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German Pages 138 Year 2012
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 71
DANIEL DAMLER
Der Staat der Klassischen Moderne
Duncker & Humblot · Berlin
DANIEL DAMLER
Der Staat der Klassischen Moderne
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 71
Der Staat der Klassischen Moderne Von
Daniel Damler
Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-13956-9 (Print) ISBN 978-3-428-53956-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-83956-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞
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Ces petites perceptions sont donc de plus grande efficace par leur suites qu’on ne pense. Ce sont elles qui forment ce je ne sçais quoy, ces gouts, ces images des qualités des sens, claires dans l’assemblage, mais confuses dans les parties, ces impressions que des corps environnans font sur nous, qui enveloppent l’infini, cette liaison que chaque estre a avec tout le reste de l’univers. G. W. Leibniz, Nouveaux essais sur l’entendement humain (1704)
Vorwort Der Abhandlung liegt ein Vortrag zu Grunde, den ich im Juni 2012 am „Internationalen Max-Planck Forschungs kolleg für vergleichende Rechtsgeschichte“ in Frankfurt am Main gehalten habe. Für die Einladung sowie die anregenden Beiträge danke ich den Kollegiaten und dem Leitungsgremium. Die Vortragsform wurde zwar nicht beibehalten, wohl aber die einem Vortrag eigentümliche Dramaturgie und Choreographie der Themen. Dem Leser ein auch nur im Ansatz ausgewogenes Kompendium der Staats- und Rechtstheorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an die Hand zu geben, ist offenkundig nicht beabsichtigt. Dem Verlag Duncker & Humblot danke ich für die – wie immer – sehr professionelle Zusammenarbeit. Frankfurt am Main, im Juli 2012
Daniel Damler
Inhalt I. Die Neue Fassade – Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 II. Designtheologie: Katechismus der Moderne . . . . . . . . . . . . . 15 III. Material- und formengebundene Staatsutopien . . . . . . . . . . . 1. Bruno Tauts „Stadtkrone“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Jewgeni Samjatins „Мы“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Le Corbusiers „Ville Radieuse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Hans Kelsens Leuchtkörper: Progressive Sachlichkeit . . . . . 72 V. Carl Schmitts Heizkörper: Reaktionäre Sachlichkeit . . . . . . 97 1. Stil 1930 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2. Modernisierte Feindbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 VI. Sinnliches Staatsdenken – Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
I. Die Neue Fassade – Prolog Wer heute in Anlehnung an Eric Hobsbawm vom „Zeitalter der Extreme“ spricht,1 hat dabei vornehmlich die ideologischen und gesellschaftlichen Gegensätze im Blick, die das 20. Jahrhundert in ein Schlachtfeld der Weltkriege und Revolutionen verwandelten. Doch „extrem“ war dieses Zeitalter noch aus einem ganz anderen Grund, den als vis motrix der Weltgeschichte anzuerkennen sich freilich für einen marxistischen Historiker wie Hobsbawm verbietet. Das Maßlose, Extreme, Übersteigerte der Epoche, um das es im Folgenden gehen soll, lässt sich mit Worten nicht besser beschreiben als es auf einem Cartoon aus dem Jahr 1929 zu besichtigen ist (Abb. 1). Der Untertitel verrät, dass wir es mit „Hausbesitzer Gieselmann vor und nach der Erneuerung seiner Fassade“ zu tun haben.
Abb. 1: Hermann Abeking, „Modernisierung: Der Hausbesitzer Gieselmann vor und nach der Erneuerung seiner Fassade“ 1 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München, Wien 1995 (Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914–1991, London 1994).
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I. Die Neue Fassade – Prolog
Die Karikatur aus der „Berliner Illustrierten Zeitung“ verweist auf eine dramatische Veränderung im Leben der Menschen, der gewöhnlich nicht die Beachtung zuteil wird, die sie verdient hätte. Innerhalb eines Zeitraums von nicht einmal zwei Jahrzehnten erhält die Welt ein völlig neues Outfit, einen neuen Dress Code, der sich radikaler von den Usancen des späten 19. Jahrhunderts nicht unterscheiden könnte. Der „moderne Stil“ übernimmt das Kommando und stellt alles auf den Kopf. Die bürgerliche Gesellschaft, die bis vor kurzem noch so stolz war auf ihre Louis XVI.Kommoden und Rokoko-Schirmständer, warf nun diese reich verzierten Schmuckstücke samt tausend weiterer nutzloser Preziosen ungerührt auf den Müll. An die Stelle des Alten trat entweder das Nichts, die „weiße Wand“, die erst jetzt in Mode kommt, oder ein funktionales Äquivalent, jedoch ohne jede Verzierung und blank poliert. Die muffige, reich dekorierte Gute Stube wich dem spartanisch möblierten, lichtdurchfluteten Wohnzimmer. Die kognitive Psychologie hat in den letzten Jahren nachgewiesen, dass (auch) das abstrakte Denken in hohem Maße von unseren körperlichen und sinnlichen Befindlichkeiten abhängt.2 Wie wir uns in ethischen Konfliktlagen entscheiden, auf welche Weise wir politische, ökonomische oder technische Probleme lösen, hängt maßgeblich von unserer 2 Dazu Daniel Damler, Pulchritudo Splendor Iuris. Prolegomena zu einer kognitiven Rechtsästhetik (in Vorbereitung). Zur Imagination und Repräsentation des Staates aus geistes- (begriffs-) und kunstgeschichtlicher Perspektive u. a. Horst Bredekamp, Thomas Hobbes, Der Leviathan: Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder 1651–2001, 3. Aufl., Berlin 2006; Gerhard Dohrn-van Rossum / Ernst-Wolfgang Böckenförde, Organ, Organismus, Politischer Körper, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. IV, Stuttgart 1978, S. 519–622; Barbara Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats, Berlin 1986; Dietmar Peil, Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart, München 1983.
I. Die Neue Fassade – Prolog13
physischen Verfassung und unserem Aufenthaltsort ab. Die involvierten kognitiven Prozesse vollziehen sich unterhalb der Bewusstseinsschwelle, so dass wir sie gewöhnlich leugnen oder unterschätzen. Außerdem verändert sich mit einer Umgestaltung unserer Umgebung auch das Reservoir an Metaphern. Auf Metaphern aber sind wir angewiesen, um abstrakte, nicht-gegenständliche Zusammenhänge zu erfassen. Kurz: Wir denken mit den Räumen, in denen wir leben. Demnach könnte es geistesgeschichtlich von erheblicher Bedeutung sein, wenn das materielle Inventar einer ganzen Zivilisation ausgetauscht wird, wie dies zu Beginn der Klassischen Moderne geschah. In diesem speziellen Fall müssen wir uns noch nicht einmal mit dem Verweis auf die Macht des Unbewussten zufrieden geben. Mag zu anderen Zeiten sich ein Wandel in Stil und Mode lautlos vollzogen haben, ohne dass sich damit irgendwelche politischen oder gesellschaftlichen Hoffnungen verbanden, für den Aufstieg der Neuen Sachlichkeit gilt das nicht. Stilfibeln, die den säkularen Glauben an die Heilswirkung der „guten Ware“ und der „guten Form“ beschworen, überfluteten das Land. Die Designtheologie der Moderne war gleichsam das Surrogat für einen übergreifenden weltanschaulichen Konsens, den die maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte nach der Zäsur von 1914 nicht mehr herzustellen vermochten. An den Glaubenssätzen des modernen Formen- und Materialkatechismus kam niemand vorbei, sofern er nur in irgendeiner Weise am gesellschaftlichen Leben teilnahm.3 Davon handelt das zweite, das folgende Kapitel. In dem sich daran anschließenden Hauptteil (III.–V.) ist der Frage nachzugehen, inwieweit ästhetische Präferenzen, 3 Zum Stellenwert von Design und „visueller Kultur“ im 20. Jahrhundert u. a. Janet Ward, Weimar Surfaces. Urban Visual Culture in 1920s Germany, Berkeley u. a. 2001; Paul Betts, The Authority of Everyday Objects. A Cultural History of West German Industrial Design, Berkeley u. a. 2004; Gert Selle, Geschichte des Design in Deutschland, 2. Aufl., Frankfurt am Main, New York 2007.
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I. Die Neue Fassade – Prolog
Argumentationsmuster und Denkfiguren der Neuen Sachlichkeit Einfluss auf Modelle und Methoden einer in einem weiten Sinn verstandenen Staatslehre genommen haben. Auch scheinbar belanglose, nebensächliche Eindrücke und Erlebnisse, die erst in der Summe ihre Wirkung entfalten, verdienen unsere Aufmerksamkeit, ja diese alltäglichen petits perceptions besonders. Zu Wort kommen sollen nicht nur Juristen, sondern auch namhafte Architekten der Moderne. Schon deshalb versteht es sich von selbst, dass Erkenntnisgewinne für die staatsrechtliche Dogmatik nicht zu erwarten sind. Ebenso wenig ist beabsichtigt, die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts um neue Details zu bereichern. Begriffen wie „Neue Sachlichkeit“ und „Klassische Moderne“ liegt die unscharfe, „bewegliche“ Bedeutung des allgemeinen Sprachgebrauchs zu Grunde. Die ungleiche Herkunft und Prägung der ausgewählten Autoren bringt es mit sich, dass recht verschiedene Wege der Aneignung ans Licht kommen. Das Spektrum reicht von einer an das unmittelbare sinnliche Erleben gebundenen Meditation bis hin zur Vereinnahmung von sprachlich vermittelten (wenngleich sinnlich assoziierten) Gestaltungsmaximen.
II. Designtheologie: Katechismus der Moderne Das Gute und das Schöne miteinander in Verbindung zu bringen, mithin das Vertauschen von Begriffen und Kategorien des Sittlichen und des Ästhetischen, ist als solches keine Erfindung des 20. Jahrhundert. Die Kalokagathia, der Zusammenklang von Schönheit und Gutheit („schön und gut“ – kalos kai agathos), gehörte zu den wirkungsmächtigsten Leitbildern der Antike. Schon bei Platon finden sich Ausführungen zur Verwandtschaft der Attribute „schön“, „gut“ und „gerecht“, etwa im „Symposion“ (201c; 204e), im „Gorgias“ (476b; 476e), im „Protagoras“ (358b) sowie in den staatstheoretischen Schriften, in der „Politeia“ und in den „Nomoi“. So heißt es in der zuletzt genannten Schrift (859): „Über die Gerechtigkeit im Allgemeinen und über die gerechte Menschen, Dinge und Handlungen sind wir uns doch alle irgendwie einig, dass dies alles schön ist; selbst wenn daher jemand behaupten wollte, dass die gerechten Menschen auch wenn sie körperlich hässlich sind, dennoch aufgrund eben ihrer vollkommen gerechten Gesinnung vollkommen schön seien, so würde er mit einer solchen Behauptung wohl in keinem Fall etwas Verkehrtes zu sagen scheinen.“4 Dennoch wird man der Kalokagathia des 20. Jahrhunderts nicht gerecht, wenn man in ihr nur das antike Ideal in neuem Gewand sieht. In der Klassischen Moderne steht nicht – wie in der griechischen Klassik – der gute, gerechte Mensch im Mittelpunkt, dessen Sittlichkeit Schönheit hervorbringt, sondern die schöne, wohlgestaltete Ware, die dem Menschen zu 4 Platon, Nomoi, übers. von Klaus Schöpsdau, Hieronymus Müller, in: Platon Werke, Bd. 8 / II, 6. Aufl., Darmstadt 2011, S. 195.
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II. Designtheologie: Katechismus der Moderne
einem sittlichen Lebenswandel verhelfen soll. Das Phänomen wird gemeinhin unterschätzt, weil es so recht weder zu den Prämissen eines geistes- noch eines wirtschafts- oder sozialgeschichtlichen Ansatzes passt. Doch besteht kein Zweifel, dass der säkulare Glaube an die Heilswirkung der „guten Ware“ und der „guten Form“ in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts weit verbreitet war. Nichts weniger stand im Raum als das Versprechen auf Errettung aus der ökonomischen und politischen Misere durch Teilhabe an einer radikal neuen Ästhetik der materiellen Welt. Die Anfänge waren harmlos und heiter. Im Jahr 1908 hielt der Wiener Architekt Adolf Loos seine berühmte, bald in alle Weltsprachen übersetzte Brandrede gegen die Verwendung von Ornamenten bei der Gestaltung von Gebrauchsgegenständen. Es war nicht nur der geistreiche Inhalt, sondern auch der provokante Titel – „Ornament und Verbrechen“ – der den Ruhm der Philippika begründete. Die bürgerliche Gesellschaft der Jahrhundertwende sah sich plötzlich allein aufgrund ihrer ästhetischen Präferenzen kriminalisiert. Loos kostete die Provokation lustvoll aus und wartete gleich zu Beginn des Vortrages mit weiteren Unverschämtheiten auf: „Das Kind ist amoralisch. Der Papua ist es für uns auch. Der Papua schlachtet seine Feinde ab und verzehrt sie. Er ist kein Verbrecher. Aber wenn der moderne Mensch jemanden abschlachtet, so ist er ein Verbrecher oder ein Degenerierter. Der Papua tätowiert seine Haut, sein Boot, sein Ruder, kurz alles, was ihm erreichbar ist. Er ist kein Verbrecher. Der moderne Mensch, der sich tätowiert, ist ein Verbrecher oder ein Degenerierter. Es gibt Gefängnisse, in denen 80 Prozent der Häftlinge Tätowierungen aufweisen. Die Tätowierten, die nicht in Haft sind, sind latente Verbrecher oder degenerierte Aristokraten.“5 Selbst der verstockteste Anhänger des von Loos karikierten Mobiliars konnte nicht übersehen, dass der Vortragende zu seinem 5 Adolf Loos, Ornament und Verbrechen, in: ders., Ornament und Verbrechen. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Adolf Opel, Wien 2000, S. 192–202, 193.
II. Designtheologie: Katechismus der Moderne 17
Thema und seinem Anliegen eine ironische Distanz wahrte. Selbstverständlich war für Loos der „schlechte“ Geschmack kein Fall für den Beichtstuhl oder die Staatsanwaltschaft. Schon bald aber verlor die Kritik am Ornament ihre Unschuld. Die schalkhafte Attitüde wich humorloser Pedanterie. Im Jahr 1915, mitten im Krieg, erschien das „Deutsche Warenbuch“, ein Katalog der „Dürerbund-Werkbund-Genossenschaft“, der als „bilderreiches Preisverzeichnis der brauchbarsten, gediegensten und schönsten Massenware der Gegenwart“ Einfluss nehmen wollte auf das Verhalten und Empfinden des deutschen Konsumenten.6 Joseph Popp, der Verfasser der „Einführung“, stellte klar, dass man eine sitt liche, zivilisatorische Mission verfolge, deren Schicksal über Wohl und Wehe der „allgemeinen Kultur“ entscheide: „Die gute Ware fördert ein Volk nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sittlich und künstlerisch. Jeder Besitz wirkt auf die Familie, als die Zelle der Gesellschaft, Gutes und Böses schaffend. Wir erfahren aus den Dingen der häuslichen Umgebung und des alltäglichen Gebrauches fördernde und hemmende Eindrücke, niedere und hohe Stimmungen, Auffassungen und Gewohnheiten, die unbewusst unser Leben beeinflussen und prägen.“7 Popp geißelte die „sittliche Verwüstung“, die der Gebrauch von verziertem, dysfunktionalem Hausrat über die Menschen bringe: „Wie wird der Händler zur Unredlichkeit gedrängt, um den Plunder los zu werden! Wie soll es den Eltern und Dienstgebern möglich werden, für solche Ware Achtung, Schonung, Liebe zu fordern, zur Gewissenhaftigkeit im Gebrauch zu erziehen, wenn die Dinge selbst jeglicher Redlichkeit und Gediegenheit Hohn sprechen! Wie soll der Sinn für einen schlichten, aber gediegenen Hausrat, die Ehrfurcht vor den Dingen, als unseren Lebensgenossen [sic!] wieder gewonnen werden, wenn diese selbst in allem das Gegenteil sind? Wie sollen Sparsamkeit und Ordnung wachsen, wenn wir uns mit solchen Hausgreuel umgeben? Wie fördert 6 Joseph Popp, Deutsches Warenbuch, Hellerau bei Dresden 1915, S. XVII. 7 Popp, Deutsches Warenbuch, S. XVII.
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II. Designtheologie: Katechismus der Moderne
er die allgemeine Oberflächlichkeit und Sensationslust, wie sozial zersetzend wirkt er!“8 Die moralisierende Waren- und Designkritik war für Popp – anders als noch für Loos – eine bitterernste Angelegenheit. Fortwährend ist im „Deutschen Warenbuch“ die Rede von der „Wahrhaftigkeit“ der „guten Massenware“9, dem „Charakter, Geist und Stimmungswert guter Werkstoffe“10, von der „bösen Tat“ der „unsittlichen Ware“11, „nicht nur für den einzelnen verderblich, sondern fürs ganze Volk, ja die ganze Kulturwelt“12. Explizit spricht Popp von „Erlösung“, die dem Käufer zweckmäßig gestalteter, „guter“ Produkte zuteil werde: „Der Kulturmensch der Gegenwart ist in Sachen des Geschmacks am wenigsten kultiviert, häufig von einer Überfülle des schlimmsten Schundes umgeben. Aus diesem Elend bringt nur eines Erlösung: das Schlechte durch das Gute zu ersetzen und hierfür unablässig zu werben.“13 Ein Blick in Warenhauskataloge, Hausfrauenratgeber, Möbelprospekte und Architekturkompendien der 20er und 30er Jahre zeigt, dass das Plädoyer für eine „Erlösung durch Design“ seit 1915 nichts an Aktualität eingebüßt hatte. Als Beispiel mag die im denkwürdigen Jahr 1933 publizierte Stilfibel „Gutes und Böses in der Wohnung“ dienen. Der Titel ist Programm. Auch die Überschriften der einzelnen Kapitel sprechen für sich: „Reigen der Seligen“, „TäuschSucht“, „Sachlichkeit als Ehrlichkeit“, „Fournier als Segen und Fluch“, „Sünden der Väter“, „Die Frau als Richterin über Gut und Böse“ usw.14 Die moralisierende Waren- und 8 Popp,
Deutsches Warenbuch, S. XXIV. Deutsches Warenbuch, S. XVIII, XXXI. 10 Popp, Deutsches Warenbuch, S. XVIII. 11 Popp, Deutsches Warenbuch, S. XIX, XXIII. 12 Popp, Deutsches Warenbuch, S. XXIV. 13 Popp, Deutsches Warenbuch, S. XVIII. 14 Carl Burchard, Gutes und Böses in der Wohnung in Bild und Gegenbild. Grundlagen für neues Wohnen, Leipzig, Berlin 1933. 9 Popp,
II. Designtheologie: Katechismus der Moderne 19
Formkritik hat die nationalsozialistische Diktatur unbeschadet überstanden. Paul Betts hat unlängst überzeugend nachgewiesen, dass sogar gerade im Dritten Reich und in der frühen Bundesrepublik das Industriedesign eine eminent wichtige Rolle bei der Identitätsfindung – dem „self-fashion ing“ des Einzelnen und der Gesellschaft – spielte: „There was no clear divide between 1932 and 1933 in German industrial aesthetics. Nazism provided little design innovation, nor did it ever really break from Weimar modernism. What was new was that industrial design enjoyed tremendous state backing to meet a variety of both economic and cultural ends. And even if the racist rhetoric of German design disappeared with the defeat of the Third Reich in 1945, the soaring idealism of design survived, the ideology of the design object as a marker of hope, loyalty, and transcendence continued unabated after the war.“15 Die Design-Kalokagathia der populären Warenkunde war eine wichtige Voraussetzung für die im Folgenden zu behandelnden Irritationen der Staatslehre durch Gestaltungs- und Architekturdiskurse. Denn wer von Gebäuden und Gebrauchsgegenständen Heil und Erlösung erwartet, dem wird es nicht allzu schwer fallen, in einem zweiten Schritt aus Formen und Materialien staatstheoretische Prinzipien „herauszulesen“.
15 Betts, The Authority of Everyday Objects. A Cultural History of West German Industrial Design, S. 71.
III. Material- und formengebundene Staatsutopien Wenn sich schon mit der Gestaltung von Kaffeetassen und Schreibtischlampen die Hoffnung verband, die Menschen glücklicher zu machen und die Gesellschaft spirituell zu erneuern, dann lag es auf der Hand, ganze Städte „im modernen Stil“ zu entwerfen, weil dann mit einem Schlag für alle Bürger dieser Städte die neue, bessere Zeit anbricht. In der Tat hat es an Versuchen nicht gefehlt, auch die Stadt als Ganzes neu zu erfinden. Prima facie handelt es sich bei den urbanen Visionen von Bruno Taut (1.) und Le Corbusier (3.) nur um eine besonders ambitionierte Form der Stadtplanung und nicht um eine Utopie, doch bei genauerer Lektüre der Begleittexte stellt sich heraus, dass die projektierten Städte nach Vorstellung ihrer Schöpfer bislang nicht existenten Gemeinwesen als Heimat dienen sollen. Mochten die neuen Städte dazu bestimmt sein, die gegenwärtige Gesellschaft mit Unterkünften zu versorgen: Sobald der Umzug abgeschlossen sei, werde diese allenfalls noch als Erinnerung an längst vergangene Zeiten existieren. Das alles trifft freilich nur auf Bruno Tauts „Stadtkrone“ und Le Corbusiers „Ville Radieuse“ zu, nicht aber auf das dritte Beispiel, den Roman „Wir“ von Jewgeni Samjatin (2.). Dieser Autor war kein Architekt wie die beiden anderen und betätigte sich daher auch nicht als Stadtplaner. Außerdem entwarf Samjatin keine Utopie, sondern eine Dystopie: Der in „Wir“ beschriebene „Einheitsstaat“ ist alles andere als ein behagliches Zuhause. Dennoch erscheint es zweckmäßig, „Samjatins Staat“ in die Überlegungen einzubeziehen, denn seinen totalitären Charakter verdankt er einer baulichen Innovation.
1. Bruno Tauts „Stadtkrone“ 21
1. Bruno Tauts „Stadtkrone“ Aus der Wendezeit 1918 / 1919 stammt ein verfassungspolitisches Manifest, das gewöhnlich wenig Beachtung findet, weil die, die es unterzeichneten, keine nennenswerte politische Hausmacht hinter sich hatten und daher auf die Nachkriegsverfassung keinen Einfluss nehmen konnten. Bemerkenswert ist das Programm des „Politischen Rates geistiger Arbeiter“ gleichwohl, nicht nur weil zu den Unterstützern Intellektuelle von Rang wie Robert Musil, Heinrich Mann und der Jurist Hugo Sinzheimer zählten, sondern auch, weil es Zeugnis ablegt von den aus heutiger Sicht geradezu aberwitzigen Verfassungskollagen, die in jener Zeit zur Diskussion standen und die – wie die Ereignisse fünfzehn Jahre später zeigen sollten – auch nach Verabschiedung der Weimarer Verfassung nie ganz in Vergessenheit gerieten. Das Programm dokumentiert den Wunsch einer progressiven, unorthodoxen Linken, dem in Bigotterien und Standesdünkel gefangenen Wilhelminischen Deutschland nach der militärischen Niederlage nun endgültig den Garaus zu machen und soziale Ungleichheit zu beseitigen. Auf der Agenda standen beispielsweise die „Abschaffung aller indirekten Steuern; stärkste Progression der Einkommen- und Erbschaftssteuer. Vergesellschaftung von Grund und Boden; Konfiskation der Vermögen von einer bestimmten Höhe an; Umwandlung kapitalistischer Unternehmungen in Arbeiterproduktivgenossenschaften. Schutz der Konsumenteninteres sen.“16 Ferner forderte man, die „durchgreifende Herstellung des Rechts aller Männer und Frauen, über den eigenen Körper frei zu verfügen“, die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung unehelicher Kinder, die Abschaffung der Todesstrafe, die Beseitigung des konfessionellen Unterricht an allen Schule, die „Vermenschlichung des Strafvollzugs“, Pressefreiheit sowie die „Freiheit der Schule, der wissenschaft lichen Forschung, der philosophischen Lehre und der Kunst 16 Politischer Rat geistiger Arbeiter, Programm, Das Ziel 3 (1919), S. 219–223, 220.
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III. Material- und formengebundene Staatsutopien
von jeder staatlichen Bevormundung“.17 Alle diese Forderungen waren aus Sicht des bürgerlichen Establishments gewiss radikal, aber sie bewegten sich doch im Rahmen dessen, was die Sozialisten schon seit vielen Jahren forderten. Etwas ungewöhnlicher war dann schon das Bestreben des Rates, durch „allgemeine Entgreisung des Lehrbetriebs“ und durch die Abtrennung von Fachhochschulen für angewandte Wissenschaften die deutsche Universität wieder in eine „Hochburg des Geistes“ zu verwandeln. Auch sollten „Preßgerichtshöfe“ eingerichtet werden, „bestehend aus bewährten Publizisten geistiger Richtung, zur Aburteilung über jeden unanständigen journalistischen Akt.“18 Vor allem im Staatsorganisationsrecht des Entwurfs nahm die Verbindung egalitärer und elitärer Positionen eine ganz eigenartige Gestalt an. Einerseits galt für den Reichstag ein wahlkreisloses, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen beiderlei Geschlechts, eine nur dreijährige Legislaturperiode und die Wählbarkeit der Frauen. Andererseits musste der Reichstag sich die Macht mit einem „Rat der Geistigen“ teilen – „zur Ausgleichung der Schäden parteibürokratischer Erstarrung“. Der „Rat der Geistigen“ sollte weder durch Ernennung noch durch Wahl entstehen, „sondern – kraft der Pflicht des Geistes zur Hilfe – aus eigenem Recht.“ Zudem erneuere er sich „nach eigenem Gesetz“.19 Für ein Gremium, das sich nach einem derart vage umschriebenen Verfahren konstituiert, war der Einfluss, den es auf die Regierungsgeschäfte nehmen konnte, erstaunlich groß – denn der „Ausschuss“, der das Land regierte, sollte sich zusammensetzen aus „Vertrauensleuten“ des Reichstags und des Rates. Der „Präsident der Deutschen Republik“ (offenbar das Staatsoberhaupt) 17 Politischer Rat geistiger Arbeiter, Programm, Das Ziel 3 (1919), S. 219–223, S. 220 f. 18 Politischer Rat geistiger Arbeiter, Programm, Das Ziel 3 (1919), S. 219–223, S. 221. 19 Politischer Rat geistiger Arbeiter, Programm, Das Ziel 3 (1919), S. 219–223, S. 222.
1. Bruno Tauts „Stadtkrone“ 23
wurde zwar allein vom Reichstag gewählt, doch hatte der „Rat der Geistigen“ zumindest das Vorschlagsrecht.20 Die Staatsform, die der „Politische Rat geistiger Arbeiter“ im Sinn hatte, erinnert an eine Theokratie, an eine von der Gnade geistlicher Führer getragene weltliche Regierung, allerdings war es eine Theokratie ohne Gott und Religion. Als Vorbild kommt wohl noch am ehesten die platonische Epistokratie in Betracht, die „Herrschaft der Wissenden“, wie sie der Grieche in der Politeia (473d) beschreibt. Nahe liegt auch ein Bezug zum Denken Nietzsches, dessen „Also sprach Zarathustra“ für die Aktivisten um Kurt Hiller, in dessen Zeitschrift das Programm von 1919 erschien,21 aber auch für die Expressionisten und bald schlechthin für jeden, der auf eine geistige Erneuerung Deutschlands hoffte, ein kanonisches Buch war.22 Der heroische, furchtlose Künstler „mit der großen Gesundheit“, der „Priester“ und „Jünger“ um sich scharte, sollte es richten, nachdem die überkommenen Institutionen so schmählich versagt hatten. Vorbei die Zeiten, als der kränkelnde Seher und Barde in einer kümmerlichen Behausung fernab der Zivilisation sich nur mit sich und Seinesgleichen beschäftigte, vorbei die Zeiten der Isolation, Entmannung und Weltferne. Auch der „Geistesmensch“ – wer, wenn nicht er – hatte das Zeug zum Staatsmann und politischen Führer. Von Nietzsches künstlerischem Heroismus beeinflusst war nachweislich Bruno Taut,23 der das Manifest von 1919 ebenfalls unterschrieben hatte. Der Architekt, der in der Weimarer Republik als einer der wichtigsten Vertreter des 20 Politischer Rat geistiger Arbeiter, Programm, Das Ziel 3 (1919), S. 219–223, S. 222. 21 Zu Tauts Beziehung zum „Aktivismus“ Iain Boyd Whyte, Bruno Taut. Baumeister einer neuen Welt, Stuttgart 1981, insbes. S. 72–87. 22 Wolfgang Pehnt, Die Architektur des Expressionismus, 3. Aufl., Stuttgart 1998, S. 34. Vgl. auch Theo Meyer, Nietzsche und die Kunst, Tübingen, Basel 1993. 23 Whyte, Bruno Taut. Baumeister einer neuen Welt, S. 74 f.
