Die „große Konfusion“. Der Roman der klassischen Moderne und die Weltanschauungsliteratur [1. ed.] 9783956509957, 9783956509964


232 79 2MB

German Pages 373 [374] Year 2022

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Cover
Einleitung
1. Krisendiagnosen und Weltanschauungssehnsüchte um 1900 – Grenzgänge zwischen Wissenschaft und Literatur
2. Weltanschauungsliteratur als Textsorte
3. Die Fiktionalisierung des Weltanschauungsdiskurses im Roman der klassischen Moderne
4. Zur Forschungslage
a) Literatur und Wissen
b) Kulturkritik und Weltanschauungsliteratur
c) Zu den Romanen
5. Methodische Prämissen und Aufbau der Arbeit
I Thomas Mann: Der Zauberberg
1. Thomas Mann und der ‚intellektuale Roman‘
a) Friedrich Gundolf: Goethe (1916)
b) Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie (1918)
c) Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1918/1922)
d) Hermann Graf Keyserling: Das Reisetagebuch eines Philosophen (1919)
2. „Wir finden in Büchern immer nur uns selbst“. Ein fragwürdiger Familienanschluss
3. Die ‚große Konfusion‘. Weltanschauungsdispute auf dem Zauberberg
a) Wissensdemonstration
b) Kampf der Weltanschauungen
c) (Auto-)Biographische Beglaubigung
d) ‚Gereimte Gegensätze‘ und ‚rechtmäßigste Assoziationen‘. Rhetorische Mittel der Plausibilisierung
4. Die Weltanschauungsrhetorik im narrativen Kontext
a) Die erzählerische Vermittlung der Debatten
b) Die Figurendarstellung
c) Metasprachliches
d) ‚Persönlichkeit‘ gegen ‚Logomachie‘
e) Weltanschauungsdidaktik und Experiment
5. Zwischenresümee
II Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften
1. Robert Musil und die ‚wissensähnliche Seelenschaft‘
a) Ellen Key: Die Entfaltung der Seele durch Lebenskunst (1905)
b) Walther Rathenau: Zur Mechanik des Geistes (1913)
c) ‚Am berühmten Einzelfall‘. Musils Spengler-Kritik
2. Weltanschauungsliteratur als Material
3. Weltanschauungsrhetorik im Mann ohne Eigenschaften
a) ‚Es kommen die großen Geister immer wieder auf einfache Grundsätze‘. Wissensorganisation durch Weltanschauungsrhetorik
b) ‚Der weite Blick‘ und die ‚tieferen Gesetze‘. Zur Konstruktion einer privilegierten Beobachterposition
c) (Auto-)Biographische Beglaubigung aus verschiedenen Richtungen
4. Gefallene Engel und komische Vögel. Narrative Weltanschauungsanalyse und ‑dekonstruktion
a) Denken
b) Sprechen
c) Schreiben
d) Ulrich als Weltanschauungssucher mit sprachlichen Hemmungen
5. Zwischenresümee
III Hermann Broch: Die Schlafwandler
1. Hermann Broch in der ‚Welträtselecke‘
a) Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung (1903)
b) Broch und die Dogmatiker. Mit und gegen Weininger zu Kant
c) Erwin Hansliks Weltösterreichgeographie
2. Weltanschauungsrhetorik als blinder Fleck
3. Weltanschauungskonstruktionen in den Schlafwandlern
a) Die ‚allgemeine Unordnung‘ 1880–1918
b) ‚Hirngespinste‘ und ‚Seelenbuchhaltung‘. Weltanschauliche Hilfskonstrukte
c) Autobiographie als Problem. Das Scheitern der Weltanschauungsdilettanten
4. Narrative Begleitung und weltanschaulicher Aufschwung
a) Weltanschauungsanalyse und -führung
b) Eine Kreisbahn höher
5. Und trotzdem: Ein Fall nicht-dialogischer Dialogizität?
Schlussbetrachtung
Siglen- und Literaturverzeichnis
Siglen
Quellen
a) Untersuchte Handexemplare
Broch-Bibliothek an der Universität Klagenfurt
Thomas-Mann-Archiv an der ETH Zürich
b) Werke
Hermann Broch
Robert Musil
Thomas Mann
Weitere Autorinnen und Autoren
Darstellungen
Recommend Papers

Die „große Konfusion“. Der Roman der klassischen Moderne und die Weltanschauungsliteratur [1. ed.]
 9783956509957, 9783956509964

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Friederike Proff

Die „große Konfusion“ Der Roman der klassischen Moderne und die Weltanschauungsliteratur. Thomas Mann – Robert Musil – Hermann Broch

KLASSISCHE MODERNE herausgegeben von Achim Aurnhammer, Barbara Beßlich, Werner Frick, Fabian Lampart, Dieter Martin, Mathias Mayer

Band 48

ERGON VERLAG

Friederike Proff

Die „große Konfusion“ Der Roman der klassischen Moderne und die Weltanschauungsliteratur. Thomas Mann – Robert Musil – Hermann Broch

ERGON VERLAG

Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 2022 u.d.T.: „In Bezug auf das Große und Ganze. Der Roman der klassischen Moderne und die Weltanschauungsliteratur. Thomas Mann – Robert Musil – Hermann Broch“

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Ergon – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes bedarf der Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für Einspeicherungen in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Umschlaggestaltung: Jan von Hugo

www.ergon-verlag.de

ISBN 978-3-95650-995-7 (Print) ISBN 978-3-95650-996-4 (ePDF) ISSN 1863-9585

Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2021/2022 von der Neuphilo­ logischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Für den Druck habe ich sie leicht überarbeitet. Dieses Buch hat eine lange Geschichte, die in allen ihren Phasen insbeson­ dere mit einer Person verbunden bleibt, meiner Doktormutter Prof. Barbara Beßlich. Von der ersten Anregung zum Thema Weltanschauungsliteratur bis zur Publikation der Studie war Prof. Beßlich eine engagierte Begleiterin, und ich danke ihr herzlich für ihren fachkundigen Rat, ihren Zuspruch und ihre unermüdliche Geduld. Sehr verbunden bin ich auch Prof. Katharina Grätz, die mein Projekt über die Jahre nicht aus den Augen verloren und dankenswerter Weise das Zweitgutachten übernommen hat. Die Untersuchung erforderte Re­ cherchen in den nachgelassenen Bibliotheken Thomas Manns und Hermann Brochs. An dieser Stelle möchte ich deshalb auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Thomas-Mann-Archivs in Zürich sowie der Broch-Bibliothek in Klagenfurt für ihre freundliche Hilfe danken. Meiner Familie, vor allem meinen Eltern, danke ich für ihren Rückhalt, ihre Großzügigkeit und Anteilnahme. Mein besonderer Dank gilt zudem Jochen Knaus für die Unterstützung bei und jenseits der Arbeit am Text.

Freiburg, im Herbst 2022

Friederike Proff

Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................................................

11

1. Krisendiagnosen und Weltanschauungssehnsüchte um 1900 – Grenzgänge zwischen Wissenschaft und Literatur .....................

11

2. Weltanschauungsliteratur als Textsorte .....................................

15

3. Die Fiktionalisierung des Weltanschauungsdiskurses im Roman der klassischen Moderne ..............................................

20

4. Zur Forschungslage ................................................................ a) Literatur und Wissen .......................................................... b) Kulturkritik und Weltanschauungsliteratur ......................... c) Zu den Romanen ...............................................................

23 24 27 35

5. Methodische Prämissen und Aufbau der Arbeit ........................

38

Thomas Mann: Der Zauberberg .........................................................

47

1. Thomas Mann und der ‚intellektuale Roman‘ ........................... a) Friedrich Gundolf: Goethe (1916) ........................................ b) Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie (1918) ....... c) Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1918/1922) .................... d) Hermann Graf Keyserling: Das Reisetagebuch eines Philosophen (1919) ..............................................................

47 57 60

I

2. „Wir finden in Büchern immer nur uns selbst“. Ein fragwürdiger Familienanschluss ......................................... 3. Die ‚große Konfusion‘. Weltanschauungsdispute auf dem Zauberberg ..................................................................... a) Wissensdemonstration ........................................................ b) Kampf der Weltanschauungen ............................................ c) (Auto-)Biographische Beglaubigung .................................... d) ‚Gereimte Gegensätze‘ und ‚rechtmäßigste Assoziationen‘. Rhetorische Mittel der Plausibilisierung .............................. 4. Die Weltanschauungsrhetorik im narrativen Kontext ................ a) Die erzählerische Vermittlung der Debatten ........................ b) Die Figurendarstellung ....................................................... c) Metasprachliches ................................................................ d) ‚Persönlichkeit‘ gegen ‚Logomachie‘ .................................... e) Weltanschauungsdidaktik und Experiment ..........................

67 74 77 82 84 87 90 92 99 99 103 106 113 117

7

5. Zwischenresümee ................................................................... 124 II Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften ........................................ 129 1. Robert Musil und die ‚wissensähnliche Seelenschaft‘ ................. a) Ellen Key: Die Entfaltung der Seele durch Lebenskunst (1905) ... b) Walther Rathenau: Zur Mechanik des Geistes (1913) ............... c) ‚Am berühmten Einzelfall‘. Musils Spengler-Kritik ...............

129 132 140 156

2. Weltanschauungsliteratur als Material ...................................... 166 3. Weltanschauungsrhetorik im Mann ohne Eigenschaften .............. a) ‚Es kommen die großen Geister immer wieder auf einfache Grundsätze‘. Wissensorganisation durch Weltanschauungsrhetorik ................................................... b) ‚Der weite Blick‘ und die ‚tieferen Gesetze‘. Zur Konstruktion einer privilegierten Beobachterposition .... c) (Auto-)Biographische Beglaubigung aus verschiedenen Richtungen ........................................................................ 4. Gefallene Engel und komische Vögel. Narrative Weltanschauungsanalyse und ‑dekonstruktion .......................... a) Denken ............................................................................. b) Sprechen ........................................................................... c) Schreiben .......................................................................... d) Ulrich als Weltanschauungssucher mit sprachlichen Hemmungen .....................................................................

167 170 192 199 204 207 211 216 220

5. Zwischenresümee ................................................................... 223 III Hermann Broch: Die Schlafwandler ................................................... 225 1. Hermann Broch in der ‚Welträtselecke‘ .................................... a) Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung (1903) ............................................................ b) Broch und die Dogmatiker. Mit und gegen Weininger zu Kant ............................................................................. c) Erwin Hansliks Weltösterreichgeographie ............................

225 231 250 269

2. Weltanschauungsrhetorik als blinder Fleck ............................... 278 3. Weltanschauungskonstruktionen in den Schlafwandlern ............ a) Die ‚allgemeine Unordnung‘ 1880–1918 .............................. b) ‚Hirngespinste‘ und ‚Seelenbuchhaltung‘. Weltanschauliche Hilfskonstrukte ....................................... c) Autobiographie als Problem. Das Scheitern der Weltanschauungsdilettanten ............................................... 8

281 286 293 300

4. Narrative Begleitung und weltanschaulicher Aufschwung ......... 305 a) Weltanschauungsanalyse und -führung ................................ 306 b) Eine Kreisbahn höher ......................................................... 313 5. Und trotzdem: Ein Fall nicht-dialogischer Dialogizität? ............. 321 Schlussbetrachtung ............................................................................... 325 Siglen- und Literaturverzeichnis ............................................................. 335 Siglen ......................................................................................... 335 Quellen ....................................................................................... a) Untersuchte Handexemplare ............................................... Broch-Bibliothek an der Universität Klagenfurt .................... Thomas-Mann-Archiv an der ETH Zürich ............................ b) Werke ............................................................................... Hermann Broch ................................................................. Robert Musil ..................................................................... Thomas Mann ................................................................... Weitere Autorinnen und Autoren .......................................

335 335 335 335 336 336 337 337 339

Darstellungen .............................................................................. 341

9

Einleitung 1. Krisendiagnosen und Weltanschauungssehnsüchte um 1900 – Grenzgänge zwischen Wissenschaft und Literatur Mit der 22. Ausgabe vom April 1908 erschien die Vereinszeitschrift des Deut­ schen Monistenbundes erstmals unter dem Namen Der Monismus. Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung und Kulturpolitik. Der ehemalige Haupttitel Blätter des Deutschen Monistenbundes, nur noch eingeklammert als Zusatz an­ geführt, trat in den Rang des zweiten Untertitels zugunsten eines plakativen Bekenntnisses zu universalem Deutungsanspruch und politischer Wirkungsab­ sicht. Mit einer inhaltlichen Neuausrichtung war diese Umbenennung nicht verbunden, wohl aber mit der Überzeugung, die neue Bezeichnung werde dazu beitragen, „eine große Anzahl von Lesern zu gewinnen und so für unsere Weltanschauung und unsere kulturpolitischen Bestrebungen zu interessieren.“1 Die Monismus-Redaktion sah sich im Zuge ihrer Umgestaltung außerdem ver­ anlasst, ihre Leserschaft darauf hinzuweisen, in keinerlei Verbindung mit der Zeitschrift Neue Weltanschauung zu stehen,2 einem rivalisierenden Blatt, das ebenfalls angetreten war, „das Beste und Vollständigste an universellem Wissen zu vereinigen und somit ein abgeschlossenes Ganzes der Naturerkenntnis, eine umfassende Weltanschauung den weitesten Kreisen zugänglich zu machen.“3 Dieses publizistische Profilierungsscharmützel zeigt einen Ausschnitt der inner­ monistischen Richtungskämpfe, die sich im Dunstkreis Ernst Haeckels abspiel­ ten, und verdeutlicht beispielhaft den Konkurrenzdruck, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Wettstreit um Gesamtweltdeutung auf wissenschaftlicher Basis herrschte. Die Monisten waren dabei besonders eifrig, aber bei Weitem nicht die Einzigen, die sich mit ihren wissenschaftlichen und kulturpolitischen Anliegen unter dem „Sehnsuchtswort“4 Weltanschauung versammelten. Eine 1

2 3

4

[Anonymus:] Mitteilungen des Vorstandes. In: Der Monismus. Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung und Kulturpolitik. Blätter des Deutschen Monistenbundes 22 (1908), S. 143. Vgl. ebd., S. 145. [Anonymus:] Was wir wollen. In: Neue Weltanschauung. Monatsschrift für Kulturfort­ schritt auf naturwissenschaftlicher Grundlage 1/1 (1908), S. 2. Hervorhebung im Original durch Sperrung. Wie an dieser Stelle werden auch im Folgenden original gesperrte Passa­ gen kursiv wiedergegeben. William Stern: Vorgedanken zur Weltanschauung (niedergeschrieben im Jahre 1901). Leipzig 1915, S. 3. Zu den Organisationsformen weltanschaulicher Vereinigungen mit naturwissenschaftlicher Bildungsprogrammatik vgl. Andreas Daum: Wissenschaftspopula­ risierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914. München 22002, S. 193–225. Zur monistischen Bewe­ gung im Besonderen vgl. außerdem auch Paul Ziche: Wissenschaftliche Weltanschauung. Gemeinsamkeiten und Differenzen monistischer und anti-monistischer Bewegungen. In:

schier unübersehbare Fülle an Veröffentlichungen bezeugt eine Konjunktur des Begriffs und des Konzepts Weltanschauung, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abzeichnet. Um 1900 war ‚Weltanschauung‘ bereits zu einem „Schlüsselbegriff der Intellektuellendiskurse“5 geworden und diente als modisches Etikett, unter dem unterschiedlichste Entwürfe umfassender Welter­ klärung und lebenspraktischer Handlungsorientierung konkurrierten. Kehrseite und Voraussetzung dieser inflationären Verbreitung weltanschau­ licher Angebote ist dabei die weit verbreitete Wahrnehmung, in einer krisen­ haften Zeit der Umbrüche zu leben. Erst die Erschütterung traditioneller Ordnungssysteme ermöglicht den „Jahrmarkt der Synthesen“6. Die Krise – als faktisch beobachtbares Phänomen wie als subjektiv ausgestaltetes Deutungs­ schema7 – wird zwar am Übergang zum 20. Jahrhundert akut, ist aber bereits länger vorbereitet. Der Siegeszug der Naturwissenschaften, die sich seit Ende des 18. Jahrhunderts aus der theologischen und philosophischen Hegemonie

5

6

7

Die Angst vor der Moderne. Philosophische Antworten auf Krisenerfahrungen. Der Mi­ krokosmos Jena 1900–1940. Hg. von Klaus-Michael Kodalle. Würzburg 2000, S. 63–87. Horst Thomé: Weltanschauung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 12. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Basel 2004, Sp. 453–460, zitiert Sp. 456. Zur allgemeinen Geschichte des Begriffs und zu seinen Bedeutungswand­ lungen seit dem Erstbeleg in Kants Kritik der Urteilskraft (1790) vgl. außerdem Hermann Braun: Welt. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 7. Hg. von Otto Brunner, Werner Kunze, Reinhart Kosel­ leck. Stuttgart 2004, vor allem S. 469–510. Die bis heute umfassendste Begriffsgeschichte findet sich bei Helmut Günter Meier: „Weltanschauung“. Studien zu einer Geschichte und Theorie des Begriffs. Münster 1970. Eine von Meier ergänzend zur Begriffsgeschich­ te begonnene Bibliographie von Publikationen, die ‚Weltanschauung‘ beziehungsweise entsprechende terminologische Ableitungen in den Titel heben, wurde leider nie fertig­ gestellt. Beginnend im Jahr 1827 erfasste sie nach Angaben Meiers immerhin bereits 2000 Einträge (vgl. ebd., S. 142, 339f., Anm. 338). Philipp David Heine unternimmt im Rahmen seines begriffsgeschichtlichen Überblicks den Versuch einer Quantifizierung für den Zeitraum 1911–1940 anhand des Deutschen Bücherverzeichnisses, kann aber auf aufgrund der unsicheren Datenbasis lediglich illustrierend eine „konstant hohe Präsenz des Themas“ ablesen (vgl. Philipp David Heine: Die Literatur und der Kampf um die Weltanschauung. Ein Beitrag zur Literatur- und Intellektuellengeschichte am Beispiel von Alfred Döblin und Ernst Jünger. Göttingen 2019 [http://hdl.handle.net/21.11130/00-1735 -0000-0003-C120-E, abgerufen am 10.09.2020], S. 110–112, hier S. 112). Peter Sloterdijk: Weltanschauungsessayistik und Zeitdiagnostik. In: Literatur der Weima­ rer Republik 1918–1933. Hg. von Bernhard Weyergraf. München und Wien 1995, S. 309– 339, hier S. 322. Mit dieser Differenzierung hat Wolfgang Hardtwig eine zunehmend kommunikative und identifikatorische Bedeutung der Verständigung über das eigene Krisenzeitalter im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts unterstrichen: „Die Allgegenwart des Redens von ‚Krise‘ […] spiegelt nicht einfach nur faktische Krisen und deren Wahrnehmung wider, sie reflektiert vielmehr ein Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, das sich vielfach verselbständigte und gerade in seiner rhetorischen und argumentativen Funktion für die Selbstwahrneh­ mung und politisch-gesellschaftlich-kulturelle Ortsbestimmung wichtiger Gruppen der deutschen Gesellschaft überaus aufschlussreich ist“ (Wolfgang Hardtwig: Einleitung. In: Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933. Hg. von dems. München 2007, S. 11–17, hier S. 12).

12

herauslösen, geht einher mit dem Bedeutungsverlust der großen metaphysi­ schen Systeme. Allerdings ist dieser Prozess zugleich mit einer fortschreitenden Ausdifferenzierung innerhalb der naturwissenschaftlichen Forschung verbun­ den und führt zur Ausbildung spezialisierter Fachdisziplinen, die zwar immer tiefer in einzelne Segmente der Erfahrungswelt vordringen, aber keine holisti­ schen Erklärungsmodelle oder gar Antworten auf letzte Fragen liefern können. Dieses Sinnstiftungsvakuum erweist sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend als problematisch. Die sich rasant beschleunigende wissenschaftli­ che und wirtschaftliche Modernisierung wird zwar einerseits enthusiastisch ge­ feiert, andererseits immer stärker auch als überhandnehmende Rationalisierung und Technisierung vieler Lebensbereiche erfahren. Kennzeichnend für die Jahr­ zehnte um 1900 ist deshalb eine ambivalente Gemengelage aus kulturpessimis­ tischer Klage und (fortschritts)optimistischer Aufbruchsstimmung.8 Wie darin immer wieder auch die Hoffnung auf neue Möglichkeiten zur Synthese zum Ausdruck kommt, lässt sich exemplarisch in den Überlegungen des Psycholo­ gen William Stern nachlesen, der in seinen zeitdiagnostischen Vorgedanken zur Weltanschauung die Epochensituation wie folgt resümiert: „Das Kennzeichen der ‚letzten Kultur‘ ist die Weltanschauungslosigkeit, das der neuen der Wille zur Weltanschauung. Die gegenwärtige Übergangszeit zeigt beides neben- und durcheinander“9.

8

9

Wissenschaftshistorisch sind die weltanschaulichen Hauptkonflikte im 19. Jahrhundert gut dokumentiert, vgl. Kurt Bayertz, Mariam Gerhard und Walter Jaeschke (Hg.): Weltan­ schauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Der Materialis­ mus-Streit. Bd. 2: Der Darwinismus-Streit. Bd. 3: Der Ignorabimus-Streit. Hamburg 2007. Zur Ambivalenz der Krisenwahrnehmung vgl. insbesondere Volker Drehsen und Walter Sparn: Die Moderne. Kulturkrise und Konstruktionsgeist. In: Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900. Hg. von dens. Berlin 1996, S. 11–29. Georg Bollenbeck: Weltanschauungsbedarf und Weltanschau­ ungsangebote um 1900. Zum Verhältnis von Reformoptimismus und Kulturpessimismus. In: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Bd. 1. Hg. von Kai Buchholz u. a. Darmstadt 2001, S. 203–207. Thomas Rohkrämer: Modernisierungskrise und Aufbruch. Zum historischen Kontext der Lebensreform. In: Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900. Hg. von Thorsten Carstensen und Marcel Schmid. Bielefeld 2016, S. 27–42. Stern: Vorgedanken zur Weltanschauung (Anm. 4), S. 47. Genretypisch für die kulturkri­ tische Gegenwartsbeobachtung der Zeit erstellt Stern in seiner Abhandlung zunächst eine wertende Bestandsaufnahme über alle relevanten Bereiche hinweg (vgl. ebd., S. 47– 62). Die kritisierten Tendenzen in Wissenschaft (Spezialistentum), Religion (Bedeutungs­ verlust) und Kunst (Epigonen- beziehungsweise Berufsästhetentum) lassen in Verbin­ dung mit weiteren konstatierten gesellschaftspolitischen Missständen (vor allem Verding­ lichungseffekte technischer und kapitalistischer Entwicklungen) ein deprimierendes Bild der Zeit entstehen. Gegen Pessimismus und Décadence stellt Stern dann jedoch in einem zweiten Durchgang die „Weltanschauungssucher“ (ebd., S. 68) auf allen Gebieten heraus, gelangt so doch zu einem vorsichtig optimistischen Ausblick und entdeckt „einen Willen zur Weltanschauung, der mit jedem Jahr erstarkt, aber in seinem Sturm und Drang bisher noch nicht die Mittel zur Verwirklichung gefunden hat“ (ebd., S. 74).

13

Die kulturkritische Debatte, in der sich das ‚von Stern beschriebene Nebenund Durcheinander‘ vielstimmig artikuliert, formiert sich im ausgehenden 19. Jahrhundert und findet ihren Höhepunkt in einem als intellektuelle Parallelak­ tion inszenierten ‚Kulturkrieg‘,10 wird aber auch in der Weimarer Republik und darüber hinaus fortgeführt.11 Kulturkritisches Denken fungiert in allen Phasen einerseits als „normativ aufgeladener Reflexionsmodus“12, insofern die­ ses Denken spezifische Verlusterfahrungen der Moderne formuliert und bewer­ tet, sucht aber andererseits zugleich über unterschiedliche Kontingenzbewälti­ gungsstrategien nach Möglichkeiten, solche Defizite zu überwinden. In vieler­ lei Hinsicht erweist sich dabei die kulturkritische Debatte als eine grenzüber­ schreitende. Sie entspinnt sich über alle politischen Lager hinweg und prägt wiederum sowohl konservative als auch liberale oder sozialistische Ordnungs­ vorstellungen aus. Obwohl die Auseinandersetzung über die Krisenhaftigkeit der Zeit vornehmlich ein Intellektuellenprojekt darstellt, lässt sie sich nicht einem einzigen Bildungsbereich zuordnen, unter ihren Wortführern finden sich Wissenschaftler ebenso wie Künstler. Auch was die Darbietungsformen betrifft, ist kulturkritisches Denken nicht medial oder an bestimmte Gattungen exklusiv gebunden, sondern äußert sich gleichermaßen im wissenschaftlichen Traktat, im Zeitungsartikel und in lyrischer, epischer oder dramatisierter Verar­ beitung.13 Zeigt sich die Omnipräsenz des Krisenbewusstseins einerseits in einer gat­ tungsübergreifenden Streuung von Klagen über die ‚Zerrissenheit‘ der Moder­ ne, so führt sie andererseits strukturell zu Veränderungen der Darstellungs­ formen selbst. Wenn sich Textgattungen funktionsgeschichtlich als „Bedürf­ nissynthesen“14 verstehen lassen, als literarische Organisationsformen, die auf 10 11

12 13

14

14

Vgl. dazu Barbara Beßlich: Wege in den ‚Kulturkrieg‘. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt 2000. Gemeint ist an dieser Stelle die kulturkritische Debatte, die Georg Bollenbeck in seiner Begriffsbestimmung als Kulturkritik in einem ‚spezifisch deutschen Sinne‘ bezeichnet. Sie speist sich zwar auch aus Haltungen und Denkmustern, die im europäischen Kontext bereits in Auseinandersetzung mit der Aufklärung entstanden sind und deren Wurzeln sich letztlich bis in die Antike zurückverfolgen lassen, diese treffen aber im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland auf besonders stark ausgeprägte zivilisations- und kapitalis­ muskritische Vorbehalte und erfahren eine spezifische Akzentuierung, insbesondere in der resonanzstarken Gegenüberstellung von ‚Kultur‘ und ‚Zivilisation‘. Zur Unterschei­ dung von weitem, engem und spezifisch deutschem Begriff Kulturkritik sowie zur zeitli­ chen Staffelung der damit verbundenen Diskurse vgl. Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders. München 2007, S. 12–15. Ebd., S. 10. Zur potentiellen Streubreite der Kulturkritik vgl. die Hinweise bei Barbara Beßlich: Nach Nietzsche. Argumentationen und Textformen der Kulturkritik um 1900 zwischen Poesie und Wissenschaft. In: Euphorion 112 (2018), S. 463–477, hier S. 463–465. Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozialund funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: Textsortenleh­ re – Gattungsgeschichte. Hg. von Walter Hinck. Heidelberg 1977, S. 27–42, hier S. 32.

die jeweiligen sozial-kommunikativen Sinnbedürfnisse zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt reagieren, kann es nicht verwundern, dass in den krisen­ bewussten Jahrzehnten des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine hochgradige Gattungsvariabilität herrscht, auf fiktionalem wie im faktualem Gebiet Gattungswandel und -innovation stattfinden. In der Literatur der Mo­ derne zeugen davon nicht nur die Formexperimente unterschiedlicher avant­ gardistischer Strömungen, sondern in besonderer Weise auch die groß angelegten epischen Versuche, das Poetische zum Wissenschaftlichen oder Philosophischen hin zu durchstoßen und in einem grand récit die eigene Epoche umfas­ send zu reflektieren. In umgekehrter Richtung zeichnet sich aber auch in der wissenschaftlichen Publizistik eine Tendenz zur Überschreitung traditioneller Wissens- und Gattungsgrenzen ab. Überall dort, wo sich die kulturkritische Zeitdiagnose auf wissenschaftlicher Basis zum weltanschaulichen Gesamtkon­ zept verdichtet, dringt sie oftmals zugleich ins Literarische vor, wird zu Weltan­ schauungsliteratur.

2. Weltanschauungsliteratur als Textsorte Mit Horst Thomé lassen sich unter dem Begriff Weltanschauungsliteratur Texte fassen, die den expliziten Anspruch erheben, die ‚Weltanschauung‘ des Verfassers argumenta­ tiv darzustellen. In aller Regel verbinden sich dabei breite Darlegungen wissenschaft­ licher Ergebnisse mit waghalsigen Hypothesen, metaphysischen Theoriefragmenten, autobiographischen Mitteilungen, persönlichen Glaubensbekenntnissen, ethischen Handlungsanweisungen, zeitpolitischen Diagnosen und gesellschaftlichen Ordnungs­ modellen.15

Grundsätzlich kennzeichnend für weltanschauungsliterarische Schriften ist, dass sie in einem Grenzbereich zwischen Wissenschaft und Literatur oszillieren, indem sie Leerstellen und Inkonsistenzen der Argumentation mit poetischen Mitteln kaschieren. Historisch lässt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­ derts die Hochkonjunktur von Publikationen verzeichnen, die Weltanschau­ ung zu vermitteln suchen und gleichzeitig einen Anspruch auf wissenschaft­ liche Geltung erheben. Funktional übernimmt die Weltanschauungsliteratur dabei in Nachfolge der Religion und der idealistischen Systeme der Philosophie eine „globale Sinnstiftungs- und Erklärungskompetenz“16. Renommierte, auch 15

16

Horst Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen 2002, S. 338–380, hier S. 338. Horst Thomé: Der alte und der neue Glaube als Weltanschauungsliteratur. In: David Friedrich Strauß als Schriftsteller. Hg. von Barbara Potthast und Volker Henning Drecoll. Heidelberg 2018, S. 253–271, hier S. 255.

15

fachwissenschaftlich reputierte Autoren verfassen im späten 19. Jahrhundert Weltanschauungstexte, die ihre Leser sowohl in akademischen Kreisen als auch unter gebildeten Laien finden. Im 20. Jahrhundert erfreut sich Weltanschau­ ungsliteratur weiterhin produktions- und rezeptionsseitig großer Beliebtheit, wobei zugleich eine wachsende Politisierung und Nationalisierung des Kon­ zepts festzustellen ist, mit der auch das intellektuelle Absinken des Begriffs Weltanschauung einhergeht, der schließlich im Nationalsozialismus zur ubi­ quitär verwendeten Leerformel erstarrt.17 Unter inhaltlichen Gesichtspunkten betrachtet bezeichnet ‚Weltanschau­ ungsliteratur‘ ein recht heterogenes Korpus, das Gustav Theodor Fechners Über die Seelenfrage (1861) und Ernst Haeckels Die Welträthsel (1899) ebenso umfasst wie Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1903), Hanns Hörbigers Glazialkosmogonie (1913) oder Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1918/22), aber eben auch Adolf Hitlers Mein Kampf (1925/27). Trotz unter­ schiedlichem thematischem Bezug, ideologischem Gehalt und intellektuellem Niveau weisen solche weltanschaulichen Bekenntnisse, wie Thomé zeigt, signi­ fikant ähnliche Vertextungsstrategien, Erzählschemata und rhetorische Struk­ turen auf, die es erlauben, von einer Textsorte Weltanschauungsliteratur zu sprechen. Die Konsistenzprobleme, die weltanschauungsliterarischen Texten einge­ schrieben sind, erweisen sich als dem Konzept Weltanschauung prinzipiell inhärent, sie stellen sich aber in der säkularisierten und pluralistisch ausgerich­ teten Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts als besonders virulent he­ raus. Der Entwurf einer ganzheitlichen Anschauung kann sich nicht mehr auf eine transzendentale Instanz berufen, sondern nur noch auf das Individuum. Eine solche Verlagerung des weltanschaulichen Bekenntnisses in den Bereich des Subjektiven konterkariert jedoch wiederum den dem Konzept Weltan­ schauung eigenen Anspruch, über die allgemein gültige Wahrheit zu verfügen, was letztendlich in eine „Aporie von Subjektivität und Geltungsanspruch“18 führen muss. Weltanschauungstexte entgehen der Auseinandersetzung mit die­ 17

18

16

Vgl. Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 15), S. 339. Helmut Meier beschreibt den Übergang von der Weltanschauung zur Ideologie und bestimmt den Umschlag in einer vom Weltanschauungssubjekt abgelösten „Kollektivierung von Gesinnung“ (Meier: „Weltanschauung“ [Anm. 5], S. 209). Vgl. auch Victor Klemperers Ausführungen über das „Klüngelwort der Jahrhundertwende“ und seine Entwicklung „zum Pfeilerwort der LTI […], in der der kleinste P[artei]g[änger] und jeder bildungsloseste Kleinbürger und Krämer bei jeder Gelegenheit von seiner Weltan­ schauung und seinem weltanschaulich fundierten Verhalten redet“ (Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Nach der Ausgabe letzter Hand hg. und kommentiert von Elke Fröhlich. Ditzingen 2020, S. 164). Horst Thomé: Der Blick auf das Ganze. Zum Ursprung des Konzepts ‚Weltanschauung‘ und der Weltanschauungsliteratur. In: Aufklärungen. Zur Literaturgeschichte der Moder­ ne. Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag. Hg. von Werner Frick u. a. Tübingen 2003, S. 387–401, hier S. 392.

ser Aporie, indem sie sich einer spezifischen Rhetorik bedienen, um die Idee eines Ganzen ungeachtet des widersprüchlich gewordenen Konzepts der Welt­ anschauung zu (re)konstruieren. Als bedeutende Inspiratoren der Weltanschau­ ungsliteratur können Schopenhauer und Nietzsche gelten. Während Schopen­ hauer für den holistischen Grundzug Pate steht, ist für die akademische Kon­ ventionen außer Kraft setzende und ins Literarische übergreifende Sprache der ‚Künstlerphilosoph‘ Nietzsche die historische Bezugsgröße.19 Die Grundproblematik, dass Totalität nicht mehr begründet werden kann, sondern konstruiert werden muss, findet sich in der Weltanschauungsliteratur auf allen Textebenen und bestimmt wesentlich die konzeptionelle und sprach­ liche Organisation des Texttyps. Zunächst zeichnet sich Weltanschauungslitera­ tur durch einen ambivalenten Umgang mit Wissenschaftlichkeit aus. Einerseits berufen sich die Verfasser auf eine wissenschaftliche Grundlage und imitieren eine wissenschaftliche Beweisführung, andererseits erwächst aus dem Anspruch auf universale Geltung und ganzheitliche Sinnstiftungskompetenz gerade eine demonstrative Überlegenheit über die positivistischen Einzelwissenschaften, de­ ren Ergebnisse zu Bausteinen für das übergeordnete weltanschauliche Gerüst funktionalisiert werden. Die Kompilation unterschiedlicher Wissensmaterialien soll dabei eine fundierte wissenschaftliche Grundlage evident erscheinen lassen. Eingebrachte Wissensmaterialien – oft auf ein allgemeinverständliches Niveau herunter gebrochen – vermengen sich jedoch auf gleicher Ebene mit spekula­ 19

Zu Schopenhauer als Vorläufer vgl. Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 15), S. 375, Fn. 110. Vgl. außerdem Walter Gebhard: „Der Zusammenhang der Dinge“. Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbe­ wußtsein im 19. Jahrhundert. Tübingen 1984, S. 83–85. Die Zwischenstellung Nietzsches als ‚Dichterphilosoph‘ beleuchten die Beiträge in: Nietzsche zwischen Philosophie und Literatur. Von der Fröhlichen Wissenschaft zu Also sprach Zarathustra. Hg. von Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann. Heidelberg 2016. Nietzsche als Dichter. Lyrik – Poetolo­ gie – Rezeption. Hg. von Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann. Unter redaktionel­ ler Mitarbeit von Armin Thomas Müller und Milan Wenner. Berlin 2017. Nietzsche selbst will Thomé nicht zu den Weltanschauungsliteraten zählen und verweist auf das Fehlen eines geschlossenen Weltanschauungskonzepts. Ausgehend von der Kritik an David Friedrich Strauß in den Unzeitgemäßen Betrachtungen zeigt er jedoch, wie Nietzsche die weltanschauungsliterarischen Strategien zur Konstruktion einer wahrheitsmächtigen Sprecherinstanz durchschaute und dies einerseits zum Angriff auf den Gegner, ande­ rerseits für die Profilierung der eigenen Sprecherrolle zu nutzen wusste (vgl. Thomé: Der alte und der neue Glaube als Weltanschauungsliteratur [Anm. 16], S. 268–270). Mit Blick auf die weltanschauungsliterarische Nietzsche-Rezeption im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hat Barbara Beßlich zuletzt ein interessantes Forschungsfeld abgesteckt. Sie zeigt, dass sich Weltanschauungsliteratur in ihren kulturkritischen Argumentationen, Darstellungsverfahren und Autorinszenierungen häufig an Nietzsche orientiert und eine Scharnierfunktion zwischen der wissenschaftlichen und dichterischen Nietzsche-Rezepti­ on übernimmt. Besonders deutlich wird dies am konkreten Beispiel von Autoren, die Nietzsche außerdem auch als Gegenstand der Darstellung wählen (vgl. Barbara Beßlich: Nietzsche und die Weltanschauungsliteratur. Denkfiguren – Autorinszenierungen – Text­ formate. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaf­ ten 25 [2021], S. 175–188).

17

tiven Elementen und werden vornehmlich über waghalsige Analogieschlüsse auf die zusammenführende Idee hin gedeutet. Die entstehenden Kompatibi­ litätsprobleme verdecken Weltanschauungstexte, indem sie mit Gewissheitsbe­ hauptungen und Veranschaulichungen operieren. Thomé spricht in diesem Zusammenhang von „Pseudoempirizität“20. Die Autorität empirisch gewonne­ ner Erkenntnis, die es für den Verfasser notwendig macht, seine Darstellung als wissenschaftlich fundiert zu vermitteln, zeigt sich auch darin, dass in Welt­ anschauungstexten ‚gesichertes‘ Wissen nicht primär als argumentative Stütze genutzt wird, sondern vielmehr quantitativ eingesetzt dazu dient, die eigene Wahrheitsmächtigkeit zu bezeugen. Wissensdemonstration lässt sich daher als topisches Moment in der Weltanschauungsliteratur bezeichnen.21 Die Demonstration von Wissen ist eng an eine konstruierte Verfasserpersön­ lichkeit gekoppelt, die deutlich fiktionale Züge aufweist.22 Da die Vermittlung des weltanschaulichen Bekenntnisses über die empirische Beweisführung nicht gelingen kann, stützen sich Weltanschauungstexte auf die Persönlichkeit eines er- und bekennenden Individuums, das mit seinem Prestige die Wahrheit des Gesagten verbürgt. Indem diesem Ich eine privilegierte Beobachterperspektive zugeschrieben wird, kann es Zusammenhänge erkennen und aufzeigen, die eigentlich nicht im Bereich des Beobachtbaren liegen.23 Neben dem Heraus­ stellen einer umfassenden Bildung tritt dabei außerdem ein Habitus des Kämp­ ferischen in den Vordergrund. Das Weltanschauungs-Ich stilisiert sich zum heroischen Protagonisten, der in Opposition zu den herrschenden Meinungen seiner Zeit steht und zukünftige Wahrheit verkünden kann, wobei diese Hal­ tung selbst dann forciert wird, wenn solche Differenzen faktisch überhaupt nicht bestehen oder nur gering sind.24 Als attraktiv erweist sich im Kontext der Selbststilisierung dabei besonders ein Rollenvorbild: „Das Ich der Welt­ anschauungsliteratur erschleicht sich gleichsam die Wahrheitsmächtigkeit des Dichters.“25 20

21 22 23 24 25

18

Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 15), S. 353. Detailliert hat Thomé die Erzeugung von Pseudoempirizität in Oswald Speng­ lers Untergang des Abendlandes nachgewiesen (vgl. ders.: Geschichtsspekulation als Welt­ anschauungsliteratur. Zu Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes. In: Literatur und Wissen [schaften] 1890–1935. Stuttgart 2002, S. 194–212). Welche Schwierigkeiten, die sich Weltanschauungsschriftsteller beim Versuch einhandeln, Forschungsergebnisse der Einzelwissenschaften zu kompatibilisieren und in die eigene Gesamtschau einzupas­ sen, lässt sich beispielsweise gut bei David Friedrich Strauß beobachten (vgl. Thomé: Der alte und der neue Glaube als Weltanschauungsliteratur [Anm. 16], S. 256f.). Vgl. Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 15), S. 355f. Vgl. ebd., S. 351f. Vgl. ebd., S. 353. Vgl. ebd., S. 361. Ebd., S. 358. Dass sich viele Weltanschauungsautoren Goethe als Orientierungsfigur wäh­ len, ist naheliegend, scheint doch die (durch Selbstentwurf und Hagiographie geformte) Dichterpersönlichkeit Goethe wie keine andere die Einheit von Leben und Werk zu

Das erzählte Ringen um die eigene Weltanschauung erscheint in solchen Texten subtil mit der Biographie des Verfasser-Ichs verknüpft, wobei sich ein eschatologisches Schema von Krise und Errettung abzeichnet, das auch auf die Zeit projiziert wird.26 Die Krisendiagnose orientiert sich hier bevorzugt an einem triadischen Modell, die Gegenwart wird am Ende einer Verfallsgeschich­ te als Wendepunkt zu einem künftigen idealen Zustand verortet. Über eine textintern aufgebaute Ich-Leser-Relation reklamiert der Verfasser dabei die Au­ torität des Lehrenden für sich und fordert den Rezipienten dazu auf, den vor­ geführten Bildungs- und Erweckungsprozess zu wiederholen, an dessen Ende die Erkenntnis der einzig wahren Weltanschauung steht.27 In der Konstellation von vorgeblicher Wissenschaftlichkeit und einem stilisierten WeltanschauungsIch verdeutlicht sich die zirkuläre Grundstruktur weltanschaulicher Schriften. Die Kombination divergenter Diskurse und untereinander nicht kompatibler Wissensbestände sowie deren Ausrichtung auf eine übergeordnete Idee hin werden durch ein wahrheitsmächtiges Subjekt scheinbar garantiert. Umgekehrt soll wiederum der Rückgriff auf empirische Wissensmaterialien die Glaubwür­ digkeit des Verfasser-Ichs bezeugen. Um den Weltanschauungsentwurf gegen Kritik zu immunisieren, übertün­ chen die Verfasser weltanschauungsliterarischer Texte konzeptionelle und argu­ mentative Brüche, indem sie sich poetischer Verfahren bedienen. Sie arbeiten dabei vor allem mit bildhaften Darstellungen und versuchen so, die Anschau­ lichkeit abstrakter Gegenstände und Zusammenhänge zu suggerieren. Obwohl die Wahl der ästhetischen Mittel von der spezifischen Struktur und den Kon­ sistenzproblemen des jeweiligen Textes abhängig ist, geht Thomé davon aus, dass insbesondere Allegorie und Personifikation zum Einsatz kommen, um den Weltanschauungsentwurf zu plausibilisieren.28 Neben solchen Formen des uneigentlichen Sprechens lässt sich meines Erachtens darüber hinaus auch die Verwendung repetitiver Verfahren als ein Grundzug der Weltanschauungslite­ ratur hervorheben. Thomé weist darauf hin, dass der Weltanschauungsentwurf konzeptionell auf eine einzige große Idee ausgerichtet ist, den der Gedanken­ gang permanent umkreist.29 Wie Untersuchungen zu einzelnen weltanschau­ ungsliterarischen Werken oft zeigen konnten, wird dieses ‚Umkreisen‘ auch auf der textorganisatorischen und konkret sprachlichen Ebene in einem Ausmaß

26 27 28 29

garantieren. Die Konstruktion des sprechenden Ichs in weltanschauungsliterarischen Tex­ ten kann außerdem durch die Überlagerung mehrerer Rollenschablonen noch komplexer angelegt sein. Dies lässt sich etwa bei Otto Weininger studieren, der sich in seinen Selbstinszenierungen an den Dichter, den Philosophen und den Religionsstifter annähert (vgl. hierzu ebd. S. 358f.). Vgl. ebd., S. 357–361. Vgl. ebd., S. 373f., S. 376. Vgl. ebd., S. 376, S. 379. Vgl. ebd., S. 341f.

19

evident, das es erlaubt, Repetition als eine zentrale rhetorisch-ästhetische Strate­ gie der Weltanschauungsliteratur zu betrachten.30

3. Die Fiktionalisierung des Weltanschauungsdiskurses im Roman der klassischen Moderne Nicht nur in der Weltanschauungsliteratur, auch in der Literatur der klassi­ schen Moderne richtet sich der Blick mitunter auf das Ganze. Neben einem dezidierten Traditionsbezug, ist es gerade die Tendenz zum totalitätserfassen­ den Entwurf, über den sich die klassische Spielart der literarischen Moderne von avantgardistischen Strömungen abgrenzen lässt.31 Mit großen Romanpro­ jekten verbindet sich hier die Absicht, das „geistig Typische“32 des Zeitalters zu bannen oder „Exponenten, Repräsentanten und Sendboten geistiger Bezirke, Prinzipien und Welten“33 zu figurieren. Dem Schriftsteller fällt die Aufgabe zu, das zu leisten, was der Wissenschaftler nicht zu leisten vermag, er soll zu­

30

31

32

33

20

Katharina Grätz und Kai Kauffmann haben solche repetitiven Verfahren als strukturelles Element beispielsweise bei Ernst Haeckel herausarbeitet (vgl. Katharina Grätz: Wissen­ schaft als Weltanschauung. Ernst Haeckels gelöste ‚Welträtsel‘ und ihr Text. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen 2002, S. 240–255. Kai Kauffmann: Naturwissenschaft und Weltanschauung um 1900. Essayistische Diskurs­ formen in den populärwissenschaftlichen Schriften Ernst Haeckels. In: Zeitschrift für Germanistik 15 [2005], Heft 1, S. 61–75). Christian Meierhofer wiederum zeigt am Bei­ spiel Wilhelm Bölsches die narrative und rhetorische Bedeutung von Strategien der Wie­ derholung (vgl. Christian Meierhofer: Formen der Evidenz. Populäre Wissenschaftsprosa zwischen Liebig und Haeckel. Paderborn 2019, S. 437–463). Damit soll nicht gesagt sein, dass sich die klassische Moderne avantgardistischen Innova­ tionen verschließen würde, sie nimmt diese vielmehr auf und transformiert sie in reflek­ tierte Konzepte. In dieser Bestimmung folge ich den Ausführungen Helmuth Kiesels zu Formen der ‚reflektierten Moderne‘, behalte aber den konventionalisierten Begriff der klassischen Moderne – als deskriptiv, nicht evaluativ verstandenen – bei (vgl. Hel­ muth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache – Ästhetik – Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004). Grundsätzlich zum Verhältnis von klassischer Moderne und Avantgarde vgl. Sabina Becker und Helmuth Kiesel: Literarische Moder­ ne. Begriff und Phänomen. In: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Hg. von dens. unter Mitarbeit von Robert Krause. Berlin 2007, S. 9–35. Zu Traditionsbezug und -variation als Kennzeichen der klassischen Moderne vgl. im selben Band den Beitrag von Werner Frick: Avantgarde und longue durée. Überlegungen zum Traditionsverbrauch der klassischen Moderne, S. 97–112. Robert Musil, Oskar Maurus Fontana: Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil [30. April 1926]. In: Robert Musil: In Zeitungen und Zeitschriften III. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2016 (Gesamtausgabe. Bd. 11), S. 84–89, hier S. 84. Thomas Mann: Einführung in den ‚Zauberberg‘. Für Studenten der Universität Princeton [1939]. In: Ders.: Reden und Aufsätze 3. 2., durchgesehene Auflage. Frankfurt am Main 1974 (Gesammelte Werke in 13 Bänden. Bd. XI), S. 602–617, hier S. 612.

mindest ahnungsweise die „Totalität des Erkennens und Erlebens“34 zeigen und geistige Weltbewältigung35 ermöglichen. In den literarischen Epochenpanora­ men der klassischen Moderne, in Thomas Manns Zauberberg (1924), Robert Musils Mann ohne Eigenschaften (1930/32) und Hermann Brochs Schlafwandlern (1930/32), korrespondiert die ausführliche Krisenbeschreibung dabei ebenfalls mit einer großen Idee, einem mehr oder minder utopischen Moment, das als Humanitätsideal von ‚Güte und Liebe‘, ‚anderer Zustand‘ oder ‚Neugeburt des Wertes‘ einer von Desorientierung geprägten Zeit entgegengesetzt wird. Was die umfassende Zeitdiagnostik und den Ordnungs- und Orientierungswillen angeht, bestehen hier also Gemeinsamkeiten mit dem charakteristischen welt­ anschauungsliterarischen Programm. Eine weitere ergibt sich aus dem enzyklo­ pädischen Anspruch, über den die Romane Manns, Musils und Brochs aber zugleich auch in direkten Kontakt mit der Weltanschauungsliteratur treten. In allen drei Romanen tritt über weite Teile die narrative Darstellung zugunsten theoretischer Reflexion und Diskussion auf der Figuren- oder Erzählerebene zurück. Die Romane beziehen sich auf unterschiedlichste diskursive Kontexte ihrer Entstehungszeit und integrieren große Wissensmengen. Auch die Weltan­ schauungsdiskurse des 19. und 20. Jahrhunderts finden auf diese Weise Eingang in die Literatur. Thomas Mann stellt seinem Protagonisten Hans Castorp im Zauberberg mit Leo Naphta und Ludovico Settembrini zwei Mentoren an die Seite, die zwar an der Oberfläche eines behaupteten Antagonismus ihre Weltanschauungskon­ strukte rhetorisch äußerst gewandt vorzutragen wissen, dabei aber durchaus tiefer liegende Gemeinsamkeiten aufweisen. Die radikalen Thesen des Jesuiten Naphta, in denen sich mittelalterlich-scholastisches Ordo-Denken und kommu­ nistische Utopie vereinen, werden im Roman dem antikisierenden Humanis­ mus des Aufklärers und Fortschrittsoptimisten Settembrini gegenübergestellt. Beide kompilieren in ihren Vorträgen theoretische Versatzstücke unterschied­ lichster Provenienz und konstruieren Analogien zwischen Gegensätzlichstem. Sie stellen gewagte Behauptungen auf, die sie apodiktisch vertreten und in einem inszenierten Kampf der Weltanschauungen aufeinandertreffen lassen, der schließlich in die „große Konfusion“36 führt. Im Mann ohne Eigenschaften wird die geplante Parallelaktion zum 70-jähri­ gen Thronjubiläum Kaiser Franz Joseph I. zur Plattform für ausschweifende Weltanschauungsdebatten. ‚Kakanien‘ am Vorabend des ersten Weltkrieges bildet die Kulisse, vor der Musil seine zwischen Kulturpessimismus und Er­ 34

35 36

Hermann Broch: Denkerische und dichterische Erkenntnis. [1933] In: Ders.: Schriften zur Literatur 2: Theorie. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1978 (Kom­ mentierte Werkausgabe. Bd. 9,2), S. 43–49, hier S. 46. Vgl. Musil und Fontana: Was arbeiten Sie? (Anm. 32), S. 89. Thomas Mann: Der Zauberberg. Hg. und textkritisch durchgesehen von Michael Neu­ mann. Frankfurt am Main 2002 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 5.1), S. 705.

21

lösungssehnsucht schwankenden Figuren auftreten lässt und gegensätzlichen philosophischen und ideologischen Kräftefeldern aussetzt. In den ausufernden Konzilen der ‚vaterländischen Aktion‘, in deren Umfeld unterschiedlichste weltanschauliche Entwürfe ventiliert werden, avanciert der ‚Großschriftsteller‘ Paul Arnheim zum Vordenker auf der Suche nach einem Programm mit weltpolitischer Bedeutung. Als Verkünder einer großen sinnstiftenden Idee im Zeichen einer bevorstehenden „Weltwende“37 wird er zur Komplementärfigur Ulrichs, dessen kombinatorisches Denken ebenfalls um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit neuer Synthesen kreist. Hermann Broch wiederum deutet in der Schlafwandlertrilogie geschichts­ philosophisch den ‚Zerfall der Werte‘ als Entwicklungslinie von der Renais­ sance bis in das 20. Jahrhundert und stellt die Endphasen anhand historischer Etappen in den Pasenow-, Esch- und Huguenau-Komplexen erzählerisch dar. Die Figuren erleben zwar den Verlust sinnstiftender Ordnungsmuster als „Ein­ bruch von unten“38, sind selbst aber gerade nicht mehr der Reflexion fähig, sondern erliegen den Heilsversprechen religiöser und quasi-religiöser Sinnstif­ tungsangebote oder verkörpern schließlich wie Huguenau die vollkommen wertfreie Existenz. Eine in den Romantext eingebettete Essayfolge transponiert die halbbewussten Erfahrungen der Figuren in eine philosophische Abhand­ lung, die ihrerseits zur weltanschaulichen Totalerklärung tendiert. Den drei vorgestellten Romanen ist gemein, dass das jeweils integrierte Weltanschauungswissen nicht nur der epochentypischen Ausstaffierung von Figuren dient. Auch erfolgt die Literarisierung der Weltanschauungsdebatte nicht ausschließlich über thematische Bezüge. Aufgenommen und verhandelt werden vielmehr auch die prägnanten Argumentationsmuster und rhetorischen Strukturen der populären Weltanschauungsliteratur. Sie stehen innerhalb der Romane in spannungsreichem Verhältnis zu anderen Arten der Wissensver­ mittlung und Redeformen. Mit der Fiktionalisierung des Weltanschauungsdis­ kurses findet auch seine Transformation statt, die integrierten Wissensbestände werden „in ein anderes Regelwerk, eine andere ‚Diskursordnung‘, ein anderes ‚Sprachspiel‘ überführt.“39 Diese Transformation will die vorliegende Arbeit im Rahmen einer intertex­ tuellen Analyse untersuchen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob, in wel­ chem Maße und mittels welcher Strategien der Roman bei Mann, Musil und Broch über den Bezug auf den Weltanschauungsdiskurs jeweils in ein kritisch 37 38 39

22

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes Buch. Kapitel 1–75. Hg. von Walter Fanta. Salzburg, Wien 2016 (Gesamtausgabe. Bd. 1), S. 315. Hermann Broch: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1978 (Kommentierte Werkausgabe. Bd. 1), S. 640. Thomas Anz: Indikatoren und Techniken der Transformation theoretischen Wissens in literarische Texte – am Beispiel der Psychoanalyse-Rezeption in der literarischen Mo­ derne. In: Literatur und Wissen(schaften) 1890–1930. Hg. von Christine Maillard und Michael Titzmann. Stuttgart 2002, S. 331–347, hier S. 331.

dialogisches Verhältnis zur Weltanschauungsliteratur tritt. Das Untersuchungs­ interesse richtet sich damit auf eine mehrfach verschränkte Beziehung, die sich wie folgt skizzieren lässt: Die Krisen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bilden historisch einen gemeinsamen soziokulturellen Hinter­ grund, auf den die Weltanschauungsschriften und die Romane der klassischen Moderne aber in unterschiedlicher Weise Bezug nehmen. Entscheidend ist hier, dass sich die Bestimmung der Krise und deren rhetorische Überwindung durch die Weltanschauungsliteratur in den Romanen Manns, Musils und Brochs wiederum in eine spezifisch literarische Zeitdiagnose eingebunden findet, in der nun das Konzept der weltanschaulichen Synthese und die mentalen wie sprachlichen Strategien ihrer Beglaubigung selbst als Indikatoren einer Krisen­ haftigkeit der Epoche reflektiert und hinterfragt werden können. Sich für die Bearbeitung des Themas Weltanschauungsliteratur im Roman der klassischen Moderne auf den Zauberberg, den Mann ohne Eigenschaften und die Schlafwandler zu konzentrieren, halte ich unter zwei Gesichtspunkten für sinnvoll, die zugleich auf die Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede dieser Romane hindeuten und damit ihre Vergleichbarkeit begründen. Zum einen in­ tegrieren alle drei Texte in signifikanter Weise Weltanschauungswissen. Mann, Musil und Broch fokussieren Krisenzeiten, ihre Romane greifen die virulenten weltanschaulichen Diskurse dieser Zeiten auf und können als „Metatexte“ ge­ lesen werden, „in denen die Epoche sich selbst und ihren internen Wandel reflektiert.“40 Zum anderen zeichnen sich die ausgewählten Romane durch eine besondere Sprachsensibilität aus. Die aufgenommenen Weltanschauungs­ diskurse werden hier nicht nur inhaltlich verhandelt, sondern auch in ihrer Eigentümlichkeit als Redeform markiert. Hans-Martin Gaugers Feststellung zum Zauberberg, es werde „in diesem Roman nicht nur ungewöhnlich viel gesprochen, es wird in ihm auch ungewöhnlich Vieles und ungewöhnlich Genaues über Sprache und Sprechen gesagt“41, lässt sich hier durchaus auch auf die Romane Musils und Brochs übertragen.

4. Zur Forschungslage Die vorliegende Arbeit kann in dreifacher Weise an bestehende literaturwis­ senschaftliche Forschungsdiskussionen anknüpfen. In übergeordneter Hinsicht lässt sich das Thema in den Forschungszusammenhang von Literatur und Wissen einbetten. Da sich die Untersuchung dabei konkret der Interferenz von Weltanschauungsdiskurs und Literatur der Moderne widmet, sind für die 40

41

Christine Maillard und Michael Titzmann: Vorstellung eines Forschungsprojekts: „Litera­ tur und Wissen (schaften) in der Frühen Moderne“. In: Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935. Hg. von dens. Stuttgart 2002, S. 7–37, hier S. 10. Hans-Martin Gauger: „Der Zauberberg“ – ein linguistischer Roman. In: Ders.: Der Autor und sein Stil. Zwölf Essays. Stuttgart 1988, S. 170–214, hier S. 171.

23

nähere Bearbeitung insbesondere die Erkenntnisse zur Kulturkritik und ihrer Vertextung als Weltanschauungsliteratur zentral. Und schließlich kann die Textanalyse an vielen Punkten auf Anregungen aus Einzel- oder vergleichenden Untersuchungen zu den ausgewählten Romanen zurückgreifen. a) Literatur und Wissen Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Literatur und Wissen ist zwar keine neue, aber eine inzwischen neu und anders gestellte, um die sich vor allem seit der kulturwissenschaftlichen Öffnung der Literaturwissenschaft in den letzten drei Jahrzehnten ein Forschungsfeld etabliert hat, das auch von der Germanis­ tik und ihren Nachbardisziplinen intensiv bearbeitet wird.42 So unterschiedlich sich die Frage nach dem Konnex Literatur und Wissen konkretisieren lässt, so vielfältig sind die Perspektiven, die sich in der Forschung herausgebildet haben, je nachdem, ob konkrete wechselseitige Austauschprozesse zwischen der Literatur und spezifischen Wissensbeständen und -ordnungen in den Blick genommen werden oder sich das Erkenntnisinteresse grundlegender auf das (Mehr)Wissen der Literatur beziehungsweise die Poetizität des Wissens rich­ tet.43 Die Vielzahl der Einzeluntersuchungen zum Themenkomplex Literatur und Wissen hat jedoch nicht nur die Bandbreite möglicher Betrachtungswei­ sen gezeigt, sondern ebenfalls den „Mangel einer systematischen Forschung“44. Die Diskussion zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist deshalb verstärkt als eine literaturwissenschaftliche Meta-Debatte geführt worden,45 in deren Folge dann Arbeiten erschienen, die sich zum Ziel setzten, die theoretischen Grundlagen 42

43

44

45

24

Zur Vorgeschichte dieser Konjunktur in der englischsprachigen Forschung im Anschluss an die Zwei-Kulturen-Debatte vgl. Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschich­ te. Ein Forschungsbericht. In: IASL 28/1 (2003), S. 181–231. Impulsgebend für die verschiedenen Fragestellungen der Debatte wirkten insbesondere Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt am Main 1990. Karl Richter, Jörg Schönert und Michael Titzmann (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Stuttgart 1997. Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999. Als Vorläu­ fer in der germanistischen Literaturwissenschaft sind Karl Richter und Horst Thomé zu nennen, von deren Arbeiten auch die aktuelle Forschungsdiskussion noch profitiert (vgl. Karl Richter: Literatur und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Lyrik der Aufklärung. München 1972. Horst Thomé: Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorge­ schichte der deutschen Klassik. Frankfurt am Main. Bern und Las Vegas 1978). Bernhard J. Dotzler: Explorationen. Literaturforschung und die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften. In: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Be­ richte und Abhandlungen. Bd. 9. Berlin 2002, S. 311–327, hier S. 313. So beispielsweise von Tilmann Köppe, Roland Borgards, Andreas Dittrich und Fotis Jannidis über die grundsätzliche Frage, unter welchen Bedingungen man überhaupt von ‚Wissen in Literatur‘ sprechen könne (vgl. die entsprechenden Beiträge in: Zeitschrift für Germanistik 17 [2007], Heft 2, S. 398–410, 425–428. Zeitschrift für Germanistik 17 [2007], Heft 3, S. 631–637, 638–646. Zeitschrift für Germanistik 18 [2008], Heft 2, S. 373– 377).

zu klären und methodischen Zugänge des Forschungsfeldes zu strukturieren.46 Eine nach wie vor sinnvolle Orientierung auf diesem Feld ermöglicht die von Olav Krämer vorgeschlagene Differenzierung von Ansätzen der Intention, der Korrelation und der Zirkulation.47 Kriterium der Unterscheidung ist dabei die Erklärungsweise, die jeweils konzeptionell für die Beziehung zwischen Litera­ tur und Wissen herangezogen wird. Dem intentionalistischen Ansatz verpflichtete Studien untersuchen zumeist literarische Einzelwerke auf inhaltliche oder strukturelle Verweise auf Wissens­ kontexte vorwiegend wissenschaftlicher Art, indem sie Kenntnisse und Rezepti­ onsprozesse des Autors nachzeichnen und nach seiner Intention für die Bezug­ nahme fragen. Als Formen einer traditionsreichen, bisweilen abfällig betrachte­ ten ‚Einflussforschung‘ müssen sich solche Studien jedoch nicht auf die Spuren­ suche beschränken, sondern können den Nachweis wissenschaftlicher Einflüsse über die Analyse ihrer Verarbeitung für die Interpretation des literarischen Textes fruchtbar machen.48 In einem erweiterten Untersuchungsfeld betrachten korrelationistische Arbeiten die Wirkungsbeziehungen zwischen Literatur und unterschiedlichen Wissensbeständen in einem bestimmten Zeitabschnitt. Ob­ wohl es auch hier darum gehen kann, intendierte Bezüge und nachweisbare Rezeptionsvorgänge herauszustellen, bleibt es vorrangiges Ziel, allgemeinere Aussagen über Interferenzen zwischen der literarischen und wissenschaftlichen oder kulturellen Wissensdiskursen in einem abgesteckten historischen Rahmen zu treffen. Kennzeichnend für diesen Ansatz ist die Annahme, dass es sich bei Literatur und Wissen um „zugleich miteinander ‚gekoppelte‘ und relativ autonome Bereiche“49 handelt. Demgegenüber fokussieren Studien, die sich am Zirkulationsansatz orientieren, primär eine elementare Wissensordnung, als deren unterschiedliche Repräsentationsformen dann Literatur und Wissen­ schaften erscheinen. Mit korrelationistischen Ansätzen haben solchen Untersu­ chungen gemein, dass sie Zustände und Prozesse in größeren historischen Phasen analysieren, dabei leitet sie allerdings stärker die epistemologische Frage nach den Regeln und Verfahren in der Produktion und Inszenierung von Wis­ sen überhaupt.50 Die drei Untersuchungsrichtungen konturieren das jeweilige 46

47

48 49 50

Vgl. Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analyse. Berlin 2008. Tilmann Köppe, (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Berlin, New York 2011. Roland Borgards, Harald Neumeyer, Nicolas Pethes, Yvonne Wübben (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2013. Vgl. Olav Krämer: Intention, Korrelation, Zirkulation. Zu verschiedenen Konzeptionen der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen. In: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Hg. von Tilmann Köppe. Berlin, New York 2011, S. 77–115. Vgl. dazu auch den Artikel von Georg Braungart und Dietmar Till: Wissen­ schaft. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Hg. von Thomas Anz. Sonderausgabe. Stuttgart, Weimar 2013, S. 407–419, hier S. 409f. Vgl. Krämer: Intention, Korrelation, Zirkulation (Anm. 47), S. 80–85. Ebd., S. 95. Vgl. ebd., S. 77–115, S. 98–113.

25

Erkenntnisinteresse in der Beschäftigung mit Literatur und Wissen. Sie schlie­ ßen sich jedoch nicht gegenseitig aus, sondern lassen sich durchaus konstruktiv miteinander verbinden. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit drei exponierten Romanen der klassi­ schen Moderne in ihrem Bezug zum Weltanschauungsdiskurs der Jahrzehnte um 1900, wobei allgemeine Tendenzen, aber auch unterschiedliche Nuancie­ rungen in dieser Beziehung herausstellt werden sollen. Damit steht sie dem Korrelationsansatz am nächsten. Wichtige Orientierungspunkte für diesen Teil der Forschungsdebatte stellen vor allem drei Sammelbände dar, die gemeinsam den Zeitraum vom letzten Drittel des 18. bis zum ersten des 20. Jahrhunderts abdecken und ihren Schwerpunkt auf korrelationistische Analysen legen.51 In dieses Forschungsumfeld hat Horst Thomé seine Untersuchungen zur Weltan­ schauungsliteratur gestellt, die einen wesentlichen Bezugspunkt meiner Arbeit darstellen. Daneben erweisen sich aber auch die Grundsatzdiskussionen und Beispielanalysen anderer Autoren als hilfreich, die Konturen des komplexen Verhältnisses von Literatur und Wissen(schaften) klarer zu zeichnen. So zeigt etwa Michael Titzmann in seiner präzisen Beobachtung der diskursiven Ver­ schränkung von Literatur und Wissenschaften in der Moderne, wie sich beide über gemeinsame Objektbereiche miteinander in Beziehung setzen lassen.52 Thomas Anz wiederum ermittelt in seinen Überlegungen, nach welchen Indi­ katoren eine systematische Beschreibung der Transformation von Wissen im literarischen Text erfolgen kann.53 Da ich zur literaturhistorischen Kontextualisierung auch fragen möchte, wel­ che individuellen Rezeptionen konkreter weltanschauungsliterarischer Texte jeweils bei Mann, Musil und Broch im Hintergrund der Romane stehen, teile ich in diesem Punkt durchaus ein Interesse der intentionalistisch ausgerichte­ ten Forschung. Dahinter steht die Überzeugung, dass sich die philologische Suche nach solche Rezeptionseinflüsse nicht im Selbstzweck erschöpfen muss, sondern einer an Kontexten interessierte Textanalyse gerade viele Möglichkei­ ten für die Interpretation eröffnen kann. Eindrucksvoll hat in diesem Zusam­ menhang zuletzt Kai Sina die Einflussforschung unter anderem gegen den Verdacht einer interpretationsfernen positivistischen Quellenhuberei verteidigt und ihren methodischen Wert für die Literaturwissenschaft herausgestellt. 54 51

52

53 54

26

Vgl. Richter, Schönert und Titzmann (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770– 1930 (Anm. 43). Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen 2002. Christine Maillard, Michael Titzmann (Hg.): Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935. Stuttgart 2002. Vgl. Michael Titzmann: Revolutionärer Wandel in Literatur und Wissenschaften. In: Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Hg. von Karl Richter, Jörg Schönert und Michael Titzmann. Stuttgart 1997, S. 297–322. Vgl. Anz: Indikatoren und Techniken der Transformation (Anm. 39), S. 331–347. Vgl. Kai Sina: Kollektivpoetik. Zu einer Literatur der offenen Gesellschaft in der Moder­ ne. Berlin, Boston 2019, S. 22–27.

Eine eher periphere Berührung auch mit dem Zirkulationsansatz ergibt sich für die anstehende Untersuchung insofern, als die spezifische Repräsentation von Weltanschauungswissen und die literarische Integration dieses Wissens als unterschiedliche ‚Inszenierungen‘ eines geteilten Krisenbewusstsein verstanden werden.55 Anders als vor allem die frühen Studien zur Relation von Literatur und Wissen, die literarische Texte überwiegend in ihrem Verhältnis zu den Na­ turwissenschaften betrachteten, widmet sich diese Arbeit dabei dem wissen­ schaftlich-literarischen Übergangsbereich und untersucht, wie gerade die Ro­ mane der klassischen Moderne sensibel auf die Veränderung der Wissensord­ nungen ihrer Zeit reagieren und sich auch Wissensmengen und Vermittlungs­ formen aneignen, mit denen bewusst wissenschaftliche Grenzen überschritten werden. b) Kulturkritik und Weltanschauungsliteratur Die Forschung hat sich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten um eine differen­ ziertere Betrachtung der vielfältigen unter dem bis dahin vage bestimmten und eher negativ konnotierten Begriff Kulturkritik versammelten Erscheinungen bemüht und es damit ermöglicht, Kulturkritik als „Reflexionsmodus der Mo­ derne“56 sowohl in ihrer Problematik als auch in ihrem Potential zu begreifen. Insbesondere durch eine verstärkt disziplinenübergreifende Perspektive auf kul­ turkritische Entwürfe konnte die Diffusion dieses „osmotischen Denkens“57 in verschiedene gesellschaftliche Bereiche, Wissenschaft und Kunst herausgearbei­ tet werden. Kennzeichnend für die jüngere Forschung ist, dass sie sich verstärkt für eine Betrachtung von Kulturkritik als „internationales Phänomen mit natio­ nalen Ausprägungen“58 öffnet, wodurch vermehrt Austauschbeziehungen über Nationalgrenzen hinweg Beachtung finden, aber gerade auch kulturspezifische Akzentuierungen gesetzt werden können.59 Dabei hat sich in der Forschungs­ diskussion gezeigt, dass sich kulturkritisches Denken in der Moderne sowohl 55 56

57 58 59

Vgl. dazu Joseph Vogl: Einleitung. In: Poetologien des Wissens um 1800. Hg. von dems. München 1999, S. 7–16, hier S. 13. So die Bestimmung Georg Bollenbecks, der die Notwendigkeit hervorhebt, zunächst von einer wertneutralen Definition auszugehen (Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkri­ tik [Anm. 11], S. 11). Ebd. Ebd., S. 10. Vgl. beispielsweise Verena Gutsche: „Niedergang“. Variationen und Funktionen eines kulturkritischen Diskurselements zwischen 1900 und 1930. Großbritannien und Deutsch­ land im Vergleich. Würzburg 2015. Olivier Agard und Barbara Beßlich (Hg.): Kulturkri­ tik zwischen Deutschland und Frankreich (1890–1933). Frankfurt am Main 2016. Mit Blick auf spezifisch österreichische Ausprägungen der kulturkritischen Debatte vgl. den Sammelband: Kulturkritik der Wiener Moderne (1890–1938). Hg. von Barbara Beßlich und Cristina Fossaluzza unter Mitarbeit von Tillmann Heise und Bernhard Walcher. Heidelberg 2019.

27

reaktionär als auch progressiv inszenieren und Positionen der politischen Rech­ ten und Linken gleichermaßen überwölben kann.60 Ein von Volker Drehsen und Walter Sparn herausgegebener Band beleuchtet in diesem Zusammenhang die Kulturkrise um 1900 in ihrer „Bifokalität“61 und verfolgt die wechselseitige Durchdringung von Wissenschaft und Weltanschauung. Überzeugend ist ins­ besondere die Verortung des Konzepts Weltanschauung innerhalb der Krisen­ diskussionen um 1900, die Drehsen und Sparn im einleitenden Beitrag vorneh­ men. Barbara Beßlich bezieht in ihren Untersuchungen zur Kulturkritik auch die Literatur mit ein. Ihre Studie zur ideologischen Radikalisierung bei Thomas Mann, Hermann Bahr, Rudolf Eucken und Johann Plenge vor dem Ersten Weltkrieg zeigt, wie Zivilisationskritik in neoidealistischer oder kapitalismus­ kritischer Stoßrichtung wissenschaftliche und literarische Bereiche durchdringt und die jeweiligen Deutungsmuster verschmilzt, um eine eigene Intellektuel­ lendebatte zu konstruieren, die sich bis zum ‚Kulturkrieg‘ zuspitzt.62 Insbe­ sondere auf den Erkenntnissen zur essayistischen Zivilisationskritik Thomas Manns, die auch für den Hintergrund der Weltanschauungsdebatten im Zau­ berberg von Bedeutung ist, kann hier die Analyse aufbauen. Mit einer Reihe kleinerer Untersuchungen hat Beßlich außerdem demons­ triert, dass die frühen 20. Jahrhunderts formulierte Kulturkritik in vielen Fällen erkenntnisgewinnbringend nach den Merkmalen der Weltanschauungsliteratur analysiert werden kann.63 Weltanschauungsliteratur lässt sich fassen als eine 60

61 62 63

28

Mit einem Schwerpunkt auf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. dazu vor allem die Beiträge in dem Band: Linke und rechte Kulturkritik. Interdiskursivität als Krisenbe­ wußtsein. Hg. von Gilbert Merlio und Gérard Raulet. Frankfurt am Main 2005. Histo­ risch finden sich allerdings zumindest in der spezifisch deutschen Kulturkritik insbeson­ dere „markant rechtsaffine Varianten“ (Beßlich: Nach Nietzsche [Anm. 13], S. 463, unter Hinweis auf die Forschung Stefan Breuers [vgl. Stefan Breuer: Ordnungen der Ungleich­ heit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945. Darmstadt 2001]). Drehsen und Sparn: Die Moderne (Anm. 8), S. 21. Beßlich: Wege in den ‚Kulturkrieg‘ (Anm. 10). Vgl. Barbara Beßlich: Mütter im Visier. ‚Versehen‘ und ‚Telegonie‘ in Otto Weiningers Geschlecht und Charakter – mit einem Seitenblick auf Weiningers Anleihen bei Goethe, Ibsen und Zola. In: KulturPoetik 4 (2004), S. 19–36. Dies.: „In Zeiten der Vorbereitung größerer Dinge“. Die Jahrhundertwende als Epochenschwelle der Moderne in Rudolf Eu­ ckens neoidealistischer Weltanschauungsliteratur. In: IASL 30 (2005), S. 167–187. Dies.: Kulturtheoretische Irritationen zwischen Literatur und Wissenschaft. Die Spengler-De­ batte in der Weimarer Republik als Streit um eine Textsorte. In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 10 (2005/2006), S. 45–72. Dies.: Ein verschlisse­ ner Klassiker und sein segmentiertes Werk. Die Rekanonisierung von Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen in der Weltanschauungsliteratur von Wagner, Chamberlain, Eucken, Ziegler, Kühnemann, Kommerell, George und Wolfskehl. In: Die Präsentation kanonischer Werke um 1900. Semantiken, Praktiken, Materialität. Hg. von Philip Ajouri. Berlin 2017, S. 43–56. Dies.: Nach Nietzsche (Anm. 13), S. 463–477. Dies.: Weltanschauungsliteratur in der Wiener Moderne. Die Politisierung des Dialog-Essays bei Leopold von Andrian. In: Weltanschauung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Hg. von Anna S. Brasch und Christian Meierhofer. Berlin 2020, S. 185–204.

besondere Form der Vertextung kulturkritischen Denkens im Grenzbereich von Wissenschaft und Literatur, die nicht beim kritischen Befund zur eige­ nen Gegenwart stehenbleibt, sondern aus der Krisendiagnose heraus aus mit einem rhetorischen Kraftakt noch einmal den Erlösung versprechenden einheit­ lichen Entwurf avisiert. Um die Bestimmung des Texttyps Weltanschauungsli­ teratur hat sich vor allem Horst Thomé verdient gemacht. Auch für meine Arbeit bilden seine grundlegenden Studien zu den Darstellungsverfahren in Weltanschauungstexten den zentralen Forschungsbezug.64 In seinen Vorüberle­ gungen zu Funktion und Texttyp aus dem Jahr 2002 hat Thomé die soziologi­ sche Frage nach dem Weltanschauungsbedarf und die wissensgeschichtliche Einordnung des Konzepts Weltanschauung mit der literaturwissenschaftlichen Untersuchung von Argumentationsstrukturen und Schreibverfahren der Welt­ anschauungsliteratur verknüpft und mit diesem interdisziplinären Aufriss den entscheidenden Impuls für weiterführende Untersuchungen gegeben. Hatte Thomé zu Beginn des Jahrtausends das weltanschauungsliterarische Textkorpus noch als ein am „Außenrand aller einschlägigen Fächer“65 gelegenes und we­ nig beachtetes vorgefunden, kann heute von mangelndem Forschungsinteresse nicht mehr die Rede sein. Davon zeugt insbesondere auch ein in neuerer Zeit erschienener Sammelband, der auf eine Konferenz im Frühjahr 2018 zurück­ geht.66 Die Autorinnen und Autoren lösen sich vom Thoméschen Texttyp und zeigen, dass sich darüber hinaus das Verhältnis von Weltanschauung und Textpro­ duktion im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert vielgestaltiger darstellt. Vor allem wird hier auf breiter Untersuchungsbasis nochmals beson­ ders deutlich, dass es sich lohnt, die Entstehung von Weltanschauungstexten, zumindest seit der Jahrhundertwende diskursgeschichtlichen in den Kontext der Kulturkritik einzubetten. Auf diese Weise wird der Blick geschärft für die Vielfalt möglicher Darstellungsformen: der Weltanschauungsdiskurs ist nicht nur in der wissenschaftlich-philosophisch etikettierten Abhandlungen beheima­ tet, er kann sich offenbar auch im poetologischen Kommentar oder sogar in Textverbünden niederschlagen, auch im Bereich der Literatur beschränkt er sich nicht auf den Roman, sondern findet auch dramatische oder lyrische Aus­ drucksformen.67 64

65 66 67

Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 15), S. 338–380. Ders.: Geschichtsspekulation als Weltanschauungsliteratur (Anm. 20), S. 194–212. Ders.: Der Blick auf das Ganze (Anm. 18), S. 387–401. Ders.: Der alte und der neue Glaube als Weltanschauungsliteratur (Anm. 16), S. 253–271. Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 15), S. 340, Fn. 4. Vgl. Anna Brasch, Christian Meierhofer (Hg.): Weltanschauung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Berlin 2020. Vgl. zu den genannten Beispielen die Beiträge von Loreen Sommer: Krisen- als Formbe­ wusstsein. Das Programm der ‚Neuklassik‘ oder Die Überführung einer Weltanschauung in Poetik, ebd., S. 157–181. Benjamin Specht: Die ‚gottlose Mystik‘ und Der letzte Tod des Gautama Buddha (1913), ebd., S. 205–234. Thomas F. Schneider: Eine Textform als

29

Der Sammelband spiegelt damit die Tendenzen der neueren Forschung wi­ der, Weltanschauungsliteratur in erweiterten Zusammenhängen zu begreifen und auch abstraktere gattungshistorische und diskursive Konstellationen zu untersuchen.68 Neben der kulturkritischen Perspektivierung wurden dabei ins­ besondere zwei lose Enden von Thomés Vorüberlegungen aufgegriffen, zum einen die funktionalen und textstrukturellen Gemeinsamkeiten von Populär­ wissenschaft und Weltanschauungsliteratur,69 zum anderen die Literarisierung des Weltanschauungsdiskurses. Zum ersten Themenkomplex hat Christian Meierhofer den Prozess naturwissenschaftlicher Popularisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfolgt. Über verschiedene Gattungen und Publi­ kationsformen hinweg stellt er in seiner wissenschafts- und diskursgeschicht­ lichen Systematisierung textuelle Darstellungsverfahren zur Herstellung von Evidenz und Anschaulichkeit heraus und zeigt die enge Verzahnung von Popu­ larisierung und weltanschaulicher Positionierung im Streit um Materialismus, Darwinismus und Monismus.70 Die Literarisierung des Weltanschauungsdiskurses wiederum, auf der auch der Fokus dieser Arbeit liegen soll, hat Thomé selbst lediglich am Rande be­ rührt. Am Beispiel von Eduard von Keyserlings Die dritte Stiege und Wilhelm Bölsches Die Mittagsgöttin weist er auf einen „Trend zur Amalgamierung von Roman und Weltanschauungsliteratur“71 seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hin, in den er dann aber auch den Zauberberg und den Mann ohne Eigenschaften einordnet. Mit dieser Entwicklung beschäftigte sich bereits Galina Hristeva für ihre Darstellung von Georg Groddeks Seelensucher als Weltanschauungsliteratur

68

69 70

71

30

Weltanschauung. Die Instrumentalisierung der Ballade durch Börries von Münchhau­ sen, ebd., S. 303–321. Christian Schienke: Stürze vom Dachfirst. Frank Wedekinds Toten­ tanz/Tod und Teufel (1905) – ein Versuch über Weltanschauungen, ebd., S. 421–451. Früh bereits Simone Holz, die herausgearbeitet hat, dass die Untergattung der tiefenpsy­ chologischen Krankengeschichte in der Etablierungs- wie in der Endphase ihrer Entwick­ lung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine besondere Affinität zur Weltanschau­ ungsliteratur aufweist (vgl. Simone Holz: Die tiefenpsychologische Krankengeschichte zwischen Wissenschafts- und Weltanschauungsliteratur. Frankfurt am Main 2014, vor allem S. 78–83). Vgl. Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 15), S. 354f., Fn. 46. Vgl. Meierhofer: Formen der Evidenz (Anm. 30). Instruktiv sind insbesondere Meierho­ fers Textbeobachtungen zu Werken Ernst Haeckels und Wilhelm Bölsches, in denen deutlich wird, wie bei zunehmender Verweltanschaulichung der wissenschaftlichen Dis­ kussion die argumentative Überzeugungsarbeit in einen rhetorischen Überbietungswett­ streit kippt (vgl. dazu das Kapitel ‚Überwindungen‘, ebd., S. 405–494). Vgl. außerdem be­ reits Christian Meierhofer: Verdünnte Moderne. Strukturelle Übergänge von Weltkrieg, Weltanschauung und Populärwissenschaft 1899–1918. In: Materialschlachten. Der Erste Weltkrieg und seine Darstellungsressourcen in Literatur, Publizistik und populären Me­ dien 1899–1929. Hg. von Christian Meierhofer, Jens Wörner. Göttingen 2015, S. 125– 159. Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 15), S. 366.

in Romanform.72 Systematisch hat sich aber erst Anna Brasch dem von Tho­ mé ausgemachten Trend gewidmet und im Rahmen einer Untersuchung der deutschen Kolonialliteratur auch eine spezifizierende Gattungsbestimmung für den Weltanschauungsroman vorgenommen. Unter anderem mit Blick auf von Keyserling, Bölsche oder Paul Ernst, aber auch Autoren aus dem Bereich der Heimatkunstliteratur, bestimmt Brasch den „weltanschaulich-kulturkritischen Roman der Jahrhundertwende“ als „spezifische Unterform des Zeitromans“73. Während die Textanalysen für das Kernkorpus nachvollziehbar die „Synthese von kulturkritischer Beobachtung und Beschreibung des Modernisierungspro­ zesses […] einerseits und weltanschaulichem Klärungsprozess andererseits“74 herausstellen, erweist es sich als schwierig, die gattungshistorische Linie des Weltanschauungsromans ungebrochen fortzuziehen bis hin zu Texten, die auf mehreren Darstellungs- und Reflexionsebenen auf den Weltanschauungs­ diskurs Bezug nehmen, wie etwa Thomas Manns Zauberberg. Obwohl diese Ent­ wicklungen außerhalb ihres Schwerpunktes liegen, gibt Brasch einen Ausblick auf solche Texte, die sich nicht mehr als „Weltanschauungsromane im enge­ ren Sinne“75 bezeichnen lassen und liefert interessante Erkenntnisse zum Stadi­ um reflektierteren weltanschaulichen Erzählens unter den Stichworten Ironisie­ rung (Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse), Paradoxierung (Robert Müller) und Historisierung (Thomas Mann).76 Innerhalb des Bestimmungshorizonts von Weltanschauungs- als Zeitroman erscheint es konsequent, die großen epo­ chendiagnostischen Romane der klassischen Moderne in der letzten Phase der entsprechenden Gattungsentwicklung zu verorten. Sie erzählen zunehmend die Unmöglichkeit weltanschaulicher Klärungsprozesse überhaupt und läuten 72 73

74 75 76

Vgl. Galina Hristeva: Georg Groddeck. Präsentationsformen psychoanalytischen Wissens. Würzburg 2008, S. 349–408. Anna Brasch: Moderne – Regeneration – Erlösung. Der Begriff der ‚Kolonie‘ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen 2017, S. 283, zur Defini­ tion vgl. vor allem ebd., S. 221–283. Brasch verwendet ‚Weltanschauungsroman‘, ‚weltan­ schaulich-kulturkritischer Roman‘ und ‚Weltanschauungsdichtung‘ synonym (vgl. ebd., S. 122). Neben der Auseinandersetzung mit Thomé grenzt Brasch sich in der Gattungsdis­ kussion insbesondere von Miklós Salyámosy ab (vgl. ebd., S. 120–122), der den Weltan­ schauungsroman im frühen 20. Jahrhundert aus der Tradition des Entwicklungsromans her versteht (vgl. Miklós Salyámosy: Der Weltanschauungsroman. Der Entwicklungsro­ man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Budapest 1998, S. 126–142). Vgl. außer­ dem auch ergänzend zur Hauptuntersuchung Anna Brasch: Weltanschauliche Totalität. Zur literarischen Form heimatkünstlerischer Modernereflexion um 1900. In: Formen des Wissens. Epistemische Funktionen literarischer Verfahren. Hg. vom Graduiertenkolleg Literarische Form. Heidelberg 2017, S. 289–313. Dies.: Vom menschlichen Glück in der Moderne trotz der Moderne. Diedrich Speckmanns Weltanschauungsroman „Heidjers Heimkehr“. In: Theoretische und fiktionale Glückskonzepte im deutschen Sprachraum (17. bis 21. Jahrhundert). Hg. von Sylvie Le Moël und Elisabeth Rothermund. Berlin 2019, S. 63–82. Brasch: Moderne – Regeneration – Erlösung (Anm. 73), S. 222. Ebd., S. 328. Vgl. ebd., S. 328–367.

31

so, gemäß Brasch, das Ende einer Gattung ein, indem sie diese ‚historisieren‘ (Zauberberg) oder, wie Musils Mann ohne Eigenschaften, gar ‚auflösen‘.77 Allerdings lässt sich die Eigenständigkeit dieser Romane im Zugriff auf die Weltanschauungsdiskussionen der Jahrzehnte um 1900 nur unzureichend als Spätphasenphänomen erklären. Dem versucht Florens Schwarzwälder Rech­ nung zu tragen. Seine Untersuchung übernimmt grundsätzlich Braschs Defini­ tion des Weltanschauungsromans als Subgattung des Zeitromans, führt aber eine kategoriale Unterscheidung ein und setzt von Braschs ‚Weltanschauungs­ romanen in engerem Sinne‘ die ‚Weltanschauungsromane 2. Ordnung‘ ab, zu denen er neben Musils Mann ohne Eigenschaften auch Hermann Brochs Schlaf­ wandler (nicht aber Manns Zauberberg) zählt. Zu Weltanschauungsromanen 2. Ordnung werden diese Romane, so Schwarzwälder, weil sie die Traditions­ linie der Gattung im Hinblick auf die Verquickung von Kulturkritik und er­ zählter Weltanschauungsgewinnung aufnehmen, „dem weltanschaulichen Klä­ rungsprozess, den sie ebenfalls darstellen, aber die Gültigkeit versagen, indem sie ihn stattdessen narrativ funktionalisieren.“78 Ausgehend von den poetologi­ schen Positionierungen der Autoren als poetae docti beleuchtet Schwarzwälder, wie die Romane Musils und Brochs den Weltanschauungsdiskurs einerseits fortführen und ihn andererseits aus einer Metaperspektive kritisieren und iro­ nisieren.79 Wie Brasch gelangt auch Schwarzwälder in den einzelnen Textana­ lysen zu wichtigen Beobachtungen zur Literarisierung des Weltanschauungsdis­ kurses im Roman. Dennoch ist meines Erachtens das Grundproblem, den Weltanschauungsro­ man in einer Traditionslinie von Bölsche bis Musil verstehen und gleichzeitig den Besonderheiten der klassisch-modernen Epochenromane gerecht werden zu wollen, mit der Einführung einer ‚2. Ordnung‘ nicht gelöst. Schon Thomés 77

78

79

32

Vgl. Anna Brasch: „Ich glaube, ich finde nicht mehr zum Anfang zurück.“ Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ und die Auflösung des Texttypus Weltanschauungsro­ man nach 1900. In: Weltanschauung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Hg. von Anna Brasch und Christian Meierhofer. Berlin 2020, S. 587– 615. Florens Schwarzwälder: Der Weltanschauungsroman 2. Ordnung. Probleme literarischer Modellbildung bei Hermann Broch und Robert Musil. Bielefeld 2019, S. 103. Zur Be­ stimmung vgl. S. 92f. Den Ausgangspunkt seiner Untersuchung bilden die jeweilige Konturierung des schrift­ stellerischen Habitus und das Konkurrenzverhältnis beider Autoren. Da er Musil und Broch aber nicht nur als wettstreitende Weltanschauungsanalytiker gegenüberstellt, son­ dern auch den diachronen Vergleich der kanonisierten Romane mit fragmentarischen Texten aus den 1930er Jahren unternimmt, kann Schwarzwälder interessante Entwick­ lungen in Bezug auf den Weltanschauungsdiskurs zeigen. So findet er sowohl bei Musil als auch bei Broch nach der historischen Zäsur 1933 Hinweise für eine weniger kritischironische und stärker emphatische Annäherung an die Weltanschauungssehnsüchte der Zeit (vgl. ebd., S. 199–342; sowie Florens Schwarzwälder: Einzelseelen. Zur Entwicklung des Weltanschauungsromans zweiter Ordnung bei Broch und Musil. In: Weltanschauung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Hg. von Anna Brasch und Christian Meierhofer. Berlin 2020, S. 617–648).

Beschreibung des Zusammenspiels von Weltanschauungs- und literarischem Diskurs im 20. Jahrhundert als ‚Amalgamierung‘ lässt nicht genügend Raum, um das Konfliktpotential dieser Verbindung herausstellen zu können. Die daran anknüpfenden Perspektiven Braschs und Schwarzwälders zeigen nach­ vollziehbar die Kontinuitäten weltanschaulicher Klärungsprozesse auf Figurenund Erzählerebene und registrieren gerade auch die späteren Brüche mit der Gattungstradition, wie sie im Zuge einer „Tendenz zur Metaisierung“80 oft in gattungsgeschichtlichen Endphasen zu beobachten sind. Weniger ins Blickfeld geraten allerdings die Reibungsmomente, die grundsätzlich entstehen können, wenn die Geltungsansprüche weltanschauungsliterarischer Argumentationen mit den fiktionalen Eigengesetzlichkeiten kollidieren. Um auch solche komplexen Beziehungen genauer fassen zu können, verfolgt die vorliegende Arbeit ein intertextuelles Forschungsprogramm, das auf sys­ temreferentieller Bezugsebene den Texttyp Weltanschauungsliteratur und den Roman der klassischen Moderne bei Thomas Mann, Robert Musil und Her­ mann Broch gegenüberstellt. Die intertextuelle Herangehensweise liegt nahe, wenn man sich das spannungsvolle, von Affinität und Distanz gleichermaßen geprägte Verhältnis vergegenwärtigt, in dem diese Romane zu den genuin weltanschauungsliterarischen Schriften ihrer Zeit stehen. Zumal im Bereich der Einzeltextreferenz bereits gezeigt wurde, wie präzise sich eine intertextuelle Dialogizität zwischen Roman und faktualem Weltanschauungstext, etwa zwi­ schen dem Zauberberg und Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes, heraus­ arbeiten lässt.81 Die Untersuchung steht selbstverständlich in engem Austausch mit denen Braschs und Schwarzwälders, soll deren Ergebnisse aber durch eine andere Analyseperspektive auf die Literarisierung des Weltanschauungsdiskur­ ses ergänzen. Zu erwähnen ist außerdem eine zeitlich parallel, aber unabhängig von der Forschungsdiskussion bei Brasch und Schwarzwälder entstandene Studie, die ebenfalls im Rückgriff auf Thomé die Verbindung von Weltanschauung und Literatur untersucht. Schwerpunktmäßig befasst sich Philipp David Heine mit methodologischen Vorfeldüberlegungen zur Interferenz von Weltanschauungs­ diskurs und Literatur. Über eine ausführliche begriffs- und phänomenhistori­ sche Herleitung rekonstruiert er den ‚Diskussionszusammenhang Weltanschau­ ung‘ für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und plädiert zu dessen Untersu­ chung für eine problemgeschichtliche wie akteurs- und handlungszentrierte Herangehensweise, die er dann exemplarisch an Alfred Döblin und Ernst Jünger erprobt.82 Heine belegt, dass die Weltanschauungsthematik gerade für 80 81 82

Marion Gymnich: Theorien des historischen Endes von Gattungen. In: Handbuch Gat­ tungstheorie. Hg. von Rüdiger Zymner. Stuttgart 2010, S. 154–155, hier S. 155. Vgl. Barbara Beßlich: Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler. Berlin 2002, vor allem S. 53–109. Vgl. Heine: Die Literatur und der Kampf um die Weltanschauung (Anm. 5).

33

eine wissenssoziologisch orientierte Literaturgeschichtsschreibung ein lohnen­ des Forschungsfeld sein kann, für die vorliegende Arbeit ist vor allem der materialreiche Überblick über den Problemzusammenhang von Weltanschau­ ungsdiskurs und Literatur von Nutzen. Inspirierend für die anstehende Untersuchung sind außerdem Forschungs­ beiträge zu einschlägigen Weltanschauungsliteraten, die sich zwar nicht nä­ her auf den von Thomé bestimmten Texttyp stützen, aber auf die spezifi­ schen Denkmuster und Argumentationsverfahren eingehen. So Anja Loben­ stein-Reichmanns präzise rhetorisch-analytische Zerlegung des Weltanschau­ ungswerks von Houston Stewart Chamberlain,83 Per Leos Geistesgeschichte des Nationalsozialismus, die anhand der deutschen Weltanschauungskultur die Entwicklung eines charakterologischen Denkstils nachzeichnet,84 Untersu­ chungen zur sogenannten Pseudowissenschaft85 oder zum populären Darwinis­ mus und seinen literarischen Aneignungen86. In seinen gattungstheoretischen Überlegungen beachtenswert ist in diesem Kontext auch der Ansatz, den Kai Kauffmanns in seiner Arbeit zu Ernst Haeckel entwickelt.87 Während Thomé über das Konzept Weltanschauung zur Bestimmung einer spezifischen Text­ sorte mit typischen Argumentationsstrukturen und Redeformen gelangt, geht Kauffmann von einem breiten Übergangsbereich zwischen Wissenschaft und Literatur um 1900 aus, in dem sich diskursüberschreitende essayistische Denkund Schreibstrategien bis zur dogmatischen Weltanschauungsproduktion ver­ dichten können.88 Mir geht es darum, gerade auch die Unterschiede und dialogischen Konstellationen im Verhältnis von essayistischen Verfahren in Weltanschauungstexten einerseits, im Roman der klassischen Moderne anderer­ 83

84 85

86

87 88

34

Vgl. Anja Lobenstein-Reichmann: Houston Stewart Chamberlain – Zur textlichen Kon­ struktion einer Weltanschauung. Eine sprach-, diskurs- und ideologiegeschichtliche Ana­ lyse. Berlin und New York 2008. Vgl. Per Leo: Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakteriologisches Den­ ken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890–1940. Berlin 2013. Vgl. Robert Matthias Erdbeer: Epistemisches Prekariat. Die qualitas occulta Reichenbachs und Fechners Traum vom Od. In: Pseudowissenschaft. Hg. von Dirk Rupnow u. a. Frankfurt am Main 2008, S. 127–162. Christina Wessely: Welteis. Die Astronomie des Unsichtbaren um 1900. In: Pseudowissenschaft. Hg. von Dirk Rupnow u. a. Frankfurt am Main 2008, S. 163–194. Vgl. Peter Sprengel: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg 2012. Philip Ajouri: Erzäh­ len nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus: Friedrich Theodor Vischer und Gottfried Keller. Berlin, New York 2007. Gerd-Hermann Susen und Edith Wack (Hg.): „Was wir im Verstande ausjäten, kommt im Traume wieder“. Wilhelm Bölsche 1861–1939. Würzburg 2012. Vgl. Kauffmann: Naturwissenschaft und Weltanschauung (Anm. 30). Hier handelt es sich zwar um verschiedene Untersuchungsperspektiven, nicht jedoch um einen grundsätzlichen Dissens. Auch Thomé beschreibt ja den Texttyp Weltanschauungs­ literatur gerade an der Gattungsgrenze und betont die fließenden Übergänge zu anderen Textsorten (vgl. Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp [Anm. 15], S. 359).

seits herauszuarbeiten. Deshalb stützt sich die Untersuchung wesentlich auf Thomés Texttypen-Bestimmung. Für die Konzeption eines Grenzbereiches als interdiskursiv geprägtes Feld, in dem solche dialogischen Bezüge erst ermög­ licht werden, knüpfe ich allerdings an Kauffmanns Betrachtungsweise an. c) Zu den Romanen Für die einzelnen Textanalysen kann die Untersuchung vor allem auf die Vor­ arbeiten von Brasch (zum Zauberberg und zum Mann ohne Eigenschaften) und Schwarzwälder (zum Mann ohne Eigenschaften und zu den Schlafwandlern) zu­ rückgreifen. In der breit gefächerten Forschungsliteratur zu den ausgewählten Romanen finden sich aber auch darüber hinaus an vielen Stellen Ergebnisse, die sich als relevant für hier verfolgten Fragestellungen erweisen. Schon oft wurde versucht, die unterschiedlichen intellektuellen Positionen, theoretischen Diskurse oder philosophischen Einflüsse herauszustellen, die im Werk Manns, Musils und Brochs wirksam werden. Dabei konzentrierte sich der Blick vor allem auf die ideengeschichtlichen Hintergründe sowie auf mögliche reale Vor­ bilder von Figuren, die innerhalb der Fiktion bestimmte Weltanschauungen vertreten. Als prominentes Beispiel wäre vor allem die Figur des Leo Naphta aus dem Zauberberg zu nennen, den die Forschung als „Konglomerat hetero­ genster Ideologien“89 entlarvt hat. Aber auch Studien zur Rathenauparodie im Mann ohne Eigenschaften90 oder zur Bedeutung des Neukantianismus für die werttheoretischen Überlegungen Brochs91 belegen ein ähnlich gerichtetes Forschungsinteresse und konnten viele geistesgeschichtliche Spuren im literari­ schen Werk des jeweiligen Autors identifizieren. Bei solchen Untersuchungen standen vornehmlich inhaltliche Aspekte im Vordergrund – gefragt wurde, welche Theoreme eines bestimmten Denkers etwa als Zitat oder Allusion im literarischen Text nachweisbar sind und wie solche Bezüge interpretatorisch nutzbar gemacht werden können. Kaum beachtet hat die frühere Forschung dagegen, dass sich diese Romane mit den integrierten Wissensbeständen und -ordnungen gleichermaßen auch deren sprachliche Vermittlungsformen einver­ leiben und diese neu kontextualisieren, thematisieren und kritisieren. Zum Zauberberg hat schließlich Barbara Beßlich in Zusammenhang mit der Spengler-Rezeption Thomas Manns erste wichtige Anhaltspunkte für eine 89 90

91

Hans Wißkirchen: Zeitgeschichte im Roman. Zu Thomas Manns Zauberberg und Doktor Faustus. Bern 1986, S. 83. Vgl. zum Beispiel Dagmar Barnouw: Zeitbürtige Eigenschaften. Musils Rathenaukritik. In: Robert Musil – Theater, Bildung, Kritik. Hg. von Josef Strutz und Johann Strutz. München 1985, S. 166–184. Vgl. dazu vor allem Friedrich Vollhardt: Hermann Brochs geschichtliche Stellung. Studi­ en zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie „Die Schlafwandler“ (1914– 1931). Tübingen 1986.

35

auch sprachlich-strukturelle Übernahme von Weltanschauungsrhetorik in den Roman gegeben.92 Im Hinblick auf Musil und Broch hat Friedrich Vollhardt auf die komplexe Verflechtung poetischer und weltanschaulicher Diskurse im Roman hingewiesen und dabei insbesondere in seinem Musil-Aufsatz die Weltanschauungsproblematik im Mann ohne Eigenschaften in einen innovativen Zusammenhang mit den Reflexionen des Protagonisten gestellt.93 Paul Michael Lützeler ist es außerdem bereits gelungen, einige intertextuelle Referenzen auf Spenglers Untergang des Abendlandes in Brochs Schlafwandlertrilogie aufzuzei­ gen.94 Auf einer abstrakteren Ebene hat sich die Forschung mit einer prinzipiellen ‚Verwissenschaftlichung‘ des Romans bei Mann, Musil und Broch beschäftigt. Unter diesem Gesichtspunkt wurden einerseits die konkreten Anleihen der Au­ toren bei den Natur- und Geisteswissenschaften ihrer Zeit herausgearbeitet,95 andererseits eine strukturelle Zunahme von Theorie und Reflexion in den Erzähltexten selbst festgestellt. In diesem Zusammenhang ist insbesondere das Werk Musils als Beispiel für (selbst-)reflexives Erzählen der Moderne unter

92

93

94

95

36

Vgl. Beßlich: Faszination des Verfalls (Anm. 81), vor allem S. 53–109. Eine überzeugende Untersuchung der widersprüchlichen Gedankenwelt Naphtas und Settembrinis auf dem Zauberberg, allerdings ohne Verweis auf den historischen Kontext der Weltanschauungs­ debatte, findet sich außerdem bei Markus Lorenz: Motivische Textur als ästhetische Selbstreferenz. Zur Komposition von Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“. Bonn 2006, vgl. S. 202–229. Vgl. Friedrich Vollhardt: „Welt-an=Schauung“. Problemkonstellationen in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. In: Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplin­ externe Perspektiven auf Literatur. Hg. von Uta Klein, Katja Mellmann und Steffanie Metzger. Paderborn 2006, S. 505–525. Ders.: Das Problem der Weltanschauung in den Schriften Hermann Brochs vor dem Exil. In: Hermann Broch. Neue Studien. Festschrift für Paul Michael Lützeler zum 60. Geburtstag. Hg. von Michael Kessler. Tübingen 22009, S. 492–509. Vgl. Paul Michael Lützeler: Hermann Broch und Spenglers Untergang des Abendlandes: Die Schlafwandler zwischen Moderne und Postmoderne. In: Hermann Broch. Modernis­ mus, Kulturkrise und Hitlerzeit. Londoner Symposion 1991. Hg. von Adrian Stevens, Fred Wagner und Sigurd Paul Schleichl. Innsbruck 1994, S. 19–43. Vgl. exemplarisch Dietrich von Engelhardt, Hans Wißkirchen (Hg.): „Der Zauberberg“ – die Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman. Stuttgart 2003. Andreas Johann: „Mathematiker denken anders als andere Menschen“. Zur Rolle des Naturwissenschaft­ lichen in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. In: Scientia poetica 11 (2007), S. 160–183. Markus Pissarek: „Atomisierung der einstigen Ganzheit“ – Das literarische Frühwerk Hermann Brochs. Neuorientierung des literarischen Denkens im Kontext der modernen Physik und Psychoanalyse. München 2009. Eine differenzierte Sichtweise auf Musils Wissenschaftsverständnis und seine Kritik an der Pseudowissen­ schaftlichkeit im Mann ohne Eigenschaften erarbeiten Sieglinde Grimm und Knut Hüller anhand des berühmten ersten Romankapitels (vgl. Sieglinde Grimm, Knut Hüller: Schö­ nes Wetter oder was? Robert Musils Kritik an ‚moderner Wissenschaft‘. In: Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 28 [2003/2004], S. 57–83).

dem Stichwort ‚Essayismus‘ untersucht,96 aber auch mit Texten von Mann oder Broch unter vergleichender Perspektive betrachtet worden.97 Obwohl für die vorliegende Arbeit hier durchaus Anknüpfungspunkte bestehen, erscheint es dennoch notwendig, die Integration weltanschauungsliterarischer Strukturen im Roman der klassischen Moderne nicht identisch zu setzen mit seiner bereits früh diagnostizierten generellen „Essayfizierung“98. Ich gehe davon aus, dass die literarische Bezugnahme auf weltanschauliche Diskurse im Zuge dieser Entwicklung gerade einen Punkt bezeichnet, an dem solchen Formen der Wis­ sensvermittlung und Reflexion innerhalb des narrativen Diskurses nur noch bedingt der Status einer innovativen Denk- und Aussageweise zuerkannt wird. Vielmehr werden die weltanschaulichen Entwürfe über ihre Fiktionalisierung oftmals zum bloßen Material degradiert, fragmentiert, ironisch beleuchtet und als typisches Phänomen einer jeweils betrachteten Umbruchszeit kritisch hin­ terfragt. Eine ebenfalls vom Essayismus ausgehende neue Perspektive, die dies berücksichtigt, hat allerdings Benjamin Gittel eingebracht, indem er Fiktiona­ lisierungen von Reflexion im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts am Beispiel des Erlösungsdiskurses beschreibt und drei Stufen der literarisch-ästhetischen Modalisierung herausarbeitet: die Radikalisierung und Relativierung (Lukács), Funktionalisierung (Broch) und Mumifizierung (Musil).99 Unter den vergleichenden Arbeiten sind jedoch zwei herauszuheben, die ebenfalls im Forschungskontext ‚Literatur und Wissen‘ stehen und sich parti­ ell mit meiner Fragestellung überschneiden. Zum einen Gunther Martens’ Dissertation zu Broch und Musil, zum anderen die Gegenüberstellung von Mann, Broch und Musil bei Andreas Dittrich.100 Während Martens über eine 96

97

98 99

100

Aus den zahlreichen Arbeiten zu diesem Themenkomplex ist die für die jüngere For­ schungsgeschichte maßgebliche Studie Birgit Nübels herauszuheben (vgl. Birgit Nübel: Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin 2006). Vgl. zum Beispiel Wolfgang Düsing: Erinnerung und Identität. Untersuchungen zu einem Erzählproblem bei Musil, Döblin und Doderer. München 1982. Simon Jander: Die Ästhetik des essayistischen Romans. Zum Verhältnis von Reflexion und Narration in Musils Der Mann ohne Eigenschaften und Brochs Huguenau oder die Sachlichkeit. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 123 (2004), S. 527–548. Richard Exner: Roman und Essay bei Thomas Mann. Probleme und Beispiele. In: Schweizer Monatshefte 44 (1964/1965), S. 244. Vgl. Benjamin Gittel: „Niemals aber sagt ein lebendiger Mensch zu einem anderen … ‚Sei mein Erlöser!‘“ Drei Arten der Fiktionalisierung von weltanschaulicher Reflexion bei Broch, Lukács und Musil. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 135 (2016), Heft 2, S. 213–244. Zu grundsätzlichen theoretische Problemstellungen für essayistische Verfah­ ren im fiktionalen Umfeld vgl. außerdem bereits ders.: Essayismus als Fiktionalisierung von unsicheres Wissen prozessierender Reflexion. In: Scientia poetica 19 (2015), S. 136– 171. Vgl. Gunther Martens: Beobachtungen der Moderne. In Hermann Brochs Die Schlaf­ wandler und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Rhetorische und narratologi­ sche Aspekte von Interdiskursivität. München 2006. Andreas Dittrich: Glauben, Wissen, Sagen. Studien zu Wissen und Wissenskritik im ‚Zauberberg‘, in den ‚Schlafwandlern‘ und im ‚Mann ohne Eigenschaften‘. Tübingen 2009.

37

stilanalytische und narratologische Untersuchung in den Schlafwandlern und im Mann ohne Eigenschaften die spezifische Modernität auktorialer Erzählweisen herausstellt, verfolgt Dittrich in eben diesen Romanen und im Zauberberg er­ kenntnistheoretisch relevante Strukturen anhand epistemischer Ausdrücke. Da­ bei geht es Martens und Dittrich mit jeweils unterschiedlichem Schwerpunkt auch um die Inskription von ‚Theorie‘ im fiktionalen Text, sie untersuchen die­ se jedoch primär textintern und als generelles Phänomen. Auch im historischen Teil der Untersuchung Dittrichs, der jeden Roman mit einem anderen philoso­ phischen Text konfrontiert, stehen prinzipielle epistemologische Fragen im Vordergrund. Weil Dittrich als Bezugstext für den Zauberberg aber mit den Welträtseln Ernst Haeckels ein weltanschauungsliterarisches Werk par excel­ lence wählt, sind seine Ergebnisse auch für diese Arbeit relevant. Stärker als Martens oder Dittrich verortet die vorliegende Untersuchung die Romane der klassischen Moderne in ihrem historischen diskursiven Kontext, indem sie die im Romantext analysierbare Auseinandersetzung mit bestimmten Theoremen und Aussageweisen auf den Weltanschauungsdiskurs des 19. und 20. Jahrhun­ derts bezieht. Dennoch kann die Romananalyse in vielen Punkten an die bei­ den genannten Studien anschließen und insbesondere von der präzisen narrato­ logischen Sondierung der Romane bei Martens profitieren.

5. Methodische Prämissen und Aufbau der Arbeit Ausgangspunkt der Untersuchung bilden die Wechselbeziehungen zwischen der Literatur der Moderne und der Weltanschauungsdebatte, die sich ab der zweiten Hälfte es 19. Jahrhunderts konstituiert. Der Fokus dieser Arbeit liegt dabei auf dem Roman der klassischen Moderne und seiner Bezugnahme auf die Textsorte Weltanschauungsliteratur. Für diese Relation nehme ich an, dass durch die Ausdehnung und Überschreitung traditioneller Gattungsgrenzen, als weltanschauliche Erweiterung wissenschaftlicher Ergebnisse mit literari­ schen Mitteln auf der einen, als ‚Verwissenschaftlichung‘ und ‚Verweltanschau­ lichung‘ der Literatur auf der anderen Seite, ein Übergangsbereich entsteht, den die Romane Thomas Manns, Robert Musils und Hermann Brochs reflexiv und selbstreflexiv ausloten. Die Berücksichtigung nicht genuin der ‚schönen Literatur‘ angehöriger Texte zeigt bereits an, dass dieser Untersuchung ein weiter Begriff von Literatur zugrunde gelegt wird. Da sich die Arbeit mit der Interferenz verschiedener Wis­ sensformationen und Gattungen befasst, ist es außerdem erforderlich, Literatur nicht als autonomen, hermetisch abgeschlossenen Bereich, sondern in ihrer vielfältigen Korrelation mit kulturellen Wissenskontexten zu begreifen. Kultu­ relles Wissen meint dabei auch, aber nicht nur wissenschaftlich erzeugte Wis­

38

senselemente und -systeme.101 Ein extensiver Wissensbegriff ist für die anste­ hende Untersuchung unverzichtbar, weil das als Kontext in den Blick genom­ mene ‚Weltanschauungswissen‘ wissenschaftliche Rationalitätskriterien gerade außer Kraft setzt. Zudem lässt sich die Genese des Texttyps Weltanschauungsli­ teratur nur durch die Verschränkung von wissenschafts- und kulturhistorischer Perspektive rekonstruieren, also unter Beachtung sowohl der Spezialisierung und Professionalisierung der positivistischen Wissenschaften als auch der Kul­ turkrise des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.102 Literarische Texte auf gleicher Ebene und in ihrer Verflechtung mit anderen kulturellen Wissensformationen zu betrachten, muss dabei nicht zwangsläufig auf eine Ni­ vellierung der Unterschiede hinauslaufen, vielmehr setzt ein kontextorientierter literaturwissenschaftlicher Ansatz solche Differenzen voraus und kann sie erst präzise benennen.103 Die Beziehungen zwischen Roman und Weltanschauungs­ literatur, die im Zentrum dieser Untersuchung stehen, müssen aber unter zwei Aspekten spezifiziert werden, sowohl hinsichtlich ihrer theoretischen Einbet­ tung als auch die Möglichkeiten der Analyse betreffend. Dabei ist zum einen die diskursive Beschaffenheit104 dieser Relation, zum anderen ihre Textualität herauszustellen. 101

102 103

104

Hier orientiere ich mich am Begriff des kulturellen Wissens in der Prägung von Mi­ chael Titzmann. Kulturelles Wissen kann verstanden werden als „Gesamtmenge der Propositionen, die die Mitglieder der Kultur für wahr halten bzw. die eine hinreichende Anzahl von Texten der Kultur als wahr setzt; jede solche Proposition ist ein Wissensele­ ment; die systematisch geordnete Menge der Wissenselemente ist das Wissenssystem“ (Michael Titzmann: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Begriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für französische Sprache und Litera­ tur 99 [1989], S. 47–61, hier S. 49). Zu den Vorteilen dieses Wissensbegriffs vgl. auch Henning Hufnagel und Olav Krämer: Lyrik, Versepik und wissenschaftliches Wissen im 19. Jahrhundert. Zur Einleitung. In: Das Wissen der Poesie. Lyrik, Versepik und wissenschaftliches Wissen im 19. Jahrhundert. Hg. von dens. Berlin, Boston 2015, S. 1– 35, hier S. 4–10. Vgl. aber auch die Einwände gegen einen zu weiten Wissensbegriff bei Gideon Stiening: Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners. Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten. Berlin, Boston 2019, S. 15–26, vor allem S. 21. So auch die Herleitung bei Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 15), vgl. vor allem S. 341–351. „Erst durch die Beachtung der spezifisch literarischen Vertextungsverfahren, die Form, Bedeutung und Leistungsvermögen von Literatur bestimmen, erschließen sich etwa Wechselwirkungen zwischen literarischen Formen und kulturellem Kontext“ (Vera Nünning: Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft: Grundlagen und Möglichkei­ ten. In: Kulturgeschichte der englischen Literatur. Von der Renaissance bis zur Gegen­ wart. Hg. von ders. Tübingen. Basel 2005, S. 1–11, hier S. 8). Mit Titzmann verstehe ich unter Diskurs ein „System des Denkens und Argumentie­ rens“, das durch einen gemeinsamen „Redegegenstand“, durch „Regularitäten der Re­ de“ sowie durch „Relationen zu anderen Diskursen“ bestimmt ist. Michael Titzmann: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft. In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 395–438, hier S. 406.

39

Zunächst soll hierfür an die Interdiskurstheorie angeknüpft werden, die Jürgen Link in Orientierung an Foucault, aber mit Blick auf genuin literatur­ wissenschaftliche Fragestellungen hin entwickelt hat. Link geht aus von einer „für die Moderne grundlegende Dialektik zwischen Diskursspezialisierung und interdiskursiver Reintegration des durch die Spezialisierung produzierten Wis­ sens“105. Die Literatur erscheint in besonderer Weise durch interdiskursive Elemente bestimmt, sie korrespondiert als institutionalisierter Interdiskurs mit unterschiedlichen Spezialdiskursen, aber auch anderen Interdiskursen und re­ integriert auf diese Weise heterogene Wissensbestände.106 Indem sie jedoch wiederum in der Selektion, Organisation und Modellierung dieses Wissens eigenen Formationsregeln folgt, ist sie selbst zugleich Spezialdiskurs.107 Dieses diskursanalytische Modell setzt den Autor zwar nicht mehr als einzige und zentrale Instanz für die Sinnkonstitution des Textes, trotzdem bleibt die indivi­ duell-subjektive Ausformung literarischer Texte berücksichtigt.108 Für die anstehende Untersuchung ist der interdiskurstheoretische Zugang vielversprechend, weil er eine doppelte Perspektive ermöglicht. Literatur wird in ihrer „kulturelle[n] Verzahnung“109 mit dem diskursiven Umfeld betrach­ tet, zugleich rücken aber auch die Transformationsprozesse innerhalb des lite­ rarischen Diskurses in den Blick.110 Angewandt auf die Beziehung zwischen Roman und Weltanschauungsdiskurs ergibt sich die folgende Konstellation: 105

106

107 108

109 110

40

Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs lite­ rarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Diskurstheorien und Literaturwissen­ schaft. Hg. von Jürgen Fohrmann und Harro Müller. Frankfurt am Main 1988, S. 284– 307, hier S. 285. Vgl. Jürgen Link, Ursula Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 20/77 (1990), S. 88–99, hier S. 93– 94. Vgl. Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse (Anm. 105), S. 300–301. Vgl. Link, Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse (Anm. 106), S. 95. Denkbar wäre auch der Anschluss an das triadisches Funktionsmodell Hubert Zapfs, nach dem Literatur als ‚kulturkritischer Metadiskurs‘, als ‚imaginativer Gegendiskurs‘ und als ‚reintegrativer Interdiskurs‘ fungieren kann (vgl. Hubert Zapf: Kulturökologie und Literatur. Ein transdisziplinäres Paradigma der Literaturwissenschaft. In: Kultur­ ökologie und Literatur. Beiträge zu einem transdiziplinären Paradigma der Literatur­ wissenschaft. Heidelberg 2008, S. 15–44). Gegen das literaturökologisch ausgerichtete Modell und für die Orientierung an Link und Link-Heer spricht hier vor allem die wertneutralere Begrifflichkeit. Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse (Anm. 105), S. 85. Dass sich die Interdiskurstheorie im Anschluss an Link insbesondere für die Beschrei­ bung grenzüberschreitender Denk- und Aussageformen eignet, zeigt Kauffmann: Natur­ wissenschaft und Weltanschauung (Anm. 30), S. 61–75. Vgl. außerdem die funktionsge­ schichtliche Gattungsanalyse zu Interaktionsprozessen zwischen Physik und Literatur im 20. Jahrhundert von Clemens Özelt: Literatur im Jahrhundert der Physik. Geschichte und Funktion interaktiver Gattungen 1900–1975. Göttingen 2018. Zur theoretischen Begründung vgl. außerdem Rolf Parr: ‚Sowohl als auch‘ und ‚weder noch‘. Zum inter­ diskursiven Status des Essays. In: Essayismus um 1900. Hg. von Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann. Heidelberg 2006, S. 1–14.

Als Interdiskurs nimmt die Literatur – selbst wiederum hochgradig interdis­ kursiv produziertes – Weltanschauungswissen auf, über die Fiktionalisierung und Ästhetisierung dieses Wissens verfügt sie als Spezialdiskurs zugleich über die Möglichkeit, in einen kritischen Dialog mit den aufgenommenen Theore­ men und Redeformen zu treten, aber auch den Weltanschauungsdiskurs auf dessen eigene Integrationsleistung hin zu befragen. Unter dieser doppelten interdiskursiven Bestimmung scheint sich dabei eine grundlegende Tendenz für die Unterscheidung von Weltanschauungsliteratur und Literatur darin ab­ zuzeichnen, dass Interdiskursivität im ersteren Fall dadurch entsteht, dass im Weltanschauungsentwurf heterogene Wissenselemente auf eine abgeschlossene Totalperspektive hin synthetisiert werden, während der Roman diese Heteroge­ nität gerade herausstellt, Totalität bestünde hier dann darin, die Ambivalenzen möglichst vollständig zu erfassen.111 Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Wissen in einem (inter)dis­ kursiven Feld, führen unweigerlich zur Frage nach der literaturwissenschaftli­ chen Analysierbarkeit der darin verorteten Relationen. Ich gehe davon aus, dass diese nur in ihrer (materialen) Textgebundenheit zugänglich und beschreibbar sind. Auch generalisierte Aussagen, etwa über typische Argumentationsverfah­ ren im Weltanschauungsdiskurs, sind nur durch Abstraktionen zu gewinnen, die von der Grundlage konkreter Textkorpora ausgehen.112 Insofern möchte ich die Literarisierung des Weltanschauungsdiskurses als intertextuelle Referenz des Romans der klassischen Moderne auf die Textsorte Weltanschauungslitera­ tur fassen.113 Im Blickpunkt stehen Wechselbeziehungen zwischen den Strukturmerkma­ len einer nicht-fiktionalen Textsorte und literarischen Texten. Auf der Basis einer skalaren Bestimmung von Intertextualität, wie sie Ulrich Broich und Manfred Pfister vorschlagen, lassen sich auch Formen der Systemreferenz 111

112

113

„Literatur verarbeitet mit Vorliebe ambivalentes Material, auf eine Weise, die die Ambiva­ lenz wahrt und häufig künstlich steigert“ (Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse [Anm. 105], S. 301). So auch Moritz Baßler, der in der Diskussion über Kultur als Text bzw. Text als Kultur für ein weites Textualitätskonzept plädiert, die analytischen Greifbarkeit aber entschieden an die Materialität des Textes bindet: „Textwissenschaft und insbesondere jeder Versuch, Kulturwissenschaft als Textwissenschaft zu betreiben, kann und muß sich auf Vorliegendes, auf ‚festgehaltene Vergangenheit‘, mit einem Wort: auf Texte stützen“ (Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literatur­ wissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005, S. 147). Vgl. ebenfalls Anz: In­ dikatoren und Techniken der Transformation (Anm. 39), S. 331. Die Untersuchung widmet sich damit der Intertextualität als einem „Spezialfall der In­ terdiskursivität“ (Ute Gerhard, Jürgen Link, Rolf Parr: Interdiskurs, reintegrierender. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart, Weimar 42004, S. 324). Für eine kritische Sicht auf die Engführung von Intertextualität und Interdiskursivität vgl. hingegen Klaus W. Hemp­ fer: Literaturwissenschaft – Grundlagen einer systematischen Theorie. Abhandlungen zur Literaturwissenschaft. Stuttgart 2018, S. 173–176.

41

als eine mögliche Ausprägung intertextueller Verfahrensweisen begreifen.114 Gegenüber weiter gefassten Konzepten der poststrukturalistischen Tradition erweist sich dieses Modell flexibel für die Analyse unterschiedlicher Bezugsebe­ nen und Intensitätsgrade von Intertextualität, richtet den Fokus aber dennoch auf die konkret nachweisbaren Beziehungen zwischen Texten, wobei Texte als „sprachliche oder versprachlichte Systeme“115 zu verstehen sind. Gerade im Hinblick auf Weltanschauungsliteratur, für die als Textsorte kennzeichnend ist, dass sie selbst wiederum mit der Kombination vorgeprägter Wissensmaterialien arbeitet, zeigt sich, wie Einzeltext- und Systemreferenz ineinander übergehen können. Weltanschauungsliterarische Verfahrensweisen im Roman zu unter­ suchen heißt aber gerade, textsortenspezifische Charakteristika aufzuzeigen, die in den literarischen Text aufgenommen sind. Es stehen daher nicht die im Roman fassbaren Einzeltextbezüge im Zentrum, vielmehr gilt es, auf einer abs­ trakteren Ebene Systemreferenzen herauszuarbeiten und ihre Transformation im narrativen Kontext zu beleuchten. Pfister stellt sechs qualitative Kriterien bereit, mit denen die Intensität inter­ textueller Bezüge skaliert werden kann.116 Formuliert für den zu untersuchen­ den Fall einer Systemreferenz verbindet sich das Kriterium der ‚Referentialität‘ mit der Frage, wie intensiv ein Text die Eigenart der Prätextmuster herausstellt, das heißt solche Strukturen nicht einfach nur aktualisiert, sondern sie themati­ siert und damit auch eine metatextuelle Ebene eröffnet. Je bewusster die Bezug­ nahme auf bestimmte Textfolien Autor und Rezipient sind, je deutlicher ihre Markierung erkennbar ist, umso ausgeprägter ist die intertextuelle Referenz nach dem Kriterium der ‚Kommunikativität‘ einzuschätzen. Demnach wäre einerseits zu untersuchen, ob intertextuelle Verweise vom Autor tatsächlich intendiert waren und inwieweit davon auszugehen ist, dass sie als solche von der zeitgenössischen Leserschaft auch identifiziert werden konnten. ‚Autorefle­ 114

115

116

42

Vgl. Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funk­ tionen, anglistische Fallstudien. Hg. von Ulrich Broich, Manfred Pfister unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich. Tübingen 1985, S. 1–30, hier S. 25–30. Manfred Pfister: Zur Systemreferenz. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglisti­ sche Fallstudien. Hg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich. Tübingen 1985, S. 52–58, hier S. 53. Für einen Überblick über die konkurrierenden Konzepte zur Intertextualität vgl. Andreas Böhn: Intertextualität. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 2: Methoden und Theorien. Hg. von Thomas Anz. Stuttgart, Weimar 2007, S. 204–216. Eine tiefergehende Darstellung und Diskussion der verschiedenen Ansätze findet sich außerdem bei Teresa Pham: Intertextuelle Referenzen auf Shakespeare. Eine kognitiv-linguistische Untersuchung. Berlin 2014, S. 13–62. Vgl. Pfister: Konzepte der Intertextualität (Anm. 114), S. 26–30. Neben diesen qualitati­ ven Kriterien nennt Pfister auch zwei quantitative, „Dichte und Häufigkeit der intertex­ tuellen Bezüge“ sowie „Zahl und Streubreite der ins Spiel gebrachten Prätexte“ (ebd., S. 30). Allerdings werden diese recht vagen Angaben nicht weiter ausgeführt. Meiner Ansicht nach fließt die Frequenz von Bezügen ohnehin in die Beurteilung der inter­ textuellen Intensität, etwa hinsichtlich der Referentialität oder Strukturalität mit ein, sodass auf zusätzliche quantitative Kriterien verzichtet werden kann.

xivität‘ bezieht sich auf die Möglichkeit, dass die intertextuellen Verfahren im Text selbst angesprochen und reflektiert werden können. Mit dem Kriterium ‚Strukturalität‘ wiederum lässt sich skalieren, in welchem Maß ein Prätextmus­ ter nicht nur punktuell auftaucht, sondern zu einer „strukturellen Folie“117 wird. In der Romananalyse wäre also zu untersuchen, ob der Texttyp Weltan­ schauungsliteratur lediglich stellenweise ‚anzitiert‘ wird oder ob seine Struktu­ ren in größerem Umfang die Konstitution des Romans selbst bestimmen. Bei der ‚Selektivität‘ geht es um die Prägnanz intertextueller Verweise. Zum einen wird das Niveau der Abstraktion erfasst, zum anderen gefragt, wie deutlich ein Text ein ganz bestimmtes Element seiner Vorlage herausstellt. Unter dem erstgenannten Aspekt sind Bezüge auf die Strukturen einer Textgruppe prinzi­ piell nur gering intertextuell, die maximale Intensität wäre hier im wörtlichen Zitat aus einem einzelnen Text erreicht. In der Frage, wie scharf ein Text ein bestimmtes Charakteristikum seines Prätextes ausmodelliert, kann jedoch auch systemreferentiell eine prägnante Intertextualität entstehen, beispielsweise indem ein Roman die typisch antithetische Rhetorik der Weltanschauungslite­ ratur auf die Spitze treibt. Das auf Michail Bachtin zurückgehende Kriterium der ‚Dialogizität‘ schließlich ist Gradmesser dafür, wie intensiv ein Text in „semantischer und ideologischer Spannung“118 zur Bezugsfolie steht. Grundsätzlich sollen in dieser Arbeit alle sechs qualitativen Kriterien Pfis­ ters herangezogen werden, um die Intensität der Systemreferenz umfassend zu beurteilen. Da es zentral um die Frage nach den Dissonanzen geht, die durch die Fiktionalisierung weltanschauungsliterarischer Strukturen entstehen, ist das Kriterium der Dialogizität dabei besonders stark zu gewichten. Wie Achim Aurnhammer zu Recht anmerkt, nimmt das Kriterium der Dialogizität in Pfisters Modell ohnehin eine Sonderstellung ein, es ist „weniger heuristischdeskriptiv, sondern vielmehr resultativ […]: Es bündelt die diversen Aspekte intertextueller Bezüge.“119 Für den Untersuchungsaufbau spielt außerdem das Kriterium der Kommu­ nikativität eine besondere Rolle. Autor- wie rezeptionsseitig die ‚Bewusstheit‘ einer intertextuellen Referenz einzuschätzen, ist nicht nur unter pragmatischen Gesichtspunkten herausfordernd, auch ob die hier mitschwingende Frage nach einer Autorintention der Komplexität modernen Erzählens überhaupt gerecht werden kann, lässt sich problematisieren.120 Diesen Schwierigkeiten müssen 117 118 119 120

Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Achim Aurnhammer: Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen. Berlin, Boston 2013, S. 4. Vgl. die Einwände Aurnhammers gegen das Kriterium der Kommunikativität ebd. Dass Aurnhammer auch dem Kriterium ‚Autoreflexivität‘ keinen großen heuristischen Wert zuspricht, weil es den vielfältigen Präsentationsformen des Erzählens und der Diversifizierung der Erzählinstanzen in der Moderne nicht gerecht werde (vgl. ebd.), ist allerdings unverständlich. Die Feststellung, dass intertextuelle Bezugnahmen innerhalb

43

allerdings nicht zum Ausschluss des Kriteriums führen, sondern machen viel­ mehr eine differenzierte Herangehensweise erforderlich, die Textanalyse und Textinterpretation nicht vermengt.121 Für die literaturhistorische Kontextuali­ sierung der Romane ist es durchaus von Interesse, wie sich die Autoren jeweils zur zeitgenössischen Weltanschauungsliteratur verhalten haben. Ohne dabei den literarischen Text selbst auf eine Autorintention festzulegen, kann die Be­ leuchtung des ‚kommunikativen‘ Hintergrundes, vor dem Romane der klassi­ schen Moderne auf die Weltanschauungsliteratur verweisen, zur Interpretation beitragen. Diese Arbeit kombiniert die Romantextanalyse deshalb mit einer philolo­ gisch-quellenkritischen Untersuchung. Es soll recherchiert werden, ob und in welchem Ausmaß bei Mann, Musil und Broch jeweils eine Auseinandersetzung mit der Weltanschauungsliteratur ihrer Zeit, gerade im Hinblick auf deren sprachlich-rhetorische Konsistenz stattfindet. Dazu werden Stellungnahmen der Autoren zur Weltanschauungsliteratur in Tagebüchern, Briefen und essayis­ tischen Texten ausgewertet. Bei Mann, Musil und Broch finden sich außerhalb der fiktionalen Verarbeitung jeweils dezidierte Äußerungen zu den einschlägi­ gen Schriften etwa von Weininger, Spengler oder Rathenau, die auch typische argumentatorische und sprachliche Mittel der Weltanschauungsliteratur betref­ fen. Auffallend ist, dass die Weltanschauungspropheten in den Romanen bevor­ zugt als Schriftsteller-Figuren konzipiert sind. Dieser Befund legt die Frage nahe, inwieweit die Autoren im Modus des Fiktionalen auch eine eigene Nä­ he zu weltanschauungsliterarischen Verfahrensweisen reflektieren. Bei Thomas Mann beispielsweise geben sein zivilisationskritisches Engagement als Essayist, seine Versuche zu Geist und Kunst oder seine Bewunderung des ‚intellektualen Romans‘ dafür Anhaltspunkte. Ergänzend sollen, wo dies möglich ist, auch die Nachlassbibliotheken der Autoren konsultiert werden. Eine Untersuchung von Handexemplaren auf An­ streichungen oder Anmerkungen kann den Romanautor unmittelbar als Leser von Weltanschauungsliteratur zeigen und Auskunft darüber geben, an welchen Stellen solche Rezeptionsprozesse von Affirmation oder Kritik bestimmt wa­ ren.122 Die Quellenlage stellt sich hier allerdings sehr unterschiedlich dar. Die Nachlassbibliothek Thomas Manns ist der Forschung in der ETH Zürich zu­ gänglich. Die Wiener Bibliothek Hermann Brochs lagert in der Universität Kla­ genfurt und verzeichnet einige prominente weltanschauungsliterarische Schrif­ ten. Die Authentizität der darin vorhandenen Anstreichungen muss jedoch in

121 122

44

eines Textes thematisiert oder reflektiert werden, kann ja durchaus differenziert für alle denkbaren narrativen Konstellationen erfolgen. Vgl. Silke Lahn und Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart und Weimar 2016, S. 52f. Vgl. dazu bereits die Untersuchung von Anstreichungen und Marginalien in Thomas Manns Exemplar von Spenglers Untergang des Abendlandes bei Beßlich: Faszination des Verfalls (Anm. 81), vor allem S. 53–109.

Teilen als ungesichert gelten, da sie auch von Joseph Buttinger stammen könn­ ten, der die Bibliothek nach dem Tod des Autors erworben hat. Im Falle Robert Musils lässt sich nicht mehr auf Handexemplare zugreifen, da seine Bibliothek während des Zweiten Weltkriegs zerstört wurde. Die mittlerweile vorliegende digitale Edition seines Werks erleichtert hier jedoch wiederum Recherchen, ins­ besondere weil sie auch nachgelassene Schriften, nicht veröffentlichten Notizen und Textentwürfe umfasst. Die Ergebnisse der quellenkritischen Untersuchung sollen die Romananaly­ se ergänzen, auf der das Hauptaugenmerk dieser Arbeit liegt. Dort wird aller­ erst zu zeigen sein, dass weltanschauungsliterarische Argumentationsmuster tatsächlich im Romantext vorhanden sind und sich in ihrer typischen Interde­ pendenz von Wissensdemonstration, Spekulation und Ich-Stilisierung beschrei­ ben lassen. Aus der Verlagerung des Weltanschauungsdiskurses auf die Figuren- oder Erzählerebene eines fiktionalen Entwurfs ergeben sich allerdings auch entschei­ dende Modulationen, die erst durch eine narratologische Analyse herausge­ arbeitet werden können. Über die Aufnahme traditionell ‚gattungsfremder‘ Strukturen entsteht im Rahmen des Erzählens die Möglichkeit, jenseits einer Aktualisierung des Systems Weltanschauungsliteratur auch die spezifischen Be­ dingungen der Redesituation und den Anspruch auf Wahrheitsmächtigkeit weltanschaulichen Sprechens neu zu kontextualisieren, distanziert zu betrach­ ten und einer Kritik zu unterziehen. Wenn Weltanschauungen von Figuren vorgetragen werden, lässt sich deren Geltungsanspruch im Erzählzusammen­ hang unterschiedlich bewerten. Ein innerhalb der Diegesis erhobener An­ spruch auf Wahrheitsmächtigkeit steht in Relation zu den Standpunkten ande­ rer Figuren, aber ebenso zu den Bedingungen der erzählten Welt insgesamt und kann durch einen explizit kommentierenden Erzähler, aber auch über sub­ tilere Strategien der Perspektivierung und Fokalisierung relativiert, ironisiert oder konterkariert werden. Zu untersuchen, welche Techniken der Redewie­ dergabe zum Einsatz kommen und wie die erzählerische Sympathielenkung verläuft, kann deshalb beispielsweise Aufschluss darüber geben, auf welche Weise weltanschauungsliterarisches Sprechen im Roman herausgestellt und hinterfragt wird. Nicht zuletzt wird die abgeschlossene Kommunikationssituation, die in der Weltanschauungsliteratur textimmanent als rezeptionssteuerndes Gerüst entworfen wird, bezeichnenderweise gerade durch die Fiktionalisierung auf­ gebrochen. Die Relation zwischen Verfasser-Ich und Adressat, über die sich Wahrheitsansprüche und Handlungsanweisungen im Weltanschauungstext un­ gehindert transportieren lassen, erweist sich im Roman insofern komplexer, als hier das Weltanschauungs-Ich seinen Vortrag zunächst an Adressaten innerhalb der erzählten Welt richtet und dieser Vorgang wiederum vom realen Leser des Romans verfolgt wird. Im Unterschied zu der ursprünglich einseitig konstru­

45

ierten Ich-Leser-Beziehung werden in dieser Situation nicht nur die prinzipiel­ len Voraussetzungen der Rezeption weltanschaulicher Sinnstiftungsangebote beleuchtet, sondern Weltanschauungsverkünder auch mit den Reaktionen ihres Publikums konfrontiert. Angesichts der Komplexität solcher narrativen Kon­ stellationen ist es sinnvoll, bei der Untersuchung intertextueller Bezüge auch zu beachten, ob sie einer Figur oder dem Erzähler zuzuschreiben sind, also zwischen narratorialer und figuraler Intertextualität zu unterscheiden, wie dies Achim Aurnhammer vorgeschlagen hat.123

123

46

Vgl. Aurnhammer: Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen (Anm. 119), S. 3–12.

I Thomas Mann: Der Zauberberg 1. Thomas Mann und der ‚intellektuale Roman‘ Aber dabei war keine Ordnung und Klärung, nicht einmal eine zweiheitliche und militante; denn alles ging nicht nur gegeneinander, sondern auch durcheinander, und nicht nur wechselseitig widersprachen sich die Disputanten, sondern sie lagen in Widerspruch auch mit sich selbst.1

Zu dieser Feststellung gelangt schließlich Hans Castorp und mit ihm der Er­ zähler im Zauberberg angesichts der großen Wortgefechte, die sich die beiden Disputanten Naphta und Settembrini liefern. Nicht nur, dass hier ungeheure Wissensmassen aus den verschiedensten Bereichen zusammengetragen und ver­ handelt werden, sondern vielmehr die Art und Weise wie die beiden Sprecher mit diesem Wissensmaterial verfahren, führt letztlich in die „große Konfusion“ (ZB, 705). Die Diskussionen auf dem Zauberberg bilden zum einen auf intellektuel­ ler Ebene die unterschiedlichen weltanschaulichen und politischen Positionen aus den krisengeschüttelten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ab, die der ‚mit­ telmäßige‘ Held Castorp im Sinne einer Epochen- und Zeitgenossenschaft durchlebt.2 Zum anderen konnte die Forschung jedoch immer wieder auch zeigen, dass diese Zeitgenossenschaft insbesondere in den Debatten zwischen Naphta und Settembrini nicht mit dem ‚Donnerschlag‘ des Kriegsausbruches endet, sondern über das Jahr 1914 hinaus- und bis in die Weimarer Republik hineinreicht, etwa indem in den Streitgesprächen auch Ideen der sogenannten ‚konservativen Revolution‘ einfließen.3 Damit lässt sich der Roman in einem 1

2

3

Thomas Mann: Der Zauberberg. Hg. und textkritisch durchgesehen von Michael Neu­ mann. Frankfurt am Main 2002 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 5,1), S. 702. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden unter der Sigle ZB direkt im Text zitiert. Zu den konkreten zeitgeschichtlichen Bezügen im Zauberberg vgl. Bodo Würffel: Zeit­ krankheit – Zeitdiagnose aus der Sicht des Zauberbergs. Die Vorkriegsgeschichte des Ersten Weltkriegs – in Davos erlebt. In: Das Zauberberg-Symposion 1994 in Davos. Hg. von Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 1995, S. 197–233. Michael Neumann: Die Irritatio­ nen des Janus oder „Der Zauberberg“ im Feld der Klassischen Moderne. In: Thomas Mann Jahrbuch 14 (2001), S. 69–85. Vgl. zum Beispiel Anthony Grenville: „Linke Leute von rechts“: Thomas Mann’s Naphta and the Ideological Confluence of Radical right an Radical left in the Early Years of the Weimar Republik. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistes­ geschichte 59 (1985), S. 651–675. Raimar Stefan Zons: Naphta. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 112 (1993), S. 231–250. Für eine weiter gefasste Kontextualisierung des Romans vgl. außerdem Helmut Koopmann: Der Zauberberg und die Kulturphilosophie der Zeit. In: Auf dem Weg zum Zauberberg. Die Davoser Literaturtage 1996. Hg. von Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 1997, S. 273–297. Hans Wißkirchen: Zeitgeschichte im Roman. Zu Thomas Manns Zauberberg und Doktor Faustus. Bern 1986, S. 76–83. Den Bezug zu einem Wandel des Geschichtsbilds bei Thomas Manns untersucht in diesem Zusammenhang Daniel Argelès: Der „Zauberberg“ und der Erste Weltkrieg. Thomas

erweiterten diskursiven Feld der Kulturkritik des ausgehenden 19. und begin­ nenden 20. Jahrhunderts verorten. An diese Ergebnisse der Thomas MannForschung möchte ich anknüpfen, das Untersuchungsinteresse jedoch anders akzentuieren. Ausgehend von der diskursiven Vernetzung und der „grundsätz­ liche[n] Intertextualität“4 von Manns Werk, bietet es sich geradezu an, im Zauberberg neben den Spuren einzelner Quellentexte oder bestimmter ideolo­ gischer Strömungen auch nach Bezügen zu suchen, die der Roman zu den typischen konzeptuellen Strukturen und rhetorischen Verfahren der Textsor­ te Weltanschauungsliteratur herstellt. Innerhalb der auf diskursgeschichtliche Kontextualisierung ausgerichteten Forschungen zum Zauberberg verortet sich die Untersuchung damit auf einer mittleren Ebene. Es geht um abstraktere Referenzen als die Einzeltextreferenzen, die beispielsweise Barbara Beßlich oder Malte Herwig bereits ermitteln konnten,5 trotzdem soll nach mehr oder min­ der bewussten Bezügen gefragt werden, das heißt nach solchen, die sich nicht durch das kulturelle ‚Archiv‘, die „gemeinsame Teilhabe an einer literarischen Kultur mit bestimmten dominanten Diskursen“6 ergeben, sondern anhand von Rezeptionen belegen lassen. Ein eigenes Kapitel der Untersuchung wird sich zunächst mit der Frage beschäftigen, inwieweit es berechtigt ist, im Falle des Zauberbergs von einer kommunikativen Systemreferenz zu sprechen. Um einzuschätzen, wie bewusst Thomas Mann als Romancier auf den Typus Weltanschauungsliteratur verwei­ sen und die Erkennbarkeit solcher Verweise wiederum bei seiner Leserschaft

4

5

6

Manns schwankende Geschichtsauffassung in der ersten Hälfte der Zwanziger Jahre. In: Die streitbare Klio. Zur Repräsentation von Macht und Geschichte in der Literatur. Hg. von Elizabeth Guilhamon und Daniel Meyer. Frankfurt am Main u. a. 2010, S. 71–85. Auch Thomas Mann selbst hat seinen Roman später in einen größeren zeitgeschichtlichen Bezugsrahmen gestellt. Zieht der Zauberberg für ihn 1935 noch „eine Art von summa des europäischen Seelen- und Geisteszustandes der Vorkriegszeit“ (Mann an G. John Munson, Brief vom 30. Mai 1935. Abgedruckt in: Thomas Mann: Selbstkommentare: „Der Zauberberg“. Hg. von Hans Wysling. Frankfurt am Main 1993, S. 122), spricht er vier Jahre danach von einem „Dokument der europäischen Seelenverfassung und geistigen Problematik im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts“ (Thomas Mann: Einführung in den ‚Zauberberg‘. Für Studenten der Universität Princeton [1939]. In: Ders.: Reden und Aufsätze 3. 2., durchgesehene Auflage. Frankfurt am Main 1974 [Gesammelte Werke in 13 Bänden. Bd. XI], S. 602–617, hier S. 602). Hans Rudolf Vaget: Thomas Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München 1984, S. 40. Vaget ist es gelungen, diese Intertextualität bei Thomas Mann vom Ruch ästhetischer Unoriginalität zu befreien und ihre Bedeutung als „spezifisch moderne Kunst­ leistung“ herauszustellen (vgl. Hans Rudolf Vaget: Vom „höheren Abschreiben“. Thomas Mann, der Erzähler. In: Liebe und Tod – in Venedig und anderswo. Die Davoser Literatur­ tage 2004. Hg. von Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 2005, S. 15–31, hier S. 16. Vgl. Barbara Beßlich: Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler. Berlin 2002. Malte Herwig: Bildungsbürger auf Abwegen. Naturwissenschaft im Werk Thomas Manns. Frankfurt am Main 2004, zum Zauberberg S. 72–142. Moritz Baßler: Literarische und kulturelle Intertextualität in Thomas Manns „Der Kleider­ schrank“. In: Deconstructing Thomas Mann. Hg. von Alexander Honold, Niels Werber. Heidelberg 2012, S. 15–27, hier S. 20.

48

voraussetzen konnte, ist es unerlässlich, seine Rezeption weltanschauungslitera­ rischer Texte nachzuzeichnen. Dabei legen Thomas Manns Überlegungen zum ‚intellektualen Roman‘ die Vermutung nahe, dass hier von einer ‚präwissen­ schaftlichen‘ Vorstellung zum Texttyp Weltanschauungsliteratur ausgegangen werden kann. Die anschließende Romananalyse erfolgt in zwei Schritten. Im Zentrum stehen zuerst die beiden sprachgewaltigen Mentoren Hans Castorps, die den Weltanschauungsdiskurs im Zauberberg am deutlichsten figurieren. Ausgehend von der These, dass sich Naphta und Settembrini in ihren Vorträ­ gen weltanschauungsliterarischer Verfahren bedienen, sollen Sprecherhaltung, Argumentationstechnik und Redeweise untersucht werden. Die konstitutiven Merkmale der Weltanschauungsrhetorik wie die Demonstration von Wissen, der kämpferische Duktus und Verfahren der Selbststilisierung sind dabei eben­ so zu beachten wie die spezifischen ästhetischen Mittel, mit denen beide Figu­ ren jeweils die Bruchstellen ihrer theoretischen Konstrukte kaschieren. Auf die­ ser Basis kann dann bereits grundsätzlich beurteilt werden, ob der Zauberberg intertextuell auf den Texttyp Weltanschauungsliteratur referiert. Die Intensität solcher Bezüge lässt sich dagegen nur mit Blick auf den narra­ tiven Kontext klären, in dem Naphta und Settembrini stehen. Dies soll der zweite Teil der Zauberberg-Analyse leisten. Dass Manns Roman aufgrund seiner Komplexität, seiner figuralen und erzählerischen Stimmenvielfalt auch ein be­ sonderes selbstanalytisches Potential mit sich bringt, wird die Forschung nicht müde zu betonen.7 Hier gilt es herauszuarbeiten, welchen Perspektivierungen Naphta und Settembrini vor allem in ihrer Funktion als Sprecher unterliegen – sowohl durch andere Figuren der diegetischen Welt als auch durch den Erzähler. Neben der narrativen Vermittlung der intellektuellen Debatten und den Besonderheiten der Figurendarstellung ist auch zu untersuchen, auf welche Weise Naphta und Settembrini durch ihre Einbindung in das pädagogische Dreiecksverhältnis mit Hans Castorp und in der Gegenüberstellung mit Pee­ perkorn als Weltanschauungsrhetoriker reflektiert und kommentiert werden. Wie Naphta und Settembrini durch den Erzähler oder andere Figuren unter Beobachtung stehen, kann Aufschluss über den Stellenwert geben, der ihrer Weltanschauungsrhetorik im Roman überhaupt zuerkannt wird, gerade auch, weil im Zauberberg Sprache und Sprechen selbst Thema sind. Dieser Teil der Analyse soll auf die Frage hinführen, ob Thomas Mann, indem er den Welt­ anschauungsdiskurs konzeptuell und sprachlich in den Zauberberg integriert, diesen lediglich literarisch aktualisiert, oder ob der Roman in ein dialogisches Verhältnis zu seiner Bezugsfolie tritt.

7

Vgl. beispielsweise die neueren Zauberberg-Studien von Björn Moll oder Andreas Kablitz. Björn Moll: Störenfriede. Poetik der Hybridisierung in Thomas Manns Zauberberg. Frank­ furt am Main 2015. Andreas Kablitz: Der Zauberberg. Die Zergliederung der Welt. Hei­ delberg 22020.

49

Thomas Mann hat sich immer wieder zu literarästhetischen oder -histori­ schen Fragen geäußert und sich mitunter auch als Literaturkritiker seiner Epo­ che versucht. Insbesondere die Stellungnahmen zu zeitgenössischen Publikatio­ nen sind dabei mit Vorsicht zu behandeln, superlativische Formulierungen und überschwängliches Lob resultieren hier nicht immer aus einer entsprechend profunden Auseinandersetzung mit dem besprochenen Werk, sondern erschei­ nen oftmals als galante Stilübung, die dazu dient, in allgemeine Erörterungen überzuleiten.8 Eine tiefergehende Auseinandersetzung findet dagegen regelmä­ ßig dort statt, wo Thomas Mann tatsächlich Bezüge zu Konstellationen des eige­ nen Lebens und Schreibens erkennt oder aber Probleme der Zeit aufgegriffen sieht, die Beschäftigung mit Literatur also eine Selbst- oder Epochenbefragung erlaubt. Auf ein publizistisches Phänomen, in dem beiden Interessen zusam­ mentreffen konnten, wird Mann im ersten Nachkriegssommer aufmerksam, als ihn die Lektüre von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes zu einer Gat­ tungsbestimmung inspiriert. Im Tagebuch hält er als Zwischenbericht fest: „ein intellektualer Roman ersten Ranges.“9 In der Forschung wird landläufig ange­ nommen, dass Thomas Mann diesen Begriff von Schopenhauer übernommen hat.10 Im unmittelbar zeitaktuellen Hintergrund der Begriffsbildung stehen außerdem Manns Versuche, seine Betrachtungen eines Unpolitischen gattungsty­ pologisch einzusortieren.11 Dass er seine Überlegungen zum intellektualen Ro­ 8

9 10

11

50

Marcel Reich-Ranicki bescheinigte Thomas Mann deshalb pauschal eine nur oberfläch­ liche Auseinandersetzung mit der Literatur seiner Zeit (vgl. Marcel Reich-Ranicki: Thomas Mann als literarischer Kritiker. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. Frankfurt am Main 32005, S. 707–720). Differenzierter fällt das Urteil Ruth Klügers aus, aber auch sie sieht die eigentliche Leistung Thomas Manns als kritischer Literaturdeuter eher im fiktionalen Werk (vgl. Ruth Klüger: Thomas Mann als Literatur­ kritiker. In: Thomas Mann Jahrbuch 13 [2000]. Hg. von Eckhart Heftrich und Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 2001, S. 229–236). Eintrag vom 9. Juli 1919. In: Thomas Mann: Tagebücher 1918–1921. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main 1979, S. 279. Vgl. bereits Herbert Anton: Die Romankunst Thomas Manns. Begriffe und hermeneuti­ sche Strukturen, Paderborn 21979, S. 25. Schopenhauer hatte Goethes Wilhelm Meister als einen „intellektuelle[n] Roman“ gekennzeichnet, der eben aufgrund seiner Intellek­ tualität ein Roman „höherer Art“ sei (Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften II. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich 1988 [Sämtliche Werke in fünf Bänden. Bd. 4], S. 394). Den bisher weitgehendsten Versuch, den Begriff des ‚intellektualen Romans‘ wiederum als hermeneutisches Instrument nutzbar zu ma­ chen, hat Helmut Koopmann unternommen, indem er ihn auf Thomas Manns eigene Romane angewandt und darüber die ‚doppelte Optik‘ im Erzählwerk herausgearbeitet hat (vgl. Helmut Koopmann: Die Entwicklung des ‚Intellektualen Romans‘ bei Thomas Mann. Bonn 31980). Entsprechende Äußerungen variieren Merkmalsverbindungen des ‚Intellektualen‘ und Literarischen und fallen vor allem im Austausch mit Ernst Bertram. So bezeichnet Mann die Betrachtungen im Frühjahr 1918 als „intellektuales Geschwister“ der Buddenbrooks (Mann an Ernst Bertram, Brief vom 16. März 1918. In: Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910–1955. Hg. von Inge Jens. Pfullingen 1960, S. 59). Bertram greift diese Charakterisierung einen Monat später in einem Werbeanzeigentext auf, den

man in der Folge über mehrere Jahre auch essayistisch immer wieder aufgreift und fortführt, spricht jedenfalls für ein nicht bloß kurzlebiges Interesse.12 Die Kombination gedanklich-analytischer und künstlerischer Elemente, die in der Begriffsverbindung ‚intellektualer Roman‘ zum Ausdruck kommt, be­ schreibt ein Ineinandergreifen zweier Bereiche, das Horst Thomé als sympto­ matisch für die zwischen Wissenschaft und Literatur changierenden Weltan­ schauungstexte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts herausgestellt hat. Um für den Zauberberg die Kommunikativität intertextueller Bezüge auf den Texttyp Weltanschauungsliteratur beurteilen zu können, erscheint es daher sinnvoll zu fragen, was Thomas Mann unter einem intellektualen Roman ver­ steht, welche Werke er diesem Romantypus zuordnet und wie er sich mit diesen auseinandersetzt – nicht zuletzt, weil hier auch eine zeitliche Überein­ stimmung vorliegt. Manns Beschäftigung mit dem intellektualen Roman in den Jahren von 1919 bis 1924 entspricht der zweiten Phase seiner Arbeit am Zauberberg, in die auch die endgültige Niederschrift der Weltanschauungsdis­ kussionen zwischen Naphta und Settembrini fällt.13 In der Herleitung des intellektualen Romans verbinden sich bei Thomas Mann gattungs- und zeitgeschichtliche Überlegungen. Grundsätzlich entsteht dieser literarische Typus für ihn aus einer „Verschmelzung der kritischen und der dichterischen Sphäre“14, wobei er eine kulturhistorische und literarische Entwicklungslinie von der deutschen Romantik über Nietzsche bis in die Ge­

12

13

14

er auf Bitten Manns hin verfasst. Das neuerschienene Buch des Freundes wird darin ange­ priesen als eine abstrahierende Übersetzung des Lübeck-Romans ins Gedankliche: „Man könnte das Buch die intellektuellen ‚Buddenbrooks‘ nennen.“ (Der Anzeigentext nebst begleitender Korrespondenz Thomas Manns ist abgedruckt in: Thomas Mann: Briefe II 1914–1923. Ausgewählt und hg. von Thomas Sprecher, Hans Rudolf Vaget und Cornelia Bernini. Frankfurt am Main 2004 [Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 22], S. 730f., hier S. 730.) Vertieft in die Grübelei über einen belastenden Konflikt mit Paul Amann spricht Thomas Mann schließlich einige Monate vor seiner Spengler-Lektüre mit Blick auf die Betrachtungen von einer „intellektualen Dichtung“ (Eintrag vom 7. April 1919. In: Mann: Tagebücher 1918–1921 [Anm. 9], S. 189). Im essayistischen Œvre taucht der Begriff zum ersten Mal in Anzeige eines Fontane-Buches (1919) auf, ausdrücklich in Bezug auf Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes. In der Abstraktion als typologischer Überbegriff wird er dann in der Rede Von deutscher Republik (1922) und ebenfalls im ersten der Briefe aus Deutschland (1922) verwendet, dessen Formulierungen Thomas Mann 1924 in Über die Lehre Spenglers weitgehend wörtlich übernimmt. Schließlich wird der intellektuale Roman noch einmal im Gratula­ tionsartikel Zum 60. Geburtstag Ricarda Huchs (1924) thematisiert. In Zur Eröffnung der Buddenbrook-Buchhandlung in Lübeck (1922) verweist Thomas Mann am Rande auf das Konzept, jedoch ohne den Begriff zu nennen. Vgl. zu den Phasen der Entstehung des Romans die Darstellung Michael Neumanns im Kommentarband: Thomas Mann: Der Zauberberg. Kommentar von Michael Neumann. Frankfurt am Main 2002 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 5,2), S. 9–46. Thomas Mann: Briefe aus Deutschland [I]. In: Ders.: Essays II 1914–1926. Hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke, unter Mitarbeit von Jöelle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 2002 (Große kommentierte Frank­ furter Ausgabe. Bd. 15,1), S. 563–575, hier S. 568.

51

genwart, die ‚Blütezeit‘ des intellektualen Romans zieht.15 Die wechselseitige Durchdringung von Kritik und Poesie wird beschrieben als ein „Prozeß, der die Grenzen von Wissenschaft und Kunst verwischt, den Gedanken erlebnishaft durchblutet, die Gestalt vergeistigt“16. Neben „Nietzsche’s Erkenntnislyrik“17 steht für Mann auch Schopenhauer Pate für die Poetisierung des Intellekts in Form einer besonderen sprachlichen wie künstlerisch-argumentativen Dar­ stellungsweise des Gedanklichen, die er als „musikalische Kompositionsart“18 15

16 17

18

52

„[W]ie wäre es, wenn wir zugäben, daß das anfängt, nach Blüte auszusehen?“ (Thomas Mann: Anzeige eines Fontane-Buches. In: Ders.: Essays II 1914–1926. Hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke, unter Mitarbeit von Jöelle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 2002 [Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 15,1], S. 261–273, hier S. 261). Die Anbindung des intellektualen Romans an die Romantik ist vor allem in Von deutscher Republik und Zum 60. Geburtstag Ricarda Huchs ausgeführt, wo Thomas Mann ein betont progressives, vor allem an der Frühro­ mantik orientiertes Bild dieser Epoche zeichnet, die er als „intellektualistische Kunstund Geistesschule“ vorstellt (Thomas Mann: Von deutscher Republik. In: Ders.: Essays II 1914–1926. Hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke, unter Mitarbeit von Jöelle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 2002 [Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 15,1], S. 514–559, hier S. 544. Thomas Mann: Zum 60. Geburtstag Ricarda Huchs. In: Ders.: Essays II 1914–1926. Hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke, unter Mitarbeit von Jöelle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 2002 [Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 15,1], S. 770–777, hier S. 773). Damit knüpft Thomas Mann an das Roman­ tikverständnis an, das er bereits in den frühen Notizen zu Geist und Kunst (1909–1912) vertreten, zwischenzeitlich aber zugunsten eines stärker antiintellektualistisch geprägten Epochenkonzepts aufgegeben hatte (vgl. Barbara Beßlich: Wege in den ‚Kulturkrieg‘. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt 2000, S. 157). Mann: Briefe aus Deutschland [I] (Anm. 14), S. 568. Ebd. Die Kennzeichnung Nietzsches als ‚Erkenntnislyriker‘ übernimmt Thomas Mann von Ernst Bertram, der wiederum auf Stefan George verweist (vgl. Ernst Bertram: Nietz­ sche. Versuch einer Mythologie. Berlin 1918, S. 103). Dass Nietzsche für die Verschmel­ zung von Kritik und Poesie stehen und damit zum Vorläufer des intellektualen Romans werden kann, entspricht aber bereits dem frühen Nietzsche-Bild Thomas Manns. So erklärt er beispielsweise in Bilse und Ich (1906) Nietzsche zum Begründer einer europä­ ischen Geistesschule, „in welcher man sich daran gewöhnt hat, den Begriff des Künstlers mit dem des Erkennenden zusammenfließen zu lassen“ (Thomas Mann: Bilse und Ich. In: Ders.: Essays I 1893–1914. Hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering, unter Mitarbeit von Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 2002 [Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 14,1], S. 95–111, hier S. 105). Mann: Von deutscher Republik (Anm. 15), S. 546f. Zu Nietzsche als Sprach-Musiker vgl. zum Beispiel: „Seine Sprache selbst ist Musik und bekundet eine Feinheit des inneren Gehörs, eine Meisterschaft des Sinnes für Fall, Tempo, Rhythmus der scheinbar ungebun­ denen Rede, wie er in deutscher Prosa, und wahrscheinlich in europäischer überhaupt, bisher ohne Beispiel war“ (Thomas Mann: Rede, gehalten zur Feier des 80. Geburtstages Friedrich Nietzsches [1924]. In: Ders.: Essays II 1914–1926. Hg. und textkritisch durchge­ sehen von Hermann Kurzke, unter Mitarbeit von Jöelle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 2002 [Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 15,1], S. 788–793, hier S. 789). Vgl. außerdem die Charakterisierung von Nietzsches Prosa als „intellektuale Musik“ in Anknüpfung an Ricarda Huchs Vision einer von der Roman­ tik ausgehenden, Poesie und Prosa verbindenden Sprache der Zukunft (Mann: Zum 60. Geburtstag Ricarda Huchs [Anm. 15], S. 774). Die Bedeutung von Nietzsche und Scho­

fasst. Die Koppelung von Musik und Komposition variiert hier die Vorstellung einer Grenzauflösung durch den intellektualen Roman, indem das Musikali­ sche für die ‚dichterische‘, die Komposition für die ‚kritische‘ Sphäre einsteht.19 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine spätere Charakterisierung aus dem Schopenhauer-Essay von 1938. Thomas Mann beschreibt darin genau die textorganisatorische Strategie des Kreisens um eine einzige leitende Idee, die Schopenhauer zum Vorbild vieler Weltanschauungsliteraten werden ließ, wenn er dessen „Geistesroman“ als eine „wunderbar gefügte, aus einem überall gegenwärtigen Gedankenkern entwickelte Ideensymphonie“20 kennzeichnet. Den publizistischen Erfolg, den Thomas Mann beim wissenschaftlich-litera­ rischen Buchtypus ‚intellektualer Roman‘ feststellt, sieht er komplementär zum abnehmenden Interesse am rein Belletristischen, an „der Prosaerzählung, die sehr zurücktritt.“21 Der intellektuale Roman dient nicht primär der Unterhal­ tung, sondern erhält seine Bedeutung dadurch, dass er den Nerv einer Zeit der Umbrüche trifft. Dabei fällt auf, wie stark die Bestimmung des intellektua­ len Romans als zeittypischer Erscheinung mit einer Krisendiagnose verknüpft ist. Dies klingt bereits in der Anzeige eines Fontane-Buches von 1919 an, in der Thomas Mann sich fragt, woher der „deutsche Geist“ in diesen Büchern „heute“, das heißt nach dem verlorenen Krieg und inmitten von Revolutions­ wirren und Republikgründung, „das völlig ungedemütigte und unerschütter­ te Machtgefühl, die superiore Strenge der Überschau, des Ordnens und Wer­ tens nimmt“22. Eingebunden in ein umfassender ausgeführtes Epochenbild er­ scheint der intellektuale Roman dann drei Jahre später im ersten der Briefe aus Deutschland. Für seine amerikanischen Leser erklärt Thomas Mann den Erfolg

19

20

21 22

penhauer für Thomas Mann hat die Forschung immer wieder herausgestellt. Für einen Überblick, auch über die entsprechenden Rezeptionsprozesse Manns und deren Bedeu­ tung für das Werk vgl. Terence J. Reed: Thomas Mann und die literarische Tradition. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. Frankfurt am Main 32005, S. 95– 136, zu Nietzsche S. 98–103, zu Schopenhauer S. 117–122. Børge Kristiansen: Thomas Manns und die Philosophie. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. Frankfurt am Main 32005, S. 259–283, zu Nietzsche S. 260–276, zu Schopenhauer S. 276– 283. Die Rede von der Musikalität des intellektualen Romans verweist zugleich über eine Beobachtung zu Sprache und Textur hinaus auf den semantisch unterbestimmten, für Thomas Mann ebenso faszinierend wie gefährlich abgründigen Bereich des Irrationalen und Metaphysischen und ist damit eingebunden in die das gesamte Werk durchziehende Wechselbeziehung von Sprache, Musik und Philosophie (vgl. Dieter Borchmeyer: „Ein Dreigestirn ewig verbundener Geister“. Wagner, Nietzsche, Thomas Mann und das Kon­ zept einer übernationalen Kultur. In: Wagner – Nietzsche – Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich. Hg. von Heinz Gockel, Michael Neumann und Ruprecht Wimmer. Frankfurt am Main 1993, S. 1–15, hier S. 2). Thomas Mann: Schopenhauer. In: Ders.: Reden und Aufsätze 1. 2., durchgesehene Aufla­ ge. Frankfurt am Main 1974 (Gesammelte Werke in 13 Bänden. Bd. 9), S. 528–580, hier S. 529f. Mann: Anzeige eines Fontane-Buches (Anm. 15), S. 261. Ebd.

