Poetik des Prophetischen: Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne 9783110298628, 9783110298451

This study traces the intersection between authorship and prophecy at the beginning of the 20th century as interpreted b

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German Pages 533 [536] Year 2013

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Table of contents :
I.Einleitung: Zur Wiederkehr des Propheten als Künstler in der Moderne .
II.Dichtung und Prophetie
II.1. Der Dichter als Prophet/Seher: Ursprünge und Parameter einer Poetik des Prophetischen
II.2. Prophetentum und Künstlertum in Bubers Zeitschrift Der Jude
II.3. Exemplarische Vorboten prophetischer Autorpoetiken in der Moderne
II.3.1. Nietzsches Propheten-Figuration Zarathustra: Stilles Sprechen und >WortblitzGesamtkunstwerk< - transgressive Autorpoetik
III.2. Stigma und Charisma
III.3.1 Vorbildverehrung und »Einfluss-Angst« (Harold Bloom)
III.3.2 Exkurs: Knabe und Meister - Dichter und Held
III.4. Vorbilder: Gesichter der Ideen (Friedrich Gundolf, Max Scheler)
IV Thomas Mann und Stefan George: Zwischen Prophetie und Parodie
IV.1.1. Thomas Manns Künstler-Prophet als (Ver-)Führer und >Leerstelle< (»Beim Propheten«)
IV.1.2. Abbilderkult zwischen Reklame und >Erziehung des Menschengeschlechts< (»Gladius Dei«, »Fiorenza«)
IV.1.3. Prophetische Gerichtsrede: Der Prophet als gerichteter Richter (»Das Gesetz«)
IV.2. Götter, Helden und George: Zwischen Vorbildverehrung und »Einfluss-Angst«
IV.2.1. Zum Charisma Georges: Prophetische Gesetzeskraft und »Pathos der Distanz«
IV.2.2. Vorbilder-Verdichtung
IV.2.3. Georges Prophetie-Poetik: Hypertrophes Stückwerk -Entleibung des Propheten
V Rainer Maria Rilke: Transformation prophetischer Poetiken
V.l. Rilke als Prophet - ein Blick zurück
V.2. Rilke und das Alte Testament
V.3. Der Prophet als literarisches Sujet: Prophetische Künstlerpoetiken
V.3.1. Rhetorische Kriegspoetik des >Übermenschen< (»Der Apostel«)
V.3.2. Der Prophet als Zufrühkommer: Naturpoetik (»Der Totengräber«)
V.3.3. Dichtung als Inspiration - Dichtung als Hand-Werk (Geschichten vom lieben Gott)
V.3.4. Rilkes Propheten-Vorbilder: Rodin und Cézanne
V.3.5. Prophetische Körperpoetik (Neue Gedichte)
V.3.6 Prophetische Nachklänge: Neues Sehen, neues Schreiben? (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, >JubelbriefeNovElisGriffel< Gottes: Prophetie und der messianische Expressionismus zwischen Regression und Innovation
VII.2.1 »Wolle schreiben mich mit schöner Schrift!«: Erschreiben und Geschrieben-Werden in Werfels Lyrik und Kurzprosa
VII.2.2. Sprachnot - Sprachrebellion - Sprachwitz
VII.2.3. Exkurs: Moses Körper als Zwischen-Ort (Rudolf Kaysers Moses Tod)
VII.2.4. Chaos und Form - Entseelung und Verkörperung - Entdichtung und Verdichtung
VII.3. Inspiration als Tor zur Weltchronik und zum Individuationsprozess (Höret die Stimme)
VII.3.1. Der Schriftsteller als Prophet
VII.3.2. Die Personalität des Propheten: Autonomes Subjekt versus theologische Personalität
VII.3.3. Zur Differenz von Stimme und Wort
VII.3.4. Poetik des Prophetischen: Undeutliche Zeichen -akustische Epiphanien - der musische Mensch als Klangkörper und »Trompetenschrei«
VIII.Summe: Poetik des Prophetischen - das Ende prophetischer Dichtung und ein Blick in die Zukunft
Quellen
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Poetik des Prophetischen: Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne
 9783110298628, 9783110298451

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Martina Wagner-Egelhaaf

Band 201

Gabriela Wacker

Poetik des Prophetischen Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne

De Gruyter

Diese Studie wurde als Dissertationsschrift an der Philosophischen Fakultät der EberhardKarls-Universität Tübingen 2011 angenommen. Die Publikation wurde mit Mitteln des Promotionsverbundes »Ikonen-Leitfiguren. Zur Analyse von Prozessen kultureller Normeinschreibung« unterstützt.

ISBN 978-3-11-029845-1 e-ISBN 978-3-11-029862-8 ISSN 0081-7236 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

I.

Einleitung: Zur Wiederkehr des Propheten als Künstler in der Moderne .

1

II.

Dichtung und Prophetie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1. Der Dichter als Prophet/Seher: Ursprünge und Parameter einer Poetik des Prophetischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2. Prophetentum und Künstlertum in Bubers Zeitschrift Der Jude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 3. Exemplarische Vorboten prophetischer Autorpoetiken in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.3.1. Nietzsches Propheten-Figuration Zarathustra: Stilles Sprechen und ›Wortblitz‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.3.2. Rimbauds Entgrenzungs-Sucht: Der voyant als Wortspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III.

IV.

Theoretisch-methodische Wegweiser: Der Dichter-Prophet als Grenzgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1. Prophetische Autorschaft: ›Gesamtkunstwerk‹ – transgressive Autorpoetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2. Stigma und Charisma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.1. Vorbildverehrung und »Einfluss-Angst« (Harold Bloom) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.2. Exkurs: Knabe und Meister – Dichter und Held . . . . . . . III.4. Vorbilder: Gesichter der Ideen (Friedrich Gundolf, Max Scheler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Mann und Stefan George: Zwischen Prophetie und Parodie . . . . . IV.1.1. Thomas Manns Künstler-Prophet als (Ver-)Führer und ›Leerstelle‹ (»Beim Propheten«) . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1.2. Abbilderkult zwischen Reklame und ›Erziehung des Menschengeschlechts‹ (»Gladius Dei«, »Fiorenza«). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1.3. Prophetische Gerichtsrede: Der Prophet als gerichteter Richter (»Das Gesetz«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2. Götter, Helden und George: Zwischen Vorbildverehrung und »Einfluss-Angst« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24 39 49 49 67

76 77 80 89 94 97 106 110

124 134 139 V

IV.2.1. IV.2.2. IV.2.3.

Zum Charisma Georges: Prophetische Gesetzeskraft und »Pathos der Distanz« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Vorbilder-Verdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Georges Prophetie-Poetik: Hypertrophes Stückwerk – Entleibung des Propheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

V.

Rainer Maria Rilke: Transformation prophetischer Poetiken . . . . . . . . . . . . 178 V.1. Rilke als Prophet – ein Blick zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 V.2. Rilke und das Alte Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 V.3. Der Prophet als literarisches Sujet: Prophetische Künstlerpoetiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 V.3.1. Rhetorische Kriegspoetik des ›Übermenschen‹ (»Der Apostel«). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 V.3.2. Der Prophet als Zufrühkommer: Naturpoetik (»Der Totengräber«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 V.3.3. Dichtung als Inspiration – Dichtung als Hand-Werk (Geschichten vom lieben Gott) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 V.3.4. Rilkes Propheten-Vorbilder: Rodin und Cézanne . . . . . . 218 V.3.5. Prophetische Körperpoetik (Neue Gedichte) . . . . . . . . . . . 226 V.3.6. Prophetische Nachklänge: Neues Sehen, neues Schreiben? (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, ›Jubelbriefe‹, Sonette an Orpheus) . . . . . . . . . . . . . . . . 241

VI.

Georg Trakl: Prophetische Sprachfiguren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 VI.1. Okkultes Erbe – mystisches und prophetisches Erbe bei Trakl . . . 256 VI.2. Trakl als Seher und Prophet: Inszeniertes Stigma – charismatische Beglaubigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 VI.3. Wollust der Priesterschaft – Wahrhaftigkeit des Propheten? . . . . . 296 VI.4. Prophetische Bilderfluten: Trakls Reihungsstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 VI.5. Elis und Novalis – ›NovElis‹: Ausdruck als Klage . . . . . . . . . . . . . . 306 VI.6. Elis als Prophet: Die fragmentarische Leib-Sprache des Propheten 319 VI.7. Helian als Verwandter des Elis: Schauen und Tönen. . . . . . . . . . . . . 333 VI.8. Von Hölderlin über Nietzsche und Rimbaud zu Trakl: Unreine Reinheitspoetik oder Mehrdeutigkeit als System . . . . . . . . 345 VI.8.1. Exkurs: Hölderlins poeta vates: Reinheit als Bedingung prophetischer Poetik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 VI.8.2. Trakls prophetische Poetik des Unreinen-Reinen. . . . . . . 361 VI.8.2.1. Exkurs: Rimbauds schmutziger, reinheitssüchtiger voyant 375 VI.8.2.2. Stirnzeichen: Charismatisches Stigma oder Einheit der Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 VI.8.2.3. Exkurs: »Zweideutigkeit als System« oder der stigmatisierte Künstler-Prophet bei Thomas Mann. . 384

VI

VI.8.2.4. Reinigung der Sprache – Auflösung des Propheten in Töne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 VI.9. Deutungsvoll-deutungslose Zeichen: Zur Semiotik des Dichter-Propheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 VI.10. Einflusslust: Zur Genealogie des Dichter-Propheten . . . . . . . . . . . . . 402 VI.11. Das Ende: Apokalypse der Prophetie als Kunst-Vision . . . . . . . . . . . 405 VII. Franz Werfel: Prophetisches Dichten zwischen Sprachmacht und Macht der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 VII.1. Der Dichter als ›Griffel‹ Gottes: Prophetie und der messianische Expressionismus zwischen Regression und Innovation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 VII.2.1. »Wolle schreiben mich mit schöner Schrift!«: Erschreiben und Geschrieben-Werden in Werfels Lyrik und Kurzprosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 VII.2.2. Sprachnot – Sprachrebellion – Sprachwitz . . . . . . . . . . . . . 431 VII.2.3. Exkurs: Moses Körper als Zwischen-Ort (Rudolf Kaysers Moses Tod) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 VII.2.4. Chaos und Form – Entseelung und Verkörperung – Entdichtung und Verdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 VII.3. Inspiration als Tor zur Weltchronik und zum Individuationsprozess (Höret die Stimme) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 VII.3.1. Der Schriftsteller als Prophet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .446 VII.3.2. Die Personalität des Propheten: Autonomes Subjekt versus theologische Personalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 VII.3.3. Zur Differenz von Stimme und Wort. . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 VII.3.4. Poetik des Prophetischen: Undeutliche Zeichen – akustische Epiphanien – der musische Mensch als Klangkörper und »Trompetenschrei« . . . . . . . . . . . . . 459 VIII. Summe: Poetik des Prophetischen – das Ende prophetischer Dichtung und ein Blick in die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523

VII

I.

Einleitung: Zur Wiederkehr des Propheten als Künstler in der Moderne

Drei Dinge sind es, die die Kunst unserer Tage bis ins Tiefste erschütterten, ihr ein neues Gesicht verliehen und sie vor einen gewaltigen neuen Aufschwung stellten: Die von der kritischen Philosophie vollzogene Entgötterung der Welt, die Auflösung des Atoms in der Wissenschaft und die Massenschichtung der Bevölkerung im heutigen Europa. Gott ist tot. Eine Welt brach zusammen. Ich bin Dynamit. Die Weltgeschichte bricht in zwei Teile. Es gibt eine Zeit vor mir. Und eine Zeit nach mir. Religion, Wissenschaft, Moral — Phänomene, die aus Angstzuständen primitiver Völker entstanden sind. Eine Zeit bricht zusammen. Eine tausendjährige Kultur bricht zusammen. Es gibt keine Pfeiler und Stützen, keine Fundamente mehr, die nicht zersprengt worden wären. Kirchen sind Luftschlösser geworden. Überzeugungen, Vorurteile. Es gibt keine Perspektive mehr in der moralischen Welt. Oben ist unten, unten ist oben. Umwertung aller Werte fand statt. Das Christentum bekam einen Stoß. Die Prinzipien der Logik, des Zentrums, Einheit und Vernunft wurden als Postulate einer herrschsüchtigen Theologie durchschaut. Der Sinn der Welt schwand. Die Zweckmäßigkeit der Welt in Hinsicht auf ein sie zusammenhaltendes höchstes Wesen schwand. Chaos brach hervor. Tumult brach hervor. Die Welt zeigte sich als ein blindes Über- und Gegeneinander entfesselter Kräfte. Der Mensch verlor sein himmlisches Gesicht, wurde Materie, Zufall, Konglomerat, Tier, Wahnsinnsprodukt abrupt und unzulänglich zuckender Gedanken. Der Mensch verlor seine Sonderstellung, die ihm die Vernunft gewahrt hatte. Er wurde Partikel der Natur, vorurteilslos gesehen ein Wesen frosch- oder storchenähnlich, mit disproportionierten Gliedern, einem vom Gesicht abstehenden Zacken, der sich Nase nennt, abstehenden Zipfeln, die man gewohnt war ›Ohren‹ zu nennen. Der Mensch, der göttlichen Illusion entkleidet, wurde gewöhnlich, nicht interessanter als ein Stein es ist, von demselben Gesetze aufgebaut und beherrscht, er verschwand in der Natur, man hatte alle Veranlassung, ihn nicht zu genau zu besehen, wenn man nicht voller Entsetzen und Abscheu den letzten Rest von Achtung vor diesem Jammer-Abbild des gestorbenen Schöpfers verlieren wollte. Eine Revolution gegen Gott und seine Kreaturen fand statt. Das Resultat war eine Anarchie der befreiten Dämonen und Naturmächte. Die Titanen standen auf und zerbrachen die Himmelsburgen. […] Und als ein weiteres Element traf zerstörend, bedrohend, mit dem verzweifelten Suchen nach einer Neuordnung der in Trümmer gegangenen Welt zusammen: die Massenkultur der modernen Großstadt. Das individuelle Leben starb, die Melodie starb. Der einzelne Eindruck besagte nichts mehr. Komplektisch drängten die Gedanken und Wahrnehmungen auf die Gehirne ein, symphonisch die Gefühle. Maschinen entstanden und traten anstelle der Individuen. Komplexe und Wesen entstanden von übermenschlicher, überindividueller Furchtbarkeit. Angst wurde ein Wesen mit Millionen Köpfen.1

1

H. Ball, Kandinsky. Vortrag gehalten in der Galerie Dada (Zürich, 7. April 1917). In: Ball, Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, hg. und mit einem Nachwort versehen von Hans Burkhard Schlichting, Frankfurt am Main 1984, S. 41–53, S. 41f.

1

Mit dieser eindringlich vorgetragenen Bestandsaufnahme einer aus den Fugen geratenen Welt kommentiert der zeitkritische Begründer des Dadaismus, Hugo Ball, in seinem in der Galerie Dada in Zürich gehaltenen »Kandinsky-Vortrag« (1917) anschaulich die Bandbreite der grundlegenden Erschütterungen und ›narzisstischen Kränkungen‹, die den modernen Menschen bedrängen. Ein besseres und umfassenderes Zeitkolorit um die Jahrhundertwende und ihre Nachwehen ist schwerlich zu finden. Was kennzeichnet diese Zeit? Ball hebt mit aller Vehemenz drei gravierende Einschnitte hervor, die den tumultartigen Zusammenbruch der ›alten Welt‹ und eine grundlegende Erschütterung der Kunst initiieren: erstens die im Wesentlichen von philosophisch-kritischer Seite aus, namentlich von Friedrich Nietzsche verkündete »Entgötterung der Welt«, damit einhergehend seine von Kant vorbereitete, grundlegende Metaphysikkritik sowie seine provokative ›Umwertung aller Werte‹;2 zweitens die positivistische These von der Infragestellung letzter Einheiten wie des Atoms (von der Entdeckung des Neutrons durch Joseph John Thomson 1897 angestoßen); und drittens sozial-gesellschaft liche Prozesse wie den der Urbanisierung.3 Im Zuge dessen wird die Stellung des einst ›himmlischen‹ Menschen unterminiert; die vormalige ›Krone der Schöpfung‹ ist zum ›Komplex‹4, zur Materie, zum geradezu grotesk wirkenden Tier degradiert: »Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch«5, dichtet Gottfried Benn passend. Was bleibt vom Menschen? Eine Art reduziertes Endprodukt: L’ homme machine;6 eine negativ konnotierte Variante des homo natura7. Neben der Demontage Gottes und seiner geschändeten Schöpfung 2 3

4

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2

Vgl. dazu genauer die Ausführungen im Kapitel II.3.1. Vgl. dazu stellvertretend: Gotthart Wunberg, Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Moderne. Zum 70. Geburtstag des Autors, hg. von Stephan Dietrich, Tübingen 2001, S. 48ff.; Silvio Vietta u. Hans-Georg Kemper, Expressionismus, München 19976, S. 134ff. u. S. 259ff.; Dorothee Kimmich u. Tobias Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, Darmstadt 2006, S. 7ff. u. S. 19ff.; Elena Agazzi, Religion und Geistlichkeit im Werk von Hugo Ball. In: Ästhetik – Religion – Säkularisierung, Bd. 2: Die klassische Moderne, hg. von Silvio Vietta u. Stephan Porombka, unter Mitarbeit von Sanne Ziethen, München 2009, S. 125–138, S. 128f. Der bekannteste Vertreter des Monismus und des Positivismus, Ernst Mach, beschreibt in seiner Analyse der Empfindungen provokativ die ›Unrettbarkeit‹ des Ich (im Sinne einer steten Wandelbarkeit des Ich), das lediglich ein Komplex von Empfindungen sei (vgl. E. Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen [1886]. Nachdruck der 9. Auflage, Jena 1922, Darmstadt 1987; dazu stellvertretend Kemper, Vom Expressionismus zum Dadaismus. Eine Einführung in die dadaistische Literatur, Kronberg/ Taunus 1974, S. 110f.; Kimmich u. Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 40f.). G. Benn, Der Arzt. In: Benn, Sämtliche Werke, Stuttgarter Ausgabe, Bd. 1: Gedichte 1, in Verbindung mit Ilse Benn hg. von Gerhard Schuster, Stuttgart 1986, S. 14–15, S. 14. Vgl. Julien Offray de La Mettrie, L’ homme machine / Die Maschine Mensch. FranzösischDeutsch. Übersetzt und hg. von Claudia Becker, Hamburg 2009. Vgl. zum homo natura ausführlich: Wolfgang Riedel, ›Homo natura‹. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin; New York 1996.

wankt insbesondere der Grundpfeiler des verunglimpften Geschöpfes, seine Individualität, welche von einer Anonymität absorbiert wird, die wiederum in den Massenkulturen der modernen Großstadt ihren adäquaten Ort zu finden scheint.8 Das von Wahrnehmungs- und Reizüberflutungen verstörte Ich sieht sich mit »abstrakte[n] Dämonen«9 konfrontiert. Insofern sei Angst die vorrangig freigesetzte Emotion, die die Menschen beherrsche. Aus diesem apokalyptischen Szenario,10 der Diagnose einer ›Zeitkrankheit‹, die eine unvergleichliche Erosion und vielerlei Defizienzgefühle (im Rückblick auf die Jahrhundertwende) veranschaulicht, präpariert Ball im Folgenden die Form des Künstlers als einer Figur der Grenze heraus, die genau zwischen ›alter‹ und ›neuer‹ Welt angesiedelt ist: Die Künstler in dieser Zeit sind nach innen gerichtet. Ihr Leben ist ein Kampf mit dem Irrsinn. Sie sind zerrissen, zerstückt, zerhackt, falls es ihnen nicht glückt, für einen Moment in ihrem Werke das Gleichgewicht, die Balance, die Notwendigkeit und Harmonie zu fi nden. […] Die stärkste Verwandtschaft haben ihre Werke noch mit den Angstmasken der primitiven Urvölker, den Pest- und Schreckensmasken der Peruaner, Australier und Neger. Die Künstler in dieser Zeit sind der Welt gegenüber Asketen ihrer Geistigkeit. Sie führen ein tief verschollenes Dasein. Sie sind Vorläufer, Propheten einer neuen Zeit. Ihre Werke tönen in einer nur erst ihnen bekannten Sprache. Sie stehen im Gegensatz zur Gesellschaft wie die Ketzer des Mittelalters. Ihre Werke philosophieren, politisieren, prophezeien zugleich. Sie sind Vorläufer einer ganzen Epoche, einer neuen Gesamtkultur. Man versteht sie schwer und nur dann, wenn man die innere Basis ändert, wenn man bereit ist, zu brechen mit der Tradition eines Jahrtausends. Man versteht sie nicht, wenn man an Gott glaubt statt an das Chaos. Die Künstler in dieser Zeit wenden sich gegen sich selbst und gegen die Kunst. Auch die letzte, bisher unerschüttertste Basis wird ihnen Problem. Wie können sie noch nützlich sein, oder versöhnlich, oder beschreibend oder entgegenkommend? Sie lösen sich ab von der Erscheinungswelt, in der sie nur Zufall, Unordnung, Disharmonie wahrnehmen. Sie verzichten freiwillig auf die Darstellung von Naturalien, die ihnen von allem Verzerrten das Verzerrteste scheinen. Sie suchen das Wesentliche, Geistige, noch nicht Profanierte, den Hintergrund der Erscheinungswelt, um dies, ihr neues Thema, in klaren, unmißverständlichen Formen, Flächen und Gewichten abzuwägen, zu ordnen, zu harmonisieren. Sie werden Schöpfer neuer Naturwesen, die kein Gleichnis haben in der bekannten Welt. Sie schaffen Bilder, die keine Naturnachahmung mehr sind, sondern eine Vermehrung der Natur um neue, bisher unbekannte Erscheinungsformen und Geheimnisse. Das ist der sieghafte Jubel dieser Künstler, Existenzen zu schaf-

8

9 10

Vgl. stellvertretend zur Großstadt in der Moderne: Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben. In: Simmel, Gesamtausgabe, hg. von Ottheim Rammstedt, Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, hg. von Rüdiger Kramme, Frankfurt am Main 1995, S. 116–131; Lothar Müller, Die Großstadt als Ort der Moderne. In: Die Unwirklichkeit der Großstädte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, hg. von Klaus R. Scherpe, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 14–36. Ball, Kandinsky, S. 43. Vgl. zu den apokalyptischen Bildern dieser Zeit in der Literatur ausführlich: Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988; Vondung, Mystik und Moderne. Literarische Apokalyptik in der Zeit des Expressionismus. In: Die Modernität des Expressionismus, hg. von Thomas Anz u. Michael Stark, Stuttgart; Weimar 1994, S. 142–150.

3

fen, die man Bilder nennt, die aber neben einer Rose, einem Menschen, einem Abendrot, einem Kristall gleichwertigen Bestand haben.11

Die Künstler sind nicht nur von ihrer Zeit affiziert und dementsprechend zerrüttet, sondern an ihnen zeichnet sich bereits nebulös ein Aufbruch ab. Als Katalysator einer Neuordnung des disharmonischen Chaos durch einen Prozess der Vergeistigung fungiert der ketzergleiche Künstler, der bezeichnenderweise als ›Prophet‹ einer neuen, abstrakten Kunst vorgestellt wird. Denn wie die Künstler der Zeitenwende ist der Prophet eine Figur des Dazwischen; seine ›tönende Sprache‹ verstehen allerdings nur Eingeweihte. Im Gegensatz zu diesen unvollkommenen Propheten12, die indes schon richtungsweisend sind, verkörpert der vom kubistischen Orphismus beeinflusste Maler und Dichter der Klänge13 sowie Kunsttheoretiker des ›neuen Klangs‹, des »Gefühl[s] des Guten« und der »innere[n] Notwendigkeit«,14 der Synästhet und Verfechter der akustischen Wahrnehmung von Farben und der visuellen Wahrnehmung von Klängen, Wassily Kandinsky (1866–1944), den ›wahren Propheten‹. Ausgehend von einer Verknüpfung von gravierendem Zeitenwandel und einer Aufschwung versprechenden Kunstwende verweist Ball emphatisch auf diesen einzigartigen Künstler-Propheten – seine Hoffnungsvision vom Retter: In der Figur Kandinskys sind die einleitend charakterisierten Künstler-Propheten, etwa die Kubisten, noch gesteigert; er stellt deren Vollendung dar, da er in radikaler Form »alles Gegenständliche als unrein ablehnte und auf die wahre Form, den Klang der Dinge«15 abhebt. Er ist für Ball der ausgezeichnete Vertreter eines neuen Kunst-Konzepts, wonach das Wesentliche, das Geistige, die Essenz zu fokussieren ist. Genauer gesagt stellt er einen von der »innere[n] Notwendigkeit«16 begrenzten ›Schöpfer‹ von künstlerischen Gegenwelten in einer gottlosen Zeit dar:17 einen modernen Propheten und »Mönch«18 der neuen Kunst. Deswegen sei seine »Persönlichkeit«19 als ›Heilsbringer‹ zu verehren, zumal er zu seiner Zeit als Verfasser »der spirituellsten Bücher«20 gilt:

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Ball, Kandinsky, S. 43f. Denn während diese eine »blinde demiurgische Anmaßung des Künstlers« betrieben, sei Kandinsky »Kritiker seines eigenen Werkes und seiner Zeit« (Agazzi, Religion und Geistlichkeit im Werk von Hugo Ball, S. 131). Vgl. zur negativen Sichtweise Balls auf diese Künstler im Zuge seiner Kritik am Pessimismus eines Luther, Böhme und Nietzsche: Agazzi, Religion und Geistlichkeit im Werk von Hugo Ball, S. 128ff. Zu seiner Kritik an Nietzsches AskeseKritik: Agazzi, Religion und Geistlichkeit im Werk von Hugo Ball, S. 134f. Vgl. W. Kandinsky, Klänge, München 1913. Vgl. Ball, Kandinsky, S. 44f.; Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, insbesondere in der Malerei, Bern o.J. (zuerst München 1911, datiert 1912). Ball, Kandinsky, S. 44. Ball, Kandinsky, S. 45. Vgl. Ball, Kandinsky, S. 46. Ball, Kandinsky, S. 44. Neben dem Prinzip der »innere[n] Notwendigkeit« bestehe das Kunstwerk schließlich aus drei Elementen: Zeit, Persönlichkeit und Kunstprinzip (Ball, Kandinsky, S. 46). Ball, Kandinsky, S. 45.

Kandinsky ist Befreiung, Trost, Erlösung und Beruhigung. Man sollte wallfahren zu seinen Bildern: sie sind ein Ausweg aus den Wirren, den Niederlagen und Verzweiflungen der Zeit. Sie sind Befreiung aus einem zusammenbrechenden Jahrtausend. Kandinsky ist einer der ganz großen Erneuerer, Läuterer des Lebens.21

So verankert Ball seine Vorstellung von Kunst als moderner Prophetie in der prophetenhaften Künstler-Gestalt Kandinskys. Angesichts eines solch sakral aufgeladenen Künstler-Propheten-Porträts ist ersichtlich, wie Kunst und Prophetie gerade in der Moderne eine vielversprechende Allianz eingehen können, die es sogar vermag, das Leben zu läutern. Dies mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen. Denn der Künstler als Prophet sowie als Seher, der poeta vates,22 d.h. ein von Gott inspirierter und zum Wahrsagen befähigter Sänger oder Künstler, ist ein altbekanntes Autorschaftsbild, das in der Moderne indes längst überholt zu sein scheint.23 Folglich könnten die Beschwörungen von Künstler-Propheten in einer vom Transzendenzverlust geprägten Moderne als obsolete, archaische Gebilde einer überlebten Zeit anmuten, welche in einer ›entzauberten Welt‹ keinen berechtigten Platz finden oder allenfalls noch zur Persiflage taugen können.24 Zentrale Charakteristika und Leistungen des poeta vates-

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Ball, Kandinsky, S. 45. Vgl. zur Etymologie des Begriffs vates Hellfried Dahlmann, Vates. In: Philologus, 97, 1948, S. 337–353. Vgl. zum Begriff des ›Propheten‹: Ulrich Dierse, Reinhold Glei u. Hans-Ulrich Lessing, Art. Prophetie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Basel 1989, Bd. 7, Sp. 1473–1481. Vgl. die folgenden Ausführungen in Kapitel II.1. Revitalisierte Prädikate und Ansprüche klassischer Propheten (als ausgewählter Führungspersonen) auf übernatürliches Wissen, prognostizierende Kompetenz, charismatische Führungsqualität, autoritären Gestus des monologischen Sprechers hinsichtlich einer ihnen untergeordneten Gemeinde nach dem Siegeszug wissenschaftlicher Parameter, die per se präreflexive Wissensansprüche negieren, scheinen zunächst regressiver Natur zu sein. Sie sind dementsprechend seit Beginn der Neuzeit einer massiven Kritik unterzogen worden. Schon Thomas Hobbes sieht die Gefahrenpotentiale prophetischer Künder und weist auf ihren naturwüchsigen, ehrgeizigen Regierungsanspruch über Menschen hin (vgl. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. und eingeleitet von Iring Fetscher. Übersetzt von Walter Euchner, Frankfurt am Main 1966, S. 331–333; vgl. zu weiteren prominenten Kritikern des Prophetentums (wie Kant, Nietzsche, Popper): Dierse, Glei, Lessing, Art. Prophetie. Vgl. Werner Frick: »Die Berufung auf ein ›Wissen‹ aus übernatürlicher Quelle und von unbezweifelbarer Geltung mußte sowohl aus der Perspektive empirisch-regelgeleiteter Wissenschaft als auch aus der Sicht kultureller weltbildpraktischer Tendenzen zur Säkularisierung und Entzauberung befremden, sie konnte nunmehr psychologisch ›hinterfragt‹ und als narzißtische Pose, Scharlatanerie oder Strategie zynischer self-promotion entlarvt werden« (W. Frick, Poeta vates. Versionen eines mythischen Modells in der Lyrik der Moderne. In: Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, hg. von Mathías Martínez, Paderborn; München u.a. 1996, S. 125–162, S. 130f.).

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wie des Dichter-Propheten-Modells erscheinen »aus der Optik neuzeitlicher Epistemologien«25 geradezu anachronistisch.26 Was können also Propheten und Künstler außer ihrer Eigenschaft, eine brüchige Zeit hellsichtig zu geißeln, noch gemeinsam haben – und dies insbesondere angesichts der auch von Ball angesprochenen ›entgötterten‹ Welt? Man könnte Kandinsky schließlich auch schlicht als genialen Künstler bezeichnen. Dessen Künstlertum geht aber bei genauerem Hinsehen tatsächlich nicht reibungslos im Begriff des eigenmächtig agierenden ›Genies‹27 auf. Denn seine Auffassung von einer anarchistisch geprägten Freiheit zur Eigenregie ist durch ein quasi göttliches Gesetz, das paradox klingende »freiheitliche Prinzip der inneren Notwendigkeit«28, reguliert, wonach Anarchie und Planmäßigkeit geradezu mystisch zusammenfallen:29 »Die ›innere Notwendigkeit‹ allein gibt der freien Intuition Grenzen, die innere Notwendigkeit bildet die äußere, sichtbare Form des Werkes.«30 Kandinskys Prinzip der »innere[n] Notwendigkeit«31 fungiert geradezu als ›neuer Gott‹, als Regisseur des Künstlers, dessen inspiratives Schaffen damit durch eine Gegengröße begrenzt ist. Dementsprechend ist der anarchistische Künstler als Ordnungsprinzip in einer deregulierten Umgebung aufgerufen. Und zu dieser spezifischen Vorstellung vom Künstler, der einerseits frei, kreativ, revolutionär-zeitkritisch, zukunftsorientiert und ordnungsstiftend schafft und andererseits einem notwendigen Kunst-Gesetz – der Form – unterworfen ist, ist der Begriff ›Prophet‹ in seiner säkularen Verwendungsweise tatsächlich passend gewählt. Denn das individualistisch-rebellische Schaffen des Künstlers ist ebenso an ein oberstes Prinzip gebunden, wie der alttestamentliche Prophet seinem Gott als einem ihn regulierenden Prinzip verschrieben ist.32 Balls Applikation der Mönch- und Propheten-Figur auf Kandinsky kommt des Weiteren nicht von ungefähr, sondern ist durch ein theosophisch-gnostisches Wissen fundiert, über das beide verfügen. Ball hält nämlich an anderer Stelle fest, dass »die modernen Künstler Gnostiker sind«33. Michael Pauen hat detailliert nachgewiesen, dass Kandinsky – übrigens wie Hugo Ball – sich für die theosophischen Schriften Rudolf Steiners (1861–1925) interessiert hat, er das Gefühl der Ekstase im Verlauf seiner Kunstproduktionen mehrfach schildert und gnostisches Denken adaptiert, das al-

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Frick, Poeta vates, S. 130. Vgl. Gunter Scholtz, Die Weltbilder und die Zukunft. Prophetie – Utopie – Prognose. In: Scholtz, Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften, Frankfurt am Main 1991, S. 332–357. Vgl. zur Darstellung des Genies in der Literatur: Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, 2 Bde., Darmstadt 1988. Ball, Kandinsky, S. 50. Vgl. Ball, Kandinsky, S. 45. Ball, Kandinsky, S. 46. Ball, Kandinsky, S. 46. Vgl. zu den typischen Charakteristika des Propheten: Dierse, Glei, Lessing, Art. Prophetie. Ball, Die Flucht aus der Zeit, Luzern 1956, S. 144.

lerdings nicht in einer »strukturellen Affinität zur Gnosis«34 münde.35 Dieser letztgenannte Befund, den Pauen in seiner Gnostizismus-Studie mehrfach einräumt,36 verleitet dazu, den teilweise überstrapazierten Begriff ›Gnostizismus‹ durch die weniger enge Begrifflichkeit ›Kunst-Prophet‹ zu ersetzen.37 Mit den oben aufgezeigten Charakteristika, die Ball dem »Mönch«38 Kandinsky als prophetischem Künstler der ›reinen Form‹ attestiert, sind nahezu die wichtigsten und typischen Merkmale des modernen Künstler-Propheten aufgezählt, der in dieser Zwischenzeit breitflächig in Erscheinung tritt, ohne dass dieser Figur eine bestimmte spirituelle Strömung als enges Korsett zu Grunde liegen muss; auf die Vorstellung vom Künstler als Propheten der (neuen) Kunst sind nämlich vielerlei Denkströmungen applizierbar. Pauen selbst beobachtet teilweise die »gnostische Selbstermächtigung« anhand prophetischer Künstler: »Die Künstler, aber auch die philosophischen Autoren sehen sich vielfach 34 35 36

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M. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne, Berlin 1994, S. 127. Vgl. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 126f. Pauens Studie widmet sich der gnostischen Denkfigur, die durch einen ausgeprägten (sekundären) Kulturpessimismus, eine radikale Kritik an der Öffentlichkeit, das Bewusstsein der Auserwähltheit und Selbstermächtigung des Künstlers mit eschatologischen Zukunftshoffnungen, geprägt vom gnostischen Dualismus zwischen ›Licht‹ und ›Dunkel‹, Geist und Materie u.a. gekennzeichnet sei. Pauen geht davon aus, dass die Adaptionen gnostisch-antiker Vorstellungen einem modernen ›Übersetzungsprozess‹ ausgesetzt sind, woraus sich der ›Gnostizismus der Moderne‹ ableiten lasse. Einer Nachzeichnung der gnostischen Figur in der Moderne oder ihrer Adaption steht allerdings eine Hürde entgegen: Grundlegende Oppositionsgebilde wie die Antithetik von »Verfall und Erlösung, von Verblendung und Wahrheit, von Masse und Auserwähltem« (Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S.  94) oder gnostische Basismotive wie das Geworfensein (vgl. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S.  96) finden sich in vielerlei benachbarten Traditionen, etwa in (neu-)platonischen oder (neo-)mystischen Denkfiguren, so dass er seinen ausgewählten Künstlern und Philosophen (darunter Friedrich Nietzsche, Charles Baudelaire, Stéphane Mallarmé, Paul Gauguin, Wilhelm Worringer, Ludwig Klages, Ernst Bloch, Martin Heidegger) teilweise einen profunden gnostischen Denkhorizont zuletzt wieder absprechen muss. Die gnostische Denkfigur ähnelt der prophetischen, die ebenfalls nicht einem reinen Pessimismus das Wort redet, sondern die »Selbstermächtigung des Subjekts« vorstellt, so dass für beide gilt: »Die Vertreter dieser Vorstellungen sind in der Regel nicht die passiven Opfer von Krisen, als die sie häufig auftreten, sondern eher die aktiven Vorkämpfer grundsätzlicher Veränderungen. […] Jener Gestus des Opfers, mit dem die modernen Verfechter dieser Lehren zuweilen auftreten, ist damit häufig Bestandteil einer Dramaturgie, die ihren Protagonisten in der als Kampf zwischen Licht und Finsternis gedeuteten Auseinandersetzung mit etablierten Vorstellungen unterstützen soll« (Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 13). Wie zur prophetischen Ausrichtung gehören zur gnostischen eine radikale Ablehnung der Öffentlichkeit sowie eine »Diskreditierung der Empirie« (Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 128), die zudem gegen das vermeintlich fortschrittsorientierte szientifistische Wissen ausgerichtet ist, dem sie in einer Art »Paradigmenwechsel« die »ästhetische Erfahrung des Subjekts« gegenüberstellt, womit der Kunst, v.a. seit Nietzsche, geradezu das höchstwertige Wahrheitsmonopol zugeschrieben wird (vgl. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 15–16 u. S. 129). Ball, Kandinsky, S. 44.

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in der Rolle des Magiers oder des Propheten, der der verfallenen Realität in philosophischer Theorie oder ästhetischer Praxis das ›Andere‹ entgegenhält.«39 Ein systematischer Überblick über die Figur des Künstler-Propheten und seine Variationen sowie die an sie geknüpften prophetischen Kunstformen um die Jahrhundertwende stellt ein Forschungsdesiderat dar.40 Im Lexikonartikel »Poeta« im Historischen Wörterbuch der Rhetorik etwa wird ausschließlich auf eine Renaissance des modernen poeta doctus im 20. Jahrhundert hingewiesen, ohne die für diesen Zeitraum relevante Figur des poeta vates auch nur zu erwähnen.41 Bisher wurden die freigesetzten ›religiösen Energien‹ um die Jahrhundertwende entweder marginalisiert oder vornehmlich unter zugeschnittenen Blickwinkeln wie Theosophie,42 Lebensreform,43 Gnostizismus,44 Mystik und Mystizismus45 sowie Okkultismus46 und Spiritismus47 verhandelt.48 Auch Kandinsky partizipiert – wie erwähnt – an nahezu allen 39 40

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Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 128. Zeitgleich zur Fertigstellung dieser Studie fand im Rahmen des Exzellenzclusters »Religion und Politik« an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster eine Tagung zum Thema »Autorschaft und Prophetie. Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung« vom 27. bis 29. Mai 2011 statt (vgl. zur Dokumentation: Christel Meier; Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Autorschaft und Prophetie. Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung, Berlin 2013). Vorliegende Studie macht es sich zur Aufgabe, nicht nur die wichtigsten Grundpfeiler einer prophetischen Autorschaft zu sichten, sondern eine Reihe von Dichter-Propheten zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinsichtlich ihrer Prophetie-Poetiken detailliert vorzustellen und zu vergleichen. Vgl. Anke Detken, Art. Poeta. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Tübingen 2003, Bd. 6, Sp. 1289–1304, Sp. 1290, Sp. 1299. Vgl. stellvertretend: Helmut Zander, Theosophie und Anthroposophie. In: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., hg. von Kai Buchholz, Rita Latocha u. Hilke Peckmann, Darmstadt 2001, S. 433–436. Vgl. den schönen und informativen Sammelband: Buchholz, Latocha u. Peckmann (Hg.), Die Lebensreform. Vgl. grundlegend Pauen, Dithyrambiker des Untergangs. Vgl. grundlegend: Martina Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989; Wagner-Egelhaaf, Die mystische Tradition der Moderne. Ein unendliches Sprechen. In: Mystique, mysticisme et modernité en Allemagne autour de 1900 = Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900. Mit einem Vorwort von Antoine Faivre / Préface de Antoine Faivre, hg. von Moritz Baßler u. Hildegard Châtellier, Strasbourg 1998, S. 41–57; Uwe Spörl, Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende, Paderborn 1997; Moritz Baßler u. Hildegard Châtellier (Hg.), Mystique, mysticisme et modernité en Allemagne autour de 1900 = Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900. Mit einem Vorwort von Antoine Faivre / Préface de Antoine Faivre, Strasbourg 1998. Vgl. grundlegend: Priska Pytlik, Okkultismus und Moderne. Ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900, Paderborn; München u.a. 2005; vgl. Gísli Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik. Esoterische und okkultistische Modernität bei R.M. Rilke, Würzburg 2009. Vgl. grundlegend: Pytlik, Spiritismus und ästhetische Moderne. Berlin und München um 1900. Dokumente und Kommentare, Tübingen; Basel 2006. Die einzelnen Forschungsüberblicke werden am jeweiligen Ort gegeben.

Denkrichtungen, die Ball in seiner hagiographischen Hommage zwar nicht immer explizit nennt, aber reduktionistisch unter die Vorstellung vom Künstler-Propheten (oder Mönch) subsumiert. Der sich leicht einschleichende Verdacht, dass lediglich ein »ästhetischer Konservatismus um 1900«49 diese auf den ersten Blick für manche suspekt anmutenden, irrationalen Denkfiguren beerbt, ist dabei zu korrigieren. Ebenso sind nicht nur vergessene Dichter wie Theodor Däubler (1876–1934), Alfred Mombert (1872–1942), Rudolf Pannwitz (1881–1969) oder Alfred Schuler (1865–1923) als Kronzeugen für ein prophetisches Kunstverständnis um die Jahrhundertwende aufzurufen.50 Kandinsky ist ein erstes Gegenbeispiel dafür, wie eine seinerzeit revolu-

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Jan Andres, Wolfgang Braungart u. Kai Kauffmann (Hg.), Nichts als die Schönheit. Ästhetischer Konservatismus um 1900, Frankfurt am Main; New York 2007. Der Sammelband dokumentiert eine Bielefelder Tagung von 2005, deckt den Untersuchungszeitraum von 1870 bis 1933 ab und fragt übergreifend nach dem Ort des ästhetischen Konservatismus als Teil der Moderne. Dadurch gerät die Besonderheit des ästhetischen Konservatismus, der zwischen Avantgardebewusstsein und Ablehnung einer progressiven Moderne changiert, in den Blick. Am Beispiel Stefan Georges verweist W. Braungart auf die Gleichzeitigkeit von ästhetischem Avantgarde-Bewusstsein, einem ausgeprägten »Wille[n] zur Schönheit« (W. Braungart, »die schönheit die schönheit die schönheit«. Ästhetischer Konservatismus und Kulturkritik um 1900. In: Nichts als die Schönheit, S.  30–55, S.  39) und einem kulturkritischen ›ästhetischem Fundamentalismus‹ (Breuer) und Konservatismus (vgl. W. Braungart, »die schönheit«, S. 40f. u. S. 43). Denn George sei »ästhetisch eher konservativ und geschichtlich revolutionär« (W. Braungart, »die schönheit«, S. 42). Vgl. Dehmel: »In diesem Mombert scheint noch einmal die riesige Inbrunst der alten Propheten aufzubegehren«, hält etwa Richard Dehmel fest (Dehmel zitiert nach Hans Hennecke, Alfred Mombert. Eine Einführung in sein Werk und eine Auswahl, Wiesbaden 1952, S.  12). Tatsächlich liegt u.a. mit Momberts Schöpfung (1897) eine typisch prophetische Dichtung vor (vgl. Mombert, Die Schöpfung, Minden i.W. 19022, bes. S.  43f. u. S.  47f.), weswegen auch Martin Buber seine visionären Werke würdigt. Eine sonderbare Kreuzung von »Magier«, »Künstler«, »Seher«, »Eingeweihte[m]«, »Urphänomen« (Friedhelm Kemp, Nachwort. In: Theodor Däubler, Dichtungen und Schriften, hg. von Friedhelm Kemp, München 1956, S.  865–898, S.  872) und »ekstatische[m] Atlas« mit Hermes-Zügen (Kemp, Nachwort, S. 874) stellt ferner Theodor Däubler dar. Sein monumentales Epos Das Nordlicht (1910) legt von der platonisch inspirierten Sonnen-Verehrung ein Zeugnis ab. Denn: »Eigentlich heißt Dasein: Rückkehr zur Sonne« (Däubler, Die Selbstdeutung. In: Däubler, Dichtungen und Schriften, S. 519–537, S. 520). In »Delos« erläutert er den ethischen Hintergrund seiner Konzentration auf die Dynamik der Sonne: »Heute fordert uns die rechte Sonne, durch unbedingt einleuchtendes Gebot, zu göttlicher Sittlichkeit hochlodernd auf. Sie ist in unserer Vermengtheit, durch die wir Eingeweide des kommenden Greifs bleiben, der reine Stern. Als Gleichnis unlöschbarer Leidenschaft, abendlichen Opfertodes spiegelt sich das Tagesgestirn in der Seele: wir sind für die Mitte im All verantwortlich. Zum unendlichen Aufbruch bleibt also der Mensch imstande: in ihm ist die Sonne geborgen« (Däubler, Delos. In: Däubler, Dichtungen und Schriften, S. 367–429, S. 428). Und in »Der Flügel« wird der Mensch als Mundstück Gottes profiliert: »Der Mensch ist der Mund des Herrn, die Sonnen sind das Hohelob des Gehorsams« (Däubler, Der Flügel. In: Däubler, Dichtungen und Schriften, S. 193–196, S. 194). Ausgezeichnete Sprecher Gottes – neben den von Däubler stark favorisierten Figuren Orpheus und Hermes – sind die Propheten: »Jetzt erklärt sich die Sixtina mir im Geiste, / Und ich sehe die Propheten, die Sibyllen / Eifern, daß

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tionäre Kunstauffassung mit der Figur des Künstler-Propheten in Zusammenhang gebracht wird.51 Anders gesagt entspringt das Programm seiner neuen Kunst der säkular gewendeten Propheten-Figur, die – von Hugo Ball – passgenau auf den modernen Künstler appliziert wird. Für Kandinsky wie für Ball, aber auch für einen Lyriker wie Stefan George steht ihre Zeit an der »Schwelle der dritten Offenbarung«52 und ihre vorzugsweise eingesetzte Künstler-imago ist der Prophet, weil dieser ein verkannter Mahner ist, eine »für Massen unhörbare Sprache«53 spricht und seinem Profi l nach eine Reflexion auf die neuartige Kunst anstößt.54 Die vorliegende Studie beschäftigt sich im Folgenden nicht eingehend mit Hugo Ball oder mit Wassily Kandinsky. Doch scheint dieser einleitende Umweg insofern statthaft, als er den Nerv der Zeit im Allgemeinen und das Wiederaufleben der Vorstellung vom Künstler als Propheten im Besonderen trifft . Kandinskys von Ball entworfenes Künstlerbild des Propheten ist nämlich kein Einzelfall. Es ist vielmehr neben eine Vielzahl von anderen Künstler-Propheten zu stellen. Neben dem russischen Anarchisten und expressionistischen Maler Kandinsky sind nicht nur ›konservative‹ Dichter prophetischer Provenienz zu verzeichnen – etwa Stefan George und sein Kreis, denen mitunter vorgeworfen wird, dass sie ein altbekanntes und bereits etabliertes Dichterbild, das des poeta vates und des Dichter-Propheten, beerben, um

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der Tag sein stilles Lichtwerk leiste, / Denn die Welt gehorcht dem vollen Jenseitswillen« (Däubler, Michelangelo. In: Däubler, Dichtungen und Schriften, S. 813–816, S. 813). Auch Alfred Schuler feiert die unberührten ›Sonnenkinder‹, die direkten Abkömmlinge der Magna Mater als Erneuerer des Lichtreichs (vgl. Stefan Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, S. 98). Der NietzscheAdept Rudolf Pannwitz, ein Däubler-Verehrer, bezeichnet seine Deutsche Lehre (1919) selbst als »eine prophetie« (Pannwitz zitiert nach Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 123) und sein leitendes Vorbild ist natürlich Nietzsches Zarathustra (vgl. Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 126), dessen Lehre er mit seiner Krisis der europäischen Kultur noch zu übertreffen gedenkt (vgl. Pannwitz, Die Krisis der europäischen Kultur, München-Feldafing 1921). Trotz Kandinskys russisch-traditionalistisch ausstaffiertem Meisterhaus in Dessau (vgl. Jan Andres u. W. Braungart, Ästhetischer Konservatismus. Zur Einführung. In: Nichts als die Schönheit, S. 9–13, S. 9) ist Kandinsky nicht nur einem ›ästhetischen Konservatismus‹ zuzurechnen. Däubler sieht in ihm einen Verkünder der neuen ›Licht-Kunst‹ (vgl. Däubler, Kandinsky. In: Däubler, Der neue Standpunkt. Zur Kunst des Expressionismus, Leipzig; Weimar 1980, S. 134). Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 124. Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, S. 33; vgl. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 124f. Übrigens steht Kandinsky auch in Kontakt mit dem teilweise als ›konservativ‹ etikettierten George-Kreis: Er hat George nicht nur in einem Holzschnitt von 1904 porträtiert, eine langjährige Bekanntschaft mit dem bekennenden Zionisten Karl Wolfskehl (1869–1948) (vgl. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 122) dem Mitherausgeber Der Blätter für die Kunst und dem Verfasser von Orpheus (1909), Mysterien (1909) und Die Stimme spricht (1934/1936) gepflegt, sondern er versucht – Stefan George vergleichbar –, eine Epoche des Geistigen in der Kunst einzuläuten.

ihre Opposition zum Bestehenden und ihre ›Rückwärtsgewandtheit‹ zu stützen,55 oder dass sie wiederum moderne Gnostiker seien56 –, sondern eine Fülle an extravaganten Künstlern, die sich eine Restauration der Kunst mit prophetischem Impetus auf die Fahnen schreiben. Auf dem Gebiet der Bildenden Künste ist etwa an die extravagante, zwölf ›Jünger‹ umfassende Pariser Künstler-Gruppe Les Nabis zu denken, einen postimpressionistisch-symbolistischen Maler- und Männerclub um den Erforscher hebräischer Texte, Theosophen, Katholiken, Mystiker und ›Nabi mit dem Fuchsbart‹ Paul Sérusier (1864–1927).57 Als eine Art Geheimgesellschaft , wo die Adepten unter Decknamen auftreten, mit denen sie auch ihre Briefe unterzeichnen,

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Vgl. stellvertretend: Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus; Gert Mattenklott, Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, Frankfurt am Main 19852 [zuerst München 1970]. Mit Bezug auf Max Schelers Klassifikation des George-Kreises als »erotisch-religiöse[r], hocharistokratische[r] gnostische[r] Sekte« (Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens [1924]. In: Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 8: Die Wissensformen und die Gesellschaft, hg. von Maria Scheler, Bern; München 19602, S. 15–190, S. 156) nähert sich wiederum Pauen der ›Privatreligion‹ Georges, indem er vorführt, wie dieser vornehmlich an die »Apokalyptik der Gnostiker« (Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 10) anknüpfe. Zuzustimmen ist sicherlich Pauens Feststellung, dass Georges Erlösungsversprechen eher »durch ihre ästhetische Evidenz als durch inhaltliche Konkretion« beeindrucken (Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 107), also »die Abstraktheit der Vorstellung des ›Anderen‹« (Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 117) dominiert, was sich zeitweise an einer »Emanzipation vom Mimesisprinzip« (Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 128) ablesen lässt; dass sich ferner beim späten George zu der ästhetischen Minderwertigkeit der Welt ihre ethische konstatieren lässt (Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 128). Auch gilt: »Der über das geheime Wissen des Anderen verfügende einsame Mahner macht Gebrauch von der Selbstermächtigung des Subjekts« (Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S.  128). Zwar mag Georges Kulturkritik auch gnostisch inspiriert sein, doch dominiert bei ihm das Autorschaftsbild des Propheten. Feststellbar ist, dass George wie Kandinsky gnostische Motive alludiert, z.B. den Gegensatz von Geist und Materie, die Rolle des Pneumatikers als Heilsgestalt, die Gleichsetzung des Göttlichen mit dem Licht (vgl. Breuer, Zur Religion Stefan Georges. In: Stefan George. Werk und Wirkung seit dem »Siebenten Ring«, hg. von Wolfgang Braungart, Ute Oelmann u. Bernhard Böschenstein, Tübingen 2001, S. 225–239, S. 235), die ekstatische Erhebung aus dem Bestehenden (vgl. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 125) und doch bei beiden keine klare »strukturelle Verwandtschaft mit der Gnosis« (Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 116) auszumachen ist (vgl. zur Kritik an der gnostischen Untermauerung von Georges ›Religion‹: Breuer, Zur Religion Stefan Georges, S. 236f.). Der Nabi-Bund umfasst ganz unterschiedlich gestimmte, sich in Freundschaft eng verbunden fühlende Mitglieder wie den ›Japaner Nabi‹ Pierre Bonnard (1867–1947), den Protestanten, Theosophen und den ›noch japanischeren Nabi‹ Paul-Elie Ranson (1864–1909), den nüchternen Protestanten und Schweizer Félix Vallotton (1865–1925), den leidenschaftlichen Katholiken und ›Nabi der schönen Ikonen‹ Maurice Denis (1870–1943), den antiklerikalen Dreyfusianer und ›Bildhauernabi‹ Georges Lacombe (1868–1916), den Anarchisten Ker-Xavier Roussel (1867–1944), den bedeutenden Graphiker Édouard Vuillard (1868–1940) u.a., die, wie sie es durch ihre Namensgebung suggerieren, in Paris um die Jahrhundertwende – teils ernsthaft, teils spielerisch-ironisch – als selbsternannte Künstler-Propheten wirken (vgl. dazu Agnes Humbert, Die Nabis und ihre Epoche 1888–1900. Aus dem Französischen über-

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eine Geheimsprache mit hebräisch-französischem Wortschatz für ›Eingeweihte‹ pflegen, regelmäßig Sitzungen einberufen und Ritualformeln sprechen, verkünden diese Propheten – wie Kandinsky – das neue ›Evangelium‹ der Malerei.58 Stéphane Mallarmé, Arthur Rimbaud u.a. sind ihre bevorzugten Dichter,59 die auf ihre je eigene Weise ebenfalls eine mystisch-prophetische Grundierung für ihr Kunstverständnis beanspruchen.60 Insbesondere Rimbauds Profi lierung des voyant in seinen berühmten Lettres du voyant61 (1871) bezeugt, wie sehr die Identifi kation von Künstlern mit

