenden Europäisierungsprozesse messen oder feststellen? Das ist der Kern dieses Beitrages, der sich in drei Teile gliedert: Zunächst wird der Begriff Europäisierung erläutert, dann ein kurzer Rückblick auf die Entwicklung der gemeinsamen europäischen Außenpolitik gegeben und schließlich eine im Rahmen eines DFG-Projekts durchgeführte Untersuchung zur Europäisierung von Außenpolitik am Beispiel der Vorläuferin der GASP, der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), vorgestellt. Darauf aufbauend wird zum Schluss auf die Struktur der heutigen GASP eingegangen und in dem Zusammenhang die Frage nach einer Europäisierung der Außenpolitik erneut aufgegriffen.
II. Zum Begriff „Europäisierung“ In der historiographischen Fachliteratur wurde der Begriff Europäisierung bislang meist in Zusammenhang mit dem Kolonialismus verwendet, meinte somit die europäische Eroberung oder auch Beeinflussung anderer Kontinente. In Bezug auf den europäischen Integrationsprozess hat erst in den letzten Jahren ansatzweise eine Auseinandersetzung mit diesem Begriff begonnen, die aber weiterhin unbefriedigend ist. Europäisierung, so definieren beispielsweise Hirschhausen/Patel und ähnlich auch Kaelble den Begriff, umfasst „alle politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozesse […], die europäische Verbindungen und Ähnlichkeiten durch Nachahmung, Austausch und Verflechtung vorantreiben oder relativieren.“2 Die zitierten Autoren plädieren dafür, den Prozess der Europäisierung nicht 1 Siehe z. B. Jens-Christian Gaedtke, Europäische Außenpolitik, Paderborn 2009, 18; Franco Algieri, Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Wien 2010, 31. 2 Ulrike von Hirschhausen/Kiran Klaus Patel, Europäisierung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte,
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auf integrierende Elemente zu beschränken, sondern ebenso Prozesse der Begrenzung, des Konflikts und selbst der De-Europäisierung dem Begriff zu subsumieren. Mit einer so weit gefassten Definition wird allerdings Europäisierung als analytische Kategorie letztlich unbrauchbar und verliert der Europäisierungsbegriff an Aussagekraft. Ein Blick in die sozialwissenschaftliche, speziell politikwissenschaftliche Literatur hilft da weiter. Denn im Unterschied zur Geschichtswissenschaft hat sich die Politikwissenschaft schon seit längerer Zeit mit „Europäisierungsprozessen“ befasst und verschiedene Konzepte entwickelt. Dabei wird Europäisierung zur Erklärung ganz unterschiedlicher Phänomene und Veränderungsprozesse herangezogen, so dass nicht von einer einzigen übergreifenden Europäisierungstheorie gesprochen werden kann, sondern vielmehr von verschiedenen Europäisierungskonzepten, welche auf unterschiedliche Theorien in den Teildisziplinen der Politikwissenschaft zurückgreifen.3 Bezogen auf politische Veränderungsprozesse innerhalb der Institution EG/EU – sog. „EU-Europäisierung“ – hat sich die Europäisierungsforschung vor allem auf zwei Entwicklungen konzentriert: Europäisierung bezieht sich einerseits auf den formalen Transfer von nationaler Souveränität auf die EG/ EU-Ebene, die Entstehung von Institutionen sowie die Politikformulierung auf europäischer Ebene und kommt damit dem Integrationsbegriff nahe, wird mitunter sogar synonym verwendet. Europäisierung bezeichnet andererseits Rückwirkungen europäischer Politik auf die nationale Ebene, insbesondere in den EG/EU-Mitgliedstaaten. Im letzteren Sinne umfasst Europäisierung die Auswirkungen der EG/EU auf nationale politische Institutionen (vor allem Regierungen und deren Verwaltungen, Parlamente, Parteien) und Formen des Regierens sowie auch die Veränderung von Politikinhalten, Wahrnehmungs- bzw. Denkmustern, Regeln und Normen. Mit dem Begriff Europäisierung können schließlich auch Sozialisierungsprozesse bei den Akteuren innerhalb der europäischen Institutionen erfasst werden, die ursprünglich zumeist aus den nationalen Regierungs- bzw. Verwaltungsapparaten der Mitgliedstaaten kommen. In diesem Sinne integriert der Europäisierungsansatz Sozialisationskonzepte der neueren politikwissenschaftlichen Forschung, die sich in Anknüpfung an die älteren Theorien des (Neo-)Funktionalismus und Transaktionalismus seit Anfang der 1990er Jahre wieder verstärkt mit den Bedingungen und Formen „internatio
29.11.2010, 2; Hartmut Kaelble, Europäisierung, in: Matthias Middell (Hrsg.), Dimensionen der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Hannes Siegrist zum 60. Geburtstag, Leipzig 2007, 73–89, 87–88; Michael Gehler, „Europe“, Europeanizations and their Meaning for European Integration Historiography, in: Journal of European Integration History 22 (2016), 1, 141–174. 3 Siehe hierzu u. a. Christoph Knill, Die EU und die Mitgliedstaaten, in: Katharina Holzinger u. a., Die Europäische Union. Theorien und Analysekonzepte, Paderborn u. a. 2005, 153–180; Katrin Auel, Europäisierung nationaler Politik, in: Hans-Jürgen Bieling/Maria Lerch (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, Wiesbaden 2005, 293–318; Rainer Eising, Europäisierung und Integration. Konzepte in der EU-Forschung, in: Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, 2. Auflage, Opladen 2003, 387–416.
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naler Sozialisation“ beschäftigt.4 Das bislang umfassendste Europäisierungskonzept hat Claudio M. Radaelli entwickelt, indem er die beiden eben genannten Varianten von Europäisierung zu einem Gesamtmodell zusammenfasst. Sein Sequenzmodell geht davon aus, dass in einem ersten Schritt bestimmte Institutionen und Elemente politischen Handelns auf europäischer Ebene entstehen („bottom-up-Prozess“) und diese dann in einem zweiten Schritt auf nationale Strukturen, Prozesse und Politikinhalte rückwirken („top-down-Prozess“).5 Seine eigenen empirischen Forschungen fokussieren allerdings überwiegend die Rückwirkungen europäischer Politik auf EU-Mitgliedstaaten. Die Europäisierungskonzepte werden in der politikwissenschaftlichen Forschung überwiegend auf supranationale europäische Prozesse bezogen, während Bereiche intergouvernementaler Zusammenarbeit wie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU und ihre Vorläuferin die EPZ aufgrund der schwachen Regelungskompetenz auf europäischer Ebene und – daraus resultierend – eines vermuteten fehlenden institutionellen Anpassungsdrucks auf die Mitgliedstaaten seltener Berücksichtigung finden.6 In supranational strukturierten Politikfeldern wird beispielsweise versucht, mittels Kongruenz- und Kompatibilitätsmodellen die Erfüllung von EG/EU-Richtlinien durch die Mitgliedstaaten und damit den Grad der so verstandenen Europäisierung zu bestimmen. In intergouvernementalen Politikbereichen wie der Außenpolitik geht dies nicht, da dort keine nationalen Implementationen solcher verbindlicher EG/EU-Vorgaben stattfinden. Vielmehr haben die beteiligten Staaten hier einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Anwendung gemeinsam getroffener – rechtlich indes nicht bindender – Vereinbarungen. Infolge des Nichtvorhandenseins eines konkreten Anpassungsdruckes kann Wandel in diesen Bereichen nur auf andere Weise erfolgen und sind Europäisierungsprozesse anders zu messen, worauf weiter unten näher eingegangen wird.
III. Von der Idee zur Umsetzung: Der lange Weg zur außenpolitischen Zusammenarbeit Während es mit der Bildung der EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl), EWG und EURATOM in den 1950er Jahren recht schnell gelang, supranationale Gemeinschaften auf wirtschaftlichem und auch außenhandelspolitischem Gebiet zu gründen, schei4 Siehe dazu auch Guido Schwellnus, Sozialkonstruktivismus, in: Bieling/Lerch, Theorien der europäischen Integration, 321–345, 330. 5 Claudio M. Radaelli, The Europeanization of Public Policy, in: Kevin Featherstone/Claudio M. Radaelli (Hrsg.), The Politics of Europeanization, Oxford–New York 2003, 27–56; Eising, Europäisierung und Integration, 394–396. 6 Siehe dazu Eising, Europäisierung und Integration; Melanie Morisse-Schilbach, Diplomatie und europäische Außenpolitik. Europäisierungseffekte im Kontext von Intergouvernementalismus am Beispiel von Frankreich und Großbritannien, Baden-Baden 2006, 18–19.
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terten entsprechende Bemühungen um Souveränitätsabgabe stets auf dem Gebiet der Außenpolitik, einem klassischen Kernbereich nationalstaatlicher Souveränität.7 Dabei hatte gerade die Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik als ein Mittel zur dauerhaften Friedenssicherung in Europa eine der Hauptforderungen vieler der seit dem Ersten Weltkrieg entwickelten Pläne zu einer europäischen Einigung dargestellt. Auch die von den westeuropäischen Widerstandsgruppen im Verlaufe des Zweiten Weltkriegs entworfenen Pläne zu einer Neugestaltung Europas nach dem Krieg, die die Forderung nach einer Abschaffung der souveränen Nationalstaaten und die Bildung einer europäischen Föderation beinhalteten, gingen übereinstimmend davon aus, dass die bisher den souveränen Nationalstaaten vorbehaltenen Bereiche Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik in die Zuständigkeit einer föderativen europäischen Regierung fallen und der Kompetenz der Nationalstaaten entzogen werden sollten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren es vor allem die Föderalistenverbände der Europäischen Bewegung, die an solchen umfassenden Plänen einer wirtschaftlichen und auch politischen Einigung Europas festhielten und deren Umsetzung propagierten. Der reale politische Einigungsprozess, 1950 von Frankreich in Gang gesetzt, verfolgte hingegen viel bescheidenere Ziele und setzte zunächst nur auf die Vergemeinschaftung von Kohle und Stahl und entsprechende Souveränitätsabgabe in diesem Bereich. Längerfristig war allerdings eine Weiterentwicklung auch im politischen Bereich vorgesehen. Der Gedanke einer über die wirtschaftliche Zusammenarbeit hinausgehenden politischen Einigung Europas wurde erneut aufgegriffen im Zusammenhang mit dem Plan zur Bildung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), welchen der französische Ministerpräsident René Pleven als Reaktion auf den amerikanischen Wunsch nach einer Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschlands im Oktober 1950 vorstellte. Der im Rahmen der EVG-Verhandlungen von den EGKS-Staaten erstellte Verfassungsentwurf zur Bildung einer aus intergouvernementalen wie supranationalen Elementen bestehenden Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) enthielt auch Bestimmungen zur Zusammenarbeit in der Außenpolitik. Wenngleich auch die außenpolitische Zuständigkeit der Mitgliedstaaten als solche unangetastet blieb und die Zusammenarbeit zwischen ihnen sich zunächst auf Informationsaustausch und Konsultationen beschränkte, so besaß dieser Entwurf dennoch Entwicklungspotential hin zu einer gemeinsamen Außenpolitik und stellte einen Fortschritt gegenüber dem Status quo dar. Dieser Entwurf scheiterte ebenso wie die gesamte geplante Europäische Verteidigungsgemeinschaft an der Uneinigkeit der Mitgliedstaaten. Stattdessen setzte sich der europäische Einigungsprozess auf wirtschaftlichem Gebiet fort: 1957 wurden die beiden Verträge zur Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG/Euratom) unterzeichnet. Wie oben schon angedeutet, kam es durch den EWG-Vertrag zur Entwicklung einer gemeinsamen Außenwirtschafts- oder Außen7 Zum Folgenden siehe Gabriele Clemens/Alexander Reinfeldt/Gerhard Wille, Geschichte der europäischen Integration. Ein Lehrbuch, Paderborn 2008, 49–137.
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handelspolitik, die dem supranationalen Organ, der EWG-Kommission, oblag. Die ‚klassische‘ Außenpolitik blieb davon unberührt. Anfang der 1960er Jahre startete der französische Staatspräsident Charles de Gaulle mit den sog. Fouchet-Plänen eine neue Initiative zur Errichtung einer Europäischen Politischen Union (EPU), in die auch die Außenpolitik einbezogen werden sollte. Allerdings blieben die diesbezüglichen Bestimmungen sehr vage und gingen über eine beabsichtigte Koordinierung der außenpolitischen Zusammenarbeit in Fragen von gemeinsamem Interesse nicht hinaus. Insgesamt zielte der schließlich gescheiterte Entwurf de Gaulles lediglich auf eine Schwächung der supranationalen Gemeinschaften und eine Stärkung der Rolle der Nationalstaaten im Einigungsprozess. Da sich die sechs Gemeinschaftsmitglieder seit den Verträgen von Paris und Rom grundsätzlich zum Ziel der Entwicklung einer Politischen Union bekannt hatten, blieb die Weiterentwicklung der sektoralen Integration hin zu einer auch die Außen- und Sicherheitspolitik umfassenden Union auf der integrationspolitischen Agenda. Kontrovers aber blieben weiterhin das Tempo, die Mittel und Formen der europäischen politischen Zusammenarbeit. Ein erneuter Anlauf zur außenpolitischen Zusammenarbeit, der schließlich zur Errichtung der EPZ führte, wurde mit der Haager Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs im Dezember 1969, also nach dem Rücktritt de Gaulles und in einer Zeit zunehmender Spannungen im Ost-West-Verhältnis, unternommen. Die Staats- und Regierungschefs vereinbarten in Den Haag, eine Studienkommission aus den Politischen Direktoren der Außenministerien unter Vorsitz des Belgiers Étienne Davignon einzusetzen, die konkrete Vorschläge zur politischen Einigung erarbeiten sollte. Dieser von den Außenministern in Luxemburg Oktober 1970 verabschiedete Bericht – bekannt als Luxemburger Bericht oder DavignonBericht – legte die Grundlagen für die EPZ.8 Ein zweiter, 1973 vorgelegter Bericht (Kopenhagener Bericht) schrieb unter Einbeziehung der bis dahin gewonnenen Erfahrungen mit der außenpolitischen Zusammenarbeit den Luxemburger Bericht fort.9 Dies tat ebenso der 1981 verabschiedete Londoner Bericht, der zwar kleinere Veränderungen vorsah, wie z. B. die Erwähnung politischer Aspekte der Sicherheit als Gegenstand von EPZ-Konsultationen, aber nichts grundsätzlich an der 1970 geschaffenen Struktur außenpolitischer Zusammenarbeit änderte.10 Die mit der EPZ geschaffenen Grundlagen außenpolitischer Zusammenarbeit bestimmen bis heute die außenpolitische Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten. Im Luxemburger Bericht begründeten die Außenminister die anvisierte außenpolitische Zusammenarbeit mit dem Wunsch, dass in Zukunft „Europa mit einer Stimme sprechen
8 Erster Bericht der Außenminister an die Staats- und Regierungschefs der EG-Mitgliedstaaten vom 27. Oktober 1970 (Luxemburger Bericht), in: Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ). Dokumentation, hrsg. vom Auswärtigen Amt, Referat Öffentlichkeitsarbeit, 7., überarb. Auflage, Bonn 1984, 25–31. 9 Zweiter Bericht der Außenminister an die Staats- und Regierungschefs der EG-Mitgliedstaaten vom 23. Juli 1973 (Kopenhagener Bericht), in: ebd., 38–49. 10 Bericht der Außenminister der Zehn vom 13. Oktober 1981 in London über die Europäische Politische Zusammenarbeit (Londoner Bericht), in: ebd., 183–190.