53

von Spenglers Untergang des Abendlandes, „dessen Voraussetzungen vielleicht heute nirgends sonst in einem Grade gegeben sind, wie bei uns.“23 Er skizziert die spezifisch deutschen Bedingungen, den Gemütszustand eines „aufgewühl­ te[n] Volk[s]“24 nach dem Erlebnis des Krieges, weitet dann aber das Panorama seiner Zeit, indem er die sozialen, ökonomischen und vor allem politischen Umwälzungen des frühen 20. Jahrhunderts nachzeichnet. Insgesamt konstatiert er eine herrschende Desorientierung, die politischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Probleme „fließen in einander“.25 Besonders in Deutschland be­ stehe deshalb das „Bewußtsein einer Zeit- und Weltwende“26. Die Publikums­ wirkung der intellektualen Romane resultiert aus diesem Krisenbewusstsein, das sich für Mann auch in einem veränderten Leseverhalten äußert. Die Le­ serschaft erwarte nicht belletristische Ablenkung, sondern Sinnstiftung, Orien­ tierung und eine klare Zukunftsperspektive in einer beängstigend unruhigen Zeit: „Man liest gierig. Und nicht zu seiner Zerstreuung und Betäubung thut man es, sondern um der Wahrheit willen und um sich geistig zu wapp­ nen.“27 Indem der intellektuale Roman „superiore Strenge der Überschau, des Ordnens und Wertens“28 und damit die Essenz des ‚deutschen Geistes‘ auch in der Krise bewahrt, wird er für Mann zu einer ebenso konservativen wie zukunftsträchtigen Gattungsmischung, die verspricht, eine „Epoche des guten deutschen Buches“29 einzuläuten. Über das Nationalcharakteristikum mischt Thomas Mann dann auch seine Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) auffällig unauffällig unter die hochstehenden ‚Familienmitglieder‘ der intellektualen Romane, deren „Verwandtschaft […] sich kaum in der Gemeinsamkeit eines Niveaus erschöpft, das als altmodisch- und bewahrend-deutsch am knappsten zu kennzeichnen wäre.“30 23 24 25 26 27

28 29 30

54

Mann: Briefe aus Deutschland [I] (Anm. 14), S. 566. Ebd. Ebd., S. 567. Ebd. Ebd., S. 568. Wie sehr Thomas Mann den neuen Buchtypus als Epochenerfordernis begriff, geht auch aus einem Brief an Ida Boy-Ed hervor, in dem er erklärt, er glaube an die „Zeitgemäßheit, heutige Notwendigkeit, an das öffentliche Bedürfnis“ nach dem intellektualen Roman. Aus der gemeinsamen Autorenperspektive mit Boy-Ed begründet sich ihm dieses Bedürfnis wie folgt: „Denn unser Publikum will heute das Gemachte, das Virtuose, die Phantasie-Konstruktion kaum; es will das Geistige, das Klärende, das Helfende“ (Mann an Ida Boy-Ed, Brief vom 3. November 1921. In: Mann: Briefe II 1914– 1923 [Anm. 11], S. 963). Mann: Anzeige eines Fontane-Buches (Anm. 15), S. 261. Ebd. Ebd. In gespielter Bescheidenheit und mit der Rolle des (Stief-)Kindes kokettierend iden­ tifiziert Thomas Mann die bei Gundolf, Bertram, Spengler, Keyserling und Pannwitz aus­ gemachte Vorstellung des ‚deutschen Geistes‘ auch als seine eigene: „Und, Gott stehe uns bei, wir hatten kein anderes [Deutschland] im Sinn, als wir, mühselig und verworren, den deutschen Geist gegen das Nein der Fremden zu behaupten uns kindlich verbunden hielten“ (ebd.).

Aus den Überlegungen rund um den intellektualen Roman lassen sich auch Folgerungen für die Gattung Roman generell ableiten. Wenn Thomas Mann Friedrich Gundolf, Ernst Bertram, Oswald Spengler oder Hermann Graf Key­ serling mit ihren Werken von der intellektualen Seite aus in die Dichtung vordringen sieht, so erscheint ihm das Modell auch umgekehrt innovatives Potential bereitzuhalten. Allgemein, insofern die konstatierte Krise der Kunst gleichzeitig auch die „Möglichkeit neuer Formgeburten ahnen lässt“31, konkret, indem die Orientierung an der „intellektuale[n] Musik“32 Nietzsches einen Ausweg aus der Krise des Romans eröffnet. Insgesamt nennt Thomas Mann in seinen Erläuterungen zum intellektua­ len Roman zentrale Merkmale der Textsorte Weltanschauungsliteratur: ihre Stellung als Zwittergattung zwischen Wissenschaft und Literatur, das Krisen­ bewusstsein im Hintergrund von Entstehung und Erfolg, die holistische Kon­ struktion als Voraussetzung von privilegierter Überschau und starker Wertung, das Versprechen von zukunftsweisender Sinnstiftung, Nietzsche und Schopen­ hauer als frühe Vorläufer. Auch wenn diese Beobachtungen Manns aus einer selbst empfundenen krisenhaften Desorientierung der Zeit heraus erfolgen und man sicher nicht von einem literaturwissenschaftlich operationalisierbaren Konzept sprechen kann, sind sie doch mehr als nur ein „Aperçu“33. Für die Analyse des Zauberbergs folgt daraus, dass bei einer intertextuellen Bezugnahme auf den Texttyp Weltanschauungsliteratur von einem hohen Maß an Kommu­ nikativität auszugehen ist. Autorseitig, weil Thomas Mann die Weltanschau­ ungsschriften seiner Zeit in ihren typischen Gemeinsamkeiten reflektierte, und rezipientenseitig, weil er dabei auch die Konjunktur dieser Modebücher34 regis­ trierte und deshalb voraussetzen konnte, dass seine Leserschaft diese Bezüge erkennen würde. Von welchen konzeptionellen und rhetorischen Merkmalen ausgehend Thomas Mann seinen Typus des intellektualen Romans abstrahiert, lässt sich noch genauer nachzeichnen, wenn man seine Rezeption der einzelnen Werke verfolgt, die er unter diesem Begriff rubriziert. In dem prinzipiell nicht abge­ schlossenen Kanon tauchen regelmäßig Friedrich Gundolfs Goethe (1916), Ernst Bertrams Nietzsche (1918), Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1918/22) und Hermann Graf Keyserlings Reisetagebuch eines Philosophen (1919) auf. Jeweils einmal zählt Thomas Mann ebenfalls Die Krisis der europaeischen Kultur (1917) von Rudolf Pannwitz und – als ein den Trend antizipierendes 31 32 33

34

Mann: Briefe aus Deutschland [I] (Anm. 14), S. 567. Mann: Zum 60. Geburtstag Ricarda Huchs (Anm. 15), S. 774. Horst Thomé: Geschichtsspekulation als Weltanschauungsliteratur. Zu Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes. In: Literatur und Wissen [schaften] 1890–1935. Stuttgart 2002, S. 194–212, hier S. 194. Vgl. Ernst Troeltsch: [Rezension zu] Hermann Graf Keyserling: Das Reisetagebuch eines Philosophen (1920). In: Ders.: Rezensionen und Kritiken (1915–1923). Hg. von Friedrich Wilhelm Graf. Berlin 2010 (Kritische Gesamtausgabe. Bd. 13), S. 483–490, hier S. 484.

55

Buch – Ricarda Huchs Blüthezeit der Romantik (1899) dazu. Conrad Wandreys Fontane (1919) erwägt er immerhin, „in diese vornehme Nachbarschaft zu brin­ gen“35. Nichtöffentlich finden sich außerdem in zwei Fällen die neuerschiene­ nen Bücher befreundeter Autoren eingereiht, Ida Boy-Eds Germaine von Staël (1921) sowie Philipp Witkops Heinrich von Kleist (1922).36 Aus der Zusammen­ stellung ergibt sich, dass Thomas Mann zwei Schwerpunkte setzt: mit dem Eti­ kett ‚intellektualer Roman‘ versehen werden zum einen kulturphilosophisch ambitionierte Welt- und Epochendarstellungen, zum anderen biographische Studien zu Leben und Werk herausragender Persönlichkeiten der Geistes- und Literaturgeschichte. In jeweils unterschiedlicher Gewichtung mischen sich bei all diesen Werken wissenschaftliche und literarische Elemente. Aufgrund der Kontinuität, in der Thomas Mann die Bücher Gundolfs, Bertrams, Spenglers und Keyserlings dem intellektualen Roman zuordnet, erscheint es jedoch sinn­ voll, die Untersuchung der Rezeptionsprozesse auf diesen Kernbestand zu be­ schränken.37

35

36 37

56

Mann: Anzeige eines Fontane-Buches (Anm. 15), S. 262. Obwohl sowohl Wandrey als auch Huch jeweils den aktuellen Anlass für einen Essay darstellen, dominiert im ersteren Falle das Bedürfnis Thomas Manns, eine Ehrenrettung von Fontanes Stechlin vorzuneh­ men, in zweiten Fall ist der Geburtstag Huchs vor allem Gelegenheit, „die große Schrift­ stellerin, die wissende Frau“ zu feiern, „indem ich den Geist- und Kunst-Antithetikern, den Anbetern der Tumbheit eins auswische“ (Mann an Phillipp Witkop, Brief vom 8. Juli 1924. Abgedruckt in: Thomas Mann: Essays II 1914–1926. Kommentar von Hermann Kurzke. Hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke unter Mitarbeit von Jöelle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 2002 [Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 15,2], S. 472). Vgl. Mann an Ida Boy-Ed, Brief vom 3. November 1921. In: Mann: Briefe II 1914–1923 (Anm. 11), S. 963. Mann an Philipp Witkop, Brief vom 30. November 1921, ebd., S. 412. Grundsätzlich bieten sich natürlich aber auch die intellektualen Romane der zweiten Rei­ he für eine Untersuchung auf weltanschauungsliterarische Merkmale hin an, vor allem die Fälle Huch, Pannwitz und Witkop erscheinen vielversprechend. Zu Ricarda Huchs ‚literarischer Geschichtsschreibung‘ sowie zur persönlichen Beziehung zwischen Mann und Huch vgl. Barbara Bronnen: Die „erste Frau Europas“. Thomas Mann und Ricarda Huch. In: Thomas Mann in München III. Vortragsreihe Sommer 2005. München 2005, S. 223–259. Zum biologistisch-geschichtlichen Analogiedenken bei Rudolf Pannwitz vgl. Gregor Streim: Deutscher Geist und europäische Kultur: Die ‚europäische Idee‘ in der Kriegspublizistik von Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Pannwitz. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 45 (1996), S. 187–191. Die wechselseitige Rezeption sowie die persönliche Bekanntschaft von Mann und Pannwitz untersucht László V. Szabó: „Pannwitz gut.“ Die Beziehung zwischen Thomas Mann und Rudolf Pannwitz. In: Thomas Mann Jahrbuch 22 (2009), S. 245–263. Zu Thomas Mann und Conrad Wandrey vgl. Dirk Heißerer: „O über den alten Puppenspieler!“ Literaturpolitik im München der Zwanziger Jahre. Mit neun unbekannten Briefen Thomas Manns an den Literaturkritiker Conrad Wandrey (1918–1925). In: Thomas Mann in München II. Vortragsreihe Sommer 2004. München 2004, S. 165–226. Zu Philipp Witkop vgl. Philipp Redl: Dichtergermanisten der Moderne. Ernst Stadler, Friedrich Gundolf und Philipp Witkop zwischen Poesie und Wissenschaft. Köln 2016, zu Witkop vor allem S. 262–371.

a) Friedrich Gundolf: Goethe (1916) Der „monumentale ‚Goethe‘ des George-Propheten Gundolf“38 erschien 1916 und fand über akademische Kreise hinaus ein großes Publikum.39 Grund für diese Resonanz war die mythische Überhöhung der Dichterpersönlichkeit Goe­ the zum idealen Menschen und idealen Deutschen, mit der Gundolf nicht nur das Interesse der germanistischen Fachwelt wecken, sondern auch die Sehnsucht einer größeren bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit nach heroischen Orientierungsfiguren bedienen konnte. Mit anderen prominenten Goethe-Dar­ stellungen der Zeit verbindet Gundolfs Biographie der Versuch, den Menschen und Dichter Goethe zu enthistorisieren, um ihn als Idealbild verlorener Har­ monie und Identität in überzeitlicher Größe der eigenen, als depraviert emp­ fundenen Gegenwart gegenüberzustellen. Bei Chamberlain, Gundolf und Sim­ mel wird Goethe zur kulturkritischen Projektionsgestalt, über die sich die je­ weilige Weltanschauung transportieren lässt.40 Im Falle Gundolfs zielt diese vor allem auf eine Heraufbeschwörung des ‚deutschen Volksgeistes‘,41 als dessen Verkörperung Goethe zum nationalen Mythos verklärt wird.42 Im einleitenden Kapitel entwirft Gundolf sein methodisches Konzept, indem er sich gegen faktographische, positivistische Ansätze einer „sogenannte[n] Goethephilologie“43 positioniert, deren akribische Detailarbeit er zwar als not­ 38

39

40

41 42

43

Mann: Über die Lehre Spenglers. In: Ders.: Essays II 1914–192. Hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke, unter Mitarbeit von Jöelle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 2002 [Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 15,1), S. 735–744, hier S. 737. Bereits 1917 geht die dritte Auflage des Goethe in Druck und bis 1930 ist die 13. erreicht (vgl. Anna Maria Arrighetti: Mensch und Werk in kritischen Publikationen des GeorgeKreises. Zu Friedrich Gundolfs Goethe und zu Ernst Bertrams Nietzsche – Versuch einer Mythologie. Heidelberg 2008, S. 74). Vgl. Georg Bollenbeck: Goethe als kulturkritische Projektion bei Chamberlain, Simmel und Gundolf. In: Goethe in Gesellschaft. Zur Geschichte einer literarischen Vereinigung vom Kaiserreich bis zum geteilten Deutschland. Hg. von Jochen Golz und Justus H. Ulbricht. Köln 2005, S. 13–32. Friedrich Gundolf: Goethe. Berlin 1916, vgl. zum Beispiel S. 584, 732f. Die politische Stoßrichtung von Gundolfs Weltanschauung betont vor allem Stefan Breuer: Goethekult – Eine Form des ästhetischen Fundamentalismus? In: Goethe in Gesellschaft. Zur Geschichte einer literarischen Vereinigung vom Kaiserreich bis zum geteilten Deutschland. Hg. von Jochen Golz und Justus H. Ulbricht. Köln 2005, S. 63–79. Gundolf: Goethe (Anm. 41), S. 4. Bis auf ein Werk- und Sachregister verzichtet Gundolf denn auch auf einen wissenschaftlichen Apparat. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Stel­ lung von Gundolfs Goethe im Zeichen der ‚geisteswissenschaftlichen Wende‘ vgl. Bollen­ beck: Goethe als kulturkritische Projektion (Anm. 40), S. 16–21. Zur Fachinternen und -übergreifenden Wirkung und Rezeption der Biographie vgl. Ernst Osterkamp: Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germanisten aus dem George-Kreis. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Hg. von Christoph König und Eberhard Lämmert. Frankfurt am Main 1993, S. 177–198; und Wolfgang Höppner: Zur Kontroverse um Friedrich Gundolfs „Goethe“. In: Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse. Hg. von Ralf Klausnitzer

57

wendige Vorarbeit gelten lässt, aber nicht geeignet sieht, zum eigentlichen We­ sen des Dichters in seinem Werk vorzudringen. Dem entgegen setzt Gundolf sein Verfahren des „Bildungshistoriker[s]“44, in dem sich der Wille, Goethe unmittelbar zu ‚erleben‘, mit dem widersprechenden Bedürfnis verbindet, sein Werk „zu überschauen“45 und durch umfassend demonstrierte Werkkenntnis der Forderung nach wissenschaftlicher Objektivität zu genügen. Die Profilie­ rung des Sprechers findet bei Gundolf über den zentralen Erlebnis-Begriff statt. Das Erlebnis ist einerseits Interpretament des Goetheschen Wesens, ande­ rerseits zugleich die methodische Leitlinie der Biographie.46 Gundolf beschreibt sein Programm einer Annäherung an Goethe, indem er sich subtil spezifische Erfahrungen und Fähigkeiten zuschreibt, die ihm im Gegensatz zur traditionel­ len Goethe-Philologie einen tieferen Zugang zum Wesen des Dichters ermögli­ chen. Gundolf hat Goethe in seiner Ganzheit erlebt und ist deshalb befähigt, Goethes Gestalt aus seinen Werken zu extrahieren.47 Wie Philipp Redl heraus­ stellt, ermöglicht sich Gundolf mit der methodischen Orientierung am GestaltModell besondere rhetorische Freiheiten, insbesondere die Möglichkeit der pathetischen Aufladung, „da ‚Gestalt‘ nicht referentiell beschrieben, sondern über die poetische Funktion der Sprache erzeugt werden kann.“48 Um Goethe als der Zeit entrückten Träger einer kosmischen Synthese er­ scheinen zu lassen, muss sein Biograph „im Interesse einer ästhetisierenden Geschlossenheit gesellschaftliche oder politische Störelemente ausblenden“49 beziehungsweise umdeuten. Solche gesellschaftlichen und politischen Aspekte des Lebenslaufes werden daher als allein äußere Zeichen einer universalen ‚Weltwerdung‘ Goethes aufgefasst.50 Dieser soll nicht verstrickt in die kon­ krete Tagespolitik gezeigt werden, sondern in seiner Beziehung zu anderen heroischen Größen, mit denen er in einem übergeschichtlichen Kräfteparalle­ logramm der ‚Seher‘ und ‚Täter‘ wirkt.51 Kraft seines Goethe-Erlebnisses ist

44 45 46

47 48 49 50 51

58

und Carlos Spoerhase. Bern 2007, S. 183–205. Zuletzt zu Gundolf als Wissenschaftler und Künstler in Personalunion Redl: Dichtergermanisten (Anm. 37), S. 145–261, zum Goethe-Buch S. 217–228. Gundolf: Goethe (Anm. 41), S. 6. Ebd., S. 5. Inwiefern die Goethebiographik des frühen 20. Jahrhunderts von der Erlebnis-Theorie Diltheys profitiert und diese zugleich radikalisiert, erläutert Hans-Martin Kruckis: „Ein potenziertes Abbild der Menschheit“. Biographischer Diskurs und Etablierung der Neu­ germanistik in der Goethe-Biographik bis Gundolf. Heidelberg 1995, S. 277–283. Vgl. Gundolf: Goethe (Anm. 41), S. 5–9. Redl: Dichtergermanisten der Moderne (Anm. 37), S. 226. Bollenbeck: Goethe als kulturkritische Projektion (Anm. 40), S. 30. Vgl. Gundolf: Goethe (Anm. 41), S. 26, 237. „Wer aber wie Goethe, wie Napoleon, wie Christus selbst eine menschgewordene Idee, eine Reinkarnation einer der ewigen Urideen ist, an den haben die vorgefundenen Zeit­ ordnungen, geschweige Tagesansprüche, und seien sie noch so edel, kein Recht: solche Menschen sind keine Ichlein, sondern Weltkräfte“ (ebd., S. 542). Zu den geschichtsphilo­ sophischen Implikationen dieses ‚Heroenkults‘ vgl. Breuer: Goethekult (Anm. 42), S. 69f.

Gundolf ohnehin befähigt, disparate Elemente des Dichter-Bildes kurzerhand als ‚ungoethisch‘ einzustufen.52 Textgliederung und Deutungsstruktur sollen die Einheitlichkeit des Ent­ wurfs beglaubigen. In Gundolfs Goethe verbinden sich dabei komplexe, sich teilweise widersprechende systematische und chronologische Organisations­ muster. Den drei großen Gliederungseinheiten der Biographie (Sein und Wer­ den, Bildung, Entsagung und Vollendung) korrespondieren drei Arten der Dich­ tung (lyrische, symbolische, allegorische), die Gundolf wiederum den Lebensund Schaffensphasen, des jungen, des klassischen und des alten Goethe zu­ ordnet. Überlagert wird die symbolisch orientierte, aber dennoch letztlich traditionell chronologische Struktur durch das nicht-lineare Deutungsmuster der „Goetheschen Entwicklungskugel“53, die verschiedene Werkschichten und dementsprechend Grade der Verwirklichung von Goethes Wesen veranschauli­ chen soll. Die jeweils in Werk und Leben erreichte Nähe zum Wesenskern wird dann entlang der begrifflichen Opposition von Ur- und Bildungserleb­ nis ermittelt, wobei die „Synthese zwischen seinen Urerlebnissen und den Bil­ dungswelten die er vorfand“54 den eigentlichen Mythos Goethe begründet. Bei der rhetorischen Gestaltung bedient sich Gundolf aus einem reichen Fundus. Auffällig sind vor allem antithetische Konstruktionen und das Spiel mit weit ausholenden Analogien, im konkret Sprachlichen ferner eine Präferenz für Alliteration und Reimstrukturen.55 Thomas Mann zeigt sich im Sommer 1916 gespannt auf Gundolfs neues Werk, Ernst Bertram teilt er mit, nach dem Goethe „sehr begierig“56 zu sein. Insbesondere lockt ihn die Vorstellung, Gundolfs Darstellung mit der GoetheBiographie Georg Brandes’ zu vergleichen, die dieser „während des Krieges geschrieben hat“57. Hier deutet sich an, dass Thomas Mann Bücher über Goethe zu diesem Zeitpunkt weniger als literaturgeschichtliche Studien interessieren, sondern vielmehr als Zeugnisse der eigenen Epoche.58 Eine solche Rezeptions­

52 53

54 55 56 57 58

Zur Unterscheidung von ‚Sehern‘ und ‚Tätern‘ bei Gundolf vgl. Helmut Scheuer: „Dich­ ter und Helden“ – Zur Biographik des George-Kreises. In: Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚siebenten Ring‘. Hg. von Wolfgang Braungart, Ute Oelmann und Bernhard Böschenstein. Tübingen 2001, S. 308–310. Vgl. Gundolf: Goethe (Anm. 41), zum Beispiel S. 37f. Ebd., S. 15. Detailliert hat Kruckis die Problematik der sich überlagernden Ord­ nungsprinzipien aufgedröselt (vgl. Kruckis: „Ein potenziertes Abbild der Menschheit“ [Anm. 46], S. 299–317). Gundolf: Goethe (Anm. 41), S. 27. Vgl. hierzu Anna Maria Arrighetti: Mensch und Werk (Anm. 39), S. 106–113. Mann an Ernst Bertram, Brief vom 8. Juni 1916. In: Mann: Briefe II 1914–1923 (Anm. 11), S. 139. Ebd. Thomas Mann bezieht sich auf Georg Brandes: Goethe. Berlin 1915. Dafür spricht auch, dass die die Erwähnung Gundolfs sich in diesem Brief unmittelbar aus einigen rhetorischen Scharmützeln zur intellektuellen Tagespolitik ergibt. Sie folgt auf eine Huldigung Bertrams als einem Vertreter des wahren „dichterische[n] Politiker­

59

erwartung war im Falle Gundolfs plausibel, immerhin hatte Mann über zwei Jahre zuvor bereits Stefan George in unserer Zeit (1913) „mit Aufmerksamkeit und Nutzen gelesen“59 und inzwischen auch die Kriegspublizistik des Georgia­ ners zu schätzen gelernt.60 Auf den Goethe kommt Thomas Mann brieflich im Herbst 1918 erneut gegenüber Bertram zu sprechen, wenn er ihn dessen Nietz­ sche-Buch an die Seite stellt und bewundernd festhält, „auf welcher Stufe hoher Kultur, Intuition und Geistigkeit unsere Literarhistorie doch angekommen ist.“61 Darin klingen bereits das spezifisch ‚deutsche‘ Niveau sowie die Kombi­ nation von Einfühlung und Verstand an, die dann für die Beschreibung des in­ tellektualen Romans bedeutsam werden. Es ist anzunehmen, dass sich dieses Urteil auf eine tatsächliche Kenntnis des Buches stützt und Thomas Mann den mit Neugier erwarteten Goethe wahr­ scheinlich schon 1916 oder 1917 gelesen hat. Dennoch lässt sich die erste Lek­ türe nicht genau datieren, da die frühen Tagebücher nicht erhalten sind. Wahr­ scheinlich hat Thomas Mann Gundolfs Monographie später zur Vorbereitung auf Goethe und Tolstoi heranzogen, sicher ist, dass er sich Anfang 1938 noch­ mals mit ihr beschäftigt hat.62 Die Anstreichungen Thomas Manns in seinem Exemplar des Goethe, das im Thomas-Mann-Archiv in Zürich aufbewahrt wird, ziehen sich fast durch alle Kapitel, wobei die mehrmalige Lektüre eine genaue zeitliche Zuordnung der Lesespuren erschwert. Die Markierungen bezeugen jedoch insgesamt, dass Thomas Mann die Goethe-Biographie interessiert gele­ sen hat, Kritisches ist nicht vermerkt. Tendenziell überwiegen bei den an- und unterstrichenen Textstellen solche zur Persönlichkeit Goethes über solche zum Werk. Insofern ist Thomas Mann als Leser hier dem Gundolfschen Programm gefolgt, die Gestalt Goethes aus dem Werk herauszulösen. b) Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie (1918) Wie bei Gundolfs Goethe lässt sich auch im Falle der Nietzsche-Darstellung des Germanisten Ernst Bertram von einer „Mythographie“63 sprechen. Die Persön­

59 60 61 62

63

60

tum[s]“ (ebd.), das Thomas Mann gegen den fortschrittseifrigen Aktivismus Hillerscher Prägung in Stellung bringt. Mann an Ernst Bertram, Brief vom 6. Januar 1914. In: Mann: Briefe II 1914–1923 (Anm. 11), S. 25. Vgl. den Brief an Ernst Bertram vom 17. Februar 1915, ebd., S. 58. Mann an Ernst Bertram, Brief vom 21. September 1918, ebd., S. 253. Vgl. die Randbemerkung „Tolstoi“ in Thomas Manns Exemplar des Goethe (Gundolf: Goethe [Anm. 41], S. 404). Mit dem Goethe und Tolstoi-Komplex beschäftigte sich Mann immer wieder zwischen 1921 und 1932. Vgl. auch den Tagebucheintrag vom 9. Januar 1938. In: Tagebücher 1937–1939. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main 1980, S. 157. Helmut Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979, S. 112–150, zu Gundolfs Goethe und Bertrams Nietzsche vgl. vor allem S. 132–140.

lichkeit Nietzsches kann nicht aus historischen Fakten abgeleitet und erklärt, sie muss ‚gesehen‘ werden: „Nur als Bild, als Gestalt, nur als Mythos also lebt sie, nicht als Kenntnis und Erkenntnis eines Gewesenen.“64 In seinem Wissen­ schaftsverständnis sieht sich Bertram in Opposition zum Mainstream, dennoch wurde seine Studie von der Bonner Universität 1919 als Habilitationsschrift akzeptiert. Entschiedener noch als Gundolf wendet sich Bertram darin gegen traditionelle wissenschaftliche Rationalitätskriterien und erteilt dem „naive[n] historische[n] Realismus“65 eine deutliche Absage. Quellen und Fakten will er höchstens als „Rohstoff“66 anerkennen. Eine angemessene Annäherung an das biographische Objekt erscheint deshalb nur über die ‚Legende‘ möglich. Als Methode einer „Seelenwissenschaft und Seelenkündung“67 soll über die Le­ gende vor allem die tiefe Gespaltenheit von Nietzsches Existenz herausgestellt werden.68 Bertram vertritt selbstbewusst einen von assoziativer Kombinatorik geprägten Intuitionismus, mit dem er „die Grenze zwischen Wissenschaft und Dichtung willentlich überschreitet“69. Mit der Einführung der ‚Legende‘ ist da­ bei geschickt der Grundstein für ein Verfahren gelegt, mit dem die historische Darstellung fiktional erweitert werden kann. Die Legitimität seiner biographi­ schen Methode erörtert Bertram weniger argumentativ, als dass er ihre quasi naturgesetzliche Notwendigkeit behauptet: „Alles Geschehen will zum Bild, alles Lebendige zur Legende, alle Wirklichkeit zum Mythos.“70 Ausgehend von der konstatierten Inhomogenität Nietzsches, seiner „Doppel­ seelenhaftigkeit“71, orientiert sich Bertram auch bei der Grobgliederung seiner Biographie nicht an einem Kontinuität und Identität suggerierenden chrono­ logischen Schema, sondern versammelt eine lose Folge relativ eigenständiger Kapitel nach unterschiedlichen Motiven. Dieser fragmentierenden Perspektive zuwiderlaufend äußert sich allerdings durchgehend der Wille zur weltanschau­ lichen Synthese. Dass hinter dem Bestreben, Nietzsche in die Geschichtslosig­ keit des Mythos eingehen zu lassen, gerade „ein starkes Gegenwartsinteresse“72 64 65 66 67 68

69 70 71 72

Bertram: Nietzsche (Anm. 17), S. 2. Ebd., S. 1. Ebd., S. 3. Ebd., S. 1. Die beiden bis heute grundlegenden Studien zu Bertrams Nietzsche stammen aus den 1980er Jahren und stellen das Verhältnis zu Stefan George ins Zentrum. Während Heinz Raschel mit Blick auf die Entstehungsgeschichte von einem starken Einfluss Stefan Ge­ orges ausgeht, betont Frank Weber die Eigenständigkeit von Bertrams Nietzsche-Darstel­ lung (vgl. Heinz Raschel: Das Nietzsche-Bild im George-Kreis. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mythologeme. Berlin 1984, S. 134–166. Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis. Frankfurt am Main 1989, S. 109–178). Bernhard Böschenstein: Ernst Bertram. In: Wissenschaftler im George-Kreis. Hg. von Bernhard Böschenstein u. a. Berlin und New York 2005, S. 187–197, hier S. 190. Bertram: Nietzsche (Anm. 17), S. 6. Ebd., S. 10. Scheuer: „Dichter und Helden“ (Anm. 51), S. 307.

61

steht, zeigt sich dabei insbesondere in der Vereinnahmung Nietzsches für die Erklärung des ‚deutschen Wesens‘ in seiner schicksalhaften Größe wie in seiner Tragik. Dabei wird der aus der vorsokratischen Philosophie hergeleitete Begriff des Werdens im ideologischen Zentralkapitel des Buches auf das ‚deutsche Werden‘ hin nationalisiert.73 Bertram interessiert sich weniger für den Philosophen als für den Dichter Nietzsche. Dabei gehen in der Haltung gegenüber seinem biographischen Ob­ jekt admiratio, imitatio und identifikatio ineinander über.74 Aus der Bewunde­ rung des „letzten großen Deutschen“75 resultiert eine Annäherung des eigenen Denkens und Argumentierens an Nietzsche, die sich bis in die Sprache des Verfassers hinein verfolgen lässt. Die Biographie liest sich passagenweise wie ein mit Anführungszeichen gespickter Monolog Bertrams im Nietzsche-Stil. Caitríona Ní Dhúill zeigt anhand des Heldendiskurses, wie Bertram Aussagen Nietzsches über andere immer wieder auf diesen selbst rücküberträgt.76 Mit dieser Methode bietet Bertram zugleich auch den Lesern seines Nietzsche-Bu­ ches eine solche Übertragung als Rezeptionshaltung an. Indem Bertram in Nietzsche den Helden erkennen kann, wie dieser ihn in anderen erkannt hat, ist er auch selbst prädestiniert, wiederum von seiner Leserschaft in die heroi­ sche Nachfolge eingeordnet zu werden. Biographie kann auf diese Weise zur „verschlüsselten Autobiographie“77 werden. Die Selbstbescheidung, in der sich Bertram gleich zu Beginn übt, wenn er seine Sichtweise auf Nietzsche dem Vorbehalt „perspektivischer Irrung“78 unterstellt, steht in einem eigentümlichen Missverhältnis zur apodiktisch vor­ getragenen Gewissheit, mit der für Bertram etwa „fraglos“ und „von der gezie­ menden Höhe aus betrachtet“79 Nietzsche eines der herausragendsten Phäno­ mene des nordischen Christentum ist, oder man eine lange Reihe personalisier­ ter Antithesen „nur einen Augenblick zu überdenken [braucht], um spontan

73 74

75 76

77 78 79

62

Vgl. Bertram: Nietzsche (Anm. 17), S. 64–90. Diese Funktionstypen arbeitet Scheuer als kennzeichnend für die im George-Kreis ent­ standenen biographischen Darstellungen heraus (vgl. Scheuer: „Dichter und Helden“ [Anm. 51], S. 300–134). Zu Bertrams Fokus auf die Dichterpersönlichkeit Nietzsche vgl. Ann-Christin Bolay: „eine durch und durch poetische, künstlerische Natur“: Zu Ernst Bertrams und Theobald Zieglers Rezeption des Dichters Nietzsche. In: Nietzsche als Dichter. Lyrik – Poetologie – Rezeption. Hg. von Katharina Grätz und Sebastian Kauf­ mann. Unter redaktioneller Mitarbeit von Armin Thomas Müller und Milan Wenner. Berlin 2017, S. 445–463. Bertram: Nietzsche (Anm. 17), S. 7. Vgl. Caitríona Ní Dhúill: Der Kanon des Heroischen: Ernst Bertrams Nietzsche. Versuch einer Mythologie. In: Die Biographie – Beiträge zu ihrer Geschichte. Hg. von Wilhelm Hemecker, unter Mitarbeit von Wolfgang Kreutzer. Berlin 2009, S. 123–151, hier S. 137– 140. Ebd., S. 138. Bertram: Nietzsche (Anm. 17), S. 9. Ebd., S. 53.

gewiß zu sein“80, auf welche Seite Nietzsche gehört. Um Assoziationen und Behauptungen zur Mythologie zu verdichten, stiftet Bertram Zusammenhänge über metaphorische Konstellationen und eine leitmotivische Vernetzung. Noch stärker als Gundolf arbeitet Bertram hier mit emblematischen Namen, über die Nietzsche zu anderen Größen der Geistesgeschichte in Beziehung gesetzt wird.81 Der Kult der großen Persönlichkeit, der sich in den aufgestellten Na­ menreihen manifestiert, substituiert dabei die historische Auseinandersetzung durch ein elitäres Modell der Verwandtschaft, das sich in der Familien-Meta­ phorik leitmotivisch durch die gesamte Biographie zieht. Auf diese Weise wird es möglich, in Nietzsches „Kampf“ gegen Wagner und Schopenhauer oder ge­ gen Romantik und Christentum „nur Sinnbild eines Bruderzwistes“82 zu sehen und dieses auf die gespaltene Existenz schlechthin auszudeuten. Rhetorisch besonders auffällig sind damit in Bertrams Nietzsche einerseits die apodiktische Redeweise sowie die ständige Repetition und Variation der zentralen Thesen und Motive, andererseits die ausgeprägte Kampf- und Heldenmetaphorik, die sich mit einer Insinuierung geistiger Verwandtschaftsverhältnisse verbindet. Bertrams Nietzsche und Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen haben eine gemeinsame, von regem gegenseitigem Austausch der Autoren geprägte Entstehungsgeschichte.83 Anfang 1918, als sich die Drucklegung der Nietzsche-Studie bei Bondi verzögerte, setzte sich Mann für eine schnelle Veröffentlichung ein. Ein Brief, der dahingehend mögliche Argumentationen gegenüber dem Verlag durchspielt, bezeugt, wie Mann sich zum Anwalt für das neue Werk Bertrams machte: „ein Zeitbuch, die Zeit braucht es zu seiner Erläuterung und zwar sofort.“84 Obwohl ihm die Materie des Buches also bestimmt nicht neu war, zeigt sich Thomas Mann vollkommen gefesselt, als er sich den fertigen Nietzsche schließlich in der Woche vom 12. bis zum 18. September 1918 zur Lektüre vornimmt. „Ergriffenheit“85, Rührung86, und

80 81

82 83

84 85 86

Ebd., S. 126. Zu Bertrams Bemühungen, Nietzsche als direkten Erben Goethe zu etablieren vgl. Bo­ lay: „eine durch und durch poetische, künstlerische Natur“ (Anm. 74), S. 455–457. Zur Leitmotivtechnik Bertrams vgl. insbesondere Arrighetti: Mensch und Werk (Anm. 39), S. 175f. Bertram: Nietzsche (Anm. 17), S. 53. Vgl. hierzu Jens Rieckmann: Erlösung und Beglaubigung: Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen und Ernst Bertrams Nietzsche: Versuch einer Mythologie. In: Mo­ dern Language Notes 90 (1975), S. 424–430. Allgemein zur zunehmend durch Spannun­ gen belasteten Freundschaft zwischen Thomas Mann und Ernst Bertram vgl. außerdem Albert von Schirnding: Im Namen Nietzsches. Die Beziehung von Thomas Mann und Ernst Bertram. In: Thomas Mann in München I: Vortragsreihe Sommer 2003. Hg. von Dirk Heißerer. München 2004, S. 175–203. Mann an Ernst Bertram, Brief vom 3. März 1918. In: Mann: Thomas Mann an Ernst Bertram (Anm. 11), S. 60f. Eintrag vom 12. September 1918. In: Mann: Tagebücher 1918–1921 (Anm. 9), S. 4. Vgl. den Eintrag vom 13. September 1918, ebd., S. 5.

63

„Bewunderung“87 sind die Vokabeln, mit denen er sein Leseerlebnis im Tage­ buch festhält. Bei Thomas Mann wiederholt sich in der Rezeption des Nietz­ sche die Kombination aus Bewunderung, Nachahmung und Identifikation, die eben dieses Buch im Hinblick auf seinen Gegenstand selbst prägt. So führt Thomas Mann die Ambivalenz von Selbsterniedrigung und Selbstüberhöhung weiter, indem er einerseits – die Verwandtschaftsmetaphorik aufgreifend – Bertrams Biographie als „würdig, besonnen, historisierend, unantastbar, unbe­ schimpfbar, geschwisterlich neben meinem unbesonnenen, ungebildeten, stam­ melnden und kompromittierenden Künstlerbuch“ stehen sieht, zugleich aber betont, „daß ohne den Tonio Kröger und den Tod in Venedig dies Buch weder in Einzelanwendungen noch auch wohl als Ganzes möglich gewesen wäre.“88 Das selbstidentifikatorische Moment ist bei dieser ersten Lektüre dominierend: „Wahrhaftig, ich bin stolz auf dieses Werk, als wärs ein Stück von mir.“89 In einer ausführlichen Beschreibung sind bereits die grundlegenden Merk­ male vorhanden, die er später in der Verschmelzung von Wissenschaft und Dichtung dem intellektualen Roman als generell gattungstypisch zuweisen wird. Das Nietzsche-Buch ist übrigens tief musikalisch, ein Variationen-Reigen über das Thema der „Woge“, ein großes Thema, das Bild der Welt und des Lebens, so darf man sagen. Die philologische Technik, von Lyrik und Gefühl vibrierend. Die Citatwiederholungen als Klammern und Leitmotive. Bewunderungswürdig die äußere Stoffbeherrschung, der Überblick über ein äußerlich doch so verzetteltes Lebenswerk, die Geistesgegenwart im Assoziie­ ren.90

In einem langen Dankesbrief an Bertram vom 21. September kehren dann all diese Motive nahezu wörtlich wieder, wobei das Fazit noch einmal konzentrier­ ter die „Mischung aus Philologie und Musik im Grundwesen des Buches“91 bestimmt. Außerdem wird hier ausdrücklich die Textkonzeption gewürdigt, durch die jedes Kapitel, unabhängig vom konkreten Thema, die Grundidee transportiere.92 Dass besonders diese konzeptionelle Eigenschaft einen bleiben­ 87 88 89 90

91 92

64

Eintrag vom 15. September 1918, ebd., S. 6. Eintrag vom 18. September 1918, ebd., S. 9. Ebd. Vgl. auch den Eintrag vom 15. September 1918, ebd., S. 6f. Eintrag vom 18. September 1918, ebd., S. 9. Aus der Korrespondenz zwischen Ernst Bertram und Ernst Glöckner geht hervor, dass Thomas Mann Bertram während seiner Arbeit an der Nietzsche-Studie ausdrücklich in der „Mischung von akademischen und lyrischen Elementen“ bestärkt hat (vgl. den Brief Bertrams an Glöckner vom 10. Oktober 1917, in Teilen wiedergegeben in: Mann: Thomas Mann an Ernst Bertram [Anm. 11], S. 226f., hier S. 227). Mann an Ernst Bertram, Brief vom 21. September 1918. In: Mann: Briefe II 1914–1923 (Anm. 11), S. 251. „Denn das bewunderungswürdige, in der Konzeption beruhende Geheimnis des Buches ist ja eben dies, daß in jede dieser Abhandlungen und Abwandlungen die die ganze antithetische Lebensintensität, die ganze unsägliche Interessantheit, der ganze geistige Zauber des Gegenstandes hineingepreßt ist“ (ebd.).

den Eindruck hinterließ, zeigt sich darin, dass Thomas Mann auch später immer wieder von Bertrams Studie als den „Nietzsche-Variationen“93 spricht. Sowohl aus den Tagebucheintragungen als auch aus dem Dankesbrief geht hervor, dass Thomas Mann nicht nur keinerlei Einwände gegen die biographi­ sche Methode Bertrams hat, sondern sich direkt selbst unterstützend einbringt. Aufschlussreich hierfür ist beispielsweise eine Bemerkung am Rande, mit der Mann auf eine vertane Chance zur Parallelisierung hinweist und die entspre­ chende Plausibilisierung nach syntaktischer Logik mitliefert. Zur von Bertram zitierten Frage Nietzsches, „War Sokrates überhaupt ein Grieche?“94, vermisst Thomas Mann ein baugleiches Zitat als Pendant: „‚»War Wagner überhaupt ein Deutscher?«‘ – ein Gleichlaut der Fragestellung, bei dem die Zusammen­ gehörigkeit von Griechentum und Deutschtum in Nietzsche’s Gedankenwelt deutlich wird.“95 Das Buch des Freundes inspiriert Mann auf mehreren Ebenen. Hatte sich Bertram in seiner Biographie in der Imitation des Nietzsche-Stils geübt, so regt offenbar diese Nachahmung wiederum Thomas Mann selbst stilistisch an. Das lässt sich nicht nur im Hinblick auf konkrete Sprachübungen beobachten, wo ihn sein heimliches Eingeschriebensein im Nietzsche zu poeti­ schen Einlagen im Tagebuch veranlasst,96 das ohnehin in dieser Lektüre-Woche zum Ort der „stilistische[n] Vorbereitung“97 auf den Brief an Bertram wird. Auch im Sinne eines epischen Haltungsstils trifft Thomas Mann unter Ein­ druck des bei Bertram Gelesenen die an den Zauberberg gemahnende Feststel­ lung, „daß die Ironisierung des Humanistischen, aber aus Sympathie, eigentlich mein Stylelement sei, oder mehr u. mehr dazu wird.“98 Das stilistische Interesse lässt sich auch an den Lesespuren in Thomas Manns Handexemplar des Nietzsche ablesen, das mit zahlreichen An- und Unterstrei­ chungen, Ausrufungszeichen und Randbemerkungen eine äußerst aufmerksa­ me und von Zustimmung getragene Lektüre belegt.99 Immer wieder streicht 93 94 95

96

97 98 99

Mann: Anzeige eines Fontane-Buches (Anm. 15), S. 261. Bertram: Nietzsche (Anm. 17), S. 311. Mann an Ernst Bertram, Brief vom 21. September 1918. In: Mann: Briefe II 1914–1923 (Anm. 11), S. 251f. Das von Mann angeführte Nietzsche-Zitat stammt aus der Nachschrift zu Der Fall Wagner (vgl. Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. In: Ders.: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Nachgelassene Schriften: Der Antichrist. Ecce Homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München, Berlin und New York 112011 [Sämtliche Werke. Kritische Studien­ ausgabe. Bd. 6], S. 9–53, hier S. 41). „Heimlicher, heiterer, lächelnder ist mirs im Herze, dort – und dies dort ist vielfach –, wo der Verfasser meiner gedacht hat, ohne meiner zu ‚gedenken‘“ (Eintrag vom 15. Septem­ ber 1918. In: Mann: Tagebücher 1918–1921 [Anm. 9], S. 6f.). Eintrag vom 17. September 1918, ebd., S. 8. Eintrag vom 18. September 1918, ebd., S. 9. Das Empfinden, Ko-Autor des Buches zu sein, schlägt sich hier darin nieder, dass Thomas Mann auch den fertigen Nietzsche noch redigiert und tatsächliche oder vermeintliche Druckfehler anmerkt. Vgl. auch die Hinweise dazu im Brief an Bertram vom 21. Septem­ ber 1918. In: Mann: Briefe II 1914–1923 (Anm. 11), S. 252.

65

sich Mann Ausführungen zum Thema Sprache allgemein und zu Nietzsches Sprache im Besonderen an, vor allem Passagen, die sich mit der Verbindung von Musik und Sprache befassen.100 Einschränkend ist jedoch anzumerken, dass gerade diese Markierungen auch erst in der Vorbereitung auf den Dok­ tor Faustus erfolgt sein könnten.101 Da allerdings Musikalität bereits als ein wichtiges Kriterium bei der Bestimmung des intellektualen Romans auftaucht, erscheint es durchaus plausibel anzunehmen, dass Thomas Mann schon 1918 seine Vorstellung von der Sprach-Musik Nietzsches in Bertrams Buch bestätigt fand. Mit einem Randstrich markiert Thomas Mann auch die dort erläuterte „von Wagner her übernommene sehr ‚deutsche‘ Verschmelzungstechnik Nietz­ sches, der mit kühner Interpretationskunst allenthalben die ihm gegebenen Unvereinbarkeiten zur Synthese des identifizierenden Moments zusammen­ zwingt.“102 Ebenso lernt Thomas Mann über Bertram die „charakteristisch küh­ nen ‚Denns‘“103 bei Nietzsche kennen, die im Zauberberg dann wiederum zum Markenzeichen von Naphtas apodiktischer Rhetorik werden. Diese Textstelle wurde von Mann angestrichen und mit einem Ausrufungszeichen versehen. Die überschwängliche Begeisterung für Bertrams Nietzsche – „das beste Buch seit mindestens 5 Jahren“104 – und die selbstidentifikatorische Lektüre Manns verleiten dazu, hier ein Paradebeispiel für den weltanschauungsliterarischen Autor-Leser-Bund auszumachen. Das sprechende Ich in Weltanschauungstex­ ten bietet typischerweise explizit oder implizit dem Leser an, sein besonderes Wissen nachzuvollziehen und so Teil einer weltanschaulich erweckten Gemein­ schaft zu werden. Thomas Mann entwirft über die parallelen Buchprojekte immer wieder eine Verbindung, die er sich „geschwisterlich“105 vorstellt, aber auch mit Zügen einer Jüngerschaft versieht. Gegenüber Bertram bringt er zum Ausdruck, zu seinen Betrachtungen empfinde er den Nietzsche „nicht nur als seine Ergänzung, sondern geradezu als seine Erlösung, – wie denn auch umge­ kehrt die Wahrheit Ihrer Legende durch meine stammelnden Konfessionen gewissermaßen beglaubigt werden mag.“106 Das besondere Engagement Manns im Falle der Nietzsche-Studie dürfte allerdings deutlich über eine textinterne Bündnisstiftung hinaus durch die persönliche Beziehung zum Autor zu erklä­ ren sein, obwohl schließlich die Wertschätzung des Buches die Freundschaft 100 101 102 103 104 105 106

66

Vgl. in Thomas Manns Exemplar von Bertram: Nietzsche (Anm. 17), S. 105f., 108, 119, 175, 188, 191, 215f. Vgl. dazu Bernhard Böschenstein: Ernst Bertrams Nietzsche – eine Quelle für Thomas Manns Doktor Faustus. In: Euphorion 72 (1978), S. 68–83. Bertram: Nietzsche (Anm. 17), S. 51f. „Verschmelzungstechnik“ ist zusätzlich unterstri­ chen. Ebd., S. 89. Mann an Philipp Witkop, Brief vom 12. Mai 1919. In: Thomas Mann: Briefe. Bd. I: 1889–1936. Hg. von Erika Mann. Frankfurt am Main 1962, S. 161. Mann an Ernst Bertram, Brief vom 21. September 1918. In: Mann: Briefe II 1914–1923 (Anm. 11), S. 249. Ebd., S. 252.

überdauern sollte. Noch 1948, schon lange persönlich und politisch entfremdet von Bertram, der sich zum Sympathisanten des Nationalsozialismus radikali­ siert hatte, bleibt der Nietzsche für Mann „die Schönheit, Musikalität und Un­ schuld selber“.107 Den Niederschlag der Bertram-Rezeption im Werk Thomas Manns hat die Forschung gut dokumentiert. Dabei haben nicht nur die Betrachtungen deutlich von Bertrams Nietzsche-Recherchen profitiert.108 In seinen Untersuchungen zum Einfluss Bertrams konnte Bernhard Böschenstein neben den Spuren im Doktor Faustus109 auch solche im Zauberberg identifizieren, in dem sich motivi­ sche Parallelen, etwa in der Gotik-Verehrung Naphtas, der Maskenhaftigkeit Peeperkorns oder im Ost-West-Gegensatz finden. In diesem Zusammenhang hat Böschenstein auch bereits auf die Ähnlichkeit der Argumentationsweise bei Bertram und den Zauberberg-Pädagogen Naphta und Settembrini hingewie­ sen.110 Helmut Koopmann sieht vor allem im Verständnis von Geschichte als Mythos und in den philosophischen Leitlinien zum Thema Krankheit die Be­ deutung des Nietzsche als Quelle des Zauberbergs.111 c) Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1918/1922) Mit seiner monumentalen Geschichtsmorphologie hat Oswald Spengler das erfolgreichste Werk der Kulturkritik im 20. Jahrhundert vorgelegt. Der erste, 1918 erschienene Band wurde schnell zum viel- und kontrovers besproche­

107 108

109 110

111

Mann an Werner Schmitz, Brief vom 30. Juli 1948. In: Thomas Mann: Briefe. Bd. III: 1948–1955 und Nachlese. Hg. von Erika Mann. Frankfurt am Main 1965, S. 39f. Vgl. Walter Jens: Betrachtungen eines Unpolitischen. Thomas Mann und Friedrich Nietzsche. In: Statt einer Literaturgeschichte. Hg. von dems. Pfullingen 71978, S. 185– 213, hier S. 190f. Hans Rudolf Vaget pocht darauf, dass das in den Betrachtungen gezeich­ nete Nietzschebild nicht deckungsgleich mit demjenigen Bertrams, sondern in seinen Zügen kosmopolitischer angelegt sei, er vermutet, dass sich Mann in seiner Bertram-Be­ geisterung um 1918 dieser Unterschiede selbst nicht bewusst war (vgl. Hans Rudolf Vaget: „Schicksalsgeist“. Zu Thomas Manns Nietzsche-Rezeption in der Weimarer Re­ publik. In: Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne. Hg. von Thorsten Valk. Berlin und New York 2009, S. 147–162, hier S. 154). Vgl. Böschenstein: Ernst Bertrams Nietzsche (Anm. 101), S. 68–83. Vgl. Bernhard Böschenstein: Ernst Bertram und der „Zauberberg“. In: Wagner – Nietz­ sche – Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich. Hg. von Heinz Gockel, Micha­ el Neumann und Ruprecht Wimmer. Frankfurt am Main 1993, S. 289–309. Erkme Joseph sieht die Lektüre von Bertrams Nietzsche außerdem als entscheidend für ein gewandeltes, lebensfreundlicheres und den Gedanken der Selbstüberwindung stärker betonendes Nietzsche-Verständnis bei Thomas Mann (vgl. Erkme Joseph: Nietzsche im „Zauberberg“. Frankfurt am Main 1996, S. 2). Vgl. Koopmann: Der Zauberberg und die Kulturphilosophie der Zeit (Anm. 3).

67

nen Bestseller und auch wenn der „Streit um Spengler“112 längst nicht mehr so erhitzt geführt wird, ist das Interesse an Spengler bis heute nicht abgeris­ sen.113 Die Beobachtung, dass die Intensität der Spenglerbeschäftigung jeweils mit der Krisenwahrnehmung einer Zeit zusammenhängt,114 bestätigt das 21. Jahrhundert bisher. Zusätzlich befeuert wurde die Forschung zuletzt durch das 100-jährige Jubiläum des Untergangs, mit dem auch wieder die Frage nach der Aktualität Spenglers ins Zentrum gerückt ist.115 Spengler lehnte jede Form geschichtlicher Teleologie ab und setzte auf ein zyklisches Modell. Als geschichtstragende Einheiten bestimmte er Hochkultu­ ren, von denen er annahm, dass sie voneinander unabhängig jede für sich die strukturell gleichen Entwicklungsphasen des Aufstiegs und Niedergangs durchlaufen. In einer stark biologistisch geprägten Betrachtungsweise verstand er Kulturen organisch und stellte sich ihre geschichtlichen Entwicklungspha­

112

113

114

115

68

So der Titel von Manfred Schröters Spengler-Verteidigungsschrift, die einen Einblick in die zeitgenössischen Debatten gibt (vgl. Manfred Schröter: Der Streit um Spengler. Kritik seiner Kritiker. München 1922). Zur historischen Kontextualisierung von Spenglers Werk vgl. Gilbert Merlio: Oswald Spengler: Témoin de son temps. 2 Bde. Stuttgart 1982. Frits Boterman: Spengler und sein „Untergang des Abendlandes“. Köln 2000. Sowie den Sammelband von Manfred Gangl, Gilbert Merlio und Markus Ophälders (Hg.): Spengler – Ein Denker der Zei­ tenwende. Frankfurt am Main 2009. Zur Erhellung des biographischen Hintergrunds lohnt sich neben der umfassenden Darstellung Koktaneks (Anton Mirko Koktanek: Oswald Spengler in seiner Zeit. München 1968) besonders Gilbert Merlios Nachwort zu Spenglers autobiographischen Fragmenten (vgl. Gilbert Merlio: Urgefühl Angst. In: Oswald Spengler: „Ich beneide jeden, der lebt.“ Die Aufzeichnungen „Eis heauton“ aus dem Nachlaß. Düsseldorf 2007, S. 89–123). Als sehr ergiebig für die Forschung hat sich die Suche nach den Spuren erwiesen, die Spenglers Werk international hinterlassen hat. Vgl. dazu Zaur Gasimov und Carl Antonius Lemke Duque (Hg.): Oswald Spengler als europäisches Phänomen. Der Transfer der Kultur- und Geschichtsmorphologie im Europa der Zwischenkriegszeit 1919–1939. Göttingen 2013. Gilbert Merlio und Daniel Meyer (Hg.): Spengler ohne Ende. Ein Rezeptionsphänomen im internationalen Kon­ text. Frankfurt am Main 2014. Christian Voller, Gottfried Schnödl und Jannis Walter (Hg.): Spenglers Nachleben. Studien zu einer verdeckten Wirkungsgeschichte. Springe 2018. Vgl. Daniel Meyer und Gilbert Merlio: Vorwort. In: Spengler ohne Ende. Ein Rezepti­ onsphänomen im internationalen Kontext. Hg. von dens. Frankfurt am Main 2014, S. 7–11, hier S. 8. Vgl. vor allem den Sammelband von Sebastian Fink und Robert Rollinger (Hg.): Os­ wald Spenglers Kulturmorphologie. Eine multiperspektivische Annäherung. Wiesbaden 2018. Außerdem Alexander Demandt: Untergänge des Abendlandes. Studien zu Oswald Spengler. Köln, Weimar und Wien 2017. Gilbert Merlio: Le début de la fin? Penser la décadence avec Oswald Spengler. Paris 2019. Für die zuletzt ebenfalls verstärkten Bemü­ hungen aus rechtskonservativen Kreisen, eine mögliche Aktualität Spenglers nicht nur zu diskutieren, sondern aktiv zu befördern, steht die 2017 gegründete und in Belgien ansässige Oswald Spengler Society und insbesondere die Arbeit ihres Präsidenten (vgl. David Engels: Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der römischen Republik. Historische Parallelen. Berlin u. a. 22017).

sen analog zu Lebensverläufen vor.116 Ein in Anlehnung an Goethe entwickel­ tes morphologisches Verfahren sollte anhand des zyklischen Grundschemas die systematische Vergleichbarkeit aller Kulturen vorführen, indem es ihre parallele, bei Spengler heißt das ‚gleichzeitige‘, Betrachtung ermöglichte. Die in der zeitgenössischen Kulturkritik omnipräsente Opposition von Kultur und Zivilisation findet sich bei Spengler in ein zeitliches Nacheinander übersetzt, dem deterministischen Phasenmodell folgend werden Hochkulturen, wenn sie ihren Erschöpfungszustand erreichen, unverhinderbar zu Zivilisationen. Spengler konnte dem krisenbewussten Leser 1918 scheinbar eine historische Erklärung der eigenen Gegenwart liefern, die besondere Sprengkraft seiner Theorie ergab sich jedoch vor allem aus ihrem prognostischen Potential. In seinem Buch versprach Spengler nicht nur eine universale Erklärung der Weltgeschichte, sondern behauptete darüber hinaus, die Zukunft der westeu­ ropäischen-amerikanischen Kultur voraussagen zu können.117 Seine holistische Darstellung bot sich als Weltanschauung mit praktischer Tragweite und umfas­ sendem Geltungsbereich an, als Rettungsanker in der Orientierungslosigkeit einer krisenhaften Gegenwart.118 Diese Rettung sollte dabei aus der Einsicht in die Schicksalhaftigkeit des prognostizierten Untergangs erfolgen, in der sich zugleich eine politische visionäre Dimension andeutete, die Spengler mit der autoritären Vorstellung eines imperialistisch deutschen Machtstaates dann vor allem in Preußentum und Sozialismus (1920) weiter ausbaute. Wie bei Gundolf und Bertram verbindet sich auch bei Spengler die in­ szenatorisch in Pose gesetzte Missachtung der akademischen Philosophie 116

117

118

„Kulturen sind Organismen. Kulturgeschichte ist ihre Biographie. Die ungeheure Ge­ schichte der chinesischen oder antiken Kultur ist morphologisch das genaue Seitenstück zur Kleingeschichte des einzelnen Menschen, eines Tieres, eines Baumes oder einer Blume“ (Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Vollständige Ausgabe in einem Band. München 1963, S. 96). Die Einführung der Kulturbiographie ist für Spenglers Gesamtentwurf zentral. Indem er be­ hauptet, Kulturen könnten in ihrem Wachsen, Werden und Erstarren von der Kindheit bis zum Greisentum beschrieben werden, suggeriert er über seine Grundmetapher eine biologischen Gesetzlichkeit, die den schließlich verkündeten Untergang einer Kultur als schicksalhafte Notwendigkeit plausibel erscheinen lässt. Vgl. die programmatische Ankündigung: „In diesem Buche wird zum ersten Mal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen“ (Spengler: Der Untergang des Abend­ landes [1963] [Anm. 116], S. 3). Die wuchtige Selbstgewissheit der Untergangsprognos­ tik, die aus dem Original spricht, scheint im aktuellen Spenglerismus einer epigona­ len Bescheidenheit gewichen, mit der „versuchsweise das Wagnis eingegangen werden [soll], Spengler nicht einfach nur partiell und historistisch im Rahmen seiner Zeit zu besprechen, sondern ihn als Denker ernst zu nehmen und also die grundlegenden Prä­ missen seiner Lehre […] als eine auch heute noch brauchbare Arbeitshypothese zu be­ trachten“ (David Engels: Spengler im 21. Jahrhundert. Überlegungen und Perspektiven zu einer Überarbeitung der Spengler’schen Kulturmorphologie. In: Oswald Spenglers Kulturmorphologie. Eine multiperspektivische Annäherung. Hg. von Sebastian Fink und Robert Rollinger. Wiesbaden 2018, S. 453–487, hier S. 453f.). Vgl. Spengler: Der Untergang des Abendlandes [1963] (Anm. 116), S. 64.

69

und Historiographie mit der Ankündigung des eigenen, angeblich überle­ genen Forschungsprogramms, hier im Zeichen einer „Philosophie der Zu­ kunft“119. Gegen Empirie und Analyse setzt Spengler ein physiognomisch verfahrendes Schauen und Erleben seiner organisch verstandenen Kulturfor­ men. Er lehnt sich damit an die verstehende Psychologie an, überträgt die in seiner Zeit durchaus wissenschaftlich akzeptierten Methoden der Untersu­ chung der menschlichen Seele aber auf „beseelte Masseneinheiten“120. Wie Tho­ mé gezeigt hat, kann Spengler den Begründungsbedarf, den ein weltgeschicht­ licher Vergleich solcher hochgradig theoretisch konstruierten Kultursubjekte aufwirft, nicht decken, er versucht stattdessen, diesen Bedarf zu verschleiern, indem er sich einen privilegierten Beobachterstandpunkt zuordnet und gleich­ zeitig durch die Demonstration breiten Faktenwissens und die bildsprachliche Ausreizung seiner organologischen Grundmetapher pseudoempirische Veran­ schaulichung betreibt.121 Hervortretendes Charakteristikum der Spengler’schen Weltanschauungsliteratur ist die herbeigeschriebene Wirkungsmächtigkeit des Schauenden: alles Geschehen „fügt sich für den verstehenden Blick, wenn er über das Bild des längst Vergangenen hinschweift, einer großen Ordnung ein.“122 Für ein gelingendes Aufdecken dieser Ordnung ist zusätzlich die ent­ sprechende Konzeption der Objektseite ausschlaggebend. Die historische Wirk­ lichkeit begreift Spengler deshalb als symbolhafte Oberfläche, ihre Erscheinun­ gen müssen gedeutet werden, um die wesentlichen Strukturen freilegen zu

119 120 121

122

70

Ebd., S. 6. Ebd., S. 576. Vgl. Thomé: Geschichtsspekulation als Weltanschauungsliteratur (Anm. 33), S. 194–212. Auch Heine plädiert dafür, den Untergang des Abendlandes als Weltanschauungslitera­ tur zu lesen und auf diese Weise zwei Perspektiven der Spenglerforschung, die histo­ rische Kontextualisierung und die Textanalyse, zu verbinden (vgl. Philipp David Heine: Oswald Spengler, die Weltanschauungsliteratur und die literarische Moderne: Vorbe­ merkungen zu einer literaturwissenschaftlichen Perspektive. In: Tektonik der Systeme. Neulektüren von Oswald Spengler. Hg. von Arne de Winde u. a. Heidelberg 2016, S. 144–156, 250–251). Als Beispiel für die dichte Bildsprache, in der Spengler seine weltgeschichtlichen Betrachtungen entfaltet: „Ich sehe […] das Schauspiel einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoße einer mütterlichen Landschaft […] aufblühen, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschentum, ihre eigne Form aufprägt, von denen jede ihre eigne Idee, ihre eignen Leidenschaften, ihr eignes Leben, Wollen, Fühlen, ihren eignen Tod hat. Hier gibt es Farben, Lichter, Bewegungen, die noch kein geistiges Auge entdeckt hat. Es gibt aufblühende und alternde Kulturen, Völker, Sprachen, Wahrheiten, Götter, Landschaften, wie es junge und alte Eichen und Pinien, Blüten, Zweige und Blätter gibt, aber es gibt keine alternde ‚Menschheit‘. Jede Kultur hat ihre neuen Möglichkeiten des Ausdrucks, die erscheinen, reifen, verwelken und nie wiederkehren. […] Diese Kulturen, Lebewesen höchsten Ranges, wachsen in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf wie die Blumen auf dem Felde“ (Spengler: Der Untergang des Abendlandes [1963] [Anm. 116], S. 28). Ebd., S. 184f.

können.123 In dieser Konstellation aus privilegierter Perspektive und uneigentli­ cher Objektwelt lässt sich nachvollziehen, wie Spengler sich aus den rationalen Erfordernissen wissenschaftlicher Verständigung ausklinkt und stattdessen die Freiheiten eines auktorialen Erzählers in Anspruch nimmt. Der Untergang des Abendlandes ist insofern als Weltanschauungstext besonders interessant, weil er sich nicht nur der typischen Verfahren bedient, sondern den möglichen Über­ gang von der Wissenschaft in die Literatur selbst konzeptuell ausgestaltet. Ohne den Anspruch auf wissenschaftliche Geltung aufzugeben, schafft sich Spengler ein fiktionalisiertes historisches Tableau, auf dem sich kulturgeschichtliche Dynamiken beliebig arrangieren lassen. Er parallelisiert und sortiert diese Dy­ namiken und kann die entsprechenden Akteure wie Spielfiguren zueinander in Beziehung setzen, weil er die „echte Geschichte“ kennt, in der als Kriegsund Schicksalsgeschichte „jeder Mensch, er mag wollen oder nicht, […] Glied dieses kämpfenden Geschehens“124 ist. Durch die stetig wiederholten Analogie­ sierungen und die zahlreichen binäroppositionellen Gegenüberstellungen, die in die eine große von Kultur und Zivilisation einfließen, entsteht ein Geflecht scheinbar universeller Zusammenhänge, das Spengler überblickt und ordnet.125 Die wendungsreiche Spengler-Rezeption Thomas Manns ist bereits mehrfach von der Forschung nachgezeichnet worden.126 Am Anfang steht überschwäng­ liche Begeisterung. Thomas Mann hat bereits nachdem er die Einleitung im Untergang des Abendlandes gelesen hat „das wachsende Gefühl, hier einen gro­ ßen Fund gethan zu haben, der vielleicht in meinem Leben Epoche machen 123

124

125

126

„Alles, was überhaupt geworden ist, alles, was erscheint, ist Symbol, ist Ausdruck einer Seele. Es will mit dem Auge des Menschenkenners betrachtet, es will nicht in Gesetze gebracht, es will in seiner Bedeutung gefühlt werden“ (ebd., S. 94). Ebd., S. 977. Anders als bei Gundolf oder Bertram ist die Nennung bedeutender Namen bei Spengler nicht mit einer mythischen Verklärung verbunden, sondern dient vor allem dazu, im Analogieschluss weit Entferntes kraft der Wirkung des Persönlichen zusammenzubringen. Rolf Parr hat demonstriert, wie sich die Literarizität von Spenglers Text mit den Mitteln der Interdiskursanalyse beschreiben lässt. Im Untergang des Abendlandes ergibt sich der „diskursverbindende Effekt imaginärer Totalisierung“ durch Kollektivsymbole, also kul­ turelle Stereotypen wie etwa den Wellenschlag. Diese mehrgliedrigen Symbole verknüp­ fen über ihre Bildlichkeit die zahlreichen unterschiedlichen Spezialdiskurse, auf die Spengler Bezug nimmt, wobei sich bei genauerer Untersuchung der Pictura/SubscriptioBeziehungen zeigt, dass die Bildelemente sich oftmals auf der Sinnebene nicht vollstän­ dig oder erst sehr spät einem Gemeinten zuordnen lassen, mitunter sogar in nicht mehr auflösbare Symbolverschachtelungen übergehen, wodurch im Text Mehrdeutigkeiten entstehen und der Eindruck von Tiefenbedeutung hervorgerufen wird (vgl. Rolf Parr: Analogie und Symbol. Einige Überlegungen zum interdiskursiven Status von Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“. In: Tektonik der Systeme, S. 42–57, 128f., zitiert S. 42). Bisher am ausführlichsten und unter Berücksichtigung von Thomas Manns Handexem­ plar des Untergangs von Barbara Beßlich (vgl. Beßlich: Faszination des Verfalls [Anm. 5]). Vgl. auch Roger A. Nicholls: Thomas Mann and Spengler. In: The German Quarterly 58 (1985), S. 361–374; Ottmann, Henning: Oswald Spengler und Thomas Mann. In: Der Fall Spengler. Eine kritische Bilanz, Köln 1994, S. 153–169.

71

wird.“127 Vier Wochen später beendet er den ersten Band „mit höchster Teil­ nahme. Das wichtigste Buch!“128 In Zusammenhang mit Spengler fällt dann auch zum ersten Mal der Begriff ‚intellektualer Roman‘: „Fuhr mit dem Speng­ ler fort: ein intellektualer Roman ersten Ranges. Das Künstlerische alles sehr zugespitzt, systematisch und eigensinnig, aber überaus glänzend und fesselnd, z. B. die Absätze über Michelangelo.“129 Trotz der enthusiastischen Lektüre, hat Thomas Mann von Beginn an auch Kritisches anzumerken, vor allem was Spenglers Umgang mit Nietzsche angeht, ist er unzufrieden: „er schreibt nietz[sch]isch, indem er geringschätzig von Nietzsche spricht (allerdings in einer höchst großartigen Optik).“130 Deutlichere Empörung spricht aus einer Randbemerkung, die in Thomas Manns Spengler-Exemplar zu finden ist: „Man spricht nicht so von Nietzsche, wenn man von ihm schreiben gel[ernt] h[at].“131 Die demütige Haltung bewundernder Ehrfurcht gegenüber dem be­ handelten Gegenstand, welche die mythographischen Darstellungen eines Gun­ dolf oder Bertram prägt, lässt Spengler vermissen. Umso brüskierender muss das aus Manns Sicht erscheinen, weil hier mit Spengler gerade der wichtigste Vertreter seines intellektualen Romans dem Ahnherrn der eigenen Gattungs­ tradition nicht den angemessenen Respekt zollt.132 Auch die „kolossal-wissen­ schaftliche Objektivität“133, in der sich der Kulturmorphologe inszeniert, wird Thomas Mann schnell verdächtig. Dennoch bleibt Spengler für ihn noch lange

127 128 129 130 131

132

133

72

Eintrag vom 26. Juni 1919. In: Mann: Tagebücher 1918–1921 (Anm. 9), S. 274. Eintrag vom 24. Juli 1919, ebd., S. 283. Eintrag vom 9. Juli 1919, ebd., S. 279. Eintrag vom 22. Juni 1919, ebd., S. 271. Vgl. auch den Eintrag vom 25. Juni 1919, ebd., S. 273. Vgl. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. I: Gestalt und Wirklichkeit. Wien und Leipzig 1918, S. 542. Thomas Manns Exemplar des ersten Bandes stammt aus der 1918 im Verlag Wilhelm Braumül­ ler erschienenen Erstauflage, die Spengler bis 1923 völlig neu bearbeitete. Als zweiter Band lag ihm vor: Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. II: Welthistorische Perspektiven. 16.–32. Auflage. München 1922. Bestätigt wird der nur schwer leserliche letzte Teil der Randbemerkung durch die fast wortgleiche Formulierung in einem Brief Manns an Rudolf Pannwitz vom 7. August 1920 (vgl. Mann: Briefe II 1914–1923 [Anm. 11], S. 364). Insgesamt weist besonders Manns erster Band von Spenglers Untergang des Abendlandes zahlreiche Lese­ spuren und Marginalien auf, der zweite Band wurde weniger intensiv durchgearbeitet. So drückt Thomas Mann dann auch in Zusammenhang mit seiner Nominierung Speng­ lers für den Nietzsche-Preis die Hoffnung aus, diesem durch eine solche Auszeichnung auch seine Abhängigkeit von Nietzsche bewusst zu machen, „denn was wäre er ohne ihn, schon als Stilist?“, Mann an Adalbert Oehler, Brief vom 10. November 1919. In: Mann: Briefe II 1914–1923 (Anm. 11), S. 315. Eintrag vom 25. Juni 1919. In: Mann: Tagebücher 1918–1921 (Anm. 9), S. 274. Entspre­ chende Textstellen glossierte Thomas Mann mit „Irrtum“ (vgl. Spengler: Der Untergang des Abendlandes I [1918] [Anm. 131], S. 47f.).

Zeit aus „Sympathie mit dem rein Gesinnungsmäßigen“134 über alle Zweifel erhaben. Erst als Mann im Frühjahr 1920 endgültig klar wird, dass die Über­ einstimmung im ‚Gesinnungsmäßigen‘ auf der irrtümlichen Annahme beruht hatte, der Autor des Untergangs bedauere die von ihm prophezeite Entwicklung, ändert sich sein Bild von Spengler, gegen den er von da an immer wieder engagiert polemisiert.135 Thomas Manns essayistische Kritik findet sich in am dichtesten in Über die Lehre Spenglers (1924), wo er sich noch einmal entschieden von dessen fatalistischem Denken distanziert, das er bereits in Von deutscher Republik (1922) angeprangert hatte. Nun bescheinigt er der Untergangs-Lehre kalte Wissenschaftlichkeit und Affektlosigkeit.136 Obgleich Thomas Mann der Ver­ fallsapologie Spenglers eine Absage erteilt, bleibt deutlich die Faszination an dessen Konstruktionen erkennbar, die den Untergang des Abendlandes „kraft seines literarischen Glanzes und seiner intuitiv-rhapsodischen Art“137 zu einem intellektualen Roman erster Güte machen. Bei aller Konsequenz in der Zurück­ weisung der Spenglerschen Ideen zeugt die essayistische Kritik zugleich von einer gewissen Angestrengtheit, die besonders in der Dämonisierung Spenglers stellenweise unbeholfen wirkt. So berichtet Thomas Mann etwa pathetisch, wie er „das Buch mir aus den Augen getan, um das Schädliche, Tötliche [sic!] nicht bewundern zu müssen.“138 Ähnlich wie Robert Musil, dessen Spengler-Kritik er im März 1921 gelesen hatte,139 versucht auch Thomas Mann, den Anspruch auf eine privilegierte Perspektive des ‚Wissenden‘ zu ironisieren.140 Dieser Versuch, eine distanzierte Überlegenheit über solch anmaßende Geschichtsspekulation zu demonstrieren, steht dabei allerdings in Kontrast zum hoch emotionalen Vokabular, das im Kontext verwendet wird, und erweist sich als deutlich we­ niger souverän als bei Musil. Hinter dem forcierten Bemühen, Spengler zu verdammen, steckt zu diesem Zeitpunkt noch zu viel von der „gewisse[n] Ver­ 134

135 136 137 138

139

140

Eintrag vom 23. Dezember 1919. In: Mann: Tagebücher 1918–1921 (Anm. 9), S. 348. Diese Äußerung bezieht sich auf Spenglers 1919 erschienene Schrift Preußentum und Sozialismus. Zum Missverständnis Thomas Manns und seinem Rezeptionswandel vgl. Beßlich: Faszi­ nation des Verfalls (Anm. 5), S. 19–52. Vgl. Mann: Über die Lehre Spenglers (Anm. 38), S. 741f. Ebd., S. 737. Mann: Von deutscher Republik (Anm. 15), S. 547. Breuer diskutiert, inwiefern diese Dämonisierung auch noch in den Figurationen der konservativen Revolution im Doktor Faustus präsent ist und eine Rolle für Thomas Manns politisches Denken spielt (vgl. Stefan Breuer: Wie teuflisch ist die „konservative Revolution“? Zur politischen Semantik Thomas Manns. In: Thomas Mann. Doktor Faustus 1949–1997. Hg. von Werner Röcke. Frankfurt am Main 2001, S. 59–71). Vgl. den Tagebucheintrag vom 15. März 1921. In: Mann: Tagebücher 1918–1921 (Anm. 9), S. 492f. Musils Essay war gerade im Neuen Merkur erschienen (vgl. Robert Musil: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind. In: Der neue Merkur 4 [1921], Heft 12, S. 841–858). Vgl. Mann: Über die Lehre Spenglers (Anm. 38), S. 738f.

73

wandtschaft der Herkunft und geistigen Neigung“141, wie Thomas Mann später rekapitulieren wird, um wirklich Distanz zum Untergangspropheten gewinnen zu können. Dies gilt zumindest für das essayistische Schreiben der frühen 1920er Jahre. Dass die Auseinandersetzung mit Spengler auch in Thomas Manns Romanwerk Eingang gefunden hat, konnte Helmut Koopmann für die Josephsromane142 und Barbara Beßlich für den Zauberberg und Doktor Faustus nachweisen.143 Wie die Untersuchung Beßlichs zeigt, lässt sich im Zauberberg der Einfluss von Manns Spengler-Lektüre dabei in den zeitphilosophischen Reflexionen, in der Gegenüberstellung von abendländischer und russischer Sphäre, aber auch in den Cäsarenzügen Peeperkorns erkennen. Besonders deutliche intertextuelle Bezüge auf Spenglers Schriften weisen auch die kombinatorischen Theorien und der apokalyptische Fatalismus Naphtas auf.144 d) Hermann Graf Keyserling: Das Reisetagebuch eines Philosophen (1919) Heute weitgehend in Vergessenheit geraten, war das Reisetagebuch eines Philo­ sophen von Hermann Graf Keyserling in den Jahren der Weimarer Republik ein philosophisches Erfolgsbuch.145 In seiner Rezension von 1920 stellte Ernst 141 142

143

144 145

74

Eintrag vom 1. August 1936. In: Tagebücher 1935–1936. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main 1978, S. 343. Vgl. Helmut Koopmann: Der Untergang des Abendlandes und der Aufgang des Mor­ genlandes. Thomas Mann, die Josephsroman und Spengler. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 24 (1980), S. 300–331. Vgl. Beßlich: Faszination des Verfalls (Anm. 5), zum Zauberberg S. 53–109, zum Doktor Faustus S. 124–142. Erste Hinweise auf den Einfluss Spenglers im Zauberberg finden sich auch bereits bei Koopmann: Der Zauberberg und die Kulturphilosophie der Zeit (Anm. 3), S. 278–284. Francis Wilhelm Lantink: Oswald Spengler oder die „zweite Ro­ mantik“. Der Untergang des Abendlandes, ein intellektualer Roman zwischen Geschichte, Literatur und Politik. Utrecht 1995, S. 286–293. Für das essayistische Werk beziehen Herbert Lehnert und Eva Wessel in ihrer Untersuchung zu Goethe und Tolstoi die Speng­ ler-Rezeption Thomas Manns ein (vgl. Herbert Lehnert und Eva Wessel: Nihilismus und Menschenfreundlichkeit. Thomas Manns Wandlung und sein Essay Goethe und Tolstoi. Frankfurt am Main 1991, S. 45–60). Vgl. Beßlich: Faszination des Verfalls (Anm. 5), S. 53–109. Vgl. Thomas Seng: Weltanschauung als verlegerische Aufgabe. Der Otto Reichl Verlag 1909–1954. Mit einer Bibliographie der Verlage von Otto Reichl und der Deutschen Bibliothek. St. Goar 1994, S. 168–173. Allgemein zu Keyserling vgl. Ute Gahlings: Hermann Graf Keyserling. Ein Lebensbild, Darmstadt 1996. Vgl. auch die Beiträge aus der dritten Sektion des Tagungsbandes zur Keyserling-Familie: Michael Schwidtal und Jaan Undusk (Hg.): Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyserling. Beiträge eines internationalen Symposions in Tartu vom 19. bis 21. September 2003. Heidelberg 2007, S. 321–572. In jüngerer Zeit hat sich die Forschung Keyserlings Reisetagebuch als einem Dokument der Transkulturalität gewidmet (vgl. László V. Szabó: Transkulturalität in Hermann von Keyserlings „Reisetagebuch eines Philosophen“. In: Netzwerke und Transferprozesse. Studien aus dem Bereich der Germanistik. Beiträge der VII. Internationalen Germanis­

Troeltsch Keyserlings Reisetagebuch Spenglers Untergang des Abendlandes an die Seite und beschrieb beide als symptomatisch für „gewisse geistige Umwäl­ zungen“146 der Zeit. Wie Spengler eigentlich studierter Naturwissenschaftler, beschäftigte sich auch Keyserling mit geschichts- und kulturphilosophischen Fragen. Sein Reisetagebuch, das die Erlebnisse einer tatsächlichen Weltreise stilisiert verarbeitet und bereits vor Kriegsbeginn weitgehend abgeschlossen war, steht im Zeichen einer sich bereits länger ankündigenden Wendung zur Metaphysik. Bei Keyserling ist der kulturkritische Diskurs präsent in der Klage über die allgemeine Zersplitterung der modernen westlichen Lebenswelt, der er als positives Orientierungsideal ein Bild der östlich-asiatischen Kulturformen gegenüberstellt.147 Der auf den ersten Blick offensichtliche Widerspruch des Reisetagebuches, die Ausbreitung abstrakter theoretischer Zusammenhänge im wissenschaftlichen Vokabular bei gleichzeitig propagiertem Willen zum unmit­ telbaren Kulturerlebnis, ist für Keyserling überhaupt keiner. Ebenso wie er Philosophie und Metaphysik synonym begreift, kann auch Wissenschaft Lite­ ratur sein.148 Durch die Anlehnung an die Gattung des Tagebuchs müssen dementsprechend auch autobiographische Mitteilungen hier nicht verschlüsselt werden. Ziel der Reise ist die innere Selbstfindung und -verwirklichung, die Keyserling seinen Lesern weniger im Sinne „einer theoretisch-möglichen Welt­ anschauung, als einer praktisch-erreichbaren Bewusstseinslage“ anempfiehlt, in der „unüberbrückbare Gegensätze verschmelzen und vieles einen neuen, volle­ ren Sinn erhält.“149 Obwohl sich bei Keyserling dabei typische Merkmale der Weltanschauungsliteratur finden, seine monologisch-dozierende Welterklärung durchgehend antithetische Konstruktion, geschichtsphilosophische Spekulati­

146

147

148

149

tentagung an der Christlichen Universität Partium, Großwardein / Nagyvárad / Oradea, 8.–9. September 2016. Hg. von Andrea Bánffi-Benedek u. a. Wien 2018, S. 204–217). Troeltsch: Hermann Graf Keyserling (Anm. 34), S. 484. In der Konkretisierung dieser ‚Umwälzungen‘ umschreibt Troeltsch recht präzise die Entwicklungen, auf denen die Konjunktur weltanschauungsliterarischer Schriften im frühen 20. Jahrhundert beruht. Troeltsch konstatiert „die Abwendung von der herkömmlichen Exaktheit und Metho­ dik, von der Schulmäßigkeit der Philologie und Historie, von der wesentlich kausalen und rationellen zu einer intuitiven und beschreibenden Psychologie, zu phantasierei­ cher Synthese und Deutung, zu Metaphysik und religiöser Spekulation“ (ebd.). Vgl. hierzu Ute Gahlings: Hermann Graf Keyserling – ein Lebensphilosoph. Zu einem Werk zwischen Erkenntnistheorie, Kulturkritik und Metaphysik. In: Baltisches Welter­ lebnis. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyserling. Beiträge eines internationalen Symposions in Tartu vom 19. bis 21. Septem­ ber 2003. Hg. von Michael Schwidtal und Jaan Undusk. Heidelberg 2007, S. 351–366. Vgl. den einleitenden programmatisch Hinweis, man solle trotz der Fülle an objektiver Darstellung und abstrakter Betrachtung das Tagebuch „lesen, wie einen Roman“ (Her­ mann Graf Keyserling: Das Reisetagebuch eines Philosophen. Bd. 1. Darmstadt 1920, S. XXX). Troeltsch bescheinigte Keyserlings Reisetagebuch trotz Abwendung von der exakten Methode im Vergleich zu Spengler einen „strenger wissenschaftlichen Grund­ charakter“ (Troeltsch: Hermann Graf Keyserling [Anm. 34], S. 484). Keyserling: Das Reisetagebuch (Anm. 148), S. XXXI.

75

on, eklektizistische Theoriebildung und Analogiedenken verbindet,150 nähert sich das Reisetagebuch in der Suche nach spiritueller Erleuchtung und der ‚plas­ tischen Seele‘ in weiten Teilen eher einem esoterischen Lebensratgeber an. Keyserlings Neigung zum ausführlichen Vortrag fällt Thomas Mann bei einem persönlichen Besuch zum Tee im Herbst 1919 besonders auf, er findet ihn „gefräßig und gesprächig.“151 Bereits zuvor hatte er auf eine Rezensionsan­ frage hin im Reisetagebuch eines Philosophen gelesen, allerdings ohne besonde­ re Begeisterung.152 Auf den ersten Blick erscheint ihm Ende März 1919 das Werk „ein gewaltig dickes Buch, aber auch reich an Gehalt“153 zu sein. Erst vier Monate später beginnt er die „Lektüre des großen Keyserling“, zwar mit Pflichtbewusstsein, aber „ohne allzu viel Interesse.“154 Obwohl ihm das Reise­ tagebuch dann kurzzeitig „doch Freude“155 macht, liest er wenig später nur noch „mit Überschlagungen.“156 Noch unter Eindruck der Spengler-Lektüre stehend ist ihm Keyserling im Vergleich „oft unerträglich weltmännisch“157. Angesichts dieser eher gequälten Lektüre erscheint es zunächst verwunderlich, dass Thomas Mann das Reisetagebuch regelmäßig den intellektualen Romanen Gundolfs, Spenglers und Bertrams an die Seite stellt. Grund dafür könnte eine doppelte und übertragende Betrachtung von Keyserling als reisendem Philosophen einerseits und als kulturpolitischem Essayisten andererseits sein. Von letzterem ist Thomas Mann durchaus angetan, Deutschlands wahre politische Mission158 liest er im Mai 1919 „voller Zustimmung und Freude“ und markiert sich „vieles wahr und glücklich Gedachte und zur rechten Stunde Gesagte“159. Ähnlich sympathisch ist ihm auch Keyserlings Was uns not tut. Was ich will160 aus demselben Jahr.161 Vor allem in dessen „Ablehnung der parlamentarischen

150

151 152 153 154 155 156 157 158 159

160 161

76

Vgl. exemplarisch: „Der Kampf der Künstler um Anerkennung, der Staaten um Macht, der Menschheit um Ideale ist eine Form unter anderen des allgemeinen Kampfes um Dasein, und der Fortschritt ein biologischer Prozess, der überall seine Parallelen findet“ (ebd. S. 350f.). Eintrag vom 21. Oktober 1919. In: Mann: Tagebücher 1918–1921 (Anm. 9), S. 308. Thomas Manns Keyserling-Exemplar ist leider nicht im Züricher Archiv erhalten. Eintrag vom 31. März 1919. In: Mann: Tagebücher 1918–1921 (Anm. 9), S. 182. Eintrag vom 26. Juli 1919, ebd., S. 284. Eintrag vom 27. Juli 1919, ebd., S. 285. Eintrag vom 15. August 1919, ebd., S. 295. Eintrag vom 14. August 1919, ebd., S. 294. Graf Hermann [sic] Keyserling: Deutschlands wahre politische Mission. Darmstadt 1919. Eintrag vom 18. Mai 1919. In: Mann: Tagebücher 1918–1921 (Anm. 9), S. 240. Diese Schrift ist es auch, die ihn erst ermutigt, das Reisetagebuch doch noch aufzuschlagen (vgl. ebd.). Graf Hermann [sic] Keyserling: Was uns not tut. Was ich will. Darmstadt 1919. Vgl. den Eintrag vom 17. Dezember 1919. In: Mann: Tagebücher 1918–1921 (Anm. 9), S. 345. Zu Manns Auseinandersetzung mit den kulturpolitischen Schriften Keyserlings vgl. Lehnert und Wessel: Nihilismus und Menschenfreundlichkeit (Anm. 143), S. 37–45.

Demokratie, überhaupt der Politik, für Deutschland“162 sowie im Plädoyer für eine Art sozialistischen Obrigkeitsstaat ohne diktatorische Elemente kann er sich zu diesem Zeitpunkt wiederfinden. Auf die beiden Essays bezieht sich Thomas Mann dann auch in seinen Klärungen. Offener Brief an Hermann Grafen Keyserling (1920), wobei ihm Keyserlings Formel von einer „neue[n] Synthese von Geist und Seele“163 vor allen Dingen einen willkommenen Anknüpfungspunkt für eine Verteidigung und Neuinterpretation, „gewissermaßen ein Nach­ wort“164 seiner Betrachtungen liefert. Insofern könnte die Zustimmung zum ‚Gesinnungsmäßigen‘, das in Keyser­ lings politischen Essays der Nachkriegszeit stärker weltanschaulich ausgeprägt und national profiliert ist als im Reisetagebuch, gemeinsam mit der Beobach­ tung struktureller Parallelen zu den Büchern Gundolfs, Bertrams und Spenglers dazu geführt haben, dass Keyserlings Hauptwerk so lange auf der Liste der intellektualen Romane bleiben konnte, dort aber an letzter Stelle rangierte.165

2. „Wir finden in Büchern immer nur uns selbst“166. Ein fragwürdiger Familienanschluss Die skizzierten Rezeptionsprozesse zeigen, dass Thomas Manns Überlegungen zum intellektualen Roman vor allem in der Phase seiner Beschäftigung mit Bertrams Nietzsche und Spenglers Untergang des Abendlandes zwischen Herbst 1918 und Sommer 1919 zu einer Vorstellung des Typischen ausgereift sind. 162 163 164

165

166

Mann an Paul Eltzbacher, Brief vom 31. Juni 1919. In: Mann: Briefe II 1914–1923 (Anm. 11), S. 296. Keyserling: Was uns not tut (Anm. 160), S. 11. Eintrag vom 30. Dezember 1919. In: Mann: Tagebücher 1918–1921 (Anm. 9), S. 353. Jürgen Eder hat diesen offenen Brief ausgewählt, um über eine Rekonstruktion der Ent­ stehung grundsätzliche Routinen in Thomas Manns essayistischem Schreibprozess zu identifizieren (vgl. Jürgen Eder: Allerlei Allotria. Grundzüge und Quellen der Essayistik bei Thomas Mann. Bonn 1993, S. 88–93). Vgl. die Vorschläge Thomas Manns zur Verleihung des Preises der Nietzsche-Akademie im Brief an Adalbert Oehler vom 2. September 1919. In: Mann: Briefe II 1914–1923 (Anm. 11), S. 308. An erster Stelle steht Spenglers Untergang des Abendlandes, „mit be­ trächtlichem Abstand“ folgen Gundolfs Goethe, Vaihingers Philosophie des Als Ob und zuletzt Keyserlings „geistig sehr reiches, wenn auch etwas weltmännisch-dilettantisches Buch“, bei welchem man im Falle einer Auszeichnung nicht vergessen solle, auch Keyserlings „kleine[r] Schrift ‚Deutschlands wahre politische Mission‘ zu gedenken“ (ebd.). Bertrams Nietzsche-Buch war gemeinsam mit Manns Betrachtungen bereits 1918 ausgezeichnet worden. Zu den verschiedenen Möglichkeiten, das weltanschauliche Be­ kenntnis von der autobiographischen Stilisierung textuell abzukoppeln vgl. Horst Tho­ mé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen 2002, S. 338–380, hier, S. 364. Mann an Ida Boy-Ed, Brief vom 28. April 1917. In: Mann: Briefe II 1914–1923 (Anm. 11), S. 188.

77

Gundolfs Goethe konnte er diesem Buchtypus rückwirkend zuordnen, die recht oberflächliche Lektüre von Keyserlings Reisetagebuch wiederum lässt darauf schließen, dass diesem Werk eher als einem allgemein exemplifizierenden denn als einem konzeptuell entscheidenden Bedeutung zukam. Bei Bertram war Thomas Mann eine „Mischung aus Philologie und Musik im Grundwesen“167 aufgefallen, die ihn im Rückbezug auf Gundolfs Goethe-Buch ein neues Ni­ veau in der Verbindung von „Intuition und Geistigkeit“168 zunächst in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung ausmachen ließ. Welche Möglichkei­ ten der allgemeine Trend einer Verschmelzung von Wissenschaft und Literatur eröffnete, demonstrierte ihm besonders eindrucksvoll Spenglers Untergang des Abendlandes, unter diesem Lektüreerlebnis verdichten sich Manns Beobachtun­ gen zum Konzept und Begriff des intellektualen Romans. Die Traditionsan­ bindung dieser Gattung an die ‚Erkenntnislyrik‘ Nietzsches konnte Thomas Mann vor allem an Bertrams Buch und über den darin gedeuteten Nietzsche, das Schopenhauersche Kreisen um den einen, alles durchdringenden Gedan­ ken wiederum bei Spengler sinnfällig werden. Konkrete weltanschauungslite­ rarische Konzeptions- und rhetorische Verfahrensweisen waren an allen vier Werken zu studieren. Die Verfasser inszenieren jeweils einen antithetisch struk­ turierten Kampf der Prinzipien, den sie auf die Geschichte projizieren und mittels kühner Analogiebildung und bloßer Behauptung zu einem umfassen­ den Weltentwurf ausbreiten, dessen Geltung durch Strategien der pseudoempi­ rischen Beweisführung und Selbststilisierung als unumstößlich dargestellt wird. Dabei ist die Radikalität und Aggressivität des weltanschaulichen Gehalts wie der Rhetorik bei Bertram und vor allem bei Spengler stärker ausgeprägt als in den Werken Gundolfs und Keyserlings. Die Faszination des intellektualen Romans äußert sich bei Mann vor allem in der Bewunderung für den Mut zur synthetisierenden Totalperspektive, ihn beeindruckt „die superiore Strenge der Überschau, des Ordnens und Wertens“169. Damit ist das wichtigste Angebot der Weltanschauungsliteratur beschrieben, die Krisenbewältigung in chaotischen Zeiten. Wie sich in Weltanschauungstexten die Bewältigung regelmäßig als eine scheinbare, eine rhetorisch erzwungene herausstellt, hinter der die Krise bewusst bleibt, so zeigt Manns Bewunderung wiederum an, dass er selbst dieses Krisenbewusstsein teilt. Die Bestimmung des intellektualen Romans weist Thomas Mann als auf­ merksamen Beobachter seiner Gegenwart aus, sie steht aber zugleich auch im Dienst einer Selbstbeobachtung und Selbstvergewisserung. In der Weltanschau­ ungsliteratur konnte Mann nicht nur den symptomatischen Buchtypus seiner Zeit, sondern auch Verfahren entdecken, die ihm selbst nicht fremd waren. Seine Überlegungen zum intellektualen Roman stehen in Zusammenhang 167 168 169

78

Mann an Ernst Bertram, Brief vom 21. September 1918 (ebd., S. 251). Ebd., S. 253. Mann: Anzeige eines Fontane-Buches (Anm. 15), S. 261.

mit der Suche nach einer ‚Gattungsfamilie‘ für die Betrachtungen eines Unpoliti­ schen, diese „12 Kapitel, Politik, Moral, Kunst, Philosophie, Autobiographie, ein Ragout sondergleichen, ein Ding ohne Genre, nie dagewesen.“170 Manns wiederholte Bemühungen, seinen „Betrachtungsroman“171 den besprochenen intellektualen Romanen geschwisterlich an die Seite zu stellen, beruhen dabei auf der Wahrnehmung einer Gattungsnähe, die familiäre Verbindung schien außerdem noch enger, wenn man darüber hinaus auch ‚gesinnungsmäßig‘ übereinstimmte (Bertram) oder übereinzustimmen schien (Spengler). Indem er den intellektualen Roman als Buchtypus würdigte, ergriff Thomas Mann also auch die Gelegenheit, seinen eigenen kulturkriegerischen Rundumschlag als Teil einer zeitgemäßen Entwicklung zu begreifen und in der „Epoche des guten deutschen Buches“172 unterzubringen. Wie die Thomas-Mann-Forschung immer wieder zeigen konnte, ist diese Selbstverortung im weltanschauungsliterarischen Umfeld für das nichtfiktiona­ le Werk an vielen Stellen durchaus begründet. Als Essayist hat sich Thomas Mann häufig Strategien der assoziativen Verknüpfung und Enthistorisierung bedient,173 den geschichtlichen Überblick bis in die späten Essays etwa bevor­ zugt über eine Kanonisierung großer Männer hergestellt, welche die Selbstka­ nonisierung zugleich einschloss.174 Der Wunsch nach Zusammenschau durch den allumfassenden gedanklichen Entwurf ist insbesondere aus den zivilisati­ 170

171 172 173 174

Mann an Paul Amann, Brief vom 2. März 1918. In: Mann: Briefe II 1914–1923 (Anm. 11), S. 225. Die Gattungssuche ist schließlich selbst Teil der Betrachtungen gewor­ den. In der Vorrede bemüht sich Mann um eine Zuordnung und laviert in mehreren Anläufen zwischen dem Anspruch auf objektiv-systematische Beschreibung der Proble­ me seiner Zeit einerseits und dem Willen zum unmittelbaren Ausdruck angegriffenen Künstlertums in dieser Zeit andererseits, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Die Betrachtungen sind ihm „Erguß oder […] Memorandum, ein Inventar, ein Diarium oder eine Chronik“ und nur „mit halbem Recht […] als Komposition und Werk“ zu bezeichnen (Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. Hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke. Frankfurt am Main 2009 [Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 13,1], S. 11f.). Diese nachträglich zum Haupttext verfasste Vorrede lässt sich in ihrer Unsicherheit als „eine fast resignative Kommentierung der Gesamtanlage“ betrachten (Alexander Honold: Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Thomas-Mann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Andreas Blödorn und Friedhelm Marx. Stuttgart 2015, S. 156–162, hier S. 158). Dass es aber auch gute Gründe gibt, in der Selbstkritik und -verkleinerung hier einfach einen rhetorischen Gestus zu sehen, zeigt Hermann Kurzke: Immer auf dem Balkon? Thomas Manns Selbstinszenie­ rung in den Betrachtungen eine Unpolitischen. In: Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann. Hg. von Michael Ansel, Hans-Edwin Friedrich und Gerhard Lauer. Berlin 2009, S. 411–420. Mann an Conrad Wandrey, Brief vom 24. Juni 1922. In: Heißerer: „O über den alten Puppenspieler!“ (Anm. 37), S. 196. Mann: Anzeige eines Fontane-Buches (Anm. 15), S. 261. Vgl. Beßlich: Wege in den ‚Kulturkrieg‘ (Anm. 15), S. 176–190. Vgl. Dirk Werle: Große Männer. Zur Entfaltung einer Topik in Thomas Manns essayis­ tischen Schriften. In: Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die Klassische Moderne. Hg. von Stefan Börnchen und Claudia Liebrand. München 2008, S. 243–265.

79

onskritischen Schriften herauszulesen und führt dort nicht selten zu argumen­ tativen Widersprüchen – am deutlichsten sicherlich in der „Antithesenwelt“175 der Betrachtungen, in denen sich Kombinationslust und -leid als ein nie gelin­ gen wollendes Ringen um die Synthese äußern. Die Betrachtungen integrieren auf virtuose Weise Fremdtexte als offene oder verschleierte Zitate, ihre Materi­ alvielfalt ist eine quellenphilologische Herausforderung. An dieser Stelle sei immerhin beigetragen, dass es sich bei dem von Hermann Kurzke bisher nicht identifizierten „zeitgenössische[n] Denker“176, auf den sich Mann zur Verteidi­ gung seines Verständnisses eines schriftstellerischen ‚Zeitdienstes‘ beruft, um Arthur Bonus handelt, einen evangelischen Pfarrer und Publizisten, der ein germanisiertes Christentum propagierte, und dessen Schriften Thomas Mann über Ernst Bertram kennengelernt haben dürfte. Die von Mann zitierte Passage stammt aus dem 1915 erschienenen Artikel Hexenprozesse.177 Ein neuer Sammelband zu den Betrachtungen hat eine eigene Abteilung dem diskursgeschichtlichen Kontext gewidmet. Matthias Löwe untersucht in seinem Beitrag, inwieweit Manns Text der Weltanschauungsliteratur im Sinne Thomés zugerechnet werden kann, und kommt zu dem Ergebnis: „Manns Betrachtungen stehen fraglos auf dem Boden der Weltanschauungsliteratur, aber gleichsam nur mit einem Bein.“178 Zwar konstruiere Thomas Mann über die Inszenierung 175

176

177 178

80

Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung. 3., erneut überarbeitete Auflage. München 1997, S. 153. Helmut Koopmann betont vor allem die Inkonsistenz der Argumentation: „Sieht man das Hin und Her in den Gedankengängen, die Brüche in der Perspektive und Darstellungsstrategie, das rhetorische Drumherum, die denkeri­ schen Turbulenzen etwa der ‚Betrachtungen eines Unpolitischen‘, das eigentümlich Un­ logische der Darstellung, das Jonglieren mit Vorstellungen ad libitum aus der Sicht der strengen und systematischen Philosophie, dann muß das zwar alles wie ein hoffnungs­ los dilettantisches Unternehmen erscheinen, das eingängig war gerade wegen dieses Dilettantismus, das aber über einen gewissen belletristischen Essayismus nicht hinauszu­ kommen vermochte“ (Helmut Koopmann: Philosophischer Roman oder romanhafte Philosophie? Zu Thomas Manns lebensphilosophischer Orientierung in den zwanziger Jahren. In: Ders.: Der schwierige Deutsche. Studien zum Werk Thomas Manns. Tübin­ gen 1988, S. 21–37, hier S. 22). Zum strukturbildenden Verfahren der Zitatmontage in den Betrachtungen vgl. Hermann Kurzkes Ausführungen zur Quellenlage in: Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. Kommentar von Hermann Kurzke. Frank­ furt am Main 2009 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 13,2), S. 56–82. Mann: Betrachtungen [Anm. 170], S. 23. Kurzke berichtet, Michael Freund habe das Zitat inhaltlich plausibel, aber ohne Textbeleg auf Georges Sorel bezogen (vgl. Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. Kommentar [Anm. 175], S. 152). Vgl. zur Suche nach dem ‚zeitgenössischen Denker‘ zudem Wulf Rehder, der ebenfalls verschiedene Kandidaten durchspielt (Wulf Rehder: Quisquilien zu Thomas Mann. Glossen und Gedankenkrümel. Hamburg 2017, S. 124–130). Vgl. Arthur Bonus: Hexenprozesse. In: März. Eine Wochenschrift 9 (1915), Band 4 (Okto­ ber bis Dezember), S. 243–251, Thomas Mann zitiert S. 248f. Matthias Löwe: „Lebenswende“ als „Weltwende“: Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen im Kontext der Weltanschauungsliteratur. In: Thomas Manns „Betrach­ tungen eines Unpolitischen“ nach 100 Jahren. Neue Perspektiven und Kontexte. Hg. von Erik Schilling. Frankfurt am Main 2020, S. 33–46, hier S. 44. Erik Schilling greift hingegen Manns eigene Überlegungen zur Gattungszugehörigkeit der Betrachtungen auf

des elitären Künstlers einen privilegierten Beobachterstandpunkt und veran­ schauliche seine behauptungsstarken polemischen Thesen durch pseudoempiri­ sche Belege aus dem ‚realen Leben‘ sowie scheinobjektive Einschübe aus der wissenschaftlichen Diskussion, gleichzeitig erweise sich das sprechende Ich in den Betrachtungen aber als ein zweifelndes, nicht selbstgewiss genug, um eine weltanschaulich überzeugte Gemeinde anzuwerben und anzuführen. Der Befund Löwes unterstreicht mit Blick auf die Produktionsseite, dass das Verhältnis Thomas Manns zur Weltanschauungsliteratur seiner Zeit ein zwiegespaltenes war. Während die Bewunderung des Lesers Mann für die Möglichkeiten des intellektualen Romans die Kritik eines konkreten Textes nicht ausschließt, zeigt der Weltanschauungsessayist Mann zwar deutliche Am­ bitionen, schreckt aber vor der letzten Konsequenz zurück. Das verdeutlichen bereits die frühen essayistischen Versuche, die Thomas Mann zwischen 1908 und 1912 zu einer „große[n] Abhandlung über Geist und Kunst, Kritik und Plas­ tik, Erkenntnis und Schönheit, Wissen und Schöpfertum, Zivilisation und Kultur, Vernunft und Dämonie“179 unternommen hatte. Sie zeugen in der programma­ tischen Parallelführung heterogener Dichotomien aus sehr unterschiedlichen Geistestraditionen vor allem von der „holistische[n] Sehnsucht nach einem intellektuellen System, das befähigt, all diese Spannungen zu integrieren“180. Als Essayist scheitert Thomas Mann an Geist und Kunst181, die Abhandlung bleibt Fragment. Gleichwohl wird das Notizenkonvolut zum Materialfundus

179

180

181

und schlägt auf Grundlage einer narratologischen Analyse vor, den Text wegen seiner Vielstimmigkeit bei gleichzeitiger Identität von Erzähler und Autor als polyphonen Essay zu behandeln (vgl. Erik Schilling: Wer spricht? Gattungstheoretische und narrato­ logische Überlegungen zu Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ nach 100 Jahren. Neue Perspektiven und Kontexte. Hg. von dems. Frankfurt am Main 2020, S. 47–61). Thomas Mann: Der Literat [1913]. In: Ders.: Essays I 1893–1914. Hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering. Frankfurt am Main 2002 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 14,1), S. 354–362, hier S. 354. Barbara Beßlich: Kulturtheoretische Irritationen zwischen Literatur und Wissenschaft. Die Spengler-Debatte in der Weimarer Republik als Streit um eine Textsorte. In: Jahr­ buch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 10 (2005/2006), S. 45–72, hier S. 57. Diese Sehnsucht zeigt sich bis ins graphische Detail, etwa an einem Notizblatt zu Geist und Kunst, auf dem Thomas Mann die Fülle möglicher „Gegensätze“ klärend aufzulisten und durch gewundene Trennlinien abzugrenzen versucht. Die Notiz ist abgebildet in: Thomas Mann. Ein Leben in Bildern. Hg. von Hans Wysling und Yvonne Schmidlin. Zürich 1994, S. 185. Thomas Mann: „Geist und Kunst“. Thomas Manns Notizen zu einem „Literatur“-Essay. Ediert und kommentiert von Hans Wysling. In: Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns. Hg. von Paul Scherrer und Hans Wysling. Bern und München 22008, S. 123–233.

81

für den Epiker. Im Tod in Venedig präsentiert er Aschenbach als Verfasser einer „leidenschaftlichen Abhandlung über ‚Geist und Kunst‘“182. Dieses transformatorische Wechselspiel zwischen essayistischem und erzäh­ lendem Werk ist insgesamt kennzeichnend für Thomas Mann.183 Auch in die großen Weltanschauungsdiskussionen, die Naphta und Settembrini auf dem Zauberberg inszenieren, fließen Thomas Manns eigene Ideen und seine Erfah­ rungen als (gescheiterter) Weltanschauungsliterat ein, und zwar auf beiden Seiten.184 Die Bedingungen der fiktionalen Welt schaffen allerdings die Mög­ lichkeit, aus der antithetischen Verwirrung ein experimentelles „Ideenspiel“185 entstehen zu lassen. Da Thomas Mann den intellektualen Romans typologisch bestimmt hat, ist zugleich zu vermuten, dass der Zauberberg nicht nur auf Spengler-, Bertram- oder eben Mann-Texte referiert, sondern auch generell auf den Texttypus Weltanschauungsliteratur.

3. Die ‚große Konfusion‘. Weltanschauungsdispute auf dem Zauberberg Die großen weltanschaulichen Debatten im Zauberberg finden sich in ihrer dichtesten Form im sechsten Kapitel, vor allem in den beiden Abschnitten Vom Gottesstaat und von übler Erlösung und Operationes spirituales. Hier tritt über wei­ te Strecken die narrative Vermittlung des Geschehens zugunsten ausgedehnter Streitgespräche zwischen Naphta und Settembrini zurück. Die radikalen The­ sen des Jesuiten, in denen sich mittelalterlich-scholastisches Ordo-Denken und kommunistische Utopie vereinen, werden hier dem antikisierenden Humanis­ mus des selbsternannten Aufklärers und Fortschrittsoptimisten Settembrini ge­ genübergestellt. Insbesondere mit Naphta hat sich die Forschung eingehend beschäftigt und in seinem intellektuellen Profil eine Ansammlung unterschiedlicher, ideolo­ gisch widersprüchlicher Konzepte erkannt, „die sich gegenseitig bis zur Un­

182

183

184

185

82

Thomas Mann: Der Tod in Venedig. In: Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. und textkri­ tisch durchgesehen von Terence Reed. Frankfurt am Main 2004 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 2,1), S. 508. Vgl. Rolf Günter Renner: Literarästhetische, kulturkritische und autobiographische Es­ sayistik. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. Frankfurt am Main 32005, S. 632–635. Vgl. Herbert Lehnert: Leo Naphta und sein Autor. In: Orbis Litterarum 37 (1982), S. 47–69. Hans Wysling: Der Zauberberg. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. Frankfurt am Main 32005, S. 404. Friedrich Vollhardt: Kultur / Zivilisation. Weltanschauliche Denkmuster in Thomas Manns Essay und im Roman Der Zauberberg. In: Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ nach 100 Jahren. Neue Perspektiven und Kontexte. Hg. von Erik Schilling. Frankfurt am Main 2020, S. 15–31. Eckhard Heftrich: Zauberbergmusik. Über Thomas Mann. Frankfurt am Main 1975, S. 16.

kenntlichkeit überlagern“186. Aber auch für Naphtas Gegenspieler Settembrini konnte gezeigt werden, dass seine Weltanschauung aus vielfältigen Quellen gespeist wird.187 Diejenigen quellenkritischen Untersuchungen, die auch auf die Theoriebildungs- und Argumentationsverfahren eingehen, haben darauf hingewiesen, dass sich die für beide Rhetoriker im Zauberberg typische, beson­ ders aber von Naphta betriebene Kombination widersprüchlichster Theorien auf mehrere Vorbilder zurückführen lässt.188 Zusammen mit Thomas Manns Überlegungen zum intellektualen Roman legen deshalb auch diese Forschungs­ ergebnisse nahe, dass es sich hier über Bezüge auf Einzeltexte hinaus auch um 186

187

188

Wißkirchen: Zeitgeschichte im Roman (Anm. 3), S. 83. Wißkirchen belegt die verschie­ denen Quellen Thomas Manns für Naphtas Wissenschaftskritik, seiner Kombination von Mittelalter und Kommunismus und den Ideen der konservativen Revolution (vgl. ebd. S. 56–82). Zu Georg Lukàcs als Vorbild für die äußeren Züge der Figur vgl. Judith Marcus-Tar: Thomas Mann und Georg Lukàcs. Beziehung, Einfluß und „repräsentative Gegensätzlichkeit“. Köln und Wien 1982, S. 54–159. Neben Lukàcs identifiziert Gerhard Loose auch den Kosmiker Ludwig Derleth sowie Paul Nikolaus Cossmann und Carl Schmitt in Naphta (vgl. Gerhard Loose: Über das Verhältnis von Prototyp und dichteri­ scher Gestalt in Thomas Manns „Zauberberg“. In: Klaus Peter, Dirk Grathoff, Charles N. Hayes und Gerhard Loose: Ideologiekritische Studien zur Literatur. Essays I. Frank­ furt am Main 1972, S. 215–250). Auf Carl Schmitt, aber auch Oswald Spengler weist Toni Tholen hin (vgl. Toni Tholen: Neues vom Dunkelmann Leo Naphta. In: Heinrich Mann-Jahrbuch 8 [1990], S. 81–99). Zu Spengler vgl. außerdem Barbara Beßlich: „Das wichtigste Buch!“ Zu Thomas Manns Spengler-Rezeption im Zauberberg. In: Linke und rechte Kulturkritik. Interdiskursivität und Krisenbewußtsein. Hg v. Gilbert Merlio und Gérard Raulet. Frankfurt am Main 2005, S. 267–285. Den Brandes-Einfluss untersucht Steven Cerf: Thomas Mann’s Leo Naphta: Echoes of Brandesian Intellectual History and Biography. In: Seminar 25 (1989), S. 223–227. Herbert Lehnert wiederum setzt die ideologischen Versatzstücke, die Naphta kombiniert, jeweils in Bezug zu Thomas Manns eigenen Positionen (vgl. Lehnert: Leo Naphta [Anm. 184]). Für Settembrini betont Wißkirchen vor allem die Bedeutung von Thomas Manns Bild des typischen ‚Zivilisationsliteraten‘ und verweist auf Giuseppe Mazzini als Quelle. Ebenfalls im Hintergrund der Settembrini-Figur, vor allem als Zitatlieferanten, stehen Nietzsche, Heine, Schopenhauer und Novalis (vgl. Hans Wißkirchen: „Ich glaube an den Fortschritt, gewiß“. Quellenkritische Untersuchung zu Thomas Manns SettembriniFigur. In: Das „Zauberberg“-Symposium 1994 in Davos. Hg. von Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 1995, S. 81–116). Daniel Jütte bringt Bernardino Zendrini ins Spiel (vgl. Daniel Jütte: „Placet experiri“. Ein unbekanntes Vorbild für Lodovico Settembrini. In: Thomas Mann Jahrbuch 20 (2007), S. 209–215). Roberto Zapperi wiederum verweist auf den historischen Namensvetter, den neapolitanischen Schriftsteller und Politiker Luigi Settembrini (vgl. Roberto Zapperi: Thomas Mann und Luigi Settembrini. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 8 [2015], Heft 1: Apokalypse gestern. Hg. von Carsten Dutt und Martial Staub, S. 59–72). So sieht etwa Bernhard Böschenstein die Argumentationsweisen Naphtas und Settem­ brinis „Bertrams Kombinatorik nicht fern stehen“ (Böschenstein: Ernst Bertram und der „Zauberberg“ [Anm. 110], S. 306) und Barbara Beßlich verweist auf Spengler als ein Vorbild für „Naphtas Changieren zwischen den Extremen, sein Spiel mit dem Paradox“ (Beßlich: Faszination des Verfalls [Anm. 5], S. 104). Dittrich findet in seiner epistemolo­ gischen Untersuchung der Streitgespräche zwischen Naphta und Settembrini argumen­ tative Züge aus Haeckels Welträtseln bei beiden Kontrahenten (vgl. Andreas Dittrich: Glauben, Wissen, Sagen. Studien zu Wissen und Wissenskritik im ‚Zauberberg‘, in den ‚Schlafwandlern‘ und im ‚Mann ohne Eigenschaften‘. Tübingen 2009, S. 139–203).

83

eine generelle Referenz auf die argumentativen und rhetorischen Verfahrens­ weisen der Weltanschauungsliteratur handelt. a) Wissensdemonstration Ludovico Settembrini und Leo Naphta nehmen eine besondere Stellung im Figurenensemble des Zauberbergs ein. Beide verfügen über eine umfassende Bildung und sind damit den anderen Patienten des Sanatoriums Berghof intel­ lektuell weit überlegen. Das Bildungsgefälle wird im Roman herausgestrichen – dann etwa, wenn Hans Castorp im Gespräch mit Settembrini das Erdbeben von Lissabon auch nach mehreren Anläufen nicht zuordnen kann (vgl. ZB, 379f.), die mythologischen Anspielungen seines Mentors missversteht (vgl. ZB, 536) oder die von Naphta vorgestellte Schrift Innozenz des Dritten nicht kennt (vgl. ZB, 594) und regelmäßig „genötigt war, zu gestehen, das sei das erste, was er höre“ (ZB, 379). Mit komödiantischer Überdeutlichkeit kann sich diese intellektuelle Überlegenheit auf dem Zauberberg natürlich in Szenen entfalten, in denen Settembrini im Geplänkel mit der ordinären Frau Stöhr brillieren kann (vgl. ZB, 229–232). Sowohl Naphta als auch Settembrini verfügen über das Register der Gelehr­ tensprache und operieren mühelos mit abstrakten Theoremen und Begrifflich­ keiten. Eine Vorliebe Naphtas äußert sich darin, lateinische Wendungen und Zitate in seine Vorträge einzuflechten. So belehrt er Castorp in einer kunst­ geschichtlichen Ausführung über Mittelalter und Gotik, „Signum mortificatio­ nis“ (ZB, 594), oder doziert über den sich „in statu degradationis“ (ZB, 683) befindenden menschlichen Leib.189 Naphta nimmt die Rolle des Gelehrten, als den Settembrini ihn vorstellt (vgl. ZB, 567), durchaus an und spricht aus dieser Pose heraus. Umso paradoxer erscheint es dann, dass Naphta einerseits zwar den Intellekt diskreditiert (vgl. ZB, 599), sich andererseits aber mit seiner scharfen Dialektik immer wieder auf intellektuelle Diskurse beruft oder als Theologe und rhetorisch gewandter „Professor der alten Sprachen“ (ZB, 567) gegen den „latinistische[n] Windbeutel“ (ZB, 787) wettert und den Analphabe­ tismus feiert.190 In den großen Kolloquien begegnen sich Naphta und Settembrini auf einer intellektuellen Ebene, während die restlichen Anwesenden der Runde zu Zuhörern degradiert werden, und allenfalls Castorp sich ab und an in das 189 190

84

Vgl. auch ZB, 566, 577. Settembrini, als „homo humanus“ (ZB, 93), legt ebenfalls Wert auf die Demonstration seines humanistischen Bildungslateins. Vgl. auch Albrecht Claassen: Der Kampf um das Mittelalter im Werk Thomas Manns: Der Zauberberg: Die menschliche Misere im Kreuzfeuer geistesgeschichtlicher Strömun­ gen. In: Studia Neophilologica 75 (2003), S. 41. Markus Lorenz: Motivische Textur als ästhetische Selbstreferenz. Zur Komposition von Thomas Manns Roman „Der Zauber­ berg“. Bonn 2006, S. 210f.

Gespräch einschaltet, dabei jedoch nie das Niveau der beiden Hauptredner erreicht und lediglich „selbstverständlich höchst Unzulängliches“ (ZB, 685) gel­ tend machen kann. Naphta und Settembrini verarbeiten immense Mengen an philosophischem und geschichtlichem Wissen und positionieren sich selbst als Vertreter einer höheren Bildungselite, wobei keiner der beiden eine Gelegen­ heit vergibt, sich als umfangreich belesen und gebildet darzustellen. So vergisst Settembrini, als Autor an einem großangelegten soziologischen Gemeinschafts­ werk beteiligt, wenn er zu Besuch kommt, natürlich nicht zu erwähnen, dass er eben noch rasch eine enzyklopädische Seite heruntergeschrieben habe (vgl. ZB, 595).191 Die Demonstration von Wissen ist hier als strategischer Zug zu verste­ hen, durch den die Fundierung und gleichzeitige Überlegenheit der jeweiligen Weltanschauung beglaubigt werden soll. Eindrücklich zeigt sich dies, wenn Naphta und Settembrini historisch argu­ mentieren, die Welt- und Geistesgeschichte durchspielen und ihren jeweiligen Ordnungsschemata unterwerfen.192 In den historischen Argumentationen der beiden dominieren zwei Verfahren, zum einen das selektive Herausgreifen einzelner Epochen, die in Opposition zueinander gestellt werden, zum ande­ ren das Nachzeichnen großer Linien, das eine kontinuierliche Entwicklung suggerieren soll. Diese Vorgehensweisen, die sich in den Debatten generell abzeichnen, zeigen sich bereits in der ersten Diskussion. Die Redner kommen auf Mittelalter und Antike zu sprechen, streifen das 18. Jahrhundert und die Aufklärung ebenso wie die Gegenreformation, schwenken schließlich zu einer Erörterung der tagesaktuellen politischen Lage über, um dann erneut auf das Mittelalter zurückzugreifen (vgl. ZB, 565–580). Das Anzitieren bestimm­ 191

192

Settembrini ist Mitglied der „Liga für Organisierung des Fortschritts“ (ZB, 371), einem international aufgestellten, aktivistischen Weltanschauungsbund, der eine darwinistisch grundierte Fortschrittslehre propagiert und sich zur Aufgabe gesetzt hat, „das mensch­ liche Leiden durch zweckvolle soziale Arbeit zu bekämpfen und am Ende völlig aus­ zumerzen“, was auch bedeutet, den „vollkommene[n] Staat“ (ZB, 373) zu errichten. Dieses Ziel soll „mit Hilfe der soziologischen Wissenschaft“ (ebd.) erreicht werden. Das Buchprojekt, das Settembrini Castorp gelegentlich vorstellt, lässt schon in der Skizze ein mehrbändiges Werk der Gattung Weltanschauungsliteratur vermuten. Die Enzyklo­ pädie „wird also in etwa 20 Bänden von Lexikonformat alle menschlichen Leidensfälle aufführen und behandeln, die sich überhaupt denken lassen, […] sie wird, kurz gesagt, die chemischen Elemente aufzeigen, aus deren vielfältiger Mischung und Verbindung sich alles menschliche Leiden zusammensetzt, indem sie die Würde und das Glück der Menschheit zur Richtschnur nimmt, wird sie ihr in jedem Falle die Mittel und Maßnahmen an die Hand geben, die ihr zur Beseitigung der Leidensursachen angezeigt erscheinen. Berufene Fachmänner der europäischen Gelehrtenwelt, Ärzte, Volkswirte und Psychologen, werden sich in die Ausarbeitung dieser Enzyklopädie der Leiden teilen, und das General-Redaktionsbureau zu Lugano wird das Sammelbecken sein, in dem die Artikel zusammenfließen (ZB, 33f.). Thomé vermutet eine prinzipielle Nähe zwischen Formen der Nacherzählung geistesge­ schichtlicher Entwicklungen, in denen ein historisches System zu Sinnangeboten verar­ beitet wird, und dem Weltanschauungsdiskurs (vgl. Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp [Anm. 165], S. 351, Fn. 40).

85

ter Epochen und deren Gegenüberstellung193 steht neben deren Zusammen­ fassung. So untermauert Settembrini seinen Fortschrittsoptimismus mit der Evolutionsgeschichte, die er in einem Satz zusammenfasst (vgl. ZB, 578) oder schließt Naphta nach seinem Referat über die antikapitalistische Ausrichtung des Mittelalters: „Nun denn – alle diese wirtschaftlichen Grundsätze und Maß­ stäbe halten nach jahrhundertelanger Verschüttung ihre Auferstehung in der modernen Bewegung des Kommunismus“ (ZB, 608).194 Beide Formen der historischen Perspektivierung sollen Verfügungsgewalt über die Geschichte demonstrieren und den privilegierten Beobachterstandpunkt des Sprechenden bezeugen. Mithin erlaubt eine solche Betrachtung von Geschichte als Material­ fundus, letztlich jedes historische Ereignis seines Kontexts zu entheben und beliebig im Sinne der eigenen Weltanschauung zu interpretieren. Um die Kontinuität seiner Fortschrittsidee historisch zu verankern, gelingt es auf diese Weise Settembrini dann auch, die Kreuzzüge des sonst von ihm verachteten Mittelalters als „Zivilisationskriege“ (ZB, 578) zu deklarieren. In der Funktion, Wissen zu demonstrieren, steht bei Settembrini und Naph­ ta auch die Nennung großer Namen der Geistesgeschichte. Settembrini be­ ruft sich bevorzugt auf Virgil, Rousseau oder Voltaire, Naphta führt dagegen Thomas von Aquin, Fénelon oder Papst Gregor auf. Die Einführung prominen­ ter Vertreter verschiedener geistesgeschichtlicher Strömungen erfolgt neben der einfachen emblematischen Nennung zum einen durch kurze Zitate oder Paraphrasierungen,195 zum anderen oft auch in Form kleinerer anekdotenhafter Darstellungen. Im Gespräch mit Castorp evoziert Settembrini beispielsweise Plotins Leibfeindlichkeit und Voltaires angebliche ‚Empörung‘ über das Erd­ beben von Lissabon, um den Vorrang des Geistes gegenüber der Natur zu verdeutlichen (vgl. ZB, 379f.). Dabei werden die unterschiedlich motivierten Abwertungen der Natur eingeebnet, um den antiken Neuplatoniker und den französischen Rationalisten als beglaubigende Instanzen für den eigenen Stand­ punkt heranziehen und hinter sich vereinigen zu können.196

193 194

195 196

86

Vgl. zum Beispiel die Gegenüberstellung von Klassik und Romantik oder Gotik und Klassizismus durch Settembrini (ZB, 378, 596). Kennzeichnend für Naphta ist auch die Generalisierung und Verabsolutierung von Epochenetikettierungen: „Die christlichen Jahrhunderte waren völlig einig über die menschliche Unerheblichkeit der Naturwissenschaft“ (ZB, 600). Dass zeitlich ausge­ dehnte Abläufe gerafft und überschaubar dargestellt werden, ist eine in weltanschau­ ungsliterarischen Texten häufiger anzutreffende Verfahrensweise (vgl. Horst Thomé: Der Blick auf das Ganze. Zum Ursprung des Konzepts ‚Weltanschauung‘ und der Weltanschauungsliteratur. In: Aufklärungen. Zur Literaturgeschichte der Moderne. Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag. Hg. von Werner Frick u. a. Tübingen 2003, S. 387–401, hier S. 394f.). Vgl. zum Beispiel ZB, 565f. Vgl. dazu auch Joachim Schoepf: Die pädagogischen Konzepte in Thomas Manns „Zau­ berberg“ und ihre Wirkung auf die Hauptfigur Hans Castorp. Marburg 2001, S. 25.

Dieses Verfahren erweist sich zudem als Mittel der Entdifferenzierung und Veranschaulichung. Durch die Einführung bedeutender Vertreter der Geistes­ geschichte werden beim Adressaten bestimmte Bildungsreminiszenzen in Form vager Vorstellungen abgerufen, an die sich neue Informationen weltanschauli­ chen Gehalts anknüpfen lassen, ohne in die Tiefe vorzudringen zu müssen.197 Die Namen großer Persönlichkeiten stehen hier metonymisch für bestimmte theoretische Entwürfe, eine differenzierte Auseinandersetzung mit den jeweils aufgerufenen Konzepten entfällt jedoch. Vielmehr dienen die prominenten Na­ men inhaltlich entkernt als Platzhalter, um heterogene theoretische Versatzstü­ cke zu kompilieren und im Hinblick auf die eigene Idee zu synthetisieren und zu erweitern. Die Geistesgrößen werden als Kronzeugen für die eigene Weltan­ schauung herangezogen, wodurch sich diese wiederum an der Spitze einer be­ deutenden Traditionslinie verorten lässt. Dass es dabei primär darauf ankommt, solche Traditionslinien einseitig und in Ausschließlichkeit zu zementieren und entsprechend jeden Theoretiker nach einem Freund-Feind-Schema einzuord­ nen, verdeutlicht sich, als Settembrini – obwohl eigentlich kein Anhänger Lu­ thers – sofort bereit ist, ein Lobeslied auf den Reformator anzustimmen und ihn zum Vordenker des demokratischen Individualismus in seinem Sinne er­ klärt, nachdem Naphta diesen in Gegensatz zur Geistesaristokratie gebracht hatte (vgl. ZB, 889f.). Wie die Reihung großer Namen in den Streitgesprächen auf die Spitze getrieben wird, zeigt ein berichtender Erzähler, der schließlich nur noch zusammenfasst: Settembrini „nannte Alexander, Cäsar, Napoleon, nannte den preußischen Friedrich und weitere Helden sogar Lassalle und Molt­ ke“ (ZB, 790).198 b) Kampf der Weltanschauungen Kennzeichnend für die Weltanschauungsdiskussionen im Zauberberg ist die kämpferische Grundhaltung, die sowohl Naphta als auch Settembrini an den Tag legen. Dieser Aspekt lässt sich auf zwei Ebenen konkretisieren. Zunächst im Hinblick auf die Art und Weise, wie sich die Sprecher im Dialog selbst positionieren. Beide versuchen zu polarisieren, heben immer wieder die Gegen­ sätzlichkeit ihrer Standpunkte hervor. Dabei wird selbst jede vermeintliche Annäherung sofort dazu genutzt, die Unvereinbarkeit mit dem Kontrahenten nur umso deutlicher herauszustellen und in ein Schema absoluter Antinomien zu überführen. So konstatiert Naphta grundlegende Übereinstimung in der Geschichtsauffassung einer Trias von idealem Urzustand, krisenhaftem Nieder­ gang und zukünftiger Vollkommenheit (vgl. ZB, 604–606). Er intendiert damit 197 198

Vgl. Thomé: Geschichtsspekulation als Weltanschauungsliteratur (Anm. 33), S. 207f. Vgl. für Settembrini auch ZB, 775. Dichte Reihungen großer Namen finden sich eben­ falls bei Naphta (vgl. ZB, 1054f.).

87

jedoch nicht, wie behauptet, eine Basis für den möglichen Kompromiss zu bereiten. Mit dem Rousseauisten „Seite an Seite“ (ZB, 604) zu gehen heißt lediglich, die dann folgende Wendung rhetorisch vorzubereiten, in der Naphta seine Idee des kommunistischen Gottesstaates nun umso wirkungsvoller als ab­ soluten Gegenentwurf zu Settembrinis Utopie des demokratischen Weltstaates skizzieren kann. Letztere sieht er im Zeichen der „bürgerlich kapitalistischen Verrottung“ (ZB, 608), als deren geistiger Urheber wiederum sein Gegenüber erscheinen soll. Weder Settembrini noch Naphta lassen eine Gelegenheit aus, den anderen des „Irrtum[s]“ (ZB,603), der „Fehlerhaftigkeit“ (ZB, 683) oder „Rabulistik“ (ZB, 701) zu zichtigen, sodass sich der Disput – wie Schwöbel zu Recht bemerkt – als ein „Streit zwischen Unbedingtheitsansprüchen“199 erweist. Die Konstellation des Kampfes wird zu einem zentralen Element der Inszenierung dieser verbalen Duelle, in denen sich so bereits das tatsächliche Duell ankündigt, in dem die Auseinandersetzung zwischen Naphta und Set­ tembrini schlussendlich eskalieren wird. Der ‚Kampf der Weltanschauungen‘, den paradigmatisch schon Ernst Hae­ ckel als Kampf zwischen Monismus und Dualismus in seinen Welträtseln insze­ niert hat, ist ein beliebter Topos der Weltanschauungsliteratur.200 Dieser Kampf stellt im Zauberberg nicht nur das dominante Kommunikationsmuster für die Redesituation, in der sich Settembrini und Naphta begegnen, vielmehr ist das Muster die Projektion einer den vorgetragenen weltanschaulichen Konzepten selbst schon inhärenten Struktur. Dies wird in der folgenden, erzählerisch vermittelten Rede Settembrinis besonders deutlich: Nach Settembrinis Anordnung und Darstellung lagen zwei Prinzipien im Kampf um die Welt: die Macht und das Recht, die Tyrannei und die Freiheit, der Aberglaube und das Wissen, das Prinzip des Beharrens und dasjenige der gärenden Bewegung des Fort­ schritts. Man konnte das eine das asiatische Prinzip, das andere aber das europäische nennen, denn Europa war das Land der Rebellion, der Kritik und der umgestaltenden Tätigkeit, während der östliche Erdteil die Unbeweglichkeit, die untätige Ruhe verkör­ perte. Gar kein Zweifel, welcher der beiden Mächte endlich der Sieg zufallen würde, – es war die der Aufklärung, der vernunftgemäßen Vervollkommnung. (ZB, 240)

Auf dem geistigen Schlachtfeld, das Settembrini hier entwirft, stehen sich zwei Grundprinzipien gegenüber, das „Prinzip des Beharrens und dasjenige der gä­ renden Bewegung des Fortschritts“ (ZB, 240). Die dichotomische Struktur, die auf diesen absoluten Gegensatz hinführt, markiert eine imaginierte Frontlinie, wobei auf der einen Seite ‚Macht‘, ‚Tyrannei‘ und ‚Aberglaube‘, auf der ande­ ren Seite ‚Recht‘, ‚Freiheit‘ und ‚Wissen‘ synonymisiert und jeweils zu einem 199

200

88

Christoph Schwöbel: Theologisches auf dem Zauberberg. In: „Der Zauberberg“ – die Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman. Hg. von Dietrich von Engelhardt und Hans Wißkirchen. Stuttgart 2003, S. 107–123, hier S. 115. Zu direkten Bezügen in den Diskussionen Naphtas und Settembrinis auf Haeckel, vor allem in den erkenntnistheoretischen Positionierungen vgl. Dittrich: Glauben, Wissen, Sagen (Anm. 188), S. 145–156.

begrifflichen Block uniformiert werden, den Settembrini zusätzlich noch geo­ graphisch-kulturell konturiert.201 Die lärmende Kriegsmetaphorik erlaubt ein Denken in starren Oppositionen und versucht über die gedankliche Inkohärenz hinwegzutäuschen, deren Settembrini sich dann aber dennoch selbst überführt, indem er den ‚Sieg‘ der Aufklärung gerade mit dem Prinzip der Macht verbin­ det, das er zuvor der gegnerischen Seite zugeordnet hatte. Charakteristisch für den Kampf der Weltanschauungen ist, dass die eigene Zeit als krisenhafte Übergangsphase erscheint, in der sich bedeutende Umwäl­ zungen und endgültige Entscheidungen anbahnen. Aus einer Deutung der historischen Entwicklung als Kampf zwischen gegensätzlichen geistigen Prinzi­ pien leitet sich eine Diagnose der Gegenwart ab, die wiederum in Zukunftspro­ gnosen mündet. Settembrini verkündet denn auch die „allgemeine[] Völker­ verbrüderung im Zeichen der Vernunft, der Wissenschaft und des Rechtes“ (ZB, 240), zu deren Herstellung es allein noch gelte, „Österreich […] aufs Haupt zu schlagen und zu zerstören“ (ZB, 240).202 Dieses Denkschema findet sich ebenfalls bei Naphta, etwa wenn er im Verlauf einer kosmologischen Erörterung den Kampf zwischen den Vertretern heliozentrischer und geozentri­ scher Weltbilder in Szene setzt und zu der Schlussfolgerung gelangt: „Koperni­ kus wird von Ptolemäus geschlagen werden“ (ZB, 598). Auch Naphta verlegt sich hier auf die Zukunftsperspektive und spekuliert über einen „geistigen Wi­ derstand, dessen Unternehmungen wahrscheinlich zum Ziele führen werden“ (ZB, 598). Mit dem krisendiagnostisch abgeleiteten triumphalen Sieg der jeweils favo­ risierten Bewegung geht die Positionierung des Weltanschauungs-Ichs an vor­ derster Front noch zu führender Auseinandersetzungen einher. Bei Naphta weniger deutlich und durch die verschwörerische Andeutung eines revolutionä­ ren „wir“ (ZB, 605), bei Settembrini sehr konkret in Form von Hinweisen auf sein Engagement in zahlreichen Projekten des organisierten Fortschritts (vgl. ZB, 371, 688, 694). Beide versuchen, der eigenen Weltanschauung das Etikett des Revolutionären zu verleihen, was im Falle Naphtas besondere Prägnanz ge­ winnt, weil er die Begriffe Reaktion und Revolution verkehrt, das Reaktionäre zum eigentlich Revolutionären umdeutet: „Der erste Schritt zu wahrer Freiheit 201

202

Lorenz stellt hierzu fest: „Diese Anordnung der Dinge verrät in ihrer starren Opposi­ tionalität binärer Fronten wider Willen, daß sie selbst das statisch-stagnative Prinzip der Beharrung ausdrückt“ (Lorenz: Motivische Textur als ästhetische Selbstreferenz [Anm. 190], S. 208). Besonders bei Settembrini führen sein postulierter Pazifismus und die gleichzeitig bemühte Kampfmetaphorik oftmals ins Absurde. So konstatiert er, „die europäische Gesamtatmosphäre sei von Friedensgedanken, von Abrüstungsplänen erfüllt. Die demo­ kratische Idee marschiere“ (ZB, 573). Zur nur scheinbaren Friedfertigkeit Settembrinis vgl. auch Paolo Panizzo: Die Verführung der Worte: Settembrini und Naphta auf dem Zauberberg. In: Wortkunst ohne Zweifel? Aspekte der Sprache bei Thomas Mann. Hg. von Katrin Max. Würzburg 2013, S. 129–147, hier S. 140f.

89

und Humanität wäre, sich der schlotternden Furcht vor dem Begriff ‚Reaktion‘ zu entschlagen“ (ZB, 611). An diesem Zitat lässt sich das Kampfgebaren bis ins Vokabular hinein verfolgen. Der ‚schlotternden Furcht‘ des Gegners kann dann das Heroische als Attribut für den eigenen Standpunkt gegenübergestellt wer­ den (vgl. ZB, 701, 703). Die Metaphorik des Kampfes, die in den Streitgesprächen des Zauberbergs virulent wird, spiegelt nicht nur den Vorkriegszustand des ‚Flachlandes‘ wider, sondern lässt sich auch als strukturell prägendes Element der von Naphta und Settembrini vertretenen Weltanschauungen begreifen. Der Versuch, das eigene Konzept in einer Situation des Kampfes zu kontextualisieren, ist charakteris­ tisch für die weltanschauungsliterarische Rhetorik – die jeweilige Weltanschau­ ung wird über die Opposition zu anderen Meinungen definiert und auf diese Weise in ihrer Exklusivität betont. c) (Auto-)Biographische Beglaubigung Wie sich gezeigt hat, sind Elemente der Ich-Stilisierung hervorstechende Cha­ rakteristika der Reden Naphtas und Settembrinis. Wissensdemonstration und die Konstruktion einer privilegierten Perspektive sollen den Sprechenden mit einer besonderen Wirkungsmächtigkeit ausstatten und den Geltungsanspruch der präsentierten Weltanschauung untermauern. Ein konstitutiver Zug welt­ anschauungsliterarischer Texte ist aber darüber hinaus die Konturierung des Verfasser-Ichs mittels subtil einfließender autobiographischer Informationen, welche die Genese der Weltanschauung durch den Lebensweg des Ichs beglau­ bigen sollen. Die biographische Fundierung des weltanschaulichen Entwurfs lässt sich als eine wichtige Schnittstelle von Weltanschauungs- und literarischem Diskurs bestimmen. Das konstruierte Sprecher-Ich in Weltanschauungstexten weist fik­ tionale Merkmale auf und wird durch autobiographische Narrative zur Beglau­ bigungsinstanz für die vorgetragene Weltanschauung aufgebaut. Überschreitet eine solche Beglaubigung in der wissenschaftlichen Darstellung häufig die Grenze zur Fiktion, bezeichnet dieser Punkt zugleich den Ort, von dem aus sich im Roman wiederum der Weltanschauungsdiskurs aus der Figur heraus er­ öffnen lässt, Weltanschauungen erzählbar und figurenbiographisch motivierbar werden. Bei seinem Hinweis auf einen „Trend zur Amalgamierung von Roman und Weltanschauungsliteratur“203 hatte Thomé ebenfalls diese Überschneidung im Blick und Brasch zeigt in ihrer Untersuchung, dass der Zauberberg an typi­ sche Schemata des Weltanschauungsromans der Jahrhundertwende anknüpft, 203

90

„Seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts werden Romanfiguren zunehmend nicht mehr, wie noch bei Fontane, durch ihren Stand, sondern durch ihre Weltanschauung charakterisiert“ (Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp [Anm. 165], S. 366).

wenn er den „überindividuell-weltanschaulichen Bildungsprozess“204 des Prota­ gonisten erzählt. Auch die großen Weltanschauungskonstrukteure Settembrini und Naphta werden biographisch gestützt, in den sieben Jahren auf dem Zauberberg erfährt Hans Castorp einiges über Herkunft und Hintergrund seiner beiden Mentoren. Im Abschnitt Aufsteigende Angst. Von den beiden Großvätern und der Kahnfahrt im Zwielicht teilt Settembrini Castorp die Lebensgeschichte seiner Vorfahren mit und verortet sich selbst in der familiären Traditionslinie. Evoziert wird vor allem der Großvater als „politische[r] Agitator, Redner und ZeitschriftenMitarbeiter“ (ZB, 233), Anführerfigur der bürgerlichen Revolution in Italien und patriotischer „Oppositionsmann“ (ZB, 233) mit gesamteuropäischem Wir­ kungskreis, der die „Vereinigung der befreiten Völker zur Errichtung des allge­ meinen Glückes“ (ZB, 235) verkündet hatte. Als „Humanist und Liebhaber des klassischen Altertums“ (ZB, 234) stellt Settembrini den Vater vor. Dieser sei zwar nicht mehr als Freiheitskämpfer aktiv, aber in ihm der Humanismus als „Rebellion gegen alles, was die Idee des Menschen besudele und entwürdige“ (ZB, 241) lebendig gewesen. Der Erzähler referiert Settembrinis Ausführung, „in seiner, des Enkels Lodovico, Person nun aber hätten die Tendenzen seiner unmittelbaren Vorfahren, die staatsbürgerliche des Großvaters und die huma­ nistische des Vaters, sich vereinigt“ (ZB, 242). In dieser Selbstdeutung wird ersichtlich, wie Settembrini das revolutionäre und humanistische Prinzip zu einer – wenn auch absteigenden – Grundlinie seiner Familientradition formt und die Genese seiner eigenen Weltanschauung genealogisch plausibilisiert.205 Auch von Naphta erfährt Castorp vieles über dessen Werdegang. Darin zeichnet sich allerdings ein anderes Muster ab als im Falle Settembrinis. Wäh­ rend dieser über seine Vorfahren definiert wird, liefert der Roman hier eine de­ taillierte Biographie, in Operationes Spirituales wird die Vorgeschichte Naphtas in einem ausführlichen Erzählerbericht dargelegt. Als Sohn eines ostjüdischen „schochet“ (ZB, 663), eines „Grübler[s] und Sinnierer[s]“ (ZB, 664) erlebt der junge Naphta den Vater beim Schächten und „die Vorstellung der Frömmig­ keit verband sich ihm so mit der Grausamkeit, wie sich in seiner Phantasie der Anblick und Geruch sprudelnden Blutes mit der Idee des Heiligen und Geistigen verband“ (ZB, 664). Die Flucht der Familie nach der Ermordung des Vaters und die Dispute mit einem Lehrer, in denen sich bereits Naphtas 204

205

Anna Brasch: Moderne – Regeneration – Erlösung. Der Begriff der ‚Kolonie‘ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen 2017, S. 366. Brasch ver­ weist vor allem auf die Familiengeschichte Castorps, über die der Prozess der Moderni­ sierung als Orientierungsverlust erzählt wird, und auf die „Re-Vergemeinschaftung“ des Protagonisten in der Zauberberg-Gesellschaft, die eine neue Sinnstiftung anbietet (vgl. ebd., S. 350–353). Zu dem in den Buddenbrooks vorgeprägten Muster des Verfalls und den Quellen Thomas Manns für die Ahnenreihe Settembrinis vgl. Wißkirchen: „Ich glaube an den Fortschritt, gewiß“ (Anm. 187), S. 86–93.

91

„Widerspruchsgeist“ und seine „schneidende[] Dialektik“ (ZB, 666) beweisen, holt der Bericht ebenso ein wie seine Konversion zum katholischen Glauben und seine Laufbahn im Jesuitenorden, die durch die Krankheit abgebrochen wird. Naphtas kombinatorisches Denken, sein weltanschaulicher Synkretismus verknüpft sich mit einem Lebensweg, den ebenfalls die Verbindung heteroge­ ner Einflüsse prägt.206 Sowohl bei Settembrini als auch bei Naphta entsteht ein biographisches Fundament, auf dem die Figuren ihr weltanschauliches Konzept aufbauen und plausibilisieren – ein Aspekt, der sich insbesondere im Hinblick auf Naphta als bezeichnend herausstellt. Reidel-Schrewe gibt zu bedenken, dass dessen Biographie thematisch und formal nur schwach in den Romanverlauf integriert sei.207 Tatsächlich wird der Bericht über den biographischen Hintergrund nur mit dem kurzen Hinweis des Erzählers, Castorp habe „in Bruchstücken und in Form zusammenhängender Erzählung“ (ZB, 673) gesprächsweise von Naphta selbst dessen Vorgeschichte erfahren, an das Handlungsgeschehen gekoppelt. Dies lässt sich als Indiz dafür verstehen, dass Weltanschauung, um als Konzept Anspruch auf Kohärenz und Geltung erheben zu können, der biographischen Unterfütterung derart notwendig bedarf, dass eine erzählerische Motivation entsteht, sie auf jeden Fall zu liefern. d) ‚Gereimte Gegensätze‘ und ‚rechtmäßigste Assoziationen‘. Rhetorische Mittel der Plausibilisierung Mit der Demonstration von Wissen und dem Duktus des Kämpferischen sind bereits Merkmale benannt, die die Debatten auf dem Zauberberg grundsätz­ lich kennzeichnen. Als Elemente eines textprägenden Musters werden die rhe­ torischen Mittel weltanschaulichen Sprechens aber besonders deutlich, wenn man ihr Zusammenspiel betrachtet. Die spezifische Kombination rhetorischer Plausibilisierungsverfahren soll daher nun bei Settembrini und Naphta jeweils exemplarisch analysiert werden. Im Verlauf der ersten Diskussion, die im Zeichen der Natur-Geist-Problema­ tik steht, kommt Settembrini auf den „als unendlich gedachten Fortschritt der Menschheit“ (ZB, 577) zu sprechen. Als Castorp diese Vorstellung in Frage stellt, indem er über die Kreisförmigkeit aller Bewegung philosophiert, wen­ 206

207

92

Ein genealogisches und psychologisches Porträt Naphtas zeichnet Jean-Marie Valentin: „Ein joli jésuite mit einer petite tache humide“. Naphta, la soie, le sang, la mort. In: Études Germaniques 288 (2017), Nr. 4, S. 643–663. Vgl. Ursula Reidel-Schrewe: Die Raumstruktur des narrativen Texts. Thomas Mann, „Der Zauberberg“. Würzburg 1992, S. 98. Reidel-Schrewe begreift den Abschnitt, in dem die Vorgeschichte Naphtas eingeholt wird als „kurzen, in sich abgeschlossenen ‚Bildungsroman‘“ (ebd. S. 99). Auch Wolfgang Schneider vermerkt hier einen Bruch der Erzählweise (vgl. Wolfgang Schneider: Lebensfreundlichkeit und Pessimismus. Thomas Manns Figurendarstellung. Frankfurt am Main 1999, S. 262).

det sich Settembrini in direkter Ansprache an seinen Schüler und weist ihn zurecht:

5

10

„Sie sollten nicht grübeln und träumen, Ingenieur“, unterbrach ihn Settembrini, „sondern sich entschlossen den Instinkten Ihrer Jahre und Ihrer Rasse anvertrauen, die Sie zur Tätigkeit drängen müssen. Auch Ihre naturwissenschaftliche Bildung muß Sie der Fortschrittsidee verbinden. Sie sehen in ungemessenen Zeiträumen das Leben vom Infusor zum Menschen sich fort- und emporentwickeln, Sie kön­ nen nicht zweifeln, daß dem Menschen noch unendliche Vervollkommnungsmög­ lichkeiten offen stehen. Versteifen Sie sich denn aber auf die Mathematik, so führen Sie Ihren Kreislauf von Vollkommenheit zu Vollkommenheit und erqui­ cken Sie sich an der Lehre unseres achtzehnten Jahrhunderts, daß der Mensch ursprünglich gut und vollkommen war, daß nur die gesellschaftlichen Irrtümer ihn entstellt und verdorben haben, und daß er auf dem Wege kritischer Arbeit am Gesellschaftsbau wieder gut, glücklich und vollkommen werden soll, werden wird –“ (ZB, 577f.)

Auffällig an dieser Rede sind zunächst die rhetorischen Verfahren, mittels derer Settembrini von Beginn an die Perspektive des Angesprochenen zu steuern versucht. Die appellative Einleitung, in der Settembrini das Grübeln und Träu­ men seines Schülers verwirft und demgegenüber „Instinkt[]“ und „Rasse“ (Z. 2) anführt, bereitet einerseits begrifflich das biologistische Fundament seiner fol­ genden Argumentation und legt andererseits zugleich auch den Adressaten der Rede auf eben diese Ausgangsposition fest, wobei der Instinkt als Ursprung von Aktivität parallel gesetzt wird mit dem naturwissenschaftlich geprägten Bildungshintergrund des „Ingenieur[s]“ (Z. 1) Hans Castorp, der – so wird suggeriert – unweigerlich, quasi ebenfalls ‚instinktiv‘ zur Idee des Fortschritts führen „muß“ (Z. 4).208 Durch diese belehrende Einführung, die Castorp an den vorgesehenen Standpunkt heranführen soll, öffnet sich dann der Raum für ein Veranschaulichung der „Fortschrittsidee“ (Z. 4) Settembrinis: „Sie sehen in ungemessenen Zeiträumen das Leben vom Infusor zum Menschen sich fortund emporentwickeln“ (Z. 4f.). Im Rekurs auf Darwin wird der Evolutions­ prozess als empirisch beobachtbare Entwicklung präsentiert, der Zuhörer so scheinbar in die Lage versetzt, sich diese vor Augen zu führen und überblicken zu können. Die Angabe von „ungemessenen Zeiträumen“ (Z. 4) knüpft an Castorps Gedanken über Raum und Zeit an, korrespondiert aber auch mit den „unendliche[n] Vervollkommnungsmöglichkeiten“ (Z. 6f.), die Settembrini aus seinem evolutionsgeschichtlichen Abriss schließt. Über die Unbestimmbarkeit der Dimensionen werden Evolution und Menschheitsfortschritt zueinander in Beziehung gesetzt, dabei soll sich aus der suggerierten Beobachtbarkeit der ers­ 208

Der Begriff ‚Instinkt‘ wird von Settembrini hier nicht zufällig in seiner doppelten Konnotation eingeführt. Zum einen rekurriert er auf den biologischen Bereich natürli­ cher Triebhaftigkeit und antizipiert so die sich anschließenden evolutionistischen Aus­ führungen, zum anderen bezeichnet er ein ‚sicheres Gespür‘ für die Richtigkeit eines Sachverhalts.

93

teren die Evidenz des zweiten ableiten lassen. Sind die naturwissenschaftlichen Begründungszusammenhänge bereits hier überdehnt, wird ihr Erkenntniswert dennoch in die folgende Argumentation weitergetragen und schließlich auch gesellschaftstheoretisch beansprucht. Settembrini übernimmt das Modell der Kreisform als mathematische Kategorie aus Castorps vorausgehenden Einlas­ sungen, legt dieses aber dann als Folie über die verflachte rousseauistische Vor­ stellung einer triadischen Entwicklung von ursprünglicher Vollkommenheit, zwischenzeitlichem Niedergang und künftiger Rückführung zur Vollkommen­ heit des Menschen. Als treibende Kraft dieser zirkulären Dynamik wird die „Arbeit am Gesellschaftsbau“ (Z. 11f.) angeführt, was auf die Eingangsformel von der instinktiven Veranlagung zur Tätigkeit zurückverweist und den gesell­ schaftlichen Fortschritt als genetisch determinierte Notwendigkeit erscheinen lassen soll.209 In dieser Rede überlagern sich zwei Modelle, mit denen Settembrini eine Synthese aus „eschatologischer Verheißung und abstraktem Gattungsbegriff“210 herstellen will. Der Fortschritt, gedacht nach dem evolutionistischen Muster einer stetig progressiven linearen Bewegung, erweist sich allerdings nicht als kompatibel mit dem Kreismodell, das die Entwicklung von Vollkommenheit zu Vollkommenheit veranschaulichen soll. Diese Problematik reflektiert Set­ tembrini jedoch nicht, vielmehr amalgamiert er beide Betrachtungsweisen und deutet sie geschichtsphilosophisch auf eine Fortschrittsidee hin, die inhaltlich jedoch unbestimmt bleibt und lediglich das Prinzip eines Automatismus von Entwicklung überhaupt postuliert. Die Widersprüchlichkeit des theoretischen Entwurfs steht dabei im Unverhältnis zur Vehemenz, mit der seine Beweiskraft durch appellative Formeln der Gewissheit und das Pathos der Rede behauptet wird. Dieses Pathos bildet sich bis auf die syntaktische Ebene ab, wenn die ana­ phorisch gesteigerte Nebensatzreihe in den Fortschrittsdeterminismus mündet, dass das, was „werden soll, werden wird“ (Z. 12f.). Grundsätzlich ist für die Vorträge Settembrinis festzustellen, dass Gewiss­ heitsbehauptungen immer dann verstärkt auftreten, wenn die Argumentation selbst brüchig wird, Formeln wie „Sie können nicht zweifeln, daß…“ (ZB, 578), „Sie wissen selbstverständlich, daß…“ (ZB, 597) oder „es ist klar, es beißt in die Augen, daß…“ (ZB, 610) gehören zu seinem Repertoire. Die Ausfüh­ rungen des Aufklärers zeugen vor allem dort von einem forcierten Bemühen um die wirkungsvolle Gestaltung der sprachlichen Oberfläche, wo es gilt, komplexe Sachverhalte zu entdifferenzieren oder Spekulation und subjektive 209

210

94

Vgl. auch die programmatische Äußerung Settembrinis gegenüber Castorp in Zusam­ menhang mit den Zielen der ‚Liga für Organisierung des Fortschritts‘, die aus Darwins Entwicklungstheorie die philosophische Anschauung ableite, „daß der innerste Naturbe­ ruf der Menschheit ihre Selbstvervollkommnung ist“ (ZB, 371). Horst Fritz: Instrumentelle Vernunft als Gegenstand von Literatur. Studien zu Jean Pauls „Dr. Katzenberger“, E.T.A. Hoffmanns „Klein Zaches“, Goethes „Novelle“ und Thomas Manns „Zauberberg“. München 1982, S. 117.

Weltdeutung als objektive Wahrheit zu vermitteln. Dies zeigt sich beispiels­ weise, wenn Settembrini emphatisch das wissenschaftsethische Postulat einer „voraussetzungslose[n] Forschung“ (ZB, 599) preist oder die literarische Form mit überbordendem Pathos gegen Naphta als „höhere Einheit im Kronrund des Schönen“ (ZB, 788) verteidigt. Seine weltanschaulichen Exaltationen sind durchsetzt von emotional aufgeladenen Attributen von stark wertender Quali­ tät, mit denen die Tragweite des Gesagten betont werden soll. Die Reden des selbsterklärten Humanisten und Aufklärers folgen gerade nicht einer rational organisierten Stringenz, sondern drohen oftmals in ein Parlieren um des schö­ nen Wortes willen abzugleiten. Settembrini verknüpft seine Gedanken dabei vornehmlich durch Verfahren der Assoziation. So führt er etwa in Bezug auf die Vorteile der Feuerbestattung seinen Zuhörern diese „reinliche, hygienische und würdige, ja heldische Vorstellung“ (ZB, 689) vor Augen. In einer adjektivi­ schen Klimax werden hier zunächst hygienische Aspekte aufgeführt, die sich dann assoziativ mit wertenden Attributen verbinden, sodass die Feuerbestat­ tung schließlich als heroisches Ergebnis des Fortschrittsprozesses erscheint. An einer Stelle betont Settembrini selbst die Angemessenheit des assoziativen Ver­ fahrens, wenn er Castorp über den Begriff der „Lebenswürdigkeit“ aufklärt, auf den sich sogleich „auf dem Wege leichtester und rechtmäßigster Assoziation“ auch die Idee der „Liebenswürdigkeit“ (ZB, 700) einstelle. Settembrinis weltanschaulicher Kontrahent arbeitet weniger mit Pathos und blumigem Parlando, aber auch in Naphtas Vorträgen dominiert das metaphori­ sche, vor allem aber das apodiktische Sprechen. Bereits wenige Tage nachdem Noch jemand auf dem Zauberberg in Erscheinung getreten ist, werden Hans Castorp und sein Vetter Joachim Zeugen eines großen Wortgefechts zwischen Settembrini und Naphta, in dessen Verlauf ästhetische, philosophische und politische Themenkomplexe zur Sprache kommen. Ausgehend von der Begut­ achtung der gotischen Pietà-Plastik in Naphtas Zimmer entspinnt sich eine Diskussion über Natur und Geist, die sich auf grundsätzlichere Erörterungen über Wissenschaft und Religion ausweitet und schließlich in den Bereich der gesellschaftspolitischen Utopien überführt wird. Im Laufe dieses Disputs feiert Settembrini die „Errungenschaften von Renaissance und Aufklärung“ (ZB, 602), die Naphta zuvor in seiner Kritik an einer nicht unter theologischen Prä­ missen stehenden „voraussetzungslose[n] Wissenschaft“ (ZB, 599) und deren politischen Konsequenzen angegriffen hatte. In seiner Replik auf Settembrinis Verteidigung von „Persönlichkeit, Menschenrecht, Freiheit“ (ZB, 602) erklärt Naphta kurzerhand den absehbaren Niedergang dieser Ideale:

95

5

10

15

20

„Ich suchte Logik in unser Gespräch einzuführen, und Sie antworten mir mit Hochherzigkeiten. Daß die Renaissance all das zur Welt gebracht hat, was man Liberalismus, Individualismus, humanistische Bürgerlichkeit nennt, war mir leid­ lich bekannt; aber Ihre ‚etymologischen Betonungen‘ lassen mich kühl, denn das ‚ringende‘, das heroische Lebensalter Ihrer Ideale ist längst vorüber, diese Ideale sind tot, sie liegen heute zum mindesten in den letzten Zügen, und die Füße derer, die ihnen den Garaus machen werden, stehen schon vor der Tür. Sie nennen sich, wenn ich nicht irre, einen Revolutionär. Aber wenn Sie glauben, daß das Ergebnis künftiger Revolutionen – Freiheit sein wird, so sind Sie im Irrtum. Das Prinzip der Freiheit hat sich in fünfhundert Jahren erfüllt und überlebt. Eine Pädagogik, die sich heute noch als Tochter der Aufklärung versteht und in der Kritik, der Befreiung und Pflege des Ich, der Auflösung absolut bestimmter Lebensformen ihre Bildungsmittel erblickt, – eine solche Pädagogik mag noch rhetorische Augen­ blickserfolge davontragen, aber ihre Rückständigkeit ist für den Wissenden über jeden Zweifel erhaben. Alle wahrhaft erzieherischen Verbände haben von jeher gewußt, um was es sich in Wahrheit bei aller Pädagogik immer nur handeln kann: nämlich um den absoluten Befehl, die eiserne Bindung, um Disziplin, Opfer, Verleugnung des Ich, Vergewaltigung der Persönlichkeit. Zuletzt bedeutet es ein liebloses Mißverstehen der Jugend, zu glauben, sie finde ihre Lust in der Freiheit. Ihre tiefste Lust ist der Gehorsam.“ (ZB, 603)

In seinem Abgesang auf die Freiheit kombiniert Naphta bildhafte Darstellungs­ verfahren und beglaubigenden methodischen Selbstkommentar. Zunächst ein­ mal beansprucht er die Methode der Logik für sein eigenes Argumentationsver­ fahren und stellt so eine intellektuelle Überlegenheit über die „Hochherzigkei­ ten“ (Z. 2) seines Gegenübers zur Schau.211 Die darauf folgenden geschichtsphi­ losophischen Verallgemeinerungen und Zukunftsspekulationen stehen dann jedoch in einem paradoxen Verhältnis zu dieser metadiskursiven Einleitung. Mit deterministischer Gewissheit konstatiert Naphta das Ende liberalisti­ scher, individualistischer und humanistischer Ideen und prophezeit eine bevor­ stehende revolutionäre Gegenbewegung. Für die Beschreibung dieser Entwick­ lungslinie bedient er sich einer metaphorisch aufgeladenen Sprache, die das abstrakte gedankliche Gerüst veranschaulichen soll und sich stärker auf sinnli­ che Wahrnehmung stützt als auf die beanspruchte argumentative Logik. Geis­ tesgeschichtliche Entwicklungen werden in Analogie zu organischen Prozessen gedacht und auf diese Weise einer natürlichen Abfolge von Geburt, Leben und Tod unterworfen. Die Renaissance als Epoche, welche die bürgerlichen Werte „zur Welt gebracht hat“ (Z. 2), erscheint so als geschichtlicher Ausgangs­ punkt von Idealen, die in der Folge jedoch ihr „heroische[s] Lebensalter“ (Z. 5) überschritten hätten und gegenwärtig in ihrem Niedergang begriffen seien: „[D]iese Ideale sind tot, sie liegen heute zum mindesten in den letzten Zügen“ 211

96

Auch indem Naphta die Redeweise seines Gegenübers persifliert und herausstreicht, dass ihn die „‚etymologischen Betonungen‘“ Settembrinis „kühl“ (Z. 4) ließen, unter­ stellt er eine qualitative Diskrepanz zwischen seiner eigenen Argumentation und der emotional gesteuerten des Gegners.