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III. Material- und formengebundene Staatsutopien
Neuen Bauens galt, schöpfte allerdings noch aus einer anderen Inspirationsquelle. Fasziniert vom Glas als Material und Baustoff arbeitete er seit 1916 an einer chiliastischen Stadtund Staatsvision, die im Verfassungsjahr 1919 unter dem Titel „Die Stadtkrone“ im Druck erschien und das im In tellektuellenmanifest propagierte Zweikammersystem mit einem demokratisch legitimierten Reichstag und einem charismatischen „Rat der Geistigen“ architektonisch vorwegnahm.24 Im ersten Teil der Schrift reiht Taut kommentarlos 41 Abbildungen aneinander, Abbildungen von „herausragenden“ urbanen Monumenten aller Zeiten und Kulturen. Der Kölner Dom fehlt ebenso wenig wie die Akropolis oder Salomons Tempel. An die Tradition der seelischen Erweckung durch Bauen möchte Taut wieder anknüpfen, wenngleich er betont, dass die Moderne ihre eigenen Antworten finden müsse: „Der Dom, die Kathedrale über der alten Stadt, die Pagode über den Hütten der Inder, der ungeheure Tempelbezirk im Rechteck der chinesischen Stadt und die Akropolis über den schlichten Wohnhäusern der antiken Stadt – sie zeigen, dass die Spitze, das Höchste, die kristallisierte religiöse Anschauung Endziel und Ausgangspunkt zugleich für alle Architektur ist und ihr Licht auf alle die einzelnen Bauten bis zur einfachsten Hütte hin ausstrahlt und die Lösung der simpelsten praktischen Bedürfnisse mit einem Schimmer ihres Glanzes verschönt.“25 Tauts ideale Stadt, die dem Leben der Menschen wieder einen Sinn geben und eine neue Gemeinschaft begründen soll, hat einen Radius „von ca. 7 km Durchmesser, in dessen Mittelpunkt sich die ‚Stadtkrone‘ befindet“. Es handelt sich dabei um „ein rechteckiges Areal von 800 × 500 Meter“,26 24 Ralph Musielski, Bau-Gespräche. Architekturvisionen von Paul Scheerbart, Bruno Taut und der „Gläserne Kette“, Berlin 2003, S. 97; Pehnt, Die Architektur des Expressionismus, S. 108. 25 Bruno Taut, Die Stadtkrone. Mit Beiträgen von Paul Scheerbart, Erich Baron, Adolf Behne, Jena 1919, S. 51 f. 26 Taut, Die Stadtkrone, S. 63.
1. Bruno Tauts „Stadtkrone“ 25
Abb. 2: Bruno Taut, Panorama der Stadtkrone
das „vier große Bauten, ein streng nach der Sonne orientiertes Kreuz bildend“, einschließt: Opernhaus, Schauspielhaus, großes Volkshaus (Saalhaus) und kleiner Saalbau (Abb. 2).27 „Das Drama, das Musikspiel“, erläutert Taut, „gibt den hier vereinten Menschen den Seelenschwung, den sie im Alltagsleben ersehnten, und die Zusammenkunft in den Volkshäusern lässt sie fühlen, was sie als einander zu geben haben, und führt den Herdentrieb, die Urkraft des Zusammenschlusses, zur Veredelung.“28 Die Anlage dient demnach vor allem der „Erhebung über das Alltagsdasein“ durch Unterhaltung29, die Stadtverwaltung ist ausgelagert in ein Viertel unweit des Bahnhofs.30 Für das politische Alltagsgeschäft war im Allerheiligsten kein Platz, wohl aber für das Gemeinwesen betreffende Entscheidungen von übergeordneter Bedeutung. Tauts Bauplan sieht nämlich eine große, an die Volkshäuser unmittelbar anschließende Freifläche vor, auf der sich bei Bedarf die „Volksversammlung“ einfinden soll. „Vor dem großen Saalbau oder Volkshause“, schreibt er, „ist ein arkadenumschlossener ebener baumbestandener Platz für Volksversammlungen unmittelbar vor dem Hause. Vor einer 27 Taut,
Die Stadtkrone, S. 64. Die Stadtkrone, S. 66. 29 Vgl. Taut, Die Stadtkrone, S. 62. 30 Taut, Die Stadtkrone, S. 63. 28 Taut,
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III. Material- und formengebundene Staatsutopien
Freitreppe ein geneigter großer Rasenplatz, damit bei Versammlungen im Freien die Menge sich vor dem Sprecher auf der Kanzel lagern kann.“31 Das Areal um die Volkshäuser hatte also durchaus eine Art parlamentarische Funktion. Obwohl Taut den „Volkshäusern“ eine hohe Bedeutung für das Gemeinwesen zumaß, sollten sie nach seiner Vorstellung nicht das letzte Wort des Architekten sein. Dessen Talent erweise sich bei der Gestaltung des „höchsten Bauwerks“, dessen Sockel die „Volkshäuser“ bildeten. „Es ist das Kristallhaus, das aus Glas errichtet, dem Baustoff, der Materie und doch mehr als gewöhnliche Materie in seinem schimmernden, transparenten, reflektierenden Wesen bedeutet. Eine Eisenkonstruktion hebt es über das Massiv der großen Bauten heraus und bildet sein Gefüge, zwischen dem in Prismenglasfüllungen, farbigen und Smalten-Glastafeln die ganze reiche Skala der Glasarchitektur prangt. Das Haus enthält nichts als einen wunderschönen Raum, den man von Treppen und Brücken rechts und links des Schauspielhauses und des kleinen Volkshauses erreicht.“32 Das „Kristallhaus“ – und damit das Material Glas als solches – ist für Taut die beglückende oberste Instanz der Gemeinschaft und Quelle der Eingebung für den Bürger, der hier erfahre, wie er sich zum Wohle aller zu verhalten habe. „Vom Licht der Sonne durchströmt thront das Kristallhaus wie ein glitzernder Diamant über allem, der als Zeichen der höchsten Heiterkeit, des Seelenfriedens in der Sonne funkelt. In seinem Raum findet ein einsamer Wanderer das höchste Glück der Baukunst.“33 Das letzte Kapitel – „Wirtschaftliches zur Stadtkrone“ – versucht den Eindruck zu erwecken, als ob die Planung schon so weit gediehen sei, dass es nur noch eines Beschlusses bedürfe, um das Projekt einer Stadt mit „Stadtkrone“ in die Tat umzusetzen. Jedem Bauwerk des Ensembles wird ein Betrag zugewiesen. So soll die Errichtung der Sommerrestaurants 31 Taut,
Die Stadtkrone, S. 66. Die Stadtkrone, S. 67. 33 Taut, Die Stadtkrone, S. 69. 32 Taut,
1. Bruno Tauts „Stadtkrone“ 27
300.000 Mark kosten, die des Schauspielhauses vier Millionen und die des Kristallhauses 15 Millionen. Insgesamt – schätzt Taut – werde man für die Anlage rund 45 Millionen Mark veranschlagen müssen.34 In Wahrheit handelt es sich dabei um einen rein „symbolischen Wert“35, dem keine seriösen Kalkulationen zur Grunde lagen, sondern der allein den Glauben an die Realisierbarkeit des Ideals zum Ausdruck bringt. Diese Darstellungstechnik übernahm Taut von seinem Lehrer und Vorbild, dem bereits 1915 verstorbenen Dichter des Phantastischen, Paul Scheerbart, dem die „Stadtkrone“ gewidmet ist. Scheerbart verstand es, sich en detail zu den technischen Vorzügen von Vakuumstaubsaugern zu verbreiten, um im gleichen Satz die Ankunft des chinesischen Kaisers mit einer Flotte knallbunter Luftschiffe anzukündigen. Scheerbart war es auch, der 1914 unter dem Titel „Glas architektur“ ein nüchtern-phantastisches Sachbuch über die Vorteile von Glas als Baustoff vorgelegt hatte, das später Teilen der Architekturavantgarde als Referenzwerk diente. „Wir leben“, schreibt Scheerbart darin, „zumeist in geschlossenen Räumen. Diese bilden das Milieu, aus dem unsre Kultur herauswächst. Unsre Kultur ist gewissermaßen ein Produkt unsrer Architektur. Wollen wir unsre Kultur auf ein höheres Niveau bringen, so sind wir wohl oder übel gezwungen, unsre Architektur umzuwandeln. Und dieses wird uns nur dann möglich sein, wenn wir den Räumen, in denen wir leben, das Geschlossene nehmen. Das aber können wir nur durch die Einführung der Glasarchitektur, die das Sonnenlicht und das Licht des Mondes und der Sterne nicht nur durch ein paar Fenster in die Räume lässt.“36 Scheerbart, liebevoll von den Seinen als „Glasopa“ verspottet, war keineswegs ein Anhän34 Taut,
Die Stadtkrone, S. 77. Prange, Das Kristalline als Kunstsymbol: Bruno Taut und Paul Klee. Zur Reflexion des Abstrakten in Kunst und Kunsttheorie der Moderne, Hildesheim 1991, S. 89 f.; vgl. auch Musielski, Bau-Gespräche. Architekturvisionen von Paul Scheerbart, Bruno Taut und der „Gläserne Kette“, S. 101. 36 Paul Scheerbart, Glasarchitektur, München 1971, S. 25. 35 Regine
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III. Material- und formengebundene Staatsutopien
ger des neuen „Sachstils“, wie er ihn nannte, den er als „unkünstlerisch“ empfand. Er plädierte für den Einsatz von buntem Glas und für eine „Ornamentik des Orients, der Teppiche und Majoliken“37. Zugleich hob Scheerbart aber die funktionalen Vorzüge des Glases hervor. Dazu zählte er beispielsweise dessen hygienische Eigenschaften – Ungeziefer werde es nicht mehr geben38 – sowie die „Überwindung der Feuergefahr“ – die Feuerversicherung sei folglich abzuschaffen.39 Die gläsernen Lichttürme erlaubten ferner der Luftschifffahrt, „auch die Nacht zu erobern“.40 Von der ungeheuren Stabilität einer Stahl-Glas-Konstruktion werde man im Kriegsfall profitieren, weil ein Glasturm nicht durch ein Lufttorpedo umzuwerfen sei.41 Das treffe ebenso auf die gläsernen Parlamentsgebäude zu. Auch diese seien zu Kriegszeiten viel widerstandsfähiger als die alten Parlamentsgebäude aus Backstein mit Sandsteinumkleidung.42 „Nach dem Gesagten“, heißt es in Scheerbarts letztem Kapitel, „können wir wohl von einer ‚Glaskultur‘ sprechen. Das neue Glas-Milieu wird den Menschen vollkommen umwandeln.“43 Trotz des einen oder anderen Hinweises auf historische Vorbilder (etwa die Glasfenster der Kathedralen44) besteht kein Zweifel, dass Scheerbart, als er die Schrift verfasste, unter dem Eindruck von Berichten über neue bautechnische Möglichkeiten stand. Seine Bemerkungen zur Beständigkeit des Glases und dessen „atmosphärische“ Wirkung deuten freilich darauf hin, dass er eine andere Art von Glas im Sinn hatte als das durchsichtige, großflächige Schaufenster- und 37 Scheerbart,
Glasarchitektur, S. 37. das Ungeziefer in einem Glashause, wenn es richtig gebaut ist, unbekannt sein muss, braucht wohl nicht weiter erörtert zu werden“ – Scheerbart, Glasarchitektur, S. 69. 39 Scheerbart, Glasarchitektur, S. 68. 40 Scheerbart, Glasarchitektur, S. 62. 41 Scheerbart, Glasarchitektur, S. 93. 42 Scheerbart, Glasarchitektur, S. 94. 43 Scheerbart, Glasarchitektur, S. 137. 44 Scheerbart, Glasarchitektur, S. 130. 38 „Dass
1. Bruno Tauts „Stadtkrone“ 29
Abb. 3: Glaspavillon von Bruno Taut auf der Werkbundausstellung in Köln von 1914
Fabrikhallenglas, das üblicherweise in Abhandlungen über die „Glaskultur“ der Moderne im Vordergrund steht. Scheerbart dachte offenkundig an lichtdurchlässige (aber nicht durchsichtige) Glasbausteine im Ziegelsteinformat. Ähnliches galt für Taut, der – wie gesehen – explizit von „Prismenglasfüllung“ sprach. Zudem verwendete er die gläsernen Steine bei seinem berühmten, für die Kölner Werkbundausstellung von 1914 konzipierten Glaspavillon (Abb. 3).45 Die Beton45 Fritz Neumeyer, Glasarchitektur. Zur Geschichte des gläsernen Steins, Bauwelt 73 (1982), S. 1072–1079, 1074. Zu Taut Pavillon vgl. auch Angelika Thiekötter / Oliver Bätz (Hrsg.), Kristallisationen, Splitterungen: Bruno Tauts Glashaus, Basel 1993.
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III. Material- und formengebundene Staatsutopien
Abb. 4: Solfac-Galvano-Glasund Solfac-Glasbaustein-Reklame um 1920
glasbauweise war zu diesem Zeitpunkt noch ein recht junges Phänomen. Friedrich Keppler, Gründer und Leiter der seit 1899 in Berlin-Weißensee ansässigen Luxfer-Prismen-Gesellschaft, hatte erst 1907 sein Patent angemeldet. Die Stern-Prismen-Gesellschaft – ebenfalls aus Berlin – produzierte seit 1904 nach einem älteren, französischen Patent, dem „System Solfac“. Sie stellte vornehmlich Deckengläser her.46 Als eines der erste Gebäude, bei dem Glasziegel zum Einsatz kamen, gilt das von Auguste Perret gestaltete Mietshaus in der Pariser Rue Franklin von 1903, zugleich die früheste selbständige architektonische Schöpfung aus Eisenbeton.47 Die Werbe-Vignetten für das „Solfac-Glas“ (Abb. 4) stellen genau die Eigenschaft des Produkts heraus, die Taut, Scheerbart und wohl noch andere damals so faszinierte: Glas als ein wie Stein und Ziegel verwendbarer Baustoff, ja Glas als ein – damit verglichen – sogar noch stabileres, zumindest feuerbeständigeres Material, das die Menschen vor den zer46 Neumeyer, Glasarchitektur. Zur Geschichte des gläsernen Steins, Bauwelt 73 (1982), S. 1072–1079, 1073. 47 Neumeyer, Glasarchitektur. Zur Geschichte des gläsernen Steins, Bauwelt 73 (1982), S. 1072–1079, 1073.
1. Bruno Tauts „Stadtkrone“ 31
störerischen Naturgewalten zu schützen vermag. Faszinierend war das deshalb, weil Glas in der Geschichte der Menschheit bis dahin als das schlechthin Fragile, Zerbrechliche, Bedrohte wahrgenommen wurde, das nicht seinen Besitzer schützte, sondern umgekehrt von ihm geschützt werden musste. Dass in Cervantes’ gleichnamiger Novelle der Lizenziat Vidriera, der in dem Wahn lebte, nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Glas zu bestehen, sich beständig fürchtete und jede körperliche Annäherung mied, hing mit der spezifischen Eigenschaft des vormodernen Glases zusammen, einer Gewalteinwirkung nicht stand halten zu können.48 So schrie der arme Vidriera Zeter und Mordio, wenn andere Menschen ihm zunahe kamen, und bat, sie mögen Abstand halten, weil er sonst zerbreche. Als Gegenleistung versprach er, aus der Ferne auf alle Fragen mit größtem Scharfsinn zu antworten, „denn durch das Glas wirke die Seele, als einen zarten und feinen Stoff, kräftiger und schneller als durch die schwere, irdische Materie des Leibes.“49 Auch diese Bemerkung ist charakteristisch für die Assoziationen, die sich in früheren Zeiten mit der stofflichen Qualität des Glases – Sinnbild der Wissenschaft und Kunst – verbanden. Dank des technischen Fortschritts stand jetzt erstmals ein „Un-Stein“ zur Verfügung, „eine Materialstruktur, die den Raum mit der Dämmqualität einer normalen, massiven Wand gegen äußere Einflüsse abschirmt, aufgrund der hohen Lichtdurchlässigkeit aber immateriell und folglich nicht raumtrennend wirkt – in der Umkehrung aber auch nicht verbindet wie das übliche Fensterglas.“50 Diese Innovation hatte für alle, die sie zur Kenntnis nahmen, etwas ungemein 48 Miguel de Cervantes, Der Lizenziat Vidriera, in: Miguel de Cervantes, Die Novellen, übers. von Konrad Thorer, Frankfurt am Main 1987, S. 261–293, 271. 49 Cervantes, Der Lizenziat Vidriera, in: Miguel de Cervantes, Die Novellen, S. 261–293, 271. 50 Neumeyer, Glasarchitektur. Zur Geschichte des gläsernen Steins, Bauwelt 73 (1982), S. 1072–1079, 1075.
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Ermutigendes, denn der gläserne „Un-Stein“, der einerseits so hart und beständig ist, dass selbst „diregeable Lufttorpedos“ ihm nichts anhaben können, und andererseits mit seinem weichen Licht die Seele des Künstlers berührt, verkörperte nicht weniger als die Versöhnung von Geist und Materie. Auf Politik und Staatslehre bezogen bereitete die so verstandene Kultur des Glases – in den Worten Tauts „Materie und doch mehr als gewöhnliche Materie“ – einer Auffassung den Boden, die keinen Widerspruch zu erkennen vermochte in der Vereinigung von künstlerischem Charisma und Staatsgewalt. Ein aus eigenem Recht existierendes oberstes Staatsorgan, das irrationalen Inspirationen gesetz liche Autorität verleihen konnte, erschien nun denkbar und erstrebenswert. Genau das war die Funktion und Mission des „Rates der Geistigen“ im Manifest von 1919, das Taut unterzeichnet hatte: Als eine „staatstragende“ und „kulturschaffende“ Institution sollte der Rat das Gemeinwesen zu neuen Ufern führen. In einem solchen Staat werde es auf lange Sicht – so hoffte man – keiner Mechanismen staatlicher Konfliktlösung mehr bedürfen. Dieses Versprechen gab auch Taut in seiner Vision vom „Stadtkronen“-Staat: „Alles ist für alle zugänglich; jeder geht dahin, wohin es ihn zieht. Es gibt keine Konflikte, weil sich immer die Gleichgestimmten zusammenfinden.“51 Dann wird die Zeit des Neuen Jerusalems angebrochen sein, von dessen Marktplatz es in der Offenbarung des Johannes (20, 21, 21) heißt, er sei erschaffen „aus reinem Gold wie durchscheinendes Glas“. 2. Jewgeni Samjatins „Мы“ Der Faszination für die „Glaskultur“ – die „Kulturmis sion des Glases“52 – erlag auch der Osten Europas, allen 51 Taut,
Die Stadtkrone, S. 66. Landsberg, Die Kulturmission des Glases. Ein vergessenes Stück Geschichte, Deutsche Bauzeitung 1929, S. 89–94. 52 Max
2. Jewgeni Samjatins „Мы“33
voran der sich konstituierende Arbeiter- und Bauernstaat auf russischem Boden. Das erklärt sich mit den vielfältigen Kontakten zwischen deutschen und russischen Intellektuellen während oder unmittelbar nach der Oktoberrevolution. Künstler wie Kadinsky und El Lissitzky kamen nach Weimar, um das gerade erst gegründete Bauhaus kennen zu lernen. 1922 fand in Berlin die Erste Russische Kunstausstellung statt, die dem Konstruktivismus international zum Durchbruch verhalf. Zwei Jahre später wurde die Allgemeine Deutsche Kunstausstellung in Moskau eröffnet, die das russische Publikum unter anderem mit der Neuen Sachlichkeit vertraut machte.53 Auf Glas als Bau- und Werkstoff der Zukunft konnte sich die Avantgarde in Ost und West schnell verständigen. „Das Eisen ist stark wie der Wille des Proletariats, Glas ist rein wie sein Gewissen.“54 Diese Losung El Lissitzkys traf den Nerv der Zeit. In der frühen sowjetischen Literatur hat die Begeisterung für das Material Glas deutliche Spuren hinterlassen: „Writers as different as Aseev, Khlebnikov, Kamenskii, Tsiolkovskii, Olesha, Platonov and Leonov envisioned a future in which human, constructed space would be exemplified by transparent, almost weightless buildings and could best be described in Olesha’s phrase as ‚the architecture of the flight of birds‘. The favored material for such buildings was, of course, glass.“55 Zum Sinnbild für die früh-sowjetische Aufbruchsstimmung und Glas-Apotheose avancierte das nie gebaute „Monument der Dritten Internationale“ von Wladimir Tatlin (Abb. 5), eine gigantische, 400 m hohe Doppelspirale, „erschaffen aus Eisen, Glas und Revolution“ (Victor 53 Norbert Lynton, Tatlin’s Tower. Monument to Revolution, New Haven 2009, S. 75 f. 54 El Lissitzky, Neue Russische Kunst, Vortrag 1922, in: Sophie Lissitzky-Küppers, El Lissitzky. Maler, Architekt, Typograf, Fotograf. Erinnerungen, Briefe, Schriften, Dresden 1992, S. 337. 55 Elizabeth Klosty Beaujour, Zamiatin’s We and Modernist Architecture, The Russian Review 47 (1988), S. 49–60, 49. Eingehend dies., Architectural Discourse and Early Soviet Literature, Journal of the History of Ideas 44 (1983), S. 477–495.
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III. Material- und formengebundene Staatsutopien
Abb. 5: Monument der III. Internationale von Wladimir Tatlin (Modell)
Shklovsky).56 Die Entwürfe und Fotografien des Modells gingen um die Welt und kündeten von einem neuen, radikal modernisierten Russland.57 Daneben existiert noch eine ältere, ganz eigene russische Tradition der Auseinandersetzung mit der „Glaskultur“. Bereits im 19. Jahrhundert sorgte nämlich ein aus Eisen und 56 Nach Douglas Murphy, The Architecture of Failure, Winchester 2012, S. 75. 57 Aus der umfangreichen Literatur zu „Tatlins Turm“ vgl. nur Lynton, Tatlin’s Tower. Monument to Revolution; Jürgen Harten (Hrsg.), Vladimir Tatlin. Leben, Werk, Wirkung, Köln 1993.
2. Jewgeni Samjatins „Мы“35
Glas erschaffenes Bauwerk unter russischen Schriftstellern für Aufsehen: der Londoner „Kristallpalast“, in dessen Hallen die Weltausstellung von 1851 stattfand. Der Palast überdachte ein Riesenareal im südlichen Hyde Park, bevor er abgebaut und an anderer Stelle – in Sydenham inmitten eines großen Parks – wieder aufgebaut und 1854 erneut eröffnet wurde. Dieses moderne Weltwunder nahm sich Nikolai Tschernyschewski in seinem Bestseller „Was tun?“ (1863) zum Vorbild. Im „Vierten Traum der Vera Pawlowna“ heißt es: „Aber dieser riesige Bau – was ist das? Noch gibt es dergleichen nicht, oder doch, es gibt schon einen Hinweis darauf, den Palast auf dem Hügel von Sydenham: Eisen und Glas – weiter nichts; doch bildet dies gleichsam ein schützendes Gehäuse, darinnen aber ist das richtige Haus, ein riesiges Haus, es wird von diesem Gebäude aus Eisen und Kristall wie von einem Futteral umschlossen; breite Galerien führen um alle Stockwerke. Wie leicht ist diese Architektur dieses inneren Hauses: große, hohe Fenster, eines dicht neben dem andern.“58 Glas und Eisen stehen in Tschernyschewski Roman für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, für die Hoffnung auf Fortschritt und Wohlstand auf der Grundlage technisch-wissenschaftlicher Innovationen. Da Tschernyschewski zugleich für eine sozialistische Gesellschaft eintrat, gilt er als einer der Väter des technik- und fortschrittsaffinen Sozialismus, der im 20. Jahrhundert die Oberhand gewann. In der Tat war „Was tun?“ für eine ganze Generation Bolschewiki ein kanonischer Text, allen voran für Lenin, dessen programmatische Schrift „Was tun?“ (1902) von den Zeitgenossen als Hommage an Tschernyschewski verstanden wurde. Doch Tschernyschewski hatte nicht nur Anhänger. Sein ärgster Widersacher war Fjodor Dostojewskij, der den so zialistischen Fortschrittsoptimismus des Landsmannes nicht teilte. Dostojewskij kannte den von Tschernyschewski ge58 Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski, Was tun? Aus Erzählungen von Neuen Menschen, übers. von M. Hellmann, H. Gleistein, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 507.
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priesenen Londoner Kristallpalast aus eigener Anschauung. Bereits ein Jahr nach dessen Besichtigung bei einem Besuch in der englischen Hauptstadt 1862 tauchte das Bauwerk in einer Schrift Dostojewskijs auf – in den „Winterlichen Aufzeichnungen sommerlicher Eindrücke“.59 Noch bekannter und einflussreicher waren und sind die kritisch-ironischen Bemerkungen in den nicht nur von Nietzsche sehr geschätzten „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ (1864). Der (vermeintlich) Segen spendende Kristallpalast ist Gegen-Ort und Gegen-Modell zum (vermeintlich) Unheil stiftenden Kellerloch, in dem sich der Ich-Erzähler, die Hauptfigur des Romans, aufhält. Dieser Anti-Held kann den viel gepriesenen Errungenschaften, den „Segnungen“, der modernen Zeit nichts abgewinnen und gibt vor, sich in seiner ganz und gar intransparenten Behausung wohler als in einem überbelichteten Glaskäfig zu fühlen, der Leid und Hass als intime existentielle Erfahrung nicht zulasse. „Leiden ist Zweifel, ist Verneinung“, notiert der Kellerbewohner, „was aber wäre das für ein Kristallpalast, wo man noch zweifeln könnte? Indessen bin ich davon überzeugt, dass der Mensch auf wirkliches Leiden, das heißt auf Zerstörung und Chaos niemals verzichten wird. Das Leiden – das ist ja der einzige Grund des Bewusstseins.“60 Der Leser möge an den Kristallpalast glauben, als „an etwas, dem man weder heimlich die Zunge herausstrecken noch die Faust in der Tasche ballen kann,“ er aber fürchte einen solchen Palast gerade deshalb, „weil man ihm nicht einmal heimlich die Zunge wird herausstrecken können.“61 So wie Dostojewskij die gläsernen Visionen des 19. Jahrhunderts hinterfragte, so versuchte Jewgeni Samjatin in sei59 Vgl. Swetlana Geier, in: Fjodor Dostojewskij, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, übers. von Swetlana Geier, Frankfurt am Main 2006, S. 148 f. 60 Dostojewskij, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, übers. von Swetlana Geier, S. 42. 61 Dostojewskij, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, übers. von Swetlana Geier, S. 43.
2. Jewgeni Samjatins „Мы“37
nem Roman „Мы“ („Wir“) von 1920 / 21 die Untiefen der sich abzeichnenden konstruktivistischen Transparenzeuphorie auszuloten. Die von Dostojewskij nur angedeuteten fatalen Implikationen einer umfassenden „Verstaatlichung“ der Privatsphäre treten bei Samjatin in aller Deutlichkeit zu Tage. Der Roman beschreibt aus der Perspektive des Ingenieurs I-503 das Leben in dem „Einen Staat“, ein von einem „Wohltäter“ und einer Gruppe von „Beschützern“ geleitetes Gemeinwesen, das aus einem zweihundertjährigen Vernichtungskrieg hervorgegangen und durch eine Grüne Mauer von der nur noch dünn besiedelten Restwelt getrennt ist. In dem Einen Staat herrscht ein rigoroses Regiment. Die Menschen tragen blaugraue Uniformen und Metallplaketten mit Nummern, die den Eigennamen ersetzen. Der Tagesablauf ist für alle Nummern einheitlich geregelt: Man steht zur exakt gleichen Uhrzeit auf und geht zur exakt gleichen Uhrzeit zu Bett. Man besucht gemeinsam die Pflichtvorträge in den Auditorien und konsumiert im Akkord synthetische Erdölnahrung. Nachlässigkeit oder gar Ungehorsam werden nicht geduldet und meist mit dem Tode bestraft. Doch ist es nicht in erster Linie das drakonische Strafrecht, das den weitgehend störungsfreien Betrieb der großen, rationalen „Staatsmaschine“ gewährleistet, sondern die eigentümliche Architektur des 30. Jahrhunderts: Alle Gebäude, in denen sich die Nummern aufhalten, speisen und schlafen, bestehen aus Glas, so dass die patrouillierenden Beschützer jeden zu jeder Zeit im Blick haben. Die ganze Welt, bemerkt I-503, ist „aus dem gleichen, harten, ewigen Glas gegossen.“62 Wohin man auch schaue: überall Glas und strenge geometrische Formen, „die unabänderlich geraden Straßen, das strahlensprühende Glas des Pflasters, die göttliche Parallelepipede der durchsichtigen Behausungen, die quadratische Harmonie der graublauen Marschglieder“63, das Auditorium, „eine riesige, sonnendurchflutete Halbku62 Jewgeni Samjatin, Wir. Roman, übers. von Marga und Roland Erb, Leipzig, Weimar 1991, S. 7. 63 Samjatin, Wir. Roman, S. 9 f.