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setzt von Katharina Scheinfuß, Dresden 1967; Claire Frèches-Thory u. Ursula PerucchiPetry, Die Nabis. Propheten der Moderne, München 1993). Vgl. Humbert, Die Nabis, S. 7, S. 25 u. S. 26ff. Ihre Werke sind von einem postimpressionistischen Stil mit Elementen des Symbolismus dominiert, die als Wegbereiter der abstrakten Kunst zu klassifizieren sind. Über Sérusier vermittelt wirken historisch breitgefächerte Quellen wie die Lehren der Beuroner Kunstschule (vgl. Humbert, Die Nabis, S. 39 u. S. 91; vgl. Annegret Kehrbaum, Die Nabis und die Beuroner Kunst. Jan/Willibrord Verkades Aichhaldener Wandgemälde (1906) und die Rezeption der Beuroner Kunst durch die GauguinNachfolger, Hildesheim; Zürich u.a. 2006; Claire Barbillon, Die Schule von Beuron und die Nabis. Spirituelle Gemeinsamkeiten, theoretische Übereinstimmungen. In: Avantgardist und Malermönch. Peter Lenz und die Beuroner Kunstschule. Ausstellungskatalog Engen, hg. von Velten Wagner, Hildesheim 2007, S. 39ff.; allgemein: Harald Siebenmorgen, Avantgarde und Restauration. Die Verbindlichkeit des ideellen Bildthemas um 1900. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Bd. 2: Um 1900, hg. von Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs u. Manfred Koch, Paderborn; München u.a. 1998, S. 233–265), einige nachwirkende Grundzüge der englischen Präraffaeliten (vgl. Humbert, Die Nabis, S. 85ff.), die Philosophie Plotins, das im Jahr 1890 erschienene Buch Die grossen Eingeweihten von Edouard Schuré (vgl. Schuré, Die grossen Eingeweihten. Geheimlehren der Religionen. Autorisierte Übersetzung von Marie von Sivers und mit den Vorworten von Rudolf Steiner, München 198618 [Im Vorwort rühmt Rudolf Steiner (1861–1925) eingangs ausführlich die Seherkraft Schurés (vgl. Vorwort von Steiner, S. 5–8), der als große Religionsstifter u.a. Hermes, Moses, Orpheus, Pythagoras, Platon und Jesus esoterisch auslegt]) und Paul Gauguins Malerei als leitendes Vorbild (vgl. Humbert, Die Nabis, S. 16ff.) in die prophetische Idee dieses Künstler-Bundes hinein (vgl. Humbert, Die Nabis, S. 21 u. S. 35), dessen Publikationsorgan für Artikel, Novellen, Gedichte, Lithographien u.a. die avantgardistische Revue Blanche der Brüder Natanson ist (vgl. Humbert, Die Nabis, S. 21, S. 29 u. S. 79). Insbesondere eine ausgeprägte Sensibilität für mysteriöse und intime Verbindungen zum Jenseits und Spekulationen über die Zahlenmystik ist ihnen zu bescheinigen (vgl. Humbert, Die Nabis, S. 89). Im Zentrum ihres Kunstinteresses steht die Suche nach figürlicher Ausdruckssteigerung durch lineargeometrische Verflächigung, Flächenfarbigkeit, die abstrakte Rhythmik der Formen, das Interesse an objektivierbaren und mathematischen Grundlagen der Komposition insgesamt und die ›Dekadenztheorie‹, d.h. das ›Zurück‹ zu den Ursprüngen bei Ägyptern und Primitionen (vgl. Humbert, Die Nabis, S. 91). Vgl. Humbert, Die Nabis, S. 88–89. Vgl. zu ihrem Interesse am Kultischen und Rituellen: W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997, S. 17ff. Vgl. Arthur Rimbaud, Brief an Georges Izambard vom 13.05.1871. In: Rimbaud, Sämtliche Werke. Französisch-Deutsch. Mit Erläuterungen zum Werk und einer Chronologie zum Leben Arthur Rimbauds, neu durchgesehen von Thomas Keck, Frankfurt am Main; Leipzig 1976, S. 393–394; Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15.05.1871. In: Rimbaud, Sämtliche Werke, S. 394–399.

dem Propheten- und Seher-Künstler-Bild en vogue ist.62 Aber auch Mallarmés nachhaltiges Interesse für Hermetik und Okkultismus ist belegt:63 Er kennt die Figur des alchimistischen magus und des gottlosen Propheten,64 erhebt den Künstler zum »Gegenspieler des Schöpfers«65, betrachtet sich nach Charles Chassé als Nachfahren der Elohim66 und befördert damit einen »ästhetischen Gegenentwurf zur Wirklichkeit«67. Davon ausgehend entwickelt er die absolute Reinheit des Werks als Inbegriff des absoluten Nichts – ähnlich wie Kandinsky die Negation des gegenständlich Materiellen durch seine Vorstellung von der »Purifi kation der Sprache«68 unterstreicht –, und fokussiert ebenso die klangliche und optische Gestalt der Worte, die sich aus der Tradition der Sprachtheorie der Illuminaten um Saint Martin herleiten lässt, wonach Wort und Wesen in der Ursprache identisch sind.69 Rimbaud und Mallarmé führen also ebenfalls vor, wie sich avantgardistische Vorstellungen einer neuen Kunst, die vom althergebrachten Mimesisprinzip emanzipiert ist, mit der Vorstellung vom Künstler als prophetischem Innovateur vereinen lassen. Mallarmé und Rimbaud können wie Kandinsky und die Pariser Nabis als Propheten eines dezidiert ästhetischen Evangeliums gelten. In ihrem Selbstverständnis als Propheten ihrer Zeit verfolgen die Künstler zudem eine Bilderpolitik, die vorbildhafte Propheten-Künstler als Leitfiguren würdigt.70 Mindestens Maurice Denis’ berühmtes Bild »Hommage à Cézanne«

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Ball hält in seinem Tagebuch seine Rimbaud-Verehrung fest: »Wir sind Rimbaudisten, ohne es zu wissen und zu wollen. Er ist der Patron unserer vielfachen Posen und sentimentalen Ausflüchte; der Stern der modernen ästhetischen Desolation« (Ball zitiert nach: Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache – Ästhetik – Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 144). Vgl. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 100–106. Vgl. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 102–103. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 102. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 103. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 103. Ball, Kandinsky, S. 53. Vgl. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 104. Die gegenseitige Bekräftigung innerhalb der Pariser Nabi-Gemeinde läuft nämlich interessanterweise nicht nur über Briefe, sondern auch über Bilder, man denke etwa an Paul Sérusiers Porträt »Paul Ranson in Nabitracht« (1890), wo dieser mit der Auslegung der Schrift beschäftigt und, einen bischofsähnlichen Stab in der Hand, als Prophet ins Bild gesetzt ist, oder an Édouard Vuillards »Selbstbildnis« (1889), wo er wie ein Heiliger mit einem Heiligenschein tragenden Kopf, der vom Körper abgesetzt ist, den Betrachter anblickt und Zeugnis von einer bei den Nabis üblichen Verehrung des Heiligen Franziskus ablegt, indem er sich selbst als Heiligen Franziskus mit ›Orpheus-Kopf‹ malt. Die Verehrung des Heiligen Franziskus ist z.B. am folgenden Jahreswechsel-Gruß an die Nabis des niederländischen Malers, Beuroner Benediktiners und Mitglieds der Beuroner Kunstschule Jan Verkade (1868–1946) ablesbar: »Hochverehrte Nebiim! Liebwerte Freunde! […] Wir wollen aus dem Leben des seligen Franz von Assisi lernen, daß fröhliches Entbehren der Weg zur Vollendung ist und unbedingte Armut menschliches Glück. Wir wollen rein sein in unseren Seelen! Auf daß unsere Werke die befleckten Menschen, die unglücklichen Menschen, unsere Brüder reinigen und die Armen, Verlassenen, die unter dem Joch der anderen stöhnen, mit echten Freuden be-

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(1900), neben seinen katholischen ›Leitbildern‹ »Katholisches Mysterium« (1889), »Magnifikat« (De silencio) (1909) oder »Verkündigung an Maria« (1913), dürfte ferner Rainer Maria Rilke gekannt oder sogar während seiner Pariser Zeit bei Auguste Rodin (1840–1917) gesehen haben: In diesem Bild sieht man die durchgehend schwarz gekleidete Künstlergruppe der Nabis um ein goldumrahmtes, in der Mitte angesiedeltes Bild Cézannes stehend, über welches sie zu diskutieren scheinen. Das ›Bild im Bild‹ verweist freilich auf die Cézanne-Adaptionen durch die Nabis. Und neben Rilkes Stilisierung Rodins zum Propheten gipfelt seine Cézanne-Verehrung ebenfalls in dessen Verherrlichung als Prophet einer zukünftigen Kunst.71 Wieder scheint der Rekurs auf die Vorstellung vom Künstler als Propheten durch. Diese wenigen, einleitenden Beispiele für Fremdstilisierungen von Künstlern auf dem Feld der bildenden oder plastischen Kunst zum Propheten von Seiten namhafter Dichter (oder umgekehrt) sind aber nicht nur als eine Hommage an das benachbarte Kunstgewerbe zu charakterisieren oder auf eine private Verehrung von Kollegen und prophetischen Vorbildern zurückzuführen. Sie erklären sich vornehmlich aus einer spezifischen Wahlverwandtschaft, denn sowohl Ball als auch Rilke partizipieren ja selbst am revitalisierten Künstlerbild des Propheten – mit einem ganz ähnlich gelagerten Selbstverständnis: Sie verstehen sich als Erneuerer der dichterischen Sprache und als Propheten einer neuen Kunst. So wie Ball die Kunstwerke der prophetischen Künstler seiner Zeit mit den Angstmasken der primitiven Urvölker parallelisiert,72 so wird die alttestamentliche Figur des Propheten als nahezu tiefste und archaische Schicht freigelegt und als neue Plattform für eine moderne, zukunftsweisende Kunst und deren prophetische Ausdrucksweisen eingesetzt. Der Dadaist Ball bringt dementsprechend seine seinerzeit originellen, magischen Lautgedichte in der Verkleidung eines magischen Bischofs im Club Voltaire zur Aufführung und unterstreicht damit die prophetisch-priesterlich-mystischen Ursprünge der neuen Form der Lautpoesie.73 Und Rilke wird bekanntlich in seinen schöpferischen Hoch-

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glücken. Das sind unsere Wünsche zum neuen Jahr. Benedictus Deus vobiscum! […]« (Brief von Jan Verkade an die Nabis vom 27.12.1892 zitiert nach Humbert, Die Nabis, S. 36–37). Ähnlich wie Kandinskys Kunst ist das Selbstverständnis dieser Propheten von einem Reinigungs-Verlangen geprägt. Diese besondere Sendung des Propheten greifen auch die in dieser Studie behandelten Künstler auf. Vgl. insbesondere das Kapitel VI.8. Vgl. R. M. Rilke, Auguste Rodin. Mit sechsundneunzig Abbildungen, Frankfurt am Main 1994; Rilke, Briefe über Cézanne, hg. von Clara Rilke. Besorgt und mit einem Nachwort versehen von Heinrich Wiegand Petzet. Mit siebzehn farbigen Abbildungen, Wiesbaden 1952. Vgl. dazu das Kapitel V.3.4. Vgl. Ball, Kandinsky, S. 44. Vgl. zu Balls Auftritt als magischer Bischof: Ball, Die Flucht aus der Zeit, S. 99f.; vgl. dazu Kemper, Vom Expressionismus zum Dadaismus, S. 199f. Vgl. folgende Verse aus Balls Sonett »Intermezzo«: »Ich bin aus dem Abgrund der falsche Prophet, / Der hinter den Rädern der Sonne steht« (Ball, Intermezzo. In: Otto F. Best [Hg.], Die deutsche Literatur in Text und Darstellung, Bd. 14: Expressionismus und Dadaismus, Stuttgart 1974, S. 303). Ball hat sich bekanntlich auch intensiv mit den Mystikern auseinandergesetzt (vgl. Ball, Das byzantinische Christentum, Einsiedeln 1958, S.  135ff.; Christoph Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts. Ästhetische Subjektivität und politische Theologie bei Hugo Ball, Bielefeld 2003;

phasen nicht müde, den Topos vom ›seligen Diktat‹ zu zitieren,74 um seine prophetisch inspirierte Sprache zu nobilitieren.75 Gerade um die Jahrhundertwende ist eine produktive Revitalisierung der Propheten-Figur zu beobachten, die mit einer weitreichenden Annäherung zwischen Künstlern und Propheten einhergeht, wie sie etwa der Theologe August Horneffer 1912 pointiert bilanziert: »Man gehe die hervorragenden Künstler der Gegenwart und näheren Vergangenheit durch: die meisten bewegen sich auf der Grenzlinie zwischen Prophetie und Kunst.«76 Mittels Reaktualisierungen der antiken vates- respektive prophētēs-Vorstellungen in der Moderne arbeiten sich Künstler offensichtlich weiterhin transformierend am ›Urbild‹ des inspirierten und charismierten Propheten ab, so dass eine Vielzahl an Propheten-Künstlern unterschiedlichster Provenienz zu verzeichnen ist. Diese besetzen geradezu die freigewordene Position der demontierten Religion,77 wie es an Balls Zeitdiagnose ablesbar ist, so dass auch für die Jahrhundertwende mit Heinz Schlaffer konstatiert werden kann: Das einst im Enthusiasmus gewonnene Wissen hat dem vom Logos kontrollierten Wissen weichen müssen, ohne von ihm vollständig ersetzt zu werden. Die schärfer umrissenen Erkenntnisse wissenschaft lichen Denkens leisten im einzelnen mehr und im ganzen weniger als jene verschollene Weisheit, die den ganzen, d.h. jenseits aller Empirie erhofft en Sinn des Lebens zu offenbaren schien. Das ästhetische Spiel erinnert an die Lücke, die der Verzicht auf den enthusiastischen Ernst jener Offenbarung hinterlassen hat.78

Im Mittelpunkt der ausdifferenzierten Welt sind Derivate wie die Metapher des furor poeticus fortlebend, welche in der Kunst das Sinn-Vakuum ersetzt, auch wenn es vom Wissen begrenzt erscheint.79 Selbst wenn Ekstasen wissenschaft lich nicht mehr fundierbar sind, erhalten sie indes ihre Funktion:

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Bernd Wacker [Hg.], Dionysius DADA Areopagita. Hugo Ball und die Kritik der Moderne, Paderborn; München u.a. 1996). Vgl. zuletzt zu Balls ›religiösem‹ Kunstverständnis: Agazzi, Religion und Geistlichkeit im Werk von Hugo Ball, S. 125–138. Vgl. zur Modernität der Lautpoesie zusammenfassend: Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 144ff. Vgl. stellvertretend und zuletzt: Martina King, Pilger und Prophet. Heilige Autorschaft bei Rainer Maria Rilke, Göttingen 2009, bes. S. 115ff. Vgl. dazu das V. Kapitel. A. Horneffer, Der Priester, seine Vergangenheit und Zukunft, Jena 1912, S. 197; vgl. Friedhelm Marx, Heilige Autorschaft. Self-Fashioning-Strategien in der Literatur der Moderne. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen, hg. von Heinrich Detering, Stuttgart; Weimar 2002, S. 107–120, S. 109. Vgl. stellvertretend: Silvio Vietta u. Stephan Porombka, Einleitung. In: Vietta, Porombka (Hg.), Ästhetik – Religion – Säkularisierung, Bd. 2, S. 7–20, S. 7f.: Seit der Romantik avanciert die Kunst zu einer »poetisch-ästhetischen Religion«, »welche eigene parareligiöse Kommunikationsformen entwickelt und die Rolle des Messias, der Propheten, der Apostel und anderer religiöser Heilsfiguren auf die ästhetische Bühne umsetzt« (Vietta u. Porombka, Einleitung. In: Vietta, Porombka (Hg.), Ästhetik – Religion – Säkularisierung, Bd. 2, S. 9). H. Schlaffer, Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt am Main 1990, S. 44. Vgl. Schlaffer zum Fiktionscharakter der Kunst: »In der Kunst gilt, was ungültig geworden

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Ist auch die moderne Welt durch das exakte Wissen entzaubert, so bleibt doch dem modernen Subjekt das unbestimmte Bedürfnis, verzaubert zu werden, obgleich es alle Bequemlichkeiten der entzauberten Welt in Anspruch nimmt. Diese Verzauberung erfasst also nicht die Umgebung, sondern das Ich selbst. […] Sein Selbstgefühl entfaltet sich in der Imitation eines anderen.80

Denn trotz des Wissens um den fi ktionalen Charakter ›der anderen Welt‹ eignet dieser paradoxerweise ein real-imaginativer Grundzug:81 Die fi ktionale Welt ist kein Niemandsland, sondern die spielerische Erinnerung an ein versunkenes, einst geglaubtes Götterreich. Die Erinnerung an die einstige Glaubwürdigkeit einer zweiten Welt macht es verständlich, dass in der ästhetischen Erfahrung das Wissen von Fiktionen nicht den Ernst der hingerissenen Imaginationen zerstört.82

Das Wissen um die Fiktion des Dichter-Propheten schmälert desgleichen seine Attraktivität nicht, vielmehr schlägt es sich teilweise in einer spezifischen Anreicherung des Dichter-Propheten-Modells nieder. Bei einigen Dichtern geht die Revitalisierung des poeta vates nämlich mit dem Autorschaftsbild des arbeitenden und kunstfertigen poeta faber zusammen. Dies ruft die Synthese von ingenium und ars, worin die Figur der sobria ebrietas anklingt, auf. Damit tragen sie der Tatsache Rechnung, dass »der auf die Stilisierungsmöglichkeiten des poeta-vates-Topos rekurrierende moderne Lyriker« »zugleich ein mit den antiken und biblischen Inspirationstheoremen wohlvertrauter poeta doctus, und seine Zurückbeugung auf anachronistische Konstellationen aus mythisch-archaischen Kontexten […] im wörtlichen Sinne: Reflexion«83 ist. Für

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ist; oder genauer: sie fingiert, es gälte noch. […] Kunst ist ein Nachspiel des Kults […] sie fingiert die Sakralität, von der sie sich befreit hat. Ästhetisierung bezeichnet den Prozeß des Unabhängigwerdens der Kunst von ihren Vorformen bei gleichzeitig fortdauernder Abhängigkeit von ihnen. […] Das Ästhetische rehabilitiert eine verlorene Funktion« (Schlaffer, Poesie und Wissen, S. 93). Schlaffer, Poesie und Wissen, S.  43. Vgl. S.  235f.: »Die soziale und ideologische Krise, in die diese Mächte [die Philologie] mit dem Anbruch des 20. Jahrhunderts geraten, eröffnet Künstlern, Dichtern und ihren Interpreten die unverhoffte Chance, als Orientierungshilfe auf dem zur Diskussion freigegebenen Feld der Lebensformen und Weltanschauungen aufzutreten. Wenn, nach Nietzsches Diktum, Gott tot ist, so kann, auch dies ein Vorschlag Nietzsches, der Künstler an dessen Stelle treten. Die neuen Götter, vergötterte Künstler oder Dichter also, brauchten Priester und Propheten.« Ebenso hält Hans Robert Jauß fest: »[…] so kann das Imaginäre offenbar doch auch als etwas erlebt werden, das dieses ›Als ob‹ aufhebt – als ein Irreales von stärkerer Faszination und höherer Glaubwürdigkeit. […] Seine höhere Glaubwürdigkeit dürfte es daraus gewinnen, dass es den Anschein erweckt, nicht nur ›erfunden‹ zu sein, sondern es auch in seiner neuen Gestalt zugleich etwas Altvertrautes, Vergessenes oder Verdrängtes wiedererkennen lässt. Seine stärkere Faszination dürfte es auch daraus gewinnen, dass es ein Bedürfnis befriedigt, das die ästhetische Fiktion wohl am ehesten zu befriedigen vermag – das Bedürfnis nach dem Vollkommenen« ( Jauß, Das Vollkommene als Faszinosum des Imaginären. In: Funktionen des Fiktiven, hg. von Dieter Henrich u. Wolfgang Iser, München 1983, S. 444). Schlaffer, Poesie und Wissen, S. 146. Frick, Poeta vates, S. 156.

viele Dichter-Propheten ist gerade das charakteristisch, was Maria Moog-Grünewald für Charles Baudelaire festhält, nämlich dass sie »Arbeit und Reflexion als ›Schwester‹ der Inspiration«84 erachten: Der ›Dichter der Modernität‹ nimmt Begriff und Sache der Inspiration auf und gibt ihnen eine neue Valenz: Inspiration ist Ausdruck der Arbeit des Intellekts, sie ist Ausdruck und Folge der Reflexion. Pointiert ist zu sagen: Reflexion ist Inspiration. Somit […] wird Inspiration als ästhetische Kategorie nicht obsolet, vielmehr wird sie aufgenommen und umgewertet: Geistige Konzentration tritt an die Stelle von orgiastischer Entgrenzung, Rationalität substituiert Irrationalität.85

Nach Hans Blumenberg leistet die ›Arbeit am Mythos‹ als Kunstgriff gegenüber der zunehmenden Kontingenz, als Distanzgewinn vom »Absolutismus der Wirklichkeit« die »Erhaltung des Subjekts durch seine Imagination«86, indem der archaische Schrecken in Geschichten verarbeitet, mit mythisch-metaphorischen Denkformen gebannt wird. Wie mythologische Gestalten werden der Seher und Prophet als »Leitfiguren elementarer Selbst- und Weltbestimmungen aufgegriffen und ausgelegt, variiert und umakzentuiert«87. »Denn auch die entzauberte, versachlichte, rationalisierte ›Welt‹ behält ein Sinnproblem«88, konstatiert Manfred Frank schlicht. Dies erklärt die Erscheinungen von Erlöserfiguren prophetischer Art in geradezu inflationärer Fülle im Einsatz von Sinnstiftung, so dass mit ihnen gerade eine antipodische Struktur zur »gottfremden prophetenlosen Zeit«89 betont werden kann: »Unter Bedingungen einer funktionierenden Mythologie oder Hochreligion konnten Priester und Weise – politische Charismatiker – diese Aufgabe der Sinnbeschaff ung erfüllen.«90 Der Theologe Wilhelm Bousset etwa feiert in Das Wesen der Religion (1903) die Propheten gerade als große Individualitäten, die ein »innerlich einheitliche[s] Lebensganze[s]«91 vorstellten, und dies unter Bezugnahme auf Goethes ProphetenCharakteristik in den »Noten und Abhandlungen« zu seinem West-Östlichen Divan (1819).92 Der Rückgriff auf das Künstlerbild des Propheten ist insofern zunächst als

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M. Moog-Grünewald, EIDOS/IDEA/ENTHOUSIASMOS. Charles Baudelaires konspirative Subversion platonischer Dichtungstheorie. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 51/1, 2006, S. 93–102, S. 93. Moog-Grünewald, EIDOS/IDEA/ENTHOUSIASMOS, S. 94. H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1996. [zuerst 1979], S. 14 u. S. 16. Vgl. Markus Buntfuß, Mythos und Metapher bei Vico, Cassirer und Blumenberg. In: Moderne und Mythos, hg. von Silvio Vietta u. Herbert Uerlings, München 2006, S. 67–78, bes. S. 74f. Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hg. von Manfred Fuhrmann, München 1971, S. 11–66, S. 12. M. Frank, Stefan Georges »neuer Gott«. In: Frank, Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie, 2. Teil, Frankfurt am Main 1988, S. 257–314, S. 310. Max Weber zitiert nach Frank, Stefan Georges »neuer Gott«, S. 312. Frank, Stefan Georges »neuer Gott«, S. 311. W. Bousset, Das Wesen der Religion. Dargestellt an ihrer Geschichte, Halle 1903, S. 111. Vgl. Bernhard Lang, Prophet, Priester, Virtuose. In: Max Webers »Religionssystematik«, hg. von Hans G. Kippenberg u. Martin Riesebrodt, Tübingen 2001, S. 167–191, S. 170.

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einheitsstiftende Konstante und als Bollwerk gegen die destabilisierenden Zeichen der Zeit zu bewerten:93 Tatsächlich reflektiert die überwältigende Mehrheit moderner Gedichte des poeta-vatesTypus von Hölderlin bis zu den Expressionisten, George und Brecht […] die eigene Gegenwart als eine Periode geschichtlicher Krisen und Orientierungsverluste und konfrontiert diese Gegenwart mit dem autoritativen Diskurs des poeta vates und seiner umfassenden Orientierungskompetenz, um aus solchem Rückgriff auf die anachronistischen Topoi einer mythischen bzw. kultisch-religiösen Vergangenheit die Inspiration und die Sprachgebärden zur poetischen Proklamation einer ›geordneten Zukunft‹ zu gewinnen.94

Aber nicht nur die Suche nach Sinnstiftung ist signifi kant, sondern auch die prophetischen Neuschöpfungen einer reinen, unberührten Kunst, die teilweise ausgleichende, teilweise selbstgenügsame Gegenwelten bietet.95 Um die Jahrhundertwende ist das Interesse an einer künstlerischen Anverwandlung der Propheten derart en vogue, dass »die Lebensform des Propheten sowohl zu einem wichtigen literarischen Sujet als auch zur Spiegelform dichterischer Existenz avanciert«96. Als literarisches Sujet bietet die Propheten-Figur dabei eine Basis für poetologische Reflexionen und NeuSituierungen, die ferner entweder mit Strategien von Self-fashioning97 des Dichters zum unzeitgemäßen Propheten (mittels Einverleibung von Aura und Charisma) in eins gehen oder diese konterkarieren. Neben dem bekannten Beispiel des GeorgeKreises oder dem diesem zeitweise zugeordneten Münchner Kosmiker-Kreis um Ludwig Klages und Alfred Schuler geben nahezu alle Künstler-Propheten vor, dieses prophetische Selbstverständnis, das sich in einer prophetischen Autorpoetik nieder-

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Vgl. Cornelia Blasberg: »Trotzdem ist nur aus der Zeitlage heraus zu verstehen, aus Angst vor der zunehmenden und immer unkontrollierbarer werdenden Industrialisierung und Technisierung des Lebens, vor dem Zerfall aller Konventionen und Werte, vor Entfremdung, Vermassung und Isolation, warum das gesellschaftliche Bedürfnis nach Propheten, MessiasAttrappen, spiritistischen Wunderheilern und eben charismatischen politischen Führern derart zunahm« (C. Blasberg, Charisma in der Moderne. Stefan Georges Medienpolitik. In: DVjs, 74, 2000, S.  111–145, S.  115). Vgl. Bernadette Malinowski: »Positiv interpretiert gründen avantgardistisch-prophetische Bewegungen jedoch in einem anthropologischen Grundbedürfnis nach Orientierung, ›Heil‹, Ganzheit und Sinn, das sie im ›Rückgang‹ auf das Urzeitliche, Prälogische, Mythische und Unbewußte dichterisch zur Darstellung bringen und dadurch befriedigen wollen« (B. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«. Paradigmen prophetischer Dichtung von Klopstock bis Whitman, Würzburg 2002, S. 426). Frick, Poeta vates, S. 155. Zu Recht heben Silvio Vietta und Herbert Uerlings in ihrer Einleitung zu ihrem Sammelband Ästhetik – Religion –Säkularisierung hervor, dass eine »ästhetische Säkularisierung« nicht zwingend auf eine »Geschichte der Verluste« zu reduzieren, sondern vielmehr großteils als »Kulturgewinn« zu würdigen sei (Vietta u. Uerlings, Einleitung. In: Vietta u. Uerlings [Hg.], Ästhetik – Religion – Säkularisierung, Bd. 1: Von der Renaissance zur Romantik, S. 7–23, S. 10). Marx, »Ich aber sage Ihnen…«. Christusfigurationen im Werk Thomas Manns, Frankfurt am Main 2002, S. 17. Vgl. ähnlich Frick, Poeta vates, S. 125–162. Vgl. Marx, Heilige Autorschaft, S. 107.

schlägt, auch zu leben. Und dieser Aspekt des Künstler-Lebens als Kunstwerks ist eine Besonderheit, die dem prophetischen Künstlerverständnis eignet.98 Die Korrelation des Ästhetischen und des Prophetischen koinzidiert teilweise mit dem Sozialen.99 Die Wiederkehr des prophetischen Autorschaftsbildes ist demnach teilweise mit der Frage nach der ›Wiederkehr des Autors‹,100 aber auch seiner (unfreiwilligen) Selbstdemontage zu verknüpfen. Friedhelm Marx sieht in den Propheten-Selbststilisierungen der Künstler vornehmlich eine Antwort auf die »Krise moderner Autorschaft«101.102 Dabei stellt der Rekurs auf das oftmals alludierte ›Gesamtkunstwerk‹ des Sehers und Propheten, für welchen klassischerweise Leben und Werk eine Einheit bilden, insofern eine bemerkenswerte Herausforderung dar, als die prophetische Rede die von je her am stärksten autorbezogene und intentionale Rede ist. Transgressive Autorschaftskonzepte und literarische Rollenspiele mit der (fi ktionalen) Autor-Figur implizieren schließlich den Anspruch, biographische Zeugnisse wie literarische Artefakte vorzuführen. Denn werden in Inspirationsberichten ekstatische Erlebnisse vorgeführt, wonach die Künstler auserwählte prophetische Medien sind, und wird ferner das Leiden an Dissoziationserfahrungen bzw. Euphorieschüben geschildert, bedienen sich die modernen Künstler u.a. ganz offensichtlich spezifischer Strategien, um sich zur poeta-vates-Figur zu stilisieren: Sie entdecken und nutzen dabei u.a. die Vorteile des Star-Marketing103 oder der Imago-Setzung geschickt im Sinne eines Rollenspiels. Dementsprechend scheint das (Autor-)Subjekt-Modell einerseits subversiv mittels Preisgabe der autonomen Subjekt-Position zugunsten des ›Mittler-Modells‹ des poeta vates oder des Propheten demontiert zu werden, um den objektiven Grund moderner Lyrikproduktion zu unterstreichen; andererseits lassen sich gerade in der dargestellten und reflektierten Selbstzerstückelung des Ich neue Energien für ein selbstgemachtes Ich – ein ›Oberflächen-Ich‹ – und dessen Reflexionsgrundlage gewinnen.104 Die Er-

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Vgl. dazu das Kapitel III.1. Das Selbstverständnis der Dichter ist für gewöhnlich zwischen »ihrem Poesieideal und ihrer sozialen Wirklichkeit« anzusiedeln, hält Gunter E. Grimm schlicht fest (Grimm, Zwischen Beruf und Berufung. Aspekte und Aporien des modernen Dichterbildes. In: Metamorphosen des Dichters. Das Rollenverständnis deutscher Schriftsteller vom Barock bis zur Gegenwart, hg. von Gunter E. Grimm, Frankfurt am Main 1992, S. 7–15, S. 9). Vgl. zur Genese unterschiedlicher Autorschaftsmodelle hinsichtlich ihrer historischen Anfänge: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez u. Simone Winko (Hg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999. Marx, Heilige Autorschaft, S. 108. Vgl. zu Georges Apotheose als defensiver Geste auch: Kimmich u. Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 94. Vgl. zu Rilkes Selbstsakralisierung als Antwort auf die Krise des Autors: King, Pilger und Prophet, S. 31ff. Blasberg analysiert originell mit Fokus auf George die Zusammenstellung von charismatischen und technischen Mediendiskursen: Die Buch- und Bilder-Politik Georges betone den Eigenwert des Mediums, und beide Medien würden funktional als charismatisierende Objekte eingesetzt (vgl. Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 111–145). Kiesel konstatiert allgemein mit Blick auf die Entgrenzungsbestrebungen der Literatur um die Jahrhundertwende: »Zumal bei jener ›Entregelung‹ oder ›Entgrenzung aller Sinne‹, die

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höhung des Künstlers geht dabei mit einer Nobilitierung der prophetisch medialen Funktion der Dichtung einher. Da der Topos vom Dichter-Propheten so ostentativ von prominenten Autoren wie Thomas Mann, George, Rilke, Georg Trakl und Franz Werfel aufgegriffen sowie teilweise ihren Propheten-Figurationen angedichtet wird, drängt sich zudem die Frage nach der Art des Inspurengehens dieser Autoren zwischen Vorbildverehrung und ›Einflussangst‹ (Bloom) und nach der produktiven ›Arbeit am Mythos‹ vom heiligen Autor mit Blick auf deren etablierte Vorgänger und deren Konzeptionen heiliger Kunst unvermeidlich auf. Das Selbstverständnis der teilweise selbsternannten heiligen Autoren färbt ferner – über die sozial-pragmatische Situierung der Autoren hinausgehend – wie gesagt auf ihre Produkte einer neuartigen Kunstreligion ab. Die sich als prophetisch inszenierenden Autoren disziplinieren gleichsam ihre Sprache für ihren prophetischen Impetus. Die aufgezeigten Selbstdarstellungen der Dichter als Propheten sind unter einem poetologischen Blickwinkel besonders interessant. Bei der offenkundigen, weil stark forcierten Einreihung der Dichter-Propheten in ihre jeweilige Abstammungslinie fällt auf, wie inspirierte Figuren nicht nur zum prägenden Leitbild des dichterischen Selbstverständnisses avancieren, sondern ferner in vielen Fällen poetologische Reflexionen prophetischer Provenienz entwickeln. Dies führt zu Ansätzen einer meta-prophetischen Dichtungstheorie. Wie die Prophetie in die Dichtung hineinzuragen vermag und wie dichterische Sprache prophetisch inspiriert sein kann, ob der Schwerpunkt eher auf das Prophetische oder eher auf das Dichterische gelegt wird, sind poetologisch relevante Fragen, die die Dichter-Propheten selbst aufwerfen.105 Im Fokus dieser Studie steht die Aufarbeitung einer vornehmlich »immanenten Poetik«106 des Dichter-Propheten um die Jahrhundertwende. In der Klassischen

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von den vielen Autoren der emphatischen Moderne der künstlerischen Progression wegen gesucht oder – nach Benns Formulierung – mit allerlei Stimulantien ›provoziert‹ wurde, geht es weniger um die Destruktion des Ichs als vielmehr um seine Entfaltung oder Ausschöpfung, die unter Umständen als Vervielfältigung erfahren wird« (Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 130). Auszugehen ist dabei von der Annahme, dass Religion »immer auch ästhetisch vermittelt [ist], d.h., sie ist durch die Sprache und Denkform einer bestimmten Kultur, Nation oder Epoche sowie durch die bestimmte Subjektivität derer, die als Propheten einer Religion auftreten, geprägt. Das göttliche Wort ›an sich‹ gibt es in der durch die Endlichkeit des Menschen geprägten Kultur und ihren ästhetischen Formen nicht und kann es auch nicht geben« (Vietta u. Uerlings, Einleitung. In: Vietta u. Uerlings [Hg.], Ästhetik – Religion – Säkularisierung, Bd. 1, S. 8). Vgl. zum Begriff »immanente Poetik«: Rolf Selbmann: »Während die implizite Poetik die poetologische Aussage in jedem selbstreflexiven Text aufsucht, geht die immanente Poetik davon aus, daß die Qualität der poetologischen Aussagen an die Gestalt der sie enthaltenen Texte gebunden ist. Die immanente Poetik macht ihre poetologischen Einsichten genau in dem Text ›dingfest‹, in dem sie formuliert sind. Ihre Formulierung ist aber zugleich ihre Exemplifizierung. Dabei ist es durchaus möglich, daß innerhalb einer immanenten Poetik imaginiert wird, was reflektorisch (noch) gar nicht entwickelt werden kann« (R. Selbmann,

Moderne werden wesentliche Aspekte der Propheten-Figur fortgeschrieben, transformiert, mit anderen Mustern amalgamiert, ironisiert oder verabschiedet. Dass die Programmatik der Dichter teilweise ins Leere zu laufen scheint, d.h. dass poetologische Visionen nicht immer dem eigenen poetischen Akt entsprechen können, sieht schon Rolf Selbmann als das Wesen jeder Poetik an.107 Gerade diese Brüche und Differenzen mit Blick auf die teilweise aporetischen Postulate prophetischen Sprechens (etwa Authentizitäts-, Unmittelbarkeits- oder Zukunftsgewandtheits-Prämissen) sind erkundenswert. Denn sie legen ein beredtes Zeugnis davon ab, wie sich das Prophetische einer vollständigen Applizierung auf das Poetische verweigern kann bzw. wie Konzepte prophetischer Rede per se ein utopisches Potential implizieren, aber auch wie prophetische Autorpoetiken sich selbst demontieren oder transzendieren. Ideales prophetisches Sprechen und realiter vorliegende Dokumente meta-prophetischer Reflexionen oder Texturen sind mitunter von performativen Widersprüchlichkeiten geprägt, die wiederum eine Distanzierung zur prophetischen Autorpoetik anzeigen. Die Wiederaufnahme der altbekannten Inspirationstopik wird schließlich teilweise modifiziert und revidiert, wenn der prozessuale Akt der Eingebung zu subjektiven Errungenschaften gelingenden Schreibens überschritten (Rilke) oder ironisiert wird (Th. Mann oder Werfel) oder scheinbar leere, formale Gesten dominieren (George). Und doch verbergen sich hinter den Dichter-Propheten mitunter auch innovative Wortkünstler, ja die anachronistische Figur des Propheten ist auch auf dem Feld der Kunst als Katalysator für eine neue Kunst zu würdigen. Denn die Propheten-Figur als künstlerische Reflexionsfigur eröffnet eine Bandbreite an Möglichkeiten sowie Grenzen inspiriert-visionärer Rede, die einmal mehr passend und einmal mehr quer zur modernen Kunstproduktion stehen. Diesem literarischen Sonderweg einer massiven Künstler-Propheten-Rezeption unter dem Blickwinkel eines modernen Übersetzungsprozesses einer antiken Figur zugunsten eines Ursprungsmythos moderner Kunst gilt im Folgenden unsere Aufmerksamkeit. Ausgehend von diesen Befunden steht im Zentrum dieser Studie daher die Frage, wie sich die breit gefächerte Wiederkehr des poeta vates respektive des prophētēs in der Klassischen Moderne (ca. 1871–1942) in kulturgeschichtlicher, ansatzweise soziologischer und schwerpunktmäßig poetologischer Perspektive in ihrer auffälligen Dominanz erklären lässt und welche leitenden

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Dichterberuf. Zum Selbstverständnis des Schriftstellers von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Darmstadt 1994, S. 3). Bei Selbmann liest man dementsprechend: »Es entspricht dem Wesen aller Poetik, daß sie der literarischen Produktion nachhinkt oder ihr vorauseilt: entweder sie ist normativ und fordert, die Maßstäbe für das zukünftige Schreiben bestimmen zu dürfen, kritisiert vorhandene Werke, grenzt sie aus dem Kanon aus oder unterwirft sie ihm; oder sie ist deskriptiv und registriert alle Neuerscheinungen als Erweiterung der bislang gültigen Klassifikationsmerkmale. In beiden Fällen fügt sie die Texte in ein Ordnungssystem jenseits der Texte ein; das Selbstverständnis innerhalb des dichterischen Produktionsprozeßes tangiert sie nicht unmittelbar. Wegen dieser apriorischen Schwäche jeder Poetik muß man sich auch vor der Illusion hüten, poetologische Aussagen von Dichtern seien für das Verständnis der Werke prinzipiell wichtiger als die Poetiken anderer« (Selbmann, Dichterberuf, S. 2).

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Modifi kationen in der Zitation dieses Autorschaftsbildes zu verzeichnen sind. Zur Durchdringung des sich in der Moderne entwickelnden prophetischen Diskurses sollen zum einen die Inszenierungstechniken zum poeta vates oder Dichter-Propheten in den Blick genommen, das Verhältnis von auto-imagines und hetero-imagines in ihrer Transformation im Gegensatz zu den ursprünglich antiken imagines ausgelotet und paradigmatische Stationen einer Prophetie-Poetik eruiert werden, um poetologische Implikationen und Energien prophetischer Rede einsehen und klassifizieren zu können. Dabei werden wesentliche Parameter einer Kunstreligion, das Wechselspiel von einer Sakralisierung des Dichters und einer Säkularisierung oder ›Verkünstlichung‹ des Dichter-Propheten aufgegriffen: Die Kunst scheint einmal mehr zur Statthalterin religiöser Reliquien und Derivate im weitesten Sinn bestellt zu werden, und sie bezieht ihre spezielle Dignität aus dem Fundus religiöser Erlöserfiguren, Heilsbringer, Seher, Priester und v.a. Propheten.108 Denn in der Moderne mutieren die Propheten erneut zu »Riesengestalten«109.

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Abgesehen von der Beliebtheit des prophetischen Künstler-Verständnisses erfreut sich die Propheten-Gestalt auch in benachbarten Disziplinen und außerliterarischen Strömungen einer gesteigerten Aufmerksamkeit. Sobald beispielsweise eine Reduktion auf die Selbststilisierung zum Künstler-Propheten im Lebensbereich überwiegt, betritt man das Terrain der legendären ›Barfüßer-Propheten‹ (vgl. dazu: Luise Rinser, Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983) oder der sogenannten ›Kohlrabi-Apostel‹ des Monte Verità in Ascona, die im Zuge der Lebensreform groß werden (vgl. Buchholz, Latocha, Peckmann [Hg.], Die Lebensreform) und über deren hieratische Tanzpraktik wiederum auch Hugo Ball bewundernd berichtet (vgl. Ball, Über Okkultismus, Hieratik und andere seltsam schöne Dinge. In: Ball, Der Künstler und die Zeitkrankheit, S. 54–57). Zur Ikone der Jugendbewegung avancierte das Bild Das Lichtgebet mit einem knabenhaften Sonnenanbeter von Hugo Höppener, genannt Fidus (vgl. Marina Schuster, Fidus und der St. Georgs-Bund. In: Die Lebensreform, S. 437–440, bes. S. 438). Aber auch im Bereich der Psychologie avanciert die Figur des Propheten zu einer leitenden Denkfigur: Sigmund Freuds Mose-Schriften legen davon Zeugnis ab (vgl. Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Schriften über die Religion, Frankfurt am Main 1975; Freud, Der Moses des Michelangelo. Schriften über Kunst und Künstler. Einleitung von Peter Gay, Frankfurt am Main 1989, [Studienausgabe Bd. 10] S. 197–220). Eckart Otto, Die hebräische Prophetie bei Max Weber, Ernst Troeltsch und Hermann Cohen. Ein Diskurs im Weltkrieg zur christlich-jüdischen Kultursynthese. In: Asketischer Protestantismus und der ›Geist‹ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, hg. von Wolfgang Schluchter u. Friedrich Wilhelm Graf, Tübingen 2005, S. 201–257, S. 239.

II. Dichtung und Prophetie

Um die Jahrhundertwende ist, wie einleitend dargelegt, eine erstaunliche Vielzahl an (selbsternannten) Dichter-Propheten zu verzeichnen. Die Revitalisierung des Topos vom inspirierten Dichter geht auf eine lange Tradition zurück, so dass die jeweilige historische Verortung dieses speziellen Dichterbildes – von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert – zu berücksichtigen ist.1 Ausgehend von einer Nachzeichnung der Begriffsgeschichte des vates und des nabi/prophētēs sowie von den sich um sie rankenden Inspirationstopoi und Offenbarungsmodellen lassen sich Vergleichspunkte für die modernen Künstler-Propheten ableiten. Dabei ist grundsätzlich zu beachten, dass die vielschichtigen Begriffe ›Offenbarung‹, ›Inspiration‹, ›Heilsgeschichte‹, ›Sakralisierung‹ und ›Säkularisierung‹,2 insbesondere die leitenden Begriffe ›Seher‹ und ›Prophet‹ an sich ›leer‹ sind und eines Bezugs auf das jeweilige Anschauungsmaterial – die Materialisierung der Begriffe durch personae, die Dichter-Propheten oder Propheten-Figurationen – zur Sättigung bedürfen. Umgekehrt sind diese ›blind‹, sofern sie nicht in die geschichtliche Entwicklung prominenter ›Etappen‹ des Dichter-Sehertums und der Dichter-Prophetie eingebettet werden, wodurch sie erst ihren je eigenen, systematischen Platz erhalten. Paradigmata einer prophetischen Poetik lassen sich aus konstanten Vorstellungen über markante Wesenszüge prophetischen Dichtens approximativ ableiten. Sicherlich sind selbst solche Konstanten im Anwendungsbereich teilweise individuell abgewandelt, doch vollziehen sich diese Modifi kationen und Transformationen wieder unter Bezugnahme auf ›klassische‹ Paradigmata prophetischer Rede. Der sich aufdrängende Eindruck, dass die Begriffe ›Dichter-Seher‹ und ›Dichter-Prophet‹ in den prophetischen Autorpoetiken der Moderne unscharf verwendet werden, ergibt sich aus der undifferenzierten, weil teilweise austauschbaren Verwendung der Dichterbilder von Seiten der Dichter – das sei vorab hervorgehoben.3

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Als Aufruf zur historischen Binnendifferenzierung des antik-christlichen Inspirationstopos zitiert Günter Blamberger in seiner Literaturgeschichte der Kreativität bereits passend Uhlands Diktum aus seinem Gedicht »Die neue Muse«: »Andre Zeiten, andre Musen!« (G. Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen oder: Ingenium est ineffabile? Studien zur Literaturgeschichte der Kreativität zwischen Goethezeit und Moderne, Stuttgart 1991, S. 3). Vgl. zu den Begrifflichkeiten und ihrer Reichweite im kritischen Überblick zuletzt: Vietta u. Uerlings (Hg.), Ästhetik – Religion – Säkularisierung, Bd. 1, bes. S. 7–36; Vietta u. Porombka (Hg.), Ästhetik – Religion – Säkularisierung, Bd. 2. Auch Malinowski betont die »synkretistische Verschmelzung biblischer und griechischer

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Ihren Ursprüngen nach sind der Seher und der Prophet als Prototypen visionärer Figuren durchaus trennscharf entwickelt, wie im Folgenden gezeigt wird.

II.1.

Der Dichter als Prophet/Seher: Ursprünge und Parameter einer Poetik des Prophetischen

Dass Dichtung und Sehertum/Prophetie zusammengeführt werden, ist primär keine Selbstverständlichkeit. Johann Wolfgang Goethe etwa zieht eine klare Trennlinie zwischen dem Poeten und dem Propheten: Wollen wir nun den Unterschied zwischen Poeten und Propheten näher andeuten, so sagen wir: beide sind von einem Gott ergriffen und befeuert, der Poet aber vergeudet die ihm verliehene Gabe im Genuß, um Genuß hervorzubringen, Ehre durch das Hervorgebrachte zu erlangen, allenfalls ein bequemes Leben. Alle übrigen Zwecke versäumt er, sucht mannigfaltig zu sein, sich in Gesinnung und Darstellung grenzenlos zu zeigen. Der Prophet hingegen sieht nur auf einen einzigen bestimmten Zweck; solchen zu erlangen, bedient er sich der einfachsten Mittel. Irgendeine Lehre will er verkünden und, wie um eine Standarte, durch sie und um sie die Völker versammeln. Hiezu bedarf es nur, daß die Welt glaube; er muß also eintönig werden und bleiben, denn das Mannigfaltige glaubt man nicht, man erkennt es.4

Die Gemeinsamkeit zwischen Poet und Prophet reduziert sich demnach darauf, dass beide von einem Gott inspiriert sind. Doch während der Poet in grenzenloser, mannigfaltiger Darstellung nach Hervorbringung von Genuss strebt und seine eigenen Interessen im Blick hat (»Ehre«, »bequemes Leben«), bedient sich der Prophet hingegen einfacher, rhetorischer Mittel zur Erlangung eines bestimmten Zweckes, der Verkündung.5 Der Dichter ist verspielt und auf sich bedacht, der Prophet pragmatisch sendungsbewusst. Diese sondierende Stellungnahme des späten Goethe verwundert nicht, stellt für ihn doch Platons Ion eine einzige Persiflage dar. Den oftmals in Platons Frühdialog hineingelesenen Inspirationstopos entzaubert er dementsprechend: Selbst der anerkannte Dichter ist nur in Momenten fähig, sein Talent im höchsten Grade zu zeigen, und es läßt sich dieser Wirkung des menschlichen Geistes psychologisch nachkommen, ohne daß man nöthig hätte, zu Wundern und seltsamen Wirkungen seine

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Inspirationstopoi« (Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, Fußnote 5, S. 425) in der Moderne, ebenso Frick (vgl. Frick, Poeta vates, S. 129). J. W. Goethe, Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des West-Östlichen Divans. In: Goethe, Sämtliche Werke in 18 Bänden, hg. von Ernst Beutler, Bd. 3: Epen, Westöstlicher Divan, Theatergedichte, Zürich 1977, S. 413–566, S. 432. Für Goethes Interesse am Inspirationstopos ist ferner auf seine Übersetzung des Pfingsthymnus »Veni Creator Spiritus. Weimar, den 10. April 1820« als Reminiszenz an die Schöpferkraft des Genies zu verweisen (vgl. dazu Mathias Mayer, Natur und Reflexion. Studien zu Goethes Lyrik, Frankfurt am Main 2009, S. 273ff.). Vgl. ähnlich: Dierse, Glei u. Lessing, Art. Prophetie, Sp. 1479; Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 15.

Zuflucht zu nehmen, wenn man Geduld genug besäße, den natürlichen Phänomenen zu folgen […].6

Die vielzitierten Passagen aus Platons Dialogen Ion7 und Phaidros8, wonach der Dichter in einen heiligen Wahnsinn (theia mania) und in Entzückung (ekstasis) gerät, sind

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Goethe, Plato als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung. In: Goethe, Werke. Weimarer Ausgabe, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, II. Abt., Bd. 41, Weimar 1903, S. 169–176, S. 174f. Damit wendet sich Goethe auch indirekt gegen das Genie-Konzept seiner Sturm-und-Drang-Phase (vgl. J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, S. 193ff.). Der leitende Grundgedanke im Ion bezüglich der Inspirationsthematik (vgl. Platon, Ion. In: Platon, Sämtliche Werke, Bd.  1: Apologie des Sokrates, Kriton, Ion, Hippias II, Theages, Alkibiades I, Laches, Charmides, Euthyphron, Protagoras, Gorgias, Menon, Hippias I, Euthydemos, Menexenos. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, hg. von Ernesto Grassi unter Mitarbeit von Walter Hess, Hamburg 1957, S. 97–110, 530a–534e) ist, dass »diese schönen Gedichte nicht Menschliches sind und von Menschen, sondern Göttliches und von Göttern, die Dichter aber nichts sind als Sprecher [hermēneus] der Götter, besessen jeder von dem, der ihn eben besitzt« (Platon, Ion, 534e), dass also »der Gott selbst es ist, der es sagt, und daß er nur durch diese zu uns spricht« (Platon, Ion, 534d). Neben den Orakelsprechern und göttlichen Wahrsagern, die dem Bereich der Mantik zuzuordnen sind, fungieren die Dichter als Sprachrohr göttlicher Mitteilungen. Demnach geht die Ursprungsinitiation der Dichtung von einer göttlichen Instanz aus; der Dichter wie der Rhapsode als von den Musen Enthusiasmierte fungieren rein als ›Medien‹ im Dienste einer überindividuellen Instanz. Insofern besitzt der um die Vernunft gebrachte, außer sich geratene, weil von göttlicher Kraft animierte Dichter wie der Rhapsode auch kein technisches Fachwissen [téchnē] im Gegensatz etwa zu den sich zeitlich später herauskristallisierenden Dichterbildern des poeta faber oder des poeta doctus (vgl. zum poeta doctus: Wilfried Barner, Poeta doctus. Über die Renaissance eines Dichterideals in der Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann, hg. von Jürgen Brummack, Tübingen 1981, S. 724–752). »Nämlich nicht durch Kunst bringen sie dieses [die Dichtung] hervor, sondern durch göttliche Kraft« (Platon, Ion, 534c, vgl. 536c–d). Dementsprechend überführt Sokrates zunächst den gefeierten Rhapsoden und Homer-Interpreten Ion im Gespräch seines Unwissens, denn Ion vermag weder Homer im Vergleich zu anderen Dichtern fachkundig auszulegen noch verfügt er über ein profundes Wissen im Vergleich zum Philosophen (vgl. Platon, Ion, 530a–533c). Sowohl für die Produktions- als auch für die Rezeptionsseite verdeutlicht der Vergleich der poetischen Begeisterung mit einem magnetischen, herakleotischen Stein – wonach selbiger Eisenringe anzieht und derart magnetisiert, dass diese weitere Ringe anziehen und schließlich eine Inspirationsverbindung schaffen (von der Muse über den Dichter, den Rhapsoden und Schauspieler bis hin zum Zuschauer/Hörer) (vgl. Platon, Ion, 533d–535a, 536a–536d) –, dass die Intention des Dichters hinsichtlich des originären Schaffensprozesses keine Rolle spielt. Als »Begeisterte« und »Besessene« (Platon, Ion, 533e) stoßen die Musenzöglinge allerdings als Götterboten doch – wenn auch nicht aufgrund eigenen Wissens – in den Bereich der Wahrheit vor: »Und wahr reden sie. Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt« (Platon, Ion, 534b). Im Rahmen seines Widerrufs auf seine erste Eros-Rede im Phaidros, in der er die Zuwendung zum Nichtliebenden preist, exemplifiziert Sokrates die drei Arten göttlichen Wahnsinns (theia mania) als Urheber größter Güter (Platon, Phaidros. In: Platon, Sämtliche

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jedoch primär nicht als Lobeshymne auf den Enthusiasmus des Künstlers angelegt.9 Denn im Phaidros wird die Dichtkunst von der Philosophie noch auf den zweiten Platz verwiesen,10 und im Ion ist eine Tendenz zur Psychologisierung und tendenziellen Pathologisierung des Enthusiasmuskonzepts angelegt.11 Insofern stellt der platonische Enthusiasmus-Topos kein weitreichendes Gegenmodell zur Verurteilung der Poesie als mimesis der mimesis in der Politeia dar.12 Diesen typischen Verdikten gegen

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Werke, Bd. 4: Phaidros, Parmenides Theaitetos, Sophistes. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, hg. von Ernesto Grassi unter Mitarbeit von Walter Hess, Hamburg 1958, S. 7–60, 244a–245c): Die Prophetin zu Delphi, die Priesterinnen zu Dodone, die Sibylla und andere begeisterte Wahrsager und Vertreter der Mantik hätten ja, indem sie die Zukunft hilfreich vorhersagten, dem Lande viel Gutes getan. Eine solche nützliche Produktivität der göttlichen mania wird in diesem Zuge auch den Dichtern bescheinigt (vgl. Platon, Phaidros, 245a). Vgl. zu Platons Inspirationsmodell stellvertretend: Martin Vöhler, Dichtung als Begeisterungserfahrung. Zur Konzeption des Platonischen »Ion«. In: Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, hg. von Gert Mattenklott, Hamburg 2004, S.  195–210; Renate Schlesier, Platons Erfindung des wahnsinnigen Dichters. Ekstasis und Enthusiasmos als poetisch-religiöse Erfahrung. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 51/1, 2006, S. 45–60; Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 40f.; Frick, Poeta vates, S. 127f. Vgl. Platon, Phaidros, 249d–e. Das Ranking bezüglich der die Wahrheit geschaut habenden Seele und ihrer Wiedergeburt führt natürlich der Philosoph an (vgl. Platon, Phaidros, 248d). Die exponierte Stellung der Schönheit als Katalysator für die Erinnerung (anamnesis) an das Wahre und Gute löst – wie im Symposion – eine lobenswerte Begeisterung aus (vgl. Platon, Phaidros, 249d–250c). Die Nobilitierung des Dichters als Sprachrohrs der Götter geht mit seiner Degradierung einher. Ion ist nur als Mittelglied in der Inspirations-Kette angesiedelt, weil er ein Mittler des Mittlers Dichter ist (vgl. Platon, Ion, 535a); zudem wird sein Vermögen als ›von Sinnen‹ klassifiziert, was ihn in eine Reihe mit Korybantensängern und Bacchantinnen stellt (vgl. Platon, Ion, 534a, 536c; vgl. Selbmann, Dichterberuf, S. 9f.). Überhaupt ist es bezeichnend, dass Sokrates sich mit einem Rhapsoden über das Wesen der Dichtkunst auseinandersetzt, und nicht mit dem Dichter (vgl. Selbmann, Dichterberuf, S. 9). Insofern scheint die etwa auch in der Apologie initiierte Denunziation der Dichter als wahrheitsferne »Schönschwätzer« (vgl. Selbmann, Dichterberuf, S. 9) nicht ganz in Abrede gestellt zu werden (vgl. Platon, Apologie des Sokrates. In: Platon, Sämtliche Werke, Bd. 1: Apologie des Sokrates, Kriton, Ion, Hippias II, Theages, Alkibiades I, Laches, Charmides, Euthyphron, Protagoras, Gorgias, Menon, Hippias I, Euthydemos, Menexenos. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, hg. von Ernesto Grassi unter Mitarbeit von Walter Hess, Hamburg 1957, S. 7–31, 22b–c). Sokrates kündigt dort eine Überbietung der Dichter und Staatsmänner an (vgl. Platon, Apologie des Sokrates, 22b–c). Als Resultat der platonischen Kritik an einer ethisch unergiebigen und gefährlichen Mimesis mit Blick auf die Kunstproduktion als Verfahren einer täuschenden Ähnlichkeit und auf ihre unzulängliche ›Seelenverformung‹ in rezeptionsästhetischer Hinsicht, wird im zehnten Buch der Politeia ein kunstfreies Gemeinwesen vorgestellt. Während dem Künstler unter ontologisch-epistemologischen Gesichtspunkten lediglich eine Befähigung zur ›Mimesis der Mimesis‹ attestiert wird und er damit dem Bereich des Scheins (zweiten Grades) und der minderwertigen Affekte angehört, setzt sich dagegen der Philosoph im Zuge seiner unmit-

die Vorstellung inspirierten Dichtens13 steht indes eine ebenso prominente Anhängerschaft des Enthusiasmuskonzepts von Seiten prominenter Künstler gegenüber. An erster Stelle sind Friedrich Gottlieb Klopstock und Friedrich Hölderlin, aber auch Percy Bysshe Shelley, William Blake und Walt Whitman zu nennen, die Bernadette Malinowski in ihrer ertragreichen Studie »Das Heilige sei mein Wort«. Paradigmen prophetischer Dichtung von Klopstock bis Whitman eingehend untersucht.14 Diese profi lieren unter Rekurs auf prominente Inspirationstopoi die »Vorstellung von Dichtung als Form göttlich inspirierten Sprechens« und reklamieren den »Anspruch des Dichters, durch seine Kunst überzeitliche Erkenntnisse und Wahrheiten den Menschen zu vermitteln«15.16 Was sie mit den modernen Dichter-Propheten teilen, ist mit-

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telbaren Beschäftigung mit den Ideen direkt mit dem Wahren und Guten auseinander (vgl. Platon, Politeia. In: Platon, Sämtliche Werke, Bd. 3: Phaidon und Politeia. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, hg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi u. Gert Plamböck, Hamburg 1958, S. 67–310, 595a–608b). In der platonischen Dichterkritik, wie sie in der Politeia formuliert ist, geht es indes nicht primär um ästhetische Fragen, sondern zunächst (im zweiten und im dritten Buch) um eine moralisch und politisch motivierte, rezeptionsästhetische Analyse einer tugendpädagogisch ausgerichteten Ästhetik (vgl. zur Dichterkritik: Platon, Politeia, 376e–403c). Platon favorisiert eine politische Dichtung, die mittels Vorbildfunktion instrumenteller Natur ist (vgl. Platon, Politeia, 401b–403c). Dieses Dichtungskonzept droht natürlich einem ›ästhetischen Stillstand‹ zuzuarbeiten (vgl. etwa Wolfgang Kersting, Platons »Staat«, Darmstadt 1999, S. 121 u. S. 312). Vgl. zur kritischen Haltung Montaignes und Hegels u.a. gegenüber der Prophetie: Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S.  14; Dierse, Glei u. Lessing, Art. Prophetie, Sp.  1478; Frick, Poeta vates, S.  132. Frick konstatiert eine große »antiprophetische Koalition« (Frick, Poeta vates, S. 13) und Malinowski eine »doppelte antiprophetische Front«: Prophetisches Dichten drohe »einmal in die Fänge einer philosophischen Rationalität, die jegliche Hinwendung zu einer prälogischen Realität als anachronistischen oder ästhetizistischen Eskapismus verurteilt, des weiteren in die Fänge einer sich in ästhetischem Genuß und künstlerischem Ruhm erschöpfenden Dichtungsauffassung« (Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 15) zu geraten. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«. Vgl. zur Inspirationsvorstellung bei Wieland: Gabriela Wacker, ›Wollust im Wohlthun‹ und ›rosiges Eheglück‹. Alternative Liebeskonzeptionen zu Araspes’ enthusiastischem Liebesschwindel in C. M. Wielands »Araspes und Panthea«. In: Literaturwissenschaft liches Jahrbuch, 51, 2010, S.  143–171. Vgl. zu Pyra, Klopstock und Wieland: Joachim Jacob, Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997. Vgl. zur Goethezeit: Ulf-Michael Schneider, Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995; Kemper, »Ich wie Gott!« Zum Geniekult der Goethezeit. In: Inszeniertes Charisma. Medien und Persönlichkeit, hg. von Jürg Häusermann, Tübingen 2001, S. 83–115. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 13. Vgl. erstmals zur Geschichte der Dichter-Seher: Walter Muschg, Tragische Literaturgeschichte. Dritte, erweiterte Auflage, Bern 1958 [zuerst 1948], bes. S. 91–158. Walter Hinck schlägt unter der Rubrik »Priester und Seher« schon einen literaturgeschichtlichen Bogen – der poetologische Reflexionen der Seher-Dichter ins Zentrum stellt – von Homer, Catharina von Greiffenberg, Immanuel Jakob Pyra, Friedrich Gottlieb Klopstock, Friedrich Schiller, Friedrich Hölderlin, Emanuel Geibel bis zu Stefan George (W. Hinck, Das Gedicht als Spiegel der Dichter. Zur Geschichte des deutschen poetologischen Gedichts, Opladen 1985, bes. S. 12–27).