(Z. 5f.). Auch im Weiteren bleiben Naphtas Ausführungen im Bereich der biologischen Metaphern, wenn er behauptet, das Prinzip der Freiheit habe sich „in fünfhundert Jahren erfüllt und überlebt“ (Z. 10). Nach dieser Darstellung erscheint es plausibel, dass eine Pädagogik, die sich wie diejenige Settembrinis noch an bürgerlichen Idealen orientiert und als „Tochter der Aufklärung“ (Z. 11) versteht, einem natürlichen Prozess zuwiderläuft und folglich nur in ihrer „Rückständigkeit“ (Z. 14) erkannt werden kann. Mit der Personifikation des pädagogischen Modells bewegt sich Naphta hier in dem bereits aufgespannten metaphorischen Rahmen und weist das Verfechten aufklärerischer Ideen als ein anachronistisches Missverstehen der logischen Generationenabfolge aus. Den dergestalt abgewerteten erzieherischen Idealen Settembrinis kann Naph­ ta nun sein eigenes pädagogisches Konzept des absoluten Zwangs gegenüber­ stellen. Um welche Form der Pädagogik es sich „immer nur handeln kann“ (Z. 16), hätten „[a]lle wahrhaft erzieherischen Verbände […] von jeher gewußt“ (Z. 15f.). Diese Formulierung Naphtas macht deutlich, dass er für seine Vor­ stellungen auf eine überzeitliche Wahrheit insistiert, die unabhängig von biolo­ gisch verstandenen Verfallsprozessen Geltung beanspruchen kann. Die Gegen­ wart wird als Zeit des Umbruchs herausgestellt, die eben dieser Wahrheit zu ihrer rechtmäßigen Bedeutung verhelfen werde. Was Naphta als Inbegriff der angekündigten revolutionären Dynamik versteht, verdeutlicht sich, wenn seine Rede in der Feststellung kulminiert, nicht die Freiheit, sondern der Terror sei das Erfordernis der Zeit. Um seine Prophezeiung nicht dem Vorwurf bloßer Geschichtsspekulation auszusetzen, nimmt Naphta die Perspektive des „Wissenden“ (Z. 14) ein. Das Erkennen des Terrors als „Geheimnis und Gebot der Zeit“ (ZB, 604) wird so auf ein exklusives Verständnis des Weltgeschehens zurückgeführt. Diese Erkenntnis ist nicht jedem möglich, sondern nur demjenigen, der aufgrund besonderer Disposition verborgene historische Gesetzmäßigkeiten aufzudecken vermag. Die Konstruktion eines solchen privilegierten Beobachterstandpunktes erweist sich insofern als geschickter rhetorischer Schachzug, als der Redner eine höhere Einsicht in die dargestellten Zusammenhänge suggerieren und das Gesagte auf diese Weise gegen jeden Einwand immunisieren kann. Inhaltliche Kritik erübrigt sich, da sie schlechterdings von einer eingeschränkten Perspekti­ ve aus erfolgen muss und sich also außerhalb des Erkenntnisspektrums bewegt, das dem Kreis der ‚Wissenden‘ vorbehalten ist. Aus der Stilisierung zum privile­ gierten Beobachter resultiert dann auch eine apodiktische Redeweise, die auf Gewissheitsbehauptungen setzt. Die Richtigkeit der geschichtsphilosophischen Diagnose stellt sich für den Eingeweihten als „über jeden Zweifel erhaben“ (Z. 14f.) dar. Eine mögliche Bedeutung konkurrierender theoretischer Konzepte wird nicht argumentativ widerlegt, sondern von vornherein ausgeschlossen, wenn Naphta feststellt: „Alle wahrhaft erzieherischen Verbände haben von

97

jeher gewußt, um was es sich in Wahrheit bei aller Pädagogik immer nur handeln kann“ (Z. 15f.). Sprachliche Wendungen, mittels derer das Dargestellte als absolut und unab­ weisbar präsentiert wird, kennzeichnen die Vorträge Naphtas insgesamt. So behauptet er etwa, die Rechtmäßigkeit der kirchlichen Wissenschaftslehre sei „völlig unbestreitbar“ (ZB, 599) und lasse sich in einem Satz zusammenfassen. Eine Spezialität des Jesuiten ist es außerdem, geistesgeschichtliche Entwicklun­ gen und eigene Interpretation in vollkommener Kongruenz erscheinen zu las­ sen. Die Geschichte der „Entwürdigung des Menschen“ fällt so „exakt mit der des bürgerlichen Geistes zusammen“ (ZB, 598). Auf ein entsprechendes Mus­ ter greift Naphta ebenfalls zurück, um heterogene theoretische Vorstellungen zu verknüpfen. In seinem utopischen Entwurf einer „staats- und klassenlosen Gotteskindschaft“ (ZB, 609), in deren Hinführung sich bei Naphta Kommunis­ mus und augustinische Gottesstaatsidee verbinden, wird jegliches widersprüch­ liche Moment ausgeblendet, „die Übereinstimmung ist vollkommen“ (ZB, 608). Lorenz bemerkt, dass es sich bei der Identifikation von Kommunismus und Gottesstaat primär um den Zusammenfall in formaler Hinsicht auf das Modell einer finalistischen Geschichtsutopie handelt, wobei „genau diejenige entscheidende inhaltliche Differenz achtlos unter den Tisch fällt, die ansons­ ten den Angelpunkt und Probierstein in Naphtas scharf dualistischer Weltan­ schauung ausmacht: nämlich die zwischen Immanenz und Transzendenz.“212 Hier zeichnet sich die für Weltanschauungsliteratur charakteristische Verfah­ rensweise ab, theoretische Versatzstücke, die untereinander nicht vollständig kompatibel sind, eklektizistisch aufeinander zu beziehen und im Sinne einer übergeordneten Idee einzuschmelzen. Die Betonung der Wahrheitsmächtigkeit des Theoretikers garantiert scheinbar die Evidenz seiner Theorie, die Stärke der Behauptung beugt gegen den kritischen Einwand vor. Obwohl Naphta sich in seiner Argumentationsweise eigentlich grundsätzlich der Logik verpflichtet gibt, erhebt er dennoch schließlich den Widerspruch zum Programm und entzieht sich den selbst aufgestellten Rationalitätskriterien, indem er sie ad absurdum führt: „Gegensätze […] mögen sich reimen. Ungereimt ist nur das Halbe und Mediokre“ (ZB, 609).213 Naphtas wie auch Settembrinis rhetorische Vorlieben entsprechen damit der jeweiligen Konfiguration von Identifikation und Differenz, die ihre Weltan­ schauung transportiert. Settembrini begreift sich als Vertreter der Aufklärung und des Humanismus in Einklang mit Geschichte und Tradition seiner Kultur, die er in stetem natürlichem Fortschritt begreift. Sein bevorzugtes Verfahren 212 213

98

Lorenz: Motivische Textur als ästhetische Selbstreferenz (Anm. 190), S. 204. Tholen sieht in dieser Textstelle den deutlichsten Nachweis der dezisionistische Denk­ weise Naphtas: „Hier wird […] deutlich, daß die Präsuppositionen vernünftigen Disku­ tierens von vornherein außer Kraft gesetzt sind“ (Tholen: Neues vom Dunkelmann Leo Naphta [Anm. 186], S. 94).

der „rechtmäßigste[n] Assoziation“ (ZB, 700) ist daher auch weit weniger ag­ gressiv als die ‚gereimten Gegensätze‘ (vgl. ZB, 609) Naphtas, der sich vor allem über seine Außenseiterposition definiert.214

4. Die Weltanschauungsrhetorik im narrativen Kontext Bisher wurde deutlich, dass Naphta und Settembrini sich in ihren Vorträgen und Debatten weltanschauungsliterarischer Verfahrensweisen bedienen. Zen­ trale Merkmale des Texttyps Weltanschauungsliteratur wie die Demonstration von Wissen, die kämpferische Grundhaltung oder die suggestive Veranschau­ lichung abstrakter theoretischer Verknüpfungen durch metaphorisches Spre­ chen, schließlich die Konstruktion eines privilegierten Beobachterstandpunkts lassen sich in den Reden nachweisen. Die beiden Disputanten kaschieren stets mangelnde argumentative Stringenz und Kompatibilitätsprobleme, die sich aus ihren Entwürfen ergeben, mit rhetorischen Mitteln. Damit referiert der Zauber­ berg intertextuell auf die Textsorte Weltanschauungsliteratur. An dieses Ergeb­ nis schließt sich aber die Frage an, ob im Zauberberg über die Literarisierung des Weltanschauungsdiskurses zugleich auch eine Auseinandersetzung stattfin­ det. Im Folgenden soll daher die narrative Vermittlung der Weltanschauungs­ rhetorik sowie ihre Perspektivierung durch figurale Außenansichten und erzäh­ lerische Darstellungsstrategien untersucht werden. a) Die erzählerische Vermittlung der Debatten Der weltanschauliche Schlagabtausch zwischen Naphta und Settembrini gipfelt in einem „große[n] Kolloquium über Gesundheit und Krankheit“ (ZB, 677). Das Hin und Her der Behauptungen endet letztlich in einer fruchtlosen Be­ griffsakrobatik, in der sich die Positionen aufheben: Die Begriffe, die Naphta und Settembrini jeweils für ihre theoretischen Konstrukte okkupieren wollen, erweisen sich als austauschbar, „es war die allgemeine Überkreuzung und Ver­ schränkung“ (ZB, 705), schließlich herrscht nur noch die „große Konfusion“ (ZB, 705). Diese Feststellung wird in einer erlebten Rede wiedergegeben, die zwar figural durch Hans Castorps Perspektive akzentuiert ist, aber im Resümee zugleich auch dem erzählerischen Wertungsstandpunkt entspricht. Die Entlar­ vung des Konfusen durch Protagonist und Erzähler markiert zugleich den Höhepunkt der direkten Auseinandersetzung mit der Weltanschauungsrhetorik im Zauberberg. Bezeichnenderweise schließt sich eben an das ‚große Kolloqui­ 214

Zu Leitlinien der Identifikation und Differenz im Weltanschauungsdiskurs vgl. Tho­ mé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 165), S. 369–373. Prinzipiell steigt „mit wachsender Betonung der Differenz die Aggressivität oder Exklusivität der ‚Weltanschauung‘“ (ebd., S. 373).

99

um‘ der Schneetraum Castorps an, in dem er sich – wenn auch nur vorüberge­ hend – am deutlichsten von Naphta und Settembrini emanzipiert. Andreas Kablitz hat zurecht auf eine für den Zauberberg grundlegende Über­ einstimmung hingewiesen: „Hans Castorps Suche nach einer Erklärung für die Welt und die Erzählung des Romans, die von dieser Suche berichtet, stehen beide im Zeichen eines Verlustes von Gewißheiten, der ein tiefes analytisches Bedürfnis auslöst.“215 Von diesem Bedürfnis ist auch die erzählerische Beglei­ tung der Weltanschauungskonstrukteure geprägt. Betrachtet man die narrative Vermittlung der Debatten im Roman, so entsteht der Eindruck, dass sich nicht nur Castorp im Sinne des „Placet experiri“ (ZB, 150) den jeweiligen geistigen Einflüssen seiner Mentoren aussetzt, sondern auch der Erzähler auf der Ebene der Darstellung die Experimente seines Protagonisten mitvollzieht, indem er die Weltanschauungsdebatten als mögliche Form des Sprechens gewissermaßen auf die Probe stellt. Dies wird bereits in der Konzeption und Verteilung der Redesituationen im Text ersichtlich. Kann in der ersten Hälfte des Romans Settembrini seine Theo­ rien noch ohne ein intellektuell gleichgestelltes Gegenüber entfalten, ändert sich dies schlagartig mit dem Auftauchen Naphtas. Indem das Weltanschau­ ungs-Ich in eine dialogische Situation versetzt wird, kann es den Anspruch, die allein gültige Wahrheit zu verkünden, nur noch unter erschwerten Bedin­ gungen aufrechterhalten. Was im Weltanschauungsentwurf strukturell angelegt ist, die kämpferische Selbstbehauptung in der Opposition zu gegnerischen Mei­ nungen, stellt sich – in einen tatsächlichen Dialog überführt – gerade als Hin­ dernis heraus, weil die Deutungshoheit des einzelnen Sprechers eingeschränkt wird. Aus der dialogischen Konstellation der Weltanschauungsdebatten ergibt sich, dass einer aufgestellten Behauptung immer die ebenso vehement vertrete­ ne Gegenbehauptung folgt. Indem Naphta und Settembrini sich wechselseitig ständig widerlegen, sorgen sie selbst für eine Relativierung ihrer jeweiligen Standpunkte. Die Versuche, Welterklärung in absolut gesetzter terminologi­ scher Abgrenzung zu treiben, werden in der erzählten Welt durch eine „dialogi­ sche[] Eigendynamik“ konterkariert, die „unweigerlich stets aufs Neue ein Veto gegen einseitige definitorische Verfestigungen aus sich heraustreibt“216. Insbesondere der Verlauf der narrativen Darstellung weist auf einen Erzähler hin, der experimentierend die weltanschauliche Redeweise beobachtet. Der erste Dialog zwischen Naphta und Settembrini im Abschnitt Noch jemand ist in beinahe dramatisierter Form dargestellt. Die Aussagen werden zumeist in wörtlicher Rede wiedergegeben und über weite Strecken nur spärlich von 215 216

100

Kablitz: Der Zauberberg (Anm. 7), S. 22. Lorenz: Motivische Textur als ästhetische Selbstreferenz (Anm. 190), S. 412f. Allgemein zur „inneren Polyphonie“ des Zauberbergs, unter Hinweis auf den Einfluss Walt Whit­ mans vgl. auch Kai Sina: Kollektivpoetik. Zu einer Literatur der offenen Gesellschaft in der Moderne. Berlin und Boston 2019, S. 201–221, hier S. 201.

Inquit-Formeln begeleitet, der Erzähler enthält sich in den Gesprächspassagen des Kommentars, tritt damit fast vollständig zurück und bleibt lediglich noch als Arrangeur hinter dem Text identifizierbar. Gerade die Abwesenheit einer expliziten narrativen Stimme im mimetischen Modus hat allerdings wiederum den Effekt, bereits ein zentrales Kennzeichen der Weltanschauungskämpfe zwi­ schen Naphta und Settembrini offenzulegen. Dem Leser fällt es stellenweise schwer, sich zu orientieren und das Gesagte sofort einem der beiden Redner zuzuordnen. Dadurch ist die strukturelle Indifferenz der Entwürfe von Settem­ brini und Naphta, die sich in den Streitgesprächen immer stärker abzeichnen wird, schon in ihren ersten gemeinsamen Auftritten angedeutet.217 Fungiert der Erzähler was die Redewiedergabe betrifft zu Beginn noch als – zumindest scheinbar – neutrale Instanz, die die Figuren aus der Distanz betrachtet und nahezu unvermittelt sprechen lässt, zeigt sich in der Darstellung der später geführten Debatten, wie diese neutrale Distanz immer stärker einer Haltung der ironischen Distanzierung weicht. Während in den ersten weltan­ schaulichen Auseinandersetzungen die direkte Rede dominiert,218 erscheint das „große Kolloquium über Gesundheit und Krankheit“ (ZB, 677) überwie­ gend in transponierter Figurenrede, wobei indirekte und erlebte Rede virtuos wechseln.219 Die erzähltechnische Bewegung von unmittelbarer zu mittelbarer Präsentation der Figurenrede kann dabei als formale Abbildung einer zuneh­ menden Distanz des Erzählers verstanden werden und steht hier auch in sympa­ thielenkender Funktion. Die wenigen direkten Aussagen, die am Ende des ‚großen Kolloquiums‘ den­ noch auftauchen, finden sich in Form einer Stichomythie zusammengedrängt, wobei die Sprecher selten namentlich benannt, sondern die Redebeiträge ledig­ lich durch unpersönliche Platzhalter einem der beiden zugewiesen werden.220 Naphta und Settembrini als Personen verschwinden auf diese Weise geradezu hinter den Begrifflichkeiten, die sie verhandeln. Was sich zuvor durch die fehlenden Inquit-Formeln bereits angedeutet hatte, aber noch im Zeichen einer Neutralität des Erzählers verstanden werden konnte, ist nun ein deutlicher Hinweis auf die prinzipielle Austauschbarkeit der Standpunkte. Der Erzähler nimmt dabei zugleich die Verwirrung der bei diesem Kolloquium anwesenden Zuhörerschaft auf:

217 218 219

220

Vgl. insbesondere S. 565f., 575f., 579f. Vgl. die Abschnitte Noch jemand und Vom Gottesstaat und von übler Erlösung. Kablitz, der exemplarisch die Abschnitte Exkurs über den Zeitsinn und Er versucht sich in französischer Konversation untersucht, kommt zu dem Ergebnis, dass die erlebte Rede im Zauberberg insbesondere die „Vielfältigkeit referentieller Bezüge der Sprache“ hervortre­ ten lasse (vgl. Kablitz: Der Zauberberg [Anm. 7], S. 222–231, hier S. 229). Erzählerisch vorbereitet ist diese Form der Redewiedergabe bereits, wenn Settembrinis Überstrapazierung historisch bedeutsamer Persönlichkeiten durch eine bloße Aneinan­ derreihung der Namen pointiert und ironisiert wird (vgl. ZB, 790).

101

Die Gestalt! sagte er [Settembrini, F. P.], und Naphta sagte hochtrabender Weise: „Der Logos!“ Aber der, welcher vom Logos nichts wissen wollte, sagte „Die Vernunft!“, während der Mann des Logos „die Passion“ verfocht. Das war konfus. „Das Objekt!“ sagte der eine, und der andere: „Das Ich!“ Schließlich war sogar von „Kunst“ auf der einen und „Kritik“ auf der anderen Seite die Rede und jedenfalls immer von „Natur“ und „Geist“ und davon, was das Vornehmere sei, vom „aristokratischen Problem“. (ZB, 702)

Für eine wachsende kritische Einschätzung der weltanschaulichen Vorträge durch den Erzähler spricht auch die immer deutlicher heraustretende Souverä­ nität, mit der er in den Reden Naphtas und Settembrinis interveniert oder sie schlicht abbrechen lässt. So referiert der Erzähler zunächst Naphtas Polemik gegen das humanistische Bildungsbürgertum und die von Settembrini gefeierte Literatur, um dann die Argumentationen lapidar in einem „und so fort, und so fort“ (ZB, 787) oder „et cetera“ (ZB, 791) auslaufen zu lassen. Mit einem kurzen Hinweis wird schließlich eine weitere inhaltliche Wiedergabe der Debatte über­ haupt als verzichtbar angezeigt: Man wird es uns aufs Wort glauben, daß sein Gegenspieler Manns genug war, ihm die Antwort nicht schuldig zu bleiben, die hervorragend war, und auf die er wieder eine ebenso gute bekam, wonach es noch eine Weile so fortging und das Gespräch in früher schon angedeutete Erörterungen einmündete. (ZB, 791f.)221

Narrativ registriert und beurteilt wird hier vor allem das repetitive Moment, das Naphtas und Settembrinis Streitgespräche kennzeichnet, wobei die Auslas­ sung der Namen wiederum anzeigt, dass es sich bei diesem Dialog eigentlich lediglich um ein endlos variierendes Monologisieren handelt. Auf diese Weise wird zum einen deutlich gemacht, dass in den Wortgefechten keine Neuerung­ en mehr zu erwarten sind, die beiden Disputanten sich lediglich zirkulär in ihren festgefahrenen Denkschemata bewegen, zum anderen diskreditiert der erzählerische Umgang mit den weltanschaulichen Debatten diese als Form der Auseinandersetzung wie als Redeweise innerhalb der fiktionalen Welt. Solche Beurteilungen erfolgen dabei auf einer entworfenen kommunikativen Ebene, auf der der Erzähler für sich in Anspruch nimmt, sowohl mit Castorp als auch mit dem Leser übereinstimmend zu sprechen. Aus dieser Haltung heraus beziehen in der Folge die metanarrativen Überlegungen auch Protagonist und

221

102

Wenn man bedenkt, dass dieser Erzählerkommentar an eine Diskussion anschließt, in der Naphta und Settembrini Positionen verhandeln, die Thomas Mann bereits selbst verschiedentlich essayistisch durchgespielt hatte, könnte man in der Formulierung, der Sprecher sei „Manns genug“ zudem die Selbstironie des Autors herauslesen. Zu den angesprochenen Essays vgl. die Hinweise Michael Neumanns im Kommentarband zum Zauberberg: Thomas Mann: Der Zauberberg. Kommentar (Anm. 13), S. 344f. Vgl. zur kritischen Funktion des Selbstzitats bei Thomas Mann außerdem bereits Gert Bruhn: Parodistischer Konservatismus zur Funktion des Selbstzitats in Thomas Manns Zauber­ berg. In: Neophilologicus 58 (1974), S. 208–222.

Leser mit ein, beispielsweise wenn nach einem der Gespräche zwischen Naphta und Settembrini konstatiert wird: „So ging das weiter, wir kennen das Spiel, Hans Castorp kannte es. Wir haben mit ihm einen Augenblick hingehört, um zu beobachten, wie, beispielsweise, ein solcher peripatetischer Waffengang sich im Schatten der nebenherwandelnden Persönlichkeit ausnahm […].“ (ZB, 892)

Die Entlarvung der Weltanschauungsreden als immergleiches in sich selbst kreisendes ‚Spiel‘ in rhetorischem Rüstzeug rechtfertigt für die erzählerische Darstellung, dass den vorgetragenen Ideen auch immer weniger an Bedeutung beigemessen werden kann. Lediglich als Muster aufgerufen, erscheinen die Dis­ kussionen noch interessant, um dieses experimentierend in verschiedene Kon­ texte zu setzen – hier mit der Gegenwart Peeperkorns zu konfrontieren – und damit in seiner Sinnlosigkeit vorzuführen. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten kommen die Debatten dagegen kaum mehr in Betracht, dem Erzähler wird es schließlich genügen „auf gut Glück aus dem Uferlosen ein Beispiel“ (ZB, 1046) herauszugreifen. Es zeigt sich damit in der narrativen Vermittlung eine Dynamik, die von neutraler Distanz zur expliziten Distanzierung in Bezug auf die Weltanschauungsrhetorik Naphtas und Settembrinis übergeht und damit gleichsam die wachsende Emanzipation Castorps von seinen beiden Mentoren durch den Modus der Darstellung unterstreicht. b) Die Figurendarstellung Die Widersprüche, in die Naphta und Settembrini sich in ihren Diskussionen verstricken, behandelt der Roman nicht ausschließlich auf theoretischer Ebene. Vielmehr sind die Figuren auch selbst widersprüchlich gezeichnet, sodass Le­ bens- und Verhaltensweisen immer wieder den aufgestellten Prämissen ihrer scheinbar kohärenten Weltanschauungen zuwiderlaufen. Settembrinis Lobes­ hymnen auf das Prinzip der Arbeit und seine leistungsethischen Plädoyers erscheinen etwa in einem äußerst fragwürdigen Licht, wenn es um seine eige­ nen Unternehmungen geht. An dem Kongress des internationalen „Bund[es] zur Organisierung des Fortschritts“ (ZB, 373) kann er krankheitshalber nicht teilnehmen, auch er unterwirft sich der ärztlichen Diagnose des Hofrats, deren Richtigkeit er eigentlich bezweifelt und über welche sich hinwegzusetzen er Castorp rät (vgl. ZB, 376). Dass sein Drängen zur Abreise kaum auf fruchtbaren Boden fallen kann, hängt auch mit seiner eigenen unlösbaren Gebundenheit an die morbide Sphäre des Zauberbergs zusammen, die Settembrinis Glaub­ würdigkeit als Vertreter ‚flachländischer‘ Werte untergräbt. Obwohl er sich im Namen der Vernunft gegen die eigentümlichen Gesetze der Zauberbergwelt verwehrt und vorgibt, nicht in den „hier üblichen abscheulichen Wettstreit“ (ZB, 377) der Kranken eintreten zu wollen, bleibt die Krankheit seine Exis­ tenzberechtigung auf dem Zauberberg, die er unter dem hilflos wirkenden 103

„stolzesten und schmerzlichsten Protest meines Geistes“ (ZB, 377) doch akzep­ tiert.222 Darüber kann auch seine Unterscheidung zwischen praktischer und geistiger Arbeit nicht hinwegtäuschen, die er gegenüber Castorp anbringt (vgl. ZB, 374f., 377), seine groß angekündigte enzyklopädische Abhandlung über die Darstellung menschlicher Leiden in der Weltliteratur wird er nicht zu Ende führen (vgl. ZB, 1076). In solche Verlegenheit bringt sich Naphta nicht, versteht er doch Geist und Krankheit in Identität und erklärt diese zur Grundlage der „Würde des Men­ schen und seiner Vornehmheit“ (ZB, 701). Aber auch Naphta unterliegt als Figur einer widersprüchlichen Konturierung, durch die ihm gerade sein aristo­ kratischer Dünkel zum ironisch beleuchteten Verhängnis wird. Als Prediger des asketischen Prinzips verzichtet er für seine eigene Person durchaus nicht auf lebensweltlichen Luxus, wie aus der Beschreibung seiner Behausung hervor­ geht. Castorp und Ziemßen staunen bei ihrem ersten Besuch bei Naphta unter anderem auch über „Barockarmstühle mit kleinen Polstern auf den Seitenleh­ nen“ (ZB, 592) und „ein mit Seidenplüschkissen ausgestattetes Sofa“ (ZB, 592). Wenn der Erzähler solche Beobachtungen wiedergibt oder berichtet, dass die beiden Vettern von einem Naphta „in Schleifenschuhen auf moosgrünem Tep­ pich stehend“ (ZB, 591) empfangen werden, ergibt sich bei vordergründig demonstrierter Gründlichkeit einer panoramatischen Darstellung die Ironie ge­ rade durch die bewusste Auswahl von Details. Diese stehen hier in Kontrast zu den nachfolgenden Reden Naphtas, in denen er den kapitalistischen Reichtum verdammen und den Gedanken der Askese hochhalten wird. Ob Settembrini, der kranke Verteidiger der Gesundheit, der seinem verbalisierten Programm des Aktivismus selbst nicht gerecht werden kann, oder Naphta, dessen Aristo­ kratie weniger im Gebiet des Geistigen als vielmehr im konkret Weltlichen liegt, beide Figuren bilden die Widersprüchlichkeit ihrer Weltanschauungen bereits in ihren Lebensentwürfen ab. Obgleich auch Naphta, wie sich gezeigt hat, stellenweise ironisch betrachtet wird, steht insgesamt vornehmlich Settembrinis Verhalten im Zentrum solcher Beobachtungen, während sein Kontrahent im Wesentlichen auf seine Funktion als Redner reduziert bleibt. Neben subtileren Strategien, mit denen beispiels­ weise über die erzählerische Lichtregie die Überzeugungskraft des Aufklärers Settembrini in Zweifel gezogen wird,223 finden sich auch stark humoristische Rahmungen der Auftritte des Humanisten. Solche Inszenierung stellen das un­ freiwillig Komische bei Settembrini akzentuiert heraus und verleihen der Figur 222

223

104

Neben der oberflächlich beschwichtigenden Rhetorik, die Settembrini hier vorbringt, bezeugt diese Stelle allerdings auch einen der wenigen Momente, in denen er das Illu­ sionistische seines Denkens reflektiert. So räumt er ein, für sich selbst die Möglichkeit einer Rückkehr ins Flachland „nur künstlicher- und ein wenig selbstbetrügerischerwei­ se“ (ZB, 377) aufrechtzuerhalten. Vgl. Kablitz: Der Zauberberg (Anm. 7), S. 199–201.

stellenweise geradezu clowneske Züge. In besonderer Deutlichkeit zeigt sich dies in einer der Gottesstaatsdiskussion unmittelbar vorausgehenden Situation, wenn der Erzähler Settembrinis Ankunft wie folgt beschreibt: [D]urch die offene Tür, wer trat beschwingten Schrittes mit „Sapperlot!“ „Acciden­ ti!“ und feinem Lächeln herein? Das war Herr Settembrini, wohnhaft eine Treppe höher, der sich einfand, in der Absicht, den Herren Gesellschaft zu leisten. Durch sein Fensterchen, sagte er, habe er die Vettern kommen sehen und rasch noch eine enzyklopädische Seite heruntergeschrieben, die er eben unter der Feder gehabt, um sich dann ebenfalls hier zu Gast zu bitten. (ZB, 595)

Geben solche Beschreibungen einerseits Settembrini der Lächerlichkeit preis und konterkarieren damit seinen Geltungsanspruch als Redner, zeigen die Hin­ weise auf die ungeschickte Selbstinszenierung andererseits gerade die mensch­ lichen Züge der Figur und lassen in ihr mehr als den bloßen Rhetoriker erkennen. Im Unterschied zu Naphta, bei dem kaum Menschliches im Vorder­ grund steht, ist Settembrini als Figur des Romans vielschichtiger konzipiert, als die Oberflächlichkeit seiner weltanschaulichen Ausschweifungen zunächst ver­ muten lässt.224 Dies zeigt sich deutlich in dem Duell, in das die Weltanschau­ ungsdispute schlussendlich führen. Naphtas radikale Tat, seine Selbsttötung, ist im Roman weniger als Ergebnis einer facettenreich eingefangenen figuren­ psychologischen Problematik motiviert, sondern stellt die letzte Konsequenz der destruktiven Weltanschauung dar, die der Jesuit in seinen Reden vertritt. Dagegen lässt Settembrinis Weigerung, auf den Gegner zu schießen, ein Mo­ ment wahrhaft menschlicher Empathie erkennen, das durch seine kämpferische Weltanschauungsrhetorik überdeckt, aber schon in der Figurenkonzeption an­ gelegt ist und sich etwa in der besonderen Zuwendung gegenüber Castorp äußert. Die Sympathie, die der Protagonist, aber auch der Erzähler besonders im zweiten Teil des Romans Settembrini entgegenbringen, ergibt sich dabei gerade aus dessen Lächerlichkeit und Unzulänglichkeit als weltanschaulicher Dogmatiker.

224

Die Vielschichtigkeit Settembrinis hat insbesondere Schneider herausgestellt. Er wandte sich damit gegen die Interpretation Kristiansens, in der die Settembrini-Figur vornehm­ lich als eine allegorische Repräsentanz des ‚Flachlandes‘ ohne wesentlich individuelle Züge erscheint (vgl. Schneider: Lebensfreundlichkeit und Pessimismus [Anm. 207], S. 245–282. Børge Kristiansen: Unform – Form – Überform. Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik. Kopenhagen 1978, vor allem S. 98–158). Allerdings wird auch in jüngerer Zeit noch die Ansicht vom bloßen Ideenträger vertreten (vgl. Ar­ min Weber: Zum Verhältnis von gestalthafter Darstellung und Denken in der Literatur. Thomas Manns „Zauberberg“ und Heimito von Doderers „Dämonen“ im Vergleich. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 65 [2013], Nr. 2, S. 128–151).

105

c) Metasprachliches Im Zauberberg dient Sprache – als Figuren- oder Erzählerrede – nicht aus­ schließlich dazu, Gedanken und Informationen inhaltlicher Art zu transportie­ ren und die Handlung voranzutreiben, vielmehr sind hier Formen und Bedin­ gungen des Sprechens zugleich selbst Thema.225 Das metasprachliche Element lässt sich im Roman wiederum auf mehreren Textebenen verorten. Über die selbstreflexiven Einschübe hinaus, in denen der Erzähler seine narrative Vor­ gehensweise erläutert, hinterfragt oder berichtigt und somit sein eigenes Spre­ chen thematisiert,226 wird die sprachliche Kennzeichnung auch zum zentralen Aspekt der Figurenkonzeption. Merkmale der Redeweise von verschiedenen Fi­ guren verdichten sich im Verlauf des Romans und formen eine Vielzahl sprach­ licher Profile aus. Dabei werden Eigenheiten des Sprechens auf der stilistischen Ebene ebenso registriert und thematisiert wie lexikalische Besonderheiten oder Charakteristika der Lautbildung, Intonation und Stimmfärbung. Beispielhaft verdeutlichen dies die Ärztefiguren des Berghofs, insbesondere Behrens, der detailliert sprachlich porträtiert wird. Die erste Äußerung, mit der der Hofrat für Hans Castorp auf dem Zauberberg in Erscheinung tritt, wird sogleich vom Erzähler kommentiert: „Er sprach stark niedersächsisch, breit und kauend“ (ZB, 73). Auch die vermeintliche Verabschiedung dieser Figur vollzieht sich wiederum über den Hinweis auf Sprachliches, wenn der Leser aufgefordert wird, noch einmal aufmerksam Behrens Stimme zu lauschen, da es vielleicht keine Gelegenheit mehr geben werde, „den aufgeräumten Tonfall zu belau­ schen der Sprache des redensartlichen Radamanthys“ (ZB, 947), auch wenn der stets kalauernde Hofrat mit seiner zur Schau gestellten derbhumorigen Art später trotzdem noch einmal über das neue Grammophon als „die deutsche Seele up to date“ (ZB, 966) schwadronieren darf. Die Auftritte des Oberarztes werden als betont sprachliche Ereignisse präsentiert, bei denen sich die Attribu­ te ‚forsch‘, ‚flott‘ oder ‚aufgeräumt‘ als wiederkehrende Kennzeichnungen mit seinem Sprechen verbinden.227 Für den Assistenten und Psychoanalytiker Dr. 225

226

227

106

Auf diesen Grundzug des Romans hat sehr deutlich zuerst Hans-Martin Gauger hinge­ wiesen (vgl. Hans-Martin Gauger: „Der Zauberberg“ – ein linguistischer Roman. In: Ders.: Der Autor und sein Stil. Zwölf Essays. Stuttgart 1988, S. 170–214). Ein Beispiel gibt bereits der Vorsatz, in dem sich der Erzähler zum „raunenden Beschwö­ rer des Imperfekts“ (ZB, 9) stilisiert und versucht, ein der Geschichte Hans Castorps adäquates narratives Programm zu entwerfen. Die sprachliche Sensibilität zeigt sich aber auch innerhalb des Berichtes, in den immer wieder sprachliche Selbstreflexionen integriert werden, etwa in Form von Überlegungen über die Angemessenheit einer bestimmten Wortwahl (vgl. zum Beispiel ZB, 213f., 245, 313, 824). Ein präzises sprachliches Porträt des Hofrats zeichnet Gauger: „Der Zauberberg“ – ein linguistischer Roman (Anm. 225), S. 197–201. Vgl. außerdem Kablitz, der verfolgt, wie auch der eloquente Redner Behrens nicht davor gefeit ist, sich durch seine Vorliebe des metaphorischen Sprechens selbst zu entlarven (vgl. Kablitz: Der Zauberberg [Anm. 7], S. 283–286).

Krokowski wird dagegen vor allen Dingen die „baritonale[] Stimme mit etwas fremdländisch schleppenden Akzenten“ (ZB, 30) zum charakteristischen Merk­ mal, wobei dieser „exotisch“ (ZB, 991) anmutende Tonfall, der sich vor allem in der wiederholt transkribierten Grußformel ‚ich gdieße Sie‘228 manifestiert, zugleich Faszination und Fragwürdigkeit seiner Analysen auf der sprachlichen Ebene abbildet. Nicht zuletzt ist auch an Karoline Stöhr zu denken, mit der Thomas Mann eine Figur entworfen hat, deren hervorstechende Eigenschaft, ihre ordinäre Dummheit, sich primär in ihrem Umgang mit Sprache zeigt.229 Das Insistieren auf Sprachliches im Zauberberg lässt sich mithin auch dort erkennen, wo das Sprechen negiert wird, wie im Falle Peeperkorns, dessen genau registriertes Stammeln ihn als Nicht-Sprecher ausweist und dennoch oder gerade deshalb Teil seiner Wirkung als ‚Persönlichkeit‘ ist. Die Markierungen der Figurensprache ziehen sich leitmotivisch durch den Roman, verbinden sich zu Verweiskonstellationen und werden beispielswei­ se funktionalisiert, um die unterschiedlichen Einflusssphären, in die Castorp auf dem Zauberberg gerät, zu umreißen. Die „leicht verschleierte, angenehm heisere Stimme“ (ZB, 505) Clawdia Chauchats vergegenwärtigt für Castorp auch Hippes Stimme, die „angenehm belegt, verschleiert, etwas heiser war“ (ZB, 185), mit ihrer „exotischen Aussprache“ (ZB, 505) wird Frau Chauchat zugleich Krokowski und damit dem Bereich des Unbewussten zugeordnet, schließlich steht sie zudem durch ihr „Stümpern und Radebrechen“ (ZB, 220) im Deutschen dem Meister der artikulatorischen Klarheit Settembrini diame­ tral entgegen. Auch die vor allem im Unterkapitel Walpurgisnacht erfolgende Kennzeichnung des Französischen als Sprache der Erotik, des Kontrollverlusts und der Verantwortungslosigkeit kann als Beispiel dafür gesehen werden, wie im Roman prinzipiell zentrale Motive mit dem metasprachlichen Diskurs ver­ knüpft sind. Vor dem Hintergrund dieser Sprachsensibilität des Romans, verwundert es nicht, dass auch die beiden rhetorischen Meister auf dem Zauberberg metasprachlich reflektiert und analysiert werden. Beide Figuren – insbesondere aber Naphta – sind im Text durch ihre Redeweise definiert, ihre weltanschau­ lichen Diskussionen markieren zugleich den Ort innerhalb der Diegese, wo 228 229

Bei der ersten Einführung wird die Formel als ‚scheußlich‘ klingend charakterisiert (vgl. ZB, 553). Während Walser in seiner ideologiekritischen Untersuchung die Penetranz der StöhrDarstellung kritisiert und darin vor allem eine wirkungsbewusste Anbiederung des Autors an ein bildungsbürgerliches Lesepublikum erkennt, sieht Heftrich in Karoline Stöhr eine konzeptionell wichtige Figur, weil sie alle Grundthemen des Zauberbergs auf der niedersten Ebene travestiere (vgl. Martin Walser: Ironie als höchstes Lebensmittel oder: Lebensmittel der Höchsten. In: Text und Kritik. Sonderband Thomas Mann. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1976, S. 7–8. Heftrich: Zauberbergmusik [Anm. 185], S. 51). Zu einer möglichen Funktion Karoline Stöhrs als Erzählfigur vgl. außerdem Moll: Störenfriede (Anm. 7), S. 226–235.

107

sich das Sprechen in seiner höchsten Konzentration findet. Settembrinis form­ vollendete und virtuose Sprache wird vom Erzähler und von Castorp genau beobachtet: Die Suade des Italieners lautete eigentümlich angenehm in ihrer unbedingten, von jeder Mundart freien Reinheit und Richtigkeit. Die Worte kamen prall, nett und wie neuschaffen von seinen Lippen, er genoß die gebildeten, bissig behänden Wendungen und Formen, deren er sich bediente, ja selbst die grammatische Beugung und Abwand­ lung der Wörter mit einem offensichtlichen, sich mitteilenden und heiter stimmenden Behagen und schien viel zu klaren und gegenwärtigen Geistes, um sich auch nur einmal zu versprechen. (ZB, 98)

Die sprachliche Eloquenz, mit der Settembrini auftritt, steht von Beginn an unter dem Verdacht, sich vom Inhaltlichen abzulösen und zum Selbstzweck zu werden. Diese Wahrnehmung drängt sich Castorp bereits in seiner ersten Be­ gegnung mit dem Humanisten auf, dessen Rede „schmeckte nach Sonntagspre­ digt“ (ZB, 93). Gegenüber seinem Vetter bemerkt er, Settembrinis Ausführung „klang doch famos, ganz wie bei einem Festakt“ (ZB, 101), seine Worte erin­ nern ihn später sogar an „frische Semmeln“ (ZB, 155). Der sinnliche Genuss des Sprechens bei Settembrini überträgt sich auf den Zuhörer und wird zum vorherrschenden Eindruck, den die mit ihm geführten Gespräche hinterlassen. In dieser Hinsicht stehen die Beschreibungen der Redeweise immer wieder in der Funktion, den Geltungsanspruch des Redners zu untergraben und gleich­ zeitig dessen pädagogische Bemühungen ins Komische zu rücken. Das zeigt sich regelmäßig, wenn den Vorträgen Settembrinis genau in dem Moment, in dem die pathetisch untermalten Diktionen den rhetorischen Gipfel erreichen, ein Kommentar entgegengesetzt wird, der sie auf ihre sprachliche Konstruiert­ heit zurückwirft. So folgt einer Rede, in der Settembrini prophezeit, die Arbeit als Kampf von Vernunft und Aufklärung werde auf dem Wege von Fortschritt und Zivilisation den Menschen „einem immer helleren, milderen und reineren Lichte entgegenleiten“ (ZB, 151), gerade nicht eine irgendwie geartete inhaltli­ che Reaktion auf die vorgetragenen Ideen, sondern die Mitteilung der Gedan­ ken Castorps, dem das soeben Vernommene als „Arie“ (ZB, 151) erscheint.230 Auch in der direkten Antwort auf Settembrini bringt Castorp zum Ausdruck: „Es ist geradezu hörenswert, wie Sie das so zu sagen wissen“ (ZB, 152). Das Wie des Sprechens dominiert über das tatsächlich Gesagte und versinnbildlicht sich in dem doppeldeutigen Prädikat ‚hörenswert‘, das Castorp den Reden seines Mentors wiederholt zuordnet.231 Die Betonung von Klangqualitäten richtet 230

231

108

Bezeichnend erscheint auch, dass die Eindrücke, die Castorp von der Redeweise Settem­ brinis – dem erklärten Gegner der Psychoanalyse – gewinnt, gerade Parallelen zur Be­ schreibung aufweisen, mit der Krokowski als Dozent charakterisiert wird. Seine Thesen über die ‚Liebe als krankheitsbildende Macht‘ erörtert der Psychoanalytiker „in einer gemischten Ausdrucksweise, in zugleich poetischem und gelehrtem Stile, rücksichtslos wissenschaftlich, dabei aber gesanghaft schwingenden Tones“ (ZB, 193). Vgl. ZB, 155, 242, 244, 468, 498, 634, 700.

sich dabei gerade auch ironisch gegen Settembrini als entschiedenem Vertreter des fortschrittlichen Wortes, der „eine politische Abneigung gegen die Musik“ (ZB, 174) hegt.232 Seine Einschätzung, dass die im Kern irrationale Musik selbst in ihrer maximalen Klarheit nicht die wahre, sondern eben „eine träu­ merische, nichtssagende und zu nichts verpflichtende Klarheit, eine Klarheit ohne Konsequenzen“ (ZB, 173) sei, wird über die Beschreibung Settembrinis als sprachlichem Sänger zu einer unfreiwilligen Selbsteinschätzung. Auch das sich zum Leitattribut entwickelnde Wort ‚plastisch‘, das Settembrini Castorp selbst als Kennzeichnung seiner Sprechweise vorschlägt (vgl. ZB, 99), erhält einen zweideutigen Charakter, verweist einerseits auf die einprägsame Anschau­ lichkeit, die der Sprechende beabsichtigt, transportiert aber andererseits immer den Aspekt einer auf die äußere Wirkung bedachten bloßen Modellierung der sprachlichen Oberfläche mit.233 Indem die Reden des Aufklärers aus der Perspektive des Adressaten Castorp gespiegelt werden und dieser primär die gefeilten Sätze, die schöne Form wahrnimmt, ihm die Worte „so elastisch, wie Gummibälle“ (ZB, 155) vorkommen, verlieren sie auch an inhaltlicher Verbindlichkeit. Das von Castorp insinuierte Bild der ‚Gummibälle‘ verweist zudem auf das Verfahren der rein assoziativen, ‚sprunghaften‘ Verknüpfung, das den gedanklichen Konstruktionen Settembrinis meist zugrunde liegt. Auf diese Weise wird die Glaubwürdigkeit, die Settembrini als Sprecher für sich reklamiert, immer wieder in Frage gestellt. Die Hinweise auf die tendenzielle Verselbständigung der sprachlichen Form entlarven mithin Settembrinis Vor­ stellung vom „Kultus des Wortes“ (ZB, 243), derzufolge „das schöne Wort […] die schöne Tat“ (ZB, 243) erzeuge, als Ausdruck eines Denkens, das in den Kategorien eines „blind ablaufenden Automatismus“234 befangen ist und sich lediglich darauf konzentriert, die Differenz von Theorie und Praxis im harmonisierenden Redefluss zu überspielen. Obwohl die Vorbehalte Castorps dem sprachlichen Gebaren Settembrinis gegenüber nicht bedeuten, dass dessen Belehrungen durchweg ergebnislos blieben, durchkreuzen sie doch an vielen Stellen die Wirkungsabsicht des Redners gerade dort, wo dieser sich im leeren Pathos verliert, indem sie die Ausstaffierung der rhetorischen Oberfläche the­ matisieren und dem Vortrag damit den Boden der Ernsthaftigkeit entziehen. Zur Ironisierung der Reden des Humanisten tragen auch die Einwürfe des Erzählers bei. Die Auslassungen Settembrinis über die Gefahren der ‚Sympathie mit dem Tode‘ – „unzweifelhaft die gräulichste Verirrung des Menschengeistes“ (ZB, 305) – werden wie folgt kommentiert: 232

233 234

Zur Musikfeindlichkeit Settembrinis vgl. Hans Rudolf Vaget: „Politically suspect“. Mu­ sic on the Magic Mountain. In: Thomas Mann’s The Magic Mountain. A Casebook. Hg. von Hans Rudolf Vaget. Oxford 2008, S. 123–141, zu Settembrini vor allem S. 125–129. Der Ausdruck wird sowohl von Castorp als auch vom Erzähler verwendet (vgl. ZB, 152, 289, 369, 440, 447, 495, 538, 576, 681, 780). Fritz: Instrumentelle Vernunft als Gegenstand von Literatur (Anm. 210), S. 123.

109

Hier schwieg Herr Settembrini. Er blieb bei dieser Allgemeinheit stehen und endete auf das bestimmteste. Es war ihm Ernst; nicht unterhaltungsweise hatte er geredet, hatte es verschmäht, seinem Partner Gelegenheit zur Anknüpfung und Gegenrede zu bieten, sondern am Ende seiner Aufstellungen die Stimme sinken lassen und einen Punkt gemacht. (ZB, 305)

Welches Thema Settembrini behandelt hat, wird hier zu Nebensache. Nur die Redeführung Settembrinis, der gerade einen Gedanken bis zum Gemeinplatz ausgeweitet hatte, wird beachtet und an den sprachlichen Duktus des Redners angenähert zum Oxymoron einer ‚allgemeinen Bestimmtheit‘ verbunden. Die ironische Brechung der Redesituation kontrastiert gerade den heiligen Ernst der Aussage, wobei die Beschreibung des intonatorischen Bogens dies zusätz­ lich noch verstärkt, indem sie den Nachdruck, die der Sprecher seiner Rede verliehen hat, auf der Ebene grundlegendster sprachlicher Gestaltungsmittel ab­ bildet.235 Auch wenn Settembrini apologetisch für die Leichenverbrennung ein­ tritt und deren Vorzüge pathetisch unter anderem mit der „Ernüchterung des Bestattungsvorganges durch notwendige Benutzung der modernen Verkehrs­ mittel!“ (ZB, 688) bewirbt, schaltet der Erzähler sich scheinbar lediglich zusam­ menfassend mit einer Anmerkung ein, die aber das Vokabular Settembrinis nur aufgreift, um es dann in der ironischen Umkehr gegen den Sprechenden selbst zu wenden: „Herr Settembrini wußte über dies alles nüchtern Treffendes vorzubringen“ (ZB, 688).236 Auch Naphta wird in seinen Eigenschaften als Sprecher charakterisiert, im Gegensatz zum akustischen Genuss, den Settembrinis wohllautendes Geplänkel immerhin bereitet, häufen sich in diesem Fall jedoch die negativen Merkma­ le. Naphta spricht „mit einer vom Schnupfen sordinierten Stimme, die beim Sprechen an den Klang eines gesprungenen Tellers erinnerte, an den man mit dem Knöchel klopft“ (ZB, 565), betont wird auch sein „schleppende[r] Akzent“ (ZB, 565) und Castorp empfindet Naphtas Angewohnheit „mit ‚Falsch!‘ zu widersprechen, bei dem ‚sch‘-Laut die Lippen vorzuschieben und dann den Mund zu verkneifen“ als besonders „unangenehm“ (ZB, 566f.). In Bezug auf die Redebegleitung Naphtas zeigt sich, dass die Hinweise auf die Gestaltung der Rede, anders als bei Settembrini, nicht dazu dienen, die Sprachmächtigkeit komisierend abzuschwächen, vielmehr unterstreichen sie hier die Radikalität der vorgetragenen Thesen. Dem exaltiert pathetischen Sprechen Settembrinis wird die „unangenehme[] Ruhe“ (ZB, 599) seines Gegenübers entgegengesetzt, in der dieser seine Argumentationen darlegt. Dabei überträgt sich das hervorge­ 235

236

110

Peter-André Alt zeigt in seiner Studie zur Ironie, wie diese Art der Perspektivierung durch den Erzähler dazu führt, dass „der Vortragsmodus die mitgeführten Aussagen“ bestimmt, dabei aber zugleich „deren Besonderes unter dem Prärogativ der Form zer­ rinnt“ (Peter-André Alt: Ironie und Krise. Ironisches Erzählen als Form ästhetischer Wahrnehmung in Thomas Manns Der Zauberberg und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Frankfurt am Main 1989, S. 98). Für ähnlich Kommentare des Erzählers zu Settembrini vgl. auch ZB, 599, 621.

hobene Merkmal der ‚Schärfe‘, das zunächst für die Beschreibung des äußeren Erscheinungsbildes signifikant wird (vgl. ZB, 563), in Castorps Wahrnehmung auch auf Naphtas Rede (vgl. ZB, 566) und entwickelt sich zum Leitattribut für die Kennzeichnung des Jesuiten.237 Metasprachliche Beschreibungen der Sprechweise Naphtas markieren die le­ bensfeindliche Destruktivität seiner Weltanschauung, unterstreichen zugleich aber auch die besondere Faszination seiner kühnen Ideenkonstruktionen. Naphtas Vorträge verbinden sich für Castorp wie für den Leser so einerseits mit dem Gefühl des Unangenehmen und Abstoßenden, andererseits weist das Cha­ rakteristikum der ‚scharfen Ruhe‘ zugleich den Sprecher Naphta in den Diskus­ sionen mit Settembrini oftmals gerade als überlegen aus. Eine deutliche Ironi­ sierung der Redeweise durch Erzählerkommentare, die sich in der Darstellung Settembrinis häufen, finden sich hier seltener und nur am Rande, etwa wenn die Vermittlung einer Rede Naphtas unterbrochen wird, um in Parenthese auf dessen Vorliebe für die Konjunktion ‚denn‘ hinzuweisen, die Naphta nicht nur als syntaktisches Verknüpfungselement, sondern im triumphalen Gestus der Gewissheit als rhetorische Waffe einsetzt (vgl. ZB, 667f.). Wenn der Erzähler außerdem einen Gedankengang Castorps wiedergibt, der die Ausführungen des Jesuiten rekapituliert, und jeweils die lateinische Entsprechung der aufgerufe­ nen Begriffe erscheint (vgl. ZB, 675–677), rückt dies ebenfalls die rhetorischen Mittel des „princeps scholasticorum“ (ZB, 564) in ein ironisches Licht, der es an keiner Stelle verabsäumt, seine Bildung zu demonstrieren. Im Zentrum der Ironisierung steht an dieser Stelle allerdings sicherlich der Protagonist, der in seiner schuljungenhaften Beflissenheit die Ideen und sprachlichen Fertigkeiten Naphtas übernimmt. Die auf der Metaebene sprachlicher Beschreibung und Reflexion vorgenom­ menen Charakterisierungen von Figuren sind analytisch bezüglich der Weltan­ schauungsrhetorik. Auch Dittrich, der Haeckels Welträtsel mit dem Zauberberg vergleicht, betont diesen sprachanalytischen Zug des Romans: „Sprache wird nicht nur als Mittel der Klärung oder als Träger von Begriffen und Proposi­ tionen begriffen, sondern auch als Ursache begrifflicher Unschärfen und als Form der rhetorischen Verschleierung argumentativer Lücken.“238 Neben der analytischen Funktion wirkt die narrative metasprachliche Begleitung aber auch sympathielenkend, sie eignet sich dazu, im Falle Settembrinis wie auch Naphtas die Identifikation mit dem Redner zu verhindern. Während Settembri­ ni als ernstzunehmender Sprecher in Frage gestellt wird, führt die Betonung einer abstoßenden Schärfe der Redeweise bei Naphta zur Distanzierung sowohl Castorps als auch des Erzählers.

237 238

Vgl. ZB, 566, 604, 609, 683, 702, 704, 888, 892. Dittrich: Glauben, Wissen, Sagen (Anm. 188), S. 170.

111

Dieses dem Geltungsanspruch der Weltanschauungsreden zuwiderlaufende Element der Figurenbeleuchtung im Text wird dabei zusätzlich verstärkt durch Hinweise auf Paralinguistisches. So entsprechen den exakten und kunstvoll ziselierten, auf die Schönheit der Form bedachten Äußerungen Settembrinis auch dessen „anmutige Haltung“ (ZB, 88) und die „gelungenen Arm-, Kopfund Schulterbewegungen“ (ZB, 488), nicht zuletzt das Lächeln, „diese feine, etwas spöttische Vertiefung und Kräuselung seines einen Mundwinkels“ (ZB, 89). Wie das Gestenspiel bei Settembrini ähnlich seiner Rhetorik stellenweise ebenfalls zur Pose gerinnt, wird vom Erzähler ironisch dargestellt: „Herr Set­ tembrini beschrieb mit Kopf, Schultern und Händen eine einheitliche Gebärde, die die Frage ‚Nun, und? Was weiter?‘ heiter und artig anschaulich machte“ (ZB, 303). Bei Naphta finden sich entsprechend Anmerkungen zu seinem häss­ lichen Lächeln (vgl. ZB, 577), das die bedrohliche Wirkung insbesondere in der Kombination mit der reduzierten Bewegung entfaltet, mit der er „stille, scharf und blitzend“ (ZB, 604) seine Theorie des Terrors ausführt. Vor allem bei Settembrini dient der Hinweis auf das körpersprachliche Detail dazu, den Anspruch auf bedeutsame Weltverhandlung ironisch zu demontieren. So wird etwa berichtet, dass Settembrini, nachdem er mittels einer echauffiert vorge­ brachten rhetorischen Frage die Verbindung von Freiheit und Wahrheit em­ porgehoben hatte, ein Stück Baumkuchen zurücklegt, „da er nach dieser Frage­ stellung nicht hineinbeißen wollte“ (ZB, 599). Wie schon in der ausgemalten Szenerie, die den Prediger der Askese und Künder des Terrors schleifenbe­ schuht vor Plüschkissen zeigte, durchkreuzt auch hier die narrative Konstruk­ tion einer Fallhöhe zwischen der vorgetragenen Weltverhandlung und ihrem konkreten, sehr banalen situativen Kontext die beabsichtigte Profilierung einer besonderen Wirkungsmacht. Den Geltungsanspruch der beiden Weltanschauungsrhetoriker unterlaufen allerdings nicht nur Beobachtungen, die einen der Sprecher direkt betreffen. Auch wenn der Erzähler während der Streitgespräche zwischen Naphta und Settembrini die Körperhaltung des Zuhörers Hans Castorp beschreibt und sie mit der Haltung beim ‚Schweinchen-Zeichnen‘ vergleicht, rückt dies Naphtas und Settembrinis Wortfechtereien in die Nähe der zahllosen anderen sinnlo­ sen Beschäftigungen der Sanatoriumsgesellschaft (vgl. ZB, 603). Es zeigt sich zudem, dass auch die ‚Konfusion‘ der Weltanschauungsdiskurse, die sich im Verlauf der Dispute herausstellt und die prinzipielle Vertauschbarkeit der Po­ sitionen Naphtas und Settembrinis offenlegt, durch subtile Inversionen auf der Ebene paralinguistischer Beschreibung nachvollzogen wird. In den immer aggressiver geführten Debatten der großen Gereiztheit scheint sich schließlich die Sprecherhaltung fast umzukehren. Während Naphta sich „liebenswürdig instruierend“ (ZB, 1052) an Castorp wendet, stellt Settembrini seine Fragen mit „Schärfe“ und „blitzenden schwarzen Augen“ (ZB, 1055).

112

d) ‚Persönlichkeit‘ gegen ‚Logomachie‘ Der Auftritt Mynheer Peeperkorns, des holländischen Kaffeepflanzers aus Java, im siebten Kapitel des Zauberbergs, ergibt sich zunächst aus einer „doppelte[n] strukturelle[n] Notwendigkeit“239. Zum einen sind Naphta und Settembrini zwar der ‚Konfusion‘ überführt, sie haben sich zu diesem Zeitpunkt bereits selbst gegenseitig ausmanövriert und als Erzieher weitgehend diskreditiert, aber Castorp ist durch seine Erkenntnisse im Schneetraum zu keiner endgültigen Neuorientierung gelangt. Zurück bleibt eine Leerstelle, die die beiden Weltan­ schauungsrhetoriker hinterlassen haben, und „Peeperkorns Rolle ist es, dieses Vakuum auszufüllen“240. Zum anderen entsteht durch Peeperkorn die Möglich­ keit, die noch nicht abgeschlossene Beziehung Castorp-Chauchat unter verän­ derten Bedingungen erneut aufzugreifen. Allerdings korreliert dieser zweite Aspekt insofern mit dem ersten, als die Motivkomplexe aus dem Bereich des Irrationalen, für den Chauchat steht und mit dem auch Peeperkorn verknüpft ist, gerade in dem Moment wieder verstärkt in den Vordergrund treten, in dem sich der Weltanschauungsdiskurs Naphtas und Settembrinis als eine nur scheinbar logisch-rationale Alternative diskreditiert hat. In der Figur des Pieter Peeperkorn überlagern sich mehrere Philosopheme, sie ist in ihrer komplexen Vielschichtigkeit kaum vollständig greifbar. Die Forschung hat denn auch immer wieder auf unterschiedliche Vorbilder aus der Literatur- und Geistesgeschichte hingewiesen, dabei aber deren jeweilige Bedeutung sehr unterschiedlich gewichtet. Äußerlich und auch in einigen Per­ sönlichkeitsmerkmalen nach dem Bild Gerhart Hauptmanns geformt, vertritt Peeperkorn im Roman einen emphatischen an Nietzsche orientierten Begriff des Lebens.241 Als mythische Figurationen vereinigen sich in Peeperkorn Dio­ nysos und Christus, er evoziert das Bild des „tanzenden Heidepriester[s]“ (ZB, 873) ebenso wie das des gekreuzigten „Schmerzensmannes“ (ZB, 941). Am deutlichsten erscheint diese Verbindung anlässlich des opulenten Festes, über das der Abschnitt Vingt et un berichtet. Unter Peeperkorns Regie werden diese nächtlichen Stunden anspielungsreich, zwischen letztem Abendmahl und bac­ chantisch-orgiastischem Gelage oszillierend, in Szene gesetzt. Darüber hinaus

239 240 241

Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung (Anm. 175), S. 205. Joseph: Nietzsche im „Zauberberg“ (Anm. 110), S. 230. Zu Gerhart Hauptmann als Vorbild der Peeperkorn-Figur vgl. Heinz-Dieter Tschörtner: Gerhart Hauptmann und Thomas Mann – Versuch einer Darstellung ihrer Beziehun­ gen. In: Vollendung und Größe Thomas Manns. Hg. von Georg Wenzel. Halle 1962, S. 87–105. In Anknüpfung an Nietzsche sehen die Peeperkorn-Darstellung zum Beispiel Heftrich: Zauberbergmusik (Anm. 185), vor allem S. 198–208. Terence James Reed: „Der Zauberberg“. Zeitenwandel und Bedeutungswandel 1912–1924. In: Besichtigung des Zauberbergs. Hg. von Heinz Sauereßig. Biberach an der Riss 1974, S. 116–118. Joseph: Nietzsche im „Zauberberg“ (Anm. 110), S. 220–273.

113

lässt sich Peeperkorn auch als ironisch modalisierte Referenz auf Kants Konzept des Erhabenen lesen.242 Den durch die hoch aufgeladene Symbolik der Figur aufgerufenen Motivbe­ reichen scheint jedoch erst in zweiter Hinsicht eine inhaltliche Relevanz zuzu­ kommen, vielmehr begründet ihre bloße Fülle im Roman die Wirkungsmacht der Persönlichkeit Mynheer Peeperkorns. Der Leitbegriff der ‚Persönlichkeit‘ bestimmt die vier Unterkapitel, die sich mit Peeperkorn beschäftigen, es ist die­ ses Phänomen, das Castorp an dem Holländer zu ergründen versucht: „‚Mein Gott – eine Persönlichkeit!‘ empfand er zum hundertstenmal“ (ZB, 857).243 Dabei erweist sich jedoch, dass sich die Persönlichkeit gerade jeder rationalen Erfassung entzieht, ihr Ursprung bleibt nebulös und ihre Erscheinung ist ledig­ lich eine diffus auratische Größe. Der Erzähler gibt Auskunft darüber, wie die Zauberberggesellschaft „gebannt“ die gestammelten Verlautbarungen und übergroßen Gebärden Peeperkorns verfolgt, ohne sich über „die unverständli­ che Abgerissenheit, Undeutlichkeit und tatsächliche Unbrauchbarkeit“ seiner Äußerungen „des leisesten Enttäuschungsgefühles bewußt zu werden“ (ZB, 840). Castorp versteht die geheimnisvolle Wirkungsmacht dann auch im Sinne der Persönlichkeit „als ein Mysterium“ (ZB, 883).244 Dieser Eindruck der Persönlichkeit ist es auch, unter dem Castorp seine beiden Mentoren Naphta und Settembrini betrachtet und sie verzwergen sieht (vgl. ZB, 869). Der Vergleich wird im Text explizit und ausführlich durchge­ führt, stellenweise geradezu ausgekostet. In Anwesenheit des „großartig Stam­ melnden“ (ZB, 880) erscheinen Naphta und Settembrini nur noch als die „überartikulierten Erzieher“ (ZB, 869) – die „Politiker“ (ZB, 880) sind der königlichen „Herrschernatur“ (ZB, 867) hoffnungslos unterlegen. Als bezeich­ nend erweist sich an diesem Vergleich bereits die Perspektive, in der die beiden Rhetoriker erfasst werden. Mit der Einführung der großen Lebensnatur Peeper­ korn bildet die Figurenkonstellation ab, was die weltanschaulichen Rededuelle gezeigt haben: dass sich sowohl Naphta als auch Settembrini jenseits ihrer behaupteten Antinomien gleichermaßen in einem begrenzten schematischen Denken in verabsolutierten Kategorien bewegen, dem die vitale Basis fehlt. In 242 243

244

114

Vgl. Kablitz: Der Zauberberg (Anm. 7), S. 127–130, Fn. 91. Inwieweit dieser Begriff der ‚Persönlichkeit‘ auf Thomas Manns Beschäftigung mit Goe­ the rekurriert und etwa die Überlegungen aus Goethe und Tolstoi aufnimmt, hat Heftrich erörtert (vgl. Heftrich: Zauberbergmusik [Anm. 185], S. 210–216). Hinweise zu diesem Hintergrund gibt auch Wysling: Der Zauberberg (Anm. 184), vgl. S. 416. In dieser Macht der Persönlichkeit Peeperkorn wurden in der Forschung verschiedent­ lich schon die Zeichen einer politischen Gefährdung durch die charismatische FührerNatur gesehen (vgl. Katja Wolff: „Dem Tod keine Herrschaft einräumen“. Peeperkorn als Humanist. In: Thomas Mann. Aufsätze zum Zauberberg. Hg. von Rudolf Wolff, Bonn 1988, S. 91–113, hier S. 104f. Günter Scholdt und Dirk Walter: Sterben für die Republik? Zur Deutung von Thomas Manns „Zauberberg“. In: Wirkendes Wort 30 (1980), S. 108–122, hier S. 109–110. Zu den Zügen eines Spenglerschen Cäsaren bei Peeperkorn vgl. Beßlich: Faszination des Verfalls (Anm. 5), S. 80–87.

dieser strukturellen Gemeinsamkeit fallen beide in eins, die Fronten, die sie in ihrem Kampf der Weltanschauungen gezogen haben, erweisen sich als bloßes Konstrukt der scheinbaren Widersprüche, das dem Leben nicht gerecht wird.245 Der Disput zwischen Naphta und Settembrini, der sich als ein Hantieren mit leeren Begrifflichkeiten und Scheinoppositionen herausgestellt und zur Kon­ fusion geführt hat, erhält sein eigentliches Gegengewicht erst in der Konfron­ tation mit dem Gestammel des ‚Persönlichkeitsmysteriums‘ Peeperkorn. Das Verzwergen Naphtas und Settembrinis lässt sich auch als ironische Antwort auf den von ihnen selbst betriebenen Heroenkult verstehen. Konnten sie in ihren großen Disputen sämtliche Größen der Weltgeschichte im verbalen Kampf der Prinzipien gegeneinander antreten lassen und jeweils in ihrem Sinne diri­ gieren, wird nun ihr Versagen gerade angesichts einer eigentlich schon recht abgehalfterten Größe an sich vorgeführt. In dieser Gegenüberstellung treffen grundsätzlich die verschiedenen Formen der Kommunikation aufeinander, die zwischen konzentrierter Artikulation ei­ nerseits und Begriffslosigkeit andererseits das Spannungsfeld erzeugen, das für den Zauberberg insgesamt von Bedeutung ist. Mit ihrer intellektuellen Redege­ wandtheit besetzen Settembrini und insbesondere Naphta den einen Pol kom­ munikativer Möglichkeiten, der im Extrem eines verselbständigten Sprechens kulminiert, das sich von den Bedingungen der lebensweltlichen Realität abkop­ pelt und nur noch die Verfügungsgewalt über absolute Wahrheiten demons­ triert. Dem gegenüber steht die elliptische Redeweise Peeperkorns, die sich jeglicher Formgebung widersetzt, das Sprachliche im ekstatisch empfundenen Leben zur Auflösung drängt und schließlich überhaupt negiert.246 Indem die ‚Persönlichkeit‘ noch in ihrer „Un-Sprache“247 eine geheimnisvolle Wirkungs­ macht entfaltet, die Naphta und Settembrini als Sprecher außer Kraft setzt, lassen die Peeperkorn-Episoden auch ein prinzipiell sprachskeptisches Moment erkennen.248 245

246 247 248

Tatsächlich findet im Schatten Peeperkorns dann auch eine Art Verbrüderung zwischen Naphta und Settembrini statt. In Anwesenheit der großen Persönlichkeit, die ihre Sprachmächtigkeit einschränkt, verlegen sie sich darauf, Blicke zu tauschen, „die nach der Begegnung verzweifelt himmelwärts wanderten“ (ZB, 881). Im Gespräch mit Cas­ torp gibt Settembrini explizit zu verstehen, dass er im Hinblick auf Peeperkorn geneigt sei, auf die Seite Naphtas zu treten (vgl. ZB, 884). Am sinnfälligsten wird dieses Extrem in der vom tosenden Wasserfall übertönten ‚Rede‘ Peeperkorns in Szene gesetzt (vgl. ZB, 940–942). Wysling: Der Zauberberg (Anm. 184), S. 416. Für diese Skepsis des Romans steht auch ein, dass der Erzähler seinen Protagonisten immer wieder in Räume der Sprachlosigkeit versetzt, um ihn die Intensität des Uner­ klärbaren erfahren zu lassen. Ein Gespräch auf Französisch, das für Castorp „parler sans parler […] sans responsabilité“ (ZB, 511) bedeutet, bereitet die Liebesnacht mit Chauchat vor, die im Erzählen selbst wiederum in die „wortlose Zwischenzeit“ (ZB, 525) fällt. Der Weg zur Erkenntnis führt Castorp durch das „Urschweigen“ (ZB, 717) in die Schneevision, in welcher dann der Konflikt zwischen sprachlicher und nichtsprach­ licher Sphäre im Traumhaften aufgehoben erscheint.

115

In der Sphäre, die Peeperkorn als „Mann der Undeutlichkeit und des Ge­ fühls“ (ZB, 882) vertritt, werden die rhetorischen Kampfstrategien Naphtas und Settembrinis wirkungslos, da der Holländer die Kategorie des Gegensatzes überhaupt aufhebt, den der Weltanschauungsdiskurs forciert. Peeperkorn steht über den Widersprüchen, paradoxerweise gerade weil er alle Gegensätzlichkei­ ten in sich vereint, er ist auf positive Weise zweideutig (vgl. ZB, 893), anders als Naphta, der die Zweideutigkeit sprachlich rationalisiert und instrumentali­ siert. Aus dieser Überlegenheit Peeperkorns ergibt sich eine Macht, die als „ein Druck, eine Herabminderung und Beeinträchtigung“ (ZB, 880) auf den beiden Erziehern und ihren Diskussionen lastet, im Bannkreis seines Lebenskultes ist es um Naphtas und Settembrinis Antinomien getan (vgl. ZB, 896). Obwohl Peeperkorn die „Logomachie“ (ZB, 894) marginalisiert, führt er selbst nicht aus der Konfusion. Die Ansicht Pierre-Paul Sagaves, dass es Peeper­ korn gelinge, das Unversöhnliche zu versöhnen, das Chaos in Ordnung zu verwandeln,249 greift zu kurz und beachtet nicht die ambivalente Perspektive, unter der auch Peeperkorn von seinem ersten Auftritt an erfasst wird. Die na­ turhafte Größe hält sich in der symbolischen Überfrachtung selbst nicht Stand und verfestigt sich zum Maskenhaften (vgl. ZB, 831, 837), Peeperkorn kann nur die Vorstellung emphatischen Lebens beständig evozieren, sie aber nicht einlö­ sen.250 Helmut Koopmann sieht die Peeperkorn-Figur in der Funktion, Naphta und Settembrini ein letztes Mal zu widerlegen.251 Einwenden lässt sich dagegen allerdings, dass sich die beiden bereits selbst spätestens im ‚großen Kolloquium‘ der Operationes spirituales selbst widerlegt haben und Peeperkorns Auftauchen funktional vielmehr in der Degradierung der Weltanschauungsrhetoriker zu sehen ist. Beispielhaft verdeutlicht sich diese Degradierung darin, dass Castorp versucht ist, die „Schwätzer“ (ZB, 747), als die ihm Naphta und Settembrini in seiner Schneevision erschienen waren, nunmehr mit dem Diminutiv zu kenn­ zeichnen, den Peeperkorn zuvor auf ihn selbst gemünzt hatte: sie werden zu „Schwätzerchen“ (ZB, 869). Insofern verhilft Peeperkorn dem Protagonisten, sich weiter von den Extremen der Weltanschauungsrhetoriker zu distanzieren, kann jedoch zugleich als Gegenextrem nicht Identifikationsfigur sein. Das von Peeperkorn angebotene ‚Du‘ wird Castorp jedenfalls vermeiden (vgl. ZB, 930).

249

250

251

116

Vgl. Pierre-Paul Sagave: Der Begriff des Terrors in Thomas Manns Zauberberg. In: Thomas Mann. Aufsätze zum „Zauberberg“. Hg. von Rudolf Wolff. Bonn 1988, S. 9–22, hier S. 35. Kurzke erkennt in der Peeperkorn-Figur „mehr eine Allegorie des Lebens und Leidens als eine lebendige Gestalt, mehr eine Kritik der Lebensphilosophie als eine überzeugen­ de antiintellektuelle Botschaft“ (Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung [Anm. 175] S. 206). Heftrich spricht in diesem Zusammenhang von der „ausgehöhlten Natur“ (Heftrich: Zauberbergmusik [Anm. 185], S. 209). Helmut Koopmann: Der klassisch-moderne Roman in Deutschland: Thomas Mann – Alfred Döblin – Hermann Broch. Stuttgart u. a. 1983, S. 68.

e) Weltanschauungsdidaktik und Experiment Die weltanschauungsliterarischen Texten immanente Relation zwischen spre­ chendem Ich und Leser zeichnet sich durch einen didaktischen Zug aus, wobei der Verfasser, die Autorität des Lehrers für sich reklamierend, den Rezipienten dazu auffordert, den Bildungsprozess zu wiederholen, den er bereits vollzogen hat und an dessen Ende die Erkenntnis der propagierten Weltanschauung steht.252 Auch im Zauberberg ist die Weitergabe von Weltanschauungswissen in eine kommunikative Konstellation eingebettet, die ein Lehrer-Schüler-Ver­ hältnis abbildet und den weltanschaulichen Bund anbietet.253 Settembrini und Naphta übernehmen im Roman einen pädagogischen Auftrag und tragen sich Hans Castorp explizit als Erzieher an. So bekundet Settembrini von Anfang an seine pädagogischen Absichten (vgl. ZB, 100) und versucht, diese auch recht bald in seiner Beziehung zu Castorp zu institutionalisieren, wenn er ihm vorschlägt, berichtigend einzuwirken, falls die Gefahr verderblicher Fixierun­ gen drohe (vgl. ZB, 306). Naphta definiert sich ebenfalls, wenn auch weniger direkt, über die Rolle des Erziehers und lässt nach dem ersten Gespräch anklin­ gen, dass auch er „nicht ohne alle pädagogische Überlieferung“ (ZB, 581) sei.254 Im Unterschied zu der einseitig konstruierten Ich-Leser-Relation im Weltan­ schauungstext ist die pädagogische Konstellation im Roman auf der Figurene­ bene konkret entworfen. Der Fokus richtet sich im Zauberberg auf die Seite des Adressaten, indem Naphta und Settembrini Teil der Geschichte Hans Castorps werden. Weil der einseitige kommunikative Richtungsverlauf in der Fiktion aufgebrochen werden kann, sind auch die vorgetragenen Weltanschauungen potentiell in ihrer Wirkung überprüfbar. Vor dem Hintergrund der Frage, wie weltanschauungsliterarische Strukturen im Zauberberg integriert und reflektiert werden, ist es daher relevant zu untersuchen, in welcher Form und bis zu welchem Grad es Naphta und Settembrini gelingt, pädagogischen Einfluss auf die Entwicklung des Protagonisten zu nehmen und wie die weltanschaulichen Methoden sich im Denken und Sprechen des Schülers auswirken. Die Rahmenbedingungen des pädagogischen Verhältnisses zwischen Settem­ brini und Castorp werden in den ersten fünf Kapiteln des Romans ausgehan­ 252 253

254

Vgl. Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 165), S. 373f., 376. Zur homoerotischen Grundierung der pädagogischen Beziehungen vgl. die textgeneti­ sche und begriffsanalytische Untersuchung von Holger Rudloff und Helmut Liche: „Pädagogen-Rivalität (quasi erotisch)“. Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“. In: Thomas-Mann-Jahrbuch 26 (2013), S. 231–256. Wolfgang Riedel hat berechtigterweise die Bedeutung des dritten Mentors, Hofrat Beh­ rens, unterstrichen, der nicht geisteswissenschaftlich wie Settembrini und Naphta, son­ dern als Arzt mit seinem naturwissenschaftlichen Wissen den Bildungsprozess Castorps entscheidend prägt (vgl. Wolfgang Riedel: Literatur und Wissen. Thomas Mann: Der Zauberberg [1924]. In: Ders.: Nach der Achsendrehung. Literarische Anthropologie im 20. Jahrhundert. Würzburg 2014, S. 144–162).

117

delt, also vor der Ankunft Naphtas.255 Als Grundtendenz kristallisiert sich dabei heraus, dass Settembrini in der Funktion des Erziehers weitgehend versagt, aber als Mensch Castorps Sympathie gewinnt.256 Während der sieben Jahre, die Castorp auf dem Zauberberg verbringt, erfährt sein Verhältnis zu Settem­ brini unterschiedliche Konturierungen, je nachdem, ob er diesen stärker als Pädagogen oder als väterlichen Freund wahrnimmt. In erster Hinsicht zeigt sich Castorp zwar interessiert an den Ausführungen seines Mentors, begegnet ihnen jedoch von Beginn an auch mit einer Skepsis, die sich gegen den Inhalt der theoretischen Erörterungen und ideologischen Bestimmungen ebenso rich­ tet wie gegen den Duktus der Rede, in dem sie vorgetragen werden. Zum Ausdruck bringen diese skeptische Haltung in konzentrierter Form schon die Bezeichnungen „Windbeutel“ (ZB, 97) und „Drehorgelmann“ (ZB, 89)257, die Castorp dem Humanisten immer wieder zuordnet.258 Obwohl es Settembrini nicht gelingt, Castorp von seiner Weltsicht zu über­ zeugen, bleibt diese erste pädagogische Beziehung nicht folgenlos. Im Prozess der Konfrontation mit dem Erzieher Settembrini formt sich ein Selbstverständ­ nis des Schülers aus, mit dem er allen späteren Einflüssen begegnet. Ironischer­ weise gibt ausgerechnet Settembrini seinem Schüler den Leitspruch „Placet experiri“ (ZB, 150) an die Hand, der sich in seiner Zweideutigkeit ebenso für Versuche eignet, die den moralischen Vorstellungen des Erziehers zuwiderlau­ fen müssen.259 Die Formel enthält denn auch begrifflich den Kern der Haltung, die Castorp für sein Dasein auf dem Zauberberg verinnerlicht und immer souveräner zu vertreten weiß.260 Sie erlaubt es ihm, die negativen Aspekte seiner Orientierungslosigkeit ins Positive zu wenden und sich im Zustand des Experiments zu begreifen. Dieses Selbstverständnis ist bereits gefestigt, wenn Naphta als neue Erziehergestalt auftritt. Der anfänglich unbestimmte Vorbehalt gegenüber der Vereinnahmung, der sich in der Beziehung zu Settembrini 255

256

257

258 259 260

118

Helmut Jendreieck hat insgesamt in der Beziehung Settembrini-Castorp die „Achse des Romans“ ausgemacht (Helmut Jendreieck: Thomas Mann. Der demokratische Roman. Düsseldorf 1977, S. 310). Hier ist Herwig Blankertz zu widersprechen, der aus der Sympathie, die Castorp und der Erzähler Settembrini insbesondere im zweiten Teil des Romans entgegenbringen, schlicht auch den pädagogischen Sieg herauslesen will (vgl. Herwig Blankerz: Der Erzie­ her des Zauberberg – Lodovico Settembrini. Eine Studie zum Verhältnis von Inhalt und Ethos humanistischer Pädagogik. In: Zauberberg erneut bestiegen. Hg. von Walter Müller, Herwig Blankerz und Emmanuel Goldstein. Wetzlar 1981, S. 65–78, hier S. 77). Zum Bedeutungsspektrum dieses Motivs im Zauberberg, seinen Quellen und den Ver­ bindungen zum Frühwerk Thomas Manns vgl. Wißkirchen: „Ich glaube an den Fort­ schritt, gewiß“ (Anm. 187), S. 93–95. Schneider: Lebensfreundlichkeit und Pessimismus (Anm. 207), S. 275–280. Ebenfalls in diese Reihe ließe sich die Betitelungen Settembrinis als ‚Pädagog‘ einfügen, die Castorp mehrmals pejorativ gebraucht (vgl. zum Beispiel ZB, 155, 307, 376). Vgl. Heftrich: Zauberbergmusik (Anm. 185), S. 53. Vgl. zum Experiment als Lebenshaltung Hans Castorps auch Joseph: Nietzsche im „Zauberberg“ (Anm. 110), S. 49f.

herauskristallisiert hatte, ist zu diesem Zeitpunkt schon Programm. Aus der Unverbindlichkeit erwächst für Castorp die Freiheit, sich der Kombinatorik Naphtas auszusetzen und diese zugleich unter der Perspektive der Vorläufigkeit und prinzipiellen Revidierbarkeit zu betrachten. Anders als im Fall Settembrinis findet in dieser zweiten pädagogischen Beziehung kaum eine menschliche Annäherung statt. Wie Naphta als Figur insgesamt vornehmlich als Redner gezeichnet ist, resultiert seine Wirkung auf Castorp auch in erster Linie aus den theoretischen Vorträgen, die er im Streit mit Settembrini entwickelt.261 Als Redner geht von ihm allerdings eine ungleich größere Faszination für Castorp aus als von dem italienischen Aufklä­ rer. Nach dem ersten Zusammentreffen stellt Castorp fest: „so tapfer unser Settembrini selber ist, […] so glaube ich doch, daß er vor manchem Angst hat, wovor der kleine Naphta nicht Angst hat“ (ZB, 582f.). Die strenge Dialektik seiner Argumentation und die radikal zugespitzten Positionen bieten für die Erfahrung des Irrationalen in der Zauberbergwelt vermeintlich rationale Erklä­ rungsmuster, indem sie den Widerspruch zum logischen Gesetz führen. Naphta liefert in seinen Belehrungen über die mystischen Hintergründe der Freimaure­ rei Castorp nicht zuletzt die Stichworte, mit denen er seine Existenz auf dem Zauberberg im Sinne einer Steigerung durch die „alchimistisch-hermetische Pädagogik“ (ZB, 902) zum „geniale[n] Weg“ (ZB, 903) erklären wird, auf dem der Schüler über das Todesprinzip zum Leben finden soll. Obwohl im Verlauf der Dispute Castorps Zweifel an den gewagten Kombinationen Naphtas wächst – dieser erweist sich für ihn als „inkorrekter Jesuit“ (ZB, 701), seine Theorien als unstimmig (vgl. ZB, 703) – fasziniert ihn gerade das fatalistische Denken bis zum Schluss, wenn auch seine „Bosheiten […] nachgerade alles Maß und häufig genug die Grenze des geistig Gesunden überschritten“ (ZB, 1046). Weder Settembrini noch Naphta können ihre pädagogischen Absichten vollständig umsetzen, Castorps Beziehung zu beiden wird dabei von komple­ mentär wirkenden Kräften bestimmt. Während Settembrinis Programm kaum Anklang findet, hier aber eine von Sympathie getragene Verbindung entsteht, scheidet Naphta nicht erst durch seinen Tod als konstanter menschlicher Be­ gleiter aus, seine Ideen behalten jedoch eine größere Anziehungskraft. Im Ab­ schnitt Schnee ist dies formuliert, wenn Castorp sich gedanklich an Settembrini wendet: „Übrigens habe ich dich gern. Du bist zwar ein Windbeutel und Drehorgelmann, aber du meinst es gut, meinst es besser und bist mir lieber als der scharfe kleine Jesuit und 261

Schneider merkt zu Recht an, dass die wenigen Gelegenheiten, in denen Naphta allein im Gespräch mit Castorp gezeigt wird, von einer gewissen Sterilität geprägt sind. Den Grund dafür sieht Schneider darin, dass Naphta als Figur hauptsächlich durch den geistreichen Widerspruch in den Diskussionen mit Settembrini Kontur gewinne, von dessen Gegenwart er letztlich abhängig bleibe (vgl. Schneider: Lebensfreundlichkeit und Pessimismus [Anm. 207], S. 262).

119

Terrorist, der spanische Folter- und Prügelknecht mit seiner Blitzbrille, obgleich er fast immer recht hat, wenn ihr euch zankt…“ (ZB, 719)

Das ‚Placet experiri‘ steht im Hintergrund von Castorps primär passiv rezepti­ vem Verhalten während der großen Dispute seiner Mentoren, stellt gleichzeitig aber auch die Maxime dar, unter der er sich die verschiedensten Standpunkte für sein Denken zu eigen macht, variiert, kombiniert und in neue Kontexte ver­ setzt. Oftmals weisen diese aus unterschiedlichen Theoriematerialien konstru­ ierten gedanklichen Entwürfe Züge eines dilettantischen Eklektizismus auf,262 der sich deutlich bis in den konkreten Sprachgebrauch niederschlägt. Castorp übernimmt von fast allen Personen, mit denen er auf dem Zauberberg in Berührung kommt, bestimmte Formulierungen oder Redensarten und schöpft in seinen Äußerungen immer wieder aus diesem reichen Arsenal sprachlicher Fragmente. Kurzke hat deshalb die Meinung vertreten, dass der Autor seinem Protagonisten „keine eigene Sprache“ zugestehe, um die „anmaßende[] Armse­ ligkeit“263 Castorps bloßzustellen, welche darin zum Ausdruck komme, dass dieser seine Identitätsschwierigkeiten mit fremdem Sprachgebaren zu verber­ gen suche. Als Zeichen einer dissoziierten und haltlosen Persönlichkeit ist die sprachliche Kombinatorik bei Castorp jedoch nicht erschöpfend beschrieben. Mit diesen variierenden Sprachübungen erzählt der Zauberberg zum einen ganz grundsätzlich die „Entstehung von Theorie durch Wiederholung, durch wie­ derholte Arbeit an früheren Äußerungen“264, zum anderen wird der Protagonis­ ten auf diese Weise auch in das ironische Spiel des Erzählers eingebunden.265 So weiß Castorp seine experimentierende Redeweise in bestimmten Situationen durchaus geschickt für seine Zwecke einzusetzen, etwa wenn er vor Settembrini die ‚Alten‘ zitiert und seine Äußerungen gekünstelt mit bildungssprachlichem Vokabular ausstaffiert (vgl. ZB, 538). Indem er Fragmente aus den weltanschau­ lichen Konzepten herausgreift, vermischt oder neu kontextualisiert und dabei das sprachliche Material aus den Vorträgen Naphtas und Settembrinis benutzt, lassen sich seine verwirrten Reden oftmals geradezu als Parodien auf seine Lehrmeister lesen. In der Pose des Schülers interveniert er so in einem der Streitgespräche: Er wünsche nach keiner Seite anzustoßen, sagte er, aber hier sei offenbar vom Fort­ schritt die Rede, vom menschlichen Fortschritt, also gewissermaßen von Politik und der beredsamen Republik und der Zivilisation des gebildeten Westens, und da meine 262

263 264 265

120

Vgl. auch Lorenz: Motivische Textur als ästhetische Selbstreferenz (Anm. 190), S. 220. Zum Dilettantismus Castorps vgl. Caroline Pross: ‚Dekadenz des Ganzen‘. Zur Poetik des Enzyklopädischen in Thomas Manns Der Zauberberg. In: Vom Weltbuch bis zum World Wide Web – Enzyklopädische Literaturen. Hg. von Waltraud Wiethöfer, Frauke Berndt und Stephan Kammer. Heidelberg 2005, S. 223–232. Hermann Kurzke: Wie konservativ ist der „Zauberberg“?. In: Gedenkschrift für Thomas Mann 1875–1975. Hg. von Rolf Wiecker. Kopenhagen 1975, S. 154. Kablitz: Der Zauberberg (Anm. 7), S. 253. Vgl. auch Schneider: Lebensfreundlichkeit und Pessimismus (Anm. 207), S. 203–206.

er nun, daß der Unterschied, oder, wenn Herr Naphta denn durchaus wolle, der Gegensatz von Leben und Religion auf den von Zeit und Ewigkeit zurückzuführen sei. Denn Fortschritt sei nur in der Zeit; in der Ewigkeit sei keiner und auch keine Politik und Eloquenz. Dort legt man, sozusagen, in Gott den Kopf zurück und schließe die Augen. Und das sei der Unterschied von Religion und Sittlichkeit, konfus ausgedrückt. (ZB, 697)

Castorp greift hier die Begriffe aus den vorangegangenen Gesprächen mit seinen Erziehern auf und formt verschiedene Gegensatzpaare, die er dann übereinanderblendet. In den antithetischen Reihungen, in denen heterogene Begriffspaare scheinbar mühelos miteinander verknüpft oder voneinander ab­ geleitet werden, kopiert diese Rede die von Naphta und Settembrini verwende­ ten argumentativen und rhetorischen Verfahren – selbst das charakteristische ‚denn‘ fehlt nicht. Kleine stilistische Schnitzer und floskelhafte Elemente am Rande (‚also gewissermaßen‘, ‚sozusagen‘, ‚konfus ausgedrückt‘) konterkarieren gleichzeitig die rednerische Emphase und kennzeichnen das unbeholfene Expe­ riment. Wenn Castorp solche Muster in dilettantischer Manier übernimmt, führt das nicht nur die Naivität des Sprechers vor, sondern wirkt auch auf die Weltanschauungsrhetorik zurück, die Naphta und Settembrini auf höherem Niveau praktizieren.266 Die Beliebigkeit, mit der auch sie unterschiedliche Be­ griffsgerüste aufbauen und einer bestimmten Perspektive unterwerfen, spiegelt sich mithin darin, dass Castorp seine theoretischen Kombinationen gerade aus der sich parteilos gebenden Position der Unverbindlichkeit vorbringt. In dieser unverbindlichen Haltung, die aus der experimentierenden Herangehensweise resultiert, trifft sich Castorp in vielen Punkten mit dem Erzähler und kann mit diesem in ironische Distanz zu den Weltanschauungsrhetorikern treten, wenn er auch selbst oftmals gleichzeitig zum Objekt dieser Ironisierung wird. Auf der einen Seite Dilettant, erweist er sich damit auf der anderen Seite im­ mer wieder als ‚Schalk‘, der den dogmatischen Absolutheitsansprüchen seiner Mentoren widersteht. Das Schalkhafte erkennt zunächst Settembrini (vgl. ZB, 299), der Erzähler übernimmt diese Charakterisierung (vgl. ZB, 859) und lässt sie schließlich in der „gewissen verschmitzten Lebensfreundlichkeit“ (ZB, 877) wieder anklingen, die er dem Protagonisten zuschreibt. Ausgehend vom Gedanken des Experiments als Zentrum der Selbstdefiniti­ on des Protagonisten auf dem Weg vom unmündigen Schüler zum ‚Bildungs­ 266

Indem für den Leser stets offensichtlich ist, aus welchen Quellen Castorp sein Material bezogen hat, wenn er Fragmente aus den Debatten seiner Mentoren herausbricht und neu zusammensetzt, erscheinen zudem auch die Argumentationen Naphtas und Settem­ brinis in einem kritischen Licht. Auch sie operieren mit der Kompilation vorgeprägter Wissensmaterialien, reflektieren aber die Vermitteltheit ihrer eigenen Positionen zu keinem Zeitpunkt. Diese intratextuellen Vernetzungen, die sich auf Erzähler- wie Figu­ renebene im Zauberberg in großer Zahl finden, tragen, wie Andreas Kablitz belegt, in hohem Maße zum analytischen Potential des Romans bei (vgl. Kablitz: Der Zauberberg [Anm. 7], S. 240–256. Sein spezifisches Konzept des ‚analytischen Erzählens‘ erläutert Kablitz ebd., S. 192–196).

121

reisenden‘,267 erhellt sich nicht nur der Umstand, dass weder Naphta noch Settembrini vollständig zu überzeugen vermögen, sondern gerade auch die Bedeutung, welche die weltanschaulichen Konzepte in ihrer Struktur für die Reflexionen Castorps erhalten. Als Ausdruck einer spezifischen Formation von Wissen korrespondieren sie mit den vielfältigen weiteren Wissensformen und -gebieten, die der Roman interdiskursiv integriert. Entworfen wird ein breites Spektrum, das von unterschiedlichen Bereichen der Natur- und Geisteswissen­ schaften bis hin zu Spiritismus und Hypnose reicht.268 Angesichts der gedankli­ chen Experimente, im Rahmen derer Castorp „Studien“ (ZB, 412) zu Physiolo­ gie und Biologie durchführt oder sich ‚regierenderweise‘ mit den Thesen seiner beiden Erzieher beschäftigt,269 fällt auf, dass hier nicht nur inhaltliche Aspekte probeweise durchexerziert werden, sondern jeweils auch bestimmte Formen der Weltaneignung durch Wissen Teil der Versuchsanordnung sind. Verfolgt man Castorps gedankliche Erkundungen der unterschiedlichen Wissensbezirke, so zeigt sich dabei zunächst, dass sie in doppelter Weise in der Funktion stehen, das Unerklärliche des Irrationalen abzuwehren, dem er auf dem Zauberberg begegnet.270 Zum einen stellen sie das Bemühen dar, 267

268

269

270

122

Als einen solchen wird ihn der Erzähler schließlich vorstellen, wobei der Begriff in Bezug auf Hans Castorp eher ironisch zu verstehen ist (vgl. ZB, 869, 893, 997, 1034). Die Frage, inwiefern der Zauberberg der Gattung des Bildungsromans angehört, bzw. diese Gattung parodiert oder gar als Entbildungsroman bezeichnet werden kann, soll hier nicht weiterverfolgt werden. Sehr ausführlich finden sich die verschiedenen Stand­ punkte innerhalb der Forschung bei Neumann diskutiert (vgl. Michael Neumann: Ein Bildungsweg in der Retorte. Hans Castorp auf dem Zauberberg. In: Thomas-Mann-Jahr­ buch 10 [1997], S. 133–148). Vgl. Dietrich von Engelhardt und Hans Wißkirchen: „Der Zauberberg“ – die Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman. Stuttgart 2003. Marianne Wünsch: Ok­ kultismus im Kontext von Thomas Manns „Zauberberg“. In: Thomas Mann Jahrbuch 24 (2011), S. 85 –103. Marcel Schmid: Zauberbergischer Prototyp. Davos, der Roman und die Lebensreform. In: Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruch­ stimmung um 1900. Hg. von Thorsten Carstensen und Marcel Schmid. Bielefeld 2016, S. 209–229. Die Bezeichnung ‚Regieren‘ (erstmals ZB, 589), die Castorp für seine gedankliche Be­ schäftigung wählt, ist in der Forschung als politisch motiviertes Stichwort aufgefasst und auf die republikanische ‚Wende‘ des Autors hin gedeutet worden (vgl. Scholdt und Walter: Sterben für die Republik? [Anm. 244], S. 110). Gegen eine solche Interpretation spricht indessen, dass die ‚Regierungstätigkeit‘ des Protagonisten deutlich in ihrem kontemplativen und spielerischen Charakter betont wird. ‚Regieren‘, „dies Spiel- und Knabenwort, dieser Kinderausdruck“ (ZB, 589) steht selbst noch im Hinblick auf das Pflichtgefühl, das Castorp damit verbindet (vgl. ZB, 588f.), eher in einem figurenpsy­ chologischen Zusammenhang als im Zeichen einer aktiven und weltzugewandten poli­ tischen Verantwortlichkeit (vgl. auch Schneider: Lebensfreundlichkeit und Pessimismus [Anm. 207], S. 207f.). Bezeichnenderweise wird die abgeschiedene Bank am Wildbach, auf der Castorp einst, von Schwindel und Nasenbluten übermannt, in tranceartiger Entrückung das Urbild Hippe aufgestiegen war, zu seinem bevorzugten ‚Regierungsplatz‘, an dem er nach elf Monaten und nunmehr geregelter Akklimatisierung sein Leben in Form von ‚Kom­ plexen‘ überdenkt und zu ordnen versucht (vgl. ZB, 584–589). An diesem Ort wird

die erfahrenen abenteuerlichen Korrespondenzen von Liebe, Krankheit und Tod rational zu erfassen, diese etwa einer wissenschaftlichen, medizinischen Perspektive zu unterwerfen oder aber philosophisch und geistesgeschichtlich einzuordnen. Zum anderen vollzieht sich die Reflexion als Prozess der Abs­ traktion, indem der subjektiv persönliche Konflikt ins Allgemeine projiziert wird. Seine beiden geistigen Mentoren sind in diesem Zusammenhang für Castorp interessant, weil sie Strategien der Rationalisierung offerieren und mit ihren Weltanschauungskonzepten suggerieren, eine umfassende Erklärung der menschlichen Existenz leisten zu können. Die Bemühungen, das Erlebnis des Irrationalen in unterschiedliche Wissens­ formationen einzugliedern und dadurch zu entschärfen, gelingen nicht. Ange­ regt durch ein Gespräch mit Hofrat Behrens, in dem sich aus der Betrachtung des Chauchat-Porträts eine medizinische Lehrstunde über die Beschaffenheit der Epidermis entwickelt hatte, verlegt sich Castorp auf seiner Balkonloge auf die Erforschung des Lebens durch „Anatomie, Physiologie und Lebenskunde“ (ZB, 415). Die wissenschaftlich sezierende Perspektive auf biochemische Vor­ gänge von Zeugung und Tod verbindet den intellektuellen und körperlich-se­ xuellen Aspekt zum Lusterlebnis, das in den erotischen Traum über Clawdia Chauchat mündet (vgl. ZB, 433f.), noch im Versuch der Objektivierung bleibt hier der Blick auf das Leben stets nur als ein zweideutiger möglich.271 Die Art und Weise, wie sich Castorp verschiedene Wissensbereiche aneignet, folgt dabei, wie Kablitz bemerkt, einer bestimmten Dynamik: „Was diesem Wissen an Gewissheit fehlt, seine letztendliche Grundlosigkeit, wird […] durch die Anschaulichkeit, die es in Hans Castorps Aneignung gewinnt, in gewisser Weise kompensiert.“272 Diese Neigung zur Ungewissheitskompensation erklärt vielleicht auch Castorps besonderes Interesse an Weltanschauungswissen. Vom Erzähler werden die Forschungen Castorps ironisch betrachtet, wenn er die körperliche Bezogenheit der intellektuellen Anstrengungen Castorps her­ ausstreicht und berichtet, wie die wissenschaftliche Lektüre dem Schlafenden auf den Magen drückt, „ohne daß von seiner Hirnrinde an die zuständigen Muskeln Order ergangen wäre, [sie] zu entfernen“ (ZB, 433). Auch in seiner ‚Regierungstätigkeit‘, im Zuge derer er sich in Anlehnung an die Diskussionen seiner Erzieher im antithetischen Denken versucht und „über so weitläufige Komplexe wie Form und Freiheit, Geist und Körper, Ehre und Schande, Zeit und Ewigkeit“ (ZB, 589) sinniert, überfällt ihn das letztlich Unerklärliche, der gedankliche Herrschaftsversuch ist verbunden mit „Schrecken, Schwindel

271

272

allerdings auch das Duell zwischen Naphta und Settembrini stattfinden, in dem die Re­ gression des intellektuellen Disputs in den tatsächlichen Kampf erfolgt (vgl. ZB, 1063). Vgl. Ulrich Kinzel: Zweideutigkeit als System. Zur Geschichte der Beziehungen zwi­ schen der Vernunft und dem Anderen in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“. Frankfurt am Main u. a. 1988, S. 194. Kablitz: Der Zauberberg (Anm. 7), S. 448.

123

und allerlei Herztumulten“ (ZB, 589). In der intellektuell reflexiven Steigerung bleibt ein Rest, der sich nicht in die versuchsweise übernommenen Ordnungs­ schemata einfügen lässt und somit den Zustand des Experiments immer wieder nur bestätigen kann, mit dem die Freiheit, aber auch die Problematik der Existenz Castorps auf dem Zauberberg zugleich definiert ist. In diesem Zusammenhang kann nicht zuletzt auch der Schneetraum Cas­ torps in der Doppelstruktur von Bilder- und Gedankentraum gesehen wer­ den.273 In seiner Vision sagt sich Castorp am deutlichsten von den dogma­ tisch verengten Weltanschauungen seiner Erzieher los, erkennt diese als bloße „Schwätzer“ (ZB, 747). Ihnen stellt er die Vorstellung vom Stand des Menschen in der Mitte entgegen, die den Tod als integralen Bestandteil des Daseins be­ greift, ihn aber dem lebensbejahenden Prinzip unterordnet: „Der Mensch soll um der Güte und Liebe Willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“ (ZB, 748). Die Synthese, die Castorp im Schnee findet, erweist sich als eine vorläufige, nicht haltbare Lösung des Konflikts, schon am Abend seiner Rückkehr ins Sanatorium sind Traum und Erkenntnis nicht mehr greifbar (vgl. ZB, 751), dem Ergebnissatz entspricht keine lebenspraktische Realität. Die Geschichte Castorps auf dem Zauberberg führt immer wieder zur Feststel­ lung, dass der Mensch gerade nicht „Herr der Gegensätze“ (ZB, 748) sein kann,274 sondern unauflösbar zwischen ihnen steht. Das spricht nicht gegen die Glaubhaftigkeit der Synthese als solcher, aber um innerhalb der erzählten Welt des Zauberbergs glaubhaft sein zu können, muss sie Momentaufnahme bleiben. Der Zustand des Experiments, in dem Castorp den weltanschaulichen Absolutheitsansprüchen seiner Erzieher widerstehen kann, birgt dabei selbst wiederum die Gefahr der Erstarrung in sich, auch die mittlere Position kann statisch werden. Leitmotivisch durchziehen den Roman die Beschreibungen der Akklimatisierungsschwierigkeiten des Protagonisten, bei dem sich schließ­ lich doch die Gewöhnung daran einstellt, „daß er sich nicht gewöhnte“ (ZB, 587). Castorp wird dem großen Stumpfsinn verfallen und erst durch die äußeren Ereignisse, den Donnerschlag des Ersten Weltkrieges, aus der Zauberbergsphäre gerissen.

5. Zwischenresümee In der Untersuchung des kompositorischen und narrativen Kontexts, in dem die Diskussionen Naphtas und Settembrinis stehen, wurde deutlich, dass der Roman nicht nur die Strukturen der weltanschauungsliterarischen Rhetorik ak­ tualisiert, sondern diese gleichzeitig auf ihre Beschaffenheit, ihre Bedingungen 273 274

124

Vgl. dazu Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung (Anm. 175), S. 204. Auf die Unmöglichkeit, dieses Programm verwirklichen zu können, verweist mithin auch die Selbsttötung Peeperkorns.

und ihre Möglichkeiten hin befragt. Dieser Befund erlaubt nunmehr, auch die spezifische Ausformung der Systemreferenz präziser zu erfassen. Naphta und Settembrini setzen sich als Sprecher von allen anderen Mitglie­ dern der Sanatoriumsgesellschaft auf dem Zauberberg ab, und dies wird auch genau registriert. Insbesondere durch metasprachliche Beschreibungen und Re­ flexionen Castorps und des Erzählers sind die Redeweisen Naphtas und Settem­ brinis deutlich in ihren typischen Charakteristika als Weltanschauungsrhetorik markiert und thematisiert. Darüber hinaus wird über die Mittel der Figuren­ zeichnung ebenfalls das Spezifische ihres Sprechens hervorgehoben. Bestimmte Verhaltensweisen, aber auch Gestik und Mimik korrespondieren so mit den Besonderheiten der Weltanschauungsrhetorik und unterstreichen beispielswei­ se die dialektische Schärfe Naphtas oder das Pathos Settembrinis. Gerade weil innerhalb der erzählten Welt der behauptete inhaltliche Antagonismus dieser beiden als bloß rhetorische Oberfläche einer strukturellen Gemeinsamkeit des Denkens und Sprechens entlarvt wird, sich Naphtas und Settembrinis Posi­ tionen letztlich als austauschbar erweisen, lässt sich nach dem Kriterium der Referentialität eine sehr intensive intertextuelle Bezugnahme auf die Textsorte Weltanschauungsliteratur konstatieren. Der Roman referiert in einer großen Vielfalt rhetorischer und argumentati­ ver Strategien auf das Prätextmuster, wie an den Reden Naphtas und Settem­ brinis deutlich wurde. Allerdings werden einige Spezifika besonders prägnant ausgebildet. Betrachtet man die beiden Weltanschauungsrhetoriker unabhängig voneinander, so ist jeder durch ein charakteristisches Argumentationsverfahren als Sprecher gezeichnet, Settembrini als Meister der weitläufigen Assoziation, Naphta in der Kunst, alle Gegensätze zusammenzuzwingen. In ihren gemeinsa­ men Diskussionen wiederum ist es vor allem die antithetische Struktur, über die sich Naphta und Settembrini in einem verbalen Kampf inszenieren, die im Roman am deutlichsten hervortritt. Indem die großen Wortgefechte auf den Höhepunkt eines tatsächlich stattfindenden Duells hinsteuern, greift der fiktio­ nale Text das Modell des Kampfes als diskursives Element der Weltanschau­ ungsdebatte selektiv akzentuierend heraus und überführt es in seine denkbar extremste Konsequenz. Autoreflexivität im Sinne eines expliziten Erzählerhinweises auf die Weltan­ schauungsliteratur und die intertextuelle Bezugnahme auf diese als Texttyp lässt sich im Zauberberg nicht ausmachen. In geringem Maße könnte man jedoch die kommentierenden Einschübe als autoreflexiv interpretieren, mit denen der Erzähler seine Vorgehensweise thematisiert, wenn die Weltanschauungsrheto­ rik Naphtas und Settembrinis als typisches Muster narrativ-experimentierend vorgeführt wird. So, wenn der Erzähler, nachdem Naphta und Settembrini der Konfusion überführt sind, zu verstehen gibt, dass es genüge, ihre Redeweise

125

exemplarisch in bestimmte Kontexte zu versetzen, „auf gut Glück aus dem Uferlosen ein Beispiel“ (ZB, 1046) zu zitieren.275 Ein hohes Maß an Strukturalität weist die intertextuelle Beziehung insofern auf, als die Weltanschauungsdiskussionen in der zweiten Hälfte des Romans über mehrere Kapitel zur dominierenden Kommunikationsform werden. Aber auch in einer grundlegenderen konzeptuellen Hinsicht lässt sich von Struktura­ lität sprechen, wobei es sich jedoch nicht um die Qualität einer Bezugnahme handelt, sondern vielmehr um eine prinzipielle strukturelle Ähnlichkeit des Zauberbergs und der Textsorte Weltanschauungsliteratur, die wiederum gerade die Möglichkeiten einer besonderen dialogischen Referenz erst begründet. Den Roman kennzeichnet ebenfalls eine „Verschmelzung der kritischen und der dichterischen Sphäre“276, wobei der fiktionalisierte Weltanschauungsdiskurs nur eine von vielen Zutaten ist, die in diese Verschmelzung eingehen.277 Wie die Weltanschauungsliteratur auf eine Erfahrung der Krise reagiert, wird auch im Roman die Geschichte Hans Castorps auf die „Wende und Grenze“ (ZB, 9) des Ersten Weltkrieges hinführend zur umfassenden Epochendiagnose ausge­ weitet. Durchweg angedeutet wird dabei, dass nicht ein ausschließlich individu­ elles Schicksal erzählt wird, sondern eines, dem „eine gewisse überpersönliche Bedeutung“ (ZB, 53) beizumessen sei. Auch im literarischen Diskurs wird aus der erfahrenen Desorientierung heraus ein utopischer Horizont eröffnet, das Ideal einer todesverbundenen, aber lebensbejahenden Mittelstellung des „Homo Dei […] zwischen Durchgängerei und Vernunft“ (ZB, 747), das sich Castorp im Schneetraum vorübergehend zu eigen macht. Der Roman führt jedoch an seinem Protagonisten gerade vor, dass dieses Ideal gerade nicht taugt, eine dogmatische Lehre zu begründen, sondern vom Leben ständig widerlegt wird. Damit antwortet der Zauberberg auch dialogisch auf den Weltanschauungsdiskurs. In der erzählten Welt des Romans treffen mehrere Wahrheitsansprüche aufeinander, die jeweils aus verschiedenen Wahr­ nehmungsweisen resultieren und wiederum ebenso unterschiedliche Kommu­ nikationsformen ausprägen. In ihrer Pluralität sind sie im Zauberberg alle glei­ chermaßen von einer Relativierung betroffen, weil immer auch das Gegenteil 275

276 277

126

Vgl. auch: „Wir haben mit ihm [Castorp] einen Augenblick hingehört, um zu beobach­ ten, wie, beispielsweise, ein solcher peripatetischer Waffengang sich im Schatten der nebenherwandelnden Persönlichkeit ausnahm“ (ZB, 892). Mann: Briefe aus Deutschland [I] (Anm. 14), S. 568. Die Grenzüberschreitung zum Wissenschaftlichen hin ist bereits in der frühen Phase der Romankonzeption angelegt: „Ich hatte vor dem Kriege eine größere Erzählung begonnen, die im Hochgebirge, in einem Lungensanatorium spielt, – eine Geschichte mit pädagogisch-politischen Grundabsichten, worin ein junger Mensch sich mit der verführerischsten Macht, dem Tode, auseinanderzusetzen hat und auf komisch-schauer­ liche Art durch die geistigen Gegensätze von Humanität und Romantik, Fortschritt und Reaktion, Gesundheit und Krankheit geführt wird, aber mehr orientierend und der Wissenschaft halber als entscheidend“ (Mann an Paul Amann, Brief vom 3. August 1915. In: Mann: Briefe II 1914–1923 [Anm. 11], S. 85).

als Möglichkeit präsent bleibt. Besonders brisant erweist sich dieser Umstand jedoch für den Weltanschauungskonstrukteur, der seine Geltungsmacht nur über eine alleingültige Perspektive aufbauen kann und darauf angewiesen ist, Komplexität und Ambiguität zumindest rhetorisch auszuschalten. Im Roman ist der Weltanschauungsdiskurs einerseits integraler Bestandteil einer literari­ schen Zeitdiagnose. Andererseits wird der Anspruch auf universelle Wahrheit durch Strategien der Ironisierung und Komisierung immer wieder vor allem auf seine sprachliche Konstruiertheit zurückgeworfen. In dieser Gleichzeitigkeit von Anknüpfung und Distanz steht der Zauberberg in einem intensiv intertex­ tuell-dialogischen Verhältnis zur Weltanschauungsliteratur, auf die er sich be­ zieht.

127

II Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften 1. Robert Musil und die ‚wissensähnliche Seelenschaft‘ Als „einen ganz mißglückten Versuch“ bezeichnet Robert Musil den Zauberberg in einem Brief an Johannes Allesch im Frühjahr 1931, „in seinen ‚geistigen‘ Partien ist er wie ein Haifischmagen.“1Das Scheitern, das Thomas Mann hier attestiert wird, bezieht sich auf die Herausforderung, vor die sich Musil mit Mann, aber auch Marcel Proust und James Joyce als Autorengeneration gestellt sieht: der Schwierigkeit zu begegnen, dass die alte Naivität des Erzählens der Entwicklung der Intelligenz gegenüber nicht mehr ausreiche. Im Unterschied zum ‚Unverdauten‘ bei Mann wie zu den Auflösungstendenzen, die er bei Proust und Joyce ausmacht, begreift Musil seinen Mann ohne Eigenschaften als einen „Versuch“, der „eher konstruktiv und synthetisch zu nennen“2 wäre. Das Urteil, das Musil im Zuge seiner literaturhistorischen Standortbestimmung über den Zauberberg fällt, ist in seiner Abschätzigkeit sicherlich gefärbt durch die persönlichen Aversionen gegen den erfolgsverwöhnten Konkurrenten sowie die aktuelle Enttäuschung über die Aufnahme des eigenen Romans.3 Trotzdem wird es gerade auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten gefällt. Die konnte Musil jedoch nicht nur im Versuch entdecken, der ‚Entwicklung der Intelli­ genz‘ formal durch die Verbindung von Reflexion und Narration Rechnung zu tragen, sondern auch in dem Anliegen, dieser Entwicklung in ihren un­ 1

2 3

Musil an Johannes Allesch, Brief vom 15. März 1931. In: Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino. Klagenfurt 2009 [= KA]. Lesetexte, Band 19: Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938. Die neue, von Walter Fanta herausgegebene Gesamt­ ausgabe von Musils Werk als Hybridedition stand während der Entstehung dieser Arbeit noch nicht vollständig zur Verfügung. Der Mann ohne Eigenschaften, in den kanonischen wie apokryphen Teilen, sowie alle weiteren bereits zu Musils Lebzeiten veröffentlichten Texte können im Folgenden nach der neuen Gesamtausgabe zitiert werden. Belege aus Notizheften, Tagebüchern und Briefen folgen hingegen der digitalen Klagenfurter Ausga­ be (sie erscheinen unter der Sigle KA, die anschließende Reihung der Text-Abteilungen entspricht dem Dateipfad). Mittels der angegebenen Heft-, Mappen- und Seitennummern werden diese Zitate künftig aber auch auf dem im Aufbau befindlichen Online-Portal (http://musilonline.at) zu identifizieren sein, das die gedruckte Gesamtausgabe ergänzen soll. KA, Lesetexte; Band 19, Korrespondenz; Robert Musil an Johannes Allesch, 15. März 1931. Musil ist in diesem Brief der Meinung, dass die Kritiker zwar dem Mann ohne Eigenschaf­ ten, nicht aber dessen Autor genügend Anerkennung entgegenbringen (vgl. ebd.). Zu Thomas Mann als „Haß- und Neidobjekt erster Ordnung für Musil“ vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2003, S. 917–935, hier S. 917. Aus­ führlich zur Beziehung zwischen Musil und Mann vgl. außerdem ders.: Robert Musil – Thomas Mann. Ein Dialog. Pfullingen 1971.

terschiedlichen Erscheinungsformen durch eine literarischen Zeitdiagnose auf den Grund zu gehen. Wie bei Mann, allerdings stärker analytisch ausgerichtet, äußern sich auch Musils zeitdiagnostische Ambitionen in dem Bedürfnis, vom Beobachteten aus abstrahierend zu generellen Aussagen über mentalitäts- und wissensgeschichtli­ che, soziale oder kulturelle Transformationen zu gelangen, die den Zustand der eigenen Gegenwart erklären könnten. In den Essays häuft sich das ‚Exem­ plarische‘, ‚Symptomatische‘ und ‚Typische‘, für das literarische Werk wird die Erfahrung des Ersten Weltkrieges maßgeblich für eine Schwerpunktverla­ gerung vom autobiographischen Schreiben zur Zeitbetrachtung und -kritik. Die Romanpläne, in denen Anfang der 1920er Jahre noch mehrere Projekte nebeneinander bestehen, sich aber bereits wesentliche auf den Mann ohne Eigenschaften hinführende Figurenkonstellationen und Erzählkomplexe heraus­ kristallisieren, zeigen, wie Musil „Zeitfiguren“4 profiliert oder sich in karika­ turistischer Absicht vornimmt, „Denksysteme“ miteinander zu konfrontieren und die „Allgemeinheit dieses Nebeneinanders und Durcheinanders“5 offen zu legen. Gegenüber Oskar Maurus Fontana, dem er 1926 in einem Interview über sein Romanvorhaben Auskunft gibt, betont Musil, dass ihn nicht das historisch Reale, sondern „das geistig Typische“ interessiere, „das Gespenstische des Ge­ schehens.“6 Der ‚Zeitgeist‘, den diese Äußerung in doppelter Weise evoziert, scheint dem wissenschaftlich geschulten Blick im Typischen fassbar und erweist sich im selben Moment als etwas Unheimliches der Analyse, zumindest der rein wissenschaftlichen, entzogen. Musils Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst laufen immer wieder darauf hinaus, eine besondere dichterische Erkenntnisweise zu begründen, die dennoch positiv an die Wissenschaften anschließen soll.7 Wie 4 5

6

7

KA, Lesetexte; Band 16, Frühe Tagebuchhefte 1899–1926; 9: Die zwanzig Werke II (1920); Zeitfiguren 1918–1920. Ebd., Band 4, Der Mann ohne Eigenschaften. Die Vorstufen; Die Romanprojekte 1918– 1926; Der Erlöser. Aufbau; Zur Gesamtkonzeption. Einen Überblick über die wichtigsten Entstehungsphasen des Mannes ohne Eigenschaften gibt Helmut Arntzen: Musil-Kommen­ tar zu dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München 1982, S. 30–50. Detailliert hat Walter Fanta die Textgenese des Romans anhand der Nachlassmaterialien aufgearbei­ tet (vgl. Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Wien, Köln und Weimar 2000). Fanta plädiert mit überzeugend dafür, trotz motivischer Kontinuitäten, die von den Monsieur le vivisecteur-Aufzeichnungen der Jahr­ hundertwende bis zum Mann ohne Eigenschaften in Musils Schreiben nachzuweisen sind, den eigentlichen Beginn der Arbeit am Roman 1918/19 anzusetzen. Zur entsprechenden Forschungsdiskussion vgl. ebd., S. 97f. Robert Musil, Oskar Maurus Fontana: Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil [30. April 1926]. In: Robert Musil: In Zeitungen und Zeitschriften III. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2016 (Gesamtausgabe. Bd. 11), S. 84–89, hier S. 84. Vgl. Armin Westerhoff: Poetologie als Erkenntnistheorie: Robert Musil. In: Littérature et théorie de la connaissance 1890–1935. Literatur und Erkenntnistheorie 1890–1935. Hg. von Christine Maillard. Strasbourg 2004, S. 191. Roger Willemsen hat versucht, Musils

130

beide Bereiche als jeweils spezifische zu differenzieren wären, ohne sie gänzlich voneinander trennen zu müssen, stellt sich als Frage vor allem angesichts flie­ ßender Übergänge. Dieses wissenschaftlich-künstlerische Zwischengebiet hat Musil intensiv erkundet, wobei in der Überschneidung von erkenntnistheore­ tischer, poetologischer und gegenwartsdiagnostischer Perspektive hier seine grundlegende theoretische Beschäftigung mit dem Essayistischen,8 aber auch eine Beobachtung des ‚geistig Typischen‘ in der Literatur der Zeit erfolgt. Es ist daher nicht erstaunlich, in Robert Musil einen aufmerksamen Leser weltanschauungsliterarischer Schriften zu finden und Spuren dieser Lektüren wiederum im Mann ohne Eigenschaften zu entdecken. Viele davon wurden von der Forschung bereits herausgestellt, mit Blick auf den zeitgenössischen Ideen­ kontext, auf in den Roman eingeschriebene Autorenporträts oder auf Einzel­ werkbezüge, die Musil etwa zu Maurice Maeterlincks Schatz der Armen (1898) oder Ludwig Klages’ Vom Kosmogonischen Eros (1922) herstellt, um nur zwei der prominenteren zu nennen.9 Mit den neueren Untersuchungen von Brasch und Schwarzwälder ist wiederum die Verbindung des Mannes ohne Eigenschaften zum literarisierten Weltanschauungsdiskurs insgesamt verstärkt in den Blick gerückt.10 Beide fokussieren die Traditionslinie des verweltanschaulichten Zeit­ romans und arbeiten die besondere Stellung von Musils Roman am Ende der

8

9

10

Poetik zu systematisieren (vgl. Roger Willemsen: Das Existenzrecht der Dichtung. Zur Rekonstruktion einer systematischen Literaturtheorie im Werk Robert Musils. München 1984). Die theoretischen Äußerungen Musils, die den Essayismus als Vertextungsverfahren wie als ‚Lebensform‘ im Mann ohne Eigenschaften vorbereiten, untersucht Birgit Nübel: Ro­ bert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin 2006. Wegweisend für einflussphilologische Musil-Forschung war vor allem Renate von Heyde­ brands Studie (vgl. Renate von Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken. Münster 1966). Gesamtdarstellungen, die auch einen Überblick über Musils Quellen- und Bezugstexte geben sowie am Figurenensemble des Romans auf mögliche personale Vorbilder hinweisen, liegen vor von: Stefan Howald: Ästhetizismus und äs­ thetische Ideologiekritik. Untersuchungen zum Romanwerk Robert Musils. München 1984, S. 193–369. Corino: Musil. Eine Biographie (Anm. 3), S. 843–935. Norbert Chris­ tian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln und Weimar 2011. Grundsätzlich zu den prägnanten intraund intertextuellen Bezügen im Werk Musil vgl. Nübel: Essayismus als Selbstreflexion (Anm. 8). Vgl. hierzu auch den instruktiven Überblick im Robert-Musil-Handbuch (Man­ dy Dröscher-Teille und Birgit Nübel: Intertextualität. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. von Birgit Nübel und Norbert Christian Wolf. Berlin und Boston, S. 760–791). Anna Brasch: „Ich glaube, ich finde nicht mehr zum Anfang zurück.“ Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ und die Auflösung des Texttypus Weltanschauungsroman nach 1900. In: Weltanschauung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Hg. von Anna Brasch und Christian Meierhofer. Berlin 2020, S. 587–615. Flo­ rens Schwarzwälder: Der Weltanschauungsroman 2. Ordnung. Probleme literarischer Modellbildung bei Hermann Broch und Robert Musil. Bielefeld 2019.

131

angenommenen Gattungsentwicklung heraus, Schwarzwälder in kategorialer Abgrenzung zum Weltanschauungsroman der Jahrhundertwende.11 Nicht um die Frage der gattungshistorischen Einordnung, sondern um eine intertextuelle Bezugnahme auf die Textsorte Weltanschauungsliteratur geht es hingegen in dieser Arbeit. Sie untersucht, inwiefern bei der Referenz auf Welt­ anschauungstexte im Mann ohne Eigenschaften Musils gegenwartsdiagnostisches Interesse am ‚geistig Typischen‘, abgesehen von im Einzelnen transportierten Inhalten, auch auf die argumentativen Strukturen und sprachlichen Merkma­ le eines bestimmten Literaturtypus abhebt. Die Romananalyse vorbereitend, rekonstruiert ein erster Teil dafür Musils Rezeption der Weltanschauungslitera­ tur an drei Beispielen. Die Auswahl von Walther Rathenaus Zur Mechanik des Geistes und Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes bietet sich an, da Musil diesen Werken 1914 und 1921 jeweils einen Essay gewidmet hat. Ellen Keys Aufsatz Die Entfaltung der Seele durch Lebenskunst, mit dem sich Musil zuerst 1905 und dann erneut in den 20er Jahren befasst hat, lohnt es sich heranzuziehen, weil sich in der frühen Lektüre bereits Ansätze einer Kritik abzeichnen, die im Rückgriff auf diesen Text während der Vorbereitungen auf den Roman unter veränderten Bedingungen akut wird. a) Ellen Key: Die Entfaltung der Seele durch Lebenskunst (1905) Bekanntheit hat die schwedische Autorin Ellen Key vor allem durch ihr Buch Das Jahrhunderts des Kindes12 erlangt, mit dem sie den um 1900 im Zeichen 11

12

Außer Brasch und Schwarzwälder haben sich außerdem bereits Friedrich Vollhardt und Olav Krämer mit dem weltanschauungsliterarischen Hintergrund des Romans befasst. Vollhardts Aufsatz bezieht sich dabei ebenfalls auf die Textsorte und zeigt unter vier Aspekten – Diskurspraktiken, fiktiver Beobachterstandpunkt, poetologische Reflexion und profane Mystik –, dass Musils Schreiben der Weltanschauungsliteratur vergleichba­ re Konstellationen entwirft, deren Formvorgaben aber im Roman zugleich unterläuft (vgl. Friedrich Vollhardt: „Welt-an=Schauung“. Problemkonstellationen in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. In: Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplin­ externe Perspektiven auf Literatur. Hg. von Uta Klein, Katja Mellmann und Steffanie Metzger. Paderborn 2006, S. 505–525). Krämer widmet sich in seiner Arbeit dem ‚erzähl­ ten Denken‘. Bei den fiktionalen Weltanschauungen geht es ihm deshalb vornehmlich um die konzeptuellen Merkmale, die Thomé beschreibt. Er sieht Musil eine literarische Variante der Weltanschauungsanalyse intendieren, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts in den Geisteswissenschaften etabliert hat, und verfolgt unter anderem, wie im Mann ohne Eigenschaften die Entstehung von Weltanschauungen in den Denkprozessen der Fi­ guren sondiert wird (vgl. Olav Krämer: Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry. Berlin 2009. Zur Rückbindung an Thomé vgl. S. 12, 172, 230, 293). Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes. Berlin 1902. Die schwedische Originalausgabe erschien bereits 1900. Zu Werk und Wirkung vgl. die Beiträge in: Das Jahrhundert des Kindes – am Ende? Ellen Key und der pädagogische Diskurs: eine Revision. Hg. vom Arbeitskreis katholischer Schulen in freier Trägerschaft (Engagement. Zeitschrift für Erziehung und Schule 4 [1998]). Vgl. außerdem Meike Sophia Baader, Juliane Jacobi

132

einer Erziehung ‚vom Kinde aus‘ stehenden reformpädagogischen Bewegungen entscheidende Anstöße gab. Das pädagogische Kernprogramm ist in Keys Werk eingebunden in ein umfassenderes Konzept, das aus der kultur- und sozialkriti­ schen Befragung der Gegenwart heraus eine Vision des ‚neuen Menschen‘ ent­ wickelt.13 Die Substanz dieses Entwurfs gibt auch der 1905 erschienene kleinere Aufsatz Die Entfaltung der Seele durch Lebenskunst wieder. In den Mittelpunkt rückt hier der Gedanke einer Vervollkommnung des Menschen durch Erzie­ hung und Selbsterziehung. Diese Idee gewinnt Key eklektisch, indem sie Rous­ seaus Plädoyer für ein Leben in Einklang mit dem Naturzustand an das Kon­ zept der ‚Selbstkultur‘ bindet, wie sie es etwa bei Channing, Carlyle, Emerson, Thoreau oder Ruskin vorfindet und als ‚Lebenskunst‘ vor allem in Werk und Persönlichkeit Goethes exponiert sieht. Angereichert wird das Konglomerat ferner mit Elementen einer zeitgenössischen „seelischen Gesundheitslehre“14. Die auf das Individuum fokussierte, aber zugleich kollektiv dimensionierte Vorstellung einer Ausbildung und Verfeinerung natürlicher Ressourcen ist entwicklungsperspektivisch grundiert nach darwinistischem Muster als „Evolu­ tion der Seele“15, die auf dem Wege der „Ausübung, Auswahl und Vererbung zu einer bisher ungeahnten Machtvollkommenheit gesteigert“16, einen neuen Menschentypus hervorbringen soll, für den Nietzsches Übermensch Modell steht.17 Mit ihrer Theorie strebt Key ein ganzheitliches Verständnis von Indi­ viduum und Gesellschaft auf der Grundlage der „Psychophysik“18 an, wobei der den Naturwissenschaften verpflichtete Ansatz zwar gegen die tradierten Religionen in Stellung gebracht wird, aber letztlich selbst neue Religiosität begründen soll.19 Der Anspruch auf Erklärungs- und Sinnstiftungskompetenz

13 14

15 16 17

18 19

und Sabine Andresen (Hg.): Ellen Keys reformpädagogische Vision. Das „Jahrhundert des Kindes“ und seine Wirkung. Weinheim und Basel 2000. Zu Ellen Keys Werdegang und ihrer Positionierung als Theoretikerin vgl. Katja Mann: Ellen Key. Ein Leben über die Pädagogik hinaus. Darmstadt 2004. Ellen Key: Die Entfaltung der Seele durch Lebenskunst. In: Die neue Rundschau 16 (1905), Heft 6, S. 641–686, hier S. 652. Key beruft sich hier auf zwei dänische Schriften, die auch ins Deutsche übersetzt wurden: Ludwig Feilberg: Zur Kultur der Seele. Beiträge zu einer praktischen Psychologie. Jena 1906. Carl Lambek: Zur Harmonie der Seele. Studien über Kultivierung des psychischen Lebens. Jena 1907. Key: Die Entfaltung der Seele (Anm. 14), S. 650. Ebd., S. 686. Key adaptiert das Konstrukt des Übermenschen in seiner oszillierenden Bedeutung als geistiges Ideal der Selbstüberwindung wie als biologistisches Züchtungsmodell, distan­ ziert sich aber von Nietzsches „Herdenmenschentheorie“ (ebd., S. 685). Zu den eugeni­ schen Implikationen von Keys Theorie der Lebenssteigerung vgl. Ann Taylor Allen: „Das Recht des Kindes, seine Eltern zu wählen“: Eugenik und Frauenbewegung in Deutsch­ land und Großbritannien 1900–1933. In: Ellen Keys reformpädagogische Vision. Das „Jahrhundert des Kindes“ und seine Wirkung. Hg. von Meike Sophia Baader, Juliane Jacobi und Sabine Andresen. Weinheim und Basel 2000, S. 105–124. Key: Die Entfaltung der Seele (Anm. 14), S. 657. Key geht davon aus, dass jede Form der Lebenskunst schließlich in die Religion münde – „Seelenvollheit ist nur ein anderer Name für Religiosität“ (ebd., S. 652) – und strebt

133

erstreckt sich dabei sowohl auf die großen Zusammenhänge wie auf die kon­ kreten Probleme der Gegenwartszeit, die im krisenhaften Wandel begriffen wird. Die evolutionistische Perspektive verbindet sich mit dem Versprechen von metaphysischem Trost, die „angewandte Lebenskunst“20 bietet zudem praktische Hilfe für den Einzelnen, der in autoritativen Erziehungssystemen, entfremdenden Arbeitsverhältnissen und unbefriedigenden Geschlechterbezie­ hungen eingeengt ist. Den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft überformt Key jedoch universalistisch, es geht um den „Lebenszustand der Seele im Gegensatz zu ihrem Todeszustand“21. Während Key das Kind als Orientierungsideal des seelischen Aufbruchs konzeptualisiert, sieht sie die Frau als aktive Hoffnungsträgerin, die berufen ist, auf diesem Weg voranzugehen. Aufgrund einer besonderen Nähe zu vitalen Ursprungskräften, die Key ihr be­ scheinigt und vor allem an der Fähigkeit zur Mutterschaft festmacht, erscheint ihr die Frau zur „Erlösung des Menschengeschlechtes“22 bestimmt. Nach Key setzt die Selbstkultur des Individuums nach ästhetischen Prinzipi­ en die Fähigkeit voraus, sich „von einem einzigen großen Gedanken“23 ergrei­ fen lassen zu können. Dem entspricht wiederum die holistische Ausrichtung ihrer eigenen Methode. Dies zeigt sich bereits in der einleitenden historischen Übersichtsdarstellung, die erkennbar von dem Bemühen getragen ist, die selbst propagierte Auffassung von Lebenskunst mit einer langen Tradition der „Weit­

20 21

22

23

eine über die Synthese der spezialisierten Ergebnisse von Theologie, Philosophie und Psychologie hinausgehende Neudeutung der Seele an (vgl. ebd. S. 683). Zu Keys darwi­ nistisch-nietzscheanischer Religion vgl. Meike Sophia Baader: Erziehung als Erlösung. Transformationen des Religiösen in der Reformpädagogik. Weinheim und München 2005, S. 143–165. Key: Die Entfaltung der Seele (Anm. 14), S. 670. Ebd., S. 669. Aus dem Gegensatz zwischen Tod und Leben speist sich dann die Perhor­ reszierung der bestehenden Verhältnisse. Vgl. etwa die die Ausführungen zu den „See­ lenmorde[n]“ (ebd., S. 668), den „Seelenplündererhänden des Alltags“ (ebd.) oder zum „seelenlose[n] Ungeheuer, das wir jetzt ‚Gesellschaftsordnung‘ nennen“, (ebd., S. 684). Die weltanschauliche Generalzuständigkeit beweist Key in ihrem Aufsatz unter anderem dadurch, dass sie sich mit der „eigentlichen Lebensfrage“ der Menschheit, der „Seelenle­ bensfrage“ (ebd., S. 656) ebenso beschäftigt wie mit der Verlängerung des Schuljahres (vgl. ebd., S. 662). Ebd., S. 680. Die Frau vertritt hier das monistische Prinzip gegen das dualistische des Mannes (vgl. ebd., vor allem S. 680–683). Wie in der Überblendung von Biologie und Metaphysik die Mutterschaft sakralisiert wird, so auch die Liebe zwischen den Geschlech­ tern, die als sexuelle Fortpflanzung wie seelische Verschmelzung von Frau und Mann in der „erotische[n] Einheit“ den „höhere[n] Zustand“ (ebd., S. 681) begründen soll. Als Utopie schwebt Key jedoch „das dritte Reich – das Reich der Seele“ (ebd., S. 680) vor, in dem Geschlechts- und Altersgegensätze aufgehoben seien (vgl. ebd., S. 682). Keys femi­ nistische Positionen diskutiert Tiina Kinnunen: Eine „große“ Mutter und ihre Töchter – Ellen Key und die deutsche Frauenbewegung. In: Ellen Keys reformpädagogische Vision. Das „Jahrhundert des Kindes“ und seine Wirkung. Hg. von Meike Sophia Baader, Juliane Jacobi und Sabine Andresen. Weinheim und Basel 2000, S. 64–80. Key: Die Entfaltung der Seele (Anm. 14), S. 650.

134

blickende[n]“24 von Heraklit bis Nietzsche zu versehen. Um ideengeschichtlich Einheitlichkeit stiften zu können, rückt dabei an die Stelle einer analytischen Prüfung der jeweiligen Theorie die Einfühlung in den Theoretiker. So lässt sich die Übereinstimmung christlicher und heidnischer Überlieferungen in der zentralen Idee der Lebenskunst auffinden, wenn man nur „tief genug in die Persönlichkeit des heiligen Franciskus“25 blickt und über die Kompatibilität von Goethes und Carlyles Ansichten zur Selbstkultur entscheidet, wieviel die „herbe und wilde schottische Seele“ des zweiten „von der apollinischen Licht­ flut“26 des ersten aufzunehmen vermochte. Der ausführlichen Darlegung ihres Konzepts widmet sich Key im Mittelteil des Essays. Die Überzeugung, „daß man wirkliche wissenschaftliche Einsicht in die Wachstums- und Lebensbedingungen der Seele erringen kann“27, bringt allerdings die Schwierigkeit mit sich, diese Bedingungen als ebenso erfahrbar auszuweisen wie in der organischen Natur. Mit Vehemenz beharrt Key auf einem empirisch gesicherten Status ihrer Untersuchungsobjekte, erklärt bei­ spielsweise die „Bildbarkeit“ der Seelenzustände zur „Tatsache“28 oder definiert eben diese Zustände als „die einzigen, wirklichen, die einzigen überall existie­ renden Werte“29. Den Beweis der „Naturgesetze der Seele“30 führt Key dann mit rhetorischen Mitteln. Entweder, indem sie sich kraft Behauptung die Evidenz physikalischer Gesetzmäßigkeiten borgt („Mit derselben Notwendigkeit, mit der die Wärme den Körper ausdehnt, weitet der Eros die Seele“31) oder durch komplexere Strukturen wissenschaftliche Argumentation imitiert. So soll etwa 24 25 26

27 28 29 30 31

Ebd., S. 652. Ebd., S. 644. Ebd., S. 648. Key spricht hier aus der Sicherheit, die den seelenvollen, harmonisch emp­ findenden Menschen auszeichnen soll, der fühlt, „daß die größten Denker ihm nur das erklären konnten, was schon in der Tiefe seiner eigenen Seele war“ (ebd., S. 650). Dem Grundsatz der Einfühlung gemäß werden die Beziehungen zwischen den Vorden­ kern bevorzugt als persönliche herausgestellt bzw. im übertragenen Sinne konstruiert, beispielsweise als Freundschaften (vgl. ebd., S. 647, 649) oder als Lehrer-Schüler-Konstel­ lationen (vgl. ebd., S. 649, 651). Die Traditionslinie soll sich auf diese Weise vor dem Hin­ tergrund einer Geschichte „der großen Persönlichkeit“ (ebd., S. 644) konstituieren, die Key außerdem auf eine Verkündigungsgeschichte hin transzendiert. Ihre Protagonisten sind „Weisheitslehrer“, „Seelenführer“ (ebd., S. 643), „große[] Meister“ (ebd., S. 645) und „Verkünder“ (ebd. S. 649, 651), die als Religionsstifter oder nachfolgende „Kirchenväter“ (ebd., S. 649) wirken. Im Eifer der Totalvereinnahmung übersteigt Key dabei nicht selten die Grenze zum Kitsch: „Der Begriff der Lebenskunst liegt über allen Werken Goethes und über seinem ganzen Wesen wie der Duft des Pflanzenwachstums über einer Früh­ lingslandschaft“ (ebd., S. 646). Ebd., S. 669. Ebd., S. 665. Ebd., S. 666. Ebd., S. 656. Ebd., S. 679, vgl. auch S. 683. Carsten Könneker sieht eine Orientierung Keys an der Maxwell-Boltzmannschen Wärmelehre (vgl. Carsten Könneker: Auflösung der Natur. Auflösung der Geschichte“: Moderner Roman und NS-„Weltanschauung“ im Zeichen der theoretischen Physik. Stuttgart und Weimar 2001, S. 55).

135

die Verbindung der semantisch äußerst dehnbaren Begriffe ‚Kraft‘, ‚Bewegung‘ und Glück‘ durch eine Klimax die kausal verkettete aufsteigende Linie der Seele vom Einzelnen bis zur Gemeinschaft suggerieren: Denn wo ein Mensch die reichste Kraftentwicklung findet, da erfährt er die tiefsten Seelenbewegungen; wo er die tiefsten Seelenbewegungen erfährt, empfindet er das vollste Glück; wo er das vollste Glück empfindet, erlangt er die höchste Seelensteige­ rung und fördert die höchste Lebenssteigerung für das Ganze.32

Ein Grundzug bei Keys Herstellung von Pseudoempirizität besteht darin, dass sie Beobachtung und Beweisführung auf die Ebene von Ähnlichkeitsbeziehun­ gen verlagert und dann mittels Vergleich und Metapher operiert. Ausgehend von der angenommenen Analogie von seelischer und biologischer Evolution wird die Seele in einem „Kampf um ihr Dasein“33 beschrieben, in dem sie einer­ seits durch richtige ‚Ernährung‘, andererseits durch Abwehr hemmender Ein­ flüsse, vor allem übermäßiger Verstandeskräfte, ihre „Siegesmacht“34 behaup­ ten muss. Sich mit der biologischen überschneidend, illustriert zugleich die Bildlichkeit diverser Kultivierungsformen die Möglichkeiten der bewusst gestal­ tenden Selbstvervollkommnung, wobei neben der Kunst immer wieder der Gartenbau als Metaphernfundus dient.35 Zusätzlich entwirft Key die Gleichge­ wichte im Seelischen nach den Kategorien von ‚Einnahmen‘ und ‚Ausgaben‘ und spricht sich für eine „seelische[] Ökonomie“36 aus. Als auffallend paradox erweist sich die Rede von ‚Nahrung‘, ‚Ökonomie‘ und ‚Macht‘ der Seele, weil sie ihr metaphorisches Material aus eben den Bereichen bezieht, die Key in ihrer Zeitkritik dämonisiert, wenn sie „den seelenlosen Kultus des Kulinari­ schen, des Mammons und der Macht“37 anprangert. Mit der permanenten Veranschaulichung verbindet sich außerdem der Ver­ such, sich von einer beschränkten wissenschaftlichen Sichtweise abzusetzen, die etwa aus den neuen Ergebnissen der Psychoanalyse nur die Unveränderbarkeit 32 33 34

35

36

37

Key: Die Entfaltung der Seele (Anm. 14), S. 678. Ebd., S. 659. Ebd., S. 668. Zur seelischen ‚Nahrung‘ vgl. vor allem ebd., S. 653, 656, 657, 658. Rationa­ lität akzeptiert Key in einer den Lebens- und Gefühlskräften untergeordneten Funktion, erkennt im rein logischen Denken aber eine Verkürzung und in der Gelehrsamkeit sogar den „intellektuellen Tod der Seele“ (ebd., S. 653). In Anknüpfung an die Metaphorik des Überlebenskampfes stehen daher idealtypisch den „Menschen der Seele […] ihre ewigen Feinde gegenüber, die Menschen des Verstandes“ (ebd. S. 667). Was die Gesamtentwick­ lung betrifft, sieht Key die „Seele der Menschheit […] noch im embryonalen Stadium“ (ebd., S. 663). Für eine besondere Dichte dieser Metaphorik vgl. ebd., S. 659–661. Im Künstlerischen orientieren sich Key vor allem an Malerei und Bildhauerei (vgl. ebd., vor allem S. 670, 673f.). Ebd. S. 656. Auf den Mangel an seelischer Ökonomie führt Key die gegenwärtige „Verar­ mung des Seelenlebens“ (ebd.) zurück. Vgl. auch weitere Hinweise etwa auf den „seeli­ sche[n] Haushalt“ (ebd., S. 657) oder den „Lebensunterhalt“ (ebd., S. 659) der Seele. Ebd., S. 644.

136

der seelischen Konstellationen schließe und insofern nach der „Lebensweisheit der Eintagsfliege“38 urteile. Dagegen entwirft die Verfasserin im Text für sich eine privilegierte Position, von der aus sich die tatsächliche Entwicklung ver­ meintlich beobachten lässt, und schafft dafür sogar planetarische Verhältnisse. Nicht nur kann sie sich darauf berufen, dass die „Sonne die Entdeckung von ganz neuen Seelenlandschaften gesehen“39 hat, aus dieser Höhe ist auch zu zeigen, dass sich das Bewusste zum Unbewussten „wie die Erdoberfläche […] zum Erdinnern verhält.“40 Die Demonstration des weiten Blicks wird hier stra­ tegisch zur Selbststilisierung eingesetzt, die so suggerierten besonderen, auch prophetischen Fähigkeiten der Sprechenden – „ein Sehender ist stets ein Se­ her“41 – sollen wiederum die Wahrheit des nur im Uneigentlichen Geschauten versichern. Mit der Begabung, auf Vorgänge hinweisen zu können, die noch nicht im allgemeinen Bewusstsein angelangt sind, weil sie „jetzt nur die Weit­ blickenden ahnen“42, stellt sich Key zum einen in die Nachfolge der großen Verkünder der Lebenskunst und gibt sich zum anderen als Zugehörige einer Elite der ‚neuen Seelen‘ zu erkennen, die der langsamer verlaufenden Evolution der Menschheit voranschreitet.43 Um die Kombination aus Pseudoempirie und metaphysisch aufgeladener Spekulation als unanfechtbaren weltanschaulichen Gesamtentwurf darzustellen, nutzt Key neben den Verfahren der Veranschauli­ chung und Selbststilisierung insbesondere formelhafte Beteuerungen der puren Überzeugung und emphatisch vorgetragene Appelle, meist angelegt in der Rei­ hung rhetorischer Fragen.44 Die Wirkung, die Key ihrem Text zuspricht, wenn sie die Lektüre am Ende rückwirkend zur seelischen Evolution im Kleinen erklärt,45scheint zumindest bei einem ihrer Leser zunächst auch eingetroffen zu sein: „Ich las in der Nacht 38

39 40 41

42 43

44

45

Ebd., S. 664. Prinzipiell erkennt Key Wissenschaft, aber auch Kunst als solche nur an, wo diese als „echte Wissenschaft und echte Kunst“ (ebd., S. 655) mit ihren eigenen Vorstellungen übereinstimmen. Ebd. Ebd., S. 665. Ebd. Die Selbststilisierung findet vorwiegend implizit statt, die Verfasserin ist bemüht, nicht zu sehr in den Vordergrund zu treten, vermeidet die Ich-Form und meldet sich nur sporadisch als „die hier Schreibende“ (ebd., S. 658, 659) explizit zu Wort. Ebd., S. 679. In der Beschreibung dieser Elite geht es vornehmlich um deren Mystifizierung. Die ‚neuen Seelen‘ verfügen über „Geheimnisse der Innigkeit des Zusammenschlusses“ (ebd., S. 667), erkennen sich an einer besonderen Sprache (vgl. ebd., S. 666f.), verständigen sich qua „Fernwirkung“ (ebd., S. 686) und sind „‚gezeichnet‘“ (ebd., S. 682), was ihre Erwähltheit meint, aber auch die soziale Stigmatisierung durch das Unverständnis der Zeitgenossen. Vgl. ebd., etwa S. 652, 663. Zur Behauptung von Gewissheit dienen Wendungen wie: „Keine seelische Beobachtung ist wahrer als“ (ebd., S. 668), oder: „[j]eder wird wohl jetzt einsehen, daß“ (ebd., S. 669), mit denen Key ihre Aussagen des Öfteren einleitet. So gebe es „keinen Grund, warum nicht die Seelensteigerung, die jetzt in weniger als drei Stunden ihren Höhepunkt erreicht und ihren unwiderruflichen Rückgang findet, sich nicht über lange Zeiträume erstrecken könnte“ (ebd., S. 686).

137

im Kaffeehaus einen Essay von E. Key, der mich mächtig ergriff – mit der Stimme meiner eigenen Vergangenheit“46, notiert Robert Musil am 19. Juni 1905. Was er aus Keys Essay heraushört ist die „Valerie-Tradition“47, eine aus dem biographischen Grunderlebnis der Liebe heraus entwickelte Linie des Sentimentalen, die Musil immer wieder in seiner Selbstbefragung reflektiert und in seinem Werk ästhetisiert hat.48 Zu diesem Zeitpunkt unschlüssig, ob er an das bereits Tradierte und nicht mehr unmittelbar Zugängliche anknüpfen soll,49 befasst sich Musil erst nach einigem Zögern erneut und genauer mit dem Key-Aufsatz, legt dann aber ein umfangreiches Exzerpt an.50 In die anfäng­ liche Ergriffenheit mischt sich während dieser Arbeit immer mehr Kritik, im Resümee betont Musil zwar immer noch, dass ihn der Essay „auf das tiefste beeinflusste“, verspürt aber auch „eine gewisse Ernüchterung.“51 Anerkennung bleibt für die „Grundidee“ Seele, den Versuch, sich ihr wissenschaftlich zu nä­ hern, die „Seele zum Gegenstand des Studiums zu machen“, empfindet Musil gar als „erlösend“52. Auch Keys zeit- und gesellschaftskritischer Diagnose zu Schulsystem und Lebensweise allgemein kann er noch zustimmen, darüber hinaus versage die Autorin jedoch, ihre Definition der Seele und die Hinweise, wie diese zu pflegen sei, „steckt voller Widersprüche.“53 Methodisch wirft Musil Key in erster Linie einen naiven Eklektizismus vor, durch den er sie die Vor­ stellungen von Lebensfülle und Lebensvereinfachung in ihrer Bedeutung für ein harmonisches Dasein in falscher Weise oder zumindest unklar in Verbin­ dung setzen und einem einseitig verabsolutierten Pantheismus huldigen sieht.54 Einwände erhebt er in diesem Zusammenhang insbesondere auch gegen Keys 46 47 48

49 50

51 52

53 54

KA, Transkriptionen; Heft 11/22. Ebd. Nach Thomas Pekar ist das ‚Valerie-Erlebnis‘ als „Matrix aller späteren Liebessteigerun­ gen“ bei Musil anzusehen und damit auch als früher biographischer Hintergrund der Idee des ‚anderen Zustands‘ (vgl. Thomas Pekar: Robert Musil zur Einführung. Hamburg 1997, S. 32). Vgl. außerdem Emanuela Veronica Fanelli: ‚Als er noch Fräulein Valerie liebte‘. Musils Valerie-Erlebnis: eine biographisch-kritische Korrektur. In: Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 19/20 (1993/1994), S. 7–30. Als Kontrastprogramm verordnet sich Musil derweil Thomas Manns Buddenbrooks: „lang­ weilig; mitunter überraschend souverän“ (KA, Transkriptionen; Heft 11/22). Einige Male durch andere Einträge unterbrochen, versammeln sich Bezüge auf Key in Form wörtlicher Übertragung, freier Zusammenfassungen und Kommentar auf 18 Heftseiten (vgl. ebd., Heft 11/22–23, 25–40). Musil exzerpiert aus allen Bereichen des Aufsatzes, besonders ausführlich verfolgt er, auf welche Vordenker sich Key beruft. KA, Transkriptionen; Heft 11/38. Ebd. Wenn Musil im Exzerpt beanstandet, dass „Gefühlsleben u dgl. […] von E K. immer als ein fester Wert behandelt [wird], während es erst recht die Unbekannte ist“ (ebd. Heft 11/33), so ist der Tadel gerade nicht auf die wissenschaftliche Behandlung des Seelischen gemünzt, sondern auf eine seiner Ansicht nach falsche Gewissheit bezüglich der Formel­ elemente. In der Verklammerung von Wissenschaftsanspruch und Erlösungssehnsucht steht Musil in seinen Aufzeichnungen zu Key dieser auch sprachlich nicht fern. Vgl. ebd., Heft 11/39. Vgl. ebd.

138

Haltung zur Vernunft, die seiner Meinung nach in sich widersprüchlich ist und außerdem in der antiintellektualistischen Polemik über das Ziel hinausschießt. Die idealisierte Kinderseele erscheint Musil hier als Leitbild für den Erwachse­ nen grundsätzlich untauglich und in der Forderung, dieses Muster tatsächlich im Sinne einer entkomplizierten Lebensweise umzusetzen, gibt sich ihm der Steigerungsgedanke als Regressionswunsch zu erkennen.55 Im Schwanken zwischen Affirmation und Kritik, bei dem schließlich die letztere überwiegt, ist Musils Key-Rezeption im Jahr 1905 insgesamt geprägt durch das gemeinsame Anliegen einer Ergründung der Seelenfrage durch ihre Verwissenschaftlichung. Dabei beobachtet Musil die methodischen und argu­ mentativen Vorgehensweisen Keys und konstatiert die undurchdachte und wi­ dersprüchliche Behandlung eines Gegenstandes, bei dem ihm die Autorin „von den Schwierigkeiten keine Ahnung zu haben“56 scheint. Aus dieser Skepsis heraus wird jedoch die Machart des Textes nicht weiter hinterfragt, vielmehr steht die Auseinandersetzung mit inhaltlichen Positionen im Vordergrund. Auf Key und ihrer Entfaltung der Seele durch Lebenskunst ist Musil jedoch nochmals während der Vorbereitung mehrerer Romane zurückgekommen, die er nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Ziel einer literarischen Zeitdiagnose beginnt, und aus denen sich bis 1922 das Spion-Projekt als Vorstufe des Man­ nes ohne Eigenschaften entwickelt. In dieser Phase liegen die konzeptionellen Anfänge der Diotima-Figur, die Musil mit Ellen Key, aber auch mit Agnes Harder und Margarete Susman assoziiert und an die Idee knüpft, eine „Karika­ tur auf alle Seelenambitionen der Zeit“57 zu geben. Diese Figur wird zunächst 55

56 57

„Bedenklicher wird sie aber da, wo sie versucht, die Vorzüge des Kindes auf den Er­ wachsenen zu übertragen. Da ist nicht mehr von Lebensandacht im Sinne eines Göthe die Rede, sondern von dem Pantheismus jener einfachen Menschen, denen das Herz schwerer ist als der Kopf. Key polemisiert gegen die Vernunft“ (ebd., Heft 11/40). Zur widersprüchlichen Vernunft-Argumentation vgl. ebd., Heft 11/39. Vgl. auch bereits eine entsprechende Anmerkung Musils direkt im Exzerpt, die sich auf eine Textstelle bezieht, an der Key – zwar zustimmend – allerdings lediglich die Ausführungen Feilbergs und Lambeks referiert (ebd., Heft 11/28). Ebd., Heft 11/40. KA, Transkriptionen; Mappe VII/3/1 (Datierung Frühjahr 1919–Dezember 1920). Marga­ rethe Susmans Vom Sinn der Liebe hatte Musil 1913 zusammen mit Hetta Mayrs Gleichnis­ se und Legenden rezensiert. Bei Susman mokiert er sich über den „moospolstrigen Stil“ und konstatiert „ein unentscheidendes Schwanken des Arguments zwischen Begrifflich­ keit und Gleichnis“ (Robert Musil: Die Wallfahrt nach innen. Ders.: In Zeitungen und Zeitschriften I. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2020 [Gesamtausgabe. Bd. 9], S. 193–198, hier S. 195). Zur Herausbildung der Diotima-Figur ausführlich vgl. Fanta: Die Entstehungsgeschichte (Anm. 5), S. 201–211. Auf Musils Key-Rezeption hat sich die Forschung schon oft bezogen. Seltener sind die Arbeiten, die sich eingehender auch mit der Entfaltung der Seele durch Lebenskunst beschäftigen. Für Diotima, insbesondere im Hinblick das von ihr propagierte Frauenbild, hat bereits Dieter Kühn auf die ent­ sprechenden Thesen Keys hingewiesen (vgl. Dieter Kühn: Analogie und Variation. Zur Analyse von Robert Musils Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘. Bonn 1965, S. 66– 68). Gerd Müller und Charles Genno unternehmen jeweils einen allgemeinen Abgleich

139

noch als Schriftstellerin geführt und ist bereits deutlich durch ihr Sprechen markiert.58 In den Vorarbeiten zum Roman verwertet Musil das 1905 angelegte Exzerpt zu Keys Aufsatz nun als Material. Die nachträglich eingefügten Unter­ streichungen, Namen und Anmerkungen zeigen, dass es zum einen als Folie zur Abgrenzung der Positionen des Protagonisten dient, zum anderen werden Textstellen einer Reihe von Figuren zugeordnet. Neben Diotima, der auch in der Endfassung die meisten Key-Zitate in den Mund gelegt werden, tauchen Agathe sowie ‚Rathenau‘ und ‚Förster‘ (im Mann ohne Eigenschaften Arnheim und Lindner) auf.59 Wie eine Anmerkung zeigt, scheint sich in diesem Zusam­ menhang unter anderem die Urteilsgewissheit, die Keys Text prägt, zu übertra­ gen: „Diotima. Wie rasch die identifizieren!“60 Bevor er die Entfaltung als Mate­ riallager des Denkens und Sprechens über das Seelische neu entdeckt, setzt sich Musil jedoch mit der Weltanschauungsliteratur Walther Rathenaus und Os­ wald Spenglers auseinander. b) Walther Rathenau: Zur Mechanik des Geistes (1913) Das stolze letzte Zeitalter des Realismus und der Naturwissenschaft ist verwelkt; es hat Früchte getragen, aber nicht für den Geist. […] Wir ersticken in technischen Lebensannehmlichkeiten, und es ist nachgerade schwerer geworden, ein Bedürfniß zu finden, als es zu befriedigen. Ziehen wir die geistige Bilanz, so sehen wir uns dem Bankerott gegenüber.61

Diese niederschmetternde Bestandsaufnahme, mit der sich Walther Rathenau hier in die wissenschafts- und zivilisationskritische Diskussion der Jahrhundert­ wende einschaltet, führt keineswegs, wie man vielleicht erwarten könnte, in die Resignation. Der Autor plädiert vielmehr leidenschaftlich dafür, du Bois

58

59

60 61

des Seelenbegriffs bei Key und Musil (vgl. Gerd Müller: Dichtung und Wissenschaft. Studien zu Robert Musils Romanen Die Verwirrungen des Zöglings Törless und Der Mann ohne Eigenschaften. Uppsala 1971, S. 90–95. Charles N. Genno: The importance of Ellen Key’s „Die Entfaltung der Seele durch Lebenskunst“ for Musil’s Concept of the Soul. In: Orbis Litterarum 36 [1981], S. 323–331). Beide Autoren ziehen auch Parallelen zum Törleß, Müller geht jedoch fälschlicherweise von einem direkten Einfluss Keys auf den Roman aus, den Musil zum Zeitpunkt der Lektüre bereits abgeschlossen hatte. Eine Handlungsskizze zum Geschwisterpaar, die mit „Diotima, Rathenau, Förster“ über­ schrieben ist, verknüpft Musil mit Ellen Key und dem entsprechenden Exzerpt. Bruder und Schwester „lernen zu ihrem Unglück eine Schriftstellerin kennen, die so redet“ (KA, Transkriptionen; Mappe I/6/111, [Datierung Anfang 1921–Ende 1922]). Vgl. die Eintragungen zu Diotima ebd., Heft 11/25, 28, 36, 37, 38; zu Agathe ebd., Heft 11/35; zu ‚Rathenau‘ ebd., Heft 11/30, 37 (auch die Eintragungen zur ‚Metapsychik‘ stehen in Zusammenhang mit der Rathenau-Figur, sie nehmen den Titel von Musils Essay zu Walther Rathenau auf, ebd., Heft 11/28, 34); zu ‚Förster‘ ebd., Heft 11/27, 34. Ebd., Heft 11/28. Die Bemerkung bezieht sich auf Keys Gleichsetzung von „Seelenvoll­ heit“ und „Religiosität“ (Key: Die Entfaltung der Seele [Anm. 14], S. 652). W. Hartenau [Walther Rathenau]: Ignorabimus. In: Die Zukunft 22 (1898), S. 524–536, hier S. 536.

140

Reymonds Ignorabimus-Postulat zu tilgen und „mit entschlossener Hand an die Thore der Zukunft: ‚Creabimus‘“62 zu schreiben. Dieser frühe Aufsatz von 1898 weist bereits die beiden Leitlinien aus, die Rathenaus gesamtes kultur­ theoretisches Werk durchziehen: Einerseits die zeitkritische Perspektive, die zwar das wissenschaftlich und technisch Erreichte unter dem Aspekt einer Ver­ besserung der materiellen Lebensverhältnisse anerkennt, vor allem jedoch die damit verbundenen negativen Folgen für die geistige Entwicklung hervorhebt, andererseits der Wille, die konstatierten Missstände durch eine der naturwissen­ schaftlichen überlegene konstruktive Erkenntnis zu überwinden. In Zur Mechanik des Geistes von 1913 bedient sich Rathenau – wie bereits in der ein Jahr zuvor erschienenen und publizistisch weit erfolgreicheren Schrift Zur Kritik der Zeit – der „kulturkritischen Schlüsselmetapher der Maschine“63, um das Unbehagen an einer alle Lebensbereiche überformenden Rationalisie­ rung und Technisierung zu beschreiben. Die enge Verklammerung von Zivili­ sationskritik und visionärem Entwurf zeigt sich hier darin, dass Rathenau das mechanische Modell zugleich in Anspruch nimmt, um allgemeine Funktions­ prinzipien des Geistes zu systematisieren und diesem System wiederum ein Erlösungspotential zu verleihen. In die Darstellung von „objektiven geistesme­ chanischen Gesetzen der Seelenwerdung“64 schreibt sich die tröstende Aussicht ein, auch in der Not des mechanischen Zeitalters bereits „die Keime der neu­ en Kräfte, die allenthalben schlummern, ans Licht heben“65 zu können. Den transzendentalen Fluchtpunkt bildet dabei, wie schon bei Ellen Key, ein ‚Reich der Seele‘, als dessen Verkünder Rathenau auftritt, und das mit Erscheinen der gesammelten Schriften ab 1918 dann auch zum Zweittitel der Mechanik des Geistes erhoben wird. Kennzeichnend für das prophezeite Seelenreich ist dessen „eigentümliche[r] Doppelcharakter […] einer utopisch-religiösen Gemeinschaft 62

63

64 65

Ebd. Zum Einfluss von Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher auf die antiintellektuel­ len und wissenschaftsfeindlichen Positionen Rathenaus in diesem Aufsatz vgl. Dieter Heimböckel: Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit. Studien zu Werk und Wirkung. Würzburg 1996, S. 60–64. Achim Geisenhanslüke liest die frühen Schriften Rathenaus als eine Anknüpfung an Nietzsche, die allerdings hinter dessen Kulturkritik zurückfalle. In ihrer Abhängigkeit von konservativen anthropologischen Vorstellungen sieht er Rathenaus Ambitionen, naturwissenschaftliche Erkenntnisgrenzen zum Irratio­ nalismus hin zu durchstoßen, vor allem als einen rückwärtsgewandten Legitimationsver­ such geistesaristokratischer Herrschaftsansprüche in wesentlich kompensatorischer Funk­ tion (vgl. Achim Geisenhanslüke: Ignorabimus – Creabimus. Zum Problem der Ignoranz bei Walther Rathenau. In: Walther Rathenau. Der Phänotyp der Moderne. Literaturund kulturwissenschaftliche Studien. Hg. von Walter Delabar und Dieter Heimböckel. Bielefeld 2009, S. 55–65). Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders. München 2007, S. 213. Zur Verbreitung dieser Schlüsselmetapher in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts und zu ihrer Popularisierung durch Rathenau vgl. Heimböckel: Walther Rathenau (Anm. 62), S. 204–254. Walther Rathenau: Zur Mechanik des Geistes. Berlin 1913, S. 156. Ebd., S. 299. Damit erfüllt Rathenau die strengen Kriterien für prophetische Zukunfts­ aussagen, die er gleich zu Beginn des Buches aufstellt (vgl. ebd., S. 22f.).

141

à la Buber und einer nationalideologischen Sammlungsbewegung, die die ‚Ide­ en von 1914‘ vorwegnahm“66. Die unbestimmt gehaltene Erneuerungsvision, die auf kulturkonservativen Werten aufbaute, ließ viel Spielraum für Interpre­ tation und konnte gleichermaßen attraktiv für unterschiedliche Erlösungssehn­ süchte und gegensätzliche politische Zielvorstellungen erscheinen.67 Rathenau selbst ging es allerdings primär um eine universale Betrachtung, mit der er zeigen wollte, dass nur durch „eine innere Wiedergeburt“68 das gegenwärtig herrschende Macht- und Besitzdenken gebrochen werden könne. Konkrete politische, soziale und wirtschaftliche Fragen der Zeit reißt die Mechanik des Geistes zwar gemäß dem Anspruch auf umfassende Welterklärung an, sie blei­ ben in ihrer Bedeutung aber stets sekundär.69 Neben dem Hauptgegenstand ‚Seele‘ teilt sich Rathenau mit Key auch die Herangehensweise an das Thema, setzt dabei jedoch noch wesentlich stärker auf die Demonstration seiner wissenschaftlichen Kenntnisse. Die zentrale ‚See­ lenwerdung‘ wird mit quasi-naturgesetzlicher Sicherheit in drei Schritten als ‚Evolution des erlebten Geistes‘ im menschlichen Wesen, als ‚Evolution des er­ schauten Geistes‘ in der äußeren Erscheinungswelt und als ‚Evolution des prak­ tischen Geistes‘ im sittlichen, ästhetischen und sozialen Leben verfolgt. Der thematischen Breite des Unternehmens entspricht eine Vielfalt an Textmus­ tern und sprachlichen Registern. Philosophische Erörterung und historischer Abriss stehen neben Großstadtschilderungen im Stil expressionistischer Lyrik, der mathematische Formelbeweis wechselt mit einfühlender Naturbetrachtung oder führt zum metaphysischen Bekenntnis in biblisch angehauchtem Verkün­ dungston. Grundsätzlich ist Zur Mechanik des Geistes dabei nach Art eines Lehrbuches konzipiert, das komplexe Wissensinhalte didaktisch aufbereitet ver­

66

67 68 69

Hans Dieter Hellige: Walther Rathenau: ein Kritiker der Moderne als Organisator des Kapitalismus. Entgegnung auf T.P. Hughes’ systemhistorische Rathenau-Interpretation. In: Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne. Hg. von Tilmann Buddensieg u. a. Berlin 1990, S. 52. Vgl. dazu Heimböckel: Walther Rathenau (Anm. 62), S. 283–286. Rathenau: Zur Mechanik des Geistes (Anm. 64), S. 314. Rathenaus Maxime lautet hier: „Nicht Einrichtungen, Gesetze und Menschen schaffen das neue Leben, sondern Gesinnungen; den Gesinnungen des neuen Lebens aber folgen widerstandslos Einrichtungen, Gesetze und Menschen“ (ebd., S. 314). Entsprechend kon­ kretisiert sich der utopische Entwurf auch nie weiter als etwa bis zur Vorstellung einer kommenden beseelten Epoche, deren innere Stimmung einer „franziskanischen Heiter­ keit, einer Heiterkeit voll Ernst, Betrachtung und Liebe“ (ebd., S. 320) gleiche. Auf dieser Zukunftsgewissheit gründet das Vertrauen, dass sich alle gesellschaftlichen Konflikte, dass sich Machtstreben und Interessenherrschaft in einer solidarischen Gemeinschaft von selbst aufheben, die durch „das alte, allzu rätselhafte Band der Hingabe, der Verwebung, der Entäußerung und des Opfers“ (ebd., S. 162) verbunden ist. Dieses Band will Rathenau aber nicht im Sinne nationaler Behauptung verstanden wissen, sondern als Band einer allumfassenden zweck- und selbstlosen Liebe (vgl. ebd., S. 161–165).