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kann.“11 Europa sei aufgrund seines wirtschaftlichen Potentials und seiner immer bedeutenderen Rolle in der Welt verpflichtet und genötigt, Verantwortung zu übernehmen und insbesondere zugunsten der Entwicklungsländer zu agieren; Europa habe, so betonten die Außenminister, „eine politische Sendung“.12 Das Scheitern vorangegangener politischer Einigungsbemühungen hatte dazu geführt, dass bei diesem erneuten Anlauf zur außenpolitischen Zusammenarbeit recht bescheidene Ziele verfolgt wurden. Als Ziele der Zusammenarbeit nannte der Luxemburger Bericht: „durch regelmäßige Unterrichtung und Konsultationen eine bessere gegenseitige Verständigung über die großen Probleme der internationalen Politik zu gewährleisten“ sowie „die Harmonisierung der Standpunkte, die Abstimmung der Haltung und, wo dies möglich und wünschenswert erscheint, ein gemeinsames Vorgehen zu begünstigen und dadurch die Solidarität zu festigen“.13 Es ging also nicht um die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik, sondern lediglich um eine Annäherung der nationalen Außenpolitiken der Mitgliedstaaten außerhalb der Gemeinschaftsverträge. In den folgenden Jahren bekräftigten die Mitgliedstaaten mehrfach ihre Absicht, diese Zusammenarbeit enger zu gestalten und zunehmend gemeinsame Positionen festzulegen, um Europas Stimme „in der Weltpolitik Gehör zu verschaffen“.14 Im Kopenhagener und Londoner Bericht legten die Außenminister eine Konsultationsverpflichtung in allen wichtigen Fragen der Außenpolitik fest; allerdings wurde zugleich das grundsätzliche Festhalten am flexiblen und pragmatischen Charakter der intergouvernementalen Zusammenarbeit betont. Zur Umsetzung der Ziele der EPZ wurde im Luxemburger Bericht ein fester Konsultationsmechanismus vereinbart, der mehrere Ebenen umfasste. Die Außenminister sollten auf Initiative des jeweiligen amtierenden Ratspräsidenten mindestens alle sechs Monate zusammenkommen; ein aus den Leitern der Politischen Abteilungen der Außenministerien (Politische Direktoren) bestehendes Politisches Komitee sollte mindestens viermal jährlich zusammentreten, um die Tagungen der Minister vorzubereiten und ihm von den Ministern übertragene Aufgaben zu erledigen. Das Politische Komitee konnte Arbeitsgruppen und Sachverständigenausschüsse einsetzen, die sich mit einzelnen Problemen der internationalen Politik befassten. Ein eigenes Sekretariat war nicht vorgesehen (dies wurde erst 1987 eingeführt); vielmehr war das den jeweiligen Vorsitz im Rat führende Sekretariat für die Sekretariatsarbeiten und die organisatorische Durchführung der Treffen zuständig. Die Häufigkeit der Treffen wurde mit den folgenden Berichten erhöht, so dass ein dichter Konsultationsmechanismus – vor allem auf Ebene der Politischen Direktoren und der Arbeitsgruppen 11 Luxemburger Bericht, 26; im Original sperrgedruckt statt kursiv. 12 Ebd., 27. 13 Ebd. 14 Erklärung der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der EG-Mitgliedstaaten vom 21. Oktober 1972 in Paris (Auszug), in: Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ). Dokumentation, 32–37, 32; Kommuniqué der Konferenz der Staats- und Regierungschefs vom 10. Dezember 1974 in Paris (Auszüge), in: ebd., 61–64.
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– entstand. Ein eigens eingerichtetes Telegraphensystem zwischen den beteiligten Außen ministerien – die sogenannte Correspondance Européenne (COREU) – erhöhte den ständigen Informationsfluss zwischen den Staaten. Es war vor allem ein französisches Anliegen gewesen, die Funktionen von EG und EPZ strikt zu trennen und die Ausdehnung des Prinzips der Supranationalität auf den politischen Bereich zu verhindern. Somit wurde in Bezug auf die Kommission der Europäischen Gemeinschaften festgelegt, dass diese lediglich „zur Stellungnahme“ aufgefordert werden sollte, falls die Arbeiten der EPZ Auswirkungen auf die Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaften haben würden. Nicht erwünscht war demnach eine Einbindung der Kommission in die EPZ, was angesichts der Überschneidung von Aufgaben der für außenhandelspolitische Belange zuständigen Kommission und der EPZ in einigen Bereichen nahegelegen hätte. Da die EPZ über kein eigenes Budget verfügte, konnte sie zudem Drittstaaten keine finanziellen Anreize für erwünschtes Verhalten geben oder wirtschaftliche Sanktionen verhängen, war in diesen Punkten vielmehr auf eine enge Zusammenarbeit mit der Kommission angewiesen. Auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) war für den Bereich der EPZ nicht zuständig – und ist es bis heute nicht für die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. In Bezug auf die Europäische Parlamentarische Versammlung – also das heutige Europäische Parlament – wurde vereinbart, dass halbjährliche Kolloquien der Minister mit den Mitgliedern des Politischen Ausschusses der Versammlung abgehalten werden sollten, um über die Arbeit der EPZ zu sprechen – also auch das EP wurde nur informiert und war an der EPZ nicht beteiligt. Was bedeutete diese festgelegte Struktur für die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik? Kam es tatsächlich, wie einige Forschungsarbeiten behaupten, aufgrund des dichten Konsultationsmechanismus und trotz der intergouvernementalen Struktur der EPZ zu einer Europäisierung der Außenpolitik? Vor allem konstruktivistische Ansätze gehen davon aus, dass die enge Zusammenarbeit in den Gremien zu Sozialisierungsprozessen bei den beteiligten Akteuren führte, die eine Europäisierung der Außenpolitiken zur Folge hatten.15 Mit der Frage nach Europäisierungs- und Sozialisierungsprozessen in der EPZ befasste sich das im folgenden Abschnitt kurz zu umreißende Forschungsprojekt.16
15 Siehe z. B. Ben Tonra, The Europeanisation of National Foreign Policy: Dutch, Danish and Irish Foreign Policy in the European Union, Aldershot u. a. 2001; Uwe Schmalz, Deutschlands europäisierte Außenpolitik. Kontinuität und Wandel deutscher Konzepte zur EPZ und GASP, Wiesbaden 2004; siehe auch Simon J. Nuttall, European Political Co-Operation, Oxford 1992, 14, 312–313. 16 Die Ergebnisse des unter der Leitung von Gabriele Clemens am Historischen Seminar der Universität Hamburg durchgeführten Forschungsprojektes sind veröffentlicht in der Monographie: Gabriele Clemens/Alexander Reinfeldt/Telse Rüter, Europäisierung von Außenpolitik? Die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) in den 1970er Jahren, Baden-Baden 2019.
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IV. Europäsisierungsprozesse im Rahmen der EPZ 1. Methodisches Vorgehen Ausgangspunkt des Projekts war die oben erwähnte Definition Claudio M. Radaellis, die Europäisierung als einen wechselseitigen Prozess versteht, der von unten nach oben wie von oben nach unten verläuft. Wendet man diese Definition auf intergouvernementale Politik bereiche an, so ist zugleich auch der horizontale Transfer oder „cross-load-transfer“ zwischen den Mitgliedstaaten mit einzubeziehen, da, wie zuvor erwähnt, es keine ‚von oben‘ (Kommission) getroffenen, zu erfüllenden Vorgaben gibt, vielmehr die Mitgliedstaaten erst im Konsens gemeinsame Vorgaben oder Richtlinien erstellen. Die drei zentralen Fragen, die dem Projekt zugrunde lagen, waren: 1. Wann oder in welchen Fällen kann man überhaupt von Europäisierung sprechen, d. h. was sind die Kriterien für Europäisierung? 2. Wie ist das Verhältnis von Sozialisierung und Europäisierung? 3. Wie sind solche Europäisierungsprozesse zu messen bzw. nachzuweisen, oder – anders formuliert – die Frage nach der Kausalität ist zu stellen. Bezüglich der ersten Frage legte das Projekt folgendes fest: Von Europäisierung soll gesprochen werden, wenn Veränderungen sowohl im institutionell-administrativen Bereich als auch vor allem bezüglich der Politikinhalte festzustellen sind, die allein auf die Zusammenarbeit im Rahmen der EPZ und nicht auf andere – innenpolitische wie auch globale – Entwicklungen zurückzuführen sind. Bezogen auf Politikinhalte heißt das, dass bislang bestehende Präferenzbildungsprozesse sich von nationalen Bezügen gelöst haben zugunsten gemeinsam geteilter Ziele, Normen und Werte und damit gemeinsamer außenpolitischer Entscheidungen. Zweitens: Unter Sozialisierung wird ein Prozess verstanden, der aus zwei eng miteinander verbundenen kognitiven Größen besteht, nämlich Wahrnehmungs- bzw. Denkmuster und Handlungsorientierungen, die beide im Sinne außenpolitischer Konzepte (Normen, Werte) der EPZ geformt und verinnerlicht werden und die durch Aktivierung und Bestätigung, etwa in den politischen Gremien, aufrechterhalten und gefestigt werden. Im Unterschied zu einigen konstruktivistischen Ansätzen wird Sozialisierung nicht als Synonym für Europäisierung verstanden, sondern Sozialisierung wird als eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Europäisierung aufgefasst. Dass Sozialisierung eine notwendige Bedingung für Europäisierung im Bereich der außenpolitischen Zusammenarbeit ist, begründet sich aus deren intergouvernementaler Struktur und dem daraus folgenden Nichtvorhandensein zu implementierender Vorgaben (Gesetze, Verordnungen, Richtlinien). Die Zusammenarbeit in intergouvernementalen Bereichen beruht vielmehr allein auf der Konvergenz der Staaten, d. h. ihr anhaltendes Einverständnis zur Befolgung der gemeinsam festgelegten Ziele und Regeln. Aufgrund des nichtvorhandenen Anpassungsdrucks ‚von oben‘ kann Europäisierung in diesem Bereich nur durch einen längerfristigen Einstellungswandel im Sinne einer Internalisierung der gemeinsamen Normem und Werte durch die beteiligten Akteure erfolgen. Eine möglicherweise stattfindende Sozialisierung der Akteure in den verschiedenen EPZ-
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Gremien führt aber nicht zwangsläufig dazu, dass sich auch die außenpolitische Position der jeweiligen Staaten veränderte. Erst wenn die Internalisierung gemeinsamer Normen und Werte, mit anderen Worten die Sozialisierung der beteiligten Akteure, auch tatsächlich zu einem Wandel nationaler Außenpolitik führt, wird von Europäisierung gesprochen. Mithin wird Europäisierung als Einheit von Sozialisierung und Handlungsergebnissen verstanden. Dies impliziert zugleich, dass wenn auf außenpolitischer Ebene getroffene gemeinsame Entscheidungen der Mitgliedstaaten lediglich auf kurzfristiger strategischer Kalkulation beruhen, beispielsweise zur Verstärkung der eigenen Machtposition oder um Zugeständnisse in anderen Bereichen zu erhalten, gemäß dieser Definition keine Europäisierung vorliegt, wenngleich auch strategische Kalkulation Ausgangspunkt für spätere Sozialisierung sein kann. Das heißt folglich, dass ein Konsens in bestimmten außenpolitischen Fragen allein kein Ausweis für Europäisierung ist. Drittens: Wie sind solche Europäisierungsprozesse bzw. auch Sozialisierungsprozesse zu erfassen oder festzustellen? Sicherlich nicht, indem – wie es in einigen politikwissenschaftlichen Arbeiten der Fall ist17 – öffentlich zugängliche Dokumente von Ergebnissen außenpolitischer Zusammenarbeit, wie öffentliche Statements von Regierungsmitgliedern, Konferenzbeschlüsse, Deklarationen, analysiert und verglichen werden und daraus Rückschlüsse gezogen werden, schon gar nicht, wenn diese herangezogenen Dokumente eklektizistisch aus verschiedenen außenpolitischen Themenbereichen zusammengetragen werden.18 Motive und Motivationen der Akteure bzw. die Kausalfaktoren einer möglichen Europäisierung lassen sich so nicht erschließen. Auch Interviews mit Beteiligten, die häufig als Erklärungsgrundlage für angeblich stattgefundene Sozialisierungsprozesse herangezogen werden, helfen bei alledem nicht weiter, da Verfälschungen bzw. Verzerrungen durch Gedächtnis, Selbstdarstellungstendenzen, selektive Wahrnehmung, subjektive Kausalattribuierung und andere subjektive Faktoren vermutet werden dürfen. Die geeignete Methode, mögliche Sozialisierungs- und Europäisierungsprozesse zu erfassen, ist das von den Politikwissenschaftlern sogenannte „process tracing“ – die in der Geschichtswissenschaft übliche Methode, die allerdings sehr arbeitsintensiv ist. Für das Projekt wurden deshalb für einen Zeitraum von zehn Jahren (1970 bis 1981) die geheimen, also nicht öffentlich zugänglichen, EPZ-Protokolle wie auch die Dokumente der Außenministerien einiger ausgewählter Staaten (Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Belgien)19 untersucht. Die Akten der nationalen Außenministerien geben Aufschluss 17 So z. B. bei Tonra, The Europeanisation of National Foreign Policy; Reuben Y. Wong, The Europeanisation of French Foreign Policy. France and the EU in East Asia, Houndmills, Basingstoke–New York 2006; Lorena Ruano (Hrsg.), The Europeanization of National Foreign Policies towards Latin America, New York–London 2013. 18 Dies ist in den verschiedenen Beiträgen des Sammelbandes von Ruano, The Europeanization of National Foreign Policies, der Fall. 19 Zur detaillierten Begründung für die Auswahl der Fallstudien siehe Clemens/Reinfeldt/Rüter, Europäisierung von Außenpolitik, 33–36. Es wurde – kurzgefasst – davon ausgegangen, dass die drei großen Mitgliedstaaten
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über die grundsätzliche Haltung eines Staates zu einer außenpolitischen Frage, zeigen ferner die Anweisungen und Richtlinien für das Verhalten der Vertreter in den EPZ-Gremien auf, nehmen Stellung zu den Diskussionen und Beschlüssen in den EPZ-Gremien und halten Überlegungen zum weiteren Vorgehen sowie die getroffenen außenpolitischen Entscheidungen fest. Des Weiteren wurden die Verlaufs- und Ergebnisprotokolle der EPZ-Gremien (also des Politischen Komitees, der Arbeitsgruppen und Ministertagungen) untersucht. Da diese für die Analyse hinlänglich genau sind und meist Beiträge den einzelnen Personen (Vertreter der Mitgliedstaaten) zuzuordnen waren, konnte festgestellt werden, ob im Verlaufe der Diskussionen Personen ihre ursprünglichen Positionen im Sinne der Harmonisierung oder Angleichung an die Positionen der anderen veränderten, somit Prozesse der Änderung von Wahrnehmungs- und Denkmustern sowie Handlungsorientierung zu verzeichnen waren. Durch die Erfassung beider Arten von Dokumenten und deren Abgleich sowie auch den Vergleich mit den außenpolitischen Akten der jeweiligen anderen Staaten konnten die motivationalen Hintergründe der Akteure und deren Auswirkungen auf politisches Handeln erfasst werden, konnte somit die ‚black box‘ zwischen Ausgangssituation und Europäisierungseffekten hinsichtlich der „Funktionsweise von Europäisierung“20 geöffnet und damit die Kausalitätsfrage beantwortet werden. 2. Untersuchungsergebnisse Da innerhalb der EPZ ein zunehmend dichter werdender Konsultationsmechanismus herrschte und die einzelnen EPZ-Gremien – hier insbesondere das Politische Komitee und die Arbeitsgruppen – die von Jeffrey Checkel und anderen genannten Rahmenbedingungen (sog. ‚scope conditions‘) für Sozialisierungsprozesse weitgehend erfüllten,21 wie häufiges Zusammentreffen in kleinen Gruppen, weitgehend personelle Kontinuität, geheime, vertrauliche Arbeitsatmosphäre, kein Abstimmungszwang, zudem die Staaten zusammengekommen waren mit dem Ziel einer Harmonisierung ihrer Außenpolitiken, bestand zu Beginn des Projektes die Erwartung, Sozialisierungs- und Europäisierungsprozesse feststellen und infolgedessen behaupten zu können, dass auch intergouvernemental strukturierte Politikfelder Deutschland, Frankreich und Großbritannien eine unterschiedliche Haltung gegenüber Europäisierungsprozessen an den Tag legten, die aus ihrer jeweiligen grundsätzlichen Einstellung gegenüber dem europäischen Integrationsprozess resultierte. Belgien wurde als Beispiel für einen sogenannter ‚kleinen‘ Mitgliedstaat einbezogen. 20 Siehe Schmalz, Deutschlands europäisierte Außenpolitik, 86. 21 Jeffrey T. Checkel (Hrsg.), International Institutions and Socialization in Europe, Cambridge–New York 2007, insbes. 3–27; Michael Zürn/Jeffrey T. Checkel, Getting Socialized to Build Bridges. Constructivism and Rationalism, Europe and the Nation-State, in: Checkel, International Institutions, 241–273; Jan Beyers, Multiple Embeddedness and Socialization in Europe: The Case of Council Officials, in: ebd., 99–135; Jeffrey Lewis, The Janus Face of Brussels. Socialization and Everyday Decision Making in the European Union, in: ebd., 137–169.