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gel aus gläsernen Blöcken“64. I-503 bereitet dieser Anblick keineswegs Unbehangen – im Gegenteil: „Durch die Glaswände sehe ich zur Rechten und zur Linken – gleichsam mich selbst, mein Zimmer, meine Kleidung, meine Bewegungen – tausendfach wiederholt. Das macht Mut: Du siehst dich als Teil eines riesigen, machtvollen, einheitlichen Ganzen.“65 Die Glasbauweise sei überdies ungeheuer zweckmäßig: Wir leben „in unseren durchsichtigen, wie aus flimmernder Luft gewebten Wänden stets sichtbar für alle, ewig vom Licht umflossen. Wir haben nichts voreinander zu verbergen. Und außerdem erleichtert dies die mühsame grandiose Arbeit der Schützer. Wer weiß, was andernfalls alles geschehen könnte. Womöglich haben gerade die seltsamen, undurchsichtigen Behausungen der Alten bei ihnen jene klägliche Käfigpsychologie entstehen lassen. ‚Mein (sic!) Haus ist meine Festung‘ – darauf hatte man erst einmal kommen müssen!“66 Ein letzter Rest von Intimität habe sich allerdings erhalten, räumt I-503 ein: „Ich will ganz offen sein – eine hundertprozentige Lösung des Glücksproblems besitzen auch wir noch nicht: Zweimal am Tag, von 16–17 und von 21–22 Uhr, zerfällt der einheitliche, starke Organismus in einzelne Zellen – die von der Gesetzestafel festgelegten Persönlichen Stun den.“67 Zu diesen Zeiten sei es ausnahmsweise gestattet, sich der staatlichen Vereinnahmung zu entziehen. Daneben existiert noch das „Rollo-Recht“, von dem auch I-503 neuerdings Gebrauch macht, um sich mit der O, seiner großen Liebe, zu treffen. „Zu Hause angelangt,“ notiert er, „eilte ich sofort ins Büro, schob dem Diensthabenden mein rosarotes Billet hin und erhielt die Rolloerlaubnis. Dieses Recht existiert bei uns aber nur für die Sex-Tage … Um 22 Uhr ließ ich die Rollos herunter – und im gleichen Augenblick trat O etwas außer Atem ins Zimmer. Sie hielt mir ihr rosiges Mündchen hin – 64 Samjatin,
Wir. Wir. 66 Samjatin, Wir. 67 Samjatin, Wir. 65 Samjatin,
Roman, Roman, Roman, Roman,
S. 20. S. 37. S. 23. S. 16.
2. Jewgeni Samjatins „Мы“39
und das rosarote Billet. Ich riss den Talon ab – aber dann konnte ich mich nicht mehr von ihrem rosigen Mund losreißen, bis zur letzten Sekunde – genau um 22.15.“68 Von Anfang an war in der Literaturwissenschaft umstritten, welches Herrschaftssystem, welche Ideologie, welcher Staat Samjatin zu seinem dystopischen Roman inspiriert haben könnte. Wollte der Russe den Sowjetstaat an den Pranger stellen? Oder galt seine Kritik der westlichen Industriegesellschaft? Regimetreue russische Kritiker der 20er Jahre wie Voronskij bezogen Samjatins Schreckensvision auf die sowjetischen Verhältnisse und bestritten zugleich vehement, dass die Vision etwas mit den realen sowjetischen Verhältnissen zu tun habe.69 Eben weil Samjatins „Wir“ die Zustände im post-revolutionären Russland nicht adäquat abbildet, bezweifelten viele westliche Interpreten, dass die Schrift als eine Abrechnung mit dem sowjetischen Regime zu verstehen sei.70 Dieser Meinung war auch George Orwell (der erst durch Gleb Struves „25 Years of Soviet Rus sian Literature“ von Samjatins Schrift Kenntnis erlangte, wie er 1944 in einem Brief an Struve bekannte71). Orwell verfasste nach Kriegsende eine ausführliche Rezension, die am 4. Januar 1946 veröffentlicht wurde. Zwar enthalte, schreibt der Engländer, der eine oder andere Dialog eine Kritik an der bolschewistischen Revolution und ihren Folgen, doch vieles von dem, was dem Leser von heute – im Zeitalter Stalins – als typisch „sowjetisch“ erscheine, gehörte zu Beginn der 20er Jahre noch nicht zu den Merkmalen kommunistischer Herrschaft: „It may well be, however, that Zamyatin did not intend the Soviet regime to be the special 68 Samjatin,
Wir. Roman, S. 23. Scheffler, Evgenij Zamjatin. Sein Weltbild und seine literarische Thematik, Köln, Wien 1984, S. 196–198. 70 Scheffler, Evgenij Zamjatin. Sein Weltbild und seine literarische Thematik, S. 198 f. 71 George Orwell, Brief vom 17. Februar 1944, in: ders., The Collected Essays, Journalism and Letters of George Orwell, Bd. 3, London 1968, S. 95–96. 69 Leonore
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target of his satire. Writing at about the time of Lenin’s death, he cannot have had the Stalin dictatorship in mind, and conditions in Russia in 1923 were not such that anyone would revolt against them on the ground that life was becoming too safe and comfortable.“72 Orwell vermutete daher, Samjatins Kritik ziele in erster Linie auf die Industriegesellschaft als solche, deren Glanz und Elend er während eines Englandaufenthaltes habe studieren können: „What Zamya tin seems to be aiming at is not any particular country but the implied aims of industrial civilisation. I have not read any of his other books, but I learn from Gleb Struve that he had spent several years in England and had written some blistering satires on English life.“73 Eine ähnliche Vermutung äußerte später E. J. Brown in „Russian Literature Since the Revolution“: „The author of that mass regimentation which Zamyatin in ‚We‘ foresaw as the future lot of mankind was not backward Russia but the industrialized West … It is not directed at socialism or Communism as such but rather at forms of the regimentation which has resulted from the growth of a huge and complex industrial civilization.“74 Für beide Interpretationsansätze – den „sowjetischen“ und den „industriekapitalistischen“ – sprechen gute Gründe. Einerseits wird man kaum leugnen können, dass Samjatin ein Leitmotiv der marxistisch-leninistischen Einparteien ideologie aufgreift, wenn er die mit Gewalt erzwungene Einmütigkeit und Einstimmigkeit im Einheitsstaat karikiert. Anderseits zählt die Arbeitsorganisationslehre F. W. Taylors, die Lehre vom „Scientific Management“, auf deren Annahmen die modernen Herstellungsverfahren der amerikani72 George Orwell, Tribune vom 4. Januar 1946, in: ders., The Collected Essays, Journalism and Letters of George Orwell, Bd. 4, London 1968, S. 72–75, 75. 73 Orwell, Tribune vom 4. Januar 1946, in: ders., The Collected Essays, Journalism and Letters of George Orwell, Bd. 4, S. 72–75, 75. 74 Edward J. Brown, Russian Literature Since the Revolution, 3. Aufl., Cambridge (MA) 1982, S. 53.
2. Jewgeni Samjatins „Мы“41
schen Großindustrie basieren, zu den wenigen geistigen Errungenschaften vergangener Zeiten, die der „Wohltäter“ des Einen Staates gelten lässt. Dennoch bleibt eine bemerkenswerte Differenz zwischen Samjatins Fiktion und den realen Geschehnissen im frühen 20. Jahrhundert. Insbesondere für die Vision einer totalen, permanenten Überwachung – das Auslöschen, Eliminieren jeder Form von Privatheit – lässt sich ein konkretes zeitgenössisches Vorbild nicht benennen. Gewiss: Die These von der „guten“ frühsowjetischen Regierungspraxis, die später Stalin pervertiert habe, ist längst widerlegt, denn bereits Lenins ČK mordete und folterte erbarmungslos.75 Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass erst unter Stalin sich Ansätze zu einem totalitären Überwachungsstaat zeigten. Terror als Mittel der Politik hat in Russland eine lange Tradition, indes war es vornehmlich eine spontane, oft genug außer Kontrolle geratene Gewalttätigkeit des Polizei- und Geheimdienstapparates, die in den Alltag der Menschen hineinwirkte.76 Für eine systematische Überwachung aller Lebensbereiche fehlte es namentlich auf dem Lande schlichtweg an den dazu notwendigen logistischen und technischen Mitteln, soweit sie überhaupt schon zur Verfügung standen77 (im Westen hingegen fehlte es (zunächst) an dem politischen Willen, solche Mittel gegen das eigene Volk einzusetzen). Auch später – unter Stalin – dominierte der atavistische, maßlose „rote Terror“. Grausamkeiten und eruptive Gewalt exzesse sind aber nicht das Eigentümliche des Einen Staates im 30. Jahrhundert. 75 Vgl. George Leggett, The Cheka. Lenin’s Political Police. The All-Russian Extraordinary Commission for Combating CounterRevolution and Sabotage (Dec. 1917–Febr. 1922), Oxford 1981; Lennard D. Gerson, The Secret Police in Lenin’s Russia, Philadelphia 1976. 76 Vgl. Felix Schnell, Ordnungshüter auf Abwegen? Herrschaft und illegitime polizeiliche Gewalt in Moskau 1905–1914, Wiesbaden 2006. 77 Vgl. Orlando Figes, Peasant Russia, Civil War. The Volga Countryside in Revolution (1917–1921), Oxford 1989.
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Schon gar nicht kann die Rede davon sein, Samjatin habe lediglich Erkenntnisse der Totalitarismus-Forschung literarisch verarbeitet.78 Der Begriff „Totalitarismus“ ist jünger oder jedenfalls nicht wesentlich älter als Samjatins Schrift. Die Anfänge einer (politik-) wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen datieren auf die späten 20er Jahre. Waldemar Gurian wies erstmals 1927 auf die gemeinsamen, „totalitären“ Grundlagen von Bolschewismus und Faschismus hin.79 Nach dem Zweiten Weltkrieg haben unter anderem Hannah Arendt und Carl Joachim Friedrich versucht, die „totale Herrschaft“80 und „totalitäre Diktatur“81 umfassend zu beschreiben und zu erklären, nunmehr vor dem Erfahrungshintergrund des Stalinismus und des Nationalsozialismus. Aber selbst in diesen „Klassikern“ des Genres kommt dem Merkmal der totalen Überwachung und Exhibition des Privaten eine vergleichsweise untergeordnete Bedeutung zu. Andere Aspekte des Totalitarismus wie die Existenz einer Ideologie, die fortwährende Bedrohung durch Terror und die gezielte Manipulation durch Propaganda stehen eindeutig im Vordergrund. 79
Es gibt wohl nur eine Erklärung: Samjatin war seiner Zeit um einige Jahrzehnte voraus. Im Rückblick erscheint seine Dystopie als eine geradezu selbstverständliche Projektion von Fortschrittsängsten der Moderne, gespeist aus dem Wissen um das technisch Machbare und das gesellschaftlich Unvermeidbare. Dabei gerät leicht aus dem Blick, dass gera78 Zur Totalitarismus-Forschung im 20. Jahrhundert Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, 2. Aufl., Bonn 1999; N. Kapferer, Art. „Totalitarismus“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1296–1300. 79 Kapferer, Art. „Totalitarismus“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Sp. 1296–1300, 1296 f. 80 Hannah Arendt, The Origins of Totalitarism, New York 1951 (dt.: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“). 81 Carl Joachim Friedrich / Zbigniew K. Brzezinski, Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Cambridge (MA) 1956 (dt.: „Totalitäre Diktatur“).
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de die Eigentümlichkeit des Einen Staates, die der Leser als besonders bedrückend und bedrohlich empfindet – der Totalverlust der Privatsphäre – um 1920 noch nicht oder nicht in dem Ausmaß, wie das heute der Fall ist, Gegenstand politischer (oder gar juristischer) Kontroversen war. Samjatin hat den real nicht-existierenden totalitären Überwachungsstaat offenbar eher zufällig, en passant „entdeckt“, angeregt durch die Beschäftigung mit der neuen, Aufsehen erregenden Glasbauweise. Sein Gedankenexperiment, sich ein Leben in einer ganz und gar transparenten, aus Glas erschaffenen Stadt vorzustellen, hat mit einem Schlag die Zivilisationskritik um einen weiteren Aspekt bereichert, der im Verlaufe des Jahrhunderts die Juristen zur Kreation eines bislang unbekannten Grundrechts und eines neuen Rechtsgebietes animieren sollte. Einen ähnlichen Weg vom Material zur Idee beschritt einige Jahre später Samjatins Landsmann, der Regisseur Sergej Eisenstein, der von 1926 bis 1930 an einem Filmprojekt mit dem Titel „Glashaus“ arbeitete.82 Als Eisenstein sich im März 1926 zum Grab seines Vaters, des Architekten Michail Eisenstein, nach Berlin begab, besuchte er auch Fitz Lang bei den Dreharbeiten zu „Metropolis“.83 Inspiriert von der spektakulären Kulisse der Science-Fiction-Großstadt trug sich Eisenstein von nun an mit dem Plan, selbst eine Architekturvision mit den Mitteln des Films in Szene zu setzten. Eine Beschäftigung mit der neuen Glasarchitektur lag nahe, zumal in Berlin, wo man lebhaft über gläserne Bauten wie den von Mies van der Rohe 1921 entworfenen Glasturm für die Friedrich82 Zur Geschichte und Vorgeschichte des „Glashaus“-Projekts eingehend Oksana Bulgakowa, Sergej Eisenstein – drei Utopien. Architekturentwürfe zur Filmtheorie, Berlin 1996, S. 109–123; François Albera, Formzerstörung und Transparenz. Glass House – vom Filmprojekt zum Film als Projekt, in: Akademie der Künste (Hrsg.), Eisenstein und Deutschland. Texte, Dokumente, Briefe, konzipiert von Oksana Bulgakowa, Berlin 1998, S. 123–142. 83 Bulgakowa, Sergej Eisenstein – drei Utopien. Architekturentwürfe zur Filmtheorie, S. 112 f.
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straße diskutierte.84 Die Idee „wurde in Berlin geboren. Hotel Hessler, Kantstraße. Unter dem Einfluss der Experimente mit Glasarchitektur“,85 notierte der Russe deutschbaltischer Herkunft in seinem Tagebuch, das zusammen mit dem ebenfalls im Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst (RGALI) verwahrten Exposé „Glass House“ die wichtigsten Informationen zu dem Projekt enthält.86 Eisenstein setzt die Arbeit an dem Manuskript in Hollywood fort. Doch der Film wurde nie gedreht. Der Künstler durchlebte in Amerika eine Schaffenskrise und verschwendete lieber ein Vermögen für psychoanalytische Therapien, anstatt Regie zu führen. Die Geschichte, die Eisenstein in „Glashaus“ zu erzählen beabsichtigte, war – nach der letzten Fassung des Manuskripts – die folgende: Ein alter Architekt errichtet einen gläsernen Wolkenkratzer, in dem die darin lebenden Menschen zunächst einander nicht bemerken und die Tragödien des Alltags sich wie eh und je im Geheimen abspielen, bis ein Dichter die Bewohner auf die Durchsichtigkeit der Wände aufmerksam macht. Als Folge dieser Entdeckung kehrt nicht Friede und Eintracht ein, vielmehr bleiben die zwischenmenschlichen Beziehungen undurchsichtig, die Lage verschlimmert sich sogar, und das ganze Haus gerät in Aufruhr. Mit dem Erscheinen eines Roboters beginnt die Zerstörung des gläsernen Turms. Auf den Trümmern desselben nimmt schließlich der Roboter die Maske vom Gesicht und gibt sich als der alte Architekt zu erkennen.87 86
84 Dazu Ward, Weimar Surfaces. Urban Visual Culture in 1920s Germany, S. 67–69; Albera, Formzerstörung und Transparenz. Glass House – vom Filmprojekt zum Film als Projekt, in: Akademie der Künste (Hrsg.), Eisenstein und Deutschland. Texte, Dokumente, Briefe, S. 123–142, 127 f. 85 Akademie der Künste (Hrsg.), Eisenstein und Deutschland. Texte, Dokumente, Briefe, S. 20. 86 Eisensteins Aufzeichnungen sind ediert in: Akademie der Künste (Hrsg.), Eisenstein und Deutschland. Texte, Dokumente, Briefe, S. 17–38. 87 Bulgakowa, Sergej Eisenstein – drei Utopien. Architekturentwürfe zur Filmtheorie, S. 114.
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Wie bei Samjatin ist auch im Fall Eisenstein die Versuchung groß, dem Autor zu unterstellen, er habe eine vorgefasste politische oder weltanschauliche Botschaft transportieren wollen, etwa die Aussage, sogar eine transparente Bauweise könne die Isolierung und Entfremdung in der hierarchischen kapitalistischen Gesellschaft nicht überwinden. Zwar hat Eisenstein gelegentlich versucht, sein Vorhaben in der Weise inhaltlich zu konturieren,88 doch konnte er sich letztlich zu einer konventionellen („orthodoxen“89) politischen Dramaturgie nicht durchringen. Was Eisenstein wirklich interessierte, waren die Effekte, die man mit Hilfe von Glas erzeugen konnte. Die Einträge in seinem Tagebuch sind eine wahre Fundgrube für jeden Glasparanoiker und zeugen von der überbordenden Imaginationskraft des Ausnahmeregisseurs: „Alle mögliche Formen erfinden. Glas haare und Glasfäden dehnen sich aus. Oberflächen, Kanten, Gegenstände [aus Glas], ein Glasauto (ich habe das in irgendeiner Zeitschrift gesehen), ein Haus“90 – „Die Verzweiflung eines Menschen (von unten gesehen), der sich auf dem Fußboden wälzt. 6–8 Stockwerke über ihm wird das Licht von oben nach unten nacheinander angeschaltet“91 – „Effekte mit verräucherten Zimmern. Zwei völlig verqualmte Büros – Glaskästen voll Rauch – und ein absolut klarer, durchsichtiger Raum dazwischen“92 – „Begräbnis im gläsernen Sarg“93 – „Im Gegensatz zur Kälte der glatten gläsernen Wand ein paar lyrische Szenen hinter welligem Milchglas 88 Akademie der Künste (Hrsg.), Texte, Dokumente, Briefe, S. 22, 27. 89 Akademie der Künste (Hrsg.), Texte, Dokumente, Briefe, S. 22. 90 Akademie der Künste (Hrsg.), Texte, Dokumente, Briefe, S. 21. 91 Akademie der Künste (Hrsg.), Texte, Dokumente, Briefe, S. 21. 92 Akademie der Künste (Hrsg.), Texte, Dokumente, Briefe, S. 22. 93 Akademie der Künste (Hrsg.), Texte, Dokumente, Briefe, S. 23.
Eisenstein und Deutschland. Eisenstein und Deutschland. Eisenstein und Deutschland. Eisenstein und Deutschland. Eisenstein und Deutschland. Eisenstein und Deutschland.
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einbauen“94 – „Ein Schwimmbad in der Mitte des Hauses. Darunter ein Esszimmer, so dass die Girls über der Zim merdecke schwimmen und tauchen. Die Anbahnung einer Liebesbeziehung zwischen Esszimmer und Schwimmbecken gestalten (trés fort!)“95 – „Ein Mann schlägt einen Nagel in die Glaswand (spießiger Konservatismus). Das Glas zerspringt sternförmig“96 – „Ein Tintenfass kippt um. Oder ein Eimer mit schwarzer Farbe“97 – Nach einer MG-Salve sind kleine Löcher im Glas. Eine Salve auf den Glaskubus. Das Wasser sprudelt wie bei einem Springbrunnen aus den Löchern“98 – „Eisblumen auf Glas … Schneefall außerhalb der Wände“99 – „Prolog. Geschichte des Glases vom antiken und blöden Glasgebrauch (Schmuck, Glasperlen, Glaslüster, Monokel) zur Glasgestaltung – Comptoir-Räume (Ford), Glasautos, Glassärge, Glastotenwagen, Glasmöbel, Glaswand, Glas… Glas… Glas… Glass House.“100 Auch in den erhaltenen, dem Text beigefügten Skizzen kommt Eisensteins Bemühen zum Ausdruck, ein Psychogramm gläserner Architektur zu erstellen (Abb. 6), ein Psychogramm mit verstörenden, beunruhigenden Einsichten. Obwohl das „Glashaus“ nicht – wie gelegentlich zu lesen – als Verfilmung von Samjatins Roman konzipiert war, gelangte Eisenstein, indem er sich wie Samjatin in eine ganz aus Glas erschaffene materielle Welt hineinversetzte, zu ähn 94 Akademie der Künste (Hrsg.), Texte, Dokumente, Briefe, S. 23. 95 Akademie der Künste (Hrsg.), Texte, Dokumente, Briefe, S. 24. 96 Akademie der Künste (Hrsg.), Texte, Dokumente, Briefe, S. 24. 97 Akademie der Künste (Hrsg.), Texte, Dokumente, Briefe, S. 24. 98 Akademie der Künste (Hrsg.), Texte, Dokumente, Briefe, S. 25. 99 Akademie der Künste (Hrsg.), Texte, Dokumente, Briefe, S. 26. 100 Akademie der Künste (Hrsg.), Texte, Dokumente, Briefe, S. 31 f.
Eisenstein und Deutschland. Eisenstein und Deutschland. Eisenstein und Deutschland. Eisenstein und Deutschland. Eisenstein und Deutschland. Eisenstein und Deutschland. Eisenstein und Deutschland.
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Abb. 6: Sergej Eisenstein, Skizze zum Filmprojekt „Glashaus“
lichen Ergebnissen. Für beide war ein Leben ohne Geheimnisse und Privatsphäre, die totale „Vergemeinschaftung“ des Ich keine verlockende Perspektive, sondern ein Alptraum, „ein Alptraum des glatten Glases“101, ein „Alptraum der Entblößung“, der den „panischen Wunsch“ erzeuge, sich zu verstecken.102 Totale Transparenz in den zwischenmensch 101 Akademie der Künste (Hrsg.), Eisenstein und Deutschland. Texte, Dokumente, Briefe, S. 21. 102 Akademie der Künste (Hrsg.), Eisenstein und Deutschland. Texte, Dokumente, Briefe, S. 23.
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lichen Beziehungen befördere Einsamkeit und Unfrieden, jedenfalls kein harmonisches Miteinander. Es ist „die Einsamkeit beim ständigen Unter-den-Leuten-Sein und Vonallen-gesehen-Werden“.103 Man mag nun einwenden, dass es sich bei Samjatins Roman und Eisensteins unrühmlich gescheitertem Filmprojekt allenfalls um Delikatessen für Literaturhistoriker und Cineasten handelt, wohl kaum jedoch um Phänomene, die eine nennenswerte Breitenwirkung entfaltet haben. Doch dieser Einwand greift zu kurz. Zumindest Samjatins lite rarische Vision hat mittelbar dazu beigetragen, dass man den Schutz der Intimsphäre und privater Daten sehr ernst nahm und verfassungsrechtlich abzusichern versuchte. Zur Sprache kam bereits, dass George Orwell im Januar 1946 Samjatins „Wir“ für die Zeitung „Tribune“ rezensierte, drei Jahre bevor sein Jahrhundertroman „1984“ im Druck erschien. Im gleichen Jahr – 1946 – begann Orwell mit der Niederschrift des Werkes. Zudem hatte Orwell 1944 in dem erwähnten Brief an Gleb Struve bekannt, dass ihn Samjatins Roman sehr interessiere, weil er ein ähnliches Buch schreiben wolle und von den Anregungen profitiere („I am interested in that kind of book, and even keep making notes for one myself that may get written sooner or later“).104 Ohne dass dies Orwells eigene Leistung schmälert, ist nicht zu verkennen, dass der Brite die eine oder andere Idee von Samjatin übernahm, a llen voran die Vision der totalen Überwachung. In seiner Besprechung hebt Orwell nämlich die eigenartige Glasarchitektur als Wesensmerkmal des dystopischen Staats Samjatins hervor – und fügt hinzu, die Passage sei eben noch vor der Erfindung des Fernsehens geschrieben worden: „In the twenty-sixth century, in Zamyatin’s vision 103 Akademie der Künste (Hrsg.), Eisenstein und Deutschland. Texte, Dokumente, Briefe, S. 20. 104 Orwell, Brief vom 17. Februar 1944, in: ders., The Collected Essays, Journalism and Letters of George Orwell, Bd. 3, S. 95–96, 95.
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of it, the inhabitants of Utopia have so completely lost their individuality as to be known only by numbers. They live in glass houses (this was written before television was in vented), which enables the political police, known as the ‚Guardians‘, to supervise them more easily.“105 Als Orwell dann sein eigenes Œuvre konzipierte, tat er genau das, was nach dieser Bemerkung zu erwarten war: Er ersetzte einfach die Glaswände durch Fernseher und Kameras, die telescreens, die es der Gedankenpolizei ermöglichten, alles und jeden im Blick zu haben, wenn sie es wollten. „The telescreen“, erfährt der Leser gleich zu Beginn, „receiv ed and transmitted simultaneously. Any sound that Winston made, above the level of a very low whisper, would be picked up by it, moreover, so long as he remain ed within the field of vision which the metal plaque commanded, he could be seen as well as heard. There was of course no way of knowing whether you were being watched at any given moment. How often, or on what system, the Thought Police plugged in on any individual wire was guesswork. It was even conceivable that they watched everybody all the time. But at any rate they could plug in your wire whenever they wanted to. You had to live – did live, from habit that became instinct – in the assumption that every sound you made was overheard, and, except in darkness, every movement scrutinized.“106 Orwells Variante des Überwachungsstaats war etwas realitätsnäher als die Version Samjatins, doch das ändert nichts am utopischen Charakter von „1984“. Ein mit „Ozeanien“ vergleichbares Gemeinwesen hatte es (und hat es bis heute) in der Realität nicht gegeben – Nationalsozialismus und Stalinismus eingerechnet.
105 Orwell, Tribune vom 4. Januar 1946, in: ders., The Collected Essays, Journalism and Letters of George Orwell, Bd. 4, S. 72–75, 73. 106 George Orwell, Nineteen Eighty-Four, London 1955, S. 6 f.
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Unvergleichlich war auch der Erfolg von „1984“, nicht zuletzt in Deutschland.107 In keinem anderen Land, vielleicht mit Ausnahme von Großbritannien und den Vereinigten Staaten, hat sich die Öffentlichkeit derart intensiv mit Orwells Dystopie beschäftigt, in keinem anderen Land hat das Anliegen des Autors so viel Aufmerksamkeit erfahren. Das Buch erreichte eine Millionenauflage. Ausdrücke wie „Big Brother“ („Großer Bruder“), „Newspeak“ („Neusprache“) oder Thought Police („Gedankenpolizei“) wurden zu geflügelten Worten. Besonders groß war das Interesse des Publikums und der Medien verständlicherweise im „Orwell-Jahr 1984“, das bereits lange vor dem Kalenderjahr 1984 begann. Von 1982 bis 1984 stand Orwells Roman ohne Unterbrechung auf den deutschen Bestsellerlisten. Kaum eine Zeitung oder Zeitschrift – gleich welcher Couleur – die dem Thema nicht eine Titelgeschichte oder ein Sonderheft widmete. Die Werbewirtschaft zog alle Register und bemühte sich nach Kräften, aus dem Jubiläum Kapital zu schlagen. Auf dem Höhepunkt der Orwell-Hysterie – am 15. Dezember 1983 – erging das wegweisende „Volkszählungsurteil“ des Bundesverfassungsgerichts,108 das erstmals ausdrücklich ein Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung“ anerkannte und dadurch zur „Magna Charta“ des Datenschutzes avancierte.109 „Unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung“, heißt es im ersten Leitsatz, „wird der Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persön 107 Zum Folgenden John Rodden, The Spectre of Der Große Bruder: George Orwell’s Reputation in West Germany, The German Quarterly 60 (1987), S. 530–547. 108 BVerfGE 65, 1–71. 109 Monographisch zu dieser Entscheidung und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung u. a. Hans-Peter Bull, Informa tionelle Selbstbestimmung – Vision oder Illusion? Datenschutz im Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit, 2. Aufl., Tübingen 2011; Marion Albers, Informationelle Selbstbestimmung, Baden-Baden 2005; Klaus Vogelgesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung?, Baden-Baden 1987.
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lichen Daten von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG umfasst. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“110 Das Datum der Entscheidung hat natürlich zunächst einmal gar nichts mit dem Orwell-Jahrestag zu tun. Gegenstand der Entscheidung war das „Gesetz über eine Volkszählung, Berufszählung, Wohnungszählung und Arbeitsstättenzählung“ (Volkszählungsgesetz 1983) vom 25. März 1982, mit dem sich das Gericht zu befassen hatte, weil gegen das Gesetz Verfassungsbeschwerden vorlagen. Freilich sind Verfassungsbeschwerden sehr häufig, Grundsatzentscheidungen von einer solchen Tragweite dagegen selten. Das Verfassungsgericht reagierte damals auf die Furcht in der Bevölkerung, der Staat könne sich über jeden Bürger jederzeit alle Informationen – auch über das Intimleben – beschaffen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Ungewöhnlich offen spricht das Gericht – in einer Art Prolog – diese Sorgen und Ängste an: „Die durch dieses Gesetz angeordnete Datenerhebung hat Beunruhigung auch in solchen Teilen der Bevölkerung ausgelöst, die als loyale Staatsbürger das Recht und die Pflicht des Staates respektieren, die für rationales und planvolles staatliches Handeln erforderlichen Informationen zu beschaffen … Die Möglichkeiten der modernen Datenverarbeitung sind weithin nur noch für Fachleute durchschaubar und können beim Staatsbürger die Furcht vor einer unkontrollierbaren Persönlichkeitserfassung selbst dann auslösen, wenn der Gesetzgeber lediglich solche Angaben verlangt, die erforderlich und zumutbar sind.“111 Formulierungen wie diese deuten darauf hin, dass das Gericht die reale Bedrohung durch die Fortschritte in der Informations- und Biotechnologie etwas geringer veranschlagte als die vom „loyalen Staatsbürger“ empfundene 110 BVerfGE 111 BVerfGE
65, 1, 1. 65, 1, 3 f.
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Gefahr. Der „Überschuss“ an Besorgnis lässt sich wohl nur mit einer erhöhten Sensibilität für jede Art von staatlicher Einsichtnahme und Kontrolle erklären. Dass allein die Aussicht auf irgendeine statistische Erhebung persönlicher Daten erhebliche politische Energien zu mobilisieren vermochte, zeugt von einer alles andere als selbstverständlichen Befähigung, die Konsequenzen (vermeintlich) belangloser staatlicher Eingriffe sich zu veranschaulichen und zu durchdenken. Eine solche Gabe ist die charakteristische Begleiterscheinung utopischer Imagination. Genau darin liegt eine wesentliche Funktion – positiver wie negativer – Utopien im Rahmen der Staats- und Verfassungslehre112: im Zu-EndeDenken und „Dramatisieren“ des (noch) Trivialen. Damit schließt sich der Kreis, denn nur Orwells Utopie besaß im Jahr 1983 die Strahlkraft, die ausreichte, um in die Sphäre des Rechts und der Politik hineinzuwirken. Tatsächlich war die Vision des Briten in der deutschen staats- und verfassungsrechtlichen Diskussion vor und unmittelbar nach Erlass des Volkszählungsurteils so präsent,113 dass der Verdacht im Raum steht, nicht an der Wirklichkeit werde Maß genommen – weder an der gegenwärtigen noch an einer vergangenen Wirklichkeit – sondern an den Verhältnissen im Phantasiestaat Ozeanien. Das ist nicht verwerflich. Nur wer das Kleine ins Große rechnet, nur wer mit dem prima facie Unwahrscheinlichen und Phantastischen kalkuliert, hat eine realistische Chance, Fehlentwicklungen noch rechtzeitig zu korrigieren. Samjatins eigenartiger Einfall, sich ein Leben in Gebäuden aus Glas vorzustellen, blieb demnach nicht ohne Folgen, 112 Eingehend Peter Häberle, Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaats, in: Peter Selmer (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, Berlin 1987, S. 73–84. 113 Vgl. nur Günter Dürig, Ein Orwellsches Experiment, ZRP 1968, S. 11; Friedhelm Hufen, Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung – eine juristische Antwort auf „1984“?, JZ 1984, S. 1072–1078.