142

mitteln soll.70 Der Verfasser lenkt seine Leser, achtet aber auch darauf, dass diese sich bei der Entwicklung des Gedankens dialogisch beteiligt fühlen, etwa durch rhetorische Fragen.71 Zur Kategorisierung der jeweils ‚erlebten‘ und ‚erschauten‘ Gegenstandsbe­ reiche dient Rathenau die dichotomische Gegenüberstellung ‚seelenhafter‘ und ‚seelenloser‘ Elemente, die er bevorzugt geschichtsphilosophisch durchdekli­ niert. Demnach gibt es für Rathenau beispielsweise seelenhafte und seelenlose Völker und Epochen, die entsprechende seelenhafte oder seelenlose Glaubens-, Kunst- und Lebensformen ausprägen.72 In seiner Darlegung historischer Prozes­ se gerät Rathenau in einen Konflikt, weil er die in der Gegenwart festgestell­ ten zivilisatorischen Verfallserscheinungen dennoch in einen übergeordneten seelischen Aufstieg einordnen muss. „Zeitliche Zuversicht“73 verspricht die Methode, „das Auge auf Größen und Entfernungen einzustellen“, die den Eindruck relativieren, dem spätzeitlichen Niedergang ausgeliefert zu sein, und es ermöglichen, der kulturvollen Vergangenheit näher zu rücken: „im Sinne der Menschheitsentwicklung sind wir Beethovens und Goethes, ja Shakespeares und Rembrandts Zeitgenossen“74. Mit der nach Rathenaus Empfehlungen ein­ gestellten Optik soll im Überblick über die Jahrhunderte die „Richtungsresul­ tante eines Weltempfindens“75 mathematisch ablesbar werden. Wie an dieser Stelle findet sich in den historischen Ausführungen der Mechanik vielfach der Kult der bedeutenden Persönlichkeit mit einer Schematisierung nach naturwis­ senschaftlich-mathematischen Modellen kombiniert und in großen Dimensio­ nen auf scheinbar feststehende Gesetzmäßigkeiten hin geformelt: „Die Welt Homers verhält sich zur Welt Shakespeares und Dostojewskys wie die vollkom­ mene Beobachtung zur vollkommenen Einfühlung“76. Als der Seele komplementäres Geistesprinzip identifiziert Rathenau den Intellekt, der dem zweckverhafteten Denken und Handeln zugrunde liegen soll. Aus der Gegenüberstellung entsteht ein „Kontrastbild“, das sich durch assoziative Attribuierung bis ins Beliebige ausmalen lässt: „das Intellektuelle erscheint nüchtern, hastig, widersprechend, absichtlich, kompliziert und müh­ sam, das Seelenhafte klingend und farbig, selbstverständlich und einfach.“77 70 71

72 73 74 75 76 77

Formal graphisch wird diese Gattungsanlehnung auch an den strukturierenden Randti­ teln ersichtlich. Vgl. ebd., etwa S. 14, 175f., 292f. Die kommunikative Verbindung zwischen Verfasser und Leser wird bereits zu Beginn explizit über einen drängenden Appell hergestellt: „Auf dich, Leser, auf dich kommt es an, auf deine Gedanken und Beschlüsse“ (ebd., S. 18). Vgl. ebd., S. 46–50. Ebd., S. 237. Ebd., S. 238. Ebd. Ebd., S. 248. Ebd., S. 56. Vgl. zum Vorrang des Seelischen auch die Sprachreflexion zum „wundervol­ le[n] Wort Seele“ (ebd., S. 36), die den Begriff gegen eine analytische Vereinnahmung etwa durch die Psychologie abschirmen soll. Rathenau führt dafür eine ganze Reihe von

143

Der Gegensatz wird auf diese Weise anpassungsfähig an das jeweils aktuell verwendete Erklärungsmuster. In der evolutionistischen Betrachtungsweise ent­ spricht der Intellekt einer triebhaften Stufe des „niederen Naturwillens“78, von der die zweck- und willenlos schwebende Seele abgehoben ist, unter anthropo­ logischen Gesichtspunkten erscheint die Dichotomie von Seele und Intellekt mit der „empirisch erkannten Polarität von Mut und Furcht im System der absoluten Ethik“79 gekoppelt. Die universal einsetzbare Kontrastierung erfüllt zum einen Rathenaus Forderung nach Simplizität80 und erlaubt außerdem, sich in der übersichtlich eingeteilten Objektwelt in freier Analogiebildung zu bewegen.81 Solche gedanklichen Operationen wendet Rathenau zwar reichlich an, begreift sie methodologisch jedoch nur als vorläufige Annäherungsstufe – anders als das im Mathematischen und Dialektischen befangene intellektuelle Denken, schreitet das auf die Seele hin gerichtete „produktive Denken […] über Ähnlichkeiten, Analogien und Gegensätze zum Gesetz“82. Als grundlegend inkonsistent erweist sich in der Mechanik des Geistes, dass Rathenau eigentlich metaphysische Erkenntnis außerhalb der Begrenzungen des wissenschaftlichen Rahmens sucht und dennoch von wissenschaftlichen Rationalitätskriterien abhängig bleibt. Trotz der Geringschätzung einer Wissen­ schaft, die zwar „Tatsachen feststellen, Zusammenhänge ermitteln, Gesetze er­ weisen“ kann, aber „nicht Glauben und innere Gewissheit zeugen“83, greift der Text in großem Umfang auf ihre Wissensbestände zurück und setzt unentwegt auf die Beweiskraft logisch rationaler Ordnungs- und Begründungsverfahren. Dass Rathenau dieser Widerspruch bewusst ist, zeigen die Anstrengungen, die er unternimmt, ihn zu negieren. Bereits die Einleitung, die auch eine „Rechenschaft des Handwerkszeuges“84 geben soll, kehrt dafür traditionelle

78 79 80

81

82 83 84

Komposita an, die sein Verständnis als das einzig richtige, da mit den sprachhistorischen „Jahrtausende[n]“ (ebd.) im Rücken und somit laienlinguistisch belegt ausweisen sollen. Unter etymologischer Berufung auf den „alten Geist der Sprache“, der unter anderem „von Seelsorge, Seelenrettung, nicht von Geistsorge und Geistesrettung spricht, der mit Recht geisteskrank, nicht seelenkrank sagt“ (ebd.), wird das assoziativ zusammengestellte und vor allem auf emotive Wirkung bedachte Konstrukt zur Begründung einer den Wissenschaften überlegenen Position genutzt. Ebd., S. 38f. Ebd., S. 197. Der Grundsatz lautet hier: „[W]as in sich widerspruchslos und innerlich wahr ist, das ist so einfach, daß ein Kind es versteht“ (ebd., S. 21). Vgl. hierzu auch Rathenaus Betrach­ tung der Welt als „Bilderbuch“ (ebd., S. 17). Vgl. beispielsweise die „gewaltige Analogie“ (ebd., S. 131) von kollektiv- und einzelgeisti­ ger Arbeitsteilung, die Rathenau mittels einer Organismusmetapher erläutert. Zur pseu­ doempirischen Veranschaulichung werden ansonsten bevorzugt naturwissenschaftliche Untersuchungsformen herangezogen, etwa mit der Erhebung des „Kollektivgeist[s] zum Experimentationskörper“ für eine „gleichsam laboratoriumsmäßige Erforschung und Be­ trachtung der Geistesevolution“ (ebd., S. 156). Ebd., S. 57. Ebd., S. 15. Ebd., S. 19.

144

Vorstellungen über wissenschaftliche Erkenntnis um: Objektivität soll durch Veranschaulichung im Gleichnis und Ergebnissicherung durch den ‚Gefühlsbe­ weis‘ garantiert werden.85 Charakteristisch für Rathenaus Argumentation ist da­ her, dass sie wissenschaftliche Beweisführung imitiert, ihr aber nur den Status des Gleichnisses zuerkennt, dass sie von wissenschaftlichen Rationalitätskriteri­ en profitiert, sie aus höherer Einsicht heraus aber jederzeit suspendieren kann. Es dominiert hierbei das Muster, über ausholende, scheinbar wissenschaftliche Darlegungen im argumentativen Kurzschluss auf einen Glaubenssatz hinzufüh­ ren, der dann als jeder Beweisnotwendigkeit entzogen einfach behauptet wird. Nachdem Rathenau etwa die These von der „Teilbarkeit, Kombinierbarkeit und Wechselwirkung des Geistes“86 physikalisch, mathematisch und philoso­ phisch hergeleitet hat, ergibt sich die endgültige Beglaubigung aus einer intuiti­ ven „inneren Gewissheit“, die den Schluss erlaubt: „Des Nachweises, daß das Integral der geistigen Wirkungen mit der Erscheinungswelt identisch ist, bedarf es nicht mehr“.87 Die Unstimmigkeiten kaschieren ästhetische Mittel, wobei bisweilen geradezu lyrisch ‚fundierte‘ Klang-Zusammenhänge entstehen.88 Die Einheitlichkeit des Weltanschauungsentwurfes wird in der Mechanik des Geistes durch eine auffallende Allegorisierung des Weges suggeriert, mit der Rathenau dazu einlädt, die ‚Seelenevolution‘ exegetisch als Leidens- und Heils­ weg des Einzelnen und der Zeit zu lesen. Dieser „Weg der Welt durch Schmerz und Dunkel“89 findet sich gleichzeitig auf die Lektüre projiziert, durch die der Leser geführt wird, bis er am Ende „vor den Pforten“90 des ‚Seelenreiches‘ steht. Der wissenschaftssprachliche Topos vom ‚Gang der Untersuchung‘ wird regelrecht zum lehrhaften Spaziererlebnis der Schauung ausgebaut. Rathenau führt seinen Leser etwa an Stellen, an denen „zur Klärung und Vertiefung der auf den Schauplatz getretenen Begriffe, vom Wege der Darlegung eine Sonderbetrachtung abgezweigt werden“91 muss, bestätigt ihm, „den Kreis des

85

86 87

88

89 90 91

Rathenau will „Zusammenhänge so greifbar“ machen, „daß sie sinnlich erlebten Bildern gleichnisartig entsprechen“ (ebd., S. 20f.). Für die letztgültige Evidenz fordert er jedoch „eine weitere Bestätigung“ ein, „nämlich die des Gefühls“ (ebd., S. 21). In Konsequenz dieser besonderen Wissenschaftlichkeit steigt aber vor allem der Grad terminologischer Abstraktheit, je undefinierbarer der gerade behandelte Gegenstand ist, so behandelt Rathenau beispielsweise die „Infallibilität der Seele“ (ebd., S. 58). Ebd., S. 81. Ebd., S. 100. Gewissheitsbehauptungen durchziehen den gesamten Text. So könne etwa „über das Wesen des wahren Kunstwerkes auf die Dauer keine Täuschung bestehen“ und „[n]iemals […] wahre Individualität dem Willen entspringen“ (ebd., S. 64). So anlässlich einer imaginierten Kathedrale, die dem „Wanderer“ auch zeigt, dass dem Bauwerk „Sorge und Sehnsucht, Freude und Schönheit, Gut und Blut hineingewoben“ (ebd., S. 145) wurden, oder wenn Rathenau über „die großen Gebiete der handwerkli­ chen Halbkunst“ (ebd., S. 236) referiert. Ebd., S. 17. Ebd., S. 340. Ebd., S. 30.

145

Seelengebietes umschritten“92 zu haben, betont, „keinen Schritt vorwärts tun [zu dürfen], bevor die Einheit des Denkens und die Einheit der Darstellung durch eine Überbrückung des Erkenntnisproblems gesichert ist“93 oder weist auf Gefahren hin, die als „zwei bekannte Denkformen unseres zeitlichen In­ ventars […] aus dem Dunkel gern den Weg des idealistischen Wanderers beir­ ren“94. Die Autorität der lehrenden Führungsgestalt, als die sich der Verfasser inszeniert, erfährt dabei eine autobiographische Begründung, indem er den krisenhaften Weg auch als seinen eigenen erscheinen lässt, der nach „Jahre[n] der Sorge und des Zweifels“95 zur weltanschaulichen Gewissheit geführt hat, die nun in einer „Schrift der Geständnisse“96 vorlegt werden kann. „Dr. W. Rathenau“ inspirierte Robert Musil bei einer persönlichen Begeg­ nung „als Vorbild zu meinem großen Finanzmann in der Hotelszene“97, aus dem sich bekanntlich später die Figur des Dr. Paul Arnheim im Mann ohne Eigenschaften entwickeln sollte, dessen literarisches Profil wiederum entschei­ dend auf die Rathenaurezeption rückgewirkt hat.98 Personenbeschreibung und Charakterskizze verbindend, stehen die Eindrücke, die Musil sich zu Rathenau am 11. Januar 1914 im Tagebuch notiert, denn auch bereits deutlich im Dienst einer Literarisierungsintention. Einzelheiten zur gepflegten Kleidung und vor

92 93 94

95 96

97 98

Ebd., S. 56. Ebd., S. 74. Ebd., S. 139. Dabei erscheint der Untersuchungsweg von ähnlich schicksalhaften Mäch­ ten vorbestimmt wie der Leidensweg des Menschen, so „ist es uns auferlegt, die innere Betrachtung zu beschließen und uns der Spiegelung zuzuwenden“ (ebd., S. 69). Motive des Weges und der Wanderung spielen als „Diskursfiguren“ grundsätzlich eine wichtige Rolle in der Verständigung über Weltanschauung in den Jahrzehnten um 1900 (vgl. Anna Brasch: Moderne – Regeneration – Erlösung. Der Begriff der ‚Kolonie‘ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen 2017, S. 246f.). Am Beispiel von Bölsches Leseransprache vgl. dazu auch Horst Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen 2002, S. 338–380, hier S. 374. Rathenau: Zur Mechanik des Geistes (Anm. 64), S. 19. Ebd., S. 37. Neben offenen ‚Bekenntnissen‘, etwa zur eigenen Außenseiterposition im Hinblick auf die etablierten Wissenschaften (vgl. ebd.), finden sich subtiler eingeflochte­ ne Hinweise, über die sich der Verfasser zwischen prophetischem Seher und franziskani­ schem Wanderprediger changierend selbst stilisiert (vgl. zum Beispiel S. 23, 43, 52, 139, 145, 220). KA, Lesetexte; Band 16, Frühe Tagebuchhefte 1899–1926, 7: Journal (1913–1914). Eintrag vom 11. Januar 1914. In einer Identischsetzung von literarischer Figur und historischer Persönlichkeit sehr deutlich beispielsweise bei Wolf Lepenies: „Walther Rathenau ist Arnheim junior“ (Wolf Lepenies: Das Geheimnis des Ganzen. In: Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathe­ nau und die Kultur der Moderne. Hg. von Tilmann Buddensieg u. a. Berlin 1990, 140‑142, hier S. 140). Zur unter Musil-Einfluss stehenden Rezeption Rathenaus in und außerhalb der Germanistik vgl. die Forschungskritik bei Heimböckel: Walther Rathenau (Anm. 62), S. 18–36.

146

allem zur Physiognomie99 werden ebenso festgehalten wie ein überhebliches, dabei formvollendetes und von freundlich belehrender Vereinnahmung ge­ prägtes sprachliches und körpersprachliches Gebaren.100 Zur eigentlichen In­ itialzündung der literarischen Figur wird aber Rathenaus Plädoyer für eine strategisch visionäre Intuitivökonomie, das Musil im Tagebuch rekapituliert, und in dem sich bereits die wesentlichen Stichworte versammelt finden, die schließlich auch Arnheims widersprüchlichen Charakter im Roman beschrei­ ben werden.101 Die resümierende Einschätzung bezeugt, dass es sich hier für Musil um eine ebenso unsympathische wie verdächtige Erscheinung gehandelt haben muss: „Nicht nur die äußere Präpotenz, sondern auch dieser innere Schwindel? Knacks.“102 Vor der Versetzung Rathenaus in die Fiktion erfolgte aber eine essayistische Auseinandersetzung mit dessen Werk, die unter dem Titel Anmerkungen zu einer Metapsychik im April 1914 in der Neuen Rundschau erschien. Kennzeich­ nend für diese Besprechung von Zur Mechanik des Geistes ist, dass Musil immer wieder über das einzelne Buch hinaus Zeittypisches in den Blick nimmt. So bereits im einleitenden Abschnitt, der Rathenau philosophisch einordnet. Mit dem Versuch, aus dem transzendentalen Ausblick eine Anleitung für die gu­ te irdische Lebensführung zu extrahieren, den Musil allgemein in die Nähe eines infantilen Bedürfnisses nach Geborgenheit stellt, sieht er Rathenau die „Lieblingsidee der heutigen spiritualistischen Philosophie“103 aufgreifen, als deren jeweils unterschiedlich akzentuierende Vertreter er Novalis, Emerson, Bergson und Eucken nennt. Die Mechanik des Geistes scheint ihm dabei in der Ausrichtung auf eine ethische Kollektivgemeinschaft am ehesten an die Emerson-Variante anzuknüpfen.104 99

100

101 102 103

104

Insbesondere Rathenaus Schädel wird einer Detailstudie unterzogen. Musil registriert „Negroides“, „Phönikisches“ und assoziiert insgesamt antik Heroenhaftes: „Ich weiß nicht wie Hannibal aussah, aber ich dachte an ihn“ (KA, Lesetexte; Band 16, Frühe Ta­ gebuchhefte 1899–1926; 7: Journal [1913–1914]). Ulrich Boss erläutert diskursgeschicht­ lich, wie Musil mit dem ‚phönikischen Schädel‘ ein antisemitisches Stereotyp der Zeit aufgreift, das dann auch in den Roman eingeht (vgl. Ulrich Boss: Eine ‚bemerkenswerte Einzelheit‘. Arnheims phönikischer Schädel im Kontext antisemitischer Rassendiskurse. In: Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 31 (2009/2010), S. 64– 83). „Er sagt gern: Aber, lieber Doktor und faßt einen freundschaftlich beim Oberarm. Er ist gewohnt, die Diskussion sofort an sich zu reißen. Er ist doktrinär und immer dabei großer Herr. Man macht einen Einwand. Gern; ich opfere ihnen diese Voraussetzung ohneweiters, aber –“ (KA, Lesetexte; Band 16, Frühe Tagebuchhefte 1899–1926; 7: Jour­ nal [1913–1914]). Vgl. ebd. Ebd. Robert Musil: Anmerkungen zu einer Metapsychik. In: Ders.: In Zeitungen und Zeit­ schriften I. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2020 (Gesamtausgabe. Bd. 9), S. 234–241, hier S. 234. Vgl. ebd., S. 234f.

147

Die konkrete Auseinandersetzung mit dem Buch entspinnt sich an den an­ thropologischen Implikationen des dichotomischen Kontrastmodells, mit dem Rathenau wortreich, aber begründungdefizitär seine Vorstellung des ‚seelenvol­ len‘ Menschen ausgeformt hatte. Hier wendet sich Musil gegen die Setzung des assoziativ erzeugten Ideals als „Programm eines Menschentypus“105, das seiner Meinung nach erst durch herzustellende Beziehungen zwischen den zugeschriebenen Eigenschaften zu vertreten wäre, nicht aber „schon für die blo­ ße Palette, ausschließlich für dieses Sortiment moralischer Farben Herrschaft beanspruch[en]“106 könne. Eine besondere Spitze erhält die Polemik an dieser Stelle dadurch, dass sie aus demselben Metaphernbereich schöpft, aus dem sich auch Rathenau vorzugsweise bedient, um das Theoretische zu veranschaulichen und die Welt gleichsam als „Bilderbuch“107 darzustellen. Die Strategie, den Gegner mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, setzt sich fort, wenn Musil die mannigfaltigen Zuschreibungen zitiert, mit denen Rathenau den ‚seelenvollen‘ Charakter absteckt, und dann mit einer nicht minder überwältigenden Kaskade an Gegenbeispielen aus Literatur-, Philosophie- und Kunstgeschichte in eben dieses einseitig verklärte Seelengebiet einbricht, um die „Ausnahmen […] also doch irgendwie in die Regel verflochten“108 zu zeigen. Die Mechanik des Geis­ tes bringt in ihrem dichotomisierenden Absolutismus für Musil nichts neues, sondern lässt ihn feststellen, „daß hier trotz aller Modernität die Welt wieder einmal in Himmel und Hölle zerschnitten wird, während zwischen beiden, aus irgendeiner Mischung, gerade aus einer, freilich noch sehr zu untersuchenden Mischung […] die Fragen der Erde blühn.“109 Der Einwand macht deutlich, dass Musil bei aller Schärfe, mit der er Rathenau ablehnt, zugleich an und mit ihm auf eine Problematik stößt, die ihn auch selbst beschäftigt. Das zeigt sich auch in der Behandlung dessen, was man „mit einem in der Essayistik heimisch gewordenen Ausdruck das Erlebnis der Seele oder der Liebe nennt“, und was Musil, sich von solcher Essayistik distanzierend, doch lieber als „Gruppe menschlicher Zustände“110 bezeichnet. Wenn auch keine innovative, so wird Rathenau in der Beschreibung dieser Zustände immerhin

105 106 107 108

109 110

148

Ebd., S. 235. Ebd., S. 235f. Rathenau: Zur Mechanik des Geistes (Anm. 64), S. 21. Musil: Anmerkungen zu einer Metapsychik (Anm. 103), S. 236. Diese Strategie lässt sich auch darin erkennen, dass Musil in den Anmerkungen ausgerechnet den Rezipienten mimt, den Rathenau sich idealiter vorgestellt hatte. Sein essayistisches Ich spürt (vgl. ebd., S. 235), errät (vgl. ebd.) oder gibt sich „nachfühlend“ (ebd., S. 238) und entwickelt die vernichtende Kritik damit gerade aus der „prüfenden Empfindung“ (Rathenau: Zur Mechanik des Geistes [Anm. 64], S. 19) des Lesers heraus, der Rathenau sein Werk überantworten wollte. Musil: Anmerkungen zu einer Metapsychik (Anm. 103), S. 237. Ebd.

eine ästhetische Qualität konzediert.111 Das „Grunderlebnis der Mystik“112 refe­ riert Musil zuerst in Rathenaus Worten, um es dann als ein zwar subjektiv erlebbares, aber letztlich nicht vermittelbares in eigenen, ernüchterten zu um­ schreiben.113 Die Gefahr, bei der Schilderung des Unaussprechbaren in eine allzu große Nähe zu Rathenau zu geraten, wehrt Musil ab, indem er sein Engagement nachträglich als nachfühlendes Verständnis ausgibt, das sich dann allerdings als ein reichlich vergiftetes darstellt, wenn es „die vermeinte Einfach­ heit, die Laienfrömmigkeit, die kinderäugigen Ideale“114 zu begreifen vorgibt. Die zentrale Kritik, die an Rathenau exemplifiziert wird, zielt auf das Vor­ haben, „aus diesem Zustand heraus eine Philosophie zu schreiben.“115 Musil honoriert zwar das „Wagnis“116, bescheinigt Rathenau jedoch, bei der Über­ setzung des mystischen Erlebnisses ins Begriffliche, in dem die Bedingungen dieser Erfahrung suspendiert sind, gescheitert zu sein, wodurch „an die Stelle der Gefühlsmystik […] eine rationale“117 getreten sei. Das Grundproblem einer „Verschiebung“ erachtet er in dem Zusammenhang als „absolut typisch für alle systematischen Versuche auf diesem Gebiet.“118 Am Werk sieht er den Geist des Scheinwissenschaftlichen, der „sich vom wissenschaftlichen Verstand eigentlich nur dadurch unterscheidet, daß er auf dessen Tugenden der Methodik und Genauigkeit verzichtet.“119 In der Konsequenz resultiere daraus eine „merk­ würdige Pseudosystematik“, in der Musil zudem ein gewaltsames Moment erkennt, es handelt sich für ihn um „eine Art erbittertes Ordnungsspiel“120. Als kennzeichnend für einen solchen Entwurf stellt Musil wiederum heraus, dass der Verlust des ursprünglichen Erlebnisses durch „äußere Gefühlshilfen“121 kompensiert werden müsse. Der metaphysische Anspruch erfülle sich damit letztlich in einer rein nobilitierenden Funktion und zurück bleibe nurmehr „heraldische Spekulation, die die entleibte Haut des Erlebnisses an die Sterne hängt.“122 Die abschließende Einschätzung bringt zum Ausdruck, dass es über Einzelheiten bei Rathenau und über dessen Buch hinaus um das „Verhängnis 111 112 113

114 115 116 117 118 119 120 121 122

Vgl. ebd. Ebd. Den ersten Teil der Beschreibung (vgl. ebd., S. 237f.) montiert Musil aus wörtlichen Zitaten aus der Mechanik des Geistes, im zweiten Teil ist Rathenaus Vokabular noch im „Gefühlston“ (ebd., S. 238) zu identifizieren. Vgl. zu den zitierten Textstellen in der Rei­ henfolge ihres Erscheinens bei Musil Rathenau: Zur Mechanik des Geistes (Anm. 64), S. 169, 39, 195, 187, 231. Musil: Anmerkungen zu einer Metapsychik (Anm. 103), S. 238. Ebd., S. 239. Ebd. Ebd., S. 240. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

149

des Ganzen“123 geht. Mit Blick auf die Literatur seiner Zeit stellt Musil in seiner Quintessenz deshalb mit Bedauern fest, dass es – Nietzsches Versuch ausgenommen – vorerst keine gelungene Annäherung an die großen Fragen gebe: „Künstlerisches und wissenschaftliches Denken berühren sich bei uns noch nicht. Die Fragen der Mittelzone zwischen beiden bleiben ungelöst.“124 Mit seinen Ausführungen zu einer ‚Pseudosystematik‘, die das mystische Erlebnis mit der Beweiskraft rationalen Denkens und Ordnens ausstatten und zum einheitlichen Entwurf zwingen will, dabei aber vorrangig ihren eigenen Widerspruch durch ‚äußere Gefühlshilfen‘ verhüllt, beschreibt Musil die grund­ legende Struktur weltanschauungsliterarischer Texte und benennt zudem am Beispiel der Mechanik des Geistes charakteristische Verfahren, hier vor allem das vereinfachende Schematisieren komplexer Zusammenhänge durch absolu­ te Gegensätze. Noch die polemische Zurückweisung Rathenaus verdeutlicht gleichwohl, dass es einen gemeinsamen Schnittpunkt gibt und die künstlerischwissenschaftlichen ‚Fragen der Mittelzone‘ gerade auch diejenigen sind, die Musil selbst stellt. Aufschlussreich ist es, ergänzend die im Nachlass erhaltenen Vorstufen des Rathenau-Essays hinzuzuziehen, weil sie unter drei Gesichtspunkten dokumen­ tieren, dass Musils Beobachtungen zur Weltanschauungsliteratur bereits 1914 weiter reichen, als die publizierten Anmerkungen erkennen lassen. Das eigens für die Auseinandersetzung mit Rathenau angelegte Heft 2 enthält kommen­ tierte Exzerpte aus der Mechanik des Geistes sowie Notizen und Entwürfe zu de­ ren Besprechung. Diese Aufzeichnungen zeigen erstens, wie bei Musil aus der Lektüre der Mechanik des Geistes unmittelbar eine methodologische Mängelliste entsteht, zweitens deuten sie die Dimension an, in der er vom konkreten Werk abstrahierend erkenntnistheoretische Voraussetzungen der ‚Pseudosystematik‘ und historische Bedingungen ihrer gegenwärtige Konjunktur reflektiert, und drittens lassen die Vorstufen erkennen, dass die Weltanschauungsrhetorik hier ansatzweise auf ihr fiktionales Potential hin geprüft wird. Während Musil Zur Mechanik des Geistes liest, wird ihm insbesondere ein widersprüchlicher Umgang mit Wissenschaft suspekt, den er im Einzelnen immer wieder an methodischen Nachlässigkeiten festmacht. So vermerkt er etwa zur Erörterung von individueller und typischer Kunst in Parenthese: „Wie vage solche Begriffe!“125, bemängelt bei Rathenaus Modell der ‚Selektion des Erfolges‘ eine „[s]ehr primitive Gegeneinandersetzung“126 oder registriert: „Ent­ zieht sich immer dem Beweis“127. Auch ein sich über jeden Zweifel erhebender 123 124 125 126 127

150

Ebd. Ebd., S. 241. KA, Transkriptionen; Heft 2/2. Ebd., Heft 2/38. Ebd., Heft 2/32. Rathenaus Definition des Intellekts als triebhafte Form des Bewusst­ seins in Abgrenzung zur Seele hält sich Musil als Beispiel für „[p]sychologische Curiosa“

Duktus der Gewissheit fällt Musil unangenehm auf, eine passende Textstelle aus der Mechanik des Geistes findet sich im Exzerpt unterstrichen und ironisch glossiert: „Man hat manchmal so eine wunderbare Sicherheit!“128 Spöttisch wird ebenfalls beobachtet, wie sich Rathenau im Abschnitt über die ‚Lebens­ stimmung der anorganischen Welt‘ in die Thematik ‚hineinanalogisiert‘.129 Insgesamt erweckt das Buch bei Musil den Eindruck des ad hoc verfassten Gelegenheitswerkes, das zwar im Einzelnen inspirierende, aber durchweg un­ ausgearbeitete „Notizbucheinfälle eines […] wissenschaftlich philosophischen Menschen“130 versammelt. Eine erste Zusammenfassung bringt das konstatierte Missverhältnis folgendermaßen auf den Punkt: „Das Charakteristische ist: 1. die Schärfe mit der die Wissenschaft abgelehnt wird. 2. die Weichheit gegen­ über den eigenen Gesetzen.“131 Im Changieren zwischen Wissenschaft und Metaphysik wird Rathenaus Schrift für Musil deshalb eine „wissensähnliche Seelenschaft“132, im dogmatischen Anspruch wiederum kennzeichnet er sie als „Ideologie, in der die Mächte der Seele über die Finsternis des Verstandes und die Armut der Wissenschaft triumphieren“133. Was die Einordnung Rathenaus in seine intellektuellen Bezugsfelder betrifft, sieht Musil ihn mit der idealisti­ schen Ausrichtung im Fahrwasser verbreiteter Neuromantik schwimmen, die „Spezialposition“ erscheint ihm weitgehend „von Bergson genommen.“134

128

129 130

131 132 133 134

(Ebd., Heft 2/2) fest. Die Reflexionen über das Verhältnis der modernen Kunst zum me­ chanischen Zeitalter sieht Musil wiederum kritisch als unzulässige Verkürzung: „Welch leichtsinnige Formeln! Und ohne Gefühl wie es weitergehn kann“ (ebd., Heft 2/39). KA, Transkriptionen; Heft 2/38. Die Anmerkung bezieht sich auf Rathenaus Beglaubi­ gung seiner ‚Ethik als Erkenntnisform‘ durch höhere Einsicht: „In den Augenblicken der Erhebung schwindet der Zweifel“ (Rathenau: Zur Mechanik des Geistes [Anm. 64], S. 191). An anderer Stelle bezeichnet Musil Rathenaus Buch auch als „eitle[] Metaphy­ sik“ (KA, Transkriptionen; Heft 2/7). Vgl. ebd., Heft 2/35. Ebd., Heft 2/9. Vgl. ähnliche Äußerungen auch ebd., Heft 2/13. Als anregend schätzt Musil beispielsweise den massenpsychologischen Ansatz Rathenaus in den Überlegun­ gen zum ‚Kollektivgeist‘ ein, die er aber nicht über sehr unbestimmte Analogien hin­ auskommen sieht (vgl. ebd., Heft 2/11). Außerdem gesteht er „im einzelnen kluge Bemerkungen, namentlich zu den soziale Bedingungen heutiger Kunst“ (ebd., Heft 2/39) zu. Nützliches findet er auch im dritten Teil der Mechanik des Geistes, der sich der ‚Evolution des praktischen Geistes‘ widmet, wobei das Gesamturteil – „eine Art besserer Knigge des sozialen Lebens“ (ebd., Heft 2/38) – ein doch eher zweifelhaftes Lob ausstellt (‚besserer‘ ist immerhin unterstrichen). Dass Rathenau die Erlösung des mecha­ nisch unterdrückten Menschen als ein in sich ruhendes Schweben der Seele über der Erscheinungswelt entwirft, kanzelt Musil ab und setzt ein verächtliches „Geht es nicht billiger?“ (ebd., Heft 2/2) dahinter. Das lässt die Hochschätzung, die die veröffentlichten Anmerkungen zumindest der Beschreibung des mystischen Erlebnisses bekunden wollen, äußerst fadenscheinig werden. Ebd., Heft 2/12. Ebd., Heft 2/28. Ebd., Heft 2/13. Vgl. auch ebd., Heft 2/11; Heft 2/25; Heft 2/29. Zum Vorbild Bergson, den Musil parallel zur Kritik an solcher Nachfolge zu rehabilitie­ ren versucht vgl. auch ebd., Heft 2/6; Heft 2/8–13.

151

Großen Raum nehmen im Vorstufen-Heft die Bemühungen ein, Rathenaus Weltanschauungsprogramm als ein symptomatisches zu fassen und auf diese Weise das „Zeitalter der Populärmetaphysiken“135 allgemein zu begutachten. Obwohl die entsprechenden Überlegungen in ihrem Entwurfscharakter not­ wendig als vorläufige zu betrachten sind, bezeugen sie in der Rekonstruktion dennoch den erweiterten Kontext, in den Musil die Mechanik des Geistes stellen will. Deutlich wird dieser Anspruch in der vielfach variierten Formulierung, die hervorhebt, dass es nicht eigentlich um eine Kritik des Rathenau-Buches gehe, sondern vielmehr darum, „etwas an seiner Haltung Typisches zu be­ trachten“ und „einen verbreiteten Zeitirrtum gleichsam im Einzelfall zu ertap­ pen“136. Das Gemeinsame der Haltung lässt sich dabei präziser bestimmen als „Ungenügenderachten der bloßen ratio, Übertritt zur Intuition, Erfassen des heutigen Zustandes als bloßer Phase einer […] ungeheuren, ewigen Geistesre­ volution“137. In dem Versuch, die grundlegende Beschaffenheit des ‚Irrtums‘ zu bestimmen und zugleich die Bedingungen für seine gegenwärtige ‚Verbreitung‘ zu klären, verbinden sich erkenntnistheoretische Reflexionen und historische Überlegungen zum zeitdiagnostischen Fragment. Mit seiner Beschreibung der „Genesis unseres heutigen Zustandes“138 befin­ det Musil sich durchaus noch in Einklang mit den Entwürfen, gegen die er sich wendet. Er zeichnet eine Linie vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart als Erfolgsgeschichte der modernen empirischen Wissenschaften sowie komple­ mentär verlaufender (Selbst-) Einschränkung der metaphysischen Spekulation nach und leitet daraus das herrschende Empfinden der „Nüchternheit, Enge u Unvollständigkeit“139 angesichts einer scheinbar nicht zu bewältigenden Tatsa­ chenfülle ab. Im Unterschied zur antiintellektualistischen Zivilisationskritik à la Rathenau setzt Musil allerdings einen entscheidend anderen Akzent bei der Problembestimmung, die sich für ihn aus der elementaren Reflexion mensch­ licher Erkenntnismöglichkeiten ergibt. Hier geht Musil von „zwei Schichten Geistes“ aus, die er annäherungsweise als „Verstand, d. h. Ratio, Logos“ und „Methodik“ einerseits, „Gefühl, Psyche, Ahnung Mensch“140 andererseits zu 135 136

137

138

139 140

152

Ebd., Heft 2/16. KA, Transkriptionen; Heft 2/13. Vgl. auch ebd., Heft 2/2; Heft 2/10f.; Heft 2/25. Vgl. zum Beispiel auch Musils an sich selbst gerichtete Anweisung, an Rathenaus Buch „das Formale dieser Bewegung, das Typische“ (ebd., Heft 2/29) herauszustellen. Ebd., Heft 2/9. Musil erhebt gegen diese Haltung auch einen moralischen Einwand, sie verstößt für ihn gegen das „intellektuelle Gewissen“ (ebd., Heft 2/24), ist letztlich Ausdruck geistiger Faulheit: „Das heißt den Feiertag vor die Arbeit setzen und ein – allzu trojanisches – Pferd beim Schweif aufzuzäumen“ (ebd.). Ebd., Heft 2/25. Ausholende historische Darstellungen, in denen sich Musil teilweise bis in die Antike zurückgreifend mit dem Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft beschäftigt, finden sich vor allem ebd., Heft 2/12; Heft 2/14f.; Heft 2/18f.; Heft 2/28. Ebd., Heft 2/20f. Ebd., Heft 2/17. Die Begriffe ‚ratioïd‘ und ‚nicht-ratioïd‘, die Musil später in seinen Essays für solche Unterscheidungen vor allem gebraucht und mit denen er zugleich ver­

fassen sucht. Unter dieser Annahme richtet sich seine Kritik an der Zeit vor allem gegen eine verhängnisvolle Fehlinterpretation der Relation dieser beiden ‚Schichten‘: „Das Problem ist, die zweifellos bestehende Trennung zu beseiti­ gen, sie miteinander zu durchdringen, das Scheinproblem: zwischen ihnen wählen, Partei zu ergreifen, auszuspielen.“141 Diese Verwechslung von Problem und Scheinproblem steht im Hintergrund, wenn Musil in den Anmerkungen die Weltanschauungsliteratur konzeptuell als ‚Pseudosystematik‘ beschreibt. Dem­ entsprechend führen Musils eigene zeitdiagnostische Überlegungen die Misere der Gegenwart nicht auf ein Zuviel an Rationalität zurück, es sind vielmehr gerade die „Scheinerfüllungen“142, an denen er die Epoche leiden sieht, weil sie eine Lösung des eigentlichen Problems verhinderten. In den Vorstufen sind die weltanschaulichen „Scheinerfüllungen“ zum einen in ihrer „Gefährlichkeit“143 gekennzeichnet. Emotional aufgeladene Formulierungen im Umkreis solcher Eindrücke lassen vermuten, dass nicht zuletzt auch eine Bedrohung der eige­ nen Wirkungsmöglichkeiten gemeint ist: „Diese Art Philosophie entvölkert heute unser Publikum für ernste Kunst“144, oder: „eine Generation geht so kaput!“145. Hieraus speist sich auch ein trotz der scharfen Kritik an Rathenau anklingendes Bedauern, jemanden wie ihn an die ‚falsche Seite‘ verloren zu haben. Musil fragt sich, „wie ein geistvoller u zweifellos kenntnisreicher Mann zu einer solchen (mystischen Causerie) […] sich verleiten lassen kann“146. Aus der Bedrohungswahrnehmung entsteht zum anderen der Impuls, die populäre Konkurrenz als alberne Weltanschauungslyrik zu verunglimpfen: „Dinge, die in lyr. Gesichten […] ganz gut machen, werden lächerlich wenn der Lyriker zur Aussprache seiner Weltanschauung übergeht“147. In der erweiterten Perspektive zielt Musil mit seinen Attacken „natürlich längst nicht mehr auf das Buch, von dem ich ausging“, mit Rathenau ins Visier geraten insgesamt „Katholikomanie“, „[f]reireligöse Bewegung“, „St. George“,

141

142 143 144 145 146 147

sucht, antinomische Vorstellungen von rational und irrational zu überwinden, finden sich erstmals 1918 publiziert in der Skizze der Erkenntnis des Dichters (vgl. Robert Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters. In: Ders.: In Zeitungen und Zeitschriften I. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2020 [Gesamtausgabe. Bd. 9]. S. 303–311). KA, Transkriptionen; Heft 2/17. Musils eigene Lösungsansätze bleiben auch in den Entwürfen eher vage. Es deutet sich an, dass ihm gegen die antirationale Skepsis eine notwendige „Ergänzung der Erkenntnis“ (ebd., Heft 2/14f.) vorschwebt. Grundsätzli­ chen Wissenschaftsoptimismus verraten in diesem Zusammenhang insbesondere die Hinweise auf eine zukünftige „Psychologie der Intuition“ (ebd., Heft 2/22f.), von der sich Musil den Nachweis verspricht, dass es auch im rein Rationalen intuitive Momente gibt. Ebd., Heft 2/16. Vgl. auch ebd., Heft 2/26. Ebd., Heft 2/16. Ebd., Heft 2/12. Ebd., Heft 2/25. Ebd., Heft 2/13. Ebd., Heft 2/14f.

153

„[d]as Ewige“ „u was noch im Augenblick für Seele gilt“148. Mit Stefan George verbindet sich auch die isoliert stehende Bemerkung „eine[r] ungeheure[n] Verdrehung / Leichtfertigkeit in der Anwendung der Begriffe Größe, Tiefe Bedeutung, Innerlichkeit“, unter der sich die Bezeichnungen „Georgler“ bzw. „Georgelnden“149 ausprobiert finden. Abgelehnt wird dabei nicht die Beschäf­ tigung mit dem ‚Seelischen‘ an sich, sondern ein falsches Anknüpfen an das „Erbe[] von Seele“, das Musil noch in den Büchern von Emerson, Nietzsche, Maeterlinck und „selbst der Ellen Key“150 erkennt. In diesem Sinne ist auch die Notiz zu verstehen, in der Musil äußert, er habe für das Unternehmen alle die Sympathie, die er für Rathenau nicht habe.151 Die Vorbereitung des Rathenau-Essays belegt jedoch nicht nur die umfassen­ de Reflexion eines populären Weltanschauungsdenkens, es finden sich auch Anzeichen einer ironischen Verarbeitung der entsprechenden Rhetorik, die be­ reits auf eine Fiktionalisierung weltanschauungsliterarischer Verfahren voraus­ weisen. So enthält Heft 2 eine Skizze, in der Musil aus dem essayistischen Modus in eine poetische Beschreibung der zurückliegenden Lektüre übergeht: Ich habe das Buch von Walther Rathenau „Zur Mechanik des Geistes“ mit Widerstre­ ben gelesen. Ich habe mich hineingezwängt – weil ich sollte – preßte mich durch 50 Seiten, \hielt unterwegs an bohrte mit […] \d|em Kopf, wütete, horchte, fühlte, .. kroch weiter, kam ins Gleiten, […] \begann| wie ein Fisch zu schnellen, sprang \im­ mer höher u weiter, cycloidisch wachsend| wie man in Träumen springt, flugspringt, fliegt, erstaunt über sich, bezaubert von sich. […] 50, 100 stoben die Seiten unter mir hin| zugleich beunruhigt von einer ungeheueren, leeren Leichtigkeit, wie von einem Eisenbahnwagen, der absolut lautlos dahin stampft, und fiel hinten leer, […] von Vergeblichkeit dieses Buchs erschöpft, bleiern, grimmig ins Nichts, in Langweile, in Gott sei Dank \aus| und wie viel Uhr ist es nun wohl.152

Die Strategie, Kritik an einem bestimmten Text aus diesem selbst heraus, gleichsam mit ‚geborgten‘ Mitteln zu entwickeln, die auch noch in den publi­ zierten Anmerkungen durchscheint, tritt hier deutlich hervor. Indem Musil das sprechende Ich eine erlebte Lektüre als evolutionäre Emporentwicklung aus kreatürlichen Niederungen in den träumerischen Höhenflug imaginieren lässt, greift er die wissenschaftlich bemäntelte Erhebungslyrik in der Mechanik des

148 149 150 151 152

154

Ebd., Heft 2/25. Ebd., Heft 2/17. Mit Blick auf Rathenau und die ‚Populärmetaphysiken‘ insgesamt vgl. auch: „Es sind ungeheure Emballagen die ein wenig Wert enthalten“ (ebd., Heft 2/24). Ebd., Heft 2/25. Vgl. ebd., Heft 2/29. KA, Transkriptionen; Heft 2/7. Die Wiedergabe des Textes erfolgt nach den Transkripti­ onskonventionen der Klagenfurter Ausgabe. Zur Erläuterung der diakritischen Zeichen: \ ... | = Einfügung. Diese Eintragung hat Musil unter dem Hinweis „Körperliche Eindrü­ cke von einem Seelenbuch“ (ebd., Mappe VII/3/1) später wiederum mit einem DiotimaBlatt verknüpft.

Geistes auf.153 Eine solche ‚Evolution des rezipierten Geistes‘, die den drei Geis­ tesevolutionen bei Rathenau probeweise hinzugefügt wird, rekurriert auf des­ sen Kalkül, die eigene weltanschauliche Erweckung mit literarischen Mitteln auch als Erweckungserlebnis des Lesers zu gestalten und konterkariert dieses Verfahren zugleich, wenn dem evolutionären Aufschwung ein jäher Absturz folgt, am Ende nicht die Pforten des Seelenreiches aufleuchten, sondern nur unverändert profane Alltäglichkeit bleibt. Die komisierende Verkehrung der Vorlage über ihre Fiktionalisierung knüpft hier genau an den der Weltanschau­ ungsliteratur eigenen fiktionalen Momenten an. Damit zeigt die Rathenau-Rezeption Musil insgesamt als genauen und kriti­ schen Beobachter weltanschauungsliterarischer Verfahren, wobei insbesondere die Notizen und Entwürfe im Hintergrund der Anmerkungen zu einer Meta­ psychik am Beispiel Rathenau vieles bereits formulieren, was erst später im Spengler-Essay Publikationsreife erlangen wird. Musils Feststellungen beziehen sich dabei sowohl auf das Konzept Weltanschauung als auch auf die argumenta­ tiven und sprachlichen Verfahren, die Rathenau verwendet. Obgleich sich die Forschung mit Rathenau als einem offensichtlichen Vor­ bild der Arnheim-Figur sehr eingehend beschäftigt hat,154 wurde ihm gerade unter argumentativ-rhetorischen Aspekten bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Bei der Fixierung auf die Achse Rathenau-Arnheim ist tendenziell eine starke Gewichtung der facettenreichen Persönlichkeit Rathenaus und eine damit einhergehende Unterschätzung seiner kulturkritischen Essayistik, insbe­ sondere ihrer sprachlichen Seite festzustellen. Diese Tendenz lässt sich selbst dort erkennen, wo über den bloßen Abgleich historisch- und figurenbiographi­ scher Details hinaus Musils Referenz auf Rathenau als intellektuellen Typus herausgestellt und überzeugend nachgewiesen werden konnte, dass der „intel­ ligente Realpolitiker und neo-romantische Metaphysiker, der religiöse Fatalist und gewitzt-vernünftige Diplomat“155 als Repräsentant eines widersprüchlichen Zeitalters Pate steht für den Arnheim im Mann ohne Eigenschaften. Zwar findet 153 154 155

Siehe auch den „Hang zu transzendenter Erhebung“ (ebd., Heft 2/3), den Musil bei Rathenau grundsätzlich konstatiert. Zur Entstehung der Arnheim-Figur vgl. Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideolo­ giekritik (Anm. 9), S. 271–277. Fanta: Die Entstehungsgeschichte (Anm. 5), S. 23f. Dagmar Barnouw: Zeitbürtige Eigenschaften. Musils Rathenaukritik. In: Robert Musil – Theater, Bildung, Kritik. Hg. von Josef Strutz und Johann Strutz. München 1985, S. 166–184, hier S. 170. Vgl. auch dies.: Weimar Intellectuals and the Threat of Moder­ nity. Bloomington und Indianapolis 1988, zu Rathenau, S. 44–77, zu Musil S. 78–120. Ähnlich argumentiert auch Cornelia Blasberg. In ihrer Studie, die das intellektuelle Krisenbewusstsein als zeithistorischen Hintergrund von Musils Roman beleuchtet und auch auf Rathenaus philosophische Schriften eingeht, untersucht sie Arnheim vor allem als Verkörperung einer geistigen Haltung, die sie als ästhetische Typologisierung der historischen Persönlichkeit analysiert (vgl. Cornelia Blasberg: Krise und Utopie. Kultur­ kritische Aspekte in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Stuttgart 1984, S. 190–206).

155

Musils Auseinandersetzung mit Rathenaus Werk in der Forschungsliteratur im­ mer Erwähnung, wo sie intensiver analysiert wird, konzentriert sich die Suche aber meist auf inhaltliche Parallelen oder das wörtliche Zitat.156 c) ‚Am berühmten Einzelfall‘. Musils Spengler-Kritik Mit dem Untergang des Abendlandes157 hat sich Musil ausführlich essayistisch beschäftigt. Im kulturphilosophischen Hauptwerk Spenglers konnte er die lite­ rarisch verbrämte ‚Pseudosystematik‘, die ihm bei Rathenau aufgefallen war, an einem Paradebeispiel vorfinden und auseinandernehmen. Wie Spenglers Schrift zu diskutieren sein wird, kristallisiert sich bereits heraus, noch ehe die 156

157

156

Götz Müller versucht, Arnheim direkt auf Rathenau-Schriften zu beziehen und hebt neben Zur Mechanik des Geistes auch kleinere Essays, etwa Zur Physiologie der Geschäfte (1902) und Geschäftliche Lehren (1908), hervor (vgl. Götz Müller: Ideologiekritik und Metasprache. München 1972, vor allem S. 13f., 45f.). Allerdings ist nicht gesichert, dass Musil diese ebenfalls gelesen hat. Howald betont zwar die starke Abhängigkeit Arnheims von den Büchern Rathenaus, wundert sich aber, dass im Roman kaum ein wörtliches Zitat aus Zur Mechanik des Geistes, sondern vor allem sinngemäße Überein­ stimmungen und Ähnlichkeiten in der Terminologie aufzufinden seien. Musils For­ mung von Rathenau zum Typus in Essay und Roman diskutiert er dann vor allem als eine inhaltliche Verkürzung von dessen Kulturkritik (vgl. Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik [Anm. 9], S. 271–295, zu Musils Rathenau-Rezeption vor allem S. 280–282). Der funktionalen Umgestaltung des einzigen längeren (fast) wörtlichen Rathenau-Zitats im Mann ohne Eigenschaften widmet sich Reinhard Markner: Marginalie zur Montagetechnik Musils: Rathenau und Arnheim. In: Literaturwissen­ schaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 32 (1991), S. 391f. In seiner Untersuchung der Arnheimfigur geht Werner Graf auf Musils Rathenau-Essay ein und wirft auch einen Seitenblick auf Zur Mechanik des Geistes, um zu zeigen, dass der Mann ohne Eigenschaften satirisch auf die dort verwendeten kulturkritischen Topoi Bezug nimmt (vgl. Werner Graf: ‚Parallelaktion‘ – Satire der Kulturkritik. Robert Musil über Walther Rathenau. In: Der Potsdamer Forte-Kreis. Eine utopische Intellektuellenassoziation zur europäischen Friedenssicherung. Hg. von Richard Faber und Christine Holste. Würz­ burg 2001, S. 85–98). In der Darstellung von Rathenau als Arnheim-Vorbild vor allem an Barnouw anknüpfend vgl. auch Hans-Georg Pott: Besitz und Bildung. Zur Figur des Großindustriellen Arnheim in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. In: Kapital und Moral. Ökonomie und Verantwortung in historisch-vergleichender Perspektive. Hg. von Susanne Hilger. Köln, Weimar und Wien 2007, S. 121–137. Patrizia McBride: „Ein schreibender Eisenkönig?“ Robert Musil und Walther Rathenau. In: Robert Musils Drang nach Berlin. Bern 2008, S. 287–299. Einen für die vorliegende Arbeit besonders interessanten Ansatz verfolgt Florian Kappeler. In seinem diskursanalytischen Beitrag bezieht er neben Organisationsmodellen von Johann Plenge und Franz Müller-Lyer auch die organisch gedachten von Walther Rathenau auf den Mann ohne Eigenschaften. Der Fokus richtet sich bei Kappeler allerdings nicht auf die argumentative und sprachli­ che, sondern dezidiert auf die konzeptuelle Wissensorganisation und ihre gendertheore­ tischen Implikationen (vgl. Florian Kappeler: Die Organisation des Möglichen. Poetolo­ gien kapitalistischen Organisationswissens bei Robert Musil. In: Das Mögliche regieren. Gouvernementalität in der Literatur- und Kulturanalyse. Hg. von Roland Innerhofer, Katja Rothe und Karin Harrasser. Bielefeld 2011, S. 49–72). Als weltanschauungsliterarisches Werk wird Spenglers Untergang des Abendlandes im Thomas Mann-Teil dieser Arbeit vorgestellt (vgl. Kapitel I.1.c).

Lektüre beendet ist. Musil liest den ersten Band des Untergangs im Spätjahr 1919 und teilt Efraim Frisch, dem Herausgeber des Neuen Merkur, in dem die Besprechung erscheinen soll, am 29. November mit, er wolle das Spenglersche Buch als Zeitsymptom behandeln […], denn so weit ich es bisher gelesen habe, wäre eine sachliche Widerlegung uferlos; er schmeißt mit falschen Ana­ logien so herum, daß sein bißchen Wahrheit mit seiner Unmenge Irrtum unauflösbar verheddert ist.158

Auf die Behandlung dieser verwickelten Angelegenheit muss Frisch dann aller­ dings noch über ein Jahr warten, der Essay Geist und Erfahrung erscheint erst im März 1921 und gibt im Untertitel – Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind – gleich die ironische Richtung der Kritik an.159 Es handelt sich um Anmerkungen zu einer besonderen Verbindung von Literatur und Wissenschaft, über die Musil gleich zu Beginn des Essays mit einem Zitat aus Schillers Abhandlung Über die notwendigen Grenzen beim Ge­ brauch schöner Formen ein Verdikt verhängt: „Belletristische Willkürlichkeit im Denken ist freylich etwas sehr Übles.“160 Die zeitsymptomatische Betrachtung dieses Phänomens erklärt Musil im fünften Abschnitt des Essays, in dem er sein Selbstverständnis als Kritiker darlegt, explizit zum Angriff, der sich dort gegen Spengler richten soll, „wo er typisch ist. Wo er oberflächlich ist.“161 Attackiert werde damit auch „die Zeit, der er entspringt und gefällt, denn seine Fehler 158 159

160

161

KA, Lesetexte; Band 19, Korrespondenz; Robert Musil an Efraim Frisch, 29. November 1919. Bei dem publizierten Essay handelt es sich um eine gekürzte Fassung, das ursprüngliche Manuskript ist nicht erhalten. Den Umfang der Kürzungen gibt Musil mit „ca. ¼“ an (KA, Lesetexte; Band 19, Korrespondenz; Robert Musil an Efraim Frisch, Februar 1921). Wie wiederum aus einem Schreiben Frischs an Ernst Krieck hervorgeht, betrafen diese Kürzungen Passagen zu Mathematik und Erkenntnistheorie (vgl. den von Frisé zitierten Brief in: Robert Musil: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobio­ graphisches. Essays und Reden. Kritik. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978 (Gesammelte Werke, zwei Bände. Bd. II), S. 1808). Robert Musil: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind. In: Ders.: In Zeitungen und Zeitschriften I. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2020 (Gesamtausgabe. Bd. 9), S. 388–414, hier S. 388. Das Zitat findet sich in: Friedrich Schiller: Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt am Main 1992 (Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8), S. 698. Musil: Geist und Erfahrung (Anm. 160), S. 396. Obwohl Musil sich als ein Kritiker zu profiliert sucht, dem es nicht um die besserwisserische Zurechtweisung Spenglers geht, enthält sich sein ‚Angriff‘ stellenweise durchaus nicht der Genugtuung, die eigene wissenschaftliche Überlegenheit zu demonstrieren. So etwa, wenn er aus der Position desjenigen argumentiert, „der von den erkenntnistheoretischen Arbeiten der letzten 50 Jahre etwas weiß“ (ebd., S. 392) oder gegen die mathematischen und physikalischen Ungenauigkeiten bei Spengler mit seinem Fachwissen auftrumpft. Zu den expliziten und impliziten Referenzen auf die Mathematik im Werk Musils vgl. Andrea Albrecht und Franziska Bomski: Mathematik, Logik, Geometrie, Wahrscheinlichkeitstheorie. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. von Birgit Nübel und Norbert Christian Wolf. Berlin und Boston, S. 504–516.

157

sind ihre.“162 Das Symptomatische ist jedoch nicht nur im Zeitbezug zu erken­ nen, den der Essay herstellt, es kennzeichnet insbesondere auch den konkreten Umgang mit dem Spengler-Text selbst. Inhaltlich geht Musil selektiv vor und formal dienen viele der Zitate aus dem Untergang des Abendlandes vornehmlich dazu, beispielhaft zu zeigen, wie Spengler „klingt“163. So berührt Geist und Erfahrung den kulturmorphologischen Zentralgegenstand nur am Rande,164 das Interesse am exemplarischen Spengler richtet sich grundsätzlicher auf „eine Art des Denkens“165, die Musil problematisiert und deren argumentative und sprachliche Oberfläche er ironisch beleuchtet. Intensiv befasst sich Musil in seinem Essay mit erkenntnistheoretischen Fra­ gen, wobei er zum einen Spenglers Prämissen vom Standpunkt des Wissen­ schaftlers aus kritisiert, davon ausgehend zum anderen die Möglichkeiten der Erkenntnis und ihrer Vermittlung in Wissenschaft und Literatur überhaupt reflektiert.166 In einigen Ansätzen kann Musil zunächst Spengler sogar folgen. So etwa dem Hinweis auf die subjektive Bedingtheit aller Erkenntnis, bei dem er lediglich Spenglers Irrtum moniert, längst Bekanntes für neu zu halten.167 Ebenso erscheint ihm die Unterscheidung zwischen einem ‚lebenden‘ und

162 163

164

165 166

167

158

Musil: Geist und Erfahrung (Anm. 160), S. 396. Ebd., S. 389. Musil lag der erste Band des Werkes, Gestalt und Wirklichkeit, in der ab 1919 von Beck verlegten Ausgabe vor, die Spengler dann für die ab 1923 erscheinen­ den Auflagen noch einmal neu bearbeitet hat. Die im Essay benutzten Spengler-Zitate stammen aus der Einleitung sowie aus den Kapiteln I-III, V und VI (I. Vom Sinn der Zahlen, Abschn. 1, 4, 13, 18; II. Das Problem der Weltgeschichte, Abschn. 4, 5, 9; III. Makrokosmos, Abschn. 4; V. Seelenbild und Lebensgefühl, Abschn. 1; VI. Faustische und apollinische Naturerkenntnis, Abschn. 1, 6). Vgl. vor allem den XI. Abschnitt von Geist und Erfahrung. Die Annahme eines organi­ schen Verfalls von Kulturen leuchtet Musil prinzipiell ein, „auch ohne Metaphysik“ (Musil: Geist und Erfahrung [Anm. 160], S. 408). Ebd., S. 390. Dass sich Musils Kritik nicht in der kategorischen Ablehnung Spenglers erschöpft, sondern auf eine grundsätzliche, auch die Selbstbefragung einschließende Auseinander­ setzung mit Theorie und Ästhetik abzielt, hat bereits Primus-Heinz Kucher betont (vgl. Primus-Heinz Kucher: Die Auseinandersetzung mit Spenglers ‚Untergang des Abend­ landes‘ bei R. Musil und O. Neurath: Kritik des Irrationalismus. In: Robert Musil – Literatur, Philosophie, Psychologie. Hg. von Josef Strutz und Johann Strutz. München und Salzburg 1984, S. 124–142). Kucher antwortete damit auf Jaques Bouveresse, der in Musil vorschnell den Anti-Spengler glorifizierte (vgl. Jaques Bouveresse: Robert Musil oder der Anti-Spengler. In: Beiträge zur Musil-Kritik. Hg. von Gudrun Brokoph-Mauch. Bern und Frankfurt am Main 1983, S. 161–178). Eine detaillierte Untersuchung des Spengler-Essays findet sich bei Barbara Neymeyr: Utopie und Experiment. Zur Literatur­ theorie, Anthropologie und Kulturkritik in Musils Essays. Heidelberg 2009, S. 189–216. Neymeyr verweist auch – wie schon Kucher – auf die Spengler-Kritik in Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste (1922) und verfolgt, wie Musil im Fragment Der deutsche Mensch als Symptom (1923) sein ‚Theorem der Gestaltlosigkeit‘ an vielen Punkten in Abgrenzung zu Spengler entwirft (vgl. ebd., vor allem S. 211–216). Vgl. Musil: Geist und Erfahrung (Anm. 160), S. 392.

einem ‚toten‘ Erkennen plausibel, allerdings auch „ohne alle Mystik.“168 Woran Musil entschieden Anstoß nimmt, ist die Anmaßung, mit der Spengler das subjektive Erlebnis gegen die Erfahrungswirklichkeit ausspielt.169 Eine Haltung, die den Tatsachen nur symbolischen Wert zuerkennt, um sie auf den eigenen Universalgedanken hin beliebig auszudeuten und untereinander in Beziehung zu setzen, ignoriere, so Musils Kritik, die eigentliche erkenntnistheoretische Schwierigkeit, die angesichts der „Mischung subjektiver und objektiver Fakto­ ren“170 bestehe. Von der hier notwendigen „mühselige[n] Sortierarbeit“ habe sich der Autor des Untergangs entbunden, „weil sie dem freien Flug der Ge­ danken ganz entschieden hinderlich ist.“171 Indem Spengler die Freiheit zur ungehinderten Spekulation damit erkauft, dass er sich über alle empirischen Verbindlichkeiten hinwegsetzt, diskreditiert er sich in Musils Augen nicht nur wissenschaftlich, sondern entzieht sich überhaupt den Erfordernissen einer mit dem anwachsenden Tatsachenwissen unweigerlich konfrontierten Gegenwart, in der das „Chaos des Nichtwegzuleugnenden“ gerade nicht dadurch zu bewäl­ tigen sei, dass man „den Tatsachen das Gewicht ihrer Tatsächlichkeit stiehlt.“172 Noch in all seinen Beschränkungen verteidigt Musil deshalb den Empiristen. Für ihn spreche vor allem die „Unzulänglichkeit aller philosophischen Engel“, von denen Geist und Erfahrung einen exemplarisch „in teilweise gerupftem Zustand“173 zeigen soll. Das Flügelwesen, dessen metaphysischer Anspruch durch seine Behandlung als gewöhnliches Suppenhuhn demontiert werden soll, nimmt im Bild den ‚freien Gedankenflug‘ wieder auf und findet nicht zufällig gerade auf Spengler Anwendung. Auch die ‚Liebeserklärung‘, in der Musil den Essay ausklingen lässt, versichert daran anknüpfend, dass andere Au­ toren auf dem literarisch-wissenschaftlichen Zwischengebiet „nur deshalb nicht so viele Fehler machen, weil sie nicht die beide Ufer berührende Spannweite

168

169

170 171 172 173

Ebd., S. 402. Zu der Unterscheidung zwischen ‚lebenden‘ und ‚toten‘ Gedanken, die Musil seit dem Törleß-Roman (1906) beschäftigt, vgl. Krämer: Denken erzählen (Anm. 11), S. 119–122. Spengler kompiliert in seinem Buch zwar große Mengen an ‚Fakten‘, behauptet aber ihre bloße Zeichenhaftigkeit unter morphologischer Betrachtung: „Die Morphologie der Weltgeschichte wird notwendig zu einer universellen Symbolik“ (Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. I: Gestalt und Wirklichkeit. 23.–32., unveränderte Auflage. München 1920, S. 65). Dieses Verfahren erklärt er wiederum zum einzigen, das sich legitimerweise wissenschaftlich nennen darf: „Die unbewußte Sehnsucht jeder echten Wissenschaft […] richtet sich auf das Begreifen, […] nicht auf die messende Tätigkeit an sich, die immer nur eine Freude unbedeutender Köpfe gewesen ist. Zahlen sollten stets nur der Schlüssel zum Geheimnis sein“ (ebd., S. 529). Musil: Geist und Erfahrung (Anm. 160), S. 393. Ebd., S. 393. Ebd. Hier klingt die Verwechslung von Problem und Scheinproblem an, die Musil während seiner Rathenau-Lektüre als Irrtum der Zeit identifiziert hatte. Ebd., S. 398.

159

haben, um so viele unterzubringen“174. die Strategien, mit denen Spengler eine besondere „Höhe der Betrachtung“175 für sich reklamiert. Eine der bevorzugten Metaphern, die Spengler verwendet, um sich zum privilegierten Beobachter zu stilisieren, ist die ‚Vogelperspektive‘, die seine Einsicht in universale Zu­ sammenhänge und damit die Überlegenheit über die ‚Froschperspektive‘ der ihn umgebenden Wissenschaften insinuieren soll.176 Musil bestimmt 1923 sein ‚Theorem der Gestaltlosigkeit‘ als „eine Philosophie der Niedrigkeit […]. Ge­ gen falsches phil. Pathos, Größe, Erhabenheit!“ Daran fügt sich die Bemerkung: „Spengler erscheint erhaben! (Kanarienvogel)“177. Die bildlichen Beschreibun­ gen, mit denen die Spenglersche Hybris verspottet wird, erinnert wiederum an die geistige Höhenflugsphantasie, die Musil in den Aufzeichnungen zum Rathenau-Buch in einem Absturz hatte enden lassen. Spengler eignet sich als beispielhafter Fall in doppelter Hinsicht. Einmal, weil er im Misstrauen gegen die exakten Wissenschaften wie im Wunsch nach metaphysischer Gewissheit Dispositionen zum Ausdruck bringt, die Mu­ sil in den Intellektuellenkreisen der Zeit so verbreitet erscheinen, dass er sie durch einen geschlossen ‚intuitierenden‘ „Chor der Geistkämpfer und See­ lenvollen“178 repräsentieren lässt. Im Besonderen aber, weil sein Buch eine Widersprüchlichkeit exponiert, die entsteht, wenn aus dieser intellektuellen Gemengelage heraus eine Weltanschauung begründet wird, welche sich im Anspruch auf unumstößliche Geltung zwar mit höheren Weihen ausstattet, aber gleichzeitig das Prestige des Faktischen zunutze machen will. Was Musil an Rathenaus Mechanik des Geistes mit dem Etikett des Pseudosystematischen versehen hatte, stellt er nicht nur ebenfalls am Untergang des Abendlandes fest, mit seiner belletristisch aufpolierten Mixtur aus Tatsachen und Spekulation wird Spengler schließlich sogar zum Musterfall pathologisiert: Man findet selten so schöne, kraftvolle Ansätze der Gestaltung wie bei Spengler. Aber daß schließlich der ganze Inhalt der Intuition darauf hinausläuft, daß man das Wich­ tigste nicht sagen und behandeln kann, daß man bis zum Extrem skeptisch in ratione ist (also gerade gegen das, was nichts andres hat als daß es wahr ist!), dagegen unerhört gläubig gegen alles, was einem gerade einfällt, daß man die Mathematik bezweifelt, aber an kunsthistorische Wahrheitsprothesen glaubt wie Kultur und Stil, daß man trotz Intuition beim Vergleichen und Kombinieren von Fakten das gleiche macht, was der Empirist macht, nur schlechter, nur mit Dunst statt der Kugel schießt: das ist das klinische Bild des durch übermäßigen, fortgesetzten Intuitionsgenuß erweichten Geistes, Schöngeistes unserer Zeit.179 174 175 176 177 178 179

160

Ebd., S. 414. Spengler: Der Untergang des Abendlandes I [1920] (Anm. 169), S. 55. Vgl. ebd., zum Beispiel S. 60, 394, 491, 494, 495, 516. KA, Transkriptionen; Mappe VII/11/39. Musil: Geist und Erfahrung (Anm. 160), S. 396. Ebd., S. 407f. Im ‚Intuitionsgenuss‘ könnte man noch eine Reminiszenz an die ‚seelische Nahrungsaufnahme‘ erkennen, die Musil bei Key eindrücklich beschrieben vorgefun­ den hatte. Der Hinweis auf das Unausgegorene der Theorie, das Überzeugtsein vom

Wenn es um Intuition, Welt- und Lebenserfahrungen durch unmittelbare An­ schauung und Erlebnis geht, polemisiert Musil nicht gegen die Sache, sondern gegen die inflationäre Berufung auf etwas, das erst noch zu untersuchen wäre. Auch in diesem Punkt greift der Spengler-Essay Gedanken auf, die schon in der Auseinandersetzung mit Rathenau eine Rolle gespielt hatten. Es sind immer noch die ungelösten „Fragen der Mittelzone“180 zwischen Wissenschaft und Kunst, die Musil beschäftigen und die er inzwischen vor allem in der Skizze zur Erkenntnis eines Dichters (1918) weiter ausgearbeitet hat. Seine Überlegun­ gen zum „nicht-ratioïde[n] Gebiet“181 versuchen Problemkonstellationen des Erkennens aufzuschlüsseln, über die er Spengler sich mit der Behauptung in­ tuitiver Gewissheit einfach hinwegsetzen sieht. Für die Annäherung an diesen Bereich des ‚Nicht-Ratioïden‘,182 in dem der Denkende sich von rationalen Inhalten weg und auf das Erlebnis, das nur individuell Erfahrbare und schwer zu Vermittelnde hin bewege, fordert Musil indes gerade verstärkte Leistungen des Verstandes ein, „der dort, wo er […] seiner Bequemlichkeit beraubt ist, desto elastischer sein und dort, wo alles fließt, desto schärfer unterscheiden und fassen muß.“183 Jenseits von Kategorisierungen, die dieses ‚Nicht-ratioïde‘ in Opposition zum Rationalen setzen, erscheint ihm als Sehnsucht möglich ein „Überrationalismus“184. Obwohl diese Entwürfe insgesamt eher im Ungefähren

180 181

182

183 184

spontanen Gedanken, schließt an die ‚Notizbucheinfälle‘ Rathenaus an. Vgl. dazu schon die im Hinblick auf die Raumtheorie geäußerte Kritik, Spengler habe „auch hier den Ausgangspunkt einer Denkarbeit für ihr Ende gehalten“ (ebd., S. 395). Musil: Anmerkungen zu einer Metapsychik (Anm. 103), S. 241. Musil: Geist und Erfahrung (Anm. 160), S. 400. Auf dem Gebiet beispielhaft vertreten, nennt Musil die Schriften von Novalis, Emerson, Nietzsche, Maeterlinck und Kassner. In ihnen „erfährt man stärkste geistige Bewegung: aber erkennen kann man das nicht heißen“ (ebd., S. 399). Zum Bedeutungsspektrum der Unterscheidung von ‚nicht-ra­ tioïd‘ und ‚ratioïd‘, auch zu den Zweideutigkeiten dieses Musilschen Konzepts vgl. Krämer: Denken erzählen (Anm. 11), S. 122–133. Musil beschreibt das Nicht-Ratioïde als Domäne des essayistischen Schreibens im Über­ gang von Wissenschaft zu Dichtung, in dem der Gehalt vom fast Eindeutigen bis zur vollen Disparatheit reichen könne (vgl. Musil: Geist und Erfahrung [Anm. 160], S. 400). Dementsprechend unterscheiden sich die Verfahren, die zur Anwendung kommen, von den rationalen der Wissenschaft: „Anstelle des starren Begriffs tritt die pulsierende Vor­ stellung, anstelle von Gleichsetzung treten Analogien, an die der Wahrheit Wahrschein­ lichkeit, der wesentliche Aufbau ist nicht mehr systematisch, sondern schöpferisch“ (ebd.). Auch mit den Kriterien, die Musil anbietet, führt das Changieren Spenglers zwischen Literatur und Wissenschaft auf eine Pseudosystematik hin. Im Untergang des Abendlandes bedient er sich ausgiebig der ‚nicht-ratioïden‘ Methoden, aber nur, um sie gegen eine abgewertete Wissenschaft auszuspielen, deren Ordnungsstrukturen er wiederum imitiert. Er setzt zwar auf die ‚pulsierende Vorstellung‘, will sie aber mit der Beweiskraft des Begrifflichen ausstatten, für das analogisch aufeinander Bezogene behauptet er Identität und bloße Spekulation vertritt er mit einem rigorosen Wahrheits­ anspruch. Hinter dem ‚schöpferischen‘ Aufbau steht der Wille zum System, dessen theoretische Brüchigkeit mit ästhetischen Mitteln verhüllt werden soll. Ebd., S. 400f. Ebd., S. 401.

161

bleiben und eine Ausformung zur festen Programmatik bewusst umgehen, las­ sen sie erkennen, warum Musil Spengler Bewunderung für den „leidenschaftli­ chen Vorsatz“185 zollen kann, auch wenn er seine Art der Umsetzung ablehnt. Im Drängen auf „einen Plan, eine Arbeitsrichtung, eine andre Verwertung der Wissenschaft wie der Dichtung“186 äußert sich der Wunsch nach einem Stand­ punkt, von dem aus das Ungeklärte zu ordnen wäre, den Musil mit Spengler teilt, ohne dass er bereit wäre, dessen Konzessionen anzuerkennen. Das eigene Engagement führt im Essay stellenweise zu Ambivalenzen in der Formulierung von Zielvorstellungen, bei denen zugleich die dogmatische Festlegung vermie­ den werden soll. So sieht Musil „[w]eit ausholende ideologische Versuche“ wie den Spenglers gegenwärtig eben auch daran scheitern, „daß viel zu wenig innere Möglichkeiten vorbearbeitet sind“187 oder erklärt schließlich „geistige Organisationspolitik“ mit viel Pathos zur „Frage auf Leben und Tod“188. Souverän ist Musils Kritik an Spengler insbesondere dort, wo sie die Textor­ ganisation seines Buches offenlegt. Ausgehend von der Feststellung, dass in diesem Werk mangels „Chiffrenschlüssel“ Inhalt und Sprache in keiner vermit­ telbaren Beziehung mehr zueinander stehen, versucht die Kritik, „eine Art des Denkens“189 an einem spezifischen Argumentationsmuster transparent werden zu lassen, das auf ständig sich wiederholenden Strukturmechanismen beruht. Als Variation des Immergleichen zeigt Musil den Untergang des Abendlandes grundsätzlich, indem er ihn als einen Text behandelt, den es lediglich anzuzitie­ ren gilt, um sein Funktionieren nach Schablonen kenntlich zu machen.190 Dass sich dieser Text damit außerdem als reproduzierbar erweist, wird in Geist und Erfahrung am Beispiel einer fingierten Spenglerschen Analogiebildung demons­ triert: 185 186 187 188

189 190

162

Ebd. Ebd., S. 414. Ebd., S. 410. Ebd., S. 413. Ähnlich auch die Prognose zum Chaos der übermächtigen Tatsachen: „Wir werden daran zugrunde gehen oder als ein seelisch stärkerer Menschenschlag es überwinden“ (ebd., S. 393). In den als Materialfundus angelegten ‚Kehraus‘-Aufzeich­ nungen hat Musil im Bewusstsein der eigenen Ambivalenz die Problematik in expli­ ziter Anknüpfung an seine Spenglerkritik zu dem Paradox gefügt: „Versuch einer ideologisch-antiideologischen Ideologie. Einer optimistisch resignierten. Einer Zivilisati­ onsideologie“ (KA, Lesetexte; Band 16, Frühe Tagebuchhefte 1899–1926; 19: Kehraus [1919–1920]). Musil: Geist und Erfahrung (Anm. 160), S. 390. So gibt Musil in der Mathematik „ein Beispiel für die Universalität und den Stil der Beweisführung“ (ebd.) oder befasst sich mit Spenglers Raumtheorie, um dann festzu­ stellen, dass sich eine Diskussion des Kapitels über die Zeit erübrige, weil „sich im einzelnen doch immer bloß das gleiche Bild wiederholt“ (ebd., S. 396). Entsprechend wird auch mit dem Textmaterial verfahren. Musil bricht ein wörtliches Zitat einfach mit „usw.“ ab, der Klangausschnitt („das klingt so gewiegt“, ebd., S. 389) soll ausreichen, die Kenntnisse, die Spengler in der höheren Mathematik beweisen will, als rein sprachliche Fähigkeiten in der Imitation des Fachjargons zu entlarven.

Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen; in gewissem Sinn kann man also sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese. Falter wie Chinese sind bekannt als Sinnbilder der Wollust. Zum erstenmal wird hier der Gedanke gefaßt an die noch nie beachtete Übereinstimmung des großen Alters der Lepidopterenfauna und der chinesischen Kultur. Daß der Falter Flügel hat und der Chinese keine, ist nur ein Oberflächenphänomen. Hätte ein Zoologe je auch nur das Geringste von den letzten und tiefsten Gedanken der Technik verstanden, müßte nicht erst Ich die Bedeutung der Tatsache erschließen, daß die Falter nicht das Schießpulver erfunden haben; eben weil das schon die Chinesen taten. Die selbstmörderische Vor­ liebe gewisser Nachtfalterarten für brennendes Licht ist ein dem Tagverstand schwer zugänglich zu machendes Relikt dieses morphologischen Zusammenhangs mit dem Chinesentum.191

Musil führt hier die Methode Spenglers ad absurdum, über periphere Merkma­ le weit Entferntes in Beziehung zu setzen und den abgeleiteten Zusammenhang als einen universalen in ausnahmsloser Gültigkeit zu behaupten.192 Um derart fragwürdigen Verknüpfungen den Schein absoluter Wahrheit zu verleihen, bleibt nahezu nur der Rekurs auf die persönliche Überzeugung des Sprechen­ den. Mit dem Selbstentwurf des umfassend gebildeten und omnipotenten Denkers, der Mikro- und Makrokosmos überblickend, störende Einzelheiten als ‚Oberflächenphänomen‘ marginalisieren kann und exklusiven Zugang zu ‚letzten und tiefsten Gedanken‘ besitzt, die den Spezialwissenschaften bisher verborgen geblieben sind, soll das wackelige Theoriegebäude durch die ver­

191

192

Ebd., S. 390f. Zugespitzt setzt Musil um, was Spengler etwa für seine fatalistische Grundannahme vorgibt: „Man kann sich das Moment des Schicksals aus dem leben­ digen Weltwerden nicht fortdenken, mag es sich um einen Schmetterling oder eine Kultur handeln. Leben, Sein und ein Schicksal haben – das fließt zusammen“ (Spengler: Der Untergang des Abendlandes I [1920] [Anm. 169], S. 171). Um das abenteuerliche Analogisieren Spenglers herauszustellen, muss das Original hier nicht einmal allzu stark überzeichnet werden: „Sokrates war Nihilist, Buddha war es. Es gibt eine ägyptische, arabische, chinesische so gut wie eine westeuropäische Décadence. Es handelt sich nicht um politische und wirtschaftliche, nicht einmal um religiöse oder künstlerische Verwandlungen an sich. Es handelt sich überhaupt nicht um Greifbares, nicht um materielle Fakta, sondern um das Wesen einer Seele, die ihre Möglichkeiten restlos verwirklicht hat. Man wende nicht die großen Leistungen gerade des Hellenismus und der westeuropäischen Modernität ein. Sklavenwirtschaft und Maschinenindustrie, ‚Fortschritt‘ und Ataraxia, Alexandrinismus und moderne Wissenschaft, Pergamon und Bayreuth, soziale Zustände, wie sie die Politeia des Aristoteles und das Kapital von Marx voraussetzen, sind lediglich Symptome im historischen Oberflächenbilde. Es handelt sich nicht um das äußere Leben, um Lebenshaltung, Institutionen, Sitten, sondern um die Tiefe, um den innern Tod“ (ebd., S. 478–488). Zum ‚geflügelten Zwergchinesen‘ als Beispiel für Musils ‚konstruktive Ironie‘ vgl. Mat­ thias Bauer: „Diese Lust an der Kraft des Geistes …“. Konstruktive Ironie und Dissipati­ on in Robert Musils ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘. In: Geist und Literatur. Modelle der Weltliteratur von Shakespeare bis Celan. Hg. von Edith Düsing und Hans-Dieter Klein. Würzburg 2008, S. 218f.

163

meintliche Autorität des Erfinders abgesichert werden.193 In der parodistischen Überzeichnung von Spenglers Argumentationsweise gibt Musil damit gleich­ zeitig eine komprimierte Darstellung weltanschauungsliterarischer Verfahren. Die charakteristische Argumentation des Untergangs wird jedoch nicht nur vor­ geführt, für die antithetische Grundoperation, die bei konsequent durchgehal­ tener sprachlicher Unschärfe das freie begriffliche Kombinieren auf jeder Seite ermöglicht, liefert Musil seinen Lesern sogar das Rezept, nach dessen Anwei­ sungen „jedermann nach einem bitter einfachen Schema Spenglers Philosophie nacherzeugen“194 könne: Man nehme die Prädikate ‚ist in gewissem Sinne‘, ‚wird in gewissem Sinne‘ und ‚hat in gewissem Sinne‘, vernachlässige unwesentliche Unterschiede der Ausdrucksform, und kombiniere nun jeden der angeführten Begriffe mit allen andren, bejahe die Kom­ binationen aller an erster Stelle in ihrem Paar stehenden Begriffe und ebenso die aller an zweiter Stelle stehenden untereinander, verneine jede Kombination eines an erster Stelle stehenden mit einem an zweiter Stelle stehenden Begriff: bei gewissenhafter Befolgung ergibt sich Spengler Philosophie von selbst und sogar noch einiges mehr. Zum Beispiel: Leben wird angeschaut, hat Gestalt, ist Symbol, ist Werden usw. Kausale Beziehung ist tot, wird erkannt, hat Gesetz, ist Gewordenes usw. Leben hat keine Systematik, Schicksal wird nicht erkannt und so und so.195

Die angriffslustige Zeitdiagnose in Geist und Erfahrung beinhaltet damit auch die kritische Analyse eines literarischen Typus. Sie aktualisiert und konkreti­ siert an Spenglers Buch an vielen Stellen Beobachtungen, die Musil schon 1914 zu Rathenaus Mechanik des Geistes festgehalten hatte. Auch der SpenglerEssay beschreibt das Weltanschauungsdenken als eine verzerrte Antwort auf die Krise der Zeit, reflektiert das Missverhältnis erkenntnistheoretisch und entlarvt das Ergebnis als Scheinsynthese wissenschaftlicher und literarischer Aussagemöglichkeiten. Deutlicher als bei Rathenau wird jetzt allerdings das Problematische dieses Denkens als typisch gefasst und an einem Vertextungs­ schema mit spezifischen Argumentations- und Redeweisen aufgezeigt. Hatte Musil in seinen Notizen Rathenau zwar explizit als beispielhaften Einzelfall eingestuft, in den veröffentlichten Anmerkungen aber noch weniger deutlich als solchen gekennzeichnet, bietet ihm Spenglers Weltanschauungsschrift sieben Jahre später erneut die Gelegenheit, „am berühmten Einzelfall Zeitfehler zu demonstrieren.“196 Auch das kreative Moment der Textkritik tritt im Essay 193

194 195 196

164

Neymeyr merkt an, dass auch die Großschreibung des Personalpronomens ‚Ich‘ hier als subtiler Hinweis auf die Selbstüberhebung Spenglers gedeutet werden kann (vgl. Neymeyr: Utopie und Experiment [Anm. 166]. Heidelberg 2009, S. 202). Musil: Geist und Erfahrung (Anm. 160), S. 404. Ebd., S. 404f. In der Entwurfsphase des Essays erwägt Musil für diesen Automatismus auch die Bezeichnung „Klappermühle“ (KA, Transkriptionen; Mappe IV/3/200). Musil: Geist und Erfahrung (Anm. 160), S. 413. Die enge Verbindung, in der Rathe­ nau- und Spenglerkritik stehen, zeigt auch einer der Beiträge, die Musil anonym zu Franz Bleis Großem Bestiarium beigesteuert hat, einer satirischen Darstellung der zeitge­ nössischen Literatur aus zoologischer Perspektive. Das Unterkapitel Von der geistigen

zu Spengler verstärkt hervor. Musil übt Kritik an einem Text, indem er sich dessen Muster zu eigen macht und parodiert. Wie die Wirkungsabsichten der Weltanschauungsliteratur mit ihren eigenen Strategien paralysiert werden kön­ nen, führt Geist und Erfahrung fulminant mit dem ‚geflügelten Zwergchinesen‘ vor. Das als typisch erkannte Denken und Sprechen wird damit zur Quelle sati­ rischer Darstellung, die Weltanschauungsrhetorik Material für die literarische Epochendiagnose. Die Bedeutung, die gerade Spengler und sein Werk für die Vorstellung des ‚geistig Typischen‘ bei Musil gewinnt, zeigt sich auch, wenn er 1926 im Interview zum entstehenden Roman angibt, er wolle sich „darin über alle Abendlandsuntergänge und ihre Propheten lustig“197 machen.

197

Ernährung durch Intuition stimmt in großen Teilen mit dem Abschnitt X aus Geist und Erfahrung überein, die abweichende Einleitungspassage nennt Spengler und Rathenau – wobei zusätzlich noch zwei Buchtitel des letzteren amalgamiert werden – als Beispiele für eine Verwertung der „Wunderpflanze“ Intuition: „Sie wird langsam zwischen den Zähnen gefletschert und verleiht dann wunderbare Erkenntnisse, wie wir sie bei Speng­ ler oder in der Mechanik der Zeit von Rathenau finden“ (Franz Blei: Das große Bestia­ rium der modernen Literatur. Berlin 1922, S. 116). Zu Musils Anteilen an Bleis Samm­ lung vgl. Roger Willemsen: „Man nimmt Franz Blei zu leicht!“ – Robert Musil und „Das große Bestiarium der Literatur“. In: Robert Musil und die kulturellen Tendenzen seiner Zeit. Hg. von Josef Strutz. München 1983, S. 120–129. Die (auto-)intertextuellen Referenzen in Musils Bestiarium-Texten untersucht Nübel: Essayismus als Selbstreflexion (Anm. 8), S. 321–343. Musil und Fontana: Was arbeiten Sie? (Anm. 6), S. 88. Auf die Spengler-Einflüsse im Mann ohne Eigenschaften hat die Forschung immer wieder aufmerksam gemacht. Gegen Versuche, einzelne Theoreme ausschließlich Spengler zuzuordnen, wie es beispielsweise Götz Müller für den Symbolbegriff und das ‚gotische Ich‘ in den Reden Hans Sepps unternommen hat (vgl. Götz Müller: Ideologiekritik [Anm. 156], S. 22), wird mittler­ weile die Kulturtheorie des Untergangs eher allgemein als eine der Hintergrundfolien angesehen, vor der im Roman Zeitdiagnose und -kritik betrieben wird (vgl. schon Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik [Anm. 9], S. 330). Unter dieser Annahme wird Musils Spengler-Bezug auch von Blasberg untersucht. Sie führt aus, dass Musil wichtige Impulse für seine eigenen Reflexionen aus Spenglers Dualismen erhalte und diese zugleich als „ästhetische Modelle“ in Frage stelle. Um welche ästheti­ schen Modelle es sich handelt und wie sie hinterfragt werden, behandelt sie jedoch nicht tiefergehend (vgl. Blasberg: Krise und Utopie [Anm. 155], S. 206–218, hier S. 211). Kucher betont, dass im Dilettanten, Großschriftsteller und Goetheverehrer Arnheim neben Rathenau auch Spengler zu erkennen ist (vgl. Kucher: Die Auseinandersetzung [Anm. 166], S. 133). Insbesondere bei Arnheim, aber auch über diesen hinaus bringt Neymeyr die antirationalistischen und kulturpessimistischen Haltungen, die im Roman vertreten werden, in Verbindung mit Spengler und sieht außerdem eine Parallele in der Technikbegeisterung Ulrichs während seines zweiten Versuches, ‚ein bedeutender Mann zu werden‘ (vgl. Neymeyr: Utopie und Experiment [Anm. 166], S. 190). Zu Arnheims und Sepps Spengler-Affinitäten vgl. bereits dies.: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 2005, S. 65, 357f., 372. Inka Mülder-Bach findet Musils essayistischen Vergleich der historiographischen Methode Spenglers mit der Illusion einer zentralperspektivischen Bildkonstruktion an vielen Stellen im Mann ohne Eigenschaften wieder aufgegriffen (vgl. Inka Mülder-Bach: Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. München 2013, S. 76f., 79, 196, 202, 246).

165

2. Weltanschauungsliteratur als Material In drei Momentaufnahmen von 1905, 1914 und 1921 zeigen Musils Rezeptio­ nen von Ellen Key, Walther Rathenau und Oswald Spengler, wie eine insge­ samt elaborierter werdende Zeitdiagnostik zunehmend auch Bedingungen und Beschaffenheiten von Texten reflektiert, die im Grenzgebiet zwischen Wissen­ schaft und Literatur weltanschauliche Totalerklärung anstreben. Während der 24-jährige Musil in Keys Entfaltung der Seele durch Lebenskunst viele Widersprü­ che und Ungenauigkeiten entdeckt, aber noch fasziniert von einer solchen Form des ‚Seelenstudiums‘ bleibt, bestimmt die Kritik der Mechanik des Geistes präzise die charakteristische ‚Pseudosystematik‘ des Weltanschauungsentwurfs – auch über Rathenaus Werk hinaus. Erst der Spengler-Essay umreißt jedoch das Typische dieses Entwurfs deutlich auch als Textmuster mit bestimmten ar­ gumentativen und sprachlichen Merkmalen. Musils Beobachtungen zur Welt­ anschauungsliteratur führen dabei weniger auf eine abgeschlossene Gattungs­ vorstellung hin, wie sie Thomas Manns Begriff des ‚intellektualen Romans‘ hervorruft, vielmehr richten sie sich auf das Spektrum möglicher Schreibweisen zwischen Wissenschaft und Literatur. Die Problematik der weltanschauungsli­ terarischen Variante analysiert Musil präziser als Mann, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil angesichts der Überschneidung mit den selbst formulierten Syntheseansprüchen die Notwendigkeit besteht, sich gegen den Spenglerschen Typus abzugrenzen. Bezeichnet die Auseinandersetzung mit Spengler in Geist und Erfahrung, dass der Weltanschauungstext in seiner Konstruktionsweise erfasst und verfügbar wird, ist anzunehmen, dass dieses Muster auch im Hintergrund steht, wenn Musil im selben Zeitraum damit beginnt, für eine karikaturistische Darstellung von ‚Denksystemen‘ die populäre Weltanschauungsliteratur als Materialfundus für Romanprojekte zu durchforsten. Zum einen greift er dafür auf die beste­ henden Aufzeichnungen zu Key und Rathenau zurück, zum anderen werden neue Exzerpte zu Werken von Georg Kerschensteiner, Friedrich Wilhelm Foers­ ter, Maurice Maeterlinck und Ludwig Klages angelegt, die sich ebenfalls dieser Textsorte zuordnen lassen.198 Für die Literarisierung des zeitgenössischen Den­ 198

166

Zu den verschiedenen Exzerptgruppen, die für den Mann ohne Eigenschaften von Bedeu­ tung sind, vgl. Fanta: Die Entstehungsgeschichte (Anm. 5), S. 61f. Weltanschauungstexte arbeitet Musil für den Roman vor allem zwischen 1919 und 1923 durch. Aus Georg Ker­ schensteiners Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichts. Neue Untersuchungen einer alten Frage (1914) bezieht er wörtliches Zitatmaterial für Hagauer (Exzerpt in Heft 21/13, 23), aus Friedrich Wilhelm Foersters Lebensführung. Ein Buch für junge Menschen (1909) für Lindner (Exzerpt in Mappe VII//29–43). Mit dem Exzerpt (Heft 21/38–45) aus der Essaysammlung Der Schatz der Armen (1898) reaktiviert Musil seine Maeterlinck-Lektüre aus Jugendzeiten, von der er sich nach anfänglicher Begeisterung in einem ähnlichen Verlauf wie bei Key distanziert hat. Wörtliches aus der Sammlung geht vor allem in die Seelengespräche zwischen Diotima und Arnheim ein. Musil bezieht sich auf alle diese Texte, wie auch auf die Keys, Rathenaus und Spenglers,

kens bedient sich Musil damit „vorgefertigte[r] Theorien“199, aber eben auch „vorgegebene[r] Sprachen“200. Wie die Vorstufen im Nachlass dokumentieren, kennzeichnet seine Arbeit am Mann ohne Eigenschaften zugleich die Verknüp­ fung und Assimilation solcher Rohstoffe, was sich beispielsweise in der Technik des „funktionalen Zitatgebrauchs“ zeigt: „Ein Text kann für ganz gegensätzliche Figuren Material liefern, ein Zitat kann erst dieser, dann schließlich einer an­ deren Figur integriert werden.“201 In der Verarbeitung von Zitaten zeichnen sich dabei die Prozesse ab, aus denen mit vielen ähnlich gelagerten das für den Mann ohne Eigenschaften charakteristische Netz von Verweisungen entsteht, für das Dieter Kühn die Formel „Analogie und Variation“202 geprägt hat. Mit Blick auf Musils Analyse und Verwendung von Weltanschauungstexten ließe sich seine oft angeführte Devise: „Einen Menschen ganz aus Zitaten zu­ sammensetzen!“203 auch erweitert, im Sinne eines Textsorten-Zitats verstehen. Der Umgang mit Prätexten deutet generell darauf hin, dass sie auch in ihrer literarischen Transformation im Roman weniger individuell markiert, sondern vielmehr als inhaltlich oder strukturell ähnliche aufeinander bezogen sind. Inwiefern daher beim Mann ohne Eigenschaften auch eine intertextuelle Relation zur Textsorte Weltanschauungsliteratur besteht, soll die Romananalyse klären.

3. Weltanschauungsrhetorik im Mann ohne Eigenschaften „Eine geheimnisvolle Zeitkrankheit“204 hat Kakanien im Vorkriegsjahr 1913/14, über das Musils Roman berichtet, befallen. Sie wird nicht nur vom Erzähler

199 200 201 202 203 204

nicht nur ablehnend. Bei seiner Rezeption von Klages’ 1922 erschienener Schrift Vom kosmogonischen Eros (Exzerpt in Heft 21/97–108) liegt dennoch ein Sonderfall vor. Sie „spaltet sich in konstruktive Aufnahme für die Konzeption des ‚anderen Zustands‘ und in eine Grundlage für die Karikatur eines anti-rationalistischen Philosophen“ (Fanta: Die Entstehungsgeschichte [Anm. 5], S. 247). Alle angeführten Exzerpte finden sich in den Transkriptionen der Klagenfurter Ausgabe. Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik (Anm. 9), S. 102. Müller: Ideologiekritik (Anm. 156), S. 10. Arntzen: Musil-Kommentar (Anm. 5), S. 38. Kühn: Analogie und Variation (Anm. 57). KA, Lesetexte; Band 16, Frühe Tagebuchhefte 1899–1926; 9: Die zwanzig Werke II (1920); Einen Menschen ganz aus Zitaten zusammensetzen! Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes Buch. Kapitel 1–75. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2016 (Gesamtausgabe. Bd. 1), S. 86. Die drei kanonischen Teile des Romans verteilen sich in der von Fanta herausgegebenen 12–bändigen Ge­ samtausgabe auf die Bände 1–3. Im Folgenden erscheinen die Stellennachweise für den ersten Band der Gesamtausgabe unter der Sigle MoE I direkt im Fließtext. Entsprechend stehen die Siglen Moe II und MoE III für Belege aus dem zweiten beziehungsweise dritten Band (Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes Buch. Kapitel 76– 123. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2016 [Gesamtausgabe. Bd. 2]. Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. Zweites Buch. Kapitel 1–38. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2017 [Gesamtausgabe. Bd. 3]).

167

und seinem Protagonisten Ulrich diagnostiziert, Rede und Reflexion im Mann ohne Eigenschaften kreisen insgesamt immer wieder um das unbestimmte Emp­ finden, etwas sei in Unordnung geraten. Das Leiden äußert sich in unterschied­ lich akzentuierten Klagen über die „in ihren geistigen Wurzeln vergiftete[] Zeit“ (MoE I, 80), die „seelenlose, bloß von Logik und Psychologie beherrschte Zeit“ (MoE I, 146) oder auch in der Wahrnehmung, in einem „Jahrhundert“ zu leben, „dem es nicht gegeben sei, große Symbole hervorzubringen“ (MoE II, 264) respektive in einem unphilosophischen und feigen Zeitalter (vgl. MoE III, 274). Während Ulrich vorschlägt, sich auch auf eine möglicherweise län­ ger andauernde „Durchgangszeit“ (MoE I, 344) einzurichten, drängen viele sei­ ner Zeitgenossen auf sofortige Erlösung vom unerträglich „Interimistische[n]“ (MoE III, 301). Der Vielstimmigkeit, in der das Lamento über die Krise verlautet, entspricht eine Mannigfaltigkeit an Rezepten, die Heilung versprechen. Eine Institutiona­ lisierung erhält die dahingehende Ideenproduktion mit der ‚Parallelaktion‘, die durch ihr politisch-geistiges Doppelzentrum alle möglichen regressiven wie progressiven Gedanken schleust und Paul Arnheim, den Mann großer Auftritte und hintergründiger Interessen, zum „geheimen Mittelpunkt aller Hoffnun­ gen“ (MoE II, 19) werden lässt. Mit Hans Sepp, dem jugendbewegten Vertre­ ter völkisch gefärbter Gemeinschaftsutopien und dem Philosophen Meingast, der sich bei Ulrichs Freunden einquartiert hat, um sein Gewaltprogramm zu Papier zu bringen, gehört er zum Ensemble der Weltanschauungsverkünder, die der Roman detaillierter porträtiert. Über Ulrichs Schwester Agathe treten außerdem die beiden Ordnungsfanatiker Gottlieb Hagauer und August Lind­ ner auf den Plan, die eine liberale und eine konservativ-religiöse Variante der Reformpädagogik verkörpern. Aufgrund der „doppelten Zeitstruktur von romaninterner Aktualität (1913/14) und der Aktualität für den Schreibenden (1918–1942)“205 gehen in Musils Mann ohne Eigenschaften hier nicht nur die vor dem ersten Weltkrieg virulenten Diskurse ein. Schon für die kanonischen, bis Anfang der 1930er Jahre fertiggestellten Romanteile gilt die literarische Diagnose einem erweiterten Zeitraum, für den sie gerade die unzähligen Äuße­ rungen von Untergangs- und Aufbruchsstimmung selbst als Symptom einer Krise verzeichnet.206 Die Weltanschauungsrhetorik im Mann ohne Eigenschaften zu untersuchen, stellt eine der Möglichkeiten dar, ihn als „Diskurs-Enzyklopädie“207zu lesen und sich dabei weniger an der thematischen Anordnung der Einträge zu orien­ 205 206 207

168

Blasberg: Krise und Utopie (Anm. 155), S. 8. Vgl. zu diesem Hintergrund auch Schwarzwälder: Der Weltanschauungsroman 2. Ord­ nung (Anm. 10), S. 107–121. Walter Moser: Diskursexperimente im Romantext zu Musils Der Mann ohne Eigenschaf­ ten. In: Robert Musil. Untersuchungen. Hg. von Uwe Baur und Elisabeth Castex. König­ stein 1980, S. 170‑197, hier S. 188.

tieren, sondern den Querverweisen zu folgen, über die sich Wissensordnungen und sprachliche Vermittlungsformen unterschiedlicher Art, aber auch in ihren Übergängen erschließen. Zugleich wird der Roman in seinem intertextuellen Bezug zur Weltanschauungsliteratur und auf seine diagnostischen Aussagen zu deren Konjunktur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hin beleuchtet. Die Analyse versucht damit, die Selbstreferentialität des literarischen Textes berück­ sichtigend seine historische Referentialität zu fokussieren.208Mit dem Untersu­ chungsinteresse schließt sie an die ideologiekritischen Forschungsarbeiten zum Mann ohne Eigenschaften an,209ohne deren bisweilen durch die „ideologische Haltung der jeweiligen Interpreten“210 geschulte Urteilssicherheit bezüglich theoretischer Implikationen des Werks oder der Positionierung des Autors auf­ frischen zu wollen. Wie sich die ideologiekritischen Aspekte in Musils Schrei­ ben differenzierter betrachten lassen, hat in der neueren Forschung beispiels­ weise Gunther Martens bewiesen, der textintern die Mittel einer „sprachlichnarratologische[n] Ideologiekritik“211 herausarbeitet. Vollhardts, Braschs und Schwarzwälders Untersuchungen geben wiederum den Hinweis, dass der Blick auf Konzept und Textorganisation der Weltanschauungsliteratur dies auch für eine historische Kontextualisierung des Romans leisten kann.212 Die Rhetorik der Musilschen Weltanschauungsfiguren ist bislang häufig vor allem als „Gerede im Verhältnis zur Sprache als Gedanke und zur Sprache als

208

209

210 211

212

Die Problematik, eine Lesart in Ausschließlichkeit zu behaupten, wird von Vertretern beider Traditionslinien der Musil-Forschung betont (vgl. zum Beispiel Richard David Precht: Die gleitende Logik der Seele. Ästhetische Selbstreflexivität in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Stuttgart 1996, S. 28–29. Wolf: Kakanien [Anm. 9], S. 22f.). Insbesondere an die Studie Götz Müllers, die ebenfalls einem intertextuellen Ansatz folgt, aber Einzelwerkbezüge, Autoren- und Epochenstil-Parodien (auf Nietzsche und den Expressionismus) in den Mittelpunkt stellt (Müller: Ideologiekritik [Anm. 156]). Neben Müller haben die ideologiekritische Musil-Forschung besonders geprägt: Klaus Laermann: Eigenschaftslosigkeit. Reflexionen zu Musils Roman „Der Mann ohne Eigen­ schaften“. Stuttgart 1970. Hartmut Böhme: Anomie und Entfremdung. Literatursoziolo­ gische Untersuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman „Der Mann oh­ ne Eigenschaften“. Kronberg im Taunus 1974. Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik (Anm. 9). Vgl. auch die Arbeiten Peter Zimas (vor allem Peter V. Zima: Robert Musils Sprachkritik. Ambivalenz, Polyphonie und Dekonstruktion. In: Robert Musil – Theater, Bildung, Kritik. Internationales Robert-Musil-Sommerseminar 1984. Hg. von Josef Strutz und Johann Strutz. München 1985, S. 185–203. Ders.: Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans. München 1986, S. 55–70). Wolf: Kakanien (Anm. 9), S. 22. Gunther Martens: Beobachtungen der Moderne. In Hermann Brochs Die Schlafwandler und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Rhetorische und narratologische As­ pekte von Interdiskursivität. München 2006, S. 368. Zur Absetzung von der „politisch korrekten Ideologiekritik“ vgl. auch Vollhardt: „Weltan=Schauung (Anm. 11), hier S. 516.

169

Mystik“213, als zeitgemäßes und anonymisiertes „konventionelle[s] Sprechen“214 oder „gesellschaftlich-ideologische[s] Sprechen[]“215 apostrophiert worden. Sol­ che Kategorisierungen können sich auf den Roman selbst berufen, der ja das „ganze Gerede vom Erlösen“ (MoE II, 332), das „abergläubische Geschwätz“ (MoE II, 394) satirisch vorführt.216 Sie erfassen aber nur ungenau, dass dabei neben der Etikettierung viel Aufmerksamkeit darauf verwendet wird, das ‚Gere­ de‘ in seiner spezifischen Beschaffenheit kenntlich zu machen und diese auch zu reflektieren. Dass der Mann ohne Eigenschaften hier auf die Merkmale der Textsorte Weltanschauungsliteratur referiert, wie Musil sie bei Key, Rathenau, Spengler und anderen einschlägigen Autoren seiner Zeit kennen gelernt hat, soll die folgende Untersuchung zeigen. Sie konzentriert sich mit Paul Arnheim, Hans Sepp und Meingast auf die exponierten Weltanschauungsfiguren des ka­ nonischen Romans, weist aber an gegebener Stelle auch argumentative und sprachliche ‚Verwandtschaften‘ zu weiteren Figuren aus.217 Zunächst wird die Figurenrede auf die typische Kombination von rhetorisch beglaubigter Wis­ sensorganisation und Sprecherselbststilisierung geprüft. Im Anschluss daran stellt sich die Frage nach der narrativen Rahmung, Reflexion und Kritik der Weltanschauungsreden. a) ‚Es kommen die großen Geister immer wieder auf einfache Grundsätze‘. Wissensorganisation durch Weltanschauungsrhetorik Zu den erstaunlich treffsicheren Aussagen, die Graf Leinsdorf ab und an unter­ laufen, gehört auch folgende, Ulrich gegenüber geäußerte Feststellung: „Aber sehen Sie, Doktor, etwas Wichtiges entsteht regelmäßig gerade daraus, daß 213 214

215 216

217

170

Arntzen: Musil-Kommentar (Anm. 5), S. 95. Willi Feld: Funktionale Satire durch Zitieren in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Mit Exkursen zu Büchner und Frisch. Münster 1978, S. 319. Die „gesellschaftlichen Sprachmasken“ wählt auch Pekar für seinen Überblick über den Romanaufbau (vgl. Pekar: Robert Musil zur Einführung [Anm. 48], S. 111). Martens: Beobachtungen der Moderne (Anm. 211), S. 142. Dazu schon eine zeitgenössische Besprechung von Musils Romans, die den „überwälti­ genden satirischen Prozeß“ beschreibt, „der dem Pseudogeist jeglicher Kouleur gemacht wird, so nämlich, daß auf ganz realer geselliger Basis sämtliche vorrätigen Kultur- und Weltanschauungsvokabeln zu einem Hexensabbath der Phrasen versammelt werden, deren eine immer die andere aufhebt, bis zuletzt nichts mehr übrig bleibt als eben das nackte Nichts“ (Paul Rilla: Roman der unendlichen Perspektiven. In: Breslauer Neueste Nachrichten vom 18. Februar 1933, zitiert nach: KA, Kommentare und Apparate; Zeit­ genössische Rezensionen). Zur ideologiekritischen Stoßrichtung dieser Satire außerdem Helmut Arntzen: Satirischer Stil bei Robert Musil. Zur Satire Robert Musils im „Mann ohne Eigenschaften“. Bonn 31983. Verzichtet wird damit auf die ausführliche Analyse der Lindner-Figur und vollständig auf eine des Sozialisten Schmeißer, den beiden Weltanschauungstheoretikern, die ihren großen beziehungsweise überhaupt erst einen Auftritt in den Fortsetzungsteilen des Romans bekommen sollten.

man es wichtig nimmt!“ (MoE II, 55). Das gilt konkret für die Parallelaktion, die sich zum Zeitpunkt dieser Aussage bereits durch allseits herangetragene Spezialanliegen zu einem Sammelsurium der Vorschläge aufgebläht hat, aber auch insgesamt für die kakanische Gesellschaft im Vorkriegsjahr. Angesichts von „immer mehr Ordnungen und immer weniger Ordnung“ (MoE II, 101) geht es auf der Suche nach der “ganz große[n] Idee“ (MoE I, 144) vornehmlich darum, Bedeutung zu inszenieren und Aufmerksamkeit zu generieren. Um in der Pluralität von Sinnangeboten das eigene behaupten zu können, ist eine wirkungsmächtige Präsentation des jeweils verfügbaren Wissens nötig, das es zu demonstrieren und auf einen übergeordneten Gedanken hin zu organisie­ ren gilt. Unter den Hauptsprechern der Parallelaktion perfektioniert hat die entsprechenden Verfahren Dr. Paul Arnheim, der für die Vermittlung seiner gewaltigen Synthesen „von Seele und Wirtschaft oder von Idee und Macht“ (MoE I, 168f.) auf einen immensen Vorrat an Wissen zugreifen kann. Zwar breitet auch der „Realpolitiker“ (MoE I, 219) Graf Leinsdorf mit Blick auf die „harmonische Vision“ vom „Vaterland“ (MoE I, 139) ausführlich seine Kenntnisse zur österreichischen Monarchiegeschichte aus und Diotima, die den „erlösenden Aufschwung“ (MoE I, 284) zunächst im Seelischen zu entdecken glaubt, entwickelt vor allem nach ihrem ‚Lektürewechsel‘ performativen Ehr­ geiz, ihrer Umwelt mit „Leseklugheiten“ (MoE II, 26) auf sexualwissenschaft­ lichem Gebiet zu imponieren. Übertrumpft werden jedoch beide von dem preußischen Industriellen und Schriftsteller, der das gesamte Spektrum seiner Bildung gekonnt auszuspielen weiß. Nach eigener Aussage hat Arnheim „Na­ tionalökonomie und alle erdenklichen Wissenschaften studiert“ (MoE I, 431). Dass unter das Erdenkliche tatsächlich einiges fällt, dokumentiert Ulrichs sum­ marische Auflistung von Themen, die der erfolgreiche Autor in seinen Büchern bespricht: Es war darin von algebraischen Reihen die Rede und von Benzolringen, von der mate­ rialistischen Geschichtsauffassung und der universalistischen, von Brückenträgern, der Entwicklung der Musik, dem Geist des Kraftwagens, Hata 606, der Relativitätstheorie, der Bohrschen Atomistik, dem autogenen Schweißverfahren, der Flora des Himalaja, der Psychoanalyse, der Individualpsychologie, der Experimentalpsychologie, der phy­ siologischen Psychologie, der Sozialpsychologie […]. (MoE I, 341).

Auf diese heterogenen Wissensbestände nimmt Arnheim allerdings negativ Bezug, seinen Lesern erklärt er außerdem, „daß alles, was man nicht verste­ he, nur eine Ausschreitung unfruchtbarer Verstandeskräfte bedeute, während das Wahre immer das Einfache, die menschliche Würde und der Instinkt für übermenschliche Wahrheiten sei“ (MoE I, 341). Die Komplexität in Arnheims Büchern erweist sich als eine durch bloße Anhäufung von Wissensmaterial simulierte, die zugleich in einem Akt der weltanschaulichen Wertung bewusst aufgehoben wird. Von diesem paradoxen Zugleich lässt sich in doppelter Hin­ sicht profitieren. Indem Arnheim sich auf den unterschiedlichsten, vor allem

171

wissenschaftlichen Gebieten bewandert zeigt, nutzt er einerseits das Prestige des allseitig Gelehrten,218 das ihn über den weniger unterrichteten Leser stellt, andererseits tritt er diesem gegenüber als Tröster in der Unwissenheit auf, wenn er in antiintellektualistischer Pose an den ‚Instinkt‘ für höhere Wahrheiten ap­ pelliert, „den jeder erwerben könne, wenn er einfach lebe und mit den Sternen im Bunde sei“ (MoE I, 341). Die Ambivalenz von zur Schau gestellter Überlegenheit und einnehmender Verbrüderung, die – durch Ulrichs gezielte Komprimierung – in den Schriften Arnheims kenntlich wird, bestimmt auch sein Verhalten im direkten Gespräch. In einer Kombination aus Bildungsdemonstration und Bescheidenheit gelingt es dem Redner Arnheim, auf den ‚Konzilen‘ der Parallelaktion zu reüssieren. Er bildet hier bald das Zentrum der meisten Diskussionskreise, weil er nicht nur über Wissen aus allen nur vorstellbaren Bereichen verfügt, sondern überdies „mit jedem in seiner Sprache reden“ (MoE I, 299) kann.219 Zum Erfolg des kommunikativen Rezepts trägt gerade bei, dass es auf einer Bildung gründet, die zwar in die Breite, aber weniger in die Tiefe geht. Arnheim begegnet dem Fachmann konziliant als Stichwortgeber (vgl. MoE I, 300), präsentiert sich damit beschlagen im Speziellen und gleichzeitig überlegen durch sein Talent, einzelne Wissensinhalte in neue und größere Kontexte zu stellen (vgl. MoE I, 308). Umfangreich belesen und mit herausragenden Gedächtniskapazitäten ausgestattet,220 kann er Wissen aus zweiter Hand kompilieren, ist „immer von guten Beispielen umgeben“ (MoE II, 191) und findet stets das passende Zitat. Was hinter seinem Rücken als dilettantischer Eklektizismus gekennzeichnet wird,221 präsentiert Arnheim selbst als gewandten Umgang mit der Tradition, der es ihm erlaubt, die Rede mit Einsprengseln klassischen Bildungsguts zu schmücken. Besonders gerne beruft er sich auf den „große[n] Goethe“ (MoE II,

218 219

220 221

172

Vgl. auch Arnheims „Hang zur Polyhistorie“ (MoE II, 118). Die Vielzahl der Wissensgebiete und Register, die Arnheim als Redner abdeckt, werden vom Erzähler und seinem Protagonisten überdeutlich herausgestellt: „Er kannte alles: die Philosophen, die Wirtschaft, die Musik, die Welt, den Sport. Er drückte sich geläufig in fünf Sprachen aus“ (MoE I, 303). Arnheim vermag „mit Großindustriellen über die Industrie und mit Bankleuten über die Wirtschaft zu sprechen“ […], aber er war imstande, ebenso unumschränkt über Molekularphysik, Mystik oder Taubenschießen zu plaudern“ (MoE I, 300), er „kannte […] jede wichtige Person aus dem englischen, dem französischen oder japanischen Adel und wußte auf Renn- und Golfplätzen nicht nur in Europa, sondern auch in Australien und Amerika Bescheid“ (MoE I, 300f.), er „spricht von Liebe und Wirtschaft, von Chemie und Kajakfahrten“ (MoE I, 301). Zur Fähigkeit Arnheims, sich an den jeweiligen Gesprächspartner anzupassen vgl. vor allem MoE I, 318f. Vgl. MoE I, 300, 303; MoE II, 144, 540. Vgl. MoE I, 304; MoE II, 119f.; MoE III, 228. Nach Ulrichs Einschätzung betreibt Arnheims gar einen potenzierten Eklektizismus in der Nachfolge Maeterlincks: „Arn­ heim hat viel von ihm angenommen, und er viel von anderen; beide sind sie begabte Eklektiker“ (MoE III, 228).

541),222 der ihm grundsätzlich zur wichtigen Identifikationsgestalt, etwa für das Wirken als ‚Großschriftsteller‘ wird (vgl. MoE II, 190).223 Die Vielfalt punktuell vorhandener Kenntnisse und die Beherrschung sämtlicher sprachlicher Register befähigen Arnheim so insbesondere zur Diskursmischung und -übertragung, er zitiert „in Verwaltungsratsitzungen die Dichter“ (MoE I, 305)224 und wendet Philosopheme Maeterlincks oder Bergsons „auf die Fragen von Kohlenpreis und Kartellierungspolitik“ (MoE I, 307) an. Dabei konzentriert sich die vom Erzähler herausgearbeitete „Grundgestalt seines Erfolgs“ (MoE I, 308) auf die Persönlichkeit Arnheim, zu deren Bedeutungsmehrung Produktion und Rezep­ tion ineinandergreifen: umgeben von dem Zauberschein seines Reichtums und dem Gerücht seiner Bedeu­ tung, mußte er immer mit Menschen verkehren, die ihn auf ihrem Gebiet überragten, aber er gefiel ihnen als Fachfremder mit überraschenden Kenntnissen von ihrem Fach und schüchterte sie ein, indem er in seiner Person Beziehungen ihrer Welt zu anderen Welten darstellte, von denen sie keine Ahnung hatten. (MoE I, 308)

Wo der Romantext die Welterklärungen Arnheims ausführlich wiedergibt, bereitet wie in seinen Büchern die Demonstration von Bildung regelmäßig Bekenntnis und Spekulation vor. Dabei soll in übertragener Beweisführung die Autorität allgemein anerkannten oder empirisch gesicherten Wissens die Wahr­ heit des subjektiv Geglaubten und Vermuteten garantieren. Bevor Arnheim etwa dem Ehepaar Tuzzi die „Zivilisationsfrage“ (MoE I, 315) als eine erläutert, die nur mit dem Herzen zu lösen sei und trotz deprimierender Einschätzung der eigenen Gegenwart die Möglichkeit einer „Weltwende“ (MoE I, 315) an­ deutet, bietet seine universalgeschichtliche Darstellung alles auf, was historisch Rang und Namen hat (vgl. MoE I, 314f.). An anderer Stelle bringt Arnheim die Gegenüberstellung von Österreich und Deutschland auf den Gedanken, 222

223

224

Neben Goethe führt Arnheim explizit auch Hölderlin (vgl. MoE I, 318) oder Schiller (vgl. MoE II, 541) an. Seine Tendenz zur Amalgamierung von Fremd- und Eigentext wird erzählerisch außer bei Maeterlinck auch im Falle Heines herausgestellt, „den Arnheim in verborgener Weise liebte“ (MoE II, 144, vgl. 191) und sich im Stillen heranzitiert, dessen Worte mitunter aber so nahtlos in seinem Repertoire aufgehen, dass sie nach außen als eigene erscheinen. So zumindest in der Wiedergabe Diotimas (vgl. MoE II, 250), die sich aber auch sonst nicht immer sicher ist, was von Goethe oder Arnheim stammt (vgl. MoE II, 249). Vgl. zum Zitatgebrauch Arnheims als Täuschungs­ manöver Gerhard R. Kaiser: Proust – Musil – Joyce. Zum Verhältnis von Literatur und Gesellschaft am Paradigma des Zitats. Frankfurt am Main 1972, vor allem S. 86–91, 100f., 136–141. Zu den Zügen Thomas Manns im ‚Großschriftsteller‘ Arnheim vgl. Corino: Musil. Eine Biographie (Anm. 3), S. 917–935. In Musils Nachlass findet sich außerdem auch eine Reihe von Prospekten, mit denen der Fischer-Verlag den Erfolgsautor Walther Rathenau bewarb (vgl. KA, Faksimiles; Mappe VII/3/12–19). Hierbei handelt es sich um ein von Musil auch essayistisch durchgespieltes Beispiel, vgl. dazu Moser: Diskursexperimente (Anm. 207), S. 178–180. Aufgrund der Instrumen­ talisierung diskursiver Fähigkeiten für seine geschäftlichen Interessen identifiziert Moser in Arnheim den „großen Manipulator aller Diskursarten“ (ebd. S. 187).

173

General Stumm von Bordwehr den Vorrang des Intuitiven vor dem Rationalen exemplarisch am Billard zu verdeutlichen. Das dafür im Irrealis aufgestellte Modell zur Berechnung von Anstoß und Lauf der Kugeln, dient auch dazu, eine Fülle mathematisch-physikalischer und technischer Fachtermini unterzu­ bringen.225 Obgleich Arnheim aus dem nicht durchgeführten Experiment in einem abrupten Registerwechsel schlussfolgert, dass er für ein derart theoreti­ siertes Billardspiel „lauter Eigenschaften haben und Dinge tun müßte, die ich unmöglich haben und tun kann“ (MoE II, 415), reklamiert er aus der zuvor we­ sentlich versierter klingenden Beschreibung solcher ‚Eigenschaften‘ und ‚Din­ ge‘ einen Vorschuss an Geltungsmacht als Denker und Sprecher. Daraus speist sich die Gewissheit, in der Arnheim nunmehr generalisierende Behauptungen vorträgt, die die Aussagekraft des Billardbeispiels weit überdehnen – „Politik, Ehre, Krieg, Kunst, alle entscheidenden Vorgänge des Lebens vollziehen sich jenseits des Verstandes“ (MoE II, 415) – und das Irrationale an sich sowie den Mythos des intuitiv handelnden Geschäftsmannes im Besonderen verklä­ ren (vgl. MoE II, 415f.). Auffällig ist an dieser Anschlussrede die appellative Struktur, durch die Arnheim offen – etwa im Ausdruck der Bewunderung für den „Kriegerstand“ (MoE II, 416) –, aber auch implizit sein Gegenüber zu beeinflussen versucht. Neben dem Wechsel auf ein stilistisches Niveau, mit dem sich Arnheim unter seinen Möglichkeiten bleibend dem Gesprächspartner anpasst, entsprechen der weltanschaulichen Verallgemeinerung die Anreden Stumm von Bordwehrs als „Mathematiker[]“, „Österreicher“ und „Offizier“ (MoE II, 415), die sich jeweils mit Aufforderungen zur Zustimmung verbinden, aber ohne dass eine solche abgewartet würde, aus den zugeschriebenen Rollen heraus vorwegnehmend die Bestätigungen des Gesagten gleich selbst ableiten. Ganz richtig folgert Stumm zum Schluss: „Zum Teufel, der will ja irgend etwas von dir!“ (MoE II, 416), und fühlt sich dennoch geschmeichelt. Um alle Erscheinungen holistisch integrieren zu können, entwirft Arnheim ein weltumspannendes Netz der Analogien. Weil er jedes Thema und insbeson­ dere die „Wirtschaft“ stets „im großen Zusammenhang aller Fragen“ (MoE I, 305) behandelt,226 erschließen sich ihm Verbindungen „zwischen Geschäft 225

226

174

„Wollte ich sie [die möglichen Kombinationen beim Billardspiel, F. P.] theoretisch ermitteln, so müßte ich außer den Gesetzen der Mathematik und der Mechanik star­ rer Körper auch die der Elastizitätslehre berücksichtigen; ich müsste die Koeffizienten des Materials kennen; den Temperatureinfluß; ich müßte die feinsten Maßmethoden für die Koordination und Abstufung meiner motorischen Impulse besitzen; meine Dis­ tanzschätzung müßte genau wie ein Nonius sein; mein kombinatorisches Vermögen schneller und sicherer als ein Rechenschieber; zu schweigen von der Fehlerrechnung, der Streuungsbreite und dem Umstand, daß das zu erreichende Ziel der richtigen Koin­ zidenz der beiden Bälle selbst kein eindeutiges ist, sondern eine um einen Mittelwert gelagerte Gruppe von eben noch genügenden Tatbeständen darstellt“ (MoE II, 414f.). Als Beispiel für eine Darlegung im ‚große Zusammenhang‘, die sich besonders deutlich mit der Absicht zur Wissensdemonstration verbindet, vgl. den Bericht über Arnheims Behandlung des „französisch-deutschen Gegensatz[es]“ als „gallisch-keltisch-ostisch-thy­

und Dichtung“ (MoE I, 430) oder aber zwischen vergangener feudalaristokrati­ scher Größe und modernem Unternehmertum durch das „Element des Herrn“ (MoE II, 10), in dem seine Weltanschauungsassistentin Diotima dann vorausei­ lend wieder „beinahe das gleiche wie das Gedicht“ (MoE II, 10) erkennt. Die analogischen Dimensionen, die Arnheim anpeilt, stehen dabei in Missverhält­ nis zur argumentativen Begründung des Zusammenhangs. Das Gemeinsame, vom dem aus sich für Arnheim alles in Beziehung setzen lässt, ist stets das ‚Geheimnis‘, an die Stelle einer schlüssigen Erklärung der vorgenommenen Verknüpfung tritt deren Verrätselung.227 Wie seine Ausführungen in letzter Konsequenz immer in die Mystifikation kippen, wenn das Argument versagt, zeigt sich auch in einem Gespräch mit Diotima über das Geschäft als „Kosmos im kleinen“ (MoE I, 432), das an morphologische Betrachtungen Spenglerscher Art erinnert. Vom familieneigenen Unternehmen ausgehend erläutert Arnheim Entwicklungen im Ökonomischen mithilfe eines organischen Modells, aus dem er ein allgemein gültiges Weltprinzip ableitet: „[…] Aber die Firma schießt nicht mehr so in die Höhe wie in den Anfangszeiten, die ich die heroischen nennen möchte. Es gibt auch für Geschäfte trotz allen Wohler­ gehens eine geheimnisvolle Grenze des Wachstums wie für alles Organische. Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum über Elefantengröße heute kein Tier mehr hinauswächst? Sie finden das gleiche Geheimnis in der Geschichte der Kunst und in den sonderbaren Beziehungen des Lebens von Völkern, Kulturen und Zeiten.“ (MoE I, 432)

In der metaphorischen Bestandsaufnahme zur nicht mehr ‚in die Höhe schie­ ßenden‘ Firma präsupponiert Arnheim bereits, sie sei biologischen Gesetzen unterworfen und kündigt so die Behauptung an, wie ‚alles Organische‘ stoße auch das Geschäft an eine ‚geheimnisvolle Grenze des Wachstums‘. Um seine fortschrittspessimistische Annahme evident erscheinen zu lassen und ihre Aus­

227

reologisches Problem, verbunden mit dem der lothringischen Kohlengruben und wei­ terhin dem der mexikanischen Ölfelder und dem Gegensatz zwischen Englisch- und Lateinamerika“ (MoE II, 18). Arnheims Begriffsakrobatik, die an dieser Stelle sogar die Schilddrüsenkunde in den französisch-deutschen Gegensatz integriert, entfaltet intradie­ getisch besondere Attraktivität. Das zeigt sich darin, dass sie als Stilmittel sogar von einem seiner Gegner übernommen wird. Obwohl Sektionschef Tuzzis Misstrauen nicht nur dem Seelenliebhaber seiner Frau persönlich, sondern insbesondere auch dessen Bü­ chern gilt, entdeckt er nach widerstrebender Lektüre dennoch „den möglichen Nutzen ihrer quellenden Ausdrucksweise für die undurchdringlichen Absichten der Diploma­ tie“ (MoE III, 229). Davon, dass diese Ausdrucksweise direkt abgefärbt hat, zeugt bereits ein religionsgeschichtlicher Beitrag zum „christlich-levantinisch-hellenistisch-jüdischen Glutkessel“ (MoE II, 152), den Tuzzi einbringt, nachdem er das Arnheimsche Werk gelesen hat (vgl. MoE II, 155). Vgl. auch Tuzzis Übernahme der Arnheim-Vokabel „Imponderabilien“ (MoE III, 235). Der Dichtung gleicht das Geschäft für Arnheim, weil es seiner Ansicht nach „irrationale, ja geradezu mystische Seiten“ (MoE I, 430) besitzt. Das „Element des Herrn“, das den Geschäftsmann adeln soll, ergibt sich aus dem „Geheimnis des kraftvollen Lebens“ (MoE II, 10). Für ein besonders forciertes Bemühen des Geheimnisses vgl. auch MoE II, 303f.

175

weitung ins Universale vorzubereiten, knüpft er mit einer rhetorischen Frage an das Erfahrungswissen seiner Adressatin an und überträgt – ihre Überein­ stimmung voraussetzend und aus ihrer Perspektive sprechend – das in der Natur Beobachtbare auf Kunst, Völker, Kulturen und Zeiten. Die Analogie von stagnierender wirtschaftlicher und Weltentwicklung stellt sich hier einzig über das ‚Geheimnisvolle‘ und ‚Sonderbare‘ her, das Arnheim jeweils willkür­ lich zuschreibt. Das „Geheimnis des Ganzen“ (MoE I, 308), auf das er als Weltanschauungstheoretiker im Ergebnis stets kommt, ist bereits sein Mittel als Rhetoriker, die argumentative Reduktion der Reden zu verschleiern, die dieses Ganze entfalten. Im Bestreben, das eigene Konzept möglichst extensiv anzulegen, setzt Arn­ heim häufig lange Begriffsreihen ein, die den Geltungsbereich der eigenen Idee großräumig abstecken sollen. Dabei handelt es sich meist um assoziative, oft­ mals beliebig anmutende Anschlüsse, die auch der Füllung von Begründungs­ lücken dienen und eine Schwundstufe der ausführlichen Rundumanalogie darstellen. Dieser Fall liegt bei folgender Reihung vor, die Arnheim in drei Gesprächen leicht variiert einbringt, um die „Imponderabilien“ (MoE II, 10) zu bezeichnen, auf denen für ihn Größe und Bedeutung beruhen. Zuerst teilt er Diotima zum „Geheimnis des kraftvollen Lebens“ mit, dass „Menschen, die Großes erreichten, […] immer die Musik, das Gedicht, die Form, Zucht, Religi­ on und Ritterlichkeit geliebt“ (MoE II, 10) hätten. Um eine Verlagerung der Beziehung zu seiner Seelenfreundin ins Körperliche abzuwenden, passt Arn­ heim die Aufzählung entsprechend an: „Zucht, Enthaltsamkeit, Ritterlichkeit, Musik, die Sitte, das Gedicht, die Form, das Verbot, alles das hat keinen tieferen Zweck, als dem Leben eine eingeschränkte und bestimmte Gestalt zu verlei­ hen“ (MoE II, 304). Für General Stumm von Bordwehr, dem die gemeinsame Grundlage von Geschäft und Militär einleuchten soll, wird die asyndetische Reihe noch verlängert: „Wer nicht das Gefühl liebt, die Moral, die Religion, die Musik, Gedichte, Form, Zucht, Ritterlichkeit, Freimut, Offenheit, Duldsamkeit […], der wird auch nie ein Kaufmann von großem Ausmaß“ (MoE II, 416). Aus dem Begriffsreservoir, das Arnheim angelegt hat, referiert er je nach aktueller Intention auf unterschiedliche Elemente der Reihe. Das Bedürfnis, Ganzheits­ lehre aus der Totalperspektive zu betreiben, führt dennoch dazu, dass auch der im einzelnen Kontext irrelevante Ballast mittransportiert wird, um zumindest noch assoziative Weiterungen auf das ‚Ganze‘ hin anzustoßen und gleichzeitig in der bloßen Masse dem Vorgetragenen Gewicht zu verleihen. In besonderen Kontrast geraten solche begrifflichen Kettenreaktionen in der Kombination mit simplifizierenden Verknappungen. So wenn Arnheim seinem Diener Soliman die ‚Kraft des Bodens‘ unterbreitet: „in der Ackerscholle lag sie, in der Jagd, im Krieg, im Glauben an den Himmel und im Bauernhaften, mit einem Wort in dem körperlichen Leben dieser Menschen, die weniger ihren Kopf regten als ihre Arme und Beine“ (MoE II, 371). Gemeint ist hier der frühe Adel. Auch

176

die Reihung zum ‚kraftvollen Leben‘ assoziiert lediglich das aus, was Arnheim „[m]it einem Wort, der Herr!“ (MoE II, 10) nennt. Während sich Arnheim in der Absicht, als hochgebildeter Gelehrter zu punkten, mit Agathes Ehemann, dem schriftstellernden Reformpädagogen Pro­ fessor Gottlieb Hagauer trifft,228 findet sich seine Strategie, gegen den Intellekt zu predigen und den Effekt dieser Predigt ausgerechnet durch Beweis der eigenen Intellektualität verstärken zu wollen, auch bei dem „faschistoiden Pro­ pheten“229 Dr. Meingast. Dessen Philosophie rankt sich um die erlösende Tat, 228

229

Im Vergleich zu Arnheim zwar nur vom Fachgebiet der Pädagogik aus und in Gegen­ satz zu ihm als erklärter Vertreter der Vernunft, betreibt Hagauer eine ähnlich ambitio­ nierte Wissensvermittlung in Extension. Auch in diesem Fall gibt ein Lektürebericht Ulrichs Auskunft, der parallele Formulierungen zur Beschreibung der Arnheimschen Bücher aufweist. Ulrich glaubt sich an ein Werk Hagauers zu erinnern, „worin einerseits von dem unersetzlichen Wert des historisch-humanistischen Unterrichts für die sittliche Bildung die Rede war und ebenso andererseits von dem unersetzlichen Wert naturwis­ senschaftlich-mathematischen Unterrichts für die geistige Bildung und drittens von dem unersetzlichen Wert, den das geballte Lebensgefühl des Sports und der militärischen Erziehung für die Bildung zur Tat hat“ (MoE III, 26, zu Arnheims Schriften vgl. MoE I 341f.). Was den Autor Hagauer angeht, beschäftigen sich die Geschwister zudem ausführlich mit dessen Zitierweise: „Er zitiert sehr viel. Er zitiert die alten Meister“, aber auch Zeitgenossen, und von ihnen „nicht nur die Schulgrößen, sondern auch die Flugzeugerbauer, Politiker und Künstler des Tags“ (MoE III, 26), wobei das Auswahlkri­ terium die Prominenz der Namen darstellt (vgl. MoE III, 26). Der Professor ist außer im Kap. MoE III/29, das ihn als Denkenden und Schreibenden porträtiert, nicht selbst als Sprecher präsent, sondern in Zitaten, die vor allem Agathe liefert. In dieser Filterung wird Hagauers ausgeprägter erzieherischer Duktus sowie die Neigung zur Bildungsde­ monstration deutlich. Er belehrt seine Frau über das „Lamium album“ (MoE III, 62) ebenso penibel wie er korrigierend in die Übersetzungen von Shakespeare und Pindar durch seine Schüler eingreift (vgl. MoE III, 63f.). Für die Verbindung von Theorie und Praxis dient ihm als ‚Experimentierfeld‘ nicht wie Arnheim das Billard-, sondern das Tennisspiel (vgl. MoE III, 63). In einem Brief an seine scheidungswillige Frau führt er schließlich vor, dass sich das persönliche Problem in einer mathematisierten Sozialund Geschlechterpsychologie abstrahieren lässt, indem er Agathe als Ausprägung einer asozialen „Minusvariante“ (MoE III, 472) der weiblichen Natur typisiert, die den Forde­ rungen der Zeit ausweiche. Professor Hagauer liefert außerdem ein metatheoretisches Gegenkonzept zum Arnheimschen Verfahren der assoziativen Begriffskombinatorik, das diesem allerdings darin ähnlich ist, dass seine Formulierung ebenfalls darauf angelegt ist, das weltanschauliche Bekenntnis rhetorisch zu bekräftigen. Hagauers vernünftiges Fortschrittsprogramm beruht auf einer biologistischen Analogie und leitet aus dem „mühevollen Gang der Induktion, der das Menschengeschlecht […] schrittweise zum heutigen Stande der Erkenntnis gebracht hat“, das „Denken“ als „moralische Aufgabe“ (MoE III, 62) unter erzieherischer Anleitung ab. Den stetigen Fortschritt durch ‚geistige Zucht‘ bildet Hagauers klimaktisch gereihte Definition gleich mit ab. „[G]eistige Zucht bedeutet jene Disziplinierung des Geistes, vermöge welcher der Mensch immer mehr in den Stand gesetzt wird, längere Gedankenreihen unter beständigem Zweifel gegen die eigenen Einfälle vernunftgemäß, das heißt durch einwandfreie Syllogismen, durch Schlußketten und Kettenschlüsse, durch Induktionen oder Schlüsse aus dem Zeichen, durchzuarbeiten und das schließlich gewonnene Urteil so lange der Verifikation zu unterziehn, bis alle Gedanken aneinander angepaßt sind!“ (MoE III, 62). Wolf: Kakanien (Anm. 9), S. 594, ausführlich zu Meingast vgl. ebd., S. 584–601. Klages ist zwar eindeutig als biographisches Modell und im prophetischen Gestus Meingasts

177

worunter er versteht, dass die Erlösung nicht aus einem bloß „religiösen Ge­ fühl“ hervorgehen kann, sondern „durch die Entschlossenheit des Willens, ja, wenn nötig, sogar durch Gewalt herbeigeführt werden müsse“ (MoE III, 278). Die übergeordnete Idee einer „Erlösung der Welt durch Gewalt“ (MoE III, 278) schlägt sich auch im Sendungsbewusstsein des Autors Meingast nieder, der sein aktuelles Buch als „Rüstungsbefehl für den Geist neuer Männer“ (MoE III, 192) verstanden wissen will. Seine krude Willenslehre richtet Mein­ gast gegen Wissenschaftspositivismus und Sexualität, den seiner Ansicht nach herrschenden Idealismen der Zeit, und formiert sie außerdem zur antidemo­ kratischen Kampfanleitung, die auf eine Entscheidung zwischen ‚wert‘ und ‚unwert‘ drängt (vgl. MoE III, 274f., 415).230 Im Sinne der Zwangserlösung hält der „Philosoph“ (MoE I, 468) nichts für wünschenswerter als einen „gute[n], kräftige[n] Wahn“ (MoE I, 277), für die Absage an den Verstand tritt er als Redner jedoch mit deutlich intellektuellem Gehabe auf und imitiert in seinen Lektionen ein logisch-systematisches Vorgehen. Eines seiner bevorzugten Plau­ sibilisierungsmittel ist die etymologische Erklärung, die auch dort überzeugen soll, wo es sich um rein assoziative Wortschwelgerei handelt.231 Das demokrati­

230

231

178

auszumachen, im ideologischen Profil der Figur kondensieren jedoch eher allgemein populäre nietzscheanische Versatzstücke und virulente kulturkonservative Ansichten, die sich auch, aber nicht nur auf Klages Philosophie beziehen lassen und in Teilen dieser sogar entgegenstehen. Vgl. dazu neben Wolf auch Heinz-Peter Preußer: Die Masken des Ludwig Klages. Figurenkonstellation als Kritik und Adaption befremdlicher Ideen in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. In: Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 31 (2009/2010), S. 234–240. Zum biographischen Bezug vgl. Tobias Schneider: Robert Musil – Gustav Donath – Ludwig Klages. Margina­ lien zur Meingast-Episode im Mann ohne Eigenschaften. In: Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 25/26 (1999/2000), S. 240–244. Insgesamt wird in der Forschung stets der hohe Abstraktionsgrad der Figuration betont. So vermutet Gunther Martens im Hintergrund auch Ernst Jünger „als Typus“ (Martens: Beobachtungen der Moderne [Anm. 211], S. 379) und Kordula Glander sieht Meingast den „Prototypen des Nietzscheanischen Schauspielers“ verkörpern (Kordula Glander: „Leben, wie man liest“. Strukturen der Erfahrung erzählter Wirklichkeit in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. St. Ingbert 2005, S. 68, Fn. 134). Als inkonsistent erweist sich bereits die zentrale Apotheose des ‚entschlossenen Willens‘ bei Meingast. In seiner Argumentation bindet sich der Wille an Instinkt, Körper und Geschlecht (vgl. MoE III, 277), seine ‚Entschlossenheit‘ ist mitnichten Ergebnis einer freien Entscheidung, sondern durch triebhafte Impulse determiniert. Insofern handelt es sich um ein Scheingefecht, wenn Meingast seinen Willensbegriff gegen eine Überbe­ tonung des Sexuellen, gegen die „Bockspiele des Zeitwollens“ (MoE III, 208) in Stellung bringt. Stichhaltig ist seine Rückführung von „Knecht, knight“ auf den „Ursinn […] Jüngling, Knabe, Knappe, waffenfähiger Mann und Held“ (MoE III, 190), die erst durch Clarisse eine spezielle Interpretation erfährt, als falsch erweist sich dagegen sein argumentum a nomine bei der angeblichen Verwandtschaft von ‚lösen‘ und ‚lockern‘, die Meingast auf eine „körperliche Mitbedeutung der Erlösungsvorstellung“ (MoE III, 277) hin deutet. Überprüft hat dies Wolf: Kakanien (Anm. 9), S. 589. Wolf verweist als Beispiel für solche etymologischen Ableitungen auf Klages und Heidegger (vgl. ebd.). Stark zu gewichten ist tatsächlich der Bezug zu Klages, der immer wieder auf dieses Verfahren zurückgreift

sche Prinzip – auf die Formel „Tun, was geschieht“ gebracht – erweist sich ihm als „einer der ehrlosesten Zirkelschlüsse“ (MoE III, 275), wobei das Attribut hier zugleich signalisiert, dass das logische Argument bei Meingast im Dienst normativen Weltanschauungsdenkens steht. Sein Mantra, man dürfe nicht in­ tellektuell kritisieren (vgl. MoE III, 276), hält ihn ebenfalls nicht davon ab, in der Auslegung von Clarisses wahnhaften Erlösungsphantasien vorzuführen, dass er es dennoch könnte. Indem er seine Zuhörer darüber belehrt, wie diese Vorstellungen rational betrachtet gegen Faktizität und Kausalität verstoßen (vgl. MoE III, 275f.), beweist er die eigenen analytischen Fähigkeiten und versucht, sich auf diese Weise die Glaubwürdigkeit zu sichern, die er in der Folge benötigt, um eben den Wahn zu propagieren. Der Vortrag gipfelt in der oxymoronischen Spekulation, dass der Erkenntnisverzicht „wahrscheinlich die große werdende Erkenntnis des zwanzigsten Jahrhunderts“ (MoE III, 277) sei.232 Die Evidenz, die der Philosoph der Vermutung verleihen will, kann er nur dort herstellen, wo er (scheinbar) logisch argumentiert, die Rede muss ihre Überzeugungskraft aus dem Bereich beziehen, gegen die sie sich wendet. Um diese prekäre Lage zu verschleiern setzt Meingast konsequent auf seine persönliche Autorität als Sprecher. Der Gewaltprophet erhebt den Widerspruch durchaus kalkuliert zum Pro­ gramm. Dem „christgermanischen Kreis“ (MoE I, 501) junger Antisemiten um den Studenten Hans Sepp, der Meingast ideologisch auf der Spur ist, mangelt es hingegen an solcher Systematik, nicht aber an einem ähnlich kontradiktorischen Antirationalismus, den die Gruppe „im Zeichen alles um­

232

(vor allem im Geist als Widersacher der Seele setzt sich Klages mit zahlreichen Begriffsbe­ stimmungen auseinander, aber auch Vom Kosmogonischen Eros leitet ein rein begrifflich argumentierendes Kapitel ein). Da sich sprachgeschichtliche Herleitungen und Wort­ bedeutungsreflexionen besonders gut zum Zwecke der Scheinplausibilisierung überstra­ pazieren lassen, ist es nicht verwunderlich, dass sie in der Weltanschauungsliteratur insgesamt, so auch in den hier zugrunde gelegten Referenztexten, prominent vertreten finden. Von Key und Rathenau eher punktuell eingesetzt, um Signalwörtern wie ‚Le­ benskunst‘ oder ‚Seele‘ zu mehr Bedeutung zu verhelfen, von Spengler strukturell, insofern er bei aller Skepsis gegenüber dem Begrifflichen überwiegenden vom Begriff ausgeht, um dessen Angemessenheit zu verhandeln oder eine tiefere Ordnung der Erscheinungswelt aufzudecken (vgl. Key: Die Entfaltung der Seele [Anm. 14], S. 669. Rathenau: Zur Mechanik des Geistes [Anm. 64], zum Beispiel S. 36f. Spengler: Der Untergang des Abendlandes I [1920] [Anm. 169], zum Beispiel S. 21f. [Fn. 1], 172–177, 406f., 427, 548). Im Roman besteht außerdem eine Parallele zwischen dem Etymologen Meingast und Arnheim, der seine gedanklichen Assoziationen um „Ulrichs Witz“ (MoE II, 366) herum zur „sprachliche[n] Weisheit“ ausbaut und sich dabei auch an Klangei­ genschaften zu orientieren scheint: „Der Witzige ist immer vorwitzig, er setzt sich über die gegebenen Grenzen hinweg, an denen der voll Fühlende haltmacht“ (MoE II, 367). Von der Vorliebe Meingasts zur oberflächlichen Systematisierung zeugt auch die straffe Gliederung der anschließenden, unterdrückten Rede, die – in Aufbau und Inhalt vom Erzähler übermittelt – in dreistufiger Argumentation auf die „Wandlung des Erlösungs­ gedankens in der Geschichte der Völker überhaupt“ (MoE III, 277) hinführen und dann in der Verkündung der Gewalt kulminieren sollte.

179

fassender Liebe und Gemeinschaft“ (MoE II, 271) verbreitet. Der heterogen zusammengesetzte Kreis, in dem Mitglieder der „nationalen Studentenverbin­ dungen“, der „sozialistischen oder […] katholischen Jugendbewegung“ sowie „Wandervogelhorde[n]“ (MoE II, 270) aufeinandertreffen, definiert sich vor allem in Opposition zur bürgerlichen Elterngeneration und grenzt sich dem­ entsprechend auch von traditionellen Bildungsidealen ab, denen sich etwa die offiziellen Repräsentanten der Parallelaktion noch verpflichtet zeigen. So wettert Hans gegen die empirische Wissenschaft (vgl. MoE II, 397), aber auch gegen das „Wissen“ an sich, das für ihn „nichts als An-Eignung einer fremden Sache“ (MoE II, 391) bedeutet, und gegen den „Begriff, das reglos gewordene Getötete“ (MoE II, 391). Trotz der prinzipiellen Aversion gegen Wissen und Begriff profiliert sich der deutschnationale Kreis allerdings wesentlich darüber, dass er eine Unmenge skurriler Neologismen kreiert, die exklusives Wissen verheißen sollen.233 Wenn sich im Haus des jüdischen Bankiers Leo Fischel die „Freundgeister“ seiner Tochter Gerda einfinden, wird über „Empormensch­ lichung und freie Menschbarkeit“ gesprochen, sie ventilieren „Begriffe wie Lebensdenkkunst, geistiges Wuchsbild und Tatschwebung“ (MoE II, 264) und Hans formuliert die Utopie einer „Gemeinschaft der vollendet Ichlosen“, die auf dem Wege einer „Entpanzerung des Ich“ (MoE II, 390) erreicht werden soll. Für das Ideenkonglomerat, das im Kreis um Hans Sepp entwickelt wird, scheinen viele Inspiratoren plausibel. Unter anderem Lagarde, Chamberlain oder auch Klages wurden bereits genannt.234 Da der Text bislang noch nicht 233

234

180

Dass trotz der immer wieder zum Ausdruck gebrachten Verachtung von Wissenschaft und Forschung auch bei Sepp das Bedürfnis besteht, den eigenen Theorien zumindest den Anschein von Wissenschaftlichkeit zu geben, wird deutlich, wenn er sich später vor Ulrich auf den „großen Rasseforscher Bremshuber“ beruft, der sich allerdings auf Nachfrage als „Apotheker“ (MoE III, 578) herausstellt. Bei dem verschrobenen Vokabular hat sich Musil aus einer Rezension zu Willy Schlü­ ters Schrift Deutsches Tat-Denken. Anregungen zu einer neuen Forschung und Denkweise (1919) bedient (vgl. das Exzerpt in: KA, Transkriptionen, Heft 8/91f.). Im Hintergrund des jugendbewegten Idealismus und der Idee eines christlichen Germanentums macht Neymeyer vor allem Paul de Lagarde aus (vgl. Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose [Anm. 197], S. 356, 362. Musils Aufzeichnungen sprechen eher für eine Orientierung an Houston Stewart Chamberlain, der sich wiederum an Lagarde anlehnt. Aus den Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1899) hat Musil exzerpiert und bibliographische Anga­ ben übernommen (vgl. KA, Transkriptionen; Heft 10/72–74, 76; vor allem Heft 19/7, 9). Vgl. auch die Notiz: „Rassentheoretiker zeichnen. Etwa Chamberlain zum Vorbild nehmen. Diese Gesellschaft hatte großen Einfluß“ (ebd., Heft 8/114; mit Bezug auf die Figuren, die später Gerda und Sepp heißen, wiederholt in Mappe I/6/47). Zum ‚Ger­ manischen Christentum‘ Chamberlains vgl. Anja Lobenstein-Reichmann: Houston Ste­ wart Chamberlain – Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung. Eine sprach-, diskurs- und ideologiegeschichtliche Analyse. Berlin und New York 2008, S. 465–472. Auf Chamberlain weist auch Wolf hin und befasst sich außerdem sozialhistorisch mit den Hintergründen des Sepp-Kreises und der Radikalisierung von romantisierender Erlösungsschwärmerei in die konservative Revolution (vgl. Wolf: Kakanien [Anm. 9], S. 558–584). Preußer stellt Hans Sepp als das „zweite, hier indirekte Porträt“ von Klages vor (vgl. Preußer: Die Masken des Ludwig Klages [Anm. 229], S. 248–251, hier S. 250).

im Quellenfundus zur Figur verzeichnet wurde, sei außerdem angemerkt, dass die Ausführungen zum „‚Kapitalismus am Kinde‘, dessen Darstellung Hans ursprünglich irgendwo erwähnt gefunden, dann aber selbst ausgebildet hatte“ (MoE II, 387), in vielen Teilen ausdrucksgleich in einem Aufsatz des sozialisti­ schen Pädagogen und Politikers Theodor Neubauer auftauchen.235 Neymeyr weist für Sepps Philosophie des Kindes auf Bezüge zu Nietzsches Zarathustra hin.236 Die Verwendung des Neubauer-Textes spricht jedoch eher dafür, dass es gerade bei den Weltanschauungsfiguren stärker um die Referenz auf die verzerrte Nietzsche-Adaption geht, weniger um das Original. Die eigene Abhängigkeit vom Begrifflichen zeigt sich beim Sepp-Kreis auch in der Konstruktion des Feindbildes, der „jüdischen Gesinnung“ (MoE I, 501). Diese Etikettierung stellt einer der wenigen Fälle dar, in denen die Kreismit­ glieder sich überhaupt einigen können. Darunter subsumieren sie jedoch so verschiedenes wie „Kapitalismus und Sozialismus, Wissenschaft, Vernunft, El­ ternmacht und -anmaßung, Rechnen, Psychologie und Skepsis“ (MoE I, 501). Eine Annahme, die der Erzähler für den sozialen Zusammenhalt der Antise­ miten nahe legt, „daß das einzige ihnen allen Gemeinsame Leo Fischel war“ (MoE II, 270), lässt sich auch auf ihren weltanschaulichen Entwurf übertragen – dessen einziger Fixpunkt bildet die Benennung des Gegners, wobei die ‚jüdi­ sche Gesinnung‘ derart Heterogenes umfassen soll, dass der Begriff letztlich auf eine rein überdachende Funktion reduziert gerade für die erstarrten Strukturen einsteht, gegen die der Kreis eigentlich aufbegehren will. Grundsätzlich im Widerspruch stehen bei Hans Sepp auch die Ablehnung von Erfahrungserkenntnis und die eigene Erkenntnisvermittlung. Im Zuge sei­ ner Wissenschaftsschelte vertritt er gegen Ulrich die Meinung: „Alle empirischen Erklärungen sind nur scheinbare und führen aus dem Kreis der niederen, sinnlich faßbaren Erkenntnisse nicht hinaus! Ihr Wissenwollen möchte die Welt auf nichts anderes als ein mechanisches Daumendrehen sogenannter Naturkräfte zurückführen!“ (MoE II, 397)

Das ‚niedere, sinnlich Fassbare‘, das Hans verwirft, bezeichnet allerdings genau den Bereich, über den er selbst versucht, ‚höhere‘ Ideen zu kommunizieren, die überbordende Metaphorik, der er sich als Redner bedient, spricht vor allem elementare Sinnesreize an. Nach dem Prinzip eines ‚mechanischen Dau­ mendrehens‘ funktioniert wiederum der dogmatische Antagonismus, auf dem seine Weltanschauung basiert. Die Kritik an der Unterdrückung des Kindes in der Erwachsenenwelt fasst Hans beispielsweise in der Beschreibung kapitalisti­ 235

236

Vgl. Theodor Neubauer: Vom Recht des Kindes. In: Freideutsche Jugend. Monatsschrift für das junge Deutschland 6, Heft 2 (1920), S. 59–60. Wieder abgedruckt in: Ders.: Die neue Erziehung der sozialistischen Gesellschaft: Aufsätze und Reden zur Schulpolitik und Pädagogik. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Sonja Müller. Berlin 1973, S. 50–53. Vgl. Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose (Anm. 197), S. 359.

181

scher Besitzverhältnisse und stellt Vergleiche zu Sklaverei und Tierhaltung her (vgl. MoE II, 387). Davon ausgehend malt er ein Schauerbild der Kindheit in Vokabeln des ‚Raubens‘, ‚Zerstörens‘, ‚Erstickens‘, ‚Abrichtens‘, ‚Fesselns‘ und ‚Tötens‘ aus. Der emphatische Gegenentwurf verbindet das Wesen des Kindes wiederum mit Vorstellungen des ‚Schöpfens‘, ‚Wachsens‘, ‚Bauens‘, ‚Spielens‘ und ‚Lebens‘ (vgl. MoE II, 388). Zusätzlich religiös konnotiert, steht die „barba­ rische Sünde“ der Erwachsenen dem „[l]etzte[n], Absolute[n]“ (MoE II, 388) entgegen, das nur vom Kind gesehen wird. Sepps „Philosophie der Unterdrück­ ten“ (MoE II, 388) geht von einem schematisierten Generationengegensatz aus, den er nicht begründet, sondern mittels emotional aufgeladener Kontrastse­ mantik verabsolutiert. Die Inszenierung eines Grabenkampfes, in dem die Ele­ mente der jeweiligen Seite nur deshalb als homogen behauptet werden können, weil ihnen ein gemeinsamer Bildbereich zugeordnet ist, kennzeichnet Hans Sepps Rhetorik insgesamt. „Wissen“, „Begriff“, „Überzeugung“, „Forschung“, „Charakter“, „Kenntnis eines Menschen“, „Einsicht“ und „Wahrheit“ (MoE II, 391) fallen unterschiedslos auf die weltanschauliche Gegenseite, denn der meta­ phorisch organisierte Zusammenschluss findet „[i]n allen diesen Beziehungen […] Tötung, Frost, ein Verlangen nach Eigentum und Erstarren“ (MoE II, 391). In einer der Arnheimschen Reihung verwandten Wortakkumulation, die direkt anschließt und ebenfalls diese ‚Beziehungen‘ charakterisieren soll, steigert sich Hans mit affektgeladenen Adjektiven schließlich bis zur Verdammung eines „Gemisch[s] von Eigensucht mit einer sachlichen, feigen, heimtückischen, un­ echten Selbstlosigkeit!“ (MoE II, 391) weiter.237 Die Weltanschauungstheoretiker, die im Mann ohne Eigenschaften auftreten, unterscheiden sich nach der ideologischen Ausrichtung, dem intellektuellen Niveau und der jeweiligen Positionierung gegenüber anerkannten Wissensbe­ ständen und Rationalitätskriterien. Gemein ist ihnen jedoch, dass sie die Wi­ dersprüche ihrer Entwürfe nicht argumentativ reflektieren, sondern rhetorisch kaschieren und dabei äquivalente Strategien verfolgen. Einige davon sind be­ sonders dominant. Von Graf Leinsdorf wird eines der einfacheren Instrumente eingeführt, mit denen sich Gegensätzliches homogenisieren und ein weltanschaulicher Allein­ vertretungsanspruch formulieren lässt. Seine spezielle Form eines mentalen Brückenschlags (vgl. MoE I, 138, 155), der nicht den Kompromiss bereiten, son­ dern das Überwechseln fremder Konzepte auf die eigene Seite arrangieren soll, findet ausdrucksseitig im „Zusatz ‚der wahre‘“ (MoE I, 138) ihre Entsprechung. Dieser Baustein ermöglicht es dem Grafen sogar – neben unzähligen anderen Umcodierungen – den Sozialismus als den ‚wahren‘ mit seiner Vorstellung einer „natürliche[n] Weltordnung“ (MoE I, 139), also einer ständisch geglieder­ 237

182

Unklar ist allerdings, wie stark die gesamte ‚Aufzählung‘ Sepps durch den Erzähler modifiziert wird, der es an dieser Stelle vorzieht, die „Unterredung mehr dem Sinn nach wiederzugeben, als in ihrem Wortlaut“ (MoE II, 390).

ten, zu vereinbaren.238 Leinsdorfsche Zusatz-Konstruktionen verwenden auch andere Figuren, um jeweils den einzig gültigen Zugang zum Wahrheitskern der Materie zu behaupten. Hans Sepp debattiert mit seinen Freunden über „[w]ahre Gemeinschaft“ (MoE II, 271) oder bestimmt den „Grad der wahren Originalität“ (MoE II, 393), Diotima sinniert über die Hindernisse, die einer Erhebung des Menschen „zu seinem wahren Wesen“ (MoE I, 166, MoE II, 25) entgegenstehen und behauptet, „das wahre Österreich sei die ganze Welt“ (MoE I, 277),239 für Arnheim liegt das „wahrhaft Große und Wesentliche“ (MoE I, 315) in der Vergangenheit.240 Gemeinsam treibt das Seelenpaar den verbalen Wahrheitskult auf die Spitze, indem es sich wortreich versichert, „die wahre Wahrheit zwischen zwei Menschen“ (MoE II, 305, 308) könne nicht ausgesprochen werden.241 238

239

240

241

Der rhetorisch gestifteten sozialen Egalität steht dabei ein faktisches Desinteresse am proletarischen Schicksal gegenüber (vgl. MoE III, 580). Auch über Arnheims Affinität zu einem Sozialismus, der sich mit Standesdünkel und Besitzdenken verträgt, wird berichtet (vgl. MoE II, 111, 169f.). Bei den eigenwilligen Anverwandlungen des Sozia­ lismusbegriffs im Roman könnte Musil direkt durch den Untergang des Abendlandes inspiriert worden sein, in dem Spengler eine von marxistischen Vorstellungen abgekop­ pelte und konservativ umgedeutete Variante durchspielt, die dann in Preußentum und Sozialismus (1919) zum Hauptthema wird. Leinsdorfs Diktum „‚wir alle sind ja im Innersten Sozialisten‘“ (MoE I, 138) erinnert an Spenglers Ausführungen zu einem ‚ethi­ schen Sozialismus‘ als „Weltgefühl […], welches die eigne Meinung im Namen aller verfolgt“, wonach „wir ohne Ausnahme Sozialisten [sind], ob wir es wissen und wollen oder nicht“ (Spengler: Der Untergang des Abendlandes I [1920] [Anm. 169], S. 466). Spengler sieht zudem in Friedrich Wilhelm I. den Begründer eines Staatssozialismus im Sinne der faustisch-abendländischen Wirtschaftsordnung, für die ihm wiederum das „Wort Friedrichs des Großen: ‚Ich bin der erste Diener meines Staates‘“ (ebd., S. 190) passend erscheint. Wenn Leinsdorf den Kaiser als „sozusagen der Erste Sozialist im Staate“ (MoE III, 302) vorstellt, könnte es sich insofern um eine seiner kakanischen Parallelbildungen, hier zu Spenglers preußisch gefärbtem Sozialismus handeln. In diesem Fall zeigt sich Diotimas Begabung, sich nicht nur Ideen, sondern auch sprach­ liche Verfahren anderer zu eigen zu machen. Bei ihr finden sich darüber hinaus auch das „wahre[] Antlitz“ (MoE I, 283) der Welt, Österreich als „wahre Heimat“ (MoE I, 365, 368) des Geistes oder die „wahre Pflicht“ (MoE I, 177). Auch Meingast, der sich eigentlich von den Kategorien ‚wahr‘ und ‚falsch‘ verabschiedet hat (vgl. MoE III, 414), ist sich dennoch sicher, dass es sich bei der Überbetonung des Sexuellen „in Wahrheit“ um „Bockspiele des Zeitwollens“ (MoE III, 208) handelt. Ansonsten greift der Philosoph aber auf komplexere Strategien zurück, um seinen exklusiven Zugriff auf die Wahrheit geltend zu machen. Wie sehr auch Vertreter schein­ bar rational organisierter Diskurse auf solche Zusatz-Versicherungen angewiesen sind, zeigt sich bei Ulrichs Vater, dem Juristen, der betont, mit seiner Publikation über die Zurechnungsfähigkeit „die wahren Zusammenhänge ans Licht“ (MoE I, 177) gesetzt zu haben und den Sohn per Brief auch grundsätzlich über die Verpflichtung belehrt, „die eine Wahrheit und den rechten Willen festzustellen“ (MoE I, 507). Das Gespräch zwischen Arnheim und Diotima im Kapitel Hohe Liebende haben nichts zu lachen vollzieht sich weitgehend über den Austausch von Maeterlinckzitaten und -pa­ raphrasen. In der redundanten Formulierung der ‚wahren Wahrheit‘ folgen die beiden nicht dem Wortlaut des Originals, sondern übernehmen einen von Musil komprimier­ ten Maeterlinck (vgl. das Exzerpt zum Schatz der Armen in: KA, Transkriptionen; Heft 21/39). So einleuchtend Müllers Hinweis auf Othmar Spanns Schrift Der wahre Staat.

183

In der doppelten Alliteration, mit der Diotima und Arnheim ihr Schweige­ bekenntnis ausstatten, zeigt sich das ebenfalls häufig eingesetzte Verfahren, die harmonische Einheit, die sich gedanklich nicht einstellen will, zumindest durch äußeren Wohlklang vorzuspiegeln. Es taucht vor allem dort auf, wo Weltanschauungen zu Formeln erstarren.242 Vom alliterierenden Schlagwort macht nicht nur Leinsdorf mit seinem wichtigsten Syntheseangebot „Besitz und Bildung“243 Gebrauch, auch Arnheims „Geheimnis des Ganzen“ 244 oder Sepps „Kapitalismus am Kinde“ (MoE II, 387) folgen diesem Muster. In der Gruppe der Antisemiten weigert man sich überhaupt, das „Hauptlehrstück“, das „Symbol“ (MoE I, 501), anders als in poetischen Umschreibungen zu fas­ sen, deren Kohärenz sich allenfalls auf phonologischer Ebene erschließt: Nach Ulrichs Eindruck „nannten sie Symbol die großen Gebilde der Gnade, durch die das Verwirrte und Verzwergte des Lebens, wie Hans Sepp sagte, klar und groß wird, die den Lärm der Sinne verdrängen und die Stirn in den Strömen

242

243 244

184

Vorlesungen über Abbruch und Neubau des Staates (1921) für den ideengeschichtlichen Hintergrund des ständischen Universalismus bei Leinsdorf ist, erscheint die Annahme, es handele sich dabei um die Quelle des ‚der wahre‘-Zusatzes, wie Müller ebenfalls nahelegt, doch zu kurz gegriffen (Müller: Ideologiekritik [Anm. 156], S. 16). Dafür, dass hier eine Referenz auf ein verbreitetes Mittel besteht, sich Exklusivwissen und Deutungshoheit zuzuschreiben, spricht auch, dass Musil auf diese und vergleichbare Zu­ satz-Konstruktionen durchgehend auch bei der Lektüre Keys, Rathenaus und Spenglers stoßen konnte. Im Key-Exzerpt etwa hat er sich eine entsprechende Formulierung zur ‚echten Wissenschaft‘ unterstrichen (vgl. KA, Transkriptionen; Heft 11/29). Im Zusammenhang mit der Formelhaftigkeit, auf die die Weltanschauungsrede im Mann ohne Eigenschaften zugeschnitten ist, sieht Schwarzwälder Musil den „objekt­ sprachlichen Charakter“ dieser Rede betonen (Schwarzwälder: Der Weltanschauungsro­ man 2. Ordnung [Anm. 10], S. 132). MoE I, 135, 152, 156, 258 u. a. MoE I, 308; MoE II, 378, 464. Diotima erkennt „das Geheimnis des Ganzen“ dann auch „mit dem Verstand eines Künstlers“ (MoE I, 310). Selbst künstlerisch produktiv wird die Salondame bei der Ideenfindung für die Parallelaktion. Ihrer Forderung, das „Ziel“ der Aktion „müsse eine Dichtung sein“ (MoE II, 283), kommt sie beispielsweise mit dem Versuch nach, die eigenen Arnheim- und Österreichassoziationen auf eine kulturpolitische Weltmission hin zu amalgamieren: „Arnheim sei ein Europäer, ein in ganz Europa bekannter Geist, die Leitung der Staatsgeschäfte in Europa geschehe zu wenig europäisch und viel zu ungeistig, und die Welt werde nicht Frieden finden, ehe ein weltösterreichischer Geist sie so durchwehe, wie die alte österreichische Kultur sich um die verschiedensprachigen Stämme auf dem Boden der Monarchie schlinge“ (MoE I, 320, für Variationen vgl. MoE I, 277, 365). Was der Argumentation an Logik entbehrt, kompensiert Diotima durch üppigen rhetorischen Schmuck, indem sie sich mittels Konversion, Derivation und Komposition um die Wörter ‚Europa‘, ‚Geist‘, ‚Welt‘ und ‚Österreich‘ herumlaviert und alliterierend zum schiefen, aber dennoch Welthöhe und -tiefe einnehmenden Bildvergleich führt. Zu Diotima als Sprecherin, ihrer Vorliebe für den blumigen Ausdruck, Gradationen und andere verbale „Hilfskonstruktionen für etwas, von dem sie nur ahnungsweise eine Vorstellung hat“, vgl. die aufschlussreiche Analyse von Bettina Leue: Diotima: „Seelenriesin“ und „Riesenhuhn.“ Zur Sprache einer Frau in Musils Mann ohne Eigenschaften. In: Frauen: MitSprechen. MitSchreiben. Beiträge zur literatur- und sprachwissenschaftlichen Frauenforschung. Stuttgart 1997, S. 331–345, hier S. 333.

der Jenseitigkeit netzen“ (MoE I, 502). Das klanglich insinuierte Symbol ist gleichzeitig weltanschaulich an das ‚Ariertum‘ rückgebunden, mit dem auch die Vagheit der Definition legitimiert werden soll (vgl. ebd.).245 Die ästhetische Retusche an der Oberfläche dient dazu, den Eindruck einer homogenen Gedankenführung zu erwecken. Um das Weltanschauungskonzept außerdem von vornherein gegen Kritik abzuschirmen, kommen strukturell Ge­ wissheitsbehauptungen zum Einsatz. Apodiktische Bestimmungen durchziehen die Reden Hans Sepps, der beispielsweise für Österreich „überhaupt nur eine Rettung“ sieht, und zwar den „Anschluß an Deutschland“ (MoE I, 383). In der „Selbsthaftigkeit noch des selbstlosesten Menschen“ erkennt er „schlechtweg die Erbsünde“ (MoE II, 391), was dann eine Reihe hintereinander geschalteter Gleichsetzungen als unbestreitbar vorführen soll.246 Dem gegenüber legt Arnheim zwar mehr Wert auf die Vermittelbarkeit seiner Ansichten, indem er der Devise folgt, ein großer Teil der wirklichen Bedeutung eines Mannes liege darin, sich seinen Zeitgenossen verständlich machen zu können (vgl. MoE II, 14). Dennoch spricht auch er bisweilen aus der Pose absoluter Gewissheit heraus, vor allen Dingen wenn es um seine geschichtsphilosophische Überzeugung geht, dass in der Weltgeschichte nichts Unvernünftiges geschehe (vgl. MoE I, 276).247 Diesem Grundsatz folgend, sind für Arnheim „[o]hne Zweifel“ auch „große Geschehnisse […] immer der Aus­ druck einer allgemeinen Lage“ (MoE I, 275f.), und weil er gegenwärtig eine sol­ che ausmacht, wird ihm nach der konstituierenden Sitzung der Parallelaktion allein „die Tatsache, daß eine Zusammenkunft wie die heutige irgendwo mög­ lich gewesen sei“, schon zum Beweis für „ihre tiefe Notwendigkeit“ (MoE I,

245

246

247

Während die Vielfalt der Phänomene, die der Sepp-Kreis unter dem Stichwort ‚Symbol‘ aufeinander bezieht, Ausmaße der Spenglerschen Kulturmorphologie annimmt – „[d]en Isenheimer Altar, die ägyptischen Pyramiden und Novalis nannten sie so; Beethoven und Stefan George ließen sie als Andeutungen gelten“ (MoE I, 502) – lässt der Stil, in dem die Symbol-Definition gehalten ist, an die ‚Weltanschauungslyrik‘ denken, über die sich Musil in seiner Auseinandersetzung mit Rathenau und der ‚Populärmetaphysik‘ der Zeit mokiert hatte (vgl. KA, Transkriptionen; Heft 2/14f.). „Hans zählte auf: So ist Wissen nichts als An-Eignung einer fremden Sache; man tötet, zerreißt und verdaut sie wie ein Tier. Begriff, das reglos gewordene Getötete. Überzeu­ gung, die nicht mehr veränderliche erkaltete Beziehung. Forschung gleich fest Stellen. Charakter gleich Trägheit, sich zu wandeln. Kenntnis eines Menschen soviel wie nicht mehr von ihm bewegt werden. Einsicht eine Sicht. Wahrheit der erfolgreiche Versuch, sachlich und unmenschlich zu denken“ (MoE II, 391). Vgl. auch MoE I, 315, 397, MoE II, 15. Zum Hegelschen Idealismus und seiner Kritik im Roman vgl. Wolfgang Freese: Ansätze zu einer Hegel-Satire in Musils „Mann ohne Eigenschaften“. In: Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 10 (1984), S. 181–200, zu Arnheims entstelltem Hegel-Zitat hier vor allem S. 182. Reinhard Markner sieht in diesem Wahlspruch auch das „positivistische[] Vertrauen in die Kau­ salität von Geschichte“ bei Rathenau überzeichnet (Markner: Marginalie zur Montage­ technik [Anm. 156], S. 392).