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unter ihr »pindarisches Erbe«,17 was Hans-Georg Gadamer mit Blick auf Hölderlin und Stefan George festhält. Der pindarische hohe Ton, die hymnische Begeisterung ist konstitutiv für das prophetische Dichten im 20. Jarhundert. Grundsätzlich orientieren sich die modernen Dichter-Propheten ebenfalls an den originären Vorbildern heiliger Autorschaft, an den beiden prominenten, von einer Inspiration geleiteten Sprechern: Das sind der Seher (vates) und der Prophet (nabi, prophētēs). Diese verweisen auf zwei Traditionslinien: Zum einen ist das pagan-griechisch-römische Bild des (poeta) vates als inspirierten Sängers seit der Antike als Quelle zu nennen,18 zum anderen die jüdischchristliche Vorstellung des prophētēs als visionären Gesandten Gottes.19 Gemeinsam ist beiden Figuren, dass ihnen ein Inspirationserlebnis zuteil wird. Die Musen enthusiasmieren den vates als Antwort auf die vorausgehende Musen-invocatio und begnaden ihn mit ›Atem, Erinnerung und Botschaft‹20 zum Heldengesang.21 Der alttestament-

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Henning Bothe, »Ein Zeichen sind wir, deutungslos«. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1992, S. 136. Vgl. zu Pindars Lob der Musen: Eike Barmeyer, Die Musen. Ein Beitrag zur Inspirationstheorie, München 1968, S. 57, S. 155. Varro verbindet als Erster das Seherische mit dem Dichterischen in seiner Schrift De poematis. Den vates als inspirierten Dichter nobilitieren sodann v.a. Horaz und Vergil (vgl. Dahlmann, Vates, S. 347–348; Jürgen Ebach, Art. Prophetismus. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hg. von Hubert Cancic, Burkhard Gladigow u. Karl-Heinz Kohl, Bd. 4, Stuttgart; Berlin; Köln 1998, S. 347–359, S. 355; King, Pilger und Prophet, S. 78). Vgl. zur vates-Etymologie auch: M. Runes, Geschichte des Wortes vates. In: Beiträge zur griechischen und lateinischen Sprachforschung. Festschrift für Universitäts-Professor Hofrat Dr. Paul Kretschmer, Wien; Leipzig; New York 1926, S. 202–216, S. 207). Vgl. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 13; Frick, Poeta vates, S. 125f. Vgl. dazu ausführlicher: Gerhard Neumann, L’inspiration qui c’est retire. Musenanruf, Erinnern und Vergessen in der Poetologie der Moderne. In: Memoria. Vergessen und Erinnern, hg. von Anselm Haverkamp, München 1993, S. 433–455. Bereits in den klassischen Musenanrufen Hesiods und der Homerischen Epen wird der Dichter als göttlich inspirierter Sänger autorisiert. So etwa im Proömium der Odyssee: »Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, / Welcher soweit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung […]« (Homer, Odyssee. Griechisch-Deutsch. Übertragen von Anton Weiher. Mit erläuterndem Anhang und Namensverzeichnis, München 1955, I, 1f.); oder auch als Auftakt der Ilias: »Singe, Göttin, den Zorn des Peleiaden Achilleus […]« (Homer, Ilias. Griechisch-Deutsch. Übertragen von Hans Rupé. Mit Urtext, Anhang, Register und Karten, 2 Bde., München 1948, I, 1). Der Dichter ruft hier die Muse eingangs um Beistand an (invocatio), nennt das Thema des Epos – z.B. den Zorn des Achilles – und authentifiziert sich als Sprachrohr seiner Schutzgöttin Kunst, die sein Dichten (Thema und Gesang) zuerst legitimiert: »Das göttliche Pneuma, das den Dichter im Inspirationsakt überkommt, bewirkt Enthusiasmus, Überwältigung und Entgrenzung, aber auch Erleuchtung. So befähigt die Inspiration den Dichter zur Verkündung überzeitlicher Wahrheit, setzt aber auch seherische und poetische Gaben frei« (Hinck, Das Gedicht als Spiegel der Dichter, S. 13). Vgl. Barmeyer, Die Musen, S. 55ff. u. S. 99; Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern; München 196913, Kap. 13 (»Die Musen«). Vgl. zur Etymologie des Begriffs vates: Dahlmann, Vates; Runes, Geschichte des Wortes vates. Die Inspiration entstammt ursprünglich dem Bereich der Religion (vgl. Manfred Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, S. 73).

liche Gott erwählt und beruft den hebräischen Propheten zur Verkündigung einer Heils- oder Unheilsbotschaft.22 Diese typischen Invokations- und Berufungsdichtungen »dienen der Rechtfertigung und Legitimation der herausragenden Position des Sehers innerhalb der Sozietät und liefern den nachhaltigen Beweis über die Authentizität und Objektivität des Offenbarten«23.24 Seher und Propheten beziehen deswegen beide ihre Dignität und Exklusivität als göttliche Boten aus einem transsubjektiven und göttlichen Grund, der als Ursprung poetischer Inspiration den absoluten Wahrheitsgehalt ihrer Rede verbürgt.25 Der wichtigste Unterschied zwischen poeta vates und nabi/prophētēs ist darin zu sehen, dass der biblische Prophet v. a. zukunftsgerichtet, von sittlichem Interesse geleitet das Bestehende kritisiert,26 der antike poeta vates hingegen rückwärtsgewandt den in der Vergangenheit anzusiedelnden Harmoniezustand im Heldengesang positiv preist und vergegenwärtigt. Markiert man also den Unterschied zwischen Dichter-Seher und Prophet, ist zu betonen, wie der Dichter-Seher eine verherrlichende Lobrede auf den Kosmos hält, der Prophet hingegen eine ethisch-moralische Mahnrede oder eine visionäre Heilsvision mit Sendungsbewusstsein verkündet, die er mit einem Aufruf zur Umkehr verbindet.27 Die Figur des Propheten ist des Weiteren in gewisser Weise komplexer angelegt als die Seher-Figur. Denn prophetisches Erleben ist immer durch den doppelten Zustand des »berufenen Rufer[s]«28, d.h. nabi, bestimmt, den rezeptiven, wahrnehmenden Akt der persönlichen Gotteserfahrung als

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Vgl. z.B. Jer 1, 4ff.; Ez 1, 1ff.; Hos 1, 1ff. Vgl. Dierse, Glei u. Lessing, Art. Prophetie, Sp. 1474. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 33f. Betrachtet man die ›Berufungsgeschichten‹ der Seher und der Propheten genauer, ist eine unterschiedliche Struktur der invocatio zu beobachten: Dem aktiven Musenanruf folgt die Musenantwort, der passiven Prophetenheimsuchung folgt die Prophetentat (vgl. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 32). Klassischerweise sträubt sich der Prophet zunächst gegen seinen Ruf, bevor er ihm nachkommt (vgl. etwa Jer 1, 4–10; Jes 1, 6–13; Jon 1, 3–16; Ex 4, 10–11). Vgl. Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen, S.  2; Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 13; Jan Dietrich, Art. Prophetenrede, In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Tübingen 2005, Bd. 7, Sp. 289–307, Sp. 293. Vgl. Dierse, Glei u. Lessing, Art. Prophetie, Sp. 1474; Frick, Poeta vates, S. 128. Vgl. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 43: »Die prophetische Botschaft, die den Dialog und die Beziehung des einen Gottes Jahwe zu seinem auserwählten Volk Israel aufrechterhält, dient ausschließlich einem ethisch-religiösen Interesse, auf welches das genuin göttliche Wort ebenso ausgerichtet ist wie der sprachlich formale und inhaltlich-thematische Rückgriff auf die ebenfalls von Gott gestiftete Tradition. Im Gegensatz dazu bringt der griechisch-römische Dichter-Sänger die ästhetische Dimension der Welt zur Sprache, wenn er die Harmonie des Kosmos und den Ruhm des Helden preist.« Aber auch die griechische Variante des Sehertums kennt Unheilsboten wie Kassandra und Teiresias. Im Unterschied zu den Magiern (und Schamanen) frönen ›wahre Seher‹ keinem Selbstzweck. Josef Ernst, Karl Hoheisel, Frank-Lothar Hossfeld, Helga Sciurie u. Jürgen Werbick: Art. Propheten, Prophetie. In: Lexikon für Theologie und Kirche, herausgegeben von Walter Kasper u.a., dritte, völlig neu bearbeitete Auflage, Bd.  8, Freiburg u.a. 1999, Sp. 627–636, Sp. 628. Vgl. Ebach, Art. Prophetismus, S. 349; Dietrich, Art. Prophetenrede, Sp. 290; Dierse, Glei, Lessing, Art. Prophetie, Sp. 1473f.

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Fremderfahrung und zugleich den als radikale Selbsterfahrung der eigenen ›Personalität‹29 erlebten Zustand des poietischen Akts, der individuellen Übersetzung.30 Denn die Vision muss durch eine Auslegung des Geschauten (imaginationum interpretatio) für die Hörer des Wortes aufbereitet werden: Die Propheten sind nicht einfach Sprachrohre und Werkzeuge Gottes. Durch sie redet Jahwe, indem sie selbst reden, gestalten, deuten, argumentieren, adressieren. Jeder Versuch der säuberlichen Trennung zwischen dem Propheten als Wortempfänger und dem Propheten als Interpreten scheitert nicht nur an der Sperrigkeit des Materials, sondern vor allem daran, daß eine solche Trennung von ›innen‹ und ›außen‹ dem atl. Denken fremd ist.31

Dieses prophetische Muster impliziert mit anderen Worten des Propheten Doppelnatur von Objekt- und Subjekt-Sein, Zwang und Freiheit,32 da er als Empfänger und Sender fungiert und damit eine Umschlagsfigur darstellt, die einen Wechsel von schlichter Passivität/Medialität zu weitreichender Aktivität/Personalität ermöglicht. Als herausragende Parameter der Propheten-Figur sind »die kommunikative Vertikale von Gottheit, Prophet und Gemeinde und die dieser vertikalen Trias korrespondierenden Autoritäts-, Wissens- und Wahrheitsgefälle, der Konflikt zwischen göttlicher Offenbarung und deren poetischer Gestaltung, die Konfrontation eines als defizitär erfahrenen gesellschaftlichen Ist-Zustandes mit einem heilsgeschichtlich-eschatologischen Soll-Zustand«33 hervorzuheben.34 Einen inspirierten Dichter in der Nachfolge des Propheten kennzeichnen also folgende Merkmale: Erstens legitimiert ein vorausgehendes Inspirationserlebnis den Dichter unter Rekurs auf einen transsubjektiven Grund. Dadurch verhilft es dem me-

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Eugen Drewermann setzt den Typ des ›prophetischen Ich‹ vom ›mystischen Ich‹ ab (vgl. E. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 2: Die Wahrheit der Werke und der Worte. Wunder, Vision, Weissagung, Apokalypse, Geschichte, Gleichnis, Olten; Freiburg im Breisgau 19873, S. 364). Gerhard von Rad betont ebenfalls das Erstarken des Selbst-Bewusstseins des Propheten als persona Gottes (vgl. G. von Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. 2: Die Theologie der protestantischen Überlieferungen Israels, Gütersloh 199310, S. 62f.). Vgl. dazu ausführlicher das Kapitel II.2. Vgl. ähnlich Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 22. Ebach, Art. Prophetismus, S. 352. Vgl. zu den Erklärungen Augustins zur Rolle der Denkkraft (mens) bei der prophetischen Zeichen-Auslegung: Dierse, Glei u. Lessing, Art. Prophetie, Sp. 1475. Vgl. zur Rolle des Intellekts in der Prophetie: Karl Erich Grözinger, Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik, Bd. 1: Vom Gott Abrahams zum Gott des Aristoteles, Darmstadt 2004, S. 419. Schon Herder hält allgemein in seinen Überlegungen zur Entstehungsbedingung der Bibel unmissverständlich fest, dass Gott ohne Worte denke und die Bibel insofern ein Dokument des menschlichen Bewussteins sei, durchsetzt von »subjektiven Einflüssen der Verschriftlichung« (Vietta u. Uerlings, Einleitung. In: Vietta, Uerlings (Hrsg.): Ästhetik – Religion – Säkularisierung. Band 1, S. 8). Vgl. von Rad, Die Botschaft der Propheten, München; Hamburg 1967, S. 50. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 426, vgl. S. 5, S. 15, S. 17 u. S. 30. Insbesondere das »in der Institution des Prophetentums implizierte starke hierarchische Gefälle von charismatischer, auch zur politischen Führung fähiger Ausnahmefigur und abhängiger, zur Folgsamkeit verpflichteter ›Gemeinde‹« betont auch Frick (Frick, Poeta vates, S. 128).

dialen Mittler als göttlichem Boten zweitens zu einer exklusiven Dignität, die ihn von den Nichtausgezeichneten abhebt. Daraus wird ein Authentizitäts- und Wahrheitsanspruch prophetischer Rede und ihrer Botschaft abgeleitet, die ferner drittens durch eine geschichtliche Dimension gekennzeichnet ist, indem sie die Zukunftsperspektive prophetischer Dichtung in den Mittelpunkt rückt sowie die ethische Absicht inkludiert, die Verhältnisse der Gegenwart zu korrigieren.35 Diese grundlegenden Konstanten werden von prophetisch gestimmten Dichtern der Moderne einerseits aufgenommen, andererseits modifiziert.36 Sie fokussieren vornehmlich das Potential prophetischen Sprechens, das dem poetischen verwandt ist.37 Diesem liegt »eine Sprachphilosophie zugrunde, die Sprache als ein Geschehen annimmt, durch welches das geschieht, wovon dieses Wortgeschehen spricht«38, d.h. dem prophetischen Sprechen eignen performative Züge:39 Prophetie ist nicht nur darin sprach- und dichtungsaffi n, daß sich der göttliche Wille im Medium des Dichters sprachlich artikuliert, sondern auch darin, daß der prophetischen Sprache ein Potential zugedacht ist, welches sie befähigt, in Sinnerkenntnis und pragmatisches Handeln gleichermaßen ›überzugehen‹.40

In der prophetischen Mitteilung ist Vergangenes in Form der memoria ebenso gegenwärtig wie Zukünftiges.41 Des Weiteren sind »symbolische Zeichenhandlungen«42 und prophetische Gesten als Grundpfeiler prophetischen Sprechens hervorzuheben,43 beispielsweise der ›gezeichnete Körper‹ als prophetischer Ausdruck,44 dem die Auto-

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Vgl. zu den Fundamenten unheilsprophetischer Gesellschaftskritik ausführlich: Dietrich, Art. Prophetenrede, Sp. 291ff. In seiner Vermittlerfunktion als Sprachrohr der Götter (interpres deorum) unterscheidet sich etwa der ursprüngliche Sänger des antiken Epos schon distinguiert vom späteren DichterBild des Sehers als Schöpfers, späterhin als Autor (auctor) bezeichnet. Letzterer leistet bewusst Verzicht auf die proklamierte Allwissenheit eines göttlich inspirierten Sängers, indem er seine Autorschaft selbst verbürgt und für seine nunmehr fiktionalen Gebilde einsteht (vgl. Selbmann, Dichterberuf, S. 8). Vgl. Dietrich, Art. Prophetenrede, Sp. 299. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 16. Vgl. Dietrich, Art. Prophetenrede, Sp. 294f.: »Bei all dem ist das übermittelte göttliche Wort ein ›schöpferisches Wort‹, indem es nicht nur gegebene Verhältnisse kritisiert und die Zukunft verkündet, sondern diese Zukunft mit der Verkündigung selbst schafft. Die prophetische Rede ist performative Rede.« Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 16; vgl. Frick, Poeta vates, S. 128. Vgl. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 16. Dietrich, Art. Prophetenrede, Sp. 300. Vgl. zur Bandbreite prophetischer Rede und Spruchformen wie Gerichtsankündigungen, Botenformeln, Heils- und Unheilworte, Visions- und Auditionsschilderungen, Gerichtsrede etc. ausführlich: Claus Westermann, Grundformen prophetischer Rede, München 1971,4 Dietrich, Art. Prophetenrede, Sp. 295ff. und Klaus Seybold, Poetik der prophetischen Literatur im Alten Testament, Stuttgart 2010. Insbesondere Ezechiel weist zahlreiche »körperliche Symptome« (Ebach, Art. Prophetismus, S. 351) als Ausdruck seiner Sendung auf.

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ren der Klassischen Moderne eine gesteigerte Aufmerksamkeit schenken, etwa Rilke und Trakl.45 Die den Propheten eigene Körpersprache befördert die Veranschaulichung (evidentia, illustratio) und Einprägsamkeit (memoria) der prophetischen Rede. Insbesondere die Figur des Erhabenen prägt ferner die Erfahrungswelt des Propheten und seine mediale Funktion als ›Mundstück‹ heiliger Worte. Als Künder des Gotteswortes bemüht sich der Prophet heuristisch um die Darstellbarkeit Gottes, des Unsichtbaren, Übersinnlichen, d.h. eigentlich Undarstellbaren und Erhabenen. Die Zeichen des jahwistischen, unsichtbaren Gottes finden ihre Materialisierung in den Erscheinungen der gewaltigen Natur, die die Kraft der Inspiration spiegeln. Die Übergewalt der Natur respektive die Allmacht Gottes korreliert dabei in anthropologischer Perspektive mit der Ohnmacht des – gemäß Hölderlin – unter den Gewittern Gottes stehenden Menschen. In der Hymne – die Gattung schlechthin für das Erhabene – wird oft die Differenz von unfassbaren numinosen Ereignissen und den Widerständen der sprachlichen Abfassung sowie die Rolle des Vermittlers, des poeta vates thematisiert. Der Diskurs des Erhabenen widmet sich bekanntlich dem dynamisch erfahrenen, plötzlichen Einbruch des Über-uns-Stehenden sowie der statisch erfahrbaren Übergröße Gottes:46 »Der Herr ist erhaben, denn er wohnet in der Höhe«47, heißt es bei Jesaja. Ästhetik und Religion kreuzen sich in der Kategorie des Erhabenen.48 Mit Theodor W. Adorno gesprochen verweist das Erhabene auf »die unmittelbare Okkupation des Kunstwerks durch Theologie«49. Steht das Herabströmen des ungebändigten Gotteswortes im Zeichen des Erhabenen, weisen die sittliche Macht und das Künstlertum des Propheten auch auf das Schöne als Ordnungsprinzip hin. Erscheint das Erhabene zunächst als »Zeichen der Sinnleere«50, als Vergegenwärtigung der Sinndefizite, impliziert die Künderfigur des Propheten ein Umschlagspotential zum Schönen hin: Auf den Einbruch des Erhabenen folgt in der Hinwendung zum Schönen die absolute Sinnfülle51 durch eine vom Propheten betriebene Aufbereitung der Gottes-Worte. Der Gedanke einer »Einkopierung des Erhabenen unter die Vorherrschaft des Schönen« und der Begriff des »Erhabenschönen« finden sich in Herders Schrift Kalligone (1800).52 Insbesondere bei Rilke lässt sich diskutie-

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Vgl. dazu insbesondere die Kapitel V.3.5., VI.6. und VI.8.2.2. Vgl. ähnlich Christian Pöpperl, Auf der Schwelle. Ästhetik des Erhabenen und negative Theologie. Pseudo-Dionysius Areopagita, Immanuel Kant und Jean-François Lyotard, Würzburg 2007, S. 14. Jes 33, 5; vgl. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917, S. 66. Vgl. Pöpperl, Auf der Schwelle, S. 17. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, hg. von Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970, S. 295. Pöpperl, Auf der Schwelle, S. 16. Vgl. Monika Fick, Pfeiler der klassischen Ästhetik: Das Erhabene. In: Der Schein der Dinge. Einführung in die Ästhetik, hg. von Monika Fick u. Sybille Gößl, Tübingen 2002, S. 39–62, S. 46. Ralf Simon, Die Bildlichkeit des lyrischen Textes. Studien zu Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Heine, Mörike, George und Rilke, Paderborn; München 2011, S. 254.

ren, wie die Propheten-Figur als Repräsentant des Erhabenen von der prophetischen Textur, der Schönheit überformt wird. Das Erhabene wäre dann eine Vorstufe zum Schönen. Carsten Zelles These von der »doppelten Ästhetik«53 ergänzend wird das Erhabene so selber wiederum zur Form des Schönen, ist die »Domestizierung des Erhabenen unter das Schöne«54 zu erkunden. Als Wechselspiel der Prinzipien ›Apollinisch‹ und ›Dionysisch‹ hat Nietzsche die Transfiguration der Ästhetiken des Schönen und Erhabenen in Die Geburt der Tragödie festgehalten.55 Zwar hat sich der Begriff des Erhabenen mit seinen diversen Theoretikern historisch bedingt oftmals gewandelt,56 doch sind dabei Konstanten wie die Anwendung des Erhabenen auf Naturphänomene zu verzeichnen.57 Dem trägt bereits der Urvater des antiken Paradigmas des Erhabenen in seiner Schrift Über das Erhabene (1. Jh. n. Chr.), Pseudo-Longin, Rechnung: »Dann nämlich ist Kunst am Ziel, wenn sie Natur scheint; die Natur wieder ist vollendet, wenn sie die Kunst unmerkbar einschließt.«58 Die gewaltige Macht des Erhabenen sei einem Blitze gleich: »[…] während das Erhabene, wo es am rechten Ort hervorbricht, den ganzen Stoff wie ein plötzlich zuckender Blitz zerteilt und schlagartig die geballte Kraft des Redners offenbart.«59 Longin thematisiert sowohl die produktions- als auch die wirkungsästhetischen Paradigmata des Erhabenen: Die Zusammenschau der produktiven Spannung zwischen Inspiration, dichterischem Enthusiasmus, Naturanlage, Imagination gemäß Platons Vorstellung im Ion einerseits sowie Kunstregelorientierung und Mimesistheorie gemäß Aristoteles’ Poetik andererseits, d.h. ingenium und ars, bildet den Grundpfeiler der Rhetorik-Theorie vom erhabenen Redner in produktionsästhe-

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Zelle untersucht detailliert die »Geschichte inhomogener Spannungsbeziehungen« von Schönheit und Erhabenheit/Hässlichkeit, denn: »Im Medium der Ästhetik vollzieht sich Aufklärung über Aufklärung als Kritik des Schönen durch das Erhabene. Ästhetik in der Moderne ist daher stets doppelte Ästhetik gewesen« (C. Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart; Weimar 1995, S. 3). Das Erhabene ist für ihn v.a. nicht nur das Hohe, sondern das Schreckende, Ausdruck der Zerissenheit des Menschen. Mit Blick auf Nietzsche hält er fest: »Das Erhabene und Komische sind Grenzformen ästhetischen Scheins. Sie depotenzieren den Schrecken zwar, sind jedoch aufgrund ihrer eigentümlichen Gegensatz- und Kontrastform gleichsam noch durchsichtig genug, einen Einblick ›in’s Innere und Schreckliche der Natur‹ erahnen zu lassen« (Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 335). Ralf Simon, Die Bildlichkeit des lyrischen Textes, S. 256. Vgl. ausführlich zum Zusammenhang von Schönheit und Schrecken: Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 319ff. Vgl. zur Login-Rezeption: Dietmar Till, Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2006, S. 234ff. Vgl. Fick, Pfeiler der klassischen Ästhetik, S. 42; vgl. Stefan Büttner, Antike Ästhetik. Eine Einführung in die Prinzipien des Schönen, München 2006, S. 166. Longinus, Vom Erhabenen. Griechisch-Deutsch. Übersetzt und hg. von Otto Schönberger, Stuttgart 1988, S. 61, vgl. S. 91. Longinus, Vom Erhabenen, S. 7, vgl. S. 87.

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tischer Hinsicht.60 Die Grenze zwischen »diskurslogischem Überzeugen und pathetischem Überwältigen der Zuhörer, zwischen ethischem Argument und funktionaler, das Gemüt bewegender Rede«61 prägt sinnfällig das wirkungsästhetische Ausmaß, so dass die Macht des Redners zugleich affektiv und rational den Zuhörer in Ekstase versetzt.62 Der maximalen Wirkung erhabener Rede entspricht indes eine »nahezu sprachlich asketische Einfachheit«63. Als Beispiel für die reine Darstellung des Göttlichen zitiert Longin neben antiken Dichtern den Schöpfungsbericht (»Genesis«) aus der Bibel.64 Auch der Marburger Religionswissenschaftler und protestantische Theologe Rudolf Otto thematisiert das Erhabene in seiner Schrift Das Heilige von 1907, in der er das irrationale Moment der Religion, das religiöse Gefühl aufwertet. Das Heilige sei nach Absonderung der sittlichen Komponente gefühlsmäßig und vorbegrifflich anzugehen, denn es enthalte über das rationale Moment hinaus noch einen ›Überschuss‹.65 Das Heilige ohne sittlichen und rationalen Anteil nennt Otto das Numinose.66 Die ›Kontrastharmonie‹ des Mysteriums (mysterium tremendum et fascinosum) besteht aus einem schmerzlich-abstoßenden und einem glücklich-anziehenden Gefühl.67 Diese gemischte Gefühlslage des Menschen als Reaktion auf die Erfahrung des Numinosen lässt einen Bogen zur ästhetischen Kategorie des Erhabenen schlagen:68 »In den Künsten ist fast überall das einzig mögliche Darstellungsmittel des Numinosen das Erhabene.«69 Direkte künstlerische Darstellungsmittel des Erhabenen sind »feierliche Haltung, Gebärde, Ton der Stimme und Miene«70. Das Erhabene ist, in Anlehnung an Kant formuliert, geradezu ein ›Schema‹ des Heiligen.71 Besonders die Propheten betonen das Leben des ›Heiligen‹ und seine irrationale Wesenheit, so Ezechiel und Jesaja, auch das Hiob-Buch.72 Die platonischen »Ideogramme« des Mythos, des Enthusiasmus und der Mania sind weitere Beispiele für den Einbruch des Irrationalen.73 Auf dem Gebiet des religiösen Gefühls nobilitiert Otto den Propheten: In der Masse ist die ›Anlage‹ nur als die Rezeptivität, als Erregbarkeit für Religion und für eigenes freies Anerkennen und Beurteilen. […] Die höhere Potenz und Stufe, unableitbar

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Vgl. Longinus, Vom Erhabenen, S. 7, S. 19 u. S. 21. Pöpperl, Auf der Schwelle, S. 22; vgl. Katrin Kohl, Poetologische Metaphern. Formen und Funktionen in der deutschen Literatur, Berlin; New York 2007, S. 60. Vgl. Longinus, Vom Erhabenen, S. 49. Pöpperl, Auf der Schwelle, S. 23. Vgl. Longinus, Vom Erhabenen, S. 26f. Vgl. R. Otto, Das Heilige, S. 6. Vgl. R. Otto, Das Heilige, S. 7. Vgl. R. Otto, Das Heilige, S. 33. Vgl. R. Otto, Das Heilige, S. 66. R. Otto, Das Heilige, S. 70. R. Otto, Das Heilige, S. 62. Vgl. R. Otto, Das Heilige, S. 50. Vgl. R. Otto, Das Heilige, S. 79. R. Otto, Das Heilige, S. 99.

aus der ersten Stufe bloßer Rezeptivität, ist hier nicht der Künstler sondern der Profet, der den Geist als das Vermögen der ›Stimme von innen‹ und als das der Divination und durch diese als religiöse Divinationskraft besitzt.74

Mit Blick auf das Moment der Divination im Urchristentum thematisiert er die jeweils geschichtliche Konstituierung von Prophetie:75 Religiöse Kreise benötigen ein Zentrum, und das ist ein lebender ›Heiliger‹.76 Begleiterscheinungen echter Divination sind »Momente erhöhten Geisteslebens und erhöhter Geisteskraft«, analog zur »Berufungsbegabung der großen Propheten Israels als visionäre[r] Intuition und mantische[r] Ahnung«.77 Ottos Konzeption des Heiligen kann im Kontext der ästhetischen Religiosität um 1900 eingebettet werden.78 So ist der kultische Zug in Georges Dichtung oftmals nachgezeichnet worden.79 Ralf Simon untersucht zuletzt eingehend die »verschwindenden Bilder der Erhabenheit« in Georges Hymnen.80 Den Aspekt des tremendum erläutert Otto selbst unter Bezugnahme auf GespensterErscheinungen, wie sie im Umfeld spiritistischen Experimentierens – etwa in Rilkes Malte thematisiert – en vogue sind.81 Ottos Kreaturgefühl lässt sich mit der krisenartig wahrgenommenen Ich-Dissoziation vergleichen. Ferner nennt er geschichtliche Etappen der Heiligen-Wahrnehmung wie etwa den Zauber, Totendienste, Seelenvorstellungen, den Dämon als »Intuition prophetischer Naturen«82, denn zum Numen gehört ein Prophet. Die Propheten-Porträts der Jahrhundertwende sind – wie gesagt – von Erfahrungen des Erhabenen gezeichnet. Interessant ist dabei nicht zuletzt die Beobachtung, dass Erhabenheit und Komik nahe beieinanderstehen können. Die hymnische Erhabenheit steht nämlich nicht so sehr in Opposition zu lyrischer Schönheit, sondern die Geste der Erhabenheit birgt vielmehr die Gefahr des »Umschlagens ins Komi-

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R. Otto, Das Heilige, S. 185. Vgl. R. Otto, Das Heilige, S. 162: »Und wenn irgend etwas, so sind grade solche Selbstaussagen der Profetie aller Zeiten über sich selber ihrer Form nach am meisten abhängig von Zeitvorstellung, Milieu, mythologischem oder dogmatischem Apparate der Umgebung, und ihre Anwendung auf sich selber durch den betreffenden Profeten oder Inspirierten oder Meister beweist nur sein Selbstgefühl überhaupt, seine Mission, seine Überlegenheit und seinen Anspruch auf Glaube und Gehorsam: Dinge, die alle von vornherein selbstverständlich sind, wo ein Mensch von innerer Berufung aufsteht.« Vgl. R. Otto, Das Heilige, S. 164. R. Otto, Das Heilige, S. 179. Vgl. W. Braungart, Ästhetische Religiosität oder religiöse Ästhetik. Einführende Überlegungen zu Hofmannsthal, Rilke und George und zu Rudolf Ottos Ästhetik des Heiligen. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Bd.  2: Um 1900, hg. von Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs u. Manfred Koch, Paderborn; München u.a. 1998, S. 15–29, S. 25f. Vgl. zur Manipulation des Numinosen: R. Otto, Das Heilige, S.  35; vgl. zur Kultsprache, R. Otto, Das Heilige, S. 68. Vgl. zu George: W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus. Vgl. R. Simon, Die Bildlichkeit des lyrischen Textes, S. 231ff. Vgl. R. Otto, Das Heilige, S. 29. R. Otto, Das Heilige, S. 131.

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sche«83, wie es Simon in theoretischen Schriften von Jean Paul, Friedrich Theodor Vischer und v.a. Nietzsche beobachtet.84 Auch auf dem Feld der Dichter-ProphetenInszenierung zeigt sich die Gefahr des (unfreiwilligen) Umschlagens von Erhabenheit in Komik, wie man hinzufügen kann.85 Die Neuauflagen des Dichter-Propheten und des poeta vates in der Klassichen Moderne sind des Weiteren auch als eine Gegenbewegung zum subjektzentrierten Genie-Konzept zu klassifizieren:86 Indem der Dichter zum Werkzeug göttlicher Bildkraft avanciert, wird nicht nur die von der Genieästhetik etablierte Autonomie des Dichters aufgekündigt, sondern auch die Aufmerksamkeit vom Werk auf das Leben des Dichters gelenkt, das vom Göttlichen durchdrungen zu sein vorgibt. Es gehört zu den Nebenwirkungen dieser Selbstdeutung, daß sie vom dichterischen Originalitätsdruck entbindet.87

Im Gegensatz zum Genie verhindert der transpersonale Ursprung von Kreativität – wie sie dem poeta vates und Dichter-Propheten eignet – eine rein subjektive Basis von origineller Kunstproduktion.88 En passant lässt sich dabei auch eine Schnittstelle zwischen Diskursanalyse und der von ihr in Frage gestellten Vorstellung subjektzentrierter Kreativität ausmachen. Sowohl eine Verabschiedung als auch eine ›Rückkehr des Autors‹89 ist zu diskutieren. Michel Foucaults Analyse des Autors impli-

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R. Simon, Die Bildlichkeit des lyrischen Textes, S. 249. Vgl. R. Simon, Die Bildlichkeit des lyrischen Textes, S. 247f. Vgl. das Kap. IV.1.3. Vgl. Hinck, Das Gedicht als Spiegel der Dichter, S. 28: »Wo der priesterliche Dichter Sprachrohr oder Vermittler bleibt, will das Genie in absoluter Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit mit seiner unverwechselbaren Stimme sprechen: nicht im Dienst des Göttlichen schafft der Künstler, sondern in Analogie zum Schöpfergott.« Vgl. zum ›Genie‹ stellvertretend: Klaus Weimar, Art. Genie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, hg. von Klaus Weimar u.a., Berlin 1997, S. 701–703; Wendelin Schmidt-Dengler, Genius. Zur Wirkungsgeschichte antiker Mythologeme in der Goethezeit, München 1978; J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens; Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen. Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 111. Bei der Frage nach »der genealogischen Autorität des kreativen Subjekts« weist Blamberger aber zu Recht schon auf die mitunter zwiespältige Genieauffassung etwa Kants hin (vgl. Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen, S. 70). Dieser erkenne zwar das Irrationale des Genies als unberechenbares Geschehen der produktiven Einbildungskraft an, stelle dem Prozess der Inspiration aber auch einen Hinweis auf die mühselige Elaboration zur Seite, so dass sein Genie sich zwischen »Eigensinn und Gemeinsinn, Einbildungskraft und Geschmack« (Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen, S. 69) bewege. Im Gegensatz etwa zu Youngs Geniekonzeption repräsentiere Kants Integrationsmodell eine »gemäßigte Alternative subjektzentrierter Kreativität« (Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen, S.  72). Auch in Hegels Ästhetik finde sich ein Kombinationsmodell von Talent/Genius einerseits und Übung/Fertigkeit im Produzieren andererseits: »Hegels Interesse richtet sich also nicht auf den Ursprung schöpferischer Subjektivität, sondern auf den Vorgang ihrer Objektivierung im Werk« (Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen, S. 73). Vgl. die Erwähnung des poeta vates und die Auslegung von Platons Ion in der Einleitung des Sammelbandes zur ›Rückkehr des Autors‹, wonach der Autor »kein priviligierter Interpret

ziert schließlich die ontologische Annahme eines »transpersonalen Ursprungs von Kreativität«90 und wäre damit ohne Weiteres mit der Propheten- oder poeta-vatesKonstruktion91 kompatibel. Denn im Gegensatz zum autonomen Genie ist der Dichter-Prophet heteronom veranlagt, da er sich stets auf ein anderes bezieht. Propheten sind per definitionem Vermittler, Dolmetscher, kurz: Hermeneutiker und Aufbereiter einer Botschaft. Sich selbst transzendierend wenden sie sich mittels doppelten intentionalen Bezugs nicht nur an eine auserwählte Zuhörerschaft, sondern werden zunächst in Bezugnahme auf einen anderen inthronisiert.92 Im Vergleich zum Genie ist der Dichter-Prophet von einer Demutsgeste geprägt. Martina King verzeichnet dementsprechend bei der Neuauflage des Dichter-Prophetentums im Anschluss an Marx eine »Akzentverschiebung von genialem Schöpfertum zur heiligen Medialität«93, insbesondere um die Jahrhundertwende. Helmuth Kiesel hält mit Blick auf Medialisierungsbekenntnisse verschiedener Dichter (Else Lasker-Schüler, Gottfried Benn, R. M. Rilke, Alfred Döblin u.a.) allgemein fest, dass der Autor seine Bedeutung für den Text in dreifacher Hinsicht relativiere: »Er negiert seine schöpferische Originalität; er mindert seine strukturierende und rezeptionsbestimmende Leistung; und er verzichtet auf das Ausspielen seiner Deutungskompetenz.«94 Den ersten beiden Folgerungen ist zuzustimmen; die letzte ist angesichts der medialen Veranlagung des Dichter-Propheten zu korrigieren. Denn indem zugleich sein prophetisches Leben profi liert wird, erfährt er eine gesteigerte Nobilitierung, die den Inspirierten zum eigentlich Wissenden und damit zur Führungsperson qualifiziert. »Die den Diskurs der Moderne prägende erkenntnistheoretische Unterminierung jedes objektiven Wahrheitsanspruchs und die Auflösung des Subjekts provozieren innerhalb der literarischen Szene eine Restituierung prophetischer Rede«95, da der Prophet einerseits dezentriert und demütig als Medium in Erscheinung treten – passend zur Auflösung des Subjekts –, er andererseits gerade den Verlust des Wahrheitsanspruchs durch seinen Status als Wahrheitsorgan wieder kompensieren kann.96 Infolge der subjektiven

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seines Textes« mehr sei (Jannidis, Lauer, Martínez u. Winko (Hg.), Rückkehr des Autors, S. 4f.). Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen, S. 51. Barmeyer hält für die Musendichtung fest: »Im Musenmythos wird die Dichtung auf göttliches Eingreifen zurückgeführt. Von den Musen inspirierte Dichtung gilt als objektives Zeichen einer verpflichtenden Wirklichkeit. […] Die persönliche Autorschaft wird transzendiert von einer überpersönlichen Autorität. Damit aber enthält im Kern jede inspirationsgebundene Dichtung den Anspruch, über alle relativen, subjektiven Vorstellungen hinauszureichen« (Barmeyer, Die Musen, S. 16). Gleichzeitig ist Vermittlung auch das wichtigste insignium der Kunst; kein Wunder also, dass sich der Prophet als Künstlerfigur oder zumindest als Reflexionsfigur dessen, was Kunst zu leisten vermag – gerade auch in Zeiten der Subjekt- und Sprachkrise – besonders eignet. King, Pilger und Prophet, S. 56; vgl. Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 111 u. S. 119. Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 134. Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 109f. King konstatiert etwa ein Changieren zwischen »Selbstüberhöhung und ›demütige[r]‹

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Beimischung prophetischen Kündens, die vom Rezipienten nicht mit dem Geschauten verglichen werden kann, da er selbst in jeder Hinsicht keinen Zugriff auf das ›Original‹ hat, lassen sich zudem Frontstellungen gegen prometheische Selbstermächtigungsversuche diskutieren, wonach die modernen Propheten teilweise wiederum als ›verdeckte Genies‹ oder ›Volksverführer‹ zu erkennen sind, die sich aufgrund ihres übersteigerten Dichter-Propheten-Anspruchs sogar selbst demontieren. Marx deutet zu Recht mit Blick auf George und Lasker-Schüler an, dass, »was der Behauptung heiliger Autorschaft dienen soll, […] zugleich deren Entmächtigung [inszeniert]«97. Die Zusammenschau zweier Erfahrungsbereiche des Prophetischen, der des religiösen und der des ästhetischen,98 lässt zudem nach dem Status der Personalität des prophetischen Mediums in beiden Etappen fragen. In der Vorstellung des rezeptiven Propheten-Mediums Gottes dominiert die religiöse Komponente; der darauf folgenden Auftragsausführung eignet ein ästhetisches Potential, da das Geschaute übersetzt und in einem poietischen Akt konsumierbar gemacht wird. Dabei zeichnet sich ab, dass dem Propheten im rezeptiven Zustand eine mediale Komponente zukommt, im Zustand des ästhetischen Vollzugs hingegen die Eigenmächtigkeit des sprachkompetenten Künstlers überwiegt. Inwiefern beim ästhetischen Vollzug die mediale Vermittlung, d.h. der hermeneutische Transformationsakt, subjektive Züge des Künstlers offenbart, ist hinsichtlich der modernen Propheten-Figurationen jeweils auszuloten. Wie sehr das Inspirationserlebnis den Künstler als medialen Dolmetscher bindet, d.h. in welchem Grade man ihn unter dem Zwang bzw. der Gnade fremder Gewalten inszeniert, wird jeweils ganz unterschiedlich eruiert, abhängig davon, welches der drei prophetischen Stadien – Inspirationserlebnis, ästhetische Bewältigung des Geschauten in formaler Hinsicht und Ausdeutung der weltrevolutionierenden Botschaft in inhaltlicher Hinsicht, kurz: erlebendes Hören, Sagen, Deuten – bezüglich des geschichtlichen ›Heilsplans‹ von Seiten der Dichter fokussiert wird. Ferner ist bei den modernen Propheten eine doppelte Verkürzung der »Kommunikationstrias«99 zu beobachten: Erstens wird die intentionale Bezugsgröße des Propheten – also Gott – in einer entgötterten Welt oftmals vakant; der ›alte Gott‹ wird durch einen ›neuen Gott‹ substituiert – etwa durch selbstgeschaffene Götter, den hypostasierten Künstler, das Leben, die Natur, die Dingwelt, das kollektive Unbewusste, die radikale ›leere Transzendenz‹100, die autonomen Wörter oder eben die Kunst etc.; zweitens wird der Status des vermittelnden Künstlers mit Blick auf seinen Rezipientenkreis teilweise neu definiert: Statt ›Sendungs-Propheten‹ mit ethischem Impetus sind teilweise

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Selbstverkleinerung« bei Rilkes epistolarer Selbstsakralisierung (King, Pilger und Prophet, S. 48). Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 119. Vgl. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 22 u. S. 23. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 15. Vgl. zur »leeren Transzendenz«: Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit einem Nachwort von Jürgen von Stackelberg, Reinbek bei Hamburg 1988 [zuerst 1956], S. 76–77.

auch ›introvertierte Dichter-Propheten‹ und Propheten-Figurationen zu erkennen, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass der Bezug auf eine Gemeinde gekappt ist. Zu diskutieren ist dann, in welchen Fällen noch eine ›pragmatische Akzeptanz‹ hinsichtlich »eines spezifischen ›Pakts‹ mit der (Leser-)Gemeinde«101 zugrunde liegen muss. Damit einhergehend steht mitunter auch die pragmatische Zweckgerichtetheit der prophetischen Dichtung in Frage. Hermetik, Änigmatik, Lyrik für Eingeweihte hintergehen teilweise das klassische Muster pragmatisch-rhetorischer Prophetien mit ethischer Zielsetzung. Man kann gerade in der Klassischen Moderne beobachten, wie einer Entpragmatisierung des prophetischen Sprechens zugearbeitet wird: Das heilige Wort, das der moderne Prophet verlautbart, ist teilweise gänzlich ohne pragmatischintentionalen Bezug gestaltet, wenn der Umkehrappell fehlt oder dieser offenkundig absichtlich chiffriert oder nur für Auserwählte konzipiert ist. Eine moderne prophetische Rede geschieht dann primär um der Kunst oder des Künstlers willen, genauer als Ursprungsmythos einer autonomen Kunst, die u.a. auf Unverständlichkeit abzielt oder auf eine gesteigerte authentische Darstellung, etwa im Rahmen einer prophetischen Körperpoetik, wo prophetisches Zeichen und Bedeutung unmittelbar zusammenzukommen scheinen. Teilweise führt dabei eine Ästhetisierung der Prophetie zu deren ›Ent-Ethisierung‹. Alternativ ist aber auch bei einigen Dichtern eine Prophetisierung der Ästhetik zu erkennen, wenn der ethische Impetus im Rahmen der künstlerischen Anverwandlung überwiegt.

II.2. Prophetentum und Künstlertum in Bubers Zeitschrift Der Jude Der alttestamentliche Prophet eignet sich freilich als exemplarische Reflexionsfigur für das jüdisch-kulturelle Erbe. Insofern wundert es nicht, dass Propheten beispielsweise in der von Martin Buber im April 1916 erstmals herausgegebenen Zeitschrift Der Jude, die Fragen jüdischer Kultur in allen Varianten diskutiert, eine zentrale Rolle spielen.102 Neben dem wohl brisantesten Thema, demjenigen des Zionismus, des echten oder folgenlosen Aktivismus bzw. dagegen gerichtet dem der Diaspora, finden sich dort auch zahlreiche Stellungnahmen zum Phänomen des Prophetismus.103 Ka-

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Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 24. Als Organ der jüdischen Moderne bildet die Zeitschrift Der Jude bis ca. 1924 eine Plattform für ästhetisch wie politisch virulente Themen, anschließend erscheint sie nur noch vierteljährlich (vgl. Eleonore Lappin, Der Jude 1916–1928. Jüdische Moderne zwischen Universalismus und Partikularismus, Tübingen 2000, S. 300–320). Vgl. Lappin, Der Jude, bes. S. 167–198 u. S. 242–300. Die Zionismus-Debatte in den Blick nehmend analysiert Hans Otto Horch, um die Verbindungslinien zwischen jüdischer Sendung und expressionistischer Dichtung zu illustrieren, stellvertretend Max Brods zionistische Bemühungen im Sinne eines »konkrete[n] Engagement[s] für die jüdische Gemeinschaft in Palästina« (H. O. Horch, Expressionismus und Judentum. Zu einer Debatte in Martin Bubers Zeitschrift »Der Jude«. In: Die Modernität des Expressionismus, hg. von Thomas Anz u. Michael Stark, Stuttgart; Weimar 1994, S. 120–141, S. 133) und dessen Kritik an Kurt

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talysatoren für ein profundes Interesse an den Propheten des Alten Testaments sind vor allem die umfangreichen Abhandlungen von Gustav Hölscher (Die Propheten, 1913), Bernhard Duhm (Israels Propheten, 1916) und Hermann Gunkel (Die Propheten, 1917).104 Diese einschlägige Literatur zur Prophetie erklärt mitunter, weshalb in jüdischen Zeitschriften zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts allgemein eine auffallend große Zahl an Beiträgen zum Begriff des ›Prophetismus‹ und zur Figur des Propheten, wenn auch mit ganz unterschiedlichen Fragestellungen, zu finden ist. Beim renommierten Bibelforscher Elias Auerbach (1882–1971), der die fulminanten Propheten-Abhandlungen seiner Zeit bespricht, liest man: »Das alte Rätsel der Prophetie läßt die Geister nicht los.«105 Eine Feststellung von Efraim Frisch (1873–1942) offenbart die mit der Zionismus-Debatte einhergehende Wiederbelebung des Prophetismus im jüdischen Gedankenumfeld in aller Breite: »Die Einheit des menschlichen Geschlechts, der Glaube an jene Vollendung in der Zukunft, ist eine Konzeption der Propheten, und in weiterer Folge ist der Universalismus […] eine religiöse Kategorie, die in der [jüdischen] Tradition verankert ist.«106 Wenn Hermann Cohen (1842–1918) Platon und die Propheten 1923 als »die beiden wichtigsten Quellen der modernen Kultur überhaupt«107 adelt und das ganze Volk im prophetischen Sinne

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Hillers und Ludwig Rubiners blutleerem Aktivismus. Er zeigt ferner, wie Rudolf Kayser für ein »stellvertretendes Engagement für Europa« (Horch, Expressionismus und Judentum, S. 134) universalistisch und antizionistisch ausgerichtet plädiert und zeichnet nach, wie Alfred Wolfenstein zuletzt jüdisches Dichtertum mit »universaler Spiritualisierung und Verinnerlichung« (Horch, Expressionismus und Judentum, S. 134) als Antwort auf die DiasporaSituation gleichsetzt. Unter modernen psychologischen und psychopathologischen Gesichtspunkten nähert sich Gustav Hölscher den Grundfesten des Prophetismus. So rückt er die Ekstase in die Nähe des Trancezustands des hypnotischen Mediums und erklärt die Vision mit Sinnestäuschungen und Autosuggestion (vgl. G. Hölscher, Die Profeten. Untersuchungen zur Religionsgeschichte Israels, Leipzig 1914). Bernhard Duhms Buch liefert eine Geschichte des israelitischen Prophetentums, die aufzeigt, dass Gott und sittliche Idee eins sind (vgl. B. Duhm, Israels Propheten, Tübingen 1922; vgl. dazu Henning G. Reventlow, Die Prophetie im Urteil Bernhard Duhms. In: ZThK, 85, 1988, S. 259–274; Konrad Schmid, Klassische und nachklassische Deutungen der alttestamentarischen Prophetie. In: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte, 3, 1996, S. 225–250, S. 225–228) – eine These, die ebenso Kellermann vertritt und die Emil Levy entschieden attackiert (vgl. E. Levy, Über die Prophetie. Bemerkungen zu dem Aufsatz von Dr. Elias Auerbach »Über die Prophetie«. In: Neue jüdische Monatshefte, 2, 1917, Nr. 6, S. 143–144). Hermann Gunkel nähert sich ansatzweise dem ästhetischen Potential der Propheten und widmet ›Der Schriftstellerei und Formensprache der Propheten‹ ein eigenes Kapitel; Er stellt den Propheten hierbei spannungsvoll als ekstatische Person mit Formensprache vor (vgl. H. Gunkel, Die Propheten, Göttingen 1917; vgl. dazu K. Schmid, Klassische und nachklassische Deutungen der alttestamentarischen Prophetie, S. 230f.). Elias Auerbach, Über die Prophetie. Eine Bücherschau. In: Neue Jüdische Monatshefte, 2, 1917, Nr. 1, S. 5–17, S. 5. Frisch zitiert nach Horch, Expressionismus und Judentum, S. 134. Hermann Cohen, Das soziale Ideal bei Platon und bei den Propheten. In: Der Jude, 7, 1923, Nr. 10, S. 618–636, S. 618.

zum »Priesterreich« fähig weiß – als »Losung der neuen Welt«108 – lässt er sich in eine Reihe mit namhaften Forschern stellen, die dem Desiderat, die jüdischen Propheten angemessen zu würdigen, nachkommen wollen. Als »Begründer der sozialen Religion«109, als Friedensmänner bauen die Propheten in der Sicht Cohens an der ›neuen Welt‹; ihr Ethos sei deswegen mit der philosophischen Position eines Platon zu untermauern. Diese Profi lierung des Propheten als sozialer Werte-Verkünder avanciert in vielen Propheten-Kommentaren zu einer leitenden Vorstellung. Der philosophische Schriftsteller Rafael Seligmann (1875–1943) beobachtet ebenfalls das Interesse an den biblischen Propheten, das er darauf zurückführt, dass sie als Identifi kationsfigur für das Judentum dienten: Durch eine kleine Ironie der Geschichte begannen seit einer gewissen Zeit bestimmte Schichten innerhalb der westeuropäischen Judenheit eine ganz besondere Liebe zu den alten jüdischen Propheten und dem Geist des Prophetismus überhaupt an den Tag zu legen. Sie machten die überraschende Entdeckung, daß zwischen der erhabenen Mission der alten Propheten und ihrer eigenen segensreichen Tätigkeit eine auffallende Ähnlichkeit bestehe.110

Die Affinität zwischen westeuropäischen Juden und Propheten bestehe in der internationalen, humanistischen Gesinnung und Aktivität, die der Neukantianer und CohenSchüler Benzion Kellermann (1869–1923) in seiner Schrift Der ethische Monotheismus der Propheten und seine soziologische Würdigung111 von 1917 repräsentativ hervorhebt und welche wiederum der protestantische Theologe und Philosoph Ernst Troeltsch (1865–1923) infrage stellt, wenn er konträr dazu den beschränkten Nationalismus der Propheten-Ethik betont.112 Seligmann mahnt hingegen in seiner ›Bücherschau‹ eine mittlere Position zwischen Geschichtlichkeit und abstrakter Gottesidee an, die die ›Einseitigkeiten‹ der Kellermann’schen wie der Positionen von Troeltsch aufheben möge: Solange man also den Propheten nicht in seiner geschichtlichen Konkretheit nimmt, wird die prophetische Gottesidee nicht allseitig beleuchtet werden können; ebensowenig genügt es natürlich, sich nur an das geschichtlich Gegebene zu halten, ohne den Versuch zu machen, den selbständigen Kern der prophetischen Idee aus ihren historischen und sozialpsy-

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Cohen, Das soziale Ideal bei Platon und bei den Propheten, S. 636. Cohen, Das soziale Ideal bei Platon und bei den Propheten, S. 622f. Rafael Seligmann, Zur Frage des Prophetismus. In: Der Jude, 3, 1918, Nr. 1, S. 43–48, S. 43. Benzion Kellermann, Der ethische Monotheismus der Propheten und seine soziologische Würdigung, Berlin 1917. Vgl. Ernst Troeltsch: »Die Sittlichkeit der Propheten ist nicht die Sittlichkeit der Menschheit, sondern die Israels in der ganzen Ungeschiedenheit von Sitte, Recht und Moral, die allen antiken Völkern eigen ist« (E. Troeltsch, Das Ethos der hebräischen Prophetie. In: Logos, 6, 1916/1917, S. 1–28, S. 15). Vgl. zu Troeltschs Position ausführlich: Eckart Otto, Die hebräische Prophetie bei Max Weber, Ernst Troeltsch und Hermann Cohen. Ein Diskurs im Weltkrieg zur christlich-jüdischen Kultursynthese. In: Asketischer Protestantismus und der ›Geist‹ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, hg. von Wolfgang Schluchter u. Friedrich Wilhelm Graf, Tübingen 2005, S. 201–257, S. 212ff. Vgl. zu Cohens Antwort in seinem Vortrag Der Stil der Propheten: Otto, Die hebräische Prophetie, S. 223ff.