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wie die EPZ bzw. die spätere GASP mittel- und längerfristig eine über die zwischenstaatliche Zusammenarbeit hinausreichende Integrationsdynamik entfalten würden. Aber – um es kurz zu fassen – die Erwartungen wurden enttäuscht. Die Untersuchung zeitigte andere Ergebnisse, die aufgrund des begrenzten Umfangs dieses Beitrages hier nicht alle detailliiert dargelegt werden können. Von daher ist direkt auf die Ausgangsfrage des Projektes einzugehen: Wo und inwieweit sind gemäß der genannten Definition Europäisierungsprozesse festzustellen? Unterschieden wurde, wie oben ausgeführt, zwischen der institutionelladministrativen Ebene und den Politikinhalten. Auf der institutionell-administrativen Ebene waren Europäisierungsprozesse durchaus festzustellen, da es durch die Zusammenarbeit zu Veränderungen sowohl auf europäischer Ebene – z. B. Schaffung weiterer Gremien, Intensivierung des Konsultationsmechanismus – als auch auf Ebene der nationalen Außenministerien kam. Ein Beispiel hierfür ist die Schaffung des Postens eines Politischen Direktors im britischen Foreign Office, der bis dahin in der britischen Tradition unbekannt war. Auch durch das erwähnte COREU-System gab es Veränderungen insofern, als dass die einzelnen nationalen Außenministerien fast täglich mit Auffassungen der anderen Außenministerien konfrontiert waren, die sie zumindest zur Kenntnis nehmen mussten, aber auch in ihren eigenen politischen Anschauungen und Entscheidungen oft berücksichtigten. Ebenso lässt sich konstatieren, dass durch die EPZ sich die nationalen Außenministerien mit Themengebieten befassen mussten, die nicht im Fokus ihrer Aufmerksamkeit standen, wie beispielsweise Frankreich in den 1970er Jahren mit dem Dekolonisationsprozess in den lusophonen afrikanischen Staaten oder mit der für Großbritannien virulenten Rhodesienfrage. Was die Politikinhalte oder einzelnen politischen Positionen betrifft, waren allerdings keine Veränderungen infolge der außenpolitischen Zusammenarbeit festzustellen. Vielmehr hielten die jeweiligen Staaten trotz intensiver Diskussionen, guter Argumente der anderen und dem deklarierten Willen zur Erlangung gemeinsamer Positionen an ihren ursprünglich festgelegten Standpunkten fest, die sie als wesentlich für ihre jeweiligen nationalen Interessen ansahen. Dies zeigte sich beispielsweise deutlich in der französischen Afrikapolitik oder der Haltung Frankreichs und Großbritanniens gegenüber Südafrika. Im untersuchten Zeitraum von zehn Jahren kam es nicht einmal dazu, dass die intensiven Diskussionen auf europäischer Ebene dazu führten, dass ein Politischer Direktor im heimischen Ministerium eine Änderung der Politik vorschlug oder anmahnte. In den wenigen Fällen, wo ein Staat von seiner ursprünglich eingebrachten Position abwich, geschah dies aus kalkulatorischstrategischen Gründen oder diese Änderung war schon als ‚Plan B‘ von vorneherein vorgesehen oder aber das jeweilige Thema wurde nicht als so wichtig angesehen. Von Sozialisierungsprozessen konnte somit keine Rede sein. Es gab durchaus gemeinsame Deklarationen oder Stellungnahmen der EPZ-Mitglieder, die oftmals als Ausweis von Europäisierung angesehen werden. Allerdings waren das die Fälle, wo die Staaten von vornherein gemeinsame Ansichten vertraten und eine gemeinsame Haltung leicht zu finden war. Sie alle verstanden sich schließlich als Vertreter von Demokratie, Rechtstaatlichkeit und bekannten sich zur Achtung der Menschenrechte. Beispiels-
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weise waren alle EPZ-Mitglieder gegen das Apartheidsystem und für die Durchsetzung der Menschenrechte und bekundeten dies gemeinsam. Wenn es aber darum ging, entsprechende Sanktionen gegen Südafrika durchzuführen, endete die Gemeinsamkeit, da die Staaten in unterschiedlichem Maße auf südafrikanische Rohstoffe angewiesen waren bzw. geschäftliche Beziehungen zu diesem Regime pflegten. Ebenso verhielt es sich bei Abstimmungen in der UNO, wo die EG-Staaten eigentlich mit einer Stimme sprechen wollten. Auch hier zeigten sich große Differenzen, wenn es um die für die einzelnen Staaten als wichtig angesehenen Fragen oder Bereiche ging.
V. Schlussfolgerungen – die GASP heute Die Ergebnisse der geschilderten historischen Untersuchung sind auch relevant für eine Einschätzung der heutigen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, da sich die Struktur der GASP kaum von der der EPZ unterscheidet. Mit dem Maastrichter Vertrag von 1993 wurde die EPZ in die GASP umbenannt und stellte gemäß der bekannten Tempelkonstruktion die zweite Säule der EU dar. Diese Säule ist durch das intergouvernementale Verfahren gekennzeichnet, während die bislang schon supranational geregelte Außenhandelspolitik weiterhin in der ersten EG-Säule verblieb. Der 2007 vereinbarte Vertrag von Lissabon hat zwar die Säulenstruktur aufgehoben und einen gemeinsamen Titel „Auswärtiges Handeln“ (Titel V) zwecks größerer Kohärenz geschaffen, aber die unterschiedlichen Verfahrensweisen für die Außenwirtschafts- oder Außenhandelspolitik auf der einen Seite und die ‚herkömmliche‘ oder ‚klassische‘ Außenpolitik auf der anderen Seite beibehalten.22 Entscheidungen im Bereich der GASP sind weiterhin dem einstimmigen Votum der nationalen Außenminister (Rat Auswärtige Angelegenheiten) unterworfen, welche vom heute (seit dem Vertrag von Nizza) sogenannten „Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee“ (frühere Politische Komitee) vorbereitet bzw. wie auch schon früher zu Zeiten der EPZ maßgeblich vorbestimmt werden. Auch bezüglich der Rolle der Kommission, des Europäischen Parlaments und des Europäischen Gerichtshofs lassen sich keine grundsätzlichen Veränderungen feststellen. Der Gerichtshof ist weiterhin nicht zuständig für die GASP, der Kommission wurde zwar eine Beteiligung an der Gemeinsamen Außenpolitik zugestanden, die aber auf die Vorlage von Vorschlägen über den Hohen Vertreter der GASP beschränkt ist, und das Europäische Parlament hat weiterhin nur ein Informations- und Anhörungsrecht. Einige kleinere Veränderungen hat es allerdings seit Maastricht gegeben, die nicht unerwähnt bleiben dürfen: So wurde beispielsweise 1999 die ESVP (Europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik) als Teil der GASP geschaffen (mit dem Vertrag von Lissabon in 22 Bestimmungen über die GASP finden sich in Titel V, Kap. 2 des EU-Vertrags; Bestimmungen über vergemeinschaftete Bereiche in Teil III des AEUV.
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GSVP – Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik – umbenannt) oder 2003 die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) entwickelt und damit das Krisenmanagementverfahren gestärkt.23 Der Europäische Rat, also das intergouvernementale Organ, erhielt mit dem Vertrag von Lissabon den Status eines Organs der EU, und seine strategische Leitfunktion in der europäischen Außenpolitik wurde ausgeweitet: Er bestimmt die Grundsätze und allgemeinen Leitlinien der GASP, was auch Fragen mit verteidigungspolitischen Bezügen betrifft. Und es gibt seit dem Vertrag von Amsterdam einen Hohen Vertreter für die GASP (im Lissabon Vertrag als „Hoher Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik“ bezeichnet), der einen sogenannten „Doppelhut“ trägt. Er hat den Vorsitz im Rat für Auswärtige Angelegenheiten und er ist einer der Vizepräsidenten der Europäischen Kommission. Damit sollte die Kohärenz des auswärtigen Handelns verbessert und der Außenpolitik ein Gesicht und eine Stimme verliehen werden. Er ist aber kein Außenminister der Union, der eigenständig die europäische Außenpolitik festlegen kann. Seine Arbeit wird vom neu geschaffenen Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) unterstützt. Auch weitere Instrumentarien und Gremien zur Stärkung der Zusammenarbeit wurden geschaffen wie beispielsweise die Einführung von „Gemeinsamen Aktionen“24 (Maastricht) und „gemeinsamen Strategien“ (Amsterdam). Zudem besteht seit dem Vertrag von Amsterdam bei Durchführungsbeschlüssen zu gemeinsamen Aktionen und Standpunkten die Möglichkeit, im Rat mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden – die Aktionen selber aber müssen einstimmig beschlossen werden. Gerade auch im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurden zahlreiche neue – allerdings lediglich beratende – Gremien geschaffen wie beispielsweise ein EU-Militärkomitee (EUMC), ein EU-Militärstab (EUMS) und ein Direktorat für Krisenmanagement. Man kann also durchaus von Europäisierungsprozessen in Bezug auf die Entwicklung der institutionell-administrativen Strukturen sprechen. Auch hat die EU in der Vergangenheit verschiedene Krisenmanagement-Operationen gerade auf dem Balkan und in Afrika25 durchgeführt, die das außenpolitische Profil der EU gestärkt haben. Aber: Die zentralen außenpolitischen Entscheidungen sind weiterhin dem einstimmigen Votum der Mitgliedstaaten vorbehalten, und die nationalen Interessen der Mitgliedstaaten – die häufig divergieren – geben den Ausschlag. Sie führten beispielsweise in der Irak-Krise 2003 zu einer Spaltung der EU; auch in der Jugoslawienkrise wie in der Golfkrise handelten die EU-Staaten uneinig. Von Europäisierung als Folge von Sozialisierungsprozessen in Bezug auf die Politikinhalte kann bis heute nicht die Rede sein; vielmehr bestimmt weiterhin das nutzenorientierte, kal23 Zu den Veränderungen seit dem Vertrag von Maastricht siehe Gaedtke, Europäische Außenpolitik; Algieri, Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU; Udo Diedrichs, Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, Wien 2012. 24 Zum Beispiel: Beobachtung der freien Wahlen in Rußland 1993, die Beobachtung der Wahlen in Südafrika und Unterstützung der humanitären Hilfe in Bosnien und Herzegowina. 25 Beispielsweise die Entsendung eines Militärkontingents in den Tschad und in die Zentralafrikanische Republik.
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kulatorische Interesse der Staaten die Politik auf europäischer Ebene. Will man dies überwinden, hilft es wohl kaum, weiterhin auf mögliche Sozialisierungsprozesse zu setzen, sondern eine wirkliche gemeinsame europäische Außenpolitik wird es nur geben, wenn auch im Bereich der GASP, wie bereits auf dem Gebiet der Außenwirtschafts- und Außenhandelspolitik, das Prinzip der Supranationalität durchgesetzt wird.
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Europäisierung von Außenpolitik?