185

276).248 Mit der Undeutlichkeit der Aussage steigt hier der Ton der Überzeugt­ heit. Diese Dynamik ist auch bei Meingast zu beobachten, der allerdings eine indoktrinative Vortragsweise beherrscht, gegen die die Selbstversicherungsstra­ tegien Sepps oder Arnheims noch harmlos wirken. Deutlich wird das in einem Vortrag des Propheten über die Demokratie, den es sich genauer zu betrachten lohnt, weil in ihm Gewissheitsbehauptungen in typischer Weise mit weiteren Verfahren der Weltanschauungsrhetorik kombiniert auftreten. Nachdem Mein­ gast mit einer Moosbrugger-Christus-Analogie den spekulativen Erlösungshori­ zont aufgespannt hat, befindet er Clarisses Einsatz für den Frauenmörder als „eine der zeitgemäßesten Ideen“ (MoE III, 274) und leitet damit zu einer gene­ rellen Epochendiagnose über:

5

10

„Wir sind nicht imstande, uns selbst zu befreien, daran kann kein Zweifel bestehn; wir nennen das Demokratie, aber diese ist bloß der politische Ausdruck für den seelischen Zustand des ‚Man kann so, aber auch anders‘. Wir sind das Zeitalter des Stimmzettels. Wir bestimmen ja schon jedes Jahr unser sexuelles Ideal, die Schönheitskönigin, mit dem Stimmzettel, und daß wir die positive Wissenschaft zu unserem geistigen Ideal gemacht haben, heißt nichts anderes als den Stimm­ zettel den sogenannten Tatsachen in die Hand zu drücken, damit sie an unser Statt wählen. Das Zeitalter ist unphilosophisch und feig; es hat nicht den Mut zu entscheiden, was wert und was unwert ist, und Demokratie, auf das knappeste ausgedrückt, bedeutet: Tun, was geschieht! Nebenbei bemerkt, ist das ja einer der ehrlosesten Zirkelschlüsse, die es in der Geschichte unserer Rasse bisher gegeben hat“ (MoE III, 274f.).

Meingasts Rede teilt sich in drei größere Abschnitte. Die Behauptung, dass eine Selbstbefreiung unmöglich sei, wird zunächst in der Erläuterung des De­ mokratiebegriffs präzisiert und mit einem schmissigen Epochenetikett versehen (vgl. Z. 1–3). Der Mittelteil führt mit dem sexuellen und dem geistigen Ideal dann zwei Beispiele an, um das Ausgangspostulat zu bestätigen (vgl. Z. 4– 8). Den Abschluss bildet die Bewertung des Zeitalters, verbunden mit einer Reformulierung der ersten Demokratiebestimmung, an die sich im Nachsatz noch ein logisches Urteil hängt (vgl. Z. 8–12). Mit der dreiteiligen Gliederung lehnt sich Meingast noch an das klassische Argumentationsschema von These, Beleg und Konklusion an, hebelt es aber zugleich aus, indem er einen Begrün­ dungszusammenhang gar nicht erst herstellt, sondern ihn apodiktisch in jedem Schritt seiner Darlegung bereits voraussetzt. Das argumentative Modell dient lediglich als Vehikel, um die behauptete Notwendigkeit auch als eine logisch248

186

Mit prognostischer Sicherheit sagt Arnheim auch die Ablösung des Dichters durch den Journalisten vorher: „Ohne Frage ist das eine gesetzmäßige Entwicklung; es ist etwas im Gange, und ich bin auch gar nicht im Zweifel, was das ist: das Zeitalter der großen Individualitäten geht zu Ende!“ (MoE II, 540). Charakteristisch für Arnheim ist aber insgesamt, dass sich der Duktus der Gewissheit mit vorsichtig gehaltenen Andeutungen mischt. Vgl. dafür exemplarisch seine Darstellung der Rolle Deutschlands (MoE II, 444).

rationale erscheinen zu lassen. Schon zu Beginn legt Meingast fest, dass an seiner Einschätzung der Lage ‚kein Zweifel bestehn [kann]‘ (Z. 1), versucht da­ mit gar nicht erst, Alternativen zu entkräften, sondern negiert die Möglichkeit ihres Bestehens überhaupt. Der Absolutismus setzt sich fort in der Gewissheit, dass Demokratie ‚bloß der politische Ausdruck‘ (Z. 2) für einen allgemeinen Seelenzustand sei und das Positivismusideal ‚nichts anderes‘ (Z. 6) heiße als Machtabgabe. Schon bei seinem ersten ‚Beleg‘, der Schönheitsköniginnenwahl, unterstellt Meingast die Evidenz und Relevanz des Beispiels, was die Modalpar­ tikel ‚ja‘ (Z. 4) anzeigt, mit der er schließlich auch sein Zirkelschluss-Verdikt (vgl. Z. 10f.) absichert. Hervorstechendes Merkmal dieser Rede im Traktatstil ist die durchgehende Behauptung von Gewissheit. Sie spielt zusammen mit anderen Elementen der Wiederholung, deren rhetorischen Effekt Meingast zu nutzen weiß. Die zwei­ malige Demokratiebestimmung (vgl. Z. 1–3, 9f.), die den mehrfach variierten Einsatz des ‚Stimmzettels‘ (vgl. Z. 3–7) rahmt, leistet in der grundlegenden Aussagenanordnung formal das, was die anaphorische Verbindung der ersten vier Sätze als Wortfigur bewirkt: Sie unterstreicht zum einen die von Meingast diagnostizierte Indifferenz des ‚seelischen Zustand[s]‘ (Z. 3), die Monotonie einer Zeit, die ‚jedes Jahr‘ (Z. 4) über die Schönste abstimmt, ansonsten ‚tut, was geschieht‘ (vgl. Z. 10) und folglich einem ‚Zirkelschluss‘ (vgl. Z. 11) auf­ sitzt. Im Sinne des Sprechers verstärkt die Wiederholungsstruktur zum anderen aber auch den Eindruck eines systematisch geordneten und stringent geführten Gedankengangs. In der doppelten Funktion, das Behauptete zu plausibilisieren und die eigene Geltungshoheit zu stützen, stehen auch Meingasts semantische Operationen. Die Behandlung der Demokratie oszilliert zwischen einem Angriff auf die Sache und den Begriff,249 die wesentliche Auseinandersetzung findet aber auf der Ebene von Bedeutungszuweisungen statt. Zentral ist hier seine Umdefiniti­ on der Demokratie. Verkürzt auf einen formalisierten Abstimmungsvorgang, gleichzeitig intensional verunschärft und extensional erweitert steht der Begriff Demokratie metonymisch für einen ‚seelischen Zustand‘ (Z. 3), eine allgemeine Epochenlage, der als symbolisches Kennzeichen der ‚Stimmzettel‘ zugeordnet wird. Mit diesen semantischen Voreinstellungen, die pointiert in der Formel vom ‚Zeitalter des Stimmzettels‘ (Z. 3f.) zusammengefasst sind, versucht Mein­ gast, seine Welterklärung unter vereinfachten Grundannahmen zu legitimie­ ren.250 Von der ersten Definition der Demokratie als ‚Zustand des ‚Man kann 249

250

Einleitend vor allem im Spiel mit dem doppelten ‚Ausdruck‘: ‚wir nennen das Demokra­ tie, aber diese ist bloß der politische Ausdruck für den seelischen Zustand des ‚Man kann so, aber auch anders‘ (Z. 1–3). Weltanschauungskonkurrenz äußert sich auch als Wettbewerb um begriffliche Deu­ tungshoheit, insbesondere wenn es darum geht, politisch wirksame Fahnen- und Stigmawörter zu besetzen. Hier stellt Meingasts Umdefinition der Demokratie eine ambitioniertere Version des Zusatz-Verfahrens dar, mit dem Leinsdorf den (wahren)

187

so, aber auch anders‘‘ (Z. 3), die mit der Indifferenz noch Entscheidungsmög­ lichkeiten impliziert, zur zweiten, die als ‚Tun, was geschieht‘ (Z. 10) solche nicht mehr vorsieht, führt Meingast metaphorisch hin. Indem der ‚Stimmzettel den sogenannten Tatsachen in die Hand‘ (Z. 6f.) gedrückt wird, erscheint die Idealisierung der Wissenschaft als freiwillige Kapitulation vor dem Empirischen verbildlicht, das in den ‚Tatsachen‘ (Z. 7) sogar personifiziert auftritt. Damit einher geht der Machtverlust des ‚wir‘, der sich bereits in der Gleichsetzung ‚Wir sind das Zeitalter des Stimmzettels‘ (Z. 3f.) angekündigt hatte. Mit der Übergabe des ‚Stimmzettels‘ gibt das bis dahin noch agierende ‚wir‘ nun sei­ ne anthropomorphen Eigenschaften vollständig an ‚[d]as Zeitalter‘ (Z. 8) ab, womit sich die eingangs verkündete Unfähigkeit zur Selbstbefreiung bestätigt. In der Bewertung dieses ‚Zeitalters‘ als ‚unphilosophisch und feig‘ (Z. 8) dis­ tanziert sich gleichzeitig der Sprecher, der zuvor durch das pluralische ‚wir‘ zumindest teilweise einbezogen war. Definitionsverfahren und Sprecherdeixis tragen in diesem Zusammenhang wesentlich zur Selbststilisierung bei. Meingast oppositioniert sich zu einem anonymen Kollektiv, dem er zwar als Zeitgenosse, nicht aber der Perspektive nach angehört. Von dieser auf den reinen Benennungsakt reduzierten Gemein­ schaft (‚wir nennen das Demokratie‘, Z. 2; die ‚sogenannten Tatsachen‘, Z. 7) hebt er sich ab, weil er eigentliche Bedeutungen aufdeckt (‚ist bloß der politische Ausdruck für‘, Z. 2; ‚heißt nichts anderes als‘, Z. 6; ‚auf das knappeste ausgedrückt, bedeutet‘, Z. 9f.). Neben der Fähigkeit, unter die begriffliche Oberfläche vorzudringen, weist außerdem der Überblick über die ‚Geschichte unserer Rasse‘ (Z. 11) samt ihrer Überprüfung auf logische Verfehlungen den Philosophen in einer ‚unphilosophisch[en]‘ (Z. 8) Zeit aus. Ohne explizit über sich selbst zu sprechen, demonstriert Meingast mit semantischer Entschieden­ heit und radikaler Bewertungssicherheit so zumindest verbal das Heldentum, an dem es einem Zeitalter mangelt, das ‚nicht den Mut [hat] zu entscheiden, was wert und was unwert ist‘ (Z. 8f.). Um weltanschauliche Gefolgschaft zu rekrutieren, reicht es jedoch nicht aus, Gewissheit zu behaupten, sie muss sich auch auf den Adressatenkreis übertra­ gen. Während Hans Sepp dazu tendiert, das Gegenüber mit seiner aggressiven Rabulistik einfach zu überrumpeln, verfolgen Arnheim und Meingast ausgefeil­ tere Persuationsstrategien, um ihre Zuhörer einzubeziehen. Angestrebt wird dabei nicht ein interaktives Aushandeln von Positionen und Überzeugungen, vielmehr versuchen beide, Rolle und Perspektive auch des Adressaten einseitig festzulegen. Zum Zweck der Rezeptionssteuerung entwerfen sie kommunika­ tive Situationen, die Dialogizität simulieren, ohne die eigene Dominanz zu

Sozialismus okkupiert. Im Versuch, den Begriffe bis zur globalen Anwendbarkeit zu überdehnen, steht Meingast außerdem der deutschnationalen Jugend mit ihrer Prägung der ‚jüdischen Gesinnung‘ nahe.

188

gefährden. Als bevorzugtes Modell zeichnet sich das auf Frage- und Antwort­ strukturen basierende Lehrgespräch ab. Ein solches gibt das Kapitel Beginnende Gegensätze zwischen alter und neuer Di­ plomatie wieder. Trotz parallelaktionistischem Streben nach Größe breitet sich im Salon Tuzzi mitunter Unsicherheit aus, ob es denn überhaupt noch etwas gebe, das man ganz wichtig und groß nennen könne, um es mit aller Kraft zu verwirklichen (vgl. MoE I, 313). In dem gepflegten Pessimismus, den Diotima hier an den Tag legt, lehnt sie sich an Arnheim an, der nun seinerseits das Problem aufgreift und anhand eines umfassenden Fragenkatalogs abarbeitet. In seiner Exposition geht Arnheim zunächst alle Bereiche durch, aus denen in Spätzeiten noch Größe zu erwarten sein könnte. Nachdem er die Frage nach der „Religion“ (MoE I, 313) – hier noch einen Einwurf Diotimas aufgrei­ fend und entkräftend – abschlägig beantwortet hat, stellt er „Nation“, „Staat“, „Wissenschaft“ und „Kultur“ lediglich rhetorisch zur Disposition und führt zur „Kunst“, die seiner Ansicht nach am ehesten „die Einheit des Daseins und seine innere Ordnung spiegeln müßte“ (MoE I, 314). Da ihm die Gegenwartskunst jedoch in höchstem Maße zersplittert scheint, bleibt schließlich nur, für die „heute Lebenden“ (MoE I, 314) insgesamt ein Epigonengefühl zu konstatieren. An eine Bemerkung zu erbaulicher Lektüre anknüpfend, mit der sich Sektions­ chef Tuzzi kurz eingeschaltet, verlegt Arnheim die Prüfung der Größe sodann ins Weltgeschichtliche. Das Frageverfahren setzt sich weiter fort, wobei es sich durchweg um Fragen handelt, die Arnheim gleich selbst beantwortet oder ohnehin nur rhetorisch in den Raum stellt: „Was kann es darum bedeuten, daß wir alles wahrhaft Große und Wesentliche in die Vergangenheit verlegen?“ (MoE I, 314f.), „wo sind heute große Herrschergestalten?!“ (MoE I, 315). Mit solchen Dialogismen strukturiert Arnheim seinen Vortrag metakommunikativ und integriert die Zuhörer scheinbar in die ‚Untersuchung‘. Die hypothetische Annahme eines „neuen Homer“ wird ihm nebenbei zum Anlass, noch die eigene Glaubwürdigkeit zu betonen: „Fragen wir uns mit letzter Aufrichtigkeit, ob wir überhaupt fähig wären, ihm zuzuhören? Ich glaube, wir müssen es verneinen“ (MoE I, 314). Auch auf das (vorläufige) Ergebnis leitet Arnheim nach dem bewährten Muster hin: „welchen Schluß haben wir also daraus zu ziehen? Keinen anderen, als daß –“ (MoE I, 315). Mit solchen Frage-Antwort-Elementen verbinden sich weitere metakommu­ nikative Einschübe, mit denen Arnheim die weltgeschichtlichen Erörterungen rahmt. So die direkt anschließende Versicherung, „daß er zaudere, es auszuspre­ chen“ (MoE I, 315), die Spannung erzeugt und den Sprechenden zudem als Verkünder unbequemer Wahrheiten erscheinen lässt, oder auch der Hinweis, „in der innersten Zone des Problems“ (MoE I, 314) zu sein. Wie an dieser Stelle mittels Aposiopese und verbalisiertem Zaudern die Schlussziehung im Ritardando inszeniert wird, ist typisch für Arnheim. Auch sonst bereitet er gerne den eigenen Sprechakt als Wagnis vor, beispielsweise mit Wendungen

189

der Art: „Ja, ich möchte sogar behaupten“ (MoE II, 10), „so möchte ich beinahe sagen“ (MoE II, 11), „Ich möchte beinahe behaupten“ (MoE II, 527). Auch sein Plädoyer für die Einfachheit dient ihm immer wieder dazu, die Vereinfa­ chungen der eigenen Argumentation zu legitimieren und ihr den Anstrich des Heroischen zu geben. Arnheim bekennt sich zur „Altvordernweisheit“ (MoE II, 10) oder verlautbart: „Die wenigsten Menschen wissen, daß das wirklich Große immer unbegründet ist“ (MoE II, 416). Aufgenommen wird das Bekenntnis zur Einfachheit in einer ironischen Verallgemeinerung des Erzählers, die in Duktus und Wortwahl deutlich vom Arnheimschen Figurentext ‚infiziert‘ ist: „Homer war einfach. Christus war einfach. Es kommen die großen Geister immer wieder auf einfache Grundsätze, ja man muß den Mut haben, zu sagen, auf moralische Gemeinplätze zurück“ (MoE II, 304). Die Gewichtigkeitsattitüde wird ebenso in den Anmerkungen deutlich, die Arnheim redebegleitend einsetzt, um explizit die Exklusivität und Bedeutung des Gesagten hervorzuheben. Etwa wenn er in direkter Ansprache Diotima vorbereitet, sie „etwas fühlen zu lassen, worauf sie als Fernestehende kaum von selbst kommen könnten“ (MoE I, 430) oder ihr versichert, „Sie würden staunen, wenn sie wüßten“ (MoE I, 432). Auch die Nicht-Information wird zur Gelegenheit, besonderes Wissen herauszustreichen. Auf die Frage Ulrichs nach den Mehrheitseignern der Lloyd-Bank gibt sich Arnheim zwar bedeckt, versäumt aber nicht einzuflechten: „Eingeweihte wissen es natürlich, aber es ist nicht üblich davon zu sprechen“ (MoE II, 526). Mit dem Engagement, das Arnheim in seiner weltgeschichtlichen Erörterung gegenüber dem Ehepaar Tuzzi beweist, kaschiert er vor allem die defizitäre Sub­ stanz seiner Rede, die ihn schließlich passenderweise auf die „Zivilisationsfra­ ge“ (MoE I, 315) bringt und in der Weltwende-Spekulation gipfelt. Das Salon‚Gespräch‘ erweist sich trotz der Fülle an Fragesätzen als hochgradig monolo­ gisch. Die drei Beiträge, die Diotima und Tuzzi insgesamt einbringen (vgl. MoE I, 314f.), stellen zwar ‚Anregungen‘ (vgl. MoE I, 314) für den Hauptsprecher dar, leiten aber keinen Dialog ein. Dass Arnheim seinen Vortrag als Frage-Ant­ wort-Spiel gestaltet und einen Metatext beifügt, erfüllt zwei Funktionen. Zum einen wird suggeriert, es bestünde eine offene Gesprächssituation, in der die Anwesenden an einer schrittweisen Annäherung an die Wahrheit beteiligt sind, während eigentlich eine Belehrung stattfindet. Zum anderen ermöglichen diese Verfahren die Selbstinszenierung des Sprechers. Der Bescheidenheitsplural, in dem die Welt befragt wird, entpuppt sich dabei als Pluralis Majestatis, insofern Arnheim das didaktische Modell nutzt, um sich als ‚aufrichtiger‘ Universalden­ ker zu gerieren, der systematisch zum Kern des Zeitproblems vorstößt.

190

Das in den Dialogismus gekleidete Weltanschauungsbekenntnis gehört zum Standardrepertoire Arnheims.251 Es ist auch noch erkennbar, wenn er unter dem Eindruck einer mittelalterlichen Engelsdarstellung emphatisch zum Aus­ druck bringt: „Was bedeutet dagegen unsere Wissenschaft? Bruchwerk! Unsere Kunst? Extreme, ohne einen vermittelnden Körper!“ (MoE II, 413). In dieser komprimierten Form kommt die rhetorische Fragekette wiederum auch bei Hans Sepp vor,252 zur Didaktisierung der Rede außerdem natürlich bei den Be­ rufspädagogen Hagauer (vgl. MoE III, 62) und Lindner (vgl. MoE III, 497f.).253 Eine ausgefallene Variante bietet Meingast. Auf seine Absage an die Demokra­ tie führt er mit einer suggestiven Fragetechnik hin, mit der er sich auf angebli­ che oder tatsächliche Aussagen Clarisses zum Fall Moosbrugger bezieht: „Wer war noch ein Zimmermann? Der Erlöser! Haben Sie das denn nicht gesagt?! Sie haben mir doch sogar erzählt, daß Sie an irgendeine einflußreiche Person deswegen einen Brief geschrieben haben?“ (MoE III, 274). Wie an dieser Stelle ist der Prophet auch später nicht auf eine Antwort aus, als er die Idee einer Zweiteilung des Menschen in ‚Sünden- und Unschuldsgestalt‘ interpretiert und erneut durch eingeschobene Fragen an Clarisse rückbindet,254 die ihm lediglich als Vorlage dienen, um über den „Tiefenvorgang der Zeitseele“ (MoE III, 280) zu referieren. Ähnlich wie Arnheim organisiert auch Meingast den dialogisch getarnten Monolog durch metakommunikative und rezeptionssteu­ ernde Anweisungen, hält inne, um zu erklären, „und das wollen wir jetzt 251

252

253

254

Vgl. auch MoE I, 431–433. Wie deutlich die Sprecherdominanz in den Arnheimschen Frage-Antwort-Spielen hervortritt, hängt vom Status des jeweiligen Gegenübers ab. Im Hause Tuzzi verbindlich vereinnahmend eingesetzt, wandelt sich die Belehrung in eine offen herablassende gegenüber Soliman (vgl. MoE II, 366–369). Am ehesten noch ein tatsächlicher Dialog, bei dem Arnheim stellenweise an den Antworten auf seine Fragen interessiert scheint, entwickelt sich im Gespräch mit Ulrich (vgl. die Aussprache, Kap. MoE II/121). Selbst in dieser Beziehung wird aber ersichtlich, dass sich das Verfahren verselbständigt hat (vgl. MoE II, 539f.). Stark hierarchisch orientiert ist auch Dioti­ mas Gesprächsverhaltens (vgl. dazu Leue: „Seelenriesin“ [Anm. 244], S. 334f.). Wie der Roman die Kommunikation aufhebt und stattdessen „zwei hermetische weltanschauli­ che Sprachen“ gegenüberstellt, beschreibt auch Schwarzwälder: Der Weltanschauungs­ roman 2. Ordnung (Anm. 10), S. 131. „[O]b es etwa einen österreichischen Mythos gebe? fragte Hans […]. Eine österreichische Urreligion? ein Epos? Weder die katholische noch die evangelische Religion sei hier ent­ standen; die Buchdruckerkunst und die Überlieferungen der Malerei seien aus Deutsch­ land gekommen; das Herrscherhaus habe die Schweiz, Spanien, Luxemburg geliefert; die Technik England und Deutschland; die schönsten Städte, Wien, Prag, Salzburg seien von Italienern und Deutschen erbaut, das Militärwesen nach dem Muster Napoleons eingerichtet worden“ (MoE II, 383). Hagauer hat die Methode zudem verinnerlicht und nutzt etwa das Surwaysche „Verfah­ ren der Knöpfe“ (MoE III, 466), um sich selbstbefragend zu prüfen und zu ordnen. Allerdings steht auch die Anwendung des Knöpfe-Verfahrens vor allem in selbstbestä­ tigender Funktion. Vgl. dazu die Analyse von Hagauers Gedankengang bei Krämer: Denken erzählen (Anm. 11), vor allem S. 209–212. „Wie haben Sie das gesagt, Clarisse?“ Oder: „Haben Sie denn nicht behauptet […]?!“ (MoE III, 280).

191

recht verstehn!“, oder stellt sicher, dass er vermeintlich Bekanntes lehrt: „Aber die Intellektualität ist, wie wir wissen, nur der Ausdruck oder das Werkzeug ei­ nes ausgetrockneten Lebens“ (MoE III, 276). Anders als Arnheim ist Meingast geradezu angewiesen auf die Inszenierung des Lehrer-Schüler-Gesprächs, um das Bild des analytisch-systematischen Theoretikers aufrechtzuerhalten. Nur in­ dem er mithilfe von Scheinfragen das Irrationale und Wahnhafte seiner Welt­ anschauung an Clarisse delegiert, kann er sich selbst als ernstzunehmenden Verkünder des Wahns präsentieren. Was den Philosophen einerseits zum mani­ pulativen „Einflüsterer am psychotischen Bewusstsein Clarisses“255 macht, kennzeichnet andererseits die Abhängigkeit des Selbstdarstellers. b) ‚Der weite Blick‘ und die ‚tieferen Gesetze‘. Zur Konstruktion einer privilegierten Beobachterposition Weltanschauungen unterscheiden sich von bloßen ideologischen Überzeugun­ gen darin, dass sie sich mit dem Anspruch verbinden, tatsächlich eine Anschau­ ung der Welt zu bieten, die eine Schauung ihrer besonderen Zusammenhänge einschließt. Auf die Aporie, die sich schon begrifflich manifestiert, „weil das Ganze der Welt gerade nicht in die Anschauung gebracht werden kann“256, reagiert die Weltanschauungsliteratur mit sprachlichen, vor allem bildsprach­ lichen Ersatzkonstruktionen, in denen zum einen das Weltganze als Objekt entworfen, zum anderen eine Beobachterinstanz so positioniert ist, dass weisge­ macht werden kann, Aussagen über dieses Objekt erfolgten von einem privile­ gierten Standpunkt aus. Solche Konstellationen versuchen auch die im Mann ohne Eigenschaften auf­ tretenden Weltanschauungsverkünder zu schaffen. Zunächst ist das an einer Sprache festzustellen, die sich als raumentwerfend und raumeinnehmend be­ schreiben lässt. Abgesehen von den vielen, insbesondere im Umfeld der Pa­ rallelaktion kursierenden ‚groß‘-Bestimmungen, die die Dimensionen an sich qualifizieren, zeigt sich das in dem Bemühen, verbal in die Höhe, Weite, Tiefe oder ins Zentrum des gerade Behandelten vorzudringen und so den Vorstellungsraum des ‚Ganzen‘ in alle Richtungen auszumessen. Das geschieht schon explizit durch Attribuierungen, die ähnlich wie der ‚der wahre‘-Zusatz funktionieren und die postulierten Wahrheiten gleichsam verorten und im Weltmaßstab erfahrbar gestalten sollen. So beispielsweise, wenn Arnheim an das „Gefühl für eine höhere Einheit“ (MoE I, 318) appelliert, sich überzeugt 255

256

192

Walter Fanta: Musils Umkodierungen. Wissenstransfer im Schreibfeld als Form der In­ tertextualität. In: Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Hg. von Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper und Karl Wagner. Zürich 2011, S. 323–344, hier S. 337. Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 94), S. 353.

gibt, dass die ‚vaterländischen Aktion‘ eine ‚Besinnung‘ auf „das Wesentliche“ erzwinge, „welches tiefer als der Verstand liege“ (MoE I, 275) oder sich mit der „innersten Zone des Problems“ (MoE I, 314) beschäftigt. Die deutschnatio­ nale Jugend sucht Vergemeinschaftung im „Wirken eines inneren Gesetzes, und das tiefste, einfachste, vollkommenste und erste ist das Gesetz der Liebe“ (MoE II, 271). Nach Hans Sepp führt zudem „das Sichöffnen“ zum „höchsten Grad einer Gemeinschaft der ganz von der Welt aufgenommenen, vollendet Ichlosen“ (MoE II, 393) und im gruppenspezifischen Wortschatz spielen „hoch­ bedeutsam, Empormenschlichung“ (MoE II, 264) ebenso eine Rolle wie „Über­ sinnlichkeit und Inbrunst“ (MoE II, 266).257 Für die Ergänzung der topologischen Ideenaufstellung durch den privilegier­ ten Beobachter berufen sich die Verantwortlichen der Parallelaktion auf die „Weite des Blicks“ (MoE I, 277, MoE II, 8f.), während Hans die auf das „Jensei­ tige“ gerichtete, „überkörperlich[]“ verstandene „Schauung“ (MoE II, 393) ver­ tritt.258 Eine Konvergenz beider Konzepte ergibt sich daraus, dass Diotima den ‚weiten Blick‘ ebenfalls über die Grenzen des Sicht- und Erklärbaren hinaus entwirft: „Dann hatte sie vom Takt der Frau gesprochen, der zuweilen eine Sehergabe sein könne und den Blick möglicherweise in weitere Fernen lenke als die tägliche Berufsarbeit“ (MoE I, 320). Dazu bietet Diotima auch eine auf das ‚Innere‘ gerichtete Variante an: „Sie sprach vom Takt der Frau, der eine Gefühlssicherheit sei und sich zu innerst an die Vorurteile der Gesellschaft nicht kehre“ (MoE I, 276f.). Die Versinnlichung dieser Vorstellung leistet in diesem Fall nicht der Blick, sondern die „Stimme“ (MoE I, 277). In der Visua­ lisierung und Lokalisierung ihrer Einfälle ist Diotima als direkte Nachfahrin Ellen Keys zu erkennen, wobei sie deren Verfahren so übereifrig anwendet, dass nicht selten unfreiwillig der Widerspruch veranschaulicht wird. Das zeigt beispielsweise Diotimas superlativischer Liebesgedanke: „Wo ein Mensch seine höchsten Möglichkeiten findet und seine reichste Kraftentfaltung erfährt, dort gehört er auch hin, […] denn dort nützt er zugleich der tiefsten Lebenssteige­ rung des Ganzen!“ (MoE II, 178). Diese Stelle hat Musil aus dem Key-Text übernommen und leicht modifiziert. Die wenigen, aber markanten Änderun­ gen und Umstellungen führen auch dazu, dass die Richtungsangaben, die im Original noch eine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung von der Seelentiefe bis zur „höchste[n] Lebenssteigerung für das Ganze“259 abbilden, bei Diotima nunmehr auseinanderstreben.

257

258 259

Meingast hingegen ist zwar mit dem „Tiefenvorgang der Zeitseele“ (MoE II, 280) befasst und weiß das rhetorisch zu beglaubigen, verzichtet aber auf den ständigen Einsatz solcher einfacheren Direktionale. Die Abkehr von der Außen- zugunsten der „Wesenschau“ (MoE II, 387) weist der Erzähler als expressionistisches Element im Ideenkonglomerat des Sepp-Kreises aus. Key: Die Entfaltung der Seele (Anm. 14), S. 678.

193

Unter Leitung der selbsternannten Seherin und ihrem adeligen Mitorganisa­ tor entwickelt sich auch die Parallelaktion zu einem verbal-optischen Großun­ ternehmen. Nach den Worten Diotimas geht es um eine Art Seelenbefreiung, „nur ins Große und Staatliche projiziert“ (MoE I, 170). Diese Projektionsauf­ gabe übernimmt Graf Leinsdorf, der sich der raumgreifenden Weltanschau­ ungsrhetorik bedient, um sein monarchisches Ordnungsprogramm abzubilden, nach dem „eine machtvolle, aus der Mitte des Volks aufsteigende Kundgebung […] eine weit vorausblickende und von einer Stelle, die einen weiten Überblick hat, also von oben kommende Einflußnahme erfordert“ (MoE I, 268f.). Taktisch subtiler geht Arnheim vor, um durch anschauliche Redegestaltung und den privilegierten Beobachter Gesprächskonstellationen in seinem Sinne zu präparieren. Bevor er Diotima die „mystische Seite[]“ des Geschäfts (MoE I, 430) erläutert, familiengeschichtlich belegt und als „Kosmos im kleinen“ (MoE I, 432) illustriert, positioniert er zuerst seine Zuhörerin als „Fernestehende“ und dann sich selbst über das „Weltgeschäft“ in eindrucksvoller Höhe einer „Stelle, auf der ich geboren“ (MoE I, 430). Besondere Über- und Einsicht ver­ spricht auch sein Billardbeispiel, auf das Stumm von Bordwehrs Blick vom Konkreten zum Abstrakten hin dirigiert wird. An die Betrachtung einer mittel­ alterlichen Bilddarstellung, mit der Arnheim dem General die Verluste der Gegenwart bedeutet – „Da sehen Sie vor sich“, „führt deutlich vor Augen“ (MoE II, 413) – knüpfen mit der zweimal eingeflochtenen Floskel „sehen Sie“ (MoE II, 413f.) optische Appelle an,260 die zur Deutschland-Österreich-Unter­ scheidung leiten. Im Anschluss an das imaginierte Billardexperiment, das diese Unterscheidung generalisiert, greift Arnheim die Linie wieder auf und bestätigt seinem Gegenüber mit „Sie sehen also wohl“ (MoE II, 415) die gelungene Veranschaulichung. Den Beweis, dass er universal gelehrt, nicht aber im engen „Blickfeld der Ge­ lehrsamkeit“ (MoE I, 440) befangen ist, tritt Arnheim bevorzugt auf historischvergleichendem Gebiet an. Gerade um die eigene Weltanschauung möglichst in den gesamtgeschichtlichen Kontext einzubinden, bedarf es der wechselseiti­ gen Beglaubigung durch Darstellung und Ich-Stilisierung. Arnheim orientiert sich dafür am Paradigma der großen Persönlichkeit. Seine im Hause Tuzzi vor­ getragene Zeitdiagnose geht nach dem Zwischenfazit „letzten Endes geschieht in der Weltgeschichte nichts Negatives“ (MoE I, 314) in eine ausladende Eva­ luation dieser Geschichte über: „Was kann es darum bedeuten, daß wir alles wahrhaft Große und Wesentliche in die Vergangenheit verlegen? Homer und Christus sind nicht wieder erreicht, geschwei­ ge denn übertroffen worden; es gibt nichts Schöneres als das Hohelied; Gotik und 260

194

Mit dieser und bedeutungsgleichen Floskeln flankiert ansonsten vor allem Graf Leins­ dorf seine Rede, sobald sie sich der bildreichen Darstellung widmet. Vgl. Kapitel MoE III/20, vor allem MoE III, 291–302, wo Leinsdorf Ulrich auf solche Weise „die großartige Perspektive, von der ich spreche“ (MoE III, 302) erkennen lässt.

Renaissance stehn vor der Neuzeit wie ein Gebirgsland vor dem Eingang einer Ebene; wo sind heute große Herrschergestalten?! Wie kurzatmig erscheint selbst die Tat Napo­ leons neben der der Pharaonen, das Werk Kants neben dem Buddhas, das Goethes neben dem Homers!“ (MoE I, 314f.)

Im Gefolge der daran anschließenden, imposant angekündigten, aber relativ unspektakulären Schlussfolgerung, bringt Arnheim dann doch noch zum Aus­ druck: „Die Zivilisationsfrage ist nur mit dem Herzen zu lösen. Durch das Auftreten einer neuen Person. Durch das innere Gesicht und den reinen Willen. Der Verstand hat nichts anderes zuwege gebracht, als die große Vergangenheit bis zum Liberalismus ab­ zuschwächen. Aber vielleicht sehen wir nicht weit genug und rechnen mit zu kleinen Maßen; jeder Augenblick kann der einer Weltwende sein!“ (MoE I, 315)

In seinem historischen Tableau überblendet Arnheim Kunst-, Religions-, Philo­ sophie-, Kultur- und Politikgeschichte auf die Leitfrage nach dem „wahrhaft Große[n] und Wesentliche[n]“ (MoE I, 315) hin. Unter diesem Erkenntnisin­ teresse können nicht mehr als subjektive Werturteile gewonnen werden, in denen sich der Gehalt von Arnheims Aussagen dann auch erfüllt. Umso pom­ pöser fällt die Präsentation des Erkenntnisprozesses aus. Wie Arnheim eine ganze Riege eindrucksvoller Bekanntheiten abhandelt und über Jahrtausende hinweg in Beziehung setzt, suggeriert einen universalen Überblick und Ord­ nungsvermögen. Die Wahl des Größenmaßstabs als einzige Vorgabe erlaubt dabei, mit recht willkürlichen Operationen nicht nur zeitlich enorme Abstände zu überbrücken, sondern auch kategorial Verschiedenes zu relationieren, mal Persönlichkeiten, mal Epochen und Zeitalter, mal Taten oder Werke. Dafür, dass dieser Umstand der weltgeschichtlichen Erklärung nicht zum Problem ge­ rät, sorgen betonte Urteilsgewissheit, Menge und Prominenz der versammelten Namen,261 aber auch die panoramatische Darstellung. In der verräumlichten Geschichte insinuiert Arnheim seine Bewertung der Größe als erfahrbaren 261

Die Reihe der Berühmtheiten, die Arnheim heranzitiert, beginnt bereits zuvor: „Dem neuen, mechanisierten Gesellschafts- und Gefühlsleben haben bereits im Anfang Stendhal, Balzac und Flaubert die Epopöe geschaffen, das Dämonium der Unterschich­ ten haben Dostojewski, Strindberg und Freud aufgedeckt“ (MoE I, 314). Bei dieser Pas­ sage handelt es sich um das einzige ausführliche, beinahe wörtliche Zitat aus Rathenaus Zur Mechanik des Geistes (vgl. Rathenau: Zur Mechanik des Geistes [Anm. 64], S. 284). Neben einigen geringfügigen Umformulierungen hat Musil Tolstoi durch Freud ersetzt. Während Howald vermutet, der Psychoanalytiker könnte unter die Schriftsteller ge­ mischt worden sein, um „die oberflächliche Belesenheit Arnheims verschärft zu zeigen“ (Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik [Anm. 9], S. 284f., Fn. 234), sieht Markner darin eine Anpassung der Figur des Gelehrten an den aktuellen Wissens­ stand (vgl. Markner: Marginalie zur Montagetechnik [Anm. 156], S. 391f.). Annehmen ließe sich auch, dass zum einen Arnheims Interesse an der Psychologie unterstrichen werden soll, die in all ihren Spielarten auch in seinen Büchern eine hervorgehobene Stellung genießt (vgl. MoE I, 341). Zum anderen bietet es sich an, den Namen Freud hier einzusetzen, um die Techniken der Diskursamalgamierung vorzuführen, weil er signalisiert, dass Arnheim bei der Aufdeckung des ‚Dämoniums‘ die unteren sozialen

195

Höhenunterschied. Wichtig ist die Stufe, die er über den geographischen Ver­ gleich installiert: „Gotik und Renaissance stehn vor der Neuzeit wie ein Ge­ birgsland vor dem Eingang einer Ebene“ (MoE I, 315). Sie wirkt als Bild noch weiter, wenn die historischen Größen nach ihrem Herrscherpotential paarweise nebeneinandergestellt werden, sodass die Pharaonen, Buddha und Homer als ‚Berg‘-Gestalten einer „große[n] Vergangenheit“ (MoE I, 315) Napoleon, Kant und sogar den verehrten Goethe überragen, die sich im neuzeitlichen Flach­ land verortet finden. Die Fokussierung der Persönlichkeit, die fast nur noch durch den bekannten Name repräsentiert ist, ermöglicht es Arnheim, ein Kul­ tur- und Zeiträume übergreifendes universalgeschichtliches Ordnungsmuster anzugeben. Ästhetisch transformiert soll der angenommene gestaffelte Nieder­ gang der Größe zugleich unmittelbar ersichtlich werden im historischen Land­ schaftsbild, das die Namensträger figurativ platziert zeigt. Den determinierten Ablauf historischer Prozesse verdeutlicht Arnheim dagegen mit Metaphern aus der Biologie. Das hatte sich schon bei der organologischen Zusammenschau von ‚Wachstumsgrenzen‘ im Geschäft und in der „Geschichte der Kunst“ sowie im „Lebens von Völkern, Kulturen und Zeiten“ (MoE I, 432) gezeigt. Ein weiteres Beispiel bieten Arnheims Ausführungen zur Geschichte der Seele, die er „seit zwei Menschenaltern“ (MoE II, 411) im Niedergang begriffen sieht: „Wie er sagte, war die Seele schon seit dem Zerfall der Kirche, also ungefähr im Beginn der bürgerlichen Kultur, in einen Prozeß der Einschrumpfung und Alterung geraten“ (MoE II, 412). In für die Vertextung von Weltanschauungen typischer Weise sind in dieser Passage Abstraktion und Pseudoempirie komplementär aufeinander bezogen. Es handelt sich um dasselbe Grundprinzip, nach dem auch Meingast mit der Einheit ‚Zeitalter‘ hantiert und die Stimmzettel-Demokratie veranschaulicht (vgl. MoE III, 274f.). Eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Philosophen be­ steht darin, dass Arnheim den Entwurf ebenfalls mit der Selbststilisierung als Sprecher verquickt. Während sich Meingast den privilegierten Standpunkt primär über seine Autorität zusichert, reklamiert ihn Arnheim deutlicher als Beobachter. Seiner wenig Optimismus verheißenden Betrachtung der Vergan­ genheit setzt er im zweiten Teil der angeführten Rede die Andeutung eines möglichen Umbruchs entgegen: „Aber vielleicht sehen wir nicht weit genug und rechnen mit zu kleinen Maßen; jeder Augenblick kann der einer Weltwen­ de sein!“ (MoE I, 315). Die forciert das Auge ansprechende Spekulation legt nahe, demjenigen, der soeben bis ins Altertum zurückgeblickt hat, auch eine entsprechend weit bemessene Sicht in die Zukunft zuzutrauen. Eine implizite Selbstbeschreibung versucht Arnheim auch zu geben, wenn er die Lösung der „Zivilisationsfrage“ mit dem „Auftreten einer neuen Person“ verbindet, die mit den unteren Bewusstseinsschichten zusammendenkt. Das würde auch zur Doppe­ lung von ‚Gesellschafts- und Gefühlsleben‘ im ersten Satzteil passen.

196

über das „innere Gesicht und den reinen Willen“ (MoE I, 315) verfügt. Als Arrangeur der weltgeschichtlichen Persönlichkeiten, so wird suggeriert, erweist sich der Vortragende würdig, im eigenen Auftritt zumindest auch als solche erkannt zu werden, wenn nicht gar in der Bestimmung, eine Epoche der neuen Größe einzuleiten. Beide Komponenten der Sprecherstilisierung, Blick und Persönlichkeit, sind über das ‚innere Gesicht‘ assoziiert, was die Weltwen­ de-Prognose zusätzlich im Licht einer prophetischen Vision erscheinen lässt.262 Die Kombination aus Zeit-Bild und persönlicher Weltanschauungsmission, kehrt auch bei Hans Sepp wieder. Obwohl dieser üblicherweise das Konzept der „Entpanzerung“ (MoE II, 390) dem der Erhebung vorzieht, gelangt er in der Diskussion mit Ulrich schließlich dennoch in Arnheimsche Spekulations­ höhen – ebenfalls über die Gebirgsmetaphorik, im vergleichenden Teil an die technische Moderne angepasst: „die ersten Seelen müßten genau so wie die ersten Flugzeuge von einem Berg abfliegen und nicht von einer Talzeit. Viel­ leicht müsse erst ein Mensch kommen, der die anderen aus ihrer Verfangenheit erlöse, ehe das Höchste gelingen könne!“ (MoE II, 402). Die Verknüpfung mit dem ergänzenden Selbstbild stellt bei Hans im Anschluss die erzählerische Introspektion her: „Es erschien ihm nicht ausgemacht, daß keinesfalls er dieser Erlöser sein könnte, aber das war seine Sache, und davon abgesehen bestritt er, daß der gegenwärtige Tiefstand imstande sei, einen hervorzubringen“ (MoE II, 402). Arnheims Überblicke stellen im Roman den ehrgeizigsten Versuch dar, Geschichte unter ausgewählten Aspekten zu vereinnahmen, nicht aber den einzigen. Dem Modell der großen Persönlichkeit, mit dem er sich ein histo­ risches Grobraster schafft, korrespondieren die Ordnungshilfen der anderen Weltanschauungsrhetoriker. Meingast orientiert sich am Begriff und verfolgt 262

Der historische Vergleich dient Arnheim grundsätzlich zur Selbstbestätigung: „Er nahm gern Vergleiche für sich aus der Geschichte, um sie mit neuem Leben zu füllen; die Rolle der Finanz in der Gegenwart schien ihm jener der katholischen Kirche ähnlich zu sein, als einer aus dem Hintergrund wirkenden, im Verkehr mit den herrschen­ den Gewalten unnachgiebig-nachgiebigen Macht, und er betrachtete sich zuweilen in seiner Tätigkeit wie einen Kardinal“ (MoE I, 317). Vgl. auch die Versöhnung des ‚Großschriftstellers‘ mit modernen Reklamemechanismen, die in einer auf Arnheim zurückzuführenden Analogiereflexion auf das „Verhältnis von Forschung und Kirche im Mittelalter“ (MoE II, 189) bezogen wird. Zur Neigung, sich mit den großen Persön­ lichkeiten zu identifizieren und in ihrer Nachfolge zu begreifen, vgl. außerdem, wie sich Arnheim als Heine-Verehrer von dessen Charakterisierung Napoleons, die „ebenso­ gut auf Goethe“ passen könnte, „geradezu […] mitbeschrieben“ (MoE II, 192) fühlt. Neymeyr weist darauf hin, dass Musil mit der Figur Arnheims den zeitgenössischen Persönlichkeitskult thematisiert, wie er nach Nietzsche insbesondere durch Langbehn und seinen Rembrandt als Erzieher (1890) popularisiert wurde. Über den Macht- und Herrschaftsanspruch, den diese Vorstellung der großen Persönlichkeit auch im Roman transportiert, lassen sich sowohl zu Langbehn als auch zu Spengler Bezüge herstellen, etwa über den Cäsaren-Typus, den beide Autoren entwerfen (vgl. Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose [Anm. 197], S. 64f.).

197

auf abstrakt intellektueller Ebene die „Wandlung des Erlösungsgedankens in der Geschichte der Völker überhaupt“ (MoE III, 277). Insoweit das auch ein­ schließt, die logischen Schlüsse in der „Geschichte unserer Rasse“ (MoE III, 275) zu prüfen, teilt er sich die Kategorie mit Hans Sepp, der allerdings bei den „großen Rassen“ nicht nach Logik sucht, sondern sie historisch nach ihrer Fä­ higkeit zum „Mythos“ (MoE II, 383) durchdekliniert. Graf Leinsdorf wiederum dienen als Anhaltspunkte geschichtsträchtige Jahreszahlen, um die herum er in vorwiegend anekdotischer Form die Habsburgertradion stiftet. Er bemüht sich um die Erzählbarkeit des Materials, entwirft etwa die österreich-ungarische als Familiengeschichte, deren harmonischer Verlauf höchstens phasenweise durch Irritationen zwischen Kaiservater und pubertierendem Volk gestört werden kann (vgl. MoE I, 271f.). Noch stärker als Arnheim ist Leinsdorf auf das Sicht­ barmachen des Historischen spezialisiert. Als „aristokratischer politisch-histo­ risch geschulter Denker“, als den ihn der Erzähler vorstellt, ist er befähigt, den geschichtlichen Prozess „wie eine aufsteigende Linie zu überblicken“ (MoE I, 271), was seine bildlich überfrachteten Darstellungen und eine ausgeprägte Rhetorik des Blicks demonstrieren.263 Die Strategien, mit denen die Figuren ihre Welt- und Geschichtstheorien veranschaulichen und narrativisieren, sind die typischen der Weltanschauungs­ literatur. Die universal ausgelegte Doppelkonstruktion von Redegegenstand und fiktivem Betrachter findet sich in allen der drei exemplarischen Referenz­ texte, am deutlichsten im Untergang des Abendlandes. Auf das Heranzitieren der großen Persönlichkeit und ihre dem eigenen Entwurf gemäße historische Verortung verlassen sich ebenfalls sowohl Key und Rathenau als auch Spengler. Der Vereinnahmung der Bekanntheiten bei Rathenau hatten schon die Anmer­ kungen eine Liste der Ausnahmen entgegengereiht.264 Im überdimensionierten Sprechen der Weltanschauungsfiguren könnte man zudem eine Umsetzung der „ungeheure[n] Verdrehung / Leichtfertigkeit in der Anwendung der Begriffe Größe, Tiefe Bedeutung, Innerlichkeit“265 vermuten, die sich Musil im Rathe­ nau-Heft notiert hatte. 263

264 265

198

Vgl. zum Beispiel MoE I, 268f., 271; Kap. MoE III/20. Während der ersten Sitzung der Parallelaktion, in der Leinsdorf diese Fähigkeit ausgiebig beweist, meldet sich auch ein Professor zu Wort, der sich ebenfalls dem „Weg der Geschichte“ (MoE I, 273) widmet, ihn in alle Blickrichtungen erkundet und Sicherheit vor allem im Rückblick entdeckt. Er wird erst später als August Lindner identifiziert (vgl. MoE II, 592). Den historischen Weg als progressiven, „mühevollen Gang“ (MoE III, 62) der Vernunfterkenntnis ent­ wirft sein pädagogischer Konkurrent Hagauer. Der Geschichte als Aktionsraum entspre­ chen auch die Selbstentwürfe, die von den ‚Christ-Germanen‘ entwickelt werden. Sie begreifen sich mal richtungslos als „[s]chweifende Wanderer“ (MoE II, 286), dann wie­ der als nach Höherem strebend: „wir sind Wanderer, die von Stufe zu Stufe schreiten“ (MoE II, 400). Vgl. auch die Ironisierung Leinsdorfscher Wanderwegverirrungen auf historischem Gebiet (MoE I, 373f.; MoE III, 303). Vgl. Musil: Anmerkungen zu einer Metapsychik (Anm. 103), S. 236. KA, Transkriptionen; Heft 2/17.

c) (Auto-)Biographische Beglaubigung aus verschiedenen Richtungen Zu den Mitteln, die Arnheim einsetzt, um eine überlegene weltanschauliche Position zu behaupten, gehört auch der explizite Hinweis auf seine Herkunft aus einer kapital- und einflussreichen Unternehmerfamilie. Das „Weltgeschäft, wie ich es durch die Stelle, auf der ich geboren, zu betreiben bestimmt worden bin“ (MoE I, 430), soll ihn ebenso für die Geist-Macht-Synthese prädestiniert erscheinen lassen. Wie Arnheim seine Zeitdiagnose mit der eigenen Lebensge­ schichte fundiert, verdeutlichen die diversen Niedergangsvorstellungen, mit denen er jeweils auf die Krise der Gegenwart hinführt. Auffällig ist dabei der Versuch, Interpretation der Weltentwicklung und autobiographische Hin­ tergrunderzählung in Einklang zu bringen. Der konstatierte weltgeschichtliche Größenschwund mit markanter neuzeitlicher Zäsur (vgl. MoE I, 314f.) findet nicht nur Entsprechung in der enger gefassten Geschichte der Seele, die „seit zwei Menschenaltern“ (MoE II, 411) zu Ende gehe. Dasselbe Schema prägt Arn­ heim auch der Geschichte des Familienunternehmens auf, die er für Diotima seit der Großvatergeneration nachzeichnet. Als ihr die Einsicht zuteil wird, dass „Geschäft und Dichtung“ über das Irrationale und Mystische „verwandt“ (MoE I, 430) sind, erfährt Diotima auch, wie das Arnheimsche Wirtschaftsimperium aus einem „Müllabfuhrgeschäft“ (MoE I, 431) entstanden ist. Diese Entwick­ lung formt der Geschäftsmann selbst rhetorisch aufwendig zu einer Drei-Ge­ nerationen-Dichtung, die mit der Erfolgsgeschichte zugleich den Verlust „des kraftvollen, einfachen, großen und gesunden Lebens“ (MoE I, 431) erzählt.266 Die Verquickung von Epigonenpose und Selbstinszenierung, die Arnheims uni­ versalhistorische Darlegungen kennzeichnet, ist hier biographisch vorkonstru­ iert. Sich in der Nachfolge des Gründergroßvaters, vor allem aber des scheinbar intuitionsbegabten und „mit einem Blick die verwickeltsten Weltverhältnisse“ (MoE I, 431) durchschauenden Vaters als unterlegen zu präsentieren, bietet ihm nichtsdestotrotz Gelegenheit, den eigenen weltbemächtigenden Blick zu demonstrieren (vgl. MoE I, 431f.).267 Lebens-, Zeit- und Weltgeschichte bilden für Arnheim verschiedene Projektionsebenen, auf denen er das Muster von Verfall, Krise und Aufbruch durchspielt, sodass die Rede von der möglichen „Weltwende“ (MoE I, 315) immer auch die Einlösung des schicksalhaften Füh­

266

267

Um das Heroische der Anfangszeit (vgl. MoE I, 432) zu unterstreichen, deklariert Arn­ heim die Müllabfuhr des Großvaters zum „Veredelungsverkehr für Abfälle“ (MoE I, 431) um. Der Erfolg des einfachen Großvaters, wird von Arnheim schon für die Folge­ generation leicht eingeschränkt: „Aber noch mein Vater erscheint als ‚Selfmademan‘“ (MoE I, 431). Wolf unterstreicht die Bedeutung der Kränkung durch den Vater für Arnheims „intellektuelle Prätention“ (Norbert Christian Wolf: Der Mann ohne Eigenschaften [1930/1932/postum]. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. von Birgit Nübel und Norbert Christian Wolf. Berlin und Boston, S. 224–S. 319, hier S. 266.

199

rungsanspruchs mitmeint, den sich ihr Verkünder zuschreibt (vgl. auch MoE II, 314f.). Eine genealogische Selbststilisierung, wie sie Arnheim betreibt, ist bei Hans Sepp und Meingast nicht festzustellen. Trotzdem werden auch ihre Weltan­ schauungen im Roman mit einer biographischen Begründung unterlegt. Für die Antisemiten um Hans stellt das biographische Element abstrahiert und kol­ lektiviert einen wichtigen Bestandteil der Rechtfertigungsstrategie dar, mit der sie gegen die „jüdische[] Gesinnung“ antreten, unter die neben vielem anderen auch „Elternmacht- und Anmaßung“ (MoE I, 501) fallen soll. Die Gruppe versteht sich als Sprachrohr einer gedemütigten Generation und transportiert die Kritik an der eigenen Zeit in der Auflehnung des entrechteten Kindes gegen die Erwachsenen. Als Anhänger des Symbolischen gibt sich Hans Sepp auch in diesem Fall zu erkennen, am biographischen Modell orientiert er sich weniger aus tatsächlichen Erfahrungen heraus, sondern weil sich über den Kampf des Kindes ein grundsätzlicher Weltanschauungsauftrag formulieren lässt: „denn dieser Kampf dauert von der Geburt bis zum Greisenalter und findet seine Beendigung erst in der Zerstörung der bürgerlichen Welt durch die Welt der Liebe“ (MoE II, 389). Als Bedeutungsträger wird das Kind deshalb in Kontrast gegen die strukturell gewalttätige Erwachsengeneration bis zur Erlösergestalt verklärt (vgl. MoE II, 387f.) und mit den gebührenden Vorbildern geweiht: „Jesus war mit zwölf Jahren sehend und hat nicht erst das Doktorat gemacht!“ (MoE II, 401). Den Verlauf von Krise und Rettung mit einem biographischen, hier generationenbiographischen zu kongruieren, dient Hans Sepp und seinen Freunden wie schon Arnheim dazu, der eigenen Weltanschauung Zeitnotwen­ digkeit und damit sich selbst Zukunftserwähltheit zu attestieren. Dass Meingast bevorzugt den entrückten Asketen mimt und die anrüchigen Teile der Weltanschauungsproduktion gerne anderen überlässt, zeigt sich auch bei der biographischen Beglaubigung. Als Jüngerin übernimmt es Clarisse, den Werdegang des ‚Meisters‘ eschatologisch zur Wandlung umzudeuten. Aus ihren Jugenderlebnissen mit Meingast und ein paar spärlichen Informationen über seine weiteren Lebensstationen konstruiert sie die „ungeheure Verwand­ lung, […] die aus dem leichtfertigen Lebemann einen berühmten Denker machte“ (MoE II, 203). Zudem bildet sie die Überzeugung aus, diesen Läute­ rungsprozess selbst ermöglicht zu haben, indem sie und Walter die Sünden des früheren Meingast übernommen hätten (vgl. MoE III, 203).268 Vom Besuch des inzwischen in der Schweiz beheimateten Philosophen erwartet Clarisse 268

200

Der Passionsweg findet sich auch bei Arnheim, allerdings im ‚großen Zusammenhang‘ auf das Nationalbewusstsein übertragen: „Wir sind in jeder Hinsicht das Volk der Mitte, wo alle Motive der Welt sich kreuzen. Bei uns ist die Synthese am dringendsten. Wir wissen es. Wir haben eine Art Sündenbewußtsein. Aber indem ich das gleich zu Anfang vorausgeschickt habe, verlangt die Gerechtigkeit auch das Zugeständnis, daß wir für die anderen leiden, ihre Fehler gleichsam als Vorbild auf uns nehmen, in gewissem Sinn für die Welt gelästert oder gekreuzigt werden, oder wie man das ausdrücken will. Und eine

sich eine neuerliche Verwandlung, die sie angeregt durch den Etymologen als „Knecht“ (MoE II, 190) heroisch dienend begleiten will. Dieser zweite Teil einer Passions- und Heilsgeschichte269 ist in den Erlösungsvisionen, in denen Clarisse sich im Zeichen Nietzsches und im Auftrag Meingasts begreift, unter anderem mit der Idee verknüpft, durch die Moosbrugger-Befreiung „Dulden und Gewährenlassen“ (MoE II, 205) zu beenden und eine neue Zeit einzuläu­ ten. Mit dem Bild des gereinigten Meisters, das die Schülerin über den biogra­ phischen ‚Wandlungsweg‘ konstruiert, arbeitet Clarisse der Wirkungsabsicht Meingasts zu, der am liebsten „Rüstungsbefehl[e]“ (MoE II, 192) erteilt, ohne in den Erlösungskampf verwickelt zu werden und sich als prophetischer Inspi­ rator inszeniert, der den Zeitenumbruch dadurch auszulösen gedenkt, dass er Clarisse ihre „Beziehung zur Geschichte des Erlösungsgedankens“ oder „ihre Mission der Führung“ (MoE III, 280) erklärt.270 An Arnheim, Sepp und Meingast wird deutlich, wie die Vermittlung von Weltanschauungen auf dem Entwurf einer Verkündergestalt aufbaut, deren Wahrheitsmächtigkeit auch biographische Hinweise verbürgen sollen. Auf die­ ses charakteristische Verfahren der Weltanschauungsliteratur setzen von den hier ausgewählten Referenzautoren sowohl Spengler als auch Rathenau, indem sie die ohnehin stattfindende Selbstdarstellung des Sprechenden durch autobio­ graphische Informationen an die Verfasserpersönlichkeit koppeln. Bei ihren fiktiven Genossen im Mann ohne Eigenschaften erscheinen die unterschiedli­ chen Formen, in denen die (auto)biographische Begründung entworfen ist, außerdem dem Organisationsprinzip der jeweiligen Weltanschauung angepasst. Arnheim, der trotz mannigfaltiger Kontakte in alle Bereiche als Einzeltheo­ retiker auftritt, grundiert auch seinen Weltanschauungsentwurf individualbio­ graphisch. In der Anlehnung an eine Generationenbiographie spiegelt sich wiederum der Bewegungscharakter der Sepp-Gruppe. Und Meingast, der als Philosoph „eine Schar von Schülern und Schülerinnen um sich versammelt“ (MoE II, 199) hat, erfährt auch die Weihung der eigenen Person aus dem Kreis der herangezogenen Adepten.271 Wie Arnheim sich einen dynastischen

269

270

271

Umkehr Deutschlands wäre wohl das Bedeutendste, was sich ereignen könnte“ (MoE II, 444). Am Aufbau Meingasts zur Heilsgestalt ist auch Walter beteiligt, der sich dabei von den scheinetymologischen Verfahren des ‚Meisters‘ leiten lässt: „‚Heil heißt doch ursprüng­ lich soviel wie ganz‘ dachte er. Und: ‚Heilbringer mögen sich irren, aber sie machen uns ganz!‘“ (MoE III, 195). Als lediglich im Hintergrund tätiger, aber sich in geheimer Mission entwerfender Strate­ ge erweist sich Meingast auch in der Andeutung einer Infiltration der Parallelaktion: „bei jenen etwas lächerlichen Beratungen, in denen die sterbende Demokratie noch eine große Aufgabe gebären möchte, habe ich schon seit langem meine Beobachter und Vertrauensleute!“ (MoE III, 279). Für diesen Sonderfall gibt es auch Beispiele in der Weltanschauungsvermittlung außer­ halb des Romans. Thomé nennt unter den „Äquivalente[n] für die schlicht erzählende Autobiographie“ auch die hagiographische Publikation aus der Anhängerschaft des

201

Hintergrund für die überragende Persönlichkeit zurechtlegt, Sepp das Kind zur Symbolfigur für den Kampf der Unterdrückten erhebt und Clarisse aus den ‚Zeichen‘ ihres Lebens den Wandlungsweg des Meisters herausliest, weist au­ ßerdem deutlich auf die Fiktionalisierungstendenzen hin, die in Weltanschau­ ungstexten generell dadurch entstehen, dass ihre Verfasser die Selbststilisierung mit dem großen Ganzen in Wechselwirkung bringen und eine stimmige Ge­ samterzählung gestalten wollen. Die bisher aufgeführten, weltanschauungsstützenden biographischen Mittei­ lungen sind jedoch nicht die einzigen, die der Roman liefert. Tritt die an­ gestrebte Wirkung dieser Darbietungen aufgrund ihrer Überzeichnung ohne­ hin höchstens beim weltanschauungsbedürftigen Teil des innerdiegetischen Publikums ein, sorgen erzählerische Informationsauswahl, Präsentation und Kommentierung bei den Figurenbiographien insgesamt dafür, dass die selbst oder unter Beihilfe entworfenen Lebenswege als idealisierende Konstruktionen kenntlich werden. Bei Arnheim erfährt man, wie es den Mann des ‚Ganzen‘ eigentlich umtreibt, den Spezialisten unterlegen zu sein, und dass es deshalb regelmäßig einer kompensatorischen Anstrengung bedarf, in der er sich ge­ danklich zum privilegierten Beobachter aufschwingt und die mentale Höchst­ leistung mit der Höherstellung qua Geburt kurzschließt: Arnheim hatte zum Beispiel oft darüber nachgedacht, daß ihn doch eigentlich jeder technische oder kaufmännische Abteilungsleiter seines Hauses an besonderem Können beträchtlich übertreffe, und er mußte es sich jedesmal versichern, daß, von einem ge­ nügend hohen Standpunkt betrachtet, Gedanken, Wissen, Treue, Talent, Umsicht und dergleichen als Eigenschaften erscheinen, die man kaufen kann, weil sie in Hülle und Fülle vorhanden sind, wogegen die Fähigkeit, sich ihrer zu bedienen, Eigenschaften voraussetzt, welche nur die wenigen besitzen, die eben schon auf der Höhe geboren und aufgewachsen sind. (MoE II, 167f.)

Außerdem finden sich von Arnheims Kindheits- und Jugenderinnerungen aus­ gehend seine Identitätskonstruktionen detailliert biographisch nachgezeichnet (vgl. Kap. MoE II/86, II/112) und psychologisch erklärt – vor allem als Kon­ fliktvermeidung angesichts eines übermächtigen Vaters, gegen dessen „Führer­ natur“ (MoE II, 118) der Sohn nicht ankommt. Der Erzähler diagnostiziert in diesem Zusammenhang die Transformation eines ursprünglich ungerichteten Liebesvermögens in die „Interessenfusion Seele-Geschäft durch Ausbildung der Dachvorstellung Königs-Kaufmann“ (MoE II, 117) oder legt in mehreren ‚Ge­ dankenschichten‘ offen, wie die geschönte Familiensaga entsteht, weil Arnheim Weltanschauungsverkünders, die an dessen Selbstdarstellung anknüpfend den zugehöri­ gen Heilsweg nachzeichnen kann: „‚Jünger‘ dichten in der Rezeption die Selbstdarstel­ lung des Ich weiter, indem sie autobiographische Hinweise in Texten, Briefen und Gesprächen nach den vorgegebenen Leitlinien zusammensetzen und ausschmücken.“ Als Beispiel für eine solche Fortdichtung verweist Thomé auf die Freud-Biographie von Ernest Jones (Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp [Anm. 94], alle Zitate S. 364).

202

das Problem der empfundenen Zurücksetzung durch einen „Doppelkunstgriff“ (MoE II, 275) löst und sich mit der Divinisierung des Vaters zugleich selbst den „Adelsbrief seiner Abstammung“ (MoE II, 275) ausstellt.272 Bezeichnend ist auch, dass der Moment in Arnheims Entwicklung, in dem er seine Weltan­ schauung ausbildet, als ein literatur-, explizit schriftsprachlicher markiert wird. Mit dem Eintritt in die väterliche Firma nach dem Studium entdeckt Arnheim „das Gedicht des Lebens“, das „gleichsam in großen Buchstaben gesetzt ist, wie immer sein Inhalt sonst beschaffen sein möge“ (MoE II, 114). In diese Phase fallen auch die ersten Publikationen Arnheims, die um das „Wort Seele“ (MoE II, 118) kreisen. Gegenläufig zur gruppeninternen Interpretation wird der im Sepp-Kreis be­ schworene Generationenkonflikt entrollt. Anhand der Familie Fischel beschrie­ ben, erhält er im Roman seine zeittypische Bedeutung dadurch, dass er gerade zur Voraussetzung hat, wofür die ‚Christ-Germanen‘ stehen: erstarkende anti­ semitische und nationalistische Ideologien sowie verdrängte Erotik.273 In den Fischelschen Konflikt hat sich Hans über Gerda, zunächst als „Hauslehrer“ (MoE II, 263), lediglich eingenistet, der ‚jugendliche‘ Leidensdruck ist bei ihm weit geringer als bei seiner Freundin (vgl. MoE I, 502). Seine Profilierung als Wortführer des unterdrückten Kindes entlarvt der Erzähler als Chimäre, wenn er einfließen lässt, dass die Tyrannei in der eigenen Familie durchaus nicht von der Elternseite ausgeht (vgl. MoE II, 388). Indem Hans am ‚Kind‘ festhält, obwohl er schon über zwanzig ist (vgl. MoE II, 388), wird der „Student, der nichts war und noch keine Aussicht hatte, etwas zu werden“ (MoE I, 499), doch noch repräsentativ, aber anders als von ihm beabsichtigt für eine perspek­ tivenlose Generation, die ihren Protest gegen die Eltern nur wieder „nach dem Muster ‚Gute alte Zeit‘“ (MoE II, 394) formuliert. Wie bei Arnheim ist auch Hans Sepps Weltanschauungsfindung als ein sprachliches Ereignis entworfen, der Erzähler merkt an, dass „die Sprache der Jugendbewegung, die damals in Schwang gekommen, die erste Sprache war, die seiner Seele zum Wort verhalf und, wie es eine rechte Sprache tun muß, von einem Wort zum andern führte und in jedem mehr sagte, als man eigentlich wußte“ (MoE II, 389). Clarisses heilsgeschichtliche Umdeutung der Biographie des ‚Meisters‘ stellt sich einerseits als Verarbeitung einer Reihe sexueller Übergriffe dar, die sie als etwa Fünfzehnjährige erlebt hat und an denen auch Meingast beteiligt war.274 Andererseits wird die ‚Logik‘, mit der Clarisse aus dem „Schwein“ (MoE II, 200) den Propheten macht, auch für einen erzählerischen Seitenhieb auf ver­ 272 273 274

Vgl. auch die Entzauberung des intuitiv begabten Arnheim senior als „alte[n] Praktikus“ (MoE II, 369). Zur Spiegelung der historischen Problematik in der psychosozialen Gerdas vgl. Wolf: Kakanien (Anm. 9), S. 698–707. Schon damals hatte sich Meingast darauf beschränkt, den aufdringlichen „Vergnügungs­ meister und Abgott aller Mütter“ (MoE II, 197) zu geben, und die sexuelle Attacke durch seinen „Bewunderer“ (MoE II, 198) Georg Gröschl besorgen zu lassen.

203

gleichbare Konstruktionen genutzt, deren Urheber nicht unter dem Verdacht stehen, einer psychotischen Wahrnehmung zu unterliegen: „Clarissens Vermutung, Walter und sie hätten die Sünden des noch unverwandelten Meingast auf sich nehmen müssen, um diesem den Aufstieg zu ermöglichen, [hatte] keine schlechtere Begründung für sich als unzählige angesehene Gedanken, die heute geglaubt werden“ (MoE III, 203). Was den Philosophen selbst angeht, erweisen sich zudem die von Clarisse so apostrophierten ‚Verwandlungen‘ als eine Folge von Ausweichmanövern, der „Entschlossenheit des Willens“ (MoE III, 278), die der Verbalheld dem Zeitalter predigt, steht hier der „Fluchtwille[]“ (MoE III, 425) gegenüber, der eigentlich sein Leben strukturiert (vgl. auch MoE II, 203; MoE III, 422). Im Mann ohne Eigenschaften wird konsequent den selbst- und fremdgestrick­ ten Werdegängen entgegenerzählt. Die Muster, nach denen Weltanschauungen durch die biographisch-stilisierte, der jeweiligen Epochendiagnose angepasste Beschreibung ihrer Genese beglaubigt werden, gibt der Roman nicht nur wie­ der, sondern legt die fiktionsinternen Fiktionalisierungen offen – dabei folgt die Entlarvung ebenfalls der Intention, die Entstehung von Weltanschauungen biographisch zu erklären und gleichzeitig als zeittypisches Denken auszuwei­ sen. Wenn, wie bei Arnheim und Sepp, der Erzähler die Weltanschauungs- zu­ gleich als eine Sprachfindung beschreibt, verdeutlicht sich darüber hinaus, dass der Roman der Vertextung dieses Denkens besondere Aufmerksamkeit schenkt. Im biographischen Entwurf lässt sich ein Scharnier zwischen Weltanschauungsund literarischem Diskurs erkennen, an dem die Narration die fiktiven Tenden­ zen des Prätextmusters ausfigurieren und demontieren kann.

4. Gefallene Engel und komische Vögel. Narrative Weltanschauungsanalyse und ‑dekonstruktion Im Mann ohne Eigenschaften übernehmen es bisweilen gerade die unreflektier­ teren Figuren, Kernaussagen des Romans zu pointieren. Diotimas Dienstmäd­ chen Rachel zieht bereits bei der konstituierenden Sitzung der Parallelaktion aus den fragmentarischen Eindrücken, die sich ihr aus der Schlüssellochper­ spektive bieten, den richtigen Schluss: „Daraus kann auch ein Krieg werden!“ (MoE II, 288).275 Das patriotische Projekt findet in dieser Zusammenkunft, wie in den folgenden, nicht zu einem Ergebnis, gießt aber die Hoffnung auf den „erlösenden Aufschwung“ (MoE I, 284) in feste organisatorische Formen. Gene­ ral Stumm von Bordwehr, der bei dieser Gelegenheit gleich dem Militärischen 275

204

Zu dieser „mise en abyme“ vgl. Axel Dunker: Soliman und Rachel/„Rachelle“. Die Kon­ struktion von Fremdheit und Identität in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. In: Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 31 (2009/2010), S. 61f., hier S. 62.

eine „bescheidene Rolle“ (MoE I, 285) verschafft, wird nach seinem Versuch, den „Zivilverstand“ (MoE II, 85) zu ordnen, schließlich zur Feststellung gelan­ gen: „Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über“ (MoE II, 242, vgl. MoE II 335). Die unbewusst prophetische Beobachterin und der naive Ideensystematiker sind hier beteiligt an einem umfassenderen diagnostischen Unternehmen, in dem der Roman verfolgt, wie Kakanien im Wechselspiel von Ordnungssehnsucht und Ordnungsversuch auf den Krieg zusteuert.276 Dabei geraten auch Weltanschauungen und ihre Verkünder in den Blick und werden auf unterschiedlichen Ebenen beleuchtet. Wie der Roman, indem er die Identitätsproblematik fokussiert, individualpsychologische Dispositionen auf eine Epochendiagnose hin perspektiviert, ist bereits eingehend erforscht. Hier erklärt sich die weltanschauliche Gewissheit als Befriedigung narzissti­ scher und Sublimierung sexueller Bedürfnisse, wobei die im Einzelnen ausge­ bildeten Regressionswünsche und Macht- oder Gewaltphantasien zeitsympto­ matische Bedeutung erhalten.277 Zugleich dient bei Musil die experimentelle Konstruktion des „Chronotopos Kakanien“278 einer literarischen Gesellschafts­ analyse, die sich der Gleichzeitigkeit von zivilisatorischer Moderne und erodier­ ten, aber weiterhin wirksamen Traditionalismen widmet (vgl. Kap. MoE I/8). Kakanien als Zeit-Raum und „Gesellschaftsgewebe“ (MoE I, 420) stellt die wi­ dersprüchlichen Konstellationen bereit, in denen die Erfahrung von Desorien­ tierung zum einen Weltanschauungsproduktion und -rezeption anregen, zum anderen ist dem fiktionalisierten Österreich-Ungarn noch im Bewusstsein sei­ nes Endes das Potential einer ‚negativen Freiheit‘ (vgl. MoE I, 51) eingeschrie­ ben, die mit der Eigenschaftslosigkeit des Protagonisten korrespondiert.279 Der Roman erzählt von „immer mehr Ordnungen und immer weniger Ordnung“ (MoE I, 101) und ironisiert an zahlreichen Beispielen das „Weltverbesserungs­ 276

277

278

279

Ordnung als Problem und Thematik des Romans rekonstruiert entlang seiner Entste­ hungsgeschichte Francesca Pennisi: Auf der Suche nach Ordnung. Die Entstehungsge­ schichte des Ordnungsgedankens bei Robert Musil von den ersten Romanentwürfen bis zum ersten Band von „Der Mann ohne Eigenschaften“. St. Ingbert 1990. Vgl. hierzu Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose (Anm. 197), ausführlich zu Arn­ heim und Diotima, S. 54–74, 270–285. Vor allem Enthüllungen sexueller Natur werden dabei denunziatorisch genutzt. So etwa, wenn der Erzähler Meingasts Homophilie „ge­ nüsslich ausbreitet“ (Wolf: Kakanien [Anm. 9], S. 594). Ebd., S. 261. Stärker auf historisch-ästhetische Strukturzusammenhänge des Romans abhebend zum Chronotopos Kakanien bereits Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktionen in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigen­ schaften“. München 1995. Vgl. außerdem Elena Hamidy: Historische Zeit im Narrativ. Maksimkor’kijs „Das Leben des Klim Samgin“ und Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Bielefeld 2017. Vgl. dazu Wolf: Kakanien (Anm. 9), S. 282–290. Die Entsprechungen zwischen Kakani­ en und der Hauptfigur sind in der Forschung bereits des Öfteren behandelt worden, vgl. zum Beispiel bereits Dietmar Goltschnigg: Die Bedeutung der Formel „Mann ohne Eigenschaften“. In: Vom „Törleß“ zum „Mann ohne Eigenschaften“. Grazer Musil-Sym­ posion 1972. Hg. von Uwe Baur und Dietmar Goltschnigg. München und Salzburg 1973, S. 325–347, vor allem S. 331f.

205

bedürfnis“ (MoE I, 222), das sich ausgebreitet und in engagierten „Vereine[n] und Gegenvereine[n]“ (MoE II, 48) institutionalisiert hat, aber in der Frage „des rechten Lebens“ (MoE I, 409) immer wieder auch Ulrichs Denken stimuliert. Für den intertextuellen Bezug zur Weltanschauungsliteratur sind die psycho­ logischen und soziologischen Erklärungsansätze, die der Roman anbietet, von Bedeutung, weil sie anzeigen, dass mit der Referenz zugleich der „hohe[] Be­ darf an ‚Weltanschauungswissen‘“280 reflektiert wird, der erst zur modernen Konjunktur der Textsorte führen konnte. Mit der Pluralität, die im Mann ohne Eigenschaften auf der Angebotsseite gezeigt und satirisch zugespitzt wird, ist da­ bei bereits die Relativierung der einzelnen Weltanschauungskonzepte verbun­ den – auf dem geistigen „Warenmarkt“ (MoE II, 146) erscheint der Geltungsan­ spruch eines Arnheim, Sepp oder Meingast ebenso berechtigt und unberechtigt wie der, den man für die „Groß-Österreichische[]-Franz-Josefs-Suppenanstalt“ (MoE I, 274) und das „Kurzschriftsystem ‚Öhl‘“ (MoE II, 52) erheben kann. Wie Ulrichs Versuch, das Chaos der Ideen zu ordnen ergibt, dass diese sich lediglich dem „Gefühlsvorzeichen“ (MoE I, 435), dem rück- oder fortschrittlichen Etikett nach unterscheiden, unter dem sie firmieren, erweist sich auch General Stumm von Bordwehrs „Ordre de bataille“ (MoE II, 92) als ein aussichtsloses Unterneh­ men, weil sich die scheinbar bestehenden, aber durchweg ineinander überge­ henden Gegensätze auch nach militärischen Gesichtspunkten nicht systemati­ sieren lassen.281 Zum einen führen diese Ordnungsversuche das dichotomische weltanschauliche Ordnungsdenken an sich ad absurdum,282 zum anderen wir­ ken sie innerhalb des Romantextes selbstironisch der Versuchung entgegen, das ‚geistig Typische‘ in eine Weltanschauungstypologie zu überführen.283 Wie 280 281

282

283

206

Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 94), S. 344. Zur Relativierung von Weltanschauungen im Mann ohne Eigenschaften vgl. auch To­ bias Gnüchtel: Narrative Argumentation. Textverfahren zwischen Literatur und Philoso­ phie. Paderborn 2016, S. 427–442. Die Darstellung von Stumms „Grundbuchsblatt der modernen Kultur“ (MoE II, 89) wurde auch schon in Verbindung gebracht mit dem Klappblatt im Untergang des Abend­ landes, auf dem Spengler seine Kulturtheorie schematisiert (vgl. Andreas Hetzel: Ästhe­ tische Welterschließung bei Oswald Spengler und Walter Benjamin. Magisterarbeit [1993]. In: Sic et Non. Zeitschrift für Philosophie und Kultur. Im Netz. [2005] [http://w ww.sicetnon.org/content/pdf/aesthetische_welterschliessung_hetzel.pdf, abgerufen am 3.11.2016], S. 125). Dennoch ist in der Forschung, vor allem im Hinblick auf die Figurenkonstellation bisweilen die Meinung vertreten worden, der Erzähler lasse seinen Protagonisten einen „‚Gang‘ durch die Kulissenwelt der Typen“ unternehmen, die im Grunde austauschbare „Funktionsträger“ seien (Peter Nusser: Musils Romantheorie. Den Haag 1967, S. 86, 42). Dagegen betont zu Recht Irmgard Honnef-Becker die bei aller ‚ideographischen‘ Prägung individuelle Figurenzeichnung (vgl. Irmgard Honnef-Becker: „Ulrich lächelte“. Techniken der Relativierung in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Frankfurt am Main 1991, S. 150). Eher befremdlich erscheint der Versuch von Gerhard Schurz, der Gegensatzstruktur, die im Roman unterlaufen wird, nunmehr mit einem tripolaren Modell beizukommen (vgl. Gerhard Schurz: Theorie der Weltanschauungen

schon bei den Figurenbiographien deutlich wurde, betreibt der Mann ohne Ei­ genschaften eine literarische Kritik der Weltanschauungen, indem er sie in ihrer Bedingtheit zeigt und auf ihre Konstruktionsprinzipien hin transparent macht. Nachvollziehen lässt sich diese Kritik besonders gut an den verschiedenen ‚Ag­ gregatzuständen‘, in denen Weltanschauungen erzählerisch dargestellt, analy­ siert und ironisiert werden: als entstehende im Übergang vom vorbewussten zum bewussten Denken, in den argumentativen und rhetorischen Mustern des Sprechens, aber auch im Schreiben von Figuren. a) Denken Ausführlich werden die mentalen Vorgänge bei Arnheim wiedergegeben, be­ schrieben und kommentiert. Relevant sind hier insbesondere die Kapitel MoE II/89, II/90, II/106 und II/112. Diese Kapitel zeigen Arnheim – vor allem wenn es um seine Beziehungen zu Diotima und Ulrich geht – in Momenten der Un­ sicherheit, wobei aus unkontrollierbaren Gefühlen und sich aufdrängenden Ge­ danken manchmal durchaus selbsteinsichtige Zwischenergebnisse entstehen.284 In seinen Reflexionen erscheint Arnheim stellenweise sogar als Komplize des Erzählers, über seine Erinnerungen an eine Künstler-Gesellschaft bei Diotima werden beispielsweise die Exaltationen der nachwachsenden Weltanschauungs­ generation aus der Perspektive des ‚Erfahrenen‘ eingeholt (vgl. MoE II, 136 –141).285 Gleichzeitig verfolgt der Erzähler jedoch auch, wie Arnheim aufkei­ mende Zweifel regelmäßig in Wohlgefallen und Selbstsicherheit auflöst, indem er seine Empfindungen während des Denkprozesses in meist vage Ideenverbin­ dungen übersetzt und dann zu Erklärungen ausformt, die weniger der Sache als dem Denkenden gerecht werden. Die Bewusstseinsberichte registrieren das Diffuse und Unausgereifte dieser Denkweise, so wenn Arnheim seiner auch im Geistigen den Moden verfallenen Gegenwart doch positive Aspekte abgewin­ nen kann, weil er „plötzlich […] die Gegend“ (MoE II, 143) findet, „wo der erlösende und diese Verwicklungen ordnende Gedanke zu suchen sei: er hing irgendwie in sympathischer Weise mit der Vorstellung gesteigerten Umsatzes zusammen“ (MoE II, 149f.). Dabei wird der ‚erlösende‘ Vorstoß ins Ungefähre belächelt als „möglicherweise angeregt von leichten Auflösungserscheinungen“ (MoE II, 149) des Verliebten. Sein innerer Konflikt bezüglich Diotima zeigt

284

285

und Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. In: Robert Musil – Ironie, Satire, falsche Gefühle. Hg. von Kevin Mulligan und Armin Westerhoff. Paderborn 2009, S. 99–123). Im Nachdenken über Diotima „überwältigte ihn das Gefühl, […] die gesamte Ideologie eines großen Mannes, die ihn erfüllte, sei nur der Notersatz für etwas, das ihm verloren­ gegangen war“ (MoE II, 108). Zu diesem in Kap. MoE II/89 wiedergegebenen Gedankengang als typischem Beispiel für die bisweilen irritierenden Assimilationen von Erzähler- und Figurentext im Roman vgl. Honnef-Becker: „Ulrich lächelte“ (Anm. 283), S. 48–51.

207

wiederum beispielhaft, dass Arnheim einen Gedanken nur soweit verfolgt, bis die aktuelle Gefühlslage befriedet ist. In der Rekapitulation eines Gespräches mit seiner Seelenfreundin verlegt er die Erfüllung seiner Liebe zu Diotima in eine hypothetisch erlöste Zeit und gibt sich dann „nicht mehr die Mühe, zu enträtseln, wie und wovon man erlösen müßte; es hätte jedenfalls alles anders sein müssen“ (MoE II, 318). Olav Krämer, der Arnheims Reflexionen über sei­ nen Vater und Ulrich (vgl. Kap. MoE II/112) eingehend analysiert, kommt auch hier zu dem Ergebnis: „Der explanatorische Wert von Arnheims Erkenntnissen über die Intuition seines Vaters und die Seele Ulrichs ist […] sehr gering oder nicht vorhanden; was diese ‚Erklärungen‘ für Arnheim attraktiv macht, ist die Tatsache, dass sie seinem Selbstwertgefühl aufhelfen“286. Die Prozesse der Erklärungsfindung sind in diesem Fall besonders auf­ schlussreich, weil sie mit zunehmender Versprachlichung gleichzeitig deutlich in der Annäherung an die charakteristische Weltanschauungsrhetorik gekenn­ zeichnet werden. So überfallen Arnheim, während er über Ulrich nachdenkt, Gefühle von „Neid und Mißbilligung“ (MoE II, 366). Die Gefahr, eine Unter­ legenheit anerkennen zu müssen, wendet er jedoch dadurch ab, dass er eine ‚Lebensweisheit‘ Goethes, die er parallel außerdem für die Belehrung Solimans nutzt, mit seinen zur „sprachliche[n] Weisheit“ (MoE II, 367) ausgebauten Assoziationen um „Ulrichs Witz“ (MoE II, 366) herum verklammert und auf diese Weise das Problem „unter einen erfreulicheren Gesichtspunkt“ (MoE II, 367) bringt. Zweifel unterlegen aber auch im weiteren Verlauf sein Sinnieren über den „Freundfeind“ (MoE II, 379). Es führt ihn allerdings schließlich in­ tuitiv, „ohne seinen Willen“ (MoE II, 378) zu der Idee, Ulrich besitze noch unverbrauchte Seele, wobei er „hätte nicht genau angeben können, was er damit meinte“ (MoE II, 379). Arnheim knüpft an das Irgendetwas, das Ulrichs noch vorhandene Seele sein könnte und ihm reichlich unklar bleibt, sodann jedoch die Erkenntnis, „daß dieses Etwas ungewöhnliche Verbindungen mit Elementen aus der Sphäre des Seelenlosen, Rationalen und Mechanischen ein­ ging, die sich nicht mehr recht zu den Kulturinhalten zählen ließen“ (MoE II, 379). Wie Arnheim diese Gedankenfolge zur Selbstbestätigung umfunktioniert, legt der erzählerische Begleittext offen: Arnheim hatte, während er das alles überlegte und sogleich der Ausdrucksweise seiner philosophischen Werke anpaßte, übrigens nicht einen Augenblick Zeit gehabt, etwas davon Ulrich als ein Verdienst, und sei es auch nur dessen einziges, zugute zu schrei­ ben, so stark war der Eindruck, eine Entdeckung gemacht zu haben (MoE III, 379).

Der Kommentar ironisiert an dieser Stelle, wie sich der Denkende während der Ausformulierung des vagen Einfalls an der eigenen Genialität berauscht. Indem Arnheim seine Intuition in die vertraute Weltanschauungsrhetorik übersetzt, verliert das Unangenehme, das sich für ihn mit dem Gedanken verbindet, an 286

208

Krämer: Denken erzählen (Anm. 11), S. 196.

Bedeutung. Die gedankliche Verschriftlichung wird vom Erzähler als Hilfskon­ struktion zur Steigerung eines Selbstwertgefühls aufgedeckt, das nur noch dem eigenen Ich ‚zugute schreibt‘.287 In der sich technisch erläuternd gebenden Anmerkung, dass Arnheim die Überlegung der ‚Ausdrucksweise seiner philoso­ phischen Werke anpasst‘, lässt sich zusätzlich ein autoreflexiver Hinweis des Erzählers mitlesen, der seinerseits mit der Anpassung der Figurenrede an das typische Rathenau-Vokabular (‚Sphäre des Seelenlosen, Rationalen und Mecha­ nischen‘) auch gleich eine seiner Quellen angibt. Obgleich der Erzähler auch bei Hans Sepp (vgl. MoE II, 398) und Meingast (vgl. MoE III, 418–424) Bewusstseinsbericht und Gedankenrede einsetzt, um die nach außen getragene Gewissheit mit der inneren Unsicherheit zu kontras­ tieren, entfaltet er ihre Denkprozesse an keiner Stelle so ausgiebig wie bei Arn­ heim.288 Dessen selbstbilderhaltendes Denken wird jedoch nicht nur en Detail demontiert, sondern auf ein Grundmodell hin bestimmt. Die Vereinbarkeit von kaufmännischer, rational organisierter Existenz und einem antirationalen seelischen Idealismus basiert auf der inneren „Arbeitsteilung“ (MoE II, 315). Diese Anlage verbindet ihn nicht nur mit Graf Leinsdorf,289 die erzählerische Allegorisierung lässt Arnheim mit der psychischen Zweiteilung die rationali­ sierte und kapitalistisch ausgerichtet Gesellschaft überhaupt personifizieren, die ihre seelisch-moralische Gewissensberuhigung ausgelagert hat an „besondere Intellektuelle, Beichtende und Beichtiger der Zeit […], Ablaßzettelexistenzen, literarische Bußprediger und Verkünder“ (MoE II, 315). In eben dieser Rolle wirkt Arnheim wiederum als Autor diverser ersatzreligöser Bücher (vgl. MoE II, 315). Die Bewusstseinsspaltung wird auch an anderer Stelle als Bedingung sei­ ner literarischen Produktion genannt und zugleich wieder als symptomatisch für eine schnelllebige Zeit ausgewiesen, in der der Besitz einer „doppelte[n] geistige[n] Persönlichkeit“ (MoE II, 121) kein Defizit darstellt, sondern die von Zweifeln befreite Kulturleistung generell „auf der Begabung gegründet ist, für bestimmte Stunden gegen seine Überzeugung überzeugt zu sein, von dem vollen Bewußtseinsinhalt einen Teil abzuspalten und diesen zu einem neuen Vollüberzeugtsein auszubreiten“ (MoE II, 121). Mit der Fähigkeit zur arbeitstei­ ligen (Selbst-)Überzeugung gehören die Denkmethoden des Weltanschauungs­ 287

288 289

Auch der Anschluss an Arnheims ‚Erkenntnis‘ zeigt, dass der Denker seinem Verfahren verpflichtet bleibt. Arnheim ist sich sicher, nun „des Widersachers Geheimnis“ (MoE II, 379) zu kennen, versteigt sich sogar noch in den Gedanken an eine Adoption, vertagt aber dann die Ausarbeitung dieses Gedankens. Wiederum ausführlicher über seine Gedankengänge porträtiert wird dagegen Professor Hagauer (Kap. MoE III/29), vgl. dazu Krämer: Denken erzählen (Anm. 11), S. 204–212. Vgl. MoE I, 154, 373, MoE III 199. Allerdings funktioniert der Mechanismus bei Leins­ dorf reibungsloser als bei Arnheim, bei dem gerade eingefangen wird, dass er manchmal versagt (vgl. MoE II, 105f., 315). Man könnte darüber hinaus auch in der Delegation des Irrationalen an Clarisse durch den Systematiker Meingast eine Variante der Arbeits­ teilung erkennen.

209

theoretikers wiederum zu den „Systeme[n] des Glücks und des Gleichgewichts“ (MoE II, 336), die der Roman vorstellt.290 Die narrative Introspektion im Falle Arnheims zeigt den Entstehungsprozess der grandiosen Synthesen, die er nach außen verkündet, obwohl er „ganz ehr­ lich niemals von dem überzeugt war, was er sagte“ (MoE II, 122), und legt damit ihre Scheinhaftigkeit und die Mängel ihrer Konstruktionsweise bloß. Der Rede vom „Geheimnis des Ganzen“ (MoE II, 308) liegt ein Denken zugrun­ de, das den Widerspruch ausblendet und diese Inkonsistenz zum Glaubensbe­ kenntnis ausmystifiziert, dabei allerdings selbst logische Automatismen ausbil­ det (vgl. MoE I, 295f.). Die grundsätzlich diagnostizierte ‚Arbeitsteilung‘ sowie die Anzeichen von ‚Arbeitsvermeidung‘, die an Arnheim nachvollzogen wer­ den, verweisen deutlich auf „eine Art des Denkens“291, die Musil an Spengler als zeittypisch exemplifiziert und schon in der Auseinandersetzung mit Rathenau als „Pseudosystematik“292 beschrieben hatte. Anders als die essayistische Kritik ermöglicht es der Roman, diese Art des Denkens über ihre Figurierung auch in tieferen Bewusstseinsschichten darzustellen, in Gedankengängen zu verfolgen und auf die Ursachen hin zu befragen. Indem sich Arnheims weltanschauliche Überzeugungen als behelfsmäßige Konstrukte erweisen, mit denen er aus einer dissoziierten die ganze und vor allem große Persönlichkeit zu formen versucht, wird zwar auch der „Schwindel in dieser Vereinigung von Kohlenpreis und Seele“ (MoE I, 451) aufgedeckt, die unwahrhafte Verbindung, die Ulrichs Aver­ sion gegen das „Muster Arnheim“ (MoE I, 280) begründet. Allerdings dient der Einblick in sein Denken und Fühlen nicht nur der satirischen Entlarvung eines Blenders, sondern zeigt auch, dass hinter dem ‚Schwindel‘ zuallererst eine Selbsttäuschung steht.293

290

291 292

293

210

Arnheim „besaß das Talent, niemals in etwas Nachweisbarem und Einzelnem überlegen zu sein, wohl aber durch ein fließendes und jeden Augenblick sich aus sich selbst erneuerndes Gleichgewicht in jeder Lage obenauf zu kommen“ (MoE I, 308). Vgl. auch Krämer: Denken erzählen (Anm. 11), S. 196, ausführlich zu Musils Konzeption solcher Gleichgewichtssysteme vgl. ebd., S. 133–137. Musil: Geist und Erfahrung (Anm. 160), S. 390. Musil: Anmerkungen zu einer Metapsychik (Anm. 103), S. 240. Vgl. auch Ulrichs Urteil über Arnheim, das dessen Denken gerade nicht aus einer grundsätzlichen Unfähigkeit erklärt und gleichzeitig auf den ‚exemplarischen Einzelfall‘ abhebt, als den ebenfalls Musil schon Rathenau und Spengler betrachtet hatte: „Er sah den von der Gunst der Verhältnisse gemästeten, vorbildlichen Einzelfall einer geistigen Entwicklung in ihm, die er haßte. Denn dieser berühmte Schriftsteller war klug genug, um die fragwürdige Lage zu begreifen, in die sich der Mensch gebracht hat, seit er sein Bild nicht mehr im Spiegel der Bäche sucht, sondern in den scharfen Bruchflächen seiner Intelligenz; aber dieser schreibende Eisenkönig gab die Schuld daran dem Auftreten der Intelligenz und nicht ihrer Unvollkommenheit“ (MoE I, 451). Mit Recht ist deshalb betont worden, dass Arnheim eine der zentralen Figuren ist, an denen der Roman die „Wurzeln des modernen Krisenbewusstseins“ beleuchtet (Mc­ Bride: „Ein schreibender Eisenkönig?“ [Anm. 156], S. 295).

b) Sprechen Die hervorgehobene Bedeutung der Sprache im Mann ohne Eigenschaften ist unverkennbar, der Roman ist „nicht nur wie jedes literarische Werk explizit sprachlich, er reflektiert vielmehr diese seine Sprachlichkeit auch durchgän­ gig.“294 Davon zeugen bereits die Kapitelüberschriften. Sie kündigen an, von „einem Staat, der an einem Sprachfehler zugrundegegangen ist“ (MoE II, 209), zu berichten, von „General Stumms Gedanken über die Wortgruppe Erlösen“ (MoE II, 328) oder von Unterhaltungen „in der Mischsprache des Grenzgebiets zwischen Über- und Untervernunft“ (MoE II, 380). Das sprachliche, fast linguistisch an­ mutende Interesse schlägt sich auch in der Darstellung und Kritik der Weltan­ schauungsreden nieder. Ihre Wirkung wird im Roman auf vielfältige Weise analysiert und gleichzeitig unterlaufen, indem der Erzählertext die ohnehin bereits in der Figurenrede stark überzeichnete Weltanschauungsrhetorik noch schärfer konturiert und ihr entgegensteuert. Eine besondere Rolle in der narra­ tiven Einbettung dieser Rhetorik spielen die Verfahren der Redemarkierung. Sie lassen sich zu den auktorialen Formen einer „Sprachregie“ zählen, die mit der Kennzeichnung figuraler Sprechakte „eine Reflexivisierung der Kommuni­ kation und der unterschiedlichen Sprechhabitus im Roman“295 bewirkt. Bei der erzählerischen Rahmung der Gedankenvorgänge Arnheims war bereits auf­ gefallen, wie solche Verfahren im Roman zum Einsatz kommen, um anhand der inneren Rede einer Figur bestimmte Denkmechanismen zu umreißen. Die Begleitung und Reflexion der gesprochenen Rede vermerkt bei den Weltan­ schauungsfiguren ebenfalls Charakteristika der Sprechweise und konterkariert gleichzeitig immer wieder die Absichten rhetorischer Selbstinszenierung.296 Die Koppelung von großräumig weltentwerfender Rede und privilegiertem Standpunkt ist am schärfsten in der Beziehung Diotima-Arnheim gezeichnet, indem das ausbleibende, aber umso ambitionierter herbeigeredete Höhenerleb­ nis mit einer Fülle an Metaphern, vor allem gebirgslandschaftlicher Herkunft ins Bild gesetzt und als Farce vorgeführt wird (vgl. Kap. MoE I/45: Schweigende Begegnung zweier Berggipfel; MoE II/105: Hohe Liebende haben nichts zu lachen). Beim Liebesdialog des Seelenpaars handelt es sich in weiten Teilen um ein „Rezitieren Maeterlincks mit verteilten Rollen“297, durch das sich Diotima und Arnheim über ihre Unfähigkeit zu leidenschaftlicher Hingabe hinweghelfen, während der Erzählerdiskurs die sexuellen Konnotationen präsent hält. Die sprachliche Sublimierungstaktik wird dabei aus den Imaginationen heraus zer­ 294 295 296 297

Arntzen: Musil-Kommentar (Anm. 5), S. 88. Martens: Beobachtungen der Moderne (Anm. 211), S. 142. Vgl. ebd. Feld: Funktionale Satire (Anm. 214), S. 317. Vgl. auch Müller: Ideologiekritik (Anm. 156), S. 12–16. Renate von Heydebrand: Zum Thema Sprache und Mystik in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 82 (1963), S. 249–271, zu Diotima und Arnheim vor allem S. 253–254.

211

legt, die sie selbst erzeugt. Das zeigt etwa die Passage, die Arnheims Reaktion auf den Gefühlstaumel Diotimas beschreibt und den verbalen Höhenausflug gleich metasprachlich konkretisiert und illustriert: „Arnheim fing sie mit gro­ ßen Sätzen auf. Er schuf Verzögerungen und Atempausen. Dann schwankte wieder das ausgespannte Netz bedeutender Gedanken unter ihnen“ (MoE II, 306). Der Kurzschluss von Bedeutsamkeit und Höhe fällt der pointierten Ironie ebenfalls anheim, wenn der Erzähler auf das Bekenntnis zur „wahre[n] Wahr­ heit“ (MoE II, 305, 308) rekurrierend berichtet, dass sich Diotima im Gedanken an Auserwähltheit „auf der so beschaffenen höchsten Höhe des Gefühls umsah“ (MoE II, 307). Auch der Hang zum monologischen Dozieren findet besondere Beachtung. Insbesondere bei Arnheim wird das „Vielreden“ (MoE II, 300) explizit in der Figurenbeschreibung, im redeeinleitenden oder -begleitenden Erzählertext,298 aber auch in komplexeren Veranschaulichungen immer wieder verdeutlicht. So schließt an die direkte Wiedergabe seiner verwissenschaftlichten Ausführungen zum Billard eine Erzählerbemerkung an, die sich auf Arnheims Techniken der Rezeptionssteuerung bezieht: „Arnheim sprach langsam und zur Aufmerksam­ keit zwingend, wie wenn aus einem Tropffläschchen etwas in ein Glas gegossen wird; er erließ seinem Gegenüber nicht eine einzige Einzelheit“ (MoE II, 415). Die bloße Beschreibung der Sprechweise markiert zunächst nur eine Konzen­ tration einfordernde und detailreiche Belehrung. Der eingefügte Vergleich mit einer tropfenweisen Medikation verbildlicht die auf Einzelheiten bedachte, langsame Vermittlung, transportiert jedoch darüber hinaus, dass diese gerade einen suggestiven Zweck verfolgt, dem Zuhörer etwas verabreichen soll, was seiner ‚Aufmerksamkeit‘ entzogen bleibt. Auch hier ist das Bedrohliche schon ironisch entschärft durch den Hinweis, dass Stumm von Bordwehr keine ‚einzi­ ge Einzelheit‘ erspart bleibt. Solche Einwürfe durchkreuzen immer wieder Arnheims weltanschauungs­ rhetorische Routine. In seine Überleitung von der Gegenwartsdiagnose zur weltgeschichtlichen Erläuterung mittels eine Homer-Vergegenwärtigung schal­ tet sich der Erzähler beispielsweise wie folgt ein: „Arnheim saß nun im Sattel und ritt“ (MoE I, 314). Der komische Effekt entsteht, weil der metaphorische Gehalt der konventionalisierten Redewendung ‚fest im Sattel sitzen‘ durch die Verkürzung, vor allem aber durch ihre Fortführung zum ‚Ritt‘ verfremdend genutzt wird. Verstärkend wirkt, dass diese Anknüpfung auch noch die Rede­ wendung ‚auf etwas herumreiten‘ assoziieren lässt.299 Als Störelement im Arn­ 298

299

212

Beispielsweise wenn Inquit-Formeln mit dem Hinweis auftauchen, dass Arnheim „ohne ihm [Ulrich, F.P.] Zeit zum Widerstand zu lassen“ (MoE II, 525) fortfährt, oder ange­ merkt wird: „Er gönnte Ulrich jetzt erst eine Pause, und sie war so, als prüfe er ihn, ob ihm nicht schon bisher etwas aufgefallen sei“ (MoE II, 525). Grundsätzlich die Bedeutung von Katachrese und Syllepse für die sprachkritischen Ironisierungsstrategien im Roman betont Martens: Beobachtungen der Moderne (Anm. 211), S. 343–368. Vgl. dazu unter dem Begriff der Remotivierung auch Katalin

heimschen Vortrags erweist sich der Erzählereinwurf aufgrund seiner Aussage, aber auch der Platzierung wegen. Schon die profane Reiter-Bildlichkeit torpe­ diert die Rede, die sich soeben weihevoll „letzter Aufrichtigkeit“ (MoE I, 314) verpflichtet hatte. Der Erzähler signalisiert aber auch, dass sich der Sprecher in ein erprobtes Muster eingefunden hat, das er nun einfach abarbeitet, und stellt einen Kontrast her zur scheinbar offenen Weltbefragung, in der sich dieser selbst inszeniert.300 Dass Arnheim bisweilen mehr damit beschäftigt ist Eindruck zu hinterlassen, als Gespräche zu führen, beobachtet das Kapitel Aussprache. Was zunächst, aus einer Ulrich angenäherten Perspektive, zumindest nahegelegt wird: „Er machte absichtlich nicht viel Aufhebens von diesem Vorschlag, im Gegenteil, er schien die billige Wirkung der Überraschung, deren er freilich sicher war, durch unbetontes und schnelles Sprechen mildern zu wollen“ (MoE II, 530),301 bestätigt sich später aus der narrativ vermittelten Innensicht Arnheims, der „das Bedürfnis“ hat, „die volle Schwere jenes Antrags nachwirken zu lassen“ (MoE II, 540). Die Fokussierung des auf Performanz ausgerichteten Sprechers unterminiert die Wirkung seiner Weltanschauungsrede, deren Abhängigkeit von Inszenierungsstrategien eigentlich im Hintergrund bleiben soll. Auch bei Meingast, dem ausdrücklich als „Schausteller“ (MoE III, 188) ein­ geführten Propheten, fließen in die Wiedergabe seines Vortrags solche Hinter­ grundinformationen ein: „Meingast machte eine Pause, um das hart gesproche­ ne Wort ‚mutig‘ wirken zu lassen“ (MoE III, 275).302 Mit der Ambiguisierung, die hier syntaktisch eintritt, weil sich ‚mutig‘ in der Infinitivgruppe sowohl als Objekt als auch adverbial verstehen lässt, ironisiert der Erzähler das insze­ natorische Engagement zudem ausgerechnet durch ein Verfahren, das der Ge­ waltprophet selbst ausgiebig gebraucht, um über die Verbalbeschwörung des Mutes gleich das eigene Heldentum zu begründen.303 Bezeichnend ist, dass

300

301

302 303

Teller: Versprachlichte Kopfgeburten. Der Fall Moosbrugger in Musils Mann ohne Eigen­ schaften [2008] (Kakanien revisited: http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/KTeller1. pdf, abgerufen am 29.6.2017), S. 2–6, vor allem S. 2. Das erzählerisch Vorbereitete folgt dann auch prompt, indem Arnheim sein geschichts­ philosophisches Credo bemüht: „Denn letzten Endes geschieht in der Weltgeschichte nichts Negatives“ (MoE I, 314). Die Erzählperspektive ist hier nicht eindeutig. Sie scheint zu wechseln zwischen einer auktorialen, die Einblick auch in Arnheims Absichten erlaubt und einer intern fokali­ sierten, die in der eingeschränkten Wahrnehmung sowie in der Wertung (‚billige Wir­ kung‘) Ulrich zuzuordnen wäre. Vertreten ließe sich aber auch, dass hier durchgehend aus der Perspektive Ulrichs erzählt wird und er Arnheim Absichten und Gewissheiten nur unterstellt. Dafür spricht auch, dass Arnheim im Anschluss „Ulrichs erstaunten Blick in keiner Weise erwidernd“ (MoE II, 530) weiterredet. Kurz danach wird die Pause erneut thematisiert: „wieder ließ Meingast seine Zuhörer einen Augenblick warten“ (MoE III, 276). Auf diese Weise wird ebenfalls Meingasts Hang zum Etymologischen vorgeführt. Cla­ risse flüstert Meingast während der Beobachtung eines Exhibitionisten den Ausdruck „[d]ieses Schwein“ zu und aktualisiert damit eine Benennung, die sie in ihrer Jugendzeit

213

auch Meingasts „Flucht“ (MoE III, 425) schließlich mit seinen eigenen Mitteln eingeleitet wird. Im Gemüsegarten-Gespräch gibt sich Clarisse auch in der Redeführung als gelehrige Schülerin des Meisters zu erkennen und wendet die suggestive Frage- und Versicherungstechnik konsequent auf seine Theoreme an, bis diese vollkommen in Doppeldeutigkeiten aufgelöst sind und der Philosoph „bei der veränderten und leidenschaftlichen Wiedergabe seiner Worte“ (MoE III, 420) erst gar nichts mehr versteht, dann die paranoide Furcht entwickelt, seine homophilen Neigungen seien erahnt worden (vgl. MoE III, 421). Meingasts Kontrollverlust im Verlaufe dieser Unterhaltung wird auch als Zusammenbruch seiner mimischen Fassade nachvollzogen (vgl. MoE III, 418– 425). Generell dient der Rekurs auf physiognomische Details und Körper­ sprachliches im Roman häufig der Kennzeichnung und Demontage von Welt­ anschauungsfiguren und ihrer Rhetorik. Auch darin zeigt sich eine „Erzählstra­ tegie, die systematisch den Neben- und Begleitumständen des Sprechens und Wahrnehmens große Aufmerksamkeit widmet“304. Schon beim noch gefestig­ ten Meingast wird im Anschluss an seine Demokratieverdammung ausführlich dargestellt, wie sich die verbal mobilisierte Gewalt erst einmal in einer recht banalen Handlung, beim Verspeisen einer Nuss entlädt und er die Belehrungen „zugunsten einer langsam kauenden Bewegung seiner Kinnbacken“ (MoE III, 275) unterbricht. Arnheims „fließende Art zu sprechen“ (MoE I, 300), die ihn befähigt, endlose Weltverhandlung im Plauderton zu betreiben und gleichzei­ tig seine Interessen zu verfolgen, fasst ein Bild, das auf Lippenbewegung und Lichtreflexe reduziert nicht nur die eigentliche Starre signalisiert, sondern auch den Inhalt seiner Rede für verzichtbar erklärt: „Arnheim lächelte, er machte Konversation. Seine Lippen spielten in der Sonne unaufhörlich auf und ab, in den Augen wechselten die Lichter wie auf einem signalisierenden Dampfer“ (MoE II, 406).305 Das Faible für intuitive Eingebungen und ‚innere Gesichte‘ bei gleichzeitigem Bemühen um die pseudoempirische Anschaulichkeit wird ebenfalls der Lächerlichkeit preisgegeben, wenn der Erzähler registriert, dass bei Arnheim solchen Darstellungen tatsächlich ein Augenschließen vorangeht

304

305

214

des Öfteren auf diesen selbst angewandt hatte. Der Erzähler merkt daher an, „das Wort durfte sonach als historisch gelten“ (MoE III, 202). Martens: Beobachtungen der Moderne (Anm. 211), S. 184. Eher allgemein bleibende Hinweise zur Körpersemiotik im Mann ohne Eigenschaften gibt Precht: Die gleitende Logik der Seele (Anm. 208), S. 196–234. Grundsätzlich zum Verhältnis von Körper und Sprache bei Musil, für den Mann ohne Eigenschaften auf Ulrich und Agathe konzentriert, vgl. auch Filippo Smerilli: Moderne – Sprache – Körper. Analysen zum Verhältnis von Körpererfahrung und Sprachkritik in erzählenden Texten Robert Musils. Göttingen 2009. Das Bild überträgt hier die Statik des Reiter-Denkmals Josephs II., das Arnheim soeben bewundert, auf den Sprecher und verfremdet gleichzeitig dessen eigene Metaphorik, mit der er zuvor das Fehlen eines „Bildungsvorbilds“ beklagt und festgestellt hatte, dass „Gefühle und Moral ohne Anker gleiten und der festeste Mensch zu wanken beginnt!“ (MoE II, 405).

(vgl. MoE II, 414). Die inszenierte Imagination findet sich auf dieselbe Wei­ se ins Komische getrieben im Falle Graf Leinsdorfs (vgl. MoE III, 290), der gemeinsam mit Diotima als Figur mithin immer wieder dazu genutzt wird, weltanschauungsrhetorische Verfahren der elaborierteren Arnheimschen Art zu travestieren. Hans Sepp ist kaum körpersprachlich in Aktion gezeigt, hier dienen verstärkt direkt physiognomische Kennzeichnungen der Denunziation des „Student[en] mit dem unreinen Teint und der umso reineren Seele“ (MoE II, 270, vgl. 384, 398). Die narrative Rahmung seiner Brachialrhetorik stellt außerdem heraus, dass Hans weniger als ernstzunehmender Vertreter der Sache, sondern zu aller­ erst in seinem Sprecherhabitus die „Kampfstellung des Kindes“ (MoE II, 389) verteidigt. In den „Wortschlacht[en]“ (MoE II, 270) im Hause Fischel fällt er mit Geschrei und durchweg aggressivem Gebaren auf (vgl. Kap. MoE II/102, II/113). Er wird als Produzent des „Wortschwall[s]“ (MoE II, 398) ausgewie­ sen, seine Tiraden unterscheiden sich jedoch qualitativ vom ästhetischen Rede­ fluss Arnheims, sie gleichen einem unreflektiert und mechanisch ablaufenden Daherbeten: „Hans spulte, bald leiernd, bald stoßend, die Augen, ohne zu sehen, vorausgerichtet, seine Glaubenssätze ab“ (MoE II, 392). Auffällig ist, dass die Rede Sepps und seiner Freunde einer besonders strengen erzählerischen ‚Sprachregie‘ unterworfen ist.306 Ihre Präsentation erfolgt hauptsächlich im diegetischen Modus, wobei die selten direkte, oftmals radikal komprimieren­ de Vermittlung mit metasprachlicher Markierung und Reflexion einhergeht. Deutlich etwa in der Wiedergabe von Hans Sepps Antwort auf die Frage Ulrichs, „wie er es mit diesem Sichöffnen und dergleichen wohl in der Ausfüh­ rung anstellen möchte“: Hans hatte dafür unermeßliche Worte; das transzendente an Stelle des Sinnenichs, das gotische Ich an Stelle des naturalistischen, das Reich der Wesenheit an Stelle der Er­ scheinung, das unbedingte Erlebnis und ähnliche gewaltige Substantiva, die er seinem Inbegriff unbeschreiblicher Erfahrungen unterschob, wie das, nebenbei bemerkt, zum Schaden der Sache und Erhöhen ihrer Würde eine verbreitete Gepflogenheit ist. (MoE II, 393)

Der abstrakte, lexemanalytische Zuschnitt des Redebeitrags lenkt hier die Auf­ merksamkeit auf die dichotomisch organisierte Begriffsakrobatik.307 Was Sepp unter ‚Sichöffnen‘ versteht – eine Vorstellung, die durchaus Ulrichs Interesse weckt –, erübrigt sich, weil seine Sprache einem Muster folgt, das den ‚Inbe­ 306

307

Vgl. zu dieser expliziten Ideologiekritik durch erzählerische Sprachregie im Roman auch Benjamin Gittel: „Niemals aber sagt ein lebendiger Mensch zu einem anderen … ‚Sei mein Erlöser!‘“ Drei Arten der Fiktionalisierung von weltanschaulicher Reflexion bei Broch, Lukács und Musil. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 135 (2016), Heft 2, S. 213–244, hier S. 235. Vgl. auch Hans Sepps ‚Aufzählung‘ (MoE II, 391). Ähnlich stichwortartig wird aus Leo Fischels Perspektive schon über die 14–tägigen Treffen der Gesamtgruppe berichtet (vgl. MoE II, 263f.).

215

griff‘ im kolossalen Begriffskonstrukt substantiviert und eine Annäherung an die zugrunde liegende Erfahrung unmöglich macht. Der Erzähler nutzt die Ge­ legenheit wiederum, dem Leser gegenüber diese Verfahrensweise als landläufig kultivierte anzuzeigen.308 Deutlich referiert der Roman an dieser Stelle auf das pseudosystematische, „erbitterte[] Ordnungsspiel“309, mit dem Musil bei Rathenau „trotz aller Mo­ dernität die Welt wieder einmal in Himmel und Hölle zerschnitten“310 gesehen hatte. Gleichzeitig scheint sich der Erzähler hier des Rezepts zu bedienen, das Geist und Erfahrung zur ‚Nacherzeugung‘ der Spengler-Kombinatorik nach einem „einfachen Schema“311 vorstellt. Dass der nach diesem Schema geführ­ te Weltanschauungsdiskurs kein Einzelfall, sondern gängige Praxis ist, stellt die narrative Vermittlung durchweg heraus. Nicht nur die Begriffsfechtereien der Sepp-Gruppe sind durch die aufs Stichwort reduzierte Wiedergabe dahinge­ hend markiert, auch bei der über Arnheims Erinnerung transportierten Debatte der ‚neuen Dichtergeneration‘ in Diotimas Salon (vgl. MoE I, 136–140) und den späteren Sitzungen der Parallelaktion tendiert die Darstellung zur Sticho­ mythie (vgl. vor allem Kap. MoE III/36–38). Bei diesen szenischen Darstellun­ gen des weltanschaulichen Pluralismus unterstreicht die narrative Technik die dem Kampf der Gegensätze zugrundeliegende strukturelle Gemeinsamkeit des Denkens und Sprechens, das sich im „allgemeine[n] Kreisen“ (MoE III, 586) ständig selbst reproduziert und Ulrich zum „Beispiel einer unendlichen Unord­ nung“ (MoE III, 611) wird. c) Schreiben Im Roman ist die Ausbildung sprachlicher Muster als Prozess der Materiali­ sierung entworfen, der mit der Niederschrift seine endgültige Verfestigung erreicht.312 Bei Arnheim wird das auch biographisch erklärt. Die Karriere 308

309 310 311

312

216

Zu den ernsthaften sowie den zahlreichen ‚ungültigen‘ Generalisierungen im Roman vgl. Martens: Beobachtungen der Moderne (Anm. 211), S. 170–185. Honnef-Becker: „Ul­ rich lächelte“ (Anm. 283), S. 122f. Die ironischen, meist aus den Figurenreden abgeleite­ ten Verallgemeinerungen lassen sich auch als dialogische Antwort des Romantextes auf die Weltanschauungsliteratur und deren Tendenz zu Generalisierung und Gewissheits­ behauptung begreifen. Musil: Anmerkungen zu einer Metapsychik (Anm. 103), S. 240. Ebd., S. 237. Musil: Geist und Erfahrung (Anm. 160), S. 404. Auf den Bezug zum Spengler-Essay weist auch Robert Krause hin (vgl. Robert Krause: Abstraktion – Krise – Wahnsinn. Die Ordnung der Diskurse in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Würzburg 2008, S. 80f.). Vgl. dazu auch die Reflexion in Kap. MoE I/62 (Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus), in dem der „potentielle Mensch, das ungeschriebene Gedicht seines Daseins“ dem „Menschen als Niederschrift“ (MoE I, 401) gegenüberge­ stellt wird.

des Weltanschauungsliteraten beginnt, als er im Schreiben den „Kompromiß“ (MoE II, 120) findet, eine Schwundform des in der Jugend unmittelbar erlebten ‚anderen Zustands‘ mit dem Macht- und Ordnungsdrang überein zu bringen, den er im Erwachsenenalter vollends ausprägt. In der jeweils aktuellen inneren und äußeren Figurenrede sind die verschiedenen Sprachlichkeitsstufen konzep­ tuell realisiert, insofern Arnheim auch denkend ‚schreibt‘ und sein Redefluss ebenso wenig zu stoppen ist, „wie man ein Buch abschließen kann, ehe darin alles gesagt ist, was zum Wort drängt“ (MoE I, 300). Der qualitative Unter­ schied bleibt als ein grundsätzlicher dennoch bestehen: im Angesicht eines Unterredners sprechend und durch dessen Person den Beziehun­ gen der Erde verbunden, würde sich Arnheim niemals so weit ausgelassen haben, aber über ein Papier gebeugt, das bereitlag, seine Anschauung widerzuspiegeln, ließ er es sich mit Freuden an einem gleichnishaften Ausdruck von Überzeugungen genug sein, die nur zum geringsten Teil fest, zum größeren ein Nebel von Worten waren, dessen einziger, übrigens nicht unbeträchtlicher Wirklichkeitsanspruch darin bestand, daß er unwillkürlich an immer den gleichen Stellen aufstieg. (MoE II, 121)

Die Ausdehnung, die zum berechenbar nebligen Aufstieg führt, setzt die „Spal­ tung des Bewusstseins“ (MoE II, 121) voraus, zum Bild für den Schreibvor­ gang wird die „Feder“ (MoE II, 120), die Arnheims Gedankens „geradezu mit gespenstischer Ergiebigkeit“ (MoE II, 121) von den seelischen zu sämtlichen Weltfragen führt.313 Sie taucht ebenfalls bei den Autoren Meingast (vgl. MoE III, 191) und Hagauer (vgl. MoE III, 469f.) sowie beim Gesellschaftsjournalis­ ten Meseritscher auf, dem Vertreter des ‚Man‘,314 und dient als verbindendes Kennzeichen einer verselbständigten Textentstehung. Dafür, die intertextuelle Auseinandersetzung mit der Weltanschauungsliteratur als eine systemreferenti­ elle zu konturieren, spricht auch, dass sie im Roman in die Reflexion von 313

314

Für eine ironische Inszenierung des weltanschauungsliterarischen Selbstläufers beim auch federlos produktiven Arnheim vgl. außerdem MoE II, 123. Dass die heterogenen Bereiche, in die er während des Schreibens gelangt, „aus unsichtbarer Quelle bestrahlt, in einer deutlichen und magisch einheitlichen Beleuchtung“ (MoE II, 121) erscheinen, lässt sich auf die ‚intuitive‘ Gestimmtheit beziehen, die sich in den scheinbar evidenten Gesamtzusammenhang übersetzt, zugleich deutet ‚unsichtbare Quelle‘ aber auch auf die typische Verarbeitung vorgefertigten Wissens hin. Bei Arnheims Beschreibungen zum „Geheimnis des Ganzen“ (MoE I, 308), so wird außerdem mitgeteilt, „glaubte er beinahe, das Überirdische an der Mantelfalte gefaßt zu haben, und ließ das auch im Text durchblicken“ (MoE I, 309). Das ‚Durchblickenlassen‘ der eigenen Erhaben­ heit lässt sich hier als Hinweis auf das verstärkte Hervortreten des Verfasser-Ichs in Weltanschauungstexten interpretieren, das auch in Geist und Erfahrung einen zentralen Anknüpfungspunkt für die parodistische Zuspitzung darstellt. Vgl. MoE III, 543. Martens sieht die „Mischsprache“ Arnheims „deutlich der Sprache der Zeitungen zugeschrieben“ (Martens: Beobachtungen der Moderne [Anm. 211], S. 147). Hier muss aber differenziert werden. Im Roman wird die Weltanschauungs­ rhetorik vor allem des ‚Großschriftstellers‘ zwar als anschlussfähig für den Massenge­ schmack und die Interessen des Journalismus ausgewiesen, aber nicht identisch gesetzt. Arnheim ist der „Mann, von dem alle Zeitungen sprachen“ (MoE I, 304) und außerdem ein „Freund der Journalisten“ (MoE II, 11), spricht aber nicht selbst wie einer.

217

Automatismen des Sprachlichen überhaupt eingebunden ist. Wie genau der Mann ohne Eigenschaften bei der Produktion von Weltanschauungstexten auch im Hinblick auf das Ergebnis die spezifischen Merkmale eines Literaturtypus akzentuiert, zeigt sich, wenn der Erzähler berichtet, wie Arnheim die ‚Seele‘ auch für seine Bücher entdeckt: Er benützte sie als einen Ausdruck für etwas, wofür er keinen anderen hatte. Hingeris­ sen von seinem Bedürfnis – denn er war ein Redner, der nicht leicht einen anderen zu Worte kommen ließ; späterhin, nachdem er von dem Eindruck, den er in anderen zu erregen fähig war, Kenntnis genommen hatte, auch immer häufiger in seinen Schriften – brachte er die Rede auf sie, als wäre ihr Dasein so sicher anzunehmen, wie man das des Rückens voraussetzt, obgleich man ihn nicht sieht. Es faßte ihn eine wahre Lei­ denschaft, in dieser Weise von etwas Ungewissem und Ahnungsvollem zu schreiben, das in das Allzugewisse der Weltgeschäfte verflochten ist wie ein tiefes Schweigen in lebhafte Worte; er leugnete nicht den Nutzen des Wissens, ja im Gegenteil, er machte selbst Eindruck durch sein emsiges Zusammentragen, wie es nur ein Mann vermag, dem dazu alle Mittel zu Gebote stehn, aber nachdem er diesen Eindruck gemacht hatte, erklärte er, daß sich über dem Bereich des Scharfsinns und der Genauigkeit ein Reich der Weisheit befinde, das nur noch seherisch erkannt werden könne; er beschrieb den Willen, der Staaten und Weltgeschäfte gründet, um verstehen zu lassen, daß er bei aller Größe nichts sei wie ein Arm, der von einem im Unsichtbaren schla­ genden Herzen bewegt werden muß; er erklärte seinen Zuhörern die Fortschritte der Technik oder den Wert der Tugenden in der allergewöhnlichsten Weise, wie es jeder Bürger sich vorstellt, um aber hinzuzufügen, daß solcher Gebrauch der Natur- und Geisteskräfte doch nur verhängnisvolle Unkenntnis bleibe, wenn man nicht ahne, daß sie die Erregungen eines Ozeans sind, der tief unter ihnen liege und von den Wellen kaum geritzt werde. Und er trug solche Äußerungen im Stil von Erlassen des Statthalters einer vertriebenen Königin vor, der seine Weisungen von ihr persönlich empfangen hat und die Welt nach ihnen ordnet. (MoE II, 118f.)

Diese Passage lässt sich als eine prononcierte Beschreibung und Kritik der Textsorte Weltanschauungsliteratur lesen. Eine unbestimmte, vage Idee, hier die Seele, wird zum übergeordneten Gedanken, auf den hin sich alle Sehnsüch­ te versammeln. Absichernd greift der Verfasser auf vorhandene Wissensbestän­ de zurück und demonstriert in der Kompilation des ‚emsig Zusammengetra­ genen‘ umfassende Bildung. Das angehäufte gesicherte Wissen dient jedoch lediglich legitimatorischen Zwecken, es schafft den nötigen ‚Eindruck‘, unter dem der ‚seherische‘ Vorstoß ins Spekulative und Metaphysische stattfinden kann. Pseudoempirische Darlegungen (‚als wäre ihr Dasein so sicher anzuneh­ men, wie man das des Rückens voraussetzt‘315) werden durch den Einsatz ästhe­ tischer Mittel plausibilisiert (Organismusanalogie, Ozean-Metapher) und der Sprechende verkündet seinen Entwurf im Duktus der Gewissheit, die Ordnung des Weltganzen in höherem Auftrag vorzunehmen. 315

218

Vgl. dazu auch die Erzählerreflexion über den Seelenbegriff im Kapitel MoE I/45. Dort wird auch das Gefühl der ‚halben‘ Existenz und die Liebe als Möglichkeit einer Vereini­ gung der Seelen „sozusagen dos à dos“ (MoE I, 293) beschrieben, woran der seltsam klingende Rücken-Vergleich bei Arnheims Seelenschrifttum anschließt.

Insbesondere an der Figur des Paul Arnheim verdeutlicht sich, wie der Roman im Erzählen von Weltanschauungen über das Aktualisieren und Iro­ nisieren eines literarischen Musters hinaus versucht, die Bedingungen seiner Entstehung zu klären. Komplementär gerät dabei auch die Rezeptionsseite in den Blick, auf der neben dem Kritiker Ulrich die Figuren stehen, bei denen Weltanschauungsschriften gerade den erwünschten Eindruck hinterlassen. So bei Ulrichs Jugendfreund Walter, einem der vielen Leser, die das Arnheimsche Werk findet: „Einwandfreie Wissenschaft, aber zugleich auch über das Wissen hinaus!“ (MoE I, 342). Wie dieses Mehr-als-Wissen Popularität gewinnt, weil es Seelenlebenshilfe in unsicheren Zeiten verspricht, führt der Roman satirisch an der Salonidealistin vor, die in der Hoffnung auf Erlösung aus dem zivili­ satorischen Unbehagen die „prophetischen Bücher“ (MoE I, 162) geradezu verschlingt. Bei ihr fällt auch der weltanschauungsliterarische Leserappell zur Nachfolge auf fruchtbaren Boden, nach dem Wechsel von der seelen- zur sexu­ alwissenschaftlichen Lektüre geht sie dazu über, ihre Ehe „als Wissenschaft und Kunst“ (MoE III, 357) zu betrachten und wirbt sich mit Bonadea selbst eine Schülerin an. Gleichzeitig verweist der Mann ohne Eigenschaften mit der Pa­ rallelaktion und dem Philosophen Meingast auf die politische Brisanz der wis­ senschaftlich-literarischen Mischvertextung im Zeichen „feierlicher Unschärfe“ (MoE I, 95). Sie eignet sich nicht nur zur seelischen Erbauung, sondern auch dazu, „der starke[n] Hand“ das „schöne[] Wort“ (MoE III, 577) zu liefern und den geistigen „Rüstungsbefehl“ (MoE III, 192) auszugeben. Die magisch bewegte ‚Feder‘, die sowohl Bedürfnisse des Schreibenden als auch der Zeit befriedigt, ist als Bild Teil einer der „dynamischen Metaphern­ konstellationen“316, durch die Figuren und Beziehungen im Roman erzähle­ risch konnotiert werden. Für die Weltanschauungsthematik, bei der sich viele Bildfelder überlagern, ist die Flügel-Metaphorik von besonderer Bedeutung und findet sich in ganzer Bandbreite vom Vogel bis zum Engel zur Figuren­ charakterisierung in meist pejorativer Absicht genutzt.317 Auch in gesellschaftli­ 316

317

Martens: Beobachtungen der Moderne (Anm. 211), S. 131. Zu Metapher und Vergleich im Mann ohne Eigenschaften vgl. die instruktive Studie von Benjamin Biebuyck: „Ein inniges Ineinander von Bildern“. Versuch einer Valenzumschreibung von Verbalmeta­ phorik und indirektem Vergleich im ersten Buch von Robert Musils Der Mann ohne Ei­ genschaften. In: Musil anders. Neue Erkundungen eines Autors zwischen den Diskursen. Hg. von Gunther Martens, Clemens Ruthner und Jaak De Vos. Bern 2009, S. 170–210. Hans Sepp ist sowohl „Schmutzfink“ (MoE II, 401) als auch „liebessüchtige[r] Engel“ (MoE II, 496), die christ-germanische Bewegung, der er angehört, verbindet sich mit Bil­ dern des Schwarms und des Nestbaus (vgl. MoE I, 328, 493, MoE II, 387). Meingast wird mit einem „Adler“ (MoE III, 197, 268) verglichen und als nietzscheanischer „Sendbo­ te[]“ apostrophiert, „der sich aus Zarathustras Bergen“ (MoE III, 196) niedergelassen hat. Ebenfalls herabgesenkt zu haben scheint sich Arnheim, den der Erzähler als „Händler mit goldenen Engelsflügeln“ imaginiert und ironisch an die seelischen „Flügelspitzen“ (MoE II, 17) Diotimas bindet, die selbst bisweilen von Ulrich das Etikett ‚Huhn‘ (vgl. MoE I, 147, MoE II, 409) verliehen bekommt. Professor Hagauer fühlt sich wiederum

219

chen Zusammenhängen taucht sie auf. Die Kommunikationsprobleme der ers­ ten Sitzung der Parallelaktion erscheinen dem Erzähler etwa vergleichbar mit denen eingesperrter „Vögel von verschiedener Herkunft und Sprache“ (MoE I, 272), und eine Reflexion über die veränderte Bewertung des Denkens kommt zu dem Schluss, man habe in der Gegenwart „für hochfliegende Gedanken eine Art Geflügelfarm geschaffen, die man Philosophie, Theologie oder Literatur nennt“ (MoE II, 67). Überlegungen werden außerdem zur ‚beflügelnden‘ Wir­ kung von „Ungenauigkeit und Gleichnishaftigkeit“ (MoE I, 218) oder zur Ana­ logie von „Ichbautrieb“ und „Nestbautrieb der Vögel“ (MoE I, 403) angestellt. Die Metaphernkonstellation schafft im Romantext Verbindungen zwischen den verschiedenen Figuren mit ihren Sehnsüchten nach dem „erlösende[n] Aufschwung“ (MoE I, 364f.) und einer weltanschaulichen Heimat. Dabei dient sie auch der ironischen Demontage von Scheingewissheiten und ihren Verkün­ dern. Die Flügel-Bildlichkeit erinnert an die Persiflage auf Rathenaus weltan­ schauungsliterarischen Höhenflug, die Musil in seinen Aufzeichnungen zur Mechanik des Geistes entwirft, in der doppelten Möglichkeit von Engel und Ge­ flügel aber insbesondere an die Behandlung Spenglers, den „philosophischen Engel“, den Geist und Erfahrung stellvertretend für alle anderen „in teilweise gerupftem Zustand“318 vorführt. Die fiktionale Weltanschauungskritik wieder­ um kennzeichnet, dass bei allem Spott, mit der hier noch der engelhafte Pol der beflügelten Skala bedacht wird, auch Ulrich und seine Utopie der „[s]era­ phische[n] Liebe“ (MoE III, 348) mit ihr verbunden sind.319 d) Ulrich als Weltanschauungssucher mit sprachlichen Hemmungen Ulrich tritt als analytisch-ironischer Kritiker der Weltanschauungsverkünder und ihrer Rhetorik auf. Er hat ihnen ein geschärftes Bewusstsein um die Proble­ matik absolut gesetzter Wahrheit voraus, was eine vorschnelle Identifikation mit entsprechenden Angeboten, die ihn umgeben, verhindert. Die Forschung hat bereits früh herausgestellt, dass dennoch zahlreiche Affinitäten zwischen Ulrich und den anderen Figuren bestehen, gerade auch zwischen ihm und seinen ‚Gegnern‘, unter denen Arnheim der wichtigste ist.320 Neuere Arbeiten haben das Profil Ulrichs weiter differenziert und konnten beispielsweise zeigen,

318 319

320

220

kraft persönlicher Bedeutung seinen Arbeitsplatz, die Schule ‚beflügeln‘ (vgl. MoE III, 461f.). Musil: Geist und Erfahrung (Anm. 160), S. 398. Vgl. auch das Gespräch zwischen Diotima und Ulrich über die ‚seraphische Liebe‘ und die Möglichkeit Ulrichs, ein „Erzengel“ zu sein, Kap. MoE II/101, zitiert MoE II 252, vgl. 260. Zu den Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den Figuren vgl. bereits Gerhart Baumann: Robert Musil. Eine Vorstudie. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 34, N. F. 3 (1953), S. 292–315. Kühn: Analogie und Variation (Anm. 57). Für eine streng struktura­ listisch verfahrende Untersuchung vgl. außerdem Jelka Schilt: „Noch etwas tiefer lösen

dass die These relativiert werden muss, die intellektuelle Distanz des Protago­ nisten begründe seine uneingeschränkte Überlegenheit, andere Figuren, etwa „Graf Leinsdorf, Diotima und sogar Arnheim dürfen ab und zu etwas Richtiges sagen“321 – auch über Ulrich. Er ist mithin ebenfalls der erzählerischen Ironisie­ rung unterworfen, die in diesem Fall allerdings subtiler stattfindet und nicht in der Funktion einer diskreditierenden Enthüllung steht.322 Mit vielen seiner Zeitgenossen verbindet Ulrich vor allem das Bemühen, eine selbst und für die Gegenwart erfahrene Krise zu überwinden. Seine Versuche, in der Beziehung zu Agathe eine Synthese von ‚Ratio und Mystik‘ durch den ‚anderen Zustand‘, das „Grunderlebnis einer veränderten Weltsicht“323 zu errei­ chen, rücken im zweiten Buch des Romans in den Mittelpunkt. Wie Friedrich Vollhardt anmerkt, verfügt gerade auch der ‚Mann ohne Eigenschaften‘ über das „Set von Eigenschaften“324, mit dem typischerweise das sprechende Ich in Weltanschauungstexten ausgestattet ist. Auf die Verbindung von Wissenschaft­ lichkeit und Sehnsucht nach dem mystischen Erleben führt bei ihm eine bio­ graphische Laufbahn hin, die mit den „drei Versuchen, ein bedeutender Mann zu werden“ (MoE I, 52) das Schema von Lebenskrise und Errettung andeutet und ideale Voraussetzungen bietet, den Protagonisten das an den anderen Figuren satirisch entlarvte Weltanschauungsprogramm auf höherem Niveau reproduzie­ ren zu lassen.325 Dass Ulrich dennoch nicht zu einem besseren Arnheim wird, macht Voll­ hardt vor allem am analytisch-mathematischen Denken der Hauptfigur und einer nicht-hierarchisierten, aber bewusst organisierten Verteilung der Wahr­ nehmungsperspektiven fest.326 Diese Argumentation überzeugt, kann aber noch ergänzt werden. In der intertextuellen Referenz auf die Textsorte Weltan­

321

322

323 324 325

326

sich die Menschen in Nichtigkeiten auf “. Figuren in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Bern 1995. Rosmarie Zeller: Musils künstlerische Lösungen zur Darstellung der Krise des Wertsys­ tems und der Ideologie in der Moderne. In: Musil an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Internationales Kolloquium Saarbrücken 2001. Hg. von Marie-Louise Roth und Pierre Béhar in Zusammenarbeit mit Annette Daigger. Bern 2005, S. 66. Zu Arnheim als Kritiker Ulrichs vgl. insbesondere McBride: „Ein schreibender Eisenkönig?“ (Anm. 156), S. 287–299. Vgl. Martens: Beobachtungen der Moderne (Anm. 211), S. 138–142. Arntzen konstatiert eine ‚dialektische‘ Satire mit selbstsatirischen Elementen (vgl. Arntzen: Satirischer Stil [Anm. 216], S. 194–201). Pekar: Robert Musil (Anm. 48), S. 142. Vollhardt: „Welt-an=Schauung“ (Anm. 11), S. 517. Inwiefern Ulrichs erzähltes Leben dem typischen biographischen Modell weltanschauli­ cher Klärung entspricht, diskutiert auch Brasch. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Musil das Schema bei seinem Protagonisten nicht aufgehen lässt, sondern Phasen wiederholt und ineinander setzt, sodass sich keine Klärung, aber eine „eine potentielle Endlosigkeit des Erzählens“ über den Klärungsversuch ergibt (vgl. Brasch: „Ich glaube, ich finde nicht mehr zum Anfang zurück“ [Anm. 10], S. 607–610). Vgl. Vollhardt: „Welt-an=Schauung“ (Anm. 11), S. 518–525.

221

schauungsliteratur entsteht das kritisch-dialogische Moment im Roman auch aus einer besonderen Sprachsensibilität heraus. Das Sprechen Ulrichs und das der Weltanschauungsfiguren nähern sich stellenweise an. Entweder wenn Ul­ rich im Gespräch mit Diotima plötzlich erkennen muss, dass diese „genau so redet wie ich“ (MoE II, 409), oder umgekehrt, indem er selbst in den univer­ salwissenschaftlich belehrenden Duktus Arnheims überwechselt (vgl. MoE I, 464f.) beziehungsweise die verzerrte, seiner eigenen aber nicht unähnliche Idee Hans Sepps von der entgrenzten Liebe reformuliert (vgl. MoE II, 395f.). Dabei wird jeweils ein sprachlicher Vorbehalt aktiviert, der bei Ulrich einerseits zu gesteigerter Aggressivität und entsprechenden Entwertungen führt,327 anderer­ seits zu bemüht wirkenden Vergewisserungen, Arnheim „nachgeäfft“ (MoE I, 465) oder „spöttische Einwände […] wie ein Parodist“ (MoE II, 398) eingefloch­ ten zu haben.328 Ulrich ist durchaus der unverkrampft spottenden Imitation der Sprachen seiner Umwelt fähig. Gleichzeitig verdeutlicht sich jedoch auch, wie die Abgrenzung gegen Weltanschauungskonzepte, die dezidiert über das Sprachliche stattfindet, ein umso ernsthafteres Problem darstellt, je näher er diese der eigenen Utopie kommen sieht. Mit dieser Sprachsensibilität wird Ul­ rich zum einen Kritiker der Weltanschauungsrhetorik und kennzeichnet etwa den sich in der Parallelaktion ausbreitenden ‚der wahre‘-Zusatz in der rein katalysatorischen Funktion, „die Geschehnisse in Gang“ (MoE I, 211) zu setzen. Zum anderen wird ihm das Kritisierte zum Korrektiv für seine eigene Suche nach Authentizität, die gerade auch eine nach den „echten Sätzen“ (MoE I, 191) ist. Die Annäherung an das ‚mystische‘ Sprechen im Dialog der Geschwister steigert sich dabei zu einer grundsätzlichen Sprachskepsis, einer „Sprachnot“329, die ungelöst bleibt. 327

328

329

222

„Ulrich wütete im geheimen, aber eigentlich war er tief erschrocken. So weit ist es also gekommen, daß dieses Riesenhuhn genau so redet wie ich?“ (MoE II, 409). „Ihn beflügelte eine unterdrückte Wut […]. Es gehört eine sonderbar gehobene, leicht bren­ nende Stimmung dazu, so zu sprechen, und die Ulrichs befand sich zwischen ihr und dem Anblick Hans’, mit seinem fett gesträubten Haar, der schlecht gepflegten Haut, den häßlich eindringlichen Bewegungen, dem Wortschwall, in dessen Geifer doch ein Schleier von etwas Innerstem hing, das wie vom Herzen gezogene Haut war“ (MoE II, 398). Im Fall der Annäherung an Arnheim erfolgt von Seiten Ulrichs nur die die Versicherung, dass dieser „ganz und gar das Gegenteil“ (MoE I, 466) von ihm sei. Außergewöhnlich deutlich ist hier zugleich die Ironisierung Ulrichs durch den Erzähler. In der Reaktion, die Ulrich besonders stark bei Hans Sepp zeigt, lässt sich eine Pa­ rallele zum Rathenau-Essay erkennen, in dem auf die Neuformulierung des ‚mystischen Grunderlebnisses‘ im Anschluss an Rathenau ebenfalls fast reflexartig die Polemik folgt (vgl. Musil: Anmerkungen zu einer Metapsychik [Anm. 103], S. 237–239). Honnef-Becker: „Ulrich lächelte“ (Anm. 283), S. 168. Zum Sprechen über den ‚anderen Zustand‘ vgl. ebd., S. 168–188. Vgl. außerdem Heydebrand: Zum Thema Sprache und Mystik (Anm. 297), S. 249–271. Zur konstitutiven Sprachlichkeit des ‚anderen Zustan­ des‘ vgl. auch Tewilt, Gerd-Theo Tewilt: Zustand der Dichtung. Interpretationen zur Sprachlichkeit des „anderen Zustands“ in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Münster 1990.

Dass Ulrich ebenfalls eine mit Ironie betrachtete Figur ist, zeigt sich unter anderem darin, dass ihn der Erzähler manchmal in von ihm selbst unbemerk­ ten Momenten sprachlicher Verwandtschaft zeigt.330 Auch für den Romantext insgesamt kann der Bezug zur Weltanschauungsliteratur in einer Korrektiv­ funktion gesehen werden. Mit der satirischen Entlarvung eines Vertextungs­ musters, das aus Wissenschaft und Literatur scheinbar höhere Wahrheit gene­ riert, erschwert es sich der literarische Interdiskurs zugleich erheblich, selbst absolute Gewissheit auszubilden. Insbesondere weil das dichte Netz an Verwei­ sungen, das der Mann ohne Eigenschaften aufspannt, die Weltanschauungsrheto­ rik stets präsent hält. Durch die damit entstehende gegenseitige Relativierung von Wahrheitsansprüchen, erscheint es auch für den Erzähler weniger drän­ gend als für Ulrich, den sprachlichen Vorbehalt immer wieder neu zu bestäti­ gen, sondern eher möglich, Grenzen zu verwischen, etwa in der Interferenz von eigenem und Figurentext. Ein Anzeichen dafür, dass bei der erzählerischen Integration der Weltanschauungsliteratur Analyse und Kritik im ironisch-spie­ lerischen Dialog stattfindet, kann man auch darin erkennen, dass sich der Roman mit der Parallelaktion das Textsortenmuster, auf das er sich bezieht, sozusagen auch noch in institutionalisierter Form einschreibt. Als „wahre Erfin­ dung“ (MoE I, 133) Graf Leinsdorfs ist die Fiktion in der Fiktion mit einem Au­ tor ausgestattet, der das vaterländische Projekt von einem „großen Gedanken ergriffen“ entwirft, der ihm gleichzeitig alles in „heller Evidenz“ (MoE I, 136) zeigt. Die straffe, nach Weltgesichtspunkten geordnete Ausschuss-Hierarchie organisiert eine heterogene Versammlung, deren Mitglieder aus Politik, Wis­ senschaft, Kunst und Gesellschaft sich lediglich im monotonen Kreisen um die ‚große Idee‘ treffen. Humanitär pazifistische und völkisch autoritäre Elemente gehen schließlich ineinander über in der Weltanschauungsmaschinerie, die mit der „Parole der Tat“ (MoE III, 178) nur noch den bloßen Handlungsappell produziert.

5. Zwischenresümee Die Untersuchung hat gezeigt, dass der Mann ohne Eigenschaften in einer intertextuellen Beziehung zur Weltanschauungsliteratur steht. In den Reden Arnheims, Hans Sepps und Meingasts lassen sich die konstitutiven Merkmale des Texttyps nachweisen. Als Sprecher demonstrieren sie das ihnen jeweils verfügbare Wissen und organisieren es auf übergeordnete Ideen hin, wobei die mangelnde argumentative Konsistenz mit rhetorischen Mitteln kaschiert wird. Mit Blick auf Musils präzise Analyse der Textsorte Weltanschauungsliteratur 330

Vgl. Dietrich Hochstätter: Sprache des Möglichen. Stilistischer Perspektivismus in Ro­ bert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Frankfurt am Main 1972, S. 171. An Hochstät­ ter anschließend vgl. Martens: Beobachtungen der Moderne (Anm. 211), S. 141.

223

und ihrer Popularität, vor allem in seiner Beschäftigung mit Rathenaus Zur Me­ chanik des Geistes und Spenglers Untergang des Abendlandes, ist die intertextuelle Referenz des Romans dabei als hochgradig kommunikativ zu bezeichnen. Am markantesten sind die weltanschauungsliterarischen Verfahren bei Arnheim ausgeprägt. Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, wie im Figurenensemble insgesamt immer wieder sprachliche ‚Verwandtschaften‘ entstehen, die auch punktuell auftauchen können und plötzlich Sektionschef Tuzzi oder sogar Ul­ rich als Weltanschauungsrhetoriker erscheinen lassen. Das unterstreicht den Befund, dass der Roman auf eine Art des Sprechens referiert, ein spezifisches Muster, das der Erzähler variabel zur Kennzeichnung von Figurentexten ein­ setzen kann. Die narrative Einbettung der Weltanschauungsrhetorik zeigt au­ ßerdem, dass dieses Muster nicht nur in die Fiktion übersetzt, sondern in seiner Beschaffenheit und auf seine Entstehungsbedingungen hin analysiert wird. Die metatextuelle Auseinandersetzung, die innerhalb des Romans statt­ findet, zeugt hier von einer stark ausgeprägten Referentialität. Eher am Rande fließen auch Hinweise ein, die sich autoreflexiv deuten lassen. In der satirischen Überspitzung, in der die Weltanschauungsrhetorik im Mann ohne Eigenschaften modelliert ist, treten die Merkmale des Prätextmusters insgesamt sehr prägnant hervor. Selektiv ist der intertextuelle Bezug insofern, als dabei immer wieder die Verfahren der Selbstdarstellung des Sprechenden herausgestellt werden. Ein hohes Maß an Strukturalität liegt besonders im zweiten Teil des ersten Buches vor, in dem die Parallelaktion im Mittelpunkt steht und Arnheims Reden gro­ ßen Raum einnehmen, mit zunehmender Bedeutung der Geschwisterhandlung gerät die Weltanschauungsrhetorik in den Hintergrund, ist aber auch dann noch als ‚Negativfolie‘ in den Dialogen zwischen Ulrich und Agathe präsent. In dem Versuch, die beiden Schwerpunkten ‚Ratio und Mystik‘, wissenschaft­ liches und poetisches Sprechen, konzeptuell zu verbinden, steht der Roman insgesamt wiederum in einer strukturellen Ähnlichkeit zur Weltanschauungs­ literatur. In eine deutlich kritisch-dialogische Auseinandersetzung verwandelt sich diese Parallelaktion durch die Sprachsensibilität, mit der der Mann ohne Eigenschaften die Problematik der Textsorte, auf die er sich bezieht, gerade aus ihren eigenen Strukturen heraus offenlegt, ihre Verfahren ironisch umkehrt und für die eigene literarische Zeitdiagnose verwendet.

224

III Hermann Broch: Die Schlafwandler 1. Hermann Broch in der ‚Welträtselecke‘ Wer am 18. April 1934 der Einladung des Wiener Kulturbundes gefolgt war, bekam in doppelter Hinsicht Paradoxes geboten. Er hörte nicht nur einen Red­ ner, der mit intellektuellem Anspruch und wortgewaltig über den Verlust von Geist und Sprache in der Moderne referierte, sondern wurde auch inhaltlich mit einer oxymoronischen Diagnose konfrontiert. Hermann Broch, der Vor­ tragende des Abends, erläuterte seinen Zuhörern die kakophonische Verstum­ mung der Gegenwart. Ein kommunikationsloses „Tohuwabohu von Sprache, von Meinungen“ herrsche in einer Zeit, in der unzählige isolierte Wertsysteme, allein noch einem mörderischen Machtprinzip folgend, um Geltung konkur­ rierten: Es ist der fürchterliche Lärm der Stummheit, der den Mord begleitet, es ist das Rhetorische schlechthin, die zu Lärm und zum Pathos des Rhetorischen gesteigerte Stummheit […]: das Rhetorische kennt keine Zwiesprache, kein Argument, kein Gegenargument, es stammt nicht aus den Sphären des Intellekts, es stammt aus der Dunkelheit, es überzeugt nicht, es reißt hin, fasziniert durch die Macht der Dunkelheit […].1

Mit eindringlichem Grauen beschreibt Broch in Geist und Zeitgeist die Entste­ hung eines Sinnvakuums, um dessen Auffüllung nun die unterschiedlichsten Sinnstifter lautstark rivalisieren, ohne sich noch verständigen zu können. An­ gesichts der real erfahrbaren Machtausbreitung des Faschismus konnte das entworfene Epochenbild im Frühjahr 1934 umso bedrohlicher wirken. Den Rahmen, in dem Broch die Sinn- und Sprachkrise entwirft, ist jedoch weiter gesteckt. Die Problembestimmung zielt auf den Positivismus als ‚Zeitgeist‘ und setzt im 18. Jahrhundert, mit dem Aufkommen der „Fachphilosophien, oder richtiger Unphilosophien“2, die Verdrängung einer eigentlichen, das heißt für Broch auf logisch begründbare Wahrheit statt auf empirisch Gegebenes ausge­ richteten Philosophie und den Siegeszug des Nur-Rhetorischen an.3 1

2

3

Hermann Broch: Geist und Zeitgeist. Ein Vortrag. In: Ders.: Schriften zur Literatur 2. Theorie. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1975 (Kommentierte Werk­ ausgabe. Bd. 9,2), S. 177–200, hier S. 178. Dieser Vortrag war der letzte, den Broch vor seiner Emigration vier Jahre später halten konnte. Ebd., S. 185. „Was hier vor allem entstand, war der sonderbare Unfug der ‚Philosophie der Empirien‘, welcher […] den einheitlichen Körper der Philosophie nach einer Fülle von Blickpunkten auflöste und als Philosophie der Geschichte, des Rechtes, der Rasse, der Technik, der Ziergärtnerei, des Briefmarkensammelns oder der Theaterregie in erstaunli­ che Erscheinung tritt“ (ebd., S. 185). Broch konzediert, dass die Philosophie, um ihren eigenen wissenschaftlichen Status nicht zu verlieren, die „weltliche Wissenschaft“ notwendig anerkennen musste, dennoch sieht

Hermann Broch hat von verschiedenen Richtungen aus versucht, dem ‚Lärm der Stummheit‘ in einer säkularisierten Welt beizukommen. Er hat den Ori­ entierungsverlust in theoretischen Arbeiten und in Romanen dargestellt, sei­ ne Voraussetzungen werttheoretisch und geschichtsphilosophisch reflektiert und die Diktaturen, die ihn kompensieren wollten, mit einem engagierten politischen Plädoyer für die wehrhafte Demokratie und ein humanes Ethos bekämpft. Seine Versuche, den Verlust einer einheitlichen Werteordnung und die Fragmentierung der Gegenwart zu analysieren, begleitet Broch dabei stets mit einem Festhalten an der Kategorie des ‚Absoluten‘, woraus sich die Hoff­ nung auf eine noch mögliche Überwindung der ‚Stummheit‘ speist. Ob auf theoretischem oder literarischem Terrain äußert sich dies in einem Streben nach „Gesamterkenntnis“4, das Broch aller Skepsis zum Trotz nie aufgegeben hat. Als Denker steht er in „jener Linie der Philosophiegeschichte, die von der Zweiteilung des philosophischen Universums in Wissenschaftliches und Außerwissenschaftliches ausgeht, diese Trennung aber philosophisch aufzuhe­ ben trachtet, ohne die szientistische Grundlage der Zweiteilung in Frage zu stellen.“5 Gegen die verschiedentlich vertretene Ansicht, beim Schriftsteller Broch seien starke postmoderne Züge auszumachen, hat es sich überwiegend durchgesetzt, ihn trotz der Disparität, die seine erzählten Welten abbilden, und bei aller Offenheit für Formexperimente als „typischen Vertreter der sogenann­ ten klassischen Moderne“6 zu betrachten. Wie bewusst es Broch war, nicht als Einziger auf der Suche nach neuen Möglichkeiten der Gesamterkenntnis zu sein, lässt sich immer wieder an den Gefechten ablesen, die er zur literarischen wie wissenschaftlichen Selbstpositio­ nierung durchspielt. Er führt sie auf der einen Seite gegen konkurrierende Pro­ jekte einer „Polyhistorisierung des Romans“7, wo er für seine eigene Methode,

4

5

6

7

er sie ihrer genuinen Aufgabe nach dieser grundsätzlich entgegengesetzt, sie habe „eigent­ lich Theologie zu sein“ (ebd., S. 184). Broch an Frank Thiess, Brief vom 6. April 1932. In: Ders.: Briefe 1 (1913–1938). Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1981 (Kommentierte Werkausgabe. Bd. 13,1), S. 186. Endre Kiss: Über Hermann Brochs Ehrgeiz, ganzheitliche Strukturen ganzheitlich darzu­ stellen. Reflexionen über die Möglichkeit einer nicht-affirmativen Broch-Forschung. In: Hermann Broch. Werk und Wirkung. Hg. von dems. Bonn 1985, S. 65–86, hier S. 81. Jürgen Heizmann: Antike und Moderne in Hermann Brochs „Tod des Vergil“. Über Dich­ tung und Wissenschaft, Utopie und Ideologie. Tübingen 1997, S. 27, zur entsprechenden Forschungsdiskussion vgl. ebd., S. 27–34. Vgl. außerdem Gunther Martens: „Das Ganze ist das (Un)wahre“. Broch und Musil im Spannungsfeld von Totalität und Fragment. In: Recherches Germaniques 28 (1998), S. 113–137. Vgl. aber auch Paul Michael Lützeler, der nach wie vor insbesondere die „Versuche permanenter dichterischer Grenzerweiterungen“ in Brochs Romanen unterstreicht: „Sie sind zwar noch Teil der modernen Literatur, aber gleichzeitig weisen sie bereits Merkmale auf, die in der Postmoderne zur vollen Entfaltung gelangten“ (Paul Michael Lützeler: Biographie. In: Hermann Broch-Handbuch. Hg. von Michael Kessler und Paul Michael Lützeler. Berlin und Boston 2016, S. 3–54, hier S. 48). Broch an Willa Muir, Brief vom 3. August 1931. In: Broch: Briefe 1 (Anm. 4), S. 148.

226

Narration und Theorie zu verflechten, ein Integrationsvermögen beansprucht, das er anderen Autoren, auch Thomas Mann und Robert Musil, unbenommen aufrichtiger Wertschätzung abspricht.8 Auf der anderen Seite grenzt sich Broch spätestens 1914, im Zuge seiner Orientierung am Neukantianismus verstärkt von dogmatisch verengten Weltanschauungsphilosophien ab, denen er „die Verwechslung und Vermengung […] zwischen Metaphysik und reiner Philoso­ phie“9 vorwirft. Den Bereich, in dem er diesen Missstand „bis zur Borniertheit“ gesteigert findet, tauft Broch um 1926 in Anspielung auf Ernst Haeckels Jahr­ hundertwende-Bestseller spöttelnd die „Welträtselecke in der philosophischen Unterhaltungsbeilage zur deutschen Naturwissenschaft.“10 Dass Broch zwar gegen inhaltlich abgeschlossene Totalitätskonzepte jeglicher Art anschreibt, aber zugleich selbst argumentativ wie rhetorisch nicht selten in die Nähe solcher Entwürfe gerät, konnte die Forschung immer wieder auf­ zeigen. Die berühmt-berüchtigte Formel von der „Ungeduld der Erkenntnis“11, mit der Broch programmatisch das Charakteristikum des Dichtens bestimmt hat, beschreibt gerade auch in ihren problematischen Konsequenzen sein ei­ genes Denken und Schreiben recht passend. Vor allem in der theoretischen Auseinandersetzung formuliert Broch bisweilen rigorose Geltungsansprüche und versucht dort, wo sich diese argumentativ nicht mehr einlösen lassen, mittels pathetischer Beteuerungen oder bloßer Apodiktik zu überzeugen. Dass die ideologiekritische Forschung der 1970er und frühen 1980er Jahre Hermann Broch mit den totalitären Herrschaftssystemen in Verbindung brachte, gegen 8

9

10 11

Zu Broch und Musil vgl. vor allem László Szabó: Hermann Broch und Robert Musil: K. u. K. oder Kollegialität und Konkurrenz. In: Hermann Brochs literarische Freund­ schaften. Hg. von Endre Kiss, Paul Michael Lützeler und Gabriella Rácz. Tübingen 2008, S. 105–119. Katharina Ratschko: Robert Musil und Hermann Broch: Kunstverständnis und Zeitdiagnose. In: Hermann Brochs literarische Freundschaften. Hg. von Endre Kiss, Paul Michael Lützeler und Gabriella Rácz. Tübingen 2008, S. 121–138. Zur bisweilen vor allem von Musils Seite aus äußerst angespannten persönlichen Beziehung vgl. Gudrun Brokoph-Mauch: Robert Musils und Hermann Brochs persönliches Verhältnis in ihrem Briefwechsel. In: Genauigkeit und Seele. Zur österreichischen Literatur seit dem Fin de siècle. Hg. von Josef Strutz und Endre Kiss. München 1990, S. 67–82. Dass man den Musil-Broch-Vergleich beinahe als eigenes Genre der Literaturwissenschaft bezeichnen könnte, zeigt Schwarzwälders Forschungsüberblick, der die einzelnen Traditionsstränge aufdröselt (vgl. Florens Schwarzwälder: Der Weltanschauungsroman 2. Ordnung. Proble­ me literarischer Modellbildung bei Hermann Broch und Robert Musil. Bielefeld 2019, S. 9–20, vor allem S. 9–12). Die Facetten des Verhältnisses von Broch und Thomas Mann beleuchtet der Band: Freundschaft im Exil. Thomas Mann und Hermann Broch. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 2004. Hermann Broch: Genesis des Wahrheitsproblems innerhalb des Denkens und seine Lokalisierung im Rahmen der idealistischen Kritik. In: Ders.: Philosophische Schriften 2. Theorie. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1977 (Kommentierte Werkausgabe. Bd. 10,2), S. 207–232, hier S. 214. Ebd. Hermann Broch: Das Weltbild des Romans. Ein Vortrag. In: Ders.: Schriften zur Litera­ tur 2: Theorie. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1978 (Kommentierte Werkausgabe. Bd. 9,2), S. 89–118, hier S. 116.