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chischen Verkrustungen herauszuschälen. Weder Troeltsch noch Benzion Kellermann hat das Problem des Prophetentums in dessen konkretem Zusammen zu erfassen versucht – in jenem konkreten historischen Zusammen, wovon Volkssitte und Gottesidee nur die beiden abstrahierten Momente darstellen.113

Vätersitte und Gottesidee, Tradition und universalistische Ethik durchdringen sich nach Seligmann wechselseitig, denn: Durch den »Gang der Geschichte«114 gelangten die Propheten als einerseits volksverbundene Männer, andererseits als Außenseiter und Querdenker zur Gottesidee und ihrer ethischen Konzeption. Die von Seligmann ausgelotete Verbindung zwischen geschichtlich-national bedingter Ethik und – wenn man so möchte – ›Vernunftreligion‹ a priori entspräche dem ›Januskopf‹ des Propheten: »Moralist und Dichter, Internationalist und Patriot, Individualist und Mann der Öffentlichkeit in einer Person, bildet der jüdische Prophet einen Knäuel von Widersprüchen, in dem die starre logische Norm sich unmöglich zurechtzufinden vermöchte.«115 In der ›Arbeit am Mythos‹, am geschichtlichen Stoff des israelischen Volkes, entzünde sich die prophetische Inspiration, werde die prophetische Phantasie entfacht, die die ethische Konzeption initiiere. »Die widerspruchsvolle Physiognomie des Propheten« sei dabei »nichts anderes als eine Widerspiegelung der ebenso widerspruchsvollen Physiognomie des biblischen Gottes, der zugleich ein Gott des Jähzorns und der Langmut, der Rache und der Milde gewesen sein soll«116.117 Im Gegensatz zur antiken Geisteswelt, in der die »Gleichwertigkeit aller Dinge«118 zu einer »moralischen Indifferenz«119 führte, und deren Erben, den mechanistischen, monistischen, materialistischen sowie darwinistischen Denkweisen in der Moderne, die allesamt der Persönlichkeit eine Sonderstellung in der Schöpfung absprächen, sind die Propheten für Seligmann zwar nicht als alleinige Begründer der Moral schlechthin

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Seligmann, Zur Frage des Prophetismus, S. 47. Seligmann, Zur Frage des Prophetismus, S. 47. Seligmann, Zur Frage des Prophetismus, S. 46f. Seligmann, Zur Frage des Prophetismus, S. 47. Ganz ähnlich argumentiert, ungleich früher, der Marburger Alttestamentler Richard Kraetzschmar (1867–1902), der entgegen eines mechanischen Inspirationsbegriffs eine lineare, aufsteigende Fortentwicklung der Religion in Analogie zur Fortentwicklung der wichtigsten religiösen Vertreter, der Propheten, nachzeichnet: Von den ekstatischen Nebiim-Scharen kanaanitischer Prägung der Zeit Sauls mit den Erkennungszeichen Narben und Prophetenmantel über die heroischen Einzelgestalten der israelitischen Propheten mit sittlichen Pflichten über den ihnen verwandten Sehertypus eines Samuel bis zu den Schriftpropheten, wo Nebiismus und Sehertum zusammenlaufen, wie etwa bei Amos, laufe die religiöse Sublimierung auf den Kulminationspunkt – unter Rekurs auf die Akkomodationsthese –, die Identität von Weltgott und absoluter Sittlichkeit im Sinne eines Universalismus hinaus. Entgegen eines jüdischen Geschichtsverständnisses ist das Christentum allerdings demnach auch als Vollendung der alttestamentlichen Religion zu verstehen (R. Kraetzschmar, Prophet und Seher im alten Israel, Tübingen; Leipzig 1901, bes. S. 30–32). Seligmann, Von der inneren Bedeutung des Prophetismus. In: Die Freistatt. Alljüdische Revue. Monatsschrift für jüdische Kultur und Politik, 1, 1913, Nr. 9, S. 481–499, S. 485. Seligmann, Von der inneren Bedeutung des Prophetismus, S. 485.

zu feiern, denn in jeder Kultur lebe der moralische Impetus auf unterschiedliche Weise, doch exquisit als Vertreter des »Sonderwerts des Persönlichen«120 hervorzuheben, wodurch erst moralische Forderungen eine absolute Geltung beanspruchen könnten. Exemplarisch lässt sich an Seligmanns ethischen Ableitungen aus dem Prophetismus auch deren Nähe zur Stellung des Künstlers ablesen, die er unter Rekurs auf die religiöse wie ästhetische Kategorie des Mitleids entfaltet. Fern jeder Nützlichkeitssphäre besitzt der Künstler eine besondere Sensibilität für das Leben und die Dinge an sich. Stellen sich die Natur und ihre Gesetze zwischen das Empfinden zweier Personen und deren ethisches (Einfühlungs-)Vermögen, wendet sich die Moral ›superbiologisch‹ gegen das Naturgesetz. »Transbiologisch« verfährt dagegen der Künstler, indem er die Lebensphänomene nicht biologisch – vom Gesichtspunkt des Erhaltungswillens aus – entwertet, sondern allen Dingen ihre naturhafte Bedeutung zukommen lässt.121 Dem Dualismus persona versus natura stellen sich die Moral wie die Kunst entgegen, wobei künstlerisches Mitfühlen eine Indifferenz allen Dingen gegenüber voraussetzt und einen Verzicht auf ein Verurteilen impliziert, wie es das christliche Prinzip der Vergebung vorgibt; das moralische Mitfühlen ist zudem personal geprägt. Bei Seligmann ist deutlich angezeigt, wie sich derart ethische mit ästhetischen Fragen in der Propheten-Figur verquicken können. In dezidiert geschichtsphilosophischer Hinsicht nähert sich Ludwig Landau der Prophetie, die an der »Sinngebung der Geschichte«122 maßgeblich beteiligt sei, v.a. mit Blick auf die »Verchristlichung der antiken Kultur«123 aus einem rein religiösen Ethos heraus: »Das prophetische Gotterlebnis meint ein Doppeltes: eine wirkende Kraft und ein ordnendes Prinzip, ein Irrational-Weltanschauliches und ein SichtbarRegulatives. Gott wirkt im Menschen, auch gegen ihn.«124 Als religiös-sittliche Menschen fungieren Propheten als Sozialethiker, Lebensreformer und religiöse Reformatoren.125 Gott als Lenker der Geschichte bediene sich seines Knechtes, des Propheten, als Träger einer neuen Lebensordnung: »Denn es ging auch ihnen um die Neuordnung des ganzen Daseins, um Volk und Völker, um sozialen Frieden und gerechtes Gericht, um die vorbildliche Lebenshaltung des Einzelnen und der Gemeinschaft auf allen Gebieten, um die Wiedergeburt der Lebensordnung überhaupt.«126 Die Affinität von jüdischer Prophetie und Mystik zum Lyrischen thematisiert Meïr Wiener (1894–1941).127 Dadurch verknüpft er prophetisches Erleben und äs-

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Seligmann, Von der inneren Bedeutung des Prophetismus, S. 497. Seligmann, Vom moralischen und künstlerischen Typus. In: Die Freistatt. Alljüdische Revue. Monatsschrift für jüdische Kultur und Politik, 1, 1914, Nr. 12, S. 675–697, S. 690–691. Ludwig Landau, Die Prophetie als geistesgeschichtliche Bewegung. In: Der Morgen, 12, 1937, Nr. 12, S. 537–543, S. 537. Landau, Die Prophetie als geistesgeschichtliche Bewegung, S. 538. Landau, Die Prophetie als geistesgeschichtliche Bewegung, S. 540. Vgl. Landau, Die Prophetie als geistesgeschichtliche Bewegung, S. 540. Landau, Die Prophetie als geistesgeschichtliche Bewegung, S. 543. Vgl. Meïr Wiener, Von jüdischer Prophetie und Mystik. In: Der Jude, 2, 1917, Nr. 10, S. 692–701.

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thetische Gestaltung. In Anlehnung an Bubers Vorstellung von den irrationalen und orientalischen Wurzeln des jüdischen Geistes ist ihm authentische jüdische Literatur Ausdruck mystischen Erlebens.128 Unter der Dichotomie von Vision und Logik, Intuition und Verstand, Bildersprache und geordneter Begrifflichkeit bzw. Form, die jeweils personifiziert den Orientalen dem philosophischen Griechen gegenüberstellt, stellt Wiener »die Priorität der visionären Erkenntnis über das logische Denken«129 heraus. In seinen Überlegungen spielen zudem – wie gesagt – poetologische Gesichtspunkte eine Rolle. Denn die blitzartige Erleuchtung begnadeter Seher lasse sich allenfalls in »Gleichnissen, Bildern und Rätseln«130 ausdrücken, eben analog zur »seelischen Erschütterung«131 des Sehers: Die prophetische Erkenntnis geht vom Inneren des Dinges aus und erschaut, erfühlt es von dort. Der Prophet wird zu einem Teil des Dinges, er lebt und leidet mit dem Sein und erlebt dadurch das Wesen des Dinges, als ob es sein eigenes wäre. Wie kann aber solche erlebte (nicht erkannte) Wahrheit mit epischer Ruhe geschildert werden? Der einzig mögliche Ausdruck ist da der explosiv-lyrische.132

Die explosiv-lyrische Form sei einzig geeignet, den Einbruch des Visionären darzustellen. Diesem Ansatz verpflichtet erscheint 1920 eine von Wiener zusammengestellte Anthologie Die Lyrik der Kabbalah, die authentische jüdische Dichtung präsentiere.133 Die zwei prominenten Themen des Prophetismus – Inspiration und Ethik – stellt auch der Bibelforscher Elias Auerbach (1882–1971) ins Zentrum seiner Bemerkungen zu den Propheten.134 Am Beispiel Jeremias bilanziert er, dass der Prophet das »sittliche Genie«, die Personifi kation des »kategorische[n] Imperativ[s]« sei.135 Wiener vergleichbar bemerkt er das innige Verhältnis des Propheten zu den Dingen. Anhand des Symbols vom Töpfer-Propheten und seinem Ton, dem Volk, und schließt er auf die innige Verwandtschaft von Prophet und Dichter, von Ethik und Ästhetik, Inspiration und Genie, wie es auch Werfel in seinem ›Jeremia-Roman‹ nahelegt:136 Diese Kraft des Gestaltens und Umschaffens einfacher selbstverständlicher Dinge durch erweitertes und vertieftes Schauen ist die Funktion des dichterischen Genius. Wie der Dichter, der Künstler überhaupt, sieht der Prophet die Dinge in einem eigenen, nur ihm sich erschließenden Lichte. Zu ihm sprechen die Dinge neuartiger, reicher, unmittelbarer als zu allen anderen. Und der Rausch, der diese aus dem Unbewußten aufschießende

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Vgl. Lappin, Der Jude, S. 329. Wiener, Von jüdischer Prophetie und Mystik, S. 696. Wiener, Von jüdischer Prophetie und Mystik, S. 696. Wiener, Von jüdischer Prophetie und Mystik, S. 698. Wiener, Von jüdischer Prophetie und Mystik, S. 701. Vgl. Wiener, Die Lyrik der Kabbalah. Eine Anthologie, Wien; Leipzig 1920. Vgl. Auerbach, Die Inspiration und die Form der Prophetie. In: Der Jude, 4, 1919, Nr.  11, S. 514–520; Auerbach, Die Prophetie; Auerbach, Moses, Amsterdam 1953. Auerbach, Die Inspiration und die Form der Prophetie, S. 516. Vgl. dazu das VII. Kapitel.

künstlerische Konzeption begleitet, ist eben die ›Hand Gottes‹, die über den Propheten kommt. Das zweite Element der prophetischen Inspiration, deren erstes der sittliche Willensantrieb war, ist das dichterische Schauen. Der Prophet ist Dichter und muß Dichter sein. Nicht nur der Ausdrucksform nach, sondern dem Wesen seiner Weltbetrachtung nach. Er ist als Prophet um so größer, je tiefer sein sittlicher Willensantrieb und je lebendiger sein dichterisches Schauen ist. In beidem ist Jeremia unzweifelhaft der größte aller Propheten. Ihm leben alle Dinge, und seine Bilder sind von der Einfachheit und Größe, die das Kennzeichen des begnadeten Dichters ist.137

Beim Propheten Jeremia steht das dichterische Schaffen »unter der richtenden Herrschaft einer überwertigen Idee«138, der Idee des Sittlichen.139 Des Weiteren sei bei ihm einsichtig und unterscheidbar, wann er als Person und wann er als Werkzeug Gottes rede: Mit der Erkenntnis, die wir gewonnen haben, daß der Prophet seinem Wesen nach Dichter ist und die unbegreifliche aus dem Unbewußtsein plötzlich auftauchende Konzeption des Dichters als göttlich empfi ndet, kommen wir auch hier zu größerer Klarheit. Wenn die Inspiration über den Propheten kommt, spricht er in Bildern und gehobener Rede, die ihm sonst fremd sind. Das ist weder Willkür noch Zufall; sondern weil eben das Wesen des prophetischen Ingeniums zu einem Teile mit dem des Dichters aufs engste verwandt ist, stehen Inhalt und Form hier im festen Zusammenhange von Ursache und Wirkung, in notwendigem Zusammenhange. Die künstlerische Form ist also primär und geht dem Bewußtwerden des göttlichen Rausches voran. Wenn ›es‹ in Bildern und tönender Rede aus ihm spricht, so weiß und sagt der Prophet: Es geschah das Wort Gottes zu mir.140

Wie zu sehen sein wird, ist die tönende Rede des Propheten sowohl bei George als auch bei Trakl und Werfel ein fundamentales Element ihrer Prophetie-Poetiken, allerdings ist für sie die künstlerische Form sekundär.141 Als Gegenmoment zur prophetischen Konnexion der Ich-Auflösung, der Fremderfahrung angesichts des absoluten Anderen, sind die Überlegungen zu einer kabbalistischen Erklärung der Prophetie als Selbstbegegnung des jüdischen Religionshistorikers Gerschom Scholem (1897–1982) aufschlussreich.142 Das im Sohar beschriebene Zelem, das besondere seelische Prinzip, der individuelle Wesensgehalt jedes Menschen, sei als eine Art principium individuationis aufzufassen: Es ist »das Selbst des Menschen«143. Aus dem von Rabbi Mose ben Jaakob 1509 herausgegebenen

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Auerbach, Die Inspiration und die Form der Prophetie, S. 519. Auerbach, Über die Prophetie, S. 11. Durch Friedrich Nietzsches Propheten-Figuration Zarathustra wollen die werdenden Dinge hingegen Wort werden (vgl. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. In: Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 4, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, S. 232). Auerbach, Die Inspiration und die Form der Prophetie, S. 520. Vgl. dazu das IV. Kapitel zu George, das VI. zu Trakl und das VII. zu Werfel in dieser Studie. Gerschom Scholem, Eine kabbalistische Erklärung der Prophetie als Selbstbegegnung. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, 74, 1930, H. 4, S. 285–290. Scholem, Eine kabbalistische Erklärung der Prophetie als Selbstbegegnung, S. 286.

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Sammelwerk Schuschan ssodoth zitiert Scholem folgende Passage, um die Verbindung von Selbstbegegnung und Prophetie nachzuweisen: Wisse, daß das vollkommene Geheimnis der Prophetie für den Propheten darin besteht, daß er plötzlich die Gestalt seines Selbst vor sich stehen sieht und sein Selbst vergißt und es von ihm entrückt wird und er die Gestalt seines Selbst vor sich sieht, wie sie mit ihm spricht und ihm die Zukunft verkündet […].144

Das Wesen des prophetischen Inspirations-Erlebnisses ist als »Begegnung des Menschen mit seinem Selbst« zu verstehen.145 ›Selbstauflösung‹ meint hier nicht Selbstauslöschung, sondern Selbstbetrachtung. Entgegen einer mystischen Entgrenzung des Ich hebt v.a. Martin Buber (1878–1965) den Dialog zwischen Gott und Mensch hervor, was die Personalität des Göttlichen und die Personalität des Menschen in den Vordergrund rückt.146 Immer wieder finden sich in der Prophetie-Forschung Hinweise darauf, dass es zu kurz gegriffen sei, den Selbstverlust des Menschen im ekstatischen Moment der prophetischen Ausrichtung auf Gott hin zu verabsolutieren und darauf, dass sich das jüdische Prophetie-Verständnis gerade von anderen ekstatischen Figuren – wie etwa der des Schamanen – wesentlich dadurch unterscheide, die Kategorie der Personalität oder des ›Selbst‹ festzuschreiben. Wie Seligmann und Scholem fokussiert auch Buber diese Entdeckung der Personalität. Auch der katholische Tiefenpsychologe Eugen Drewermann feiert heute noch vehement die »Geburtsstunde des Einzelnen, diese Projektion des individuellen Ichs in die Unendlichkeit des Unbewußten in den Berufungsgeschichten der Propheten Israels«147, »die absolute Selbsterfahrung des Individuums durch eine absolute Erfahrung der Personalität des Göttlichen«148 und bilanziert: »Nicht die Apersonalität der Ichentspannung bzw. des Ichverlustes, sondern die Personalisierung des ekstatischen Erlebens bis hin zu einer Erstarkung des Ichs, wie sie nie zuvor bestand – das ist das Kennzeichen biblischer Prophetie.«149 Visionsberichte sind demnach für Drewermann »verdichtete Zeugnisse der Ichwerdung«150, Zeugnisse der »Spannung zwischen Ekstase und Ichbehauptung«151: Das Ich des Propheten benutze »das Meer des Unbewußten gewissermaßen als Spiegel seiner eigenen Personalität, um von diesem ins Unendliche erweiterten Ich sich selbst in seiner eigenen Absolutheit bestimmen, tragen und legitimieren zu lassen«152. Zum gleichen Schluss gelangt der protestantische Alttestamentler Gerhard von Rad, wenn er die in der Prophetenberufung liegende absolute Individuation und das »exklusive Ich«153 des

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Scholem, Eine kabbalistische Erklärung der Prophetie als Selbstbegegnung, S. 288. Scholem, Eine kabbalistische Erklärung der Prophetie als Selbstbegegnung, S. 290. Vgl. Martin Buber, Ich und Du, Leipzig 1923. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 2, S. 363, vgl. S. 359–360. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 2, S. 355, vgl. S. 376. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 2, S. 364. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 2, S. 378. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 2, S. 362. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 2, S. 362. von Rad, Theologie des Alten Testaments, S. 62f.: »Gewiß, der hebräische Mensch hat auch

Propheten betont. Er weist ferner eindringlich auf das oftmals vergessene Moment der Freiheit des Propheten hin: Gewiß, es spricht alles dafür, daß der Prophet den Zustand des eigentlichen Offenbarungsempfangs in äußerster Passivität erlebt; aber er ist in ihm ja nicht verblieben. Es war oben schon von der außerordentlichen Beweglichkeit der äußeren Formen die Rede, in die die Propheten jeweils ihre einzelnen Botschaften gekleidet haben.154

Gerade in der Formgebung sieht er demnach das künstlerische Potential des eigenmächtig agierenden Propheten verwirklicht. Die »klassische Sicht der Propheten als genialische Einzelpersonen«155 hat sich also im Verlauf des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts etabliert. Und diese Konzeption der Selbst-Findung des Propheten ist beispielsweise für Werfels ›Jeremia-Roman‹ entscheidend.156 Zu dieser personaKonzeption des Propheten gibt es aber auch Gegenstimmen, etwa Franz Rosenzweig (1886–1929), der gerade den Unterschied zwischen Genie und Prophet stark macht,157 wenn er im Propheten lediglich ein Sprachrohr Gottes erkennt, wie er es in einem Brief an Siegfried Kracauer festhält, denn nur im Moment der Berufung würden sich beide gleichen.158 Rosenzweig fokussiert den Aspekt der ›Entmündigung‹ des Propheten als ›Mundstück‹ Gottes. An anderer Stelle hält er fest: »Im profetischen Individuum wird nicht, wenigstens nicht im Augenblick der Profetie, auf den Unterschied von Profet und Gott reflektiert; Gott selbst spricht durch den Mund des Profeten.«159 Und im Stern der Erlösung heißt es: »Der Profet ist nicht Mittler zwischen Gott und den Menschen, er empfängt nicht die Offenbarung und gibt sie weiter, sondern unmittelbar aus ihm spricht Gott als Ich. […] Er lässt Gott überhaupt nicht reden, sondern indem er den Mund auftut, spricht schon Gott.«160 Das Spektrum des Propheten-Bildes reicht vom Geschichtsphilosophen, Sozialethiker – sei es nationalistischer oder universalistischer Ausrichtung – bis zum In-

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vor dem Auftreten vor Gott ›Ich‹ gesagt – etwa in den Klage- und Dankliedern. Aber das war doch ein anderes Ich als dasjenige, das hier zu Wort kommt. Das, was in den alten kultischen Formeln im Ichstil über die Dinge zwischen Gott und dem Menschen gesagt wurde, das konnte und sollte mehr oder minder jeder von sich sagen; es war ein kollektives, inklusives Ich, während das der prophetischen Aufzeichnungen ausgesprochenermaßen ein exklusives Ich ist. […] Der Prophet berichtet von einem Ereignis, das ihn mit einem Auftrag, mit einem Wissen und einer Verantwortung belud, das ihn vor Gott ganz allein auf sich stellte. Und das zwang den Propheten dazu, sich in dieser seiner Sonderstellung gegenüber den Vielen zu legitimieren.« von Rad, Die Botschaft der Propheten, S. 50. K. Schmid, Klassische und nachklassische Deutungen der alttestamentarischen Prophetie, S. 227. Vgl. dazu das Kapitel VII.3.2. Vgl. Stephanie Baumann, Drei Briefe. Franz Rosenzweig an Siegfried Kracauer. In: ZRGG, 63, 2011, H. 2: Jüdische Identitäten, S. 166–176, S. 167. Vgl. Rosenzweig, Brief an Siegfried Kracauer vom 12.12.1921. In: Baumann, Drei Briefe, S. 173f. Rosenzweig, Briefe und Tagebücher zitiert nach Baumann, Drei Briefe, S. 167. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung zitiert nach Baumann, Drei Briefe, S. 168.

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spirierten und Dichter. Dabei tritt die eigentümliche Doppelgestalt des Propheten als Diener und Herrscher, Heimgesuchter und Führender, Ausgestoßener und Auserwählter, mediales Sprachrohr und Person in den Vordergrund. Im Hintergrund der Prophetismus-Debatte in Der Jude deuten sich – wie aufgezeigt – ästhetische Konsequenzen an. Denn eine zionistische Position etwa zielt oftmals auf das tatkräftige Wort zu Beschwörung der ›neuen‹ Welt ab und geißelt expressionistisches Pathos ohne Verwirklichungsbestreben zu einer neuen Gemeinschaft jenseits individualistischer Tendenzen.161 Der (Dichter-)Prophet ist durchgängig eine zentrale Figur des Expressionismus.162 Aber auch jenseits des expressionistischen Erneuerungspathos dient der Prophet dem Künstlertum als beliebte Reflexionsfigur. An die vielfältigen Präzisierungen der Propheten-Figur knüpfen insbesondere die in der vorliegenden Studie behandelten Dichter-Propheten an. Für sie steht indes nicht so sehr das sitt161

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Dass sich der Zusammenhang von Zionismus und Literatur nicht darauf reduzieren lässt, thematisch Autoren als Zionismusanhänger bzw. -verweigerer zu klassifizieren, mahnt Philipp Theisohn in seiner grundlegenden Studie zum Zionismus zu Recht an, wenn er sich dem Verhältnis von Ästhetik und Politik im Umfeld des Zionismus unter einem dezidiert kultursemiotischen Blickwinkel zuwendet. Schwerpunktmäßig widmet er seine Aufmerksamkeit dem jüdischen Theater und der Inszenierung des ›Opfers‹ der Zeichen im jüdischen Projekt der »Enttheatralisierung als Theater« zur Schaffung von Präsenz und neuer jüdischer Identität (Theisohn, Die Urbarkeit der Zeichen. Zionismus und Literatur – eine andere Poetik der Moderne, Stuttgart; Weimar 2005, S. 142). Am Beispiel von Ezechiels Tempelvision zeigt er einleitend, wie der Text »selbst zum Tempel […]: zu einem Bau, der seinen Grund selbst hervorbringt« (Theisohn, Die Urbarkeit der Zeichen, S. 55f.), wird. Es scheint nicht zufällig ein Prophet zitiert werden zu müssen, um die Koinzidenz von Wort und Präsenz eines Raumes anzuzeigen. Vgl. Akane Nishioka, Dichtung und Prophetie. Gustav Landauer und Franz Werfel. In: Ästhetik – Religion – Säkularisierung, Bd.  2: Die klassische Moderne, hg. von Silvio Vietta u. Stephan Porombka, München 2009, S. 107–123, S. 107f. Die Kreuzung zwischen Dichter, Prophet und Revolutionär unter sozialistischen Vorzeichen ist besonders gut bei Gustav Landauer einsehbar (vgl. Nishioka, Dichtung und Prophetie, S.  108f.). Auf den bemerkenswerten Einfluss jüdischer Utopie-Vorstellungen, auf den ›messianischen Expressionismus‹ und darauf, dass der »Geist expressionistischer Literatur wenigstens partiell jüdisch-messianischer Geist ist« (Horch, Expressionismus und Judentum, S.  121), weist Horch hin. Blochs messianische Metaphysik beispielsweise – als führender Philosoph der expressionistischen Dichter  – ist jüdischer Prägung (vgl. Horch, Expressionismus und Judentum, S.  126). Ferner wird in der Forschung zu Recht auf die Vielzahl jüdischer Autoren im Umkreis des Expressionismus aufmerksam gemacht (vgl. Ines SiegfriedSchnider, Die Verzerrung des verzerrten Bildes. Studien zu Alfred Lichtensteins »KunoKohn-Zyklus«, Freiburg/Schweiz, S.  5f.), aber auch davor gewarnt, den koinzidierenden Außenseiterfigurenstatus von Juden und avantgardistischen Künstlern zu forcieren (vgl. Hanni Mittelmann, Jüdische Expressionisten. Identität im Aufbruch – Leben »im Aufschub«. In: Jüdische Selbstwahrnehmung. La prise de conscience de l’identité juive, hg. von Hans Otto Horch u. Charlotte Wardi, Tübingen 1997, S. 181–194, S. 183). Denn dies drohe indirekten Ausgrenzungsprozessen erneut Vorschub zu leisten (vgl. Herbert Kaiser, O jüngster Tag. Jüdische Dichter des deutschen Expressionismus. In: Das doppelte Antlitz. Zur Wirkungsgeschichte deutsch-jüdischer Künstler und Gelehrter, hg. von Rolf Schörken u. Dieter Jürgen Löwisch, Paderborn; München u.a. 1990, S. 139–155, S. 139).

lich-ethische Moment des Propheten im Vordergrund, außer teilweise bei George und Werfel, sondern vor allem das Autorschaftsbild vom inspirierten Dichter, aus dem es tönt, spricht und prophezeit und die daran anschließenden Möglichkeiten einer Poetik des Prophetischen. Die Vorstellung vom Dichter als Medium erlaubt es zudem, Ich-Auflösungen und Ich-Dissoziationen zu reflektieren. Aber auch die Entdeckung der Personalität im Sinne einer Selbst-Entdeckung wird – vornehmlich von Werfel – aufgegriffen, wodurch die Exklusivität des Dichter-Propheten unterstrichen ist. Das besondere Verhältnis von Ichauflösung und Ichverdichtung, Dezentrierung und Personalisierung, das die eigentümliche Spannung der Propheten-Figuration – je nach Gewichtung – konstituiert, ist oftmals zentral positioniert. Ferner ist das innige Verhältnis des Propheten zu den Dingen, die vitalisiert gedacht, sich ihm zuneigen und zu ihm sprechen, ein aus ästhetischer Perspektive beliebtes Thema, etwa bei Hofmannsthal und Rilke.

II. 3. Exemplarische Vorboten prophetischer Autorpoetiken in der Moderne Als weitstrahlige Vorbilder für die einen prophetischen Anspruch erhebenden Dichter in der Moderne können repräsentativ Arthur Rimbaud und Friedrich Nietzsche gelten. Ein Aspekt hinsichtlich der Novität an der Beschreibung der Figur des poeta vates respektive des prophētēs in der Moderne ist vornehmlich die Entdeckung ihrer Gemachtheit und damit einhergehend auch die Lust an der Seher-Selbstpräsentation. Rimbaud und Nietzsche führen anschaulich vor, wie man sich zum Seher modellieren kann. II.3.1. Nietzsches Propheten-Figuration Zarathustra: Stilles Sprechen und ›Wortblitz‹ Die prominente Figur des Propheten in der literarischen Moderne ist insbesondere auf eine weitverbreitete Faszination für Nietzsches Zarathustra zurückzuführen.163 Wie um die Jahrhundertwende üblich beschränkt Eduard Meyer den Propheten-Titel nicht auf das biblische Israel, sondern erkennt auch in Zarathustra, Hesiod und Echnaton Propheten.164 In der Rezeptionsgeschichte entfaltet sich Zarathustra als exemplarisch moderne Propheten-Figuration,165 die zur imitatio und aemulatio glei-

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Dies hält auch Marx fest: »Daß um die Jahrhundertwende die Lebensform des Propheten sowohl zu einem wichtigen literarischen Sujet als auch zur Spiegelfigur dichterischer Existenz avanciert, verdankt sich vor allem der Wirkung von Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra« (Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 109). Vgl. Eduard Meyer, Geschichte des Altertums, Bd. 1, Stuttgart 19103, S. 151. Dass Zarathustra »prophetische Elemente« aufweist, hält auch Ebach fest (Ebach, Art. Prophetismus, S. 356). Vgl. Dietrich, Art. Prophetenrede, Sp. 303.

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chermaßen einlädt, zum großen Ausstrahlungsphänomen hinsichtlich nachfolgender Poetiken des Prophetischen.166 Paradoxerweise entwickelt sich gerade aus einem Manifest für ›Gottlose‹167 die Aktualität und Attraktivität der prophetischen Figur, die sich erstens als Künstlerbild niederschlägt und sich zweitens – das wäre der Beobachtung Marx’ hinzuzufügen – als prophetisch inspirierte Sprache manifestiert. Zarathustras Modellierung zum philosophisch-dichtenden Propheten vollzieht sich freilich unter nachmetaphysischen Vorzeichen: So stellt Zarathustra weder die ›Wiedergeburt‹ eines klassisch-biblischen Propheten dar, noch eine rein ironische Karikatur eines biblisch-prophetischen Verheißungsträgers im Zuge von Nietzsches Fundamentalkritik der christlichen Glaubenspfeiler. Bei Nietzsche ist vielmehr eine ambivalente Rezeption der Figur des biblischen Propheten zu verzeichnen. Dementsprechend spart Nietzsche nicht mit kritischen Seitenhieben auf prophetische Wahrheitsanmaßungen und ›Volksverführungen‹.168 Doch präferiert er bekanntlich kulturelle Leitfiguren und Kulturfortentwicklungsstrategen, die er wiederum mit prophetischen Zügen ausstattet; eine davon ist Zarathustra. Da Nietzsche als ›Schöpfer‹ des ›Vorbild-Propheten‹ oftmals mit Zarathustra gleichgesetzt wird, konstatiert etwa der Nietzsche-Adept Pannwitz, dass Nietzsche eigentlich »kein prophet 166

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Vgl. zum Wirkungsradius Nietzsches auf viele Dichter allgemein: Theo Meyer, Nietzsche und die Kunst, Tübingen; Basel 1993; Bruno Hillebrand (Hg.), Nietzsche und die deutsche Literatur, 2 Bde., Tübingen 1978; Hillebrand, Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen, Göttingen 2000. Vgl. Zarathustra: »Ja! Ich bin Zarathustra, der Gottlose!« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 215). Nietzsche spricht teilweise spöttisch vom »Wahnsinn und Wahnreden der Propheten und Orakelpriester« (Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. In: Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 2, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, S. 122). Ferner liest man bei ihm: »Das Mittel, um der Prophet und Wundermann seiner Zeit zu werden, gilt heute noch wie vor alters: man lebe abseits, mit wenig Kenntnissen, einigen Gedanken und sehr viel Dünkel […]« (Nietzsche, Morgenröte. In: Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 3, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 19882, Nr. 325, S. 231f.). Auch in seiner Generalabrechnung mit Wagner entlarvt er dessen Schein des genialen Künstlers und denunziert ihn als einen »Bauchredner Gottes«: »Mit dieser ausserordentlichen Werthsteigerung der Musik [durch Wagner], wie sie aus der Schopenhauer’schen Philosophie zu erwachsen schien, stieg mit Einem Male auch der Musiker selbst unerhört im Preise: er wurde nunmehr ein Orakel, ein Priester, ja mehr als ein Priester, eine Art Mundstück des ›An sich‹ der Dinge, ein Telephon des Jenseits, – er redete fürderhin nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes, – er redete Metaphysik« (Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. In: Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 5, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 346). So vernichtet Nietzsche sein einstiges Vorbild, den décadent Wagner, indem er ihn als falschen Propheten disqualifiziert (vgl. J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, S. 129–164). Zuvor hat er bekanntlich in Die Geburt der Tragödie Wagners Musik als Repräsentantin des dionysischen Urgrundes gefeiert, die als kompensatorischer Gegenzug zum sokratischen Intellektualismus fungiere (vgl. J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, S.  129–164). Vgl. zu Nietzsche Verurteilung des Prophetentums auch: Dierse, Glei u. Lessing, Art. Prophetie, Sp. 1480.

fürs Volk sondern ein prophet für die propheten«169 sei. Blickt man auf den Tenor der zeitgenössischen Nietzsche-Rezeption, ist unstreitig, dass »das Bild Nietzsches als geistreicher Denker und prophetischer Seher«170 vorherrscht. Lou Andreas-Salomé etwa bedenkt 1894 in Friedrich Nietzsche in seinen Werken ihren ehemaligen Verehrer mit dem Terminus »religiöses Genie«171 und kennzeichnet ihn als homo religiosus.172 Ihre Interpretation des ›Phänomens‹ Nietzsche hebt die Kongruenz von Person und Werk im Zeichen des Heilig-Prophetischen hervor, um seine philosophischen Schriften als »Ersatz ›für den verlorenen Gott‹«173 zu profi lieren, da Nietzsche das Vakuum Gott zu füllen suche, indem er sich mit seinen Geschöpfen identifiziere: »So wird er zuletzt zu einer Doppelgestalt, halb kranker, leidender Mensch, halb erlöster, lachender Übermensch. Das Eine ist er als Geschöpf, das Andere als Schöpfer, das Eine als Wirklichkeit, das Andere als mystisch gedachte Überwirklichkeit.«174 Thomas Mann betont in seinem Aufsatz »Nietzsche im Lichte unserer Erfahrung« ebenfalls die Doppelgestalt als ›Nietzsche triumphans‹ und ›Nietzsche militans‹175 oder ›Nietzsche dolens‹176 und bewertet sein »tragisches Schicksal über

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Pannwitz, Einführung in Nietzsche, München 1920, S. 4. John A. McCarthy, Die Nietzsche-Rezeption in der Literatur 1890–1918. In: Naturalismus, Fin de Siècle, Expressionismus. 1890–1918, hg. von York-Gothart Mix, München 2000, S. 192–206, S. 198. Lou Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken [1894], Wien 19112, S. 35. Vgl. Uwe Spörl, Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende, Paderborn 1997, S. 174f.; Martina King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung. Rainer Maria Rilke als poeta vates der Moderne. In: Ästhetik – Religion – Säkularisierung, Bd.  2: Die klassische Moderne, hg. von Silvio Vietta u. Stephan Porombka, unter Mitarbeit von Sanne Ziethen, München 2009, S. 89–105, S. 98. Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, S. 39. Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, S. 147. Vgl. Thomas Mann: »Unser Nietzsche ist der Nietzsche militans. Der Nietzsche triumphans gehört den 15 Jahre nach uns Geborenen. […] Für sie ist er ein Prophet, den man nicht mehr sehr genau kennt, den man kaum gelesen zu haben braucht und dessen geistige Resultate man doch instinktweise in sich hat. Sie haben von ihm die Bejahung der Erde, die Bejahung des Leibes, den antichristlichen und antispirituellen Begriff der Vornehmheit, der Gesundheit und Heiterkeit, Schönheit in sich schließt« (Hans Wysling, »Geist und Kunst«. Thomas Manns Notizen zu einem »Literatur-Essay«, ediert und kommentiert von Hans Wysling. In: Paul Scherer u. Hans Wysling (Hg.), Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns, Bern; München 1967, S. 123–233, S. 208). Die Idee des leidenden Künstlers (»Nietzsche dolens«, T. Meyer, Nietzsche und die Kunst, S. 356) basiert auf Nietzsches Vorstellung, dass »die Krankheit selbst […] ein Stimulans des Lebens [ist]« (Nietzsche, Der Fall Wagner. In: Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd.  6, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 22). Die mit dem Genie verbundene rauschhafte, produktive Krankheit wird dabei deutlich ins »Religiöse überhöht« (T. Meyer, Nietzsche und die Kunst, S.  356). Thomas Mann bezeichnet Nietzsche des Weiteren als ein Genie und einen »Heilige[n] des Immoralismus« (Mann, Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. In: Mann, Werke, Bd. 3: Das essayistische Werk, hg. von Hans Bürgin, Frankfurt am Main 1968, S. 21–49, S. 34),

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die Kraft gehender Erkenntnis« als »Hamletschicksal«177: »Sein Leben war Rausch und Leiden – eine hochkünstlerische Verfassung, mythologisch gesprochen die Vereinigung des Dionysos mit dem Gekreuzigten.«178 Diese angezeigte Nietzsche-Rezeption verwundert insofern nicht, als sich der späte Nietzsche – seinen Karikaturen der christlichen Erlösungshaltung zum Trotz – selbst immer mehr »mit der christlichen Erlösungshaltung« identifiziert, er zum »Erlöser von diesem Fluch des christlichen Erlösers«179 mutiert.180 Sein berühmtes Diktum »Dionysos gegen den ›Gekreuzigten‹«181 zeugt dementsprechend von einer gewissen Ambivalenz. So kommt Heinrich Detering in seiner Studie zur Antichrist-Figur Nietzsches neuerdings zu dem Ergebnis, dass mit dieser das ursprüngliche Recht des Evangeliums gerade wieder zur Geltung gebracht werde und Nietzsches Rollenspiel zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten ihn im Sinne eines ›dionysischen Jesus‹ darstelle.182 Auch Silvio Vietta erkennt in Nietzsche den »religiöse[n] Mensch[en] in jenem nachchristlichen, nachmetaphysischen Zeitalter, dessen Psychologie und Krankheitssymptomatik er so genau beschreiben konnte«183. Während Nietzsches Philosophie in der unmittelbaren Rezeption von Seiten der Dichter nicht besonders tiefgründig durchdrungen wird, finden Zarathustras prophetische Züge hingegen viel Nachahmung, die allerdings von kitschigem Epigonentum bis zu reflektierteren Nachdichtungen reicht.184 Nietzsche kann also als Schöpfer eines ›Überpropheten‹ gelten, aus dessen Muster zahlreiche Prophetie-Poetiken erwachsen. Die Rezeption von Zarathustras prophe-

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welcher »den Martertod am Kreuz des Gedankens« sterbe (Mann, Nietzsche’s Philosophie, S. 23). Mann, Nietzsche’s Philosophie, S. 40. Mann, Nietzsche’s Philosophie, S. 34. Vietta, Zweideutigkeit der Moderne. Nietzsches Kulturkritik, Expressionismus und literarische Moderne. In: Die Modernität des Expressionismus, hg. von Thomas Anz u. Michael Stark, Stuttgart; Weimar 1994, S. 9–20, S. 12f. Vgl. zur Rezeption der Nietzsche- und Zarathustra-Figur in der bildenden Kunst um die Jahrhundertwende: Jürgen Krause, »Märtyrer« und »Prophet«. Studien zum NietzscheKult in der bildenden Kunst um die Jahrhundertwende, Berlin; New York 1984. Nietzsche, Ecce homo. In: Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 6, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, S. 255–374, S. 374. Gerade in radikaler Opposition zu Heiligen und Priestern einer modernen Kunstreligion bejahe nach Heinrich Detering der Jesus des Antichrist die Erde und erweise sich damit als gewandelter Frohbotschafter. Diesem neuen Jesus-Bild folgend, hebt Detering Nietzsches Rollenspiel zwischen Dionysischem und Christlichem hervor. Der neue Jesus sei nicht Antipode, sondern eine Variante des Dionysus, denn beide bejahten die Gesamtheit des Lebens (vgl. H. Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte, Göttingen 2010). Vietta, Zweideutigkeit der Moderne, S. 13. Vgl. die Nachzeichnung der Rezeptionsgeschichte bei Hillebrand, Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd. 1. Für die Frühphase der Rezeption konstatiert Hillebrand als »Hauptanknüpfungspunkt« (Hillebrand, Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd. 1, S. 4) die Sprache, ein »Überwältigtwerden durch Sprache, ein Berauschtsein ohne rechtes Begreifen« (Hillebrand, Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd. 1, S. 3).

tischem Sprechen ist zunächst als eher oberflächliche wahrzunehmen. Zarathustras Lehre selbst, die bekanntlich systematisch von zahlreichen Widersprüchen geprägt ist, tritt dabei hinter die faszinierende Figur Zarathustras (und Nietzsches) zurück. Autoren wie Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Stefan George, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Georg Trakl sowie Hugo Ball, um nur einige zu nennen, rezipieren ihr »Über-Ich«185 und ihre schillernde ›Leitfigur‹ Nietzsche/Zarathustra bekanntlich äußerst eigenwillig, bruchstückhaft und ambivalent:186 als ›Alleszermalmer‹ der Metaphysik, als Zertrümmerer der alten Wertetafel, aber auch als Dichterkritiker bzw. als Ikone der Erneuerung erstarrter Kunstproduktion, v.a. aber auch, wie gesagt, als Vorreiter einer neuen ›prophetischen Sprache‹ und eines Künstlerverständnisses als Prophet.187 Nach Nietzsches Verkündigung von Gottes Tod durch den ›tollen Menschen‹188 drängt sich dabei die Frage nach dem Fundament des ›neuen Gottes‹ im Allgemeinen und nach den Charakteristika von Zarathustras prophetischer Rede im Besonderen auf. Nietzsches Kunstfigur Zarathustra wird in Also sprach Zarathustra (1883–1885) überdeutlich im Gewand des Propheten vorgeführt, eingebettet in eine »Mosesparodie«189.190 Aufschlussreich für Zarathustras ›prophetische Sendung‹ ist zunächst sein Anliegen, »neue Werthe auf neue Tafeln«191 zu schreiben und damit seine Ahn-

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Vgl. Harold Bloom, Einfluss-Angst. Eine Theorie der Dichtung. Aus dem amerikanischen Englisch von Angelika Schweikhart, Basel; Frankfurt am Main 1995. Vgl. dazu das Kapitel III.3.1. Die genannten Autoren lösen sich freilich von Facetten ihres ›geistigen Vaters‹ mittels diverser Abwehrmechanismen, doch integrieren sie letztlich (auch dank produktiver Missverständnisse) alle seinen prophetischen Gestus in modifizierter Form in ihr Konzept des prophetischen Künstlers, wie es in den einzelnen Kapiteln dieser Studie genauer dargelegt wird. Meyer diagnostiziert als einer der Ersten das »Zarathustra-Fieber« (T. Meyer, Nietzsche und die Kunst, S.  176) anschaulich mit Blick auf George, Hofmannsthal, Rilke, Thomas Mann u.a. (vgl. T. Meyer, Nietzsche und die Kunst, S.  172–213). Vgl. Hans Steffen (Hg.), Nietzsche. Werk und Wirkungen, Göttingen 1974. Als Ausflucht vor dem erstarrten, lähmenden, unschöpferischen Zeitgeist favorisieren die Künstler zunächst eine neue apollinische Formenstrenge (George), ein Gemeinschaftsethos (Hofmannsthal), eine Verdrängung der Kunst durch die Religion (Rilke), bedienen sich aber symptomatisch der nietzscheanischen Verquickung von Wahrheit und Lüge (u.a. unter Berufung auf eine notwendige Akkomodation hinsichtlich des unreifen, sinnlichen ›Volks‹) und weiterhin des Erwähltheitstopos des Propheten zur ›Prophetisierung‹ ihres Werks (vgl. ähnlich T. Meyer, Nietzsche und die Kunst, S. 172ff.). Vgl. Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft. In: Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd.  3, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 343–651, S. 480ff. Wolf-Daniel Hartwich, Die Sendung Moses. Von der Aufklärung bis Thomas Mann, München 1997, S. 172. Auch der Vergleich zum Propheten Jona wird gezogen: »Verzagte ihnen wohl das Herz darob, dass mich die Einsamkeit verschlang gleich einem Wahlfische?« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 226, vgl. S. 381; vgl. Jon 2, 1–11). Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 26.

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herren, die biblischen Propheten wie etwa Mose und seinen Namensvetter, den Religionsstifter Zoroaster, zu übertreffen, in deren Genealogie er gleichwohl bildlich und parodistisch eingereiht ist.192 Spielerisch in Moses Fußstapfen tretend, verlässt Zarathustra seine Einsiedelei auf dem Berg,193 um den Menschen das Diesseits und die Leiblichkeit wider die alten Vorstellungen von der Übermacht von Seele, Tugend, Vernunft, Gerechtigkeit und Mitleid zu predigen, wie einst Mose dem israelitischen Volk die Zehn Gebote vom Berg Sinai darbringt (vgl. 2. Mose 19–23): »Zarathustras antithetische Rhetorik verweist auf die Bergpredigt, in der Jesus sein Evangelium dem mosaischen Gesetz und dessen jüdischen Auslegungen gegenüberstellt.«194 Sein ›neues Evangelium‹, das in der Lehre vom ›Übermenschen‹ kulminiert, wird also unter parodistischer Bezugnahme auf die biblische Prophetie, genauer den Hauptvertreter und Bundstifter mit Gott, Mose, entfaltet, dessen programmatische Überwindung inhaltlicher Art außer Frage steht, dessen modifizierte Vorbild-Figur aber gleichzeitig eine Schablone für den modernen Propheten generiert.195 Sein ›Sendungsauftrag‹ ist im Gespräch mit der ›stimmlosen Stimme‹196 reflektiert, woraufhin er sich als überbeauftragter Prophet seiner prophetischen Aufgabe zu entziehen sucht, bis er, in die Einsamkeit fliehend, von der Epiphanie des großen Mittags heimgesucht wird: »Oh gesegnete Stunde des Blitzes! Oh Geheimniss vor Mittag! Laufende Feuer will ich einst noch aus ihnen machen und Verkünder mit Flammen-Zungen: – Verkünden sollen sie einst noch mit Flammen-Zungen: Er kommt, er ist nahe, der grosse Mittag!«197 Dem biblischen Pfingstwunder (vgl. Apg 2, 1–41) vergleichbar, setzt die Vision des ›grossen Mittags‹ eine Glossolalie frei. In Ecce homo heißt es retrospektiv, dass Zarathustra »nicht nur anders« rede; »er ist auch anders«198. Sprache und Wesen Zarathustras unterscheiden sich auch von seinen prophetischen Vorgängern – folgt man der nachträglichen Bestandsaufnahme Nietzsches. Die Gegner des neuen Propheten, der »Götze«199 Staat und die »Prediger des Todes«200, sind vorderhand als alte, »ordnende

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Vgl. zur detaillierten Analyse der Überwindung der mosaischen Gebote durch Zarathustras Tafeln: Hartwich, Die Sendung Moses, S. 173ff. Der Berg Sinai ist im Alten Testament der Ort des Jahwe-Bundes (vgl. Ex 19, 3ff.). Hartwich, Die Sendung Moses, S. 173. Die prominente Zarathustra-Rede »Von den drei Verwandlungen« (vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 29–31) kann auch – im weitesten Sinne – als triadisches Strukturmodell für die klassische Entwicklung eines Propheten gelesen werden: Das »Du sollst« (dem Sprachmuster der Zehn Gebote entsprechend) erinnert an den Zustand des mit einer Sendung ›beladenen‹ Propheten (Zeitalter des Kamels), der einen Wandel vom Weisungs-Aufnahmegefäß/ Objekt zur aktiven Annahme seiner ›Sendung‹ (»Ich will«) (Zeitalter des Löwen) durchläuft, um abschließend im »Spiel des Schaffens« als Künstler geeignete Darstellungsmodi zu finden (Zeitalter des Kindes) (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 29–31). Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 187. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 217. Nietzsche, Ecce homo, S. 260. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 62. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 55.

Finger […] Gottes«201 zu demontieren – denn: »Immer vernichtet, wer ein Schöpfer sein muss.«202 Zarathustras Neuschöpfungen ergeben sich aber aus destillierenden Transformationen des Kritisierten: Charakteristisch für Zarathustra ist, dass er in Opposition zu den Priestern steht und sie gleichzeitig als seine Vorbilder beizieht:203 Er wendet sich einerseits gegen den Wahn der falschen Werte des Christentums, gegen das priesterliche Martyrium und Blutvergießen für eine scheinbare Wahrheit,204 die sich im »Wirbel der Rachsucht«205 vollziehe, obgleich er andererseits seine ›Blutsverwandtschaft‹ mit ihnen nicht bestreitet.206 Eine vergleichbare Hassliebe zwischen Vorbildverehrung und ›Einflussangst‹ prägt sein Verhältnis zu den Dichtern. Seine Partizipation an ihrer Kunst ergibt sich schließlich daraus, dass der moderne Prophet zur Anfertigung der ›neuen Tafeln‹ noch des Dichterworts bedarf: »Als Dichter, Räthselrather und Erlöser des Zufalls lehrte ich sie an der Zukunft schaffen, und Alles, das war –, schaffend zu erlösen«207. Zwar werden die alten Wertetafeln208 und deren Lehrer, »die Tugend-Meister und Heiligen und Dichter und Welt-Erlöser«209, desavouiert, eine vehemente Kritik an deren Funktion als »Mittler«210 vorgebracht. Doch reiht sich Zarathustra zuletzt in den Kreis der seherischen Dichter ein, denn: »Wie ertrüge ich es, Mensch zu sein, wenn der Mensch nicht auch Dichter und Räthselrather und der Erlöser des Zufalls wäre.«211 Er räumt ferner ein, »dass [er] in Gleichnissen rede und gleich Dichtern hinke und stammle«212. Des Weiteren bedient sich der philosophierende Prophet Zarathustra unterschiedlicher dichterischer Ausdrucksweisen, die seinem jeweiligen Selbstverständnis entsprechen. Um den »Sinn der Erde«213 neu zu entdecken, gilt es für Zarathustra, »Kämpfende«214 zu formieren, und analog dazu das 201 202 203

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Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 62. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 75, vgl. S. 149. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 117ff. Vgl. zur Priester- und Askese-Kritik auch: Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 362f. Besonders sticht die These vom Selbstwiderspruch des Asketen hervor: »Denn ein asketisches Leben ist ein Selbstwiderspruch: hier herrscht ein Ressentiment sonder Gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über Etwas am Leben, sondern über das Leben selbst […]; hier wird ein Versuch gemacht, die Kraft zu gebrauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen« (Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 363). Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 119. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 131. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 117. Vgl. zur Karikatur auf den ›letzten Papst‹ »ausser Dienst«: Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 321ff. In Zur Genealogie der Moral wird der Wunsch des asketischen Priesters beschrieben, »als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Herde« (Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 372) gelten zu wollen. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 248f. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 246ff. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 247. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 165. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 179. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 247. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 28, S. 80, S. 99 u. S. 100. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 100.

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prophetische Wort kämpferisch zu mobilisieren. Das Signifikante seiner prophetischen Rede ist von daher auch – metaphorisch versinnbildlicht – die aktionistische Schnelligkeit und Treffsicherheit des Worts: »Seht, ich bin ein Verkündiger des Blitzes und ein schwerer Tropfen aus der Wolke: dieser Blitz aber heisst Übermensch.«215 Zum Seher einer »neue[n] Wahrheit«216 stilisiert – »jetzt tanzt ein Gott durch mich«217 – dient ihm die prophetische Maske als Self-fashioning-Strategie,218 wobei der alte, transzendente Gott des Christentums bereits verabschiedet ist; das Andere seines Bezugspunkts ist nunmehr die Natur(-gewalt), das Leben bzw. der rätselhafte ›Übermensch‹219. Dementsprechend ist Zarathustras prophetisches Sprechen v.a. – wie im obigen Beispiel gezeigt – durch eine Gewittermetaphorik gekennzeichnet: Unter Bezugnahme auf eine typische Semantik des Erhabenen220 erscheint der nietzscheanische Prophet als Naturgewalt und als reduziertes Medium des ›großen Leibes‹221: »Mund bin ich worden ganz und gar, und Brausen eines Bachs aus hohen Felsen: hinab will ich meine Rede stürzen in die Thäler.«222 So will Zarathustra den Sturm-Wagen bespringen und »Hagelschauer in die Tiefe werfen«223, denn: »Wahrlich, ein starker Wind ist Zarathustra allen Niederungen.«224 Es ist ein signifikantes Merkmal prophetischer Rede, dass der Prophet als ›Mundstück‹225 einer höheren Macht konzipiert ist und er oftmals mit einem ›reinigenden Gewitter‹ oder einem strömenden Fluss, der Heil oder Unheil bringt, assoziiert wird.226 Gemäß dem Topos, dass der Prophet im eigenen Land nichts gilt, scheitert Zarathustra allerdings fortweg mit seiner prophetischen Kunde: »Sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für diese Ohren. Muss man ihnen erst die Ohren zerschlagen, dass sie lernen, mit den Augen hören? Muss man rasseln gleich Pau215

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Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S.  18. Zarathustra versendet ferner »Pfeile der Sehnsucht« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 17) und Rilke übernimmt dieses Motiv in seiner zweiten Duineser Elegie: »Wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung / mehr zu sein als er selbst« (Rilke zitiert nach Hillebrand, Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd. 1, S. 33). Ähnlich rezipiert Georg Heym dieses Zarathustra-Motiv: »Seine Lehre ist groß. Was man dagegen sagen mag, sie gibt unserm Leben einen neuen Sinn, daß wir Pfeile der Sehnsucht seien nach dem Übermenschen, daß wir alles Große und Erhabene in uns nach unsern besten Kräften ausgestalten und so Sprossen werden auf der Leiter zum Übermenschen« (Georg Heym 1906 in seinem Tagebuch zitiert nach: McCarthy, S. 203). Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 25. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 50. Vgl. zum Self-Fashioning bei George: Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 107f. Vgl. »Vom höheren Menschen«: Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 356ff. Zelle hält fest, dass das »Erhabene auch zum Paradigma des ›großen Menschen‹ bzw. ›Übermenschen‹« wird (Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 358). Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 36ff. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 106. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 107. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 126f. Vgl. Jer 15, 19: »Redest du Edles und nicht Gemeines, / dann darfst du mir wieder Mund sein.« Vgl. 2. Mose 4,  12: »Ich bin mit deinem Mund und weise dich an, was du reden sollst.« Vgl. Jer 1, 9: »Hiermit lege ich meine Worte in deinen Mund.« Vgl. etwa Jes 59, 19; Jes 59, 21; Jes 66, 12; vgl. die Donner-Worte des Herrn ( Jer 25, 30).

ken und Busspredigern? Oder glauben sie nur dem Stammelnden?«227 Das Ziel ›Übermensch‹ im Blick habend, soll das »auserwählte Volk«228 ferner – paradoxerweise – aus der Abwendung von Zarathustra erwachsen.229 Bezeichnenderweise verzichtet der ›einsame Prophet‹ schließlich auf eine ihn bestätigende und charismatisierende Jüngerschaft; seine engsten Begleiter sind seine Tiere, Schlange und Adler. Das Loslassen der Zöglinge gelingt Zarathustra allerdings ob seines »Schaffenswille[ns]« nicht gänzlich, denn immer wieder »treibt’s [seinen] Hammer hin zum Steine«230, sein Formwille als ›Erzieher des Menschengeschlechts‹ ist nicht zu brechen. In der unmittelbaren Inkorporation, der Indoktrination des Wortes, liegt die Macht des neuen Propheten: »Wer in Blut und Sprüchen schreibt, der will nicht gelesen, sondern auswendig gelernt werden.«231 Angezeigt ist hier schon die Diskrepanz zwischen einer sich absolut setzenden Leitfigur und einer entmündigten Gemeinde, sofern Auswendiglernen auf das Prinzip des absoluten Gehorsams und des unkritischen Nachbetens setzt. Heinz Schlaffer verfolgt detailliert Nietzsches ›Umwertung aller Werte‹ in einer Stilanalyse von dessen exaltierter Sprache, die von »unerhörten Sätzen«232, die die Logizität des Satzes absichtlich überschreiten, geprägt sei. Dabei gelinge es Nietzsche mittels »Poetisierung der philosophischen Prosa«233, die »Grenze des Worts zur Tat [zu] überschreiten«234. Die Annäherung an die mündliche Rede235 mittels zahlreicher Ausrufe, Ausrufezeichen, Imperative, Gedankenstriche und -punkte unterstütze »die Gewalt des Gedankens«236, so dass der Leser suggestiv zum Einverständnis gezwungen werde,237 seine Schriften in »Fleisch und Blut«238 übergingen. Der neue »Stil des Willens« relativiere die Bedeutung der Schrift unter Rekurs auf Derivate der griechischen Tragödie, d.h. auf die »Ablagerung vorsprachlicher, mimischer Tätigkeiten, des Tanzens und Singens«239, zugunsten einer Aufwertung von »Stimme, Gebärde, Rhythmus, [der] Bewegung des Körpers«240. Seine Rede ist grundlegend von einer ›Verleiblichung‹ gekennzeichnet.241 Vorbereitung finde hierbei bereits der mediale Übergang

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Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 18, vgl. S. 20. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 101. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 101. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 111. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 48. Schlaffer, Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen, München 2007, S. 13. Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 50. Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 17. Vgl. zur Annäherung an Zarathustras mündlichen Sprachstil und zu Nietzsches ›Verschwisterung‹ von Wort und Tat ausführlich: Schlaffer, Das entfesselte Wort, bes. S. 131–160. Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 37. Vgl. Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 58. Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 61. Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 59. Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 68. Vgl. zur ›Verleiblichung‹ der Sprache die Studie von Christof Kalb, Desintegration. Studien zu Friedrich Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie, Frankfurt am Main 2000.