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obgleich natürlich noch viele andere Faktoren bei der Konstituierung des Rechts auf „informationelle Selbstbestimmung“ eine Rolle spielten – ein Recht übrigens, das Samjatin als Karikatur in Gestalt der „Rollobefugnis“, also der Konzession, zu bestimmten Zeiten und Anlässen einen Sichtschutz verwenden zu dürfen, vorweggenommen hat. Zufall oder nicht: Etwa seit Beginn der 80er Jahre ist zu beobachten, wie Orwells High-Tech-Szenario gleichsam wieder zurückübersetzt wird in die dystopische Materialsprache Samjatins. Wann immer ein staatlicher Zugriff auf persönliche Daten droht oder eine missbräuchliche Verwendung derselben, werden Stimmen laut, die vor dem „gläserne Menschen“ oder dem „gläsernen Bürger“ warnen, eine Formel, die ständig um neue Varianten ergänzt wird. So ziehen Datenschützer inzwischen auch gegen die „gläserne Belegschaft“ zu Felde ebenso wie gegen den „gläsernen Patienten“, den „gläsernen Arbeitnehmer“, den „gläsernen Arzt“, den „gläsernen Bankkunden“, den „gläsernen Steuerzahler“, den „gläsernen Studenten“, den „gläsernen Verbraucher“, die „gläserne Mutter“ usw.114
114 Vgl. etwa Walter Erb, „Gläserner Mensch – Gläserne Arbeit“. Die Erfassung und Verarbeitung von Betriebsdaten (BDE / BDV). Ein betriebliches Aktionsprogramm für Vertrauensleute und Betriebsräte, Frankfurt am Main 1984; Wolfgang Däubler, Gläserne Belegschaft – Datenschutz für Arbeiter, Angestellte und Beamte, Köln 1987; Bernd Klees, Der gläserne Mensch im Betrieb. Genetische Analyse bei Arbeitnehmern und ihre Folgen, Frankfurt am Main 1988; Eva Schindele, Gläserne Gebär-Mütter? Vorgeburtliche Diagnostik – Fluch oder Segen, Frankfurt am Main 1990; Jan Reetze, Gläserne Verbraucher. Markt- und Medienforschung unter der Lupe, Frankfurt am Main 1995; Erich Samson / Marc Langrock, Der „gläserne“ Bankkunde? Automatisierter Abruf von Kontoinformationen und Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Zur verfassungsrechtlichen Problematik der §§ 93 Abs. 7, 8, 93 b der Abgabenordnung, Köln 2005; Anton-Rudolf Götzenberger, Der gläserne Steuerbürger. Neue Steuer-Identifikationsnummer, erweiterter Kontenabruf ab 1.1.2009, Kontrollmitteilungen, Internet als Daten- und Informationsquelle, EU-Bargeld-Grenzkontrollen, internationale Amts- und Rechtshilfe, 2. Aufl., Herne 2008; Matthias
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Nicht zuletzt in juristischen Texten tauchen solche Ausdrücke immer häufiger auf, wenn eine staatliche Maßnahme oder unternehmerische Praxis auf dem Prüfstand steht. Bereits im „Volkszählungsurteil“ hatten die Beschwerdeführer ein Übermaß an „Durchsichtigkeit“ gerügt: „Aufgrund dieser gewandelten technologischen Bedingungen sei die Erstellung eines umfassenden und detaillierten Bildes der jeweiligen Person – ein Persönlichkeitsprofil – möglich, und zwar auch im Intimbereich; der Bürger werde zum „gläsernen Menschen“. Die fehlende Anonymität bedeute nicht nur einen verfassungsrechtlichen Mangel der zu erwartenden Zählpraxis und Auswertungspraxis, sondern stelle einen Mangel des Volkszählungsgesetzes 1983 selbst dar.“115 Zu etwa der gleichen Zeit erlebte die „Glaskultur“ der Klassischen Moderne eine Renaissance ganz anderer Art. In atemberaubender Geschwindigkeit bemächtigte sich ein Begriff des politischen Jargons und später auch der Rechtssprache, der das emanzipatorische Anliegen der Glaspioniere bis in die Gegenwart hineinträgt und mit großem Erfolg die „Kulturmission des Glases“ lebendig hält. Die Rede ist von der „Transparenz“116, eine als (rechts-)politisches Leitbild gedeutete stoffliche Eigenschaft, die heute in der öffentlichen Wertschätzung den hehren Idealen der Französischen Revolution – liberté, égalité, fraternité – in nichts nachsteht.117 Stahl / Christian Kolle. Der gläserne Bürger. Personenbezogene Daten zwischen Forschung und Schwarzmarkt, Bonn 2009. 115 BVerfGE 65, 1, 17 f. (Hervorhebung nicht im Original). 116 Vgl. nur Jürgen Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip. Grundgesetz und Europäische Union, Tübingen 2004; Florian Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, Tübingen 2010; Martin Burgi / Wolfgang Durner, Modernisierung des Verwaltungsverfahrensrechts durch Stärkung des VwVfG. Transparenz, Bürgerfreundlichkeit und Perspektiven der Bürgerbeteiligung insbesondere in Verfahren der Eröffnungskontrolle, Baden-Baden 2012. 117 Vgl. Christopher Hood, Transparency in Historical Perspective, in: CristopherHood / David Heald, Transparency. The Key to Better Governance?, Oxford 2006, S. 3–23, 3: „Transparency is a term that has attained quasi-religious significance in debate over
3. Le Corbusiers „Ville Radieuse“55
Der „transparente Staat“ ist die Rache des „gläsernen Bürgers“. 3. Le Corbusiers „Ville Radieuse“ Sich weltanschaulich oder gar parteipolitisch zu binden, birgt für einen Architekten große Risiken, zumal wenn er den Anspruch erhebt, eine „Weltarchitektur“ zu erschaffen, die auf allen Kontinenten präsent ist. Nur allzu leicht gerät man zwischen die Fronten und muss fürchten, aus politischen Gründen bei der Vergabe von Aufträgen nicht zum Zuge zu kommen. Niemand wusste das besser als CharlesÉdouard Jeanneret-Gris, genannt Le Corbusier. Der bedeutendste Architekt des 20. Jahrhunderts kannte keine Berührungsängste im Umgang mit staatlichen Auftraggebern. Ob Völkerbund, Sowjet-Kommunismus, Vichy-Frankreich oder die junge indische Demokratie: Le Corbusier akzeptierte und pries jedes politisches System, das bereit war (oder schien), seine Pläne in die Tat umzusetzen. Und doch gab es Phasen im Leben dieses Architekten, in denen er den Versuch unternahm, sich über sein Verhältnis zu Staat und Politik Klarheit zu verschaffen und strategische Rücksichtnahmen außen vor zu lassen.118 Besonders intensiv governance an institutional design. Since the 1980s the word has appeared in the litanies of countless institutional-reform documents and mission statements.“ 118 Zu Le Corbusiers politischen und publizistischen Aktivitäten zwischen den Weltkriegen: u. a. Robert Fishman, From Radiant City to Vichy: Le Corbusier’s Plans and Politics 1928–1942, in: Russell Walden (Hrsg.), The Open Hand. Essays on Le Corbusier, Cambridge (MA), London 1977, S. 244–283; Mark Antliff, Georges Valois, Le Corbusier, and Fascist Theories of Urbanism, in: Matthew Affron (Hrsg.), Fascist Vision. Art and Ideology in France and Italy, Princeton 1997, S. 134–170; Mary McLeod, „Architecture or Revolution“: Taylorism, Technocracy, and Social Change, Art Journal 1983, S. 132– 147; Nicholas Fox Weber, Le Corbusier. A Life, New York 2008, S. 359 f., 421–426; M. Christine Boyer, Le Corbusier, homme de lettres, New York 2011, S. 489– 521, 605–631.
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betrieb Le Corbusier die politische Selbstfindung zu Beginn der 30er Jahre. Sein Engagement manifestierte sich damals in der Mitarbeit an der Monatszeitschrift „Plans“, deren erste Ausgabe im Januar 1931 erschien.119 Die Programmatik der Zeitschrift ist in den Begriffen der herkömmlichen politischen Richtungslehre nur schwer zu beschreiben. Das war gleichsam Teil des Projekts. Die Suche nach einem „Dritten Weg“ fand im Gefolge der Weltwirtschaftskrise auch unter Frankreichs Intellektuellen viel Zuspruch. „Ni droite, ni gauche“ war die Parole derer, die das Lagerdenken überwinden wollten.120 Zu den Nebenwirkungen dieser Offenheit gehörte ein hohes Maß an Unstetigkeit. Kaum hatte sich eine Gruppe gefunden, da traten schon wieder einige Mitglieder aus und formierte sich neu. Denunziationen, Streit und Intrigen waren an der Tagesordnung. Auch die Herausgeber und Unterstützer von „Plans“ hatten ein bewegtes politisches Leben hinter sich oder noch vor sich, namentlich die graue Eminenz des Blattes, Hubert Lagardelle, und der Chefredakteur Philippe Lamour. So war es nicht die erste Zeitschrift, die der 1875 geborene Rechtsanwalt Lagadelle initiierte. Er hatte bereits „Le Mouvement socialiste“ ins Leben gerufen, eine Zeitschrift, die seit ihrer Gründung 1899 zunehmend dem revolutionären Syndikalis119 Zu „Plans“: Hans-Wilhelm Eckert, Konservative Revolution in Frankreich? Die Nonkonformisten der Jeune Droite und des Ordre Nouveau in der Krise der 30er Jahre, München 2000, S. 71– 74; Sylvie Guillaume, Plans et la révolution collective, in: Gilbert Merlio (Hrsg.), Ni gauche, ni droite. Les chassés-croisés idéologiques des intellectuels français et allemands dans l’Entre-deuxguerres, Talence 1995, S. 197–207; Zeev Sternhell, Ni droite, ni gauche. L’idéologie fasciste en France, Nouvelle edition, Brüssel 1992, S. 242; ders., Die Entstehung der faschistischen Ideologie, Hamburg 1999, S. 127 f. 120 Allgemein zu den Positionen des „nonkonformistischen“ Milieu: Sternhell, Ni droite, ni gauche. L’idéologie fasciste en France; Eckert, Konservative Revolution in Frankreich? Die Nonkonformisten der Jeune Droite und des Ordre Nouveau in der Krise der 30er Jahre.
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mus zuneigte.121 Mit Georges Sorel, dem Vordenker des antiliberalen Heroismus, den sowohl Marxisten als auch Faschisten – allen voran Mussolini – verehrten und für sich vereinnahmten, verband Lagardelle eine Freundschaft.122 Allerdings trennten sich ihre Wege bald wieder, als Sorel endgültig dem Marxismus Adieu sagte und sich dem maurrasianischen Nationalisten anschloss. Erst einige Zeit später begann auch Lagardelle, sich für die sozialistische-nationale Synthese zu erwärmen und wechselte das Lager. Als Freund und gesuchter Gesprächspartner Mussolinis trat er 1926 der Toulouser Sektion der ersten faschistischen Partei Frankreichs bei, des „Faisceau“ von Georges Valois, ohne jedoch als Aktivist in Erscheinung zu treten.123 Mit „Plans“ bereitete er seine Rückkehr auf die politische Bühne vor. 1942 übernahm Lagadelle für etwas mehr als ein Jahr das Amt des Arbeitsministers in der Vichy-Regierung.124 Ein Vierteljahrhundert jünger als Lagardelle war Lamour, der wie dieser eine juristische Ausbildung durchlaufen und sich früh für Valois’ „Faisceau“ engagiert hatte. Meinungsverschiedenheiten mit Valois veranlasste Lamour, 1928 der Bewegung den Rücken zu kehren.125 Mit „Plans“ hoffte er, ein eigenes, stabileres Forum zur Verbreitung seiner Überzeugungen zu schaffen. Tatsächlich konnte er zunächst namhafte Autoren als Mitarbeiter gewinnen, neben Le Corbusier den Gewerkschafter Francis Delaisi, den Arzt Pierre Winter sowie die Vordenker des „Ordre Nouveau“ Arnaud Dandieu, Robert Aron und René Dupuis. Wegen inhaltlicher, aber auch persönlicher Differenzen kündigten Dandieu, Aron und Dupuis bald jedoch die Kooperation mit dem temperament121 Sternhell,
Die Entstehung der faschistischen Ideologie, S. 123. Die Entstehung der faschistischen Ideologie, S. 123. 123 Sternhell, Ni droite, ni gauche. L’idéologie fasciste en France, S. 149. 124 Sternhell, Die Entstehung der faschistischen Ideologie, S. 128 f. 125 Eckert, Konservative Revolution in Frankreich? Die Nonkonformisten der Jeune Droite und des Ordre Nouveau in der Krise der 30er Jahre, S. 71. 122 Sternhell,
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vollen Lamour auf, der fürchtete, dass ihm die Kontrolle über die eigene Zeitung entglitt.126 Hinzu kamen Unstimmigkeiten mit Lagardelle. Seit April 1932 erschien „Plans“ alle zwei Wochen, zugleich änderte sich die Aufmachung. Finanzielle Schwierigkeiten erzwangen im September erneut eine Korrektur des Layouts. Nach weiteren drei Ausgaben war das Blatt im Frühjahr 1933 endgültig am Ende.127 Le Corbusier wechselte daraufhin zur Zeitschrift „Prélude“, die ebenfalls nur wenige Jahre – von 1933 bis 1936 – existierte. „Prélude“ – mit dem Untertitel „organe mensuel du comité central d’action régionaliste et syndicaliste“ – richtete sich dem Selbstverständnis nach an die syndikalistischen Eliten und Autoritäten von morgen. Die Herausgeber waren alte Bekannte: der rührige Lagardelle, Pierrefeu und Winter.128 Ein Großteil der Artikel, die Le Corbusier für „Plans“ und „Prélude“ verfasste, fand Eingang in seine 1935 publizierte Schrift „La Ville Radieuse. Éléments d’une doctrine d’urbanisme pour l’équipement de la civilisation machiniste“. Ungeachtet der den frühen 30er Jahren eigenen Unstetigkeit und Orientierungslosigkeit, wie sie in den Lebensläufen der wichtigsten Akteure von „Plans“ und „Prélude“ zu Tage tritt, gab es doch gewisse Konstanten im politischen Denken jener Gruppe, deren Mitglieder sich überwiegend dem „revolutionären Syndikalismus“ (oder „Neo-Syndikalis mus“) zugehörig fühlten. Verhasst war der Liberalismus in allen seinen Facetten, der „anarchische Hyperkapitalismus“ der Wall-Street ebenso wie der ohnmächtige, geschwätzige Parlamentarismus. Im Einklang mit den traditionellen Zielen 126 Eckert, Konservative Revolution in Frankreich? Die Nonkonformisten der Jeune Droite und des Ordre Nouveau in der Krise der 30er Jahre, S. 72. 127 Eckert, Konservative Revolution in Frankreich? Die Nonkonformisten der Jeune Droite und des Ordre Nouveau in der Krise der 30er Jahre, S. 72 Fn. 111. 128 Vgl. Boyer, Le Corbusier, homme de lettres, S. 491.
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des Syndikalismus129 forderte man die Einführung der Planwirtschaft, die Schaffung kollektiver Gesellschaftsstrukturen auf der Basis von Gewerkschaften und die Übertragung der Entscheidungsfindung und Verwaltung auf die Produzenten. Der Staat sollte föderalistisch, dezentral und genossenschaftlich organisiert sein. Zugleich sollte es ein starker Staat sein, der über die Autorität verfügte, alle seine Anordnungen auf der Stelle umzusetzen.130 In die Wiege gelegt war dem Spross einer Schweizer Uhrmacherfamilie aus La Chaux-de-Fonds das klassenkämpferische, kollektivistische und autoritäre Weltbild des NeoSyndikalismus gewiss nicht. Seinem Naturell entsprach es noch weniger: Inbegriff des Egomanen und völlig unfähig, sich unterzuordnen und im Kollektiv zu arbeiten, konnte sich Le Corbusier für wenig so begeistern wie für die Produkte der amerikanischen „hyperkapitalistischen“ Großindustrie – vom Basketball bis zum Sportwagen. Der revolutionäre Syndikalismus hatte überdies fast überall in Europa seine besten Zeiten längst hinter sich, jedenfalls war nicht zu erwarten, dass die Bewegung in absehbarer Zeit einem ehrgeizigen Baumeister ein Betätigungsfeld bieten konnte. Es drängt sich also die Frage auf, warum der schon damals berühmte Architekt ausgerechnet den realitätsfernen neosyndikalistischen Staat zum Vorbild erwählte. Da Le Corbusiers publizistisches Engagement bei „Plans“ und „Prélude“ beachtlich war, könnte man annehmen, dass wir über seine Beweggründe und Überzeugungen genau informiert sind. Wer nach diskursiven, rational begründeten Stellungnahmen 129 Allgemein zum syndikalistischen Programm Marcel van der Linden / Wayne Thorpe, Aufstieg und Niedergang des revolutio nären Syndikalismus, 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 5 (1990), S. 9–38; Jeremy Jennings, Syndicalism in France. A Study of Ideas, New York 1990. 130 Vgl. insbesondere die Beiträge der Herausgeber im ersten Jahrgang von „Plans“ (1931). Dazu Eckert, Konservative Revolu tion in Frankreich? Die Nonkonformisten der Jeune Droite und des Ordre Nouveau in der Krise der 30er Jahre, S. 71 f.; Boyer, Le Corbusier, homme de lettres, S. 492.
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sucht, wird jedoch kaum etwas Substantielles finden. Überhaupt geben Le Corbusiers Texte für sich genommen wenig her, manchmal stammen sie sogar gar nicht von ihm, sondern von Freunden und Mitarbeitern. Was indes in jedem Fall aus des Meisters Feder stammt, sind die zahllosen Skizzen, flüchtig hingeworfene Denk-Bilder, die Le Corbusier in seinen Artikeln und Büchern eben in dieser Eigenschaft, nämlich als nach außen gewendete, graphisch materialisierte Reflexion, in Szene setzt. Die Wahrheit ist: Le Corbusier fand zu seiner politischen Überzeugung und persönlichen Staatsidee genau auf die gleiche Art und Weise, wie er zu seinen Idealen des Inte rieurdesign und der Stadtarchitektur fand: mit dem Zeichenstift, der „denkenden Hand“.131 Das bedeutete nicht, dass er realen Geschehnissen und kausalen Zusammenhängen überhaupt keine Beachtung schenkte. So hat auf Le Corbusier wie auf so viele andere Intellektuelle der große Börsencrash von 1929 einen tiefen Eindruck hinterlassen. Ohne dieses Ereignis hätte er sich mit ziemlicher Sicherheit nicht dazu veranlasst gesehen, seine bisherigen Anschauungen – sein Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie und die Selbstheilungskräfte des Kapitalismus – derart radikal in Frage zu stellen.132 Doch das Umdenken selbst, nachdem seine Notwendigkeit erst einmal erwiesen war, vollzog Le Corbusier dann offenbar tatsächlich vornehmlich als einen Dialog mit der graphischen Intuition und der ihm eigenen Formensprache. 131 Dazu grundlegend Horst Bredekamp, Galilei, der Künstler. Der Mond, die Sonne, die Hand, Berlin 2007.; ders., Darwins Korallen. Die frühen Evolutionsdiagramme und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin 2005. 132 Vgl. Mardges Bacon, Le Corbusier in America. Travels in the Land of the Timid, Cambridge (MA) 2001, S. 132; Fishman, From Radiant City to Vichy: Le Corbusier’s Plans and Politics 1928– 1942, in: Russell Walden (Hrsg.), The Open Hand. Essays on Le Corbusier, S. 244–283, 245; ders., Urban Utopias in the Twentieth Century. Ebenezer Howard, Frank Lloyd Wright, and Le Corbusier, New York 1977, S. 220.
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Abb. 7: Geometrietafel aus einem Schulbuch
„La géométrie est la base,“ heißt es gleich zu Anfang in Le Corbusiers „Urbanisme“ (1925), „Elle est aussi le support matériel des symboles signifiant la perfection, le divin.“133 Um dem Satz Nachdruck zu verleihen, fügte Le Corbusier eine Übersichtstafel mit geometrischen Figuren aus einem Schulbuch an (Abb. 7): „Ceci est imprimé au dos des cahiers de classe des écoles primaires de France; c’est la géométrie.“134 Diesem elementaren Formenrepertoire maß Le Corbusier natürlich primär eine Bedeutung für seine Architekturentwürfe zu: Quadratisch sollten die Grundrisse der Gebäude sein, dreieckig die Plätze, kreisrund die Portale, linear die Straßen usw. Doch bediente sich Le Corbusier genau der gleichen Formen, wenn er zu gesellschaftlichen oder politischen Themen Stellung bezog. Ganz besonders angetan hatten es ihm Dreieck und Pyramide. Beispielsweise erklärt er in „Précision sur un état présent de l’architecture et de l’urbanisme“ (1930), man dürfe sich nicht der Illusion 133 Le 134 Le
Corbusier, Urbanisme, Nouvelle Édition, Paris 1966, S. V. Corbusier, Urbanisme, S. IX.
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hingeben, dass der einfache Arbeiter, der „Mann auf der Straße“, die von ihm, Le Corbusier, gestalteten Häuser und Wohnungen goutieren werde. Vorläufig sei diese Art von Architektur eine Angelegenheit für Aristokraten und Intellektuelle. Revolution hin oder her, die hierarchische Grundstruktur der Gesellschaft werde sich eben nie ändern. Die beigefügte Skizze, auf die der Architekt verweist, zeigt eine Pyramide mit schwarz markierter Spitze: „les élites“. Dazu heißt es im Text: Die Basis der Pyramide, das Volk, fühle sich noch immer hingezogen zu dem „romantischen“ Interieur der Zeit vor 1900.135 Offenkundig spielt Le Corbusier mit dem Gedanken, es bestehe ein Zusammengang zwischen ästhetischer und sozialer Inferiorität. Sich explizit auf die Autorität – „die Wahrheit“ – der Form zu berufen, ist an sich eine Eigenheit des vormodernen politischen Denkens. So galt die keilförmige Flugformation der Kraniche seit der Antike als Argument für eine streng hierarchische Ordnung des Gemeinwesens und gegen ein kooperatives Herrschaftsmodell. In Schriften wie „De caelesti hierarchia“ des Pseudo-Dionysius Areopagita sind ästhetische Bezüge allgegenwärtig.136 Ausgerechnet in den avantgar distischen Zirkeln der Hochmoderne erlebten an Formen gebundene Gesellschaftsmodelle nun eine Renaissance. Berühmt ist Kandinskys Lehre vom „großen spitzen Dreieck“ in seiner viel gelesenen Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ von 1910. „An der Spitze der obersten Spitze“ dieses Dreiecks, schreibt der Vater der abstrakten Malerei, „steht manchmal allein nur ein Mensch. Sein freudiges Sehen ist der inneren unermesslichen Trauer gleich. Und die, die ihm am 135 Le Corbusier, Precisions on the present state of architecture and city planning, übers. von Irmgard Geotze-Winter, Cambridge (MA) 1991, S. 95. 136 Vgl. Damler, Herr der Welt und König der Frösche. Von der ästhetischen zur teleologischen Weltherrschaftsidee, in: Renate Dürr / Gisela Engel / Johannes Süßmann (Hrsg.), Expansionen in der Frühen Neuzeit, S. 279–305, 287 f. Zum Dreieck als religiöses Symbol (Sinnbild der Trinität) vgl. Georg Stuhlfauth, Das Dreieck. Geschichte eines religiösen Symbols, Stuttgart 1937.
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nächsten stehen, verstehen ihn nicht.“137 Das Dreieck zählte Kandinsky, der später als Dozent am Bauhaus eine künstlerisch-wissenschaftliche „Grammatik der Formen“ ent wickelte, zu den „primären Formen“, denen er bestimmte „charakterliche“ Qualitäten und Temperamente zusprach.138 Offenbar von Kandinskys Dreiecks-Apotheose inspiriert139 verkündete Bruno Taut auf der Werkbund-Konferenz von 1914: „Die Kunst stellt eine Pyramide dar, die nach unten in die Breite geht. Oben an der Spitze, stehen die Tüchtigsten, stehen die Künstler, die Ideen haben.“ Dem Tüchtigsten der Tüchtigen, der ganz oben stehe, gebühre, meinte Taut, die Machtbefugnis eines Diktators. Er dürfe in allen künstlerischen Angelegenheiten verbindliche Vorgaben dekretieren.140 Le Corbusier war also kein Einzelfall, allerdings ging er insoweit einen Schritt weiter, als er nicht nur das „geistige Leben“ und die Ordnung der Schönen Künste im Blick hatte, sondern den Staat als Ganzes. Das wohl feinsinnigste staatstheoretische Bekenntnis aus der Feder Le Corbusiers stammt aus den frühen 30er Jahren (Abb. 8). Die Abbildung lässt erahnen, warum selbst engherzige Kritiker der Klassischen Moderne wie der Doyen der postmodernen Architektur, Robert Venturi, Le Corbusier als Virtuosen einer unorthodoxen Sachlichkeit Anerkennung zollen.141 Die Skizze zeigt nämlich nicht – wie zu erwarten – eine monolithische 137 Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 10. Aufl., Bern 1973, S. 29. 138 Vgl. Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche, S. 79. Dazu auch Norbert M. Schmitz, Der Unterricht bei Wassily Kandinsky und Paul Klee, in: Jeanni Fiedler, Peter Feierabend (Hrsg.), Bauhaus, Köln 1999, S. 382–391. 139 Marcel Franciscono, Walter Gropius and the creation of the Bauhaus in Weimar: The Ideals and artistic theories of its founding years, Urbana u. a. 1971, S. 99; Whyte, Bruno Taut. Baumeister einer neuen Welt, S. 75. 140 Nach Whyte, Bruno Taut. Baumeister einer neuen Welt, S. 74. 141 Robert Venturi, Komplexität und Widerspruch in der Architektur, hrsg. von Heinrich Klotz, übers. von Heinz Schollwöck, Braunschweig 1978, S. 28.
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III. Material- und formengebundene Staatsutopien
Abb. 8: Le Corbusier, Skizze der „Natürlichen Hierarchien“
Staatspyramide, sondern ein Band von kleineren, in der Gestaltung leicht variierten Dreiecken. Jedes für sich repräsentiert die „Pyramide der natürlichen Hierarchien“ (la pyramide des hiérarchies naturelles). Die Dreiecke ruhen ihrerseits auf kleinen, fugenlos aneinander gereihten Rechtecken, „die Basis“, die sich aus den verschiedenen Gewerben oder Berufsgruppen (les metiers) zusammensetzt. „Tout homme travaille, pratique un métier“, heißt es im Begleittext, „tout homme est capable de juger des choses de son métier. C’est sur le métier que s’édifiera de l’autorité, l’échelle des pouvoirs, la hiérarchie des responsabilités.“142 Auf der pyramidalen Ebene, räumt Le Corbusier ein, könne es durchaus schon einmal zu schweren Konflikten kommen, doch sei es gerade der Vorteil des kleinteiligen Aufbaus, dass diese Konflikte stets begrenzt blieben.143 Jedes Gewerbe entsende ihr Spitzenpersonal in einen conseil supérieur inter-syndical, der sich mit den Hauptproblemen der ökonomischen Wechselbeziehungen (les problèmes capitaux de l’interdépendance économique) befasse. Aus 142 Le Corbusier, La Ville Radieuse. Éléments d’une doctrine d’urbanisme pour l’équipement de la civilisation machiniste, Réimpression, Paris 1964, S. 192 (r. Sp.). 143 Le Corbusier, La Ville Radieuse. Éléments d’une doctrine d’urbanisme pour l’équipement de la civilisation machiniste, S. 192 (r. Sp.).
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Abb. 9: Le Corbusier, Skizze (1) der „groupe unique“
diesem Kreis rekrutiere sich wiederum „die höchste Autorität“ (l’autorité suprême), gleichsam ein Gremium extra-syndical, da es sich allein den existentiellen Fragen der „Zivilisation“ widme und davon entbunden sei, sich mit verwaltungstechnischen Details zu beschäftigen: „Et dès lors, l’autorité suprême est débarrassée des conflits d’incompetence technique. Elle conduit le pays à ses destinées. C’est à travers ses œuvres que se manifeste la philosophie d’une civilisation: la ligne de conduite.“144 Wie sich Le Corbusier das etwas ungewöhnliche Programm einer hierarchischen und zugleich dezentral-pluralen Staatsordnung graphisch aneignete, verraten seine Skizzen im vorangegangenen Abschnitt, der mit Des nouvelles unités de grandeur überschrieben ist. Hier rekonstruiert und visua lisiert er nämlich „die Autorität“ in ihrer elementaren Gestalt, l’autorité dans sa définition transcendante: Der Kreis stellt die Grundeinheit einer Gemeinschaft, einer Gruppe dar (un groupe unique), die von dem Punkt im Zentrum (centre de commandement) regiert wird (Abb. 9). Am rechten unteren Rand der Figur ist ein weiterer, kleinerer Kreis mit einem Punkt zu erkennen, der einen Opponenten symbolisieren soll. Dieser bekommt Zulauf und hat sich bald als eine eigene, separierte Einheit mit einem eigenen Zentrum etabliert, wie sich aus der folgenden Bildsequenz ergibt (Abb. 10): „A peine sera-t-elle instituée que, spontanément, 144 Le Corbusier, La Ville Radieuse. Éléments d’une doctrine d’urbanisme pour l’équipement de la civilisation machiniste, S. 193 (Hervorhebung im Original).