227

die er kämpfte,12 war überzogen, ihr grundsätzliches Anstoßnehmen an Brochs Überlegungen und ihren politischen Implikationen allerdings verständlich und durchaus legitim, bedenkt man die „Erlösungs-Heilsbringer-Führer-Diskurse“13, die im theoretischen wie fiktionalen Werk eine große Rolle spielen. Die Kon­ flikte, in die sich Broch in seinen Argumentationen bringt, aber auch seine Lösungsstrategien, lassen dabei ein Muster erkennen. Wie im eingangs ange­ führten Vortrag Geist und Zeitgeist das gewalttätige ‚Nur-Rhetorische‘ in weiten Teilen vor allem rhetorisch zu überwältigen versucht wird, ergibt sich nicht nur aus der Momentaufnahme, sondern ist insgesamt kennzeichnend für Broch. Bernhard Fetz hat das Dilemma seines Werks treffend bestimmt: Wollte man das Werk Hermann Brochs auf einen Punkt bringen […], dann kreist die­ ses Werk um die Frage, wie in einer fragmentierten, ausdifferenzierten Welt Totalität theoretisch begründbar und im Prozess des Schreibens gewinnbar ist. Dabei sehen sich die Texte dem Paradox ausgesetzt, immer zugleich Ausdruck dessen zu sein, was sie überwinden wollen.14

Nachdem er sich in der Auseinandersetzung mit der empirisierten und spezia­ lisierten Philosophie seiner Gegenwart hatte überzeugen können, dass wissen­ schaftlich gesicherte ‚Gesamterkenntnis‘ von hier aus vorerst nicht mehr zu gewinnen war, entdeckte Broch in den späten 1920er Jahren in der Literatur und insbesondere im Roman das Potential, unter Akzeptanz und Integration von Pluralität und Diskontinuität moderner Welterfahrung „wenigstens der Idee nach, das Relative in die Zone des Absoluten“15 zu erheben. Das für die Wissenschaft ins Unendliche gerückte Ziel, „ein Totalitätsbild der Erkennt­ nis“ zu geben, die Synthese von „rationalen und irrationalen Elementen des Lebens“16 herzustellen, könne die Literatur zwar auch nicht real, wohl aber in symbolischer Vorausnahme erreichen. Seine Erwartungen an den modernen Roman, der ‚polyhistorisch‘ und ‚polyphon‘, gleichzeitig der „Struktur und […] Aufgabe“17 nach Goethescher Einheitlichkeit verpflichtet sein sollte, hat Broch am ambitioniertesten in den Schlafwandlern einzulösen versucht.18 Die Essays 12

13 14 15 16 17 18

Vgl. zum Beispiel Karl Menges: Kritische Studien zur Wertphilosophie Hermann Brochs. Tübingen 1970, S. 161–171. Heinz D. Osterle: Hermann Broch, Die Schlafwandler: Revo­ lution and Apocalypse. In: Publications of the Modern Language Association of America 86 (1971), Heft 5, S. 946–958, hier S. 955. Sigrid Schmid-Bortenschlager: Dynamik und Stagnation. Hermann Brochs ästhetische Ordnung des politischen Chaos. Stuttgart 1980, S. 224. Bernhard Fetz: Das unmögliche Ganze. Zur literarischen Kritik der Kultur. München 2009, S. 162. Ebd., S. 157. Broch: Das Weltbild des Romans (Anm. 11), S. 115. Ebd., S. 116. Ebd. Einen guten Überblick über Brochs kunsttheoretische Essayistik gibt Alice Stašková: Schriften zur Literatur, Kunst und Kultur. In: Hermann Broch-Handbuch. Hg. von Michael Kessler und Paul Michael Lützeler. Berlin und Boston 2016, S. 319–358, zu

228

über den ‚Zerfall der Werte‘, die dem letzten Teil der Trilogie eingegliedert sind, entfalten die Wert- und Geschichtsphilosophie, die Broch in ihren Grund­ zügen bis dahin nur isoliert theoretisch erarbeitet hatte, im Kontext einer fiktiven Welt. Weil auch der mit dieser Philosophie verbundene Anspruch auf eine privilegierte systematische Weltdeutung in den Roman eingeht, gerät sie in Konflikt zur dort angestrebten „rational-irrationalen Polyphonie“19 – umso mehr, als in den Schlafwandlern zu den Wirklichkeitsausschnitten, den „Realitätsvokabeln“20, die polyphon vermittelt werden sollen, auch der Welt­ anschauungsdiskurs der Epoche zählt und damit eine Vielzahl absoluter Deu­ tungsansprüche aufeinanderprallen. Bevor die so entstehenden Spannungen in der Romantrilogie selbst untersucht werden, soll das folgende Kapitel zeigen, dass sie eine ihrer Voraussetzungen auch in der Beschäftigung Brochs mit der zeitgenössischen Weltanschauungsliteratur finden. Brochs weltanschauungslite­ rarische Lektüren waren durchaus analytisch und kritisch, weisen aber auch blinde Flecken auf. Das erste Indiz für ein grundsätzliches Interesse Brochs an Weltanschauungs­ literatur liefert seine Arbeitsbibliothek. Wie aus dem Verzeichnis des rekonstru­ ierten Bestandes hervorgeht, war die dortige ‚Welträtselecke‘ prominent und, was wissenschaftlichen Anspruch, Fachgebiet und ideologische Ausrichtung an­ geht, äußerst abwechslungsreich bestückt. Neben den Welträtseln (1899) Ernst Haeckels enthielt sie weitere Weltanschauungswerke bekannter Autoren aus den Jahrzehnten um 1900, darunter David Friedrich Strauß’ Der alte und der neue Glaube (1872), Eugen Dührings Die Judenfrage als Frage der Racenschädlich­ keit für Existenz, Sitte und Cultur der Völker (1881), Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1903), Houston Stewart Chamberlains Immanuel Kant (1905), Hermann Graf Keyserlings Das Gefüge der Welt (1906), Rudolf Euckens Grundli­

19 20

Brochs Erwartungen an die Literatur vgl. vor allem S. 324–328. Zu den literaturtheore­ tischen Grundannahmen Brochs vgl. außerdem Friedrich Vollhardt: Hermann Brochs Literaturtheorie. In: Hermann Broch. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1986, S. 272–288. Die Affinität von Brochs Konzept des totalitätserfassenden Romans zu Georg Lukács Romantheorie ist schon oft betont worden (vgl. zum Beispiel Paul Michael Lützeler: Zur Avantgarde-Diskussion der dreißiger Jahre. Lukács, Broch und Joy­ ce. In: Ders.: Zeitgeschichte in Geschichten der Zeit. Deutschsprachige Romane im 20. Jahrhundert. Bonn 1986, S. 109–140). Ebenfalls konnte die Forschung zeigen, dass Broch trotz seiner Kritik an der Romantik und einer überwiegend pejorativen Verwendung des Epochenbegriffs in vielen seiner poetologischen Vorstellungen an die Tradition insbeson­ dere der Frühromantik anknüpft (vgl. Hartmut Steinecke: Kunstwerk der Erkenntnis. Hermann Brochs Verständnis des Romans im historischen Kontext. In: Romanstruktur und Menschenrecht bei Hermann Broch. Hg. von Hartmut Steinecke und Joseph Strelka. Bern 1990, S. 121–131. Heizmann: Antike und Moderne [Anm. 6], S. 82–95). Dem ambi­ valenten Verhältnis Brochs zur Romantik als Epoche, als transepochales und formales Konzept ist 2012 eigens eine Tagung gewidmet worden. Die Ergebnisse versammeln Doren Wohlleben und Paul Michael Lützeler (Hg.): Hermann Broch und die Romantik. Berlin und Boston 2014. Broch: Das Weltbild des Romans (Anm. 11), S. 117. Ebd., S. 115.

229

nien einer neuen Lebensanschauung (1907), Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1918/1922) und Ludwig Klages’ Mensch und Erde (1920).21 Ob überhaupt, wann, wie intensiv und mit welchen Schwerpunkten Broch diese Bücher gelesen hat, darüber geben in einigen Fällen Briefe und Essays Aufschluss. Da ein Gutteil der Brochschen Bibliothek erhalten geblieben ist, be­ steht außerdem die Möglichkeit, vorhandene Handexemplare auf Anstreichun­ gen und Randbemerkungen zu prüfen. Wir kennen beispielsweise Brochs erstes Urteil über den Untergang des Abendlandes aus einem seiner Tagebuch-Briefe an Ea von Allesch vom Sommer 1920, in dem er Spengler unaufgeregt dem geschichtsphilosophischen Mainstream zuordnet und im Übrigen „nur seine ignorante Präpotenz widerlich“22 findet. Die Lesespuren im ersten Band seiner Ausgabe des Spengler-Werks deuten wiederum darauf hin, dass er sich darin vor allem in die mathematischen Ausführungen vertieft hat.23 Deutlich enthu­ siastischer hat Broch offenbar die 1933 erschienenen Jahre der Entscheidung gele­ 21

22 23

Aus dem Kreis der Genannten mit insgesamt 14 Titeln besonders stark vertreten ist Dühring. Auffallend ist zudem die Vielzahl an Welterklärungsschriften von Autoren aus der monistischen Bewegung in Brochs Bibliothek. So finden sich von Haeckel außer den Welträtseln – und abgesehen von einigen weniger weltanschaulich durchdrungenen Pu­ blikationen – auch noch Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft (1892) und Die Lebenswunder (1904), des Weiteren beispielsweise Werke von Ludwig Noiré (Ein­ leitung und Begründung einer monistischen Erkentnißtheorie [1877], Der Ursprung der Sprache [1877]), Sigfried Tietze (Das Gleichgewichtsgesetz in Natur und Staat [1905]) und Wilhelm Ostwald (Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft [1909], Der Monismus als Kulturziel [1912], Die Mühle des Lebens [1911]) sowie allgemeine Sekundärliteratur und Kritisches zum Thema Monismus. Die angegebenen Jahreszahlen beziehen sich jeweils auf die Erstpublikation, Brochs Ausgaben stammen zum Teil aus späteren Auflagen (vgl. die entsprechenden Nachweise bei Klaus Amann und Helmut Grote: Die Wiener Bibliothek Hermann Brochs. Kommentiertes Verzeichnis des rekonstruierten Bestandes. Wien und Köln 1990). Eingehender mit der Anlehnung des jungen Broch an monistische Denkmo­ delle hat sich Willy Riemer beschäftigt (vgl. Willy Riemer: Symbolism, Mathematics, and Monistic Thought: Contextual Studies in Hermann Broch. Yale 1979, S. 1–54). Monika Ritzer streift das Phänomen in ihrer Kontextualisierung von Brochs Frühwerks immer wieder, subsumiert monistische Anknüpfungspunkte aber recht allgemein unter dem Stichwort Vitalismus (vgl. Monika Ritzer: Hermann Broch und die Kulturkrise des frü­ hen 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 19–54). Hermann Broch: Das Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1995, S. 14. Paul Michael Lützeler ist der Auffassung, die Lektürespuren in den Spengler-Büchern könnten nicht Broch zugeschrieben werden und verweist auf Joseph Buttinger, der Brochs Bibliothek 1951 gekauft und 20 Jahre später als Schenkung der Klagenfurter Universität vermacht hat (vgl. Paul Michael Lützeler: Hermann Broch und Spenglers Untergang des Abendlandes: Die Schlafwandler zwischen Moderne und Postmoderne. In: Hermann Broch. Modernismus, Kulturkrise und Hitlerzeit. Londoner Symposion 1991. Hg. von Adrian Stevens, Fred Wagner und Sigurd Paul Schleichl. Innsbruck 1994, S. 19– 43, hier S. 25). Klaus Amann und Helmut Grote, die den Bestand der Broch-Bibliothek rekonstruiert und die noch vorhandenen Bücher – eingedenk der Problematik des Nach­ besitzes – auf Anstreichungen und Marginalien hin untersucht haben, zählen die Speng­ ler-Exemplare allerdings nicht zu den Zweifelsfällen (vgl. Amann und Grote: Die Wiener Bibliothek Hermann Brochs. [Anm. 21], S. 240–242).

230

sen. Die Kapitel Der politische Horizont und Die Weltkriege und Weltmächte sind in seinem ebenfalls erhaltenen Handexemplar fast durchgehend unterstrichen und mit Ausrufungszeichen übersät. Dem Leser Broch auf diese Weise über die Schulter zu schauen, ist bei einer früheren Begegnung mit der Weltanschau­ ungsliteratur, seiner Weininger-Lektüre, leider nicht möglich. Brochs Exemplar von Geschlecht und Charakter, dem Skandalbuch der Wiener Moderne, ist ver­ schollen.24 Dafür, dass gerade die Beschäftigung mit Weininger eine prägende war, sprechen allerdings einige der zwischen 1908 und 1914 entstandenen kul­ turkritischen Texte, mit denen Broch erste Versuche als Essayist unternahm. Aus zwei Gründen wird sich die nachfolgende Untersuchung der Weltan­ schauungsliteratur-Rezeption Brochs vor allem auf das Beispiel Weininger konzentrieren und andere in Frage kommende Autoren lediglich ergänzend hinzuziehen. Brochs Beschäftigung mit Geschlecht und Charakter ist zum einen die am besten und über einen längeren Zeitraum nachvollziehbare Auseinan­ dersetzung mit einem konkreten weltanschauungsliterarischen Text, weil es für sie die meisten direkten Belege gibt. Zum anderen fällt die Weininger-Beschäf­ tigung in die Phase, in der Broch seine philosophischen Grundüberzeugungen entwickelt. Wie sich zeigen wird, kristallisieren sich während dieser frühen Auseinandersetzung mit Weininger in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg die wesentlichen und in der Folge relativ konstant bleibenden Kriterien heraus, nach denen Broch Weltanschauungsliteratur beurteilt. Nichtsdestotrotz lohnt sich im Anschluss der Blick auf eine besonders merkwürdige weltanschau­ ungsliterarische Lektürebekanntschaft Brochs, den Anthropogeographen Erwin Hanslik. Der Artikel Ein offiziöser Gschaftlhuber von 1918, der vor noch nicht langer Zeit erst als Broch-Text identifiziert werden konnte, zeigt eine weitere Facette des Umgangs mit Weltanschauungsliteratur bei Broch, die souveräne Verspottung. a) Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung (1903) „Es graut einem vor der unheimlichen Geschlossenheit und dem funkelnden Geist des Buches, wie einem vor dem Lichtschimmer graut, der beim Fackel­ glanz auf das geschliffene Henkersbeil fällt. Aber man muss das Buch lesen, muss es, muss es.“25 Mit Geschlecht und Charakter, dem Buch, das der Rezensent hier so bildstark zur Pflichtlektüre erklärt, hat Otto Weininger zweifelhafte

24 25

Lediglich Brochs Ausgabe von Über die letzten Dinge in der zweiten Auflage von 1907 ist noch greifbar, weist jedoch keine Lesepuren auf. Richard Nordhausen: Der Schuß im Nebel. In: Münchner neueste Nachrichten. Nr. 517, vom 5.11.1903.

231

Berühmtheit als „größte[r] Theoretiker der Misogynie“26 erlangt. Kurzzeitig befeuerte es Debatten in der Wissenschaft, nachhaltiger fesselte es die künstle­ risch und kulturell schaffende Intelligenz, vor allem im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Zu einem aufgeregt diskutierten Bestseller avancierte das Werk nicht zuletzt, weil der Suizid des Autors im Herbst 1903, wenige Monate nach Erscheinen, Bewunderern wie Gegnern Stoff für Legenden bot und sich als tragische Konsequenz eines Genies oder Finale im pathologischen ‚Fall Weinin­ ger‘27 zum biographischen Epilog des Gelesenen fortspinnen ließ. Mittlerweile ist Geschlecht und Charakter ein ergiebiges Dokument für kul­ turhistorische Forschungen geworden. Es eignet sich für ein exemplarisches Studium von ‚Ermannungsstrategien‘28, die um 1900 angesichts einer generel­ len Verunsicherung tradierter Geschlechterrollen und speziell in Reaktion auf die Frauenbewegung entwickelt wurden. Aber auch ein weiter gefasster diskur­ siver Kontext zeigt die ‚prinzipielle Untersuchung‘ als eine ausgesprochen zeit­ gebundene. Hinter der fast verzweifelten Vehemenz, mit der Weininger seine antifeministischen und antisemitischen Thesen zu einem Manifest gegen die „ganze moderne Koitus-Kultur“29 amalgamiert, stehen deutlich Faszination und Verachtung des turbulenten Jahrhundertwende-Wiens, in dem die Umbrüche in Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft besonders intensiv erlebbar waren. Zu Recht ist Weininger deshalb „als Symptom einer Kulturkrise“30 in den Fokus gerückt, und das in zweifacher Hinsicht: Sein Buch und die Wirkungsmacht, die es entfalten konnte, bezeugen gleichermaßen ein Bedürfnis, unterschied­

26 27

28

29

30

Nike Wagner: Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne. Frankfurt am Main 1982, S. 153. Eine frühe, äußerst polemische ‚Fallstudie‘ empfahl Weiningers Werk gar „in die ärzt­ liche Bibliothek einer Irrenanstalt“ (Ferdinand Probst: Der Fall Otto Weininger. Eine psychiatrische Studie. Wiesbaden 1904, S. 40). Prominente Verehrer fand Weininger bei­ spielsweise in August Strindberg, Alfred Kubin oder Alban Berg, seinen wichtigsten Für­ sprecher in Karl Kraus. Einen Überblick über den Publikationserfolg und die Wirkungs­ geschichte von Geschlecht und Charakter gibt Jaques Le Rider: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus, überarbeitete und erweiterte deutsche Ausgabe. Wien und München 1985, S. 220–243. Unter diesem Stichwort Birgit Dalke: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlich­ keit in der Literatur um 1900. Köln 2006, vgl. S. 157–180. Zur Verortung Weiningers in den Geschlechterdiskursen der Jahrhundertwende vgl. auch Wagner: Geist und Ge­ schlecht (Anm. 26), vor allem S. 69–82 und S. 149–162. Eine kommentierte Sammlung direkter und indirekter Antworten auf Geschlecht und Charakter findet sich außerdem bei Amàlia Kerekes, Alexandra Millner, Magdolna Orosz und Katalin Teller (Hg.): Mehr oder Weininger. Eine Textoffensive aus Österreich und Ungarn. Wien 2005. Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Im Anhang Weiningers Tagebuch, Briefe August Strindbergs sowie Beiträge aus heutiger Sicht von Annegret Stopczyk, Gisela Dischner und Roberto Calasso. Nachdruck der 1. Auflage, Wien, Mai 1903. München 1997, S. 443. Jaques Le Rider: Nachwort zum Fall Otto Weininger. In: Otto Weininger. Werk und Wirkung. Hg. von Jaques Le Rider und Norbert Leser. Wien 1984, S. 96–105, hier S. 99.

232

lichste Moderneerfahrungen zu kanalisieren und ihr identitätsbedrohendes Po­ tential einzudämmen. Otto Weininger selbst hatte zeitweise gehofft, als Begründer einer neuen Me­ taphysik in die Geistesgeschichte einzugehen. Ein Kapitel der posthum veröf­ fentlichten Textsammlung Über die letzten Dinge reserviert diese Anerkennung für eine „universelle Symbolik“, die zwar Fragment blieb, mit deren Ansätzen der junge Philosoph aber schon den Grundstein für ein Deutungssystem gelegt zu haben glaubte, das „die ganze Welt umspannen, und den tieferen Sinn der Dinge“31 aufdecken sollte. Aufschlussreich ist die Skizze, weil sie umreißt, worauf auch das Hauptwerk eigentlich zusteuert. Bereits dort geht es nicht um eine isolierte Behandlung der Geschlechterthematik, Weininger betrachtet seinen Gegenstand vielmehr „mit allen tiefsten Rätseln des Daseins“32 verwo­ ben und will „bis zu einem letzten Ziele“33 vorstoßen. Während allerdings der Entwurf zur Metaphysik die Frage der theoretischen Begründung relativ unbe­ kümmert beiseiteschieben kann, ist Geschlecht und Charakter als überarbeitete Version einer Dissertationsschrift deutlich von dem Bemühen geprägt, wissen­ schaftlichen Ansprüchen zu genügen.34 Der Text belegt an vielen Stellen, wie sich der Charakterologe noch an einer Beweislast abarbeitet, von der erst der Universalsymboliker befreit sein wird. Bei Geschlecht und Charakter handelt sich um ein monumental angelegtes Unternehmen, das vom Sexuellen ausgehend „die verwirrende Wirklichkeit“35 zu ordnen und zu deuten versucht und dafür den Bogen von zellbiologischen Mikroprozessen bis zum „Kultur- und Menschheitsproblem“36 schlägt. Als Brü­ ckenwissenschaft dient die Psychologie, die erst im empirischen, dann im in­ trospektiven Ansatz einen naturwissenschaftlichen und einen philosophischen Teil verbinden soll.37 Die Annahme einer physischen wie psychischen Bisexuali­ tät jedes Menschen ermöglicht es Weininger zunächst, die konstatierte Verwir­ rung zu benennen: „Es gibt „unzählige Abstufungen zwischen Mann und Weib, 31 32 33 34

35 36 37

Otto Weininger: Über die letzten Dinge. Mit einem biographischen Vorwort von Moritz Rappaport. Wien und Leipzig 1904, S. 113. Weininger: Geschlecht und Charakter (Anm. 29), S. VIII. Ebd., S. V. Die von Weininger eingereichte Doktorarbeit ist nicht mehr auffindbar. Die Gutachter bemängelten zwar in Teilen unhaltbare Behauptungen, Ausschweifungen ins Mystische und stilistische Entgleisungen, bescheinigten dem Doktoranden aber insgesamt, die Kri­ terien für eine Promotion erfüllt zu haben. Abgedruckt sind die Gutachten in: Hannelore Rodlauer (Hg.): Otto Weininger. Eros und Psyche. Studien und Briefe 1899–1902. Wien 1990, S. 211–214. Ebenso dort zu finden sind die beiden erhaltenen Vorstufen Eros und Psyche. Eine biologisch-psychologische Studie (1901) und Zur Theorie des Lebens (1902), die Rückschlüsse auf die Genese der publizierten Buchfassung erlauben (vgl. ebd., S. 143– 189, 191–208). Weininger: Geschlecht und Charakter (Anm. 29), S. 97, vgl. S. 3. Ebd., S. VII. Vgl. ebd., S. IX.

233

‚sexuelle Zwischenformen‘.“38 Abstrahierend entwirft er „einen idealen Mann M und ein ideales Weib W, die es in der Wirklichkeit nicht gibt,“39 zur typologischen Modellierung. Der erste Teil der Studie stellt in kenntnisreicher Auseinander­ setzung mit bestehenden Forschungspositionen die ‚sexuelle Mannigfaltigkeit‘ vor und geht mit einer Mathematisierung von Geschlechterbeziehungen daran, diese zu systematisieren.40 Trotz maximaler Formelstrenge scheint die Beschrei­ bung des aus weiblichen und männlichen „Substanzen“41 zusammengesetzten Individuums in seinen fluktuierenden Mischungszuständen bis hierhin darauf hinauszulaufen, die von Ernst Mach verkündete Auflösung des einheitlichen Subjekts sexualwissenschaftlich zu bestätigen. Dem setzt jedoch dann der zweit­ e und Hauptteil der Arbeit eine „Rettung des unrettbaren Ichs“42 entgegen. Diese orientiert sich vor allem an der Kantischen Ethik, die mit einer bega­ bungstheoretischen Psychologie der bedeutenden Persönlichkeit kombiniert wird.43 Weininger verfolgt nun nicht mehr die sexuelle Zwischenform und eine noch in den ‚Anziehungsgesetzen‘ angelegte Komplementarität differenter, aber gleichwertiger Prinzipien weiter, sondern organisiert das Verhältnis der Geschlechter antagonistisch und hierarchisch. Die Richtung für den psycholo­ gisch-philosophischen Ausbau weist der Befund: „W ist nichts als Sexualität, M ist sexuell und noch etwas darüber.“44 Während dem männlichen Typus auch eine intelligible Existenz und damit die Fähigkeit zuerkannt wird, sich von seiner Geschlechtlichkeit zu distanzieren, sogar Genialität zu erreichen, bleibt der weibliche im Denken und Handeln stets der „Idee des Koitus“45 unterwor­ fen und bewegt sich dabei lediglich zwischen den beiden Polen Mutterschaft 38

39 40

41 42

43

44 45

Ebd., S. 9. Diese Zwischenformen sind durch individuell verschiedene Konstellationen weiblicher und männlicher Anteile definiert, die sich bis in jede einzelne Zelle des Organismus hinein abbilden (vgl. ebd., S. 16) und darüber hinaus periodischen Schwan­ kungen unterliegen (vgl. ebd., S. 64–66). Ebd., S. 9. Die ‚Gesetze der sexuellen Anziehung‘ besagen, dass jede Zwischenform gemäß ihrer M/ W-Verteilung im Partner die jeweils umgekehrte zur Vervollständigung sucht, vgl. ebd., S. 31–52. Ebd., S. 10. Daniel Steuer: Die Logik der Biographie. Netzwerke des Geistes bei Otto Weininger und Ludwig Wittgenstein. In: Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne. Hg. von Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme und Jeanne Riou. Köln 2004, S. 173–195, hier S. 174. Den bildungsbiographischen Hintergrund der Wende Weiningers vom überzeugten Em­ piriokritizisten zum Kant-Anhänger erhellt Hannelore Rodlauer: Fragmente aus Weinin­ gers Bildungsgeschichte. In: Otto Weininger. Eros und Psyche. Studien und Briefe 1899– 1902. Hg. von ders. Wien 1990, S. 11–51, vor allem ab S. 44. Als Neokantianer war Weininger Teil einer heterogenen philosophischen Bewegung, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts formierte und in Deutschland auch schulenbildend etablieren konnte. Im Umfeld der österreichischen Universitätsphilosophie um 1900 war die Ausrichtung an Kant dagegen eher eine Ausnahme (vgl. Chandak Sengoopta: Otto Weininger. Sex, Science, and Self in Imperial Vienna. Chicago und London 2000, S. 27–29). Weininger: Geschlecht und Charakter (Anm. 29), S. 113. Ebd., S. 351.

234

und Prostitution46. Die charakterpsychologische Diagnostik, die Weininger um seinen Grundgedanken herum praktiziert, zementiert die Minderwertigkeit des Weiblichen in jeder Hinsicht. So ergibt sich, dass die idealtypische Frau unbe­ wusst lebe, das heißt nur „in Heniden denkt“47, weder über Logik noch Moral verfüge,48 kein Ich49 und keine Seele50 besitze. In der Konsequenz bleibt ihr nicht nur die Transzendenz verschlossen, sie wird zum Inbegriff aller Hinder­ nisse, die der männlichen Selbstvervollkommnung, dem Streben nach geistiger Unsterblichkeit, „nach dem zeitlosen Sein, nach dem absoluten Werte“51 ent­ gegenstehen. Unter Einspeisung sämtlicher Oppositionen, die die abendländi­ schen Denktradition bevorratet, erweitert sich im Verlauf der Darstellung „die Dualität von Mann und Weib zum Dualismus überhaupt […], zum Dualismus des höheren und des niederen Lebens, des Subjekts und Objekts, der Form und der Materie, des Etwas und des Nichts.“52 Weininger verurteilt irrationale Erlösungssehnsüchte, wie er sie etwa im Konzept der Liebe erkennt,53 und operiert mit der Zweiheit als Konstante menschlichen Seins. Sie bildet die Basis für eine Idealisierung und Heroisierung des einsam leidenden (männlichen) Ichs, das als intelligibler Mikrokosmos die Welt überschaubar geordnet in sich trägt, während die empirische Realität im (weiblichen) Chaos versinkt.54 Aus der Definition der Frau als Schuld des sexuellen Mannes entwickelt sich dann aber eine Heilslehre, die doch den Ausweg aus dem dualistischen Dilemma weist und die „Überwindung der Weiblichkeit“55 durch Keuschheit zum Erlö­ sungsauftrag erhebt. Im Schlusskapitel überschlagen sich dazu konfuse Erret­ tungshoffnungen und -szenarien, klar ist nur die Zielvorgabe: „das Weib muß als solches untergehen“.56 46 47

48 49 50 51 52

53 54 55 56

Vgl. das so betitelte Kapitel ebd., S. 280–313. Ebd., S. 129. Mit diesem neu geschaffenen Terminus bezeichnet Weininger ein Vorstadi­ um des bewussten Denkens, in dem Gefühle und Gedanken noch undifferenziert, ein „dumpfes Eines“ (ebd., S. 126) sind. Vgl. ebd., vor allem S. 191–194. Vgl. ebd., S. 240. Vgl. ebd., S. 243. Ebd., S. 381. Ebd., S. 398. Vgl. insbesondere zum zweiten Teil von Geschlecht und Charakter als einem „Paradebeispiel charakterologischer Wissensproduktion“ und zu Weiningers Nietzscheund Schopenhauer-Bezügen Per Leo: Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakteriologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890–1940. Berlin 2013, S. 304–331. „Alle Liebe ist selbst nur Erlösungsbedürfnis, und alles Erlösungsbedürfnis noch unsitt­ lich“ (Weininger: Geschlecht und Charakter [Anm. 29], S. 329). Zur Mikrokosmos-Theorie vgl. das Kapitel Ich-Problem und Genialität ebd., vor allem S. 220–225. Ebd., S. 453. Zur männlichen Schuld vgl. ebd., vor allem S. 400–402. Ebd., S. 455. Die Eliminierung des Weiblichen arrangiert Geschlecht und Charakter äußerst widersprüchlich. Weininger denkt an die Mannwerdung der Frau (vgl. ebd., S. 452), verknüpft mit der Erlösung vom Sexus aber auch die Vorstellung einer Transformation in die androgyne Reinheit, ein von Clemens Alexandrinus überliefertes Jesus-Wort auf­

235

Geschlecht und Charakter ist ein Buch der Widersprüche. Es enthält inno­ vative Überlegungen ebenso wie platte Diffamierungen. Wo sich Weininger explizit gesellschaftspolitisch äußert, vertritt er liberale, stellenweise progressive Ansichten,57 gleichzeitig schöpft er reichlich aus dem Bestand frauenverach­ tender Stereotype und bedient die konservativ-reaktionäre Kulturkritik. Er de­ struiert verklärende Geschlechterbilder, entlarvt etwa den Madonnenkult als Projektionsphänomen, erschafft sich aber mit dem „unbefleckten Manne“58 ein neues. Obwohl sie eine Menge hanebüchener Aussagen über die Frau ‚an sich‘ versammelt, entspringt die Charakterologie der Geschlechter keinem privatse­ xuologischen Obskurantismus, Weininger entwickelt seine Theorien in weiten Teilen durchaus auf dem Boden der zeitgenössischen, wenn auch noch wenig etablierten Geschlechterforschung und demonstriert das auch mit einem um­ fangreichen Apparat an Verweisen.59 Kriterien der Wissenschaftlichkeit, auch die seiner Zeit, unterläuft Weininger allerdings, indem er über die Kompilati­ on und Synopse biologischer und psychologischer Erkenntnisse hinaus ihre Funktionalisierung im Dienst der höheren Idee betreibt.60 Um seine wertestif­

57

58 59

60

greifend müsste „aus zweien eins, aus Mann und Weib ein drittes Selbes“ (ebd., S. 457) werden. Unstimmig ist auch der Errettungsweg gezeichnet. Einerseits beharrt Weininger auf der freiwilligen Einsicht der Frau in die Notwendigkeit des eigenen Untergangs (vgl. ebd., S. 455). Da dies nach seiner Psychologie der Weiblichkeit schlechthin unmöglich erscheint, bleibt andererseits nur die Erlösungstat des Mannes (vgl. ebd., S. 456f.). Der Zwiespalt übersetzt sich wiederum in die konkreten Handlungsanweisungen, wo die „Forderung der Enthaltsamkeit für beide Geschlechter“ (ebd., S. 457) abgelöst wird von der Idee, die Erziehung der Frau allein in männliche Verantwortung zu stellen (vgl. ebd., S. 460). Weininger fordert zum Beispiel die Entpathologisierung und Entkriminalisierung von Homosexuellen (vgl. ebd., S. 55–61) und spricht sich für eine individualisierte Pädagogik aus (vgl. ebd., S. 69–71). Den Frauen wird zwar keine Teilhabe an politischer Macht, aber immerhin die rechtliche Gleichstellung zugestanden, wenn auch nur eine vom Standpunkt männlicher Vernunft und Ethik aus gewährte (vgl. ebd., S. 450f.). Zu Wei­ ninger als Vertreter eines in die Krise gekommenen Liberalismus vgl. Steven Beller: Otto Weininger as Liberal? In: Jews and Gender. Responses to Otto Weininger. Hg. von Nancy A. Harrowitz und Barbara Hyams. Philadelphia 1995, S. 91–101. Weininger: Geschlecht und Charakter (Anm. 29), S. 456. Zu männlichen Selbstprojektio­ nen vgl. das Kapitel Erotik und Ästhetik, zur Madonnenverehrung ebd. vor allem S. 333f. „Die internationale sexualkundliche Literatur, die Weininger heranzieht, gibt einen Überblick über den Stand der Geschlechterforschung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts“ (Wagner: Geist und Geschlecht [Anm. 26] S. 171). Über die Wissenschaftlichkeit Weiningers wurde kontrovers diskutiert. Während Le Ri­ der das Spekulativ-Metaphysische betont und dazu tendiert, Geschlecht und Charakter der Literatur zuzuschlagen, hat Janik stets dafür plädiert, Weininger als Wissenschaftler seiner Zeit ernst zu nehmen (vgl. Le Rider: Der Fall Otto Weininger [Anm. 27], vor allem S. 76f. Allan Janik: Weininger and the Science of Sex: Prolegomena to Any Future Study. In: Decadence and Innovation. Austro-Hungarian Life and Art at the Turn of the Century. Hg. von Robert B. Pynsent. London 1989, S. 24–32). In seiner vor allem wissenschaftsgeschichtlich profunden Kontextualisierung zeigt Chandak Sengoopta, dass es müßig ist, die Pseudowissenschaftlichkeit oder Wissenschaftlichkeit Weiningers ein­ deutig festlegen zu wollen: „it seems […] much more fruitful to analyze Weininger’s use of scientific theories as strategic deployments, sometimes for narrowly intellectual

236

tende Universalerklärung jederzeit an den ‚natürlichen‘ Geschlechtscharakter rückbinden zu können, sexualisiert er die gesamte Erfahrungswelt und ent­ wickelt kreative Strategien zur Beweislückenfüllung. Außer naturwissenschaftli­ chen Daten und philosophischen Argumenten fließen so auch Ergebnisse von Recherchen im Freundes- und Bekanntenkreis61 oder durch den Volksmund zu alten Weisheiten veredelte Ressentiments62 in die Weiningersche Negation der Frau ein. Nicht selten verlässt sich Weininger außerdem auf Beispiele aus der fiktionalen Literatur. Dass es keinen weiblichen Fall wahrhafter Treue gibt und ein entsprechender Anschein immer trügen muss, zeigt er etwa, indem er Penelope aus der griechischen Mythologie und Kleists Käthchen von Heilbronn der sexuellen Hörigkeit überführt.63 Zum Beleg für die angeblich rein auf das Körperliche beschränkte Zuwendung der Mutter zum Kind gereichen wiede­ rum drei Dialogzeilen aus Ibsens Peer Gynt.64 Einen aufwendigen wissenschaft­ lich-literarischen Misch-‚Beweis‘ führt Weininger zu Telegonie und ‚Versehen‘, Theorien über eine mögliche Fernbefruchtung und -prägung der Frau, die um die Jahrhundertwende in der naturwissenschaftlichen Diskussion noch präsent, aber bereits umstritten waren. Zweifel, die nach biologisch-medizinischer Ein­ schätzung noch bestehen könnten, werden in Geschlecht und Charakter jedoch mithilfe von Goethe, Ibsen und Zola ausgeräumt, die in ihren Romanen die nötigen „Tatsachen“65 bereitstellen. Weininger ignoriert konsequent die Ambi­ guität fiktionaler Aussagen und „egalisiert die Geltungsbereiche von Poesie und Wissenschaft“66 – die Entscheidung über den Beweiswert der jeweils herange­ zogenen Materialien fällt letztlich nach Gutdünken und gründet zumeist in

61 62

63 64 65

66

goals and more frequently for larger cultural objectives“ (Sengoopta: Otto Weininger [Anm. 43], S. 9). Vgl. Weininger: Geschlecht und Charakter (Anm. 29), zum Beispiel S. 37f., 241f., 348. So muss eine „historische Nachforschung“, in der die Geschichte bedeutender Frauen in eine Geschichte bedeutender M-Anteile umgeschrieben wird, „dem Volksmund recht geben […]: ‚Je länger das Haar, desto kürzer der Verstand‘“ (ebd., S. 84). Weininger legt insgesamt großes Engagement an den Tag, sich redensartlich zu bestätigen (vgl. auch ebd., S. 32f., 50, 73, 187, 241). Vgl. Weininger: Geschlecht und Charakter (Anm. 29), S. 289f. Vgl. ebd., S. 295. Ebd., S. 286. Wie Weininger in diesem Fall an einer Entmythisierung der Mutterschaft ar­ beitet, hat Barbara Beßlich untersucht (vgl. Barbara Beßlich: Mütter im Visier. ‚Versehen‘ und ‚Telegonie‘ in Otto Weiningers Geschlecht und Charakter – mit einem Seitenblick auf Weiningers Anleihen bei Goethe, Ibsen und Zola. In: KulturPoetik 4 [2004], S. 19–36). Ebd., S. 30. In dem Maße, in dem sich die Telegonie-Vorstellung im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wissenschaftlich endgültig diskreditiert, erfährt sie gleich­ zeitig eine Renaissance als literarisches Motiv. In der Amalgamierung von Wissenschaft und Literatur, über die Weininger das Konzept noch einmal aktualisiert, ist Geschlecht und Charakter in dieser Entwicklung für einige Autoren zu einem „nachhaltigen Impuls­ geber“ geworden (Stanzel, Franz Karl Stanzel: Telegonie – Fernzeugung. Macht und Magie der Imagination. Wien, Köln, und Weimar 2008, S. 62).

237

der subjektiven Hochachtung einer bestimmten Autorpersönlichkeit.67 Zu den am besonders häufig Heranzitierten gehört neben Kant und Goethe Richard Wagner, mit dessen Parsifal, „der tiefsten Dichtung der Weltliteratur“, sich Wei­ ninger am Ende „in völliger Übereinstimmung“68 weiß. Zu den Wissensbestän­ den, auf die Weininger zugreift, zählt außerdem die Religion. Das bekundet sich zum einen darin, dass ihm ein Wort Christi ebenso selbstverständlich als Beweis gilt wie das einer literarischen Figur,69 zum anderen identifiziert er das eigene Konzept eines transzendenten Seins mit der „Idee des ewigen, höheren, neuen Lebens der Religionen und speziell des Christentums“ und beansprucht, diese Idee über seine männlich codierte Anthropologie in ihrer „tiefen Berechtigung“70 neu herauszustellen. Entsprechend ist die durch das Weibliche repräsentierte Sexualität als Sündenfall des Mannes aufzufassen, eine bibelsprachliche Imitation soll die Tragweite und sakrale Würde der geschlech­ tertypologischen Neuinterpretation betonen: „Als der Mann sexuell ward, da schuf er das Weib.“71 Auf christliche Motive beziehen sich schlussendlich auch die verworrenen Visionen zur Erlösung vom Weiblichen.72 Die „Angleichung der Diskurse“73, die sich in der unterschiedslosen Verar­ beitung von Wissen aus Naturwissenschaft, Philosophie, Literatur und Religion in Geschlecht und Charakter abzeichnet, ist die Voraussetzung, die sich Weinin­ ger schafft, um dann die Verbundenheit aller behandelten Probleme aufzuzei­ gen. Das fortgesetzte Auffinden von zunächst sehr unbestimmten Zusammen­ hängen wird dabei zum eigentlichen Antrieb der Untersuchung. Weininger entdeckt allenthalben, dass die Phänomene, mit denen er sich beschäftigt, „in 67

68

69

70 71 72

73

Weiningers Überzeugung lautet: „so wie sicherlich, wenn Schopenhauer und Goethe in der Farbenlehre einer Meinung sind, sie schon darum a priori gegen alle Physiker der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft recht haben dürften, ebenso wird etwas, das für Ibsen (‚Frau vom Meer‘) und Goethe (‚Wahlverwandtschaften‘) Wahrheit ist, noch nicht falsch durch das Gutachten sämtlicher medizinischer Fakultäten der Welt“ (Weininger: Geschlecht und Charakter [Anm. 29], S. 286). Ebd., S. 456. Waltraud Heindl verdeutlicht mit einer Auflistung, wie Weininger über Zitate und große Namen beinahe den gesamten humanistischen Bildungskanon abruft (vgl. Waltraud Heindl: Geschlecht oder Charakter. Otto Weiningers Kultfiguren. In: Österreich und der Große Krieg 1914–1918. Die andere Seite der Geschichte. Hg. von Klaus Amann und Hubert Lengauer. Wien 1989, S. 81–87, hier S. 83f.). Vgl. Weininger: Geschlecht und Charakter (Anm. 29), zum Beispiel S. 261, 457 sowie die vielen Bezüge auf biblische und andere religiöse Texte, die Weininger in den Zusätzen und Nachweisen im Anhang herstellt. Ebd., S. 379. Ebd., S. 401. Weininger verbindet diese Erlösung mit der „Aufrichtung des Reiches Gottes auf Erden“ (ebd., S. 455), evoziert Sinnbilder der Auferstehung (vgl. ebd., S. 457) oder drängt auf die „innere Taufe“ (ebd., S. 460) der Frau. Horst Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen 2002, S. 338–380, hier S. 358.

238

einem merkwürdigen Zusammenhange“74, „einer gewissen Verwandtschaft“75 oder „irgendeiner tiefen Beziehung“76 stehen. Das dadurch entstehende, mit jedem Kapitel anwachsende Geflecht möglicher Bezüge legt sich als Struktur­ folie über „die verwirrende Wirklichkeit“77 und bereitet die universale Ord­ nung und Ausdeutung vor. Welchen Raum sich Weininger auf diese Weise zum ungehinderten Assoziieren und Analogisieren schafft, zeigt eindrucksvoll das 13. Kapitel, in dem wesentliche Merkmale von W „beim Juden sich in einer merkwürdigen Weise ebenfalls und wie zum zweiten Male finden“78. Nachdem die Analogie über wenige Seiten fast vollständig durchgeführt und das Weiblich-Jüdische als Widerpart des Männlich-Arischen ausgemacht ist, weist Weininger auch auf Unterschiede hin. Vor allem setzt er das Judentum, anders als die Weiblichkeit, mit dem reinen Unglauben gleich und betrachtet es dann im „unermeßlichsten Gegensatz“79 zum Christentum. Die Verlagerung der Konfliktlinien bereitet allerdings nur eine Generalabrechnung vor, in der nun beide Prinzipien für die Verderbtheit der Gegenwart einstehen sollen. Eine fulminante Kritik der „Zeit, die nicht nur die jüdischste, sondern auch die weibischste aller Zeiten ist“ kulminiert im Ruf zur finalen Schlacht, für die Weininger noch einmal die Fronten klärt: der Kampf drängt zur Entscheidung wie im Jahre eins. Zwischen Judentum und Chris­ tentum, zwischen Geschäft und Kultur, zwischen Weib und Mann, zwischen Gattung und Persönlichkeit, zwischen Unwert und Wert, zwischen irdischem und höherem Leben, zwischen dem Nichts und der Gottheit hat abermals die Menschheit die Wahl. Das sind die beiden Pole: es gibt kein drittes Reich.80

74 75 76 77 78

79 80

Weininger: Geschlecht und Charakter (Anm. 29), S. 183. Ebd., S. 299. Ebd., S. 310. Ebd., S. 97. Ebd., S. 410. Weininger verweist auf seine eigene jüdische Herkunft (vgl. ebd., S. 406) und unterstreicht, es gehe ihm beim Judentum nicht um ein rassisch, national oder konfessionell bestimmtes, sondern um eine für jeden Menschen mögliche „Geistesrich­ tung, […] eine psychische Konstitution“ (ebd.). Tatsächlich beruht die Bestimmung der „platonischen Idee des Judentums“ (ebd., S. 409) vornehmlich auf einem kulturellen Anti­ semitismus, der nichtsdestotrotz auch die Vorurteile und Metaphern aus sozial-ökonomi­ schen und biologisch-rassistischen Diskriminierungstraditionen reproduziert. Deutlich wird dies etwa in den Hinweisen auf eine angeblich jüdische „Vorliebe für das mobile Kapital“ (ebd., S. 431), auf die „Kuppelei“ als „organische Veranlagung im Juden“ (ebd., S. 417) oder in den Parasiten-Vergleichen (vgl. ebd., S. 415, 430). Bis heute wirkt in der Forschung die Interpretation Theodor Lessings nach, der Weininger 1930 als Paradebei­ spiel ‚jüdischen Selbsthasses‘ beschrieben hat (vgl. Theodor Lessing: Der jüdische Selbst­ haß. Mit einem Vorwort von Boris Groys. Berlin 2004, S. 109–126). Dieser Sichtweise begegnet kritisch Allan Janik: Viennese Culture and the Jewish Self-Hatred Hypothesis: A Critique. In: Jews, Antisemitism and Culture in Vienna. Hg. von Ivar Oxaal, Michael Pollak und Gerhard Botz. London 1987, S. 75–88. Weininger: Geschlecht und Charakter (Anm. 29), S. 437. Ebd., S. 441.

239

Dass Weininger um die Angreifbarkeit seiner Konstruktionen weiß, scheint im Text immer wieder auf. Ganz grundsätzlich gleich zu Beginn etwa motiviert er die begriffliche Ordnung der Wirklichkeit als „Selbstbehauptung des Geistes“81 in Abwehr einer chaotischen Welt, vergleicht sie gar mit der Bändigung des Wahnsinnigen und gibt so Einblick in die eigentliche Verunsicherung des Erkenntnissuchenden. Wenn es an anderer Stelle gilt, eine der unzähligen Entsprechungen aufzudecken, zeigt Weininger unfreiwillig an, dass hinter der Gewissheit, mit der ihre Existenz behauptet wird, im Grunde nur ein vager subjektiver Eindruck steht: „Den meisten Menschen wird die Parallele wohl zuerst ganz fiktiv erscheinen, und doch däucht mich das Bestehen einer engen Analogie über allen Zweifel erhaben“82. Gegen den naheliegenden Verdacht, dass seine Kosmologie lediglich Produkt persönlicher Imagination zum Zwe­ cke der Selbstvergewisserung sein könnte, versucht sich Weininger durchweg zu immunisieren. Die Strenge wissenschaftlicher Beweisführung, die er der Form nach auch noch bei wildesten Spekulationen einzuhalten vorgibt, erhält hier eine wichtige Funktion. Entscheidend für die Beglaubigung ist jedoch die Einrichtung einer wahrheitsmächtigen Instanz, die nicht den Beschränkungen der Laborwissenschaft unterliegt, sondern dem Künstler gleich aus analytischer Selbstbeobachtung Welterkenntnis generieren kann.83 Bereits das Vorwort stat­ tet die Untersuchung dahingehend mit einer besonderen Dignität aus und weist die Leser darauf hin, dass die Beantwortung der Frauen- als Menschheits­ frage allein „unter der sicheren Führung einer Weltanschauung“84 gelingen könne. Mit der Konstruktion einer weltanschaulichen Gesamtperspektive ver­ setzt sich Weininger in die Lage, über die methodischen Brüche seiner Studie hinweg einen vermeintlich stringenten Erkenntnisweg aufzuzeigen. Der Wech­ sel von der Mannigfaltigkeit sexueller Zwischenstufen zum eindeutig bestimm­ ten Geschlechtscharakter, die ambivalente Doppelberufung auf Erfahrungswis­ sen, bei der das nach naturwissenschaftlichen Vorgaben erzeugte gegebenen­ falls dem introspektiv, aus „der inneren Erfahrung“85 gewonnenen untergeord­ net wird, das Changieren zwischen abstraktem Ideal und Wirklichkeit – unter dem Dach einer Weltanschauung kann die Reihe der Inkonsistenzen als stetige Fortentwicklung von der niederen Empirie zu letzten Menschheitsfragen er­ scheinen. Die Kohärenz der Darstellung soll ein alles überschauendes und mit besonderen Fähigkeiten ausgestattetes Ich garantieren. Eine solche „Höhe des

81 82 83 84 85

Ebd., S. 3. Ebd., S. 302. Vgl. ebd., S. Vf. Ebd., S. VIII. Als weltanschauliche Orientierungsgrößen führt Weininger Platon, Kant und das Christentum an. Ebd., S. X.

240

Ausblicks“ erreicht Weininger jedoch nicht „gleichsam gezwungen“86, sondern durch systematischen Einsatz argumentativer und rhetorischer Strategien. Bei der Textorganisation dominieren Muster der Wiederholung und Variati­ on, über die Weininger seine Ordnungsmodelle von der Biologie bis in die Philosophie durchprojiziert. Das zeigt sich etwa beim Gedanken der Periodizi­ tät,87 am deutlichsten aber in den unzähligen Dichotomisierungsoperationen, die stets aufs Neue die Unterscheidung von Mann und Frau durchspielen. Da­ mit der binäre Schematismus den absoluten Gegensatz hervorbringen kann, ist zugleich das Homogenisieren auf jeder Seite notwendig. Was zuerst durch frei­ es Analogisieren in einen vagen Zusammenhang gebracht worden war, treibt Weininger deshalb regelmäßig zur vollständigen Identifikation. Die Einzelana­ lysen zur Frau gehen sämtlich in der Feststellung auf, dass die „Weiblichkeit […] identisch mit der Kuppelei“88 sei, diese wiederum „nichts anderes als universale Sexualität“89. Eine konzertierte Lösung aller Probleme liegt greifbar nahe, denn: „Das Problem des Weibes und das Problem des Juden ist ganz identisch mit dem Problem der Sklaverei“90. Zum geschlossenen Ideal fügen sich die Bestimmungen auf der Gegenseite vor allem hinsichtlich der Geniali­ tät, die Weininger als „potenzierte Männlichkeit“91 versteht. Genialität erweist sich unter anderem als „identisch […] mit höherer, weil allgemeinerer Bewußt­

86 87

88 89

90 91

Ebd., S. VII. Er wird ursprünglich eingeführt, um organische und psychische „Schwankungen der sexu­ ellen Charakteristik“ (ebd., S. 65) im zweigeschlechtlichen Individuum zu beschreiben. Weil in einer Studie, die elementare Wesensunterschiede, nicht historische Prozesse erklären will (vgl. zum Beispiel ebd., S. 112), die Dringlichkeit einer Entscheidung des Geschlechterkampfes gerade in der Jetztzeit unmotiviert bleiben müsste, aktualisiert Wei­ ninger das periodische Schema für eine rudimentäre Geschichtsphilosophie. Auch den weltgeschichtlichen Verlauf präge eine „gewaltige Periodizität“ (ebd., S. 90), phasenweise würden vermehrt „männliche Weiber“ und „weibliche Männer“ (ebd.) geboren, weshalb dann jeweils eine stärkere Emanzipationsbewegung, aber auch eine Feminisierung der Kultur zu verzeichnen sei. Im Rahmen der Psychologie des ‚bedeutenden Menschen‘ findet sich die Idee in der periodischen Genialität wieder (vgl. ebd., S. 135–137), mit esoterischem Einschlag klingt sie zudem an, wenn Weininger bei der Erläuterung seiner Reihen des niederen und höheren Lebens an die „Theorie von der ‚Menschheitswelle‘“ (ebd., S. 379) gemahnt, eine biologisch-kosmische Evolutionsvorstellung, die er bei dem Theosophen Alfred Percy Sinnett beschrieben gefunden hat. Ebd., S. 356. Ebd., S. 399. Zur Synonymisierung von Weiblichkeit, Kuppelei und Sexualität vgl. auch S. 350f., 387, 401, 586. Angebahnt wird sie durch Gleichsetzungen wie: „die weibliche Art der Eitelkeit […] fällt zusammen mit dem Mangel des intelligiblen Ich“ (ebd., S. 260), oder: „Die weibliche Schamhaftigkeit ist aber nichts anderes als Prüderie, d. h. eine demonstrative Verleugnung und Abwehr der eigenen Unkeuschheit“ (ebd., S. 369). Ebd., S. 450. Ebd., S. 144.

241

heit“92, „mit universeller Verantwortlichkeit“93 und „mit Tiefe“94. Nur vom Mann kann sie angestrebt werden, weil ihm allein „Persönlichkeit und Indivi­ dualität, (intelligibles) Ich und Seele, Wille und (intelligibler) Charakter“ zu­ kommen, was im Grunde „alles ein und dasselbe“95 benennt. Durch die perma­ nente Wiederholung solcher Identifikationen installiert Weininger einen argu­ mentativen Mechanismus, mit dem er seine langen oppositionellen Reihen in tautologischer Selbstbestätigung durcharbeitet und den Geschlechtergegensatz zur beliebig auffüllbaren Hohlstruktur ausgestaltet. Indem die Begriffe ‚Weib‘ und ‚Mann‘ im Verlauf dieser Operationen eine Menge heterogener Konzepte absorbieren, werden ihre Konturen unscharf, es entsteht Mehrdeutigkeit. Das führt Weininger in ein Dilemma, weil er zwar als Weltanschauungskünstler darauf abzielt, bedeutungsreiche Symbole zu schaffen, deren Ganzheitlichkeit nur geschaut und erfühlt werden kann, als Weltanschauungswissenschaftler aber zugleich auf rationaler Zugänglichkeit beharren und jede Ambiguität ausschalten muss.96 In der Funktion, Eindeutigkeit zu suggerieren, stehen die Anstrengungen, die Weininger unternimmt, um die vielen aufgerufenen Bilder des Weiblichen und Männlichen immer wieder in zwei einzelnen aufgehen zu lassen, die je für sich kongruent und zueinander in völligem Kontrast erscheinen sollen, aber auch diverse Versuche, die Formelsicherheit aus dem naturwissenschaftlichen Teil, zumindest im metaphorischen Sinne, bis in den metaphysischen Bereich auszudehnen. Auch dort soll noch der Eindruck einer ‚Verrechenbarkeit‘ von W und M entstehen, bei der die sittlich und geistige Erniedrigung des Menschen exakt seinen weiblichen Anteilen entspricht, der „Schuldsumme“97, die es zu tilgen gilt. 92 93 94

95 96

97

Ebd., S. 141. Ebd., S. 236. Ebd., S. 242. Wie forciert Weininger hier seine Diagnosen zur Deckung bringt, zeigt sich auch, nachdem er dem Genius das stärkste Unsterblichkeitsbedürfnis zugeschrieben hat: „Und auch dies fällt zusammen mit allen anderen Tatsachen, die bisher über seine Natur aufgedeckt wurden“ (ebd., S. 173). Ebd., S. 241. Der Übergang vom Begriff zum Symbol in der W/M-Typologie ist durch die grundsätz­ liche Engführung von Philosophie und Kunst vorgezeichnet: „Der Philosoph […] hat nur eine der Form nach vom Künstler verschiedene Aufgabe. Was diesem Symbol ist, wird jenem Begriff“ (ebd., S. VI). W und M sind schon am Ende des ersten Teils von Geschlecht und Charakter mehr als die aus „dem heuristischen Motive“ (ebd., S. 12) einer annäherungsweisen Wirklichkeitsabbildung heraus entwickelten Konstrukte, als die sie eingeführten wurden. Das zeigt spätestens ihre Instrumentalisierung für eine Neudeu­ tung der Geschichte der emanzipierten Frauen (vgl. ebd., S. 79–93). Im zweiten Teil, in dem sich Weininger als psychologischer Philosoph versteht, beweist er, wie durchlässig auch noch die formale Trennung zum symbolschaffenden Künstler ist. Obwohl es expli­ zit darum geht, dem Mann als „Ebenbild Gottes“ die Frau als „Symbol des Nichts“ (ebd., S. 398) gegenzuordnen, hält er die Behauptung aufrecht, nicht „metaphysische Ideen“, sondern „theoretische Begriffe“ (ebd., S. 390) zu verhandeln. Ebd., S. 456, vgl. auch S. 439. Für weitere mathematisierende Metaphorik vgl. die Ab­ schnitte zur „völligen Nichtigkeit des weiblichen Lebens“, in denen die „Nullität“ (ebd.

242

Den Mangel an Erkenntniszugewinn im dauernden Kreisen um die Minder­ wertigkeit der Frau kompensiert Weininger durch Sprichwörtlichkeit. Zu den strukturierenden Elementen in Geschlecht und Charakter gehören Pseudosenten­ zen, die weniger ein zuvor Bewiesenes verallgemeinern, als vielmehr die fest­ stehenden Urteile in pointierter Formulierung immer wieder einstreuen: „Der größte, der einzige Feind der Emanzipation der Frau ist die Frau.“98 „Der tiefstste­ hende Mann steht noch unendlich hoch über dem höchststehenden Wei­ be“99. „Man ist Mann oder man ist Weib, je nachdem ob man wer ist oder nicht.“100 Mit repetitiven Verfahren steuert Weininger den Gesamtaufbau der Argumentation, auf ihren Effekt setzt er aber auch im unmittelbaren syntakti­ schen Zusammenhang. Ein häufig verwendetes Stilmittel ist die Aneinanderrei­ hung von Fragen. Es wird eingesetzt, um das breite Spektrum einer aktuell besprochenen Thematik aufzuzeigen und die Untersuchung gleichzeitig dialo­ gisch zu gestalten, überwiegend handelt es sich jedoch um eine Verkettung rein rhetorischer Fragen, die appellativ auf dem vermeintlich Offensichtlichen insistieren, beispielsweise der angeblich jüdischen Irreligiosität: Soll ich dies nun noch begründen? Soll ich lange ausführen, wie der Jude ohne Eifer im Glauben ist […]? Soll ich über das Wesen des jüdischen Gebetes hier mich verbrei­ ten und seine Formelhaftigkeit […] betonen? Soll ich endlich wiederholen, was die jüdische Religion ist: keine Lehre vom Sinn und Zweck des Lebens, sondern eine historische Tradition […]? Es wäre wohl auch sonst klar: der Jude ist der irreligiöse Mensch […].101

Der Markierung wichtiger Passagen dienen zudem Figuren der Wortwiederho­ lung und -variation, die eine rhythmische und klangliche Intensivierung bewir­ ken. So entwirft Weininger pathetisch die gegenwärtige Bedrohungskulisse, S. 383) der Frau erwiesen werden soll. Sie habe, „mathematisch gesprochen, kein Vorzei­ chen“ (ebd., S. 384). 98 Ebd., S. 93, vgl. auch ebd., S. 447. 99 Ebd., S. 342, vgl. auch ebd., S. 404. 100 Ebd., S. 383. Zwischenresümees dieser Art bieten Weininger stets die Gelegenheit, das Denken in Gegensätzen rhetorisch virtuos zu präsentieren. Er unterstreicht die konsta­ tierten Subjekt-Objekt-Konstellationen durch einen forschen Chiasmus: „der Mann hat den Penis, aber die Vagina hat die Frau“ (ebd., S. 116). „Der bedeutende Mensch hat eine Geschichte, den Imperator hat die Geschichte“ (ebd., S. 178). Entsprechende Rollenzuschrei­ bungen liefert er in polyptotischem aktiv/passiv-Wechsel samt sexueller Konnotation: „Der problematische Mann will erkennen, das problematische Weib will doch nur erkannt werden“ (ebd., S. 251). „Der bedeutende Mensch zeugt die Zeit, der Imperator wird von ihr gezeugt und – getötet“ (ebd., S. 178). 101 Ebd., S. 433f., für weitere Reihen vgl. außerdem ebd., S. 15, 99f., 225, 274f., 344. Die mit der dialogischen Öffnung zuweilen verbundene Bereitschaft zur Differenzierung der eigenen Position erweist sich bei Weininger meist als eine nur vordergründige. So sieht er an einer Stelle plötzlich alle bisherigen Ergebnisse „nochmals in Frage gestellt“ (ebd., S. 352) und hält inne, um eine Liste möglicher Einwände abzufragen, verkündet dann aber lapidar: „Es ist wohl offenbar, daß es sich in all diesen Antinomien um ein und dieselbe Frage handelt“ (ebd., S. 353).

243

indem er 12–fach anaphorisch die „Zeit“102 in ihrer Dekadenz beschwört, ver­ senkt sich mit einer Geminatio und ihrer graphisch-semantischen Abwandlung in den einsamen Kantischen Menschen – „er ist allein, allein“; „Nichts ist ihm, dem Alleinen, All-Einen übergeordnet“103 – oder räsoniert im rhythmisierten Wortspiel mit gereimter Bewertung über das ‚niedere‘ Leben, „jenes sinnliche und sinnenfällige, hinfällige Leben“104. Auf eine Weltanschauung beruft sich Weininger nicht einfach, um seinen Argumentationsmarathon mit einem populären Schlagwort auszustaffieren, Geschlecht und Charakter inszeniert Weltanschauung in der Praxis, fundiert sie konzeptuell und enthält zudem „eine ‚Theorie‘ ihres Entstehens“105. Der zweifache Erfahrungszugriff durch äußere Welt- und innere Selbstbeobachtung schafft die Möglichkeit, Erkenntnisse unbegrenzt zu veranschaulichen, die Be­ weisnotwendigkeit im Letzten aber auszusetzen. Dass die aufgestellten Gegen­ sätze bestehen und die essentiell erklärenden sind, „muß man […] erschaut haben, oder es in der Wirklichkeit wiederzufinden trachten, um sich zu über­ zeugen, ob diese dem Schema sich bequem einordnet.“106 Der Wahrheitsbesitz ist demjenigen vorbehalten, der über besondere Fähigkeiten verfügt, dennoch kann das abstrakt Erschaute quasiempirisch verifiziert werden. Bei der Wirk­ lichkeit, die Weininger mit seinem Schema abgleicht, handelt es sich oftmals nicht um die wissenschaftlich erforschte, sondern um die alltagsweltliche. Sie lässt sich zum einen deutlich ‚bequemer‘ einordnen, weil der experimentelle Aufbau wegfällt, zum anderen ist sie jedem zugänglich, sodass eine Anbindung an das tägliche Erleben der Leserschaft stattfinden kann. Weininger führt vor, wie das Bekannte nur mit wahrheitsgewissem Blick durchdrungen werden muss, damit es seine eigentliche Bedeutung preisgibt. Durch eine parallel dazu praktizierte „Ethisierung der Enthüllung“107 erscheinen abweichende Interpre­ tationen nicht nur falsch, sondern auch böse. Die textimmanent entstehende Beziehung zum Leser ist asymmetrisch angelegt. Über jeden Zweifel erhaben bleiben die Geschlechterschablonen, wer ihre Gültigkeit akzeptiert, findet sich jedoch eingeladen, gemeinsam mit dem Autor das Alltägliche einer Allegorese

102 103

104

105 106 107

244

Ebd., S. 441. Ebd., S. 210. Geschlecht und Charakter soll auch ein Klangerlebnis bieten, wofür Weinin­ ger immer wieder seiner Vorliebe für paronomastische Wortspiele nachgibt. So lamen­ tiert er über das „sinnliche und sinnenfällige, hinfällige Leben“ (ebd., S. 380) oder stellt die „die ontologische Verlogenheit des Weibes“ (ebd., S. 356) fest. Ebd., S. 380. Vgl. auch: „Das Weib ist weder tiefsinnig noch hochsinnig, weder scharf­ sinnig noch geradsinnig, es ist […] überhaupt nicht ‚sinnig‘: es ist als Ganzes Un-Sinn, un-sinnig. Aber das ist noch nicht schwachsinnig“ (ebd., S. 343). Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 73), S. 356. Weininger: Geschlecht und Charakter (Anm. 29), S. 282. Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 73), S. 372.

zu unterziehen und ihm bei seiner Lösung der „tiefsten Rätsel[] des Daseins“108 zu folgen. In Geschlecht und Charakter wechseln daher apodiktische Verordnun­ gen109 mit Versuchen, das Behauptete erfahrbar, vor allem sichtbar zu vermit­ teln.110 Das Selbstverständnis des Universaldeuters, das dem Leser größenwahnsin­ nig erscheinen mag, versucht Weininger im Rahmen seiner Theorie rational zu begründen. Die privilegierte Position, von der aus er die geschaute Ord­ nung der Dinge erklärt, sichert die Verklammerung von Sexualcharakterologie und weltanschaulicher Lehre. Eine Weltanschauung kann nach Weiningers Verständnis nicht aus noch so ambitionierter Polyhistorie resultieren, sie stellt vielmehr die erlebte Ganzheit vor und wurzelt im „Ich-Ereignis“111, das den ‚bedeutenden Menschen‘ auszeichnet. In der höchsten Verbindung von Indivi­ duation und universaler Erkenntnis, die Geschlecht und Charakter kennt, im Genie, ist das weltanschauende Ich selbst als „der lebendige Mikrokosmos“112 konzipiert. Das aufgestellte Männlichkeitsideal enthält hier zugleich ein „idea­ lisiertes Selbstporträt“113 des Verfassers. Ohne explizit in den Vordergrund zu 108 109

110

111 112 113

Weininger: Geschlecht und Charakter (Anm. 29), S. VIII. Exemplarisch: „Darum hat die Losung des Kampfes um eine psychologische Psychologie in erster Linie zu sein: Hinaus mit der Empfindungslehre aus der Psychologie!“ (ebd., S. 102) „[E]in Mensch, der das Ich leugnet, kann nie ein bedeutender Mensch sein“ (ebd., S. 213). „Nur so, nicht anders, ist die Frauenfrage zu lösen, für den, der sie verstanden hat“ (ebd., S. 456). „Wer Krankenschwestern beobachtet“ (ebd., S. 255), soll entdecken, dass ihr Beruf nicht karitative Tugenden, sondern das Fehlen von Mitgefühl voraussetzt. Wie wenig verrät­ selt die weibliche Psyche verglichen mit der männlichen ist, kann jeder im spontanphy­ siognomischen Alltagstest überprüfen: „Man braucht nur auf die Gasse zu gehen“ (ebd., S. 277). Bereits zu Beginn wird der Leser angeregt, die nötigen Seh-Fertigkeiten zu schulen (vgl. ebd., S. 37). Im Uneigentlichen rekurriert Weininger ebenfalls gerne auf das Auge. Bei einem gerade aufgestellten werttheoretischen Gesetz genügt die „eilende Rundsicht […], um es überall nachzuweisen“ (ebd., S. 169). Nach einigen anderen „tut sich vor dem geblendeten Auge“ im Falle des Genies „eine fast noch wunderbarere Ko­ inzidenz auf“ (ebd., S. 174). „Dem stumpfen Blicke“ derjenigen, die Liebe mit Sexualität gleichsetzen, wird belehrend „folgendes zu schauen gegeben“ (ebd., S. 317). Neben dem optischen versucht Weininger weitere Sinne anzusprechen: „man versuche nur, tief und Weib wie Attribut und Substantiv miteinander zu verbinden: ein jeder hört den Wider­ spruch“ (ebd., S. 242). „[M]an versuche nachzufühlen, wie für die Frau psychologisch beides [das Denken an den Koitus und dessen positive Bewertung] dasselbe ist“ (ebd., S. 347). Beispielhaft für den Adressateneinbezug ist außerdem Weiningers Hinführung auf die ‚Henide‘. Hier mischt er in die kritische Diskussion der Empfindungspsycholo­ gie eine überwiegend aus dem normalen Leben gegriffene Beispielreihe, die den Leser durch wiederholte schnelle Wechsel zwischen abstrakten und persönlichen Perspektiven (ich, wir, man, der Mensch etc.) situativ in das Stadium des Vorbewussten hineinver­ setzt, um schließlich zu dem Ergebnis zu gelangen: „Es liegt im Begriffe der Henide, daß sie sich nicht näher beschreiben lässt, als ein dumpfes Eines“ (vgl. ebd., S. 117–126, hier S. 126). Ebd., S. 216. Ebd., S. 220. Le Rider: Der Fall Otto Weininger [Anm. 27], S. 111.

245

treten, legt Weininger nahe, die Merkmale der Genialität auch bei dem zu finden, der sie beschreibt. Der Genius vereinigt viele anthropologische Typen in sich und ist daher „ein großer Menschenkenner“114, er kann den Wechsel der Zeiten aus der Distanz betrachten, weil er selbst zeitlos ist,115 in seiner Existenz und seinen Urteilen folgt er der „Idee des Ganzen“116. All dies prä­ destiniert ihn zur weltanschaulichen Leitfigur, der geniale Mensch „ist nur der, welcher bereits angefangen hat zu sehen, und den anderen die Augen öffnet.“117 Weininger demonstriert mit den Einsichten, die er durch die Metho­ de der Selbstbeobachtung gewinnt, dass auch er die Struktur und Ordnung der gesamten Welt in sich trägt und zeigt durch die eigene Untersuchung seine Bereitschaft an, die Rolle des Augenöffners zu übernehmen. Verweise auf den ‚bedeutenden Menschen‘ zur Legitimation der Vorgehensweise und eine Verbrüderung mit den historischen Vorbildern sind ebenfalls Ausdruck dieser Selbstempfehlung.118 Der eingeschriebene Selbstentwurf Weiningers hat auch Konsequenzen, die grundsätzlich den Realitätscharakter und die Redesituation 114

115 116 117 118

246

Weininger: Geschlecht und Charakter (Anm. 29), S. 140. Aussagen über den Menschen haben nach Weininger in Dichtung, Malerei oder Philosophie dieselbe Voraussetzung: „Um nun einen Menschen zu erkennen oder darzustellen, muß man ihn verstehen. Um aber einen Menschen zu verstehen, muß man mit ihm Ähnlichkeit haben, man muß sein wie er, um seine Handlungen nachzubilden und würdigen zu können, muß man die psychologischen Voraussetzungen, die sie in ihm hatten, in sich selbst nachzuerzeu­ gen vermögen: einen Menschen verstehen, heißt ihn in sich haben“ (ebd., S. 134). Vgl. ebd., S. 174. Ebd., S. 220. Ebd., S. 222. Der physiognomisch arbeitende Weininger vergisst nicht anzumerken, dass es „keinen hervorragenden Menschen“ gebe, „der nicht bewußt Physiognomiker wäre“ (ebd., S. 73), der Vertreter einer philosophischen Psychologie ist zudem überzeugt, dass „ein bedeutender Mensch“ nicht „bloßer empirischer Psychologe“ oder „bloßer Physiker“ (ebd., S. 220) sein könne. Sogar die Tendenz zur Sprichwort-Kreation erhält eine würdi­ ge Referenz, wenn daran erinnert wird, wie auch die sprachlichen Allgemeingüter einst von einem einzelnen schöpferischen Genie geprägt worden seien (vgl. ebd., S. 175f.). Des Öfteren demonstriert Weininger seine außergewöhnliche Verbindung zur Geistes­ geschichte und ihrem Personal. In der „historische[n] Revue über die emanzipierten Frauen“ (ebd., S. 83), aber auch im Falle der geschätzten Mentoren hilft durchweg an Stellen, an denen die theoretische Auseinandersetzung versagt, eine spekulative Einfüh­ lung in die Persönlichkeit (Kant: vgl. ebd., S. 207–209; Kant, Schopenhauer: vgl. ebd., S. 316) oder die Deutung von Gesichtszügen aus (Goethe, Beethoven, Kant, Schopen­ hauer: vgl. ebd. S. 137; Schopenhauer: vgl. ebd., S. 316). Wo die eigene Position beson­ derer Gewichtung bedarf, stellt sich Weininger entweder in eine Linie mit ausgewählten Vordenkern und appelliert an deren Prestige (Sokrates, Platon, Kant, Fichte: vgl. ebd., S. 193; Platon, Aristoteles: vgl. ebd., S. 393) oder lässt die historische Unterstützung gleich gesammelt antreten. So sieht er „Pythagoras, Platon, das Christentum […], Tertulli­ an, Swift, Wagner, Ibsen“ ebenfalls den erlösenden Untergang der Frau vertreten: „Und in solcher Gemeinschaft den Bannfluch Nietzsches zu tragen ist ein Leichtes“ (ebd., S. 455). Durch den engen Kontakt, den Weininger mit Denkern der Vergangenheit pflegt, erfüllt er wieder ein Kriterium der Bedeutsamkeit, weil „große Männer wie zu den Menschen neben ihnen, so auch zu allen Persönlichkeiten der Geschichte […] in ein lebendigeres, verständnisvolleres Verhältnis treten“ (ebd., S. 231).

in Geschlecht und Charakter betreffen. Das genialische Weltanschauungs-Ich als Mikrokosmos kann agieren wie ein Erzähler in fiktionalen Texten. Ihm bieten sich Möglichkeiten der Wissensvermittlung und Perspektivierung, die in faktualen und insbesondere in wissenschaftlichen Darstellungen nicht denk­ bar wären. Weininger geht es darum, eine kommunikative Konstellation zu entwerfen, in der Aussagen gerechtfertigt erscheinen, ohne empirisch bewiesen oder theoretisch begründet werden zu müssen, in der narrativen Entfaltung macht er von den entsprechenden Freiheiten nicht so exzessiv Gebrauch wie Weltanschauungsautoren, die sich explizit an die Romangattung anlehnen, etwa Wilhelm Bölsche. Dass Weininger über Wissen verfügt, mit dem sonst Erzählern in fiktionaler Literatur operieren, äußert sich dennoch immer wieder im Sprechen über die Untersuchungsobjekte, es wird regelmäßig angegeben, was und wie die Protagonisten denken oder fühlen.119 Ausführlicher ins Erzäh­ len kommt Weininger dabei kaum, meist skizziert er für seine Fallbeispiele kurze Situationen aus dem täglichen Leben, in denen aus einer die Leserschaft einbeziehenden Man-Perspektive heraus Beobachtungen angestellt und im gno­ mischen Duktus generalisiert werden: In Leihbibliotheken sieht man hauptsächlich Frauen aus- und eingehen, und zwar auch solche, die begütert genug wären, mehrere Büchereien zu kaufen; aber es fehlt ihnen eine größere Innigkeit des Verhältnisses zu allem, was ihnen gehört, als zu allem, das sie nur entlehnt haben.120 Wenn in einen Raum, in dem ein Weib sich befindet, ein Mann tritt und sie ihn er­ blickt, seinen Schritt hört oder seine Anwesenheit auch nur ahnt, so wird sie sofort eine ganz andere. Ihre Miene, ihre Bewegungen ändern sich mit unglaublicher Plötzlichkeit. Sie „richtet ihre Frisur“, zieht ihre Röcke zusammen und hebt sie, oder macht sich an ihrem Kleide zu schaffen, in ihr ganzes Wesen kommt eine halb schamlose, halb ängstliche Erwartung. Man kann im Einzelfalle oft nur darüber noch im Zweifel sein, ob sie mehr errötet über ihr schamloses Lächeln, oder mehr schamlos lächelt über ihr Erröten.121

Vereinzelt finden sich jedoch auch raffiniertere Wendungen ins Literarische, etwa in Form eines kleinen Pastiches. Auf die Bejahung der Kantischen Einsam­ keit führt Weininger seine Leser über eine im Nietzsche-Stil gehaltene Kritik 119

120 121

Vgl. exemplarisch die Inneneinsichten in W und M (ebd., S. 113f., 310), in den Ver­ brecher (ebd., S. 253), in Mutter und Prostituierte (ebd., S. 383) oder in Napoleon: „Über sich selbst mochte Napoleon nicht nachdenken, nicht eine Stunde durfte er ohne größere Dinge bleiben, die ihn ganz ausfüllen sollten: darum musste er die Welt erobern“ (ebd., S. 302). Mitunter nutzt Weininger solche Gelegenheiten auch für eine Veranschaulichung durch bildhaften Vergleich, etwa um die beschränkte Sicht seiner Protagonisten zu konterkarieren: „Die Mutter fühlt sich dem Manne stets überlegen, sie weiß sich als seinen Anker; indes sie selbst in der geschlossenen Kette der Generationen wohl gesichert, gleichsam den Hafen vorstellt, aus dem jedes Schiff neu ausläuft, steuert der Mann weit draußen allein auf hoher See“ (ebd., S. 293). Ebd., S. 266, vgl. auch S. 300. Ebd., S. 267f.

247

an Nietzsche heran. Der zunächst durch Wortwiederholung und -variation in kontemplative Situation gebrachte einsame Mensch, wird durch den plötzli­ chen Wechsel in einen fast dramatischen Modus in seinen Konflikten gezeigt: „Erlösung! Ruft er, Ruhe, nur schon Ruhe vor dem Feind, Frieden, nicht dies endlos Ringen […]. Wozu! Fragt er, schreit er hinaus ins Weltall“122, um dann beschämt die Einsamkeit anzuerkennen: Kantens einsamster Mensch lacht nicht und tanzt nicht, er brüllt nicht und jubelt nicht: er hat es nicht not Lärm zu machen, weil der Weltraum zu tief schweigt. […] Ja sagen zu dieser Einsamkeit, das ist das „Dionysische“ Kantens; das erst ist Sittlichkeit.123

Wie das Ich-Ideal in Geschlecht und Charakter theorieintern entworfen und nur implizit mit der Aufforderung zur Übertragung auf die Verfasserpersönlichkeit verknüpft wird, so erfolgt auch die autobiographische Beglaubigung verdeckt. Wieder spiegelt sich dabei zunächst ein Charakteristikum des ‚bedeutenden Menschen‘, die Fähigkeit, sich kontinuierlich zu erinnern und das eigene Le­ ben als sinnvolle Entwicklung zu erfassen,124 im methodischen Selbstverständ­ nis Weiningers. Er begreift sich in Vorarbeit einer zukünftigen Psychologie, die sich der ontogenetisch-morphologischen Betrachtung des Individuums wid­ men und den „gesetzmäßigen geistigen Lebensverlauf als Ganzes“ erklären soll: „Die Psychologie müßte anfangen, theoretische Biographie zu werden.“125 Als biographisches Entwicklungsmuster, rückt Geschlecht und Charakter das von Krise und Überwindung in den Mittelpunkt. Es findet sich in der Psycholo­ gie des Genies, das im Wechsel depressiver und ekstatischer Phasen seine Hö­ herentfaltung erlebt, und gewinnt insbesondere in der des Religionsstifters, des „genialste[n] Mensch[en]“126 Kontur. Modell steht Jesus Christus, bei dem Weininger in Abgrenzung zu Chamberlain zwar daran festhält, dass er Jude gewesen sei, „aber nur, um das Judentum in sich am vollständigsten zu überwin­ den.“127 Obwohl Weininger kaum autobiographische Informationen zur Verfü­ gung stellt, bietet er an, im Subtext der Abhandlung auch seine persönliche Überwindungsgeschichte mitzulesen. Offen angedeutet ist lediglich die des Wissenschaftlers, der sich „von der Biologie […] befreien [muss], um ganz Psy­ chologe sein zu können“128. Sie zieht sich durch die untersuchungsbegleitende Selbstbeschreibung, untermalt von eben der Kampfmetaphorik, die auch die 122 123 124 125 126 127 128

248

Ebd., S. 210. Ebd., S. 211. Vgl. dazu das Kapitel Begabung und Gedächtnis ebd., S. 145–181. Ebd., S. 165. Näher mit Weiningers Gedächtnis- und Biographietheorie beschäftigt sich Steuer: Die Logik der Biographie (Anm. 42), S. 173–195. Weininger: Geschlecht und Charakter (Anm. 29), S. 438. Allgemein zum krisenhaften Verlauf der Geniebiographie vgl. ebd., S. 135–137, 155f. Ebd., S. 440. Ebd., S. IXf.

Gegenüberstellungen von W und M, Judentum und Christentum prägt.129 Die­ se metaphorische Korrespondenz sowie die affektgeladene Sprache, mit der die Antipoden des idealen Mannes dämonisiert werden, signalisieren dabei stets, dass der Autor nicht nur den Empiristen in sich selbst überwindet, sondern auch den Juden und schließlich die „tiefste Furcht im Manne: die Furcht vor dem Weibe, das ist die Furcht vor der Sinnlosigkeit“130. Weininger schreibt seiner Abhandlung die Überwindung zur eigenen Weltanschauung ein, bringt sich gar als möglichen neuen Religionsstifter ins Spiel und grundiert so die insta­ bile Geschlechtertheorie mit einem kohärenzstiftenden Narrativ. In leicht zu entschlüsselnder Anspielung auf die eigene jüdische Herkunft prophezeit der Autor von Geschlecht und Charakter schließlich: „vielleicht aber liegt auch heute noch im Judentum die Möglichkeit, den Christ hervorzubringen, vielleicht sogar muß auch der nächste Religionsstifter abermals erst durch das Judentum hindurchgehen.“131 Besonders ehrfürchtige seiner Anhänger kostete es wenig jedenfalls wenig Mühe, aus den weltanschaulichen Überwindungstheorien, die das Buch darlegt, die Legende vom schwierigen Denker Weininger zu formen, der „mit den Augen des Genies der Menschheit innerste Leiden gesehen, das Gefühl tragischer Schuld unter zuckenden Schmerzen empfunden“132 hat. 129

130

131

132

Um die Gefahren zu verdeutlichen, der sich eine Charakterologie gegenwärtig ausge­ setzt findet, stellt Weininger sie „gegen zwei schlimme Feinde“, zwischen denen sie im „Kreuzfeuer“ (ebd., S. 104) bestehen muss, ehe er sich einer schwierigen Problemlösung zuwendet, „müssen die errungenen Positionen nach allen Seiten hin befestigt und gegen Angriffe geschützt werden“ (ebd., S. 279) und erst im 14. Kapitel des zweiten Teils ist es schließlich „möglich, gereinigt [von irritierenden Zweideutigkeiten] und gewaffnet [mit festen theoretischen Begriffen] nochmals vor die Frage der Emanzipation des Weibes zu treten“ (ebd., S. 442). Ebd., S. 399. Die emotionale Beteiligung des Verfassers äußert sich vor allem in Aus­ brüchen des Ekels vor Sexualität und Körperlichkeit überhaupt: „Alle Fécondité ist nur ekelhaft“ (ebd., S. 458, vgl. zum Beispiel auch S. 339, 348, 358). Zur Körperfeindlichkeit Weiningers und seiner verbal abwertenden ‚Versinnlichung‘ von Frau und Jude vgl. Peter Labanyi: ‚Die Gefahr des Körpers‘. A Reading of Otto Weininger’s Geschlecht und Charakter. In: Fin de Siècle Vienna. Proceedings of the Second Irish Symposium in Austrian Studies held at Trinity College, Dublin, 28 February – 2 March 1985. Hg. von Gilbert J. Carr und Eda Sagarra. Dublin 1985, S. 161–182. Weininger: Geschlecht und Charakter (Anm. 29), S. 440. In lockerer Anlehnung an eine Formulierung aus der Bibel („Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!“ [Offenbarung 2,7 u. a.]) hatte Weininger schon im Vorwort eine Hoffnungsbot­ schaft angekündigt: „Die Bejahungen des Buches sind vielleicht weniger kräftig instru­ mentiert worden: wer hören kann, wird sie wohl aus allem zu vernehmen wissen“ (Weininger: Geschlecht und Charakter [Anm. 29], S. IX). Wie Weininger sich durch implizite Zuschreibungen den „Nimbus des wiedergekehrten Heiland[s]“ verleiht, be­ obachtet auch Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 73), S. 372. Zur identitätsstiftenden Funktion der Jesusfigur bei Weinin­ ger vgl. außerdem Astrid Schweighofer: Religiöse Sucher in der Moderne. Konversionen vom Judentum zum Protestantismus in Wien um 1900. Berlin u. a. 2015, S. 334–337. Robert Saudek: Geleitwort. In: Otto Weininger: Gedanken über Geschlechtsprobleme. Hg. von Robert Saudek. Berlin 1907, S. 7–14, hier S. 12f.

249

b) Broch und die Dogmatiker. Mit und gegen Weininger zu Kant In der Geschichte der Sexualforschung ist Weininger eine skurrile Randno­ tiz geblieben und sein Einfluss auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts be­ schränkt sich grosso modo auf den, wenn auch wichtigen Fall Ludwig Wittgen­ steins.133 Tiefere Spuren hat Geschlecht und Charakter in der fiktionalen Litera­ tur hinterlassen. Zu den vielen Autoren, die sich inspirieren ließen, zählen etwa Georg Trakl, Franz Kafka, Heimito von Doderer oder James Joyce.134 Auch bei Robert Musil und Hermann Broch hat die Literaturwissenschaft Weininger-Be­ züge festgestellt.135 Während man für Musils „Weiningerismus“136 Anzeichen im Werk, aber keine belastbaren Rezeptionsbelege findet, lässt sich Brochs Weininger-Lektüre gut nachverfolgen. Von einer direkten Auseinandersetzung mit Geschlecht und Charakter zeugt die zwischen 1908 und 1914 verfasste kultur­ kritische Essayistik, über die der Textilunternehmer Broch in den Zweit- und späteren Hauptberuf als Autor einsteigt.137 Für den anfangs noch unter dem Einfluss vitalistischer Strömungen stehenden Broch wird Weininger neben 133

134

135

136

137

250

Über Wittgensteins Weininger-Rezeption informiert zum Beispiel der Sammelband von David G. Stern und Béla Szabados (Hg.): Wittgenstein Reads Weininger. Cambridge 2004. Vgl. Ursula Heckmann: Das verfluchte Geschlecht. Motive der Philosophie Otto Wei­ ningers im Werk Georg Trakls. Frankfurt 1992. Gerald Stieg: Kafka und Weininger. In: Dialog der Epochen. Studien zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Walter Weiss zum 60. Geburtstag. Hg. von Eduard Beutner u. a. Wien 1987, S. 88–100. Gerald Sommer: Doderer und Weininger. Anmerkungen zur produktiven Rezeption höchst fragwürdiger Ideologeme. In: Excentrische Einsätze. Studien und Essays zum Werk Heimito von Doderers. Hg. von Kai Luehrs. Berlin und New York 1998, S. 282–301. Zu James Joyce vgl. zum Beispiel Marilyn Reizbaum: Weininger and the Bloom of Jewish Self-Hatred in Joyce’s Ulysses. In: Jews and Gender. Responses to Otto Weininger. Hg. von Nancy A. Harrowitz und Barbara Hyams. Philadelphia 1995, S. 207–213 (weitere Beiträge im selben Band) und Franz Karl Stanzel: Der weibliche Mann. Eine rückläufige Spurensuche von James Joyce zu Otto Weininger. In: Poetica 29 (1997), S. 141–157. Vgl. etwa Gisela Brude-Firnau: Wissenschaft von der Frau? Zum Einfluß von Otto Weiningers „Geschlecht und Charakter“ auf den deutschen Roman. In: Die Frau als Heldin und Autorin. Neue kritische Ansätze zur deutschen Literatur. Hg. von Wolfgang Paulsen. Bern 1979, S. 136–149. Fanta: Die Entstehungsgeschichte des „Mann ohne Eigenschaften“ (Anm. 5), S. 188. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, „[u]n même paysage spirituel“ (Marie-Charlotte Marcetteau: Robert Musil et Otto Weininger. Différence raciale et différence sexuelle dans „L'Homme sans qualités“. Lille 1989, S. 1) als Ausgangspunkt für eine Untersu­ chung von Parallelen anzusetzen. Gerade ein Buch wie Geschlecht und Charakter, das bestehende Vorurteilsmuster aufgreift, verführt allerdings dazu, bei literarisierter Miso­ gynie oder stereotyp gezeichneten Frauenfiguren mögliche Weininger-Einflüsse überbeziehungsweise geteilte Quellen und eine länger zurückreichende Motivgeschichte unterzubewerten. So in der Tendenz Brude-Firnau, vor allem bei Musil, obwohl sie die Problematik sogar anspricht (vgl. Brude-Firnau: Wissenschaft von der Frau? [Anm. 135], S. 137, 144, 146). Zum biographischen Hintergrund der frühen Arbeiten vgl. Paul Michael Lützeler: Her­ mann Broch. Eine Biographie. Frankfurt am Main 1985, S. 43–61. Manfred Durzak berichtet, Hermann Friedrich Broch de Rothermann, habe ihm bestätigt, dass sein Vater

Schopenhauer, Nietzsche und Karl Kraus zu einem der prägenden Leseerlebnis­ se in dieser frühen Phase.138 Zum ersten Mal taucht der Name Weininger in den privaten Entwürfen Kultur 1908/1909 auf. In zeittypisch apokalyptischer Manier verkündet Broch darin das Ende einer Kultur, die ihren Zenit erreicht habe, sich jetzt an übermä­ ßiger Rationalität selbst erschöpfe und im Niedergang auch die Kunst mitreiße: „stirbt die Kultur, so muß ihre Kunst dasselbe tun.“139 Als Signum, gleicherma­ ßen aber auch als Möglichkeit der morbiden Phase erscheint, dass in ihr „die Lebensrätsel im Rahmen der europäischen Kultur gelöst werden können.“140 Broch kombiniert nun die Klage über den gegenwärtigen Zustand mit dem Versuch, die Lösbarkeit der letzten Rätsel tatsächlich vorzuführen. Trotz der probeweisen Selbstinszenierungen als desillusionierter, satirisch-polemischer Kommentator oder widerwilliger Vollstrecker der Kulturtragödie gelingt es ihm dabei nicht, darüber hinwegzutäuschen, dass er sich in ein widersprüchli­ ches Doppelspiel verwickelt, in dem sich die vitalistische Emphase, von der die Kritik an der herrschenden Verwissenschaftlichung angetrieben wird, schließ­ lich genau auf gegnerischem Terrain entlädt. In einen wahren Beweisrausch hineingeratend, berechnet Broch das „Urprinzip allen Seins“141 und bringt es in der „Urformel des Terzrhythmus“142 für das Ästhetische zur Ableitung. Im Resultat wird die philosophisch-mathematische Akrobatik mit Zufriedenheit für das Geleistete, aber auch mit Skepsis begutachtet: Ein Teil stützt den anderen, und es vollendet sich eine Gedankenkonstruktion, von der ich persönlich zwar nichts halte, die aber die Vollendung des Rationalismus der weißen Rasse bildet, und an der die großen Geister dieser Rasse von Plato bis Weinin­ ger gearbeitet haben.143

138

139

140 141 142 143

Geschlecht und Charakter „sorgfältig studiert hat“ (Manfred Durzak: Hermann Broch. Der Dichter und seine Zeit. Stuttgart u. a. 1968, S. 16, 190). Einen Überblick über die verschiedenen Impulse für Brochs frühe Kulturkritik geben die Arbeiten Paul Michael Lützelers. Vgl. hier vor allem Paul Michael Lützeler: Her­ mann Broch. Ethik und Politik. Studien zum Frühwerk und zur Romantrilogie „Die Schlafwandler“. München 1973, S. 15–33. Ders.: Die Entropie des Menschen. Studien zum Werk Hermann Brochs. Würzburg 2000, S. 102–119. Ders.: Hermann Brochs Kul­ turkritik. Nietzsche als Anstoß. In: Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne. Hg. von Thorsten Valk. Berlin 2009, S. 183–197. Zum vitalistischen Kontext vgl. vor allem auch Monika Ritzer: Hermann Broch und die Kulturkrise des frühen 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 19–54. Hermann Broch: Kultur 1908/1909. In: Ders.: Philosophische Schriften 1. Kritik. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1977 (Kommentierte Werkausgabe. Bd. 10,1), S. 11–31, hier S. 11. Ebd. Ebd., S. 20. Ebd., S. 22. Ebd.

251

Der Grundkonflikt des Essayisten, der dem „Wunder des Unbegreiflichen“144 nachtrauert, aber die eigene Totalerklärung geradezu euphorisch zelebriert, er­ streckt sich auch auf den Umgang mit Weininger. Für den lebensphilosophisch gestimmten Zivilisationskritiker Broch verkörpert er den Höhe- und Endpunkt der rationalistischen Entzauberung und steht damit ebenso symptomatisch für die konstatierte Epochenproblematik wie Ernst Haeckel, der andere ‚Welträt­ sellöser‘, der Erwähnung findet.145 Für den Gedankenkonstrukteur Broch wie­ derum bildet Weininger die Spitze einer großgeistigen Tradition, die er nun selbst zum Abschluss bringen will. Die inhaltlichen Anleihen, die Broch für seine ‚Vollendung‘ bei Weininger macht, gehen in einen lockeren Ideen-Mix ein, der weniger von gründlicher Auseinandersetzung mit einzelnen Theorien, denn von kombinatorischem Übermut geprägt scheint. Sie verbinden sich mit Versatzstücken aus Schopenhauers Erkenntnislehre und Ästhetik, mit univer­ salen Energiegesetzen nach monistischem Prinzip (angelehnt an die pyknoti­ sche Substanztheorie Johann Gustav Vogts und unter die Schirmherrschaft Goethes gestellt) sowie mit kunsttheoretischen Erörterungen zu Rhythmus und Ornament, die mithilfe von Herbert Spencer völkerkundlich illustriert werden.146 Konzepte und Begriffe, die mit Sicherheit aus Geschlecht und Cha­ rakter stammen und solche, die durch die Lektüre zumindest mit beeinflusst 144 145

146

252

Ebd., S. 11. Auch bei dieser Referenz gehen Selbstlob und -distanzierung Hand in Hand. Mit aufgesetzt wirkender Ironie überlässt Broch für die hergestellten Ur-Zusammenhänge Haeckel die Begeisterung, die er sich persönlich nicht gestattet. Durch seine eigene ma­ thematische Verknüpfung von Materie, Zeit und Raum „wäre mithin eine Formel, eine Erklärung einer Urbewegung gefunden worden, die nun ihrerseits als Ausgangspunkt aller übrigen Lebensregungen gelten darf und Haeckel möge seine Freude daran haben“ (ebd., S. 15, vgl. auch S. 29). Ähnlich wird auch Herbert Spencer mit seiner „brave[n] […] Methode“ (ebd., S. 23) zum geschmähten Vorbild. Vgl. ebd. die Berufungen auf Schopenhauer (S. 14, S. 16–19, S. 24, S. 27, S. 29), Johann Gustav Vogt (S. 20, S. 30), Goethe (S. 16, S. 20) und Spencer (S. 16, S. 23). Zu Brochs monistischen Formeln vgl. auch die erkenntnistheoretische und mathematische Über­ prüfung Riemers, der auch den Bezug zu Vogt untersucht (Willy Riemer: Mathematik und Physik bei Hermann Broch. In: Hermann Broch. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1986, 260‑271, hier S. 263–265) sowie die ideengeschichtliche Veror­ tung Ritzers (Ritzer: Hermann Broch und die Kulturkrise [Anm. 138], S. 25–27). Für die Ausführungen zur ästhetischen Erfahrung und zur Rhythmus-Theorie verweist Ritzer neben dem explizit gesetzten Schopenhauer-Bezug auch auf Nietzsche, Theodor Lipps, Richard Müller-Freienfels und Karl Bücher (vgl. ebd., S. 32–37). Mithin folgt Broch mit seinen Überlegungen rund um das Konzept Rhythmus einem Trend, dem in der Ver­ ständigung über Fragen von Kultur und Kunst vor allem zwischen 1900 und 1915 kaum auszuweichen war. Björn Spiekermann hat exemplarisch an Carl Ludwig Schleich her­ ausgearbeitet, wie sich der Rhythmusbegriff ganz besonders für weltanschauliche Erör­ terungen anbietet, weil er erlaubt, ganz unterschiedliche Dynamiken der Wiederholung und Regelmäßigkeit assoziativ aufeinander zu beziehen und in ein Totalitätskonzept zu integrieren (vgl. Björn Spiekermann: Rhythmus und Weltanschauung um 1900. Am Beispiel von Carl Ludwig Schleichs Essay Der Rhythmus [1908]. In: Weltanschauung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Hg. von Anna S. Brasch und Christian Meierhofer. Berlin 2020, S. 125–155). Brochs Überlegungen in Kultur

worden sein dürften, werden dabei in einen neuen Bewertungskontext inte­ griert. Auch Broch codiert seine Kulturdiagnosen sexuell und chiffriert über die Polarität von Frau und Mann allgemeine Gesetzmäßigkeiten. Anders als Geschlecht und Charakter bestimmen die Kultur-Notizen jedoch im Triebhaften ein positives Vitalprinzip, das zu verkümmern droht.147 Die Überlegungen, die von der „Anziehung zwischen den Geschlechtern“148 ausgehen, bleiben auf eine ausgleichende Vermittlung gerichtet und kippen nicht ins Weiningersche Überwindungsmodell.149 Eine Umwertung erfährt der direkt übernommene Heniden-Begriff. Hatte Weininger mit ihm einen Mangel an Bewusstheit ge­ kennzeichnet, assoziiert ihn Broch nun mit dem positiv besetzten lebendig ungeordnet fließenden ‚Geist‘, den er durch eine hypertrophe, Selbstzweck gewordene Vernunft gefährdet sieht.150 Deutlicher als in einzelnen Inhalten oder Urteilen scheint die kulturphilo­ sophische Skizze von der strukturellen Argumentationslogik und dem rhetori­ schen Instrumentarium Weiningers mitangeregt. Das zeigt sich in der ständi­ gen Variation der Grundidee, hier der Vermittlung aller Gegensätze, einer Beweisführung „in verbaler Iteration“151, die sich durch Physik, Biologie, Psy­ chologie, durch Kultur und Kunst mäandriert. Dann insbesondere auch in den Demonstrationen von Wahrheitsgewissheit152 und im Bemühen, eine wenig präzise Gedankenführung exakt erscheinen zu lassen, indem weitschweifende Spekulationen an simple mathematische Formelgesetze geknüpft und mithilfe ‚empirischer‘ Beispiele aus unterschiedlichsten Gebieten scheinbewiesen wer­ den. So bietet Broch beispielsweise eine Reihe biologischer und alltagspsycho­ logischer Beobachtungen zur Wechselbeziehung von Erotik und Ästhetik auf, fasst sie im Verein mit Gemeinplätzen und Vermutungen zu einer „Phäno­ mengruppe“, um dann zu behaupten, die von ihm geformelte „metaphysische Erklärung des Werdens deckt nun die angedeuteten Zusammenhänge vollends

147

148 149 150 151 152

1908/1909 weisen inhaltlich wie rhetorisch insgesamt erstaunliche Übereinstimmungen mit Schleichs Rhythmus-Essay auf. „Das Klare siegt über das Triebhafte, der Streber über das Geschlechtstier. Und die Kunst war die Sexualität der Kultur. Nun stirbt sie an psychischer Impotenz“ (Broch: Kultur 1908/1909 [Anm. 139], S. 13). Vgl. auch den Gegenentwurf in der lebensbejahen­ den Verbindung von Sexualität und „Schönheitsempfinden“ (ebd., S. 19). Ebd., S. 15. Vgl. Broch: Kultur 1908/1909 (Anm. 139), S. 15f. Vgl. ebd., S. 27f., vgl. auch S. 12. Ritzer: Hermann Broch und die Kulturkrise (Anm. 138), S. 16. Vgl. formelhafte Selbstbestätigungen wie „[e]s ist nun ohne weiters begreiflich, daß“ (Broch: Kultur 1908/1909 [Anm. 139], S. 19), „[l]eicht ist auch zu erkennen, daß“, „[e]s ist selbstverständlich, daß“ (ebd., S. 26), sowie das Insistieren auf vermeintlich Evidentem im Appell der rhetorischen Frage: „Wäre es denn anders erklärlich […], daß der ästhetisch-wertvollere Mensch auch der sexuell begehrtere ist?, daß künstlerisches Können, eine schöne Stimme, die Beine einer häßlichen und graziösen Tänzerin eine solch starke sexuelle Macht sind?“ (Ebd., S. 19).

253

auf.“153 Im Bewusstsein privilegierter Einsicht wird schließlich das Kommen einer mathematischen, dem rationalistischen Zeitalter gemäßen Ästhetik pro­ phezeit. Sie soll die Verwandtschaft aller Künste nach dem ihnen zugrunde liegenden Terzschema nachweisen können, wobei „Menschen von höherem Schönheitsgefühl diese speziellen Zusammenhänge stets gefühlt“ hätten, man nun aber endlich auch allgemein vom „vagen Herumtappen erlöst“154 werde. Bei allem Eifer, mit dem sich Kultur 1908/1909 an die Aufdeckung des UrZusammenhangs wagt, bleibt stets ersichtlich, dass es sich um einen Versuch handelt: der Text „verrät einerseits den Enthusiasmus des Neulings für das Philosophieren und andererseits die Unsicherheit des Amateurs im Hinblick auf die Methoden der Spekulation.“155 Diese Entwürfe sind denn auch wenig repräsentativ für Brochs theoretisches Gesamtwerk, sowohl den meisten Thesen nach, als auch im exaltierten Vortrag. Von Bedeutung sind sie vor allen Dingen als ein frühes Werkstattdokument, das zeigt, wie Broch auf der Suche nach methodischer Sicherheit, ernsthaft und spielerisch zugleich, mit verschiedenen Stil- und Gattungsformen experimentiert.156 Offensichtlich geht in dieses Expe­ riment auch die weltanschauungsliterarische Überzeugungsrhetorik ein, wie Broch sie eindrucksvoll unter anderem bei Weininger hatte vorfinden können. Mehr Kohärenz erreichen die Notizen zu einer systematischen Ästhetik, die Broch im März 1913 dem Brenner zur Publikation anbietet, aber eine Absage erhält.157 Sie greifen im Wesentlichen die bereits in Kultur 1908/1909 angeris­ 153

154 155

156

157

254

Ebd., S. 20. Ähnlich gestaltet sich auch die anschließende Hinleitung zum Terz-Schema (vgl. ebd., S. 21f.). Wie eine Hommage an Weiningers geschlechtermetaphorische Tour de Force durch alle Wissenschafts- und Lebensbereiche lesen sich Erläuterung und Beleg zur energetischen „Rückstrahlung des Lebens in die Primärform der Materie“ (ebd., S. 15). Diese ‚Rückstrahlung‘ soll in langsamen, den weiblichen, und schnellen, den männlichen Charakter generierenden Geschwindigkeiten erfolgen und sich in der Zeu­ gung entladen. „Beweise: das ruhende weibliche Ei, die schwärmenden Spermatozoen, höheres Lebensalter der Frau, die Ähnlichkeit des Weibes mit dem Kinde (Teint, Liebe des Mannes für das Weib und den Knaben, hingegen gibt es keine Mädchenliebe des Weibes!)“ (ebd., S. 15). Ebd., S. 26. Maria Grazia Nicolosi: Zwischen „angewandter Philosophie“ und „rationaler Lyrik“. Be­ merkungen zur frühen Essayistik Hermann Brochs. In: Wege des essayistischen Schrei­ bens im deutschsprachigen Raum (1900–1920). Hg. von Marina Marzia Brambilla und Maurizio Pirro. Amsterdam und New York 2010, S. 398–411, hier S. 393. Darauf hat Jean Paul Bier hingewiesen: „Die sechs Kapitel vereinen auffallend disparate Stilformen des diskursiven Sprachduktus, die kaleidoskopisch abgewandelt werden: das avantgardistische Manifest als kritische Zeitdiagnose, das satirische feuilletonistische ‚Kunstgeschwätz‘, den ‚endgültigen‘ Aufsatz mit seiner ‚wissenschaftlichen‘ Formalisie­ rungswut, die deduktive Lehrbuchprosa, den rhetorisch ausgerichteten, teils lyrisch auf­ geweichten Demonstrationsstil der mündlichen Rede und schließlich das kunsttheoreti­ sche Essay neuidealistischer Prägung“ (Jean Paul Bier: Wiener Chaophobie im Frühwerk Hermann Brochs. In: Hermann Broch 1886–1986. Hg. von Jan Aller und Jattie Enklaar. Amsterdam 1987, S. 27–40, hier S. 33). Verfasst hat Broch den Text bereits im Frühjahr 1912. In dem Brief, den er Ludwig Ficker seiner Abhandlung beilegte, beschrieb Broch die Notizen als Teil einer umfassen­

senen Themen auf, konzentrieren sich aber bei abgemildertem Endzeitpathos und eingeschränkter Ur-Formel-Konfusion auf kunsttheoretische Fragen und den „Satz des Gleichgewichtes“158. Neben einer intensiveren Auseinandersetzung mit Schopenhauer macht sich außerdem das wachsende Interesse an Kant bemerkbar. In den Notizen legt Broch seine Konzepte von Ekstase, Stil und Ornament an, die er in den folgenden Jahrzehnten weiter aus- und umarbeiten wird.159 Im Abschnitt Ästhetische und erotische Selektion, der die elementare Bedeutung des Gleichgewichtsprinzips in Leben und Kunst biologisch-psycho­ logisch untermauern soll, versucht Broch, sich nun explizit zu Weininger zu positionieren. Weil er von der evolutionsbiologischen Selektionstheorie ausgehend die Wechselwirkung von sexueller Attraktion und Schönheitsemp­ finden beim Menschen geschlechterunspezifisch auf die Wahrnehmung sym­ metrischer Eigenschaften zurückführt, sieht er sich mit diesem „typischeren Wertmesser“ zunächst „in Widerspruch zur Weiningerschen Ansicht, welche die ästhetische Wertung des Individuums ebenfalls aus dem W-M-Gesetz abzu­ leiten wünscht.“160 Darum bemüht, den Widerspruch aufzulösen, akzeptiert er dann jedoch diese Sichtwiese als eine grundsätzlich gleichfalls mögliche, „denn auch das W-M-Gesetz ist Gleichgewichtsgesetz“, und gelangt zu der Ein­ schätzung, seine eigene Theorie des Ästhetischen könne „wohl als Korrelat die­ nen zum Weiningerschen Hauptgesetz“161. Bei den Inkonsistenzen, die dieses ‚Hauptgesetz‘ von Hause aus mit sich bringt, sind die Schwierigkeiten wenig verwunderlich, die es Broch bereitet, sich eindeutig zu ihm zu verhalten. Dass er dennoch den Anschluss sucht und ausklammert, wie in Geschlecht und Cha­ rakter das Gleichgewicht zielstrebig in die einseitige Abwertung gekippt wird,

158

159

160 161

deren Arbeit und wollte sie – um dennoch einen größeren Zusammenhang herzustellen – „gemeinsam mit einigen Bemerkungen, die ich Ihnen dann noch übermitteln werde, über ‚Weltanschauung‘ im allgemeinen gedruckt wissen“ (Broch an Ludwig von Ficker, Brief vom 19. März 1913. In: Broch: Briefe 1 [Anm. 4], S. 15). Lützeler vermutet, dass ne­ ben Qualitätsmängeln des Textes auch Brenner-interne Querelen zur Ablehnung geführt haben dürften (vgl. Lützeler: Hermann Broch. Eine Biographie [Anm. 137], S. 58). Hermann Broch: Notizen zu einer systematischen Ästhetik. In: Ders.: Schriften zur Literatur 2. Theorie. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1975 (Kom­ mentierte Werkausgabe. Bd. 9,2), S. 11–35, hier S. 14. Vgl. zu Stil und Ornament Stašková: Schriften zur Literatur, Kunst und Kultur (Anm. 18), S. 319–358, hier S. 331–337. Zur Bedeutung der Notizen für Brochs Ekstase-Konzept und den Bezügen zu Martin Buber vgl. Ruth Bendels: Erzählen zwischen Hilbert und Einstein: Naturwissenschaft und Literatur in Hermann Brochs „Eine methodologische Novelle“ und Robert Musils „Drei Frauen“. Würzburg 2008, S. 187-189. Broch: Notizen zu einer systematischen Ästhetik (Anm. 158), S. 19. Ebd. Wenn als ergänzendes Potential der Symmetrie-Ästhetik die „Erklärung für das Auftreten ästhetischer Rassenideale, für die merkwürdige Übereinstimmung von Stil und menschlichem Antlitz, für das Wunder der sieghaften Schönheit“ (ebd.) angeführt wird, weist das allerdings in eine Richtung, die nicht minder problematisch ist als der Geschlechtermaßstab. Solche rassebiologisch-evolutionistischen Implikationen hat Broch glücklicherweise nicht weiterverfolgt.

255

verweist wie schon Kultur 1908/1909 auf eine von Auffassungsunterschieden unabhängige Hochschätzung des Denkers Weininger. Am deutlichsten bringt diese Anerkennung unter den Frühschriften ausge­ rechnet diejenige zum Ausdruck, in der es zugleich zu einer klaren Distanzie­ rung von Weininger kommt. Der im Frühjahr 1914 im Brenner erschienene Ethik-Essay gilt als Zeugnis für Brochs „Hinwendung zu Kant“162 und zeigt auch einen Weininger-Leser mit neuen Schwerpunkten. Indirekt spielte der Ge­ schlechterphilosoph bereits in der Anbahnungsphase vor der Veröffentlichung eine Rolle, wobei sich zeigt, dass Broch offenbar auch die Weininger-Rezeption im Umfeld aufmerksam verfolgt hat. In einem Brief an den Brenner-Heraus­ geber Ludwig von Ficker bringt Broch Anfang Februar 1914 seinen Ärger darüber zum Ausdruck, dass soeben „ein so miserabler Schund, wie die Wei­ ningerschrift des Herrn Sturm, durch einen Dallago angekündigt wurde“163. Carl Dallago, selbst Verfasser einer Arbeit über Weininger, hatte äußerst kri­ tisch gegen die Methode, im zentralen Ergebnis aber zustimmend auf Bruno Sturm hingewiesen, in dessen Weiningerbuch gegen die rigorose Lebens- und Sinnenfeindlichkeit das individuelle Glücksgefühl zum einzigen moralischen Wertmesser erhoben wird.164 Die in Teilen positive Bezugnahme, die Tatsache, dass Dallago Sturms Buch „mit seiner tief besonnenen eigenen Weiningerstu­ die vergleichen konnte“, bringt Broch auf die Idee, einige Überlegungen zum „Gegensatz der sogenannten natürlichen Ethik zu einer ‚konstruktiv-architekto­ nischen‘“165 für den Brenner auszuformulieren, wozu es dann allerdings doch 162 163 164

165

256

Lützeler: Hermann Broch. Ethik und Politik (Anm. 138), S. 33. Broch an Ludwig von Ficker, Brief vom 9. Februar 1914. In: Broch: Briefe 1 (Anm. 4), S. 21. Vgl. Carl Dallago: Kleine Sämereien. In: Der Brenner 4 (1914), Heft 8, S. 400–402. Bei der von Broch abgeurteilten Arbeit Sturms handelt es sich um einen weltanschaulichen Gegenentwurf zu Weininger, der bei größerem Vertrauen in die Naturwissenschaften und geringerer philosophischer Ambition, argumentativ ähnlich verfahrend „ein Bei­ trag zum Positivismus, ein Baustein zu einer optimistischen Weltanschauung“ sein will (vgl. Bruno Sturm [Burghard Breitner]: Gegen Weininger. Ein Versuch zur Lösung des Moralproblems. Wien und Leipzig 1912, hier S. 5). Der Vitalist und Naturmystiker Dallago war fasziniert von Weininger und wie dieser von der universalen Bedeutung der Sexualität überzeugt, hatte sich aber ebenfalls deutlich gegen ihre Negativbewertung als moralische Schuld ausgesprochen. Anders als Sturm nicht dem wissenschaftlichen, son­ dern dem ‚gelebten Denken‘ verpflichtet, studierte er Weininger durch eine Einfühlung in die Persönlichkeit (vgl. Carl Dallago: Otto Weiniger und sein Werk. Innsbruck 1912). Broch an Ludwig von Ficker, Brief vom 9. Februar 1914. In: Broch: Briefe 1 (Anm. 4), S. 21. Auf eine explizite Behandlung des Problems „Weininger-Sturm“ will Broch ver­ zichten, „da dies notgedrungen zu einer abermaligen kleinlichen Stellung gegen Dal­ lago führen müßte“ (ebd., vgl. auch den Brief an Ludwig von Ficker vom 11. April 1914, ebd., S. 25). Broch spielt hier auf eine Kontroverse aus dem Vorjahr an. Mit seiner ersten Veröffentlichung überhaupt, dem Aufsatz über Philistrosität, Realismus, Idealismus in der Kunst, hatte er im Brenner Dallagos antagonistischer Gegenüberstellung von Künstler und Philister widersprochen und vor allen Dingen Thomas Mann als Künstler verteidigt. Vor diesem Hintergrund ist es auch fraglich, inwieweit das Lob der Weiningerstudie Dallagos ernst gemeint war oder einfach diplomatisch die Wogen glät­

nicht kommen sollte. Als Ersatz bietet Broch schließlich den Ethik-Essay an, der seiner Ansicht nach das Wesentliche zum Thema enthält.166 Während dieser Querelen über die richtige Weiningerbeleuchtung im Hin­ tergrund der Publikation stattfinden, setzt Broch seinen Essay zu einem ande­ ren Weltanschauungsschriftsteller schließlich ganz offiziell in Bezug. Er ließ Ethik abdrucken ‚Unter Hinweis auf H. St. Chamberlains Buch Immanuel Kant‘. Mit dieser 1905 erschienenen Vortragssammlung richtete sich Chamber­ lain an ein bildungsbürgerliches Laienpublikum, das er in den „Anziehungsbe­ reich des Meistergeistes“167 führen wollte. Dafür wird Kant im Vergleich mit anderen Denkergrößen von Plato bis Goethe gezeigt. Die rassistische und anti­ semitische Ideologie Chamberlains, die vor allem das geschichtsphilosophische Hauptwerk Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1899) systematisch entfaltet, ist auch im Kant-Buch präsent, tritt aber nicht so in den Vordergrund wie etwa in der ebenfalls 1905 publizierten Arischen Weltanschauung. Chamberlain geht es grundsätzlich darum, den Denker Kant zu vereinnahmen und ihn als große Persönlichkeit und Leitfigur für eine kulturelle Erneuerung aufzubauen.168 Obwohl er von Broch so prominent in den Titel gehoben wird, findet in Ethik keine ausführliche Auseinandersetzung mit Chamberlain statt, dieser wird lediglich in einer knappen Fußnote dafür gewürdigt, den kategorischen Imperativ in einer prägnanten Formel auf den Punkt gebracht zu haben.169 Eine zeitweise geplante längere Version dieser Anmerkung empfiehlt die KantStudie als „schönes und wissensreiches Buch voll philosophischer Kultur“ und

166

167 168

169

ten sollte (vgl. zur gesamten Auseinandersetzung Lützeler: Die Entropie des Menschen [Anm. 138], S. 91–97). Vgl. Broch an Ludwig von Ficker, Brief vom 31. März 1914. In: Broch: Briefe 1 (Anm. 4), S. 22. Broch hatte zunächst doch noch einen Schluss angefügt, der im Speziel­ len seine „Abneigung gegen Philosophasterei à la Sturm“ (ebd.) kundtun sollte, ließ ihn dann aber wieder streichen (vgl. Broch an Ludwig von Ficker, Brief vom 11. April 1914, S. 24f.). Houston Stewart Chamberlain: Immanuel Kant. Die Persönlichkeit als Einführung in das Werk. München 1905, S. 8. Das Erklimmen einer höheren Kulturstufe ist dann freilich als germanischer Auf­ schwung „zu unägyptischen und unjüdischen, freier Männer würdigen Idealen“ (ebd., S. 341) gedacht. Zur Weltanschauungsliteratur Chamberlains vgl. Anja LobensteinReichmann: Houston Stewart Chamberlain – Zur textlichen Konstruktion einer Welt­ anschauung. Eine sprach-, diskurs- und ideologiegeschichtliche Analyse. Berlin und New York 2008, zum Kant-Buch vor allem S. 517–522. Vgl. Hermann Broch: Ethik. Unter Hinweis auf H. St. Chamberlains Buch Immanuel Kant. In: Ders.: Philosophische Schriften 1. Kritik. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1977 (Kommentierte Werkausgabe. Bd. 10,1), S. 243–249, hier S. 247. Neben Chamberlain wird an dieser Stelle auch Dallago für eine intuitive Erhel­ lung von Kants Denken Respekt gezollt. Broch gibt an, den Ethik-Aufsatz bereits 1912, als Teil einer noch unabgeschlossenen „größeren Untersuchung“ verfasst, das Kant-Buch Chamberlains aber „erst jetzt gelesen“ zu haben (Broch an Ludwig von Ficker, Brief vom 31. März 1914. In: Broch: Briefe 1 [Anm. 4], S. 22). Möglicherweise war diese Lek­ türe jedoch bereits früher erfolgt (vgl. dazu den Hinweis auf einen unveröffentlichten Brief aus dem Jahr 1908, der dies nahelegt ebd., S. 23).

257

rühmt neben der Stoffbeherrschung vor allem Chamberlains „lebendige Me­ thode des Vergleichens“170. Wie aus der Korrespondenz mit Ludwig von Ficker vor der Ethik-Veröffentlichung hervorgeht, war Broch tatsächlich beeindruckt von der Kant-Kennerschaft Chamberlains. Mit der eigenen Unzulänglichkeit kokettierend führt er aus, dass sein kleiner Aufsatz sich mit Chamberlains KantDarstellung nicht messen, diese aber immerhin bewerben könne,171 und er Ethik gerne einem Werk unterordne, „das wie das Ch[amberlains] die Materie weitaus erschöpfender beherrscht.“172 Was Broch hingegen befremdete, das Ur­ teil über die Kant-Studie aber anscheinend nur geringfügig eintrüben konnte, war Chamberlains völkisches Fundament. Am Rande merkt er in seinem Brief an von Ficker an, „daß das Kantbuch sehr gut ist; was seine eigene Philosophie betrifft, so stehen mir Begriffe wie ‚germanische Wissenschaft‘ und ähnliche, immer ‚dogmatische‘ Späße, so durchdacht und geistreich sie auch sein mögen, ziemlich ferne.“173 In Brochs Beschäftigung mit Kant, die sich seit 1913 deutlicher abzeich­ net,174 bildet Ethik den Auftakt für eine intensivere Auseinandersetzung, die in den Folgejahren stattfinden und ihn schließlich zu den südwestdeutschen Neukantianern führen wird.175 Mit Chamberlain und Weininger setzt Broch 170

171 172 173

174 175

258

Broch an Ludwig von Ficker, Brief vom 11. April 1914. In: Broch: Briefe 1 (Anm. 4), S. 25. Chamberlains Herangehensweise demonstriere, „daß alle philosophische Spekula­ tion, so sehr sie sich auf formal und mathematischem Gebiet zu bewegen hat, doch durchaus Angelegenheit des Menschlichen und daher Ethik ist“ (ebd., S. 26). Vgl. Broch an Ludwig von Ficker, Brief vom 31. März 1914. In: Broch: Briefe 1 (Anm. 4), S. 22. Broch an Ludwig von Ficker, Brief vom 11. April 1914. In: Broch: Briefe 1 (Anm. 4), S. 24. Ebd. Es wird nicht ganz klar, ob Broch sich im Hinweis auf Chamberlains ‚eigene Philosophie‘ auf andere Publikationen bezieht oder diese auch im Buch über Kant findet. Von der ‚germanischen Wissenschaft‘ ist jedenfalls sowohl in den Grundlagen als auch in den Kant-Vorträgen die Rede. Dass Broch über Ideologisches hinwegsehen konnte, wenn er bei einem Denker einen großen Anspruch oder methodische Virtuosi­ tät erkannte, zeigt sich einige Jahre später auch im Falle Joseph Arthur de Gobineaus, dem Rassentheoretiker, der unter anderem auch Chamberlain inspirierte. In einer Re­ zension stellt Broch die Dramatischen Bilder des für blass befundenen Heinrich von Stein den Renaissance-Szenen Gobineaus gegenüber: „Hier dialogisierte Lesefrüchte […], dort der Versuch eines historischen Temperamentes, in die Geschichte hinein zu sprechen und die Kraft, diese, trotz einer einseitigen und dogmatischen Theorie, zum lebendigen Argument zu erheben“ (Hermann Broch: [Rezension zu] Heinrich von Stein. In: Ders.: Schriften zur Literatur 1: Kritik. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1975 [Kommentierte Werkausgabe. Bd. 9,1], S. 337–344, hier S. 337). Vgl. Broch an Ludwig von Ficker, Brief vom 26. Februar 1913. In: Broch: Briefe 1 (Anm. 4), S. 13. Zu Brochs Orientierung am Neukantianismus und insbesondere zum Einfluss Heinrich Rickerts auf seine wert- und geschichtstheoretischen Überlegungen vgl. Friedrich Voll­ hardt: Hermann Brochs geschichtliche Stellung. Studien zum philosophischen Früh­ werk und zur Romantrilogie „Die Schlafwandler“ (1914–1931). Tübingen 1986. Ritzer: Hermann Broch und die Kulturkrise (Anm. 138), S. 69–114. Die Entwicklungen nach 1932 einbeziehend, analysiert außerdem Borgard die philosophische Essayistik Brochs,

1914 noch auf zwei eher kuriose Ableger der neokantianischen Bewegung. Als Gewährsmänner für die überragende Bedeutung, die Broch Kant von nun an beimessen wird, hätte er allerdings keine besseren finden können.176 Ethik greift vor allem zwei Aspekte der Kantischen Philosophie auf: Zum einen gelangt Broch mit Kant zur Einsicht in die Grenzen der Erkenntnis und die daraus resultierende Relativität jeder Anschauung, den Vorbehalt, dass „unend­ lich viele Betrachtungsarten des Objektes“177 möglich sind. Im kategorischen Imperativ glaubt er zum anderen den Schlüssel für eine Ethik zu entdecken, die auf dem Selbstbewusstsein und der Selbstbindung des autonomen geisti­ gen Subjekts beruht, aber dennoch ein „soziologische[s] Gesetz“178 begründen kann. Auf dieser Grundlage formuliert Broch das Letztziel: „Menschentum, Menschlichkeit in der Einsamkeit des Geistes – Ethik.“179 In der Hinführung auf den Humanitätsgedanken argumentiert Broch mit Weininger für Kant und mit Kant gegen Weininger, Schopenhauer, Nietzsche und alle rationalistischen wie irrationalistischen Dogmatiker. Insbesondere im Falle Weiningers wird das Objekt der Kritik zugleich zum Argumentationshelfer. Broch wendet sich gleich zu Beginn gegen zwei Formen einer Übersteige­ rung profaner Welterfahrung. Zum einen gegen Versuche, ein aus den „Trie­ ben der Geschlechtlichkeit, der Naturfreude und ähnlicher […] Romantizis­ men“ generiertes mystisches Erlebnis zur Philosophie weiterzuentwickeln, zum anderen gegen eine reduktionistische Naturforschung, die ihre „monistische[n] Erkenntnisse“ im bloß „weltgebundenen“180 Zugriff gewinnt. Beides erscheint ihm trivial: „Die billige Ekstase neben der billigen Erkenntnis; neben der Plati­ tüde des Verstandes die Platitüde des Gefühls.“181 Durch das Merkmal einer als mechanischen, in der eigenen Beschränktheit rotierenden Denkweise werden Erlebnismystiker und Naturforscher interessanterweise aufeinander bezogen,

176

177 178 179 180 181

ebenfalls mit Fokus auf Rickert (vgl. Thomas Borgard: Philosophische Schriften. In: Hermann Broch-Handbuch. Hg. von Michael Kessler und Paul Michael Lützeler. Berlin und Boston 2016, S. 359–400). Wie aus Brochs Handexemplar des ersten Bandes von Schopenhauers Schriften zur Erkenntnislehre ersichtlich wird, hat er die beiden nicht nur als Kantianer, sondern auch als Antisemiten in Zusammenhang gebracht. Einen Textabschnitt, in dem Scho­ penhauer referiert, das Christentum habe „Indisches Blut im Leibe und daher einen beständigen Hang, vom Judenthume los zu kommen“, hat Broch unterstrichen und mit der Randbemerkung versehen: „[Anker]platz: Weininger, Chamberlain“. Zum Abgleich der Textstelle in der von Broch genutzten Ausgabe vgl. Arthur Schopenhauer: Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. In: Ders.: Schriften zur Erkenntnißlehre. Hg. von Julius Frauenstädt. 2. Auflage, neue Ausgabe. Leipzig 1908 (Arthur Schopenhauer’s sämmtliche Werke. Bd. 1), S. 1–160, hier S. 128. Broch: Ethik (Anm. 169), S. 245. Ebd., S. 247. Ebd., S. 248. Ebd., S. 243. Ebd. Zu Anspielungen auf Dallago in der Kritik des Gefühlsmystikers vgl. Lützeler: Die Entropie des Menschen (Anm. 138), S. 97.

259

„die alles einhüllende Rationalität wird zum einzigen Gut“182, das ihnen wie­ derum wechselseitig ausgeborgt ihre Isolation scheinbar aufhebt und Gemein­ schaft stiftet. Die daraus entstehende Dynamik, in der sich das Pathos am Mess­ baren, an „begrenzten Objekte[n]“ entzündet, demonstriert für Broch jedoch „nur mehr das Beschämende und Ekelerregende des Kitsches“183. Eine solche Vergemeinschaftung von Gefühlsmystik und geistloser Naturwissenschaft dürf­ te Broch gemeint haben, als er sich über Dallagos Zusammentreffen mit Sturm im Plädoyer für eine aus seiner Sicht banale naturalistische Ethik echauffiert hatte. Auf der allgemeinen Ebene, auf der Ethik die Problematik bespricht, erscheint es Broch nun signifikant, dass für alle solchen „unbekümmerten Dogmensetzer die Vorstellung vom allerletzten Menschen etwas unerwartet Erschütterndes hat“, gesteht ihnen aber zu, dass diese Vorstellung in „kitschi­ ger, grob-einleuchtender Tragik“ immerhin noch ein Ahnen der „einzigen und gewaltigsten Tragik des Menschseins“184 erlaube, der Einsamkeit des Ichs. Die­ sen für das Kant-Verständnis, das in Ethik entwickelt wird, entscheidenden Ausgangspunkt setzt Broch in der Weiningerschen Fassung, indem er über ein längeres Zitat aus Geschlecht und Charakter die Bestimmung der „Erkenntnis der Einsamkeit“ als „Quell und Prüfstein alles Geistigen“185 einleitet. Die Ich-Ein­ samkeit und ihre bewusste Akzeptanz in einem Akt der „Selbstüberwindung“, die zum „Wesen des Philosophischen“186 erklärt und als Voraussetzung der Kantischen Ethik verstanden wird, ist das wichtigste Konzept, mit dem Broch 182 183

184 185

186

260

Broch: Ethik (Anm. 169), S. 243. Ebd. Die Versuche Brochs, seine kulturphilosophischen Reflexionen zum Kitsch zu einer Kitschtheorie zu systematisieren fallen vor allem in die 1930er Jahre (vgl. Stašková: Schriften zur Literatur, Kunst und Kultur [Anm. 18], S. 337–343). Broch: Ethik (Anm. 169), S. 243. Ebd., S. 244. Broch führt folgende Stelle an: „In dieser merkwürdigen Befürchtung, [in] welcher der schrecklichste Gedanke der zu sein scheint, daß die Gattung aussterben könne, liegt nicht allein äußerster Unglaube an die individuelle Unsterblichkeit, […] sie ist nicht nur verzweifelt irreligiös: man beweist mit ihr zugleich […] seine Unfähigkeit, außer der Herde zu leben. Wer so denkt, […] ihm wird angst und bange nicht so sehr vor dem Tode, als vor der Einsamkeit“ (ebd., S. 243f.). Der Kontext des Zitats, den Ethik nur noch andeutungsweise mittransportiert, ist die endgültige Lösung der „Frauenals Menschheitsfrage“ durch Enthaltsamkeit, die Weininger an dieser Stelle verteidigt (Weininger: Geschlecht und Charakter [Anm. 29], S. 457). Endre Kiss sieht im Hinweis auf das verkitschte Bild vom letzten Menschen einen direkten Angriff auf Dallago, der in seiner Weininger-Kritik die Verneinung des Sexuellen als konkrete Gefahr für den Fortbestand der Menschheit ernst nimmt. Dieser Bezug erscheint plausibel, schon Dalla­ go zitiert die Textstelle, die auch Broch übernimmt und verfällt sodann in Trauer und Bestürzung angesichts der realen Konsequenzen der Keuschheitsforderung (vgl. Kiss: Über Hermann Brochs Ehrgeiz [Anm. 5], S. 76f.). Über das Verhältnis zu Dallago und zu Weiniger hat auch Ritzer die „Intensivierung der Ich-Thematik“ in den frühen Schrif­ ten Brochs nachverfolgt (vgl. Monika Ritzer: Brochs frühe Kulturkritik und das Pathos der Distanz. In: Aussteigen um 1900. Imaginationen in der Literatur der Moderne. Hg. von Barbara Mahlmann-Bauer und Paul Michael Lützeler. Göttingen 2021, S. 398–417, hier S. 410). Broch: Ethik (Anm. 169), S. 244.

hier an Weininger anknüpft, ohne dessen Vernichtungskampf gegen das Weib­ lich-Sexuelle zu übernehmen. Weitere stehen in offensichtlicher Abhängigkeit oder gehen zumindest konform.187 Auch die Würdigung Kants erfolgt nach vergleichbaren Kriterien. Aufgrund der „Einheitlichkeit der Geistigkeit“, die sich für Broch im Werk des Philosophen eröffnet, verbindet er diesen „mit dem tiefsten Mystiker, ja mit dem Religionsschöpfer“188. Gleichzeitig wird das Moment des Heroischen betont, wobei Broch jedoch einen anderen Helden­ akzent und weniger auf die konkrete Denkerpersönlichkeit setzt: Während Ge­ schlecht und Charakter Kants persönliche Einsamkeitserkenntnis rekonstruiert, um sie dann als „Geburt der Kantischen Ethik, des heroischsten Aktes der Weltgeschichte“189 zu feiern, honoriert Broch insbesondere auch die dieser Ethik zugrunde liegende „Weltanschauung, die man füglich die heroische Skepsis nennen dürfte“190. Dass Broch sich an zentraler Stelle ausdrücklich auf Kants ‚Weltanschauung‘ beruft, könnte mehr noch als einem Weiningerschen dem Impuls Chamberlains zu verdanken sein, der sich außerordentliche Mühe gibt, den Philosophen als den großen Schauenden zu präsentieren. Anders als Chamberlain, der einen regelrechten Kult um das Kantische, „aus himm­ lischem Äther gebildete Auge“191 betreibt, nutzt Broch das Konzept Weltan­ schauung nicht zur metaphorischen Beglaubigung, ihm geht es vornehmlich darum, „eine, in ihrer Härte geradezu anorganische, Klarheit“192 des Denkens herauszustellen. Es ist vor allem die Überzeugung von der Notwendigkeit des erkenntnistheoretischen Kritizismus, aus der heraus Weininger schlussendlich eine dezidierte Absage erteilt wird. Broch hält ihn als „leidenschaftlichste[n] Ethiker nach Kant“193 zunächst ein letztes Mal hoch, um dann festzustellen, dieser Ethiker habe dennoch am „furchtbaren néant“ der Kantischen Lehre scheitern müssen, „als er sie ins Dogmatische wandelte“194. Der erläuternde

187

188

189 190 191 192 193 194

Die Verpflichtung des denkenden Subjekts auf „das Gesetz seines Ichs“ (Broch: Ethik [Anm. 169], S. 248) ist bei Broch wie bei Weininger eine Leitvorstellungen in der KantAneignung. Dass die Verletzung des Ich-Gesetzes von Broch nicht nur als „unmoralisch“ beurteilt, sondern auch mit der Entwicklung „zum Wahnsinnigen und zum Verbrecher“ (ebd.) in Zusammenhang gebracht wird, verweist direkt auf Weiningersche Überlegun­ gen (vgl. Weininger: Geschlecht und Charakter [Anm. 29], zum Beispiel S. 233, 379; vor allem aber Ders: Über die letzten Dinge [Anm. 31], S. 60, S. 115–117, S. 125). Broch: Ethik (Anm. 169), S. 245. Auch Chamberlain sieht Kant in Übereinstimmung mit der (indogermanischen) Mystik (vgl. Chamberlain: Immanuel Kant [Anm. 167], S. 745) Grundsätzlich begreift er Kant als einheitsstiftenden Mittler zwischen Wissen­ schaft und Religion und sieht seine Leistung darin, gezeigt zu haben, „wohin unser Sinn sich zu richten hat, um endlich einmal reine Religion zu gewinnen“ (ebd. S. 760). Weininger: Geschlecht und Charakter (Anm. 29), S. 209. Broch: Ethik (Anm. 169), S. 244. Chamberlain: Immanuel Kant (Anm. 167), S. 4. Broch: Ethik (Anm. 169), S. 245. Ebd., S. 248. Ebd.

261

Folgesatz qualifiziert Weininger ausgerechnet in dessen eigener Terminologie ab: Denn die unheimliche, henidenlose Klarheit der moralischen Architektonik Kants zeigt alle Gesetzmäßigkeit der Form, aber sie vernichtet alles Dogmatische. In der Relativität ihrer Maße hat ein „so ist es“ mit all seinen Folgerungen keinen Platz.195

Der begriffliche Seitenhieb verweist hier nichtsdestoweniger zugleich auf eine Verbundenheit hin, die noch den Moment mitprägt, in dem sich Weininger für Broch diskreditiert hat. Offen gegen Weininger präzisiert der Ethik-Aufsatz den Dogmatismus-Vorwurf nicht weiter, die Begeisterung für die Methode Kants, die eine mathematische Genauigkeit des philosophischen Denkens zu garantieren scheint, ohne „letzte Religiosität“196 auszuschließen, lässt keinen Platz für eine konkretere Auseinandersetzung. Gleichwohl ist die Kritik, die Broch an dogmatischen Verabsolutierungen aller Art übt, außer auf Schopen­ hauer, Nietzsche und die vielen weniger prestigeträchtigen „unbekümmerten Dogmensetzer“197 auch auf Weininger zu beziehen. Vom Standpunkt der Kan­ tischen Erkenntniskritik aus, die nach den „Formen des Denkens“198 fragt, entwickelt Broch sein Instrumentarium für eine Analyse und Beurteilung phi­ losophischer Entwürfe, die der „Welterklärungssucht“199 verfallen, weil sie „zur Ausfüllung der großen Unbekannten Anleihen bei mystischen Gefühlsurteilen oder vag-analogen, materialen Theorien zu machen such[en]“200. Im Vermei­ nen, eine inhaltliche Abschließung im eigentlich „unendlichen Lauf des Den­ kens und Fragens“201 sei erreichbar, liegt dabei nach Broch der gewichtige Feh­ ler, der das Dogmatische solcher Philosophie erweist. Für ihn können „diese willkürlichen Provisorien, dieses Vermischen von außen und innen, diese In­ zucht von Urteilen“202 nur unter Beachtung des erkenntnistheoretischen Dua­ lismus vermieden werden, der eine formallogische Geschlossenheit ermöglicht, das Ideal aber lediglich im Transzendentalen anvisiert. Broch greift hier insbe­ sondere Schopenhauer und Nietzsche an, die seiner Ansicht nach Missinterpre­ tationen Kants Vorschub geleistet haben. Schopenhauer, dem er eine unzulässi­ ge Identifikation des ‚Dings an sich‘ mit dem Willen ankreidet, dient Broch als Beispiel für den Versuch, Teilstücke aus der erkenntnistheoretischen Apparatur

195

196 197 198 199 200 201 202

262

Ebd. Broch konnotiert den Heniden-Begriff, anders als noch in Kultur 1908/1909, mitt­ lerweile negativ und gleicht ihn damit der Weiningerschen Verwendung an. Vgl. auch den Brief an Ludwig von Ficker vom 18. Mai 1913 (in: Broch: Briefe 1 [Anm. 4], S. 18), in dem Broch von „Halbwahrheiten, Heniden“ spricht). Broch: Ethik (Anm. 169), S. 248. Ebd., S. 243. Ebd., S. 245. Ebd., S. 244. Ebd. Ebd. Ebd., S. 245.

Kants zu entnehmen, um mit ihnen dann „nach bewährtem Muster“203 Unbe­ kanntes aufzufüllen. Solche Versuche enden nach Brochs Auffassung immer in Dogmatik.204 Höhere Wertschätzung erfährt grundsätzlich Nietzsche, den Broch dann aber, wie in seiner Weininger-Kritik, gegen sich selbst auszuspielen versucht, um Kants Überlegenheit zu verdeutlichen. Dabei fällt es ihm erkenn­ bar schwer, den von Nietzsche gerade gegen Kant vorgebrachten DogmatismusVorwurf zu entkräften, sodass er ihn schließlich einfach zurückprojiziert. Kant habe „einen gründlicheren Nihilismus vorweggenommen und eine gründliche­ re Umwertung geschaffen“ als Nietzsche, dem seine Erkenntnisskepsis „bloß zum Drehpunkt eines Wertsystems wurde, das […] doch wieder nur die Dog­ men der früheren abbildet.“205

203 204

205

Ebd. Diese Kritik ließe sich ebenfalls auf Weininger und seine Bestimmung des Ge­ schlechtscharakters ‚an sich‘ beziehen. Brochs Schopenhauer-Ausgabe in der Wiener Bibliothek dokumentiert eine intensive und äußerst kritische Lektüre. Dass sich Broch tief in die Theorien Schopenhauers hineingearbeitet hat, lässt sich insbesondere an den vielen An- und Unterstreichungen, Exzerpten, Notizen und kleinen Skizzen ersehen, die die Seitenränder füllen. In einigen Randbemerkungen wird wiederum deutlich, dass Broch sich stellenweise regelrecht in Rage gelesen haben muss (die folgenden Seitenangaben beziehen sich alle auf: Arthur Schopenhauer’s sämmtliche Werke. Hg. von Julius Frauenstädt. 2. Auflage, neue Ausgabe. Bd. 1–6. Leipzig 1908). So ertappt er Schopenhauer in den Schriften zur Erkenntnislehre. I: Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde beim Versuch, Kants Fassung der kausalen Theorie mit einer Einschränkung versehen zu wollen, und hält fest: „Der verschämte Rückweg zum Materialismus!“ (S. 91). Im ersten Band der Welt als Wille und Vorstellung findet Broch in den Erörterungen zu Objekt und Vorstellung: „Diese Seite ist voller Ausflüchte“ (S. 17). Auch Schopenhauers Argumentation, dass die Mathematik Evidenz durch Anschauung und nicht durch Beweis erreiche, ärgert Broch, er notiert: „Nichts destoweniger ist alles hier Gesagte grundfalsch“ (S. 91). An den Rand eines Abschnittes, in dem Schopenhauer zu seiner Identifikation des ‚Dings an sich‘ mit dem Willen referiert, was zum Hauptvorwurf in Ethik führt, schreibt Broch einen Kommentar, der bei aller Ablehnung dann doch noch einen Rest Verbundenheit zum Ausdruck bringt: „Das ist alles absurd und nicht besser als Hegelianische Phantasterei, nichtsdestoweniger ist eine Ahnung des quasi Wahren darin“ (S. 152). Von einem großen Einfluss Schopenhauers auf Brochs Ästhetik ist vor allem Manfred Durzak ausgegangen (vgl. Durzak: Hermann Broch [Anm. 137], S. 24– 34). Vgl. außerdem Anja Grabowsky-Hotamanidis: Zur Bedeutung mythischer Denktra­ ditionen im Werk von Hermann Broch. Tübingen 1995, S. 56–62. Heizmann vermutet Schopenhauer vor allem im Hintergrund von Brochs Forderungen an die Kunst, über empirische Erkenntnis hinausgehende Totalitätserkenntnis anzustreben (vgl. Heizmann: Antike und Moderne [Anm. 6], S. 156f.). Broch: Ethik (Anm. 169), S. 246. Für einen ähnlichen Versuch, Kant als den eigentlich revolutionären Denker über den angeblich zum Modephilosophen der Gegenwart ver­ kommenen Nietzsche zu stellen vgl. Chamberlain: Immanuel Kant (Anm. 167), S. 565. Zu Nietzsche-Einflüssen, aber auch Nietzsche-Kritik bei Broch vgl. Duncan Large: Zer­ fall der Werte: Broch, Nietzsche, Nihilism. In: Ecce Opus. Nietzsche-Revisionen im 20. Jahrhundert. Hg. von Rüdiger Görner und Duncan Large. Göttingen 2003, S. 65– 82. Lützeler: Hermann Brochs Kulturkritik (Anm. 138), S. 183–197. Barbara MahlmannBauer zeigt, dass Brochs Roman Die Verzauberung als „Manifest gegen den Missbrauch von Nietzsches Philosophie“ gelesen werden kann (vgl. Barbara Mahlmann-Bauer: Die

263

Der Ethik-Essay dokumentiert, wie Broch unter anderem als Leser von Welt­ anschauungsliteratur schließlich zu einer eigenen Perspektive der Beschreibung und Problematisierung von Weltanschauungsphilosophie gelangt. In der Po­ lemik gegen die Allianz von Gefühlsmystik und reduktionistischer Naturfor­ schung verweist Ethik auf die „Subjektivierung der Sinnstiftungsdiskurse“206 in einer säkularisierten Welt und die vielfältigen, in der Literatur und in den Wis­ senschaften um 1900 zu beobachtenden Tendenzen, vom individuellen Erleb­ nis oder einem empirischen Ausschnitt aus zum Metaphysikersatz zu gelangen. In diesem Zusammenhang beschreibt Broch treffend sowohl die grundlegende Motivation für die Produktion von Weltanschauungsphilosophie als auch die Problematik ihrer Simplifizierungs- und Dogmatisierungstendenzen. Der Ein­ samkeit in einer säkularisierten und pluralisierten Welt, in der jede mögliche Erkenntnis nur noch relative, jeder Wert höchstens noch für Gruppen Geltung beanspruchen kann, versuchen ihre Vertreter zu entkommen, indem sie das greifbare, gesichert erscheinende Wissen zu einer sinn- und gemeinschaftsstif­ tenden Universalerklärung aufbauschen. Zur Befriedigung der ‚Welterklärungs­ sucht‘ bedienen sie sich dabei vager Analogien und kaschieren gleichzeitig das notwendig Provisorische ihrer Entwürfe durch dogmatische Scheingewissheit. In der Kritik konkreter Autoren zeigt sich Ethik hingegen flexibel. In welchen Punkten und wie offen sie einen Denker trifft, scheint außer von persönlicher Bekanntschaft, wie im Fall Dallagos, davon abzuhängen, wie stark Broch an die jeweilige Argumentation doch noch anknüpfen kann. Am konstantesten taucht der Dogmatismus-Vorwurf auf – im Falle Chamberlains muss er aus den Briefen entnommen werden, um das öffentliche Lob in Ethik einzuschränken –, der sich allerdings als ein recht schnell erhobener erweist und zumindest zu diesem Zeitpunkt wohl jede Bewegung ins die „außerkantsche Philosophie“207 trifft. Bemerkenswert ist der Einbezug Schopenhauers, weil er verdeutlicht, an welcher Stelle Brochs Kritik ansetzt. Sie fokussiert den Übergang vom philo­ sophischen System in Weltanschauung und damit den Bereich, an dem Scho­ penhauer zu einem wichtigen Inspirator der Weltanschauungsliteratur werden konnte, indem er noch einmal virtuos vorführte, wie sich hierarchisierende Wissensorganisation um eine einzige Leitidee herum bewerkstelligen lässt.208

206 207 208

264

Verzauberung. In: Hermann Broch-Handbuch. Hg. von Michael Kessler und Paul Micha­ el Lützeler. Berlin und Boston 2016, S. 127–165, hier S. 132). Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 73), S. 345. Broch: Ethik (Anm. 169), S. 244. Vgl. Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 73), S. 341f. Thomé hat auf die wichtige Bedeutung Schopenhauers für die Vorgeschichte der Weltanschauungsliteratur hingewiesen, „können an seinem Werk doch bereits nahezu alle Merkmale des Genres nachgewiesen werden. Das System ruht auf einer breiten naturwissenschaftlichen Basis, deren Kenntnis auch stets demons­

Über die Verurteilung der Weltanschauungsdogmatik und das Bekenntnis zu Kant hinaus ist der Ethik-Essay von 1914 interessant, weil sich in ihm eine Dop­ pelstrategie abzeichnet, die für das Brochsche Argumentieren im Theoretischen auch späterhin kennzeichnend bleiben wird. Broch vertieft seine Kritik nicht weiter, vielmehr bemüht er sich, parallel zu ihr dem banalen Tragikgefühl ein elaboriertes Tragikbewusstsein und dem falschen Pathos ein gerechtfertigtes gegenüberzustellen. Im Erkennen und Erleben der absoluten Einsamkeit, ist Broch sicher, kann einerseits „rationalistischer Erklärungsdrang zu Denken eines Bewußtseins, zu Philosophie“ und andererseits „die kleine platte Ekstase zur religiösen Mystik des Gefühls“209 werden. Die Demutshaltung, die aus der Einsamkeitserkenntnis folge, führe zu „Erhabenheit“ und die unendliche Er­ kenntnisperspektive erlaube „ein Pathos, das im Weltlichen nur frech und be­ schämend war.“210 Vor diesem Hintergrund ermöglicht einerseits der kritische Idealismus, der rational klar auch das mystische Denken berührt und anderer­ seits die religiöse Mystik, der die Vernunft noch erreichbar bleibt, die geistige „Einheitlichkeit“211. Broch sucht, indem er die erste Möglichkeit wählt, ersicht­ lich ebenso dringend einen ersatzreligiösen Halt wie die Weltanschauungsphi­ losophie in ihren dogmatischen Verkürzungen. Bei identischer Ausgangslage – Empfinden der Vereinsamung und Trostsuche in der Einheitlichkeitsvorstel­ lung – verhindert die erkenntniskritisch begründete Skepsis Brochs zwar, dass er der ‚Welterklärungssucht‘ erliegt. Zugleich verrät der Ethik-Essay, wie mit allen Einheitlichkeitsversprechen auch das seine zumindest soweit fragwürdig geworden sein muss, dass es der verbalen Beschwörung bedarf. Wie die affekt­ geladenen Wendungen gegen die Dogmatiker, die Glorifizierung des ‚einsamen Ich‘ und die Idealisierung Kants verdeutlichen, legitimiert der Text das Pathos nicht ausschließlich zu theoretischen Zwecken. Mit seiner Abgrenzung von den Weltanschauungsdogmatikern in Ethik begibt sich Broch auf eine Gratwande­ rung, die ihm auch zukünftig konzeptionell besser als rhetorisch gelingen wird. Nach 1914 findet Otto Weininger in den Schriften Brochs kaum mehr expli­ zit Erwähnung. Der Neukantianismus südwestdeutscher Prägung, den Broch in den ersten Kriegsjahren für sich entdeckt, marginalisiert den Geschlechterphi­ losophen nun auch als Kant-Vermittler, als der er im Ethik-Essay noch präsent ist. Dass er dennoch nicht ganz in Vergessenheit gerät, zeigt eine kleine Studie, in der sich Broch Mitte der 20er Jahre mit Genesis des Wahrheitsproblems befasst. In vielem an Ethik anknüpfend will Broch darin vorrangig die zentrale Stellung des autonom urteilenden Ichs erweisen, indem er das Selbst-Bewusstsein des

209 210 211

triert wird. Die Argumentationen reden Anschaulichkeit herbei, indem sie dem Leser Szenerien entwerfen. Die Abgrenzung von anderen Auffassungen ist mit moralischen Verdächtigungen verbunden (der ‚ruchlose Optimismus‘ der Hegelei). Die Aphorismen zur Lebensweisheit liefern die verdeckte Autobiographie u. a. m.“ (ebd., S. 375, Fn. 110). Broch: Ethik (Anm. 169), S. 244. Ebd. Ebd., S. 245.

265

Erkenntnissubjekts als einzig möglichen Ort beschreibt, an dem Wahrheit ga­ rantiert werden kann. Die Hinführung auf diese „Selbstgarantie der Wahrheit“212 leistet eine grundlegende Auseinandersetzung mit Inhalt und Form des Den­ kens unter bewusstseinsgenetischer Perspektive, wobei es Broch vorrangig auf die „kritische Richtungskonstante“213 ankommt, die er als bestimmendes Kennzei­ chen der Denkform herausstellt. Nicht im Diskussionsteil selbst, aber ganz am Schluss des Textes gleicht er dann dieses Modell „[i]n Parenthese“ mit der „Entwicklung zur Weiningerschen Henidenlosigkeit“ ab und stellt fest: Es ist dies vielleicht die windigste und menschlichste Manifestation der kritischen Richtungskonstante und läßt vermuten, daß ihr Impuls wohl auch in jener ‚mystischen‘ Einheitlichkeit zu suchen ist, die uns mit dem subjektiven, wertenden Ich der Persön­ lichkeit gegeben erscheint. In diesem Sinne wird Philosophie zum menschlich heniden­ losesten Denken.214

Dieser Rekurs, der grundsätzlich Übereinstimmung und eine Sympathie noch für das Zweifelhafte bekundet, gleichzeitig aber offenbar nur zur Mutmaßung abgeschwächt und verhalten in Klammern gesetzt angebracht werden kann, verdeutlicht die fortwirkend zwiegespaltene Haltung, mit der Broch rund ein Jahrzehnt nach der antidogmatischen Wendung gegen Weininger dessen Ide­ en doch noch einmal zum Bezugspunkt seiner eigenen Überlegungen macht. Auch an diese bereits in Ethik formulierte Kritik an dogmatisch verengten Weltentwürfen knüpft Broch, nun mit geschärftem begrifflichem Instrumenta­ rium, wieder an. Er entrollt sie nun als Kritik an jeder Art von „Inhaltsmetaphy­ sik“215 und geht dafür in einem Streifzug durch die neuzeitliche Philosophie entsprechenden Entwicklungen nach, die für ihn aus dem Unvermögen heraus entstehen, zwischen der Form wissenschaftlichen Denkens und den Inhalten einer Wissenschaft zu unterscheiden.216 An sich unbefriedigend sind dabei aus Brochs Sicht von Wissenschaftsinhalten ausgehende, nicht rein formal begrün­ dete Philosophien, weil sie entweder an das Materiale gebunden, schlussendlich „auf Weltbetrachtung, Welterklärung“ gerichtet bleiben, oder aber, „wenn sie darüber hinaus wollen, eines [sic] ihrer eigenen inhaltlichen Anschauungen resp. Prinzipien […] axiomatisch zum Ur- und Weltprinzip erheben müssen, um derart völlig im Transzendenten zu landen.“217 Gerade in dieser zweiten Variante erscheint nun die Inhaltsphilosophie problematisch, vor allem wenn sie sich nicht mehr bescheidet, ein metaphysisches Behelfskonstrukt zu sein, sondern „ihre Provisorien […] als Wahrheiten und sogenannte philosophische Grunderkenntnisse geriert: dann wird sie zur Antiwissenschaft, Antiphilosophie 212 213 214 215 216 217

266

Broch: Genesis des Wahrheitsproblems (Anm. 9), S. 229. Ebd., S. 208. Ebd., S. 232. Ebd., S. 215. Vgl. ebd., S. 214. Ebd., S. 216.

kat’ exochen, zur Dogmatik. Sie ist Mystik, aber im schlechten Sinne, nämlich rationalisierte Mystik.“218 Bei der scharfen Verurteilung der ‚Inhaltsmetaphysik‘ gerät hier insbesondere noch einmal das „deutlichste Exempel“219 Schopenhau­ er ins Visier, für die Blüten, die sie in der „Welträtselecke in der philosophi­ schen Unterhaltungsbeilage zur deutschen Naturwissenschaft“ treibt, hat Broch noch Hohn und Verachtung übrig, sieht aber ansonsten von einer näheren Beschäftigung mit „solch krassem Elend“220 ab. In Bezug auf die Beschäftigung mit Weininger wird in der Forschung über­ wiegend Lützelers Ansicht wiederholt, derzufolge sich Broch 1914 „von den Vertretern der Lebensphilosophie und ihren Vorläufern, von Schopenhauer, Nietzsche und Weininger“221 verabschiedet habe. Im Hinweis auf Brochs Auf­ gabe seines frühen schwärmerischen Anti-Rationalismus ist diese Einschätzung sicher korrekt, nicht aber in Bezug auf Weininger. Gegen eine Einreihung unter die Vorläufer der Lebensphilosophie spricht sowohl Weiningers Werk selbst222 als auch Brochs Rezeption. Die drei vorgestellten Frühschriften do­ kumentieren, dass Broch zunächst den endzeitlichen Rationalisten entdeckt (1908/1909), sich dann mit dem Konstrukteur von Universalgesetzen misst (1912) und im Moment der größten Annäherung an den Ethiker zugleich vom Weltanschauungsdogmatiker Abstand nimmt (1914). Obgleich es aus jeweils unterschiedlichen Gründen zu keinem dieser Zeitpunkte zu einer vollständigen Identifikation mit seinen Ideen kommt, verdeutlichen die Auszeichnungen, mit denen Weininger bedacht wird – vom großen Rationalisten in der Nach­ folge Platos223 bis zum „leidenschaftlichste[n] Ethiker nach Kant“224 –, dass

218 219 220 221 222

223 224

Ebd., S. 217. Ebd., S. 216. Ebd., S. 214. Lützeler: Hermann Broch. Ethik und Politik (Anm. 138), S. 35. Vgl. auch Lützeler: Die Entropie des Menschen (Anm. 138), S. 96. Es bestehen zwar durchaus Gemeinsamkeiten zwischen lebensphilosophischen Entwür­ fen und der Weiningerschen Geschlechterphilosophie, inhaltlich vor allem die Kritik an den positivistischen Wissenschaften, sprachlich die Ausbrüche ins emphatische Pathos. Auch sind Schopenhauer und Nietzsche wichtige Referenzautoren in Geschlecht und Charakter. Weininger distanziert sich allerdings gerade dort von ihnen, wo die lebens­ philosophischen Strömungen um 1900 anknüpfen: Den Willen unterscheidet er gegen Schopenhauer kategorisch vom Trieb, statt auf Nietzsches ‚Willen zur Macht‘ setzt er auf den „Willen zum Wert“ (Weininger: Geschlecht und Charakter [Anm. 29], S. 173; zur Kritik an Schopenhauer vgl. ebd., S. 378, S. 577–579). Weiningers Ziel war es, in der Orientierung an Kant einen strengen ethischen Idealismus auf naturwissenschaftli­ cher Grundlage zu etablieren. Sein metaphysischer Ausblick eröffnet die vergeistigte Unsterblichkeit, eine Verherrlichung des Vitalen und gar seiner biologischen Grundla­ gen war ihm dagegen fremd. Broch: Kultur 1908/1909 (Anm. 139), S. 22. Broch: Ethik (Anm. 169), S. 248. Ohne ein euphorisiert kritikloser Leser zu sein, akzep­ tiert Broch hier Selbststilisierungen, die Weininger seinem Werk eingeschrieben hat. Er gehört damit zu den gemäßigteren Weininger-Verehrern seiner Zeit.

267

Brochs Eindruck, es mit einem gewichtigen Denker zu tun zu haben, zumin­ dest bis 1914 konstant bleibt. Darauf, dass Brochs Weininger-Lektüre zum einen wichtige seiner theoreti­ schen Überlegungen im Anfang mitgeprägt, zum anderen auch nach der Dis­ tanzierung in Ethik nachgewirkt hat, ist immer wieder hingewiesen worden. Früh durch Manfred Durzak, der in seiner Untersuchung zurecht die Relevanz Weiningers für Broch betont, den Einfluss insgesamt aber wohl überschätzt, wenn er ihn zum „Vorbild seiner Jugend“225 stilisiert. Dass die Geschlechter­ konzepte, die in der theoretischen Auseinandersetzung eher eine marginalisier­ te Rolle spielen, für den Privatmann Broch bedeutsam waren und in seinen Romanen als Folie insbesondere der Frauenfiguren gedient haben könnten, wurde eingehend untersucht.226 Für die Beleuchtung des weltanschauungsliterarischen Lektürehintergrunds erweist sich das Beispiel Weininger als besonders geeignet, weil sich im Rezep­ tionsprozess ein wechselvolles Zusammenspielen von Anziehung und Absto­ ßung herauskristallisiert, das paradigmatisch ist für Hermann Brochs Haltung zur zeitgenössischen Weltanschauungsliteratur. Unter Zurückweisung jeglicher Dogmatik zeigt Broch sich immer wieder beeindruckt von universalen Erklä­ rungsansprüchen und begreift sich mit seinen eigenen theoretischen Arbeiten oftmals in Konkurrenz. Brochs Einschätzungen zu Oswald Spengler bezeugen diese „distanzierende Affinität“227 ebenso wie seine Äußerungen über Ludwig 225 226

227

268

Vgl. Durzak: Hermann Broch (Anm. 137), S. 11–23. Zu Brochs späten psychologischen Selbstanalysen in Weininger-Kategorien vgl. Paul Michael Lützeler: Donquijuanjote: Hermann Broch über sich selbst. In: Hermann Broch. Psychische Selbstbiographie. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1999, S. 145–169, hier S. 161–165. Zu möglichen Weininger-Einflüssen auf den Entwurf weiblicher Figuren in den Schlafwandlern und im Bergroman vgl. Brude-Firnau: Wissen­ schaft von der Frau? (Anm. 135), S. 139–142. Mit Blick auf den Weiningerschen Mythos ausführlicher zu den Schlafwandlern und auch Broch persönlich vgl. dies.: Hermann Broch und Otto Weininger: K/ein Mythos der Selbsterlösung. In: Hermann Brochs Schlafwandler-Trilogie. Neue Interpretationen. Das Lancaster-Symposium von 2009. Hg. von Graham Bartram und Paul Michael Lützeler. Tübingen 2012, S. 15–29. Lützeler: Hermann Broch und Spenglers Untergang des Abendlandes (Anm. 23), S. 26. Im Juli 1920 arbeitet Broch selbst gerade an einer Theorie der Geschichtsschreibung und der Geschichtsphilosophie und stellt fest: „Was Spengler anlangt, so lässt sich eigentlich nichts gegen ihn sagen: er hält eben das für Geschichtsphilosophie, was alle dafür halten. Und diese Meinung zu widerlegen bedarf es eben meines Buches. Ansonsten ist nur seine ignorante Präpotenz widerlich“ (Broch: Das Teesdorfer Tagebuch [Anm. 22], S. 14). 1933 äußert Broch unter Hinweis auf Spengler eine verhaltene grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Analogieverfahren: „Aber so berechtigt solche Parallelisierungen und Analogieschlüsse auch sein mögen, man spürt dennoch, daß sie gefährlich oder zumindest nicht mehr zeitgerecht sind – das sicherlich konsequenteste Experiment Spenglers zeigt ihre Anfechtbarkeit“ (Hermann Broch: Denkerische und dichterische Erkenntnis. In: Ders.: Schriften zur Literatur 2. Theorie. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1975 [Kommentierte Werkausgabe. Bd. 9,2], S. 43–49, hier S. 48). Die zwischen 1939 und 1948 entstandene Massenwahntheorie distanziert sich von Speng­ lers Exzessen, bestätigt aber dessen Grundannahme parallel verlaufender Kulturprozesse

Klages.228 Vorgeprägt ist die Ambivalenz bereits im Verhältnis Brochs zu Scho­ penhauer. Trotz der von Beginn an kritischen, ab 1914 ablehnenden Ausein­ andersetzung mit dessen Philosophie, bleibt auch hier die Faszination des „transzendental-metaphysischen Gewaltbau[s]“229, einer „genial-gefügten Archi­ tektonik und blendenden Diktion.“230 Anders verhält es sich allerdings dort, wo keine ernstzunehmende Konkurrenz zu vermuten ist. Wie Broch bei nicht satis­ faktionsfähig erscheinenden Bewohnern der ‚Welträtselecke‘ als unbeteiligter Beobachter noch einmal einen anderen Blick auf die Weltanschauungsproduk­ tion wirft, zeigt seine Polemik gegen Erwin Hanslik. c) Erwin Hansliks Weltösterreichgeographie Dass Robert Musil gar nicht viel Phantasie aufbringen musste, um seiner Dio­ tima die Idee von ‚Weltösterreich‘ in den Kopf zu pflanzen, wird klar, wenn man sich mit dem Lebenswerk Erwin Hansliks beschäftigt. Der aus Galizien stammende Anthropogeograph unterrichtete hauptberuflich an einer Staatsre­ alschule und lehrte daneben als Privatdozent am Geographischen Institut der Universität Wien. Im Ersten Weltkrieg entwickelte er sich zum kulturpoliti­ schen Aktivisten und propagierte der Realität des zerfallenden Habsburgerrei­ ches zum Trotz ein in Völkervielfalt geeintes Österreich als natürlich vorbe­ stimmtes Schicksal und Modell für den Weltfrieden.231 Kultur- auf Naturerscheinungen zu beziehen war Usus in der deutschsprachi­ gen Geographie des beginnenden 20. Jahrhunderts, dennoch begründete Hans­

228

229 230 231

(vgl. Hermann Broch: Massenwahntheorie. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1979 [Kommentierte Werkausgabe. Bd. 12], S. 184). In den 1940er Jahren zählt Broch den Untergangspropheten Spengler zu den ‚halbphilosophischen‘ Wegbereitern des Faschismus (vgl. Hermann Broch: Bemerkungen zum Projekt einer ‚International University‘, ihrer Notwendigkeit und ihren Möglichkeiten. In: Ders.: Politische Schrif­ ten. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1978 [Kommentierte Werkaus­ gabe. Bd. 11], S. 414–425, hier S. 418). Im Herbst 1920 liest Broch „sehr entsetzt“ Klages’ Mensch und Erde (1920), stellt aber fest: „Trotzdem sind Ähnlichkeiten“ (Broch: Das Teesdorfer Tagebuch [Anm. 22], S. 65). Kurz darauf schlägt sich diese zwiegespaltene Haltung in einer Rezension wie folgt nieder: Die Klages-Aufsätze „liegen in einer zarten und sanften Gegend am Fuße Berg­ sons und Nietzsches. […] Was er theoretisch zu sagen hat, […] ist in seinen Resultaten von einer gewissen sinnigen Überflüssigkeit; Biedermeierhandarbeit. Nichtsdestoweni­ ger sind die aufgeworfenen Probleme echte Probleme der Philosophie. […] Kein phi­ losophisches Buch, aber besseren, zarteren Sinnes Einleitung in die Philosophie als manches, was sich so nennt“ (Broch: Bücher, von denen man spricht. In: Moderne Welt 2 (1920), Heft 7, S. 24). Broch: Genesis des Wahrheitsproblems (Anm. 9), S. 215. Ebd., S. 219. Zum Engagement Hansliks im österreichischen Kontext internationalistischer Bewe­ gungen, auch mit Blick auf Robert Musil vgl. Glenda Sluga: Habsburg Histories of Internationalism. In: Remaking Central Europe: The League of Nations and the Former Habsburg Lands. Hg. von Peter Becker und Natasha Wheatley. Oxford 2020, S. 17–36.

269

liks rigoroser naturalistischer Determinismus eine Sonderstellung innerhalb des Faches, zumindest in Österreich: Starke Naturgrenzen bedingen ebenso starke Geistesgrenzen, starke Raumunterschiede haben ebenso starke Geistesunterschiede zur Folge. Allgemein läßt sich aussprechen, daß die Individuation der Menschheit in erster Linie kausaler Natur ist, indem sie auf die Gliederung der Erde zurückgeht.232

Vom um die Jahrhundertwende einflussreichen entwicklungsgeschichtlichen Denken geprägt, nahm Hanslik wie später auch Spengler an, dass sich in räumlich zu bestimmenden Kulturstufen zugleich zeitliche Kulturstadien mani­ festierten, sein Entwurf von Europa ging von einem „natürlichen Dualismus“233 von Ost und West aus und stellte die „Gemeinschaft der Westvölker im Welt­ kulturstadium“ der „Gemeinschaft der Ostvölker im Stadium der werdenden Kultur“234 gegenüber. Durch die Erfahrung des Weltkriegs entdeckte Hanslik seine weltanschauli­ che Mission, in deren Dienst er dann auch die geographische Arbeit stellte. Ge­ meinsam mit dem Orientalisten Edmund Küttler gründete er 1915 ein ‚Institut für Kulturforschung‘ in Wien, das auf die Kooperation von Wissenschaft und Kunst setzte und einen beeindruckenden Unterstützerkreis aufbauen konnte.235 232

233 234 235

270

Erwin Hanslik: Österreich. Erde und Geist. Wien 2017, S. 85. Zur Verortung Hansliks in der österreichischen Geographie vgl. Hans-Dietrich Schultz: Sozialgeographie. Geo­ graphie ab ca. 1900. In: Die Soziologie und ihre Nachbardisziplinen im Habsburger­ reich. Ein Kompendium internationaler Forschungen zu den Kulturwissenschaften in Zentraleuropa. Hg. von Karl Acham. Teil H: Exemplarische Anregungen von Seiten einiger Nachbardisziplinen – Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Welt­ kriegs. Wien u. a. 2020, S. 722–727. Hansliks Biographie ist von besonderer Tragik. Das von ihm entwickelte Konzept der Kulturgrenze ging in einer radikalisierten Variante über seinen Doktorvater Albrecht Penck in die sogenannte ‚Volks- und Kulturboden­ forschung‘ ein, auf deren Ergebnisse sich die expansionistische nationalsozialistische Machtpolitik stützte. Hanslik selbst wurde Opfer der eugenischen Ideologie, die Na­ tionalsozialisten ermordeten ihn 1940 im Rahmen der ‚Aktion T4‘. Zum Fortwirken von Hansliks kulturgeographischen Konzepten in einer völkisch geprägten Geographie vgl. Norman Henniges: „Naturgesetze der Kultur“: Die Wiener Geographen und die Ursprünge der „Volks- und Kulturbodentheorie“. In: ACME. An International E-Journal for Critical Geographies 14 (2015), Heft 4 (https://acme-journal.org/index.php/acme/arti cle/view/1076, abgerufen am 21.11.2020), S. 1309–1352. Hanslik: Österreich. Erde und Geist (Anm. 232), S. 96. Ebd., S. 137. Zu den verschiedenen Impulsgebern für Hansliks kulturgeographische Konzepte vgl. Henniges: „Naturgesetze der Kultur“ (Anm. 232), S. 1317–1323. Im März 1918 führte das Institut unter anderen Oskar Kokoschka (als „Leiter der darstellenden Arbeiten“), Adolf Loos (als „korrespondierendes Mitglied“) und in Ehren­ mitgliedschaft den kurz zuvor verstorbenen Gustav Klimt an (Erwin Hanslik [Schriftlei­ tung]: Erde. Organ der Weltkulturgesellschaft. Zeitung für Geistesarbeit der gesamten Menschheit [1918], Nr. 1, S. 6). Als Finanzier brachte sich der Zuckerfabrikant Victor Ritter von Bauer-Rohrfelden bis 1918 in die Unternehmung ein. Zu Hansliks Wirken im Institut für Kulturforschung und insbesondere zu seiner Zusammenarbeit mit Egon Schiele vgl. Franz Smola: Vom „Menschenbewusstsein“ zum neuen Menschenbild – Egon Schiele und der Anthropogeograph Erwin Hanslik. In: Die ästhetische Gnosis der Moderne. Hg. von Leander Kaiser und Michael Ley. Wien 2008, S. 123–246.