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»von der lesbaren Schrift zum hör- und sichtbaren Auftritt des Schriftstellers«242. Die Zertrümmerung der syntaktischen Ordnung zugunsten von Gesten der Mündlichkeit verweist aber nicht nur auf die Wichtigkeit des Gedankens (nach Schlaffer),243 sondern bildet dazu freilich ein Äquivalent: Dem neuen, hohen Gedanken korrespondiert eine sich aufschwingen wollende Sprach-Kraft, u.a. Ausdruck des Wunsches nach einer prophetisch konnotierten Führerschaft: »Der philosophisch-poetische Genius, der sich in Zarathustras Sprachgewalt zeigt, befähigt und berechtigt ihn zum politischen Führer, macht ihn sogar zum religiösen Erlöser.«244 Die programmatische Verschränkung von Philosoph, Dichter, Genie und Führer245 sucht den ästhetischen Akt, »Text und Tat«246 gleichzusetzen, festzuschreiben: Ein Aufruf zur »Schöpfung einer neuen Welt, politische[n] Revolution, kriegerische[n] Aktion«247.248 Die sich von Nietzsche her definierenden Dichter-Propheten sind späterhin teilweise mit der Inflation der ›Führer-Figur‹ in eins zu setzen.249 Denn sie treten letztlich »mit dem Anspruch auf Führerschaft in Leben und Lehre [auf ], so daß nun schon die Prophetenwürde ungefähr das Geringste ist, dessen sich einer beruft, um überhaupt vernommen zu werden«250. Nach Einschätzung des George-Adepten Friedrich Gundolf handle es sich bei diesen Führergestalten ausschließlich um Figurationen Nietzsches: »Es ist aber nicht schwer, zu sehen, daß all diese neuen Führer wissentlich oder unwissentlich, eingestandener oder uneingestandenermaßen den Mut, die Mittel und meist auch den Inhalt ihres Lehrens von einem Mann entnehmen, und dies ist Nietzsche.«251 Das gefährliche Gewaltpotential prophetischer Verführer alludiert Nietzsche selbst immer wieder.252 Vorderhand soll aber bei der Exemplifizierung von Zarathustras prophetischen Zügen keine ideologiekritische Perspektive dominieren, sondern der Zusammenhang von prophetischem Gestus und einer daraus resultierenden Prophetie-Poetik, die eine Sehn-

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Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 77. Vgl. Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 79. Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 136. Vgl. Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 147. Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 154. Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 151. Kunst ist für Nietzsche bekanntlich ein Kriegsschauplatz, ein ewiger Kampf zwischen den antagonistischen Prinzipien des Dionysischen und Apollinischen, wie dies in seiner Die Geburt der Tragödie geschildert wird. Wenn nach Nietzsches »Artistenmetaphysik« das Dasein letztlich aber nur als »ästhetisches Phänomen« »gerechtfertigt« ist (Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. In: Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, S. 17), impliziert dies den Gedanken, das Dasein als eine Art Dauerkrieg (des Worts) zu verstehen. Nietzsches Leibphilosoph ist bekanntlich Heraklit, der Vater des Krieges. Vgl. Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 141f. Ernst Gundolf u. Kurt Hildebrandt, Nietzsche als Richter unserer Zeit, Breslau 1923, S. 3. Vgl. Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 141. Gundolf u. Hildebrandt, Nietzsche als Richter unserer Zeit, S. 3. Vgl. Schlaffer, Das entfesselte Wort, S. 141. Vgl. Nietzsche, Ecce homo, S. 260.

sucht nach dem wirkungsmächtigen Wort anzeigt, ausgelotet werden. Zarathustras Changieren zwischen meditativer Einsamkeit und Verkünder-Rolle mit Bezug zu seiner Gemeinde als Hörerschaft253 – topographisch durch den Abstieg vom Einsiedlerleben auf dem Berg zur Predigergestalt auf dem Markt markiert –254 durchzieht die (auch geistige) Wanderschaft des sonderlichen, prophetischen Philosophen.255 Demzufolge finden sich bei Nietzsche zwei Arten prophetischer Ausdrucksweisen: Im Gegensatz zum ›entfesselten Wort‹256, das Schlaffer bei Nietzsche fokussiert, ist Zarathustras Sprache überdies im Horizont einer ›Entdeckung der Langsamkeit‹ zu verorten, wo eine Metaphorik der verführerischen ›Regen-Worte‹ dominiert: Hier redet kein Fanatiker, hier wird nicht ›gepredigt‹, hier wird nicht Glauben verlangt: aus einer unendlichen Lichtfülle und Glückstiefe fällt Tropfen für Tropfen, Wort für Wort, – eine zärtliche Langsamkeit ist das tempo dieser Reden. Dergleichen gelangt nur zu den Auserwähltesten; es ist ein Vorrecht ohne Gleichen hier Hörer zu sein; es steht Niemandem frei, für Zarathustra Ohren zu haben … Ist Zarathustra mit Alledem nicht ein Verführer?257

Beschreibt Nietzsche den introvertierten Propheten, ist dessen Rede im Gegensatz zum extrovertierten Propheten mit Sprachgewalt von einer ›zärtlichen Langsamkeit‹ geprägt; der suggerierte Exklusivitätsanspruch der Hörerschaft bleibt allerdings unverändert.258 Die Widersprüchlichkeit in der prophetischen Figur Zarathustras, einerseits die Welt erobern zu wollen und Jünger um sich zu scharen, andererseits aber in die Weltabgeschiedenheit zu flüchten, eröffnet eine ambivalente Rezeptionsmöglichkeit hinsichtlich des prophetischen Wort-Einsatzes: aktionistischer Sprachgebrauch versus mystisches Sprechen. Aber so wie Nietzsche mitunter die Dichter als Lügner und Narren bloßstellt259 – wie in seinem Gedicht »Nur Narr! Nur Dichter!« aus den Dionysos-Dithyramben260 –, so

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Vgl. Zarathustra: »Sondern lebendige Gefährten brauche ich, die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen – und dorthin, wo ich will« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 25); »Die Mitschaffenden sucht der Schaffende, Die, welche neue Werthe auf neue Tafeln schreiben« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 26). Vgl. zur Kritik: »Von den Fliegen des Marktes«: Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 65f. Auch Aldo Venturelli hebt Zarathustras Wechsel zwischen »Massenkommunikation« und ästhetischer Einsamkeit hervor (A. Venturelli, Nietzsches Auffassung des Übermenschen und das Problem einer Mythologie der Moderne. In: Moderne und Mythos, hg. von Silvio Vietta u. Herbert Uerlings, München 2006, S. 115–128, S. 119). Vgl. Schlaffer, Das entfesselte Wort, bes. S. 131–160. Nietzsche, Ecce homo, S. 260. Und in einer für Zarathustra typischen Litanei verkündet dieser die Boten des ›Blitzes‹: »Ich liebe alle Die, welche wie schwere Tropfen sind, einzeln fallend aus der dunklen Wolke, die über den Menschen hängt: sie verkündigen, dass der Blitz kommt, und gehen als Verkündiger zu Grunde« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 18). Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 110, S. 163ff. u. S. 371f. Nietzsche, Dionysos-Dithyramben. In: Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 6, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, S. 375–380.

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legt er auch unterschwellig eine ›Selbstironisierung der Verkünderrolle‹261 an. In Ecce homo relativiert er sodann auch teilweise das prophetische Erbe Zarathustras bzw. präzisiert dieses: Hier redet kein ›Prophet‹, keiner jener schauerlichen Zwitter von Krankheit und Willen zur Macht, die man Religionsstifter nennt. Man muss vor Allem den Ton, der aus diesem Munde kommt, diesen halkyonischen Ton richtig hören, um dem Sinn seiner Weisheit nicht erbarmungswürdig Unrecht zu thun. ›Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen, Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt –‹.262

Durch die Verabschiedung des Propheten als moralinen Religionsstifter profi liert Nietzsche gleichsam den dichtenden ›Propheten der stillen Worte‹.263 Aufschlussreich für die ambivalente Zeichnung des philosophierenden Propheten ist sein Changieren zwischen stiller Rede und Wort-Gewalt, das sich ähnlich schillernd in Nietzsches Aussagen zur Thematik des Inspirationstopos niederschlägt. Gilt der inspirative Motor als Freisetzung beider prophetischer Mitteilungsweisen, äußert sich der ›positivistische‹ Nietzsche hinsichtlich des Verhältnisses von Autorschaft und Künstlertum, v.a. hinsichtlich dessen, was unter der Rubrik bzw. der Rede von Inszenierung heiliger Autorschaft im Wesentlichen (noch) zu verstehen ist, im vierten Hauptstück von Menschliches, Allzumenschliches (1878/79) – also in seiner mittleren Phase – »Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller« kritisch: 155. Glaube an Inspiration. – Die Künstler haben ein Interesse daran, dass man an die plötzlichen Eingebungen, die sogenannten Inspirationen glaubt; als ob die Idee des Kunstwerks, der Dichtung, der Grundgedanke einer Philosophie, wie ein Gnadenschein vom Himmel herableuchte. In Wahrheit producirt die Phantasie des guten Künstlers oder Denkers fortwährend, Gutes, Mittelmässiges und Schlechtes, aber seine Urtheilskraft , höchst geschärft und geübt, verwirft , wählt aus, knüpft zusammen. […] Alle Grossen waren grosse Arbeiter, unermüdlich nicht nur im Erfinden, sondern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten, Ordnen.264

Die Inszenierung oder Vorgabe begnadeter, heiliger Autorschaft (mitsamt der Vorstellung von der künstlerischen Produktion als ›Gnadengabe‹, charisma) wäre mit Nietzsche als Oberflächenphänomen zu begreifen, als eine Scheinsphäre des als ob auf ästhetischem Feld, unter der sich als Tiefenstruktur doch wieder die sortierende Handwerklichkeit des Autors (ars) verberge. Genauer gesagt werden Inspirationserfahrungen nicht gänzlich demontiert, nur wird das rezeptionsästhetische Moment des als ob hervorgehoben, denn nicht alles, was die Phantasie vorstellt, steht unter dem »Gnadenschein vom Himmel«265. Die Urteilskraft – das vernünftige Element

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Vgl. McCarthy, S. 200. Nietzsche, Ecce homo, S. 259. Im Gespräch mit der stimmlosen Stimme in der »stillsten Stunde« wird ebenfalls das Ideal der »stillsten Worte« aufgegriffen (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 189). Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 146f. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 146.

als Gegenpol zur intuitiv produzierenden Phantasie – trifft eine Auswahl aus dem phantastischen Vielerlei und kombiniert entsprechend einem selektierenden Ordnungsprinzip. So zeigen sich hinsichtlich des »großen Arbeiter[s]«266 Züge einer Auflösung des Künstlerbegriffs in seine Bestandteile des inspirierten Künstlers (ingenium), wie er zu scheinen hat, und des Handwerker-Künstlers (ars), wie er wirkt und arbeitet. Anders gesagt werden zwei divergierende Arbeitsweisen des Künstlers sondiert, diejenigen der Erfindungskraft (ingenium) und der regelgeleiteten Gestaltungskraft (ars), wonach allein erstere als numinose Kraft eine dominante Darstellung findet, was Nietzsche desillusionierend kritisiert. Unter psychologischer Perspektive betrachtet, entsteht die »Täuschung« des Inspirationserlebnisses dadurch, dass das »Hemmnis« eines Produktionsstaus plötzlich durch einen »Erguss« ausfließt, »als ob eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes inneres Arbeiten, also ein Wunder sich vollziehe«: »Das Capital hat sich eben nur angehäuft, es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen.«267 Ebenso entlarvt Nietzsche die Vorstellung vom Genie: »Das Genie tuth auch Nichts, als dass es erst Steine setzen, dann bauen lernt, dass es immer nach Stoff sucht und immer an ihm herumformt. Jede Thätigkeit des Menschen ist zum Verwundern complicirt, nicht nur die des Genie’s: aber keine ist ein ›Wunder‹.«268 Demnach ist das Genie im Sinne des originellen Selbstmachers zum einen immer inszeniert und zum andern immer prozessual zu denken, sofern es nicht allein dank der Gnade des Talents zum Genie wird, sondern v.a. dank der Arbeit an seinen Fertigkeiten: 163. Der Ernst des Handwerks. – Redet nur nicht von Begabung, angeborenen Talenten! Es sind grosse Männer aller Art zu nennen, welche wenig begabt waren. Aber sie bekamen Grösse, wurden ›Genies‹ (wie man sagt), durch Eigenschaften, von deren Mangel Niemand gern redet, der sich ihrer bewusst ist: sie hatten Alle jenen tüchtigen HandwerkerErnst, welcher erst lernt, die Theile vollkommen zu bilden, bis er es wagt, ein grosses Ganzes zu machen; sie gaben sich Zeit dazu, weil sie mehr Lust am Gutmachen des Kleinen, Nebensächlichen hatten, als an dem Effecte eines blendenden Ganzen.269

Deshalb stellen Kritikunfähigkeit und heuchlerische Verdeckungen ausbleibender Inspiration Gefahren des »Aberglaubens vom Genie« für den Künstler dar, so dass dieser besser die konditionellen Bedingungen im Blick behalten solle: Für grosse Geister selbst ist es also wahrscheinlich nützlicher, wenn sie über ihre Kraft und deren Herkunft zur Einsicht kommen, wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen Eigenschaften in ihnen zusammengeflossen sind, welche Glücksumstände hinzutraten: also einmal anhaltende Energie, entschlossene Hinwendung zu einzelnen Zielen, grosser persönlicher Muth, sodann das Glück einer Erziehung, welche die besten Lehrer, Vorbilder, Methoden frühzeitig darbot.270

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Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 147. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 147. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 152. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 152f. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 155.

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Vom Nimbus des Genies ist bei Auflistung aller positiven Determinanten nichts mehr zu spüren. Worin das Interesse der Künstler bestehen kann, den Inspirationstopos durchweg zu beglaubigen, dessen Schein zu wahren und das Moment der technischen Verarbeitung zu kaschieren, beschreibt Nietzsche unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten wie folgt: Der Künstler weiss, dass sein Werk nur voll wirkt, wenn es den Glauben an eine Improvisation, an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung erregt; und so hilft er wohl dieser Illusion nach und führt jene Elemente der begeisterten Unruhe, der blind greifenden Unordnung, des aufhorchenden Träumens beim Beginn der Schöpfung in die Kunst ein, als Trugmittel, um die Seele des Schauers oder Hörers so zu stimmen, dass sie an das plötzliche Hervorspringen des Vollkommenen glaubt.271

Die Produktion des Kunstwerks als ein Wunder vorzustellen, dient einem Geltungsanspruch: Der inspirierte Künstler schafft ein unvergleichlich begnadetes Werk, welchem dementsprechend eine hohe Dignität zuzusprechen ist. Die Beanspruchung religiösen Vokabulars und religiöser Empfindungsweisen ist näherhin als eine Folgeerscheinung der »Beseelung der Kunst«272 zu erklären:273 Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selber tiefer, seelenvoller, so dass sie Erhebung und Begeisterung mitzutheilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte.274

Aber anstatt konsequent die Künstler-Maske des Inspirierten wissenschaftlich zu destruieren, beweihräuchert Nietzsche wiederum hymnisch den Inspirationstopos in seinem Kommentar zur Niederschrift des Zarathustra in seiner Spätschrift Ecce homo (1888, posthum erschienen 1908):275 Hat Jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten? Im andren Falle will ich’s beschreiben. Mit dem geringsten Rest von Aberglauben in sich würde man in der Th at die Vorstellung, bloss Incarnation, bloss Mundstück, bloss medium übermächtiger Gewalten zu sein, kaum abzuweisen wissen. Der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, dass plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, Etwas sichtbar, hörbar wird, Etwas, das Einen im Tiefsten er-

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Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 140. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 144. In der Geburt der Tragödie bezeichnet Nietzsche die Kunst als die letzte »metaphysische Thätigkeit« des Menschen (Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 17). Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 144. Vgl. zum Maskenspiel des Ich in Ecce homo seine »schöpferische[n] Ich-Effekte« und seine »Geburt der Herkunft im Akt selbstreferentiellen Erzählens« – nach dem Motto: »wie man wird, was man ist«: Barbara Thums, »Das eine bin ich, das Andere sind meine Schriften«. Selbstbegründungen des Ich in Nietzsches »Ecce homo«. Wie man wird, was man ist. In: Herkünfte. Historisch – ästhetisch – kulturell. Beiträge zu einer Tagung aus Anlaß des 60. Geburtstags von Bernhard Greiner, hg. von Barbara Thums, Volker Mergenthaler, Nicola Kaminski u. Doerte Bischoff, Heidelberg 2004, S. 81–107, S. 86 u. S. 102.

schüttert und umwirft , beschreibt einfach den Thatbestand. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Nothwendigkeit, in der Form ohne Zögern, – ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzükkung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Th ränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkommnes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert, sondern als eine nothwendige Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflusses; ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt – die Länge, das Bedürfniss nach einem weitgespannten Rhythmus ist beinahe das Maass für die Gewalt der Inspiration, eine Art Ausgleich gegen deren Druck und Spannung … Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit … Die Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das Merkwürdigste; man hat keinen Begriff mehr, was Bild, was Gleichniss ist, Alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck. Es scheint wirklich, um an ein Wort Zarathustra’s zu erinnern, als ob die Dinge selber herankämen und sich zum Gleichnisse anböten (– ›hier kommen alle Dinge liebkosend zu deiner Rede und schmeicheln dir: denn sie wollen auf deinem Rücken reiten. Auf jedem Gleichniss reitest du hier zu jeder Wahrheit. Hier springen dir alle Seins Worte und Wort-Schreine auf; alles Sein will hier Wort werden, alles Werden will von dir reden lernen –‹). Dies ist meine Erfahrung von Inspiration; ich zweifle nicht, dass man Jahrtausende zurückgehn muss, um Jemanden zu fi nden, der mir sagen darf ›es ist auch die meine‹.276

Die alten Propheten würden freilich ihre Zustimmung zu diesem Manifest der Inspiration nicht verweigern. Unter Inspiration subsumiert Nietzsche hier v.a. den Gedanken vom Künstler, der »bloss Incarnation, bloss Mundstück, bloss medium übermächtiger Gewalten«277 ist, d.h. als depotenziertes Subjekt erscheint und demgemäß seines freien Willens beraubt, transsubjektiv schafft , dabei körperlich affiziert glücklich-schmerzlich außer sich ist und sich im Zustand der Ekstase befindet.278 Hervorzuheben ist v.a. der Gedanke, dass das Bedürfnis nach Weite des Rhythmus gleichzeitig als eine Art Maß für die Gewalt der Inspiration einen Ausgleich darstellt. Dem ekstatischen Moment eignet ein selbstbegrenzender Zug, dem Dionysischen steht das Apollinische zur Seite: Die über das Subjekt hereinbrechende Entgrenzung mittels Inspiration geht mit einer (selbsterhaltenden) Begrenzung einher, wonach Unfreiheit und Freiheitsgefühl (wie Dunkel im Licht, Schmerz im Glück) nebeneinander stehen können, sich gegenseitig durchdringen. Das erinnert an das mystisch fundierte Konzept der sobria ebrietas. Während für gewöhnlich nach Nietzsches Dekonstruktion aller objektiven Wahrheit nur eine illusionsreiche, subjektiv-perspektivische Wahrheit, ein »bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen«279, zu bleiben scheint, spielt diese Zarathustra-Passage auf die ontologisch fundierte, sprachphilosophische Vorstellung an, dass das Sein ›Bedingnis‹ des Worts 276 277 278 279

Nietzsche, Ecce homo, S. 339f. Nietzsche, Ecce homo, S. 339. Vgl. Barmeyer, Die Musen, S. 184. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. In: Nietzsche, Sämtliche

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und umgekehrt ist, ja dass eine Brücke von der Metapher zur Wahrheit in der ›höheren Sprache‹ möglich sei – wie dies später Stefan George und auch Martin Heidegger aufgreifen werden.280 Während etwa Stefan George indes Nietzsches »Gestus des Gesetzgebers« im Sinne des Zarathustra der neuen Gesetzestafeln teilweise übernimmt, er sich »als Prophet, als vates«281 sieht und einer prophetischen Wortgewalt bemächtigt, beerbt Hugo von Hofmannsthal diese zuletzt aufgezeigte, ›introvertierte‹ Seite des weltabgeschiedenen Zarathustra:282 Im ›epiphanischen Augenblick‹283 der Entrückungsphase in Hofmannsthals »Ein Brief« (1902) heißt es etwa: »Es erscheint mir alles, alles, was es gibt, alles, dessen ich mich entsinne, alles, was meine verworrensten Gedanken berühren, etwas zu sein.«284 So äußert sich die Sehnsucht nach einer neuen Sprache, »in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen«285.286 Dass in

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Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd.  1, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, S. 880. Vgl. Martin Heidegger, Das Wort. In: Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Stuttgart 200713, S. 217–239. Hillebrand, Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd. 1, S. 25. Vgl. H. v. Hofmannsthal: »Alles was die Künstler in diesem dämmernden, sinnlosen Leben berühren, leuchtet und lebt« (Hofmannsthal, Eleonore Duse, zitiert nach Hillebrand, Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd. 1, S. 25). Vgl. Thomas Rentzsch, Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee. In: Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, hg. von Jörg Hermann, Andreas Mertin u. Eveline Valtink, München 1998, S. 106–126. Hofmannstahl, Ein Brief. In: Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, hg. von Rudolf Hirsch u.a., Bd. 31: Erfundene Gespräche und Briefe, hg. von Ellen Ritter, Frankfurt am Main 1991, S. 45–55, S. 52. Hofmannsthal, Ein Brief, S. 54. Ontologisch-existentiell gesehen belebt ein ›Denken mit dem Herzen‹ (vgl. Hofmannstahl, Ein Brief, S. 52) die Dinge derart, dass sie in den Seinsmodus des Etwas erhoben sind, zur Erscheinung kommen. Der Erlebende der epiphanischen Entzückung selbst wäre dabei Seinsgrund, die Dinge und Vorstellungen »Gefäß[e] [s]einer Offenbarung« (Hofmannstahl, Ein Brief, S. 50). Insbesondere die Affektion des Körpers erfährt die »Gegenwart des Unendlichen« unmittelbar, so dass »der Körper aus lauter Chiffern, dir mir alles aufschließen« (Hofmannstahl, Ein Brief, S. 52), besteht (vgl. zur Körperpoetik im ›Chandos-Brief‹: Georg Braungart, Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne, Tübingen 1995, S. 219ff.). Dialektisch gesehen wird im ›Endzustand‹ – gemäß einem dem Brief inhärenten triadischen Schema – das Verhältnis des Einzelnen zu den Dingen derart gefasst, dass die Begriffe einerseits ein Eigenleben führen und der Verfügungsgewalt des Subjekts entzogen sind, andererseits aber als »Gefäß[e]« (Hofmannsthal, Ein Brief, S. 50) eben auf das Subjekt als Bezugspunkt rekurrieren: Das potentiell Seiende ist dabei angewiesen auf ein absolutes Sein, um mittels Wahrnehmung durch das Subjekt zur Erscheinung zu kommen. Der Wunsch, »daß ich in Worte ausbrechen möchte, von denen ich weiß, fände ich sie, so würden sie jene Cherubim, an die ich nicht glaube, niederzwingen […]« (Hofmannsthal, Ein Brief, S. 52), beschwört bei Hofmannsthal die absolute Kraft des Worts mit ›Engelsgewalt‹. Die weiterhin alludierte ›Zungenrede‹ (vgl. Hofmannsthal, Ein Brief, S. 47), die pfingstliche Eingebung des Heiligen Geistes, stellt neben der religiösen Aufwertung der Antike eine Paganisierung der christlichen Lehre dar (vgl. Bernhard Böschenstein, Hofmannsthal und die Kunstreligion um 1900. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Bd. 2: Um

der Einsamkeit das lebendige Werden pulsiert, erfährt auch Zarathustra, wie in der oben angeführten Passage zur Inspiration in Ecce homo erinnert: »Hier springen mir alles Seins Worte und Wort-Schreine auf: alles Sein will hier Wort werden, alles Werden will hier von mir reden lernen.«287 Bei Nietzsche und Hofmannsthal finden sich demnach vergleichbare Grundpfeiler einer »Ästhetik der Präsenz«288. »Diese Wendung zu affirmativerer Betonung des religiösen Elements«289 geht – bei Nietzsche wie bei Hofmannsthal – mit einer Erhöhung der Dichtung zur Statthalterin göttlicher Wahrheiten einher.290 Die auffallende Widersprüchlichkeit zwischen der Desillusionierung des Inspirationstopos in Menschliches Allzumenschliches und positiver Bezugnahme auf das ekstatische Moment als Ursprung künstlerischer Produktion in Ecce homo versucht bereits Günter Blamberger dahingehend aufzulösen, dass Nietzsche im ersten Text »das Miraculum der Inspiration als Legende, in Ecce homo dagegen als Faktum« darbiete. Weiter bemerkt er, wie Nietzsche beide Vorstellungen von Inspiration an sein jeweiliges ›Rollenverständnis‹ anpasse: Die Einheit im Widerspruch könnte man in seiner Neigung zur Selbstmythisierung entdecken – gleichviel ob er als Wissenschaft ler erstmals den faulen Inspirationszauber der Künstler und Schriftsteller zu durchschauen oder als Dichterphilosoph eine letztmals vor ›Jahrtausenden‹ gültige Erfahrung zu erneuern vorgibt.291

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1900, hg. von Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs u. Manfred Koch, Paderborn, München u.a. 1998, S. 111–121, S. 116). Der vielfach zitierte Hinweis auf die Hieroglyphenschrift (vgl. Hofmannstahl, Ein Brief, S. 47) im ›Chandos-Brief‹ verdeutlicht den Charakter der Botschaft für Eingeweihte: Aus der »Not des Sprachverlusts« wird so »die Tugend der chiffrierten Sprachdichtung« (Böschenstein, Hofmannsthal und die Kunstreligion um 1900, S. 117). Vgl. zum ›Chandos-Brief‹ ausführlich und brillant: Christoph Asendorf, Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Gießen 1984, S. 147ff.; Kimmich u. Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 112ff. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 232. Vgl. Venturelli: »Die Präsenz betrifft somit ein Dasein, das erst durch die ästhetische Dimension seine Fülle erlangt und sich selbst in seiner abstrakten Wesenhaftigkeit mitzuteilen vermag« (Venturelli, Nietzsches Auffassung des Übermenschen, S. 115). Böschenstein, Hofmannsthal und die Kunstreligion um 1900, S. 117. Genauere Ausführungen zur ›Kunstreligion‹ bei Hofmannsthal finden sich in seiner Rede Der Dichter und diese Zeit (1906): »Sie suchen in den Büchern, was sie einst vor den rauschenden Altären suchten, einst in dämmernden von Sehnsucht nach oben gerissenen Kirchen. […]. Sie suchen mit einem Wort, die ganze Bezauberung der Poesie« (Hofmannsthal, Der Dichter und diese Zeit. In: Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 8: Reden und Aufsätze I: 1891–1913. Ungekürzte, neu geordnete, um einige Texte erweiterte Ausgabe, hg. von Bernd Schoeller, Frankfurt am Main 1986, S. 54–81, S. 62; vgl. dazu: Böschenstein, Hofmannsthal und die Kunstreligion um 1900, S.  117f.; Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 436f.). Und für den Leser gibt es »ein Zeichen, das dem dichterischen Gebilde aufgeprägt ist: daß es geboren ist aus der Vision« (Hofmannsthal, Der Dichter und diese Zeit, S. 80). Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen, S. 34.

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Ferner weist Blamberger scharfsinnig darauf hin, dass Nietzsche »im ersten Fall externer, im zweiten Fall interner Beobachter des Inspirationsgeschehens«292 sei und sich dementsprechend einmal der »Sprache der Analyse« und einmal der »Sprache der Begeisterung« bediene.293 Seit Nietzsche kursieren zwei Seiten einer modernen Prophetie-Poetik und deren Vertreter: Erstens der prophetische Künstler auf der Schwundstufe des Vergehens (unter den Vorzeichen Depersonalisation, Ohnmacht, dezentriertes Subjekt, Medialisierung u.a.) und zweitens der im Zeichen heiliger Autorschaft monumental gewachsene Künstler (nach dem Vorbild des ›sprachgewaltigen Übermenschen‹):294 Die Experimentalästhetik der Moderne zeitigt nämlich zwei Paralleltendenzen: die radikale Autorisierung des Subjekts bzw. des Künstlers und die radikale Autonomisierung des künstlerischen Materials […], die natürlich des Künstlers noch als Medium ihrer Realisation bedarf, jedoch nicht mehr als perspektivierendes und im Kunstwerk repräsentiertes Subjekt.295

Zarathustra ist ein bestechendes Beispiel dafür, wie beide Tendenzen – medial-objektives und authentisch-subjektives Künstlerverständnis – in einer Propheten-Figuration zusammenstehen können. Mit der vom Dichter-Propheten typischerweise reklamierten Deutungshoheit ist die subjektive Note des Künstlers profi liert, seine ihn objektivierende ›Schwundstufe‹ markiert seine mediale Repräsentationsfunktion des dominanten künstlerischen Materials. Ein prophetischer Künstler kann absolute Deutungshoheit und Sprachmacht für sich reklamieren, wie er auch in der Rolle als ›Diener des Worts‹ und in demütiger Bescheidenheit aufzutreten vermag. Die Zarathustra-Figur oszilliert einmal mehr zwischen Sprachmacht und Macht der Sprache. Daraus resultierend ergeben sich zwei prophetische Redeweisen: die der ›WortGewalt‹ und die der ›stillen Rede‹. So erklärt sich Nietzsches Sehnsucht nach den Propheten: Oh, wollten doch die Dichter wieder werden, was sie einstmals gewesen sein sollen: Seher, die uns Etwas von dem Möglichen erzählen! Jetzt, da ihnen das Wirkliche und das Vergangene immer mehr aus den Händen genommen wird und werden muss, denn die Zeit der harmlosen Falschmünzerei ist zu Ende! Wollten sie uns von den zukünft igen Tugenden

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Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen, S. 34. Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen, S. 36. Blamberger unterscheidet hilfreich drei zu differenzierende Ebenen der Inspiration: Das ist erstens die »Ebene des Inspirationsgeschehens«, zweitens die »Ebene der Beschreibung des Geschehens« (von Seiten des internen oder externern Beobachters während des Inspirationsgeschehens oder mit zeitlichem Abstand betrachtet) und drittens die »Ebene der rückbezüglichen Beschreibung des Geschehens« (aus der Sicht des primären oder sekundären Beobachters) (Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen, S. 35 u. S. 37). Vgl. King, Heilige Autorschaft in der Moderne. Rainer Maria Rilke als Seher-Dichter. In: Parapluie. Wildwüchsige Autobiographien, Nr. 24, 2007/2008. [Online-Publikation]. Vietta u. Dirk Kemper, Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, München 1998, S. 31.

Etwas vorausempfinden lassen! Oder von Tugenden, die nie auf Erden sein werden, obschon sie irgendwo in der Welt sein könnten, – von purpurnglühenden Sternbildern und ganzen Milchstrassen des Schönen! Wo seid ihr, ihr Astronomen des Ideals?296

II.3.2. Rimbauds Entgrenzungs-Sucht: Der voyant als Wortspiel Ich will ein Poet sein, und ich arbeite an mir, um aus mir einen Seher zu machen. […] Es geht darum, durch ein Entgrenzen aller Sinne am Ende im Unbekannten anzukommen. Die Leiden sind gewaltig, aber man muß stark sein, als Poet geboren, und ich habe mich als Poet erkannt. Das ist durchaus nicht meine Schuld. Es ist falsch, wenn einer sagt: Ich denke. Man sollte sagen: Es denkt mich. (Entschuldigen Sie das Wortspiel.) Ich ist ein anderer.297

Als radikaler Aussteiger, exemplarischer Grenzgänger und Querulant mit Hang zum Sinne betörenden Drogenkonsum sowie als prägnanter Dichter einer kurzen, vierjährigen Schaffensphase imponiert Rimbaud aufgrund seines radikalen, v.a. die Expressionisten und Surrealisten beeinflussenden, Neuansatzes des gesteigerten Ausdrucks und wegen seines ungewöhnlich dynamischen Schaffens bis zu seiner radikalen Abkehr vom Dichtertum mit neunzehn Jahren.298 Rimbauds eingängliches Diktum »Ich ist ein anderer« ( Je est un autre) aus seinen berühmten Lettres du Voyant (1871) wird für gewöhnlich als strategische Formel einer radikalen ›Entpersonalisierung‹ des Dichters zitiert, die eine ›transzendentale Bedingung‹ für ein neuartiges, künstlerischen Schaffens ist. Rimbauds Konzeption des ›objektiven Sehens‹ macht dabei den sich in jeder Hinsicht entgrenzenden voyant als Dichterbild salonfähig, indem er – ähnlich wie Nietzsche – die reflexive Selbstsituierung des Dichters als Seher fokussiert. In seiner Seher-Poetik stellt er das Programm einer radikalen »Entgrenzung der Sinne« (mittels Liebe, Leiden, Wahnsinn und Giften) vor, wonach der stigmatisierte Dichter »unter allen Wesen der große Kranke, der große Verbrecher, der große Verdammte – und der Allwissende wird! – Denn er kommt an im Unbekannten! […] Er kommt im Unbekannten an, und wenn er schließlich, gestörten Geistes, seine Visionen nicht mehr begreift, so hat er sie doch gesehen!«299 Augenfällig ist der Topos vom heilig-kranken Künstler beerbt, der einer unbegreiflichen Vision ausgesetzt ist.300 296 297

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Nietzsche, Morgenröte, Nr. 551, S. 321f. A. Rimbaud, Brief an Georges Izambard vom 13. Mai 1871. In: Rimbaud, Sämtliche Werke, Französisch-Deutsch. Mit Erläuterungen zum Werk und einer Chronologie zum Leben Arthur Rimbauds, neu durchgesehen von Thomas Keck, Frankfurt am Main; Leipzig 1992, S. 393f., S. 394. Vgl. Paul Hoffmann, Symbolismus. München 1987, S. 140f. Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871. In: Rimbaud, Sämtliche Werke, Französisch-Deutsch. Mit Erläuterungen zum Werk und einer Chronologie zum Leben Arthur Rimbauds, neu durchgesehen von Thomas Keck, Frankfurt am Main; Leipzig 1992, S. 394– 399, S. 396. Vgl. zum Topos des ›heiligen Kranken‹ und seiner psychologischen Entlarvung durch die hippokratische Schule: »Diese Menschen wählten die Gottheit als Deckmantel für ihre Hilflosigkeit; denn sie hatten nichts, mit dessen Anwendung sie helfen konnten; und damit

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Darüber hinausgehend fungiert Rimbauds exzentrischer voyant als Erfinder neuer Formen, als Katalysator einer neuen, reinen ›Universalpoesie‹301. Denn mittels einer provokativ inszenierten Ich-Sprengung fungiert der voyant als Befreier der Worte aus der ›Gottesherrschaft‹ lyrischer Subjektivität und fundiert einen Reinigungsprozess der Sprache zum Objektiven hin.302 In den transsubjektiven Status eines absoluten Ich erhoben, wird der Dichter als Statthalter einer poésie objective eingesetzt.303 Als Kulminationspunkt der beschworenen radikalen Neusituierung des Dichters ist nämlich en gros dessen substantielle Auflösung zu sehen: Indem das Ich in die eigene Selbst-Transzendierung gestellt depotenziert wird, widerfährt ihm eine Fremdsteuerung: »Es denkt mich. […] Ich ist ein anderer!«304 [»On me pense. […] ›Je est un autre‹!«] Verblüffend an der Aussage Je est un autre ist zunächst die ungewöhnliche grammatikalische Form. Wenn etwa gesagt würde: Je suis un autre, wäre deutlich ausgesprochen, dass das ›Ich bin‹ einen anderen Referenzpunkt erhielte. Je est un autre löst zunächst das Je aus dem Bezugsrahmen einer gewöhnlichen Prädikation ( Je suis) und wird dadurch als freier Signifi kant, als ›reines Wort‹ für neue Bedeutungszuweisungen profi liert. Gerade in der imaginativen ›Multiplikation‹305 des Ich als Selbstkonstruktion, dem Ersprechen des Selbst im Rollenspiel wird die Selbstzerstörung in eine reine Potentialität des Ich, eine Wesens-Vakanz umgemünzt, ohne dass das Sein (Existenz) in Frage gestellt wird: Ich bin, wenn auch etwas anderes (mich denkt), also ein anderes Ich. In der Beschwörung dieser grammatikalischen Verwandlung wird die intentionale Stellung zum anderen/etwas indes reflexiv durchdacht, obgleich das besprochene entgrenzte Ich jeglicher Selbst-Reflexion beraubt und auf seine nackte

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ihre Unwissenheit nicht entdeckt würde, brachten sie auf, daß diese Krankheit heilig sei« (Hermann Grensemann [Hg.], Die hippokratische Schrift über die heilige Krankheit, Berlin 1968, S. 61). In den Délires. Alchemie du verbe ist zu lesen: »Ich schrieb am Schweigen der Nacht, nannte das Unsagbare. Ich formulierte den Rausch. […] Ein gut Teil meiner Alchemie des Wortes war alter Trödel (la vieillerie poétique). […] Am Ende sprach ich das Chaos meiner Gedanken heilig« (Rimbaud, Délires. Alchemie du verbe. In: Rimbaud, Sämtliche Werke, Französisch-Deutsch. Mit Erläuterungen zum Werk und einer Chronologie zum Leben Arthur Rimbauds, neu durchgesehen von Thomas Keck, Frankfurt am Main; Leipzig 1992, S. 332–344, S. 335–337). Vgl. Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, S. 397. Vgl. zu Rimbaud grundlegend: Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, S. 59ff. Vgl. zu Rimbaud als Dichter-Seher: Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S.  426f. Vgl. zu Rimbauds Seher-Briefen: Barmeyer, Die Musen, S. 18f.; Gwendolyn Bays, The Orphic Vision. Seer Poets from Novalis to Rimbaud, Lincoln 1964; Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 109f. Vgl. Frick, Poeta vates, S. 135; Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 427. Rimbaud, Brief an Georges Izambard vom 13. Mai 1871, S. 394. Auch Kiesel hebt hervor, dass es in den Seher-Briefen nicht primär um die »Auslöschung des Ichs« geht, sondern um »die Erfahrung seiner möglichen Andersheit (›Car Je est un autre‹), die auch bei Rimbaud zur ›Vervielfältigung der Individualität‹ drängt« (Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 130).

(Fremd-)Existenz reduziert ist. Im zweiten Seher-Brief an Paul Demeny (15. Mai 1871) schreibt Rimbaud ähnlich wie im ersten: Denn Ich ist ein anderer. Wenn Kupfer als Trompete erwacht, ist es nicht seine Schuld. Mir ist eines klar: ich nehme teil am Entstehen meines Gedankens: ich sehe ihn an, ich höre ihn; ich streiche mit einem Bogen über die Saite: schon ertönt in den Tiefen die ganze Symphonie; oder sie erfüllt mit einem Sprunge die Bühne. Wären die alten Schwachköpfe nicht zu einer völlig falschen Vorstellung vom Ich gelangt, brauchten wir heute nicht diese Millionen von Skeletten wegzukehren, die schon eine Ewigkeit immer neue Produkte ihres bornierten Verstandes anhäufen und sich deshalb Autoren nennen.306

Was ist also die missliche Vorstellung vom Ich oder Autor? Die Aktivität des Ich, das den Bogen über die Saite führt und zumindest am Gedankenfinden in der Rolle des Zuschauers teilhat, wird jedenfalls nicht demontiert. Der voyant ist vielmehr Instrument und Agent des Kunstprozesses.307 Einer radikalen Entpersonalisierung hingegen entspräche viel eher ein Bildvergleich, in welchem das Ich etwa mit der Saite (oder dem Klangkörper einer Geige) verknüpft ist, die beispielsweise von fremder Hand geführt wird.308 Im Fortgang des Briefes wird aber gerade betont, dass der Briefschreiber »den Bogen in der Hand«309 habe, genauso wie das Ich die Symphonie mittels Bogenstrich heraufbeschwört. Dargeboten wird die ›Zukunftsmusik‹ vom Dichter als Seher zudem in Briefform, weswegen zwischen lyrischem Ich und empirischem Dichter-Ich zu unterschieden ist.310 Rimbauds epistolare Seher-Inszenierung spielt zunächst eine Selbst-Entfremdung vor, ist als ein Rollenspiel konzipiert, das wiederum gemacht ist. Es darf nicht vergessen werden, dass die Depotenzierung und Entpersonalisierung des ›nackten Ich‹ (als Signifi kant) in Form ihrer Schilderung mittels künstlerischer Gestaltung schon eine erste reflexive Brechung oder ›Resubjektivierung‹ erlangt. Eine ironische Brechung ist überdies angedeutet: Es wird betont, es handele sich bei der Ich-Entleerung nur um ein »Wortspiel«311. Dadurch erscheint Rimbauds ›Entgrenzung‹ des Dichters ansatzweise widersprüchlich. Diese performative Widersprüchlichkeit trägt indes einer ›begrenzten Entgrenzung‹ des Ich Rechnung. In der Schwebe bleibt, ob das »Es denkt mich« ein anzustrebender Zielzustand ist, der aktiv modelliert wird, oder ob die Arbeit zum Dichter-Seher unwillentlich vonstatten geht; steht die bewusste Modellierung des Ich im Mittelpunkt, dann wäre nämlich das »Ich ist ein anderer« tatsächlich nur ein »Wortspiel«312: Ich selbst modelliere ein anderes Ich meiner selbst, in meiner wörtlichen Entäußerung stelle ich mich als Es vor. Der inszenierten Ausweitung des Ich entspricht dann ein

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Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, S. 395. Vgl. Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 131. Vgl. Rilkes Gedicht »Am Rande der Nacht« und die Interpretation im Kapitel V.3.6. Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, S. 397. Vgl. Hoffmann, Symbolismus, S. 142. Rimbaud, Brief an Georges Izambard vom 13. Mai 1871, S. 394. Rimbaud, Brief an Georges Izambard vom 13. Mai 1871, S. 394.

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erweitertes Ich.313 Hieraus muss also nicht zwingend ein performativer Widerspruch abgeleitet werden. Dem Alltag der normalen Arbeit entrinnen wollend, proklamiert Rimbaud im Zustand des Streiks eine spezifische Arbeit der alle Leiden verkraftenden ›Selbstkunst‹, die eine profunde Selbstkenntnis voraussetzt:314 Entgegen einer antiken Vorstellung vom poeta vates, der tatsächlich in originärer Fassung als reines Medium und inkarnierte Passivität (von höherer Gewalt im Nu ergriffen) als reactio der Musen auf seine invocatio gedacht wird,315 rückt unversehens die prozessuale Gestaltung des Dichter-Sehers in den Vordergrund. Die Produktion des Sehers verlangt einerseits eine stete ›Arbeit am Selbst‹, ein subjektives Engagement zur Entgrenzung, andererseits sind unbeeinflussbare Determinanten wie angeborenes Talent (gratia) (»als Poet geboren«316) zum Poeten Voraussetzung. In Rimbauds Seher-Briefen dominiert gleichwohl der Wunsch, sich zum voyant zu machen: Als zentrale Aussage für die aktive Mitarbeit zum Dichter-Seher und sein Image-Making kann folgende Äußerung gegenüber Paul Demeny gelten: »Ich sage, daß man ein Seher werden, sich zum Seher machen muß.« 317 [»Je dis qu’il faut être voyant, se faire voyant«]. Entscheidend an Rimbauds Wiederbelebung des poeta-vates-Modells ist sein aktiv-rationales Erzwingen des Sehertums mittels Seelen-Bildung, Selbstkonditionierung, Arbeit am Selbst.318 So hält bereits Paul Hoffmann fest, dass die angestrebte Entpersonalisierung des Dichters nicht mit dessen Status als passiver Wortempfänger gleichzusetzen sei, da sie auf einem Bewusstseinsakt fuße: Die Person des Dichters ist nicht nur passiv, überwältigt von irrationalen Mächten. Es kommt auch auf sein Bewußtsein an, seine Aktivität. Sein Intellekt ist am kreativen Vorgang beteiligt. Dann aber spaltet sich dieses Ich; reflektierendes Bewußtsein tritt zurück hinter dem, was sich aus der Psyche eigenmächtig entfaltet. […] Die Dialektik von Passivi-

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Insofern hinkt der Vergleich der Verwandlung des Ich mit einer spontanen Transformation etwa im materiellen Bereich: »Ich ist ein anderer. Schlimm genug für das Holz, das als Geige erwacht, und Spott allen, die sich selber nicht kennen und doch über etwas klügeln, wovon sie nicht das geringste (sic!) wissen« (Rimbaud, Brief an Georges Izambard vom 13. Mai 1871, S. 394). Pointiert wird hier vordergründig doch die mangelnde Selbsterkenntnis beklagt, der andere materielle Status des Holzes in sublimierter Form der Geige, der unbewusst vor sich geht, ist ohne Selbstbeteiligung fragwürdig. Der Stufenweg des Werdegangs zum Poeten, dessen, der sich zum Seher modelliert, gliedert sich in drei Etappen: Alles beginnt mit der Selbsterkenntnis, woraufhin die Formung der Seele nach deren Erkenntnis folgt, bis sich schließlich die Seele zum ›Ungeheuer‹ weitet. Die ›Schau‹ wird letztlich höher gewertet als die rationale, diskursive Durchdringung, doch bleibt diese Bedingung für eine Annäherung an die Schau. ›Entgrenzen der Sinne‹ meint nicht ein sinnloses Sich-Treibenlassen, sondern im eigentlichen Sinne eine Bildung der Seele – ein Prozess, für den es ›schreckliche Arbeiter‹ braucht. Vgl. Dahlmann, Vates. Rimbaud, Brief an Georges Izambard vom 13. Mai 1871, S. 394. Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, S. 396. Vgl. Rimbaud: »Zuerst trachte ein Mensch, der Poet sein will, nach völliger Selbsterkenntnis. Er suche seine Seele, durchforsche sie, versuche sie, begreife sie. Und wenn er sie kennt, dann soll er sie formen!« (Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, S. 396).

tät und Aktivität, in unterschiedlicher Akzentuierung, kennzeichnet den Schaffensprozeß moderner Lyrik.319

Rimbaud strebt eine »Synthese der Gegensätze von wachster rationaler Aktivität und unbewußtem Geschehen, hochentwickeltem Intellekt und atavistischen psychischen Impulsen […], die scharfe Trennung von empirischem und ›lyrischem Ich‹«320 an.321 Als ein Reflex auf das Hinabsteigen des sich weitenden Dichters in die eigenen Niederungen und als Vorbedingung zur Schau gibt auch Rimbauds Nacht der Hölle322 Aufschluss. Vom Hirn schrumpfenden Giftgenuss geleitet, erleidet das Ich in der Hölle grässliche Visionen, erliegt dort dem eigenen Taumel. Einem Zarathustra vergleichbar arbeitet sich der sich Entgrenzende einerseits an den alten Werten wie der Nächstenliebe ab,323 andererseits entwirft er sein eigenes ›Evangelium der Vernunft‹: Ich bin kein Gefangener meiner Vernunft. Ich habe gesagt: Gott. Ich will die Freiheit im Heil: wie aber sie erlangen? Lüsternheit hat mich verlassen. Ich brauche keine Hingabe mehr, keine himmlische Liebe. Dem Jahrhundert der empfindsamen Herzen weine ich keine Träne nach. Jeder hat seine Vernunft , seine Verachtung und seine Barmherzigkeit: ganz oben auf dieser Engelsleiter des gesunden Menschenverstands halte ich meinen Platz.324

Dieses ›Glaubensbekenntnis‹ der selbsttätigen Vernunft zeigt die rationale Komponente der sinnlichen Entgrenzung an. Im Bild der chain of being gefasst, rangiert die den Menschen adelnde Vernunft über der empfindsamen Tränenrührseligkeit, das ›Zeitalter der Vernunft‹ über der Herzens-Verwirrung. Das ist gut aufk lärerisch gedacht: »Was ich immer besaß, das ist wohl das: mehr Glaube an die Geschichte und das Vergessen der Dogmen. Doch davon werde ich schweigen. Poeten und Propheten könnten neidisch werden.«325 Es entspricht genau dem Signum der Moderne, dass der Seher mit Überbietungsgestus gegenüber seinen Vorgängern einerseits als heuristischer Zielpunkt eines subjektiven Entgrenzungsprozesses Medium der ihm zukommenden Worte sein soll, andererseits als kreativer und sich selbst modellierender Dichter eine solche ›objektive Dichtung‹ mithilfe einer subjektiven Fundierung des Entgrenzungsprozesses anvisiert und sich zudem nicht einem l’art pour l’art-Prinzip

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Hoffmann, Symbolismus, S. 142. Hoffmann, Symbolismus, S. 143. Auch Barmeyer betont eine doppelte Betrachtungsweise: »Die dichterische Existenz ist von zwei Seiten her zu betrachten. Einerseits beinhaltet sie die entschiedene Eigenreaktion, andererseits die Abhängigkeit von einem objektiven Anspruch. […] Intellektuelle Anschauung und visionäre Schau – beide streben aufeinander zu« (Barmeyer, Die Musen, S. 20). Rimbaud, Une saison en enfer. Ein Aufenthalt in der Hölle. In: Rimbaud, Sämtliche Werke. Französisch-Deutsch. Mit Erläuterungen zum Werk und einer Chronologie zum Leben Arthur Rimbauds, neu durchgesehen von Thomas Keck, Frankfurt am Main; Leipzig 1992, S. 303–356, S. 319f. Vgl. zu Zarathustras Kritik an der Nächstenliebe: Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 77f. Rimbaud, Ein Aufenthalt in der Hölle, S. 317. Rimbaud, Ein Aufenthalt in der Hölle, S. 321.