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III. Material- und formengebundene Staatsutopien
Abb. 10: Le Corbusier, Skizze (2) der „groupe unique“
surgira à sa lisière l’opposition: un homme, un groupe, etc. On peut admettre que cette force nouvelle s’accroîtra jusqu’à devenir équivalente à la première.“145 Zweifellos nahm sich Le Corbusier in den Diagrammen Zelle und Zellteilung zum Vorbild. Dieses Vorgehen entspricht seiner Gewohnheit, in der architektonischen Formensprache strenge Geometrie mit „weichen“ (aber regelmäßigen) Zell- oder Gewebestrukturen zu kombinieren. Nicht zuletzt solche Überschreitungen des modernistischen Repertoires begründeten Le Corbusiers Weltruf als Architekt und Künstler. Im Anhang von „Urbanisme“ finden sich eine Reihe von Abbildungen aus biologischen Lehrbüchern, die Mikrostrukturen des Lebens zur Anschauung bringen, unter anderem Zellen mit Zellkernen – die Vorlage für die groupe unique in Le Corbusiers Staats- und Organisationsmodell (Abb. 11). Der Architekt war offenbar fasziniert davon, wie die filigranen Netze des Lebens Stabilität in einer dynamischen Umwelt gewährleisten. Staatstheoretische Bionik ist – wie Staatsgeometrie – an sich nichts Neues oder Ungewöhnliches. Seit undenklichen Zeiten beziehen sich die Menschen auf ihren eigenen Körper, wenn sie sich soziale Verbände vorzustellen versuchen.146 145 Le Corbusier, La Ville Radieuse. Éléments d’une doctrine d’urbanisme pour l’équipement de la civilisation machiniste, S. 192. 146 Vgl. u. a. Otto von Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, Darmstadt 1954 [1902]; Dohrn-van Rossum / Böckenförde, Organ, Organismus, Politischer Körper, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutsch-
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Abb. 11: Darstellung von Zelle und Zellwachstum
Allerdings dienen in der Regel somatische Makrostrukturen wie Organe oder Gliedmaßen als Referenz und nicht Gewebe oder Zellen. Anders im Fall Le Corbusiers, der aus diesem spezifisch zytologischen Formenkanon eine Präferenz für einen dezentralen, segmentierten Staatsaufbau mit in sich geschlossenen spezialisierten Einheiten ableitet sowie für eine natürliche, ja naturgesetzliche Autogenese von Autorität und Herrschaft kraft der Evidenz fachlicher Überlegenheit – im Unterschied zu einer verfahrensrationalen Konstituierung von Obrigkeit durch Wahlen. Das geometrische Element in Le Corbusiers Staatsdesign, das Bild der Pyramide (Dreieck), impliziert eine Herrschaftsordnung auf der Grundlage von Befehl und Gehorsam, die keine Regulierung der öffentlichen Angelegenheiten durch Aushandeln zwischen gleichberechtigten Rechtssubjekten zulässt. Da aus dem Grund Le Corbusiers Denken ein parlamentarisches System oder gar eine Bürgergesellschaft fremd ist, land, Bd. IV, S. 519–622; Tilman Struve, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter, Stuttgart 1978; Albrecht Koschorke / Susanne Lüdemann / Thomas Frank / Ethel Matala de Mazza, Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt am Main 2007.
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hat er konsequenterweise repräsentative Räume für eine Volksvertretung in seinem Grundriss der „strahlenden Stadt“, nicht vorgesehen. Im unteren Teil der Metropole befinden sich die Fabrikgebäude und Lagerhalle, in der Mitte das Wohnareal und im oberen Drittel Flughafen, Hotels, Botschaften und die cité d’affaires. Eine weiße Fläche an der Peripherie markiert den Raum für etwaige Regierungsgebäude. Lapidar heißt es dazu in der Legende: „Villes satellites, par example: siège du gouvernement ou centre des études sociales, etc.“147 Dazu passt, dass in Le Corbusiers Publikationen häufig von „Gesetzen“ die Rede ist, aber fast nie von „Gesetz gebung“. Das Gesetz des Menschen habe, lesen wir, das Naturgesetz zur Voraussetzung und zum Vorbild. „L’homme étant un produit de la nature, les lois qu’il se donne doivent concorder avec celles de la nature. Les lois de la nature sont. Inutile de les critiquer.“148 Aus genau diesem Grund, weil Gesetze eben schon „da sind“, bedarf es keiner Institution, die Gesetze setzt, sondern einer, die Gesetze findet und öffentlich verkündet. Das Gleiche gilt für den – gesetzlich implementierten – städtebaulichen „Plan“, der dem Architekten Le Corbusier natürlich besonders am Herzen lag. „Lorsqu’une œuvre de la technique est dessinée sur le papier (chiffres et épures), elle est.“149 Nicht irgendein Mensch, bemerkt er, der Plan sei der Despot, „der gerechte, wahre, exakte Plan“, der Plan, ausgearbeitet auf der Grundlage fachlicher Erwägungen und ohne Rücksichtnahme auf eine Verfassung – kurz: der Plan als „œuvre biologique destinée aux humains et réalisable par les techniques modernes.“150 147 Le Corbusier, La Ville Radieuse. Éléments d’une doctrine d’urbanisme pour l’équipement de la civilisation machiniste, S. 170. 148 Le Corbusier, La Ville Radieuse. Éléments d’une doctrine d’urbanisme pour l’équipement de la civilisation machiniste, S. 76 (Hervorhebung im Original). 149 Le Corbusier, La Ville Radieuse. Éléments d’une doctrine d’urbanisme pour l’équipement de la civilisation machiniste, S. 93 (Hervorhebung im Original).
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Abb. 12: Le Corbusier, Skizze eines „Decret“
Für Le Corbusier sind Gesetz und Plan Teil der materiellen Welt, ein ästhetisches Erlebnis, das sich genauso wie ein Despot aus Fleisch und Blut beschauen und zeichnen lässt (Abb. 12). 150
Was ihm vorschwebt, ist eine Nomokratie in der fast buchstäblichen Bedeutung des Wortes – exekutiert von einem autoritären syndikalistisch-technokratischen Regime. Wieder ist es eines jener skizzenhaften Denk-Bilder, das Aufschluss darüber gibt, wie Le Corbusier zu dem radikalen nomokratischen Ansatz gefunden hat und ihn sich präsent hält. Die Vignette veranschaulicht die Wirkungsweise des Gesetzes in einer zivilen (le plan) und einer militärischen (le decret de mobilisation) Variante (Abb. 13). Sofort fällt auf, dass sich die Linien in einem Punkt, nämlich dem 150 Le Corbusier, La Ville Radieuse. Éléments d’une doctrine d’urbanisme pour l’équipement de la civilisation machiniste, S. 154 (Hervorhebung im Original).
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III. Material- und formengebundene Staatsutopien
Abb. 13: Le Corbusier, Skizzen zur Wirkungsweise des Gesetzes
Gesetz, treffen und dann wieder auseinanderstreben. Neben dem Gesetz, so die Botschaft, gibt es in einem Gemeinwesen keine weiteren (Selbst-)Regulierungsmechanismen. Woher diese seltsame Form der sich kreuzenden Linien stammt, ist weder der Zeichnung noch dem Begleittext zu entnehmen. Doch in der gleichen Schrift findet sich an anderer Stelle eine Abbildung, die als Vorlage in Betracht kommt, wenngleich sie sich explizit nicht auf Gesetz und Gesetzgebung bezieht. Sie zeigt ein Auge, genau genommen wohl die Linse eines Auges, die das einfallende Licht bündelt und auf die Netzhaut projiziert (Abb. 14). Dass das schematisierte Funktionsprinzip des Auges bei Le Corbusier die Vorstellung des omnipotenten Gesetzes befördert haben könnte, ist deshalb nicht ganz unwahrscheinlich, weil die Metapher „Auge des Gesetzes“ spätestens seit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts im politischen Diskurs geläufig war und ist.151 Das Auge im Strahlenkranz an der Spitze 151 Grundlegend Michael Stolleis, Das Auge des Gesetzes. Geschichte einer Metapher, München 2004. Vgl. auch Wolfgang Kemp,
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Abb. 14: Le Corbusier, Skizze eines Auges
einer Pyramide, das „Große Siegel der Vereinigten Staaten“ (entworfen 1782), erwählte Franklin Roosevelt im Jahr 1935 als Motiv zur Zierde der neuen Ein-Dollar-Note, also just in dem Jahr, in dem „La Ville Radieuse“ im Druck erschien.152
Das Revolutionstheater des Jacques-Louis David. Eine neue Interpretation des „Schwur im Ballhaus“, Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 21 (1986), S. 165–185, 178. 152 Stolleis, Das Auge des Gesetzes. Geschichte einer Metapher, S. 52.
IV. Hans Kelsens Leuchtkörper: Progressive Sachlichkeit Die Bildarrangements und Skizzen moderner Architekten wie Bruno Taut und Le Corbusier können uns dabei helfen, die Wirkungsweise einer graphisch-ästhetischen Aneignung staatstheoretischer Positionen besser zu verstehen. Sie gewähren unverstellte Einblicke in juristische oder proto-juristische Imaginationsräume, deren Bedeutung als prägende kognitive Kraft der moderne Jurist gleichsam von Amts wegen negieren muss, weil er den Anspruch seiner Profes sion, rationale Entscheidungen zu generieren, nicht gefährden darf. Diesen Vorteilen einer Annäherung durch die Hintertür – durch die Hintertür der Architektur und Kunst – stehen zwei gewichtige Nachteile gegenüber: Zum einen sind Staatsvisionen wie die von Taut und Le Corbusiers zu abseitig und exzentrisch, um als repräsentativ für das Rechts- und Staatsdenken des 20. Jahrhunderts gelten zu können. Zum anderen erweisen sich ausgerechnet die Ikonen der Neuen Sachlichkeit als heterodoxe Modernisten, die sich schon in ihrem eigenen Metier, bei der Gestaltung von Städten, Gebäuden und Gebrauchsgegenständen, immer wieder dem Diktat der ihnen zugeschriebenen Stilprinzipien zu entziehen versuchten und folglich diese erst recht nicht ihrem Staatsdenken in idealtypischer Ausprägung zu Grunde legten. In den beiden folgenden Kapiteln wird es darum gehen, diese Defizite auszugleichen und Spuren des klassisch-modernen Designkatechismus in den Werken prominenter Staatsrechtslehrer nachzuweisen. Beginnen wir mit einem auf den ersten Blick hoffnungslosen Fall: Hans Kelsen, Vater und Spiritus rector der „Reine Rechtslehre“. Schon zu Beginn der gleichnamigen Schrift von 1934 – in dem berühmten ersten Abschnitt des ersten
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Kapitels – ist das prägnante Leitmotiv des Kelsenschen Œuvres zu vernehmen, auf das sich der Staatsrechtler im Folgenden immer wieder zurückzieht, um neue Kraft zu schöpfen: Wenn die Reine Rechtslehre, schreibt er, „sich als eine ‚reine‘ Lehre vom Recht bezeichnet, so darum, weil sie nur eine auf das Recht gerichtete Erkenntnis sicherstellen und weil sie aus dieser Erkenntnis alles ausscheiden möchte, was nicht zu dem exakt als Recht bestimmten Gegenstande gehört. Das heißt: sie will die Rechtswissenschaft von allen ihr fremden Elementen befreien. Das ist ihr methodisches Grundprinzip. Es scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein. Aber ein Blick auf die traditionelle Rechtswissenschaft, so wie sie sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt hat, zeigt deutlich, wie weit diese davon entfernt ist, der Forderung der Reinheit zu entsprechen. In völlig kritikloser Weise hat sich Jurisprudenz mit Psychologie und Soziologie, mit Ethik und politischer Theorie vermengt. Es gibt heute beinahe keine Spezialwissenschaft mehr, in deren Gehege einzudringen der Rechtsgelehrte sich für unzuständig hielte. Ja, er glaubt sein wissenschaftliches Ansehen gerade durch Anleihen bei anderen Disziplinen erhöhen zu können. Dabei geht natürlich die eigentliche Rechtswissenschaft verloren.“153 Kelsens Abneigung gilt demnach einer epigonalen und – im schlechten Sinne – dilettantischen Rechtswissenschaft, einer Rechtswissenschaft, die eklektisch und synketistisch 153 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, hrsg. von Matthias Jestaedt, Tübingen 2008, S. 15 f. (1 f.). Ergänzend heißt es in der 2. Auflage: „Diese Vermengung mag sich daraus erklären, dass diese Wissenschaften sich auf Gegenstände beziehen, die zweifellos mit dem Recht in engem Zusammenhang stehen. Wenn die Reine Rechtslehre die Erkenntnis des Rechts gegen diese Disziplinen abzugrenzen unternimmt, so nicht etwa darum, weil sie den Zusammenhang ignoriert oder gar leugnet, sondern darum, weil sie einen Methodensynkretismus zu vermeiden sucht, der das Wesen der Rechtswissenschaft verdunkelt und die Schranken verwischt, die ihr durch die Natur ihres Gegenstandes gezogen sind“ – Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 1.
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verfährt, die fortwährend Anleihen macht bei anderen Disziplinen und dabei das Proprium der Jurisprudenz und ihrer Methode völlig aus dem Blick verliert.154 Ziel der Reinen Rechtslehre ist es mit anderen Worten, der Rechtswissenschaft wieder zu ihrer alten Eigenständigkeit und Würde zu verhelfen, die sie dadurch verspielt habe, dass sie der Psychologie, der Soziologie oder sonstigen vermeintlich überlegenen Wissenschaften nachgelaufen sei, um sich in deren Glanz zu sonnen. Dieser anti-synkretistische Ansatz stammt nicht aus den 30er Jahren, sondern war bereits 1911 in Kelsens Denken voll ausgereift. Er liegt sowohl seiner Habilitationsschrift von 1911 („Hauptprobleme der Staats rechtslehre“)155 als auch dem im gleichen Jahr in Wien gehaltenen Vortrag „Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode“156 zu Grunde.157 Wer die Hintergründe des Autonomie-Postulats in Erfahrung bringen 154 Die „Reine Rechtslehre“ in ihrer ganzen Breite und Tiefe ist nicht Gegenstand der folgenden Ausführungen – eine instruktive Bestandsaufnahme und Würdigung bei Horst Dreier, Rechtslehre, Staatsoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, BadenBaden 1986; vgl. auch Michael Stolleis / Stanley L. Paulson (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, München 1999, S. 163–171. Zum Rechtsbegriff der Reinen Rechtslehre: Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933), 2. Aufl., München 2012, S. 291– 293. 155 Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre – entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Tübingen 1911, S. IVff. Vgl. auch Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre – entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, 2. Aufl., Tübingen 1923, S. Vf. (Vorrede zur zweiten Auflage). 156 Hans Kelsen, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, Aalen 1970 (Tübingen 1911). 157 Zu den Hintergründen u. a. Christoph Schönberger, Hans Kelsens Hauptprobleme der Staatsrechtslehre. Der Übergang vom Staat als Substanz zum Staat als Funktion, in: Matthias Jestaedt (Hrsg.), Hans Kelsen. Werke, Bd. 2 / 1: Veröffentlichte Schriften 1911, Tübingen 2008, S. 23–35.
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möchte, muss sich folglich mit Kelsens Lebensumstände und geistige Prägungen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts befassen. Ästhetische Bezüge aufzudecken, erscheint im Fall Kelsen deshalb hoffnungslos, weil der österreichische Jurist wie kein zweiter den Typus des nüchternen, „reinen“ Gelehrten in der Tradition Kants verkörpert. Ein disziplinierter Arbeiter und kluger Kopf mit Interesse für Mathematik und die Naturwissenschaften (die er gerne studiert hätte) doch ohne jede „Begabung für künstlerisches Gestalten“ – so urteilte Kelsen über sich selbst.158 Einer, der Romane und Theaterstücke „mehr zur Erholung und Entspannung“ konsumierte159 und dessen literarisch größter Erfolg die Veröffent lichung einiger Verse in der „Wiener Hausfrauenzeitung“ war.160 Das für einen mitteleuropäischen Gelehrten obligatorische Damaskuserlebnis widerfuhr ihm – wie konnte es anders sein – bei der Lektüre Kants. „Noch heute“, heißt es in der Autobiographie von 1947, „erinnere ich mich lebhaft der seelischen Erschütterung, die ich erlebte – ich war damals etwa 15 oder 16 Jahre alt – als mir zum ersten Mal bewusst wurde, dass die Realität der Außenwelt problematisch ist. Unter dem Einfluss eines älteren Freundes wurde ich mit Schopenhauer’s Werk bekannt und begann, noch im Gymnasium Kant zu lesen.“161 Von nun an sollten die Schriften des Königsberger Weisen Kelsens „Leitstern“162 sein. Der Titel „Reine Rechtslehre“ dokumentiert für jedermann sichtbar die Verehrung für den Autor der „Kritik der reinen Vernunft“. 158 Hans Kelsen, Autobiographie (1947), in: Matthias Jestaedt (Hrsg.), Hans Kelsen. Werke, Bd. 1: Veröffentlichte Schriften 1905–1910 und Selbstzeugnisse, Tübingen 2007, S. 29–91, 32. 159 Kelsen, Autobiographie (1947), in: HKW 1, S. 29–91, 32. 160 Kelsen, Autobiographie (1947), in: HKW 1, S. 29–91, 31. 161 Kelsen, Autobiographie (1947), in: HKW 1, S. 29–91, 32 f. 162 Hans Kelsen, Selbstdarstellung (1927), ), in: Matthias Jestaedt (Hrsg.), Hans Kelsen. Werke, Bd. 1: Veröffentlichte Schriften 1905–1910 und Selbstzeugnisse, Tübingen 2007, S. 19–27, 21.
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Kelsen empfing zudem vielfältige Anregungen von der Südwestdeutschen und der Marburger Schule des Neukantianismus.163 Allerdings hat er zur Neukantianischen „Reinheit der Methode“ nach eigenem Bekenntnis „mehr instinktmäßig als auf Grund systematischer Überlegungen“ gefunden,164 da ihm recht spät, erst im Jahr 1912, gewisse Parallelen zu Cohens „Ethik des reinen Willens“ auffielen.165 Das wirft die Frage auf, aus welcher Quelle sich der „Instinkt“ in den entscheidenden Jahren vor 1912 speiste. Was störte den jungen Kelsen so sehr an der „permanenten Vermengung“ der Wissenschaften? Warum fühlte sich ausgerechnet ein Habilitand aus Wien dazu berufen und verpflichtet, „dem verwerflichen Synkretismus der Methoden“166 den Krieg zu erklären und sein Leben diesem Krieg zu widmen? Ein Hinweis auf Kelsens Nähe zum Neukantianismus erklärt für sich genommen noch nicht sehr viel. Sinnvoll erscheint es, wie dies bereits geschehen ist,167 darüber hinaus die Besonderheiten der österreichischen Juristenausbildung in die Überlegungen einzubeziehen. Eine strikte Ausrichtung am Gesetz ist seit Metternichs Zeiten Teil der österreichischen Staatsräson, nicht zuletzt, um im Vielvölkerstaat die Sphäre des Rechts von nicht beherrschbaren Auseinandersetzungen um übergeordnete ethnische, weltanschauliche oder religiöse Bezüge frei zu halten. Ein besonderes Interesse daran hatte das Bürgertum jüdischer Herkunft, dem auch Kelsen angehörte, denn nur eine scharfe Trennung des Rechts von Politik und Moral versprach Sicherheit vor einer parteiischen, antisemitischen Rechtsanwendung. Die Reine Rechtslehre war ihrer Anlage nach zweifellos immer mehr als nur ein methodisches Prinzip. Es wäre wohl sogar nicht 163 Kelsen,
Selbstdarstellung (1927), in: HKW 1, S. 19–27, 21. Selbstdarstellung (1927), in: HKW 1, S. 19–27, 36 f. 165 Kelsen, Selbstdarstellung (1927), in: HKW 1, S. 19–27, 21. 166 Kelsen, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, S. 18. 167 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, S. 166 f. 164 Kelsen,
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falsch, von einem „Staat der Reinen Rechtslehre“ zu sprechen, einem „neoliberalen“ Staat,168 der einerseits die Gesellschaft – als Gesellschaft – gewähren lässt, andererseits sein Recht nicht zur Disposition der Gesellschaft stellt. Damit könnte man sich zufrieden geben. Allerdings wäre es nicht das erste Mal, wenn sich herausstellen würde, dass eine prima facie abwegige Erklärung die herkömmliche, fachlich konsistente Interpretation eines Werkes sinnvoll zu ergänzen vermag. So hat man beispielsweise lange irrtümlich geglaubt, der schmucklose Stil Franz Kafkas sei als eine Kategorie sui generis überhaupt keiner Kontextualisierung zugänglich oder allenfalls literaturimmanent zu deuten. Doch lässt sich belegen, dass Kafka nicht nur literarische Anregungen aufnahm und verarbeitete. Großen Einfluss auf ihn hatten insbesondere die Mode- und Architekturdebatten des Fin des Siècle.169 Der Sohn eines Prager Galanteriewarenhändlers kleidete sich in seinen jungen Jahren à la mode und hatte ein Faible für Seidenkrawatten, Glacéhandschuhe und andere exquisite Accessoires. Felix Stössinger erinnerte sich an den jungen Dandy Kafka als den am besten gekleideten Mann, dem er je begegnet sei.170 Doch in dem Maße, in dem der Hass auf den dominanten Vater wuchs, in dem Maße wuchs die innere Distanz zu der Sorte von Waren, die der Vater in seinem Geschäft feil bot und die ihn als Kind so sehr fasziniert hatten: Bijouterie, Tücher, Fächer, Rüschen, Puderdöschen – der ganze nutzlose Modeplunder der Jahrhundertwende.171 Parallel dazu wandelte sich Kafkas literarischer Stil und sogar seine Handschrift, 168 Zu dem Begriff Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre – entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Tübingen 1911, S. XI. 169 Grundlegend Mark M. Anderson, Kafka’s Clothes. Ornament and Aestheticism in the Habsburg Fin de Siècle, Oxford 1992. Zum Einfluss der Modediskurse auf die Architekturtheorie der Moderne Mark Wigley, White Walls, Designer Dresses: The fashioning of modern architecture, Cambridge (MA) 2001. 170 Anderson, Kafka’s Clothes. Ornament and Aestheticism in the Habsburg Fin de Siècle, S. 2. 171 Anderson, Kafka’s Clothes. Ornament and Aestheticism in the Habsburg Fin de Siècle, S. 20 f.
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die nun nicht länger die für die Zeit typischen geschwungenen, dekorativen Formen aufweist.172 Halt und Bestätigung fand der Prager Schriftsteller in der Lebensreformbewegung, die sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts formierte. 1903 besuchte Kafka einen Vortrag von Paul Schultze-Naumburg, der damals mit seinem Einsatz für die Freikörperkultur und die Abschaffung des Korsetts für Furore sorgte.173 Auch die neueren Entwicklungen in Architektur und Design stießen bei Kafka auf lebhaftes Interesses. Er saß unter den Zuhörern, als Adolf Loos im März 1911 in Prag über „Ornament und Verbrechen“ referierte.174 Für den promovierten Juristen Kafka lag eine Beschäftigung mit der zeitgenössischen Warenästhetik an sich ebenso fern wie für Kelsen – und dennoch haben ihn die hitzigen Kontroversen um die Berechtigung und Notwendigkeit eines genuin modernen Produktdesigns sehr berührt. Man mag dafür die eben geschilderten besonderen, atypischen Lebensumstände Kafkas verantwortlich machen. Indes so atypisch waren diese Lebensumstände gar nicht, zumindest Kelsen und Kafka hatten mehr miteinander gemein als das Studium der Rechte. Beide waren Untertanen der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und entstammten deutschsprachigen jüdischen Familien. Kelsen wurde 1881 in Prag geboren, Kafka erblickte das Licht der Welt in der gleichen Stadt keine zwei Jahre später. Beide Väter, Hermann Kafka und Adolf Kelsen, waren selbständige Kleinunternehmer, der eine in Prag, der andere erst in Prag, dann in Wien. Ihr Gewerbe bestimmte den Lebensrhythmus der Familie – nicht nur im Guten, denn die Konjunkturen „des Geschäfts“, wie Kafka das Reich des tyrannischen Vaters nannte, überschattete nur allzu oft das private Glück. 172 Anderson, Kafka’s Clothes. Ornament and Aestheticism in the Habsburg Fin de Siècle, S. 181 f. 173 Anderson, Kafka’s Clothes. Ornament and Aestheticism in the Habsburg Fin de Siècle, S. 62 f. 174 Anderson, Kafka’s Clothes. Ornament and Aestheticism in the Habsburg Fin de Siècle, S. 181.
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Adolf Kelsen und die Seinen traf es besonders hart. Die Familie väterlicherseits stammte aus Brody in Galizien.175 Im Alter von 14 Jahren kam Adolf Kelsen völlig mittellos nach Wien, wo er als Lehrjunge und später als Handlungsgehilfe eine Anstellung fand. Doch das genügte dem ehrgeizigen Immigranten bald nicht mehr, wie sein Sohn berichtet: „Von dem Wunsch nach Selbständigkeit getrieben, begann er schon als junger Mann einen Handel mit Beleuchtungskörper in Prag, von wo er nach kurzer Zeit wieder nach Wien zurückkehrte, um hier eine Werkstätte zu errichten, in der er Lampen und Kronleuchter für Gas und elektrisches Licht selbst erzeugte.“176 Zunächst liefen die Geschäfte wohl ganz gut. Adolf Kelsen und sein Sozius Joseph Alexander Heymann leiteten eine „Bronzewaren & Lusterfabrik“ in der Seidengasse im VII. Bezirk. 1892 trennte sich Adolf Kelsen von seinem Kompagnon und verlegte die Fabrik in die Belvederegasse und von dort in einen Hinterhof des Hauses Goldeg gasse 20, das sich in unmittelbarer Nähe zur Wohnung befand.177 Die Freude über die Selbständigkeit währte indes nicht allzu lange. Bald stellte sich heraus, dass die kleine Lampenfabrik mit der Konkurrenz nicht Schritt halten konnte. Den Niedergang der Firma, die Krankheit und den frühen Tod des Vaters beschreibt Hans Kelsen in seiner Autobiographie nüchtern, doch mit Empathie, obwohl inzwischen ein halbes Jahrhundert vergangen war: „Die kleine Fabrik meines Vaters, die eine Zeit lang prosperierte, war der Konkurrenz kapitalkräftigerer Unternehmungen nicht gewachsen. 1905 erkrankte mein Vater an einem schweren Herzleiden, das ihn völlig arbeitsunfähig machte. Mein um zwei Jahre jüngerer 175 Vgl. dazu Thomas Olechowski, Über die Herkunft Hans Kelsens, in: Tiziana Chiusi, Thomas Gergen, Heike Jung (Hrsg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen. Festschrift für Elmar Waldle zum 70. Geburtstag, Berlin 2008, S. 849–863. 176 Kelsen, Autobiographie (1947), in: HKW 1, S. 29–91, S. 30. 177 Olechowski, Über die Herkunft Hans Kelsens, in: Tiziana Chiusi, Thomas Gergen, Heike Jung (Hrsg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen. Festschrift für Elmar Waldle zum 70. Geburtstag, S. 849–863, 860.
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Bruder Ernst versuchte sein äußerstes um den Zusammenbruch des Unternehmens aufzuhalten. Aber Mangel an Erfahrung – er war 22 Jahre alt – und Mangel an zusätzlichem Kapital machten nach dem 1907 erfolgten Ableben meines Vaters – die Liquidierung der Firma unvermeidlich.“178 Kelsen, der gerade dabei war, die „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“ zu konzipieren, und der zur finanziellen Unterstützung der Familie zusätzlich eine Repetitorenstelle antrat,179 ging es gewiss sehr zu Herzen, mit ansehen zu müssen, wie die kapitalkräftige Konkurrenz das Lebenswerk seines Vaters zerstörte und dieser daran zerbrach, zumal Vater und Sohn – anders als Hermann und Franz Kafka – sich offenbar gut verstanden. Für ein inniges Verhältnis zeugt unter anderem die Tatsache, dass Kelsen dem Andenken des Vaters eines seiner Hauptwerke widmete, die „Allgemeine Staatslehre“ von 1925. Zudem stand ein Bild des Vaters stets auf dem Schreibtisch des berühmten Sohnes, sooft dieser auch seinen Aufenthaltsort wechselte (Abb. 15).180 Das besagte Bild – eine Fotografie von 1887 – und Kelsens private Erinnerungskultur verraten möglicherweise mehr über den Autor der Reinen Rechtslehre und seine Motive als die der Konvention geschuldeten Bekenntnisse zu „seelischen Erschütterungen“ infolge der Lektüre philosophischer Werke. Die Fotografie zeigt Adolf Kelsen, wie er, legere gekleidet, mit hochgekrempelten Ärmeln, letzte Hand anlegt an einen kunstvollen Lüster (vermutlich) aus eigener Herstellung. In der Pose manifestiert sich der Stolz des Handwerkers auf das von ihm geschaffene Werk, der Glaube des Strebsamen an sich selbst und die eigenen Fertigkeiten, ein Glaube, der zum Leidwesen des Sohnes den Bankrott der „Bronzewaren & Lusterfabrik Adolf Kelsen“ nicht überlebte. Den Hintergründen für den wirtschaftlichen Ruin der Firma Kelsen hat man bislang, soweit ersichtlich, wenig 178 Kelsen,
Autobiographie (1947), in: HKW 1, S. 29–91, 38. Autobiographie (1947), in: HKW 1, S. 29–91, 38 f. 180 HKW 1, S. 109 (r.u.). 179 Kelsen,
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Abb. 15: Adolf Kelsen (Fotografie um 1887)
Aufmerksamkeit geschenkt. Eine Vermutung geht dahin, Adolf Kelsen habe den technologischen Wandel – die Umstellung von Gas- auf elektronische Beleuchtung – verschlafen.181 Ganz auszuschließen ist das nicht, doch es gibt gute Gründe, Kelsen beim Wort zu nehmen, wenn er die Überlegenheit kapitalstärkerer Unternehmen für den Ruin des väterlichen Betriebes verantwortlich macht. Individuelles Versagen ist deshalb eher unwahrscheinlich, weil der Kleinunternehmer Adolf Kelsen mit seinen wirtschaftlichen Sorgen und Nöten im Wien der Jahrhundertwende nicht alleine stand. Das österreichische Handwerk hatte mit handfes181 Olechowski, Über die Herkunft Hans Kelsens, in: Tiziana Chiusi, Thomas Gergen, Heike Jung (Hrsg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen. Festschrift für Elmar Waldle zum 70. Geburtstag, S. 849–863, 862.