Das Institut schrieb sich „objektive Kulturforschung auf universaler Grundla­ ge“236 auf die Fahne, es sollten bestehende Kulturunterschiede untersucht wer­ den, um künftige Völkerverständigung zu ermöglichen. Als wichtigsten For­ schungsgegenstand wählte Hanslik Österreich, dessen angeblich naturbedingte Vermittlerrolle zwischen Ost und West er herausstellen wollte: „Österreich ist der Bindestaat zweier Menschheiten, ist die Vermählung von Ost und West.“237 Das vor allem in den letzten Kriegsjahren erschienene Österreich-Werk Hansliks führt vor, dass die weltanschauungsliterarische Neigung zur Textaus­ dehnung nicht zwangsläufig zur Produktion eines dicken Wälzers führen muss, der globale Zusammenhang kann auch über kleinere, miteinander vernetzte Schriften herbeigeschrieben werden. Die Motivation, schnell und breit in die Gesellschaft hineinzuwirken, schlägt sich bei Hanslik und seinen mitstreiten­ den Kulturforschern zudem in einer ausgeklügelten publizistischen Strategie nieder. Durch den institutseigenen Verlag ließen sich unterschiedliche Ziel­ gruppen differenziert ansprechen. Die Grundbotschaft Hansliks etwa wurde in jeweils passendem Zuschnitt bestimmten Lesergruppen empfohlen, gesonderte Veröffentlichungen richteten sich an die „Fachleute“, an „Schulen und öffent­ liche Stellen“ oder ausschließlich an „geisteswissenschaftlich Gebildete“, das Hauptwerk Österreich. Erde und Geist wiederum war nicht nur als Volks- und als Feldausgabe erhältlich, es gab auch den kürzer gefassten Ableger Österreich als Naturforderung, den der Verlag als „Kleine Oesterreichlehre, namentlich für Reichsdeutsche“238 anpries. Mit der weltanschaulichen Weiterung seiner Kulturgeographie, handelte sich Hanslik einige Schwierigkeiten prinzipieller Art ein. Die Grundannahme, dass Kulturphänomene kausal auf naturräumliche Gegebenheiten zurückzuführen sind, ist für einen weltanschaulichen Entwurf mit aktivistischer Zielsetzung ei­ gentlich wenig geeignet, weil das deterministische Weltbild weder menschliche Handlungsspielräume eröffnet noch historischen Handlungsbedarf begründet. Hanslik gesteht deshalb zu, menschliche Entwicklung verlaufe „kausal und ideal zugleich“239. Seine Berufung auf ein „Wirken des freien Willens“ führt je­ doch in die Irre, Hansliks „Gesetze des Geistes“ bleiben den kulturgeographisch bestimmten „Naturgesetzen“240 untergeordnet, erhalten nun aber zusätzlich 236

237

238

239 240

Erwin Hanslik: Das Institut für Kulturforschung in Wien [o. J., ca. 1916], S. 6. Das Institut sah sich damit in einer „durch Leibniz, Lessing, Kant, Schiller, Goethe, Fichte, Wilhelm v. Humboldt, später von Schleiermacher“ (ebd., S. 10) gestifteten Traditionslinie. Erwin Hanslik: Österreich als Naturforderung. Wien 1917, S. 51. Konkret stellte sich Hanslik ein territorial vergrößertes Habsburgerreich vor, es sollte „Polen, Österreich, Ungarn, Serbien, Rumänien, Bulgarien und Albanien“ (ebd., S. 58) umfassen und bun­ desstaatlich organisiert sein. Auch an die internationale Leserschaft wurde gedacht, für die eigens Ausgaben mit englischem Anhang lagen (alle Angaben finden sich in der Übersicht über das Verlags­ programm in: Erde. Organ der Weltkulturgesellschaft [Anm. 235], S. 8). Hanslik: Österreich. Erde und Geist (Anm. 232), S. 29. Ebd.

271

den Status ewig gültiger, ideeller Ziele. Der Mensch soll sein „Geformtwerden durch den Raum“241 durch Arbeit an sich selbst vorantreiben und sein natür­ lich vorbestimmtes Schicksal erfüllen. Hansliks Österreichgeographie erhält auf diese Weise Züge einer naturreligiös verklärten patriotistischen Glaubenslehre, was auch durch die Diktion unterstützt wird, in der die entsprechenden Geset­ ze verkündet werden: Nicht wider den Raum zu wollen ist eines der obersten Gesetze, das den geschichtli­ chen Erfolg verbürgt. Wer Österreich entgegen will, kämpft wider den Raum; wer aber nicht sein Leben daransetzt, Österreich zu schaffen, wer die Hände in den Schoß legt und sagt, der Raum wird Österreich machen, frevelt wider alles Hohe im Menschen und versündigt sich an seiner Natur.242

Hansliks Schriften stellen das neue Kulturforschungsprogramm als Antwort auf die drängenden Probleme der Zeit dar, der vorgeschlagene Lösungsweg ist wiederum mit dem Werdegang des Verfassers verquickt. Auf für die Welt­ anschauungsliteratur geradezu paradigmatische Weise führt dies das Kapitel Kampfgeist im Hauptwerk vor. Als Grund für die gesellschaftlich und politisch verfahrene Situation Österreich-Ungarns wird dort die Dominanz des ‚westli­ chen‘ Einflusses benannt, einer Intellektualisierung und Rationalisierung, die nationale Egotismen befördert und zu Konflikten geführt habe, die eigentlich nur Scheinkonflikte seien. Hanslik schickt sich deshalb an, einen großen Irr­ tum zu korrigieren. Die gesamte bisherige Forschung, aber auch Politik, Wirt­ schaft und Kirche „haben das Zusammenleben der Völker anders angesehen, als es wirklich ist.“243 Dem setzt Hanslik „den bewußten Rückgang auf Menschen­ tum und Erdnatur“244 als einzige Möglichkeit entgegen, die tatsächliche Wirk­ lichkeit zu erkennen. Für die Kulturforschung bedeutet dies, dass sie sich nicht mit der Sammlung von Einzelerkenntnissen begnügen darf, sondern sich in einer Philosophie und Psychologie verknüpfenden ganzheitlichen Betrachtung dem „Gesamtmenschlichen“245 zuwenden soll. Indem Hanslik seinen beschwer­ lichen Weg aus der unbefriedigenden Spezialforschung heraus bis zur erlösen­ den Entdeckung Diltheys246 erzählt, übernimmt er die Rolle des Vorreiters und modelliert den eigenen Bewusstseinswandel als Gebot der Zeit: 241 242

243 244 245 246

272

Ebd. Ebd. Der pathetischen Apodiktik folgt eine längere Passage, in der Hanslik die so geord­ nete Welt noch einmal mittels biologistischer Metaphern und Vergleiche anschaulich vor Augen führt. Auszugsweise: „Die Menschen gehen erdeschwanger dahin, sie müssen sich selbst ewig neu gebären. […] Menschen wachsen auf der Erde, ebenso wie Trauben, Korn oder Baumfrüchte“ (ebd., vgl. auch S. 30). Ebd., S. 77. Ebd., S. 79. Ebd., S. 74. Vgl. die Schilderung des Erweckungserlebnisses: „Endlich ergab es sich aber, daß es doch eine philosophische Richtung gab, die in allen in Betracht kommenden Fragen Hilfe und letzte Sicherheit bot“ (ebd., S. 74). Zu Hansliks Anlehnung an Dilthey vgl. Smola: Vom „Menschenbewusstsein“ zum neuen Menschenbild (Anm. 235), S. 128f.

Ebenso wie seinerzeit der Verfasser auf seinem Forschungswege gezwungen war, weit über die wissenschaftlichen Fachabteilungen hinauszugehen und den Zusammenhang mit Philosophie und Psychologie zu suchen, ebenso wird heute im großen der Kampf um die objektiven Grundlagen der Völkervergleichung aus dem Ganzen heraus aufge­ nommen werden müssen.247

Die offene Selbstbeschreibung wird unterstützt durch indirekte Stilisierungen, in denen Hanslik nicht ausdrücklich von sich spricht, aber unschwer zu erken­ nen ist. In die Argumentation eingestreut finden sich etwa kleine Bildungsro­ manplots. Sie stellen die bildungsbiographische Entwicklung des Verfassers an­ onymisiert und generalisiert als die Geschichte eines ‚Menschen‘ noch einmal figural dar und erlauben durch die Innensicht eine besondere Emotionalisie­ rung: „Ein Gedanke marterte den jungen Fremdling: ‚Wie ist das möglich, daß eine ganze Stadt, ein Land, ein Reich abstarb?‘“248 Als Kulturforscher führt Hanslik aus der Position dessen, der sich den not­ wendigen Standpunkt „hoch über den Erscheinungen“249 bereits erarbeitet hat, seine Leser durch die Welt und erschafft aus vielen Einzelbildern das „Totalbild“250. Um glaubwürdig zu erscheinen, kommt es allerdings in der Weltanschauungsliteratur darauf an, „dass die Welt, die angeschaut wird, dar­ stellerisch so modelliert ist, dass sich die weitreichenden Einlassungen des Ich gleichsam zwanglos und für jeden anschaulich augenfällig ergeben.“251 Sprach­ lich ermöglicht Hanslik insbesondere seine Anthropomorphisierung geographi­ scher, biologischer oder sozialer Entitäten abstrakte Vorgänge zu veranschauli­ chen, indem er durchweg verschiedene ‚Landkörper‘, ‚Menschheitskörper‘ oder ‚Gesellschaftspersonen‘ in Aktion zeigt, um schließlich die „Vermählung von Ost und West“252 zu inszenieren. Mit der Kartographie stehen dem Geographen aber darüber hinaus besondere Visualisierungsmöglichkeiten zur Verfügung, von denen er auch ausgiebig Gebrauch macht. Oft nur in groben Linien zeichnet 247 248

249 250 251

252

Hanslik: Österreich. Erde und Geist (Anm. 232), S. 74. Ebd., S. 162. Die ganze Stelle findet sich im Kapitel Leben: „Im folgenden wird eine Lagune beschrieben: Ein junger Mensch sehnte sich, den Welthafen eines Staates zu sehen“ (ebd.). Dieser junge Mensch wird bei seiner Ankunft in einer neuen Stadt in all seinen Erwartungen zutiefst enttäuscht, statt Leben und Aufbruch findet er nur Stillstand und Lähmung. Auf der Suche nach Leben geht der Protagonist auf Reisen. Bei seiner Rückkehr dann gelingt es ihm zu erkennen, warum Jugendtraum und Realität nicht übereinstimmen konnten, er blickt mit neuen Augen auf die Stadt: „Er lernte die Typen der Bewohner erkennen und verstehen […]. Die Unfähigkeit, einen Entschluß zu fassen, vermochte er geographisch zu verfolgen“ (ebd., S. 162; vgl. auch die Parallelstelle S. 70f.: „Nun kommt ein Mensch des Weges, der geistig weite Teile der menschlichen Welt durchreist und durchwandert hat […]“). Ebd., S. 77. Hanslik: Österreich. Erde und Geist (Anm. 232), S. 5. Horst Thomé: Der alte und der neue Glaube als Weltanschauungsliteratur. In: David Friedrich Strauß als Schriftsteller. Hg. von Barbara Potthast und Volker Henning Dre­ coll. Heidelberg 2018, S. 253–271, hier S. 259. Hanslik: Österreich als Naturforderung (Anm. 237), S. 51.

273

Hanslik in seinen Karten Grenzen und Dynamiken von großer Tragweite ein, die dann mit knapper Beschreibung versehen als Tatsache dastehen sollen.253 Hansliks eigenwillige kartographische Darstellungen befremdeten bereits Fach­ kollegen in seiner Zeit, einer monierte „eine nicht unbedenkliche Suggestion, die durch die berauschende Klangfülle von H.s Rede verstärkt wird.“254 Wie entgegen der zur Schau getragenen Objektivität die Wissenschaft der höheren Sache unterstellt ist, zeigt besonders kontrastreich der Atlas Die Menschheit in 30 Weltbildern, in dem die vermeintlich „kühle Klarheit“ des Kartenmaterials auf eine besonders pathosgeladenen Ansprache der weltumspannenden Glau­ bensgemeinde trifft: „Brüder, es gibt einen Weg zum Glück und den weist die neue Wissenschaft von der Menschheit. Sie zeigt nur das eine: die Welt ist kein Stückwerk, kein zufälliges Durcheinander. Sie ist eine einzige und gewaltige Harmonie.“255 Mit seiner Weltanschauungsgeographie löste Hanslik sich aus der wissen­ schaftlichen Fachdiskussion, fand dafür aber neue Resonanzräume in Kunst und Kultur. Den Schriftsteller und politischen Aktivisten Robert Müller etwa interessierte die Frage nach Hansliks Wissenschaftlichkeit wenig, er begeisterte sich einfach für eine kühne Idee: „Ein exakter Phantast in dieser naturalistisch spekulativen Mischung, Antithese, den Österreicher verkörpernd, schreibt er das Reich von einer brillianten Entdeckung her, die vielleicht eine Erfindung ist“256. Wesentlich unfreundlicher fiel das Urteil Hermann Brochs aus, er be­ schrieb die kreativen Weltentwürfe Hansliks im Sommer 1918 als ‚Kulturpfu­ scherei‘. Jennifer Jenkins ist es vor einiger Zeit gelungen, drei kleinere, bisher nicht bekannte Texte Hermann Brochs zu identifizieren, die 1918 unter dem Kryp­ tonym K. L. Hib publiziert wurden. Bei einem davon handelt es sich um eine scharfe Polemik gegen Erwin Hanslik, die unter dem Titel Ein offiziöser Gschaftlhuber der Kultur in der Wiener Wochenschrift Die Wage erschien.257 253

254

255 256

257

274

Vgl. insbesondere Erwin Hanslik: Die Menschheit in 30 Weltbildern. Wien 1917. Der Atlas stellt schon eingangs dem ‚alten Bild‘, das auf einer Karte die traditionelle Eintei­ lung der Erdteile wiedergibt, nicht ein neues, sondern das ‚wahre Bild‘ gegenüber, das Hansliks gemäß der botanischen Decke erfolgende Unterteilung in ‚Weltglieder‘ zeigt. Robert Sieger: [Rezension zu] Erwin Hanslik, Österreich als Naturforderung. In: Deut­ sche Literaturzeitung 39 (1918), Nr. 15, vom 13. April 1918, Sp. 311–316, hier Sp. 312. Zu Hanslik als „Pionier der geopolitischen Kartographie in Österreich“ vgl. Petra Svatek: Geopolitische Kartographie in Österreich 1917–1937. In: Mitteilungen der Öster­ reichischen Geographischen Gesellschaft 157 (2015), S. 301–322, hier S. 307. Hanslik: Die Menschheit in 30 Weltbildern (Anm. 253), unpaginierte Vorrede. Robert Müller: [Rezension zu] Österreich, Erde und Geist. Von Erwin Hanslik. Verlag des Instituts für Kulturforschung. In: Ders.: Kritische Schriften II. Mit einem Anhang hg. von Ernst Fischer. Paderborn 1995 (Werkausgabe in Einzelbänden. Bd. 10), S. 16–18, hier S. 17. Vgl. K. L. Hib [Hermann Broch]: Ein offiziöser Gschaftlhuber der Kultur. In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift 21 (1918), Heft 27, vom 6. Juli 1918, S. 433–438. Jennifer Jenkins: Edition und Kommentar zu K. L. Hib (Hermann Broch) Ein offiziöser

Broch nimmt in seiner Kritik Hansliks Selbstverständnis als Wissenschaftler, aber auch seinen kulturpolitischen Eifer aufs Korn und versucht, den Idealisten als Scharlatan zu entlarven. Dabei unterzieht er einige typische weltanschau­ ungsliterarische Verfahren einer ironischen und komisierenden Begutachtung. Mit der Betitelung Hansliks als ‚Gschaftlhuber‘, als umtriebigen Wichtigtuer, ist das Hauptangriffsziel schon benannt, Broch fokussiert sich auf die angemaß­ te Weltbedeutung und stutzt den Megalomanen auf die Normalgröße eines Wiener Schaumschlägers zurück. Um diesen vorzuführen, schlüpft Broch unter anderem in die Rolle des naiven Rezipienten und lässt sich scheinbar überzeu­ gen, etwa in Grundsatzfragen der Geschichtswissenschaft: Dieser Professor schürft nämlich tief. Das Kardinalproblem aller Geschichtsphiloso­ phie, die Frage nach der Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Geschehens und nach der wissenschaftlichen Aufgabe der Geschichtsforschung löst er mit einem Griff.258

Broch bekundet in diesem Zusammenhang seine angebliche Freude, mit Hans­ lik und seinem naturalistischen Modell der kulturhistorischen Entwicklung „so unbekümmert apodiktisch über diese Dinge orientiert zu werden.“259 Die Iro­ nie legt allerdings offen, dass die großen welthistorischen Zusammenhänge, die der Kulturgeograph entdeckt zu haben meint, auf Simplifizierungen beruhen, und torpediert zugleich dessen Gewissheitsrhetorik. Wie für den Umgang mit den Wissenschaften demonstriert Broch auch für die geopolitische Vision, dass Hanslik globale Erklärungs- und Sinnstiftungskompetenz nur zum Preis einer massiven Komplexitätsreduktion behaupten kann. Mit Blick auf die instabilen staatlichen Verhältnisse seiner Gegenwart bezweifelt Broch zunächst, dass si­ chere Aussagen über den künftigen territorialen Zuschnitt, erst recht aber über eine weltpolitische Bedeutung Österreichs möglich seien, um dann zum Schein einzulenken: „doch muß es wohl akzeptiert werden, wenn man bedenkt, daß sich daraus der weitere Schluß auf die Errichtung einer ‚Weltkulturgesellschaft‘ in dem Zentrum Wien als historische Notwendigkeit ergibt.“260

258

259 260

Gschaftlhuber der Kultur (1918). In: Studia austriaca 26 (2018) [DOI: https://doi.org/10. 13130/1593-2508/10076], S. 5–17. Das Kryptonym K. L. Hib war der Forschung bereits bekannt, Lützeler löst es folgendermaßen auf: „Hib sind die Anfangsbuchstaben seines Namens Hermann Ioseph Broch; die Buchstaben K und L folgen den Vornamensinitia­ len H und I im Alphabet“ (Hermann Broch: [Anmerkung zum Gedicht Bitteres, spätes Gebet]. In: Ders.: Gedichte. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1980 [Kommentierte Werkausgabe in 13 Bänden. Bd. 8], S. 164). Hib [Broch]: Ein offiziöser Gschaftlhuber der Kultur (Anm. 257), S. 433. Broch stützt sich in seiner Kritik auf Österreich als Naturforderung, Die Menschheit in 30 Weltbildern und die ersten beiden Nummern der Vereinszeitschrift Erde (vgl. die entsprechen­ den Belege der von Broch benutzten Zitate bei Jenkins: Edition und Kommentar [Anm. 257]). Hib [Broch]: Ein offiziöser Gschaftlhuber der Kultur (Anm. 257), S. 433. Ebd., S. 436.

275

Neben der intellektuellen Herabsetzung – Hanslik wird als Dilettant präsen­ tiert, der selbst beim Zählen scheitert261 – ist der Verweis auf Selbstüberschät­ zung und Geltungsdrang ein zentrales Element von Brochs Polemik. Daraus, dass es bei der Weltanschauungsproduktion immer auch stark um den Weltan­ schauungsproduzenten selbst geht, ergibt sich ein Angriffspunkt, den Broch im konkreten Fall über das Wiener Kulturforschungsinstitut anvisiert. Broch ver­ folgt nicht nur, wie Hanslik seine theoretischen Erörterungen dazu nutzt, der eigenen kulturpolitischen Tätigkeit die ‚historische Notwendigkeit‘ zu beschei­ nigen, sondern beschäftigt sich eingehend auch mit der Öffentlichkeitsarbeit des Instituts. Indem er die lange Liste von Persönlichkeiten vorstellt, mit denen sich das Institut in irgendeiner Weise assoziiert sieht, vom kaiserlich-königli­ chen Statthalter in Mähren über Selma Lagerlöf bis zum amerikanischen Präsi­ denten Woodrow Wilson,262 demonstriert Broch durch fast bloße Auflistung die bei Hanslik und seinen Kulturforscherkollegen ins Absurde gesteigerten Ambitionen, die eigene Weltanschauung durch Prominenz zu nobilitieren. Dem Kritiker geht es hier aber ebenfalls darum, eine hauptstadtkulturelle Ei­ genheit zu kennzeichnen, wie ein trockener Kommentar zeigt, spielt in den spöttischen Blick auf das Bemühen, das Institut in die Weltbedeutung zu hieven, auch ein grundsätzlicher „Anti-Wienerismus“263 hinein, den Broch mit Karl Kraus teilte: „Hauptsache ist, – man ist ja schließlich doch in Wien – daß Namen genannt werden.“264 Auch den inflationären Gebrauch von Universal­ begriffen sieht Broch in selbstüberhöhender Funktion, wobei er ein „Verfahren […] von großer Einfachheit“ kennzeichnet: „Ebenso wie die Entdeckungen des Institutes als Welt-Kulturwissenschaft zu gelten haben, wird alles, was in Wien geschieht oder geschehen sollte, mit dem Epitheton Welt – oder Menschheit – versehen.“265 Interessanterweise beschreibt Broch die Versuche, sich mit dieser einfachen Methode ein Netzwerk an Welt-Bezügen aufzubauen als Kippen ins Fiktionale, er skizziert die Aktivitäten des Instituts als ein infantiles Spiel, in dem sich Hanslik und seine Gruppe durch den ‚Als ob‘-Modus sogar das Mitmi­ schen bei ‚den Großen‘, also in der Weltpolitik ermöglichen.266 Nicht nur wenn er die weltbegrifflichen Rollenspiele vorführt, macht sich Broch über sprachliche Phänomene lustig. So lässt er mehrmals die exaltierte 261 262

263

264 265 266

276

Vgl. ebd., S. 434f. Vgl. ebd., S. 437. Das Institut hat tatsächlich versucht, mit Präsident Wilson in Kontakt zu treten, der entsprechende Brief wurde als Einleitung in der Eröffnungsnummer der Vereinszeitschrift abgedruckt (vgl. Hanslik [Schriftleitung]: Erde. Organ der Weltkultur­ gesellschaft [Anm. 235], S. 1f.). Jennifer Jenkins: „Ein Fiasko des Geistes“. Hermann Broch’s Rediscovered Early Criti­ que Ein offiziöser Gschaftlhuber der Kultur (1918). In: Studia austriaca 26 (2018) [https://d oi.org/10.13130/1593-2508/10077], S. 19–44, hier S. 34. Hib [Broch]: Ein offiziöser Gschaftlhuber der Kultur (Anm. 257), S. 437. Ebd., S. 436. Vgl. ebd., S. 436f.

Rhetorik, die im Umfeld des Instituts für Kulturforschung gepflegt wird, an der banalen Realität auflaufen und sorgt mit minimalem Aufwand für einen Kontrast, durch den sich im reinen Zitat schon die ganzen Komik von selbst entfaltet.267 An anderer Stelle stört Broch die intime Leseransprache, mit der die Vereinszeitung praktische weltanschauliche Sofortlebenshilfe verspricht, in­ dem er sich in das entsprechende Zitat in Klammern einschaltet und durch ironische Bestätigung die absurde Vermessenheit der Versprechungen unter­ streicht: „Jede Angst vor dem Leben ist unbegründet. Du wirst sehen, es wird nichts Wesentli­ ches auf den paar Seiten fehlen“ (die Angst vor dem Leben scheint wirklich unbegrün­ det zu sein) „… Du bist nur ein Blatt am Baume der Menschheit und hast 1600 Millionen Blattbrüder“.268

Subtil kehrt die Kritik auch Hansliks Gewohnheit heraus, Metaphorik überzu­ strapazieren. Wenn Broch Hanslik als den Geographieprofessor vorstellt, der zeige, „wo die Wiegen der Menschheit geschaukelt haben“269, verweist er da­ mit sehr genau auf dessen Vorgehensweise, sich einer präzisen Argumentation durch den Wechsel in die sprachbildliche Darstellung zu entziehen und diese dann bis ins letzte Detail auszumalen.270 Insgesamt unterstellt Broch Hanslik und dem Kulturforschungsinstitut un­ lautere Motive, in seinen Augen handelt es sich hier nicht um einen sympa­ thisch naiven, idealistischen Aufbruch, sondern um ein opportunistisches Ma­ növer. Um dies klarzustellen wird es für Broch überhaupt erst nötig, sich mit einem Kuriosum wie Hanslik zu befassen: „[H]ier wird mit einer salbungsvol­ len Ausruferstimme das Pathos eines Weltbeglückertums markiert, das jetzt die Friedenskonjunktur in der gleichen Weise ausnützt wie einst der Schlachten­ dichter die Kriegskonjunktur.“271 Verdeutlicht wird der Vorwurf auch über die Parallele zum Kurpfuscher, die Mittel der selbsterklärten Friedensstiftern, die 267

268 269 270

271

Vgl. zum Beispiel: „Das Institut für Kulturforschung […] befindet sich […] in Wien, I. Mölkerbastei 10, oder wie es in dem dort eben gebräuchlichen Idiom heißt, ‚auf den Höhen der alten Mölkerbastei, angesichts des Denkmals des tapferen Bürgermeisters Liebenberg, der gegen die Türken kämpfte, an einer Stelle, wo die Erde mit deutschem, slawischem und orientalischem Blut getränkt ist – extra muros, jenseits der Mauern der staatlich organisierten Wissenschaft und Kunst‘“ (ebd., S. 434f.). Ebd., S. 434. Ebd., S. 433. Vgl. exemplarisch: „Die Frucht des österreichischen Geistes wird reifen, wenn der Boden fürsorglich von früh bis spät abends bestellt wird. Es muß gepflügt werden, gesät und geeggt. Das Unkraut muß aus den Feldern entfernt werden. Die Sonne der Geschichte muß zu rechter Zeit scheinen, dann wird die Ernte des österreichischen Geistes wunderbar gut sein“ (Hanslik: Österreich. Erde und Geist [Anm. 232], S. 29). Hib [Broch]: Ein offiziöser Gschaftlhuber der Kultur (Anm. 257), S. 437f. Vgl. auch die Parallelisierung der pazifistischen Österreich-Vision Hansliks mit der des erzkatholi­ schen Kulturphilosophen und Kriegsverherrlichers Richard von Kralik ebd., S. 436. Bei­ de erscheinen in der Betrachtung Brochs als zwei Varianten einer sich an den jeweiligen Zeitgeist anbiedernden „Vereinsmeierei“ (ebd., S. 438).

277

vorgeben, Weltprobleme kurieren zu können, sollen als „Kulturpfuschermetho­ den“272 kenntlich werden. Was aber Broch schließlich aus der überlegen spöttischen Haltung lockt, ist nicht ein solcher Scheinidealismus, sondern Hansliks Behauptung, mit seiner kulturgeographischen Welterklärung an die seriöse Wissenschaft, namentlich an Wilhelm Dilthey anschließen zu können. Ungeachtet der Einschätzung von Diltheys Philosophie im Einzelnen will Broch eine solche Anmaßung nicht durchgehen lassen, seine Grundsatzverteidigung nimmt den Wiener Kulturfor­ schern ihre Metaphorik ab und benutzt sie für eine nicht zimperliche Schelte: [W]enn man bedenkt, daß solch ein Kohl Dilthey in die Schuhe geschoben werden soll, dann mag man über diesen als Philosophen wie immer denken […], aber man wird sich verpflichtet fühlen, die Blattbrüder von den Blättern dieses wirklichen Bau­ mes deutscher Geschichtsschreibung abzuräumen.273

Wie Jenkins zurecht betont, ist Brochs Empörung hier im Kontext seiner eige­ nen Überlegungen zu einer werttheoretisch fundierten Geschichtsphilosophie zu sehen, die selbst kulturphilosophisch ausgerichtet war. Während Broch mit Dilthey vielfach nicht übereinstimmt, etwa dessen Psychologisierung des geschichtlichen Verstehens ablehnt, bleibt für Broch hier eine Diskussion über Fragen von Kultur und Geist denkbar, wohingegen Hanslik mit seiner natu­ ralistisch-deterministischen Sichtweise für ihn außerhalb jeder ernstzunehmen­ den philosophischen Verständigung steht.274 In der Dilthey-Verteidigung blitzt auch noch einmal der heilige Ernst auf, mit dem Broch stets versucht, die ‚seriö­ se‘ Philosophie gegen dogmatisierte Welterklärungsprovisorien abzuschirmen. Nicht vor dem Einfluss des Kulturforschers oder des Weltfriedensaktivisten warnt er zum Schluss, sondern vor dem Hansliks als „Schwätzer“275. Indem er das Schwätzertum moralisierend als ‚Versündigung wider den Geist‘276 kenn­ zeichnet, trifft Broch sich zuletzt in den Kategorien des Denkens aber auch wieder mit der kulturgeographischen Glaubenslehre, die ein ‚Versündigen wi­ der die Natur‘ anprangert.

2. Weltanschauungsrhetorik als blinder Fleck Ein Jahrzehnt nachdem er sich in Kultur 1908/1909 in einem ähnlich schwär­ merischen Ton der Totalerklärung ausprobiert hatte, tritt Broch in seiner 272 273 274 275 276

278

Ebd., S. 434. Ebd., S. 438. Vgl. Jenkins: „Ein Fiasko des Geistes“ (Anm. 263), S. 34–40. Hib [Broch]: Ein offiziöser Gschaftlhuber der Kultur (Anm. 257), S. 438. Broch zitiert einen „Professor Johann Christian Lichtenberg“ mit den Worten: „Wer vom Geiste schwätzt, ohne ihn definieren zu können, versündigt sich wider ihn“ (ebd.). Jenkins vermutet, dass Georg Christoph Lichtenberg gemeint sein könnte, das Zitat lässt sich aber nicht belegen (vgl. Jenkins: Edition und Kommentar [Anm. 257], S. 17).

Besprechung der Hanslik-Schriften als ein souveräner Kritiker auf, der weltan­ schauungsliterarischen Eskapaden dieser Art, gerade auch als sprachliche Kon­ strukte gekonnt vorführt. Als ironischer Beobachter nimmt sich Broch einen bi­ zarren Ausschnitt aus dem Wiener Kulturleben vor und zeigt die Weltanschau­ ungsproduktion um den ‚Gschaftlhuber‘ Hanslik als kindisches Spiel. Das ko­ misierende Vorführen der Methoden und der Rhetorik der Kulturforscher hebt zentrale Merkmale von Weltanschauungsliteratur wie Komplexitätsreduktion, Sprecherinszenierung und Apodiktik hervor und gibt den simplifizierenden Naturalismus und die ‚Weltbeglücker‘-Allüren gleichzeitig der Lächerlichkeit preis. Über die ans Ende gesetzte Warnung vor dem ‚Schwätzer‘ lässt sich auch die Hanslik-Kritik schließlich in den größeren zeitdiagnostischen Rahmen einordnen, in dem Broch sich mit Weltanschauungsproduktion beschäftigt. Das ‚Schwätzen‘ verweist auf eine leere Sprachgewalt, mit der sich Broch immer wieder befasst hat, als „Vulgärrhetorik“277 erklärte er sie 1934 zum symptomatischen Kennzeichen einer Epoche, in der „die zu Lärm und zum Pathos des Rhetorischen gesteigerte Stummheit“278 vorherrsche. Bis auf ihren Schluss aber steht die Gschaftlhuber-Polemik in der Leichtigkeit, mit der sie amüsiert die weltanschauliche Kulturforschung betrachtet, in Kontrast zu den grundsätzlicheren theoretischen Auseinandersetzungen mit der dogmatischen Weltanschauungsphilosophie bei Broch. Diese sind viel stärker von dem Bemü­ hen bestimmt, sich abzugrenzen und zielen vor allem auf die philosophischwissenschaftliche Problematisierung des Konzepts Weltanschauung. In dieser Perspektivierung unterscheidet sich Brochs Blick auf die Weltan­ schauungsliteratur deutlich von dem Thomas Manns, der mit seinen Überle­ gungen zum ‚intellektualen Roman‘ den Akzent auf die Gattungsmischung und die Literarisierung von Weltanschauungswissen legt. Die Ablehnung des Unwissenschaftlichen und Dogmatischen wiederum teilt Broch zwar mit Mu­ sil, nicht aber die durchgehend distanziertere Haltung. Während Musil abge­ klärt Argumentationsmuster und rhetorische Strategien der Weltanschauungsli­ teratur seziert, lässt sich Broch häufig auf den rhetorischen Überbietungsstreit ein. Das ist vor allem dort zu beobachten, wo er an seinen eigenen theoreti­ schen Systemen feilt auf ernstzunehmende Konkurrenz aus der Weltanschau­ ungsphilosophie stößt. Brochs Abgrenzung von der Weltanschauungsphilosophie, die hier in ihren Anfängen und vor allem am Beispiel Weininger nachgezeichnet wurde, erfolgte über die Entdeckung des Neukantianismus. Dessen strikte Trennung von In­ halt und Form, von empirischen und werttheoretischen Aspekten, ermöglichte es, Philosophie mit universalwissenschaftlichem Anspruch zu betreiben und 277 278

Broch: Geist und Zeitgeist (Anm. 1), S. 185. Ebd., S. 178.

279

ohne den Auftrag lebenswirklicher Sinnstiftung auch kulturtheoretische und geschichtsphilosophische Fragen auf eine Gesamtauffassung ausgerichtet zu verhandeln. Die Methodenstrenge neukantianischer Philosophie bot Broch in diesem Zusammenhang, wie Vollhardt betont, „nicht […] bloßen Ersatz für die verlorengegangene Einheit einer Weltanschauung“279, sondern stellte vielmehr sogar in Aussicht, das Weltanschauungsproblem selbst als Untersuchungsge­ genstand einer formalen Weltanschauungslehre zu betrachten. Ein nachgelas­ sener Text aus den frühen 1930er Jahren zeigt gut die klare Unterscheidung zwischen Weltanschauung und Philosophie, zu der Broch in neukantianischen Kategorien gelangen konnte: Philosophie und Weltanschauung besitzen einen gemeinsamen Ursprung, eben die staunende Frage „Was ist das?“. Während aber der Philosophie im Begriff des „Pro­ blems“ als solchem, das mit dem Phänomen der „Frage“ aufscheint, der Erkenntnis­ weg vorgezeichnet ist, legt sich die „Weltanschauung“ auf irgendeine Antwort auf diese Frage fest. Es gibt daher viele Weltanschauungen, da es unzählige Antworts­ möglichkeiten gibt, aber nur eine Philosophie, es kann unzählige WeltanschauungsMoralen geben, aber nur eine Ethik, deren Sollens-Begriff mit dem logischen der Philosophie vollkommen identisch ist. Weltanschauungen geben Inhalte, Moralen Verhaltungsmaßregeln: Philosophie und Ethik geben die „Formen“ der möglichen Inhalte, die Formen der Moral überhaupt – Formen, die, das möge nie vergessen werden, allerdings nicht leer sind, da sie eben aussagen, was für Inhalte überhaupt „möglich“ sein können.280

Brochs theoretische Texte sind nun aber gerade ein Beispiel dafür, dass auch eine rein methodologisch-formale Argumentation nicht davor gefeit ist, ihre Aussagen rhetorisch zu forcieren. Selbst in dieser für Brochs Verhältnisse nüchternen definitorischen Unterscheidung von Philosophie und Weltanschau­ ung sind die entsprechenden Ansätze zu erkennen, wenn die ethisch-logische Übereinstimmung als eine vollkommene festgezurrt und das Bedenken der Nicht-Leere appellativ unterstützt wird. Wie Stašková ausführt, steht hinter Brochs Schreiben die Motivation, „über die epistemische Dimension hinaus eine ethische Wirksamkeit“ zu erzielen, „und zwar mit ästhetischen Mitteln.“281 279 280

281

280

Vollhardt: Hermann Brochs geschichtliche Stellung (Anm. 175), S. 5. Hermann Broch: Pamphlet gegen die Hochschätzung des Menschen. In. Ders.: Philoso­ phische Schriften 1: Kritik. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1977, S. 34–45, hier S. 38. Vgl. zu diesem Nachlasstext Brochs und seiner Übereinstimmungen mit dem Programm einer neukantianischen Weltanschauungslehre Das Problem der Weltanschauung in den Schriften Hermann Brochs vor dem Exil. In: Hermann Broch. Neue Studien. Festschrift für Paul Michael Lützeler zum 60. Geburtstag. Hg. von Mi­ chael Kessler. Tübingen 22009, S. 492–509, hier S. 497–499. Schwarzwälder verweist auf Parallelen zu Musils Verständnis des Weltanschauungsproblems (vgl. Schwarzwälder: Der Weltanschauungsroman 2. Ordnung [Anm. 8], S. 95–102). Stašková: Schriften zur Literatur, Kunst und Kultur (Anm. 18), S. 353. Zu Brochs Rhe­ torik vgl. insbesondere Alice Stašková: Der Stil auf der Suche nach der Religion im frühen Schaffen Hermann Brochs. In: Hermann Broch. Religion, Mythos, Utopie – zur ethischen Perspektive seines Werks. Hg. von Paul Michael Lützeler und Christine

Dieses Charakteristikum einer rhetorisch vermittelten Wirkungsabsicht zeigt sich nicht erst beim etablierten Essayisten, sondern ist bereits in der frühen Kul­ turkritik Brochs angelegt und prägt sich auch durch die Beschäftigung mit der Weltanschauungsliteratur aus. In der Kritik an und im Wettbewerb mit der Weltanschauungsphilosophie wird deutlich, dass es Broch nicht darum geht, Apodiktik und Pathos als sprachliche Überzeugungshilfen grundsätzlich zu problematisieren, sondern eher um die Klärung, wem solche Mittel rechtmäßig zustehen. Sein Versuch, die Möglichkeiten totalitätserfassender Erkenntnis aus­ zuloten, ist auch die Suche nach einem System, in dem es legitim wäre, so zu sprechen wie der Weltanschauungsschriftsteller. Obwohl die methodisch-for­ male Beschränkung philosophisch den Kurzschluss zur totalen Welterklärung verhindert, begreift Broch wie die von ihm geschmähten ‚Schwätzer‘ Sprache funktional ebenfalls als Mittel, etwas (noch) nicht Vorhandenes herbeizureden.

3. Weltanschauungskonstruktionen in den Schlafwandlern Im Sommer 1931 – zwei Teile der Schlafwandlertrilogie waren bereits erschie­ nen, nur der Huguenau stand noch aus – ergreift Hermann Broch in der Korrespondenz mit seiner Übersetzerin Willa Muir die Gelegenheit, eine Zwi­ schenbilanz für die von ihm konstatierte „Polyhistorisierung des Romans“282 zu ziehen. Seinen Schriftstellerkollegen Joyce, Gide, Thomas Mann, Huxley und Musil, die er neben Joyce als die vorantreibenden Kräfte in dieser Entwick­ lung begreift, wirft er vor, das Wissenschaftliche bruchstückhaft und als bloßes Rededekor oder intellektuelle Staffage für ihr Romanpersonal zu nutzen: „Wis­ senschaft ist ihnen wie ein kristallener Block, von dem sie das eine oder andere Stück abbrechen, um damit ihre Erzählung an zumeist ungeeignetem Ort zu garnieren oder einen Wissenschaftler als Romanfigur damit auszustatten.“283 Dagegen setzt Broch sein Experiment, „lebendige Wissenschaft, d. h. hier pro­ duktive Wissenschaft […] im Roman unterzubringen“284. Die bei der Konkur­ renz entdeckten „fürchterlichen Bildungsgespräche“ lassen sich aus seiner Sicht nur vermeiden, wenn die Verwissenschaftlichung des Erzählten auf der einen Seite handlungs- und figurenimmanent, auf der anderen unverstellt, „nackt und geradeaus“285 erfolgt.

282 283 284 285

Maillard. Strasbourg 2008, S. 21–36. Claudia Liebrand: Bezugssysteme: Romantik und Kitsch in Hermann Brochs Essayistik. In: Hermann Broch und die Romantik. Hg. von Doren Wohlleben und Paul Michael Lützeler. Berlin und Boston 2014, S. 187–294. Marion Schmaus: Hermann Brochs melodramatische Imagination. In: Hermann Broch und die Romantik. Hg. von Doren Wohlleben und Paul Michael Lützeler. Berlin und Boston 2014, S. 205–219. Broch an Willa Muir, Brief vom 3. August 1931. In: Broch: Briefe 1 (Anm. 4), S. 148. Ebd. Ebd. Ebd.

281

Aufwändig porträtierte Theoretikerpersönlichkeiten, die ihr Weltwissen re­ flektiert ausbreiten dürfen, wie Naphta und Settembrini auf dem Zauberberg oder Arnheim im Mann ohne Eigenschaften, finden sich in den Schlafwandlern denn auch nicht. Anders als Mann und Musil hat Broch das elaborierte wissen­ schaftlich-philosophisch Sprechen im Roman nicht auch auf der Ebene der handelnden Figuren dargestellt, sondern in den letzten Teil der Trilogie formal als Essayfolge integriert. Deren wahrscheinlicher fiktiver Autor, Dr. Bertrand Müller, ist zwar auch in der erzählten Welt präsent, tritt aber als Person hinter seine Abhandlung über den ‚Zerfall der Werte‘ zurück, die den historischen Prozess theoretisiert und systematisiert, den die anderen Handlungsfiguren er­ leben. Die ‚lebendige Wissenschaft‘ in der spezifischen Verschränkung von Nar­ ration und Theorie in den Schlafwandlern beschäftigt die Broch-Forschung seit ihren Anfängen. Auf die frühen Studien, die sich um eine Profilierung Brochs als moderner Dichter-Denker bemühten oder aber überwiegend wer­ kimmanent ausgerichtet zentrale Strukturprinzipien der Trilogie aufzeigten, ohne in der Interpretation den Horizont der Brochschen Konzepte zu über­ schreiten, reagierte die in den 1970er Jahren aufkommende ideologiekritische Forschung, indem sie zum einen die ‚affirmative‘ Herangehensweise der „Bro­ chologen“286 scharf angriff, zum anderen Broch selbst auf Widersprüche und auf Berührungspunkte mit dem irrationalen und totalitären Denken seiner Zeit prüfte.287 Der zuweilen stark politisch aufgeladene Streit um die Deutungsho­ heit über Brochs Werk verhinderte lange eine produktive Forschungsdiskussion zwischen dem ‚affirmativen‘ und dem ‚kritischen‘ Lager. Maßgeblich durch 286 287

282

Heinz D. Osterle: Produktive Irrtümer der Brochforschung. In: Modern Austrian Litera­ ture 13 (1980), Heft 4, S. 189–204, hier S. 192. Vgl. Karl Menges: Kritische Studien (Anm. 12). Dagmar Barnouw: Massenpsychologie als Metaphysik: zu Brochs Begriff eines Irdisch-Absoluten. In: Musil-Forum 3 (1977), S. 159–191, Musil-Forum 4 (1978), S. 60–103, 244–269. Leo Kreutzer: Erkenntnistheo­ rie und Prophetie. Hermann Broch „Die Schlafwandler“. Tübingen 1966. Hermann Krapoth: Dichtung und Philosophie. Eine Studie zum Werk Hermann Brochs. Bonn 1971. Die Vorwürfe gegenüber der etablierten Broch-Forschung haben am deutlichsten Freese und Menges formuliert. In einer zur Polemik neigenden Bestandsaufnahme kon­ statieren sie eine prekäre „Forschungslage, deren Erkenntnisleistung mit der Substanz der Brochschen Gedankenführung insofern weitgehend, wenn nicht ausschließlich zu­ sammenfällt, als sie in ihrem analytischen Interesse sich dieser fast gänzlich unterwirft“ (Wolfgang Freese und Karl Menges: Broch-Forschung. Überlegungen zur Methode und Problematik eines literarischen Rezeptionsvorgangs. München und Salzburg 1977, S. 12). Einer exemplarischen Kritik unterziehen sie unter anderem Durzak: Hermann Broch (Anm. 137); Ernestine Schlant: Die Philosophie Hermann Brochs. Bern 1971; und Lützeler: Hermann Broch. Ethik und Politik (Anm. 138). Einen Eindruck von den Querelen innerhalb der Brochforschung vermittelt Mandelkows Nachwort zur zweiten Auflage seiner Schlafwandler-Studie, das sich stellenweise wie ein Frontbericht liest (vgl. Robert Mandelkow: Hermann Brochs Romantrilogie „Die Schlafwandler“. Gestaltung und Reflexion im modernen deutschen Roman. Heidelberg 1975, S. 185–211, vor allem S. 185.

die Forschungs- und Editionsarbeit Paul Michael Lützelers sowie durch die Untersuchungen Friedrich Vollhardts und Monika Ritzers konnte schließlich eine breit angelegte kultur- und ideengeschichtliche Kontextualisierung der Theorien Brochs stattfinden.288 In Verbindung mit einer stärkeren Aufmerk­ samkeit auf die strukturelle Ambivalenz von Brochs Werks, auf die bereits Dorrit Cohn hingewiesen hatte,289 wurde so erst die Vielfalt literaturwissen­ schaftlicher Broch-Lektüren ermöglicht, die seit Ende der 1980er Jahre zu beob­ achten ist.290 Nicht gegenläufig zur Tendenz, Brochs Werk kulturhistorisch in unterschiedliche Epochenkontexte einzubetten, konnten einige Arbeiten der jüngeren Forschung dennoch einen besonderen Akzent setzen, indem sie sich darauf konzentrierten, solche Kontexte mittels einer textnahen oder -immanen­ ten Analyse der narrativen, rhetorischen oder epistemologischen Organisation der Rede im Roman erst zu eröffnen.291 Die Untersuchung intertextueller Referenzen auf die Textsorte Weltanschau­ ungsliteratur in den Schlafwandlern greift vor allem zwei Interessen der bishe­ rigen Broch-Forschung auf: Ihr geht es ebenfalls um eine kultur- und wissens­ geschichtliche Verortung, sie profitiert deshalb insbesondere von den Kontext­ studien Vollhardts und Ritzers, aber auch von kleineren Arbeiten, die bereits Bezüge zu einzelnen Weltanschauungsautoren aufzeigen konnten. Zugleich knüpft sie an die Frage nach autoritären Zügen im Brochschen Werk an, die sich, von der ideologiekritischen Forschung vorschnell beantwortet, mittlerwei­

288

289 290

291

Vgl. Vollhardt: Hermann Brochs geschichtliche Stellung (Anm. 175). Ritzer: Hermann Broch und die Kulturkrise (Anm. 138). Von den zahlreichen Studien, mit denen Lütze­ ler zur Kontextualisierung von Brochs Werk beigetragen hat, sei hier die Biographie hervorgehoben (vgl. Lützeler: Hermann Broch. Eine Biographie [Anm. 137]). Vgl. Dorrit Claire Cohn: The Sleepwalkers. Elucidations of Hermann Broch’s Trilogy. Den Haag und Paris 1966. Zu den wechselnden Paradigmen und wichtigsten Entwicklungstendenzen in der Broch-Forschung vgl. Gunther Martens: Grundzüge, Schwerpunkte, Desiderate. In: Her­ mann-Broch-Handbuch. Hrsg. von Michael Kessler und Paul Michael Lützeler. Berlin 2016, S. 529–549. Zu den frühen Auseinandersetzungen vgl. auch Michael Roesler: Hermann Brochs Romanwerk. Ein Forschungsbericht. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 65 (1991), Heft 3, S. 502–587. Vgl. vor allem Vgl. Gunther Martens: Beobachtungen der Moderne. In Hermann Brochs Die Schlafwandler und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Rhetorische und narratologische Aspekte von Interdiskursivität. München 2006. Von einer detaillierten Romananalyse ausgehend auch Alice Stašková: Nächte der Aufklärung. Studien zur Ästhetik, Ethik und Erkenntnistheorie in „Voyage au bout de la nuit“ von Louis-Ferdi­ nand Céline und „Die Schlafwandler“ von Hermann Broch. Tübingen 2008. Andreas Dittrich: Glauben, Wissen, Sagen. Studien zu Wissen und Wissenskritik im ‚Zauber­ berg‘, in den ‚Schlafwandlern‘ und im ‚Mann ohne Eigenschaften‘. Tübingen 2009. In Abgrenzung von Ritzer und Vollhardt hat Thomas Eicher bereits Anfang der 1990er Jahre eine solche „Rückbesinnung auf den Romantext selbst“ eingefordert (Thomas Eicher: Erzählte Visualität: Studien zum Verhältnis vom Text und Bild in Hermann Brochs Romantrilogie „Die Schlafwandler“. Frankfurt am Main 1993, S. 20).

283

le deutlich differenzierter und unter Beachtung der Eigengesetzlichkeit von Theorie und Fiktion neu stellen lässt, wie etwa Gunther Martens gezeigt hat. Beziehungen zwischen Broch und einschlägigen Weltanschauungsautoren sind über den reinen Rezeptionshinweis hinaus immer wieder thematisiert und auch für die Romaninterpretation herangezogen worden, allerdings vor­ nehmlich unter dem Aspekt einer möglichen Ideenübernahme oder -verwandt­ schaft.292 Mittlerweile mehrere Studien haben einzelne Motive und insbesonde­ re die Gestaltung von Frauenfiguren in den Romanen Brochs auf Weininger bezogen.293 Lützeler wiederum konnte nicht nur zeigen, dass Broch und Speng­ ler den von ihnen beiden angenommenen kulturellen Zerfall in vielen Teilen „mit fast identischen Worten beschrieben“294 haben, sondern auch, wie in den Schlafwandlern einige Spengler-Motive ironisch relativiert und parodistisch verfremdet auftauchen.295 Mit Blick auf einen größeren Epochenkontext allge­ meiner Krisenerfahrung im frühen 20. Jahrhundert hat Ritzer Broch sowohl mit Weininger als auch mit Spengler in Beziehung gesetzt. Sie geht grundsätz­ lich nicht von belegbaren Rezeptionen aus, sondern modelliert eine „virtuelle Dialoggemeinschaft der Epoche“296, in der Broch mit anderen Autoren der Zeit parallelisiert und kontrastiert wird. Vor diesem Hintergrund findet dann eine Analyse der Schlafwandler statt. Im ‚virtuellen Gespräch‘ zwischen Broch und Weininger kann Ritzer zahlreiche gedankliche Verbindungen zwischen den Versuchen beider aufzeigen, das ‚Problem der Freiheit‘ zu lösen und in einer krisenhaft empfundenen Zeit zwischen Individualität und Allgemeinheit vermittelnd ein ‚Kulturideal‘ zu definieren. Auch für die Nähe von Brochs und Spenglers kulturpessimistischer Diagnostik findet sie viele Belege.297 Ritzer 292

293

294 295

296

297

284

In jüngerer Zeit zum Beispiel von Brude-Firnau, die in der Verzauberung Bezügen zu Klages’ Kulturkritik nachgeht (vgl. Gisela Brude-Firnau: Broch’s Die Verzauberung: Lud­ wig Klages and the Bourgeois Mitläufer. In: A Companion to the Works of Hermann Broch. Hg. von Graham Bartram, Sarah McGaughey und Galin Tihanov. New York 2019, S. 123–142). Vgl. Durzak: Hermann Broch (Anm. 137), S. 20f. Ingeborg Elizabeth Marlock: Otto Weininger’s „Geschlecht und Charakter“ and Hermann Broch’s „Die Schlafwand­ ler“. Saint Louis 1993. Brude-Firnau: Wissenschaft von der Frau? (Anm. 135), S. 139– 142. Dies.: Hermann Broch und Otto Weininger: K/ein Mythos der Selbsterlösung (Anm. 226), S. 15–29. Toni Tholen: Verlust der Nähe. Reflexion von Männlichkeit in der Literatur. Heidelberg 2005, S. 183–190. Weininger-Figurationen in Die Unbekannte Größe entdeckt Christer Petersen: Vereinigung der Gegensätze: Das Ideal einer männli­ chen Individuation in Hermann Brochs Die Unbekannte Größe. In: Seminar 44 (2008), Heft 1, S. 103–117. Lützeler: Hermann Broch und Spenglers Untergang des Abendlandes (Anm. 23), S. 29. Lützeler vergleicht die Darstellung des Madonnenkults, des ‚faustischen Menschen‘ und der ‚doppelten Buchführung‘ im Untergang des Abendlandes und in den Schlafwandlern (vgl. ebd., S. 34–40). Ritzer: Hermann Broch und die Kulturkrise (Anm. 138), S. 15. Neben Weininger und Spengler lässt Ritzer vor allem Karl Joël, Georg Simmel, Alfred Adler, Heinrich Rickert und Jonas Cohn als weitere ‚Gesprächspartner‘ Brochs zu Wort kommen. Vgl. ebd., zu Weininger vor allem S. 55–68; zu Spengler vor allem S. 190–205.

geht es dabei um eine problemgeschichtliche Analyse. Auf textstrukturelle Be­ züge zwischen der Weltanschauungsliteratur und Roman geht sie nicht ein, arbeitet aber am Rande durchaus verwandte Denkformen und argumentative Verfahren bei Broch, Weininger und Spengler heraus.298 Nicht zu Unrecht wurde methodologisch gegen Ritzer eingewandt, dass sie im wechselseitigen Ineinandermontieren von Zitaten der verschiedenen Autoren zur bewusstseins­ geschichtlichen ‚Amplifikation‘ dazu tendiere, Vollständigkeit zu simulieren, wo es eigentlich darauf ankäme, Lücken zu untersuchen.299 In der Inszenierung des ‚virtuellen‘ Epochengesprächs über die faktisch nachweisbare Rezeption hinweg besteht hier auch die Gefahr zu übergehen, dass Broch nicht allen Ebenen dieses Gespräches gleich viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, wie bei­ spielsweise auch seine Beschäftigung mit Weininger verdeutlicht. Vollhardts in der Methode bestechenderen wissenschaftsgeschichtlichen Un­ tersuchungen haben die große Bedeutung des Neukantianismus und insbe­ sondere Heinrich Rickerts für Broch klar konturiert. Seine Abgrenzung der geschichtsphilosophischen Zerfallstheorie Brochs von ähnlichen Projekten in der zeitgenössischen Weltanschauungsliteratur, mit der sie sich „nur oberfläch­ lich“300 berühre, kann jedoch nicht vollständig überzeugen. Vollhardt zieht nicht in Betracht, dass es sich hier um ein durchaus aussagekräftiges Oberflä­ chenphänomen handeln könnte. Die Ansicht, der durch die „methodische Strenge neukantianischen Denkens“301 geschulte Broch sei praktisch gewappnet gewesen gegen die Versuchungen von Spekulation und Dogmatik, umreißt des­ sen Selbstverständnis und akribisches Bemühen um eine rein formale werttheo­ retische Begründungsbasis, unterschlägt jedoch, dass Broch den Grenzbereich zur weltanschaulichen Totalerklärung argumentativ ausreizt und zumindest rhetorisch bisweilen auch überschreitet. In einem für die vorliegende Untersuchung besonders wichtigen Aufsatz aus dem Jahr 2003 beschäftigt sich Vollhardt explizit mit der Weltanschauungs­ problematik. Die frühe Auseinandersetzung mit der Weltanschauungsliteratur explizit außer Acht lassend,302 skizziert Vollhardt plausibel, wie Broch in seiner 298

299 300 301 302

So parallelisiert Ritzer beispielsweise Spenglers kulturmorphologische und Brochs ‚po­ lyhistorische‘ Methode der Geschichtsbetrachtung als zwei Strategien, eine partikulari­ sierte Welt doch noch in der Totalen zu überblicken (vgl. ebd., S. 193–195). Auch demonstriert sie, dass sich antithetisches Denken in selbstvergewissernder Funktion, wie es für Weininger typisch ist, auch bei den Schlafwandler-Protagonisten wiederfindet (vgl. ebd., S. 212–214). Vgl. Roesler: Hermann Brochs Romanwerk (Anm. 290), S. 527–531. Vgl. auch die Kritik bei Eicher: Erzählte Visualität (Anm. 291), S. 185f. Vollhardt: Hermann Brochs geschichtliche Stellung (Anm. 175), S. 4. Ebd., S. 5, vgl. auch S. 121 sowie zur Abgrenzung gegen Spengler ebd., S. 158–160, S. 167f. Um Brochs Umgang mit der Weltanschauungsproblematik zu erfassen, sind aus Voll­ hardts Sicht die in den 1920er und 1930er Jahren entstandenen Überlegungen relevant, nicht aber die frühen Texte, „in denen Ernst Haeckel, Otto Weininger oder Houston

285

Romantrilogie auf Handlungs- und Figurenebene die in den Jahrzehnten um 1900 geführten Weltanschauungsdebatten aufgreift, um dann in den Exkursen des Huguenau die Voraussetzungen des dargestellten Ordnungsverlusts mithilfe einer neukantianisch inspirierten „Wertphilosophie als formaler Weltanschau­ ungslehre“303 zu erklären. Die Positionierung Brochs, die Vollhardt vornimmt, auch in der Abgrenzung zum antimetaphysischen Neopositivismus des Wiener Kreis und zur psychologischen Weltanschauungsanalyse im Sinne Diltheys oder Jaspers’, ist schlüssig.304 Dass Broch seine Theorie gerade in einem Roman ausformulierte, in dem sich die neukantianische Weltanschauungslehre auch in den Exkursen „nicht streng systematisch entfalten ließ, sondern in Bildern und Reflexionen Ausdruck finden musste“305, stellt Vollhardt indessen nur fest, oh­ ne daraus Konsequenzen für den Aussagestatus dieser Theorie zu ziehen. Es lässt sich genau hier aber die Frage stellen, ob eine solche Weltanschauungsleh­ re in Romanform, die die Freiheiten der Fiktion „mit der souveränen Geste der ‚reinen‘ Theorie“306 kombiniert und so dem strengen neukantianischen Pro­ gramm mit literarischen Mitteln zur Geltung verhilft, nicht selbst noch immer zutiefst mit der Problematik zusammenhängt, die sie zu klären versucht, inwie­ weit also die „Etablierung des Forschungsgegenstandes ‚Weltanschauung‘“ auch in der literarischen Variante „als Symptom einer Krise“307 zu deuten ist. a) Die ‚allgemeine Unordnung‘ 1880–1918 Die drei Schlafwandler-Romane heben zwar die Zeit, von der sie jeweils berich­ ten, sogar in ihre Titel, liefern aber dennoch keine an der Faktengeschichte orientierte Chronik der wilhelminischen Ära. Bei den angegebenen Jahren 1888, 1903 und 1918 handelt es sich vielmehr um historische Stichproben, sie markieren Etappen eines krisenhaft verlaufenden Prozesses, den die Trilogie an exemplarischen Protagonisten beobachtet und im dritten Teil zudem als Endphase eines lange vorbereiteten ‚Zerfalls der Werte‘ reflektiert. Die äußeren Ereignisse der Vor- und unmittelbaren Nachkriegsgeschichte, auch die darge­ stellten Handlungsorte und gesellschaftlichen Milieus erhalten ihre Relevanz als historisch reale Bezugspunkte der Fiktion nicht nur, aber vor allem insofern, als sie tieferliegende Epochenentwicklungen und -zustände spiegeln können,

303

304 305 306 307

286

Stewart Chamberlain die in der Zeit übliche Erwähnung finden“ (Vollhardt: Das Prob­ lem der Weltanschauung [Anm. 280], S. 495). Ebd., S. 500, 507. Dieser Verortung des Weltanschauungsproblems ist auch Schwarz­ wälder im Wesentlichen gefolgt (vgl. Schwarzwälder: Der Weltanschauungsroman 2. Ordnung [Anm. 8], S. 96f.). Vgl. Vollhardt: Das Problem der Weltanschauung (Anm. 280), S. 497f., S. 505–508. Ebd., S. 508. Ebd., S. 502. Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 73), S. 344.

Zeittypisches bestimmen die essayistischen Passagen in theoretischer Auseinan­ dersetzung, auf der Ebene des Erzählten formt es sich im Figurenbewusstsein aus.308 Bei den Hauptfiguren der beiden ersten Romane, Pasenow und Esch, aber auch bei einigen der Nebenfiguren, die in den Parallelgeschichten zum Hu­ guenau-Komplex im erzählten Jahr 1918 hinzutreten, zeichnet sich dabei eine Dynamik von Desorientierung und Reorientierung ab. Sie erleben den Verlust vormals gültiger Ordnungsmuster und werden in ihren Versuchen gezeigt, sich neu zu versichern.309 Leutnant Joachim von Pasenow ahnt, dass die Normen und Traditionen, in die er durch seine Herkunft aus dem preußischen Land­ adel, seinen protestantischen Glauben und die militärische Laufbahn eingebun­ den ist, brüchig geworden sind. Insbesondere durch den Umgang mit dem kos­ mopolitischen Libertin Eduard von Bertrand erscheinen ihm die alten Konven­ tionen zunehmend fragwürdig. Anders als Bertrand überfordert den von Ord­ nungssehnsucht getriebenen Pasenow die „verschwimmende und verfließende Masse des Lebens“310 und seinem Drängen auf Eindeutigkeit stellt sich die Erfahrung entgegen, dass „die Dinge in ihrer Art und Bestimmung wechseln konnten“ (SW, 175). Stärker noch als Pasenow sieht sich der Buchhalter August Esch, Protagonist des zweiten Romans, einer „allgemeinen Unordnung“ (SW, 281) ausgesetzt. Er entdeckt sie zum einen in den persönlichen und geschäftli­ chen Beziehungen, die er in seinem kleinbürgerlichen Bekanntenkreis pflegt, zum anderen begegnet sie ihm in der Vielzahl gesellschaftspolitischer und 308

309

310

Zu den unterschiedlichen Möglichkeiten, die Schlafwandler als Epochen- oder Zeitroma­ ne zu lesen, vgl. etwa Eric W. Herd: Epochenschilderung in Roman und Essay. Der epische Ort Joachim von Pasenows und Hugo von Hofmannsthals in Brochs Darstel­ lung. In: Hermann Broch und seine Zeit. Akten des Internationalen Broch-Symposiums, Nice 1979. Hg. von Richard Thieberger. Bern 1980, S. 37–46. Robert Halsall: The In­ dividual and the Epoch. Hermann Broch’s Die Schlafwandler as a Historic Novel. In: Reisende durch Zeit und Raum. Der deutschsprachige historische Roman. Hg. von Osman Durrani und Julian Preece. Amsterdam 2001, S. 227–241. Sayed Ahmad Fathalla Abouzid: Hermann Brochs Romane als Epochenanalyse und Zeitkritik. Zum Verhältnis von Erzählstrukturen und Argumentationsformen in der modernen deutschsprachigen Prosa. Frankfurt am Main 2001. Silke Kubik: Die europäische Ordnung stirbt … – Religion und Geschichtskonstruktion im Angesicht der Katastrophe. Eine vergleichende Untersuchung der Romane Die Schlafwandler von Hermann Broch und Das unauslöschli­ che Siegel von Elisabeth Langgässer. Frankfurt am Main 2008, S. 21–42. Bettina Richter: „Die Schlafwandler“ von Hermann Broch. Zeitproblematik und Darstellungsweise. Hei­ delberg 2013 [DOI: https://doi.org/10.11588/heidok.00015627]. Bereits Sigrid Schmid-Bortenschlager konnte in ihrer Untersuchung demonstrieren, wie sich vom Begriff der Ordnung und den zugehörigen Wortfeldern und Bildbereichen ausgehend die Romantrilogie nach Themen und Konstruktionsprinzipien strukturieren lässt (vgl. Schmid-Bortenschlager: Dynamik und Stagnation [Anm. 12]). Hermann Broch: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. Hg. von Paul Michael Lütze­ ler. Frankfurt am Main 1978 (Kommentierte Werkausgabe. Bd. 1), S. 128. Im Folgenden erscheinen die Seitenangaben zur Schlafwandler-Trilogie unter der Sigle SW direkt im Text.

287

religiöser Gruppierungen, einer um sich greifende „Vereinsmeierei“, angesichts derer ihm die „Unordnung noch größer“ (SW, 230) erscheint. Sowohl Pasenow als auch Esch entwickeln in ihrer jeweiligen Vorstellungswelt Ordnungsmo­ delle und Deutungsmuster, um das Bedrohungspotenzial einer chaotisch und uneindeutig empfundenen Wirklichkeit einzudämmen. Der „Gefahr, daß man wie Bertrand ins Gleiten geraten könnte“ (SW, 61) tritt Pasenow mit einer Re­ stabilisierung der eigentlich zweifelhaft gewordenen Konventionen entgegen. Er versucht, das Uneindeutige, das ihm überall begegnet, in ein Zwei-WeltenSchema einzupassen, das einen positiv besetzten Bereich der Ordnung durch militärische Hierarchie, protestantische Sittenstrenge und ständisch geregeltes Familienleben in ländlicher Idylle abtrennt von einem negativ bewerteten Be­ reich zwielichtiger Unordnung, in dem sich für ihn das ‚Zivilistische‘, das moralisch Verkommene, Großstädtische versammelt. Eine metaphysische Di­ mension erhält dieses „Schablonenmuster“311 zusätzlich durch die restreligiöse Verklärung des ersten und die Dämonisierung des zweiten Bereichs. Esch wiederum führt die von ihm erlebten Widersprüchlichkeiten darauf zurück, „daß die Welt einen Bruch hatte, einen fürchterlichen Buchungsfehler“ (SW, 214). Weil sich ihm das Unordentliche vor allem im Ungerechten mani­ festiert, begreift er sich im Auftrag, nach buchhalterischen Regeln für ausglei­ chende Gerechtigkeit zu sorgen. Er strebt dafür ebenfalls ins Metaphysische, in­ dem er auf dem Wege der Verrechnung verschiedener Schuld- und Sühne-Pos­ ten einen heilsgeschichtlichen Plan zur Erlösung entwirft. Anders als Pasenow ist Esch nicht mehr Teil eines anachronistischen Normensystems, das er auf diese Weise aktualisieren könnte, seine Sehnsüchte richten sich auf „das neue Leben“ (SW, 289), dessen Freiheitsversprechen sich ihm mit der Vorstellung Amerikas verbindet. Pasenow und Esch erreichen schließlich jeweils zumindest insoweit eine oberflächliche Befriedung ihrer Konflikte, als sie eine Gefährdung des äußeren Lebensentwurfs abwenden können. Während Pasenow 1888 durch eine standesgemäße Hochzeit mit Elisabeth von Baddensen in die alte Ordnung zurückfindet, erkennt Esch 1903, dass seine großen Ziele im Irdischen nicht erreichbar sind, richtet sich im gemeinsamen Leben mit der Kneipenwirtin Frau Hentjen ein und nimmt „die Stelle eines Oberbuchhalters“ (SW, 381) an. Die soziale Eingliederung kann vorerst gelingen, weil das Unbehagen an einem Dasein ohne die Garantie übergeordneter Sinnsysteme zwar nicht verschwin­ det, aber von beiden durch einen ersatzreligiösen Mystizismus eingehegt wird, in dem sich entsprechende Ängste und Sehnsüchte in ritualisierten Formen immer wieder aufs Neue durchspielen lassen. Den Leidensdruck, unter dem Pasenow und Esch ihre Gedankenkonstruktio­ nen zur Bewältigung der Unordnung entwerfen, verspürt der Geschäftsmann 311

288

Andreas Bertschinger: Hermann Brochs „Pasenow“ – ein künstlicher Fontane-Roman?. Zürich und München 1982, S. 45. Vgl. zum Ordnungsdenken Pasenows insgesamt ebd., S. 45–50.

Wilhelm Huguenau hingegen erst gar nicht. Im letzten Kriegsjahr desertiert und in eben jener moselländischen Kleinstadt untergeschlüpft, in der auch Pa­ senow und Esch inzwischen leben, tritt Huguenau im letzten Teil der Trilogie als „der im radikalen Sinn des Wortes gleichgültige Mensch“312 auf, der die Wirklichkeit unter rein funktionalen Gesichtspunkten betrachtet. Gerade in ihrer Unordnung und Uneindeutigkeit stellt diese Wirklichkeit ihm ein Spiel­ feld, auf dem er opportunistisch jeden erdenklichen Standpunkt einnehmen und so zum Profiteur der Kriegs- und Revolutionswirren werden kann. Gemäß der romanintern entworfenen Geschichtsphilosophie ist im Prozess des Wertzerfalls mit der Huguenau-Zeit der „Nullpunkt“ (SW, 712) erreicht, der als End- und möglicher Wendepunkt zugleich gedacht und auch figural doppelt besetzt ist. Für den existentiellen Schrecken angesichts einer nun defi­ nitiv gewordenen Orientierungslosigkeit stehen vor allem die in den Nebener­ zählungen vorgestellten, auf unterschiedliche Weise kriegsversehrten Personen, in den Schicksalen der Anwaltsgattin Hanna Wendling, des Leutnants Jaretzki oder des Landwehrmanns Gödicke gelangt der über die Geschichten Pasenows und Eschs hin intensivierte Verlust verbindender Werte zum Abschluss. Die vollkommene Isolation, in der sich diese Individuen befinden, quält nicht zuletzt auch Dr. Bertrand Müller, Erzähler der Geschichte des Heilsarmeemäd­ chens in Berlin und angedeuteter Autor der Abhandlung über den Wertezer­ fall. Der allein auf persönliche Gewinnmaximierung ausgerichtete Mörder Hu­ guenau verkörpert zwar diesen Zustand der „Wertatomisierung“ (SW, 712) in all seiner Grausamkeit, weil ihm die zeitgemäße Haltung der gleichgültigen ‚Sachlichkeit‘ ermöglicht, die Isolation zu ertragen, kann er sich aber zugleich zum Hoffnungsträger der Umbruchsphase entwickeln, für die der Epilog an eine sich ankündigende zyklische Wiederkehr der „Geburt des Wertes“ (SW, 715) appelliert. Peter Zima, der die in der Schlafwandler-Trilogie dargestellte Epochenent­ wicklung anhand der Leitbegriffe Dualismus, Ambivalenz und Indifferenz be­ schreibt, hat Pasenow und Esch als Ideologen charakterisiert, die einer zuneh­ mend als ambivalent erfahrbaren Welt durch ein dualistisches, manichäisch geprägtes Denken eine einheitliche und eindeutige Ordnung aufzwingen wol­ len.313 Obwohl die praktische Gleichsetzung von Ideologie und Dualismus wenig Differenzierung erlaubt, etwa zwischen Pasenows Modell, das auf die Abspaltung und demjenigen Eschs, das auf eine Aufhebung des Ambivalenten 312 313

Heizmann: Antike und Moderne (Anm. 6), S. 18. Vgl. Peter V. Zima: Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans. München 1986, S. 99–135. Zu Pasenow, Esch und Huguenau, den Vertreter der Indiffe­ renz, vgl. vor allem ebd., S. 102–114. Grabowsky-Hotamanidis plädiert dafür, die Bedeu­ tung des Manichäismus im Falle Pasenows nicht auf ein ideologisches Schwarz-WeißDenken zu reduzieren, sondern die gnostischen Wurzeln auch im „säkularisierte[n] Derivat“ ernst zu nehmen (vgl. Grabowsky-Hotamanidis: Zur Bedeutung mythischer Denktraditionen [Anm. 204], S. 87).

289

zielt, demonstriert Zima mit seinem textsoziologischen Ansatz, wie eine Inter­ pretation, die über die von Broch favorisierte und auch in der Trilogie selbst stark vertretene werttheoretische hinausgeht, zu überzeugenden Ergebnissen führen kann. Zima geht grundsätzlich davon aus, dass gesellschaftliche Pro­ blemkonstellationen als sprachliche in den literarischen Text eingehen und stellt die Schlafwandler in einen interdiskursiven Kontext. Auf diese Weise wird es beispielsweise möglich, das „Verstummen der Sprache“314 im Huguenau nicht nur als Resultat einer Verselbstständigung einzelner Wertgebiete zu ver­ stehen, sondern auch sinnvoll auf die moderne Ausbildung von Fach- und Gruppensprachen zu beziehen, deren kommunikative Vermittlung untereinan­ der immer schwerer wird, weil sie sich auf keine soziokulturell verankerte gemeinsame Semantik mehr berufen und die Allgemeingültigkeit von Aus­ sagen nur noch vortäuschen können.315 Zima wählt den ökonomischen als Bezugsdiskurs und macht die Epochen- und Sprachkrise an einer fortschreiten­ den Durchsetzung von Marktmechanismen fest. Die Problematik, von der die Schlafwandler erzählen, lässt sich aber weiter gefasst ebenso als eine begreifen, in einer säkularisierten Zeit noch zu einer Weltanschauung zu gelangen. In diesem Sinne hat bereits Vollhardt die Bedeutung der „Weltanschauungsthe­ matik“ in Brochs Trilogie herausgestellt und sie „[a]uf einer mittleren Ebene zwischen den redenden Figuren und der dem Handlungsgeschehen überge­ ordneten Frage nach den Gründen für den beschriebenen gesellschaftlichen Auflösungsprozess“ angesiedelt, auf der sie eine „entscheidende, da korrespon­ dierende Funktion erhält.“316 In der Untersuchung der Beziehung konzentriert sich Vollhardt darauf, die auf der ‚übergeordneten‘ Ebene formulierten Ant­ worten philosophiegeschichtlich einzuordnen und sie auf der Figuren- und Handlungsebene bestätigend dargestellt zu finden. Er weist darauf hin, dass Broch in den Schlafwandlern inhaltliche Motive der in den Jahrzehnten um 1900 geführten Weltanschauungsdebatten verarbeitet und deren Träger bezie­ hungsweise Adressaten idealtypisch porträtiert habe und erklärt den dargestell­ ten Prozess von der weltanschaulicher Verunsicherung zur Neukonstruktion griffig als einen, der von der „Desakralisierung vormals christlich geprägter Lebensbereiche“ hin zur „Resakralisierung profaner Lebensbereiche“317 führt. Behandelt wird die narrative Ausgestaltung dieser Entwicklung jedoch bloß als Illustration einer neukantianischen Weltanschauungslehre, wie sie Broch dem Roman eingeschrieben hat. Angesichts der Detailtiefe, in der insbesondere der Pasenow- und der Esch-Roman Muster weltanschaulicher Vergewisserung im Figurenbewusstsein herausarbeiten, erscheint es jedoch sinnvoll, diese Form der erzählerischen Weltanschauungsbeobachtung und -analyse als eine eigen­ 314 315 316 317

290

Ebd., S. 112. Vgl. ebd., S. 112–114. Vollhardt: Das Problem der Weltanschauung (Anm. 280), S. 509. Ebd., S. 500; vgl. auch S. 503–505.

ständige genauer zu betrachten. Sie ist geeignet, die Problematik nicht nur anders zu bestimmen als die in den essayistischen Teilen zum ‚Zerfall der Wer­ te‘ theoretisch formulierte, sondern kann über die Korrespondenzbeziehung möglicherweise auch auf eben diese zurückwirken. Die Schlafwandler zeigen Weltanschauungen im Figurendenken als unfertige, meist scheiternde Entwürfe in den Stadien ihres Entstehens und bringen so eine grundlegende „weltanschauliche Aporie zur Darstellung“318. Im Zuge die­ ser Offenlegung geraten Abläufe in den Blick, die von den Figuren selbst mal mehr, mal minder bewusst erlebt, aber selten noch reflektiert werden. Dazu gehört auch die Erfahrung einer komplexen Lebenswirklichkeit, die sich zuneh­ mend nur noch fragmentiert und immer schwerer in sinnhaften Zusammen­ hängen erfassen lässt. Zu einer irritierenden wird diese Erfahrung insbesondere für Pasenow. Dem Leutnant gelingt es kaum, die Welt in kohärenten Bildern zu begreifen. Sowohl in der visuellen Wahrnehmung als auch rein imaginativ registriert Pasenow seine Wirklichkeit, vor allem seine Mitmenschen vielfach über Einzeleindrücke, die er weder kategorial ordnen noch zu einem festen Gesamtbild fügen kann. In seinen Gedanken tauchen unkontrolliert einzelne Personenbilder auf (vgl. z. B. SW, 18, 45, 56f., 176), er fokussiert sich auf phy­ siognomische Details – immer wieder auf Haare – und ist unfähig, Gesichter zu lesen und in ihnen den Ausdruck einer eindeutigen Identität zu erkennen.319 Der Auflösung des Wirklichkeitsbildes entspricht eine Auflösung sprachlicher Zusammenhänge und Bedeutungen. So hat Pasenow regelmäßig Schwierigkei­ ten, zu verstehen, was Bertrand mit seinen „ungereimten Äußerungen“ (SW, 27; vgl. 64f.) meint, und vermutet ständig, dieser wolle ihn durch „undurch­ sichtige, pfauenhafte Reden blenden und irgendwohin verführen und hinabzie­ hen“ (SW, 32f.). Im Besonderen verunsichert ihn das zweideutige, ironische Sprechen Bertrands, dass er nie sicher sein kann, ob sein Gegenüber „es ernst meinte oder ob er spaßte“ (SW, 64). Pasenows Denken wird immer wieder in 318 319

Schwarzwälder: Der Weltanschauungsroman 2. Ordnung (Anm. 8), S. 106. In der depersonalisierenden Wahrnehmung Pasenows verdinglichen Menschen, gehen in ihren verlandschaftlichten Bärten auf wie der Schaffner Jan in den Jugenderinnerun­ gen (vgl. SW, 13) oder verwandeln sich in ihren Gesichtern insgesamt zur Landschaft, um dann mit der Umgebung zu verschmelzen wie Elisabeth (vgl. SW, 119–122). Als Leitmotiv auf den zunehmenden Wertzerfall bezogen erreicht die physiognomische Auflösung ihr Extrem schließlich im Eindruck eines totalen Gesichtsverlusts, den mit Pasenow („Es war als würde die Welt gesichtslos werden, gesichtslos jedes Antlitz“ [SW, 569]) auch die Nebenfigur Hanna Wendling teilt, die das „Auseinanderfallen der Welt“ als „Auseinanderfallen ihres eigenen Gesichts“ (SW, 595) erlebt. Mit Seitenblicken auf die Geschichte der bildenden Kunst und der Musik vgl. dazu Doren Wohlleben: „Verlö­ schen der Gesichter in der Landschaft“: Porträts in Hermann Brochs Die Schlafwandler. In: Hermann Broch und die Künste. Hg. von Alice Stašková und Paul Michael Lützeler. Berlin 2009, S. 39–54. Allgemein zum Haarmotiv in den Schlafwandlern und speziell zum „Haarfetischismus“ Pasenows vgl. Thomas Sebastian: Der Gang der Geschichte. Rhetorik der Zeitlichkeit in Hermann Brochs Romantrilogie „Die Schlafwandler“. Würzburg 1995, S. 63–77, hier S. 74.

291

Gang gesetzt oder umgelenkt durch entkontextualisierte Wörter und Phrasen, die aus soeben Gehörtem hängen bleiben oder unvermittelt aus der Erinnerung aufblitzen.320 Selten, und nur unter Anstrengung, kann Pasenow ursprüngliche Kontexte und Bedeutungen rekonstruieren, aber auch dann nur für kurze Zeit (vgl. SW, 52f.). Während Pasenow Fragmentierung und Ambivalenz im Unterschied zu einer früheren einheitlichen, eindeutigen Ordnung weiß und die Wirklichkeits­ auflösung deshalb überwiegend als Verlust erlebt, ist diese für Esch bereits, wenn auch unbefriedigende Normalität. Esch heftet sich ebenfalls perzeptiv wie imaginativ an Einzelbilder, wobei es sich vor allem um auch materiell verfügbare handelt, etwa um Abbildungen in einem Buch über Amerika (vgl. SW, 287–289), die Photographie des verstorbenen Herrn Hentjen (vgl. z. B. SW, 271, 301f., 357) oder Ansichtskarten (vgl. z. B. SW, 334). Den phantasiebe­ feuernden Effekt, den solche vorgefertigten Bilder bei Esch erzielen, haben sie bereits für Pasenow als Besucher des Kaiserpanoramas (vgl. SW, 165–169).321 Wie beim Leutnant geht das Denken sprachlich bei Esch oftmals von vereinzel­ ten Wörtern und Wendungen aus.322 Als Teilnehmer einer Versammlung der Heilsarmee hört er schließlich auch „das Wort ‚Erlösung‘“ (SW, 219), das für ihn zu einem Zentralbegriff werden wird. Die sprachlichen und bildlichen Elemente in Pasenows und Eschs Denken stehen nicht nur in keinem bestimmten Bedeutungszusammenhang mehr, dass sie ausdrücklich in ihrer Eigenschaft als ‚Wort‘ oder ‚Bild‘ erscheinen, zeigt darüber hinaus an, wie ihre Zeichenhaftigkeit selbst bemerkbar und die Bezie­ hung von Signifikant und Signifikat nicht mehr selbstverständlich gegeben ist.323 Die Konsequenzen dieser verunsicherten Wirklichkeitserfahrung verdeut­ 320

321

322

323

292

Aus einer anwaltlichen Beratung nimmt er beispielsweise lediglich „[d]as Wort des Nicht-Existenten“ (SW, 147) mit, in anderen Situationen kommen ihm plötzlich „das Wort Pfuhl“ (SW, 33), „das Wort Komplice“ (SW, 99), „das fürchterliche Wort: Mörder“ (SW, 131) oder formelhafte Wendungen wie „das ‚Wort ‚erhoben und gestärkt‘“ (SW, 52), „im Dunkel der Großstadt verschwunden“, (SW, 57; vgl. 25), „jungfräuliche Licht­ gestalt“ (SW, 143), „Kameraden in des Königs Rock“ (SW, 150) in den Sinn. Eicher versteht die im Verlauf der Trilogie zunehmende Dominanz der Bild- über die sprachlichen Medien im Kontext einer den kulturellen Wandel begleitenden Medienkri­ tik Brochs (vgl. Eicher: Erzählte Visualität [Anm. 291], S. 32–35). Denkanstoßend für Esch wirken unter anderem das „Wort ‚Stich im Herzen‘“ (SW, 273), das „Wort ‚Gefängnis‘“ (SW, 311), das „Wort Galgenfrist“ (SW, 320) oder der „Satz ‚Man spielt nicht mit Menschenleben‘“ (SW, 310f.). Bezüglich der sprachlichen Zeichen ist nicht sicher zu entscheiden, ob die denkenden Figuren selbst um die Abstraktion wissen oder es sich um einen interpretierenden Eingriff des Erzählers handelt, der die Gedankenrede vermittelt: „Joachim fiel das Wort Pfuhl ein und Höllenpfuhl“ (SW, 33), „[d]er Satz ‚Man spielt nicht mit Menschenleben‘ fiel ihm [Esch] ein“ (SW, 320). Einige Stellen legen zumindest nahe, dass es sich um ein mit den Figuren geteiltes Wissen handeln könnte, etwa durch den Kontext oder eine stärker an die Figur angenäherte erlebte Rede. So wird mitgeteilt, dass Pasenow auf Sprachliches konzentriert betet, „acht habend, keine leeren Worte aufzusagen, sondern in jedem Wort den Sinn zu erfassen“, bevor ihm „das Wort ‚erhoben und gestärkt‘“

lichen sich vor allem im Konzept personaler Identität, das sich für Pasenow und Esch als so instabil erweist, dass Substitutionen und Übergänge möglich werden, dass „einer durch den anderen zu vertreten war“ (SW, 64) beziehungs­ weise „einer in den anderen verfließt“ (SW, 271).324 b) ‚Hirngespinste‘ und ‚Seelenbuchhaltung‘. Weltanschauliche Hilfskonstrukte Pasenows und Eschs Weltanschauungsbedürfnis kommt darin zum Ausdruck, dass sie die Erosion vormals allgemeingültiger Sinnsysteme weniger als indivi­ duelle Befreiung, sondern überwiegend negativ, als eine inakzeptable Chaotisie­ rung ihrer Wirklichkeit empfinden. Gleichzeitig sind mit der Fragmentierung und Ambiguisierung, die die Ordnungslosigkeit ausmachen, begriffliche wie bildliche Versatzstücke und flexible Deutungsmuster verfügbar geworden und damit die Voraussetzungen für subjektive Weltanschauungskonstruktionen ge­ schaffen. Die in den Schlafwandlern wiedergegebenen Denkprozesse verdeutli­ chen, wie die Figuren in einem Übergangsbereich zwischen Unbewusstem und Bewusstem versuchen, Kontrolle über die „verschwimmende und verfließende Masse des Lebens“ (SW, 128) zu gewinnen, die noch fassbaren Realitätselemen­ te neu zu assoziieren und auf diese Weise Strukturen zu schaffen, die sich sinnstiftend lesen lassen. Wie drängend der Wunsch nach weltanschaulicher Sicherheit, nach einer die Wirklichkeit überformenden Totalerklärung ist, zeigt sich dabei in Pasenows und Eschs Bereitschaft, bei ihrer assoziativen Kombina­ torik Fragen der Plausibilität hintanzustellen. Die Tragweite, die beide einer einmal gefundenen Verbindung zumessen, steht in der Regel in Kontrast zur Aussagekraft der Merkmale, an denen die Beziehung festgemacht wird. Um in einem Passanten den Stellvertreter Bertrands zu vermuten, reicht Pase­ now zum Beispiel eine ungefähre Ortsangabe der Berliner Firmenvertretung Bertrands und die Tatsache, dass der Mann ebenfalls einen Bart trägt (vgl. SW, 54f.). Dass der über seine Kolonialreisen schwadronierende Bertrand Pasenows böhmische Geliebte scherzend „kleine Sklavin“ nennt, führt dem Leutnant

324

(SW, 52) einfällt. Für Esch vgl. folgende erlebte Rede: „Nun war das Wort wieder da, doch nicht einhergehuscht wie ein Schmetterling, sondern rasselnd wie ein Trambahn­ wagen in der nächtlichen Straße war das Wort Mörder da und schrie“ (SW, 353; vgl. auch 337). Im dritten Schlafwandler-Roman konstatiert der Erzähler die Arbitrarität und Indifferenz aller Begriffe für Huguenau, betont aber zugleich dessen Unfähigkeit, eine solche Diagnose selbst zu stellen: „Und wäre Huguenau vor solche abwegigen Gedanken nicht zurückgeschreckt, er hätte zweifelsohne gefunden, daß es überhaupt keinen Begriff und keinen Namen gibt, dem ein konkretes Substrat entspricht […] und Huguenau hätte den Fluch des Zufälligen und Zusammengewehten gespürt, der sich über die Dinge und über das Zueinander der Dinge breitet, so daß keinerlei Anordnung auszudenken ist, die nicht ebenso zufällig und willkürlich wäre“ (SW, 709). Zum Phänomen der Stellvertretung in den Schlafwandlern vgl. Sebastian: Der Gang der Geschichte (Anm. 319), S. 85–90. Stašková: Nächte der Aufklärung (Anm. 291), S. 233– 245.

293

über den „Gleichklang von Sklaven und Slaven“ (SW, 63) und den Eindruck, „daß alle Neger einander gleichen“ (SW, 63) die Ununterscheidbarkeit von Ruzena und „ihrem italienisch-slavischen Bruder“ (SW, 64) vor Augen. Dieser Bruder ist jedoch ein reiner Phantasieverwandter, der von Pasenow bei früherer Gelegenheit durch nicht minder vage Assoziation aus einem Unbekannten geschaffen worden war (vgl. SW, 39f.). Für Esch wiederum können sich zwei objektiv voneinander unabhängige Sachverhalte dadurch verknüpfen, dass er in beiden eine Ungerechtigkeit erkennt. So findet er eine mögliche Erklärung für die ungerechtfertigte Verhaftung seines Freundes Geyring darin, dass er selbst den Betrug seines ehemaligen Vorgesetzten nicht zur Anzeige gebracht hatte, der Polizei „den Kopf Nentwigs schuldig geblieben war!“ (SW, 230; vgl. 290, 343).325 Auch ein diffuses Gefühl der Höherwertigkeit begründet für Esch eine Parallele, etwa im Versuch, die Faszination zu rationalisieren, die die Varietékünstlerin Ilona auf ihn ausübt: „Ilona war etwas Besseres, ungefähr so wie der Präsident Bertrand etwas Besseres war“ (SW, 223). Dieses Ungefähre als Maßangabe ist insgesamt charakteristisch für die Zu­ sammenhänge, die Pasenow und Esch entdecken. Immer wieder scheint „ir­ gendeine Ähnlichkeit vorhanden“ (Pasenow, SW, 41), findet sich „irgendeine gemeine Verbindung“ (Pasenow, SW, 142), ist etwas „undeutlich verwandt“ (Esch, SW, 271) oder steht „auf unerklärliche Weise […] in Zusammenhang“ (Esch, SW, 287).326 Aus der Vielzahl solcher in höchstem Maße vagen Verbin­ dungen entstehen die Weltstrukturen im spekulativen Denken der Figuren, das ‚Netz‘, das Pasenows zu entwirren versucht und die ‚Bücher‘, in denen Esch die Buchungsfehler ausmerzen will, denn: „ohne Ordnung in den Büchern gab es auch keine Ordnung in der Welt“ (SW, 243). Pasenows Netz erweist sich als eine äußerst instabile, mit zwiespältigen Emp­ findungen belegte Struktur. Es breitet sich ihm im Bereich der Großstadt und des Zivilistischen aus, kann die dort vermuteten Übel aber nicht eindämmen, immer wenn ein „Leitfaden“ (SW, 147) fassbar scheint, muss er erleben, „daß das falsche Netz der Helligkeit zu einem der Angst wurde“ (SW, 147). In einer metaphorischen Erweiterung auf die „Hirngespinste“ (SW, 64) bezogen, in die sich Pasenow in beinahe selbstreflektierten Momenten verstrickt sieht, sind 325

326

294

Zu einer ähnlichen Projektion von Schuldgefühlen bei Pasenow vgl. SW, 138–139. Während Pasenow hinter der Staatsgewalt noch den prüfenden Gott annimmt und in Bertrand lediglich den teuflischen Versucher ausmacht, vermutet Esch den mächtigen Unternehmerpräsidenten Bertrand als alleinigen Strippenzieher. Vgl. auch Pasenows Befürchtung, Bertrand wolle ihn „irgendwohin verführen und hinabziehen. Irgendwie hing das mit den so durchaus unmilitaristischen, fast gelockten Haaren Bertrands zusammen. Irgendwie war es schauspielerhaft“ (SW, 33). Esch gelangt im Ungefähren unter anderem zu folgendem Ergebnis: „man kannte sich nicht aus, und trotzdem war es irgendwo in Ordnung. Irgendwo kam es eben nicht mehr auf den Menschen an, nein nicht mehr nach guten und bösen Menschen, sondern nach irgendwelchen guten und bösen Kräften war die Welt zu ordnen“ (SW, 270).

die Vernetzungen auch für ihn als subjektive Konstrukte eines verunsicherten Denkens erkennbar.327 Dennoch verbindet der Leutnant mit dieser Leitvorstel­ lung auch die Hoffnung, Halt in der Unordnung zu finden. Mitunter kommt es ihm vor, „als hätte das scheinbar verwirrte Netz eine versteckte gute Ord­ nung: man musste bloß den Faden erhaschen“ (SW, 55). Der Reiz der „gehei­ me[n] Verknüpfung“ (SW, 55) besteht im Versprechen, dass die vernetzte, aber enigmatische Oberfläche nur als Zeichensystem entschlüsselt werden müsste, um Eindeutigkeit zu gewinnen.328 Unter den Pasenowschen Enträtselungsver­ suchen dominieren die – wie der Erzähler betont, kaum bewusst betriebenen – physiognomischen Studien, in denen er in den Gesichtern anderer Menschen „danach forschte, ob dies Lebewesen völlig anderer Art wären“ (SW, 55). Mit deutlich mehr Verve als Pasenow geht Esch die Enthüllung an. Sein Ei­ fer richtet sich dabei auch auf vermeintliche Scheinordnungen, die er vor allem im Bereich des Geschäftlichen ausmacht.329 Im „Zorn gegen das Geschäftswe­ sen“ erkennt er so in Bertrands Mittelrheinischer Reederei AG „eine Organi­ sation, die unter dem Schein schöner Ordnung […] alle Infamien verbirgt“ (SW, 244). Das Verborgene aufzudecken, entwickelt sich für Esch regelrecht zur Erlösungsaufgabe, zu deren Erfüllung er sich in die universale Konspiration hineinspekuliert: Denn soll die Welt erlöst werden, so muß man […] den Sitz des Giftes packen; der Sitz des Giftes war Nentwig, vielleicht sogar irgend etwas, das sich hinter Nentwig versteckt hielt, etwas Größeres – vielleicht so groß und versteckt wie ein Präsident in seiner Unzulänglichkeit – etwas, das man nicht kannte. (SW, 237)

Auch der utopische Gegenentwurf Eschs formt sich über die Aufdeckung einer zweiten Bedeutungsschicht aus, auf der sich alles auf eine große Idee hin sammelt. In Vorbereitung seines Auswanderungsprojektes erwirbt Esch einen Englisch-Sprachführer, lernt Vokabeln, „und hinter jedem Wort stand das Wort ‚Freiheit‘“ (SW, 289). Eschs Suche nach verborgenen Erkenntnissen ist auch eine nach potentiellen Inspiratoren, weshalb ihn stets Menschen an­ 327

328

329

Zur Netzmetapher vgl. auch SW, 46, 55, 70f., 78, 128, 146–148, 642. Selbstreflektiert ist Pasenows Erkennen seiner ‚Hirngespinste‘ zwar insofern, als er damit das Irrationale und Obsessive der assoziativen Verknüpfungsoperationen erfasst. Gleichzeitig projiziert er die Ursache des Wahns jedoch nach außen, personifiziert sie in Bertrand, der ihn vermeintlich „in Hirngespinste treiben“ (SW, 64) will. Der Dämon Bertrand, der in sinistrer Absicht überall im Hintergrund wirkt, ist allerdings gerade ein Produkt der Pasenowschen ‚Hirngespinste‘. Für die verrätselte Wirklichkeit steht auch die Formel „sichtbarlich versteckt“ (SW, 22), die durch den dem Irrsinn anheimfallenden Vater Joachim von Pasenows geprägt wird und die gesamte Trilogie durchzieht (vgl. zum Beispiel SW, 75, 133 sowie die Variationen SW, 176, 245, 280, 547f., 596f., 709). Für Pasenow verbinden sich solche Enthüllungen nicht mit dem zornigen Hochgefühl des Entdeckers, sondern mit Scham und Empörung (vgl. SW, 38f.). Zu Esch als wi­ dersprüchlichem Kapitalismuskritiker vgl. Zima: Roman und Ideologie (Anm. 313), S. 108f.

295

ziehen, von denen er annimmt, dass sie über ein exklusives Wissen oder welt­ anschauliche Sicherheit verfügen. Bei dem Gewerkschaftler Geyring vermutet er geheime Märtyrer-Überzeugungen (vgl. SW, 264f.), den Zigarrenhändler Lohberg, ein ins Völkische tendierender Lebensreformer, hat Esch zwar schnell als einen „Idioten“ (SW, 212) identifiziert, seine Heilspredigten scheinen ihm aber nichtsdestotrotz durch „eine seltsame Parallele“ (SW, 214) nutzbringend auf die eigene Erlösungsbuchhaltung beziehbar. Auch vom Musiker Alfons erhofft er sich „höheres Wissen“ (SW, 297) und nicht zuletzt wird der ominöse, nie real in Erscheinung tretende Präsident Bertrand, der dem Buchhalter als Projektionsfigur für diverse Ängste dient, zugleich auch zu einem Mentor, an dessen Wissen Esch im Wachtraumbesuch schließlich vorübergehend teilhat (vgl. SW, 337). Zwar ist auch Pasenow auf der Suche nach Absicherung, entsprechende Er­ wartungen richten sich an Bertrand, dem er als eine unter vielen widersprüchli­ chen Rollen auch die des „sicheren und zuversichtlichen Führer[s]“ (SW, 150) zuschreibt. Im Vordergrund steht hier jedoch der Wunsch nach dem „Gefühl der Fürsorge und Geborgenheit“ (SW, 150). Als Ideenträger wird Bertrand hingegen zum „agent provocateur“ (SW, 165), nonchalant vorgetragene Thesen zum Niedergang der europäischen Kultur (vgl. SW, 32f.) oder seine ironische Exemplifikation einer notwendig ästhetizistischen Lebensanschauung anhand der „deutschen Hausfrau […] als Imitation“ (SW, 65) stellen stets alle Konven­ tionen, an denen sich Pasenow orientiert, in Frage. Bei der Wissensübernahme, die dennoch permanent stattfindet – ein Gutteil der Pasenowschen Denkimpul­ se stammt aus Bertrands Reden – handelt sich um eine halb gesuchte, halb widerwillige Beeinflussung. Die „Paradoxien“ Bertrands, die das Vertrauen in eine religiöse, militärische und feudale Ordnung erschüttern, stellen für Pase­ now ebenso anregende wie „unangenehme Gedanken“ (SW, 26) dar. Für seine Weltanschauungsentwürfe liefert der zwielichtige Freund mit seinen Ideen ei­ nerseits das Material, gleichzeitig zielt Pasenows Verarbeitung darauf, dieses beunruhigende Wissen zu entschärfen und in die alte Ordnung einzupassen, was vor allem bedeutet, es doch noch in einen gottgelenkten Daseins- und Entwicklungszusammenhang einzubetten.330 Darin, dass Pasenow sich bei aller Verunsicherung überhaupt noch als „Spielball fremder Mächte“331 begreift, in denen sich Gottes Wille zeigen kann und Gottes Gnade erhofft werden darf, unterscheidet er sich am deutlichsten von Esch, dem es als Weltanschauungs­ denker der nächsten Generation bereits eine Konstruktionsleistung abverlangt, 330

331

296

Dort, wo die von Bertrand inspirierten Gedankengänge ihn über seinen begrenzten Horizont hinausführen könnten, bricht Pasenow sie als „sinnlose Überlegungen“ (SW, 26) ab und rettet sich in die „dienstlich stramme Haltung“ (SW, 27; vgl. auch 144) oder in Standesdünkel (vgl. SW, 61). Grabowsky-Hotamanidis: Zur Bedeutung mythischer Denktraditionen (Anm. 204), S. 87.

„nach irgendwelchen guten und bösen Kräften […] die Welt zu ordnen“ (SW, 270). Pasenow und Esch amalgamieren in ihren weltanschaulichen Entwürfen beide Wissensfragmente aus heterogenen Bereichen. Der Leutnant revitalisiert die „Apokalypse Johannis“ (SW, 33) mit kolonialrassistischen Invasionsvorstel­ lungen,332 den Bußgang reichert er mit Faust-Motiven an (vgl. SW, 40, 139). In seinem Bewusstsein überlagern sich Höllenbilder, urbane Eindrücke aus dem Nachtleben oder von modernen Fabrikanlagen (vgl. SW, 143) sowie Ma­ donnen- und Märchenfiguren (vgl. SW, 159, 171). Zur geistigen Unterstützung zitiert sich Pasenow neben der Bibel (vgl. z. B. SW, 64, 52, 467–469) gerne Clausewitz herbei (vgl. SW, 177, 467, 469) oder behilft sich mit Redewendun­ gen („Kameraden in des Königs Rock“ [SW, 27, 150; vgl. 16]). Esch wiederum nimmt zwar die krude Weltvergiftungstheorie seines Bekannten Lohberg weder als Verpflichtung auf ein „großes, naturgemäßes, echt deutsches Leben und Wesen“ (SW, 214) noch als praktische Anleitung zur Abstinenz ernst, eignet sie sich aber dennoch unter Befreiung von völkischen Implikationen im Grundge­ 332

Initial knüpft Pasenow dabei durchaus schlüssig an die europapessimistische Prophetie Bertrands an, derzufolge in Afrika „die Zukunft des Glaubens“ liege, „dort sind jene künftigen Glaubensstreiter, die einmal gegen das heidnisch versunkene und verpfuhlte Europa im Namen Christi sengend und brennend losziehen sollen, um schließlich einen schwarzen Papst inmitten der rauchenden Trümmer Roms auf den Stuhl Petri zu setzen“ (SW, 33). Diese Aussicht steht am Ende eines lockeren Referates, in dem Bertrand die „nüchterne[n] Interessen“ (SW, 32) der christlichen Mission bloßlegt, die deutsche Kolonialpolitik als „Romantik“ (ebd.) schmäht und zynisch den „private[n] Kriegsspaß“ (ebd.) bewirbt, den er sich hier eröffnen sieht. Während für Bertrand die Diagnose rein unter dem Gesichtspunkt des global investierenden Baumwollhändlers von Interesse ist, rührt sie für Pasenow an den Grundfesten seiner Glaubensüberzeugun­ gen und seines nationalen wie militärischen Stolzes. Obwohl ihm Bertrands Vortrag wie eine Gotteslästerung erscheint (vgl. SW, 33), erweist sich die Bildkraft als so attraktiv für Pasenow, dass er den apokalyptischen Vorstellungskomplex in der Folge kontinuierlich weiter ausbaut. Der „Pfuhl“ (SW, 33, 143, 506, 528, 531, 569, 630, 643) wird zum Sam­ melplatz aller mit der neuen Zeit verbundenen Unbehagen und der europäische Unter­ gang nicht nur zur Voraussetzung für ein erneuertes Christentum, sondern auch für „wahre Keuschheit“ (SW, 39; vgl. 49f.). Auch Jahre später noch, im Sommer 1918, greift Pasenow auf seine erweiterte Kolonialapokalyptik zurück, um dem Kriegsgeschehen eine tiefere Bedeutung zu verleihen (vgl. SW, 468). Zum historischen Hintergrund der Ausführungen Bertrands zur deutschen „Kolonialromantik“ (SW, 32) vgl. Paul Michael Lützeler: Hermann Brochs „Pasenow oder die Romantik“ und Carl Schmitts „Politische Romantik“. In: Hermann Broch und die Romantik. Hg. von Doren Wohlleben und Paul Michael Lützeler. Berlin und Boston 2014, S. 107–126, hier S. 113–116. Außer zu Carl Schmitt sieht Lützeler auch Verbindungen zur Romantikkonzeption von David Friedrich Strauß. Den nationalistischen und rassistischen Einstellungen, mit denen sich Pasenow ideologisch anschlussfähig an bereits um 1900 verbreitete gruppenbezogene Diskriminierungsdiskurse zeigt, entsprechen Eschs judenfeindliche Ressentiments, die sich in seiner Haltung gegenüber Oppenheimer und Teltscher offenbaren (vgl. SW, 269f., 361, 371). Zu den Vorurteilen des preußischen Adels gegenüber allem Polnischen, die im Pasenow-Roman dargestellt werden vgl. Paul Michael Lützeler: Hermann Broch und die Moderne. Roman, Menschenrecht, Biographie. München 2011, S. 62–69.

297

rüst an, samt der angeschlossenen Erlösungsperspektive. Während das ‚Gift‘ als metaphorisches Vehikel für eine kapitalismuskritisch grundierte, immer weiter ins Generelle strebende Bestimmung der Ungerechtigkeit dient (vgl. SW, 215, 237, 529), verschmelzen auf der Erlösungsseite Bilder aus der Zirkuswelt mit der Passion Christi (vgl. z. B. SW, 202–205). Esch pflegt ebenfalls eine Vorliebe für sentenzenhaft geformelte Lebensweisheiten („‚Man spielt nicht mit Men­ schenleben‘“ [SW, 310f.], eine Lohberg-Übernahme, vgl. SW, 219, 239) und für literarischen Beistand sorgt Goethe (vgl. zum Götz-Zitat SW, 183, 246, 627). Die Bibel entdeckt Esch erst spät als Materialfundus, bedient sich dann aber umso eifriger (vgl. SW, 499, 510, Kap. 63). Weniger im Verfahren der Wissenskompilation selbst als in der Haltung dazu schlägt sich der Generationenwechsel bei den Weltanschauungskonstruk­ teuren nieder. Anders als Pasenow, für den die Wissensvermengung in seinem Denken, vor allem die profanisierende Kontamination der religiösen Überliefe­ rung, noch eine beschämende Erfahrung darstellt, deren Reiz er sich dennoch nicht entziehen kann, ist Esch ein emsiger und aktiver Wissenssammler, der vor keiner Kombination zurückscheut.333 Dass es ihm keinerlei Probleme bereitet, neben ‚höheren Erkenntnissen‘ selbst Informationen aus der Gerüchteküche in den weltanschaulichen Materialvorrat einfließen zu lassen, belegt etwa sein Hinarbeiten auf die Denunziation des Präsidenten Bertrand (vgl. SW, 211, 259f.). Eschs Ehrgeiz als Weltanschauungskonstrukteur zeigt sich darüber hi­ naus in seiner große Bereitschaft, sich beeinflussen zu lassen und sich Über­ zeugungen wie Redeweisen jeglicher Provenienz anzueignen. Wenn es ihm nützlich erscheint, gibt Esch sich Mühe, „wie Lohberg zu sprechen“ (SW, 278; vgl. 248), spricht „mit Martins Worten“ (SW, 262) oder variiert „die Rede Harrys“ (SW, 306; vgl. 297), der als Geliebter Bertrands wiederum nur dessen Gedanken wiederholt hatte (vgl. SW, 112).334 Im Versuch, ihre konfusen gedanklichen Verknüpfungen zu festigen, zu vereindeutigen und in einen sinnstiftenden Gesamtentwurf zu überführen, set­ zen Pasenow und Esch auf vereinfachende Ordnungs- und Bewertungsmodelle, Personifikation und Sakralisierung. Pasenow versucht ein Schema der „zwei Welten“ (SW, 56) zu etablieren und dichotomisch klar voneinander abzugren­ zen, wofür er sich neben der simplen Über- und Unterordnung vor allem einer 333

334

298

Zu Pasenows Vorbehalten vgl. zum Beispiel SW, 27, 33. Zur Angst des Leutnants vor dem wahrgenommenen Einbruch des Zirkushaften in die Bereiche des Militärs und der Kirche vgl. vor allem SW, 126f., 129. Unter fortgeschrittener Säkularisierung lassen sich für Esch hingegen Zirkus und religiöse Schemata ohne Weiteres verbinden, nicht zufällig scheint ihm das „Reich der Erlösung“ (SW, 219) schließlich auf einer Veranstaltung der Heilsarmee auf, bei der die Zirkus-Religion noch um ein Surrogat militärischer Ordnung ergänzt wird. Zima diskutiert diese Karnevalisierungen unter Bezug auf Bachtin (vgl. Zima: Roman und Ideologie [Anm. 313], S. 103–107). Pasenow hingegen ist entsetzt, wenn ihm solche Redeübernahmen bei anderen auffal­ len (vgl. zum Beispiel SW, 176f.).

Hell-dunkel-Metaphorik bedient, die es ihm ermöglicht, alle Phänomene der jeweiligen Sphäre kompatibel erscheinen zu lassen.335 Alle der ‚dunklen‘ Welt zugehörigen beängstigenden Begegnungen und Erfahrungen bündelt Pasenow außerdem in seiner Vorstellung von Bertrand – „Bertrand steckte in allen Ge­ stalten und alle verriet er“ (SW, 57) – und überblendet diese mit Bildern des Dämonischen (vgl. z. B. SW, 40, 78, 128, 139, 176). Dass ihn die Dunkelheit nicht nur abstößt, sondern gleichermaßen auch anzieht, verarbeitet Pasenow nach dem Muster von Gottesprüfungen (vgl. z. B. SW, 138–141, 158, 173). Die Verklärung der Gegenwelt erfolgt, indem Pasenow auf sein sozial vorgezeichne­ tes, in Traditionen erstarrtes Leben mit Elisabeth das Bild der Heiligen Familie projiziert, wobei sich unter Sublimierung der sexualisierten katholischen, mit Ruzena verbundenen Sehnsüchte schlussendlich auch die „evangelische Auflö­ sung des katholischen Heiligenbildes“ (SW, 130) einstellen kann. Esch entscheidet über Anständigkeit und Gerechtigkeit nach der Buchhalter­ regel, „die bekanntlich zu jeder Post ihrer Gegenpost verlangt“ (SW, 242). Dieses Gleichgewichtsmodell reichert er ebenfalls und mit religiösen Narrati­ ven und Bildern an. Ausgehend von der imaginativen Transformation einer Messerwerfer- in eine Kreuzigungsszene (vgl. SW, 202–205) entwickelt Esch die zunächst auf die Rettung der Artistin Ilona fokussierte, später die Rettung der Welt umfassende Idee einer erlösenden Selbstopferung – ein Projekt, von dem dann nur eine Schwundform bleibt, wenn Esch schließlich glaubt, „eine verzwickte Buchungsaufgabe“ gelöst zu haben, indem er „sein irdisches Leben Mutter Hentjen unterwarf“ (SW, 355). Weil Eschs Erlösungsbegriff ein weitge­ hend säkularisierter ist, kann er sich über die bloße Lexemverwandtschaft mit der Lösung einer Buchungsaufgabe, der ‚Auslösung‘ durch Freikauf (vgl. SW, 231, 235–237) oder der Gelöstheit in sexueller Ekstase verbinden (vgl. 285–287). Ebenso verhält es sich mit dem Begriff der Schuld. Esch interpretiert soziale Verwerfungen im Kontext eines „kosmologischen Schuldzusammenhangs“336, wobei für ihn die Erlösung „zum Stand der neuen Unschuld“ (SW, 338) wie eine Tilgung von Schulden im kaufmännischen Sinne vorstellbar wird. Als Gegenspieler auf seinem Weg ins „Reich der Erlösung“ (SW, 219) baut sich Esch den Präsidenten Bertrand als „Antichrist“ auf, in dessen „eigentlich unvor­ stellbare[r] Gestalt“ (SW, 268) alle übrigen Feindbilder aufgehen. Auch Esch befleißigt sich, mögliche Inkongruenzen seiner Entwürfe zu beseitigen und ist erfreut, wenn er auf Informationen stößt, die helfen, den „Unterschied gar nicht so arg groß“ (SW, 211) erscheinen zu lassen. 335

336

Die städtische, verrußte Fabrikkulisse wird ihm zum „Pfuhl; dort gehörten der dicke Mann und Ruzena und Bertrand hin; das war alles das nämliche wie die Nachtlokale“ (SW, 143). Diesem Bereich gegen- und übergeordnet erscheint Pasenow Elisabeth als „‚jungfräuliche Lichtgestalt‘“, „hoch oben auf silbriger Wolke über allem Pfuhle schwe­ bend“ (ebd.). Für weitere Gegenüberstellungen vgl. zum Beispiel SW, 148, 158f. Kubik: Die europäische Ordnung stirbt (Anm. 308), S. 37.

299

c) Autobiographie als Problem. Das Scheitern der Weltanschauungsdilettanten Weder Pasenows manichäische Weltentrennung noch Eschs metaphysische Buchhaltung gelingt. Der Leutnant findet Bestandteile der einen immer wieder auch in der anderen Welt und er kann Ruzena und Bertrand nicht eindeutig der negativen zuordnen, sondern sieht sie zwischen beiden stehen (vgl. SW, 56– 58, 72). Die Ordnung seiner gedanklichen Vernetzungen scheitert stets: „Das Verwirrte löste sich, um zu neuer Verwirrung sich zu schließen.“ (SW, 118) Auch Esch muss meistens feststellen, dass seine Bilanzen doch nicht stimmen, ein „ungeklärter Buchungsfehler“ (SW, 242) verbleibt oder die gefundene Lö­ sung keinen Bestand hat: „Seine gestrige Rechnung, die so eindeutig gewesen war, war ihm undurchsichtig geworden“ (SW, 356). Diese Erfahrung, die vor allem Pasenow, aber auch Esch in ihrem eigenen Denken machen, erinnert an die Verwirrung, die Castorp gemeinsam mit dem Zauberberg-Erzähler als Zuhö­ rer auf dem Höhepunkt der Disputationen zwischen Naphta und Settembrini erlebt: „die allgemeine Überkreuzung und Verschränkung, die große Konfusi­ on“ (ZB, 705). Sowohl Pasenow als auch Esch werden in ihren weltanschaulichen Konstruk­ tionen unablässig auf die Unsicherheit ihres Ichs zurückgeworfen. Mit Schre­ cken wird sich Pasenow für einen Augenblick über den eigenen Identitätsver­ lust klar, wenn er erkennt, dass nicht nur in seiner Umwelt jeder und alles austauschbar geworden ist, sondern auch er selbst „nichts als der Stellvertreter des Bruders“ (SW, 64). Im Gegensatz zum Leutnant, dem die alte feudale und protestantische Ordnung noch eine Restsicherheit bieten kann, ist Esch ganz auf sich gestellt, „vereinsamt und verwaist“ (SW, 196). Er ist deshalb in seinem weltanschaulichen Entwurf deutlich stärker auf Ich-Stilisierungen angewiesen, die bei Pasenow noch kaum eine Rolle spielen.337 Weil ihm keine Rückverge­ wisserung mehr möglich ist, entwickelt Esch bezüglich der Konsequenz seiner Erlösungsvisionen, also der Selbstauslöschung im Opfer, einen fatalistischen Heroismus, der sich im Ich-Bild eines Märtyrers ausformt. Esch versteht sich als Gerechtigkeitsmissionar, weshalb für dieses Bild neben dem dominanten Ideal Christus (vgl. z. B. SW, 203, 210, 273, 587) auch Goethes Götz von Berlichingen Modell steht.338 Trotz solcher Selbstermächtigungsfiktionen erweist sich die Einsamkeit für Esch als unaufhebbar: „man bleibt verwaist“ (SW, 377). Eine Erklärung, die die Schlafwandler-Trilogie für die Ich-Verunsicherung liefert, ist der figurenpsychologisch herausgearbeitete Mangel familiärer Gebor­ 337

338

300

Vgl. aber Pasenows Identifikation mit dem Gekreuzigten (SW, 50) sowie die Selbstima­ gination als Jesuskind (SW, 129f.), in der sein Regressionsverlangen zum Ausdruck kommt. Zu Pasenows Sehnsucht nach einer „vorproblematischen ‚Heimat‘, in der Kindheit und Vergangenheit zusammenfallen“, vgl. Ritzer: Hermann Broch und die Kulturkrise (Anm. 138), S. 239–242, hier S. 240. Vgl. dazu Kubik: Die europäische Ordnung stirbt (Anm. 308), S. 36–39.

genheit. Die sich durchziehende Kennzeichnung Eschs als Waise, aber auch Pasenows in der Kindheit angelegtes Gefühl, ein Verstoßener zu sein (vgl. SW, 13–18), machen dies deutlich. Damit in Zusammenhang stehen die wiederhol­ ten Hinweise auf das Unvermögen der Figuren, ihre Biographie zu entwerfen, wobei die unterschiedlichen Probleme von Pasenow und Esch, sich eine iden­ titätsstiftende Geschichte des eigenen Lebens zu geben, der jeweiligen weltan­ schaulichen Perspektive entsprechen. Der vergangenheitsorientierte Pasenow kann sich an Kindheit und Jugend zwar erinnern, aber nur noch auf „Bruchstü­ cke“ (SW, 13) zurückgreifen, seine Zukunft ist ihm unvorstellbar (vgl. SW, 121, 132). Esch hingegen, der sich nicht mit weiter zurückliegenden Lebensphasen beschäftigt und grundsätzlich gewillt ist, zum Zwecke der Erlösung „das Ver­ gangene endgültig zu vernichten“ (SW, 345), schmiedet unentwegt an seinen Zukunfts-, vor allem an seinen Auswanderungsplänen, muss sich aber schluss­ endlich damit abfinden, dass es bei „amerikanischen Luftschlössern“ (SW, 379) bleiben wird. Die auf gegenseitige Beglaubigung ausgelegte Verklammerung von Weltan­ schauungs- und Ich-Entwurf zeigt sich im Denken Pasenows und Eschs in ihrer doppelten Brüchigkeit. Die rhetorischen Fähigkeiten, diese Brüche mit sprach­ lichen Mitteln systematisch zu kaschieren, sind bei beiden nur in Ansätzen vor­ handen, ihre Konstrukte verdeutlichen stets eher ein Weltanschauungsbedürf­ nis als Weltanschauungsgewissheit. Dennoch zeigt sich an einigen Stellen, wie die Verdichtung weltanschaulicher Vorstellungskomplexe auch bei Pasenow und Esch mit einer rhetorischen Formung der Gedankensprache einhergeht. So kompensiert Pasenow in einer an sich selbst gerichteten Mahnpredigt die defizitäre Logik der Argumentation mithilfe syntaktischer Parallelismen und durch Konversion variierter Wortwiederholungen, vor allem aber über den großzügigen Einsatz von Alliterationen: man durfte an Gottes Prüfungen nicht zweifeln, es gab keinen Zufall; denn mochte Bertrand auch in scheinbarer Zwietracht vom Vater geschieden sein und mochte er jetzt auch das Missgeschick mit dem Revolver zu einem albernen Zufall herabwürdi­ gen, er wollte damit nur verschleiern, daß er ein Sendling des Bösen war, ausersehen von Gott und dem Vater, dem Büßenden die Buße zu bereiten, ihm verlocken voran­ zueilen, in die Falle ihn zu führen, damit der Verführte dort ratlos erkenne, daß er ebenso schlecht ist wie der Verführer und daß es ihm auferlegt ist, stets auferlegt war, gleich jenem vernichtendes Schicksal dem Nächsten zu sein und daß es ihm niemals gelingen wird, den Fängen des Verführers die Beute zu entreißen. (SW, 137f.)

In der klanglichen Stütze von Gedankenverbindungen übt sich auch Esch. Im folgenden Beispiel führen neben den Alliterationen auch adjektivische Bild­ übertragungen die verschwörungstheoretische Assoziationsreihe auf eine finale Sprichwort-Kreation hin, mit der die Eindeutigkeit des Feindbildes festgeschrie­

301

ben wird. Eschs erlebte Rede löst sich dabei aus der rhetorisch kooperativ gestalteten Erzählereinleitung heraus:339 Zorn gegen das Geschäftswesen erwachte in ihm, Zorn gegen eine Organisation, die unter dem Schein schöner Ordnung, glatter Gänge, schöner glatter Buchungen alle Infamien verbirgt. Und das nennt sich Solidarität. Ob es nun Prokurist oder Präsident heißt, es gibt keinen Unterschied zwischen Kaufmann und Kaufmann. (SW, 244)

Schon früh deutet sich an, dass Pasenows und Eschs Suche nach einer Weltan­ schauung gerade auch eine Suche nach Sprache ist, die sich jedoch nicht auf die Schärfe des Begrifflichen, sondern auf rhythmische Ordnung und Klanghar­ monie richtet. In Pasenows Unzufriedenheit angesichts des Nicht-Gereimten340 und Eschs Fokussierung auf alles Rhythmische (vgl. z. B. SW, 217, 311) äußert sich ein Streben nach dem Musikalisch-Lyrischen, das die Figuren mit ihrem Erzähler teilen. Obwohl weder Leutnant noch Buchhalter zu versierten Weltanschauungs­ rhetorikern avancieren, entwickeln beide ein Sendungsbewusstsein und finden Möglichkeiten zur Artikulation ihrer weltanschaulichen Botschaften, wie sich im dritten Teil der Schlafwandler zeigt. Im letzten Kriegssommer schreibt Pa­ senow, mittlerweile Major und Stadtkommandant, einen Leitartikel für den ‚Kurtrierschen Boten‘. In seinem Manifest über „Des Deutschen Volkes Schick­ salswende“ (SW, 466) versucht Pasenow in einem Potpourri aus Bibel-, Lutherund Clausewitz-Zitaten das Kriegsgeschehen in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang zu stellen und auf Apokalypse und Erlösung hin zu transzen­ dieren. Dass sich Weltanschauungssicherheit auch jetzt noch nicht vollständig einstellen kann, zeigt sich in der Verknüpfung mit einer Ich-Botschaft, die zwar in charakteristischer Weise das Gesagte an das eigene Ringen um Weltan­ 339

340

302

Ein solches Zusammenwirken findet sich auch bei Pasenow, wenn sich dieser, durch eine Antimetabole des Erzählers beinahe ‚angestiftet‘, auf die Suche nach angemessenen Metaphern für sein dichotomisches Denken begibt: „Der Tag war zur Nacht geworden, wie die Nacht zum Tag. Ihm fiel das Wort Nachtalben ein, allerdings konnte er sich wenig darunter vorstellen. Gab es auch Lichtalben? Er hörte das Wort ‚jungfräuliche Lichtgestalt‘. Ja, das war das Gegenteil der Nachtalben“ (SW, 143). Indem hier offenge­ legt wird, dass sich Pasenow im Drängen auf den absoluten Gegensatz schließlich mit der rein sprachoberflächlichen Erledigung am Ziel glaubt, gibt diese Stelle auch einen aufschlussreichen Einblick in die Problematik der Weltanschauungsproduktion. Wo Esch bei der gedanklichen Arbeit beobachtet wird, entstehen oft komische Momente, hier im Finden eines Vergleichs: „und die Vorstellung einer neuen, einfachen, sozusa­ gen geschäftsmäßigen und magistralen Form der Liebe stieg in ihm auf, eine Liebe, die so glatt, so kühl und doch so ausgedehnt und weiträumig sein müßte wie diese Gänge mit ihrem glatten Linoleumbelag“ (SW, 244). Pasenow stört sich nicht nur an Bertrands „ungereimten Äußerungen“ (SW, 27), auch im Hinblick auf die Forderung seines Vaters, er solle den Dienst quittieren (vgl. SW, 68) oder anlässlich einer nicht vollständig gelingenden Überblendung von Gesichtern (vgl. SW, 40) fehlt ihm der Reim. Während des Bestattungsgottesdienstes für den Bruder gilt Joachims Konzentration nicht so sehr dem Inhalt der Predigt, er „wartete stets auf den Reim, ob er auch eintreffen werde“ (SW, 49). Und auch die Analogiebildung kann bei Pasenow am „Gleichklang“ (SW, 63) ansetzen.

schauung koppelt, im letzten Moment jedoch vor der Gewissheitsbehauptung zurückschreckt und in einem Clausewitz-Wort ausklingt, das auf den Epilog der Trilogie vorausweist: Ich weiß nicht, ob ich mich recht verständlich habe machen können, musste ich doch selbst lange ringen, um zu diesen Erkenntnissen zu gelangen, und bin doch überzeugt, daß sie stückhaft sind. „[…] Es ist immer nur ein Ahnen und Herausfühlen der Wahrheit, nach dem gehandelt wird.“ (SW, 469)341

Der Zeitungsartikel begründet eine Freundschaft zwischen Pasenow und Esch als Schicksalsverbindung der Erlösungssuchenden. Esch erkennt im Major wie ehemals im Präsidenten Bertrand eine potentielle weltanschauliche Orientie­ rungsfigur (vgl. SW, 476), der heimatsehnsüchtige Pasenow in Esch wiederum den verlorenen Bruder, einen „Engel, der zu ihm getreten war, über ihn zu wachen“ (SW, 584).342 Der Stadtkommandant schließt sich der kleinen, aber wachsenden Gemeinde an, die Esch in seinen Bibelstunden inzwischen um sich versammelt. In der Rolle des Vorpredigers, die ihn schon 15 Jahre zuvor beim Besuch der Heilsarmee gelockt hatte,343 veranstaltet Esch bei solcher Gelegenheit ein mitreißendes Schauspiel, in dem er über Bibelexegese und rhythmische Reimgesänge Endzeitstimmung in Heilserwartung überführt und Trost verspricht: „Tu dir kein Leid! Denn wir sind alle noch hier!“ (SW, 586) Bei Pasenow als Rezipient tritt der gewünschte Effekt zunächst ein, bei ihm kommt die einfache Botschaft an, indem alle seine weltanschaulichen Konstruktionsmittel – die ‚Vernetzung‘ vager Bezüge, das Hell-dunkel-Schema und die Klangverbindung – zusammenspielen: es war gewissermaßen eine unkörperliche Ruhe, eine gewissermaßen verdünnte, hel­ le, fast weiße Ruhe, die in dem dunklen Raum und über all dem Stimmengewirr ausgespannt lag, ein klingendes durchsichtiges Netz in einer merkwürdig abstrakten Vereinfachung. (SW, 587f.)

Die erlösungsbereite Gemeinde fällt „über das Wort vom Mord“ (SW, 590) indessen unmittelbar in Ernüchterung zurück und alle Versuche Eschs, den Zauber der Paulinischen Trostformel neu zu erzeugen, misslingen. Das insze­ nierte Weltanschauungstheater kann hier keine dauerhafte Gemeinschaft her­ beiführen. Wie auf sein Stichwort tritt lediglich Huguenau auf, der solchen 341 342

343

Pasenow zitiert aus Vom Kriege (1832), aus dem Kapitel Vom kriegerischen Genius. Dass die Grenzen der Wissensgebiete im allgemeinen Weltanschauungspluralismus in­ zwischen noch durchlässiger geworden sind, wird darin deutlich, dass Esch sich im Jahr 1918 die Pasenowsche Schwarz-weiß-Trennung angeeignet hat (vgl. SW, 476) und die Weltvergiftung im Gegenzug in das Repertoire des Majors eingegangen ist (vgl. SW, 468). Vgl. SW, 217. In der Rolle des belehrenden Vorbeters, der Jünger um sich schart, institutionalisiert sich der didaktische Impetus, der Eschs Haltung bereits 1903 kenn­ zeichnete, insbesondere in seiner Beziehung zu Mutter Hentjen (vgl. zum Beispiel SW, 289), deren ‚Belehrung‘ bisweilen auch in gewalttätigen Übergriffen eskaliert (vgl. zum Beispiel SW, 359, 379).

303

religiösen Kulten vollkommen verständnislos gegenübersteht, später jedoch durch die Ermordung Eschs noch zum Erfüllungsgehilfen der Prophezeiung seines Opfers werden wird. Zwar sind Pasenow und Esch keine wissenschaftlich geschulten Theoretiker und ihre rhetorischen Fähigkeiten halten sich in Grenzen, die Muster, die sich in ihrem Denken ausprägen sind dennoch diejenigen, die auch im typi­ schen weltanschauungsliterarischen Text die Basis der Argumentation bilden. Einer als chaotisch wahrgenommenen Realität wird über Assoziationen und Analogiebildung eine Struktur verliehen, die sich als Zeichensystem ausdeuten und mithilfe simplifizierender Modelle auf möglichst ein Grundproblem hin konzentrieren lässt, wobei Fragmente aus heterogensten Wissensbereichen ein­ gespeist werden. Die Versuche der Schlafwandler-Figuren, das ‚Welträtsel‘ zu lösen, gleichen strukturell denen bekannter Weltanschauungsautoren. Trotz ihres Dilettantismus stehen Pasenow und Esch hier an der Seite von Autoren wie Weininger, der „die verwirrende Wirklichkeit“344 sexualisiert und auf den Gegensatz M und W hin ausdeutet, Spengler, der mit seinen Kultur-Individuen aufzeigen will, was „unter einer tausendfarbigen verwirrenden Oberfläche die eigentliche Substanz der Weltgeschichte bildet“345 oder Hanslik, dessen kultur­ geographischer Blick die Bestimmung Österreichs findet, weil sich ihm „die Naturpflanzendecke in eine Kulturpflanzendecke verwandelt“346. Insbesonde­ re die Vagheit der universellen Zusammenhänge, über die der professionelle Weltanschauungsschriftsteller in der Regel großzügig hinwegspekuliert, ent­ larvt sich im erzählten Weltanschauungsdenken. Wie Pasenow und Esch alles ‚irgendwie‘ aufeinander beziehen und nach einfachen Schemata ordnen, folgt dabei dem Grundrezept, auf das Musil so treffend die Spenglersche Kulturmor­ phologie heruntergebrochen hat, die vor der großen Sortierung ebenfalls erst einmal alles mit allem ‚in gewissem Sinne‘ verbindet.347 Indem sie die Weltanschauungssuche und -produktion im Figurendenken verfolgen, erlauben die Schlafwandler-Romane einen Blick hinter das fertige weltanschauungsliterarische Werk und legen die Problematik offen, auf die sonst nur durch eine Dekonstruktion von Gewissheitsbehauptung und rheto­ risch geschliffener Oberfläche geschlossen werden kann. Die Fiktion, die der Weltanschauungsautor erschafft, indem er ein scheinbar wahrheitsmächtiges 344 345 346

347

304

Weininger: Geschlecht und Charakter (Anm. 29), S. 97. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Vollständige Ausgabe in einem Band. München 1963, S. 96. Erwin Hanslik: Geographische Einleitung. In: Weltgeschichte in gemeinverständlicher Darstellung. Hg. von Ludo Moritz Hartmann. Erster Band: Einleitung und Geschichte des alten Orients. Gotha 1919, S. 1–13, hier S. 1. Vgl. Robert Musil: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Unter­ gang des Abendlandes entronnen sind. In: Ders.: In Zeitungen und Zeitschriften I. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2020 (Gesamtausgabe. Bd. 9), S. 388–414, hier S. 404f.

Ich aufstellt, das im souveränen Gestus für die Theorie bürgt, wird durch die Darstellung der fiktiven Weltanschauungsgenese im Roman als Hilfskonstrukt eines verunsicherten Subjekts vorgeführt.

4. Narrative Begleitung und weltanschaulicher Aufschwung Narratologisch betrachtet ist die Schlafwandler-Trilogie eine verzwickte Angele­ genheit, weil desintegrative und reintegrative Dynamiken in den Romanen auf komplizierte Weise ineinander spielen. Das entspricht Brochs konzeptioneller Intention, ein Auseinanderfallen des modernen Lebens in Partialwertgebiete auch auf der Darstellungsebene zu realisieren und der Fragmentierung zugleich mit einer geschichtsphilosophischen wie erkenntnistheoretischen Erklärung zu begegnen, an die eine Hoffnungsbotschaft der Überwindung zu neuer Totalität anknüpfen kann. Ob es sich bei den Schlafwandlern eher um ein pluralitätssen­ sibles modernistisches Erzählwerk oder aber doch um Thesenliteratur handelt, ist nicht immer leicht zu entscheiden. Figurennah polyperspektivisch erzählten Passagen, wie der Eingangsszene des Pasenow, steht eine starke auktoriale Prä­ senz gegenüber, die stellenweise verordnet, was den Figuren geschieht, „weil dies so ist und weil dies nicht anders sein kann“ (SW, 392). Gunther Martens, der die komplexe Gemengelage von interner Fokalisierung und nullfokalisier­ ter Übersicht, Personalisierung und auktorialer Erzählvermittlung genauer un­ tersucht hat, konnte zeigen, dass einerseits über die gesamte Trilogie hinweg eine „auktoriale Rahmung“348 besteht, die das von den Figuren chaotisierend wahrgenommene Geschehen reformuliert und im Sinne der in den Exkursen entwickelten Theorie deutet, dass aber andererseits der Erzählerdiskurs selbst häufig figural ‚infiziert‘ ist. Diese spezifische Auktorialität prägt in den Schlaf­ wandlern auch eine narrative Weltanschauungsanalyse – Martens spricht hier von „Ideologiekritik“ – die über das Dokumentieren der weltanschaulichen Konstruktionsversuche im Figurenbewusstsein hinausgeht: sie erlaubt es, die Figuren als relativ stabile Träger von bestimmten Ideologien auszu­ weisen, lässt aber in diese manchmal drastische Tendenz zur Verallgemeinerung und in die Metasprache das Idiom der Figuren einfließen, so dass fraglich wird, ob sich diese außerideologische Distanz so einfach behaupten lässt.“349

348 349

Martens: Beobachtungen der Moderne (Anm. 291), S. 227. Ebd., S. 108.

305

a) Weltanschauungsanalyse und -führung Brochs Erzähler baut seine Protagonisten zu Repräsentanten der dargestellten Epochenphasen auf, indem er ihr Denken als ein zeittypisches konturiert.350 Am augenfälligsten geschieht dies in entsprechenden Zuschreibungen, die als explizite Erzählerkommentare, aber auch figural umgelenkte Einschätzungen vorkommen. Ein Beispiel für letztere ist die hypothetische Zusammenarbeit des Erzählers mit Bertrand („Bertrand könnte zum Thema Uniform etwas sagen“), über die Pasenow als Verkörperung der „Romantik dieses Zeitalters“ (SW, 23) bestimmt wird: Für die rückwärtsgewandte Sehnsucht nach Einheitlichkeit steht emblematisch die Uniform, die als „irdische Amtstracht an die Stelle der himmlischen“ getreten ist, in der Fixierung des Leutnants auf das Klei­ dungsstück kommt der Versuch zum Ausdruck, „Irdisches zu Absolutem“ zu erheben, „als gäbe es eine überweltliche und überzeitliche Idee der Uniform“ (SW, 23).351 Als „Rebell“ (SW, 464) kämpft Esch gegen die ‚Anarchie‘ der Zeit, wobei er die Mittel zur Errichtung einer neuen Ordnung nur noch dem Beruf entnehmen kann. In einer typologischen Charakterisierung des Buchhalters wird das Ordnungs- und Präzisionsvermögen der Tätigkeit derart überbetont, dass ein ironisierender Effekt entsteht, weil der Leser die eigentlich kruden Verrechnungen Eschs bereits zur Genüge kennt. Das Selbstverständnis Eschs findet sich hier aufgehoben in der Erzählerrede, die einerseits dessen verabsolu­ tierte Seelenbuchhalterlogik in ein ironisches Licht setzt und gleichzeitig das Grundproblem auf die Ebene einer allgemeineren Betrachtung hebt: Denn ein Buchhalter, und gar ein Oberbuchhalter, ist ein Mensch, der innerhalb eige­ ner und außerordentlich präziser Ordnungen lebt […]. Gestützt und gefestigt durch solche Ordnungen ist er gewohnt, in einer machtvollen und dennoch demütigen Welt zu leben, in der jedes Ding seinen Platz hat, in der er selber sich stets wiederfindet und sein Blick unbeirrbar und unverloren bleibt. Er wendet die Seiten des Hauptbuchs und vergleicht sie mit denen des Journals und des Saldokontos; lückenlose Brücken führen hinüber und herüber, sichern das Leben und das Tagewerk. (SW, 411)

Indem die Vielfalt der Kontenbeziehungen auf das verwirrte Pasenowsche ‚Netz‘ bezogen wird, das dem Buchhalter symbolisch auf eine „einzige[] Zahl“ 350

351

306

Wenn man wie Vollhardt auf den wissenschaftlich-theoretischen Schwerpunkt der Schlafwandler als den bestimmenden referiert, lässt sich diese Figurenzeichnung in Anlehnung an Max Webers Idealtypus verstehen (vgl. Vollhardt: Das Problem der Weltanschauung [Anm. 280], S. 500). Treffender im Hinblick auf die gesamte Romantri­ logie, weil auch die erzählerische Figurengestaltung berücksichtigend, spricht Niefanger von ‚literarischen Porträts‘, in denen „kulturgeschichtliche Kontexte und biographische Merkmale kombiniert werden“, um paradigmatische Denkmöglichkeiten zu zeigen (vgl. Dirk Niefanger: Denkmöglichkeiten. Zum Verhältnis von Essay und Porträt in Her­ mann Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler. In: Euphorion 102 [2008], S. 241–270, hier S. 248). Zur Romantik der Uniform vgl. Lützeler: Hermann Brochs „Pasenow oder die Roman­ tik“ (Anm. 332), S. 119–121.

(SW, 412) hindeutet, wird an dieser Stelle erzählerisch auch die funktionale Ähnlichkeit der weltanschaulichen Konstruktionsmitteln herausgestellt. Solche expliziten Typenbeschreibungen greifen zentrale Motive wie die Uniform oder das Kontensystem aus dem wenig geordneten Figurenbewusstsein auf und nutzen diese, um auf einer abstrakteren Ebene Merkmale zu bestimmen, die kennzeichnend für ein Weltanschauungsdenken sind, das noch im Zeichen des Verlusts übergeordneter Sinnsysteme steht und sich zugleich dem plura­ listischen Chaos einzelner, abgeschlossener Wissensbereiche entgegenstemmt, indem es die Ordnung des eigenen Spezialgebietes generalisiert und symbolisch auf eine einzige Idee hin ausdeutet. Dass die Schlafwandler-Protagonisten trotz des hohen Grades an Typisierung nicht bloß Objekte einer narrativen Ideologiekritik sind, zeigt sich in den Kooperationen des Erzählers mit den Figuren. Nicht nur Bertrand in seinem hypothetischen Beitrag zur Uniform-Thematik in die Analyse einbringen, selbst Huguenau tritt neben seiner repräsentativen Funktion als „Exponent des europäischen Geistes schlechthin“ (SW, 703) an manchen Stellen auch als Assistent der erzählerischen Kritik an dogmatisch erstarrten Weltanschauungen in Erscheinung. So fällt ihm bei seinem ersten Besuch im Hause Esch zwischen allerlei Gerümpel auch die „bronzene Nachbildung der New Yorker Freiheits­ statue“ auf, die Entdeckung ruft aber nur den beiläufigen Gedanken „aha, ein Briefbeschwerer“ (SW, 401) hervor. In dieser Assoziation äußert sich Hugue­ naus rein zweckorientierte Haltung, ohne sein Wissen wird sie zugleich aber auch zum ironischen Hinweis auf die Verkümmerung der Freiheitsidee, die Esch einst leidenschaftlich entwickelt und in der Bronzeminiatur symbolisiert gesehen hatte (vgl. SW, 301).352 Pasenow und Esch sind ebenfalls Helfer in der Diagnostik weltanschauungs­ bedürftiger Zeiten. So werden die Auswirkungen der Säkularisierung an, aber auch durch Pasenow deutlich, dem sich beim Trauergottesdienst für den toten Bruder der kirchliche Ritus im Warten auf den „Reim“ erfüllt und in der Folge die auf irrationalen Bezichtigungen beruhende, aber im Ergebnis zutreffende Einschätzung gelingt, dass der Glaube „brüchig und staubig“ (SW, 49) gewor­ den ist.353 Auch Esch ist nicht nur Sammler diverser Erlösungsvorstellungen, sondern ebenso ein fasziniert wie skeptischer Beobachter der sich ausbreiten­ den Ersatzreligionen. Schwarzwälder betont in diesem Zusammenhang zurecht

352 353

Zur Freiheitsstatue und weiteren gegenständlichen ‚Modellen der Freiheit‘, die ihre symbolische Kraft einbüßen, vgl. Eicher: Erzählte Visualität (Anm. 291), S. 39–43. Indem die Beschreibung dieses Gottesdienstes auf die Sprachhandlung als solche ab­ hebt, wird an dieser Stelle deutlich, wie die religiöse Bestätigung des Glaubens schon 1888 zum einen vom Weltlichen ausgeht, ihr Gelingen zum anderen von der argumen­ tativ-rhetorischen Gewandtheit abhängt: „Der Pastor hatte eine Rede gehalten, in der viel von Ehre vorgekommen war, geschickt verbunden mit Wendungen, die auf die Ehre des Höchsten abzielten“ (SW, 49).

307

die „mehrschichtige Haltung zum Weltanschauungsproblem“354, die in der Esch-Figur angelegt ist. Dem „idiotischen Nebel“ (SW, 234) ausgesetzt, den Lohberg mit seinen Reden verbreitet, die groteske Heilsarmee-Veranstaltung verfolgend, auf der zwar alles „unverständlich“ (SW, 217) bleibt, aber dennoch das „Reich der Erlösung“ (SW, 219) herbeigetrommelt wird, oder im Kontakt mit dem Gewerkschaftler Geyring und der sozialistischen Zeitung, wo sich statt gesellschaftlichem Aufbruch auf Basis der eindeutigen Unterscheidung zwischen „Links und Rechts […] zwischen bürgerlicher und proletarischer Weltanschauung“ (SW, 298) dann doch nur die Erfahrung politischer Unruhen und Parteibürokratie einstellt – bevor sich Esch mit seinem Bibelkreis selbst einreiht, verweist der Erzähler durch seinen Blick ins Chaos von Sektierertum und „Vereinsmeierei“ (SW, 230) auf den Pluralismus der Weltanschauungen am Beginn des 20. Jahrhunderts.355 Auch in dieser assistierenden Funktion bleibt das grundsätzliche Wissensge­ fälle zwischen auktorialem Erzähler und eingeschränkter Figuren bestehen, mit dem die erzählerische Weltanschauungsanalyse in den Schlafwandlern haupt­ sächlich operiert. Ob unter Hinweis auf Ungenügen, Verweigerung oder Feh­ len von Reflexion, der Erzähler merkt allenthalben die Beschränktheit des Be­ wusstseins an. Typisch sind erzählerische Einwürfe, wie: „Darüber wunderte er [Pasenow] sich manchmal selbst, denn er wusste ja kaum […]“ (SW, 55), oder: „Aber das waren lauter Dinge, über die sich Esch eigentlich keine Gedanken machte; das kam bloß so nebenbei“ (SW, 213).356 Die große Bedeutung des demonstrativ eingesetzten Mehr-Wissens als strukturbildendes Erzählmittel in den Schlafwandlern ist von der Broch-Forschung immer wieder unterstrichen worden, auch Martens widmet sich dem Phänomen ausführlich und fasst es un­ ter den Begriffen ‚negative‘ beziehungsweise ‚stellvertretende Fokalisation‘.357 Außer Denk-Defiziten stellt der Erzähler auch wirklichkeitsüberformende Fiktionalisierungen heraus. Die starke ‚als ob‘-Modalisierung der Bewusstseins­ berichte markiert das Irreale der Vorstellungswelten, die auf Figurenebene ent­

354

355

356

357

308

Schwarzwälder: Der Weltanschauungsroman 2. Ordnung (Anm. 8), S. 177. Schwarzwäl­ der arbeitet insbesondere die Bedeutung der Lohbergs für die Darstellung der ‚Vereins­ meierei‘ heraus und verweist auf die Parallelen zum völkischen Kreis um Hans Sepp im Mann ohne Eigenschaften (vgl. ebd., S. 171–179). Vgl. hierzu auch Frank Werner Raepke: Auf Liebe und Tod. Symbolische Mythologie bei Robert Müller – Hermann Broch – Robert Musil. Münster und Hamburg 1994, S. 165. Vollhardt: Das Problem der Weltanschauung (Anm. 280), S. 500f. Diese Gedankenlosigkeit entwickelt sich für die Zeitdiagnostik im Roman zum Sym­ ptom des Zerfallsprozesses, das wird unter anderem darin deutlich, dass sie sich ins Extreme gesteigert bei Huguenau findet (vgl. SW, 385, 391, 460, 459, 478, 609, 649), der schließlich sogar seinen Mord vergessen kann (vgl. SW, 689). Vgl. Martens: Beobachtungen der Moderne (Anm. 291), zur Anknüpfung vor allem an die Forschungsarbeit Dorrit Cohns und Schmid-Bortenschlages vgl. S. 69f.

worfen werden.358 Dabei wird die Fiktionalisierung als solche in der narrativen Begleitung nicht problematisiert, sondern erfährt im erkenntnistheoretischen Exkurs durch das Theorem der „‚Setzung der Setzung‘“ (SW, 623) vielmehr explizit eine Begründung als notwendiges Prinzip. Als kritikwürdig erweist sie sich erst dort, wo irrationale Wirklichkeitsüberformungen absolut gesetzt werden, wie bei den weltanschaulichen Konstruktionsversuchen Pasenows und Eschs. Eine Strategie, die in den Schlafwandlern häufig genutzt wird, um sol­ che Weltentwürfe zu untergraben, ist die subtile Ironisierung durch eine Eng­ führung von Figuren- und Erzählerdiskurs. Das Verfahren findet sich in den ‚angesteckten‘ Erzählerexplikationen wie der Bestimmung des Buchhaltertypus, wird aber auch bei der Redewiedergabe angewandt. Insbesondere die erlebte Rede, die durch ihr doppelstimmiges Oszillieren die Möglichkeit bietet, die Figurenrede erzählerisch zu verdichten und zu modifizieren,359 kommt dabei zum Einsatz. So in folgender Pasenow-Stelle: Mochte man es Trägheit des Gefühls nennen: nein, er war nicht feig und er würde sich ruhig vor die Pistole des Gegners stellen oder gegen den französischen Erbfeind ins Feld ziehen, aber die Gefahren des zivilistischen Lebens waren von fremder und dunkler, unfaßbarer Art. Da war alles in Unordnung, ohne Hierarchie, ohne Disziplin und wohl auch ohne Pünktlichkeit. (SW, 68)

Die erzählerische Vermittlung folgt hier zwar der subjektiven Sicht Pasenows, der sich in die ‚zivilistische‘ Sphäre hineinphantasiert, stört aber dann die per­ horreszierende Ausmalung derselben, indem er sie in einer Nichtigkeit enden lässt, lediglich die Partikel ‚wohl‘ signalisiert eine Verstärkung der modifizie­ renden erzählerischen Stimme. Um zu ironisieren, wie Pasenow die gute alte Zeit durch einen bornierten Manichäismus zu retten versucht und Esch die „solide und rechtliche Buchhaltung seiner Seele“ (SW, 199) pflegt, reicht es im­ mer wieder aus, das Banale und Profane der Inhalte zu betonen, die sie mit ins Weltumfassende und Metaphysische erheben oder die Illusion einfach mit der Realität zu konfrontieren.360 In einem mehr szenische Komik entfaltenden Be­ 358

359 360

Vgl. zum Beispiel: „und daß er nun selber hier geht, ist Joachim so unheimlich, als ob er irgendwo ins Gleiten geraten wäre. Aber ist es nicht fast so, als wollte er sich damit für Ruzena erniedrigen? Oder soll es gar eine Erniedrigung Ruzenas sein?“ (SW, 29); „und obwohl Nentwig kein Reeder war, sondern der feiste Prokurist eines Weingeschäftes, war es Esch, als ob der Verruchte auch bei dieser Perfidie die feiste Hand im Spiele hätte“ (SW, 227). Zum ‚Als ob‘-Modus bei Broch, auch zur Auseinandersetzung mit Vaihinger vgl. Lützeler: Hermann Broch. Ethik und Politik (Anm. 138), S. 41f. Stašková: Nächte der Aufklärung (Anm. 291), S. 254–264. Vgl. Silke Lahn und Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart und Weimar 2016, S. 133f. Ein weiteres Beispiel für die Ironisierung von Pasenows gedanklichen Konstruktionen: „Das war der Pfuhl; […] das war alles das nämliche wie die Nachtlokale mit ihren Gas­ flammen und ihren Toilettenräumen. […] Und nun sah er [Pasenow] wieder Elisabeth, […] hoch oben auf silbriger Wolke über allem Pfuhle schwebend. […] Jetzt würde sie mit ihrer Mutter bald kommen, ins neue Haus einziehen. Daß es dort auch Toiletten­ räume gab, war eigentümlich; er empfand es als gotteslästerlich, daran zu denken“ (SW,

309

richt über den für Esch unbefriedigenden Gefängnisbesuch bei Martin gelingt dies etwa dadurch, dass der Erzähler den Buchhalter, der soeben gemütsberu­ higend den Freund in seine metaphysischen Opferungspläne integriert und zu vermeintlich höherer Einsicht gefunden hatte („man ging wie auf höherer Stufe“, SW, 345), tatsächlich ein Treppe zu weit gehen lässt: „erst vor dem Dachbodeneingang merkte er, daß er ein Stockwerk wieder hinunterzusteigen hatte“ (SW, 346). Die wenig invasiven erzählerischen Eingriffen kennzeichnen Charakteristi­ ka des Figurendenkens und sabotieren in Verständigung mit dem ebenfalls mehr-wissenden Leser die Versuche, Welttotalität zu erzeugen. In nicht gerin­ gem Maße dient der erzählerische Wissensvorsprung in den Schlafwandlern aber auch dazu, über Analyse, Kritik und Ironie hinaus und vor allem am beschränkten Figurenbewusstsein vorbei in die ‚richtige‘ Richtung zu weisen. Die Auktorialität zeigt sich hier in ihrer „didaktischen Intention“361, der Erzäh­ ler richtet sowohl die analytische Perspektive, unter der das Figurendenken begutachtet wird, als auch dieses Denken selbst kontinuierlich auf die Wertund Geschichtstheorie aus, die in den Exkursen im Huguenau entfaltet wird. Als Grundlage dieses didaktischen Auftrags lässt sich eine prinzipielle nar­ rative Anerkennung des Weltanschauungsbedürfnisses bestimmen. Die Welt­ anschauungsentwürfe der Figuren werden zwar kritisch beobachtet und mit Ironie begleitet, die dahinterstehende Sinnbedürftigkeit nimmt der Erzähler aber gleichzeitig ernst und bestimmt sie generalisierend als existentielle Not des Menschen.362 Dafür, dass diese Not präsent gehalten wird, sorgt der Erzäh­ ler mitunter sogar mit einer Art sympathieumlenkender und abstrahierender Übersetzung des tatsächlichen aktuellen Innenlebens von Figuren: Natürlich dachte Esch, da er seinen Wassereimer hart auf den Boden stellte, nicht mehr an die Einsamkeit, die wieder über ihn gekommen war, seit er Köln verlassen hatte, er dachte auch nicht an die Einsamkeit, die über der Bühne lag, bevor Teltscher die blitzenden, spiegelnden Messer sausen ließ. Doch wie er jetzt, auf dem Rande von Fräulein Ernas Bett sitzend und über sie gebeugt, nach ihr begehrte, da wollte

361 362

310

143). Vgl. auch die Konfrontationen Eschs mit der Wirklichkeit, die sich (noch) nicht seinen Vorstellungen angepasst hat: „Da sah er Ilona; sie ließ den vollen, weißen Arm, der noch immer keine Messerwunden aufwies, über die Bettkante hängen […]“ (SW, 224). Martens: Beobachtungen der Moderne (Anm. 291), S. 83. Vgl. zum Beispiel: „Wenn ein Mensch sowohl infolge der Abgeschlossenheit seines Lebens, als auch infolge einer gewissen Trägheit des eigenen Gefühls die Gewohn­ heit angenommen hat, den Nebenmenschen zu übersehen […]“ (SW, 39); „denn der Mensch strebt immer zu seinem Ausgangspunkt zurück“ (SW, 78); „für den Menschen Esch galt es, daß die Lust, die der Mensch als Selbstzweck zu suchen meint, einem höheren Zweck dient […]“ (SW, 221); „Denn der Mensch, der das Gute und Gerechte will, will das Absolute […]“ (SW, 287); „Denn der Mensch glaubt zwar, daß seine Entscheidungen und Entschlüsse in einer großen Mannigfaltigkeit sich bewegen, und in Wirklichkeit sind sie ein bloßes Pendeln zwischen Furcht und Sehnsucht […]“ (SW, 408).

er mehr von ihr als das, was man sich unter den Wünschen eines brünstigen Mannes im landläufigen Sinne vorstellt, denn hinter dem scheinbar so sehr Handgreiflichen, ja Ordinären, steht immer die Sehnsucht, die Sehnsucht der gefangenen Seele nach Erlösung aus ihrer Einsamkeit, nach einer Rettung, die ihm und ihr, ja vielleicht allen Menschen und sicherlich auch Ilona gelten sollte, einer Rettung, die das Mädchen Erna ihm nicht gewähren konnte, weil weder sie noch er wußten, was er meinte. (SW, 222)

Solche Öffnungen des Alltäglichen und Subjektiven finden nicht immer hinter dem Rücken der Figuren statt, der Erzähler arrangiert Momente, in denen unter anderem auch Pasenow und Esch vorübergehend zu Einsichten gelangen, die über ihr eingeschränktes Denken hinausweisen. Diese in einem lyrisierten, hymnischen Stil wiedergegebenen ‚Offenbarungserlebnisse‘ greifen in den Fäl­ len Pasenows und Eschs jeweils den dogmatischen Weltanschauungsentwurf auf und öffnen ihn auf Akzeptanz der Vorläufigkeit bei gleichzeitig tröstendem Ausblick.363 Mit der evangelischen Auflösung des erinnerten Heiligenbildes während eines Gottesdienstes erkennt Pasenow, dass seine Furcht vor dem Verlust der Einheit „die Vorstufe sein soll für eine neue und lichtere Einheit“ (SW, 130). Eschs Opfer- und Erlösungsschema wird durch den schlafwandleri­ schen Dialog mit Bertrand bestätigt, aber in ein über die Buchhalterrechnung hinausgehendes höherstufiges Wissen transformiert: „ein Wissen, schwebend zwischen Wunsch und Ahnung, sagte ihm, daß der Weg nur mehr Symbol und Andeutung eines höheren Weges ist“ (SW, 379). Diese Erkenntnisse, die den Figuren kurzzeitig zuteilwerden, stehen in Einklang mit der Wert- und Ge­ schichtsphilosophie, auf die der narrative Diskurs im Verlauf der Trilogie im­ mer dominanter hinführt. Die „kommentierende Präsenz eines auktorialen Er­ zählers, der im Mehr-Wissen gegenüber der beschränkten Figur die Handlung exemplarisch auf größere Fragen hin deutet“364, wird dabei immer deutlicher und äußert sich bisweilen in übergriffigen Deutungsfestlegungen.365 Insbeson­ dere an der Huguenau-Figur zeigt sich, wie weit der Übergriff des mehr-wissen­ den Erzählers gehen kann. Während Pasenow und Esch mit ihrem defizitären Weltanschauungsdenken immerhin noch ‚eigenes‘ Wissen bieten, an dem eine Korrektur oder Übersetzung im Sinne der Wert- und Geschichtsphilosophie 363

364 365

Vgl. hierzu Thomas Eicher: Die Schlafwandler oder Der Blick hinter die Religion. Epi­ phanien in Hermann Brochs Romantrilogie. In: Erfahrung und System. Mystik und Esoterik in der Literatur der Moderne. Hg. von Bettina Gruber. Opladen 1997, S. 49–66. Martens: Beobachtungen der Moderne (Anm. 291), S. 66. Vgl. beispielsweise: „Denn unabänderlich ist das Irdische, mag es sich auch scheinbar verändern, und würde selbst die ganze Welt aufs neue geboren, sie würde trotz des Erlösers Tod den Stand der Unschuld im Irdischen nicht erlangen, nicht ehe das Ende der Zeit erreicht ist. Zwar war solche Erkenntnis nicht sehr deutlich, allein sie genügte, um Esch zu veranlassen, daß er sich in seinem irdischen Kölner Leben einrichtete, eine anständige Stellung suchte und seinem Geschäfte nachging“ (SW, 379). „Esch lächelte, und weil der, der vor dem Tode steht, zur Freiheit erlöst ist und ihm alles erlaubt ist, berührte er den Arm des Majors“ (SW, 591).

311

anknüpfen kann, handelt es sich bei dem Nicht-Denker Huguenau dort, wo er doch mehr sein soll als der indifferente Opportunist, um das Auffüllen eines leeren Bewusstseins mit den Thesen des Erzählers. Das zeigt insbesondere die Stelle, an der Huguenau gleich zu Beginn für sein ‚Offenbarungserlebnis‘ im Schützengraben die Freiheitssehnsucht nachträglich apodiktisch eingepflanzt werden muss. Der desertierte Huguenau empfindet angesichts der architekto­ nischen Stadtkulisse Kurtriers ein unbestimmbares Gefühl, das ihn „seltsam anheimelte:“ wäre es ihm als ästhetisches Gefühl bezeichnet worden oder als ein Gefühl, das seine Quelle in der Freiheit besitzt, er hätte ungläubig gelacht, gelacht wie einer, den noch nie Ahnung von der Schönheit der Welt berührt hat, und er hätte insoweit sogar Recht damit gehabt, als niemand entscheiden kann, ob die Freiheit es ist, in der die Seele sich die Schönheit erschließt, oder ob es die Schönheit ist, die der Seele die Ahnung ihrer Freiheit verleiht, aber er hat trotz alledem unrecht, da auch für ihn ein tieferes menschliches Wesen, ein menschliches Sehnen nach Freiheit vorhanden sein muß, in der alles Licht der Welt anhebt und aus der die Heiligung des Lebendigen sonntäglich aufsprießt – und weil dies so ist und weil dies nicht anders sein kann, so mag es wohl auch in jenem Augenblick geschehen sein, in dem Huguenau aus dem Graben kroch und erstmalig deren menschlichen Verbundenheit entlöste, daß ein Schimmer des höheren Glanzes, der die Freiheit ist, auf ihn fiel, auch ihm zuteil wurde, und er in diesem Augenblick zum ersten Male dem Sonntag geschenkt war. (SW, 392)

Thematisch, aber auch in der Kombination aus Pseudodialogizität, Gewissheits­ behauptung, Spekulation und Pathos steht der Gesamterzähler an dieser Stelle dem Verfasser der Abhandlung über den ‚Zerfall der Werte‘ sehr nahe. Wie komplex in den Schlafwandlern an einigen Stellen narrative Weltan­ schauungsanalyse und narrative Weltanschauungskonstruktion ineinandergrei­ fen, verdeutlicht besonders eindrücklich die Einbettung von Pasenows Leitar­ tikel. Die wirre nationalpatriotische Eschatologie, mit der Pasenow „Des Deut­ schen Volkes Schicksalswende“ (SW, 466) beschwört, erscheint Anfang Juni 1914 im kurz zuvor von Huguenau betrügerisch erworbenen Kurtrierschen Bo­ ten. Der Artikel wird nur in Fragmenten wiedergegeben, scheinbar willkürlich gesetzte Auslassungspunkte unterbrechen Pasenows Text, oftmals mitten im Satz, sodass sich keine zusammenhängende Argumentation abbildet (vgl. SW, 466–469). Ist dieser Umgang einerseits durch die verschärfte Zensurpraxis (vgl. SW, 414) zu erklären, wird sie erzählerisch zugleich dazu genutzt, Pasenows hilflose Versuche weltanschaulicher Wissensorganisation zu präsentieren, wo­ für es ausreicht, sie in beliebigen Ausschnitten zu zeigen. Der Erzählerbericht, der auf Pasenows Artikel folgt, beginnt mit einer trockenen Feststellung, die ironisierend auf die krude Ideenmelange zurückwirkt: „So setzte sich Major v. Pasenow mit dem Problem des Krieges und der deutschen Zukunft ausein­ ander“ (SW, 469). Die dann folgende Erklärung der Situation Pasenows, die dessen veralteten militärischen Ordnungsvorstellungen als ungeeignet ausweist, die Erschütterung des neuen Krieges abzuwehren, nähert sich zunächst immer

312

weiter an Pasenow an, geht sogar direkt in die paranoide Wahrnehmung des Majors über: „und durch Maschen des Gewebes grinste das Sündige“ (SW, 469f.), um dann wieder durch einen distanzschaffenden Wechsel ins gnomische Präsens Pasenows militärtheologische Ausführungen in Schutz zu nehmen, weil selbst die Kirche „trotz ihres besseren Rüstzeuges“ (SW, 470) die Antino­ mien des Sündenfalls nicht restlos zu meistern verstehe. Die Ironie trifft hier auch Pasenow, aber stärker noch die Institution Kirche. Das auktoriale MehrWissen demonstrierend, beschließt eine zwischen ironischer Distanz und Affir­ mation oszillierende Aneignung und Professionalisierung der Pasenowschen Gottesstaatsidee den Abschnitt: Aber was Augustinus als Heil der irdischen Welt vorgeschwebt, was vor ihm die Stoiker schon erträumt hatten, die Idee des Gottesstaates […] diese erhabene Idee, sie leuchtete durch das Bild herzzerreißender Gefahren und Leiden, sie war – eher ein Gefühl denn eine Verstandesüberzeugung, eher ein Dämmerlicht als eine tiefe klare Einsicht – auch in der Seele des alten Offiziers aufgekeimt, und so zog sich ein zwar verschwommene und manchmal verzerrte, aber immerhin verfolgbare Linie von Zeno und Seneca, vielleicht sogar schon von den Pythagoräern bis zu den Gedankengängen des Majors v. Pasenow. (SW, 470)

b) Eine Kreisbahn höher Die über den Huguenau-Text verteilte Essay-Folge zum ‚Zerfall der Werte‘ ver­ bindet den kulturkritischen Blick auf die Epoche mit einer deterministischen Geschichtsphilosophie auf werttheoretischer Basis und der Erörterung erkennt­ nistheoretischer Grundsatzfragen. Verfasser ist ein Intellektueller, der mit Dr. Bertrand Müller, dem Ich-Erzähler der Geschichte des Heilsarmeemädchens, sehr wahrscheinlich identisch ist, aber nicht zwingend sein muss.366 Indem der Roman beide Interpretationen – und möglicherweise noch einige mehr367 – eröffnet, bezieht er den Leser in die Verunsicherung aller Identitäten und das Spiel mit den Stellvertretungen. Eine grundsätzlich vorsichtige Bestimmung, die es dennoch erlaubt, enge Bezüge herzustellen, scheint angebracht. Einleuch­ tend spricht beispielsweise Niefanger von zwei homodiegetischen, aufgrund der Berlin-Motivik gegenüber der Huguenau-Handlung distanzierten, ‚extra­ territorialen‘ Erzählern, deren Diskurse sich zusammenlesen und dabei auch 366

367

Auch der deutlichste Hinweis in einer Aussage Müllers, legt dessen Autorschaft für die Abhandlung über den Wertzerfall nahe, aber nicht eindeutig fest: „Zu meiner Verwunderung hatte ich wieder begonnen, mich mit meinen geschichtsphilosophischen Arbeiten über den Wertzerfall zu beschäftigen. Obwohl ich kaum aus dem Haus ging, brachte ich die Arbeit nur langsam vorwärts“ (SW, 488). Einen sehr weit gehenden Vorschlag hat Robert Mandelkow gemacht, indem er Dr. Bertrand Müller nicht nur als identisch mit dem Verfasser der Wertezerfall-Essays, sondern auch mit der Bertrand-Figur aus den beiden ersten Romanen sowie als Autor der Trilogie insgesamt sehen wollte (vgl. Mandelkow: Hermann Brochs Romantrilogie [Anm. 287]).