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verschreibt, da er einem sozialen Engagement verbunden bleibt. Preis für die Berufung des voyant ist zunächst zwar sein Außenseiterstatus, doch indem sein archetypisches Ich prometheischer Provenienz326 die ›Universalsprache‹327 kommunizieren muss, tritt seine soziale Komponente zum Vorschein, sein Status als homme social und als visionär-prophetischer Revolutionär:328 Also ist der Poet wahrhaft ein Dieb des Feuers. Er ist beladen mit der ganzen Menschheit, sogar mit den Tieren. Er muß, was er erdichtend entdeckt, fühlbar machen, tastbar, hörbar, und wenn das, was er von da unten heraufholt, Form besitzt, so gibt er es als Form; ist es formlos, dann gib er das Formlose. Eine Sprache fi nden – und wenn schließlich jedes Wort ein Gedanke ist, dann kommt auch die Zeit einer Universalsprache. […] Die ewige Kunst hätte ihre Funktionen, so, wie die Dichter Staatsbürger sind. Die Dichtung wird die Tat nicht mehr besingen, sie wird ihr vorauseilen.329

Dem ersten Teil der individuellen Selbstbildung schließt sich eine Darstellung der Aufgabenbereiche des ›Dichter-Sehers‹ an, der als »Dieb des Feuers«330 einen Dolmetscher-Auftrag für die ganze Welt (Menschen und Tiere) innehat. Angezeigt ist auch bei Rimbaud – wie bei Nietzsche – das typische Oszillieren des Sehers zwischen radikaler Abschottung und Sendungsbewusstsein.331 Demnach ist der Seher nicht nur Medium des ›Anderen‹, sondern selbst auch Aktivist, produktiver Mitgestalter seines Selbstentwurfs, Erfinder neuer Sprachformen und zuletzt – in der Sprache der Heiligung der Mittel zum Zweck gefasst – ›Täter‹.332 In der gedanklichen Zusammenschau einer Poetik des ›objektiven Sehens‹ im Verbund mit sozialistischen Ideen ist Rimbaud mit seiner voyant-Konzeption in eine Reihe mit den Saint-Simonisten und den Avantgardisten zu stellen.333 Im Saint-Simonismus verschränken sich

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Vgl. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 427f. Vgl. Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, S. 397. Vgl. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 430. Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, S. 397–398. Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, S. 397. Vgl. zu Nietzsche wieder: Venturelli, Nietzsches Auffassung des Übermenschen, S. 117f. Entsprechend seinem Wortverständnis als vorauseilende Tat rechnet Rimbaud in seinem Seher-Brief an Paul Demeny mit den Verse-Schmierern, v.a. seinen Vorgängern wie Racine, Vertreter der französischen Klassik, und Alfred de Musset (als Stellvertreter der Romantik) ab, und singt ein Loblied der antiken Dichtung: Entscheidend ist für diese der wirklichkeitsprägende Impetus des Worts, der sich durch eine Harmonie von Klang und Vers mit dem Rhythmus der Tat auszeichnet. Kunstproduktion soll nicht nur Spielerei sein, sondern muss ins Leben greifen und deswegen das Leben des Dichters affizieren. Solange die Arbeit am Dichter-Selbst noch aussteht – das entspräche gemäß dem triadischen Geschichtsmodell Rimbauds der zweiten Stufe, die der antiken Harmonie als erster Stufe folgt –, gibt es keinen echten Schöpfer, Autor, Poet. Zur neuen Richtungsweisung der literarischen Produktion gehört eine Reflexion auf die Funktion des Dichters, der gemessen am Ideal der Antike wieder Seher zu sein habe. Dieses Autorschaftsbild des antiken Sehers wird aber von Rimbaud nicht nur als Vorbild kopiert, sondern – wie oben gezeigt – den Bedingungen der Moderne angepasst und spezifisch variiert (vgl. Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, S. 369ff.). Vgl. Zum Einfluss des Saint-Simon auf Rimbaud: Bays, bes. S.  80–88 u. S.  202f. Vgl. bei-

prophetischer Status des Dichters und soziale Umwälzung mittels militaristischem Wort; daher die Verwendung des Begriffs apôtre im Sinne eines mächtigen Apostels, der sich auf Poesie als der »Gewalt zu bewegen«334 versteht: Die religiöse Dimension des Saint-Simonismus bringt in der Avantgarde-Metaphorik die biblische Figur des Propheten, des Wegbereiters und Vorläufers zum Vorschein. Und in die militärischen Aufgaben der Avantgarde fließt das biblische Gebot ein, auf der Hut, wachsam und bereit zu sein, wenn der Herr (wieder-)kommt.335

In der Führerposition des Propheten deutet sich die Gefahr an, wie schnell chiliastische Denkmuster und die Machtfigur des Propheten in Zonen der Gewalteskalation beheimatet sein können.336 Eine direkte Exemplifizierung der neuen Gedanken und Formen findet sich allerdings in Rimbauds Lettres nicht.337 Ihre visionäre Anmahnung wird unter Rekurs auf das traditionsreiche Autorschaftsbild des Sehers für die modernen, voraussehenden und weltbewegenden Seher-Künstler oftmals artikuliert. Doch scheint zunächst die Konzentration auf das ›aufzulösende Ich‹ des Künstlers und die Festschreibung seines auserwählten Status sein sozialreformatorisches Anliegen zu verdrängen. Der Weg ist offenbar das Ziel, die Beschwörung und Zelebration prophetischer Künstlerschaft – der ›culte du moi‹ – nimmt allen Raum ein.338 Als Prototyp des Sehers wird

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spielsweise Yvan Golls sozialen Impetus: »Kunst erheischt Publikum, ist eine öffentliche Angelegenheit. Kunst wird heute zur sozialen Liebestätigkeit. Darum Künstler tritt ins Volk und zeige ihm dein großes Herz. Deine Rufe an den Menschen, deine Volksreden werden Gedichte sein. / Du hast das äußerste Mittel der Liebe zur Verfügung: du hast Gott« (Y. Goll, Appell an die Kunst. In: Die Aktion, 7, 1917, Sp. 599f.). Vgl. zu den Futuristen und ihrer prophetischen Anlage ferner: Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 431f. Auch die expressionistische und dadaistische Literatur hat den prophetischen Gestus gerne beerbt (vgl. van Hoddis Weltende, Heyms Umbra vitae, Lichtensteins Prophezeiung, Momberts Die Schöpfung u.a. Vgl. dazu Albert Kreuels, Prophetie und Vision in der Lyrik des deutschen Expressionismus, Freiburg 1955; vgl. zur Stellung der Inspiration bei den Dadaisten: Barmeyer, Die Musen, S. 21f.). Böhringer, Avantgarde, S. 100. Böhringer, Avantgarde, S. 103. Mit Blick auf die Futuristen und Marinettis Credo ›Fiat ars – pereat mundus‹ mahnt Walter Benjamin dementsprechend: »Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in dem einem Punkt. Dieser Punkt ist der Krieg« (W. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 2006 [zuerst 1936], S. 75.). Über diese Kritik am gewaltfreisetzenden Ästhetizismus hinausgehend, ist – nebenbei bemerkt – das durch avangardistische Künstler zugespitzte prophetische Erbe zudem explosiv. Malinowski schlägt vor, die in den Seherbriefen eingefügten Gedichte als »poetisches Nichtverfahren, welches ein Vorhandensein eines Textes nurmehr fingiert« (vgl. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 429) zu lesen. Solche ›Leerstellen‹ entsprechen indes nicht den Merkmalen der Dichtersprache wie Rhythmik, Harmonie und Bewegungsdynamik oder einer prophetischen Körperpoetik. Diesen hier angedeuteten ›Leerlauf‹ der prophetischen Neusituierung des Dichters findet man als Ausgangspunkt vieler parodistischer Propheten-Porträts in Kollegenschelten, die das

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schließlich – gemäß Rimbauds vierstufigem Geschichtsmodell (Antike, römische Literatur bis zum 18. Jahrhundert, Romantik, Zeit der neuen Seher) – Charles Baudelaire als Leitfigur gekürt, da er fähig sei, einem Magier gleich »den Geist toter Dinge wiederzuerwecken«339. Inspiration und Arbeit des Intellekts schließen sich auch bei Baudelaire nicht aus.340 Einziges Manko stelle dessen obsolete Form dar, denn die Entdeckung des Unbekannten fordere ›neue Formen‹341: Wahrer Poet, echter Seher sei demzufolge schlussendlich Paul Verlaine, Rimbauds langjähriger Freund. Nicht das ›Was-Sagen‹, sondern das ›Wie-Sagen‹ ist also entscheidend. Der als ›Mystiker im Zustand eines Wilden‹ (Paul Claudel), als ›brennender Dornbusch‹ (André Gide) apostrophierte Rimbaud schafft indes in seinen Illuminations atemberaubende, halluzinatorisch assoziativ verknüpfte Traumwelten, kühne Visionen in Form von turbulent gesteigerten Bildern in immer neuen Variationen und Steigerungen, die seiner Seher-Poetik entsprechen und dank derer er zu den Vorreitern der surrealistischen Lyrik zählt.342 Doch ist auch in seiner Lyrik ein ordnendes Gegengewicht zu verzeichnen: »Bögen von rhythmischen und klanglichen Bezügen verbinden die auseinanderklaffenden Sätze.«343 Rimbauds Ansätze zur Körperpoetik und zum Fundament einer Poetik des ›Unrein-Reinen‹ sind im Vergleich zu Trakl im VI. Kapitel dieser Studie ausgeführt.344 Rimbauds Ausführungen verweisen insbesondere auf die Wechselwirkung zwischen Aktivität und Passivität des Ich, wonach sich das prädestinierte Künstler-Ich aktiv einen passiven Status erarbeiten soll. Der als blasphemischer Künstler (Merde à Dieu) berüchtigte,345 für Okkultismus begeisterungsfähige (Alchemie du verbe) Rimbaud entwickelt wie Nietzsche eine voyant-Ikone für die sich als revolutionär verstehenden Dichter-Propheten. Der modernisierte poeta vates beansprucht – abgesehen von seiner Funktion als Sprachinnovateur – einen hohen Geltungsanspruch. Die Verknüpfung von radikalem Selbstentwurf als Seher, der Aktivist/Täter und Medium zugleich ist und dem die Paradoxie einer geistreich-planvollen Verwirrung der Sinne zugrunde liegt, und der Vorstellung vom voyant als Sprachexperimentator schreiben die modernen Dichter-Seher teilweise – unter direktem Bezug auf Rimbauds voyant oder ideengeschichtlich an ihn anknüpfend – ungeniert fort. Die ›Ursprache‹ moderner Lyrik entspringt auch bei Rimbaud einer Seher-Figuration. Eine Tendenz zur

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Prinzip ›Viel Lärm um nichts‹ propagieren, wie bei Thomas Mann einsehbar. Vgl. dazu das Kapitel IV.1.1. Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, S.  399. Vgl. zu Baudelaires visionärer Dichtung: Barmeyer, Die Musen, S. 17f. Vgl. Moog-Grünewald, EIDOS/IDEA/ENTHOUSIASMOS, S. 94. Vgl. Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, S. 399. Vgl. Michael Braun, Rimbaud II. Ein schriller Psalm der Aktualität. Zum 150. Geburtstag eines rätselhaften Dichters. In: Der Freitag, 22.10.2004. [Online-Publikation: http://www. freitag.de/2004/44/04440302.php]. Hoffmann, Symbolismus, S. 145. Vgl. das Kapitel VI.8.2.1. Vgl. Braun, Rimbaud II.

›Ent-Ichung‹, die Befreiung des Gedichts von subjektiven Begebenheiten und Intentionen, ist zwar zu verzeichnen, wird allerdings aufgrund der deutlich subjektiven Färbung der Dichter-Seher-Produktion nicht an erste Stelle gestellt. Das »Ich ist ein anderer« weist zudem schon auf Georges Verse von der radikalen Abhängigkeit des Sehers von einer höheren Instanz voraus, auch wenn dieser stets mit »Ich bin« beginnt und Rimbaud lieber sagt »Es denkt mich«: »Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer / Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme.«346

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Stefan George, Entrückung. In: George, Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 6/7: Der Siebente Ring, Stuttgart 1986, S. 111.

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III. Theoretisch-methodische Wegweiser: Der Dichter-Prophet als Grenzgänger

Das Chamäleon Dichter-Prophet und die je eigenen Anverwandlungen und Fortschreibungen des prophetischen Erbes und Codes durch die modernen Dichter-Seher George, Rilke, Trakl und Werfel sind nicht mit dem Anspruch zu vereinbaren, diese facettenreichen prophetischen Selbstentwürfe, Rollenspiele und daraus resultierenden Prophetie-Poetiken in ein gemeinsames, theoriedominiertes Korsett zu zwängen. Da die Propheten-Dichter selbst schon Figuren der Mitte und der Vermittlung, mithin Grenzgänger, und ihre Propheten-Figurationen oftmals als Schwellenfiguren zu charakterisieren sind, stößt man mit einzelnen Theorieansätzen im Rahmen unserer Fragestellung nach den spezifischen Paradigmata einer Poetik des Prophetischen schnell an Grenzen, so sehr sie auch für einzelne Beobachtungen hilfreiche Kategorisierungen bereitstellen oder helfen können, die Eigenart des Inspurengehens der prophetisch inspirierten Dichter, ihre Weisen der Vorbildverehrung und -vernichtung und die teilweise damit korrespondierenden prophetischen Sprachfiguren zu klassifizieren. Von der Annahme geleitet, dass es nicht den einen passenden theoretischen Zugriff gibt, mit welchem man das Dichter-Propheten-›Phänomen‹ handhaben könnte, und auch aufgrund der teilweise sich ähnelnden, teilweise stark divergierenden Naturelle der vier ausgewählten Dichter-Propheten und ihrer Poetiken sollen nur einige wenige theoretischen Zugänge vorab benannt und hinsichtlich ihrer Passung in aller Kürze diskutiert werden, um sie an geeigneten Stellen innerhalb der Binnenkapitel ohne großen Vorlauf beiziehen zu können. Es gibt immerhin einige theoretische Fluchtpunkte, auf die sich die Techniken von Dichter-Propheten-Inszenierungen und die Grundparameter einer Poetik des Prophetischen alle mehr oder weniger ausrichten lassen. An erster Stelle steht dabei die Idee vom ›Gesamtkunstwerk‹ Dichter-Prophet oder von einer transgressiven Autorschaftspoetik des Prophetischen. Des Weiteren ist die Janusköpfigkeit des stigmatisierten und charismatischen Propheten aufschlussreich, wie er im Anschluss an Lipps Überlegungen zum Verhältnis von Stigma und Charisma erkennbar wird. Dichter-Propheten beanspruchen für sich eine besondere prophetische Aura, nämlich die Auszeichnung, begnadet zu sein, oder sie bekommen dieses Prädikat von Außenstehenden zugeschrieben. Ihr Charisma ist dabei oftmals an Stigmata rückgebunden, die ihre charismatische Ausrichtung steigern (gemäß Lipp) oder demontieren können. Versteht man unter Stigmatisierung im Wesentlichen einen besonderen Ausdruck der (Selbst-)Erniedrigung, ist das Charisma eine typische, gegenläufige Figur der (Selbst-)Erhöhung. Das Wechselspiel von Stigma und Charisma ist der Propheten-Figur auf besondere Weise eingeschrieben: Der reizvolle Positionswechsel zwischen Meisterschaft und Knabenschaft, Herrschaft und 76

Dienerschaft steht in der Inszenierung des Dichters zum Propheten oder bei der Ausgestaltung prophetischer Reflexionsfiguren ebenfalls auf der Tagesordnung. Beihilfe zur Charismatisierung oder zur Herausstreichung der Exzeptionalität und Exklusivität des Dichter-Propheten leisten mitunter Vorbilder-Galerien, als deren Mitglied oder Überwinder oder typologischer Vollender sich der Dichter-Prophet begreift .

III.1. Prophetische Autorschaft: ›Gesamtkunstwerk‹ – transgressive Autorpoetik Auf den Zusammenhang zwischen der Selbstinszenierung des Künstlers zum Propheten als »Signatur« der Moderne und einer »fundamentale[n] Krise exzeptioneller Autorschaft um 1900«1 weist Marx eindrücklich hin. Die vielbeschworene und mittlerweile wieder kritisch relativierte ›Sprachkrise‹ um die Jahrhundertwende scheint mit einer Art (inszenierter) ›Krise von Autorschaft‹ einherzugehen, die mittels Sakralisierung des Autorschaftsbildes kompensatorische Züge entwickelt.2 Eine spezifische Form der Nobilitierung von Autorschaft stellt die Verbindung von Dichter und Prophet dar.3 Dahinter verbirgt sich ein ›starkes‹ Autorschaftsmodell, das die Deutungshoheit,4 Exklusivität und Unhintergehbarkeit des Autors suggeriert.5 Grundlegend für eine Propheten-Autorpoetik ist insbesondere ihre Eigenart, dass sie gemäß dem Postulat des prophetischen ›Gesamtkunstwerks‹ die Grenzen zwischen empirischem Autor, implizitem Autor und seinen prophetischen Figuren (teilweise) spielerisch verwischt. Gerade ein »neureligiöse[s] Modell, das die Grenzen von Textualität und Fiktionalität überschreitet und sich in den lebensweltlichen Raum

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Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 107. Vgl. ähnlich King, Heilige Autorschaft in der Moderne. [Online-Publikation]. Als Ausdruck der »Paradoxien künstlerischer Identitätsvergewisserung in Zeiten elementarer Verunsicherung« (Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 107) profiliert Marx das Greenblatt’sche, religiös konnotierte Self-Fashioning. Vgl. Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 111. Der von poststrukturalistischer Warte aus totgesagte Autor (vgl. Roland Barthes, Der Tod des Autors. In: Zur Theorie des Autors, hg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez u. Simone Winko, Stuttgart 2000, S. 185–197; vgl. Michel Foucault, Was ist ein Autor? In: Foucault, Schriften zur Literatur, München 1974, S.  7–31) ist längst wieder auferstanden, blickt man auf das neu erwachte Interesse am Autor und auf die aktuelle Forschungslandschaft zum Thema Autorschaft, insbesondere auf das beliebte Feld ›Inszenierung von Autorschaft‹: Selbstbilder, Rollenmodelle und Karrierestrategien von Textproduzenten geraten systematisch, besonders unter soziologischer Perspektive betrachtet, in den Blick (vgl. Detering [Hg.], Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001, Stuttgart; Weimar 2002; Wolf, Wie viele Leben hat ein Autor? Zur Wiederkehr des empirischen Autor- und Werkbegriffs in der neueren Literaturtheorie. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen, hg. von Detering, S. 376–390; Jannidis, Lauer, Martínez u. Winko [Hg.], Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999).

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ausdehnt, ist spezifisch modern«6. Mit dem Begriff ›Gesamtkunstwerk‹ lässt sich diese »suggerierte Einheit von Autor und Werk, die über [eine] prononcierte Ästhetisierung des eigenen Lebensentwurfes zustande kommt«7, beschreiben. Da der Begriff ›Gesamtkunstwerk‹ bereits eingebürgert ist, soll er im Weiteren verwendet werden, obwohl der v.a. Wagner entlehnte Begriff primär etwas ganz anderes meint, nämlich die Synthese verschiedener Kunstdisziplinen.8 Wenn man die angestrebte Synthese zwischen Leben und Werk, die zuletzt das »Leben als Kunstwerk«9 darstellt, mit Blick auf das Autorschaftsmodell des Dichter-Propheten hervorhebt, ist die Bezeichnung ›transgressive Autorschaftspoetik‹ oder ›transgressiver Autor‹ indes noch präziser: Beide zielen auf die fließenden Übergänge zwischen textimmanent und textextern entfalteten Autorschaftspoetiken und deren Semantiken, die mit einer spielerischen Überschreitung der Grenze von Ästhetischem und Sozialem einhergehen, ab und streichen das transgressive Spiel zwischen empirischem Autor, fi ktiven Autorschaftspoetiken und fi ktiven Figuren heraus.10 Diese Begrifflichkeit ist dem Begriff ›Gesamtkunstwerk‹ deswegen hinzuzufügen, weil sie weniger das anvisierte Resultat, die organische Einheit von Autor und Werk, sondern zunächst das Spiel auf der Grenze in den Mittelpunkt rückt. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass die 6 7 8

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King, Pilger und Prophet, S. 68. King, Pilger und Prophet, S. 67. Ursprünglich verwendet man den Begriff ›Gesamtkunstwerk‹, um die Kompilation zweier künstlerischer Disziplinen zum Ausdruck zu bringen. V.a. mit Blick auf Richard Wagners in Das Kunstwerk der Zukunft entfaltetes Konzept der Zusammenführung von Oper und Drama, also Ton- und Wortkunst, eignet sich dieser Begriff (vgl. Borchmeyer, Gesamtkunstwerk. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen, hg. von Borchmeyer u. Viktor Zmegac. 2., neu bearbeitete Auflage, Tübingen 1994, S. 181–184). Die bei George ablesbare »Einheit von Ästhetischem und Sozialem« (W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus, S. 114) betont W. Braungart. Rilkes »epistolare Selbstsakraliserung« und seine Parallelen zu prophetischen Semantiken als ›Gesamtkunstwerk‹-Konzept fokussiert King (King, Pilger und Prophet, bes. S. 67–77). King, Pilger und Prophet, S. 67. In ihrer Theorie des transgressiven Autors und seines transgressiven Spiels beschreibt Reka Kiss den Autor – in ihrer Studie v.a. Else Lasker-Schüler – als Grenzgänger zwischen realer und fiktiver Existenz: Die »Übertretung« manifestiert sich erstens in der »enge[n] Verzahnung zwischen den narrativen Figuren des Textes (oder den fiktiven Autoren des Textes) und dem empirischen Autor« und zweitens im »Wechselverhältnis zwischen den kreierten Figuren des Textes und dem empirischen Autor. Das geht soweit, dass die Figurationen (und fiktive Autoren) das Werk des Autors bereichern und in sein Privatleben eingreifen. […] Das Ganze mündet in eine organische Einheit von Autor und Text« (R. Kiss, Das transgressive Spiel zwischen Autor und Text. Eine Untersuchung der Texte von Else Lasker-Schüler mit einem Ausblick auf Fernando Pessoa, Tübingen 2007, S. 10). Unter Transgressionspoetik versteht sie »den Übergang zwischen Text und Autor, zwischen Schrift und Körper« (Kiss, Das transgressive Spiel zwischen Autor und Text, S. 11): »Die Transgressionsbewegung wird dabei zum dynamischen Oszillieren auf der Grenze, zur Infragestellung und Bestätigung derselben, doch vor allem zur Verweigerung des eindeutigen Überschreitungsakts. Beim transgressiven Changieren auf der Grenze handelt es sich um die Strategie eines schwerelosen Balanceaktes« (Kiss, Das transgressive Spiel zwischen Autor und Text, S. 12).

Interaktion zwischen Dichter-Prophet und prophetischen Reflexionsfiguren in vielen Fällen auch von produktiven Brüchen und Distanzierungen geprägt ist. Bei der transgressiven Autorpoetik des Propheten sind grundsätzlich verschiedene Ebenen differenzierbar: Die Autorpoetik des Propheten kann erstens im Artefakt der poetischen Textwelt, also intern und fi ktional erschrieben sein (wie bei einer immanenten Autorschaftspoetik oder bei autopoetischen Programmtexten u.a.). Zweitens lassen sich ihre Spuren in externen Medien der Lebenswelt des empirischen Autors verfolgen (anhand von Briefen, Photos u.a.). Ausdrückliche Parallelen, aber auch provokative Divergenzen zwischen der Sprachwelt fi ktionaler Texte und den Ausdrucksformen faktualer Selbstdarstellungen prägen die Konstruktion und Festschreibung einer heiligen Autorschaft gleichermaßen. Die Frage nach der »Selbstpräsentation der Schriftsteller« hat Grimm in seinem Beitrag Dichterbilder. Strategien literarischer Selbstinszenierung11 als Forschungsdesiderat bezeichnet, denn es gelte die Innen- und Außenperspektive, die Rezeptionsforschung mit der Imagologie zu verzahnen:12 Er fragt dementsprechend unter dem Terminus »literarische Imagologie« nach dem Verhältnis von Fremdbildern (heteroimagines) und Selbstbildern (auto-imagines).13 Eine historisch-philologische Perspektive lässt nach dem Urbild (imago) und dessen Transformation oder Modifi kation fragen, auch nach der Bezugnahme auf vorbildhafte Dichter-Seher. Beide Zugänge sind mit Blick auf eine prophetische Autorpoetik ergiebig. Aus soziologischer Perspektive kann man ferner die Funktion, die ›feldspezifische Laufbahn‹ (nach Pierre Bourdieu) eines Autors in den Vordergrund rücken: Mit Distinktions- und Positionierungsfragen im Blick auf den relationalen Autor ist die sozialpraktische Dimension, d.h. die Etablierung und Konsolidierung von kulturellem, symbolischem und sozialem Kapital nachzuzeichnen.14 Denn das mit »seinen

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Grimm, Dichterbilder. Strategien literarischer Selbstinszenierung. Mit 60 Bildern, 2003. In: Goethezeitportal, Autorenbilder. Funktionen – Ikonographie – Dichterlesung. [OnlinePublikation im Goethezeitportal, eingestellt am 10.11.2007. http://www.goethezeitportal. de/fileadmin/PDF/db/wiss/epoche/grimm_autorenbilder.pdf ]. Grimm, Dichterbilder: »Die Verbindung von Rezeptionsforschung und Imagologie kann Ergebnisse über Entstehung, Konstituierung und Entwicklung von SelbstinszenierungsStrategien erbringen, die über bisher angestellte Untersuchungen hinausgehen. Dabei gehören Fragen nach dem Selbstverständnis des Dichters und nach der Übereinstimmung zwischen Selbstbild und Erscheinungsbild ebenso dazu, wie Fragen nach der Historizität dieser imagotypen Strukturen.« Vgl. Grimm, Dichterbilder. Indem der französische Kultursoziologe Pierre Bourdieu (1931–2002) die Autor-Funktion als »relationale, historisch variable und stets umkämpfte Größe« (Markus Joch, Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, hg. von Norbert Christian Wolf u. Markus Joch, Tübingen 2005, S. 1–25, S. 14) begreift, verabschiedet er sich bekanntlich sowohl von der Annahme einer rein subjektzentrierten Autorgröße als auch von der Vorstellung einer rein diskursorientierten Substitution des Autors. In dem für die Literaturwissenschaft relevanten literarischen Feld interessiert insbesondere die von Seiten des Autors gewählte Ausrichtung seiner literarischen

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Produkten harmonisch verwobene Individuum« bietet insbesondere für eine »atomisierte Gesellschaft« ein »überzeugendes Totalitätsangebot«.15 Da in Bourdieus Theorie des literarischen Feldes die Historizität von Autorpoetiken nicht berücksichtigt ist, muss man diesen Mangel mit einer Einbeziehung von Traditionen, Intertexten, literarischen Rollenpräferenzen, Autordiskursen über die sozialen Aspekte hinweg aufstocken.16 Zur Durchdringung des sich in der Moderne entwickelnden prophetischen Diskurses müssen also zum einen die Inszenierungstechniken zum Künstler-Propheten in den Blick genommen, das Verhältnis von auto-imagines und hetero-imagines hinsichtlich der zugrunde liegenden antiken imagines ausgelotet und die damit verbundenen poetologischen Implikationen und Energien ›prophetischer Rede‹ ausbuchstabiert werden. Als literarisches Sujet bietet die Propheten-Figur – wie gesagt – immer wieder eine Basis für poetologische Reflexionen und Neu-Situierungen, die teilweise mit Self-Fashioning-Strategien (mittels Einverleibung von prophetischer Aura und Charisma) des Autor-Subjekts zum unzeitgemäßen Propheten in eins gehen oder diese konterkarieren.

III.2. Stigma und Charisma Erneut ist zu erinnern, dass dem Dichter-Propheten oftmals transitorische Züge eignen, er in vielfacher Hinsicht als ein ›Grenzgänger‹ zu beschreiben ist. Als eine besondere Art der Grenzüberschreitung können sein Charisma und seine Stigmatisie-

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Werke in stilistischer wie stofflicher Hinsicht. Bourdieu geht nämlich davon aus, dass distinktive Strategien der Akteure maßgeblich von deren Verfügung über die vier verschiedenen Kapitalsorten – ökonomisches (Finanzkapital), kulturelles (gesellschaftlicher Bildungsstandard), soziales (Beziehungen) und symbolisches Kapital (Reputation) – beeinflusst sind. Mit dem neutral verwendeten Begriff »Häresie« beschreibt er die Tendenz, zum Ausgleich eines geringen sozioökonomischen Kapitals eine gegen die herrschende Orthodoxie gerichtete Position zu vertreten. Wenn Grimm zudem zu Recht festhält, dass eigentlich jeder moderne Autor sentimentalisch im Schiller’schen Sinne ist und seinen »Standort im Interessenskonflikt von Privatheit und Öffentlichkeit, von Ästhetik und Literaturpolitik, von moralischer Sendung und ökonomischen Bedürfnis« zu definieren hat, dann muss der moderne Autor auch den »Konflikt zwischen Wahrheitsanspruch und Warenangebot, zwischen Musenbotschaft und Markterfordernis« (Grimm, Zwischen Beruf und Berufung, S.  15) austarieren, wenn er versucht, seine eigene Rezeptionsgeschichte prophetisch-kalkulierend anzulegen. King, Pilger und Prophet, S. 68. Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 12 u. S. 16. Der Verknüpfung von traditionellen Autorsemantiken, Selbststilisierung und Feldposition ist auch ein Tagungsband zu Thomas Mann gewidmet: Michael Ansel, Hans-Edwin Friedrich u. Gerhard Lauer (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, Berlin 2009. Vgl. zur Theorie des Habitus stellvertretend: Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Übersetzt von Günter Seib, Frankfurt am Main 1993, S. 104f.

rung in den Blick genommen werden, da diese ihn insofern entgrenzen, als sie ihn von den ›Gewöhnlichen‹ absetzen. Ein herausragendes Merkmal des Propheten ist sein Charisma, welches ursprünglich seine Begnadung zum auserwählten Sprecher Gottes bezeugt,17 denn der Prophet ist ein zum ›Mund‹ Gottes berufener Verkünder des (Un-)Heils (vgl. etwa Jer 1, 9; Jer 15, 19 u.a.). Der aus dem Neuen Testament stammende Terminus »Charisma« (Gnadengabe) (vgl. Mk 16, 17–18; vgl. 1. Kor 12, 10) hat insbesondere durch die Charisma-Studien des Soziologen Max Weber eine große Aufmerksamkeit erfahren: Weber bezeichnet mit dem Begriff »Charisma« in Wirtschaft und Gesellschaft erhebende und außergewöhnliche Fähigkeiten herausragender Personen, deren charismatische Anlage von ihrer Umgebung attestiert wird: § 10. ›Charisma‹ soll eine als außeralltäglich (ursprünglich, sowohl bei Propheten wie bei therapeutischen wie bei Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie bei Kriegshelden: als magisch bedingt) geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften  oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ›Führer‹ gewertet wird. Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus ›objektiv‹ richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begriffl ich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den ›Anhängern‹, bewertet wird, kommt es an.18

Indem der Fokus auf die positive oder negative Evaluation des »charismatischen Herrschers« durch seine Anhänger gerichtet wird, treten insbesondere objektiv-ethische Beurteilungsmaßstäbe im Rahmen einer soziologischen Klärung des Phänomens Charisma in den Hintergrund. Wichtig ist, dass der Charisma-Träger überzeugend Vertrauen einzuflößen vermag und dadurch Anerkennung zugesprochen bekommt: 1. Ueber die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung – ursprünglich stets: durch Wunder – gesicherte freie, aus Hingabe an Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen zum Führer geborene, Anerkennung durch die Beherrschten. Aber diese ist (bei genuinem Charisma) nicht der Legitimitätsgrund, sondern sie ist Pflicht der kraft Berufung und Bewährung zur Anerkennung dieser Qualität Aufgerufenen. Diese ›Anerkennung‹ ist psychologisch eine aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene gläubige, ganz persönliche Hingabe.19

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Vgl. Ingo Baldermann, Ernst Dassmann u.a. (Hg.), Prophetie und Charisma, NeukirchenVluyn 1999 ( JBTh 14). Vgl. einleitend zur Bandbreite des theologischen ›Charisma‹-Begriffs als Gnadengabe: »Charisma als Gnadengabe ist keine Fähigkeit, die eine Person von Natur aus mitbringt, sondern die sie erst verliehen bekommt« ( Jürg Häusermann, Einleitung. Charisma und Kommunikation. In: Inszeniertes Charisma. Medien und Persönlichkeit, hg. von Häusermann, Tübingen 2001, S. 1–9, S. 5). Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Fünfte, revidierte Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 1976, S. 140. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 140.

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Zwar steht den Herrschaftsträgern an sich Anerkennung zu, doch ist diese zu bewähren, sonst schwindet das Charisma: Denn »legitim ist es nur soweit und solange, als das persönliche Charisma kraft Bewährung ›gilt‹«20.21 Aus soziologischer Sicht ist der Charismatiker also immer auf eine Wechselwirkung mit seinem Rezipientenkreis ausgerichtet, da dieser zur Charismatisierung notwendig ist. Charisma ist geradezu eine Interaktion. Insofern ist für den Wissenschaftler auch nur die ›Geltung‹ des Charismas erforschbar.22 Besonders ein ausgeprägtes Krisenempfinden nährt den Boden für ein soziokulturelles Klima, das Charismatiker befördert. Denn die emotionale Bindung an den Charismatiker, die starre Reglements nicht kennt, verspricht eine Sinnorientierung. Die Wirksamkeit des Charismas wird ferner als »revolutionäre Macht«23 beschrieben: 5. Das Charisma ist die große revolutionäre Macht in traditional gebundenen Epochen. Zum Unterschied von der ebenfalls revolutionierenden Macht der ›ratio‹, die entweder geradezu von außen her wirkt: durch Veränderung der Lebensumstände und Lebensprobleme und dadurch mittelbar der Einstellungen zu diesen, oder aber: durch Intellektualisierung, kann Charisma eine Umformung von innen her sein, die, aus Not oder Begeisterung geboren, eine Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtung unter völliger Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen Lebensformen und zur ›Welt‹ überhaupt bedeutet.24

Die besondere ›Gabe‹ der übernatürlichen Herkunft von Führungspersonen wird aufgrund ihrer sozialen Ausstrahlung zum Teil auch als heilsbringend interpretiert. Ein Prophet ist ein solcher herausragender Heilsbringer, ein »rein charismatische[r] Charismaträger, der kraft seiner Mission eine religiöse Lehre oder einen göttlichen Befehl verkündet«25, und dies unentgeltlich.26 Dass das reine Charisma »wirtschaftfremd«27, jenseits von rechtlichen und institutionellen Verhältnissen anzusiedeln ist

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Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 141. Vgl. zur Instabilität von charismatischen Regimen: »Statt aufgrund festverankerter Eigenschaften hält ein charismatisches Regime allein durch die (letztlich unkalkulierbare) Akklamation seiner Untertanen zusammen, es ist hochgradig instabil« (Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 120). Vgl. Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 120. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 142. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 142. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 268. Weber unterscheidet ferner zwischen »ethischer« und »exemplarischer« Prophetie (vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 273). Martin Riesebrodt differenziert die CharismaMethoden der beiden Propheten-Typologien: Der ethische Sendungsprophet erhält sein Charisma als Gabe durch seine Berufung, der exemplarische Prophet bedient sich Techniken wie der Askese und Kontemplation, um eine religiöse Erleuchtung zu erlangen (vgl. Martin Riesebrodt, Ethische und exemplarische Prophetie. In: Max Webers »Religionssystematik«, hg. von Hans G. Kippenberg u. Martin Riesebrodt, Tübingen 2001, S. 193–208, S. 201). Vgl. zu Max Webers Interpretation der hebräischen Prophetie ausführlich: Otto, Die hebräische Prophetie bei Max Weber, Ernst Troeltsch und Hermann Cohen, S. 202ff. und Lang, S. 172ff. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 142.

und deswegen auf wirtschaftlich Unabhängige begrenzt ist, also auf »Rentner«28 wie Stefan George, hat beim George-Kreis natürlich einen Empörungsschrei ausgelöst. Die profane Bezeichnung ›Rentner‹ droht schließlich die Aura des heiligen Dichters zu zerstören. Aber die Strukturen der Gesellschaft um George lassen sich nach Karlauf tatsächlich »mit Hilfe des Weberschen Charisma-Konzepts ziemlich vollständig beschreiben«29, zumindest dann, wenn der »eigentliche Zweck der charismatischen Erziehung« darin besteht, »den Auserwählten selbst wiederum charismatisch zu befähigen«30. Propheten sind – wie gesagt – nicht nur Charisma-Träger, sondern auch mitunter Stigmatisierte. Unter einem typischen Stigma versteht man ursprünglich ein dem Körper eingebranntes Malzeichen.31 Dieses körperliche Zeichen verweist auf die Exklusivität des Stigmatisierten, denn ein Stigma ist ein besonderes Zeichen, das nur wenige Ausgezeichnete tragen. Die Herkunft des Wortes Stigma ist im religiösen Bereich anzusiedeln und meint dort zunächst eine von Gott gegebene Signatur.32 Unter einer charismatischen Stigmatisation versteht man genauer eine »sinnenhafte Ausstrahlung eines ekstatischen Passionserlebnisses im Gnadengrund des Mystikers, wobei Gott sich der ideoplastischen Fähigkeit als Instrument bedient«33. Und »ihre Echtheit ist in med.-theol. Zusammenarbeit nach den Regeln der Unterscheidung der Geister zu ermitteln«34. Dieses Prinzip der »Unterscheidung der Geister« als Qualitätsprüfung auserwählter Sprecher Gottes ist auch für die Frage nach der Authentizität von Propheten anzuwenden.35 Neben den häufig stigmatisierten Märtyrern als Zeugen des Christentums sind auch Propheten Stigmata tragende Figuren, die üblicherweise nicht nur übernatürliche göttliche Zeichen schauen, deuten und zu vermitteln suchen, sondern diese auch mit ihrem leidenden, stigmatisierten Leib sinnlich-anschaulich vorstellen: Das Stigma des Propheten kann dementsprechend auch auf weitere (übergeordnete) göttliche oder geistige Zeichen verweisen, da es deren unmittelbarer Ausdruck ist. Propheten verkörpern oder inkarnieren mit einem Stigma oftmals die um sie herum begangenen Sünden.36 In dieser Konstruktion hat der Stigmatisierte eine Stellvertreter-Funktion inne: Der Träger ist ein Medium, das etwas

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Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Biographie, München 2007, S. 417. Karlauf, Stefan George, S. 417. Karlauf, Stefan George, S. 417. Vgl. Josef Schmid, Art. Stigma. In: Lexikon für Theologie und Kirche, 2., völlig neu bearbeitete Auflage, hg. von Joseph Höfer, Bd. 9, Freiburg im Breisgau 1964, Sp. 1080. Vgl. Oktavian Schmucki, Art. Stigmatisation. In: Lexikon für Theologie und Kirche, 2., völlig neu bearbeitete Auflage, hg. von Joseph Höfer, Bd. 9, Freiburg im Breisgau 1964, Sp. 1081– 1082. Schmucki, Art. Stigmatisation, Sp. 1082. Schmucki, Art. Stigmatisation, Sp. 1082. Vgl. die biblischen Warnungen vor den falschen Propheten: Mt 7, 15; Mt 22, 14; Mt 24, 24; Mk 13, 22; Jer 14, 15; Jer 23, 9–32; Hes 13, 1–23 u.a. Man denke etwa an Hesekiels versteinerte Stirn, die die versteinerten Herzen der Sündigen

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anderes, mithin Geistiges anzeigt. Dadurch erklärt sich die häufig zu beobachtende Betonung des (blutenden oder klagenden) Körpers des Propheten, seiner Leiblichkeit und materiellen Konstitution, gezeichnet von Defizienz oder Deformation, die auch viele literarische Propheten-Darstellungen prägen. Hinter der biblisch fundierten Verbindung von Stigma und Charisma deutet sich schon eine Umschlagsfigur an, die anzeigt, dass das, was auf den ersten Blick als ›Mangel‹ erscheinen mag (aus der Außenperspektive betrachtet, meistens mit Blick auf den ausgezeichneten Körper), zugleich eine besondere ›Fülle‹ ausdrückt (aus der Innenperspektive betrachtet, meistens mit Blick auf die innere Verfassung des Charismatisierten).37 Ein Beispiel dafür sind natürlich die Wundmale Jesu an Haupt und Gliedern, die ihn als Heilsgestalt auszeichnen:38 »JESUS der Geschundene, ist auch CHRISTUS, der Verklärte, ist der Heiland.«39 Dieser »Dialektik«40 von Stigma und Charisma widmen sich auch kultursoziologische Studien, etwa diejenige Wolfgang Lipps.41 Im Gegensatz zu Webers Fokussierung der »Geltung« des Charismas interessiert sich Lipp dafür, wie Charisma überhaupt erst entsteht, welche Strategien ein Charisma freisetzen. Gerade der negativ besetzte Begriff Stigma, verstanden als Abweichung von den zu bestimmten Zeiten geltenden Vorstellungen dessen, was normal sei, könne nämlich in den Gegenpol Charisma umschlagen, und zwar eingebunden in eine aktive »Handlungsdynamik von Subjekten«42: Charisma setzt dann eine Stigmatisierung geradezu voraus.43 Insbesondere moralische Verfehlungen werden von der Gesellschaft zunächst als Normabweichungen, als Stigmata im Sinne von »Schuldsignaturen«44 wahrgenommen und verurteilt, was Aggressionen und Ausgrenzungssignale von Seiten der Normkonformen auszulösen vermag. Eine Stigmatisierung prägt also auch die eigene soziale Stellung; sie kann eine Diskriminierung zur Folge haben. Der Stigmatisierte sieht sich

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spiegelt (vgl. Hes 3, 7–9), oder an Jeremias bösartige Wunde (vgl. Jer 15, 18) oder an den entstellten Gottesknecht (vgl. Jes 52, 13–53, 12). Ähnliches fällt etwa beim berühmten Kainsmal auf, da es den Brudermörder Kain einerseits deklassiert, ihn andererseits hilfreich auszeichnet, so dass der Stigmatisierte einen besonderen Schutz erfährt: nämlich nur von Gott gerichtet und zur Verantwortung gezogen zu werden (vgl. Gen 4, 1–16). Das Kainsmal ist also Schandmal und Schutzzeichen in einem. Vgl. Wolfgang Lipp, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Berlin 1985, S. 83. Lipp, Stigma und Charisma, S. 254. Lipp, Stigma und Charisma, S. 83. Vgl. Lipp, Selbststigmatisierung. In: Stigmatisierung. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Bd. 1, hg. von Manfred Brusten u. Jürgen Hohmeier, Neuwied; Darmstadt 1975, S. 25–53; Lipp, Stigma und Charisma; Lipp, Charisma – Schuld und Gnade. Soziale Konstruktion, Kulturdynamik, Handlungsdrama. In: Charisma. Theorie, Religion, Politik, hg. von Winfried Gebhardt, Arnold Zingerle u. Michael N. Ebertz, Berlin; New York 1993, S. 15–32; vgl. auch Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt am Main 1974. Lipp, Stigma und Charisma, S. 74. Vgl. Lipp, Stigma und Charisma, S. 78. Lipp, Stigma und Charisma, S. 73.

einer größeren Gruppe von Nichtstigmatisierten gegenübergestellt, so dass eine Grenze zwischen zwei ›Parteien‹ – eben den Stigmatisierten und den Nichtstigmatisierten – zu verzeichnen ist. Die Grenzüberschreitung des Stigmatisierten liegt darin, eine Ausgrenzung durch sein außergewöhnliches Wesen (Sein) oder Handeln (Haben) zu betreiben oder von anderen ausgegrenzt und gleichzeitig mit einem Stigma versehen zu werden. Im interaktiven Verhältnis des Stigmatisierten zu den Nichtstigmatisierten entsteht eine Kluft , die der Stigmatisierte – entgegen der dominanten ›Ausgrenzungspolitik‹ der Gesellschaft – nicht durch sein charismatisches Talent, sondern genauer durch einen Akt der Charismatisierung zu überbrücken sucht. Lipp beschränkt sich auf diesen Handlungscharakter und blendet die Vorstellung vom Charisma als Disposition aus. Eine erfolgreiche »Strategie«45 zur Demontage oder Positivierung einer von außen beförderten Stigmatisierung ist nach Lipp ein Akt der »Selbststigmatisierung«46. Der Selbststigmatisierer kommt so dem Verurteilungs- und Normdruck der Gesellschaft oder einer etablierten Institution zuvor, indem er sich ›vorsorglich‹ und aktiv selbst stigmatisiert und so drohenden gesellschaft lichen Abstempelungen den Wind aus den Segeln nimmt.47 Dadurch wird ein Prozess angestoßen, der dem Abnormalen, dem Stigma, dem negativ konnotierten Zeichen der Brandmarkung und Ausgrenzung eine »Sinnprägnanz«48 verleiht, es dadurch verstärkt und in ein positives Merkmal, das Charisma, das Zeichen des Auserwählten mit neuer Würde und einem herausragenden sozialen Status umdeutet. Gelingt diese subversive, den Status quo unterlaufende Umschlagsfigur, indem sie eine eigene funktionstüchtige Durchschlagskraft entwickelt, werden die einst Stigmatisierten als neue charismatische Persönlichkeiten sogar verehrt. Die »von Schuld gezeichnete[n]« Personen, die »in Heilsbringer und Führergestalten umgewandelt werden«49, entwickeln auch eine »normative Kraft«50, wodurch sie als charismatische Vorbilder und als Vertreter einer neuen Werteskala fungieren. Eine solche ›Umwertung‹ der Werte, die sich

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Lipp, Stigma und Charisma, S. 76. Lipp, Stigma und Charisma, S. 14: »Selbststigmatisierung ist gesellschaftlich von konstitutivem Gewicht; die im Rahmen der Thematik zentrale Lösungshypothese, die sie darstellt, besagt, daß sie es ist, die Stigmata – jene bisher negativ besetzten sozialen Kennzeichen, Identitätssymbole und Verhaltensmarken – dynamisch transformieren und zu Eigenschaften erhöhen kann, die die Gesellschaft – vor symbolisch umgepolte, neue, sozialmoralisch konträre Ordnungsmöglichkeiten gestellt – zunehmend positiv bewertet und am Ende charismatisiert.« Vgl. Lipp, Stigma und Charisma, S. 80ff. und Lipp, Selbststigmatisierung, S. 25–53. Selbststigmatisierung bezeichnet genauer ein »abweichendes Verhalten und erscheint als Tun, das sich normalen sozialen Erwartungen entzieht« (Lipp, Stigma und Charisma, S. 80). Im Gegensatz zur Labeling-Theorie bleibt Lipp nicht beim Opferstatus der Stigmatisierten stehen, sondern ist darauf aus zu zeigen, wie Stigmatisierte ihre Stigmata im Rahmen von »Stigmatisierungskarrieren« aufwerten (vgl. Lipp, Stigma und Charisma, S. 76–77). Lipp, Stigma und Charisma, S. 80. Lipp, Stigma und Charisma, S. 83. Lipp, Stigma und Charisma, S. 83.

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dem Wechselspiel von Stigma und Charisma verdankt, behebt individuelle Mängel, ja idealisiert sie überhöhend, entwickelt zugleich eine normenbildende Kraft und gewinnt dadurch eine entscheidende kollektive Einflussnahme. Überführt man diese soziologische Theorie in den Binnenraum literarischen Erzählens51, ist die Umbesetzung von Stigma in Charisma auf literarische Leitfiguren52 zu beziehen und die nötige Einbeziehung eines Publikums (unter produktionswie rezeptionsästhetischem Blickwinkel) zu reflektieren. In einem solchen soziologisch-literarischen Modell ist Charisma freilich nicht als ontologische Disposition zu verstehen, sondern als »soziales Handeln herausragender Personen, das sich in dramatischen Formen verwirklicht«53. Charisma als textuelles Phänomen ist leicht mit dem Begriff »inszeniertes Charisma«54 zu fassen, denn »unter dem Blickwinkel der Medien ist jedes Charisma inszeniert«55. Bei einem inszenierten Charisma wird eine »Personalisierung von Botschaften betrieben«56, die soweit gehen kann, dass der Autor als notwendige Bezugsgröße statuiert wird. Unter der Kategorie »Reinszenierung« beschreibt Klaus Ridder exemplarisch, wie »in literarischen Werken und auch in anderen ästhetischen Medien […] eine Leitfigur über einen längeren Zeitraum reinszeniert«57 wird. Im Sinne eines »Nachfolgehandeln[s]«58 entwickelt das Vorbild dabei eine normbildende Kraft. Indem sich die Rezipienten mit den in Figuren konzentrierten Normen überdies zu identifizieren begännen, könne die Leitfigur auch eine »außerliterarische Existenz«59 gewinnen. Anzusetzen ist im Blick auf literarische Texte zunächst bei der textimmanenten Inszenierung von Stigma und Charisma, daran anschließend können gegebenenfalls rezeptionsästhetische und kulturgeschichtliche Überlegungen und Aktualisierungen einbezogen werden.60 Neben dieser Freisetzung von Charisma durch eine Stigmatisierung macht Ridder in seinen Überlegungen zum Verhältnis von Stigma und Charisma (mit Blick auf sein Beispiel Lancelot) zu Recht auf die Möglichkeit einer weiteren »Entcharismatisierung«61 aufmerksam, eines Zurückschlagens von Charisma in Stigma. Diese Grundkonstellation von Stigma und Charisma ist freilich auf die Inszenierung von Dichter-Propheten oder deren literarische Propheten-Figurationen

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Vgl. stellvertretend: Götz Hartmann, Selbststigmatisierung und Charisma christlicher Heiliger der Spätantike, Tübingen 2006; K. Ridder, Stigma und Charisma. Lancelot als Leitfigur im mittelhochdeutschen Prosaroman. In: Zeitschrift für Germanistik, 3, 2009, S. 522–539. Vgl. zum Begriff ›Leitfigur‹: Ridder, Stigma und Charisma, S. 522–523. Ridder, Stigma und Charisma, S. 523. Häusermann, Einleitung. In: Inszeniertes Charisma, S. 7. Häusermann, Einleitung. In: Inszeniertes Charisma, S. 7. Häusermann, Einleitung. In: Inszeniertes Charisma, S. 8. Ridder, Stigma und Charisma, S. 524. Ridder, Stigma und Charisma, S. 524. Ridder, Stigma und Charisma, S. 524. Vgl. Ridder, Stigma und Charisma, S. 524. Ridder, Stigma und Charisma, S. 524.

übertragbar.62 Der mit Stigmata versehene charismatische Prophet – Lipp stellt den Typus des Helden in den Mittelpunkt –63 würde demnach ein exemplarisches Leben vorführen, und das Kollektiv wäre hingegen auf Abwegen angesiedelt, so dass für die Ungläubigen eine Umkehr, angestoßen vom revolutionären Außenseiter, dem Propheten, vonnöten ist. Die Deutung eines Malzeichens als Stigma kann entweder der Stigmatisierte vornehmen (Selbstzuschreibung) oder ein objektiver Kommentator des Stigmatisierten oder die Gruppe der Nichtstigmatisierten (Fremdzuschreibung). Interessant ist dieses Schema von Stigma und Charisma insbesondere dann, wenn eine literarische Figur mit Heilsbringer-Zügen Umbrüche sozialer Wertsysteme und Großgruppen initiiert. Ihrem Charisma wäre demnach eine Umwertung von Normen mithilfe einer transformierenden Positivierung zu bescheinigen. Des Weiteren ist die Betonung der Aktivität von Stigmatisierten und ihrer Inszenierungsstrategien von Interesse. Denn auch prominente Dichter-Propheten zeichnen sich selbst oder ihre prophetischen Figuren mit Stigmata aus und beanspruchen zugleich eine besondere charismatische Aura, die sie von Außenstehenden attestiert bekommen wollen: Indem sie oder ihre literarischen Propheten-Figurationen »defektive« oder »kulpative Stigmata«64 aufweisen, sind sie in ihrer Rolle provokant und faszinieren gleichzeitig durch die sich freisetzenden charismatischen Kräfte, die sich wiederum auf die magischen Fähigkeiten ihrer prophetischen Rede beziehen können. Sie schaffen und wirken – dem Genie vergleichbar – unsozial und kreativ zugleich. Werte wie Gut und Böse, Rein und Unrein, Schuld und Gnade sind – wie es Nietzsches prophetische Künstler- und Philosophenfigur Zarathustra vorstellt65 und wie es aus dem in der Literatur verhandelten Geniekonzept66 mit dem ihm inhärenten Konnex von Genie und Verbrechertum bekannt ist – im Prozess einer Selbststigmatisierung umwertend zu positivieren. Die oftmals selbstgewählte Isolation oder inszenierte Unnahbarkeit, das Verbrechertum des ›Brechers‹ der Werte,67 die Leiderfahrungen als Ausdrücke einer sozialen Stigmatisierung dieser prophetischen Figuren scheinen ein Movens für ihre charismatischen Wirkungen zu sein. Die Exzeptionellen, Ausgezeichneten und

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Zumal die Haupttypen »sozialer Abweichung« nach Lipp »Exhibitionismus, Provokation, Askese und Ekstase« (Lipp, Stigma und Charisma, S. 81) sind. Die Merkmale des Helden, die Lipp herausstellt, sind leicht auf den Typus des Propheten zu übertragen: Propheten schlagen wie die Helden eine Brücke zwischen »Finsternis und Licht, Schuld und heiliger Reinheit, Martyrium und Erlösung« (Lipp, Stigma und Charisma, S. 15; vgl. zum Typus des Helden genauer: Lipp, Stigma und Charisma, S. 224f.). Lipp selbst bespricht en passant auch Märtyrer, Heilige, Berserker, Führer, Genies, Propheten und Weise (vgl. Lipp, Stigma und Charisma, S. 224). Vgl. zu Märtyrern, Erlösern und Heiligen: Lipp, Stigma und Charisma, S. 253f. Lipp unterscheidet »defektive Stigmata« als Zeichen dafür, dass etwas fehlt (z.B. Beschädigte, Versehrte, Kranke oder Neurotiker etc.), von »kulpativen Stigmata« (moralische Verderbnis) (vgl. Lipp, Stigma und Charisma, S. 94–98). Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Vgl. J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 266.

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Auserwählten müssen sich von der breiten Masse abgrenzen, dürfen diese sogar ›ein wenig verachten‹68. Zugleich benötigen sie ein sie charismatisierendes Publikum. Dass charismatisierende Prozesse über ein Publikum laufen müssen, um eine entsprechende Wirkung zu erzielen, ist ein Gemeinplatz der Charisma-Forschung, wie oben gezeigt.69 Das Changieren prophetischer Figuren zwischen Einsamkeit und Massenkommunikation trägt diesem Umstand Rechnung. Das Publikum, die ›Gemeinde‹ kann von Anfang an real sein oder auch fi ktiv in Szene gesetzt werden. Problematisch bei der Selbstzuschreibung von Stigmata zur Steigerung des eigenen Charismas ist freilich, dass anstelle einer Charismatisierung auch eine Entcharismatisierung vonstattengehen kann. Dann befördert eine Stigmatisierung – entgegen Lipps Ansatz – einen Entcharismatisierungsprozess. Ebenso kann eine langanhaltende, übersteigerte Charisma-Zuschreibung zur ›Veralltäglichung‹70 (im Sinne von Max Weber) führen und damit ebenso zur Entcharismatisierung. Auch das Rollenspiel zwischen prophetischen Figuren und ihren sich als Propheten verstehenden Autoren ist aufschlussreich. Es besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass eine literarische Propheten-Figuration, die aufgrund von angedichteten Stigmata ein angedichtetes Charisma entwickelt, durch eine geschickte Rezeptionssteuerung eine Gleichsetzung mit dem Autor initiieren soll. Eine stigmatisierte und charismatisierte Leitfigur kann aber auch als negative Leitfigur inszeniert werden, so dass deren Entcharismatisierung gerade die (Selbst-)Charismatisierung des Dichter-Propheten initiiert. Dieser Fall ist insbesondere dann markant, wenn Dichter-Seher vorgängige Dichter-Seher ins Visier nehmen und sich deren Charisma aneignen. Das Faktum, dass Propheten-Dichter versucht sind, sich selbst zu charismatisieren, ist mit einem abgrenzenden Gegenzug, der Entcharismatisierung von Vorgängern zusammenzustellen: Denn wenn ein vorgängiger Dichter-Seher durch den sich neu Etablierenden eine Entcharismatisierung erfährt, indem ihm dieser beispielsweise Stigmata andichtet, wird ein Vakuum an Charisma freigesetzt, das sich der den Vorgänger überwindende Nachfolger aneignen kann. Das Faszinierende an Charisma- und/oder Stigmata-Inszenierungen ist aber v.a. ihr ›Rest‹ an Unkalkulierbarkeit. Ein Dichter-Prophet kann sich solcher Strategien wie Inspirationstopoi, prophetischer Spiegelfiguren, mündlich-emotional inszenierter Vorträge mit prophetischem Pathos als symbolischer Akte oder Selbstapotheose, negativ konnotierter Kontrastbilder von Dichter-Propheten so lange bedienen, wie er will: Wenn die Zuhörerschaft nicht in seine Inszenierung zum Propheten ›einwilligt‹, sind seine Bemühungen vergeblich.

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Vgl. George: »O wüsstet ihr wie ich euch alle ein wenig verachte!« (George, Der Täter. In: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 45). Vgl. zu diesem Prinzip im George-Kreis: Blasberg, Charisma in der Moderne, S.  127. Vgl. zur Inszenierung von Charisma exemplarisch den folgenden Tübinger Sammelband: Häusermann (Hg.), Inszeniertes Charisma. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 142.

III.3.1. Vorbildverehrung und »Einfluss-Angst« (Harold Bloom) Textexterne wie textimmanente prophetische Autorpoetiken, die an das ›Urbild‹ des poeta vates oder des Propheten anknüpfen, sowie Propheten-Figurationen als Reflexe auf das Rollenverständnis von Künstlern sind in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nicht nur auf prominente Inspirationstopoi, prophetische Motive und Semantiken im Allgemeinen, sondern großteils auch direkt auf die personalen Vertreter der Dichter-Seher-Tradition und deren je eigene Propheten-Autorpoetik beziehen. Insbesondere Friedrich Nietzsche und seine antithetisch zum Propheten Moses angelegte prophetische Zarathustra-Figur, wie oben beschrieben,71 aber auch Friedrich Hölderlin und seine Konzeption des poeta vates, wie im IV. und VI. Kapitel ausgeführt,72 stellen einen unübersehbaren Brennpunkt und eine nie versiegende, inspirative Quelle für moderne prophetische Autorpoetiken um die Jahrhundertwende dar. Beide können als besonders weitstrahlige vates-›Urbilder‹ hervorgehoben werden. Ihre Nachfolger, die modernen Dichter-Propheten, imitieren und kopieren ihre Vorlagen allerdings nicht blindlings, sondern unterziehen sie partiellen Adaptionen, Modifi kationen und Transformationen, indem sie neue vates-Bilder und Poetiken des Prophetischen hervorbringen, die wiederum ein neues Rollenverständnis des inspirierten Künstlers voraussetzen. Personelle Verkörperungen (seien es prophetische Kunstfiguren, seien es die sich als Propheten verstehenden Autoren selbst) sind als Vorbilder und Leitfiguren für sich etablierende moderne Propheten-Künstler offenbar unerlässlich. Denn nahezu jeder Dichter-Prophet schreibt sich bewusst oder unbewusst in die Ahnengalerie seiner Vorgänger ein – eine Tatsache, die bei Stefan George und Georg Trakl besonders evident ist. Wäre ein vom Propheten-Gestus inspirierter George-Kreis ohne Hölderlin-Personenkult oder eine kritische NietzscheDistanzierung denkbar? Wie sähen Trakls prophetische Dichtung und sein Künstlerverständnis ohne Rimbauds, Nietzsches oder Hölderlins Einflüsse aus, die bis in ähnliche Lebensführungen des modernen Sehers hineinreichen? Dichter-Propheten scheinen ohne Rückblicke auf vorangehende und andere Dichter-Propheten also schier unmöglich. Keiner der Autoren setzt sich einfach als Dichter-Prophet, ohne die vates- und Propheten-Tradition, die prominenten ›Urbilder‹ einer heiligen Autorschaft implizit oder explizit zu thematisieren. Mit den Begriffen ›Vorbild‹ und ›Leitfigur‹ soll dieses personale, mithin autorzentrierte Element im prophetischen Diskurs betont werden. Blickt man auf die Dichter-Genealogien und ›Vorbildketten‹ bei den im Folgenden zu verhandelnden Autoren, genügt eine einfache Intertextualitätstheorie zur Klärung dieser mannigfaltigen Einflüsse, sprich intertextuellen Geflechte, nicht. Harold Blooms Theorie The anxiety of influence (1973) hingegen vermag ein gutes ideelles Rüstzeug für die intrapoetischen Beziehungen sowie für das mitunter auch ambivalente Verhältnis der Seher-Autoren zu ihren Vorbildern im Changieren

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Vgl. das Kapitel II.3.1. Vgl. v.a. den Exkurs in Kapitel VI.8.1.