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ten Strukturproblemen zu kämpfen, die so massiv waren, dass der „Verein für Socialpolitik“ sich 1896 dazu veranlasst sah, eine fast 700seitige Untersuchung „über die Lage des Handwerks in Österreich mit besonderer Rücksicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie“ herauszugeben.182 Der Titel spricht für sich: Handwerk und Kleinbetriebe befanden sich in einer existentiellen Krise, weil nun auch in Österreich sich die Konkurrenz durch die industrielle Massenfertigung bemerkbar machte. Besonders betroffen war die Branche, in der Adolf Kelsen arbeitete. In der besagten Studie von 1896 findet sich ein Beitrag von Viktor Kienböck, der sich mit der aktuellen Lage der „Gürtler und Bronzearbeiter in Wien“ befasst.183 Der Berufszweig habe zwar schon viele Höhen und Tiefen erlebt, bemerkt Kienböck, doch gegenwärtig sehe es wirklich nicht gut aus. Die Aussichten für kleine Unternehmen, sich gegen die Großindustrie behaupten zu können, seien trübe. Zum Beleg referiert der Autor aus dem Bericht der Handelskammer Wien von 1892. „Die begehrte Massenware, heißt es hier, wird nicht in Wien, sondern in Böhmen [Schablonz] oder in Deutschland [Berlin] erzeugt, die bessere Ware findet keine Abnehmer; die Exporteure verschicken gar keine Mustersendungen mehr, weil es sich nicht lohne.“184 Um nicht nur die Statistik zu Wort kommen zu lassen, beschreibt Kienböck auch noch Ausstattung und finanzielle Situation einiger ausgewählter, im Bereich der 182 Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Österreich mit besonderer Rücksicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie (Schriften des Vereins für Socialpolitik Bd. 71), Leipzig 1896. 183 Viktor Kienböck, Gürtler und Bronzearbeiter in Wien, in: Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Österreich mit besonderer Rücksicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie, Leipzig 1896, S. 595–634. 184 Kienböck, Gürtler und Bronzearbeiter in Wien, in: Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Österreich mit besonderer Rücksicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie, S. 595–634, 609.
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Abb. 16: Eintrag „Kelsen, Adolf“
Lusterfabrikation tätiger Unternehmen. Eine dieser – anonymisierten – Fallstudien ist einem Wiener Kleinbetrieb gewidmet, wie ihn damals Adolf Kelsen sein eigen nannte, denn nach den Angaben des Sohnes verfügte das Unternehmen ja selbst in den besten Zeiten über keine nennenswerte Präsenz im Markt, wofür auch die spartanische, Kosten sparende Gestaltung des Firmeneintrags im Wiener Adressbuch spricht (Abb. 16).185 Der kleine Bronze verarbeitende Betrieb, den Kienböck (vermutlich 1895 oder 1896) inspizierte, bestand aus einem Meister, einem Gesellen und einem Lehrjungen. Die Röhren für die Luster wurden nach Kilogramm eingekauft, „die runden aus Böhmen, die kantigen aus England.“186 Die Werkstatt befand sich in einem geräumigen ebenerdigen Hofzimmer und war mit zwei Drehbänken und einigen Schraubstöcken ausgestattet. Wohnung und Werkstatt erweckten keinen ärmlichen Eindruck, doch den Geschäftsinhaber plagten Existenzängsten. Der Meister, schreibt Kienböck, „hat eine Reihe von Kunden im Ausland, namentlich 185 Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger nebst Handelsund Gewerbe-Adreßbuch für die k.k. Reichs-Haupt- und Residenzstadt Wien nebst Florisdorf und Jedlersdorf, Bd. 44 / 1 (1902), S. 646. 186 Kienböck, Gürtler und Bronzearbeiter in Wien, in: Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Österreich mit besonderer Rücksicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie, S. 595–634, 613.
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in Deutschland, die er sich durch Inserate in ausländischen Blättern zugewendet hat, ein kürzlich eingeschaltetes Inserat in einem Berliner Organ legte man uns vor. Vor einigen Jahren hatte der Meister für eine tirolische Stadt elektrische Luster in größerer Anzahl auszuführen und daraus einen schönen Verdienst. Damals arbeitete er auch mit 10 Personen. Gegenwärtig klagt er über sehr schlechten Geschäftsgang und Konkurrenz der Fabriken; er vermochte sein Jahreseinkommen nicht anzugeben, glaubt aber, dass er sogar seine Ersparnisse angreifen müsse.“187 Überall in Europa regte sich im späten 19. Jahrhundert Widerstand gegen die Art und Weise, wie honorige Handwerker vom Schlage Adolf Kelsens oder jenes anonymen Meisters im Kienböck-Bericht wirtschaftlich in die Enge getrieben wurden.188 Eine Vorreiterrolle kam dem Arts-andCrafts-Movement zu, das sich die Wiederbelebung des Kunsthandwerks im besonders früh und nachhaltig industrialisierten England auf die Fahnen geschrieben hatte. Im Jahr 1903 war dann auch in Wien die Zeit reif für eine Revolte gegen den ruinösen Wettbewerb der Fabriken. Damals sollen der Legende nach der Künstler Koloman Moser, der Architekt Josef Hoffmann und der Unternehmer Fritz Wärndorfer bei einem Kaffeehausbesuch spontan die „Wiener Werkstätte“ gegründet haben.189 Ein Unternehmen, das sich auf Qualitätsprodukte mit einer eigenständigen, modernen Formensprache spezialisiert und zugleich rentabel arbeitet, werde – so hofften die Drei – einen Beitrag dazu leisten, das Kunstgewerbe ihrer Heimatstadt zu erneuern. Die Rechnung ging zumindest teilweise auf. Viele Waren der 187 Kienböck, Gürtler und Bronzearbeiter in Wien, in: Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Österreich mit besonderer Rücksicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie, S. 595–634, 613. 188 Zur Kunstgewerbereform um 1900: Selle, Geschichte des Design in Deutschland, S. 77–98. 189 Daniele Baroni, Josef Hoffmann und die Wiener Werkstätte, Stuttgart 1984, S. 50.
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Wiener Werkstätten verkauften sich glänzend. Man eröffnete sogar Verkaufsstellen in Berlin und New York. Dass dieser Erfolg aus der Perspektive ex ante keine Selbstverständlichkeit war und die Verantwortlichen sich selbst als Akteure in einem aussichtslosen Kulturkampf sahen, davon zeugt das 1905 publizierte „Arbeitsprogramm der Wiener Werkstätte“, das gleich zu Beginn die apokalyptische Dimension des Vorhabens hervorhebt: „Das grenzenlose Unheil, welches die schlechte Massenproduktion einerseits, die gedankenlose Nachahmung alter Stile andererseits auf kunstgewerblichem Gebiete verursacht hat, durchdringt als Riesenstrom die ganze Welt. Wir haben den Anschluss an die Kultur unsrer Vorfahren verloren und werden von tausend Wünschen und Erwägungen hin und her geworfen. An Stelle der Hand ist meist die Maschine, an Stelle des Handwerkers der Geschäftsmann getreten. Diesem Strome entgegen zu schwimmen wäre Wahnsinn. Dennoch haben wir unsere Werkstätte gegründet.“190 Der erste Satz des trotzigen Manifests enthält eine mit Blick auf Hans Kelsen bemerkenswerte Aussage. Entscheidend ist nämlich, dass sich im Fall der Wiener Kunstgewerbereform die Kritik an industriellen, allein aufgrund ihrer Finanzkraft überlegenen Unternehmungen mit einer Kritik an der Warenästhetik des Historismus verbindet.191 Das Unbehagen gegenüber der „gedankenlosen Nachahmung alter Stile“ war in der Wiener Architekturszene seit einigen Jahren deutlich vernehmbar. Otto Wagner hatte bereits in seiner 1896 erschienen Schrift „Moderne Architektur“ das „Durchpeitschen aller Stilrichtungen in den vergangenen 190 Arbeitsprogramm der Wiener Werkstätte, wieder abgedruckt in: Die Wiener Werkstätte. Modernes Kunsthandwerk von 1903– 1932, Wien 1967, S. 21. 191 Vgl. Selle, Geschichte des Design in Deutschland, S. 78: „Die Kunstgewerbereform bereitet sich im gesamteuropäischen Rahmen eines kunsthandwerklichen Erneuerungsgedankens mit einer deutlichen Wendung gegen die allesbeherrschende industriekapitalistische Fabrikation und ihre Folgen.“
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Jahrzehnten“192, das „Sammelsurium von Stilen“193 scharf kritisiert. Immer mehr Architekten und Künstler stellten sich wie Wagner die Frage, ob Thomas Coles „Traum des Architekten“ (1840), ein Phantasiepanorama zusammengestellt aus vier Jahrtausenden Architekturgeschichte (Abb. 17), nicht in Wahrheit ein Albtraum, eine ästhetische Bankrotterklärung, ist. „Dies kann doch unmöglich die Aufgabe der modernen Kunst sein“, empörte sich Wagner, „und es zeigt sicher von Mangel jedes künstlerischen Gefühles, in der Nebeneinanderstellung solcher ‚Kunstformen‘ mit der modernen Welt nichts Störendes zu finden.“194 Bei einem Architektenwettbewerb für ein Rathaus, an dem auch er, Wagner, teilgenommen habe, seien von den 53 eingereichten Entwürfen sage und schreibe „zweiundfünfzig gothisch oder altdeutsch durchgebildet“ gewesen. „Schreiber dieser Zeilen hat aber gefunden, dass die dortigen massgebenden Factoren nichts weniger als gothische oder altdeutsche Männer, sondern stramme, selbstbewusste, moderne Deutsche waren und auch für diese ihre Eigenschaften die künstlerische Ausdrucksweise bei einer Gestaltung des Rathauses erstrebten.“195 Josef Hoffmann, einer der Gründer der „Wiener Werkstätte“ und zugleich Schüler Wagners, formulierte es noch bissiger: „Die alten Stile wurden wieder heraufbeschworen. Nicht etwa einer. Alle, alle! Und wieder soll uns der Masken taumel ergreifen, mit seinem unechten, falschen Tand, mit seiner Stillosigkeit trotz sämmtlicher Stile aller Zeiten und Länder.“196 Ein Haus müsse „wie aus einem Guss dastehen“, 192 Otto Wagner, Moderne Architektur. Seinen Schülern ein Führer auf diesem Kunstgebiete, 2. Aufl., Wien 1898, S. 35. 193 Wagner, Moderne Architektur. Seinen Schülern ein Führer auf diesem Kunstgebiete, S. 39. 194 Wagner, Moderne Architektur. Seinen Schülern ein Führer auf diesem Kunstgebiete, S. 37. 195 Wagner, Moderne Architektur. Seinen Schülern ein Führer auf diesem Kunstgebiete, S. 43. 196 Josef Hoffmann, Einfache Möbel (1901), in: Eduard F. Sekler (Hrsg.), Josef Hoffmann: das architektonische Werk, Salzburg 1982, S. 483–484, 483.
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Abb. 17: Thomas Cole, „The Architect’s Dream“ (1840)
forderte Hoffmann, daher erflehe er zumindest eine „Einheitlichkeit der Räume untereinander“.197 Nur die Lage des Städtebaus sei noch hoffnungsloser als die der Innenarchitektur: „Hier die Tempel Griechenlands mit der ewig leuch tenden Sonne, zwei Schritte davon das Ebenbild der düsteren würdigen Rathäuser Flanderns. Ein Anschluss an die alte Wiener Tradition ist vergeblich zu suchen. Gewaltsam erhebt sich die Kunstwissenschaft und wickelt aller Zeiten Style auf unseren Façaden ab. Es fehlt wohl keine, sonst müsste sie der Ordnung halber ergänzt werden.“198 Das Nebeneinander von Industrie- und Stilkritik im ersten Satz des „Arbeitsprogramms der Wiener Werkstätte“ ist kein 197 Hoffmann, Einfache Möbel (1901), in: Eduard F. Sekler (Hrsg.), Josef Hoffmann: das architektonische Werk, S. 483–484, 484. 198 Josef Hoffmann, Rede über Otto Wagner (1909), in: Eduard F. Sekler (Hrsg.), Josef Hoffmann: das architektonische Werk, Salzburg 1982, S. 484–487, 485.
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Zufall, vielmehr besteht ein innerer, in der Sache begründeter Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen. Vom „industriellen Historismus“ zu sprechen,199 macht insofern Sinn, als industrielle Großbetriebe – die Konkurrenten Adolf Kelsens – die größten Profiteure eines Konsumentenverhaltens waren, das ausschließlich das „stylgerechte“ Imitieren von Mustern aus vergangenen Epochen, nicht aber die individuelle, zeitgenössische Formgebung honorierte. Wenn die persön liche Handschrift des Designers oder Architekten keine Rolle mehr spielte, dann kam es bei der Kaufentscheidung nur noch auf den Preis an – und mit den Preisen der Großindustrie, die ihre Rohstoffe in großen Mengen bezog und leistungsstarke Maschinen verwendete, konnte das Kleingewerbe nun einmal nicht konkurrieren. Die Nachfrage nach historischen Ornamenten begünstigte die großen Fabriken des Weiteren deshalb, weil diese damals noch vergleichsweise viel Ausschuss, „Mängelware“, produzierten, deren Mangelhaftigkeit bei einer eher sachlichen, „übersichtlichen“ Formgebung sofort ins Auge fallen musste. Der Zusammenhang von Betriebsorganisation und Warenästhetik ist auch in der Branche Adolf Kelsens, im Lusterund Kunstbronzegewerbe, mit den Händen zu greifen. Den „industriellen Historismus“ in der Lampenproduktion repräsentierte in Wien wie kein zweites Unternehmen die Firma „Zeisser, Habiger & Comp.“. Eine Annonce aus jenem Wiener Adressbuch von 1902, das auch den schon erwähnten zweizeiligen Eintrag „Kelsen, Adolf (Bronzewaren)“ enthält, zeigt einen reich mit Blumendekor verzierten Luster und wirbt explizit mit „stylgerechten Entwürfen“ und „correcter, stylgerechter Ausführung in allen Stylarten“ (Abb. 18). Schon die Größe der Annonce lässt erkennen, dass wir es mit einem bedeutenderen Betrieb zu tun haben. Tatsächlich gehörte „Zeisser, Habiger & Comp.“ zu den Marktführern in Österreich. Auf einer (gewiss idealisierten) Ansicht der Werkshalle in der Festschrift der österreichischen „Groß-Industrie“ zum fünfzigjährigen Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josef I. 199 Selle,
Geschichte des Design in Deutschland, S. 77.
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Abb. 18: Annonce „Zeisser, Habiger & Comp.“
sind eine Unzahl von Arbeitern bei der Fertigung von Lampen und Kronleuchtern zu sehen. An der Decke hängen die fertig gestellten Produkte. Wie es die Werbung verspricht, sind „alle Stylarten“ vertreten. Zwar handelte es sich bei „Zeisser, Habiger & Comp.“ keineswegs um ein Unternehmen, das mit billiger Massenware den Markt überschwemm-
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te, dennoch wird es sich bei der Preiskalkulation zum Vorteil der Kunden ausgewirkt haben, dass die Firma Einkauf und Herstellung rationalisieren konnte und über eine gute Kapitalausstattung, einen „guten Kredit“, verfügte. Hinter „Zeisser, Habiger & Comp.“ stand nämlich niemand anderes als „Siemens & Halske“, der deutsche Technologiegigant, der die Lusterfabrik 1893 erworben hatte.200 Mit großer Wahrscheinlichkeit bezieht sich der Kienböck-Bericht von 1896 auf „Zeisser“, wenn es heißt: „Die eine dieser Fabriken steht in sehr reger Beziehung zu einer der größten Elektricitätsfirmen des Kontinents, beschäftigt über 200 Arbeiter und arbeitet sowohl für die österreichischen Kunden jener Firma als für hiesige und auswärtige Konsumenten.“201 Einen Gegenentwurf zu den Lampen von „Zeisser, Habiger & Comp.“ – den Beleuchtungskörpern des „industriellen Historismus“ – schuf Josef Hoffmann 1905 / 06 für die „Wiener Werkstätte“ (Abb. 19): Der Luster aus gehämmertem Altsilber und Messing mit Seidenschirm und Opalkugeln kommt ohne Anleihen bei den damals so beliebten Gotik-, Renaissance-, oder Barock-„Stylarten“ aus. Mindestens vier Exemplare dieser kostspieligen Leuchter wurden zwischen 1906 und 1913 hergestellt und verkauft.202 Es ist so gut wie ausgeschlossen, dass ausgerechnet Hans Kelsen, dessen Familie von den ökonomischen Folgen existentiell betroffen war, an den leidenschaftlichen Kontroversen um den Wert und Unwert des „industriellen Historismus“ keinen Anteil nahm. Die programmatische Erneuerung des Wiener Kunstgewerbes als ein Gegenmodell zur 200 Zu Siemens Engagement in Österreich vgl. Julia Kleindinst, Siemens in Österreich. Der Zukunft auf der Spur. Eine Unternehmensbiografie, Wien 2004. 201 Kienböck, Gürtler und Bronzearbeiter in Wien, in: Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Österreich mit besonderer Rücksicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie, S. 595–634, 611. 202 Vgl. Waltraud Neuwirth, Wiener Werkstätte: Avantgarde, Art Déco, Industrial Design, Wien 1984, S. 106.
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Abb. 19: Wiener Werkstätte, Luster, Entwurf von Josef Hoffmann (1905/06)
industriekapitalistischen und stilpluralistischen Produktion erfolgte just in dem Zeitraum – in den Jahren 1903 bis 1907 – als Kelsen seine Habilitationsschrift konzipierte und den Niedergang der väterlichen Firma hautnah miterlebte. Die offenkundigen Übereinstimmungen zwischen dem wissenschaftlichen Lebensthema Kelsens, der „Reinheit“ der Rechtslehre, und dem Hauptanliegen der Gewerbereformer
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sind demnach wohl kaum ein Zufall. Man muss eigentlich nur „Stil“ durch „Methode“ ersetzen, um die Texte Wagners oder Hoffmanns als Texte Kelsens zu lesen. Die Anhänger einer genuin juristischen Methode und eines genuin modernen Stils einte die Abneigung gegenüber jeder Form des Synkretismus und Eklektizismus: hier die Anhänglichkeit an den griechischen, den gotischen, den barocken Stil, dort die Schwäche für die soziologische, die philosophische, die psychologische Methode. Erstrebt wird die Eigenständigkeit und Einheitlichkeit des künstlerischen Ausdrucks und des fachlichen Verfahrens – in den Worten Hoffmanns: das zu erschaffende Kunst- und Fach-Werk soll „wie aus einem Guss dastehen“. Damit verknüpft sich die Hoffnung, die eigene Zeit und das eigene Metier möge sich nicht länger als epigonal begreifen und wieder an Würde gewinnen. Im Fall Kelsen gibt es noch eine zweite Spur. Sie führt zu Adolf Loos, der seit dem Ende der 1890er Jahre in den großen österreichischen Zeitungen gegen den Parvenu-Stil des Historismus polemisierte.203 So erschien 1898 in der liberalen „Neuen Freien Presse“, für die später auch Kelsen Artikel schreiben sollte, unter der Überschrift „Der Neue Styl und die Bronze-Industrie“ ein Beitrag, der den stilistischen Dilettantismus und Eklektizismus der Bronze verarbeitenden Industrie aufs Korn nahm. Der wahren Kunst unwürdig, schreibt Loos, „sind die bewussten Versuche, im Style eines alten Meisters neue Gedanken zu fassen“. Vielleicht gelinge es dem einen oder anderen, sich so eingehend mit einer bestimmten Epoche zu beschäftigen, dass er irgendwann leidliche Kopien herzustellen vermöge. „Nie aber kann der wahre Künstler einmal à la Boticelli, das nächste203 Zwischen Josef Hoffmann und Adolf Kelsen gab es erheb liche Differenzen, doch waren diese wohl eher persönlicher Natur als sachlich begründet. Bezeichnenderweise bezichtigte Loos später seinen Gegenspieler Hoffmann des Plagiats: Adolf Loos, Über Josef Hoffmann (1931), in: ders., Ornament und Verbrechen. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Adolf Opel, Wien 2000, S. 232–233.
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mal à la Tizian und ein andermal à la Raphael Mengs malen. Wie würde man von einem Literaten denken, der heute ein Werk im Style Aeschylos’, morgen ein Gedicht im Style Gerhart Hauptmann’s und übermorgen einen Schwank im Style Hans Sachs’ dichten würde und noch den traurigen Muth besäße, seine Impotenz durch das Eingeständniß seiner Vorbilder zu offenbaren.“204 Zu guter Letzt empfahl Loos dem Leser noch, eine Wallfahrt zu „dem neuen Haus auf dem Kohlmarkt“ zu unternehmen, um dort eine Türklinke zu besichtigen, die als einzige in ganz Wien dank ihrer Schlichtheit und stilistischen Originalität nicht fortwährend „Hurrah“ schreie.205 In dem Milieu, in dem sich der junge Kelsen bewegte, war Loos schon aufgrund seiner Vorträge und publizistischen Aktivitäten kein Unbekannter. Zudem betätigte sich Loos als Innenarchitekt für das linksliberale Bürgertum. Beispielsweise gestaltete er 1905 die Wohnung von Hermann und Eugenie Schwarzwald in der Josefstädterstraße 68, die zu einem wichtigen Treffpunkt der „Wiener Moderne“ wurde (Abb. 20).206 Die Wohnung sei noch berühmter gewesen als ihre Bewohner, bemerkte Elias Canetti, „denn wer war nicht alles schon da gesessen! Hierher kamen die eigentlichen Größen Wiens, und zwar lange bevor sie zu allgemein bekannten, öffentlichen Figuren geworden waren. Adolf Loos war da gewesen und hatte den jungen Kokoschka mitge-
204 Adolf Loos, Der Neue Styl und die Bronze-Industrie (1898), in: ders., Ornament und Verbrechen. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Adolf Opel, Wien 2000, S. 57–63, 60. 205 Loos, Der Neue Styl und die Bronze-Industrie (1898), in: ders., Ornament und Verbrechen. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Adolf Opel, S. 57–63, 62. 206 Roland L. Schachel / Burkhardt Rukschcio, Adolf Loos. Leben und Werk, Salzburg 1982, S. 99; Eva B. Ottillinger, Adolf Loos. Wohnkonzepte und Möbelentwürfe, Salzburg 1994, S. 159; abweichend (1909) Beatrix Schiferer, „Fraudoktor“. Eugenie Schwarzwald, in: Robert Streibel (Hrsg.), Eugenie Schwarzwald und ihr Kreis, Wien 1996, S. 13–18, 17.
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Abb. 20: Speisezimmer in der Wohnung von Eugenie und Hermann Schwarzwald, Wien, Gestaltung durch Adolf Loos (1905)
bracht, Schönberg, Karl Kraus, Musil …“.207 Mobiliar und Raumgestaltung der Schwarzwald-Wohnung erscheinen zwar aus heutiger Perspektive nicht gerade minimalistisch, doch im zeitgenössischen Kontext ließ sich die Ausstattung nicht anders als ein unmissverständliches Plädoyer gegen die Ornamentexzesse des Historismus deuten. Auch Hans Kelsen wird die Botschaft verstanden haben. Spätestens seit 1908 pflegte er enge Kontakte zu den Schwarzwalds, schon deshalb, weil Hermann Schwarzwald Kelsens Vorgesetzter im Handelsmuseum war. Aber auch privat gab es zahlreiche Berührungspunkte.208 So hatte Margarete Bondi, die Kelsen 207 Nach Schiferer, „Fraudoktor“. Eugenie Schwarzwald, in: obert Streibel (Hrsg.), Eugenie Schwarzwald und ihr Kreis, R S. 13–18, 17. 208 Eingehend Deborah Holmes, Die Schwarzwaldschule und Hans Kelsen, in: Robert Walter, Werner Ogris, Thomas Olechows-
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1912 heiratete, ein bekanntes Wiener Lyzeum besucht, das unter der Leitung von Eugenie Schwarzwald stand und daher auch die „Schwarzwald-Schule“ genannt wurde.209 An dieser reformpädagogisch orientierten Lehranstalt unterrichtete später auch Hans Kelsen – ebenso wie Otto Kokoschka, Arnold Schönberg und Adolf Loos. Letzterer war also gleichsam ein Kollege Kelsens. Er hatte zudem den Festsaal des Lyzeums gestaltet, dessen karges Interieur nicht jedem gefiel. „Manche Eltern“, erinnerte sich die Ehefrau Carl Zuckmayers, eine ehemalige Schülerin, „schimpften über die Kahlheit dieses Raumes und seinen Mangel an Stukkatur.“210 Der Formensprache des „modernen Styls“ als intellektuelle und ästhetische Herausforderung konnte sich eben niemand entziehen, der mit ihr in Berührung kam, sei es freiwillig oder unfreiwillig. Was die Forderung nach Schlichtheit anbelangt, die Loos in seinen baulichen Arrangements umzusetzen versuchte, so findet sie in Kelsens nüchterner Wissenschaftsprosa ihren Nachhall und wohl auch in Aufbau und Diktion der von Kelsen beeinflussten österreichischen Bundesverfassung von 1920, die bekanntlich auf eine Präambel und überhaupt jegliche moralisierende, belehrende „Stukkatur“ verzichtete. Mit alledem ist nicht gesagt, dass es sich bei den von Kelsen selbst oder den intimen Kennern des Kelsen’schen Œuvres benannten philosophischen und staatsrechtlichen Prägungen um Scheinbegründungen, um wissenschaftliche Patronatslegenden handelt. Einem ästhetischen Reduktionismus das Wort zu reden, dazu gibt es kein Anlass. Die verschiedenen Ansätze schließen einander nicht aus und können ki, Hans Kelsen. Leben – Werk – Wirksamkeit, Wien 2009, S. 97– 109. 209 Holmes, Die Schwarzwaldschule und Hans Kelsen, in: Robert Walter, Werner Ogris, Thomas Olechowski, Hans Kelsen. Leben – Werk – Wirksamkeit, S. 97–109, 100 f. 210 Nach Schiferer, „Fraudoktor“. Eugenie Schwarzwald, in: Robert Streibel (Hrsg.), Eugenie Schwarzwald und ihr Kreis, S. 13–18, 16.
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ohne weiteres nebeneinander bestehen. Der Eigenwert eines ästhetischen Zugriffs mag indes unter anderem darin liegen, dass er die affektive Essenz einer Doktrin zu Tage fördert, jenes Maß an persönlicher Betroffenheit und Empathie, das notwendig ist, um eine wissenschaftliche Mission zu erfüllen und ihr Gehör zu verschaffen. Im Fall Kelsen ergab sich die Verpflichtung, für das Projekt der Moderne einzustehen und an der Konstituierung einer juristischen Moderne mitzuwirken, aus dem paradigmatisch zu deutenden Schicksal des Vaters, das die Notwendigkeit vor Augen geführt hatte, sich aus allen Abhängigkeiten zu lösen und auf das Proprium, auf das Eigene sich zu besinnen. Das Gelingen des Vorhabens schien die wachsende Akzeptanz für die „reine“, authentische Form zu verbürgen, die neuerdings Mobiliar und Alltagsgegenständen zu ungeahnter Anmut verhalf, Tellern, Tischen und Besteck ebenso wie Teekannen, Türgriffen – und eben Lampen. An dieser Anmut, der Anmut des beispiels- und bindungslosen Neuanfangs, sollten Staat, Recht und Rechtswissenschaft teilhaben. Das war und ist die ewig verjüngende ästhetische Raison d’être der Reinen Rechtslehre.