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Die EU als Verteidigungsgemeinschaft I. Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zwischen Vision und Konfusion* Die Europäische Union (EU) ist dabei, sich als Sicherheits- und Verteidigungsgemeinschaft neu zu erfinden. Sie verabschiedete 2016 eine „Globale Strategie“ und formulierte mit den zivilen und militärischen level-of-ambitions anspruchsvolle Fähigkeitsziele.1 Darüber hinaus aktivierten die Mitgliedstaaten das bereits im Lissabon-Vertrag vorgesehene Instrument der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit – bekannt als Permanent Structured Cooperation (PESCO) –, schufen neue Koordinationsmechanismen wie die Coordinated Annual Review on Defence (CARD) und neue Führungsstrukturen.2 Aktuell arbeiten die VerteidigungsministerInnen an einem strategischen Kompass – einer gemeinsamen Bedrohungsanalyse als Grundlage für eine gemeinsame Fähigkeitsplanung. Die Kommission versteht sich als „geopolitisch“, initiiert einen europäischen Verteidigungsfonds, richtet eine Generaldirektion Verteidigungsindustrie und Weltraum ein und treibt die Arbeiten zur Schaffung eines europäischen Rüstungsmarkts weiter voran. Die Vorarbeiten hierzu reichen zurück bis ins Jahr 2009. Die damals verabschiedete Verbringungsrichtlinie sollte den Aufbau transnationaler Lieferketten in der Rüstungsindustrie befördern. Mit der gleichzeitig verabschiedeten Ausschreibungsrichtlinie forderte die Kommission die Staaten auf, Rüstungsvorhaben europaweit auszuschreiben. Parallel dazu vertiefen Deutschland und Frankreich ihre sicherheits-, verteidigungs- und rüstungstechnologische Zusammenarbeit, u. a. mit Plänen zur gemeinsamen Produktion der nächsten Generation von Hauptkampfsystemen. Wie wahrscheinlich kaum ein Politikfeld bewegt sich dieses Europa der Verteidigung zwischen Vision und Konfusion. Auf der einen Seite fliegen die Ambitionen himmelhoch, geschürt auch von Vertreterinnen und Vertretern der EU-Organe mit Begriffen wie „strategische Autonomie“ und „europäische Souveränität“. Insbesondere in der deutschen und französischen politischen Öffentlichkeit findet dieser Diskurs einen kräftigen Resonanzboden. Hierzulande redet die politische Klasse wahlweise von einer europäischen Armee oder * Dieser Beitrag stützt sich auf und erweitert den PRIF-Report von Matthias Dembinski/Dirk Peters: Eine Armee für die Europäische Union? Europapolitische Konzeptionen und verteidigungspolitische Strukturen, Hessische Stiftung Friedens und Konfliktforschung, Frankfurt/Main 2018. 1 Council of the European Union, Implementation Plan on Security and Defence, 14392/16, Brüssel, 14.11.2016. 2 Yf Reykers, A Permanent Headquarter under Construction? The Military Planning and Conduct Capability as a Proximate Principal, in: Journal of European Integration 41 (2019), Heft 6, 783–799.
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einer Armee der Europäer. Und unter Titeln wie „Europa schaffen mit eigenen Waffen?“ deklinieren Think Tanks die Notwendigkeiten und Möglichkeiten von europäischer Selbstbehauptung in der Verteidigung durch und fordern größere Autonomie selbst bei der nuklearen Abschreckung.3 Dahinter steht unausgesprochen oft eine noch größere Vision: die Staatswerdung Europas. Ein Hamiltonʼscher Moment nicht nur durch gemeinsame Schulden, sondern auch durch das gemeinsame Schwert? Gleichzeitig herrscht erhebliche Konfusion. Unklar ist nämlich bereits, was sich hinter den Begriffen Souveränität und Autonomie in der Verteidigung verbirgt. So schreibt Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer nach der Wahl Joe Bidens, „[…] die Idee einer strategischen Autonomie geht zu weit, wenn sie die Illusion nährt, wir könnten Sicherheit […] ohne die USA gewährleisten […]“.4 Dagegen beharrt der französische Staatspräsident Emmanuel Macron auf dem Ziel der strategischen Autonomie, nämlich in der Form, dass „[…] unser Kontinent Mittel und Wege findet, für sich selbst zu entscheiden, sich auf sich selbst zu verlassen, nicht von anderen abhängig zu sein […]“ und zwar auch im Bereich der Verteidigung.5 Ähnlich unklar ist die Bedeutung der Konzepte „europäische Armee“ oder „Armee der Europäer“. Auf parlamentarische Anfragen räumen Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung ein, der Begriff „Europäische Armee“ sei metaphorisch gemeint und stünde „sinnbildlich für die politische Forderung nach einer fortschreitenden europäischen Integration im Bereich Sicherheit und Verteidigung“. Der Begriff „Armee der Europäer“ meine lediglich eine „möglichst enge Kooperation der Streitkräfte der EU Mitgliedstaaten“.6 Und Helga Schmid, Generalsekretärin des Europäischen Auswärtigen Dienstes, stellt klar, worum es nicht geht: um eine Duplizierung der NATO und schon gar nicht um die Schaffung einer europäischen Armee.7 Kurzum: Es ist vollkommen unklar, in welche Richtung sich dieses Europa der Verteidigung entwickelt und wohin es sich entwickeln sollte. Im Folgenden will ich kurz die Hintergründe der aktuellen Entwicklungen nennen und dann die normative Kontroverse darstellen, 3 Eckhard Lübkemeier, Europa schaffen mit eigenen Waffen? Chancen und Risiken europäischer Selbstverteidigung (Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP Studie 17), Berlin 2020. 4 Rede der Bundesministerin der Verteidigung Annegret Kramp-Karrenbauer am 17.11.2020 https://www. bmvg.de/de/aktuelles/zweite-grundsatzrede-verteidigungsministerin-akk-4482110 (abgerufen 22.11.2020). 5 Die Macron-Doktrin: Ein Gespräch mit dem französischen Staatspräsidenten, in: Der Grand Continent, 16.11.2020, https://legrandcontinent.eu/de/2020/11/16/macron/ (abgerufen 22.11.2020). 6 Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage von FDP Abgeordneten: Erfolgreicher Weg zu einer europäischen Armee. Drucksache 1q9/8090, Berlin, 1. März 2019, 2. Zur Unterscheidung zwischen Europäischer Armee und Armee der Europäer vgl. auch Ulf von Krause, Die Bundeswehr als Teil einer Europäischen Armee. Realistische Perspektive oder unrealistische Vision?, Wiesbaden 2019. 7 Helga Maria Schmid, Der Europäische Auswärtige Dienst – Impulsgeber für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik, in: Ringo Wagner und Hans-Joachim Schaprian (Hrsg.), Handlungsfähigkeit stärken – Stabilität schaffen. Überlegungen zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion. Friedrich Ebert Stiftung 2018, 24–29, hier 25.
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also die Frage, wohin sich die europäische Verteidigung entwickeln sollte. Hier lassen sich zwei Positionen unterscheiden: eine föderale und eine skeptische Position, die ich mangels besserer Alternativen als demoikratische Perspektive bezeichne.8 Sie unterscheiden sich in der Einschätzung des Charakters der Europäischen Union, der Legitimation europäischer Politik und damit des Zusammenhangs zwischen der europäischen Integration und dem inneren Frieden. Ein zweites Kriterium zur Bewertung der EU als sich entwickelnde Verteidigungsgemeinschaft ist der äußere Frieden. Föderalistische Positionen kommen überwiegend zu einer positiven Einschätzung, der zufolge eine auch militärische Handlungsfähigkeit die Chance erhöht, dass die EU ihren Werten und damit auch dem Frieden besser Nachdruck verleihen kann. Aus demokratischer Sicht stellt sich der Zusammenhang zwischen fortschreitender Integration in der Verteidigung und äußerer Friedfertigkeit der EU deutlich kritischer dar. Sie stellt sich aus dieser Sicht der Zusammenhang zwischen fortschreitender Integration in der Verteidigung und äußerer Friedensfähigkeit der EU deutlich kritischer dar. Abschließend will ich kurz ausleuchten, welche realpolitische Entwicklungsrichtung sich aus den bisherigen Initiativen der EU erkennen lässt.
II. Hintergründe des Neustarts der europäischen Verteidigungspolitik 1. Der Vorläufer: Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik Mit den Initiativen seit 2016 unternimmt die EU bereits den zweiten Versuch, sicherheitsund verteidigungspolitisch handlungsfähig zu werden. Den ersten startete sie, begünstigt durch eine Konvergenz französischer und britischer Auffassungen, mit den Beschlüssen des Europäischen Rats von Helsinki im Dezember 1999. Ein Anstoß der damaligen Entscheidungen zum Aufbau einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik waren die Unsicherheiten über die Verlässlichkeit des US-amerikanischen Engagements für die Sicherheit Europas.9 Die Planungen zur Ausgestaltung der ESVP wurden stark von den damaligen Konflikten und den Szenarien von Interventionen und Stabilisierungsmissionen wie in Bosnien und im Kosovo geprägt. Entsprechend stand im Zentrum der damaligen Planungen das sogenannte Helsinki Headline Goal, die Zielvorgabe, 60.000 Soldatinnen und Soldaten innerhalb von 60 Tagen mobilisieren und in einen Einsatz außerhalb der EU schicken zu können, den diese Truppe über lange Zeiträume durchhalten kann. Ein Helsinki Headline Catalogue spezifiziere die dazu nötigen Kapazitäten. Obwohl die Mitgliedstaaten mit ihren Meldungen auf dem Papier diese und eine weitere Zielvorgabe, das Headline Goal 2010, in weiten Teilen erfüllten, mehrten sich die Zweifel, dass die EU zu derartigen Einsätzen in 8 Eine Demoikratie ist ein enger Verbund von demokratischen Staaten, der jedoch über kein eigenes, sich als solches verstehendes Staatsvolk verfügt, sondern die Staatsvölker und Infrastrukturen von Demokratie der Verbundstaaten überwölbt. 9 Jolyon Howorth, Security and Defence Policy in the European Union, Houndsmill 2007.
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der Lage ist. Stattdessen richtete sich die Aufmerksamkeit nach 2005 auf den Aufbau sogenannter Battle Groups, schnell mobilisierbare Eingreifverbände in der Größenordnung von 1.000 Soldatinnen und Soldaten. Mit großem Aufwand schaffen es die EU Mitgliedstaaten, zwei derartige Verbände halbjährlich rotierend in Bereitschaft zu halten. Eingesetzt wurden sie noch nie. 2. Auf dem Weg zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Die Hintergründe des Neustarts Die Hintergründe des Neustarts der europäischen Verteidigungspolitik sind schnell benannt. Zum ersten stellt sich das europäische Umfeld heute deutlich konfliktträchtiger dar als bei der Veröffentlichung der ersten europäischen Sicherheitsstrategie 2003.10 Sie malte noch das Bild eines Rings befreundeter und gut regierter Staaten, die mit dem Instrument der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) wirtschaftlich und politisch näher an die EU herangeführt werden sollten. Heute ist von einem Ring der Instabilität die Rede und die EU sieht sich konfrontiert mit geopolitischen Rivalen im Osten und Südosten sowie fragilen oder scheiternden Staaten im Süden. Zweitens war die EU nach dem Brexit auf der Suche nach einem neuen Narrativ. Da bot sich, alle Umfragen weisen darauf hin, eine neue Formel an: „ein Europa, das schützt“. Das Ziel einer europäischen Verteidigung findet bei den Bevölkerungen der meisten europäischen Staaten Zustimmung.11 Drittens laufen die Rüstungspolitiken der EU-Mitgliedstaaten in Sackgassen. In der EU sind die Rüstungsproduktion, die Rüstungsbeschaffung und die Streitkräftestrukturen immer noch stark national orientiert. Und dieses Modell ist angesichts steigender Kosten, knapper Mittel und der geringen Größe nationaler Rüstungsmärkte und nationaler Armeen nicht zukunftsfähig. Studien schätzen die Kosten der fragmentierten Märkte, Doppelentwicklungen, ineffizienten Strukturen und so entgangener Skaleneffekte auf 26 bis 120 Mrd. Euro.12 Stärkere Kooperation und Integration bei der Rüstungsproduktion und -beschaffung sowie der Streitkräftestrukturen wird, so der Konsens, zunehmend unabweisbar. Viertens und am wichtigsten: Das transatlantische Verhältnis bleibt mit Unsicherheiten und Umbrüchen belastet. Seit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) in den 1950er Jahren entfaltete sich die europäische Integration unter dem Schirm 10 European Union, A Secure Europe in a better World: European Security Strategy, Brussels 2003. 11 2017 hielten in Deutschland 58 % der Befragten eine Europäische Armee für wünschenswert, europaweit immerhin 55 %. Auf mehrheitliche Ablehnung stieß dieses Projekt in Portugal, Irland sowie den drei neutralen Staaten. Vgl. Kantar Public 2017: Deutsche Außenpolitik – 20.10.2017, https://www.koerber-stiftung.de/ fileadmin/user_upload/koerber-stiftung/presse/pdf/2017/Tabellenband_Umfrage-Aussenpolitik-gesamt_Oktober_2017.pdf, 5.3.2018 (abgerufen 22.11.2020). 12 Blanca Ballester, The Costs of Non-Europe in Common Security and Defence Policy, European Parliamentary Research Service, Brüssel 2013.
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der amerikanischen sicherheitspolitischen Hegemonie. Diese Konstruktion geriet schon vor der Präsidentschaft Donald Trumps ins Rutschen. Mit Trump wurde sie unhaltbar bis zu dem Punkt, an dem ein Austritt der USA aus der NATO in den Bereich des politisch Möglichen rückte. Mit dem Amtsantritt Joe Bidens verändert sich zwar der Ton, die Unsicherheiten bleiben und die amerikanischen Erwartungen an die sicherheitspolitische Leistungsfähigkeit Europas nehmen eher zu. Konsens ist also, dass mehr europäische Handlungsfähigkeit in der Sicherheit und Verteidigung nötig wäre. Die hängt nicht allein von der Höhe der nationalen Beiträge ab, sondern von institutionellen Reformen auf europäischer Ebene, um die Fraktionierung zu überwinden und Skaleneffekte zu nutzen. Klar ist aber ebenfalls, dass alle Reformpfade in vermintes Gelände führen. Widersprüche und Zielkonflikte lassen sich an der Figur des Integrationstrilemmas verdeutlichen.13 Demnach soll die Zusammenarbeit in der EU drei Ziele erfüllen, die sich aber nicht alle gleichzeitig erreichen lassen: effektive Handlungsfähigkeit, demokratische Legitimität und die Einbindung aller Mitglieder. Um effektiv zu handeln, müsste sich die EU institutionell so aufstellen, dass sie autoritativ auch solche Entscheidungen treffen kann, die politischen Charakter haben und nicht alle Mitglieder in der gleichen Weise zufriedenstellen. Wie aber ließen sich derartige Entscheidungen auf europäischer Ebene legitimieren? Bisher bilden die Staaten die Arenen, innerhalb derer Gesellschaften nach demokratischen Verfahren über ihr Schicksal entscheiden wollen. Eigenständige europäische Quellen von Input-Legitimität sprudeln bisher nur spärlich. Daher ist die EU, will sie ihre Legitimität sichern, auf die Zustimmung ihrer Mitgliedstaaten angewiesen. Die Zustimmung oder anders gewendet die Vetomöglichkeit jedes Mitgliedstaates verhindert aber genau die effektive europäische Handlungsfähigkeit. Und schließlich verschärft sich die Spannung zwischen europäischer Handlungsfähigkeit und staatsbasierten Legitimitätsressourcen durch die Heterogenität der sicherheitspolitischen Orientierung der Mitgliedstaaten, die mit den letzten Erweiterungsrunden eher zugenommen hat. Auf dem Politikfeld der Sicherheits- und Verteidigungspolitik löste die EU dieses Trilemma bisher auf, indem sie möglichst alle Mitglieder einbindet und ihre Mitsprache- und Vetorechte wahrt, dafür aber Einbußen bei der Handlungsfähigkeit in Kauf nimmt. Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik unterscheidet sich von anderen Politikfeldern durch ihre intergouvernementale Architektur, das Konsensprinzip und die geringere Delegation von Kompetenzen an EU-Organe.14 Die normative Kontroverse betrifft also die Frage, wie die EU angesichts externer Herausforderungen dieses Trilemma künftig auflösen sollte? Eine föderalistische Perspektive hält einen linearen Prozess der immer stärkeren Verzahnung und Verschmelzung nationaler 13 Martin Höpner et al., Trilemma der Europäischen Integration, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.4.2012, https://www.mpifg.de/aktuelles/themen/doks/12-04-27_Hoepner-Schaefer_FAZ_text.pdf (abgerufen 22.11. 2020). 14 Siehe den Beitrag von Gabriele Clemens, Europäisierung von Außenpolitik? in diesem Band.