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zwischen Vorbildverehrung und ›Einflussangst‹ abzugeben. Obwohl Bloom diese Theorie unabhängig vom Autorschaftsbild des poeta vates oder Dichter-Propheten entwirft, ist sein häufig verwandter Terminus »Ephebe«73 für die newcomer-Dichter schon richtungweisend, v.a. für das virulente Gegensatzpaar Jünger/Knabe – Meister bzw. Prophet – Gott, das bei den Dichter-Sehern vorherrscht: Prophetischen Autorschaftspoetiken sind oftmals beide Pole eingeschrieben, da der Dichter-Prophet angesichts eines ihm zugrunde liegenden triadischen Kommunikationsmodells (Prophet – Gott – Gemeinde) immer auf andere Bezugspunkte ausgerichtet sein muss. Das erhellt bereits ein kleiner Seitenblick auf Stefan George vorab. In seinem Maximin-Kult wird etwa das Prinzip der typologischen Umkehr zwischen Prophet und Gott, Jünger und Meister bis zur Überdeutlichkeit praktiziert, wie Manfred Frank es früh mit Blick auf den ›Kunstgott‹ Maximin bemerkt hat:74 George entwirft nicht nur einen Privatkult um den knabenhaften Maximilian Kronberger, der im Jugendalter von 16 Jahren aus dem Leben scheidend von George zum Gott erhoben wird, sondern er zwingt den ›mythischen Stoff‹ Maximin auch wieder ästhetisch in die Knie, indem er sich dem ›Gott‹ Maximin zwar willig als dessen (scheinbar untertäniger) Prophet unterwirft, George in diesem Rollenspiel aber letztlich über die Hintertür – die typologische Umkehr erneut umkehrend – vom Knaben zum Meister, vom Geschöpf zum Schöpfer avanciert bzw. dieses ambivalente Verhältnis bewusst in der Schwebe lässt. Mit den berühmten Versen »Ich geschöpf nun eignen sohnes«75 aus dem Gedicht »Einverleibung« aus dem Siebenten Ring und der Parallelstelle »Ergeben steh ich vor des rätsels macht / Wie er mein kind ich meines kindes kind«76 im Stern des Bundes ist ein »Bewußtsein des Mythisierungsprozesses« enthüllt, auch wenn das Rätsel nicht deutlich aufgeklärt wird, um die charismatisierende Wirkung des Mythos nicht aufzulösen: »Maximin, der eigenen Phantasie entsprungen und insofern Sohn des Dichter-Vaters, ist zugleich der Schöpfer des Dichters«77.78 Neben diesem ›Phantasie-Gott‹ verfährt George auch mit nicht-fi ktiven, historischen SeherVorbildern und Meistern, wie mit dem französischen Dichter Stéphane Mallarmé, ganz ähnlich. Ebenso wie die illustrierten Verhältnisse zwischen George und seinem ›Knabengott‹ Maximin, die in der paradoxen Provokation bestehen, dass der vates gegenüber seinem Bezugspunkt, einer scheinbar größeren und mächtigeren Figur, eine Erniedrigung zulässt, um sich selbst zu ermächtigen, ist teilweise auch sein Verhältnis zu vorgängigen Dichtern gelagert. Zur Etablierung seiner eigenen Meister-

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Vgl. Bloom, Einfluss-Angst, S. 13 u.a. Vgl. M. Frank, Stefan Georges »neuer Gott«, S. 303. George, Einverleibung. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 109. George, Ergeben steh ich vor des rätsels macht. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 14. Frank, Stefan Georges »neuer Gott«, S. 303. Vgl. ähnlich Ralf Simon, Das Wasser, das Wort. Lyrische Rede und deklamatorischer Anspruch beim späten Stefan George. In: Stefan George. Werk und Wirkung seit dem »Siebenten Ring«, S. 48–69, S. 53; R. Simon, Die Bildlichkeit des lyrischen Textes, S. 215f.

schaft schreibt George beispielsweise eine hymnische Mallarmé-Lobrede, wo er dessen Meisterschaft wie folgt rühmt: Deshalb o dichter nennen dich genossen und jünger so gerne meister weil du am wenigsten nachgeahmt werden kannst und doch so grosses über die vermochtest · weil alle in sinn und wolklang [sic!] nach der höchsten vollendung streben damit sie vor deinem auge bestehen: weil du für sie immer noch ein geheimnis bewahrst und uns den glauben lässest an jenes schöne eden das allein ewig ist.79

So ehrwürdig anfangs Georges Vorbildverehrung für den maître Mallarmé klingt, gilt es für George indes ihn zu überwinden, und dies nicht zuletzt durch den Kunst-Gott Maximin. Mallarmé ist für George überdies nur ein Zwischenglied in einer Ahnengalerie, zu deren ersten Gliedern Pindar, Dante und Goethe gehören, denn »jeden wahren künstler hat einmal die sehnsucht befallen in einer sprache sich auszudrücken deren die unheilige menge sich nie bedienen würde oder seine worte so zu stellen dass nur der eingeweihte ihre hehre bestimmung erkenne«80. George löst sich bekanntlich von Mallarmé, gründet seinen eigenen Dichterzirkel und erfindet seine eigene Sprache für Eingeweihte. Denn späterhin kann es nur einen Meister geben, den einstigen Knaben George, der das Endglied einer ehrwürdigen Vorbildkette darstellen soll. Indem George geradezu die platonische Vorstellung der Inspiration als Kettenreaktion (im Ion entworfen81) abwandelt, werden bei ihm die Inspiration suggerierenden Vorbildketten über selbst entworfene Musen angestoßen. Im IV. Kapitel wird genauer dargelegt, wie die Vorbilder-Aneignung bei George ausgestaltet ist und wie etwa Hölderlin zum Propheten Maximins stilisiert wird. Für das beispielhaft aufgezeigte Verhältnis des Propheten-Dichters zu seinen prophetischen Dichter-Ikonen ist Blooms Theorie der »Einfluss-Angst« deswegen aufschlussreich, da dieser sich in seiner »Geschichte einer intrapoetischen Beziehung«82 auf das Verhältnis eines Dichters zu seinen Vorbildern konzentriert. Er geht schließlich davon aus, dass jeder (ernstzunehmende) Dichter sich vor seinem Vorgänger fürchtet und diesen zu vernichten und zu überwinden sucht, um seinen eigenen Platz in der Literatur(-geschichte) etablieren zu können. Demnach können Vorbilder den »Epheben«83 entweder beflügeln oder ihn durch einen spannungsreichen Konkurrenzdruck im Sinne eines Vater-Sohn-Konflikts84 lähmen. Bloom argumentiert bekanntlich stark freudianisch, wenn er Termini wie ›Vater-Sohn-Konflikt‹85 und das Schema des Ödipuskomplexes verwendet um anzuzeigen, wie ein Dichter, der in die

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George, Mallarmé. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 52–55, S. 52f. George, Mallarmé, S. 53. Vgl. Platon, Ion, 533d–533e u. 536a–536d. Bloom, Einfluss-Angst, S. 9. Vgl. Bloom, Einfluss-Angst, S. 13. Vgl. ähnlich Bloom, Einfluss-Angst, S. 14. Aufgrund dieses ›männlichen‹ Blickwinkels erfährt Bloom von feministischer Warte aus mehrfach Kritik, obwohl sich seine Theorie auch in modifizierter Form auf Autorinnen anwenden lässt (vgl. Hubert Zapf, Art. Anxiety of influence. In: Metzler Lexikon Literatur-

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Spuren eines ernstzunehmenden Vorgängers tritt, im Umgang mit seiner Vaterfigur, seinem ›Über-Ich‹, zwischen Akkommodation und Vorbildvernichtung aufgrund von ›Einflussangst‹ changiert. Abgesehen von dieser freudianischen Prägung seiner Intertextualitätstheorie (und der kabbalistischen Termini) ist dieser Bloom’sche Ansatz für die Propheten-Autoren deswegen partiell ergiebig, weil er im Gegensatz zu anderen Intertextualitätstheorien dem Faktum des fingierten Propheten-›Gesamtkunstwerks‹ Rechnung trägt, der Idee also, dass sich gerade prophetische Autorpoetiken, die sich oft durch intertextuelle Gewebe auszeichnen, nicht ohne Bezugnahme auf die spannungsreiche Beziehung von Dichter-Propheten untereinander bestimmen lassen. Denn Abgrenzungen und Aneignungen, Abspaltungen und Einverleibungen, Negationen und Inkorporationen des Negierten von Propheten-Leitfiguren durch intertextuelle Bezüge laufen in den Propheten-Poetiken über personale Verkörperungen (Propheten-Figurationen und implizite Propheten-Poetiken sind oftmals Reflexe von auch in der Lebenspraxis erprobten Autorpoetiken und umgekehrt). Blooms Repersonalisierung,86 seine Betonung des Autorsubjekts vor reinen Gewebe-, Netzwerkund Diskurs-Intertextualitätstheorien87 ›rettet‹ die Autorpersönlichkeit, die im Falle der Seher und Propheten zumindest kritisch zu diskutieren ist. Während Bloom v.a. von einem unbewussten Prozess ausgeht, ist der Dichter-Prophet als »Ephebe« im Anschreiben gegen das misreading des Vorgängers jedoch zumeist bewusst am Werk; insbesondere George inszeniert eine bewusste Rebellion gegen seine historischen Konkurrenten. Deswegen könnte man auch im Falle unserer Dichter-Propheten hypothetisch von Interauktoralität (Schabert) sprechen: Diese Form der »literarisch dokumentierte[n] Textrezeption« gestaltet sich als »menschliche Begegnung zwischen dem in einem gelesenen Text wahrgenommenen Autor und dem Autor eines nachzeitigen Werks«88. Zu vernachlässigen ist ferner Blooms überzogen wirkende Grundidee einer Siegergeschichte »starker«, überlebensfähiger Dichter, »indem sie einander fehllesen und so einen imaginativen Raum für sich selbst schaffen«89.90 Die

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und Kulturtheorie, hg. von Ansgar Nünning. Vierte, aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart; Weimar 2008, S. 26). Vgl. Richard Aczel, Art. Intertextualitätstheorien und Intertextualität. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 330–332, S. 331. Bei Bloom liest man: »Die Tiefe des poetischen Einflusses kann nicht auf Quellenstudium, Ideengeschichte, Prägung von Bildvorstellungen reduziert werden. Poetischer Einfluß, oder wie ich es häufiger nennen werde, poetisches Fehlverhalten, ist notwendig das Studium des Lebenszyklus eines Dichters als Dichter« (Bloom, Einfluss-Angst, S. 11). Die Vorstellung eines autonomen, unendlichen Gesprächs im Sinne Kristevas passt hingegen nur zu der medialen Vorstellung des Dichter-Propheten. Vgl. zur Kritik an Kristevas ontologischer Intertextualitätstheorie: Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 136ff. Ina Schabert, Interauktoralität. In: DVjs, 57, 1983, H. 4, S. 679–701, S. 679. Bloom, Einfluss-Angst, S. 9. Bei Bloom heißt es dazu pathetisch: »Ich beschäftige mich nur mit starken Dichtern, bedeutenden Gestalten, die genug Ausdauer haben, mit ihren starken Vorläufern sogar bis auf den Tod zu ringen« (Bloom, Einfluss-Angst, S. 9).

aus seinen Theoremen resultierenden Antithetiken – als »Prophet[en] des Antithetischen«91 sieht er auch Nietzsche an – spiegeln im Übrigen auch die Eigenheiten einer prophetisch inspirierten Rede, die sich gerade in der Figur von Antithetiken manifestiert. Überhaupt wurzelt die Bloom’sche Theorie ja auch in einer paradoxen Grundsituation, die darin besteht, dass der Dichter bemüht ist, seinen ›Urvater‹ zu töten, zu überwinden, um origineller und kreativer als dieser erscheinen zu können, wobei er oftmals nicht ganz von ihm loskommt, da er ihn als Referenzpunkt benötigt. Blooms Theorie stellt schließlich sechs hilfreiche Methoden der Revision oder Abwehrmechanismen gegenüber dem Vorgänger vor,92 die – wohltuend – nicht alle ein aggressives Grundverhalten in puncto Vorbildvernichtung und Denkmalsturz aufweisen.93 Eine absolute Absorption oder Zersetzung interessiert Bloom ohnehin nicht. Kombinationsfiguren an Einflussmethoden sind freilich möglich. Diese fein verästelten Revisionsmöglichkeiten sind nun bei unseren Autoren nicht im Einzelnen nachzuweisen, zumal die Bearbeitungen des Vorgängers sich nicht in Tropen äußern müssen; vielmehr soll die Bloom’sche Theorie als Ganze auf die spannungsreiche Verkettung der Propheten-Dichter untereinander aufmerksam machen, die en gros als Ausdruck einer ›Einflussangst‹ gewertet werden kann. Blooms Theorie stößt

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Bloom, Einfluss-Angst, S. 11. Vgl. dazu Blooms synoptische Übersicht: Bloom, Einfluss-Angst, S. 16–18. Mit dem Begriff Clinamen (eine von Lukrez übernommene Bezeichnung, die die minimale Abweichung von Atomen beschreibt) bezeichnet Bloom eine poetische »Fehllektüre«, eine revidierend-produktive Abweichung, die einen »Akt der kreativen Korrektur« (Bloom, Einfluss-Angst, S. 30) freisetzt (vgl. Bloom, Einfluss-Angst, S. 21–42). Das neue Gedicht folgt dem alten bis zu einem gewissen Punkt und gibt dann eine neue Richtung vor. Das zweite Moment der Bearbeitungsmöglichkeit, Tessera genannt, was terminologisch an die in antiken Mysterienkulten gängigen Wiedererkennungszeichen anschließt, zielt auf eine Vervollständigung des Vorgängers ab, indem dieser eine Ergänzung erfährt, und zwar gemäß dem Prinzip der Antithese (vgl. Bloom, Einfluss-Angst, S. 43–66). Der »Ephebe« übertrifft dann nicht begrifflich, aber dem Sinn nach seinen Meister. Unter Kenosis (ein Paulus entlehnter Begriff ) versteht Bloom drittens eine »Diskontinuität mit dem Vorläufer« (Bloom, Einfluss-Angst, S. 17), die durch eine Selbsterniedrigung die »Entleerung« (Bloom, EinflussAngst, S.  17) des Vorgängers initiiert (vgl. Bloom, Einfluss-Angst, S.  69–81). Eine Dämonisierung des Vorgängers (aus dem neuplatonischen Umfeld entwickelt) führt viertens zur Setzung einer Gegengröße (»ein personalisiertes Gegen-Sublimes« (Bloom, Einfluss-Angst, S. 17)), kann allerdings auch »eine Selbstreduktion der eigenen Schaffenskraft« bewirken (vgl. Bloom, Einfluss-Angst, S. 87–98). Der Begriff Askesis verweist fünftens auf eine notwendige Selbstbeschränkung oder Selbstläuterung des Dichters durch den Kampf mit den Vorgängern als Ekstasetechnik (vgl. Bloom, Einfluss-Angst, S. 101–120). Das Zulassen des Vorgängereinflusses bzw. die Angst vor seiner Wiederkehr – beschrieben mit dem Begriff Apophrades – droht diesen selbst wieder hervorzubringen. Mit der Rückkehr der Toten ist damit schließlich sechstens beschrieben, wie die Offenheit gegenüber dem Werk des Vorläufers dazu führt, dass es so scheint, als habe der spätere Dichter selbst das charakteristische Werk des Vorgängers geschrieben (vgl. Bloom, Einfluss-Angst, S. 123–137). Diesen sechs revisionary ratios sind ferner sechs Tropen zugeordnet, der Reihenfolge nach: Ironie, Synekdoche, Metonymie, Hyperbel, Metapher und Metalepsis.

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zudem auch an Grenzen. In seiner Konzentration auf Dichter-Wettkämpfe gerät aus dem Blick, dass im Falle der Dichter-Propheten gerade auch profane und ideelle Leitfiguren als Bezugspunkte des poeta vates fungieren; oder eben auch fi ktive Propheten, wie das Beispiel Maximins zeigt. Die sich daraus ergebenden Leitfiguren-Konstellationen sind zwar typologisch ähnlich gelagert wie die revisionistischen Zugriffe eines Autors auf seinen Vorgänger, aber wurzeln nicht in intertextuellen Bezügen. Zur Konstruktion eines heiligen Autorschaftsbildes, speziell einer ›Prophetisierung‹ von Autorschaft, sind gerade auch dem Propheten-Mythos nahestehende Figuren wie fi ktive oder historisch-reale Götter und Helden im weitesten Sinne von Belang, die als Kronzeugen für die Beglaubigung prophetischer Autorschaft zitiert werden und die die Seher-Autoren bisweilen nicht so schnell wieder loswerden. III.3.2. Exkurs: Knabe und Meister – Dichter und Held Hölderlins beeindruckender »Buonaparte«-Entwurf (1797) mag das Verhältnis von Dichter und Held eingangs, in aller hier gebotenen Kürze, unterstreichen helfen: Es ist ein treffliches Beispiel für eine Mythisierung der historischen Napoleon-Figur, in dessen Zuge auch die Stellung des Dichters als poeta vates reflektiert wird: Buonaparte Heilige Gefäße sind die Dichter, Worinn des Lebens Wein, der Geist Der Helden sich aufbewahrt, Aber der Geist dieses Jünglings Der schnelle, müßt’ er es nicht zersprengen Wo es ihn fassen wollte, das Gefäß? Der Dichter laß ihn unberührt wie den Geist der Natur, An solchem Stoffe wird zum Knaben der Meister. Er kann im Gedichte nicht leben und bleiben, Er lebt und bleibt in der Welt.94

Gemäß Hölderlins Konzeption des poeta vates sind die Dichter »heilige Gefäße«, also mehr oder weniger biegsame Formen, worin sich der »Stoff« historischer Personen und Vorbilder ansammelt. Aber der »Geist«, die Inkommensurabilität dieses speziellen »Stoffes« – des Feldherrn Napoleon – droht das »Gefäß« zu sprengen, den Dichter zu überfordern. Die in der ersten Strophe getroffene, allgemeine, mit Pluralformen unterstrichene Aussage über das Verhältnis von Dichtern und Helden (»die Dichter«, »die Helden«) wird in ein antagonistisches Verhältnis zwischen zwei sin94

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Hölderlin, Buonaparte. In: Hölderlin, Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, hg. von Friedrich Beißner u. Adolf Beck (8 in 15 Bänden), 20 Bde. u. 2 Supplementbände, Stuttgart 1943–1985 [= StA], Bd. I/1, S. 239.

gulären Figuren (Dichter und Held) konkretisierend überführt: Die Beziehung des Dichters zu seinem zu behandelnden »Stoff« Buonaparte gestaltet sich spannungsreich. In der zweiten Strophe wird ein simples, den Helden archivierendes und konservierendes Verfahren hinterfragt. Das Machtverhältnis zwischen Form und Stoff, zwischen (vates-)Dichter und Held kehrt sich dementsprechend (unheimlich) um: »An solchem Stoffe wird zum Knaben der Meister« (Vers 8). Selbst wenn der »heilige« Dichter nur als Medium eingesetzt ist, in seiner medialen Situierung seinem »Stoff« nichts Subjektives beimischt, er ihn unangetastet zu fassen sucht, führt dieser Einverleibungsvorgang des Helden-Stoffes in eine aporetische Situation. In der hier vorgestellten radikalen Form der Vorbild-Verdichtung entwischt der Held dem Dichter: Dichtung und Wirklichkeit, der Dichter als »heiliges Gefäß« und seine Gegengröße, das weltliche Vorbild, scheinen nicht zusammenzugehen und inkompatibel zu sein. Der poeta vates samt seiner ihm zugedachten Dignität als »Meister« des Geschehens wird zum »Knaben« des fremden Geistes, des weltlichen Helden, den er dichterisch – selbst als reines Medium – nicht zu bewältigen vermag. Zur Verdeutlichung dieses agonalen Wettstreits sind Held und Dichter namentlich als typologische Figuren eingesetzt. Der Imperativ »Der Dichter laß ihn unberührt wie den Geist der Natur« (Vers 7) parallelisiert interessanterweise die ›Übergröße‹ des Helden mit der überpersönlichen »Natur«,95 verwandelt den Feldherrn in einen homo natura. Es ist deswegen naheliegend, einen Vergleich zur ›Feiertags-Hymne‹ (entstanden 1799/1800) – ebenfalls ein Fragment – zu ziehen, wo der vates unter »Gottes Gewittern«96 steht und gegen die daraus resultierende, drohende Sprachohnmacht mithilfe der inspirativen Naturmacht anficht: So wie die »göttlichschöne Natur«97 – die Bäume, »sie die kein Meister allein, die wunderbar / Allgegenwärtig erzieht in leichtem Umfangen«98 – notwendigerweise den vates-Dichter als Dienergestalt und Former einer (akkommodierenden) Ästhetisierung des »Heiligen« (»das Heilige sei mein Wort«99) inspiriert, indem sie, einem Feldherrn ähnlich, »mit Waffenklang erwacht«100, und wie sich dementsprechend der Blickwinkel auf ihre »Knechtsgestalt«101 zur Erkenntnis

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Hinck weist darauf hin, dass die Natur bei Hölderlin oft für göttliche Mächte steht (vgl. Hinck, Das Gedicht als Spiegel der Dichter, S. 19). Hölderlin, Wie wenn am Feiertage… In: StA, Bd. II/1, S. 118–120, S. 119. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage…, S. 118. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage…, S. 118. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage…, S. 118. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage…, S. 118. Hierin ist ein Hinweis auf die Waffen des Zeus oder des christlichen Vatergottes (vgl. Vöhler, Exploration statt Inspiration. Hölderlins Bestimmung des Dichterberufs in der Feiertagshymne. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 51/1, 2006, S. 75–91, S. 79) oder eine geschichtliche Reminiszenz an die Französische Revolution (Peter Szondi, Der andere Pfeil – Zur Entstehungsgeschichte des hymnischen Spätstils. In: Szondi, Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt am Main 19702, S. 37–61, S. 43) zu sehen. »In Knechtsgestalt, sind sie erkannt, / Die Allebigen, die Kräfte der Götter« (Hölderlin, Wie wenn am Feiertage…, S. 119).

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der »Kräfte der Götter«102 umkehrt, so benötigt der vates-Dichter einen übermächtigen, sperrigen Initiator, eine Übergröße, an dem sich seine poetischen Fähigkeiten entzünden können. Wie im Lied der Geist der Natur »weht«103, so auch der Geist des Helden. Die Fähigkeit des Dichters, den »Geist« unberührt zu lassen, fordert indes – gemäß der ›Feiertags-Hymne‹ – eine spezielle moralische Disposition des vates: ein »reine[s] Herz« und Empathie für die »Leiden des Stärkeren«104, sonst droht den »falschen Priester[n]«105 ein Wurf in den Orkus.106 Anders gesagt avanciert der vates dann zum »Meister«, wenn er die Übergröße der Natur als Knabe anerkennt. Der Aporie des knabenhaften Dichters im Blick auf den meisterlichen Feldherrn steht natürlich der Gedicht-Entwurf »Buonaparte« selbst gegenüber, der eine Reflexionsplattform für Grenzen und Möglichkeiten des Dichter-Sehertums abgibt: Der textimmanent aufgezeigte Bescheidenheitstopos und die aufgezeigte Grenze der Sprache sind die Kehrseite des ›meisterhaften‹ Gedichts und seines sich ebenfalls als Seher verstehenden Dichters.107 Und doch bleibt es wiederum bei der Form des Entwurfs; einer ›knabenhaften‹ Vorstufe? Die ›Feiertags-Hymne‹ kann auch als Beleg dafür dienen, wie der Knabe der Natur wieder zum Meister des Worts, zum medialen poeta vates mit Sprachmacht avancieren kann, wenn ein neuer Bezugspunkt, die göttliche Natur, eingesetzt wird. Gerade die Termini ›Knabe‹ und ›Meister‹ sind für das Porträt des Dichter-Sehers im Allgemeinen von großer Tragweite, entspricht es doch der besonderen Signatur des prophetischen Dichters, zwischen Meistertum und Knabenschaft, Gottähnlichkeit und Dienerschaft zu changieren. Neben dem Bezugspunkt des Göttlichen (der Natur) sind deren Vorbilder wie der Feldherr Buonaparte für den DichterSeher eine inspirative Quelle. Eben für den George-Kreis ist Napoleon eine wichtige Bezugsgröße,108 nach Gundolf ist er »ein in antiker Weise kosmischer Mensch«109, ein Vertreter der »kosmische[n] Tat«110, an der sich der vates-Dichter zu messen hat, der die »Sprachwerdung kosmischer Wesenheiten unmittelbar erfährt«111.

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Hölderlin, Wie wenn am Feiertage…, S. 119. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage…, S. 119. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage…, S. 120. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage…, S. 120. Friedrich Beißner datiert den »Buonaparte«-Entwurf auf 1797, also auf die Zeit vor Hölderlins kritischer Anmerkung bezüglich Napoleons zunehmend diktatorischen Zügen (vgl. F. Beißner, Kommentar. In: StA, Bd. I/2, S. 552). Vgl. zu Hölderlin als Seher-Dichter stellvertretend: Malinowski, S. 116ff. Von Berthold Vallentin stammt eine Napoleon-Biographie, die 1923 bei Bondi erschienen ist: B. Vallentin, Napoleon, Berlin 1923. F. Gundolf, Dichter und Helden [1912]. In: F. Gundolf, Götter und Helden, Heidelberg 1921, S. 23–58, S. 57. F. Gundolf, Dichter und Helden, S. 58. F. Gundolf, Stefan George in unserer Zeit [1913]. Als Vortrag gehalten in Göttingen am 15. Dezember 1913. In: F. Gundolf, Götter und Helden, Heidelberg 1921, S. 59–78, S. 61.

III.4. Vorbilder: Gesichter der Ideen (Friedrich Gundolf, Max Scheler) Der Wirkungsradius von Vorbildern allgemein lässt sich anhand von Friedrich Gundolfs und Max Schelers Vorbilder-Studien näher erschließen. Sie sind auch ein Spiegel des damals breit ausgeprägten Bedürfnisses nach Vorbildern, des »kult[s] von vorbildern«112. Gerade die Gretchenfrage, ob die Geschichte durch Ideen oder Persönlichkeiten bestimmt werde, beantworten viele Theologen um die Jahrhundertwende mit dem Hinweis auf die prägende Ausstrahlungskraft großer Persönlichkeiten, und diese erkennen sie vorrangig in den Propheten.113 Schmid hält fest, dass sich die wissenschaftsgeschichtliche Begründung der Propheten als »genialischer Einzelpersönlichkeiten« im Verlauf des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts herausgebildet habe.114 In seinem 1912 im dritten Band des Jahrbuchs für die geistige Bewegung erschienenen Aufsatz »Vorbilder«115 betont der George-Anhänger Friedrich Gundolf zeitgemäß, wie wichtig es sei, »heroen wachzuhalten, sie umzusetzen in eigenes dasein und die strahlung die sie von ihnen empfangen in neues gebild zu verwandeln«116. Maßstab der Umbildung von Vorbildern sei dabei nicht die Wahrheit im Sinne eines »reliquienkult[s]«117, sondern ihre Akkommodation an die Wirklichkeit. In der Neugestaltung der Heroen und in der Entdeckung ihrer »mitwirkende[n] gegenwart«118 liege die Transformationsleistung des Rezipienten. Diese vorbildhaften Figuren sind v.a. wegen ihrer einflussmächtigen Funktion für Gundolf von Interesse, aber auch aufgrund ihres Normierungscharakters. Dass abstrakte Denkfiguren, insbesondere Normen, einer personalen Inkorporierung bedürfen, dass Vorbilder Repräsentationen von Ideen, »unmittelbare Leiber der ewigen Gesetze«119 sind, ist eine grundlegende Einsicht Gundolfs: Denn ideen, gesetze, pflichten, selbst gottheit an sich, frei schwebend, gibt es nicht: nur in menschen sind sie wirklich, in menschen welche sie schaffen und in menschen welche sie empfangen und tragen. Der grosse mensch ist die höchste form unter der wir das göttliche erleben: alle grössten Gedanken sind nur in menschen, durch menschen aus menschen.120

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F. Gundolf, Vorbilder. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung, 3, 1912 [1911], S. 1–20, S. 3. Lang hebt die Propheten-Begeisterung um 1900 hervor und verweist u.a. auf Bernhard Duhm, der in den Propheten epochemachende Persönlichkeiten sieht (vgl. Lang, Prophet, Priester und Virtuose, S. 166–167). Der Religionsphilosoph Otto Pfleiderer nennt vier Typen des heiligen Menschen: Priester, Prophet, Asket und Heros. Der Theologe Wilhelm Bousset stellt in das Wesen der Religion (1903) den Propheten, Priester und Asketen ins Zentrum seiner Darstellung (vgl. Lang, Prophet, Priester und Virtuose, S. 168). K. Schmid, Klassische und nachklassische Deutungen der alttestamentarischen Prophetie, S. 227. Vgl. F. Gundolf, Vorbilder. F. Gundolf, Vorbilder, S. 2. F. Gundolf, Vorbilder, S. 2. F. Gundolf, Vorbilder, S. 2. F. Gundolf, Dichter und Helden, S. 46. F. Gundolf, Vorbilder, S. 2f.

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Vorbilder sind demnach Vermittler des Göttlichen wie die Propheten oder der Heros, wie Gundolf auch in seinem Aufsatz »Dichter und Helden« (1912) festhält: Nur als Gestalten nehmen wir Göttliches wahr: Gesetze sind schon Deutung und die Gestalt schlechthin ist der große Mensch. […] Heldenverehrung ist nur die deutlichste Form des Glaubens, daß die Menschen in verschiedenen Graden gotthaft sind und der Heros ist die deutlichste Gewähr für die Göttlichkeit der Menschenwelt.121

Die Verehrung des Heros ist deswegen »entweder religiös oder sie ist wertlos«122. Den aktiven Part im Austausch zwischen Vorbildern und Rezipienten gesteht Gundolf den Vorbildern zu, wenngleich diese in der Rezeption ebenfalls transformiert würden. Diese Wechselwirkung macht für ihn den Prozess der Geschichte aus: Aber sie wollen wirken, d.h. sie müssen verwandeln, und indem sie uns umbilden, die empfänger ihrer strahlen und samen, bilden sie sich selber um, ›gestaltend umgestaltet‹. Nichts andres ist die geschichte: die wechselwirkung der schöpferischen und der empfänglichen menschen.123

Das Geschichtsverständnis Schelers rekurriert ebenfalls auf die »Geschichte der Vorbilder«124, denn Veränderungen in Normen- und Gesetzessystemen seien auf den Wechsel konkreter Vorbilder zurückzuführen. Wenn die Seele aller Geschichte nicht ist das wirkliche Geschehen, sondern die Geschichte der Ideale, Wertsysteme, Normen, Ethosformen, an denen Menschen sich und ihr praktisches Wissen messen – so, daß uns auch erst diese Seele der Geschichte die wirkliche Geschichte voll verstehen lehrt –, so ist die Geschichte der Vorbilder, ihr Ursprung und ihre Umbildung, wieder der eigentliche Kern dieser Seele der Geschichte.125

Allgemeingültige »Sinnbilder« verkörpern für Gundolf näherhin etwas Gesamtmenschliches und Überindividuelles; sie sind ein symbolischer Ausdruck, »schöpferische mittelpunkte von zeitaltern und kulturen«126, geradezu Sinnpunktionen, »archimedische Punkt[e]«127. Sie schaffen ferner Gebilde oder Taten, sie sind Bildner oder Täter, Dichter oder Helden: In Alexander, Caesar und Napoleon sieht Gundolf die drei »kosmischen Helden«128, in Dante, Shakespeare und Goethe die drei »kosmischen Dichter«129,130 in Buddha, Christus und Mohammed exemplarische

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F. Gundolf, Dichter und Helden, S. 45. F. Gundolf, Vorbilder, S. 5. F. Gundolf, Vorbilder, S. 3. Scheler, Vorbilder und Führer. In: Schriften aus dem Nachlass, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage mit einem Anhang, hg. von Maria Scheler, Bern 1957, S. 255–344, S. 268. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 268. F. Gundolf, Das Bild Georges. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung, 1, 1910, S. 19–48, S. 19. F. Gundolf, Stefan George in unserer Zeit, S. 63. F. Gundolf, Dichter und Helden, S. 51; vgl. F. Gundolf, Vorbilder, S. 9. F. Gundolf, Dichter und Helden, S. 52. Vgl. F. Gundolf: »Wie Dante das gesetz Gottes, Shakespeare die unmittelbare wirklichkeit,

Leidens- und Lehrbilder.131 Ein »Sinnbild« ist nach Gundolf ferner eine exemplarische Figur, die auch gerade »im pathos und in der haltung eines dichters«132 dessen Exzeptionalität anzeigt und die zugleich Zerstörer des Alten und Erfüller des Neuen ist.133 »Sinnbilder« sind Medien und ›Fleischwerdungen‹ des werdenden, bewegten Lebens, aber auch geistig-aktive Former. Die Nobilitierung eines Zeitalters geschehe schließlich durch »seine richter, propheten und täter, durch die bewahrer des ewigen feuers, durch diejenigen welche die höchsten forderungen stellen, die unerbittlichen gesetzlichkeiten und maasse [sic!] des menschlichen vorhalten, aus der not der fülle, nicht aus ihrem genuss heraus reden«134. Ein solcher vorbildhafter Zeitgenosse in der Sicht Gundolfs ist natürlich Stefan George, der seiner wertlosen Zeit »eine neue gestalt und ein schöpferisches pathos«135 entgegenstellt, und zwar »durch die macht seines wortes, seines glaubens und seiner liebe«136. Seine »prophetische kraft, das gefühl der sendung und das wissen um die wirklichkeit seiner gesichte«137 finden ihren Ausdruck in der göttlichen Neubelebung der kosmischen Sprache, denn »nur wer den Gehalt der Sprache erneuert verdient den Namen des Dichters, oder des Profeten«138. Und diese kosmische Sprache zeichnet sich u.a. durch eine Verdichtung von werthaltigen Vorbildern aus, wie dies Gundolfs Kennzeichnung von Georges Sprache nahelegt: Sprachgestaltung gehobnen Menschentums, Verherrlichung der irdisch sichtbaren, leibhaften Götterkräfte, Verewigung des fruchtbaren Augenblicks, Anbetung wandelloser, im heroischen, tragischen und schönen Menschen verkörperter Werte, Bändigung des Chaos durch das seelenhaltige Wort, rhythmischer Ausdruck kosmischer Erschütterungen und Darstellung des Menschen als des Maßes der Welt.139

Wie ein »kunstwerk überhaupt träger ausserkünstlerischer, kosmischer werte sein kann«140, erörtert Gundolf in seiner Besprechung von Ludwig Klages’ mystischer Position. Der Dichter »muss« zunächst »augenblicke der entrückung«141, Offenbarungen der Allkräfte oder Götter erfahren, da er das »menschliche medium worin

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so hat Goethe die vermittelte wirklichkeit im menschen geformt: drei befreier dadurch dass sie gestalter waren. Was bloss stoff war haben sie begeistert, was bloss geist war haben sie beleibt« (F. Gundolf, Vorbilder, S. 20). Vgl. F. Gundolf, Dichter und Helden, S.  48. Unter dem Begriff »kosmisch« versteht Gundolf die Lebenskräfte des exemplarischen Menschen, die den Ausdruck des Weltganzen und Kosmos ermöglichen (F. Gundolf, Dichter und Helden, S. 51f.). F. Gundolf, Das Bild Georges, S. 19. Vgl. F. Gundolf, Dichter und Helden, S. 53. F. Gundolf, Das Bild Georges, S. 21. F. Gundolf, Das Bild Georges, S. 21. F. Gundolf, Das Bild Georges, S. 21. F. Gundolf, Das Bild Georges, S. 35. F. Gundolf, Stefan George in unserer Zeit, S. 66. F. Gundolf, Stefan George in unserer Zeit, S. 73. F. Gundolf, Das Bild Georges, S. 24. F. Gundolf, Das Bild Georges, S. 25.

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allkräfte sich verlautbaren«142, ist143 – wie Klages es richtig erkenne –, im Anschluss sei aber – das sieht Gundolf in George verwirklicht – eine Gestaltung, Durchformung und Organisation vonnöten, die der Dichter-Prophet leiste, indem er weitere Vorbilder einsetze und mit Werten verbinde. Entsprechend Georges prophetischem Anspruch beschränke sich sein Erneuerungswille nicht allein auf den Bereich des Ästhetischen, sondern sei ebenso von einem sozialen Impetus gespeist, denn sein Wort dränge zur Tat,144 wie das des »Seher[s]«145 und »Täter[s]«146: »das machtgefühl [reicht] von der formung eines verses bis zu der einer neuen jugend«147. Denn er verkörpere eine »Werthaltigkeit«148 im Gegensatz zu profanen »Abbilder[n]«149 und halte »den Gedanken wach daß es ewiges Gesetz, ewige Werte, ewiges Wesen«150 gebe, also überzeitliche Konstanten. George gilt Gundolf damit letztlich auch als Überwinder Caesars, Goethes und Nietzsches.151 Verblüffend ähnlich wie Gundolf analysiert Max Scheler das Phänomen der »Vorbilder« und vertieft dieses im Gegensatz zur anderen, seinerzeit vieldiskutierten Macht des »Führers«.152 Denn Scheler diagnostiziert eine lebendige »Sehnsucht nach Führerschaft« mit Blick auf »die zahllosen neuen ›Gemeinschaften‹, ›Kreise‹, ›Orden‹, ›Sekten‹, ›Schulen‹, die mit einem Male in unserem Lande für alle Arten von Lebensinteressen emporgetaucht sind, jede mit ihrem besonderen ›Heiland‹, ›Propheten‹, ›Weltverbesserer‹ in der Mitte, jede mit hohen Ansprüchen aller Art,

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F. Gundolf, Das Bild Georges, S. 25. Am Beispiel der Gundolf-Korrektur von Klages ›mystischer‹ Interpretation Georges ist einsehbar, wie selbst die ›Jünger‹ Georges untereinander ihre kunstreligiösen Fundamente sondieren und feine Unterschiede herauspräparieren, denn nach Gundolf unterscheidet sich der Dichter zwar nicht im Erlebnis des Kosmischen vom Mystiker, aber in seiner Formung: »Hier waltet nicht bloss ein persönliches missverständnis, sondern ein typisches, das überall statthat, wo ein mystiker, von den mystischen werten der dichtung angezogen, einen dichter deuten will. Mystik im weitesten sinn ist der versuch, durch vernichtung oder verwandlung die bedingtheit der einmaligen form los zu werden: kunst die aufgabe, das wesen in form zu fassen. Die künstlerische anlage ist, wie Klages selbst sagt, ›bauendes müssen‹. Aber der dichter legt den ton auf ›bauen‹, der mystiker auf ›müssen‹« (F. Gundolf, Das Bild Georges, S. 27). Vgl. F. Gundolf, Stefan George in unserer Zeit, S. 74. F. Gundolf, Dichter und Helden, S. 47. F. Gundolf, Dichter und Helden, S. 47. F. Gundolf, Das Bild Georges, S. 35. F. Gundolf, Stefan George in unserer Zeit, S. 64. F. Gundolf, Stefan George in unserer Zeit, S. 64. F. Gundolf, Stefan George in unserer Zeit, S. 61. Vgl. F. Gundolf, Stefan George in unserer Zeit, S. 64. Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens, S.  156. Die Vorbildwirksamkeit ist nach Scheler »dunkel, geheimnisvoll« (Scheler, Vorbilder und Führer, S. 258), denn das Verhältnis von Vorbild und Nachbild beruhe nicht auf einem Bewusstseinsverhältnis (wie bei der Führerschaft und der Gefolgschaft), es sei vielmehr idealer Natur (vgl. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 259).

die Welt zu bessern und zu bekehren«153. Als Beispiel hierfür dient ihm der GeorgeKreis, der für ihn das Paradebeispiel für eine »gnostischen Sekte«154 ist. Im Gegensatz zum »marxistischen astronomischen Sozialismus« plädiert er für einen »prophetischen christlichen Sozialismus«.155 Interessanterweise ist sein Vorbild-Konzept indes ganz ähnlich aufgebaut wie dasjenige Gundolfs. Im Gegensatz zu einem realen, soziologischen Verhältnis könnten Caesar, Sokrates, Jesus Christus oder eine literarische Figur wie Faust oder allgemein Götter und Dämonen zum Vorbild werden, da sie nicht gegenwärtig sein müssten.156 Während man vom »Führer« wertneutral spreche, sei ein Vorbild »seinem immanenten Sinne gemäß stets auch ein Wertbegriff«157. Jeder erachtet sein Vorbild, indem er es hat und ihm folgt, auch als das Gute, Vollkommene, Seinsollende. Irgendeine Art der Liebe und des positiven Werthaltens, im religiösen, moralischen, ästhetischen Sinne, verbindet jede Seele mit ihrem Vorbild – immer eine heiße, affektive Beziehung.158

Die Besonderheit des Vorbild-Begriffs liegt für Scheler also in seiner Verschränkung mit dem Wertbegriff, der gleichzeitig eine wertneutrale Haltung zum Vorbild ausschließt, worin er sich mit Gundolf einig ist. Die notwendige emotional-affekive Bezugnahme zum Vorbild ist ferner entscheidend: Wird durch die affektive Beziehung der Liebe ein Vorbild wirksam, entsteht durch den Hass auf eine personale Wertgestalt ein »Gegenbild«159. Die George-Verehrung und seine Schmähungen führt Gundolf – passgenau zu Schelers Ausführungen – auf dessen Vorbildcharakter zurück,160 da man ihn »nicht lieben kann, ohne ein neues Maaß von Gut und Bös«161 zu entwickeln. Dass Georges vieldiskutierter pädagogischer Eros dazu beitragen mag, kann man sich hinzudenken. Die Auseinandersetzung mit einem Vorbild ist geradezu eine ›Herzenssache‹.162 Wertideen sind nach Schelers Worten ferner a priori, geschichtsunabhängig vorhanden, ebenso wie Personenideen, bedürfen aber der Materialisation, denn ein Wert braucht ein ›Gesicht‹ oder eine »Gestalt«163, um einen »Gesamtwerteindruck«164 abzugeben: Die Ideen des Heiligen, des Genius (Weisen), des Helden, des führenden Geistes der Zivilisation und des Künstlers des Genusses. Diese Vorbildideen sind ausschließlich gebildet erstens aus der Idee der Person, und zweitens aus jenen grundlegenden Wertideen. […]

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Scheler, Vorbilder und Führer, S. 257. Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens, S. 156. Dierse, Glei u. Lessing, Art. Prophetie, Sp. 1480. Vgl. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 259. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 262. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 262. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 267. Vgl. F. Gundolf, Stefan George in unserer Zeit, S. 64. F. Gundolf, Stefan George in unserer Zeit, S. 65. Vgl. F. Gundolf, Vorbilder, S. 5. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 273. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 273.

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Andererseits werden erst die Vorbildmodelle in Verbindung mit dem empirischen Stoff geschichtlicher Menschen zu wirkkräftigen Vorbildern. In jedem Vorbild steckt ein empirisches und ein apriorisches Moment, ein Seiendes und ein Seinsollendes, eine Bild- und eine Wertkomponente.165

Gundolf geht – wie gesagt – ebenfalls von der Notwendigkeit einer Inkorporierung der Wertideen aus,166 denn die Grundfesten des Heldenglaubens sind von drei Komponenten abhängig: erstens von der Existenz von Ewigmenschlichem, zweitens von allgültigen Maßen und drittens von Menschen, die diese Maße verkörpern: »Nur in Menschen verkörpern sich Ideen (auch die Idee Gott).«167 Anschauliche Vorbilder wirken nach Scheler ferner auf die Seele gestaltend ein, da sie Wertungen ermöglichen und eine »Gesinnung«168 erzeugen. Die Werte und Ideale sind nur in Form personaler Vorbilder für Handlungen richtungweisend: »Nicht abstrakte Sittenregeln allgemeingültiger Art wirken auf die Seele formend, gestaltend, sondern immer nur anschauliche Vorbilder.«169 Die Radikalität dieser These muss man nicht uneingeschränkt teilen, doch ist es zumindest einleuchtend, dass eine personale Codierung den Wert einer Norm steigern mag. Konkrete Vorbilder, empirische Menschen mit Vorbildcharakter, sind darüber hinaus an den Vorbildmodellen zu messen.170 Denn jeder Mensch rezipiert mehrere Vorbilder. Der Einzelne arbeitet sich an einer »Pyramide von sich übersteigernden personalen Vorbildern«171 ab. Wichtig am Vorbild-Begriff im Sinne Gundolfs und Schelers sind also vier Komponenten, die in eins gesetzt ein Vorbild ergeben: Erstens eine Person, d.h. die Anschaulichkeit des Vorbilds, zweitens ein Wert, der darauf aufbauend eine gemeinschaftsstiftende Funktion entwickeln kann, drittens ein emotionaler Radius, den die Vorbild-Figur durch ihre Rezeption entwickelt und wodurch sie den Spielraum des Handelns prägt, und schließlich sind viertens Veränderungen in Normen- und Gesetzessystemen rückführbar auf den Wechsel konkreter Vorbilder. Vorbilder können des Weiteren historische, reale Figuren sein (Caesar u.a.), aber auch überzeitliche Typen (der Heilige, der Held u.a.), die zudem kombinierbar sind. Den religiösen Vorbildern wird eine herausragende Stellung zugedacht, denn sie bilden die »Hauptart aller ›charismatischen Herrschaft‹«172, so dass »alle anderen Vorbildtypen, vom Genius und Held bis zu den wirtschaftlichen Führern hinunter […] von den herrschenden religiösen Vorbildern direkt oder indirekt abhängig«173 sind. Dieser spezifische Vor-

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Scheler, Vorbilder und Führer, S. 262. Vgl. F. Gundolf, Vorbilder, S. 8. F. Gundolf, Dichter und Helden, S. 47. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 267. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 263. Vgl. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 269. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 270. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 277. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 277.

rang der Religion vor der Kunst174 räumt einem religiösen Vorbild wie dem Propheten175 eine Vorrangstellung vor dem Künstler ein: »Sein und Werk des Heiligen sind ihrem Wesen nach ›ewig‹, und darum überzeitlich; und nur die Werte des Heiligen dürfen in strenger Sprache ›ewige Werte‹ heißen. Das Werk des Genius dagegen hat einen ›Ursprung‹ in die Zeit hinein.«176 Dieser Umstand mag erklären, warum Dichter-Propheten ihren Status durch eine inszenierte Heiligung oder Heroisierung ihrer selbst als Träger überzeitlicher Werte erhöhen. Der Dichter-Prophet wäre eine (inszenierte) »Zwischenerscheinung« zwischen Genius und Heiligem177 – aber auch zwischen Genius und Helden, wenn er als »Machtmensch«178 konzipiert ist. Diese Vorbild-Analysen befördern damit auch ein spezifisches Kunstverständnis179 und werfen ein Licht auf Inszenierungsmöglichkeiten von literarischen Leitfiguren und Vorbildern wie den Dichter-Propheten und deren Veranschaulichungscharakter als ›leibhaftige‹ Norm. Auch auf die Macht der Mythen und Dichter weist Scheler ausdrücklich hin: »Was heute Massenerlebnis ist, allgemeine Form des Erlebens, hat einst ein Dichter mühsam seiner Seele abgerungen«180, denn der Sänger und Dichter modelliert die Vorbilder immer wieder neu, »vermischt seine Seele mit den in der Tradition bereitliegenden Gestalten, nährt sie mit seinem Lebenssaft«181. Auf diese Weise können literarische Figuren wie der Held zu Leitfiguren des Handelns im Medium der Literatur werden, denn: »Der Held lebt weiter […] im Bilde der Phantasie, des Mythos, des Sanges, der Dichtung. Aber nicht durch Bericht, sondern spürbar, fühlbar.«182 Die Kunst befördert schließlich eine doppelte Veranschaulichung von Leitbildern durch die Darstellung personalisierter Werte. Propheten-Dichter setzen oftmals negative Leitfiguren, meistens falsche Propheten inszenierend zur Vorbildvernichtung ein, da diese (gemäß Scheler) eine ablehnende emotionale Haltung auslösen können. Negative Leitfiguren sind oftmals stigmatisiert, da ihnen ein positiver Wert fehlt oder abgesprochen wird: Begleitet werden diese Gegenbilder durch Ironisierung oder Dämonisierung oder den Hinweis auf eine Ergänzungsnotwendigkeit durch die korrigierende Zuschreibung eines Wert-Zusatzes. Während die Inszenierung negativer Leitfiguren eine Vorbildvernichtung anstrebt, ist die Inszenierung positiver Leitfiguren darauf aus, eine Vorbild-Figur mit einem emotional besetzbaren Wert zu etablieren. Das Charisma, das den negativen Leitfigu-

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Vgl. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 277. Vgl. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 277. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 297. Als eine solche »Zwischenerscheinung« erkennt Scheler Sokrates (Scheler, Vorbilder und Führer, S. 277). Scheler, Vorbilder und Führer, S. 313. Das unheimliche, eher unbewusste Einwirken des Vorbilds auf den Menschen ist interessanterweise am ehesten dem künstlerischen Schaffen und seiner Abhängigkeit von Gesetzen vergleichbar (vgl. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 267). Scheler, Vorbilder und Führer, S. 337. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 273. Scheler, Vorbilder und Führer, S. 339.

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ren abgesprochen wird, eignet sich der Dichter-Seher oftmals durch ihre typologische ›Vollendung‹ an, so wie gemäß einem typologischen Geschichtsverständnis gegenwärtige und zukünftige Ereignisse als gesteigerte Erfüllung biblischer Präfigurationen wie vorgängiger Propheten zu werten sind. Nicht zufällig wären dann prophetische Reflexionsfiguren wie Georges Maximin oder Trakls Elis, auch wenn letzterem keine explizite Norm zugeschrieben wird, als Ausdrücke eines Akts der ›Verleiblichung‹ von Seiten des Dichter-Propheten zu verstehen. Die Aufgabe der Kunst im Blick auf Vorbilder kann man vornehmlich darin sehen, identitäts- und gemeinschaftsstiftende Leitfiguren oder ›Feindbilder‹ zu etablieren. Literatur ist auch ein geeignetes Medium, um anerkannte Leitfiguren zu demontieren. Darüber hinaus kann sie fi ktionale Leitfiguren ausbilden, die wiederum auf die Wirklichkeit Einfluss nehmen oder diesen Einfluss als Gegenbilder behindern können. Jauß geht insbesondere im Zusammenhang mit der »admirativen Identifi kation«183 auf die Stiftung »kollektiver Erinnerung« und Identität durch vorbildliche Heldenfiguren im Medium der Literatur ein: Bei der Konstituierung der kollektiven Erinnerung religiöser Gruppen oder sozialer Klassen kommt der Vorbild-Reihe eine oft unterschätzte Bedeutung zu. Sie dient in Genealogien der Verherrlichung, Bewahrung und Vermittlung des Tatenruhms der Ahnen. Sie fordert in religiösen Gemeinschaften zur Nachahmung der Glaubenshelden und Märtyrern auf. Sie vergegenwärtigt die Vergangenheit der ganzen Menschheit in Galerien glanzvoller Gestalten, von volkstümlich heroisierter Figurationen wie den Nine Worthies bis hin zu den zahlreichen Reihen berühmter Sünder, Büßender und Seliger, mit denen Dante in einer gigantischen Kanonbildung die antike und christliche wie zeitgenössische Geschichte personalisiert abgebildet und zum dauernden Mahnmal erhoben hat. Und sie legitimiert selbst noch die größten revolutionären Aktionen, wenn auf den Nullpunkt der neubegonnenen Geschichte die Phase der Konsolidierung der revolutionären Bewegung folgt, die sich über eigene Märtyrer, frühere Wegbereiter und ferne Vorbilder schrittweise wieder der zuvor negierten Vergangenheit als des ihr nunmehr zufallenden ›Erbes‹ bemächtigt.184

Vornehmlich der George-Kreis interessiert sich für Vorbilder, auf eben die Weise, wie sie Gundolf und Scheler beschreiben. Laut Scheler helfen kollektive Vorbilder dabei, Gruppen zu konstituieren, indem sie sie geistig legitimieren. Im George-Kreis wird eindrucksvoll eine kollektive Identität über gemeinsame Vorbilder wie etwa Hölderlin, Dante oder Caesar geschaffen. Es ist nachvollziehbar, dass eine gemeinsame Ausrichtung auf negative Leitfiguren eine Gruppe zusammenschweißt. Die politische

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Ein wichtiges Identifikationsmodell ist die »admirative Identifikation«, die angesichts vollkommener Helden- und Heiligenfiguren wirksam wird. Hans Robert Jauß nennt die Bewunderung einen »ästhetischen Affekt […], der zum Anerkennen und Übernehmen von Vorbildern und Mustern disponiert« ( Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Bd. 1: Versuche im Feld der ästhetischen Erfahrung, München 1991, S. 265, vgl. S. 231ff.). Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, S. 234. Als Beispiel für eine Verdichtung von Geschichte nennt Jauß auch alttestamentliche Gestalten ( Josua, David und Judas Maccabäus) (vgl. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik).

und soziale Funktion negativer Leitfiguren ist insbesondere darin zu sehen, negative Emotionen wie Aggressionen innerhalb einer Gruppe zu bündeln und kanalisierend abzubauen, um die Gruppendynamik zu stabilisieren. Da sich eine ablehnende Haltung nach Gundolf und Scheler nicht gegen Begrifflichkeiten und abstrakte Vorstellungen richten kann, müssen Feindbilder aufgestellt und inszeniert werden, und dies kann im Rahmen einer Vorbild-/Feindbild-Verdichtung geleistet werden. So altmodisch die Begrifflichkeit ›Vorbild‹ wirken mag und so sehr die Vorbilder-Theorien Gundolfs und Schelers am Zeitgeist des George-Kreises partizipieren, so erhellend sind sie doch für eine typische Propheten-Dichter-Inszenierung um die Jahrhundertwende. Denn insbesondere George ist ein gutes Beispiel für einen Dichter-Propheten, der Normierungsprozesse über Vorbild-Verdichtungen steuert; dabei sind auch seine eigenen emotionalen Bindungen an Vorbilder erkennbar, v.a. aber die Tendenz, dass Vorbild-Verdichtungen auch zu Wert-Abstraktionen tendieren können, da sie letztlich nur Kopien oder Abbilder der Originale sind. Die Vielzahl der Vorbilder im George-Kreis mag ihre reduktionistische Rezeption in Gedichtform vielleicht erklären. In Georges Vorbild-Gedichten ist zudem – wie im folgenden Kapitel ausgeführt – häufig zu beobachten, dass das personale Element, das ›Angesicht‹ des vormaligen Vorbilds geradezu durch eine abstrakte Wertsetzung eskamotiert wird, die Kopie das Original entstellt, und dadurch das entleerte Bild des Vorbilds und dessen Wert-Neubesetzung auf ein außenstehendes Vorbild, nämlich George, verweist. Als problematisch erweist sich dabei, dass die Entpersonalisierung von Vorbildern mit einer Zunahme an abstrakten Formeln und Werten einhergeht, die ohne Sättigung, im radikalsten Fall also nach Georges Ableben und dem Entzug seines Vorbilds, gesichtslos und leer keine Werte mehr vermitteln und nicht mehr zum Handeln anleiten können. Damit ist auch der Weg zu einer »administrativen Identifi kation«185 im Sinne von Jauß verbaut. Vorbilder-Verdichtungen im Verbund mit einem performativen Anspruch können also auch den Dichter-Seher entleeren, wenn er die explizite Zuschreibung eines ›Gesichts‹ verweigert oder nicht mehr bieten will oder kann. Dann führt eine Inszenierung des Dichter-Sehers zum Vorbild zu einer Entpragmatisierung von Normen und Vorbildern. Irritierend ist dabei nicht so sehr, dass keine konkreten oder anschaulichen Normen mehr gesetzt werden – dann bleibt eben »zucht wiederum zucht«186 –, sondern vielmehr, dass überhaupt noch entstellte Vorbilder literarisiert vorgeführt werden, die einen Gestus der Normierung ausstrahlen, der auf manche unfreiwillig tragisch-komisch wirken kann, weil offensichtlich dann eine verfehlte Normeinschreibung inszeniert wird, wenn dem Sinnbild die Gestalt oder das Gesicht fehlt.

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Vgl. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, S. 231ff. George, Der Dichter in Zeiten der Wirren. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 35–39, S. 39.