V. Carl Schmitts Heizkörper: Reaktionäre Sachlichkeit Lange Zeit hat man sich geweigert, den Zuspruch zur Kenntnis zu nehmen, dessen sich der „moderne Stil“ von rechter, insbesondere nationalsozialistischer Seite erfreute, vielleicht weil die prominenteste Lehranstalt der Moderne, das „Bauhaus“, im Nachkriegsdeutschland (zu Recht) zu den wenigen Institutionen zählte, die in der „Stunde null“ noch als unbelastet galten und die sich dank ihres internationalen Renommees vorzüglich dazu eigneten, das lädierte Selbstwertgefühl der Besiegten etwas zu heben.211 Doch inzwischen steht fest, dass die moderne Bauweise und industrielle Formgebung seit etwa Mitte der 20er Jahre in nahezu allen gesellschaftlichen und politischen Milieus Förderer und Anhänger hatte (1).212 Daher führt kein Weg an der 211 Vgl. Winfried Nerdinger, Modernisierung, Bauhaus, Nationalsozialismus, in: ders. (Hrsg.), Bauhaus-Moderne im Nationalsozialismus. Zwischen Anbiederung und Verfolgung, München 1993, S. 9–23,18. 212 Zum Phänomen der „reaktionären“ („totalitären“, „antiliberalen“, „pathologischen“) Moderne: Riccardo Bavaj, Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung, München 2003; Jeffrey Herf, Reactionary Modernism. Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984; Hans Mommsen, Nationalsozialismus als vorgetäuschte Modernisierung, in: ders., Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft, Reinbeck bei Hamburg 1991, S. 405–427; Rainer Zitelmann, Die totalitäre Seite der Moderne, in: Michael Prinz, Rainer Zitelmann (Hrsg.). Nationasozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991, S. 1–20; Erhard Schütz, Zur Modernität des „Dritten Reiches“, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 20 (1995), S. 116–136; Peter Gay, Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs, Frankfurt am Main 2008, S. 431–478.
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Frage vorbei, ob möglicherweise auch die antirepublikanische Staatsrechtslehre sich ästhetische Prinzipien der Klassischen Moderne zu Eigen machte (2). 1. Stil 1930 In der Endzeit der Weimarer Republik hatte sich eine von den demokratischen, sozialreformerischen Ideale des Neuen Bauens abgekoppelte Formkultur herausgebildet, ein technoides, klares, schlankes, einfaches Design, das sich vorzugsweise mit glatten, glänzenden Materialen wie Stahl, Glas und Chrom vermählte. Selle und Sembach haben dem Phänomen das Etikett „Form um 1930“ zugedacht.213 „Was den Stil der Jahre um 1930 auszeichnete: Prägnanz, Helligkeit, Transparenz, Überschaubarkeit, Materialsensibilität, Logik und die Absage an Emotionen und Doktrinen jeder Art.“214 Die hyperfunktional gestalteten Produkte zogen eine wirtschafts- und technikaffine Elite in ihren Bann, die sich von dem Bauhaus-Milieu der Anfangsjahre deutlich unterschied. „Der Bruch mit den sozialen Designutopien“, schreibt Selle, „findet nicht erst 1933, sondern allmählich und zunächst unauffällig Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre im zunehmenden Angebot moderner Produkte statt, die nicht mehr im Zusammenhang sozialer Versorgungsprogramme, sondern in der Regie der Marktwirtschaft entstehen, und die ihre industrielle Herkunft quasi objektiv zur Darstellung bringen, in der Erscheinung bestechend kühl, elegant und glatt, als hätten sie alle Erwartungen der funktionalistischen Avantgarde eingelöst, aber mit einem ästhetischen Überschuss, der nicht mehr programmatisch gebunden ist.“215 213 Selle, Geschichte des Design in Deutschland, S. 182–191; Klaus-Jürgen Sembach, Stil 1930, Tübingen 1971. Ebenso Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, München, Wien 1991, S. 319 f. 214 Sembach, Stil 1930 [nicht paginiert]. 215 Selle, Geschichte des Design in Deutschland, S. 184.
1. Stil 193099
In jenen Jahren füllten „Stilfibeln“ die Regale der Buchhandlungen, die bezeugen, dass die Banalisierung der Neuen Sachlichkeit in vollem Gange war. Der „moderne Stil“ wurde damals endgültig Teil der populären Kultur, avancierte zu einer Art Volksdoktrin des guten Geschmacks für Hausfrauen, Amateurbaumeister und Kaufhauskunden. Das Vorwort eines dieser Ratgeber stammt bezeichnenderweise von der „Ersten Vorsitzenden der Zentrale der Hausfrauen-Vereine Groß-Berlins“. Für Volk und Vaterland, daran lässt sie keinen Zweifel, ist guter Stil eine Frage von Sein oder Nichtsein: „Wir brauchen nötiger denn je eine häusliche Atmosphäre von schlichter Kultur, Helle, Sauberkeit und Schönheit. Wir brauchen dieses räumlich und psychisch Übersehbare unserer Umwelt, um schaffen und entfalten zu können; wir brauchen es, um das Wesen der nächsten Generation zu formen und zu stählen.“216 Carl Burchard, der Autor, stellt im Folgenden in leicht verständlicher Sprache, flankiert von zahlreichen Fotografien, die stilistischen Ursünden der wilhelminischen Vorkriegsgeneration zusammen, damit der Leser leichter begreife, was sich schon geändert habe und was sich noch ändern müsse. Am Pranger stehen verschiedene Varianten eines nicht-funktionalistischen Habitus, unter anderem die „Vertausch-Sucht“, das heißt „der Versuch, jedes Gerät, jedes Wesen als ein ganz anderes auszugeben: der Essteller als Wandschmuck, der Wandteller als Spieluhr, der Hund als Feuerzeug“.217 In die gleiche Kerbe schlägt ein Büchlein mit dem beschaulichen Titel „Unser Heim“. Im wahrsten Sinne des Wortes finster und undurchsichtig seien die Zeiten vor dem ersten Weltkrieg gewesen, heißt es auch hier. Das schwere Kristall, „dessen Oberfläche sich durch üppigen Schliff in lauter kleine Teile aufspaltet“, habe es unmöglich gemacht, die „Eigenfarbe und Eigenbewegung“ des Getränks zu er216 Vorwort zu Burchard, Gutes und Böses in der Wohnung in Bild und Gegenbild. Grundlagen für neues Wohnen, Leipzig, S. 3. 217 Burchard, Gutes und Böses in der Wohnung in Bild und Gegenbild. Grundlagen für neues Wohnen, Leipzig, S. 5.
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kennen.218 Mit Grauen wenden sich die Verfasser ab von den Verirrungen des späten 19. Jahrhunderts: „Kristall mit überladenem Schliff, überschnörkeltes Geschirr, das vor lauter Dekoration keinen anständigen Halt mehr zum Anfassen bot, Bestecke, die Motive des Barocks ebenso geräuschvoll wie plump und missverständlich nachahmten, das waren die wesentlichen Bestandteilen der ‚vornehmen‘ Tafel gewesen: ein ausgesprochener Emporkömmlingsprunk, lastend und muffig.“ Ganz anders 1942: „Wie frei, klar, frisch bietet sich heute das zur Feier hergerichtete Zimmer dar!“219 Sehr deutlich zeigt sich das Vordringen der modernen Designtheologie in Milieus fernab der Avantgarde am Beispiel Adolf Hitler. Als dieser in seiner Männerheimzeit zum Gelderwerb Postkarten mit Motiven aus dem Wiener Stadtbild zeichnete, ignorierte er kurzerhand das 1910 im neuen funktionalen Stil erbaute Loos-Haus am Michaelerplatz und kopierte lieber eine historische Darstellung aus dem 18. Jahrhundert, was dafür spricht, dass er damals diese Form der Architektur, die glatten, von allem Zierrat befreiten Fassaden, ablehnte.220 Später jedoch war Hitler dezidiert anderer Auffassung. Wenn wir Giesler, neben Speer Hitlers zweiter Leibarchitekt, trauen dürfen, zählte Hitler die von Adolf Loos entworfenen Gebäude zu den architektonischen Glanzlichter Wiens221: „Sie können verstehen, wie sehr mich diese Schöpfungen beeindruckt haben! Aber auch die Bau218 Marga Lützeler / Heinrich Lützeler, Unser Heim, 3. Aufl., Bonn 1942, S. 200, 203. 219 Lützeler / Lützeler, Unser Heim, 3. Aufl., S. 161. 220 Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, 5. Aufl., München 1996, S. 102. 221 Den „soldatischen Charakter“ der schmucklosen nationalso zialistischen Architektur betont: Joachim Petsch, Baukunst und Stadtplanung im Dritten Reich, Herleitung, Bestandsaufnahme, Entwicklung, Nachfolge, München, Wien 1976, S. 209. Zur „völkischen“ Kritik der Kritik am Ornament vgl. allerdings die Nachweise bei Robert R. Taylor, The Word in Stone. The Role of Architecture in the National Socialist Ideology, Berkeley 1974, S. 246 f.
1. Stil 1930101
ten am Ring, vor allem der Architekten Semper, Hansen, Schmidt, Hasenauer, van der Nüll und Siccardsburg bis zu den Bauten der nüchternen, doch gekonnten Sachlichkeit von Adolf Loos.“222 An der Übereinstimmung zwischen Hitler und den modernen Architekten bei der Konzeption von Industriebauten gibt es ohnehin keinen Zweifel.223 „Dabei ist“, erklärte er Giesler, „die Gestaltung der Bauten auf dem allgemeinen Gebiet der Arbeitsstätten – der Fabriken aller Art, der Labors, Bauten für Flughäfen – einfach überzeugend, sie entsprechen ja der disziplinierten Ordnung und Strenge; hier sind sie klare Hüllen der technischen Vorgänge, die Gestaltung entspricht dem Arbeitsablauf: Diese Bauten sind Bestandteil der Technik unserer Zeit, sie sind vorbildlich, mustergültig! Ich distanziere mich von romantischen Exaltiertheiten und von einem Anachronismus im Bauwerk, so zum Beispiel, wenn eine Tankstelle, ausgerechnet an der zeitentsprechenden Autobahn, mit Holz-Fachwerkgiebel Landschaftsverbundenheit demonstrieren will! Es sollte klar zum Ausdruck kommen: Hier werden Autos betankt und nicht Pferde getränkt!“224 Ähnlich äußerte sich Hitler gegenüber Speer nach Besuch der Hermann-Göring-Werke bei Linz: „Als wir die große Stahlhalle verließen, äußerte Hitler wieder einmal [sic!] Verständnis für die moderne Architektur aus Stahl und Glas: ‚Sehen Sie sich diese Front von über dreihundert Metern an. Wie schön sind die Proportionen! Hier liegen eben andere Voraussetzungen vor als bei einem Parteiforum. Dort ist unser dorischer Stil Ausdruck der neuen Ordnung, hier dagegen ist die technische Lösung das 222 Hermann Giesler, Ein anderer Hitler. Bericht seines Architekten Hermann Giesler. Erlebnisse, Gespräche, Reflexionen, 6. Aufl., Leoni am Starnberger See 1982, S. 242. 223 Vgl. auch Robert R. Taylor, The Word in Stone. The Role of Architecture in the National Socialist Ideology, Berkeley 1974, S. 244 f. 224 Giesler, Ein anderer Hitler. Bericht seines Architekten Hermann Giesler. Erlebnisse, Gespräche, Reflexionen, S. 210.
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Angemessene.‘“225 Diese Bemerkungen lassen erkennen, wie sehr Hitler das funktionalistische Paradigma verinnerlicht hatte. Das ging soweit, dass er historische Monumente wie griechische Tempel und gotische Kathedralen auf ihre Funktionalität hin überprüfte. Die prachtvollen mittelalterlichen Gotteshäuser gefielen ihm nur wegen ihrer Größe und Sichtbarkeit, hingegen erregten die vielen „unnötigen“, „nutzlosen“ Bögen und Türmchen seinen Unmut.226 Des „Führers“ Maxime versuchten die Verantwortlichen im „Amt für Schönheit der Arbeit“ in den deutschen Betrieben umzusetzen. Speer gab unumwunden zu, dass das von ihm beaufsichtigte „Amt“, das die „Würde des deutschen Arbeiters“ in den Fabrikhallen und Kantinen wiederherstellten sollte, regelmäßig Ideen des Bauhauses plagiierte.227 In einem von dem Reichsheimstättenamt der Deutschen Arbeitfront herausgegebenen Leitfaden mit dem Titel „Schönheit des Wohnens“ (1942) heißt es: „Eine aus den Grundsätzen des Nationalsozialismus sich entwickelnde neue Wohnauffassung fordert einen klaren, hellen Wohnraum … Die Möbel sollen schlicht, zweckentsprechend und dadurch schön sein.“228 225 Albert Speer, Spandauer Tagebücher, Frankfurt am Main 1975, S. 261 f. 226 „Warum einen natürlich schönen Bogen plötzlich unterbrechen, und ihn in eine nichtnotwendige, keinen Sinn und Zweck habende Spitze auslaufen lassen! Und warum die vielen spitzen Türme und Türmchen, die nur für das Auge da sind, zu denen man keinen Zugang hat, die innen ausgemauert sind“ – nach Christa Schroeder, Er war mein Chef. Aus dem Nachlass der Sekretärin von Adolf Hitler, München 1985, S. 95. 227 Paul Betts, Bauhaus und Nationalsozialismus – ein Kapitel der Moderne, in: Jeannine Fiedler, Peter Feierabend (Hrsg.), Bauhaus, Köln 1999, S. 34–41, 36. Vgl. auch Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, S. 316. 228 Schönheit des Wohnens. Ein Bildwerk über schöne Wohnmöbel, hrsg. in Zusammenarbeit mit dem Reichsheimstättenamt der deutschen Arbeitsfront, Zusammenstellung, Bildwahl und Bearbeitung von August Grosskinsky, Freiburg i. Br. 1941 [nicht paginiert].
1. Stil 1930103
Wenn vom „Stil“ oder der „Form um 1930“ die Rede ist, sollte freilich nicht übersehen werden, dass schon zu Beginn der Weimarer Zeit eine zumindest latente Affinität rechtskonservativer Kreise zur modernen Formensprache bestand, denn die Fronkämpfergeneration hatte diese Sprache gleichsam im Krieg erlernt, in einem Krieg, in dem sich keine der beteiligten Nationen die Vergeudung von Ressourcen in Form von funktionslosen Ornamenten mehr leisten konnte. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts war zugleich die diskrete Geburtshelferin einer neuen Ästhetik: Nicht Abendvorträge an Kunstgewerbeschulen, sondern die Materialschlachten des ersten „totalen“ Krieges haben den Boden für ein Umdenken in allen Schichten und Milieus bereitet. Pars pro toto für die kriegsbedingten Funktionalisierungsprozesse steht die Ablösung der reich verzierten Pickelhaube durch den deutschen Stahlhelm, eine Schöpfung des Inge nieurs Friedrich Schwerd aus dem Jahre 1915: „Formfindung und Entwicklung demonstrieren hier, dass Sachlichkeit ein Ergebnis der Herrschaft techno-ökonomischer Gesetzmäßigkeiten sein kann – unabhängig vom je einzelnen Produkt und seiner Verwendungsfunktion.“229 Die lederne Pickelhaube bot im modernen Artilleriekrieg keinen hinreichenden Schutz vor Kopfverletzungen, die Helmspitze und die ebenfalls schon aus großer Entfernung sichtbaren Messingbeschläge behinderten die Tarnung. Der Stahlhelm hingegen entsprach den Anforderungen der Zeit.230 229 Selle,
Geschichte des Design in Deutschland, S. 113. Form fällt hier noch sachlicher aus als bei den Bogenlampen von Behrens mit ihrem schlanken, funktionalen Blechkleid. Beim Stahlhelm ist aller ästhetischer Überschuss, jeder vermeidbare Aufwand eliminiert; die nackte Funktionsform entsteht aus der Logik des Produzierens und dem Zweck des Produkts. Silizium erhöht die Federeigenschaften des Stahls; Stirnschild und Innenpolsterung werden entwickelt, bis der Helm den ‚Probeschuss‘ erfolgreich besteht. Der Entwurf kommt in die Massenproduktion, als der Krieg in das Stadium der Material- und Vernichtungsschlachten eingetreten ist. Anlass, Zweck, technische Formfindung und produktionslogische Verwirklichung verbinden sich zu einer 230 „Die
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2. Modernisierte Feindbilder Einer der ersten politischen Publizisten, der nach dem verlorenen Krieg sich des Vokabulars der Neuen Sachlichkeit bediente, um dem Verlangen nach einer neueren, besseren Staatsordnung Ausdruck zu verleihen, war Walther Rathenau. Das ist nicht verwunderlich, schließlich pflegte der Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau als Mitglied des AEG-Aufsichtsrats (seit 1904) berufliche und freundschaftliche Kontakte zu Peter Behrens, dem Chefarchitekten, „künstlerischen Beirat“ und Industriedesigner der AEG (seit 1907).231 Obwohl Rathenau in der einen oder anderen Frage nicht mit Behrens übereinstimmte, begleitete er wohlwollend dessen Engagement für eine zeitgemäße Architektur und ein funktionalistisches Design.232 Die Bedeutung von Peter Behrens für die Entwicklung der deutschen Industrieund Konsumkultur kann gar nicht überschätzt werden. Er war es, der den Kunstgewerbereformern, die – wie gesehen – recht erfolgreich mit ästhetischen Argumenten gegen die Massenfabrikation ankämpften, den Wind aus den Segeln nahm, indem er den „industriellen Historismus“ über Bord warf und stattdessen eine „industrielle Sachlichkeit“ propagierte. Was Behrens meinte, wenn er sagte, es sei immer noch nicht zu vollem Bewusstsein gekommen, dass „die Elektrizität einen neuen Formausdruck, der einen Stil unserer Zeit begünstigen könnte, geradezu verlangt“, veranschaulichte er an einem einfachen Beispiel: „Der elektrische Beleuchtungskörper … gleicht immer noch der alten Kerzenkrone. Es ist nicht nur die Form der Krone beibehalten worden, sondern es werden oft sogar die Kerzen aus Porzellan imitiert, obBeispieldemonstration von Rationalität“ – Selle, Geschichte des Design in Deutschland, S. 114. 231 Lothar Gall, Walther Rathenau. Portrait einer Epoche, München 2009, S. 87 f. Allgemein zu Rathenaus Verhältnis zu den Umbrüchen in der Architektur seit der Jahrhundertwende: S. 77–88. 232 Gall, Walther Rathenau. Portrait einer Epoche, S. 88.
2. Modernisierte Feindbilder105
gleich der Elektrotechniker weiß, dass das elektrische Licht der Birne eine andere Strahlenrichtung [hat] als das Licht der Kerzen, und das deswegen die Birne nach unten hängen sollte.“233 Der „künstlerische Beirat“ empfahl außerdem, mit Ornamenten sparsam umzugehen und allenfalls schlichte geometrische Formen zu verwenden: „Eine allzureiche Ornamentgebung sollte jedoch bei Maschinenarbeit stets vermieden werden, da es dem guten Geschmack widerspricht, in großer Anzahl immer wieder die gleichen anspruchsvollen Formen zu finden. Man würde den Gegensatz sehr unangenehm empfinden, der in der reichen Formgestaltung und der leichten Herstellung durch die Maschine liegt. Das Ornament sollte darum etwas Unpersönliches haben. Am nächsten kommt diesem Anspruch das einfache geometrische Ornament.“234 Die Bauwerke, die Behrens im Geist der Neuen Sachlichkeit für die AEG entwarf, etwa die Berliner Turbinenfabrik an der Huttenstraße (1908 / 9), waren weithin sichtbare Manifeste nicht nur gegen das Ornament, sondern auch für ein neues Materialbewusstsein, ein Plädoyer für unverkleidete Ziegelwände, Stahl, Glas und nochmals Glas.235 Die Behrens’sche Forderung nach Sichtbarkeit, Form und Sachlichkeit kehrt in Rathenaus 1919 erschienenen Schrift „Der Neue Staat“ wieder, diesmal allerdings projiziert auf die politische und staatsrechtliche Lage in Deutschland.236 Unzufrieden mit dem mutlosen Lavieren der „Spießbürger“237 in der Weimarer Nationalversammlung drängte Rathenau 233 Peter Behrens, Kunst und Technik [Vortrag vom 26.5.1910], in: Tilmann Buddensieg (Hrsg.), Industriekultur. Peter Behrens und die AEG 1907–1914, Berlin 1979, S. D 284 f. 234 Behrens, Kunst und Technik [Vortrag vom 26.5.1910], in: Tilmann Buddensieg (Hrsg.), Industriekultur. Peter Behrens und die AEG 1907–1914, S. D 284. 235 Vgl. Gall, Walther Rathenau. Portrait einer Epoche, S. 86 f. 236 Zum Kontext Gall, Walther Rathenau. Portrait einer Epoche, S. 214 f. 237 Walther Rathenau, Der Neue Staat, in: ders., Gesammelte Schriften, Berlin 1925, S. 265–337, 284 (u. ö.).
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auf ein erkennbares Profil, auf eine neue sichtbare „Form“ des „Neuen Staates“: „Das Plasma sträubt sich, kristallinisch zu werden, Härte, Widerstand, Richtung zu gewinnen. Ohne Festigkeit aber besteht keine Form.“238 Es bereitete Rathenau große Schwierigkeiten, die sich abzeichnende Verfassungsordnung der Weimarer Republik mit seinen Vorstellungen eines „hellen“ und „sachlichen“ Gemeinwesens in Einklang zu bringen. Allein mit dem „Licht des allwissenden und unfehlbaren Parlaments“ lasse sich beim besten Willen kein Staat machen, denn „dieses Licht strahlt nur auf die Baumkronen, in das Dämmern des Staatsdickichts dringt es nicht ein.“239 Um auch das „Staatsdickicht“ mit Licht zu versorgen, befürwortete Rathenau ein „System der Fachstaaten“ mit spezialisierten Parlamenten. Es stehe fest, „dass die Durchlüftung und Durchlichtung des ganzen Staatsbaues, die Auflockerung und Durchsetzung der Bureaukratie mit organisch eingegliederten Volksvertretungen geschehen muss.“240 Mehr Mitbestimmung müsse es auch in der Wirtschaft geben, die erst dadurch „Durchsichtigkeit“ erlange: „Wir werden euch eine Wirtschaft schaffen, die klar und durchsichtig ist wie Glas, die jedem Mitwirkenden die Mitbestimmung sichert, keinem einzigen versteckte und ungerechte Vorteile gestattet, den höchsten Wirkungsgrad der Arbeit sichert. Das ist die Neue Wirtschaft.“241 Rathenaus Ringen um eine „gute Form“ des Staates ist symptomatisch für das Unvermögen der liberalen, politisch gemäßigten Kräfte, die Stilelemente der Neuen Sachlichkeit mit den Verfassungsprinzipen von 1919 zu synchronisieren. Entweder man versuchte es erst gar nicht oder man kam so 238 Rathenau, S. 265–337, 266. 239 Rathenau, S. 265–337, 299. 240 Rathenau, S. 265–337, 297. 241 Rathenau, S. 265–337, 334.
Der Neue Staat, in: ders., Gesammelte Schriften, Der Neue Staat, in: ders., Gesammelte Schriften, Der Neue Staat, in: ders., Gesammelte Schriften, Der Neue Staat, in: ders., Gesammelte Schriften,
2. Modernisierte Feindbilder107
Abb. 21: Hermann Jahrreiß, „Wie das Reichsvolk die mittelbaren Herrschaftsträger unmittelbar oder mittelbar beruft oder abberuft“
weit vom Kurs ab, dass von einer Rückendeckung für die junge Republik keine Rede sein konnte. Wer ein zeitgenössisches Schaubild zu den Institutionen des Weimarer Staates übersieht – wie jenes aus der Feder von Hermann Jahrreiß (1930) (Abb. 21)242 – dem erschließt sich sofort, warum es so schwer fiel, die Weimarer Verfassung in Kategorien wie Klarheit, Übersichtlichkeit und Schlichtheit zu beschreiben. Ein System der gegenseitigen Kontrolle, wie es der west lichen Verfassungstradition entspricht, ist per se nicht dazu bestimmt, die politische Verantwortung im Staat „klar“ und „eindeutig“ zu verteilen. Welche Entscheidung von welchem Verfassungsorgan zu treffen ist und welcher Mitwirkung anderer Organe es gegebenenfalls bedarf, lässt sich nicht „auf einem Blick“ erkennen. Die mannigfaltigen Verschrän242 Hermann Jahrreiß, System des deutschen Verfassungsrechts in Tafeln und Übersichten, Tübingen 1930.
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kungen von Reichstag, Reichsregierung und Reichspräsident, ergänzt um die Mitsprache des Reichsrats und der Länder, treten in einem mentalen räumlichen Modell, dessen wir uns regelmäßig bedienen, um Relationen und Zuordnungen besser analysieren zu können243, als sich überkreuzende und gewundene Linien in Erscheinung, wie dazu geschaffen für eine gedankliche Verknüpfung mit dem Feindbild der Neuen Sachlichkeit: mit einer schmückenden, zierenden, ornamentalen Oberfläche. In der Tat haben die populären Stilelemente der Neuen Sachlichkeit vornehmlich die Kritiker des „Weimarer Systems“ inspiriert. Bereits in Hitlers „Mein Kampf“ (und erst recht in den Reden und Schriften der späteren Jahren) finden sich Spuren einer solchen Vereinnahmung. Der Text ist gesättigt mit Attributen, die das ästhetische Ideal des verhinderten Architekten und „Gestalters“ erkennen lassen: „stahlhart“, „glänzend“, „strahlend“, „klar“, „kristallklar“, „sauber“, „reinlich“, „geradlinig“, „graniten“ oder „einheitlich“. Es ist die Rede vom „Glanz der Partei“, von der „Sauberkeit der deutschen Verwaltung“, von der „einheitlichen klaren Form“ der Auffassung über das staatliche Wesen, von „reinlicher Härte“, von „antiker Schlichtheit“, „deutscher Geradlinigkeit“ und „granitenen Fundamenten“.244 Die „Unsauberkeit“ und der „Korruptionsschlamm der Republik“245 widerten ihn ebenso an wie die „schmutzige“ Demokratie246. Nach der Revolution 1917 / 18 seien die bürgerlichen Parteien „unter Änderung ihrer Firmenschilder“ plötzlich wieder „aus der Verborgenheit finsterer Keller und luftiger Speicher“ 243 Eingehend Barbara Tversky, Visuospatial Reasoning, in: The Cambridge Handbook of Thinking and Reasoning, hrsg. von Keith J. Holyoak, Robert G. Morrison, Cambridge 2005, S. 209–240. 244 Adolf Hitler, Mein Kampf, 851.–855. Aufl., München 1943, S. 578, 715, 773 / 9, 56 / 169, 453 / 188, 266, 408, 418, 424, 515, 571, 727 / 230 / 123, 666 / 61 / 99,397, 602 / 204, 453 / 78, 438, 443, 736 / 412 / 305 / 431 / 592 / 403 / 362. 245 Hitler, Mein Kampf, S. 592. 246 Hitler, Mein Kampf, S. 99.
2. Modernisierte Feindbilder109
hervorgekrochen,247 um sich dann wieder in die „muffige Luft der Sitzungssäle unserer Parlamente“ zu begeben.248 Eine funktionsfähige Organisation bedürfe eines „Mittelpunktes“ – auch eines „geistigen Mittelpunktes“249 – oder einer „Spitze“.250 Der Vorteil der Monarchie sei die persönliche Verkörperung der „Staatsspitze“ durch den Monarchen.251 Viele europäische Staaten glichen indes „heute auf die Spitze gestellten Pyramiden.“252 Hitler war offenkundig selbst Opfer eines Mechanismus, mit dessen Hilfe er die Menschen in seinem Sinne zu manipulieren gedachte. „Von den Bauten überträgt sich der Wille auf den Menschen selbst,“ bemerkte er einmal in einem Gespräch mit Hermann Rauschning, „wir sind von den Räumen abhängig, in denen wir arbeiten und uns erholen … Wir schaffen die heiligen Bauten und Wahrzeichen einer neuen Hochkultur. Mit ihnen musste ich beginnen. Mit ihnen präge ich meinem Volk und meiner Zeit den unverwischbaren geistigen Stempel auf.“253 Dass ein Zusammenhang besteht zwischen einer minimalistischen Ästhetik und einer Präferenz für autoritäre, dezisionistische Ansätze, lässt sich auch anhand intellektuell gehaltvollerer Beiträge als „Mein Kampf“ nachweisen. Schon 247 Hitler,
Mein Kampf, S. 595. Mein Kampf, S. 413. 249 Hitler, Mein Kampf, S. 646. 250 „Das Führerprinzip bedingt einen pyramidenförmigen Aufbau der Organisation im einzelnen wie in der Gesamtheit. An der Spitze steht der Führer“ – Organisationsbuch der NSDAP, hrsg. vom Reichsorganisationsleiter der NSDAP, 3. Aufl. München 1937, S. 86. 251 Hitler, Mein Kampf, S. 305. 252 Hitler, Mein Kampf, S. 152. 253 Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler, Zürich 1940, S. 244 f. Der Quellenwert des Rauschning-Berichts ist bekanntlich nicht unumstritten. Allerdings erscheint in dem Fall die Aussage glaubhaft, weil Hitler sich auch vor anderen Personen ähnlich äußerte, vgl. die Rede vom 22. Januar 1938 in: Max Domarus (Hrsg.), Adolf Hitler: Reden und Proklamationen 1932–45, München 1965, S. 778 („Wort aus Stein“). 248 Hitler,
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vor vielen Jahren hat Kurt Sontheimer mit Blick auf Carl Schmitt, Ernst Jünger und Martin Heidegger auf die Präsenz ästhetischer Kategorien im antidemokratischen Denken hingewiesen: „Dem dezisionistischen Denken wohnt ein ästhetizistisches Moment inne: es hat eine Lust an der Eindeutigkeit, der Klarheit und Konsequenz der Entscheidung. Es findet Gefallen an einer Ordnung, die widerspruchslos von oben nach unten durchkonstruiert ist und kann einen Zustand, in welchem sich viele verschiedene Kräfte um Anteil an der Macht bemühen, nur als unschönes Durcheinander begreifen, das sich keiner eindeutigen und übersichtlichen Struktur mehr fügt.“254 Vertieft hat Sontheimer diesen Gedanken nicht, sonst wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass Glasfetisch und Ornamentphobie nicht die einzigen ästhetischen Impulse waren, die der antidemokratischen Agitation zugute kamen und sie gleichsam modernisierten. Es war Carl Schmitt, dem es gelang, ein weiteres, vielleicht das wichtigste Dogma der Neuen Sachlichkeit so elegant und passgenau in den antiparlamentarischen Diskurs zu integrieren, dass man seine Thesen bei einer unbefangenen Lektüre auch heute noch intuitiv für richtig oder zumindest plausibel hält. Gemeint sind die Thesen, die Schmitt in seinem erstmals 1923 publizierten Text „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ formulierte.255 Selbst Denker ganz anderer politischer Couleur wie Karl Mannheim und Otto Kirchheimer haben sich Schmitts Positionen (zumindest teilweise) zu Eigen gemacht.256 Angreifbar sind allein die Prämissen, die Schmitt 254 Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962, S. 331. 255 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, in: Bonner Festschrift für E. Zitelmann, München, Leipzig 1923, S. 413–473. Zum Kontext Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, S. 178 f. 256 Wolfgang Durner, Antiparlamentarisches Denken in Deutschland, Würzburg 1997, S. 110 f.