313

wechselseitig relativieren lassen. 368 Der Epilog ist zwar durch den gemeinsamen Titel zehnter Teil der Essay-Folge, setzt sich durch die Überblicksperspektive und die Engführung aller reflektierenden und erzählenden Elemente der Trilo­ gie von den neun vorausgehenden Abschnitten ab, weshalb dieser ins Metatex­ tuelle übergehende Abschluss dem Gesamterzähler als dem Sprecher höchster Instanz zugeordnet werden kann.369 Die Abhandlung über den Wertezerfall erreicht ihre größte Theoriedichte in drei Exkursen, einem logischen, einem historischen und einem erkenntnis­ theoretischen, ansonsten changieren die einzelnen Abschnitte zwischen freier Spekulation, emphatischer Klage und Traktat. Am Ausgangspunkt der Theorie­ entwicklung steht der Versuch, angesichts der Katastrophe des Krieges das Ver­ hältnis von „Gesamtgeschehen“ und „Einzelschicksal“ (SW, 419) zu verstehen, das sich für den räsonierenden Sprecher zunächst nur an einer jeder Logik entbehrenden Gegenwart zeigt, in der dem Wahnsinn der Ereignisse die Nor­ malität vieler, einander gleichgültiger Einzelleben gegenübersteht. Die These, die er aufgrund seiner Beobachtungen aufstellt, lautet: „es ist eine Zerspaltung des Gesamtlebens und -Erlebens, die viel tiefer reicht als eine Scheidung nach Einzelindividuen, ein Zerspaltung, die in das Einzelindividuum und in seine einheitliche Wirklichkeit selber hinablangt“ (SW, 420). Diese Zerspaltungsdiagnose wird in der Folge verwissenschaftlicht und ge­ schichtsphilosophisch unterlegt. Hier ist auch der Ort, an dem die neukantia­ nisch orientierte Weltanschauungslehre im Roman theoretisch fundiert wird. Insgesamt liefern die Essays eine über den Wertbegriff systematisierte Darle­ gung des Säkularisierungsprozesses. Die Jetztzeit erscheint als Endpunkt einer längeren denkgeschichtlichen Entwicklung, in der „[d]as übergeordnete Total­ system, das religiöse System also“ (SW, 699), durch die Folgen der Reformation seine Geltung verloren hat. Die Reformation habe „mittelalterliche Ganzheit“ (SW, 540) und „platonische Einheit der Kirche“ (SW, 540) aufgelöst und auf diese Weise die „Atomisierung der Wertgebiete“ (SW, 536) in Gang gesetzt. Dieser „Prozeß der fünfhundertjährigen Wertauflösung“ (SW, 533) ist als ein gesetzmäßig verlaufender zu verstehen, der unaufhaltsam in die maximale Aus­ differenzierung der individualisierten Wertgebiete führt. Erkenntnistheoretisch im Zentrum steht das autonome Ich, das als intelligibles ein Abbild der Plato­ nischen Idee in sich trägt und die Welt über Wertsetzungen gestaltet. Diese Setzung erfolgt gemäß der aufgestellten Theorie nicht direkt, sondern über eine vorgeschaltete Setzung eines Wertsubjekts als „einheitsschaffende[m] Aus­ 368 369

314

Vgl. Niefanger: Denkmöglichkeiten (Anm. 350), S. 241–270. Zum Epilog als Metatext vgl. Kubik: Die europäische Ordnung stirbt (Anm. 308), S. 65– 67. Kubik greift vor allem Hasubeks Untersuchung auf (vgl. Peter Hasubek: Konzessio­ nen an den Leser oder die wiedergewonnene Einheit? Zu den Schlüssen von Hermann Brochs Schlafwandler-Trilogie. In: Hermann Broch. Das dichterische Werk. Neue Inter­ pretationen. Hg. von Michael Kessler und Paul Michael Lützeler. Tübingen 1987, S. 94– 101).

leseprinzip“ (SW, 621), aus dem sich dann logisch in unabschließbarer Iteration immer weitere Setzungen ergeben. Das idealistische Konzept des autonomen Ichs soll als Bollwerk gegen den Wertezerfall eigentlich unantastbar bleiben. In den positivistischen Zugeständnissen zeigt sich jedoch, dass dieses Konzept bereits angegriffen und die Gewissheit der Ich-Autonomie, die in der selbst diagnostizierten Situation der Wertatomisierung nur noch ein subjektives Be­ kenntnis darstellen kann, zum Problem geworden ist. Als solches bleibt es unterreflektiert, führt aber zum Versuch, das subjektive Moment erfahrungs­ wissenschaftlich absicherbar zu gestalten.370 Auf diese Weise kann aus dem „Ich bin überzeugt“ (SW, 436) heraus weiterhin auf Allgemeingültigkeit bestanden werden, während die aufgestellten Theoreme ihren Ursprung im eigenen Erle­ ben und Empfinden des Verfassers, seiner Müdigkeit oder seinem persönlichen Architekturgeschmack finden (vgl. SW, 435–437). Die Stilisierung des Sprecher-Ichs, die wiederum beglaubigend auf die Theo­ rie zurückwirken soll, erfolgt in den Wertzerfall-Essays nicht über die Instal­ lation eines großen Schauenden, sondern durch die Selbstinszenierung des empfindsamen, an der Gegenwart leidenden Intellektuellen. Der Verfasser, der im zweiten und dritten Essay-Abschnitt auch als Ich in Erscheinung tritt, präsentiert sich als ein auf vielen Wissensgebieten bewanderter Denker, der sich Stück für Stück ein eindeutiges Gesamtbild über die Lage des Menschen in der Gegenwart verschafft. In dieser Fähigkeit sich von der Masse der auf Berufs- und Privatbereich Eingeschränkten abhebend, bietet er sich zugleich als Identifikationsfigur an, einerseits durch den Einsatz von Wir-Ansprachen, die emphatisch Zeitgenossenschaft signalisieren, diese aber schon auf höherer Ebene verhandeln („Ach, wir wissen von unserer eigenen Zerspaltung […]“, SW, 420), andererseits als gebildeter Gesprächspartner, der scheinbar dialogbe­ reit zur gemeinsamen Befragung der Weltsituation einlädt (vgl. SW, 419, 539), seine Antworten dann aber stets als die überlegenen ausweist und dabei nicht selten vom höflich belehrenden in den Tonfall der Zurechtweisung übergeht (vgl. z. B. SW, 437, 535). Diese Selbststilisierung des Verfassers ist zwar deut­ lich genug, um die Herleitung der Theorie mit der eigenen Persönlichkeit zu stützen; was die Gewinnung endgültiger weltanschaulicher Gewissheit betrifft, erweist sie sich jedoch als gehemmt. Die tröstende Perspektive, die das Leid am Zerfall mildern soll und am Schluss des erkenntnistheoretischen Exkurses aus dem „Prinzip der ‚Setzung der Setzung‘“ (SW, 623) abgeleitet wird, ist bei aller Apodiktik, von einer intellektuellen Scham begleitet, deren rhetorische 370

Anerkannt wird „die ‚positivistische Wurzel‘ alles Platonischen“ (SW, 538), die der Positivismus mit der Verweisung des Individuums auf das einsame Ich freigelegt habe. Ferner gelangt der logische Exkurs zum Ergebnis: „Das Gebäude der formalen Logik ruht auf inhaltlichen Grundlagen“ (SW, 471). Beides läuft auf die Begründung eines logisch fundierten Intuitionismus hinaus, insofern „die ‚Setzung der Setzung‘ in ihrer Gebundenheit an den Logos als die logische Struktur des intuitiven Aktes zu interpretie­ ren“ (SW, 624) sei.

315

Überkompensation gerade anzeigt, dass der Verfasser weltanschaulichen Trost herbeireden kann, selbst aber noch nicht gefunden hat. Unter dem Dach einer „These“ (SW, 622) formulierend trägt er zunächst wissenschaftliche Zurückhal­ tung zur Schau, um dann ein Glaubensbekenntnis abzugeben. In einer typisch weltanschauungsliterarischen Argumentation wird die ‚Setzung der Setzung‘, das methodologische Prinzip der „einheitsstiftenden Erkenntnis“ (SW, 622), als innovativ, als gewagter Vorstoß in der wissenschaftlichen Debatte, und gleich­ zeitig in seiner Einfachheit angepriesen: Dass es „so lange unbemerkt bleiben konnte, darf vielleicht auf seine Selbstverständlichkeit, ja auf seine Primitivität zurückgeführt werden. Ja, Primitivität!“ (SW, 623) Dass das gefundene Prinzip zur Wiederherstellung von Welttotalität formal an der vorzivilisatorischen „primitiven Metaphysik“ anknüpft, erweist sich je­ doch auch als Quelle der Scham. Die Übereinstimmung stellt „eine Beleidigung für den Rationalisten“ dar und kann erst über ein doppeltes ‚Trotzdem‘ zum Trost, nicht nur „für das pantheistische Gefühl“ (SW, 623), sondern „auch für den rationalen Bereich“ (SW, 623f.) werden. Weil sich der getröstete Zustand durch die theoretische Darlegung allein nicht einzustellen scheint, versetzt sich der Verfasser mittels einer hypnotisierenden Rotation der Wortwiederho­ lung und -variation in ihn hinein und beschwört die weiterhin bestehende „Einheit des Menschen und seiner Menschlichkeit“ als „Ebenbild Gottes“ in hymnischem Pathos: Und mag das Ruhende dieser Welt, mag ihr ästhetischer Wert aufgehoben und zur Funktion aufgelöst sein, aufgelöst in die Pflicht zur Frage und zum Zweifel, unangetas­ tet bleibt die Einheit des Begriffes, unangetastet die ethische Forderung, unangetastet bleibt die Rigorosität des ethischen Wertes als reine Funktion, Pflichtwirklichkeit strengster Observanz und als solche immer noch Einheit der Welt, Einheit des Men­ schen, aufscheinend in allen Dingen, unverloren und unverlierbar über Räume und Zeiten hinweg. (SW, 624)

Identifiziert man den Verfasser der Wertezerfall-Essays als Dr. Bertrand Müller, wird zwar die theorieverbürgende persönliche Authentizität des sprechenden Ichs in den Abhandlungen gestärkt,371 die Möglichkeit, überzeugend eine welt­ anschauliche Gewissheit zu vertreten, aber eher weiter eingeschränkt. In der Verunsicherung Müllers, dem sich alles in Zweifel und Fragen auflöst, auch die eigene Biographie, sind die existentiellen Nöte aufgehoben, die in der Abhandlung zum Wertezerfall hinter der Pose des klagenden Intellektuellen verschwinden, weil sie die Überzeugungskraft der Theorie beeinträchtigen wür­ den. Direkt vor dem erkenntnistheoretischen Exkurs, der auch die Vorausset­ 371

316

„We are encouraged to evaluate the truth of what the ‚ich‘ says in Zerfall der Werte with the authenticity of Dr. Bertrand Müller’s existence in Die Geschichte des Heilsarmeemäd­ chens in Berlin. We are, in other words, encouraged […] to evaluate the objective truth as expressed through philosophy and cultural criticism in one strand with the subjective truth or authenticity of the character as expressed in the other“ (Halsall: The Individual and the Epoch [Anm. 308]).

zungen der ‚Biographie- und Geschichtsreife‘ (vgl. SW, 620f.) klären will, steht Bertrand Müllers Selbstbefragung: „Ist dies Resignation? ist dies Abkehr von allem Ästhetischen? wo stand ich einst? mein Leben verdämmert hinter mir, und ich weiß nicht, ob ich gelebt habe oder ob es mir erzählt worden ist, so sehr ist es in den fernen Meeren versunken“ (SW, 617). Die Wertezerfall-Abhandlung ist den Weltanschauungsentwürfen Pasenows und Eschs an theoretischem Gehalt und in der argumentativ-rhetorischen For­ mung weit überlegen, dennoch erfährt auch sie noch eine vorsichtige ironische Relativierung. Unmittelbar nach dem abschließenden Bekenntnis beginnt ein Abschnitt der Ärztehandlung folgendermaßen: „Dr. Flurschütz half Jaretzki beim Anlegen der Prothese“ (SW, 624). Durch diesen Anschluss wirkt das zuvor entwickelte Pathos plötzlich deplatziert und hängt folgenlos über dem nüchternen Krankenhausalltag, die soeben noch als unverlierbare beschwore­ ne Einheit wird gebrochen, sie „entlarvt sich als rhetorische Konstruktion“372. Der Versuch, über die Wertezerfall-Theorie Weltanschauungsgewissheit zu er­ reichen, wird an dieser Stelle den anderen weltanschaulichen Hilfskonstruktio­ nen beigeordnet, von denen die Trilogie erzählt. Aber nicht vom fiktiven Autor der Wertezerfall-Abhandlung geht der ent­ scheidende weltanschauliche Aufschwung aus, der schließlich am wirkungs­ vollsten auf Totalität zielt, sondern von der höchsten Erzählinstanz. An die Wert- und Geschichtsphilosophie wie an das hymnische Bekenntnis des fikti­ ven Weltanschauungsautors knüpft der Epilog an, mit dem der Gesamterzähler die Huguenau-Handlung zu Ende führt und gleichzeitig den Schritt aus dem Roman hinaus ins Nachwort geht. In der Aneignung der Theorie verhält sich der Erzähler dem Verfasser der Wertzerfall-Abhandlung gegenüber dabei wie der in Weltanschauungstexten immanent angelegte Rezipient, der idealerweise die Lehre nachvollziehend das ‚Bündnis‘ mit dem Autor-Ich eingeht und als Überzeugter sein gesamtes Denken und Handeln nun selbst im Sinne der neu gewonnenen Weltanschauung ausrichten kann.373 In diesem fiktionalen Fall versucht der ‚Jünger‘ den Mentor noch zu überflügeln, indem er die Theorie mit dem olympischen Überblick des auktorialen Erzählers verbindet. Dem fik­ tiven Autor Bertrand Müller entgleiten seine „Geschöpfe“ Marie und Nuchem: „sie sind nicht meine Geschöpfe und waren es niemals. Trügerische Hoffnung, die Welt formen zu dürfen!“ (SW, 616). Aber selbst wenn man sich auf das Spiel mit dem inszenierten Autor einlässt, strahlt diese Verunsicherung nur gering auf die gesamte Trilogie aus, in der eine auktoriale Erzählinstanz präsent ist, die sich zwar in die Karten schauen lässt und dem Leser die „Materialien

372 373

Martens: „Das Ganze ist das (Un)wahre“ (Anm. 6), S. 117. Vgl. Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 73), S. 373–375.

317

zum Charakteraufbau“ (SW, 179) zeigt, aber durchweg in der narrativen Ver­ mittlung demonstriert, dass sie ihre Figuren im Griff hat.374 Der Epilog bemüht sich, die Heterogenität der vielen Diskurse aufzuheben, die zwar auch zuvor nicht gleichberechtigt, aber wechselseitig aufeinander be­ zogen und sich gegenseitig relativierend den Romantext bestimmten. Er führt die rationalen wie irrationalen Elemente der Trilogie und alle Redeformen vom theoretischen Argument bis zum Lyrischen zusammen, er amalgamiert die verschiedenen Wissensbereiche der Figuren, deutet sie auf einen Gedanken, die „Wiedergeburt des Wertes“ (SW, 715), hin aus und überführt Ambiguität in Eindeutigkeit. Wie Stašková in ihrer Untersuchung schlüssig dargelegt hat, ist die Vereinheitlichung, die der Epilog vornimmt, in erster Linie ein rheto­ rischer Akt, mit dem sich der Erzähler appellativ an den Leser des Romans wendet. Zweiteilig angelegt geht die Argumentation von einer Gerichtsrede, die den Fall Huguenau und die Frage der Schuldhaftigkeit verhandelt (vgl. SW, 689–702), in eine Beratung über die Zukunft des Menschen über, die das Problem von Verantwortung und Freiheit auf eine allgemeinere Ebene stellt (vgl. SW, 702-715).375 In düsteren Bildern wird in diesem zweiten, ins Meta­ physische überwechselnden Teil die existentielle „Angst des Menschen“ (SW, 714) beschrieben, der sich im Epochenumbruch des historischen Prozesses, zwischen Wertauflösung und Entstehung eines neuen Wertsystems befindet und sich nach Führung sehnt. Die Vorstellung des Kreises, die sich aus dem zyklischen Geschichtsmodell ergibt, wird dabei kontinuierlich mit der linearen des Weges überblendet und kombiniert sich im Gedanken einer zirkulären Höherbewegung auf ein unerreichbares Ziel hin. In diesem Ideenbild treffen in den Schlafwandlern die narrative Weltanschauungsanalyse und der Willen zur Weltanschauungskonstruktion auf der Ebene existentieller Fragen zusammen. Es geht um den Weg des Menschen: der wie eine Kreisbahn zu immer höheren Ebenen ansteigt und auf dem das Gewesene und Versinkende als höheres Ziel wieder aufersteht, um mit jedem Schritt zurückzu­ sinken in die ferneren Nebel: unendliche Bahn des geschlossenen Ringes und der Vollendung […] – unerreichbar für jeden. (SW, 711f.)

374

375

318

„Die dramatisierte Ohnmacht der Gide-artigen Erzähler-Figur Bertrand gegenüber ihren Figuren ist zwar eine bedeutsame modernistische Thematik, aber findet auf jeden Fall kein Korrelat in der Benennungsmacht des auktorialen Erzählers. Im ganzen Roman ist eine strukturelle Kommentar-Ebene anwesend und auf dieses gnomische Sprechen hat die nachträgliche Attribuierung kaum Effekt“ (Martens: Beobachtungen der Moderne [Anm. 291], S. 243). Zu den fiktionsbrechenden Metalepsen in den Romanschlüssen vgl. Hasubek: Konzessionen an den Leser (Anm. 369), S. 93–111. Vgl. die detaillierte Analyse der einzelnen Abschnitte bei Stašková: Nächte der Aufklä­ rung (Anm. 291), S. 190–221.

Die Trostlosigkeit der ewigen Schraubbewegung, die aus dem „Auf-Dauer-Stel­ len der Erlösungsidee“376 resultiert, soll jedoch abgemildert werden, der Epilog mündet in einer Broch-typischen konzessiven Wende mit einem „Und trotz­ dem“, an das sich ein Erlösungsversprechen anschließt, das auf paradoxe Weise zugleich seine Einlösung behauptet: Und trotzdem: schon die Hoffnung auf das Wissen des Führers ist eigenes Wissen, schon das Ahnen der Gnade ist Gnade, und so vergeblich unser Hoffen auch sei, daß mit dem sichtbaren Leben des Führers das Absolute sich im Irdischen jemals erfüllen werde, ewig annäherbar bleibt das Ziel, unzerstörbar die Messiashoffnung der Annäherung, ewig wiederkehrend die Geburt des Wertes. (SW, 715)

Der Umgang mit Interdiskursivität am Romanende entspricht dem der Welt­ anschauungsliteratur. Der Epilog verfährt interdiskursiv, indem er diskursive Vielfalt auf eine Totalperspektive hin synthetisiert. Dazu nutzt er die dichten motivischen Verweisstrukturen, über die im Romantext zuvor das Denken und Erleben der Figuren, aber auch die theoretischen Erörterungen in Beziehung zueinander gesetzt wurden. Gelingen kann diese Synthetisierung jedoch nur, wenn das Oszillieren zwischen Realität und Phantasma, die Ambiguität die­ ses Beziehungsgeflechts ausschaltet. Wie der Epilog der Schlafwandler-Trilogie zeigt, bedeutet dies vor allem einen enormen rhetorischen Aufwand. Diese Dynamik lässt sich hier tatsächlich als eine Aktualisierung der die Textsorte Weltanschauungsliteratur beschreiben, die vom Epilog ausgeht und auch bean­ sprucht, über die gesamte Trilogie zu verfügen. In der fiktional-faktualen Grenzinszenierung zwischen Roman und Nach­ wort findet der Versuch statt, die bereits angelegte starke auktoriale Dominanz rückwirkend zu einer vollständigen Instrumentalisierung des Literarischen aus­ zubauen. Die erzählte Welt wird tendenziell zu einem Raum degradiert, der dazu dient, pseudoempirisch ein theoretisches Konstrukt zu veranschaulichen. In eine ähnliche Richtung zielte bereits das Urteil Menge und Freeses, sie sahen die Figuren in den Schlafwandlern in der „Rolle von Versuchsobjekten“, als „Marionetten“377 der geschichtsphilosophischen Überlegungen Brochs. Wie die Forschung immer wieder zeigen konnte, schafft allerdings der Ro­ mantext selbst Möglichkeiten, der auktorialen Vereinnahmung und auch der Einheitsstiftung im Epilog zu widersprechen. Selbst gegen die größte erzähleri­ sche Anmaßung, die allusive Rahmung des Romans als Weltschöpfung im Epi­ log, versucht der Text mit der auktorialen Ohnmacht des inszenierten Autors Müller noch Signale der ironischen Brechung zu setzen.378 Als widerständig er­ 376

377 378

Benjamin Gittel: „Niemals aber sagt ein lebendiger Mensch zu einem anderen … ‚Sei mein Erlöser!‘“ Drei Arten der Fiktionalisierung von weltanschaulicher Reflexion bei Broch, Lukács und Musil. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 135 (2016), Heft 2, S. 213–244, hier S. 230. Freese und Menges: Broch-Forschung [Anm. 287], S. 60. Vgl. Stašková: Nächte der Aufklärung (Anm. 291), S. 216f.

319

weist sich insbesondere auch die Leitmotivtechnik, das „wichtigste Strukturele­ ment der Erzählung“ 379, die zwar in die Vereinheitlichungsstrategien des aukto­ rialen Erzählers einfließt, aber natürlich auch Rückverfolgungen der Bezüge in die Gegenrichtung erlaubt und daher subversiv wirken kann.380 Die ‚angesteck­ te‘ Erzählerrede bleibt auch noch in ihrem Aufschwung zu weltanschaulicher Gewissheit auf die motivischen Ursprünge im unsicheren Figurenbewusstsein bezogen. Auf der Kommunikationsebene, die in den Schlafwandlern narrativ eröffnet wird, findet sich der Leser eingeladen, sich das Geschehen mit den ge­ lieferten Charaktermaterialien selbst auszudenken (vgl. SW, 179) oder Zeugen­ schaft im Verfahren gegen Huguenau abzulegen381, er kann sich vom Appell des Epilogs beindrucken lassen und das „wir“ (SW, 716) der weltanschaulichen Verbrüderung akzeptieren. Aber diese Leseraktivierung kann ebenso gut auch zu einer Gegenlektüre führen.382 Besonders die Weltanschauungsanalyse, die der auktoriale Erzähler anhand der beschränkten Figuren vornimmt, stiftet dazu an, im narrativen Weltanschauungsentwurf die Konstruktionsmethoden Pasenows und Eschs wiederzufinden und im auktorialen Erzähler deren Geis­ tesverwandten, der nun eine ‚Kreisbahn‘ höher das Unmögliche versucht. Eine solche Gegenlektüre wäre letztlich immer noch eine Bestätigung der im Roman entworfenen Weltanschauungslehre und zeigt, wie schwer es ist, Broch zu entkommen. In seinen Kommentaren zu den Schlafwandlern und zu den Problemen des modernen Romans im Allgemeinen hat Broch versucht, sich noch einmal eine Ebene höher zu kreisen, und es erscheint nur konsequent, dass diese Selbstinterpretationen den Romanen in der Werkausgabe angehängt wurden. Vom ethischen Auftrag der Literatur überzeugt, war Broch unablässig bemüht, für den methodischen Aufbau der Trilogie die „Einheit des Ganzen“383 zu be­ tonen und den Roman als Erkenntnisform mit didaktischem Auftrag zu bewer­ ben. Broch wusste diesen Anspruch selbstbewusst, aber gleichzeitig durchaus mit Selbstironie zu vertreten.384 Es ist daher wahrscheinlich, dass er nichts 379 380

381 382

383

384

320

Vollhardt: Hermann Brochs geschichtliche Stellung (Anm. 175), S. 251. Außer der Leitmotivik gibt es weitere „dissipative Tendenzen“, etwa das Erahnen des auktorialen Erzählers durch die Figuren (vgl. Martens: Beobachtungen der Moderne [Anm. 291], S. 235–247, hier S. 238). Vgl. Stašková: Nächte der Aufklärung (Anm. 291), S. 218. Zu den Freiheiten des Lesers, aber auch der Möglichkeiten, sich im leitmotivischen Verweisungsgeflecht zu verlieren wie die Protagonisten vgl. Martens: Beobachtungen der Moderne [Anm. 291], S. 248–252. Hermann Broch: Problemkreis, Inhalt und Methode der Schlafwandler. In: Ders. Die Schlafwandler. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1978 (Kommentierte Werkausgabe. Bd. 1), S. 723–725, hier S. 725. Im Frühjahr 1931 verriet Broch Daisy Brody in einem Brief mit Blick auf den Esch etwa seine „perfide Hoffnung, daß das Publikum die Gewichtigkeit des Themas trotz aller Deutlichkeit nicht merken wird. Knödel in Gestalt einer Omelette soufflée“ (Broch an Daisy Brody, Brief vom 31. März 1931. In: Hermann Broch und Daniel Brody:

einzuwenden hatte gegen die Rezension in der Neuen Rundschau, die ihn zum genialen gottähnlichen „Schöpfer“ 385 erklärte, dass er aber eben auch der Reaktion Robert Neumanns etwas abgewinnen konnte. Der mit Broch befreundete Neumann hat in einer parodistischen Nachdichtung das Dilemma der Weltanschauungslehre im Roman präzise eingefangen. In einem vierten Romanteil, der den Titel Broch oder die symbolgravide Metarealität trägt, lässt er nun Broch selbst gemeinsam mit Pasenow, Huguenau sowie einem Kind im somnambulen Chor auftreten und sich unter kryptischen Gesängen im Kreis wiegen: „Wie drunten ruht und von Symbolen birst“, sang da auch der Major in Alt, und obwohl er es sehr leise sang, war es vernehmlich genug, daß Broch sich zu ihm hinab­ beugte und ihn auf die Wange küßte. Es war gewissermaßen ein unkörperliches Auf­ diewangeküssen, zumindest wurde es von dem Major so empfunden, angenähert und gleichzeitig entfernt – es war gewissermaßen eine unkörperliche Bewegtheit, eine ge­ wissermaßen verdünnte, neblige, fast schwarze und doch wieder weiße Bewegtheit, die in dem nicht mehr wirklichen Raum und über all dem Stimmengewirr ausgespannt lag, ein klingend verdunkeltes, kaum mehr durchsichtiges Netz in einer merkwürdig abstrakt verworrenen Vereinfachung.386

5. Und trotzdem: Ein Fall nicht-dialogischer Dialogizität? Brochs in den frühen kulturkritischen Schriften beginnende, später neukantia­ nisch geschärfte theoretische Auseinandersetzung mit der Weltanschauungsphi­ losophie und seine epochendiagnostischen Überlegungen, die der dogmatisch verengten ‚Inhaltsmetaphysik‘ eine krisensymptomatische Bedeutung für die ei­ gene Zeit zuweisen, sprechen dafür, dass es sich bei dem intertextuellen Bezug der Romane auf die Weltanschauungsliteratur um einen sehr kommunikativen handelt. Dies gilt zumindest für die Problematisierung des Konzepts Weltan­ schauung. Was den spezifisch problemkaschierenden Einsatz rhetorischer Mit­ tel in der Weltanschauungsliteratur angeht, hat Broch zwar die ‚Schwätzer‘ ge­ konnt vorgeführt, entsprechende Verfahren bei höher geschätzten Autoren und auch im eigenen Schreiben aber wohl als legitim betrachtet. Unter dem Aspekt der rhetorischen Beschaffenheit des weltanschauungsliterarischen Textmusters ist die Kommunikativität der Systemreferenz daher wieder einzuschränken. Dass Broch hier mit zweierlei Maß gemessen hat, zeigt sich auch noch im Schlafwandler-Epilog. Rein die Oberflächenrhetorik betrachtet, unterscheidet sich das expressionistisch gefärbte Pathos, das dort der Erlösungsgewissheit

385 386

Briefwechsel 1930–1951. Hg. von Bertold Hack und Marietta Kleiß. Frankfurt am Main 1971, Sp. 178). Hans A. Joachim: Ausgewählte Romane. In: Die neue Rundschau 44 (1933), Heft 1, S. 128–135, hier S. 129. Robert Neumann: Die Parodien. Mit fremden Federn. Unter falscher Flagge. Theatrali­ sches Panoptikum. Zur Ästhetik der Parodie. Wien 1962 (Gesamtausgabe), S. 261.

321

zuarbeitet, nicht substantiell von dem der Weltgemeinschaftsbeschwörungen, für die Broch den Kulturgeographen Hanslik und seine ‚Blattbrüder‘ noch verspottet hatte. Auch nach dem Kriterium der Referentialität, lässt sich die Systemreferenz als hochgradig, aber spezifisch referentiell bestimmen. Die typisch weltanschau­ ungsliterarischen Ordnungsmethoden werden scharf konturiert, in ihrer Ei­ genart aber besonders im prätextuellen Stadium herausgestellt und themati­ siert. Wie an der Pasenowschen ‚Vernetzung‘ oder Eschs Erlösungsbuchhaltung deutlich wurde, stellt der Romantext dabei selektiv besonders die Stabilisierung vager, meist assoziativ hergestellter Bezüge durch metaphorische Behelfskon­ strukte heraus, aber auch die für Weltanschauungsliteratur charakteristische Aneignung freigewordener religiöser Denkmodelle und Bilder wird betont. Nach den bisherigen Beobachten zum Romantext bietet es sich an, bei eini­ gen Kriterien figurale und narratoriale Intertextualität zu differenzieren, um einzuschätzen, auf welchen Ebenen sich die Schlafwandler wie intensiv system­ referentiell auf die Textsorte Weltanschauungsliteratur beziehen. So auch präzi­ sierend im Fall der Referentialität. Die erzählerische Vermittlung und Analyse des weltanschauungsdilettantischen Denkens auf der Figurenebene ermöglicht es, in elaborierteren, ausformulierten Texten entsprechende Muster wiederzuer­ kennen, sowohl in der ebenfalls auf Figurenebene entstehenden WertezerfallAbhandlung als auch im Weltanschauungsentwurf des auktorialen Erzählers, der sich im Epilog verdichtet. Die figural hergestellte, sehr referentielle intertex­ tuelle Beziehung wirkt sich also bis auf die übergeordnete narratoriale Ebene aus, die für sich alleine betrachtet in einem weniger referentiellen Verhältnis zum weltanschauungsliterarischen Textmuster steht. Die eigene Systemreferenz wird in den Romanen nicht offen angesprochen oder reflektiert, es liegt also keine Autoreflexivität vor. Als stark ausgeprägt erweist sich hingegen die Strukturalität der Referenz. Bereits im Hinblick auf den figuralen intertextuellen Bezug zeigt sich, dass in allen drei Romanteilen die Weltanschauungskonstruktionen durchweg sehr präsent sind, vor allem im zweiten und dritten Teil der Trilogie, wo sich eine Vielfalt der Varianten ergibt, indem zum Weltanschauungsdenken auch die Weltanschauungsproduktion verschiedener Kleingruppen und schließlich mit der Wertzerfall-Abhandlung die philosophisch ambitionierteste Form hinzutritt. Ein Höchstmaß an Struktu­ ralität ergibt sich dann aber narratorial intertextuell durch die Aktualisierung des Prätextmusters im Epilog, mit der potentiell der gesamte Romantext rück­ wirkend als Weltanschauungsliteratur lesbar wird. Die Dialogizität der Systemreferenz zu beurteilen, fällt nicht leicht. Beach­ tet man, wie die Schlafwandler im Figurendenken die prekäre Rückseite der Vertextung von Weltanschauungswissen und das stetige Scheitern der Welt­ anschauungskonstruktion herausarbeiten, stehen Romantext und Textmuster eindeutig in einer kritisch-dialogischen Beziehung. Die übergeordnete narrato­

322

riale Referenz, zumindest vom Anspruch des Epilogs aus betrachtet, ist hinge­ gen nicht dialogisch, sie steht in keiner Spannung zur Prätextfolie. Erst der Einbezug eines aktiven Lesers verändert diese Situation. Die narrative Heraus­ arbeitung des Prätextmusters im Roman befähigt den Leser potentiell, eine Dialogizität herzustellen, die der auktoriale Erzähler für sich selbst im Epilog aufgibt. Nimmt man dieses Angebot an den Leser ernst, eröffnet sich sogar die Möglichkeit, die Systemreferenz der Schlafwandler-Romane auf den Texttyp Weltanschauungsliteratur auf eine deutlich weitergehende Dialogizität hin zu interpretieren. Will man die rhetorische Beschaffenheit der Schlafwandler aus Brochs eigener kulturkritischer Epochendiagnose heraus begreifen, kann man mit Stašková fragen: „muß nicht der Roman Brochs, der das positivistische Zeitalter abbildet und hiermit anklagt, notwendigerweise auch dessen ‚rhetori­ schen‘ Charakter, wie ihn eben Broch auffaßte, auf sich nehmen?“387 Für den systemreferentiellen Bezug auf die Weltanschauungsliteratur lässt sich eine ähn­ liche Überlegung anstellen: Ein Roman, der den eigenen literarischen Status aufgibt und den erzählerischen Diskurs in der figural vorgezeichneten Weltan­ schauungskonfusion untergehen lässt, um zu demonstrieren, dass auch auf der nächsthöheren Kreisbahn, auf der Metaebene der Weltanschauungslehre, keine Weltanschauungsgewissheit zu erreichen ist, steht möglicherweise in besonders kritischem Dialog mit der Weltanschauungsliteratur. In diesem Sinne wäre Brochs (Nicht-)Lösung des Weltanschauungsproblems im Roman eine andere, aber mindestens genauso radikale wie das verdauerte Fragment Musils.

387

Stašková: Nächte der Aufklärung (Anm. 291), S. 197.

323

Schlussbetrachtung Weltanschauungsliteratur entzieht sich dem Argument. Dass es sich „uferlos“1 gestalten würde, Spengler im Einzelnen fachwissenschaftliche Fehler nachzu­ weisen, war außer Robert Musil auch anderen Zeitgenossen des Untergangs­ propheten recht bald klar. Martin Heidegger etwa führte entsprechende Ver­ suche zurück auf ein Unverständnis Spenglers als Zeitphänomen, auf die feh­ lende Einsicht, „daß man das Bewußtsein einer Zeit, eine Zeit selbst, nicht theoretisch-wissenschaftlich argumentierend ‚widerlegen‘ kann, erledigen wie eine verkehrte Theorie.“2 Wie für das Spengler-Werk lässt sich für die Welt­ anschauungsliteratur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts insgesamt die enge Verwobenheit mit den spezifischen Bedürfnissen ihrer Ent­ stehungszeit feststellen: sie ist Produkt einer sich selbst problematisch gewor­ denen Epoche und zugleich an der Konstitution dieses Problembewusstseins beteiligt. Attraktiv für die Leserschaft wurden weltanschauungsliterarische Wer­ ke weniger weil sie argumentativ überzeugten, sondern weil sie das „Wirrnis scheinbar unversöhnlicher Gegensätze“3 zu überblicken und zu ordnen vorga­ ben, ein vage empfundenes Unbehagen in der eigenen Gegenwart in scharfe kulturkritische Botschaften übersetzten und eine Gesamterklärung versprachen. Angesichts eines so umfangreichreich angelegten Unterfangens, das kaum mehr im Rahmen etablierter wissenschaftlicher Rationalitätskriterien zu bewältigen war, verwundert es nicht, dass Weltanschauungsautorinnen und -autoren auch formal dazu tendierten, traditionelle Gattungsgrenzen auszureizen und zu überschreiten. Weltanschauungsliterarische Texte gehören zu den „‚Borderline-Texten‘“4, die sich im Grenzbereich von faktualem und fiktionalem Modus bewegen. Auch aus textanalytischer Sicht erweist sich bei solchen Grenzgängern die bloße Fehlersuche als wenig ergiebig. Nicola Gess, die sich jüngst auf diesem Gebiet mit den Halbwahrheiten beschäftigt hat, die die Verschwörungsnarrative 1 2

3 4

KA, Lesetexte; Band 19, Korrespondenz; Robert Musil an Efraim Frisch, 29. November 1919. Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung (Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1921/22). Hg. von Walter Bröcker und Käte Bröcker-Oltmanns. Frankfurt am Main 21994 (Gesamt­ ausgabe. II. Abteilung. Vorlesungen. Bd. 61), S. 75. Zur Wirkungslosigkeit der fachwissen­ schaftlichen Spengler-Kritik vgl. auch Manfred Schröter: Der Streit um Spengler. Kritik seiner Kritiker. München 1922, S. 36. Heinrich Hart: Am Ausgang des 19. Jahrhunderts (1890). In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 3. Berlin 1907, S. 159–199, hier S. 161. Christian Klein und Matías Martínez: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. In: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Hg. v. dens. Stuttgart 2009, S. 1–13, hier S. 4.

der Gegenwart speisen, hat gezeigt, dass es in solchen Fällen lohnt, „keinen Fakten-, sondern einen Fiktionscheck“5 vorzunehmen und statt der Tatsachen­ konfrontation die Frage nach den Textverfahren in den Mittelpunkt zu stellen. Dieser Blick auf die Texte im faktual-fiktionalen Übergangsbereich ist nicht zuletzt auch eine neuerliche Bestätigung für den Ansatz von Thomé, der für die moderne Weltanschauungsliteratur in seinen Vorüberlegungen ein für die Literaturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte geeignetes Instrumentarium entwickelt hat, um die wesentlichen Strukturmerkmale und Funktionsweisen dieser Textsorte konzeptuell wie begrifflich zu erfassen. Wie die vorliegende Arbeit herausgestellt hat, stehen auch die drei großen Romane der klassischen Moderne, in einem analytischen Verhältnis zur Welt­ anschauungsliteratur. Im Zauberberg, im Mann ohne Eigenschaften und in den Schlafwandlern findet sozusagen ein fiktionaler ‚Fiktionscheck‘ statt. Den Aus­ gangspunkt der Untersuchung bildete die Vermutung, dass diese epochendia­ gnostischen Romanprojekte in einer potentiell spannungsreichen Verbindung zur zeitgenössischen Weltanschauungsliteratur als Textsorte stehen. In einer ex­ emplarischen Hervorhebung Thomas Manns und Robert Musils, die man aber ohne Bedenken auch auf Hermann Broch übertragen kann, hatte bereits Tho­ mé darauf hingewiesen, dass die Romane dieser Autoren auf den Weltanschau­ ungsdiskurs ihrer Zeit bezogen sind, sie „erzählen die verwirrende Konkurrenz der Weltanschauungen mit dem Ziel, auf der Ebene der Figuren die Genesis von Überzeugungen zu erfassen und zugleich einer Desorientierung der Zeit entgegenzuwirken, die die Instanz des Autors teilt.“6 Aus dieser zweifachen Mo­ tivation heraus resultiert ein komplexes Verhältnis zum Weltanschauungsdis­ kurs. Mit ihrem Interesse an den Entstehungsbedingungen weltanschaulicher Überzeugungen haben Mann, Musil und Broch Anteil an einer Entwicklung hin zur „Weltanschauungsforschung“7, die sich seit der Jahrhundertwende parallel zur bloßen Produktion von Weltanschauungstexten abzeichnet und beispielsweise durch die Arbeiten Wilhelm Diltheys, Georg Simmels, Heinrich Rickerts oder Karl Jaspers’ befördert wurde. Wie die wissenschaftlichen Weltan­ schauungsforscher des frühen 20. Jahrhunderts, sind aber auch Mann, Musil und Broch keine unbeteiligten Beobachter, sondern teilweise selbst in die Pro­ blematik ihres Untersuchungsgegenstandes verstrickt.8 Mit Unterschieden, so­ 5 6

7 8

Nicola Gess: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit. Berlin 2021, S. 100. Horst Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen 2002, S. 338–380, hier S. 366f. Ebd., S. 366. Zur Weltanschauungsforschung im beginnenden 20. Jahrhundert, die aus heutiger Sicht auf den Weltanschauungsdiskurs dieser Zeit eher „zum Phänomen selbst als zu dessen Er­ forschung“ (ebd. S. 340f., Fn. 4) zuzurechnen ist, vgl. Thomés Ausführungen ebd. S. 341– 345.

326

wohl was den persönlichen Leidensdruck angeht als auch hinsichtlich der Am­ bitionen für eine systematische theoretische Bearbeitung, finden sich bei allen drei Autoren Versuche, der ‚Desorientierung der Zeit‘ etwas entgegenzusetzen. Diese sind nicht nur durch entsprechende essayistische Äußerungen dokumen­ tiert, auch die spezifisch literarischen Formen der ‚Weltanschauungsforschung‘ im Roman stehen erkennbar im Dienst dieser Bewältigungsbemühungen. Gera­ de das Streben nach einer typologischen Ordnung des Epochenbewusstseins, das sich weniger stark bei Mann, aber deutlich ausgeprägt bei Musil und Broch findet, ist dazu geeignet, den weltanschaulichen Totalitätsgedanken „in entstell­ ter Form“9 zu reproduzieren. Der Einschätzung, inwieweit Mann, Musil und Broch mit ihren Romanen jeweils dieser Gefahr erlegen sind, sei eine knappe Bündelung der Untersu­ chungsergebnisse vorangestellt. Ziel der Arbeit war es, die Beziehung zwischen den drei Romanen und der Weltanschauungsliteratur als eine intertextuelle, genauer eine systemreferentielle zu beleuchten. Um diese Referenz nach dem Kriterium der Kommunikativität beurteilen zu können, also danach, wie be­ wusst ein Autor eine bestimmte Textsorte als Bezugsfolie einsetzt, wurde auch die nichtfiktionale Auseinandersetzung mit der Weltanschauungsliteratur bei Mann, Musil und Broch recherchiert. Aus den rekonstruierbaren Rezeptions­ erfahrungen und expliziten essayistischen Beschäftigungen mit einschlägigen Werken geht hervor, dass die drei Autoren nicht nur aufmerksame Leser welt­ anschauungsliterarischer Schriften waren, sondern im Verlauf der Rezeption jeweils auch von der Einzellektüre abstrahierend zum einen solche Werke als Epochenphänomen markiert, zum anderen Grundkonstellationen der Text­ organisation und charakteristische weltanschauungsliterarische Verfahren be­ schrieben haben. Spätestens als erfahrenen Lesern von Weltanschauungstexten war Mann, Musil und Broch im Umgang mit entsprechenden Büchern, etwa von Haeckel, Chamberlain oder Klages bewusst, es mit einem spezifischen Lite­ raturtyp von besonderer Relevanz für ihre eigene Gegenwart zu tun zu haben. Gleichzeitig konnten sie davon ausgehen, dass auch ihre zeitgenössische Leser­ schaft die typischen Muster dieser Erfolgsbücher erkennen würde. Obwohl für alle drei Romane daher ein hoher Grad an Kommunikativität für ihren Bezug auf die Weltanschauungsliteratur anzunehmen ist, geben die nachge­ zeichneten Rezeptionsprozesse auch Anlass, zu differenzieren. Mit dem Etikett ‚intellektualer Roman‘ hat Thomas Mann das Charakteristikum der Textsorte, die Verquickung von Wissenschaft und Literatur, auf eine schlagworttaugliche Formel gebracht. Eine solche Verdichtung zum dann auch routiniert benutzten 9

Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze. Frankfurt am Main 41997, S. 121. Das Dilemma, vor dem die Weltanschauungstypologie steht, lässt sich mit Marquard folgendermaßen zusammenfassen: „Der Geist ist nicht mehr bei sich, wohl aber aufgeräumt. Und die Philosophie weiß sich fortan in einer Welt, die zwar nicht in Ordnung, aber ersatzweise jedenfalls ordentlich ist“ (ebd.).

327

Gattungsbegriff findet sich weder bei Broch noch bei Musil. In der verglei­ chenden Betrachtung wird allerdings deutlich, dass Musil und Broch demge­ genüber in ihren Beobachtungen genauer auf die gelesenen Weltanschauungs­ texte eingehen und deren Argumentationsstrukturen systematischer prüfen. Beide arbeiten dabei eine dogmatische Pseudosystematik als typisch heraus, unterscheiden sich aber in Präzision und Haltung der Kritik. Während Musil als Essayist die weltanschauungsliterarische Argumentationsstruktur und Rhe­ torik detailliert seziert und souverän vorführt, stehen bei Broch die Bemühun­ gen im Vordergrund, das Konzept Weltanschauung geschichtsphilosophisch und erkenntnistheoretisch zu verstehen und methodologisch in die eigene Begrifflichkeit einzuordnen. Zwar zeigt sich in der Auseinandersetzung mit kuriosen Schriften wie jenen des Weltösterreich-Geographen Hanslik auch bei Broch die spielerische Entlarvung der weltanschauungsliterarischen Rhetorik, bei ernstzunehmenderen, ihm inhaltlich näherstehenden Denkern bleibt das sprachliche Element hingegen oft ein blinder Fleck und Broch lässt sich nicht selten auf den Wettbewerb mit der Weltanschauungsliteratur ein. Darin, als Essayist selbst der weltanschauungsliterarischen Rhetorik zu verfallen, wenn es darum geht, eigene Überzeugungen zu verteidigen, trifft sich Broch wiederum mit dem Autor der Betrachtungen eines Unpolitischen. Dass dieser im Zauberberg allerdings seine eigenen weltanschauungsliterarischen Argumentationen den romanintern kritisierten Weltanschauungsfiguren in den Mund gelegt hat, während in den Schlafwandlern der Versuch unternommen wird, Brochs Wertund Geschichtsphilosophie zu vollenden, spricht für ein stärker auch selbstre­ flektiertes Moment in Manns Kritik der Weltanschauungsliteratur. Trotz der genannten Unterschiede verbindet alle drei Autoren, dass ihr Verhältnis zur Weltanschauungsliteratur sich nie eindeutig als ein ausschließlich negatives zeigt. Wie die untersuchten Rezeptionsprozesse verdeutlichen, stand vor der Kritik oft eine Phase begeisterter Lektüre. Bei Mann und Broch, aber selbst bei Musil bleibt der schärfsten Ablehnung noch ein Rest Sympathie für den Ordnungswillen und das Wagnis zur Totalerklärung beigemischt. Vor diesem systemreferentiell kommunikativen Hintergrund wurden die drei Romane analysiert. Im Zauberberg, im Mann ohne Eigenschaften und der Schlafwandler-Trilogie ließ sich jeweils die weltanschauungsliterarische Basis­ konstellation, die „Interdependenz von Wissensdemonstration, Autobiographie und Spekulation“10, im Figurentext nachweisen. Welche Ausschnitte des Welt­ anschauungsdiskurses in die Fiktion eingehen, mit welchen Wissenselementen operiert wird und welche Charakteristika der Rede in den Vordergrund treten, stellte sich jedoch in den drei Romanen jeweils anders dar. Darüber hinaus wurden Unterschiede deutlich, was die Ebenen des Erzählkonzepts angeht, auf 10

Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 6), S. 359.

328

denen Weltanschauungsrhetorik auftaucht, die Handlungskontexte und Figu­ renkonstellationen, in die diese Rhetorik integriert und den Grad an Relevanz, der ihr zugemessen wird. Zudem zeigte sich, dass die narrativen Strategien va­ riieren, die zum Einsatz kommen, um Weltanschauungsrhetorik darzustellen, aber auch kritisch zu unterlaufen. Klar unterscheiden sich die drei Romanen bereits hinsichtlich des Ausma­ ßes, in dem der Weltanschauungsrede narrativ gestattet wird, ihren Geltungs­ anspruch zu entfalten. Die Gründe dafür liegen auch in der jeweiligen Ausge­ staltung von erzählter Zeit und Figurencharakterisierung. Bis zur ‚großen Kon­ fusion‘, auf die Naphtas und Settembrinis Diskussionen auf dem Zauberberg kontinuierlich hinführen, vergehen sieben Jahre. Diese allgemeine Desorientie­ rung ist im vorkriegskakanischen ‚Seinesgleichen geschieht‘ des Jahres 1913 von Beginn an gegeben und wird lediglich in ihre Konsequenz überführt. Obwohl die Schlafwandler am weitesten historisch ausholen, die Handlungszeit das gesamte wilhelminische Zeitalter umfasst, wird die Entwicklung hin zur weltanschaulichen Konfusion in Stichproben der Jahre 1888, 1903 und 1918, nicht als kontinuierliche Entwicklung erzählt. Den verschieden angelegten Handlungszeiträumen entsprechen die jeweiligen Möglichkeiten für profilierte Weltanschauungsfiguren. Gewichtige Weltanschauungsdenker wie Settembrini und Naphta, die ihre komplexen Theorien ausführlich darlegen und in Rede­ duellen rhetorisch brillieren dürfen, gibt es in den Schlafwandlern nicht. Die erzählte Welt bevölkern hier Weltanschauungsdilettanten, die sich gegen den empfundenen Orientierungsverlust mit gedanklichen Hilfskonstrukten wapp­ nen und an der Sinnstiftung scheitern. Eine Mittelstellung nehmen Musils Fi­ guren ein. Größere Weltanschauungsphilosophen wie Arnheim oder Meingast können sich zwar rhetorisch ausbreiten, der Geltungsanspruch ihrer Reden wird aber von Beginn an mittels ironischer Begleitung durch den Protagonisten oder den Erzähler reglementiert. Die narrative Einbettung der Weltanschauungsentwürfe bestimmt, wie und in welcher Hinsicht die Weltanschauungsfiguren ernst genommen werden. Im Zauberberg werden die Dispute zwischen Naphta und Settembrini kapitel­ füllend zelebriert. Die beiden büßen zwar zuletzt ihre Glaubwürdigkeit ein, dürfen aber lange als einflussreiche geistige Mentoren wirken, deren Wort Gewicht beigemessen wird. Die theoretischen Konstruktionen Naphtas und Settembrinis kommen inhaltlich für Erzähler und Protagonist durchaus in Betracht, auch die kombinatorische Eloquenz des Vortrags stößt zunächst auf Bewunderung. Eine kritische Beobachtung, die beide schließlich der kruden Rabulistik überführt, ist im Zauberberg als Prozess angelegt. Während Hans Castorp und der Erzähler im Zauberberg sich von der Fruchtlosigkeit und strukturellen Identität der weltanschaulichen Wortgefechte also erst überzeu­ gen, bestehen dahingehend im Mann ohne Eigenschaften kaum Illusionen. Was Arnheim, Meingast oder Sepp inhaltlich vortragen, erscheint zwar nicht irrele­

329

vant, aber wesentlich weniger wichtig als die Theorien der beiden ZauberbergPhilosophen. Weltanschauliche Debatten finden sich bei Musil überwiegend indirekt dargestellt wieder, typische Weltanschauungsrhetorik wird häufig stark fragmentiert und kondensiert, oft in den Reflexionen Ulrichs und damit bereits stark vorinterpretiert und ironisiert wiedergegeben. Bei Broch schließlich wer­ den die Weltanschauungskonstrukteure auf der Figurenebene als Theoretiker oder Rhetoriker kaum ernst genommen, umso mehr aber in ihrer inneren Not der Orientierungslosigkeit. Eine narrative Form der Weltanschauungsliteraturanalyse findet in den Ro­ manen Manns, Musils und Brochs statt, indem über die reine Integration von Weltanschauungskonstruktionen und Weltanschauungsrhetorik die konzeptu­ ellen und sprachlichen Besonderheiten registriert und herausgestellt werden. Im Zauberberg realisiert sich diese Analyse oftmals durch kleine, genaue Be­ obachtungen zu den Reden Naphtas und Settembrinis, die vom Erzähler ein­ gestreut werden oder emanzipatorische Erkenntnisse Castorps darstellen. Im Unterschied dazu dringt die narrative Analyse im Mann ohne Eigenschaften wie in den Schlafwandlern tief in die Denkvorgänge der Weltanschauungsfiguren vor und zeigt entlarvungspsychologisch die Situation hinter dem ‚Geheimnis des Ganzen‘. Oft in expliziten Erzählerkommentaren werden die kognitiven Dissonanzen und Fehlleistungen der Figuren erläutert und defizitäre weltan­ schauliche Ordnungssysteme vorgestellt, etwa Arnheims ‚Arbeitsteilung‘ oder die ‚Seelenbuchhaltung‘ Eschs. Wie Krämer in seiner Studie zum erzählten Denken zurecht betont, bleiben bei Musil solche Zusammenhänge mit den Tiefenschichten des Bewusstseins für die Figuren zumindest „prinzipiell der Reflexion zugänglich“11, während die Weltanschauungsdenker in den Schlaf­ wandlern dazu im fortgeschrittenen, im Sinne eines Wertezerfalls gedeuteten historischen Prozess nicht mehr in der Lage sind. Das erzählerische Aufzeigen von Tiefenstrukturen des Weltanschauungsdenkens hat mit der analysierenden zugleich auch eine konterkarierende Funktion, indem es genau die Defizite herauskehrt, die rhetorisch verschleiert werden müssen, und so den ungestör­ ten Aufschwung zur Totalsynthese verhindert. Neben dem Aufdecken vor- und unbewusster Mechanismen finden sich wei­ tere narrative Strategien, die dem Gelingen weltanschaulicher Konstruktionen auf Figurenebene entgegenwirken. Mann und Musil nutzen häufig Formen der Ironisierung und Komisierung, um den Geltungsanspruch weltanschau­ ungsliterarischer Argumentations- und Redeweisen zu desavouieren. Obwohl bei Broch demgegenüber der Modus ernsthafter Kritik überwiegt, finden sich entsprechende Verfahren durchaus auch in den Schlafwandlern. Besonders her­ vorzuheben, weil in allen drei Romanen realisiert, ist die komisierende Kon­ 11

Olav Krämer: Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry. Berlin 2009, S. 544.

330

frontation bedeutungsheischender Welterklärung mit der banalen Realität der jeweiligen Lebenssituation. Dabei dient beispielsweise mehrfach der ironische Verweis auf Körpersprachliches, Mimik oder Gestik, der Demontage einer pa­ thetischen Rede. Diese Möglichkeiten des Romans, den Weltanschauungsvor­ trag für Situationskomik zu nutzen, erweisen sich als besonders geeignet für die Kritik weltanschauungsliterarischer Verfahren innerhalb der Fiktion. Was in der Weltanschauungsliteratur nur durch den Text selbst transportiert wird, die permanente Überzeugungsrhetorik, das bildgewaltige Zusammenzwingen von Gegensätzlichstem, die appellativen Versuche des Verfassers, sich dem Pu­ blikum als Führungsgestalt anzuempfehlen, all dies kann in der erzählten Welt durch Figuration direkt auf- und vorgeführt werden. Wie die Untersuchung ge­ zeigt hat, haben dabei die fast schon szenischen Darstellungen einzelner Wort­ gefechte zwischen Naphta und Settembrini, der kreisenden Versammlungen der Parallelaktion oder der Heilsarmee-Treffen, die Esch besucht, gerade den Effekt, den weltanschauungsrhetorischen Aufbau großer Zusammenhänge zu zerstören. Das selektive exemplarische Anzitieren, die Zerstückelung des umfas­ senden weltanschaulichen Vortrags in einzelne Schlagworte zeigt das Chaos der Ideenschnipsel statt den wahrheitsmächtigen Sprecher. Zur Intensität der intertextuellen Beziehung lässt sich aus vergleichender Perspektive festhalten, dass alle drei Romane die spezifische Eigenart des Prä­ textmusters nicht nur übernehmen, sondern auch thematisieren. Weil im Mann ohne Eigenschaften und in den Schlafwandlern aber sogar dem Weltanschauungs­ denken hinter dem Text analytisch auf den Grund gehen, ist die Systemreferenz nach dem Kriterium der Referentialität in beiden Fällen noch stärker zu ge­ wichten. Kaum nennenswerte Hinweise hat die Untersuchung auf autoreflexive Bezüge ergeben. Im Hinblick auf die Selektivität, zeigte sich, dass jeder Roman für sich zwar mehrere charakteristische Merkmale der Weltanschauungslitera­ tur herausstellt, die vergleichende Zusammenstellung verdeutlicht aber auch die unterschiedlichen Schwerpunkte. So ist im Zauberberg die antithetische Struktur der Weltanschauungsrede besonders stark ausgearbeitet, die die verba­ len Kämpfe zwischen Naphta und Settembrini prägt. Wissensdemonstration ist in Manns Roman, aber auch bei den Weltanschauungsfiguren Musils beson­ ders kenntlich gemacht, der Mann ohne Eigenschaften verfolgt außerdem die Konstruktion privilegierter Beobachterpositionen sehr genau. Die Schlafwandler führen wiederum die Funktionsweisen des freien Analogisierens und Assoziie­ rens besonders deutlich vor und damit auch die Entstehung scheinbar weltum­ spannender Ideen-Netzwerke. Es bietet sich an, Strukturalität und Dialogizität der intertextuellen Beziehung zwischen den Romanen und der Textsorte Welt­ anschauungsliteratur im Zusammenhang zu betrachten, da die strukturelle Re­ ferenz zwar nicht die einzige, aber eine für die Entstehung von Dialogizität besonders wichtige ist. Im Zauberberg nehmen die Weltanschauungsdebatten zwischen Naphta und Settembrini in der zweiten Romanhälfte viel Platz ein,

331

im Mann ohne Eigenschaften sind Weltanschauungsdenken und Weltanschau­ ungsrhetorik im zweiten Teil des ersten Buches, in dem die Parallelaktion im Zentrum steht, sehr präsent, in den Schlafwandlern insbesondere im Esch-, aber auch im Huguenau-Teil. Angesichts der diskursiven Vielfalt, die alle drei Roma­ ne integrieren, spricht das Ausmaß, in dem der Weltanschauungsdiskurs den Text bestimmt, für ein jeweils hohes Maß an Strukturalität. Neben dieser Struk­ turalität im engeren Sinne, besteht aber auch eine in grundlegender Hinsicht auf die Romankonzeption. Wie die Weltanschauungsliteratur versuchen sich auch die drei Romane in Reaktion auf eine krisenhafte Verunsicherung unter Einspeisung heterogenster Wissensdiskurse an einer umfassenden Epochendia­ gnose, aus der heraus ein utopischer Horizont eröffnet wird. Weder Manns Zauberberg noch Musils Mann ohne Eigenschaften werden zur Weltanschauungs­ literatur, dennoch entstehen gerade durch die strukturelle Verwandtschaft im­ mer wieder Momente intensiver dialogischer Referenz, etwa wenn Ulrich die eigene Nähe zum Weltanschauungsdenken erkennt. Der interessanteste Befund im Hinblick auf Strukturalität und Dialogizität ergibt sich jedoch für Brochs Schlafwandler-Trilogie. Die auf der Figuren- und Handlungsebene in den Schlafwandlern dargestell­ te weltanschauliche Verunsicherung wird auf der reflektierenden Ebene des werttheoretischen Essays kommentiert, auf der zugleich versucht wird, eine rezeptionssteuernde Kommunikationsbeziehung zum Romanleser herzustellen. In der Analyse des Weltanschauungsdenkens auf Figurenebene ist der Roman noch von kritisch-dialogischer Distanz zur Textsorte bestimmt, auf die er sich bezieht. Im pathosgeladenen Übergang vom Roman ins Nachwort jedoch hebt der Epilog die Pluralität der Diskurse für die Verkündung einer ‚Wiederge­ burt des Wertes‘ auf, die eine vorher herrschende Ambiguität zugunsten der weltanschaulichen Botschaft suspendieren soll. Wie sich gezeigt hat, wird hier einerseits der Dialog eingestellt, da durch die bloße Aktualisierung des Prä­ textmusters keinerlei semantische oder ideologische Spannung mehr besteht. Andererseits ist durch die vorhergehende narrative Analyse das Weltanschau­ ungsdenken so prägnant gekennzeichnet, dass für den Leser die Möglichkeit besteht, eben jene Dialogizität herzustellen, die der Erzähler für sich selbst im Epilog aufgibt. In seiner Referenz auf die Weltanschauungsliteratur steht der Roman der klassischen Moderne mit Manns Zauberberg, Musils Mann ohne Eigenschaften und Brochs Schlafwandler an einem entscheidenden Punkt. Die strukturelle Nähe ermöglicht den äußerst kritischen Dialog, aber auch das vollständige Ineinanderübergehen. Mit dieser Verortung an einer Kippstelle treffen sich Ergebnisse der vorliegenden Arbeit mit Beobachtungen Schwarzwälders, etwa in Bezug auf die Möglichkeiten der satirisch-kritischen Darstellung des Weltan­ schauungsdiskurses auf der Figurenebene. Schwarzwälder hat die Entwicklung außerdem noch weiterverfolgt und konnte für Musils Fortsetzungsreihen zum

332

Mann ohne Eigenschaften sowie für Brochs Verzauberung „eine Intensivierung der mimetischen Partizipation am Weltanschauungsdiskurs, und auch eine in­ tensivierte Übernahme von Motiven und Topoi des Weltanschauungsromans“12 feststellen. Aus dieser diachronen Perspektive sind der Mann ohne Eigenschaften und die Schlafwandler weltanschaulich konturierte Zeitromane, die in einer gattungshistorischen Endphase als Weltanschauungsromane 2. Ordnung den schon von Thomé ausgemachten „Trend zur Amalgamierung von Roman und Weltanschauungsliteratur“13 weiter seinem Abschluss entgegenbringen. Der synchrone Blick auf die intertextuelle Beziehung zwischen Roman und Text­ sorte stellt dagegen stärker auf das Zusammenspiel der dialogischen Faktoren ab, die eine solche Amalgamierung befördern oder aber gerade verhindern. Hierfür den kommunikativen Kontext über die außerfiktionale Beschäftigung der Autoren mit den Werken Weiningers, Spenglers oder Rathenaus zu rekon­ struieren, hat sich als sehr lohnend erwiesen. In ihrer systemreferentiellen Bezo­ genheit auf die Weltanschauungsliteratur eröffnet sich so das jeweils spezifische Reibungspotential der Romane, das sich aus einer Mischung von Affinität und Distanz ergibt, von der schon die Weltanschauungslektüren Manns, Musils und Brochs geprägt waren.

12 13

Florens Schwarzwälder: Der Weltanschauungsroman 2. Ordnung. Probleme literarischer Modellbildung bei Hermann Broch und Robert Musil. Bielefeld 2019, S. 346. Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp (Anm. 6), S. 366.

333

Siglen- und Literaturverzeichnis Siglen KA

Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Tran­ skriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino. Klagenfurt 2009. MoE I Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes Buch. Kapitel 1– 75. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2016 (Gesamtausgabe. Bd. 1). MoE II Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes Buch. Kapitel 76–123. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2016 (Gesamtaus­ gabe. Bd. 2). MoE III Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Zweites Buch. Kapitel 1–48. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2017 (Gesamtausga­ be. Bd. 3).

Quellen a) Untersuchte Handexemplare Broch-Bibliothek an der Universität Klagenfurt Schopenhauer, Arthur: Sämmtliche Werke. Hg. von Julius Frauenstädt. 2. Auf­ lage, neue Ausgabe. Bd. 1–6. Leipzig 1908. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morpholo­ gie der Weltgeschichte. Bd. I: Gestalt und Wirklichkeit. Wien und Leipzig 1918. Spengler, Oswald: Jahre der Entscheidung. Erster Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung. 61.–80. Tausend. Wien und Leipzig 1918. Weininger, Otto: Über die letzten Dinge. Mit einem biographischen Vorwort von Moritz Rappaport. 2., veränderte Auflage. Wien und Leipzig 1907. Thomas-Mann-Archiv an der ETH Zürich Bertram, Ernst: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin 1918. Gundolf, Friedrich: Goethe. Berlin 1916.

Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morpholo­ gie der Weltgeschichte. Bd. I: Gestalt und Wirklichkeit. Wien und Leipzig 1918. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morpholo­ gie der Weltgeschichte. Bd. II: Welthistorische Perspektiven. 16.–32. Auflage. München 1922. b) Werke Hermann Broch Broch, Hermann; Brody, Daniel: Briefwechsel 1930–1951. Hg. von Bertold Hack und Marietta Kleiß. Frankfurt am Main 1971. Broch, Hermann: Kommentierte Werkausgabe in 13 Bänden. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1975–1986. Bd. 1: Die Schlafwandler. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1978. Bd. 8: Gedichte. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1980. Bd. 9,1: Schriften zur Literatur 1. Kritik. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1975. Bd. 9,2: Schriften zur Literatur 2. Theorie. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1975. Bd. 10,1: Philosophische Schriften 1. Kritik. Frankfurt am Main 1977. Bd. 10,2: Philosophische Schriften 2. Theorie. Frankfurt am Main 1977. Bd. 11: Politische Schriften. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1978. Bd. 12: Massenwahntheorie. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1979. Bd. 13/1: Briefe 1 (1913–1938). Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1981. Broch, Hermann: Bücher, von denen man spricht. In: Moderne Welt 2 (1920), Heft 7, S. 24. Broch, Hermann: Das Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1995. Hib, K. L. [Broch, Hermann]: Ein offiziöser Gschaftlhuber der Kultur. In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift 21 (1918), Heft 27, vom 6. Juli 1918, S. 433–438.

336

Robert Musil Musil, Robert: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind. In: Der neue Merkur 4 [1921], Heft 12, S. 841–858. Musil, Robert: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographi­ sches. Essays und Reden. Kritik. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978 (Gesammelte Werke, zwei Bände. Bd. II). Musil, Robert: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtli­ cher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino. Klagenfurt 2009. Musil, Robert: Gesamtausgabe. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2016-2021. Bd. 1: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes Buch. Kapitel 1–75. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2016. Bd. 2: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes Buch. Kapitel 76–123. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2016. Bd. 3: Der Mann ohne Eigenschaften. Zweites Buch. Kapitel 1–48. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2017. Bd. 9: In Zeitungen und Zeitschriften I. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2020. Bd. 11: In Zeitungen und Zeitschriften III. Hg. von Walter Fanta. Salzburg und Wien 2021. Musil Online: www.musilonline.at Thomas Mann Mann, Thomas: Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910– 1955. Hg. von Inge Jens. Pfullingen 1960. Mann, Thomas: Briefe. Bd. I: 1889–1936. Hg. von Erika Mann. Frankfurt am Main 1962. Mann, Thomas: Briefe. Bd. III: 1948–1955 und Nachlese. Hg. von Erika Mann. Frankfurt am Main 1965. Mann, Thomas: Einführung in den ‚Zauberberg‘. Für Studenten der Universi­ tät Princeton. In: Ders.: Reden und Aufsätze 3. 2., durchgesehene Auflage. Frankfurt am Main 1974 (Gesammelte Werke in 13 Bänden. Bd. 11), S. 602– 617. Mann, Thomas: Schopenhauer. In: Ders.: Reden und Aufsätze 1. 2., durchgese­ hene Auflage. Frankfurt am Main 1974 (Gesammelte Werke in 13 Bänden. Bd. 9), S. 528–580.

337

Mann, Thomas: Tagebücher 1935–1936. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frank­ furt am Main 1978. Mann, Thomas: Tagebücher 1918–1921. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frank­ furt am Main 1979. Mann, Thomas: Tagebücher 1937–1939. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frank­ furt am Main 1980. Mann, Thomas: Selbstkommentare: „Der Zauberberg“. Hg. von Hans Wysling. Frankfurt am Main 1993. Mann, Thomas: „Geist und Kunst“. Thomas Manns Notizen zu einem „Litera­ tur“-Essay. Ediert und kommentiert von Hans Wysling. In: Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns. Hg. von Paul Scherrer und Hans Wys­ ling. Bern und München 22008, S. 123–233. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hg. von Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurz­ ke, Terence J. Reed, Thomas Sprecher, Hans R. Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich. Frankfurt am Main 2001ff. Bd. 2,1: Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. und textkritisch durchgesehen von Terence Reed, unter Mitarbeit von Malte Herwig. Frankfurt am Main 2004. Bd. 5,1: Der Zauberberg. Hg. und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann. Frankfurt am Main 2002. Bd. 5,2: Der Zauberberg. Kommentar von Michael Neumann. Frankfurt am Main 2002. Bd. 13,1: Betrachtungen eines Unpolitischen. Hg. und textkritisch durchgese­ hen von Hermann Kurzke. Frankfurt am Main 2009. Bd. 13,2: Betrachtungen eines Unpolitischen. Kommentar von Hermann Kurzke. Frankfurt am Main 2009. Bd. 14,1: Essays I 1893–1914. Hg. und textkritisch durchgesehen von Hein­ rich Detering, unter Mitarbeit von Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 2002. Bd. 15,1: Essays II 1914–1926. Hg. und textkritisch durchgesehen von Her­ mann Kurzke, unter Mitarbeit von Jöelle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 2002. Bd. 15,2: Essays II 1914–1926. Kommentar von Hermann Kurzke. Hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke, unter Mitarbeit von Jöelle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 2002. Bd. 22: Briefe II 1914–1923. Ausgewählt und hg. von Thomas Sprecher, Hans Rudolf Vaget und Cornelia Bernini. Frankfurt am Main 2004.

338

Weitere Autorinnen und Autoren [Anonymus:] Mitteilungen des Vorstandes. In: Der Monismus. Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung und Kulturpolitik. Blätter des Deutschen Mo­ nistenbundes 22 (1908), S. 143–145. [Anonymus:] Was wir wollen. In: Neue Weltanschauung. Monatsschrift für Kulturfortschritt auf naturwissenschaftlicher Grundlage 1/1 (1908), Heft 1, S. 1–2. Blei, Franz: Das große Bestiarium der modernen Literatur. Berlin 1922. Bonus, Arthur: Hexenprozesse. In: März. Eine Wochenschrift 9 (1915), Band 4 (Oktober bis Dezember), S. 243–251. Brandes, Georg: Goethe. Berlin 1915. Dallago, Carl: Otto Weiniger und sein Werk. Innsbruck 1912. Dallago, Carl: Kleine Sämereien. In: Der Brenner 4 (1914), Heft 8, S. 400–402. Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1984 (Nachdruck 2002). Feilberg, Ludwig: Zur Kultur der Seele. Beiträge zu einer praktischen Psycho­ logie. Jena 1906. Hanslik, Erwin: Das Institut für Kulturforschung in Wien [o. J.] Hanslik, Erwin: Österreich als Naturforderung. Wien 1917. Hanslik, Erwin: Österreich. Erde und Geist. Wien 1917. Hanslik, Erwin [Schriftleitung]: Erde. Organ der Weltkulturgesellschaft. Zei­ tung für Geistesarbeit der gesamten Menschheit [1918], Nr. 1. Hanslik, Erwin: Geographische Einleitung. In: Weltgeschichte in gemeinver­ ständlicher Darstellung. Hg. von Ludo Moritz Hartmann. Erster Band: Ein­ leitung und Geschichte des alten Orients. Gotha 1919, S. 1–13. Joachim, Hans A.: Ausgewählte Romane. In: Die neue Rundschau 44 (1933), Heft 1, S. 128–135. Key, Ellen: Das Jahrhundert des Kindes. Berlin 1902. Key, Ellen: Die Entfaltung der Seele durch Lebenskunst. In: Die neue Rund­ schau 16 (1905), Heft 6, S. 641–686. Keyserling, Graf Hermann [sic]: Deutschlands wahre politische Mission. Darmstadt 1919. Keyserling, Graf Hermann [sic]: Was uns not tut. Was ich will. Darmstadt 1919. Keyserling, Graf Hermann: Das Reisetagebuch eines Philosophen. 2 Bde. Darmstadt 1920. Lambek, Carl: Zur Harmonie der Seele. Studien über Kultivierung des psychi­ schen Lebens. Jena 1907.

339

Müller, Robert: [Rezension zu] Österreich, Erde und Geist. Von Erwin Hans­ lik. Verlag des Instituts für Kulturforschung. In: Ders.: Kritische Schriften II. Mit einem Anhang hg. von Ernst Fischer. Paderborn 1995 (Werkausgabe in Einzelbänden. Bd. 10), S. 16–18. Neubauer, Theodor: Vom Recht des Kindes. In: Freideutsche Jugend. Monats­ schrift für das junge Deutschland 6, Heft 2 (1920), S. 59–60. Neubauer, Theodor: Die neue Erziehung der sozialistischen Gesellschaft: Auf­ sätze und Reden zur Schulpolitik und Pädagogik. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Sonja Müller. Berlin 1973. Neumann, Robert: Die Parodien. Mit fremden Federn. Unter falscher Flagge. Theatralisches Panoptikum. Zur Ästhetik der Parodie. Wien, München und Basel 1962 (Gesamtausgabe). Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. In: Ders.: Der Fall Wagner. GötzenDämmerung. Nachgelassene Schriften: Der Antichrist. Ecce Homo. Diony­ sos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Hg. von Giorgio Colli und Maz­ zino Montinari. München, Berlin und New York 112011 (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Bd. 6), S. 9–53. Nordhausen, Richard: Der Schuß im Nebel. In: Münchner neueste Nachrich­ ten. Nr. 517, vom 5.11.1903. Probst, Ferdinand: Der Fall Otto Weininger. Eine psychiatrische Studie. Wies­ baden 1904. Hartenau, W. [Rathenau, Walther]: Ignorabimus. In: Die Zukunft 22 (29.3. 1898), S. 524–536. Rathenau, Walther: Zur Mechanik des Geistes. Berlin 1913. Saudek, Robert: Geleitwort. In: Otto Weininger: Gedanken über Geschlechts­ probleme. Hg. von Robert Saudek. Berlin 1907, S. 7–14. Schiller, Friedrich: Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt am Main 1992 (Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8). Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften II. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich 1988 (Sämtliche Werke in fünf Bänden. Bd. 4). Sieger, Robert: [Rezension zu] Erwin Hanslik, Österreich als Naturforde­ rung. In: Deutsche Literaturzeitung 39 (1918), Nr. 15, vom 13. April 1918, Sp. 311–316. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morpholo­ gie der Weltgeschichte. Bd. I: Gestalt und Wirklichkeit. 23.–32., unveränder­ te Auflage. München 1920. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morpho­ logie der Weltgeschichte. Vollständige Ausgabe in einem Band. München 1963. Stern, William: Vorgedanken zur Weltanschauung (niedergeschrieben im Jahre 1901). Leipzig 1915. 340

Sturm, Bruno [Breitner, Burghard]: Gegen Weininger. Ein Versuch zur Lö­ sung des Moralproblems, Wien und Leipzig 1912. Troeltsch, Ernst: [Rezension zu] Hermann Graf Keyserling: Das Reisetagebuch eines Philosophen (1920). In: Ders.: Rezensionen und Kritiken (1915–1923). Hg. von Friedrich Wilhelm Graf. Berlin 2010 (Kritische Gesamtausgabe. Bd. 13), S. 483–490. Weininger, Otto: Über die letzten Dinge. Mit einem biographischen Vorwort von Moritz Rappaport. Wien und Leipzig 1904. Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Im Anhang Weiningers Tagebuch, Briefe August Strindbergs sowie Beiträge aus heutiger Sicht von Annegret Stopczyk, Gisela Dischner und Roberto Calasso. Nachdruck der 1. Auflage, Wien, Mai 1903. München 1997. Weininger, Otto: Eros und Psyche. Studien und Briefe 1899–1902. Hg. von Hannelore Rodlauer. Wien 1990.

Darstellungen Abouzid, Sayed Ahmad Fathalla: Hermann Brochs Romane als Epochenanaly­ se und Zeitkritik. Zum Verhältnis von Erzählstrukturen und Argumentati­ onsformen in der modernen deutschsprachigen Prosa. Frankfurt am Main 2001. Agard, Olivier; Barbara Beßlich (Hg.): Kulturkritik zwischen Deutschland und Frankreich (1890–1933). Frankfurt am Main 2016. Ajouri, Philip: Erzählen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus: Friedrich Theodor Vischer und Gottfried Keller. Berlin, New York 2007. Albrecht, Andrea, Franziska Bomski: Mathematik, Logik, Geometrie, Wahr­ scheinlichkeitstheorie. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. von Birgit Nübel und Norbert Christian Wolf. Berlin und Boston, S. 504–516. Allen, Ann Taylor: „Das Recht des Kindes, seine Eltern zu wählen“: Eugenik und Frauen-bewegung in Deutschland und Großbritannien 1900–1933. In: Ellen Keys reformpädagogische Vision. Das „Jahrhundert des Kindes“ und seine Wirkung. Hg. von Meike Sophia Baader, Juliane Jacobi und Sabine Andresen. Weinheim und Basel 2000, S. 105–124. Alt, Peter-André: Ironie und Krise. Ironisches Erzählen als Form ästhetischer Wahrnehmung in Thomas Manns Der Zauberberg und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, 2. veränderte Auflage. Frankfurt am Main 1989. Amann, Klaus; Grote, Helmut: Die Wiener Bibliothek Hermann Brochs. Kom­ mentiertes Verzeichnis des rekonstruierten Bestandes. Wien und Köln 1990. Anton, Herbert: Die Romankunst Thomas Manns. Begriffe und hermeneuti­ sche Strukturen, Paderborn 1972.

341

Anz, Thomas: Indikatoren und Techniken der Transformation theoretischen Wissens in literarische Texte – am Beispiel der Psychoanalyse-Rezeption in der literarischen Moderne. In: Literatur und Wissen(schaften) 1890–1930. Hg. von Christine Maillard und Michael Titzmann. Stuttgart 2002, S. 331– 347. Arbeitskreis katholischer Schulen in freier Trägerschaft (Hg.): Das Jahrhun­ dert des Kindes – am Ende? Ellen Key und der pädagogische Diskurs: eine Revision. Engagement. Zeitschrift für Erziehung und Schule 4 (1998). Argelès, Daniel: Der „Zauberberg“ und der Erste Weltkrieg. Thomas Manns schwankende Geschichtsauffassung in der ersten Hälfte der Zwanziger Jahre. In: Die streitbare Klio. Zur Repräsentation von Macht und Geschichte in der Literatur. Hg. von Elizabeth Guilhamon und Daniel Meyer. Frankfurt am Main u. a. 2010, S. 71–85. Arntzen, Helmut: Musil-Kommentar zu dem Roman „Der Mann ohne Eigen­ schaften“. München 1982. Arntzen, Helmut: Satirischer Stil bei Robert Musil. Zur Satire Robert Musils im „Mann ohne Eigenschaften“. Bonn 31983. Arrighetti, Anna Maria: Mensch und Werk in kritischen Publikationen des George-Kreises. Zu Friedrich Gundolfs Goethe und zu Ernst Bertrams Nietz­ sche – Versuch einer Mythologie. Heidelberg 2008. Aurnhammer, Achim: Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen. Berlin, Bos­ ton 2013. Baader, Meike Sophia: Erziehung als Erlösung. Transformationen des Religiö­ sen in der Reformpädagogik. Weinheim und München 2005. Barnouw, Dagmar: Massenpsychologie als Metaphysik: zu Brochs Begriff eines Irdisch-Absoluten. In: Musil-Forum 3 (1977), S. 159–191, Musil-Forum 4 (1978), S. 60‑103, S. 244–269. Barnouw, Dagmar: Zeitbürtige Eigenschaften. Musils Rathenaukritik. In: Ro­ bert Musil – Theater, Bildung, Kritik. Internationales Robert-Musil-Sommer­ seminar 1984. Hg. von Josef Strutz und Johann Strutz. München 1985, S. 166–184. Barnouw, Dagmar: Weimar Intellectuals and the Threat of Modernity. Bloom­ ington und Indianapolis 1988. Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literatur­ wissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005. Baßler, Moritz: Literarische und kulturelle Intertextualität in Thomas Manns „Der Kleiderschrank“. In: Deconstructing Thomas Mann. Hg. von Alexander Honold, Niels Werber. Heidelberg 2012, S. 15–27.

342

Bauer, Matthias: „Diese Lust an der Kraft des Geistes …“. Konstruktive Ironie und Dissipation in Robert Musils ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘. In: Geist und Literatur. Modelle der Weltliteratur von Shakespeare bis Celan. Mit einer Einleitung von Annette und Linda Simonis. Hg. von Edith Düsing und Hans-Dieter Klein. Würzburg 2008, S. 217–239. Baumann, Gerhart: Robert Musil. Eine Vorstudie. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 34, N. F. 3 (1953), S. 292–315. Bayertz, Kurt; Gerhard, Mariam; Jaeschke, Walter (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Der Materia­ lismus-Streit. Hamburg 2007. Bayertz, Kurt; Gerhard, Mariam; Jaeschke, Walter (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 2: Der Darwinis­ mus-Streit. Hamburg 2007. Bayertz, Kurt; Gerhard, Mariam; Jaeschke, Walter (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 3: Der Ignorabi­ mus-Streit. Hamburg 2007. Becker, Sabina; Kiesel, Helmuth: Literarische Moderne. Begriff und Phäno­ men. In: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Hg. von dens. unter Mitarbeit von Robert Krause. Berlin 2007, S. 9–35. Beller, Steven: Otto Weininger as Liberal? In: Jews and Gender. Responses to Otto Weininger. Hg. von Nancy A. Harrowitz und Barbara Hyams. Philadel­ phia 1995, S. 91–101. Bendels, Ruth: Erzählen zwischen Hilbert und Einstein: Naturwissenschaft und Literatur in Hermann Brochs „Eine methodologische Novelle“ und Robert Musils „Drei Frauen“. Würzburg 2008. Bertschinger, Andreas: Hermann Brochs „Pasenow“ – ein künstlicher FontaneRoman?. Zürich und München 1982. Beßlich, Barbara: Wege in den ‚Kulturkrieg‘. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt 2000. Beßlich, Barbara: Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Speng­ ler. Berlin 2002. Beßlich, Barbara: Mütter im Visier. ‚Versehen‘ und ‚Telegonie‘ in Otto Wei­ ningers Geschlecht und Charakter – mit einem Seitenblick auf Weiningers Anleihen bei Goethe, Ibsen und Zola. In: KulturPoetik 4 (2004), S. 19–36. Beßlich, Barbara: „Das wichtigste Buch!“ Zu Thomas Manns Spengler-Rezepti­ on im Zauberberg. In: Linke und rechte Kulturkritik. Interdiskursivität und Krisenbewusstsein. Hg. von Gilbert Merlio und Gérard Raulet. Frankfurt am Main 2005, S. 267–285. Beßlich, Barbara: „In Zeiten der Vorbereitung größerer Dinge“. Die Jahrhun­ dertwende als Epochenschwelle der Moderne in Rudolf Euckens neoidealisti­ scher Weltanschauungsliteratur. In: IASL 30 (2005), S. 167–187.

343

Beßlich, Barbara: Kulturtheoretische Irritationen zwischen Literatur und Wis­ senschaft. Die Spengler-Debatte in der Weimarer Republik als Streit um eine Textsorte. In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 10 (2005/2006), S. 45–72. Beßlich, Barbara: Ein verschlissener Klassiker und sein segmentiertes Werk. Die Rekanonisierung von Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen in der Weltanschauungsliteratur von Wagner, Chamberlain, Eucken, Ziegler, Kühnemann, Kommerell, George und Wolfskehl. In: Die Präsentation kanonischer Werke um 1900. Semantiken, Praktiken, Materiali­ tät. Hg. von Philip Ajouri. Berlin 2017, S. 43–56. Beßlich, Barbara: Nach Nietzsche. Argumentationen und Textformen der Kul­ turkritik um 1900 zwischen Poesie und Wissenschaft. In: Euphorion 112 (2018), S. 463–477. Beßlich, Barbara; Fossaluzza, Cristina (Hg.) unter Mitarbeit von Tillmann Heise und Bernhard Walcher: Kulturkritik der Wiener Moderne (1890– 1938). Heidelberg 2019. Beßlich, Barbara: Weltanschauungsliteratur in der Wiener Moderne. Die Poli­ tisierung des Dialog-Essays bei Leopold von Andrian. In: Weltanschauung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Hg. von Anna S. Brasch und Christian Meierhofer. Berlin 2020, S. 185–204. Beßlich, Barbara: Nietzsche und die Weltanschauungsliteratur. Denkfiguren – Autorinszenierungen – Textformate. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 25 (2021), S. 175–188. Biebuyck, Benjamin: „Ein inniges Ineinander von Bildern“. Versuch einer Va­ lenzumschreibung von Verbalmetaphorik und indirektem Vergleich im ers­ ten Buch von Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. In: Musil anders. Neue Erkundungen eines Autors zwischen den Diskursen. Hg. von Gunther Martens, Clemens Ruthner und Jaak De Vos. Bern 2009, S. 170‑210. Bier, Jean Paul: Wiener Chaophobie im Frühwerk Hermann Brochs. In: Her­ mann Broch 1886–1986. Hg. von Jan Aller und Jattie Enklaar. Amsterdam 1987, S. 27–40. Blankerz, Herwig: Der Erzieher des Zauberberg – Lodovico Settembrini. Eine Studie zum Verhältnis von Inhalt und Ethos humanistischer Pädagogik. In: Zauberberg erneut bestiegen. Hg. von Walter Müller, Herwig Blankerz und Emmanuel Goldstein. Wetzlar 1981, S. 65–78. Blasberg, Cornelia: Krise und Utopie. Kulturkritische Aspekte in Robert Mu­ sils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Stuttgart 1984. Böhme, Hartmut: Anomie und Entfremdung. Literatursoziologische Untersu­ chungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Kronberg im Taunus 1974.

344

Böhn, Andreas: Intertextualität. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 2: Methoden und Theorien. Hg. von Thomas Anz. Stuttgart und Weimar 2007, S. 204–216. Bolay, Ann-Christin: „eine durch und durch poetische, künstlerische Natur“: Zu Ernst Bertrams und Theobald Zieglers Rezeption des Dichters Nietzsche. In: Nietzsche als Dichter. Lyrik – Poetologie – Rezeption. Hg. von Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann. Berlin 2017, S. 445–463. Bollenbeck, Georg: Goethe als kulturkritische Projektion bei Chamberlain, Simmel und Gundolf. In: Goethe in Gesellschaft. Zur Geschichte einer lite­ rarischen Vereinigung vom Kaiserreich bis zum geteilten Deutschland. Hg. von Jochen Golz und Justus H. Ulbricht. Köln 2005, S. 13–32. Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders. München 2007. Bollenbeck, Georg: Weltanschauungsbedarf und Weltanschauungsangebote um 1900. Zum Verhältnis von Reformoptimismus und Kulturpessimismus. In: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Bd. 1. Hg. von Kai Buchholz u. a. Darmstadt 2001, S. 203–207. Borchmeyer, Dieter: „Ein Dreigestirn ewig verbundener Geister“. Wagner, Nietzsche, Thomas Mann und das Konzept einer übernationalen Kultur. In: Wagner – Nietzsche – Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich. Hg. von Heinz Gockel, Michael Neumann und Ruprecht Wimmer. Frankfurt am Main 1993, S. 1–15. Borgard, Thomas: Philosophische Schriften. In: Hermann Broch-Handbuch. Hg. Von Michael Kessler und Paul Michael Lützeler. Berlin und Boston 2016, S. 359–400. Borgards, Roland: Wissen und Literatur. Eine Replik auf Tilmann Köppe. In: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), Heft 2, S. 425–428. Borgards, Roland u. a. (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2013. Böschenstein, Bernhard: Ernst Bertrams Nietzsche – eine Quelle für Thomas Manns Doktor Faustus. In: Euphorion 72 (1978), S. 68–83. Böschenstein, Bernhard: Ernst Bertram und der „Zauberberg“. In: Wagner – Nietzsche – Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich. Hg. von Heinz Gockel, Michael Neumann und Ruprecht Wimmer. Frankfurt am Main 1993, S. 289–309. Boss, Ulrich: Eine ‚bemerkenswerte Einzelheit‘. Arnheims phönikischer Schä­ del im Kontext antisemitischer Rassendiskurse. In: Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 31 (2009/2010), S. 64–83. Boterman, Frits: Spengler und sein „Untergang des Abendlandes“. Köln 2000. Bouveresse, Jaques: Robert Musil oder der Anti-Spengler. In: Beiträge zur Mu­ sil-Kritik. Hg. von Gudrun Brokoph-Mauch. Bern und Frankfurt am Main 1983, S. 161–178. 345

Brasch, Anna: Moderne – Regeneration – Erlösung. Der Begriff der ‚Kolonie‘ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen 2017 (Literatur und Mediengeschichte der Moderne, Bd. 4). Brasch, Anna: Weltanschauliche Totalität. Zur literarischen Form heimat­ künstlerischer Modernereflexion um 1900. In: Formen des Wissens. Episte­ mische Funktionen literarischer Verfahren. Hg. vom Graduiertenkolleg Lite­ rarische Form. Heidelberg 2017, S. 289–313. Brasch, Anna: Vom menschlichen Glück in der Moderne trotz der Moderne. Diedrich Speckmanns Weltanschauungsroman „Heidjers Heimkehr“. In: Theoretische und fiktionale Glückskonzepte im deutschen Sprachraum (17. bis 21. Jahrhundert). Hg. von Sylvie Le Moël, Elisabeth Rothermund. Berlin 2019, S. 63–82. Brasch, Anna: „Ich glaube, ich finde nicht mehr zum Anfang zurück.“ Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ und die Auflösung des Texttypus Weltanschauungsroman nach 1900. In: Weltanschauung und Textprodukti­ on. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Hg. von Anna Brasch und Christian Meierhofer. Berlin 2020, S. 587–615. Brasch, Anna, Christian Meierhofer (Hg.): Weltanschauung und Textproduk­ tion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Berlin 2020. Braun, Hermann: Welt. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexi­ kon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 7. Hg. von Otto Brunner, Werner Kunze, Reinhart Koselleck. Stuttgart 2004, S. 433–510. Braungart, Georg, Dietmar Till: Wissenschaft. In: Handbuch Literaturwissen­ schaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Hg. von Thomas Anz. Son­ derausgabe. Stuttgart, Weimar 2013, S. 407–419. Breuer, Stefan: Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Wider­ streit ihrer Ideen 1871–1945. Darmstadt 2001. Breuer, Stefan: Wie teuflisch ist die „konservative Revolution“? Zur politischen Semantik Thomas Manns. In: Thomas Mann. Doktor Faustus 1949–1997. Hg. von Werner Röcke. Frankfurt am Main 2001, S. 59–71. Breuer, Stefan: Goethekult – Eine Form des ästhetischen Fundamentalismus? In: Goethe in Gesellschaft. Zur Geschichte einer literarischen Vereinigung vom Kaiserreich bis zum geteilten Deutschland. Hg. von Jochen Golz und Justus H. Ulbricht. Köln 2005, S. 63–79. Brokoph-Mauch, Gudrun: Robert Musils und Hermann Brochs persönliches Verhältnis in ihrem Briefwechsel. In: Genauigkeit und Seele. Zur österreichi­ schen Literatur seit dem Fin de siècle. Hg. von Josef Strutz und Endre Kiss. München 1990, S. 67–82. Brömsel, Sven: Exzentrik und Bürgertum. Houston Stewart Chamberlain im Kreis jüdischer Intellektueller. Berlin 2015.

346

Bronnen, Barbara: Die „erste Frau Europas“. Thomas Mann und Ricarda Huch. In: Thomas Mann in München III. Vortragsreihe Sommer 2005. München 2005, S. 223–259. Brude-Firnau, Gisela: Wissenschaft von der Frau? Zum Einfluß von Otto Wei­ ningers „Geschlecht und Charakter“ auf den deutschen Roman. In: Die Frau als Heldin und Autorin. Neue kritische Ansätze zur deutschen Literatur. Hg. von Wolfgang Paulsen. Bern 1979, S. 136–149. Brude-Firnau, Gisela: Hermann Broch und Otto Weininger: K/ein Mythos der Selbsterlösung. In: Hermann Brochs Schlafwandler-Trilogie. Neue Interpreta­ tionen. Das Lancaster-Symposium von 2009. Hg. von Graham Bartram und Paul Michael Lützeler. Tübingen 2012, S. 15–29. Brude-Firnau, Gisela: Broch’s Die Verzauberung: Ludwig Klages and the Bour­ geois Mitläufer. In: A Companion to the Works of Hermann Broch. Hg. von Graham Bartram, Sarah McGaughey und Galin Tihanov. New York 2019, S. 123–142. Bruhn, Gert: Parodistischer Konservatismus zur Funktion des Selbstzitats in Thomas Manns Zauberberg. In: Neophilologicus 58 (1974), S. 208–222. Cerf, Steven: Thomas Mann’s Leo Naphta: Echoes of Brandesian Intellectual History and Biography. In: Seminar 25 (1989), S. 223–227. Claassen, Albrecht: Der Kampf um das Mittelalter im Werk Thomas Manns: Der Zauberberg: Die menschliche Misere im Kreuzfeuer geistesgeschichtli­ cher Strömungen. In: Studia Neophilologica 75 (2003), S. 32–46. Cohn, Dorrit Claire: The Sleepwalkers. Elucidations of Hermann Broch’s Trilo­ gy. Den Haag und Paris 1966. Corino, Karl: Robert Musil – Thomas Mann. Ein Dialog. Pfullingen 1971. Corino, Karl: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2003. Dalke, Birgit: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900, Köln 2006. Danneberg, Lutz, Friedrich Vollhardt (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahr­ hundert. Tübingen 2002. Daum, Andreas: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerli­ che Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914. München 22002, S. 193–225. Demandt, Alexander: Untergänge des Abendlandes. Studien zu Oswald Speng­ ler. Köln, Weimar und Wien 2017. Dittrich, Andreas: Ein Lob der Bescheidenheit. Zum Konflikt zwischen Er­ kenntnistheorie und Wissensgeschichte. In: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), Heft 3, S. 631–637. Dittrich, Andreas: Glauben, Wissen, Sagen. Studien zu Wissen und Wissens­ kritik im ‚Zauberberg‘, in den ‚Schlafwandlern‘ und im ‚Mann ohne Eigen­ schaften‘. Tübingen 2009.

347

Dotzler, Bernhard J.: Explorationen. Literaturforschung und die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften. In: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berichte und Abhandlungen. Bd. 9. Berlin 2002, S. 311– 327. Drehsen, Volker; Sparn, Walter: Die Moderne. Kulturkrise und Konstrukti­ onsgeist. In: Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahr­ nehmung und Krisenbewältigung um 1900. Hg. von dens. Berlin 1996, S. 11–29. Dröscher-Teille, Mandy; Nübel, Birgit: Intertextualität. In: Robert-MusilHandbuch. Hg. von Birgit Nübel und Norbert Christian Wolf. Berlin und Boston, S. 760‑791. Dunker, Axel: Soliman und Rachel/„Rachelle“. Die Konstruktion von Fremd­ heit und Identität in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. In: MusilForum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 31 (2009/2010), S. 52– 63. Durzak, Manfred: Hermann Broch. Der Dichter und seine Zeit. Stuttgart u. a. 1968. Düsing, Wolfgang: Erinnerung und Identität. Untersuchungen zu einem Er­ zählproblem bei Musil, Döblin und Doderer. München 1982. Eder, Jürgen: Allerlei Allotria. Grundzüge und Quellen der Essayistik bei Thomas Mann. Bonn 1993. Eicher, Thomas: Erzählte Visualität: Studien zum Verhältnis vom Text und Bild in Hermann Brochs Romantrilogie „Die Schlafwandler“. Frankfurt am Main 1993. Eiden-Offe, Patrick: Das Reich der Demokratie. Hermann Brochs „Der Tod des Vergil“. München und Paderborn 2011. Eisele, Ulf: Die Struktur des modernen deutschen Romans. Tübingen 1984, S. 69. Engelhardt, Dietrich von; Wißkirchen, Hans (Hg.): „Der Zauberberg“ – die Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman. Stuttgart 2003. Engels, David: Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der römischen Republik. Historische Parallelen. Berlin u. a. 22017. Engels, David: Spengler im 21. Jahrhundert. Überlegungen und Perspektiven zu einer Überarbeitung der Spengler’schen Kulturmorphologie. In: Oswald Spenglers Kulturmorphologie. Eine multiperspektivische Annäherung. Hg. von Sebastian Fink und Robert Rollinger. Wiesbaden 2018, S. 453–487. Erdbeer, Robert Matthias: Epistemisches Prekariat. Die qualitas occulta Rei­ chenbachs und Fechners Traum vom Od. In: Pseudowissenschaft. Hg. von Dirk Rupnow u. a. Frankfurt am Main 2008, S. 127–162. Exner, Richard: Roman und Essay bei Thomas Mann. Probleme und Beispiele. In: Schweizer Monatshefte 44 (1964/1965), S. 243–258. 348

Fanelli, Emanuela Veronica: ‚Als er noch Fräulein Valerie liebte‘. Musils Vale­ rie-Erlebnis: eine biographisch-kritische Korrektur. In: Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 19/20 (1993/1994), S. 7–30. Fanta, Walter: Die Entstehungsgeschichte des „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Wien, Köln und Weimar 2000. Fanta, Walter: Musils Umkodierungen. Wissenstransfer im Schreibfeld als Form der Intertextualität. In: Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensüber­ tragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Hg. von Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper und Karl Wagner. Zürich 2011, S. 323–344. Feld, Willi: Funktionale Satire durch Zitieren in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Mit Exkursen zu Büchner und Frisch. Münster 1978. Fetz, Bernhard: Das unmögliche Ganze. Zur literarischen Kritik der Kultur, München 2009. Fink, Sebastian; Rollinger, Robert (Hg.): Oswald Spenglers Kulturmorpholo­ gie. Eine multiperspektivische Annäherung. Wiesbaden 2018. Freese, Wolfgang; Menges, Karl: Broch-Forschung. Überlegungen zur Methode und Problematik eines literarischen Rezeptionsvorgangs. München und Salz­ burg 1977. Freese, Wolfgang: Ansätze zu einer Hegel-Satire in Musils „Mann ohne Eigen­ schaften“. In: Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 10 (1984), S. 181–200 Frick, Werner: Avantgarde und longue durée. Überlegungen zum Traditionsver­ brauch der klassischen Moderne. In: Literarische Moderne. Begriff und Phä­ nomen. Hg. von Sabina Becker, Helmuth Kiesel unter Mitarbeit von Robert Krause. Berlin 2007, S. 97–112. Fritz, Horst: Instrumentelle Vernunft als Gegenstand von Literatur. Studien zu Jean Pauls „Dr. Katzenberger“, E.T.A. Hoffmanns „Klein Zaches“, Goethes „Novelle“ und Thomas Manns „Zauberberg“, München 1982. Gahlings, Ute: Hermann Graf Keyserling. Ein Lebensbild, Darmstadt 1996. Gahlings, Ute: Hermann Graf Keyserling – ein Lebensphilosoph. Zu einem Werk zwischen Erkenntnistheorie, Kulturkritik und Metaphysik. In: Balti­ sches Welterlebnis. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Edu­ ard und Hermann Graf Keyserling, Hg. von Michael Schwidtal und Jaan Undusk unter Mitwirkung von Liina Lukas. Heidelberg 2007, S. 351–366. Gangl, Manfred; Merlio, Gilbert; Ophälders, Markus (Hg.): Spengler – Ein Denker der Zeitenwende. Frankfurt am Main 2009. Gauger, Hans-Martin: „Der Zauberberg“ – ein linguistischer Roman. In: Ders.: Der Autor und sein Stil. Zwölf Essays. Stuttgart 1988, S. 170–214. Gasimov, Zaur; Duque, Carl Antonius Lemke (Hg.): Oswald Spengler als euro­ päisches Phänomen. Der Transfer der Kultur- und Geschichtsmorphologie im Europa der Zwischenkriegszeit (1919–1939). Göttingen 2013. 349

Gebhard, Walter: „Der Zusammenhang der Dinge“. Weltgleichnis und Natur­ verklärung im Totalitätsbewußtsein im 19. Jahrhundert. Tübingen 1984. Geisenhanslüke, Achim: Ignorabimus – Creabimus. Zum Problem der Igno­ ranz bei Walther Rathenau. In: Walther Rathenau. Der Phänotyp der Moder­ ne. Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien. Hg. von Walter Delabar und Dieter Heimböckel. Bielefeld 2009, S. 55–65. Genno, Charles N.: The importance of Ellen Key’s „Die Entfaltung der Seele durch Lebenskunst“ for Musil’s Concept of the Soul. In: Orbis Litterarum 36 (1981), S. 323–331. Gerhard, Ute; Link, Jürgen; Parr, Rolf: Interdiskurs, reintegrierender. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grund­ begriffe. Hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart, Weimar 42004, S. 324. Gittel, Benjamin: Essayismus als Fiktionalisierung von unsicheres Wissen pro­ zessierender Reflexion. In: Scientia poetica 19 (2015), S. 136–171. Gittel, Benjamin: „Niemals aber sagt ein lebendiger Mensch zu einem anderen … ‚Sei mein Erlöser!‘“ Drei Arten der Fiktionalisierung von weltanschauli­ cher Reflexion bei Broch, Lukács und Musil. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 135 (2016), Heft 2, S. 213–244. Glander, Kordula: „Leben, wie man liest“. Strukturen der Erfahrung erzählter Wirklichkeit in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. St. Ingbert 2005. Gnüchtel, Tobias: Narrative Argumentation. Textverfahren zwischen Literatur und Philosophie. Paderborn 2016. Goltschnigg, Dietmar: „Die Bedeutung der Formel ‚Mann ohne Eigenschaf­ ten‘. In: Vom „Törleß“ zum „Mann ohne Eigenschaften“. Grazer Musil-Sym­ posion 1972. Hg. von Uwe Baur und Dietmar Goltschnigg. München und Salzburg 1973, S. 325–347. Grabowsky-Hotamanidis, Anja: Zur Bedeutung mythischer Denktraditionen im Werk von Hermann Broch. Tübingen 1995. Graf, Werner: ‚Parallelaktion‘ – Satire der Kulturkritik. Robert Musil über Walther Rathenau. In: Der Potsdamer Forte-Kreis. Eine utopische Intellektu­ ellenassoziation zur europäischen Friedenssicherung. Hg. von Richard Faber und Christine Holste. Würzburg 2001, S. 85–98. Grätz, Katharina: Wissenschaft als Weltanschauung. Ernst Haeckels gelöste ‚Welträtsel‘ und ihr Text. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hart­ mut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen 2002, S. 240‑255. Grätz, Katharina, Sebastian Kaufmann (Hg.): Nietzsche zwischen Philosophie und Literatur. Von der Fröhlichen Wissenschaft zu Also sprach Zarathustra. Heidelberg 2016.

350

Grätz, Katharina, Sebastian Kaufmann (Hg.): Nietzsche als Dichter. Lyrik – Poetologie – Rezeption. Unter redaktioneller Mitarbeit von Armin Thomas Müller und Milan Wenner. Berlin 2017. Grenville, Anthony: „Linke Leute von rechts“: Thomas Mann’s Naphta and the Ideological Confluence of Radical right an Radical left in the Early Years of the Weimar Republik. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissen­ schaft und Geistesgeschichte 59 (1985), S. 651–675. Grimm, Sieglinde; Hüller, Knut: Schönes Wetter oder was? Robert Musils Kritik an ‚moderner Wissenschaft‘. In: Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 28 (2003/2004), S. 57–83. Gutsche, Verena: „Niedergang“. Variationen und Funktionen eines kulturkri­ tischen Diskurselements zwischen 1900 und 1930. Großbritannien und Deutschland im Vergleich. Würzburg 2015. Halsall, Robert: The Individual and the Epoch. Hermann Broch’s Die Schlaf­ wandler as a Historic Novel. In: Reisende durch Zeit und Raum. Der deutschsprachige historische Roman. Hg. von Osman Durrani und Julian Preece, Amsterdam (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 51) 2001, S. 227–241. Hamidy, Elena: Historische Zeit im Narrativ. Maksimkor’kijs „Das Leben des Klim Samgin“ und Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Bielefeld 2017. Hardtwig, Wolfgang: Einleitung. In: Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933. Hg. von dems. München 2007, S. 11–17. Hasubek, Peter: Konzessionen an den Leser oder die wiedergewonnene Ein­ heit? Zu den Schlüssen von Hermann Brochs Schlafwandler-Trilogie. In: Hermann Broch. Das dichterische Werk. Neue Interpretationen. Hg. von Michael Kessler und Paul Michael Lützeler. Tübingen 1987, S. 93–111. Heckmann, Ursula: Das verfluchte Geschlecht. Motive der Philosophie Otto Weiningers im Werk Georg Trakls. Frankfurt 1992. Heimböckel, Dieter: Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit. Studien zu Werk und Wirkung. Würzburg 1996. Heindl, Waltraud: Geschlecht oder Charakter. Otto Weiningers Kultfiguren. In: Österreich und der Große Krieg 1914–1918. Die andere Seite der Ge­ schichte. Hg. von Klaus Amann und Hubert Lengauer, Wien 1989, S. 81–87. Heine, Philipp David: Oswald Spengler, die Weltanschauungsliteratur und die literarische Moderne: Vorbemerkungen zu einer literaturwissenschaftlichen Perspektive. In: Tektonik der Systeme. Neulektüren von Oswald Spengler. Hg. von Arne de Winde u. a. Heidelberg 2016, S. 144–156, 250‑251.

351

Heine, Philipp David: Die Literatur und der Kampf um die Weltanschauung. Ein Beitrag zur Literatur- und Intellektuellengeschichte am Beispiel von Al­ fred Döblin und Ernst Jünger, Göttingen 2019 (http://hdl.handle.net/21.1113 0/00-1735-0000-0003-C120-E, abgerufen am 10.09.2020). Heißerer, Dirk: „O über den alten Puppenspieler!“ Literaturpolitik im Mün­ chen der Zwanziger Jahre. Mit neun unbekannten Briefen Thomas Manns an den Literaturkritiker Conrad Wandrey (1918–1925). In: Thomas Mann in München II. Vortragsreihe Sommer 2004. München 2004, S. 165–226. Heizmann, Jürgen: Antike und Moderne in Hermann Brochs „Tod des Vergil“. Über Dichtung und Wissenschaft, Utopie und Ideologie. Tübingen 1997. Heftrich, Eckhard: Zauberbergmusik. Über Thomas Mann. Frankfurt am Main 1975. Heller, Erich: Thomas Mann. Der ironische Deutsche. Frankfurt am Main 1970. Hellige, Hans Dieter: Walther Rathenau: ein Kritiker der Moderne als Orga­ nisator des Kapitalismus. Entgegnung auf T. P. Hughes’ systemhistorische Rathenau-Interpretation. In: Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathe­ nau und die Kultur der Moderne. Hg. von Tilmann Buddensieg u. a. Berlin 1990, S. 32–54. Hempfer, Klaus W.: Literaturwissenschaft – Grundlagen einer systematischen Theorie. Abhandlungen zur Literaturwissenschaft. Stuttgart 2018. Henniges, Norman: „Naturgesetze der Kultur“: Die Wiener Geographen und die Ursprünge der „Volks- und Kulturbodentheorie“. In: ACME. An Interna­ tional E-Journal for Critical Geographies 14 (2015), Heft 4 (https://acme-j ournal.org/index.php/acme/article/view/1076, abgerufen am 21.11.2020), S. 1309–1351. Herd, Eric W.: Epochenschilderung in Roman und Essay. Der epische Ort Joachim von Pasenows und Hugo von Hofmannsthals in Brochs Darstellung. In: Hermann Broch und seine Zeit. Akten des Internationalen Broch-Sympo­ siums, Nice 1979. Hg. von Richard Thieberger. Bern 1980, S. 37–46. Herwig, Malte: Bildungsbürger auf Abwegen. Naturwissenschaft im Werk Thomas Manns. Frankfurt am Main 2004. Hetzel, Ästhetische Welterschließung bei Oswald Spengler und Walter Benja­ min. Magisterarbeit [1993]. In: Sic et Non. Zeitschrift für Philosophie und Kultur. Im Netz. (2005) (http: //www.sicetnon.org/content/pdf/aesthetische_ welterschliessung_hetzel.pdf, abgerufen am 3.11.2016). Heydebrand, Renate von: Zum Thema Sprache und Mystik in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. In: Zeitschrift für deutsche Philolo­ gie 82 (1963), S. 249–271. Heydebrand, Renate von: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössi­ schen Denken. Münster 1966. 352

Hochstätter, Dietrich: Sprache des Möglichen. Stilistischer Perspektivismus in Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Frankfurt am Main 1972. Holz, Simone: Die tiefenpsychologische Krankengeschichte zwischen Wissen­ schafts- und Weltanschauungsliteratur. Frankfurt am Main 2014. Honnef-Becker, Irmgard: „Ulrich lächelte“. Techniken der Relativierung in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Frankfurt am Main 1991. Honold, Alexander: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktionen in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München 1995. Honold, Alexander: Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Thomas-MannHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Andreas Blödorn und Fried­ helm Marx. Stuttgart 2015. Höppner, Wolfgang: Zur Kontroverse um Friedrich Gundolfs „Goethe“. In: Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse. Hg. von Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase. Bern 2007, S. 183–205. Howald, Stefan: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik. Untersuchun­ gen zum Roman-werk Robert Musils. München 1984. Hristeva, Galina: Georg Groddeck. Präsentationsformen psychoanalytischen Wissens. Würzburg 2008. Hufnagel, Henning, Olav Krämer: Lyrik, Versepik und wissenschaftliches Wis­ sen im 19. Jahrhundert. Zur Einleitung. In: Das Wissen der Poesie. Lyrik, Versepik und wissenschaftliches Wissen im 19. Jahrhundert. Hg. von dens. Berlin, Boston 2015, S. 1–35. Jahraus, Oliver: Kehrtwende oder Kontinuität: Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) und Von deutscher Republik (1922). In: Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ nach 100 Jahren. Neue Perspek­ tiven und Kontexte. Hg. von Erik Schilling. Frankfurt am Main 2020, S. 63– 79. Jander, Simon: Die Ästhetik des essayistischen Romans. Zum Verhältnis von Reflexion und Narration in Musils Der Mann ohne Eigenschaften und Brochs Huguenau oder die Sachlichkeit. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 123 (2004), S. 527–548. Jannidis, Fotis: Zuerst Collegium Logicum. Zu Tilmann Köppes Beitrag ‚Vom Wissen in Literatur‘. In: Zeitschrift für Germanistik 18 (2008), Heft 2, S. 373–377. Janik, Allan: Viennese Culture and the Jewish Self-Hatred Hypothesis: A Cri­ tique. In: Jews, Antisemitism and Culture in Vienna. Hg. von Ivar Oxaal, Michael Pollak und Gerhard Botz. London 1987, S. 75–88. Janik, Allan: Weininger and the Science of Sex: Prolegomena to Any Future Study. In: Decadence and Innovation. Austro-Hungarian Life and Art at the Turn of the Century. Hg. von Robert B. Pynsent. London 1989, S. 24–32.

353

Jendreieck, Helmut: Thomas Mann. Der demokratische Roman, Düsseldorf 1977. Jenkins, Jennifer: Edition und Kommentar zu K. L. Hib (Hermann Broch) Ein offiziöser Gschaftlhuber der Kultur (1918). In: Studia austriaca 26 (2018) (DOI: https://doi.org/10.13130/1593-2508/10076), S. 5–17. Jenkins, Jennifer: „Ein Fiasko des Geistes“. Hermann Broch’s Rediscovered Ear­ ly Critique Ein offiziöser Gschaftlhuber der Kultur (1918). In: Studia austriaca 26 (2018) (https://doi.org/10.13130/ 1593-2508/10077), S. 19–44. Jens, Walter: Betrachtungen eines Unpolitischen. Thomas Mann und Friedrich Nietzsche. In: Statt einer Literaturgeschichte. Hg. von dems. Pfullingen 71978, S. 185–213. Johann, Andreas: „Mathematiker denken anders als andere Menschen“. Zur Rolle des Naturwissenschaftlichen in Robert Musils Roman „Der Mann oh­ ne Eigenschaften“. In: Scientia poetica 11 (2007), S. 160‑183. Joseph, Erkme: Nietzsche im „Zauberberg“. Frankfurt am Main 1996. Kablitz, Andreas: Der Zauberberg. Die Zergliederung der Welt. Heidelberg 22020. Kaiser, Gerhard R.: Proust – Musil – Joyce. Zum Verhältnis von Literatur und Gesellschaft am Paradigma des Zitats. Frankfurt am Main 1972. Kappeler, Florian: Die Organisation des Möglichen. Poetologien kapitalisti­ schen Organisationswissens bei Robert Musil. In: Das Mögliche regieren. Gouvernementalität in der Literatur- und Kulturanalyse. Hg. von Roland Innerhofer, Katja Rothe und Karin Harrasser. Bielefeld 2011, S. 49–72. Kauffmann, Kai: Naturwissenschaft und Weltanschauung um 1900. Essayisti­ sche Diskursformen in den populärwissenschaftlichen Schriften Ernst Hae­ ckels. In: Zeitschrift für Germanistik 15 (2005), Heft 1, S. 61–75. Kerekes, Amàlia, Alexandra Millner, Magdolna Orosz, Katalin Teller (Hg.): Mehr oder Weininger. Eine Textoffensive aus Österreich / Ungarn. Wien 2005. Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache – Ästhetik – Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004. Kinzel, Ulrich: Zweideutigkeit als System. Zur Geschichte der Beziehungen zwischen der Vernunft und dem Anderen in Thomas Manns Roman „Dok­ tor Faustus“. Frankfurt am Main u. a. 1988. Kiss, Endre: Über Hermann Brochs Ehrgeiz, ganzheitliche Strukturen ganzheit­ lich darzustellen. Reflexionen über die Möglichkeit einer nicht-affirmativen Broch-Forschung. In: Hermann Broch. Werk und Wirkung. Hg. von dems. Bonn 1985, S. 65–86. Klausnitzer, Ralf: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analyse. Berlin 2008. Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Nach der Ausgabe letzter Hand hg. und kommentiert von Elke Fröhlich. Ditzingen 2020. 354

Klüger, Ruth: Thomas Mann als Literaturkritiker. In: Thomas Mann Jahrbuch 13 (2000). Hg. von Eckhart Heftrich und Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 2001, S. 229–236. Koktanek, Anton Mirko: Oswald Spengler in seiner Zeit. München 1968. Könneker, Carsten: Auflösung der Natur. Auflösung der Geschichte“: Moder­ ner Roman und NS-„Weltanschauung“ im Zeichen der theoretischen Physik. Stuttgart und Weimar 2001. Koopmann, Helmut: Der Untergang des Abendlandes und der Aufgang des Morgenlandes. Thomas Mann, die Josephsroman und Spengler. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 24 (1980), S. 300‑331. Koopmann, Helmut: Die Entwicklung des ‚Intellektualen Romans‘ bei Thomas Mann, 3. erweiterte Auflage, Bonn 1980 (Bonner Arbeiten zur deut­ schen Literatur, Bd. 5). Koopmann, Helmut: Der klassisch-moderne Roman in Deutschland: Thomas Mann – Alfred Döblin – Hermann Broch. Stuttgart u. a. 1983. Koopmann, Helmut: Philosophischer Roman oder romanhafte Philosophie? Zu Thomas Manns lebensphilosophischer Orientierung in den zwanziger Jahren. In: Ders.: Der schwierige Deutsche. Studien zum Werk Thomas Manns. Tübingen 1988, S. 21–37. Koopmann, Helmut: Der Zauberberg und die Kulturphilosophie der Zeit. In: Auf dem Weg zum Zauberberg. Die Davoser Literaturtage 1996. Hg. von Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 1997, S. 273–297. Köppe, Tilmann: Vom Wissen in Literatur. In: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), Heft 2, S. 398–410. Köppe, Tilmann: Fiktionalität, Wissen, Wissenschaft. Eine Replik auf Roland Borgards und Andreas Dittrich. In: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), Heft 3, S. 638–646. Köppe, Tilmann (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugän­ ge. Berlin, New York 2011. Krämer, Olav: Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry. Berlin 2009. Krämer, Olav: Intention, Korrelation, Zirkulation. Zu verschiedenen Konzep­ tionen der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen. In: Li­ teratur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Hg. von Tilmann Köppe. Berlin, New York 2011, S. 77–115. Krapoth, Hermann: Dichtung und Philosophie. Eine Studie zum Werk Her­ mann Brochs, Bonn 1971. Krause, Robert: Abstraktion – Krise – Wahnsinn. Die Ordnung der Diskurse in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Würzburg (Klassische Moderne 13) 2008. Kreutzer, Leo: Erkenntnistheorie und Prophetie. Hermann Broch „Die Schlaf­ wandler“. Tübingen 1966. 355

Kristiansen, Børge: Unform – Form – Überform. Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik. Kopenhagen 1978. Kristiansen, Børge: Thomas Manns und die Philosophie. In: Thomas-MannHandbuch. Hg. von Helmut Koopmann. Frankfurt am Main 32005, S. 259– 283. Kubik, Silke: Die europäische Ordnung stirbt … – Religion und Geschichts­ konstruktion im Angesicht der Katastrophe. Eine vergleichende Untersu­ chung der Romane Die Schlafwandler von Hermann Broch und Das unaus­ löschliche Siegel von Elisabeth Langgässer. Frankfurt am Main 2008. Kucher, Primus-Heinz: Die Auseinandersetzung mit Spenglers ‚Untergang des Abendlandes‘ bei R. Musil und O. Neurath: Kritik des Irrationalismus. In: Robert Musil – Literatur, Philosophie, Psychologie. Hg. von Josef Strutz und Johann Strutz. München und Salzburg 1984, S. 124–142. Kühn, Dieter: Analogie und Variation. Zur Analyse von Robert Musils Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘. Bonn 1965. Kurzke, Hermann: Wie konservativ ist der „Zauberberg“?. In: Gedenkschrift für Thomas Mann 1875–1975. Hg. von Rolf Wiecker. Kopenhagen 1975, S. 137–158. Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung. München, 3., erneut überarbeitete Auflage, 1997. Kurzke, Hermann: Immer auf dem Balkon? Thomas Manns Selbstinszenierung in den Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Die Erfindung des Schrift­ stellers Thomas Mann. Hg. von Michael Ansel, Hans-Edwin Friedrich und Gerhard Lauer. Berlin 2009, S. 411–420. Kruckis, Hans-Martin: „Ein potenziertes Abbild der Menschheit“. Biographi­ scher Diskurs und Etablierung der Neugermanistik in der Goethe-Biogra­ phik bis Gundolf, Heidelberg 1995. Labanyi, Peter: ‚Die Gefahr des Körpers‘. A Reading of Otto Weininger’s Ge­ schlecht und Charakter. In: Fin de Siècle Vienna. Proceedings of the Second Irish Symposium in Austrian Studies held at Trinity College, Dublin, 28 February – 2 March 1985. Hg. von Gilbert J. Carr und Eda Sagarra. Dublin 1985, S. 161–182. Lachmann, Renate: Dialogizität und poetische Sprache. In: Dialogizität. Hg. von ders. München 1982, S. 51–62. Laermann, Klaus: Eigenschaftslosigkeit. Reflexionen zu Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Stuttgart 1970. Lahn, Silke; Meister, Jan Christoph: Einführung in die Erzähltextanalyse. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart und Weimar 2016. Lantink, Francis Wilhelm: Oswald Spengler oder die „zweite Romantik“. Der Untergang des Abendlandes, ein intellektualer Roman zwischen Geschichte, Literatur und Politik. Utrecht 1995.

356

Large, Duncan: Zerfall der Werte: Broch, Nietzsche, Nihilism. In: Ecce Opus. Nietzsche-Revisionen im 20. Jahrhundert. Hg. von Rüdiger Görner und Duncan Large. Göttingen 2003. Lehnert, Herbert: Leo Naphta und sein Autor. In: Orbis Litterarum 37 (1982), S. 47–69. Lehnert, Herbert, Eva Wessel: Nihilismus und Menschenfreundlichkeit. Thomas Manns Wandlung und sein Essay Goethe und Tolstoi. Frankfurt am Main 1991. Leo, Per: Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakteriologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890–1940. Berlin 2013. Lepenies, Wolf: Das Geheimnis des Ganzen. In: Ein Mann vieler Eigenschaf­ ten. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne. Hg. von Tilmann Bud­ densieg u. a. Berlin 1990, S. 140‑142. Le Rider, Jaques: Nachwort zum Fall Otto Weininger. In: Otto Weininger. Werk und Wirkung. Hg. von Jaques Le Rider und Norbert Leser. Wien 1984, S. 96–105. Le Rider, Jaques: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus. Mit der Erstveröffentlichung der Rede auf Otto Weininger von Heimito von Doderer, überarbeitete und erweiterte deutsche Ausgabe, Wien und München 1985. Lessing, Theodor: Der jüdische Selbsthaß. Mit einem Vorwort von Boris Groys. Berlin 2004. Leue, Bettina: Diotima: „Seelenriesin“ und „Riesenhuhn.“ Zur Sprache einer Frau in Musils Mann ohne Eigenschaften. In: Frauen: MitSprechen. MitSchrei­ ben. Beiträge zur literatur- und sprachwissenschaftlichen Frauenforschung. Stuttgart 1997, S. 331–345. Liebrand, Claudia: Bezugssysteme: Romantik und Kitsch in Hermann Brochs Essayistik. In: Hermann Broch und die Romantik. Hg. von Doren Wohlle­ ben und Paul Michael Lützeler. Berlin und Boston 2014, S. 187–294. Link, Jürgen: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ur­ sprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hg. von Jürgen Fohrmann und Harro Müller. Frankfurt am Main 1988, S. 284–307. Link, Jürgen; Link-Heer, Ursula: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 20/77 (1990), S. 88– 99. Lobenstein-Reichmann, Anja: Houston Stewart Chamberlain – Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung. Eine sprach-, diskurs- und ideologiege­ schichtliche Analyse. Berlin und New York 2008.

357

Loose, Gerhard: Über das Verhältnis von Prototyp und dichterischer Gestalt in Thomas Manns „Zauberberg“. In: Klaus Peter, Dirk Grathoff, Charles N. Hayes und Gerhard Loose: Ideologiekritische Studien zur Literatur. Essays I. Frankfurt am Main 1972, S. 215–250. Lorenz, Markus: Motivische Textur als ästhetische Selbstreferenz. Zur Kompo­ sition von Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“. Bonn 2006. Löwe, Matthias: „Lebenswende“ als „Weltwende“: Thomas Manns Betrachtun­ gen eines Unpolitischen im Kontext der Weltanschauungsliteratur. In: Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ nach 100 Jahren. Neue Perspek­ tiven und Kontexte. Hg. von Erik Schilling. Frankfurt am Main 2020, S. 33– 46. Lützeler, Paul Michael: Hermann Broch. Ethik und Politik. Studien zum Früh­ werk und zur Romantrilogie „Die Schlafwandler“, München 1973. Lützeler, Paul Michael: Lukács „Theorie des Romans“ und Brochs „Schlaf­ wandler“. In: Hermann Broch und seine Zeit. Akten des Internationalen Broch-Symposiums, Nice 1979. Hg. von Richard Thieberger. Bern 1980, S. 47–59. Lützeler, Paul Michael: Hermann Broch. Eine Biographie. Frankfurt am Main 1985. Lützeler, Paul Michael: Zur Avantgarde-Diskussion der dreißiger Jahre. Lukács, Broch und Joyce. In: Ders.: Zeitgeschichte in Geschichten der Zeit. Deutschsprachige Romane im 20. Jahrhundert. Bonn 1986, S. 109–140. Lützeler, Paul Michael: Hermann Broch und Spenglers Untergang des Abendlan­ des: Die Schlafwandler zwischen Moderne und Postmoderne. In: Hermann Broch. Modernismus, Kulturkrise und Hitlerzeit. Londoner Symposion 1991. Hg. von Adrian Stevens, Fred Wagner und Sigurd Paul Schleichl. Innsbruck 1994, S. 19–43. Lützeler, Paul Michael: Donquijuanjote: Hermann Broch über sich selbst. In: Hermann Broch. Psychische Selbstbiographie. Hg. von Paul Michael Lütze­ ler. Frankfurt am Main 1999, S. 145–169. Lützeler, Paul Michael: Die Entropie des Menschen. Studien zum Werk Her­ mann Brochs. Würzburg 2000. Lützeler, Paul Michael (Hg.): Freundschaft im Exil. Thomas Mann und Her­ mann Broch. Frankfurt am Main 2004. Lützeler, Paul Michael: Hermann Brochs Kulturkritik. Nietzsche als Anstoß. In: Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne. Hg. von Thorsten Valk. Berlin 2009, S. 183–197. Lützeler, Paul Michael: Hermann Broch und die Moderne. Roman, Menschen­ recht, Biographie, München 2011.

358

Lützeler, Paul Michael: Hermann Brochs „Pasenow oder die Romantik“ und Carl Schmitts „Politische Romantik“. In: Hermann Broch und die Roman­ tik. Hg. von Doren Wohlleben und Paul Michael Lützeler. Berlin und Bos­ ton 2014, S. 107–126. Lützeler, Paul Michael: Biographie. In: Hermann Broch-Handbuch. Hg. Von Michael Kessler und Paul Michael Lützeler. Berlin, Boston 2016, S. 3–54. Mahlmann-Bauer, Barbara: Die Verzauberung. In: Hermann Broch-Handbuch. Hg. von Michael Kessler und Paul Michael Lützeler. Berlin und Boston 2016, S. 127–165 Maillard, Christine; Titzmann, Michael (Hg.): Literatur und Wissen(schaften) 1890–1930. Stuttgart 2002. Maillard, Christine; Titzmann, Michael: Vorstellung eines Forschungspro­ jekts: „Literatur und Wissen(schaften) in der Frühen Moderne“. In: Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935. Hg. von dens. Stuttgart 2002, S. 7–37. Mandelkow, Robert: Hermann Brochs Romantrilogie „Die Schlafwandler“. Gestaltung und Reflexion im modernen deutschen Roman. Heidelberg 21975. Mann, Katja: Ellen Key. Ein Leben über die Pädagogik hinaus. Darmstadt 2004. Marcetteau, Marie-Charlotte: Robert Musil et Otto Weininger. Différence ra­ ciale et différence sexuelle dans „L'Homme sans qualités“. Lille 1989. Marcus-Tar, Judith: Thomas Mann und Georg Lukàcs. Beziehung, Einfluß und „repräsentative Gegensätzlichkeit“. Köln und Wien 1982. Markner, Reinhard: Marginalie zur Montagetechnik Musils: Rathenau und Arnheim. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 32 (1991), S. 391–392. Marlock, Ingeborg Elizabeth: Otto Weininger’s „Geschlecht und Charakter“ and Hermann Broch’s „Die Schlafwandler“, Saint Louis 1993. Martens, Gunther: „Das Ganze ist das (Un)wahre“. Broch und Musil im Span­ nungsfeld von Totalität und Fragement. In: Recherches Germaniques 28 (1998), S. 113–137. Martens, Gunther: Beobachtungen der Moderne in Hermann Brochs Die Schlafwandler und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Rhetorische und narratologische Aspekte von Interdiskursivität. München 2006. Martens, Gunther: Grundzüge, Schwerpunkte, Desiderate. In: HermannBroch-Handbuch. Hrsg. von Michael Kessler und Paul Michael Lützeler. Berlin 2016, S. 529–549. McBride, Patrizia: „Ein schreibender Eisenkönig?“ Robert Musil und Walther Rathenau. In: Robert Musils Drang nach Berlin. Bern 2008, S. 287–299. Meier, Helmut Günter: „Weltanschauung“. Studien zu einer Geschichte und Theorie des Begriffs. Münster 1970.

359

Meierhofer, Christian: Verdünnte Moderne. Strukturelle Übergänge von Welt­ krieg, Weltanschauung und Populärwissenschaft 1899–1918. In: Material­ schlachten. Der Erste Weltkrieg und seine Darstellungsressourcen in Litera­ tur, Publizistik und populären Medien 1899–1929. Hg. von Christian Meier­ hofer, Jens Wörner. Göttingen 2015, S. 125–159. Meierhofer, Christian: Formen der Evidenz. Populäre Wissenschaftsprosa zwi­ schen Liebig und Haeckel. Paderborn 2019. Menges, Karl: Kritische Studien zur Wertphilosophie Hermann Brochs. Tübin­ gen 1970. Merlio, Gilbert: Oswald Spengler: Témoin de son temps. 2 Bände. Stuttgart 1982. Merlio, Gilbert, Gérard Raulet (Hg.): Linke und rechte Kulturkritik. Interdis­ kursivität als Krisenbewußtsein. Frankfurt am Main 2005. Merlio, Gilbert: Urgefühl Angst. In: Oswald Spengler: „Ich beneide jeden, der lebt.“ Die Aufzeichnungen „Eis heauton“ aus dem Nachlaß. Düsseldorf 2007, S. 89–123. Merlio, Gilbert; Meyer, Daniel (Hg.): Spengler ohne Ende. Ein Rezeptionsphä­ nomen im internationalen Kontext. Frankfurt am Main 2014. Merlio, Gilbert; Meyer, Daniel: Vorwort. In: Spengler ohne Ende. Ein Rezep­ tionsphänomen im internationalen Kontext. Hg. von dens. Frankfurt am Main 2014, S. 7–11. Merlio, Gilbert: Le début de la fin? Penser la décadence avec Oswald Spengler. Paris 2019. Moll, Björn: Störenfriede. Poetik der Hybridisierung in Thomas Manns Zauber­ berg. Frankfurt am Main 2015. Moser, Walter: Diskursexperimente im Romantext zu Musils Der Mann ohne Eigenschaften. In: Robert Musil. Untersuchungen. Hg. von Uwe Baur und Elisabeth Castex. Königstein 1980, S. 170‑197. Mülder-Bach, Inka: Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. München 2013. Müller, Gerd: Dichtung und Wissenschaft. Studien zu Robert Musils Romanen Die Verwirrungen des Zöglings Törless und Der Mann ohne Eigenschaften. Uppsa­ la 1971. Müller, Götz: Ideologiekritik und Metasprache. München 1972. Neumann, Michael: Ein Bildungsweg in der Retorte. Hans Castorp auf dem Zauberberg. In: Thomas-Mann-Jahrbuch 10 (1997), S. 133–148. Neumann, Michael: Die Irritationen des Janus oder „Der Zauberberg“ im Feld der Klassischen Moderne. In: Thomas Mann Jahrbuch 14 (2001), S. 69–85. Neymeyr, Barbara: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 2005. Neymeyr, Barbara: Utopie und Experiment. Zur Literaturtheorie, Anthropolo­ gie und Kultur-kritik in Musils Essays. Heidelberg 2009. 360

Nicholls, Roger A.: Thomas Mann and Spengler. In: The German Quarterly 58 (1985), S. 361–374. Nicolosi, Maria Grazia: Zwischen „angewandter Philosophie“ und „rationaler Lyrik“. Bemerkungen zur frühen Essayistik Hermann Brochs. In: Wege des essayistischen Schreibens im deutschsprachigen Raum (1900-1920). Hg. von Marina Marzia Brambilla und Maurizio Pirro. Amsterdam und New York 2010, S. 398–411. Ní Dhúill, Caitríona: Der Kanon des Heroischen: Ernst Bertrams Nietzsche. Versuch einer Mythologie. In: Die Biographie – Beiträge zu ihrer Geschichte. Hg. von Wilhelm Hemecker, unter Mitarbeit von Wolfgang Kreutzer. Berlin 2009, S. 123–151. Niefanger, Dirk: Denkmöglichkeiten. Zum Verhältnis von Essay und Porträt in Hermann Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler. In: Euphorion 102 (2008), S. 241–270. Nübel, Birgit: Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin 2006. Nünning, Vera: Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft: Grundlagen und Möglichkeiten. In: Kulturgeschichte der englischen Literatur. Von der Renaissance bis zur Gegenwart. Hg. von Vera Nünning. Tübingen un Basel 2005, S. 1–11. Nusser, Peter: Musils Romantheorie. Den Haag 1967. Özelt, Clemens: Literatur im Jahrhundert der Physik. Geschichte und Funkti­ on interaktiver Gattungen 1900–1975. Göttingen 2018. Osterkamp, Ernst: Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germanisten aus dem George-Kreis. In: Literaturwissen­ schaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Hg von Christoph König und Eberhard Lämmert. Frankfurt am Main 1993, S. 177–198. Osterle, Heinz D.: Hermann Broch, Die Schlafwandler: Revolution and Apoca­ lypse. In: Publications of the Modern Language Association of America 86 (1971), Heft 5, S. 946–958. Osterle, Heinz D.: Produktive Irrtümer der Brochforschung. In: Modern Aus­ trian Literature 13 (1980), Heft 4, S. 189–204. Ottmann, Henning: Oswald Spengler und Thomas Mann. In: Der Fall Speng­ ler. Eine kritische Bilanz. Köln 1994, S. 153–169. Panizzo, Paolo: Die Verführung der Worte: Settembrini und Naphta auf dem Zauberberg. In: Wortkunst ohne Zweifel? Aspekte der Sprache bei Thomas Mann. Hg. von Katrin Max. Würzburg 2013, S. 129–147. Parr, Rolf: ‚Sowohl als auch‘ und ‚weder noch‘. Zum interdiskursiven Status des Essays. In: Essayismus um 1900. Hg. von Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann. Heidelberg 2006, S. 1–14.

361

Parr, Rolf: Analogie und Symbol. Einige Überlegungen zum interdiskursiven Status von Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“. In: Tekto­ nik der Systeme. Neulektüren von Oswald Spengler. Hg. von Arne De Win­ de u. a. Heidelberg 2016, S. 42–57, 128–129. Pekar, Thomas: Robert Musil zur Einführung. Hamburg 1997. Pennisi, Francesca: Auf der Suche nach Ordnung. Die Entstehungsgeschichte des Ordnungsgedankens bei Robert Musil von den ersten Romanentwürfen bis zum ersten Band von „Der Mann ohne Eigenschaften“. St. Ingbert 1990. Petersen, Christer: Vereinigung der Gegensätze: Das Ideal einer männlichen Individuation in Hermann Brochs Die Unbekannte Größe. In: Seminar 44 (2008), Heft 1, S. 103–117. Pethes, Nicolas: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbe­ richt. In: IASL 28/1 (2003), S. 181–231. Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich. Tübingen 1985, S. 1– 30. Pfister, Manfred: Zur Systemreferenz. In: Intertextualität. Formen, Funktio­ nen, anglistische Fallstudien. Hg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich. Tübingen 1985, S. 52–58. Pham, Teresa: Intertextuelle Referenzen auf Shakespeare. Eine kognitiv-linguis­ tische Untersuchung. Berlin 2014. Pissarek, Markus: „Atomisierung der einstigen Ganzheit“ – Das literarische Frühwerk Hermann Brochs. Neuorientierung des literarischen Denkens im Kontext der modernen Physik und Psychoanalyse. München 2009. Pott, Hans-Georg: Besitz und Bildung. Zur Figur des Großindustriellen Arn­ heim in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. In: Kapital und Moral. Ökonomie und Verantwortung in historisch-vergleichender Perspektive. Hg. von Susanne Hilger. Köln, Weimar und Wien 2007, S. 121–137. Precht, Richard David: Die gleitende Logik der Seele. Ästhetische Selbstreflexi­ vität in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Stuttgart 1996. Preußer, Heinz-Peter: Die Masken des Ludwig Klages. Figurenkonstellation als Kritik und Adaption befremdlicher Ideen in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. In: Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassi­ schen Moderne 31 (2009/2010), S. 224–253. Pross, Caroline: ‚Dekadenz des Ganzen‘. Zur Poetik des Enzyklopädischen in Thomas Manns Der Zauberberg. In: Vom Weltbuch bis zum World Wide Web – Enzyklopädische Literaturen. Hg. von Waltraud Wiethöfer, Frauke Berndt und Stephan Kammer. Heidelberg 2005, S. 215–240. Raepke, Frank Werner: Auf Liebe und Tod. Symbolische Mythologie bei Ro­ bert Müller – Hermann Broch – Robert Musil. Münster und Hamburg 1994.

362

Raschel, Heinz: Das Nietzsche-Bild im George-Kreis. Ein Beitrag zur Geschich­ te der deutschen Mythologeme. Berlin 1984. Ratschko, Katharina: Robert Musil und Hermann Broch: Kunstverständnis und Zeitdiagnose. In: Hermann Brochs literarische Freundschaften. Hg. von Endre Kiss, Paul Michael Lützeler und Gabriella Rácz. Tübingen 2008, S. 121–138. Redl, Philipp: Dichtergermanisten der Moderne. Ernst Stadler, Friedrich Gun­ dolf und Philipp Witkop zwischen Poesie und Wissenschaft. Köln 2016. Reed, Terence James: „Der Zauberberg“. Zeitenwandel und Bedeutungswandel 1912–1924. In: Besichtigung des Zauberbergs. Hg. von Heinz Sauereßig. Biberach an der Riss 1974, S. 81–139. Reed, Terence J.: Thomas Mann und die literarische Tradition. In: ThomasMann-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. Frankfurt am Main 32005, S. 95–136. Rehder, Wulf: Quisquilien zu Thomas Mann. Glossen und Gedankenkrümel. Hamburg 2017, S. 124–130. Reibnitz, Barbara von: Der Eranos-Kreis. Religionswissenschaft und Weltan­ schauung oder der Gelehrte als Laienpriester. In: Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation. Hg. von Richard Faber und Christine Holste. Würzburg 2000, S. 425–440. Reich-Ranicki, Marcel: Thomas Mann als literarischer Kritiker. In: ThomasMann-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. Frankfurt am Main 32005, S. 707–720. Reidel-Schrewe, Ursula: Die Raumstruktur des narrativen Texts. Thomas Mann, „Der Zauberberg“. Würzburg 1992. Reizbaum, Marilyn: Weininger and the Bloom of Jewish Self-Hatred in Joyce’s Ulysses. In: Jews and Gender. Responses to Otto Weininger. Hg. von Nancy A. Harrowitz und Barbara Hyams. Philadelphia 1995, S. 207–213. Renner, Rolf Günter: Literarästhetische, kulturkritische und autobiographi­ sche Essayistik. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. Frankfurt am Main 32005, S. 629–677. Richter, Bettina: „Die Schlafwandler“ von Hermann Broch. Zeitproblematik und Darstellungsweise. Heidelberg 2013 (DOI: https://doi.org/10.11588/heid ok.00015627). Richter, Karl: Literatur und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Lyrik der Auf­ klärung. München 1972. Richter, Karl; Schönert, Jörg; Titzmann, Michael (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Stuttgart 1997. Rieckmann, Jens: Erlösung und Beglaubigung: Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen und Ernst Bertrams Nietzsche: Versuch einer Mytholo­ gie. In: Modern Language Notes 90 (1975), S. 424–430.

363

Riedel, Wolfgang: Literatur und Wissen. Thomas Mann: Der Zauberberg (1924). In: Ders.: Nach der Achsendrehung. Literarische Anthropologie im 20. Jahr­ hundert. Würzburg 2014, S. 144–162. Riemer, Willy: Symbolism, Mathematics, and Monistic Thought: Contextual Studies in Hermann Broch. Yale 1979. Riemer, Willy: Mathematik und Physik bei Hermann Broch. In: Hermann Broch. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1986, S. 260‑271. Ritzer, Monika: Hermann Broch und die Kulturkrise des frühen 20. Jahrhun­ derts. Stuttgart 1988. Ritzer, Monika: Brochs frühe Kulturkritik und das Pathos der Distanz. In: Aussteigen um 1900. Imaginationen in der Literatur der Moderne. Hg. von Barbara Mahlmann-Bauer und Paul Michael Lützeler. Göttingen 2021, S. 398–417. Rodlauer, Hannelore (Hg.): Otto Weininger. Eros und Psyche. Studien und Briefe 1899–1902. Wien 1990. Rodlauer, Hannelore: Fragmente aus Weiningers Bildungsgeschichte. In: Otto Weininger. Eros und Psyche. Studien und Briefe 1899–1902. Hg. von ders. Wien 1990, S. 11–51. Roesler, Michael: Hermann Brochs Romanwerk. Ein Forschungsbericht. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 65 (1991), Heft 3, S. 502–587. Rudloff, Holger, Helmut Liche: „Pädagogen-Rivalität (quasi erotisch)“. Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“. In: Thomas-Mann-Jahrbuch 26 (2013), S. 231–256. Salyámosy, Miklós: Der Weltanschauungsroman. Der Entwicklungsroman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Budapest 1998. Sagave, Pierre-Paul: Der Begriff des Terrors in Thomas Manns Zauberberg. In: Thomas Mann. Aufsätze zum „Zauberberg“. Hg. von Rudolf Wolff. Bonn 1988, S. 9–22. Sauereßig, Heinz: Die Entstehung des Romans „Der Zauberberg“. In: Besichti­ gung des Zauberbergs. Hg. von dems. Biberach an der Riss 1974, S. 5–53. Scheuer, Helmut: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer li­ terarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979. Scheuer, Helmut: „Dichter und Helden“ – Zur Biographik des George-Kreises. In: Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚siebenten Ring‘. Hg. von Wolfgang Braungart, Ute Oelmann und Bernhard Böschenstein. Tübingen 2001, S. 300‑314. Schienke, Christian: Stürze vom Dachfirst. Frank Wedekinds Totentanz/Tod und Teufel (1905) – ein Versuch über Weltanschauungen. In: Weltanschau­ ung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Hg. von Anna Brasch, Christian Meierhofer. Berlin 2020, S. 421–451.

364

Schilling, Erik: Wer spricht? Gattungstheoretische und narratologische Überle­ gungen zu Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“. In: Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ nach 100 Jahren. Neue Perspek­ tiven und Kontexte. Hg. von dems. Frankfurt am Main 2020, S. 47–61. Schilt, Jelka: „Noch etwas tiefer lösen sich die Menschen in Nichtigkeiten auf “. Figuren in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Bern 1995. Schirnding, Albert von: Im Namen Nietzsches. Die Beziehung von Thomas Mann und Ernst Bertram. In: Thomas Mann in München I: Vortragsreihe Sommer 2003. Hg. von Dirk Heißerer. München 2004, S. 175–203. Schlant, Ernestine: Die Philosophie Hermann Brochs. Bern 1971. Schmaus, Marion: Hermann Brochs melodramatische Imagination. In: Her­ mann Broch und die Romantik. Hg. von Doren Wohlleben und Paul Micha­ el Lützeler. Berlin und Boston 2014, S. 205–219. Schmid-Bortenschlager, Sigrid: Dynamik und Stagnation. Hermann Brochs ästhetische Ordnung des politischen Chaos. Stuttgart 1980. Schmid-Bortenschlager, Sigrid: Das Konzept der Totalität im Werk von Her­ mann Broch. In: Hermann Broch. Hg. von Christine Mondon, Rouen 2003, S. 117–128. Schmid, Marcel: Zauberbergischer Prototyp. Davos, der Roman und die Le­ bensreform. In: Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruch­ stimmung um 1900. Hg. von Thorsten Carstensen und Marcel Schmid. Bie­ lefeld 2016, S. 209–229. Schneider, Thomas F.: Eine Textform als Weltanschauung. Die Instrumentali­ sierung der Ballade durch Börries von Münchhausen. In: Weltanschauung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Hg. von Anna Brasch, Christian Meierhofer. Berlin 2020, S. 303–321. Schneider, Tobias: Robert Musil – Gustav Donath – Ludwig Klages. Marginali­ en zur Meingast-Episode im Mann ohne Eigenschaften. In: Musil-Forum. Stu­ dien zur Literatur der klassischen Moderne 25/26 (1999/2000), S. 239–252. Schneider, Wolfgang: Lebensfreundlichkeit und Pessimismus. Thomas Manns Figurendarstellung. Frankfurt am Main 1999. Schlaffer, Heinz: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußt­ seins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt am Main 1990. Schoepf, Joachim: Die pädagogischen Konzepte in Thomas Manns „Zauber­ berg“ und ihre Wirkung auf die Hauptfigur Hans Castorp. Marburg 2001. Scholdt, Günter, Walter, Dirk: Sterben für die Republik? Zur Deutung von Thomas Manns „Zauberberg“. In: Wirkendes Wort 30 (1980), S. 108–122. Schröter, Manfred: Der Streit um Spengler. Kritik seiner Kritiker. München 1922.

365

Schultz, Hans-Dietrich: Sozialgeographie. Geographie ab ca. 1900. In: Die Soziologie und ihre Nachbardisziplinen im Habsburgerreich. Ein Kompendi­ um internationaler Forschungen zu den Kulturwissenschaften in Zentraleu­ ropa. Hg. von Karl Acham. Teil H: Exemplarische Anregungen von Seiten einiger Nachbardisziplinen – Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Wien, Köln und Weimar 2020, S. 722–727. Schurz, Gerhard: Theorie der Weltanschauungen und Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. In: Robert Musil – Ironie, Satire, falsche Gefühle. Hg. von Kevin Mulligan und Armin Westerhoff. Paderborn 2009, S. 99–123. Schwarzwälder, Florens: Der Weltanschauungsroman 2. Ordnung. Probleme literarischer Modellbildung bei Hermann Broch und Robert Musil. Bielefeld 2019. Schwarzwälder, Florens: Einzelseelen. Zur Entwicklung des Weltanschauungs­ romans zweiter Ordnung bei Broch und Musil. In: Weltanschauung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Hg. von Anna Brasch und Christian Meierhofer. Berlin 2020, S. 617–648. Schweighofer, Astrid: Religiöse Sucher in der Moderne. Konversionen vom Judentum zum Protestantismus in Wien um 1900. Berlin, München, Boston 2015. Schwidtal, Michael, Jaan Undusk (Hg.): Baltisches Welterlebnis. Die kulturge­ schichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyser­ ling. Beiträge eines internationalen Symposions in Tartu vom 19. bis 21. Sep­ tember 2003. Heidelberg 2007. Schwöbel, Christoph: Theologisches auf dem Zauberberg. In: „Der Zauber­ berg“ – die Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman. Hg. von Dietrich von Engelhardt und Hans Wißkirchen. Stuttgart 2003, S. 107–123. Sebald, Winfried G.: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Litera­ tur. Frankfurt am Main 1995. Sebastian, Thomas: Der Gang der Geschichte. Rhetorik der Zeitlichkeit in Hermann Brochs Romantrilogie „Die Schlafwandler“. Würzburg 1995. Sengoopta, Chandak: Otto Weininger. Sex, Science, and Self in Imperial Vien­ na. Chicago und London 2000. Seng, Thomas: Weltanschauung als verlegerische Aufgabe. Der Otto Reichl Verlag 1909–1954. Mit einer Bibliographie der Verlage von Otto Reichl und der Deutschen Bibliothek. St. Goar 1994. Sina, Kai: Kollektivpoetik. Zu einer Literatur der offenen Gesellschaft in der Moderne. Berlin und Boston 2019. Sloterdijk, Peter: Weltanschauungsessayistik und Zeitdiagnostik. In: Literatur der Weimarer Republik 1918–1933. Hg. von Bernhard Weyergraf. München und Wien 1995, S. 309–339.

366

Sluga, Glenda: Habsburg Histories of Internationalism. In: Remaking Central Europe: The League of Nations and the Former Habsburg Lands. Hg. von Peter Becker und Natasha Wheatley. Oxford 2020, S. 17–36. Smerilli, Filippo: Moderne – Sprache – Körper. Analysen zum Verhältnis von Körpererfahrung und Sprachkritik in erzählenden Texten Robert Musils. Göttingen 2009. Smola, Franz: Vom „Menschenbewusstsein“ zum neuen Menschenbild – Egon Schiele und der Anthropogeograph Erwin Hanslik. In: Die ästhetische Gno­ sis der Moderne. Hg. von Leander Kaiser und Michael Ley. Wien 2008, S. 123–246. Sommer, Gerald: Doderer und Weininger. Anmerkungen zur produktiven Re­ zeption höchst fragwürdiger Ideologeme. In: Excentrische Einsätze. Studien und Essays zum Werk Heimito von Doderers. Hg. von Kai Luehrs. Berlin und New York 1998, S. 282–301. Sommer, Loreen: Krisen- als Formbewusstsein. Das Programm der ‚Neuklassik‘ oder Die Überführung einer Weltanschauung in Poetik. In: Weltanschauung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Hg. von Anna Brasch, Christian Meierhofer. Berlin 2020, S. 157–181. Specht, Benjamin: Die ‚gottlose Mystik‘ und Der letzte Tod des Gautama Buddha (1913). Weltanschauungsliteratur als Textverbund bei Fritz Mauthner. In: Weltanschauung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Hg. von Anna Brasch, Christian Meierhofer. Berlin 2020, S. 205– 234. Spiekermann, Björn: Rhythmus und Weltanschauung um 1900. Am Beispiel von Carl Ludwig Schleichs Essay Der Rhythmus (1908). In: Weltanschauung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Hg. von Anna S. Brasch und Christian Meierhofer. Berlin 2020, S. 125–155. Sprengel, Peter: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutsch-sprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg 2012. Stanzel, Franz Karl: Der weibliche Mann. Eine rückläufige Spurensuche von James Joyce zu Otto Weininger. In: Poetica 29 (1997), S. 141–157. Stanzel, Franz Karl: Telegonie – Fernzeugung. Macht und Magie der Imaginati­ on. Wien, Köln und Weimar 2008. Stašková, Alice: Der Stil auf der Suche nach der Religion im frühen Schaffen Hermann Brochs. In: Hermann Broch. Religion, Mythos, Utopie – zur ethi­ schen Perspektive seines Werks. Hg. Von Paul Michael Lützeler und Christi­ ne Maillard. Strasbourg 2008, S. 21–36. Stašková, Alice: Nächte der Aufklärung. Studien zur Ästhetik, Ethik und Er­ kenntnistheorie in „Voyage au bout de la nuit“ von Louis-Ferdinand Céline und „Die Schlafwandler“ von Hermann Broch. Tübingen 2008.

367

Stašková, Alice: Schriften zur Literatur, Kunst und Kultur. In: Hermann Broch-Handbuch. Hg. von Michael Kessler und Paul Michael Lützeler. Ber­ lin und Boston 2016, S. 319–358. Steinecke, Hartmut: Broch als politischer Dichter. In: Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung 6 (1970), S. 140‑183. Steinecke, Hartmut: Kunstwerk der Erkenntnis. Hermann Brochs Verständnis des Romans im historischen Kontext. In: Romanstruktur und Menschen­ recht bei Hermann Broch. Hg. von Hartmut Steinecke und Joseph Strelka. Bern 1990, S. 121–131. Stern, David G., Béla Szabados (Hg.): Wittgenstein Reads Weininger. Cam­ bridge 2004. Steuer, Daniel: Die Logik der Biographie. Netzwerke des Geistes bei Otto Weininger und Ludwig Wittgenstein. In: Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne. Hg. von Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme und Jeanne Riou. Köln 2004, S. 173–195. Stieg, Gerald: Kafka und Weininger. In: Dialog der Epochen. Studien zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Walter Weiss zum 60. Geburtstag. Hg. von Eduard Beutner u. a. Wien 1987, S. 88–100. Stiening, Gideon: Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners. Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten. Berlin und Boston 2019. Streim, Gregor: Deutscher Geist und europäische Kultur: Die ‚europäische Idee‘ in der Kriegspublizistik von Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmanns­ thal und Rudolf Pannwitz. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 45 (1996), S. 187–191. Streitler, Nicole: Musil als Kritiker. Bern u. a. 2006. Susen, Gerd-Hermann, Edith Wack (Hg.): „Was wir im Verstande ausjäten, kommt im Traume wieder“. Wilhelm Bölsche 1861–1939. Würzburg 2012. Svatek, Petra: Geopolitische Kartographie in Österreich 1917–1937. In: Mittei­ lungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft 157 (2015), S. 301– 322. Szabó, László V.: Hermann Broch und Robert Musil: K. u. K. oder Kollegiali­ tät und Konkurrenz. In: Hermann Brochs literarische Freundschaften. Hg. von Endre Kiss, Paul Michael Lützeler und Gabriella Rácz. Tübingen 2008, S. 105–119. Szabó, László V.: „Pannwitz gut.“ Die Beziehung zwischen Thomas Mann und Rudolf Pannwitz. In: Thomas Mann Jahrbuch 22 (2009), S. 245–263.

368

Szabó, László V.: Transkulturalität in Hermann von Keyserlings „Reisetage­ buch eines Philosophen“. In: Netzwerke und Transferprozesse. Studien aus dem Bereich der Germanistik. Beiträge der VII. Internationalen Germa­ nistentagung an der Christlichen Universität Partium, Großwardein / Na­ gyvárad / Oradea, 8.–9. September 2016. Hg. von Andrea Bánffi-Benedek u. a. Wien 2018, S. 204–217. Teller, Katalin: Versprachlichte Kopfgeburten. Der Fall Moosbrugger in Musils Mann ohne Eigenschaften [2008] (Kakanien revisited: http://www.kakanien.ac. at/beitr/fallstudie/KTeller1.pdf, abgerufen am 29.6.2017). Tewilt, Gerd-Theo: Zustand der Dichtung. Interpretationen zur Sprachlichkeit des „anderen Zustands“ in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Münster 1990. Tholen, Toni: Neues vom Dunkelmann Leo Naphta. In: Heinrich Mann-Jahr­ buch 8 [1990], S. 81–99. Tholen, Toni: Verlust der Nähe. Reflexion von Männlichkeit in der Literatur, Heidelberg 2005. Thomé, Horst: Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik. Frankfurt am Main. Bern, Las Vegas 1978. Thomé, Horst: Geschichtsspekulation als Weltanschauungsliteratur. Zu Os­ wald Spenglers Der Untergang des Abendlandes. In: Literatur und Wissen (schaften) 1890–1935. Stuttgart 2002, S. 194–212. Thomé, Horst: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danne­ berg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen 2002, S. 338–380. Thomé, Horst: Der Blick auf das Ganze. Zum Ursprung des Konzepts ‚Welt­ anschauung‘ und der Weltanschauungsliteratur. In: Aufklärungen. Zur Lite­ raturgeschichte der Moderne. Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag. Hg. von Werner Frick u. a. Tübingen 2003, S. 387–401. Thomé, Horst: Weltanschauung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 12. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Basel 2004, Sp. 453–460. Thomé, Horst: Der alte und der neue Glaube als Weltanschauungsliteratur. In: David Friedrich Strauß als Schriftsteller. Hg. von Barbara Potthast und Vol­ ker Henning Drecoll. Heidelberg 2018, S. 253–271. Titzmann, Michael: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47–61. Titzmann, Michael: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft. In: Modelle des literari­ schen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 395–438.

369

Titzmann, Michael: Revolutionärer Wandel in Literatur und Wissenschaften. In: Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. hg. von Karl Richter, Jörg Schönert und Michael Titzmann. Stuttgart 1997, S. 297–322. Tschörtner, Heinz-Dieter: Gerhart Hauptmann und Thomas Mann – Versuch einer Darstellung ihrer Beziehungen. In: Vollendung und Größe Thomas Manns. Hg. von Georg Wenzel. Halle 1962, S. 87–105. Vaget, Hans Rudolf: Thomas Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München 1984. Vaget, Hans Rudolf: Vom „höheren Abschreiben“. Thomas Mann, der Erzäh­ ler. In: Liebe und Tod – in Venedig und anderswo. Die Davoser Literaturtage 2004. Hg. von Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 2005, S. 15–31. Vaget, Hans Rudolf: „Politically suspect“. Music on the Magic Mountain. In: Thomas Mann’s The Magic Mountain. A Casebook. Hg. von dems. Oxford 2008, S. 123–141. Vaget, Hans Rudolf: „Schicksalsgeist“. Zu Thomas Manns Nietzsche-Rezeption in der Weimarer Republik. In: Friedrich Nietzsche und die Literatur der klas­ sischen Moderne. Hg. von Thorsten Valk. Berlin, New York 2009, S. 147– 162. Valentin, Jean-Marie: „Ein joli jésuite mit einer petite tache humide“. Naphta, la soie, le sang, la mort. In: Études Germaniques 288 (2017), Nr. 4, S. 643–663. Ventzlaff, Hubertus: Hermann Broch. Ekstase und Masse. Untersuchungen und Assoziationen zur politischen Mystik des 20. Jahrhunderts, Bonn 1981. Völker, Ludwig: Ein Mißverständnis und seine Folgen: placet experiri als Wahl­ spruch Petrarcas in Thomas Manns Der Zauberberg. In: Euphorion 67 (1973), S. 383–385. Vogl, Joseph: Einleitung. In: Poetologien des Wissens um 1800. Hg. von dems. München 1999, S. 7–16. Vogl, Joseph (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999. Voller, Christian; Schnödl, Gottfried; Walter, Jannis (Hg.): Spenglers Nachle­ ben. Studien zu einer verdeckten Wirkungsgeschichte. Springe 2018. Vollhardt, Friedrich: Hermann Brochs geschichtliche Stellung. Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie „Die Schlafwandler“ (1914–1931). Tübingen 1986. Vollhardt, Friedrich: Hermann Brochs Literaturtheorie. In: Hermann Broch. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1986, S. 272–288. Vollhardt, Friedrich: „Welt-an=Schauung“. Problemkonstellationen in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. In: Heuristiken der Literaturwis­ senschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur. Hg. von Uta Klein, Katja Mellmann und Steffanie Metzger. Paderborn 2006, S. 505–525.

370

Vollhardt, Friedrich: Hermann Broch und der religiöse Diskurs in den Kultur­ zeitschriften seiner Zeit (Summa, Hochland, Eranos). In: Hermann Broch. Religion, Mythos, Utopie – zur ethischen Perspektive seines Werks. Hg. Von Paul Michael Lützeler und Christine Maillard. Strasbourg 2008, S. 37–52. Vollhardt, Friedrich: Das Problem der Weltanschauung in den Schriften Her­ mann Brochs vor dem Exil. In: Hermann Broch. Neue Studien. Festschrift für Paul Michael Lützeler zum 60. Geburtstag. Hg. von Michael Kessler. Tübingen 22009, S. 492–509. Vollhardt, Friedrich: Kultur / Zivilisation. Weltanschauliche Denkmuster in Thomas Manns Essay und im Roman Der Zauberberg. In: Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ nach 100 Jahren. Neue Perspektiven und Kontexte. Hg. von Erik Schilling. Frankfurt am Main 2020, S. 15–31. Voßkamp, Wilhelm: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Pro­ blemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte. Hg. von Walter Hinck. Heidelberg 1977, S. 27–42. Wagner, Nike: Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne. Frankfurt am Main 1982. Walther, Barbara E.: Hermann Broch. Autonomie- und Einsamkeitsproblema­ tik. Bonn 1980. Walser, Martin: Ironie als höchstes Lebensmittel oder: Lebensmittel der Höchs­ ten. In: Text und Kritik. Sonderband Thomas Mann. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1976, S. 5–26. Weber, Armin: Zum Verhältnis von gestalthafter Darstellung und Denken in der Literatur. Thomas Manns „Zauberberg“ und Heimito von Doderers „Dä­ monen“ im Vergleich. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 65 (2013), Nr. 2, S. 128–151. Weber, Frank: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis. Frankfurt am Main 1989. Werle, Dirk: Große Männer. Zur Entfaltung einer Topik in Thomas Manns essayistischen Schriften. In: Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die Klassische Moderne. Hg. von Stefan Börnchen und Claudia Liebrand. München 2008, S. 243–265. Wessely, Christina: Welteis. Die Astronomie des Unsichtbaren um 1900. In: Pseudowissenschaft. Hg. von Dirk Rupnow u. a. Frankfurt am Main 2008, S. 163–194. Westerhoff, Armin: Poetologie als Erkenntnistheorie: Robert Musil. In: Littéra­ ture et théorie de la connaissance 1890–1935. Literatur und Erkenntnistheo­ rie 1890–1935. Hg. von Christine Maillard. Strasbourg 2004, S. 191–208. Willemsen, Roger: „Man nimmt Franz Blei zu leicht!“ – Robert Musil und „Das große Bestiarium der Literatur“. In: Robert Musil und die kulturellen Tendenzen seiner Zeit. Hg. von Josef Strutz. München 1983, S. 120‑129. 371

Willemsen, Roger: Das Existenzrecht der Dichtung. Zur Rekonstruktion einer systematischen Literaturtheorie im Werk Robert Musils. München 1984. Wißkirchen, Hans: Zeitgeschichte im Roman. Zu Thomas Manns Zauberberg und Doktor Faustus. Bern 1986. Wißkirchen, Hans: „Ich glaube an den Fortschritt, gewiß“. Quellenkritische Untersuchung zu Thomas Manns Settembrini-Figur. In: Das „Zauberberg“Symposium 1994 in Davos. Hg. von Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 1995, S. 81–116. Wißkirchen, Hans: Thomas Mann in der literarischen Kritik. In: ThomasMann-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. Frankfurt am Main 32005, S. 875–924. Wohlleben, Doren; Lützeler, Paul Michael (Hg.): Hermann Broch und die Romantik. Berlin und Boston 2014. Wolf, Norbert Christian: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Mu­ sils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln und Weimar 2011. Wolf, Norbert Christian: Der Mann ohne Eigenschaften (1930/1932/postum). In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. von Birgit Nübel und Norbert Christian Wolf. Berlin und Boston, S. 224–319. Wolff, Katja: „Dem Tod keine Herrschaft einräumen“. Peeperkorn als Huma­ nist. In: Thomas Mann. Aufsätze zum Zauberberg. Hg. von Rudolf Wolff. Bonn 1988, S. 91–113. Wünsch, Marianne: Okkultismus im Kontext von Thomas Manns „Zauber­ berg“. In: Thomas Mann Jahrbuch 24 (2011), S. 85 –103 Würffel, Bodo: Zeitkrankheit – Zeitdiagnose aus der Sicht des Zauberbergs. Die Vorkriegsgeschichte des Ersten Weltkriegs – in Davos erlebt. In: Das Zauberberg-Symposion 1994 in Davos. Hg. von Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 1995, S. 197–233. Wysling, Hans; Schmidlin, Yvonne: Thomas Mann. Ein Leben in Bildern. Zürich 1994. Wysling, Hans: Der Zauberberg. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. Frankfurt am Main 32005, S. 397–422. Zapf, Hubert: Kulturökologie und Literatur. Ein transdisziplinäres Paradigma der Literaturwissenschaft. In: Kulturökologie und Literatur. Beiträge zu einem transdisziplinären Paradigma der Literaturwissenschaft. Heidelberg 2008, S. 15–44. Zapperi, Roberto: Thomas Mann und Luigi Settembrini. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 8 (2015), Heft 1: Apokalypse gestern. Hg. von Carsten Dutt und Martial Staub, S. 59–72.

372

Zeller, Rosmarie: Musils künstlerische Lösungen zur Darstellung der Krise des Wertsystems und der Ideologie in der Moderne. In: Musil an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Internationales Kolloquium Saarbrücken 2001. Hg. von Marie-Louise Roth und Pierre Béhar in Zusammenarbeit mit Annette Daigger. Bern 2005, S. 55–78. Ziche, Paul: Wissenschaftliche Weltanschauung. Gemeinsamkeiten und Diffe­ renzen monistischer und anti-monistischer Bewegungen. In: Die Angst vor der Moderne. Philosophische Antworten auf Krisenerfahrungen. Der Mikro­ kosmos Jena 1900–1940. Hg. von Klaus-Michael Kodalle. Würzburg 2000, S. 63–87. Zima, Peter V.: Robert Musils Sprachkritik. Ambivalenz, Polyphonie und De­ konstruktion. In: Robert Musil – Theater, Bildung, Kritik. Internationales Robert-Musil-Sommerseminar 1984. Hg. von Josef Strutz und Johann Strutz. München 1985, S. 185–203. Zima, Peter V.: Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans. München 1986. Zons, Raimar Stefan: Naphta. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 112 (1993), S. 231–250.

373