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Rüstungs- und Wehrstrukturen und der immer weitergehenden Übertragung von Entscheidungskompetenzen auf die europäische Ebene für möglich und wünschenswert. Die Europäisierung der Verteidigung würde die Handlungsfähigkeit stärken und sicherstellen, dass Europa Spieler bleibt und nicht zum Spielball externer Mächte wird. Zudem könnte die EU aus sich heraus Legitimität für eine gemeinsame Verteidigungspolitik schaffen. Eine staatszentrierte Perspektive rechnet hingegen mit Kipppunkten in einem solchen Prozess und rät zu Vorsicht. Der Ausgangspunkt aus föderalistischer Perspektive ist der Befund, die Staaten seien zu klein geworden, um in der globalisierten Welt europäischen Werten oder Interessen Nachdruck zu verleihen. Nach dem Politikwissenschaftler Sebastian Giegerich gehe es um die „Selbstbehauptung von 500 Millionen Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern […], die im globalen Zeitalter effektiv nur mit vereinten Kräften durch die EU erfolgen kann […]“.15 Vertreterinnen und Vertreter dieser Position halten eine immer weiter integrierte Verteidigungsunion auch für prinzipiell zustimmungsfähig unter den Mitgliedstaaten sowie den Bürgerinnen und Bürgern der EU. Ihr normatives Argument: Der Demos in Europa habe bereits eine doppelte Erscheinungsform angenommen. Er bezeichne nicht nur das nationale Wahlvolk, sondern bei Entscheidungen, die Europa betreffen, die Unionsbürgerschaft in ihrer Gesamtheit, „auch wenn man sie (noch) nicht als europäisches Volk mit eigenem ‚Natio nalbewusstsein‘ qualifizieren kann“.16 Aus dieser Sicht liegt ein Legitimitätsproblem also nicht vor, wenn Regierungen bei einer Entscheidung überstimmt werden, aber dann, wenn effektives Handeln im Interesse der großen Mehrheit der Unionsbürgerinnen und -bürgern von kleinen Minderheiten blockiert wird. In derartigen Blockaden und Effektivitätsdefiziten sieht die föderalistische Position das entscheidende Risiko für den inneren Zusammenhalt und damit die Friedensfähigkeit der EU nach innen. Die Annahme, dass eine Verteidigungsunion einschließlich der damit nötigen Übertragung von Hoheitsrechten prinzipiell zustimmungsfähig ist, stützt sich weiterhin auf zwei Erwartungen. Zum einen würden sich mit der verstärkten Zusammenarbeit Unterschiede der sicherheitspolitischen Kulturen abschleifen. Auf dieser Annahme beruht auch Macrons Interventions-Initiative.17 Zum anderen sei in dem Maße, in dem die EU sichtbar als verteidigungspolitischer Akteur handelt, mit einer Verlagerung von Loyalität auf die europäische Ebene zu rechnen. Auch wenn ein europäischer Demos bisher nur in Ansätzen zu erkennen sei, ließe er sich so schnell wecken.18 Ähnlich argumentiert Präsident Macron. Er räumt ein, 15 Thomas Giegerich, Wege zu einer vertieften Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik: Reparatur von Defiziten als „kleine Lösung“, in: Stefan Kadelbach (Hrsg.), Die EU am Scheideweg: Mehr oder weniger Europa, Baden-Baden 2015, 135–182, hier 143. 16 Giegerich, Wege, 144. 17 Dick Zandee/Kimberley Kruijver, The European Intervention Initiative. Developing a Shared Strategic Culture for European Defence (Clingendael Report), Den Haag 2019. 18 Andreas Follesdal/Simon Hix, Why There is a Democratic Deficit in the EU: A Response of Majone and Moravcsik, in: Journal of Common Market Studies 44 (2006), 3, 533–562.
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die europäische Souveränität sei gegenwärtig noch transitiven Charakters. Ein „wahrer europäischer Demos“ ließe sich aber zutage fördern, etwa durch die Einführung transnationaler Listen für die Europawahlen.19 An dieser Stelle legen Vertreterinnen und Vertreter der staatszentrierten Perspektive Widerspruch ein. Sie sehen keine Anzeichen dafür, dass die Verlagerung von Kompetenzen auf die europäische Ebene eine europäische Gemeinschafts- und Identitätsbildung nach sich zieht. Stattdessen seien die nationalen sicherheitspolitischen Kulturen und die Infrastrukturen von demokratischer Selbstbestimmung erstaunlich stabil. Europa gleiche einem engen Verbund von demokratischen Gemeinwesen oder einer Demoikratie, befinde sich aber nicht auf dem Weg zu einer europäischen Demokratie.20 Daher, so ließe sich folgern, seien andere Maßstäbe zur Beurteilung sicherheits- und verteidigungspolitischer Strukturen anzulegen. Die Handlungsfähigkeit der EU ist aus dieser Sicht ein wichtiges, aber nicht das einzige Gut. Ein zweites ist der wechselseitige Respekt für die demokratischen Selbstbestimmungsmöglichkeiten nationaler Gemeinschaften. Es gehe also um die Balance europäischer Handlungsfähigkeit einerseits und demokratischer Selbststeuerungsfähigkeit von staatlich organisierten Gemeinschaften andererseits. Leitlinien für diesen Balanceakt seien teils das Gebot der europäischen Solidarität, das ohne europäische Handlungsfähigkeit nur auf dem Papier stünde. Teils sollte die Majorisierung von Minderheiten und die Nichtbeachtung der nationalen Präferenzen eines Mitgliedstaates in solchen Fragen, die für diesen Staat von vitaler Bedeutung sind, vermieden werden.21 Es sei nicht damit zu rechnen, dass mit der europäischen Tat gleichsam eine europäische Identität entsteht. Daher bliebe aus dieser Sicht eine zu weit vorauseilende Integration von Streitkräftestrukturen und Entscheidungsverfahren mit Risiken behaftet. Wenn im Zuge einer immer weitergehenden Europäisierung integrierte Streitkräftestrukturen entstehen und Mitgliedstaaten dadurch immer stärker zum gemeinsamen Handeln verpflichtet werden, wäre mit einem Kipppunkt zu rechnen, ab dem mehr Integration nicht zu mehr Zustimmung und Legitimität führt, sondern zu mehr Konflikten. Aus diesen Überlegungen leiten sich andere Empfehlungen für die weitere militärische Kooperation ab. Auch aus der staatszentrierten Perspektive ist mehr Effektivität und europäische Handlungsfähigkeit gefragt. Das ergibt sich allein aus dem Gebot der Solidarität. Um eine größere Effektivität zu erreichen, wäre auch aus dieser Sicht eine Rollenspezialisierung und Teilung von Fähigkeiten sinnvoll. Allerdings sollte diese auf weniger sensitive Bereiche wie etwa militärische Versorgungsdienste, das Nachschubwesen, das Sanitätswesen, die Ausbildung oder auch auf die satellitengestützte Aufklärung beschränkt werden. Dagegen 19 Macron 2020. 20 Francis Chevenal/Frank Schimmelfennig, The Case for Demoicracy in the European Union, in: Journal of Common Market Studies 51 (2013), 2, 334–350. 21 Kalypso Nicolaidis, European Demoicracy and its Crisis, in: Journal of Common Market Studies 51 (2013), 2, 351–369, hier 363.
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sollte die nationale Entscheidungsfreiheit nicht durch integrierte Strukturen in den Bereichen einschränkt werden, in denen es um hochsensitive Fragen wie die Entsendung von Streitkräften geht. Ähnliche Überlegungen lassen sich aus dieser Sicht in Bezug auf die Übertragung von Entscheidungskompetenzen auf die europäische Ebene anstellen. Die gegenwärtige Situation, in der Staaten aufgrund der besonderen vertraglichen Bestimmungen in der GASP/ GSVP die gemeinsame Handlungsfähigkeit als Geisel zur Durchsetzung ihrer Sonderinteressen nehmen können, ist auch aus einer demoikratischen Perspektive nicht hinnehmbar.22 Dennoch spricht einiges dagegen, dass sich die im Bereich des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geltenden Verfahren einfach auf den Bereich des Vertrags über die Europäische Union (EUV), also die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), übertragen lassen. Die Dichotomie von high und low politics, die in der Literatur als Begründung für diesen Unterschied – supranational hier, intergouvernemental dort – in Stellung gebracht wird, klingt zwar gut, erklärt aber wenig. Denn Bereiche der Wirtschafts- und Währungspolitik sind politisch ebenso salient und souveränitätsgeladen wie die meisten Fragen der GSVP. Wichtiger ist ein anderer Unterschied zwischen den im AEUV zusammengefassten Politikfeldern und der GSVP. Auf ersteren sind die möglichen Konsequenzen der Delegierung von Kompetenzen an supranationale Organe und des (kontrollierten) Übergangs zu Mehrheitsentscheidungen eher kalkulierbar. Dagegen können sich außen- und sicherheitspolitische Problemlagen schnell und unvorhersehbar verändern und müssen außenpolitische Akteure rasch reagieren und in Situationen der Unsicherheit Entscheidungen treffen, die sich nicht aus Regeln ableiten und deren Folgen sich nur bedingt absehen lassen. In einem solchen Kontext wären supranationale Organe schnell überfordert und sind Staaten weniger bereit, eine Majorisierung zu akzeptieren. Stattdessen sind aus dieser Perspektive im Bereich der GSVP weichere Formen der Delegierung und andere Formen der Abschwächung des Konsensprinzips wie opting-out Regeln und informelle Kerngruppen ratsam.
III. Die EU als Verteidigungsgemeinschaft und die Friedensfähigkeit nach außen Die Forschung ist sich einig, dass sich das Verhalten des globalen Akteurs EU systematisch vom Verhalten ähnlich großer Staaten unterscheidet. Die EU zeichne sich aus durch eine Präferenz für Regelorientierung und Multilateralismus, für die Suche nach Kompromissen und den Einsatz ziviler Instrumente. Die Forschung schlug weiterhin eine Reihe von Be22 Ein Beispiel in dieser Hinsicht lieferte Zypern im Spätherbst 2020 mit seiner Blockade von Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime, die allein dem Zweck diente, die Verhängung von europäischen Sanktionen gegen die Türkei zu erpressen.
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zeichnungen oder Charakterisierungen des globalen Akteurs EU vor, die dieses Verhalten auf den Punkt bringen sollen. François Duchêne prägte schon in den 1980er Jahren den Begriff der Zivilmacht, den Hanns Maull und andere später wieder aufgriffen.23 Andere Beobachterinnen und Beobachter führten Zuschreibungen wie market power,24 ethical power,25 gentle power oder post-modern power ein.26 Auf große Zustimmung stieß insbesondere Ian Manners Vorschlag, die EU als normative power zu begreifen.27 So treffend die Beobachtung eines spezifischen Verhaltens des globalen Akteurs EU ist, so unklar sind die Gründe für diese Orientierung und so offen ist die Frage, ob und wann eine fortschreitende Europäisierung von Verteidigung diese Bedingungen verändern würde. Die meisten Föderalisten nehmen an, diese Orientierung sei Folge einer stabilen normativen Grundkonstitution bzw. eines gemeinsamen Wertekanons. Die Union sei eine Friedensgemeinschaft nicht nur nach innen, sondern wirke als Wertegemeinschaft und Kraft des Friedens auch nach außen. Dieser Zusammenhang drückt sich in der oft gebrauchten Formel aus, die Mitgliedstaaten müssten ihre Fähigkeiten effizient europäisch bündeln, wenn sie den europäischen Werten in der Welt Nachdruck verleihen wollen. Und zu diesen Werten zählen neben der Demokratie, den Menschenrechten und der Rechtstaatlichkeit auch der Frieden selbst. Sofern Vertreterinnen und Vertreter der demoikratischen Perspektive auch das liberale Paradigma der Internationalen Beziehungen teilen, kommen sie zu einer anderen Einschätzung. Aus dieser Perspektive ist das „zivilmachtliche“ oder normative Verhalten des globalen Akteurs EU eine Folge ihrer institutionellen Strukturen, insbesondere ihres ausdifferenzierten Systems von checks und balances. Die EU agiere als Zivilmacht, weil sie in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht vollständig integriert ist, sondern auf die Zustimmung aller ihrer kleinen und großen, neutralen und paktgebundenen, nach Süden und nach Osten blickenden Mitgliedstaaten angewiesen ist. Das Konsensprinzip erschwert schnelle Entschlüsse, dezisionistische Entscheidungen und die rasche Mobilisierung und Bündelung von Kapazitäten und damit genau die Fähigkeiten, die einen traditionellen machtpolitischen Akteur auszeichnen. Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik werde sich folglich in dem Maße normalisieren und der großer Staaten ähnlicher werden, in dem die EU diese institutionellen Hemmnisse demontiert und in ihren Strukturen staatenähnlicher wird. Dieses Argument wurde bereits von David Mitrany, dem Gründungsvater des Funktionalismus, gegen die von Ernst Haas eingeleitete neo-funktionalistische Wende ins Feld geführt. Aus 23 François Duchêne, Die Rolle Europas im Weltsystem – Von der regionalen zur planetarischen Interdependenz, in: Max Kohnstamm/Wolfgang Hager (Hrsg.), Zivilmacht Europa – Supermacht oder Partner, Frankfurt 1973, 11–35. 24 Chad Damro, Market Power Europe, in: Journal of European Public Policy 19 (2008), 5, 682–699. 25 Lisbeth Aggestam, Introduction: Ethical Power Europe?, in: International Affairs 84 (2008), 1, 1–11. 26 Robert Cooper, The Post-Modern State and the World Order, London 2000. 27 Ian Manners, Normative Power Europe: A Contradiction in Terms? in: Journal of Common Market Studies 40 (2002), 2, 235–258.