2. Modernisierte Feindbilder111
freilich außerordentlich kunstvoll in seine Begründung einwebt, so dass sie kaum als falsifizierbare Prämissen in Erscheinung treten. Die erste Schwachstelle betrifft Schmitts Definition des Parlamentarismus, wobei es ihm nicht auf irgendwelche technischen Details, sondern auf die „letzten geistige Grundlagen“ ankommt.257 Im Anschluss an Rudolf Smend258 und Francois Guizot259 nimmt Schmitt an, die ratio des Parlaments liege „im ‚Dynamisch-Dialektischen‘, d. h. in einem Prozess der Auseinandersetzung von Gegensätzen und Meinungen, aus dem sich der richtige staatliche Wille als Resultat ergibt. Das Wesentliche des Parlaments ist also öffent liches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Diskussion, Parlamentieren.“260 Aus dem in der Öffentlichkeit geführten „freien Kampf der Meinungen“ entstehe „die Wahrheit“.261 Das Parlament sei „der Platz, an dem die unter den Menschen verstreuten, ungleich verteilten Vernunftpartikeln sich sammeln und zur öffentlichen Herrschaft bringen“.262 Dem Parlamentsrecht komme daher seit eh und je die Funktion zu, ein gründliches Debattieren zu gewährleisten, die Öffentlichkeit der Veranstaltung zu garantieren und für die persönliche Unabhängigkeit der Abgeordneten zu sorgen.263 257 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl., München, Leipzig 1926, S. 41 f. 258 Rudolf Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl (1919), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., Berlin 1968, S. 60–67. 259 Francois Guizot, Histoire des origines du gouvernement re présentatif en Europe, Brüssel 1851. 260 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 43. 261 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 46. 262 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 44. 263 Vgl. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 46, 62.
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Diesen „letzten Kern“, diesen „Grundgedanken“ des Parlamentarismus misst Schmitt an der tristen parlamentarischen Realität der Weimarer Republik. Die Liste der Mängel ist lang: „die Herrschaft der Parteien, ihre unsachliche Personalpolitik, die ‚Regierung von Amateuren‘, fortwährende Regierungskrisen, die Zwecklosigkeit und Banalität der Parlamentsreden, das sinkende Niveau der parlamentarischen Umgangsformen, die auflösenden Methoden parlamentarischer Obstruktion, der Missbrauch parlamentarischer Immunitäten und Privilegien durch eine radikale, den Parlamentarismus selbst verhöhnende Opposition, die würdelose Diätenpraxis, die schlechte Besetzung des Hauses.“264 Jeder wisse, „dass die eigentliche Tätigkeit nicht in den öffent lichen Verhandlungen des Plenums, sondern in Ausschüssen und nicht einmal notwendig in parlamentarischen Ausschüssen sich abspielt und wesentliche Entscheidungen in geheimen Sitzungen der Fraktionsführer oder gar in außerparlamentarischen Kommitees fallen.“265 Anders gewendet: Es bestehe ein Recht des Abgeordneten auf freie Rede im Parlament und ein Recht der Öffentlichkeit, einer solchen Rede beizuwohnen, doch wolle im Grunde weder der Abgeordnete reden noch die Öffentlichkeit die Rede hören. Zum Beleg für die Missstände führt Schmitt „zahlreiche Broschüren und Zeitungsartikel“ an.266 Wenn auch die Auswahl der Quellen politisch nicht unbedingt ausgewogen ist, so besteht doch kein Zweifel, dass im parlamentarische Betrieb der Weimarer Republik die Interessenvertretung im Vordergrund stand und die oft polemischen Debatten im Plenum des Reichstags einen anderen Charakter hatten als „Fachgespräche“ in Honoratiorenparlamenten. Aus diesem cum grano salis zutreffenden Befund zieht Schmitt einen 264 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 28. 265 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 28. 266 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 28.
2. Modernisierte Feindbilder113
weitreichenden Schluss: „Am wenigsten wird es noch den Glauben geben, dass aus Zeitungsartikeln, Versammlungsreden und Parlamentsdebatten die wahre und richtige Gesetzgebung und Politik entstehe. Das aber ist der der Glaube an das Parlament selbst.“ Folglich habe das Parlament „seine bisherige Grundlage und seinen Sinn verloren“.267 Schon in den 20er Jahren monierten einige liberale Staatsrechtler (wie Richard Thoma), Schmitt lege eine falsche „ideelle Rechtfertigung“ des Parlamentarismus zu Grunde – „die Guizotschen Illusionen“ – und gelange daher zwangsläufig zu einem falschen Ergebnis.268 Noch deutlicher zog Wilhelm Hennis in den 60er Jahren Schmitts Prämissen in Zweifel: Dieser habe „wie so oft die dogmatischen, aber vom wirklichen Parlamentsbetrieb weit entfernten Äußerungen einiger französischer Theoretiker für das Wesen der Sache“ genommen.269 Wer das – wohl zu Recht – auch so sieht, der wird sich mit Schmitts Fundamentalkritik am Parlamentarismus schwer tun, denn kein Syllogismus kann überzeugen, wenn bereits der Obersatz falsch ist. Damit könnte man es belassen. Indes noch aus einem anderen Grund erweist sich Schmitts Gedankenführung als problematisch. Der Staatsrechtler behauptet nämlich nicht nur, dass sich der Parlamentarismus des 20. von dem des 19. Jahrhunderts unterscheide und daher einige Usancen unzeitgemäß und ohne Funktion im gegenwärtigen Parlamentsbetrieb seien, sondern er suggeriert auch, dass allein aufgrund dieses Umstandes das gesamte parlamentarische System auf Dauer „erledigt“ sei und einer ganz anderen Staats- oder Regierungsform weichen müsse. Dieser Schluss 267 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 63. 268 Richard Thoma, Zur Ideologie des Parlamentarismus (1925), in: Kurt Kluxen (Hrsg.), Parlamentarismus, Köln, Berlin 1967, S. 54–58, 55 f. 269 Wilhelm Hennis, Zur Rechtfertigung und Kritik der Bundestagsarbeit, in ders. (Hrsg.), Die missverstandene Demokratie, Freiburg i. Br. 1973, S. 121–134, 125.
114 V. Carl Schmitts Heizkörper: Reaktionäre Sachlichkeit
ist selbstverständlich keineswegs zwingend. Denn warum soll es von existentieller Bedeutung sein, wenn irgendwelche Definitionen des 19. Jahrhunderts nicht mehr passen (ihre ursprüngliche Eignung unterstellt) und einzelne parlamentarische Verfahren und Rechte leer laufen – sofern das Parlament seine Aufgabe als Gesetzgeber erfüllt und in der Sache vernünftige Entscheidungen trifft? Doch für die Resultate der Parlamentsarbeit interessierte sich Schmitt merkwürdigerweise so gut wie gar nicht. Wieder ist offenbar eine Prämisse im Spiel, die man akzeptieren muss, um sich von den Argumenten überzeugen zu lassen. In dem Fall reicht es allerdings nicht aus, einfach nur Schmitts Aussagen nachzuvollziehen, da der Autor die betreffende Prämisse weder ausführlich erörtert noch belegt, was auch nicht möglich gewesen wäre, da sie einem im wissenschaftlichen Kontext tabuisierten Metier entstammt. Gemeint ist das funktionalistische Credo, das – als essen tieller Bestandteil einer populären Sachlichkeit – in den Warenbücher, Stilfibeln, Architekturtraktaten, Reklamebroschüren und Zeitungsanzeigen der 20er und 30er Jahre allgegenwärtig war. Obwohl das (in seiner ursprünglichen Fassung vielfach missverstandene) Gestaltungsprinzip form follows function auf das Architekturverständnis der Chicagoer Schule zurückführt und in dieser Prägnanz erstmals 1896 von Louis H. Sullivan formuliert wurde,270 hat der Funktionalismus in keinem anderen Land ein so gnadenloses Regiment geführt wie in Deutschland.271 Den gesamten ererbten und zusammengetragenen Hausstand galt es auf seine Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen. „Wenn aus einer Wohnung nach strengster und rücksichtslosester [sic!] Auswahl alles, aber auch alles, was nicht direkt zum Leben notwendig ist, herausfliegt, so wird nicht bloß Ihre Arbeit erleichtert, 270 Louis Henry Sullivan, The Tall Office Building Artistically Considered, Lippincott’s Magazine 57 (1896), S. 403–409. 271 Zu Begriff und Geschichte des Funktionalismus vgl. Heinz Hirdina, Art. „Funktionalismus“, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, hrsg. u. a. von Karlheinz Barck, Stuttgart 2001, S. 588–608.
2. Modernisierte Feindbilder115
sondern es stellt sich von selbst eine neue Schönheit ein.“272 Aussondern, wegwerfen, vernichten: das war das Gebot der Stunde. Aus der Perspektive des dogmatisch verhärteten, moralisierenden Funktionalismus deutscher Prägung ist ein Verstoß gegen das Gebot der Zweckmäßigkeit mehr als nur ein ästhetischer Fauxpas, ein solcher Verstoß ist vielmehr – wie jede „Lüge“ und „Unaufrichtigkeit“ – zu allererst ein unverzeihliches sittliches Versagen. „Bei der billigen Ware“, heißt es im „Deutschen Warenbuch“ von 1915, „ist also jegliche Zier, die nicht mit dem Gegenstand verwachsen ist, eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, keine qualitätsmäßige Verbesserung oder Verschönerung, sondern Täuschung des Unerfahrenen“.273 Zu Ende gedacht folgt daraus, dass bereits die Existenz funktionsloser Bestandteile einen Verbrauchgegenstand völlig entwertet, selbst wenn er ansonsten gut funktioniert, denn „Täuschung“, „Lüge“ und „Vorspiegelung falscher Tatsachen“ sind als sittlich verwerfliche Handlungen mit utilitaristischen Erwägungen nicht zu rechtfertigen. Einem Gegenstand, der schon einmal gelogen hat, glaubt man nicht mehr. Er ist für alle Zeiten moralisch erledigt. Was auch immer er zu leisten im Stande ist, „er findet doch immer mit verblüffender Geschwindigkeit den Weg in die Müllgrube“.274 Das bedeutete zweifellos eine Pervertierung, wenn nicht gar Umkehrung des funktionalistischen Programms, das als Gegenentwurf zum „l’art pour l’art“ ausschließlich auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse zielt. Die Parallele zu Carl Schmitts Parlamentarismuskritik, in deren Mittelpunkt das angeblich funktionslose, leere Ritual der Parlamentsrede steht, ist evident. Und tatsächlich: Eine genauere Lektüre des Textes bringt eine Reihe von Anspie272 Bruno Taut, Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin, 5. Aufl., Leipzig 1928, S. 31. 273 Popp, Deutsches Warenbuch, S. XXIII f. 274 Popp, Deutsches Warenbuch, S. XXIV.
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lungen auf moderne Architektur- und Designdiskurse ans Licht. Vor allem „die Fassade“ – „die schlechte Fassade“ – hat es Schmitt angetan. Dieser Kampfbegriff der Neuen Sachlichkeit taucht immer dann auf, wenn zum Ausdruck kommen soll, dass der Ruf des Parlaments auf immer und ewig ruiniert ist und diese Institution der rationalen Volksherrschaft in toto keine Zukunft hat. „Das ganze parlamentarische System“ sei „nur eine schlechte Fassade vor der Herrschaft von Parteien und wirtschaftlichen Interessen“, heißt es an einer Stelle275 – und an anderer: „Natürlich, wie die Dinge heute tatsächlich liegen, ist es praktisch ganz unmöglich, anders als mit Ausschüssen und immer engeren Ausschüssen zu arbeiten und schließlich überhaupt das Plenum des Parlaments, d. h. seine Öffentlichkeit, seinem Zweck zu entfremden und dadurch notwendig zu einer Fassade zu machen.“276 Noch einmal sehr deutlich wird Schmitt in der „Vorbemerkung“ zur zweiten Auflage von 1926. Dort bekennt er sich ausdrücklich zum funktionalistischen Dogma, an das zu erinnern ausreichte, um das parlamentarische System alt aussehen zu lassen: „Die Lage des Parlamentarismus ist heute deshalb so kritisch, weil die Entwicklung der modernen Massendemokratie die argumentierende öffentliche Diskussion zu einer leeren Formalität gemacht hat. Manche Normen des heutigen Parlamentsrechtes, vor allem die Vorschriften über die Unabhängigkeit der Abgeordneten und über die Öffentlichkeit der Sitzungen, wirken infolgedessen wie eine überflüssige Dekoration, unnütz und sogar peinlich, als hätte jemand die Heizkörper einer modernen Zentralheizung mit roten Flammen angemalt, um die Illusion eines lodernden Feuers hervorzurufen.“277 275 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 29. 276 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 62. 277 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 10.
2. Modernisierte Feindbilder117
Abb. 22: Zweisäuliger Radiator, USA um 1860
Was Schmitt dazu veranlasst hat, sich mit dem Design von Heizkörpern zu beschäftigen, wissen wir nicht. Doch aus der Luft gegriffen ist das Beispiel nicht. Radiatoren, meist aus Gusseisen, standen seit dem 19. Jahrhundert in vielen Wohnräumen. Auch mit ihnen kannte der industrielle Historismus kein Erbarmen und hat sie mit floralen und figürlichen Verzierungen im Renaissance-, Barock-, oder Rokoko-Stil überzogen. Flammen als Motive, wie von Schmitt angesprochen, durften ebenfalls nicht fehlen (Abb. 22). Die Abbildung zeigt ein amerikanisches Modell aus dem 19. Jahrhundert. Die historische Heizkörper-Forschung belehrt uns, dass „seit etwa 1920“ die Radiatoren „überwiegend schlicht“ waren.278 Wie es der Zufall will, publizierten die Buderus’schen Eisenwerke 1926, also genau in dem Jahr, als die zweite Auflage von 278 Julia Schrader, Radiatoren. Gusseiserne Heizkörper, Suderburg-Hösseringen 2002, S. 65.
118 V. Carl Schmitts Heizkörper: Reaktionäre Sachlichkeit
Schmitts Schrift erschien, eine Art Almanach, der den funktionalistischen „Fortschritt“ im Heizungsgewerbe unfehlbar dokumentiert: „Abmessungen und Formgebung der Radiatoren sind den Bedürfnissen der Heizungstechnik angepasst und werden fortlaufend nach der wechselnden Geschmacksrichtung und den fortschreitenden Erkenntnissen der Wissenschaft weiter entwickelt. Beide Ursachen vereint haben z. B. das vollständige Verschwinden der verzierten Heizkörper bewirkt.“279 Ob Schmitt den Text kannte oder nicht, ist natürlich für das Verständnis seines staatsrechtlichen Œuvres völlig unerheblich. Immerhin wird deutlich, dass die Kundschaft selbst von einem Hersteller so profaner Gebrauchsgegenstände wie Heizkörper ein Bekenntnis zum Funktionalismus erwartete, obwohl erbauliche Flammen- oder Blümchenornamente den Gebrauchswert eines Radiators so wenig erhöhen wie vermindern und eine Heizung mit Verzierungen in jedem Fall funktionaler ist als gar keine Heizung. Aber um Funktionalität ging es eben in Wahrheit überhaupt nicht mehr. In der Logik des Über-Funktionalismus war die Abwesenheit des Ornaments wichtiger als der Gegenstand selbst. Wie in der guten, alten Zeiten spielte die Inszenierung der Form die Hauptrolle. Das galt auch für Heizkörper, wie der nicht unbedingt bedienungsfreundlich montierte, dafür aber blank polierte Radiator im „Bauhaus“ zu Dessau offenbart (Abb. 23). Adolf Loos, der inzwischen ergraute Doyen der Ornamentkritik, schlug regelmäßig die Hände über den Kopf zusammen, wenn er derartige Entgleisungen des Formwillens zu Gesicht bekam. Als er vor vielen Jahren das allmähliche Verschwinden des Ornaments prophezeit habe, klagte er 1924, habe er „damit niemals gemeint, was die Puristen ad absurdum getrieben haben, dass das Ornament systematisch und konsequent abzuschaffen sei“.280 279 Buderus-Lollar-Kalender,
Bd. 19, Wetzlar 1926, S. 149. Loos, Ornament und Erziehung (1924), in: ders., Ornament und Verbrechen. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Adolf Opel, Wien 2000, S. 212–217, 215 f. 280 Adolf
2. Modernisierte Feindbilder119
Abb. 23: Wand mit Heizkörper, Bauhaus zu Dessau
Freilich ist das Anbringen von Heizkörpern über Türen eine harmlose Angelegenheit verglichen mit der Beseitigung der parlamentarischen Demokratie. Gleichwohl besteht ein Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen, denn der radikalisierte Funktionalismus stellte die Denkfiguren zur Verfügung, die unentbehrlich waren, um allein aus dem Vorhandensein (tatsächlich oder vermeintlich) überlebter parlamentarischer Usancen die Berechtigung abzuleiten, alle Errungenschaften des modernen Verfassungsstaats der Vernichtung Preis zu geben.
VI. Sinnliches Staatsdenken – Epilog Schon die Allgegenwart einer auf den eigenen Körper und die sinnlich erfahrbare Umwelt bezogenen Metaphorik ist Grund genug, einen verbreiteten, oft gar nicht mehr reflektierten Interpretationsansatz zum Verhältnis von äußerer und innerer Welt in Frage zu stellen, die Vorstellung nämlich, dass politische, juristische oder philosophische Konzepte unsere materielle Kultur formen. Oft lesen wir, diese oder jene Architektur, Mode oder Musik sei Ausdruck dieser oder jenen Glaubenslehre, Staatsform oder Ideologie. So soll sich in den Tanz- und Tischsitten des Mittelalters ein theologisch tradiertes Gesellschaftsmodell spiegeln, in der Gartenkunst der späten Barockzeit die absolutistische Staatsauffassung, in der Architektur des Dritten Reiches die nationalsozialistische Ideologie, in der postmodernen Kunst der libertäre Zeitgeist usw. Wenn wir indes die von der kognitiven Linguistik und Psychologie jüngst hervorgehobene elementare Bedeutung sinnlich gebundener Ausdrücke und Denkfiguren in Rechnung stellen, spricht einiges dafür, dass es sich häufig genau anders herum verhält – kopernikanisch gewendet: Nicht der Sternenhimmel der materiellen Kultur dreht sich um das abstrakte Denken, sondern dieses rotiert um die Wahrnehmungsgewohnheiten und äußeren Lebensumstände, deren Licht es empfängt und absorbiert. Das, was uns umgibt und den Empfindungen zugänglich ist, nimmt freilich auf durchaus verschiedene Weise auf unser Denken Einfluss. Anregungen beziehen wir sowohl aus der unmittelbaren als auch aus der mediatisierten, also bereits reflektierten Anschauung (etwa in Gestalt von Stilmaximen oder anderen Memen mit sinnlichen Bezügen).
VI. Sinnliches Staatsdenken – Epilog121
Allen voran die Idee des Staates speist sich aus den alltäglichen Erlebnissen im Umgang mit Form und Materie, denn der Staat als solcher hat keine reale Existenz: Wir können ihn weder sehen noch hören, riechen, fühlen oder schmecken. Nur weil wir über die Fähigkeit verfügen, den Staat uns so vorzustellen, als ob wir ihn sinnlich erfahren können, nur deshalb erkennen wir ihn als Realität an, der wir uns unterwerfen, für die wir Kriege führen und auf deren Beistand wir hoffen. So gesehen sind die Ideale „guter“ Staatsorganisation immer auch versteinerte Abdrücke längst vergangener Sinneswelten, die teilweise, keinesfalls jedoch in ihrer Totalität rekonstruiert und wieder zum Leben erweckt werden können. Sinnlich gebundenes Denken stellt als solches keine Bedrohung für eine rationale Problemlösung dar, sie ist sogar deren Voraussetzung – unter der Bedingung, dass die Abläufe und Ergebnisse kognitiver Grenzüberschreitungen fortwährend überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden. Nur wenn derartige Schutzmechanismen diskreditiert und außer Gefecht gesetzt sind, wie dies in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts teilweise der Fall war, nur dann kann ein irrationaler Ästhetizismus sich ausbreiten und Schaden anrichten. Die Botschaft des Cartoons von 1929 (Abb. 1) ist nach alledem subtiler und das Anliegen ernster als es zunächst erscheint. Wenn im Untertitel von der „Erneuerung der Fassade“ die Rede ist, dann trifft dies die Neue Sachlichkeit in ihrem Kern, denn nach ihrem Selbstverständnis renoviert sie keine Fassaden, sondern erschafft die Sache selbst – „stillos“, ohne zeitgebundene, individuelle Zutaten. Dieser Gewissheit hält der Cartoon den Spiegel vor und stellt sie als Selbsttäuschung bloß. Der stolze Hausbesitzer Gieselmann ist in Wahrheit der „Form an sich“ kein Stück näher gekommen. Das für sich genommen wäre noch kein Unheil, wenn nicht der Glaube an die Objektivität des „modernen Stils“ die Neigung befördert hätte, auch den idealen Staat in den Kategorien der unsachlichen Sachlichkeit zu vermessen. An
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VI. Sinnliches Staatsdenken – Epilog
die Stelle der politischen Rationalität trat die Fassade der Rationalität in Gestalt von politisch gedeuteten ästhetischen Qualitäten wie „Klarheit“, „Funktionalität“, „Geradlinigkeit“ und „Schlichtheit“. Solche ästhetischen Qualitäten definieren selbstverständlich nur eine Art kognitiven Rahmen, einen überdies meist weit gespannten Rahmen, der abweichende Ausgestaltungen und Konkretisierungen zulässt. Von der Ambivalenz der Klassischen Moderne als ein übergreifendes Sinn stiftendes Phänomen zeugt der Umstand, dass – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – sowohl Anhänger des liberalen Rechtsstaats als auch solche autoritärer Regime Essenzen dieser Moderne konzeptionell verwerteten, sei es, dass das spezifisch moderne Streben nach der reinen, authentischen Form als Inspirationsquelle diente, sei es, dass die Annahmen des Minimalismus und Funktionalismus Pate standen. Doch auch ein weit gespannter Rahmen ist und bleibt ein Rahmen, der Grenzen zieht und auf die Weise den politischen, ethischen und juristischen Diskurs manipuliert. Selbst wenn einmal eine populäre ästhetische Maxime alle relevanten Positionen im gleichen Umfang begünstigt oder benachteiligt, kommt ihr insoweit ein Eigengewicht zu, als die Befähigung, sie sich entschlossen und schnell – schneller als die Konkurrenz – anzueignen und in den Dienst der eigenen Sache zu stellen, entscheidend für den Erfolg einer Kam pagne sein kann. Den Staat der Klassischen Moderne hat es also nicht gegeben, wohl aber eine charakteristische Material- und Formensprache, die man – auf unterschiedlichen Wegen und mit unterschiedlichen Ergebnissen – in eine zeitgemäße, „moderne“ Staats(formen)lehre zu übersetzen versuchte, ein Unterfangen, das deshalb aus dem Ruder lief, weil es sich mit den chiliastischen Erwartungen der Designtheologie verband, mit der Hoffnung, Staat und Recht für alle Zeiten aus dem politischen pro-fanum herauszulösen.
Abbildungsnachweise Abb. 1: Hermann Abeking, „Modernisierung: Der Hausbesitzer Gieselmann vor und nach der Erneuerung seiner Fassade“, in: Berliner Illustrierte Zeitung vom 8. Dezember 1929 (Nr. 49), S. 2232. Abb. 2: Bruno Taut, Panorama der Stadtkrone, in: Bruno Taut, Die Stadtkrone. Mit Beiträgen von Paul Scheerbart, Erich Baron, Adolf Behne, Jena 1919. Abb. 3: Glaspavillon von Bruno Taut auf der Werkbundausstellung in Köln von 1914, in: Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1915, S. 82. Abb. 4: Solfac-Galvano-Glas- und Solfac-Glasbaustein-Reklame um 1920, in: Fritz Neumeyer, Glasarchitektur. Zur Geschichte des gläsernen Steins, Bauwelt 73 (1982), S. 1072–1079. Abb. 5: Monument der III. Internationale von Wladimir Tatlin (Modell), in: Larissa Alexejewna Shadowa (Hrsg.), Tatlin, Weingarten 1987. Abb. 6: Sergej Eisenstein, Skizze zum Filmprojekt „Glashaus“, Russisches Staatliches Archiv für Literatur und Kunst (RGALI), in: Oksana Bulgakowa, Sergej Eisenstein – drei Utopien. Architekturentwürfe zur Filmtheorie, Berlin 1996. Abb. 7: Geometrietafel aus einem Schulbuch, in: Le Corbusier, Urbanisme, Nouvelle Édition, Paris 1966 © FLC / VG BildKunst, Bonn 2012. Abb. 8: Le Corbusier, Skizze der „Natürlichen Hierarchien“, in: Le Corbusier, La Ville Radieuse. Éléments d’une doctrine d’urbanisme pour l’équipement de la civilisation machiniste, Réimpression, Paris 1964 © FLC / VG Bild-Kunst, Bonn 2012. Abb. 9: Le Corbusier, Skizze (1) der „groupe unique“, in: Le Corbusier, La Ville Radieuse. Éléments d’une doctrine d’urbanisme pour l’équipement de la civilisation machiniste, Réimpression, Paris 1964 © FLC / VG Bild-Kunst, Bonn 2012. Abb. 10: Le Corbusier, Skizze (2) der „groupe unique“, in: Le Corbusier, La Ville Radieuse. Éléments d’une doctrine d’urban
124 Abbildungsnachweise isme pour l’équipement de la civilisation machiniste, Réimpression, Paris 1964 © FLC / VG Bild-Kunst, Bonn 2012. Abb. 11: Darstellung von Zelle und Zellwachstum, in: Le Corbusier, Urbanisme, Nouvelle Édition, Paris 1966 © FLC / VG BildKunst, Bonn 2012. Abb. 12: Le Corbusier, Skizze eines „Decret“, in: Le Corbusier, La Ville Radieuse. Éléments d’une doctrine d’urbanisme pour l’équipement de la civilisation machiniste, Réimpression, Paris 1964 © FLC / VG Bild-Kunst, Bonn 2012. Abb. 13: Le Corbusier, Skizzen zur Wirkungsweise des Gesetzes, in: Le Corbusier, La Ville Radieuse. Éléments d’une doctrine d’urbanisme pour l’équipement de la civilisation machiniste, Réimpression, Paris 1964 © FLC / VG Bild-Kunst, Bonn 2012. Abb. 14: Le Corbusier, Skizze eines Auges, in: Le Corbusier, La Ville Radieuse. Éléments d’une doctrine d’urbanisme pour l’équipement de la civilisation machiniste, Réimpression, Paris 1964 © FLC / VG Bild-Kunst, Bonn 2012. Abb. 15: Adolf Kelsen (Fotografie um 1887), in: Matthias Jestaedt (Hrsg.), Hans Kelsen. Werke, Bd. 1: Veröffentlichte Schriften 1905–1910 und Selbstzeugnisse, Tübingen 2007. Abb. 16: Eintrag „Kelsen, Adolf“, Auszug aus „Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger nebst Handels- und GewerbeAdreßbuch für die k.k. Reichs-Haupt- und Residenzstadt Wien nebst Florisdorf und Jedlersdorf“, Bd. 44 / 1 (1902). Abb. 17: Thomas Cole, „The Architect’s Dream“ (1840), Toledo Museum of Art, Toledo (Ohio). Abb. 18: Annonce „Zeisser, Habiger & Comp.“, Auszug aus „Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger nebst Handelsund Gewerbe-Adreßbuch für die k.k. Reichs-Haupt- und Residenzstadt Wien nebst Florisdorf und Jedlersdorf“, Bd. 44 / 1 (1902). Abb. 19: Wiener Werkstätte, Luster, Entwurf von Josef Hoffmann (1905 / 06), in: Waltraud Neuwirth, Wiener Werkstätte: Avantgarde, Art Déco, Industrial Design, Wien 1984. Abb. 20: Speisezimmer in der Wohnung von Eugenie und Hermann Schwarzwald, Wien, Gestaltung durch Adolf Loos (1905), in: Roland L. Schachel, Burkhardt Rukschcio, Adolf Loos. Leben und Werk, Salzburg 1982; Eva B. Ottillinger, Adolf Loos. Wohnkonzepte und Möbelentwürfe, Salzburg 1994.
Abbildungsnachweise125 Abb. 21: Hermann Jahrreiß, „Wie das Reichsvolk die mittelbaren Herrschaftsträger unmittelbar oder mittelbar beruft oder ab beruft“, in: ders., System des deutschen Verfassungsrechts in Tafeln und Übersichten, Tübingen 1930. Abb. 22: Zweisäuliger Radiator, USA um 1860, in: Julia Schrader, Radiatoren. Gusseiserne Heizkörper, Suderburg-Hösseringen 2002 © Andera Antieke Design Radiators, Maastricht. Abb. 23: Wand mit Heizkörper, Bauhaus zu Dessau, © Pfeil & Koch Ingenieurgesellschaft GmbH & Co. KG, Stuttgart.
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