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seiner Perspektive erschien die auf den Bundesstaat ausgerichtete Vision der regionalen Integration als federal fallacy, die er mit der Begründung ablehnte, damit seien Konflikte mit den umliegenden Staaten vorprogrammiert.28
IV. Die EU auf dem Weg zur Verteidigungsgemeinschaft? Entwicklungen und Projektionen Im Folgenden will ich den Bereich der normativen Debatte verlassen und fragen, welche Entwicklungsperspektive der europäischen Verteidigung die Beschlüsse seit 2016 erwarten lassen. Auf den ersten Blick scheint die Richtung klar. Im Gegensatz zu dem ersten Versuch von 1999, die EU als sicherheits- und verteidigungspolitischen Akteur zu etablieren, geht es bei dem zweiten Versuch um vorsichtige Evolution. Und während das Gewicht beim ersten Versuch auf der Generierung von interventionsfähigen Streitkräften lag, liegt der Schwerpunkt des zweiten Versuchs auf der stärkeren Kooperation und Integration im Bereich der Rüstungspolitik. Die Globale Strategie betont zwar stärker den Schutz der europäischen Bürgerinnen und Bürger, schreibt aber viel von dem fort, was in der Sicherheitsstrategie von 2003 angelegt war. PESCO bleibt weit hinter dem zurück, was sich Frankreich und andere erhofft hatten. Mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit entsteht keine Kerngruppe der besonders ambitionierten Staaten und wird keine Koalition der Willigen in der Verteidigung institutionalisiert. Stattdessen setzte sich Deutschland mit der Forderung durch, die Teilnahmebedingungen so weich zu formulieren, dass schließlich praktisch jeder EU-Staat (mit Ausnahme von Dänemark und Malta) seine Teilnahme erklärte. PESCO schafft ein vertragliches Dach für die Definition und Durchführung gemeinsamer Rüstungsvorhaben von zwei oder mehr Mitgliedstaaten. Dabei geht es um so unterschiedliche Projekte wie den Aufbau von Ausbildungs- und Trainingszentren über ein Sanitätskommando bis hin zur Entwicklung von Waffensystemen. Ob sich damit die Fragmentierung der europäischen Rüstungslandschaft und die Doppelungen bei der Beschaffung überwinden lassen, ist auch nach der im November 2020 erfolgten Evaluierung offen.29 PESCO ist als ein von den Mitgliedstaaten gesteuerter Prozess von einer bottom-up Logik geprägt und weist mit 47 kooperativen Projekten zwar eine Vielzahl von Vorhaben aus, die aber kein kohärentes Ganzes ergeben. Die Lücken zwischen den in verschiedenen Fähigkeitszielen definierten militärischen Kapazitäten und dem, was die EU-Staaten zur Verfügung stellen könnten, wird auch PESCO mittelfristig nicht schließen.
28 David Mitrany, The Prospect of Integration: Federal or Functional, in: A.J.R. Groom/Paul Taylor (Hrsg.), Functionalism. Theory and Practice in International Relations, London 1975, 53–78. 29 Rat der Europäischen Union, Schlussfolgerungen des Rates zur strategischen Überprüfung der SSZ 2020, 13188/20, Brüssel, 20.11.2020.
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Ein Motiv für die Teilnahme an transnationalen Rüstungskooperationen unter dem Dach von PESCO besteht in der Hoffnung, die Chancen auf europäische Förderung aus dem Verteidigungsfonds zu erhöhen. Der Fonds sollte nach dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission für die mittelfristige Finanzplanung für die Jahre von 2021 bis 2027 mit 13 Mrd. Euro ausgestattet werden. Nach Abschluss der Haushaltsberatungen bleiben noch knapp 8 Mrd. Euro.30 Damit schafft der Fonds Anreize für die transnationale Rüstungskooperation, aber keinen europäischen Rüstungsmarkt. Grenzüberschreitende Lieferketten entwickeln sich nur bruchstückhaft; die europaweite Ausschreibung von größeren Rüstungsaufträgen findet kaum statt.31 Die Ausschreibung für die nächste Generation von Fregatten für die Bundesmarine ist die große Ausnahme. Eine ernüchternde Bilanz zieht denn auch der erste Coordinated Annual Review of Defence (CARD Report). Danach ist die EU weit davon entfernt, die in dem Level-of-Ambition gesetzten Ausrüstungsziele zu erreichen. Die Rüstungsbeschaffung bleibt fragmentiert; die Bereitschaft, zu Auslandsmissionen beizutragen, ist weiterhin gering.32 Eine bestenfalls evolutionäre Weiterentwicklung ist aber nicht nur im Bereich der Rüstungskooperation festzustellen. Auch an der eingeschränkten sicherheits- und verteidigungspolitischen Rolle der EU möchte eine Mehrheit der EU-Staaten nicht rütteln. Sie sieht in der europäischen Kooperation stattdessen ein Instrument, um Europa für die USA attraktiv zu machen und will an der bisherigen, komplementären Arbeitsteilung zwischen NATO und EU festhalten. Danach bleibt die NATO uneingeschränkt für die kollektive Verteidigung zuständig und Europa auf die Nebenrolle beschränkt, zur Krisenprävention und Stabilisierung in der südlichen und südöstlichen Nachbarschaft beizutragen. Gleichzeitig bleibt der politische Wille in den meisten Mitgliedstaaten für derartige Einsätze überschaubar. Seit der ersten GSVP Mission in der ostkongolesischen Provinz Bunia im Jahre 2003 weisen die Missionen der EU einen Trend auf: Sie wurden ziviler und weniger robust. Vor allem bleibt die GSVP strikt unter der Kontrolle der Mitgliedstaaten. Die Bereitschaft zu einer Aufweichung des Konsensprinzips in der GSVP ist nicht zu erkennen. Damit bleibt auch die europäische Armee vorläufig eine Vision. Dennoch ist ein Anfang gemacht und könnte sich europäische Verteidigung durch externe Schocks und interne Pfadabhängigkeiten dynamisch weiterentwickeln. Auch wenn eine Mehrheit der EU-Mitglieder mit der 30 Council of the EU, Provisional agreement reached on setting-up the European Defence Fund, Brussels, Press Release 935720, 14.12.2020. 31 Europäische Kommission: Bericht der Kommission zur Umsetzung der Richtlinie 2009/81 zur Vergabe öffentlicher Aufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit gemäß Artikel 73 Absatz 2 dieser Richtlinie, Brüssel, 30.11.2016, COM(2016)762 final. Der Bericht stellt fest, „[…] dass ein sehr hoher Teil der Ausgaben für Verteidigungsgüter nach wie vor ohne Berücksichtigung der Richtlinie stattfindet“ (S. 5). Zu einer ähnlich ernüchternden Einschätzung kommt auch ein Dienst des Europäischen Parlaments: European Parliamentary Research Service, EU Defence Package: Defence Procurement and Intra-Community Transfers Directives. European Implementation Assessments, Brussels 2020. 32 European Defence Agency: 2020 CARD Report, Brussels November 2020.
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Nebenrolle zufrieden ist, die die GSVP an der Seite der großen NATO und im Schatten der amerikanischen Hegemonie spielt, sieht sie dieses Instrument doch auch als Rückversicherung für den Fall, dass sich die politischen Verhältnisse in den USA in vier Jahren wieder anders darstellen. Dass Europa diese Zeit nutzen muss, um weiter an dieser Rückversicherungsoption zu bauen, ist zwischen Deutschland, Frankreich und den meisten anderen Mitgliedstaaten unumstritten. Daneben ist durchaus mit einer ungewollt-gewollten spill-over Dynamik zu rechnen. Die Kommission kleidet ihre Vorstöße zur Schaffung eines europäischen Rüstungsmarkts in einen industriepolitischen Mantel. Sie nutzt – durchaus umstritten – als rechtliche Grundlage für den Verteidigungsfonds Artikel 137 AEUV, der Maßnahmen zur Förderung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit regelt.33 Dennoch hat der Fonds militärische und verteidigungspolitische Bezüge und könnte, wenn er sich als Baustein eines zukünftigen europäischen Rüstungsmarkts erweist, erhebliche spill-over Effekte erzeugen. Denn nach funktionaler Logik ergäbe sich als nächster und kaum noch abzuweisender Schritt eine Europäisierung der Rüstungsexportpolitik, die sich wiederum als Einfalltor für deutlich mehr Europa in der bisher intergouvernementalen Außen- und Sicherheitspolitik erweisen würde. Kurzum: Das Feld könnte sich zwischen Vision und Konfusion nach funktionaler Logik dynamisch entwickeln.
Bibliografie Aggestam, Lisbeth, Introduction: Ethical Power Europe?, in: International Affairs 84 (2008), 1, 1–11. Ballester, Blanca, The Costs of Non-Europe in Common Security and Defence Policy, European Parliamentary Research Service, Brüssel 2013. Chevenal, Frank/Schimmelfennig, Frank, The Case for Demoicracy in the European Union, in: Journal of Common Market Studies 51 (2013), 2, 334–350. Cooper, Robert, The Post-Modern State and the World Order, London 2000. Council of the European Union, Implementation Plan on Security and Defence, 14392/16, Brüssel, 14.11.2016. Damro, Chad, Market Power Europe, in: Journal of European Public Policy 19 (2008), 5, 682–699. Dembinski, Matthias/Peters, Dirk, Eine Armee für die Europäische Union? Europapolitische Konzep tionen und verteidigungspolitische Strukturen, PRIF-Report, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt 2018.
33 Die Kommission stützt den Verteidigungsfond auch deshalb rechtlich auf den Artikel 137 AEUV, weil die einschlägige Bestimmung des Vertrages über die Europäische Union, der die Zuständigkeiten in der Außenund Sicherheitspolitik regelt, nach Artikel 41, Absatz 2 Ausgaben aus dem Haushalt der Union für Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen nicht vorsieht. Völkerrechtler bezweifeln denn auch, ob die rechtliche Konstruktion der Kommission zur Einrichtung des Verteidigungsfonds zulässig ist. Vgl. Andreas Fischer-Lescano, Rechtsfragen der Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds (EVF). Rechtsgutachten im Auftrag der Fraktion der GUE/NGL im EP, 30.11.2018.
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Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage von FDP Abgeordneten: Erfolgreicher Weg zu einer europäischen Armee. Drucksache 1q9/8090, Berlin, 1.3.2019, 2. Die Macron-Doktrin: Ein Gespräch mit dem französischen Staatspräsidenten, in: Der Grand Continent, 16.11.2020, https://legrandcontinent.eu/de/2020/11/16/macron/ (abgerufen 22.11.2020). Duchêne, François, Die Rolle Europas im Weltsystem – Von der regionalen zur planetarischen Interdependenz, in: Max Kohnstamm/Wolfgang Hager (Hrsg.), Zivilmacht Europa – Supermacht oder Partner, Frankfurt/Mai 1973, 11–35. Europäische Kommission: Bericht der Kommission zur Umsetzung der Richtlinie 2009/81 zur Vergabe öffentlicher Aufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit gemäß Artikel 73 Absatz 2 dieser Richtlinie, Brüssel, 30.11.2016, COM(2016)762 final, 5. European Defence Agency: 2020 CARD Report, Brussels November 2020. European Union, A Secure Europe in a better World: European Security Strategy, Brussels 2003. European Parliamentary Research Service, EU Defence Package: Defence Procurement and IntraCommunity Transfers Directives. European Implementation Assessment, Brussels 2020. Fischer-Lescano, Andreas, Rechtsfragen der Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds (EVF). Rechtsgutachten im Auftrag der Fraktion der GUE/NGL im EP, 30.11.2018, https://oezlem-alevdemirel.de/wp-content/uploads/2019/10/EVF-Gutachten_2018_November30.pdf (abgerufen 22.11.2020). Follesdal, Andreas/Hix, Simon, Why There is a Democratic Deficit in the EU: A Response of Majone and Moravcsik, in: Journal of Common Market Studies 44 (2006), 3, 533–562. Giegerich, Thomas Giegerich, Wege zu einer vertieften Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik: Reparatur von Defiziten als „kleine Lösung“, in: Stefan Kadelbach (Hrsg.), Die EU am Scheideweg: Mehr oder weniger Europa, Baden-Baden 2015, 135–182. Howorth, Jolyon, Security and Defence Policy in the European Union, Houndsmill 2007. Kantar Public: Deutsche Außenpolitik – 20. Oktober 2017, https://www.koerber-stiftung.de/fileadmin/ user_upload/koerber-stiftung/presse/pdf/2017/Tabellenband_Umfrage-Aussenpolitik-gesamt_Oktober_2017.pdf, 5.3.2018 (abgerufen 22.11.2020). Lübkemeier, Eckhard, Europa schaffen mit eigenen Waffen? Chancen und Risiken europäischer Selbstverteidigung (Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP Studie 17), Berlin 2020. Manners, Ian, Normative Power Europe: A Contradiction in Terms? in: Journal of Common Market Studies, 40 (2002), 2, 235–258. Höpner, Martin/Schäfer, Armin/Zimmermann, Huber, Trilemma der Europäischen Integration, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.4.2012, https://www.mpifg.de/aktuelles/themen/doks/.12-0427_Hoepner-Schaefer_FAZ_text.pdf (abgerufen 22.11.2020) Mitrany, David, The Prospect of Integration: Federal or Functional, in: A.J.R. Groom/Paul Taylor (Hrsg.), Functionalism. Theory and Practice in International Relations, London 1975, 53–78. Nicolaidis, Kalypso, European Demoicracy and its Crisis, in: Journal of Common Market Studies 51 (2013), 2, 351–369. Rat der Europäischen Union, Schlussfolgerungen des Rates zur strategischen Überprüfung der SSZ 2020, 13188/20, Brüssel, 20.11.2020. Rede der Bundesministerin der Verteidigung Annegret Kramp-Karrenbauer am 17. November 2020 https://www.bmvg.de/de/aktuelles/zweite-grundsatzrede-verteidigungsministerin-akk-4482110 (abgerufen 22.11.2020).
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Reykers, YF, A Permanent Headquarters under Construction? The Military Planning and Conduct Capability as a Proximate Principal, in: Journal of European Integration 41 (2019), Heft 6, 783–799. Schmid, Helga Maria, Der Europäische Auswärtige Dienst – Impulsgeber für die europäische Außenund Sicherheitspolitik, in: Ringo Wagner und Hans-Joachim Schaprian (Hrsg.), Handlungsfähigkeit stärken – Stabilität schaffen. Überlegungen zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion. Friedrich Ebert Stiftung 2018, 24–29, hier 25. Von Krause, Ulf , Die Bundeswehr als Teil einer Europäischen Armee. Realistische Perspektive oder unrealistische Vision?, Wiesbaden 2019. Zandee, Dick/Kruijver, Kimberley, The European Intervention Initiative. Developing a Shared Strategic Culture for European Defence (Clingendael Report), Den Haag 2019.
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Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger Büssgen, Antje, geb. 1966, Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Université catholique de Louvain (Belgien); Forschungsschwerpunkte: Ästhetik der literarischen Moderne; der Konnex von Ethik, Ästhetik und Geschichtsphilosophie; Intellektuellendiskurse (Weimarer Republik; Europäische Integration); Intermedialität (Farbe in Literatur und Kunsttheorie); Globalisierung in Gegenwartsliteratur und -soziologie; Publikationen zur Friedrich Schiller, Friedrich Nietzsche, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Gottfried Benn, Franz Kafka, Stefan Zweig, Julien Benda, Ilija Trojanow und Robert Menasse. Publikationen: u. a. die Monografie Glaubensverlust und Kunstautonomie: Über die ästhetische Erziehung des Menschen bei Gottfried Benn und Friedrich Schiller (2006); Artikel: „Intellektuelle in der Weimarer Republik“ (2000); „Der Europa-Diskurs von Intellektuellen in Zeiten der Krise“ (2013); „Umwege zu einem geeinten Europa. Zum Verhältnis von Kultur und Politik bei Friedrich Schiller, Stefan Zweig und Julien Benda“ (2017). Clemens, Gabriele, geb.1953, Professorin em. für Neuere Westeuropäische Geschichte an der Universität Hamburg; zugleich Inhaberin eines Jean Monnet-Lehrstuhls für Europäische Integrationsgeschichte und Europastudien und Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg; stellv. Vorsitzende des Wissenschaftlichen Direktoriums des Instituts für Europäische Politik (IEP Berlin); Forschungsschwerpunkte: Geschichte der europäischen Integration, Großbritannien und Europa, Europäische Öffentlichkeitsarbeit, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Publikationen: Monografien Europäisierung von Außenpolitik? mit Alexander Reinfeldt und Telse Rüter (2019); Geschichte der europäischen Integration mit Alexander Reinfeldt und Gerhard Wille (2008); Britische Kulturpolitik in Deutschland 1945–1949 (1997) sowie die Sammelbände Werben für Europa. Die mediale Konstruktion europäischer Identität durch Europafilme (2016); The Quest for Europeanization. Interdisciplinary Perspectives on a Multiple Process (2017). Dembinski, Matthias, geb. 1958, Projektleiter am Leibniz Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung; Forschungsschwerpunkte: Europäische Außen- und Sicherheitspolitik, europäische Sicherheitsordnung, regionale Sicherheitsorganisationen im Vergleich und Theorien von Gerechtigkeit in den Internationalen Beziehungen, einer der Leiter des multidisziplinären Forschungsprojekts „Drifting Apart: International Institutions in Crisis and the Management of Dissociation Processes“; Publikationen: Sammelband Gerechter Frieden jenseits des demokratischen Rechtsstaates mit Ines-Jaqueline Werkner (2019) und die Artikel „Die Nato auf dem Prüfstand“ (2020); „Russland und der Westen. Von der span-
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Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger
nungsgeladenen Trennung zur Koexistenz?“ mit Mikhail Polianskii (2020); „Dissoziation als Friedensstrategie? Konturen eines Forschungsprogramms“ mit Dirk Peters (2019); „Procedural justice and global order: Explaining African reactions to the application of global protection norms“ (2016). Ehland, Christoph, geb. 1971, seit 2009 Professor für englische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Paderborn, Studium an den Universitäten Siegen, Passau und Edinburgh, Promotion 2001 mit einer Arbeit zum Pikaresken in der schottischen Literatur an der Universität Würzburg, 2007 Habilitation mit einer Arbeit zur literarischen Erinnerungskultur in Großbritannien ebenda; Forschungsschwerpunkte: Mobilitätsparadigmen in der Literatur der Frühen Neuzeit, Auseinandersetzung mit der Mentalitätsgeschichte und der nationalen Mythenbildung auf den britischen Inseln; Publikationen: u. a. die Monografie Brexit. Von einer urbritischen Malaise (2019) und folgende Sammelbände: Imperial Middlebrow mit Jana Gohrisch (2020); Perspectives on Mobility mit Ingo Behrensmeyer (2013); Thinking Northern. Textures of Identity in the North of England (2007). Gehler, Michael, geb. 1962, Professor für Geschichte an der Stiftung Universität Hildesheim, dort Leiter des Instituts für Geschichte, Studium der Germanistik und Geschichte an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Senior Fellow am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) der Rheinischen Friedrich Wilhelms-Universität Bonn, viermalige Verleihung eines Jean-Monnet Chairs durch die EU-Kommission (seit 2006) und korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien; Forschungsschwerpunkte: Geschichte Tirols und Südtirols, Österreichs, Deutschlands, Europas und der Imperien, internationale Beziehungen unter besonderer Berücksichtigung der europäischen Integration und der transnationalen Parteienkooperation; Publikationen: u. a. die Monografien Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt (2018); From Saint Germain to Lisbon. Austriaʼs Long Road from disintegrated to united Europe 1919– 2009 (2020) sowie die Sammelbände Imperien und Reiche in der Weltgeschichte, mit Robert Rollinger, 2 Bde. (2014); The Revolutions of 1989. A Handbook mit Wolfgang Mueller und Arnold Suppan (2015); Welthistorische Zäsuren 1989–2001–2011 mit Michael Corsten und Marianne Kneuer (2016); Europa und die deutsche Einheit mit Maximilian Graf (2017). Geppert, Dominik, geb. 1970, Professor für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam und Präsident der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Mitglied der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Historischen Kommission zu Berlin sowie korrespondierendes Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste; Forschungsschwerpunkte: Internationale Geschichte, Geschichte der europäischen Einigung, Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Universitäts- und Intellektuellengeschichte; Publikationen: u. a. die Monografien Die Ära Adenauer (3. Auf-
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Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger
lage, 2012); Ein Europa, das es nicht gibt. Die fatale Sprengkraft des Euro (2013); Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Vom Frontstaat des Kalten Krieges zur Macht in der Mitte Europas (2021) sowie die Sammelbände Geschichte der Universität Bonn 1818– 2018 mit Thomas Becker und Philip Rosin, 4 Bände (2018). Große Hüttmann, Martin, geb. 1966, Akademischer Oberrat am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen und Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Europäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung (EZFF) Tübingen; Forschungsschwerpunkte: Reformprozesse in der Europäischen Union, EU-Migrationspolitik und Föderalismus in Deutschland und Europa; Publikationen: u. a. die Monografie Reformen durch Regierungskonferenzen (2018) und die Sammelbände Autonomieforderungen und Sezessionsbestrebungen in Europa und der Welt mit Rudolf Hrbek und Carmen Thamm (2020); Hoffnung Europa: die EU als Raum und Ziel von Migration mit Rudolf Hrbek (2017); Renaissance des Föderalismus? Zur Diskussion über die Weiterentwicklung der EU mit Rudolf Hrbek (2016); Europäische Staatlichkeit mit Hans-Jürgen Bieling (2016); Das Europalexikon mit Hans-Georg Wehling (2013). Krämer, Benjamin, Akademischer Rat am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2014 ausgezeichnet mit dem Dissertations-Förderpreis der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft; 2017 Junior Researcher in Residence am Center for Advanced Studies der LMU mit einem Projekt zum Thema Rechtspopulismus und Medien; 2017 bis 2020 Leitung des DFG-Projekts „Medienbiographien der bundesdeutschen Kanzler und der Kanzlerin“; Forschungsschwerpunkte: politische Kommunikation, insbesondere Populismus und Verschwörungstheorien; Mediennutzung und Online-Kommunikation; Publikationen: u. a. die Monografie How to do things with the Internet. Handlungstheorie online (2020); der Sammelband Perspectives on Populism and the Media – Avenues for Research mit Christina Holtz-Bacha (2020) sowie der Artikel “Populism, media, and the form of society” (2020). Florian Lippert, geb. 1978, Associate Professor und Vice Chair für Europäische Sprachen und Kulturen sowie Programmdirektor der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften an der Rijksuniversiteit Groningen, Niederlande. Seit 2017 Fachgutachter für die Europäische Kommission, 2022 Research Fellow am Netherlands Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences (NIAS), Amsterdam; Forschungsschwerpunkte: (Europäische) Krisen; Kulturelle Selbstreflexion; Migration und zeitgenössische Kultur; Literatur- und Filmtheorie; Kulturtheorie, Diskursanalyse, Systemtheorie; Publikationen: u. a. die Monografie Selbstreferenz in Literatur und Wissenschaft. Kronauer, Grünbein, Maturana, Luhmann (2013); der Sammelband Self-Reflection in Literature mit Marcel Schmid (2020) sowie der Artikel “Public self-reflection in the context of the European migrant crisis: To-
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Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger
wards a new transdisciplinary model of discourse analysis in politics, media and the arts” (2019). Lützeler, Paul Michael, geb. 1943, Rosa May Distinguished University Professor in the Humanities an der Washington University in St. Louis; dort Leiter des Max Kade Center for Contemporary German Literature seit 1985 und Direktor des European Studies Program von 1982 bis 2002. Korrespondierendes Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur sowie der Academia Europaea; Forschungsschwerpunkte: literarischer Europadiskurs, deutschsprachige Exilliteratur 1933–1945 (mit Schwerpunkt auf Hermann Broch) und die deutschsprachige Gegenwartsliteratur; Publikationen: u. a. die Monografien Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart (1992); Europäische Identität und Multikultur (1997); Kontinentalisierung. Das Europa der Schriftsteller (2007); die Editionen Europa. Analysen und Visionen der Romantiker (1982); Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger (1994) sowie der Sammelband Europe after Maastricht: American and European Perspectives (1994). Pabel, Katharina, geb. 1969, Professorin für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Wirtschaftsuniversität Wien, zuvor Professorin an der Universität Linz und Dekanin der dortigen Rechtswissenschaftlichen Fakultät; Mitglied des Beratenden Ausschusses der UNO von 2012–2018; seit 2015 stellvertretendes Mitglied der Venedig-Kommission des Europarates; seit 2018 Vorsitzende des Expertenrats Integration beim Bundeskanzleramt (Wien); Forschungsschwerpunkte: nationaler, europäischer und internationaler Grundrechtsschutz, Verfassungsrecht; Rechtsschutz und Verwaltungskontrolle; Publikationen: Monografie Europäische Menschenrechtskonvention mit Christoph Grabenwarter (7. Auflage 2021); der Sammelband Handbuch der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit Johannes Fischer und Nicolas Raschauer (2. Auflage 2019) sowie die Artikel „Die Neuordnung der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts: Verfassungsrechtliche, menschenrechtliche und europarechtliche Gesichtspunkte“ (2019) und „Justizgewährungsanspruch und faires Verfahren“ (2021). Vietta, Silvio, geb. 1941, Professor em. für Literatur- und Kulturgeschichte an der Stiftung Universität Hildesheim, Studium der Germanistik, Philosophie, Pädagogik. Nietzsche-Preis des Landes Sachsen-Anhalt 2006/2007; Forschungsschwerpunkte: Makro-Epochenforschung und der Europäistik, Expressionismus, europäische Romantik, Moderne in Literatur und Kultur, Globalisierung; Publikationen u. a. die Monografien Europäische Kulturgeschichte (2006); Rationalität. Eine Weltgeschichte (2012); A Theory of Global Civilization: Rationality and the Irrational as the Driving Forces of History (2013); Die Weltgesellschaft. Wie die abendländische Rationalität die Welt erobert und verändert hat (2016); Europas Werte. Geschichte, Konflikte, Perspektiven (2019), Novalis. Dichter einer Neuen Zeit (2021); die Edition Texte zur Poetik. Eine kommentierte Anthologie (2012), Dimensionen
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Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger
und Perspektiven einer Weltgesellschaft, hrsg. gem. mit Michael Gehler und Sanne Ziethen (2018). Wessels, Wolfgang, geb. 1948, Inhaber des Jean Monnet Chairs ad personam für Politikwissenschaften und Direktor des Centre for Turkey and European Union Studies (CETEUS) an der Universität zu Köln; seit 2010 Vize-Präsident des deutschen Konsortiums der TürkischDeutschen Universität (TDU) Istanbul; Forschungsschwerpunkte: Politisches System der Europäischen Union, insbesondere institutionelle Architektur des Europäischen Rates sowie Rollen nationaler Parlamente; EU-Außenbeziehungen, insbesondere EU-Türkei-Beziehungen; Theorien und Strategien der Europäischen Integration; Publikationen: u. a. die Monografien The European Council (2016); Das politische System der Europäischen Union (2. Auflage im Erscheinen) sowie die Sammelbände Jahrbuch der Europäischen Integration mit Werner Weidenfeld (1981–2021 ff.); Europa von A bis Z. Taschenbuch der Europäischen Integration (1991–2021 ff.) mit Werner Weidenfeld und Funda Tekin (1991–2021 ff.).
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Abkürzungsverzeichnis AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union BIP Bruttoinlandsprodukt CARD Coordinated Annual Review on Defence COREU Correspondance Européenne DM Deutsche Mark ECCHR European Center for Constitutional and Human Rights ECU European Currency Unit EEA Einheitliche Europäische Akte EG Europäische Gemeinschaft EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl/Montanunion EIB Europäische Investitionsbank EMRK Europäische Menschenrechtskonvention EGMR Europäischer Gerichtshof für die Menschenrechte ENP Europäische Nachbarschaftspolitik EP Europäisches Parlament EPG Europäische Politische Gemeinschaft EPU Europäische Parlamentarier Union EPZ Europäische Politische Zusammenarbeit ER Europäischer Rat ERASMUS Studienprogramm der Europäischen Union ERP European Recovery Program ERRF European Rapid Reaction Force ESFS European System of Financial Supervision ESM Europäischer Stabilitätsmechanismus ESZB Europäisches System der Zentralbanken ESS Europäische Sicherheitsstrategie EUFOR European Forces EuGH Europäischer Gerichtshof EURATOM Europäische Atomgemeinschaft EUV Europäischer Unionsvertrag EVG Europäische Verteidigungsgemeinschaft EVP Europäische Volkspartei EVS Europäischer Verteidigungsfonds EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
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Abkürzungsverzeichnis
EWR Europäischer Wirtschaftsraum EWS Europäisches Währungssystem EZB Europäische Zentralbank EZP Europäische Politische Zusammenarbeit GASP Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GESVP Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik GSVP Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik IOM Internationale Organisation für Migration IWF Internationaler Währungsfonds MOE Mittel- und Osteuropäische Staaten MR Ministerrat NATO North Atlantic Treaty Organization NGO Non governmental organizations NSA National Security Agency NVA Nationale Volksarmee OECD Organization for Economic Cooperation and Development OEEC Organization for European Economic Cooperation OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa PESCO Permanent Structured Cooperation SSZ Ständige Strukturierte Zusammenarbeit UNO United Nations Organizations USA United States of America WEU Western European Union/Westeuropäische Union WSA Wirtschafts- und Sozialausschuss WTO World Trade Organization WWU Wirtschafts- und Währungsunion
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Personenregister
Abraham (myth.) 39 Abulafia, David 66, 67, 78 Adam (bibl.) 41 Adenauer, Konrad 86, 248 Adler, Max 99 Adorno, Theodor 99, 102, 103 Ai Weiwei 123, 134 Alexander VI., Papst 40 Anaxagoras 35 Andersch, Alfred 86 Aristoteles 34, 46 Assheuer, Thomas 108, 11, 113 Assmann, Aleida 11–13, 24, 89, 95 96 Attlee, Clement 178 Barnier, Michel 155 Bartholomé de las Casas 38, 42, 46 Bauer, Otto 99 Bauman, Zygmunt 25, 102, 118, 119, 132, 133 Bech, Joseph 86 Beck, Ulrich 107, 113 Becker, Thomas 249 Behrensmeyer, Ingo 248 Beichelt, Timm 20, 21 Bell, Duncan 77, 78 Benda, Julien 85, 96, 102, 111, 113, 247 Benn, Gottfried 247 Bentham, Jeremy 130 Biden, Joe (Joseph Robinette) 234, 237 Bieling, Hans-Jürgen 138, 139, 148, 150, 218, 219, 230, 231, 249 Bismarck, Otto von 18 Blamberger, Günter 83, 84, 96 Böll, Heinrich 102 Böttcher, Winfried 20, 162, 179 Brait, Andrea 20, 166 Braun, Michael 83, 89, 96, 104, 113 Braungart, Wolfgang 7 Briand, Aristide 166
Broch, Hermann 84, 250 Brossmann, Jakob 126 Brugmans, Hendrik 170 Bull, John (folkloristische Gestalt) 70 Bülow, Bernhard von 43 Bunsen, Christian Karl Josias von 164 Burgess, Michael 169, 170, 175 Bush, George W. (George Walker) 179 Büssgen, Antje 5, 24, 85, 89, 96, 99–114, 247 Cabet, Étienne 84 Cameron, David 15, 73, 74, 78 Campanella, Tommaso 84 Camus, Albert 102 Caroline von Monaco 190 Carolus Magnus (Karl der Große) 86 Casanova, Pascale 84 Checkel, Jeffrey 226, 230, 231 Chirac, Jacques 202 Churchill, Winston 25, 65, 71, 72, 75, 77, 78, 88, 96, 169, 170, 178, 181 Clairveaux, Bernhard von 40 Clemens, Gabriele 6, 26, 217–231, 237, 247 Clinton, Bill (William Jefferson) 208 Corsten, Michael 248 Coudenhove-Kalergi, Richard 85, 166, 167, 169–171, 180, 181 Cummings, Dominic 74 Cuomo, Raphaël 126 Curtius, Ernst Robert 85 Dahrendorf, Ralf 18 Damrosch, David 84 Davignon, Étienne 221 Davis, David 76 de Gaulle, Charles 37, 221 de Montalembert, Charles 164 de Palacios Rubios, Juan López 40 de Silguy, Yves-Thibault 201
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Personenregister Decker, Frank 14, 15 De Gasperi, Alcide 86 Delgado, Marano 40, 43, 46 Delius, Friedrich Christian 7 Delors, Jacques 104, 146, 149 Dembinski, Matthias 6, 27, 233–246 Demokrit 34 Descartes, René 35 Dike (griech. Göttin) 34 Duchêne, François 240, 241, 245 Duisenberg, Wim 201
Goethe, Johann Wolfgang von 83–85, 96, 174 Gohrisch, Jana 248 Gollwitzer, Helmut 161–164, 180 Gove, Michael 75, 78 Grabenwarter, Christoph 184–191, 194–196, 198, 250 Graf, Maximilian 202, 215, 248 Grande, Edgar 107, 113 Große Hüttmann, Martin 6, 25, 85, 97, 135–150, 249 Grünbein, Durs 133, 249 Grundy-Warr, Carl 131, 134 Guérot, Ulrike 5, 11, 18, 24, 83, 89–95, 97, 174
Eagleton, Terry 118, 119, 133 Ehland, Christoph 5, 24, 63–79, 248 Ehrenpreis, Stefan 20 Eliot, T. S., (Thomas Stearns) 86 Elizabeth I., Königin von England 68 Engels, David 13 Enzensberger, Hans Magnus 84, 105, 106, 113, 114, 250 Erhart, Walter 7
Haas, Ernst B. 140, 241 Habermas, Jürgen 24, 41, 46, 91, 92, 97, 99, 100–104, 108, 111, 113 Hallam, Henry 68 Hallstein, Walter 24, 86–91, 97, 112, 113, 139, 140 Hamilton, Alexander 159, 211, 216, 234 Havel, Václav 84, 86 Heeren, Arnold Hermann Ludwig 161 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 44, 46, 103, 109 Heile, Wilhelm 167 Heine, Heinrich 84 Heller, Charles 125, 134 Henry V., König von England 69, 79 Heraklit 34 Herder, Johann Gottfried 44, 46, 85, 161 Herodot von Halikarnass 35 Heß, Jürgen C. 167 Hesse, Hermann 92 Hirschhausen, Ulrike von 217, 230 Hofbauer, Hannes 19 Hoffmann, Marina 7 Hofmann, Andreas 138, 139, 150 Hofmannsthal, Hugo von 84, 247 Holtz-Bacha, Christina 60, 61, 249 Hrbek, Rudolf 149, 249 Hugo, Victor 84, 162, 164 Huntington, Samuel 118
Fabri, Friedrich 43, 44 Fischer, Johannes 191, 198, 250 Fouchet, Christian 221 Fox, William 71 Friedman, Milton 205 Friedrich, Carl Joachim 175, 180 Frisch, Max 102, 105 Frischmuth, Barbara 84 Fröbel, Carl Ferdinand Julius 164, 165 Frysztacka, Clara Maddalena 20, 21 Galilei, Galileo 35 Garibaldi, Giuseppe 162 Gaunt, John of 68 Gehler, Michael 5, 6, 8–27, 33, 45–47, 95–97, 106, 113, 139, 148, 161–181, 202, 205, 215, 218, 230, 248, 251 Geiger, Thomas 83, 97 Genschel, Philipp 139, 140, 148 Geppert, Dominik 6, 26, 201–216, 248 Geyrhalter, Nikolaus 120, 127–132 Giegerich, Sebastian 238, 245 Gilgamesch (myth.) 120 Gillray, James 70, 71, 78 Giscard d’Estaing, Valéry 172, 202, 207
Iorio, Maria 126 Jachtenfuchs, Markus 139, 140, 148, 218, 230 Jakob II., König von England, Schottland und Irland 70 James I., (Jakob I.), König von England,
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Personenregister Schottland und Irland 69 James, Harold 204, 206, 207, 210, 211, 215, 216 Jean-Christophe (Romantitel) 84 Jefferson, Thomas 45, 88 Jesaja (Prophet) 39 Johnson, Boris 63–65, 74, 76–78, 178 Jörke, Dirk 94, 97 Jünger, Ernst 86 Kade, Max 250 Kaelble, Hartmut 217, 218, 230 Kant, Immanuel 34, 47 Karl der Große 86–88, 96 Kassandra (myth.) 93 Kermani, Navid 135, 149 Knaus, Gerald 148, 149 Kneuer, Marianne 248 Kocka, Jürgen 7 Kohl, Helmut 172, 173, 180, 202, 206, 213, 216 Kok, Wim 202 Konrád, György 84, 86 Kopernikus, Nikolaus 35 Koselleck, Reinhart 136 Kossuth, Lajos 165 Krämer, Benjamin 23, 49–62, 249 Kramp-Karrenbauer, Annegret 234, 245 Krastev, Ivan 133, 137, 149 Kreis, Georg 16, 180 Kreisky, Bruno 99 Kronauer, Brigitte 133, 249 Kühnhardt, Ludger 19, 172, 180 Kundera, Milan 84, 86 Kyros, König von Persien 39 Lagarde, Christine 155 Lange, Stella 20 Las Casas, Bartholomé de 38, 42, 46 Leibniz, Gottfried Wilhelm 35, 247 Leroy-Beaulieu, Paul 165 Leyen, Ursula von der 22, 145, 173, 174, 180 Liermann Traniello, Christiane 20 Lippert, Barbara 85, 97 Lippert, Florian 5, 24, 25, 117–134, 249 Löffler, Bernhard 214–216 Loth, Wilfried 19, 86, 97, 139, 148, 166, 170, 180, 202, 206, 208, 216 Lübbe, Hermann 172, 180
Ludwig, Emil 168 Luhmann, Niklas 130, 132, 133, 249 Lukas (Evangelist) 36 Lützeler, Paul Michael 8–30, 33, 47, 83–98, 104–107, 112–114, 162, 181, 250 Lyon, David 130, 132, 133 Mackay, Charles 162, 163, 180 Macron, Emmanuel 157, 174, 234, 238, 245 Magris, Claudio 84 Mak, Geert 135, 149 Mann, Heinrich 92, 109 Mann, Martin 120, 133 Mann, Michael 42, 47 Mann, Thomas 84 Manners, Ian 241, 245 Markus (Evangelist) 36 Marsh, David 202, 207, 208, 216 Mathiesen, Thomas 130, 133 Matthäus (Evangelist) 36 Maturana, Humberto 133, 249 Matziaraki, Daphne 126, 134 Maull, Hanns 241 Mauss, Marcel 24, 59, 61, 92, 93, 97 May, Rosa 7, 250 Mazzini, Giuseppe 162–164, 181 McElvaney, Kevin 124, 134 McGrath, John 122, 133 Menasse, Robert 5, 24, 83–114, 247 Merkl, Alexander 20, 148 Michel (der deutsche) 70 Michel, Charles 159 Milward, Alan S. 159, 160, 179, 181 Mitrany, David 175, 176, 241, 242, 245 Mitterrand, François 86, 206, 207, 213 Monnet, Jean 8, 17, 24, 86–91, 97, 106, 112, 157, 171, 247, 248, 251 Monroe, James 42, 166 Montalembert, Charles de 164 Montesinos, Antonio 42, 43 Moretti, Franco 84 Morus, Thomas 84 Möser, Justus 161 Mosis (bibl.) 39 Mosse, Richard 124, 134 Mueller, Wolfgang 248 Muschg, Adolf 84
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Personenregister Naumann, Friedrich 167 Negt, Oskar 24, 91–93, 97, Nettesheim, Martin 136, 149, 184, 192, 198 Nietzsche, Friedrich 109, 112–114, 250 Noah (bibl.) 39 Nooteboom, Ces 84 Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg) 92, 105, 114, 250 Nußberger, Angelika 183, 186, 95, 197, 198 Obama, Barack 77, 78 Orbán, Viktor 55, 147 Ostiguy, Pierre 57, 62 Ottmann, Henning 17 Pabel, Katharina 6, 26, 183–198, 250 Padberg, Britta 7 Palgrave, Francis 68, 135, 149 Pallade, Yves Patrick 57, 62 Pareira, Duarte Pacheco 40 Parmenides 34 Passmann, Sophie 31, 47 Patel, Kiran Klaus 16, 17, 217, 230 Peeren, Esther 121, 122, 134 Penn, William 42, 46 Perikles 35 Peters, Dirk 233, 244, 248 Petrus 41 Pezzani, Lorenzo 125, 134 Philolaos (Philosoph) 34 Pichler, Peter 10, 181 Pitt, William (der Jüngere) 70, 71 Pleschinski, Hans 84, 98 Pleven, René 220 Polianskii, Mikhail 248 Prodi, Romano 112 Pythagoreer 34 Quidde, Ludwig 168 Radaelli, Claudio M. 219, 224, 230 Rajaram, Premkunar 131, 134 Rakusa, Ilma 84 Raschauer, Nicolas 191, 198, 250 Rasche, Lucas 146, 147, 149 Raskopf, Charlotte 65, 78 Reinfeldt, Alexander 220, 223, 225, 230, 247
Renner, Karl 99 Rensmann, Lars 117, 134 Richard II., König von England 68, 69, 79 Rifkin, Jeremy 12 Rilke, Rainer Maria 247 Roithner, Thomas 15 Rolland, Romain 84, 92 Rollinger, Robert 45, 47, 248 Rosi, Gianfranco 126, 134 Rosin, Philip 249 Rousseau, Jean-Jacques 84 Ruge, Arnold 163 Rüsen, Jörn 7 Rüter, Telse 223, 225, 230, 247 Rüttgers, Jürgen 14, 15 Sartre, Jean-Paul 102 Schalenberg, Marc 7 Schäuble, Wolfgang 213 Schiller, Friedrich 84, 85, 96, 97, 109, 113, 114, 247 Schinke, Kai 20, 148 Schlegel, August Wilhelm 85 Schlegel, Friedrich 85 Schmale, Wolfgang 17, 169, 181 Schmid, Helga 234 Schmid, Marcel 133 Schmid, Thomas 10, 11 Schmidlin, Josef 44, 46, 47 Schmidt-Phiseldeck, Konrad Georg Friedrich Elias von 161, 162 Schmidt, Helmut 88, 97, 207 Scholz, Olaf 160, 211 Schröder, Gerhard (Kanzler) 209 Schulz, Martin 105 Schuman, Robert 86, 175, 176 Schurz, Carl 162 Schwarz, Hans-Peter 13, 14, 213, 216 Scotto, Matteo 20 Shakespeare, William 65, 68, 69, 70, 79 Sidibé, Abou Bakar 122, 123, 134 Siebert, Moritz 122, 123, 134 Simms, Brendan 11, 64, 65, 79, 174, 181 Sinn, Hans-Werner 159, 160, 211, 213, 216 Smith, Adam 140 Sokrates 34, 35 Soros, George 53 Spaak, Paul-Henri 86, 87, 170
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Personenregister Spengler, Oswald 13, 127, 128 Spinelli, Altiero 86, 169, 171, 175 St. Pierre, Jacques-Henri Bernardin von Saint-Pierre 84 St. Simon, Henri de Saint-Simon 84 Stefenelli, Julian 20 Stolper, Gustav 168 Stresemann, Gustav 168 Suppan, Arnold 248 Suttner, Bertha von 84 Szczypiorski, Andrzej 84 Taggart, Paul A. 53, 62 Tawada, Yoko 84 Tekin, Funda 141, 145, 149, 150, 160, 251 Thales von Milet 34 Thamm, Carmen 249 Torquemada, Tomás de 40 Trojanow, Ilija 247 Trump, Donald 77, 101, 179, 236 Uljanow, Wladimir Iljitsch (Lenin) 165 van Middelaar, Luuk 10, 181 van Rompuy, Herman 10, 157, 160 Vergil 84 Verhofstadt, Guy 101, 114 Vietta, Silvio 5, 8, 23, 31–47, 250 Vogt, Nicolaus 161 von der Leyen, Ursula 22, 145, 173, 174, 180
von Suttner, Bertha 84 Waddington, Laura 123, 134 Wagner, Estephan 122, 123, 134 Wagner, Helmut 10 Waigel, Theo 201, 202, 214, 216 Walter-Franke, Marie 146, 147, 149 Watzlawick, Paul 137 Weber, Claudia 20, 21 Weber, Klaus 17 Weber, Reinhold 140, 148 Wehling, Hans-Georg 249 Weidenfeld, Werner 153, 155, 160, 251 Welfens, Paul J. J. 15 Werkner, Ines-Jaqueline 247 Werner, Pierre 204–206, 214, 216 Wessels, Wolfgang 6, 25, 138, 139, 150, 153–160, 251 Weyland, Kurt 50, 62 Widerhofer, Wolfgang 127 Wilhelm von Oranien 66, 67, 70 Wille, Gerhard 220, 230, 247 Worschech, Susann 20, 21 Yar’Adua, Umaru 131 Zanetti, Véronique 7 Zeeb, Benjamin 11, 174, 181 Zielonka, Jan 18 Ziethen, Sanne 251 Zweig, Stefan 85, 96, 109, 247
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