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IV. Thomas Mann und Stefan George: Zwischen Prophetie und Parodie

Kein rückwärts schauender Prophet, Geblendet durch unfaßliche Idole, Modern sei der Poet, Modern vom Scheitel bis zur Sohle.1

So geißelt der naturalistische Dichter Arno Holz in seinem Buch der Zeit (1885) das Propheten-Autorschaftskonzept, für das Stefan George alias »Apollonius Golgatha«2 später oftmals als repräsentativer Kronzeuge einsteht. Modern sei es nach Holz, sich dem wirklichen Leben zuzuwenden, sich mit naturwissenschaftlichen Theorien der Zeit auseinanderzusetzen und sich als Dichter vornehmlich Thematiken wie der Großstadt oder dem sozialen Elend zu widmen. Unzeitgemäß sei es hingegen, als Historiker aufzutreten. Das impliziert seine Aufnahme von Schlegels Diktum vom Historiker als »rückwärts gekehrte[m] Prophet[en]«3. Unkritisch

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A. Holz, Programm. In: Holz, Buch der Zeit. In: Das Werk von Arno Holz. Erste Ausgabe mit Einführungen von Dr. Hans W. Fischer, Bd. 1, Berlin 1924, S. 128. Als »Apollonius Golgatha«, als pseudoreligiöse Heilbringerfigur und als hermaphroditischen décadent schmäht Holz George gezielt in seiner 1902 erschienenen Kollegenschelte Blechschmiede. Mit diesem ausufernden Werk, das großteils als polemische Abrechnung mit führenden Lyrikern seiner Zeit – angefangen bei George über Rilke, Hofmannsthal, Hauptmann, Mombert, Däubler bis hin zu Dehmel – gelesen werden kann, führt Holz parodistischen Zuges die Tradition der Goetheschen Farce Götter, Helden und Wieland von 1774 fort (vgl. Holz, Die Blechschmiede. In: Das Werk von Arno Holz. Erste Ausgabe mit Einführungen von Dr. Hans W. Fischer, Bd. 3–4, Berlin 1924; vgl. Bodo Würffel, Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978, S. 172f.; vgl. Burkhard Seubert, »Die Blechschmiede« von Arno Holz. Ein Beitrag zur Geschichte der satirischen Dichtung, München 1954, S. 45f.). Wie einst Goethe Wieland und dessen Singspiel Alceste bloßstellt, so nimmt Holz den Lyrikstil des jungen George aufs Korn. Apollonios von Tyana (40–120) gilt als ein in der pythagoreischen Tradition stehender Philosoph, Wunderheiler, christusähnlicher Heilsbringer und Ritualkenner. Kritiker versuchten ihn als Magier, Scharlatan und Antichrist zu desavouieren; Verehrer adelten ihn hingegen als Gegenfigur zu Christus. In seiner 1799 erschienenen novellenartigen Erzählung »Agathodämon« verarbeitet Wieland diesen Apollonios-Stoff ; auch in der modernen Theosophie findet Apollonios als Weisheitslehrer Beachtung. Vgl. Holzens ironische Brandmarkung religiös überhöhter Figuren: »Denn stets beleidigt meine Phantasie ein Marmorchristus mit verrenkten Knochen […]« (Holz, Zwielichtstimmung. In: Buch der Zeit, S. 226–228, S. 226). Vgl. F. Schlegel, 80. Athenäumsfragment. In: Schlegel, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner, München;

verehrte Ideale, also Idole, benennt Holz als Hemmschuh des Dichters und meint damit einen spezifischen Hang zum Epigonentum. Sein Programm des modernen Poeten führt er somit über die Negierung eines Konkurrenzmodells ein, welches es zu überwinden gelte. Mit Blick auf den Attraktivitätsradius konkurrierender Autorschaftsbilder überwindet allerdings der Dichter-Prophet George’scher Provenienz den – wenn auch vom Scheitel bis zur Sohle – modernen Poeten à la Holz. Als eine Antwort auf das Experiment des Naturalismus, die Wirklichkeit möglichst exakt abzubilden, in Korrelation zum dementsprechend häufig gepflegten Image des Dichters als Wissenschaftlers und Journalisten4, sind in der modernen Lyrik Tendenzen zur Hermetik, Verrätselung und Aphasie konstatiert worden, die gerade dadurch eine neue Mimesis als adäquate Darstellung unverständlich gewordener Realität ermöglichen würden.5 Das geeignete Pendant zur hermetischen wie zur avantgardistischen Kunstproduktion als Autorschaftsbild ist der poeta vates oder der Dichter-Prophet. Gerade die Annäherung an ein prophetisches Kunstverständnis im Verbund mit rückwärtsgewandter Blickrichtung auf einstmalige Heroen dominiert insbesondere das Selbstbild eines Künstlers wie Stefan George. Mit der ProphetenFigur als Reflexionsbasis des Dichters und prophetischer Ausdrucksweisen wird das Konzept einer heiligen Autorschaft virulent, als dessen integraler Bestandteil sich Idole in ihrer Funktion als Vorbilder erweisen; damit einhergehend gewinnen auch Götter und Helden wieder an Bedeutung. Dass eine typische Dichter-ProphetenInszenierung mit einer großflächigen und ambivalenten Verehrung von Vorbildern (Idolen) einhergeht, wie es Holz kritisch hervorhebt, kann tatsächlich als ein Aspekt der George’schen Selbstvermarktungsstrategie hervorgehoben werden: Überbordende und genealogisch komplex angelegte Vorbilder-Ahnengalerien sind bevorzugte Instrumente Georges, um das seinerzeit beliebte Konstrukt des auserwählten und heiligen Dichters zu stabilisieren. Anders gesagt dienen ihm etablierte ›Marken‹ als Fundus für die Kreation einer neuen ›Marke‹, des neuen Propheten-Dichters. Seine dabei durchscheinende Überbietungsgeste gegenüber vorgängigen Vorbildern, als deren Vollender er sich begreift, ist ein spezieller Teil seiner Selbstauratisierung, die u.a. sein Streben nach Exzeptionalität auf dem ästhetischen ›Markt‹ anzeigt. Die Komplexe heilige Autorschaft und Vorbildverehrung respektive Vorbildvernichtung sind im Zusammenhang aufschlussreich, zumal sie ein spezifisches Bedürfnis der Zeitgenossen zu befriedigen scheinen. Der George-Anhänger Salin erläutert die

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Paderborn; Wien; Zürich 1958ff., Abt. 1, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hg. und eingeleitet von Hans Eichner, München; Paderborn; Wien; Zürich 1967, S. 176. Nach Marx stellen diese Rollenbilder den Dichter indes nur »in die zweite Reihe« (Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 109). Vgl. zu diesen Thesen zusammenfassend: Wunberg, Jahrhundertwende, S. 46–54. Im Konzept der Wunberg-Schule, so kann kritisch angemerkt merken, wird teilweise allerdings einer Art »prästabilierter Harmonie« von chaotischer Dichtung und chaotischer Welt das Wort geredet und die gegenläufigen Versuche sublimierter Neuordnungen werden nicht zusätzlich berücksichtigt.

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Sehnsucht nach ordnungstiftenden Vorbildern in seinem hagiographischen Werk Um Stefan George: In allen Zeiten, in denen sich das Denken verwirrt und vor tausend Ansichten und Meinungen das Wirkliche und Lebendige sich zu verflüchtigen droht, gab es nur einen einzigen Weg der Gesundung: den Blick auf das Feststehende zu richten, auf den offenbaren Gott und auf seine verbürgten Künder, den weltschaffenden Dichter und den welthaltigen Heros, den weltdeutenden Weisen und den weltbeschwörenden Priester.6

Der Dichter, der Heros, der Weise und der Priester werden in einem Atemzug als Gotteskünder und stabilisierende Führungspersonen gepriesen, da sie feststehende Leitlinien verkörpern. George war für Salin ein solcher Dichter-Priester, dessen Worte und Werte ihm Heil in einer krisenhaften Zeit versprachen.7 Deswegen ist für ihn der George-Kreis »eine kleine Anzahl Einzelner mit bestimmter Haltung und Gesinnung, vereinigt durch die unwillkürliche Verehrung eines großen Menschen, und bestrebt der Idee die er ihnen verkörpert (nicht diktiert) schlicht, sachlich und ernsthaft durch ihr Alltagsleben und durch ihre öffentliche Leistung zu dienen«8. Georges Maskenspiel und seine reichhaltige Beschäftigung mit Vorbildern – um die Achse des Prophetischen gedreht – zeigen, dass Helden und Götter die dichtesten Bezugspunkte und Verbündeten des Dichter-Propheten sind. Dementsprechend liest man bei George, »dass auf erden / Kein herzog kein heiland wird der mit erstem hauch / Nicht saugt eine luft erfüllt mit profeten-musik / Dem um die wiege nicht zittert ein heldengesang«9. Denn »nicht ›von unten‹, aus den Aktivitäten politischer und gesellschaftlicher Kräfte, konnte nach George die Rettung erwachsen, sondern allein ›von oben‹ her, durch die Inkarnation des Heils in einem ›Heilbringer‹, durch die ›Zusammenballung kosmischer Kräfte‹ in einem Genius, der einer neuen Not das neue Heil bringen würde«10. In seinem religiösen Feld bildet George Vorbildketten zwischen Vorbildverehrung und »Einfluss-Angst« (Bloom). Sinnbilder und Leitfiguren werden bei ihm immer wieder literarisch eingesetzt, verdichtet und konzentriert, aber auch aufgelöst, transformiert und zersetzt. Ihre unterschiedliche literarische Aneignung gipfelt in einem typologischen Überbietungspathos. Sie werden schließlich in dem übergreifenden Vorbild, dem Dichter-Propheten (George) gebündelt. Dieser gibt dabei in der Rolle des Propheten vor, alle exklusiven Funktionen von Vorbildern zu übernehmen oder überholte Prädikate auszumustern. So kann er als Vorbild-Archiv für normative Werte, als Zeit- und Kunstkritiker sowie als Vollender der Geschichte der Heroen und Dichter-Prophet auftreten. Diese besondere Technik der genea-

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Edgar Salin, Um Stefan George, Godesberg 1948, S. 7. Vgl. zu Salins Charismatisierung Georges: Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 111. F. Gundolf, George, 2., unveränderteAuflage, Berlin 1921, S. 31. George, Da dein Gewitter o Donnrer die wolken zerreisst. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 18. Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 223; vgl. Edith Landmann, Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf; München 1963, S. 102.

logischen Vorbilderkombination, genauer eines von Verehrung und Angriffslust geprägten Inspurengehens verdient auch insofern Aufmerksamkeit, als sie nebenbei ein beliebtes Sujet von Dichter-Propheten-Parodien abgibt. Als parodistische Replik auf diese gängige Propheten-Inthronisation der Dichter um die Jahrhundertwende und als treffliches Zeitkolorit ist insbesondere Thomas Manns Erzählung »Beim Propheten« erhellend.11 Parodistischen Zuges zeigen sich in Manns kleiner Studie zahlreiche Inszenierungstechniken heiliger Autorschaft im Verbund mit aufgetürmten Vorbilderketten. Helden- und Vorbildverehrung und das Leitbild vom Dichter-Propheten bilden hierbei zwei Seiten einer Medaille. Georges Porträt als Prophet, sein Verhältnis zu Vorbildern, das passgenau zu Gundolfs und Schelers Vorbildverständnis ausgerichtet ist, kommt dabei zum Vorschein. Denn Georges Propheten-Dichter-Archiv rekurriert – wie gesagt – auf exklusive Vorbilder, die durch Wertsetzungen teilweise raffiniert, teilweise einfältig kombiniert sind und die zugleich ein produktives und destruktives Potential bergen: gegenüber den Vorgängern und gegenüber dem Nachfolger. Diese Vorliebe zum Dichter-Propheten als Vorbild-Archiv mit typologischer Verheißungsgeste prägt sowohl Georges Selbstverständnis als Prophet als auch seine innerliterarisch ausgestaltete Autorpoetik. Das museale Vorbild-Archiv verwandelt sich dabei allerdings zusehends zu einer Totenkammer, modern gesprochen zu einer seriellen Reproduktion von Kopien, die zuletzt dem Dichter-Propheten als eine Art ewige Ruhestätte dient.12 Eine detaillierte Nachzeichnung der überstrapazierten Vorbilderverehrung verdeutlicht die gefährliche Nähe prophetischer Dichter zur literarischen Implosion. Dabei zeigt sich der Umschlag von Prophetie in (unfreiwillige) Parodie: Zu viel Propheten-Pathos provoziert Parodien, wie Thomas Mann es kritisch vorführt. Doch führt dieser Umschlag nicht nur in eine Richtung: Manns Parodien auf das Dichter-Propheten-Pathos wirken ebenfalls selbstzerstörerisch, wenn sich die Parodie auf das Dichter-Propheten-Amt nicht vom Prophetischen selbst distanziert. Denn in diesem Fall besteht die Gefahr, unfreiwillige Propheten-Parodien zu multiplizieren, die in »Leerformen«13 münden und den als authentisch und sinnbildhaft konstruierten Dichter-Propheten auszuhöhlen drohen. Auch der Dichter-ProphetenKritiker Thomas Mann scheint (ungewollt) einer ›Überprophetisierung‹ der Dichtung zu erliegen. Den Zusammenhang von Prophetie und Parodie näher betrachtend wird deutlich, dass es tatsächlich keiner abgehobenen theoretischen Fundierung zum Tod des Autors bedarf, denn: »Innerhalb der Literatur der Moderne ist das Verschwinden des Autors selbst dort evident, wo er sich unter Rückgriff auf sakra-

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Vgl. Th. Mann, Beim Propheten. In: Mann, Sämtliche Erzählungen, Frankfurt am Main 1971, S. 286–293. Die bei der Marburger George-Ausstellung (13. März bis 31. August 2008) ausgestellten Köpfe aus dem George-Kreis stellen anschaulich das Ausmaß serieller Kopien des Meisters vor Augen (vgl. Ulrich Raulff u. Lutz Näfelt, Das geheime Deutschland. Eine Ausgrabung. Köpfe aus dem George-Kreis, Marbach am Neckar 2008 (Marbacher Magazin 121)). Würffel modifiziert leicht den Iser’schen Begriff »Leerstelle« und spricht bei George von »Leerformen« (Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 336).

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le Muster zu behaupten sucht.«14 Oder mit Adornos Worten gesprochen: »Auf die Gewalt, mit der er [George] den Zeitgenossen sein Bild eingraben wollte, antwortete eine nicht geringere des Vergessens: als triebe der mythische Wille seines Werkes, zu überleben, mythisch zu dessen eigenem Untergang.«15 IV.1.1. Thomas Manns Künstler-Prophet als (Ver-)Führer und ›Leerstelle‹ (»Beim Propheten«) Als Stimulans für parodistische Kollegenschelten sowie als Paradebeispiel für unfreiwillige Komik bot der relativ ironieresistente George16 offenbar reichlich Stoff. Das Münchner Umfeld um George mit den Vertretern Ludwig Derleth und den Kosmikern17 Alfred Schuler, Ludwig Klages und Karl Wolfskehl in »Wahnmoching«18 zu Beginn des 20. Jahrhunderts parodiert Thomas Mann berüchtigt in seiner Erzählung »Beim Propheten«19 von 1904, eine Auftragsarbeit für die Neue Freie Presse in Wien.20 Diese ist primär auf den radikal übersteigerten, militanten Katholizismus des Dichter-Pastoralen Ludwig Derleth (1870–1948) gemünzt, der ein zeitweiliger Jünger

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Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 120. Adorno, George [1967]. In: Adorno, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann u.a., Frankfurt am Main 1970–80, Bd. 11: Noten zur Literatur, Frankfurt am Main 1974, S. 523– 535, S. 524. Dass »Ironie« Georges »Schreibtemperament nicht zur Verfügung« stehe, hält Klaus Siblewski prägnant fest (K. Siblewski, »Diesmal winkt sicher das Friedensreich«. Über Stefan Georges Gedicht »Der Krieg«. In: Text + Kritik, 168, 2005: Stefan George, S. 19–34, S. 34). Vgl. zu deren Visionen: Franz Schonauer, Stefan George, Reinbek bei Hamburg 200010 [zuerst 1960], S. 75ff.; Richard Faber, Genii locorum. Schwabings neureligiöse »Kosmiker« zwischen Wilhelminismus und Faschismus. In: Mystique, mysticisme et modernité en Allemagne autour de 1900 = Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900, S. 149–164. Vgl. zu Schuler: Baal Müller, Alfred Schuler. Der letzte Römer. Neue Beiträge zur Münchner Kosmik. Reventlow, Schuler, Wolfskehl u.a., Amsterdam 2000; Gerhard Plumpe, Alfred Schuler und die »Kosmische Runde«. In: Frank, Gott im Exil, S. 212–256; Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik, S.  356f. Vgl. zu Schuler und Klages: B. Müller, Kosmik. Prozeßontologie und temporale Poetik bei Ludwig Klages und Alfred Schuler. Zur Philosophie und Dichtung der Schwabinger Kosmischen Runde, München 2007; Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S.  95ff.; Karlauf, Stefan George,  S.  312ff. Vgl. zu Klages: Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 135ff. Vgl. zu Wolfskehl: Blasberg, Was heißt Zeitgenossenschaft ? Karl Wolfskehls Antworten auf eine schwierige Frage. In: »O dürft ich Stimme sein, das Volk zu rütteln!« Leben und Werk von Karl Wolfskehl (1869–1948), hg. von Elke-Vera Kotowski u. Gert Mattenklott, Hildesheim 2007, S. 11–23; Blasberg, Karl Wolfskehl. In: Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts, hg. von Ursula Heukenkamp u. Peter Geist, Berlin 2007, S. 24–32; Jürgen Kolbe, Heller Zauber. Thomas Mann in München 1894–1933, Berlin 1987, S.  180f. Vgl. zu Derleth: Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 118ff.; Karlauf, Stefan George, S. 339f. Franziska Gräfin von Reventlow zitiert nach: Kolbe, Heller Zauber, S. 183. Vgl. zur Schwabinger Szene: Karlauf, Stefan George, S. 312ff. Th. Mann, Beim Propheten, S. 286–293. Vgl. zur Publikationsgeschichte: Eva Schmidt-Schütz, »Doktor Faustus« zwischen

des Meisters George und seines Kreises zur Münchner Zeit war.21 Die Parodie trifft indirekt aber auch den »Weihenstefan«22 selbst, denn Thomas Mann betrachtet Derleth als einen Ableger Georges,23 wie er in einem Brief an den Rechtsanwalt Otto Reeb vom 1.4.1950 retrospektiv andeutet:24 Daß Derleths imperiales Wesen schon damals seine wunderlich-groteske Seiten hatte, will ich auch gerne glauben. Ich bin in München öfters mit ihm und seiner Schwester, der ›bösen Nonne‹, wie sie bei George heißt, zusammengetroffen und war immer zugleich fasziniert und amüsiert von der strengen und stolzen Verspieltheit der Geschwister, die eine besondere Abwandlung der Münchner Bohème war und bei ihm natürlich das bedeutendere Gesicht hatte. […] So waren sie, wundervoll anti-bürgerlich, jesuitisch, napoleonisch, ganz Illiberale und Ausgefallene, auf grausame Schönheit und schöne Grausamkeit gestellt, kurzum Ästheten. Das ist kein Schimpfwort. […] So kam es, daß sich mir unwillkürlich eine Figur wie der Dichter Zur Höhe mit ihren an Derleth erinnernden Zügen unter die bedrohlichen, praefaschistischen Gestalten des Romans drängte. Ganz gewiß ist Zur Höhe nicht der ganze Derleth…. […] von seiner geistigen Haltung, wie auch von der George’schen überhaupt, ist doch etwas in die Figur eingegangen… Auf nichts habe ich es weniger abgesehen als Menschen weh zu tun. Ich bin froh, daß Ludwig Derleth dieses seine Persönlichkeit so wenig erschöpfende Halb-Porträt nicht mehr vor die Augen gekommen ist. Aber wahrscheinlich hätte er sich gar nicht erkannt.25

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Tradition und Moderne. Eine quellenkritische und rezeptionsgeschichtliche Untersuchung zu Thomas Manns literarischem Selbstbild, Frankfurt am Main 2003, S. 121. Vgl. zur Entstehungsgeschichte samt Nachzeichnung des von Mann verwandten biographischen Materials: Thomas Mann, Frühe Erzählungen. 1893–1912. Kommentar, von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig, Frankfurt am Main 2004, (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 2.2) S. 278; vgl. Hermann Wiegmann, Die Erzählungen Thomas Manns. Interpretationen und Realien, Bielefeld 1992, S. 148; vgl. zur Skizzierung des Verhältnisses Thomas Manns zum George-Kreis in seiner Münchner Zeit: Dierk Wolters, Zwischen Metaphysik und Politik. Thomas Manns Roman »Joseph und seine Brüder« in seiner Zeit, Tübingen 1998, S. 16–23. Vgl. zu Derleth und Thomas Mann: Dietmar Kainer, Thomas Mann und Ludwig Derleth unter besonderer Berücksichtigung der Erzählung »Beim Propheten« und der Dillinger Lebenszeugnisse Ludwig Derleths. In: Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen an der Donau, 92, 1990, S. 489–534. Vgl. zu Derleth und George: Kolbe, Heller Zauber, S. 173–174. Der Spitzname geht auf die Reventlow zurück, die die George-Titulierung »Weihestefan« von Theodor Lessing (vgl. Karlauf, Stefan George, S. 168) unter Berücksichtigung des Ursprungsorts bayrischen Bieres korrigiert (vgl. Kolbe, Heller Zauber, S. 178 u. S. 186). Vgl. Th. Mann, Schreiben an Wolfgang F. Michel vom 30.10.1950, in Schmidt-Schütz, S. 127. Zwischen Thomas Mann und George ist nur eine »unheimliche Begegnung« belegt (vgl. Kolbe, Heller Zauber, S. 174), über die Mann berichtet: »Bei Bondi, an der Haustür, unheimliche Begegnung mit IHM« (Th. Mann an Ernst Bertram, Briefe aus den Jahren 1910–1955, hg., kommentiert u. mit einem Nachweis versehen von Inge Jens, Pfullingen 1960, S. 131). Indirekt ist er durch seine Bertram-Freundschaft an ihn erinnert, er bestellt auch die Blätter für die Kunst (vgl. Th. Mann an Ernst Bertram, S. 174 u. S. 188. Vgl. zu Thomas Manns George-Lektüre: Th. Mann an Ernst Bertram, S. 188f.). Th. Mann, Brief an Otto Reeb vom 01.04.1950, zitiert nach Dominik Jost, Ludwig Derleth. Gestalt und Leistung, Stuttgart 1965, S. 53. Der Rechtsanwalt Otto Reeb schrieb am 05.02.1950 einen Brief an Thomas Mann und weist darauf hin, dass das Bild, das Thomas

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Dieses »Halb-Porträt« Derleths verrät »eine scheue, von Ambivalenzen bestimmte Affinität Thomas Manns zu jenen ›seltsamen Regionen des Geistes, hoch und ärmlich‹«26, die ihn »lebenslang«27 in Atem hält. Ebenso ambivalent ist Thomas Manns Verhältnis zu Stefan George zeitlebens geprägt von »Nähe und Distanz, von Wahlverwandtschaft und Kritik«28. Dass sich beide »von Grund auf unsympathisch waren« und sich dennoch »gegenseitig aufmerksam und misstrauisch« beobachteten, zeichnet Karlauf nach,29 ebenso verweist er darauf, dass Thomas Mann explizit den Wunsch hegte, in der Schweiz wie George begraben zu sein.30 Thomas Manns verdeckte Beschäftigung mit George führt Marx darauf zurück, dass dieser ihm »eine Spiegelfläche der eigenen prekären Künstlerexistenz«31 geboten habe. In seinem »Fontane-Essay« von 1910 spielt er zwar den modernen Fontane gegen den »Heiligen Stefan«32 aus, und doch scheint ihn der Kreis um George und das von ihnen favorisierte prophetische Autorschaftsbild nachhaltig zu beschäftigen. »Dies alles ist erlebt«33, heißt es in der Erzählung. Tatsächlich folgte Thomas Mann Derleths AdlerEmblem-Einladung,34 auch George war geladen, nahm allerdings nicht teil, dafür u.a. das Ehepaar Wolfskehl und Ludwig Klages.35

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Mann in seinen Figuren von Derleth gezeichnet habe, ihn als eine »etwas komische Figur« erscheinen ließe. Thomas Mann antwortete aus Kalifornien in Form eines Briefs (vgl. Heinz J. Armbrust u. Gert Heine (Hg.), Wer ist wer im Leben von Thomas Mann? Ein Personenlexikon, Frankfurt am Main 2008, S. 54). Kolbe, Heller Zauber, S. 168. Kolbe, Heller Zauber, S. 168. Marx, Der Heilige Stefan? Thomas Mann und Stefan George. In: George-Jahrbuch, 6, 2006/2007, S. 80–99, S. 80. Karlauf, Stefan George, S. 571. Vgl. Karlauf, Stefan George, S. 572. Marx, Der Heilige Stefan?, S. 81. Marx benennt gemeinsame Interessenpunkte wie »das literarische Wechselspiel von Dekadenz und Dekadenzüberwindung, die intensive Rezeption Friedrich Nietzsches, das Bekenntnis zur Form, die literarische Verarbeitung homoerotischer Denk- und Lebensfiguren und nicht zuletzt gemeinsame künstlerische Orientierungsgrößen wie August von Platen, Ludwig von Hofmann, August Böcklin und andere« (Marx, Der Heilige Stefan?, S. 81). Marx, Der Heilige Stefan?, S. 85. Th. Mann, Beim Propheten, S. 289. Vgl. Wiegmann, Die Erzählungen Thomas Manns, S. 148; Marx, Künstler, Propheten, Heilige. Thomas Mann und die Kunstreligion der Jahrhundertwende. In: Thomas Mann-Jahrbuch, 11, 1998, S. 51–60, S. 53; Kolbe, Heller Zauber, S. 168. Vgl. zur Symbolik des Adlers als Signum des Apostels Johannes: Barbara Neymeyr, Militanter Messianismus. Thomas Manns Erzählung »Beim Propheten« im kulturhistorischen Kontext. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 45, 2004, S. 179–198, S. 184. Vgl. zur näheren Programmatik Derleths und seines »sakralen Terrors«: Neymeyr, Militanter Messianismus, S. 192f. Vgl. zur Beschreibung des Derleth’schen Ateliers: Jost, Ludwig Derleth, S. 40 u. S. 59; Kolbe, Heller Zauber, S. 172f. Vgl. Neymeyr, Militanter Messianismus, S. 181.

Mit seiner Derleth-Karikatur in »Beim Propheten« und später im Doktor Faustus36 thematisiert Thomas Mann – zwischen Faszination und Distanzierung schwankend – prägnant die Blütezeit prophetischer Autorschaft um die Jahrhundertwende, das inhärente Gewaltpotential37 dichtender Propheten und seismographisch deren präfaschistische Tendenzen, wie es zumindest der späte Mann suggeriert.38 Nebenbei ironisiert Mann zudem den »monumentalisierenden Napoleon-Kult«39 und das durchschlagkräftige Buch Rembrandt als Erzieher (1890) von Julius Langbehn, der einen »cäsaristisch-künstlerischen Typus«40 mit prophetischen Zügen propagiert und festhält:41 »Der Prophet ist

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Vgl. zum Kridwiß-Kreis und dessen Treffen in Kridwiß’ Wohnung in der Schwabinger Martiusstraße in der Zwischenkriegszeit: Th. Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, Frankfurt am Main 1971, S. 353f. u. S. 362ff. Daniel Zur Höhe wird als ein »in geistlich hochgeschlossenes Schwarz gekleidete[r] hagere[r] Dreißiger mit Raubvogel-Profil und von hämmernder Sprechweise« (Th. Mann, Doktor Faustus, S. 363) vorgestellt. Als »steilste[r] ästhetische[r] Unfug« (Th. Mann, Doktor Faustus, S.  364) und als Ausdruck einer unheimlichen Nähe von Ästhetizismus und Barbarei wird seine prophetische Botschaft erschrocken-heiter denunziert: »Er liebte es, die Arme über der Brust zu kreuzen oder eine Hand napoleonisch im Busen zu bergen, und seine Dichterträume galten einer in blutigen Feldzügen dem reinen Geiste unterworfenen, von ihm in Schrecken und hohen Züchten gehaltenen Welt, wie er es in seinem, ich glaube, einzigen Werk, den schon vor dem Kriege auf Büttenpapier erschienenen Proklamationen, beschrieben hatte, einem lyrisch-rhetorischen Ausbruch schwelgerischen Terrorismus, dem man erhebliche Wortgewalt zugestehen musste. Der Signatar dieser Proklamationen war eine Wesenheit namens Christus imperator maximus, eine kommandierende Energie, die todbereite Truppen zur Unterwerfung des Erdballs warb, tagesbefehlartige Botschaften erließ, genießerisch-unerbittliche Bedingungen stipulierte, Armut und Keuschheit ausrief und sich nicht genugtun konnte in der hämmernden, mit der Faust aufgeschlagenen Forderung fragund grenzenlosen Gehorsams. ›Soldaten!‹ schloß die Dichtung, ›ich überliefere euch zur Plünderung – die Welt!‹« (Th. Mann, Doktor Faustus, S. 363–364). Vgl. u.a. Kolbe, Heller Zauber, S. 170; Neymeyr, Militanter Messianismus, S. 196. Der Kridwiß-Kreis im Doktor Faustus verherrlicht die »Prophetie des Buches« (Th. Mann, Doktor Faustus, S. 366) von Sorels Réflexions sur la violence. Rolf Christian Zimmermann, der in seiner Studie Manns seismographisches Gespür untersucht, interpretiert Mindernickel, Hieronymus und Daniel als »seismographische Groteskgeschöpfe« (R. Chr. Zimmermann, Der Dichter als Prophet. Grotesken von Nestroy bis Thomas Mann als prophetische Seismogramme gesellschaftlicher Fehlentwicklungen des 20. Jahrhunderts, Tübingen; Basel 1995, S.  94) eines »präfaschistischen Gewaltpotential[s]« (Zimmermann, Der Dichter als Prophet, S. 92). Deren Publikum betrachtet er als »Vorhut jenes von elitärem Hochmut und nietzscheanischem Ästhetizismus fatal umnebeltem und moralisch urteilsunfähig gewordenen Bildungsbürgertums, dessen Vernunft und Anstand dreißig Jahre später endgültig (und so eklatant!) auch vor Hitlers Proklamationen versagte« (Zimmermann, Der Dichter als Prophet, S. 106). Neymeyr, Militanter Messianismus, S. 187. Langbehn zitiert nach Neymeyr, Militanter Messianismus, S. 188. Solch militante Propheten-Dichter sind auch in Musils Der Mann ohne Eigenschaften porträtiert. Ludwig Klages ist etwa das Vorbild des Propheten Meingast (vgl. Blasberg, Krise und Utopie des Intellektuellen. Kulturkritische Aspekte in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, Stuttgart 1984, S. 83–86; Norbert Christian Wolf, Verkünder des Ter-

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dem Künstler von jeher verwandt […].«42 Ferner treten Züge des von Hofmannsthal später gezeichneten Propheten-Bildes in Erscheinung: Der dichtende Prophet wähnt sich mehr kriegerischer Führer als Dichter zu sein.43 In jeder Parodie befindet sich bekanntlich ein Stück Wahrheit, die in »Beim Propheten« die prophetische Autorschaft als beliebte (Dienst-)Marke des Dichters offenlegt sowie deren Inszenierungstechniken durch Vorbilder-Mobilisierung als Fundament einer grausamen Schönheit desavouiert. Ironisch begegnet Mann damit den Auswüchsen »diff use[r] Erlösungssehnsüchte«, die die »Hoffnung auf einen charismatischen messianischen Führer«44 befördern. Der Leser wird eingangs an einen »seltsame[n] Ort«45 in München geführt, wo »seltsame Gehirne«46 hausen, eine Dachstube als »Heterotopie«47, die »leibliche Wohnstätte«48 des Propheten:49

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rors, Verkünder der Erlösung. Hans Sepp und Meingast. In: Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs der Zwischenkriegszeit, hg. von Hans Feger, Hans-Georg Pott u. Norbert Christian Wolf, München 2009, S. 93–140). Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig 1890, S. 176. Vgl. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (Rede, gehalten im Auditorium maximum der Universität München am 10. Januar 1927), München 1927. In: Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd.  4: Prosa, hg. von Herbert Steiner, Frankfurt am Main 1955, S. 390–413, S. 400f.). Das Dachstuben-Porträt in »Beim Propheten« könnte avant la lettre geradezu als Parodie auf Hofmannsthals visionsreich-magischprophetischen Dichter gelesen werden, der (in seinem am 17.04.1907 gehaltenen Vortrag »Der Dichter und diese Zeit«) im »Haus der Zeit, unter der Stiege« (Hofmannsthal, Der Dichter und diese Zeit, S. 66) wohnt, den »Weg ins Eisige und Einsame« (Hofmannsthal, Der Dichter und diese Zeit, S.  65) weist und der – ähnlich wie die Propheten-Figurationen bei Mann – dadurch gekennzeichnet ist, dass die Toten in ihm leben (vgl. Hofmannsthal, Der Dichter und diese Zeit, S. 65), denn seine Gegenwart ist von der Vergangenheit durchwoben und auf Visionen ausgerichtet (vgl. Hofmannsthal, Der Dichter und diese Zeit, S. 75ff.). Demnach gleiche etwa die Lektüre eines George-Gedichts einem »religiösen Erlebnis« (Hofmannsthal, Der Dichter und diese Zeit, S. 79). Die Vorstellung des Dichters als Stimulans eines epiphanischen Zeitgefühls (vgl. Hofmannsthal, Der Dichter und diese Zeit, S. 80f.) liegt auch den Mann’schen Dichter-Propheten-Porträts zugrunde, allerdings bricht dieser die Vision vom prophetischen Dichter und seinen Höhenflügen teilweise ironisch, wie im Folgenden gezeigt wird. Neymeyr, Militanter Messianismus, S. 187. Th. Mann, Beim Propheten, S. 286. Th. Mann, Beim Propheten, S. 286. Unter »Heterotopien« versteht Michel Foucault »Gegenorte«, »tatsächlich verwirklichte Utopien« wie Sanatorien, Gefängnisse, Friedhöfe sowie Bibliotheken und Museen u.a., die die anderen realen Orte der Kultur in Frage stellen (vgl. M. Foucault, Von anderen Räumen [1967]. In: Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 4: 1980–1988, hg. von Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Aus dem Französischen von Michael Bischoff u.a., Frankfurt am Main 2005, S. 931–942, bes. S. 935f.). Th. Mann, Beim Propheten, S. 286. Bei Hofmannsthal lautet die Bestimmung des Dichters folgendermaßen: »Daß es Menschen gibt, die zu leben vermögen in einer Luft, die von der Eiseskälte des unendlichen Raumes beleckt wird, ist ein Geheimnis des Geistes, ein Geheimnis, wie es andererseits die Existenz der Dichter ist und daß es Geister gibt, die unter dem ungeheuren Druck des ganzen angesammel-

Hier ist das Ende, das Eis, die Reinheit und das Nichts. Hier gilt kein Vertrag, kein Zugeständnis, keine Nachsicht, kein Maß und kein Wert. Hier ist die Luft so dünn und so keusch, daß die Miasmen des Lebens nicht mehr gedeihen. Hier herrscht der Trotz, die äußerste Konsequenz, das verzweifelt thronende Ich, die Freiheit, der Wahnsinn und der Tod.50

Eine verkehrte, entwertete Welt im Geiste Nietzsches steht ins Haus. Nietzsches Worte in Ecce homo klingen nach:51 Wer die Luft meiner Schriften zu athmen weiss, weiss, dass es eine Luft der Höhe ist, eine starke Luft. Man muss für sie geschaffen sein, sonst ist die Gefahr keine kleine, sich in ihr zu erkälten. Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer […]! Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein, alles dessen, was durch die Moral bisher in Bann gethan war.52

Die dort stattfindende Dichterlesung – als Sujet der Erzählung – wird von einigen Propheten-Stellvertretern als Abendmahl mit Anknüpfung an die »christliche Ritualkultur«53 inszeniert:54 Zwölf Gäste sind anwesend, die zwölf Jünger Jesu symbolisierend, es ist bezeichnenderweise Karfreitag, Rosinenkuchen (ironischerweise für Brot) und Wein werden gereicht,55 religiöse Insignien – antike Öllampen, ein jüdischer siebenarmiger Leuchter und ein christliches Kruzifi x – sind aufgestellt, alles ist wie in einer »Kapelle«56.57 Die ›Leibstätte‹ des Propheten gleicht einem Tabernakel. Die »Totenmasken«58 weisen indes auf den Charakter einer Grabkammer hin, die an den Tod Jesu an Karfreitag gemahnt.59 Der Aufstieg in die eisige Höhe der Dachkammer gleicht einem Abstieg in das Reich des Todes, jedenfalls ist oben unten oder unten oben, wie es auch der hermetischen Welt des Zauberbergs60 eignet. Bereits der Titel »Beim Propheten«61 weist auf die Eigenart der Erzählung hin: Der Prophet selbst ist absent; der Tabernakel ist leer. Dem Propheten, der für gewöhnlich Stellvertreter des

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ten Daseins zu leben vermögen – wie ja die Dichter tun« (Hofmannsthal, Der Dichter und diese Zeit, S. 65). Hofmannsthals Metaphorik vom in der Luft lebenden Dichter nimmt Thomas Mann wörtlich und versetzt den prophetischen Dichter als ›Luftikus‹ in eine Dachstube. Th. Mann, Beim Propheten, S. 286. Vgl. Nietzsche: »Die Luft dünn und rein, die Gefahr nahe und der Geist voll einer fröhlichen Bosheit, so passt es gut zu einander« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 48). Vgl. die Bergepiphanien des Alten und Neuen Testaments (vgl. Marx, »Ich aber sage Ihnen…«, S. 23). Vgl. zu den Ausprägungen des Nietzscheanismus: Neymeyr, Militanter Messianismus, S. 190f. Nietzsche, Ecce homo, S. 258. Marx, Der Heilige Stefan?, S. 83. Vgl. Marx, Künstler, Propheten, Heilige, S. 55. Vgl. ähnlich: Marx, Künstler, Propheten, Heilige, S. 55. Th. Mann, Beim Propheten, S. 289. Vgl. ähnlich: Marx, Der Heilige Stefan?, S. 82. Th. Mann, Beim Propheten, S. 289. Vgl. Nietzsches Kritik an den Priestern und ihrer Lehre von »Todtenkammern« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 118). Vgl. ähnlich: Marx, Künstler, Propheten, Heilige, S. 51. Th. Mann, Beim Propheten, S. 286.

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Numinosen ist, wird indes dadurch, dass er nur stellvertretend anwesend ist, ein »messianisches und quasi-göttliches Fluidum«62 verliehen, das sich hinsichtlich eines Blicks auf seine Stellvertreter allerdings schnell verflüchtigt. Frei nach dem Motto »Sind drei in meinem Namen versammelt, bin ich mitten unter ihnen«63 agiert eine Art trinitarisches Ensemble ersatzweise für den Propheten: die »Hermesfigur«64 des kleinen, stummen Dieners – der Wegführer, Psychopompos ist –, Daniels Schwester Maria Josefa (mit den Worten Georges die »böse Nonne«65), die in der Funktion der Eltern Jesu (Maria und Josef ) die Gäste empfängt, und ein Schweizer »Jünger« des Bruders, der zum »rechten Augenblick zur Stelle sein«66 wird, um Daniels »Proklamationen«67 zu verlesen. Diese ›heilige Trinität‹ der Dienerschaft des Propheten erinnert an Mose und sein Gefolge, das sind Aaron, der militärische Arm Mose, seine Schwester Mirjam und Mose selbst, der Führer Israels mit schwerfälliger Zunge (vgl. Gen 4). Dank des Auftritts des Jüngers68 und aufgrund der zur Andacht aufgestellten »Amateurphotographie«69 des Propheten mit Betbank, »die einen etwa dreißigjährigen jungen Mann mit gewaltig hoher, bleich zurückspringender Stirn und einem bartlosen, knochigen raubvogelähnlichen Gesicht von konzentrierter Geistigkeit zeigte«70, scheint die geistige Atmosphäre des Propheten durch.71 Seine abwesende Anwesenheit, seine nahe Ferne verleihen dem Propheten namens Daniel, Namensvetter des alttestamentlichen Propheten,72 eine magische Aura73. Der Interpret, genauer das prophetische Sprachrohr des Propheten – ein Stellvertreter des Stellvertreters Gottes –, ein »unheimliches Gemisch von Brutalität und Schwäche«74, äußerlicher Hässlichkeit75 und innerer Ge-

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Wiegmann, Die Erzählungen Thomas Manns, S. 151. Vgl. Th. Mann, Beim Propheten, S. 288. Wiegmann, Die Erzählungen Thomas Manns, S. 150. George, An Anna Maria. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 197. Th. Mann, Beim Propheten, S. 288. Th. Mann, Beim Propheten, S. 289. Der Vorleser ist der Germanist Rudolf Blümel (vgl. Kolbe, Heller Zauber, S. 169; Neymeyr, Militanter Messianismus, S. 181). Th. Mann, Beim Propheten, S. 288. Th. Mann, Beim Propheten, S. 288. Vgl. ähnlich: Wiegmann, Die Erzählungen Thomas Manns, S. 151. Vgl. Wiegmann, Die Erzählungen Thomas Manns, S. 149; Marx, Künstler, Propheten, Heilige, S. 55. Vgl. zur Rezeption des Aura-Begriffs Klages’ bei Benjamin: Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 187f. Th. Mann, Beim Propheten, S. 291. Manns Propheten-Figuren Savonarola (»Fiorenza«), Hieronymus (»Gladius Dei«), Lobgott Piepsam (»Der Weg zum Friedhof«), ein Dichter alias Schiller (»Schwere Stunde«), Daniel (»Beim Propheten«, Doktor Faustus), auch Naphta (Der Zauberberg) und der Magier Cipolla (»Mario und der Zauberer«) sind allesamt körperlich deformiert. Ihre Stigmatisierung ironisiert ihre hoheitliche Geistigkeit und ihren gewaltigen Führungsanspruch, wie im Folgenden näher dargelegt wird. Ihr Pendant ist der schillernde Propheten-Künstler Mose in »Das Gesetz« (vgl. Th. Mann, Das Gesetz. In: Mann, Sämtliche Erzählungen, S. 641–694).

reiztheit verkörpert eine Kreuzung aus erbarmungslosem Militarismus und der Theorie nach radikal vergeistigtem Christentum, die auf den Punkt gebracht wird in Daniels Formel vom Erlöser als »Christus imperator maximus«76. Die psychologische Entlarvung des »furchtbar gereizte[n] Ich«77 des Schweizers und seiner »widernatürliche[n] Wollust«78 wird aktiv betrieben, die Kohärenz zwischen stigmatisiertem Äußeren und seinem wenig erbaulichen Vortrag betont.79 Auf eine wortgetreue Darstellung seiner Botschaft wird verzichtet, lediglich die Form der »Proklamationen«80 (d.i. Derleths Werk) wird exponiert als ein »Stilgemisch aus Psalter- und Offenbarungston mit militärisch-strategischen«81 Fachausdrücken versetzt.82 Die »wilde und überlaute Stimme«83 des manisch-überdrehten Vorlesers übertönt demnach sein eigenes Wort; dem Buchstaben fehlt der Geist. Das »bleiche Genie«84 vertritt einen radikalen Nihilismus, die Umwertung aller Werte im Sinne Nietzsches, die Entgrenzung des Ich und die Favorisierung von Leitfiguren-Strategen. Der Propheten-Vertreter figuriert in gewisser Weise nicht nur als römischer Christus-Kaiser, sondern stellt auch ein modifiziertes Nietzsche-Porträt dar: Dionysos mit dem Gekreuzigten in einer nebulösen Verbrecher-Zone. Der Prophet – eigentlich Mittler zwischen Gott und Mensch – bleibt in »Beim Propheten« selbst Gegenstand indirekter Mitteilung. Die Leere des prophetischen Worts ist des Propheten funktionaler Stellvertreter, seine Leerstelle. Von der negativen Theologie des Absoluten ist nur das Negativ, ein verzerrtes Abbild übrig geblieben, eine Transzendenz ins Unbestimmbare, ein theatralischer Auftritt von wirkungsloser Rhetorik. Die körperliche Abwesenheit des Propheten korrespondiert mit einer suggestiven Dominanz des heiligen Ortes. Stellvertretend für den Propheten sind – neben seinen personalen Stellvertretern – Photographien, Abbilder von Persönlichkeiten, Negative, Medien aufgestellt: Feldherren und Reformatoren gab es immer, wie ein Blick in die eröffnete Ahnengalerie aus weltlichen und kirchlichen Machtmenschen zeigt: »[…] und außer dem großen Napoleonbildnis waren in verschiedenartiger Ausführung die Porträte von Luther, Nietzsche, Moltke, Alexander dem Sechsten, Robespierre und Savonarola im Raume verteilt…«85 Die Anhäufung von stellvertretenden Abbildern gleicht einem Götzenkult. Des Weiteren wird eine häretisch-hybride, typologische Überbietungsstrategie bezüglich der Vorbilder angezeigt:

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Th. Mann, Beim Propheten, S. 291. Th. Mann, Beim Propheten, S. 291. Th. Mann, Beim Propheten, S. 291. Vgl. Th. Mann, Beim Propheten, S. 291. Als Grundlage dienen Thomas Mann Ludwig Derleths Proklamationen (vgl. L. Derleth, Proklamationen, Leipzig 1904), die er wörtlich zitiert (vgl. Marx, Der Heilige Stefan?, S. 83). Th. Mann, Beim Propheten, S. 291. Vgl. Th. Mann, Beim Propheten, S. 291. Th. Mann, Beim Propheten, S. 291. Th. Mann, Beim Propheten, S. 286. Vgl. Nietzsches »Vom bleichen Verbrecher« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 45f.). Th. Mann, Beim Propheten, S. 289.

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Buddha, Alexander, Napoleon und Jesus wurden als seine demütigen Vorläufer genannt, nicht wert, dem geistlichen Kaiser die Schuhriemen zu lösen… Das einsame Ich sang, raste, und kommandierte. Es verlor sich in irre Bilder, ging in einem Wirbel von Unlogik unter und tauchte plötzlich an gänzlich unerwarteter Stelle gräßlich wieder empor. Lästerungen und Hosianna – Weihrauch und Qualm von Blut vermischten sich. In donnernden Schlachten ward die Welt erobert und erlöst…86

Kontrastiert wird der prophetische »Schwall von gewaltsamen Worten«87 mit dem anwesenden Novellisten, der – wie dreimal betont wird – dem entgegengesetzt »ein gewisses Verhältnis zum Leben«88 habe.89 Dieser – eine ironische Maske Thomas Manns –90 ist allerdings während der Proklamationen-Lesung, neben seiner fröhlichen Plauderei mit einer reichen Dame,91 im Kampf mit einer profanen »Vision einer Schinkensemmel«92 begriffen. Seine Figur stellt insofern die lebensfeindliche Kunst des Propheten in Frage,93 als in seiner Reflexion über das ästhetische Vermögen des Genies dessen notwendiger Bezug zum Leben in Form eines lakonischen Fragesatzes anklingt: Ja, was ist das Genie? sagte er nachdenklich. Bei diesem Daniel sind alle Vorbedingungen vorhanden: die Einsamkeit, die Freiheit, die geistige Leidenschaft , die großartige Optik, der Glaube an sich selbst, sogar die Nähe von Verbrechen und Wahnsinn. Was fehlt? Vielleicht das Menschliche? Ein wenig Gefühl, Sehnsucht, Liebe?94

Er selbst ist als falscher Prophet mit Wolfshunger gezeichnet,95 der gegen den anderen falschen Propheten opponiert, indem er das Eigengesetz der »Heterotopie« des

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Th. Mann, Beim Propheten, S. 291. Vgl. Gundolf: »Ich tauge doch nur dazu, dem Meister die Schnürsenkel aufzumachen« (Gundolf zitiert nach: Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 145). Th. Mann, Beim Propheten, S. 291. Th. Mann, Beim Propheten, S. 286, S. 290 u. S. 293. Vgl. Kolbe, Heller Zauber, S. 169; Marx, Der Heilige Stefan?, S. 83. Vgl. Wiegmann, Die Erzählungen Thomas Manns, S.  150; Marx, Künstler, Propheten, Heilige, S. 52; Neymeyr, Militanter Messianismus, S. 182; Marx, Der Heilige Stefan?, S. 83. Hinter dieser Figur wird Manns Schwiegermutter in spe, Hedwig Pringsheim, vermutet (vgl. Kolbe, Heller Zauber, S.  169; Neymeyr, Militanter Messianismus, S.  182; Marx, Künstler, Propheten, Heilige, S. 53). Th. Mann, Beim Propheten, S. 292. Vgl. Marx, Künstler, Propheten, Heilige, S. 55. Th. Mann, Beim Propheten, S.  292. Im Doktor Faustus wird das Genie nietzscheanisch definiert: »Genie ist eine in der Krankheit tief erfahrene, aus ihr schöpfende und durch sie schöpferische Lebenskraft« (Mann, Doktor Faustus, S. 355), also »Stimulans des Lebens« (Nietzsche, Der Fall Wagner, S. 22). Gemäß der biblischen Warnung vor den Masken falscher Propheten (»Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch wie (harmlose) Schafe, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen« (Mt 7, 15–16)) lässt sich der Novellist anhand seines wolfsmäßigen Hungers leicht als Antifigur des Propheten kompromittieren (vgl. Th. Mann, Beim Propheten, S. 293).

Propheten stört. Diese Münchner Dachstube stellt eine klassische »Heterotopie«,96 genauer eine »Abweichungsheterotopie«97 dar, da dort – einem Museum und Friedhof vergleichbar – alte Insignien und Kunstschätze aufbewahrt sind und trotz Rückwärtsgewandtheit die Vision einer anderen Welt real gelebt und eine Außerkraftsetzung der herkömmlichen Alltagsnormen beschworen wird.98 So wie sich Bücher in Bibliotheken und Bilder in Museen stapeln, so explodieren die Vorbilder im Rahmen eines Abbilderkults zur Auratisierung des Propheten in der Erzählung. Damit eine »Heterotopie« funktionieren kann, müssen die Insassen mit der herkömmlichen Zeit brechen,99 wie es der Prophet fordert. Die typischen Eingangsrituale werden von den Geladenen zwar befolgt,100 indes benimmt sich der Novellist an diesem heiligen Ort zuletzt ungebührlich daneben, verletzt somit die Eigengesetzlichkeit der Propheten-»Heterotopie«101 und reduziert diese auf den Realitätsstatus einer komischen Utopie, eines lächerlichen Illusions- und Kompensationsraums gleichermaßen. Dem Propheten-Interpreten geht es ähnlich wie Zarathustra, der in der Höhe, auf seinem Berg donnergleiche Worte ersinnt und auf dem Markt ein Kommunikationsdesaster erleidet.102 Die vom Propheten intendierte Subvertierung des gesellschaft lichen Raumes scheitert demnach am Publikum, das die charismatische Beglaubigung mittels Desinteresse aussetzt, wenn es auch »lammfromm«103 ist. Dieses nur mittels Berufsnamen identifizierbare Publikum aus dem Bereich der Kunst (Philosoph, Spiritist, Erotikerin, Lyriker, Maler, Zeichner, Schriftstellerin)104 wird ebenso bloßgestellt wie der Stellvertreter-Prophet:105 Dem Publikum mangelt es zwar nicht an »andächtige[m] Respekt«106, doch merkt jeder allenfalls bei dem Stichwort auf, das ihn 96 97 98

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Zum Begriff »Heterotopie« siehe wieder: Foucault, Von anderen Räumen, S. 935. Foucault, Von anderen Räumen, S. 937. »Abweichungsheterotopien« sind nach Foucault »Orte, an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht« (Foucault, Von anderen Räumen, S. 937). Als Beispiele für »Heterotopien der Zeit, die sich endloser Akkumulation hingeben« (Foucault, Von anderen Räumen, S. 939) nennt Foucault Museen und Bibliotheken. Damit eine »Heterotopie« funktionieren kann, ist ein absoluter Bruch mit der Zeit vonnöten (vgl. Foucault, Von anderen Räumen, S. 939). Solche »Gegenorte« außer Raum und Zeit sind für Thomas Mann nicht ungewöhnlich, man denke an den Zauberberg, der nicht nur als Unterwelt auf der Höhe einen »Gegenort« zum Flachland und zu den gesunden Menschen darstellt, sondern auch nach eigenen Zeitmaßstäben organisiert ist. Um eine »Heterotopie« betreten zu können, muss man entweder gezwungen werden »oder man muss Eingangs- und Reinigungsrituale absolvieren« (Foucault, Von anderen Räumen, S. 940). Foucault geht zudem von der unbegründeten Annahme aus, dass alle Räume immer einer »blinden Sakralisierung« unterliegen (Foucault, Von anderen Räumen, S. 933). Foucault, Von anderen Räumen, S. 935. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S.  18. George, Nietzsche. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 12–13, S. 12. Zimmermann, Der Dichter als Prophet, S. 105. Vgl. Th. Mann, Beim Propheten, S. 291f. Vgl. Zimmermann, Der Dichter als Prophet, S. 106. Zimmermann, Der Dichter als Prophet, S. 105.

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– jeden nach seiner Art – interessiert, so wie die »Erotikerin«107 beispielsweise beim Wort »Keuschheit«108 aufhorcht. Im Gegenzug dazu vermag der Zauberer, Krüppel, »Führer«109 und »Meister«110 Cipolla mit »metallischer Stimme«111 und Reitpeitsche in »Mario und der Zauberer« (1930), sein Publikum zeitweise hypnotisch seines freien Willens zu berauben, und zwar gemäß seiner radikalen Auffassung, dass es keinen freien Willen gibt.112 Diese Provokation ist dem Propheten-Stellvertreter versagt, dementsprechend gibt es auch in »Beim Propheten« ein ›Ende ohne Schrecken‹. »Beim Propheten« zeigt nicht nur das zeitgemäße Bedürfnis nach Orientierung an Vorbildern/Idolen im Rahmen eines Götzen- und Abbilderkultes113 in einer desorientierten Zeit, sondern stellt auch die Aporien einer von Überbietungssucht geprägten Emanzipation heraus. Selbstbehauptung wandelt sich zur Selbstenthauptung. In Thomas Manns Zeitkolorit zeigen sich so humoreske, groteske und erschreckende Gefahren einer hypertroph inszenierten heiligen Autorschaft. Erstens werden die übersteigerten Ahnengalerien auf einen kleinen gemeinsamen Nenner reduziert:114 Zwei Typologien – der Heilige und der Feldherr – werden wahllos kombiniert,115 die wiederum in den ›Übertypus‹ Prophet münden sollen. Diesen kennzeichnet ausschließlich eine heilig-militaristische, »laute Gebärde«116. Zweitens führt der Anspruch der Überwindung der anzitierten Leitbilder zu einer Art Steckenbleiben in der Inszenierung: Die Dominanz des Raumes, die Aura der fernen Nähe und die Negative respektive Porträts als multiplizierte Stellvertretungen des Stellvertreters Prophet spiegeln die Exklusion des Propheten und seine Reduktion auf das »Dröhnen« einer fremden Stimme117, die keine Gemeinschaft stiftet und keine ernsthaft charismatisierende Geltung von der Zuhörerschaft zugesprochen bekommt. Die Verschiebung von der unmittelbaren, real-authentischen zur medial vermittelten Präsenz, die abwesende Anwesenheit des Propheten, zeigt ironischerweise sein Verschwinden, seine Selbst-

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Th. Mann, Beim Propheten, S. 289. Th. Mann, Beim Propheten, S. 292. Th. Mann, Mario und der Zauberer. In: Mann, Sämtliche Erzählungen, S. 523–565, S. 549. Th. Mann, Mario und der Zauberer, S. 557. Th. Mann, Mario und der Zauberer, S. 537. Vgl. Th. Mann, Mario und der Zauberer, S. 543ff. u. S. 547. Vgl. das Bilderverbot des ersten Gebotes des Dekalogs: Ex 20, 4. Neymeyr weist auf die »Galerie geistiger Ahnen von grotesker Widersprüchlichkeit« (Neymeyr, Militanter Messianismus, S. 186) beiläufig hin. Nietzsche hat bekanntlich den Napoleonkult verdammt (vgl. Neymeyr, Militanter Messianismus, S. 188f.) und Savonarola wurde vom Borgia-Papst wegen seiner Ketzerei und seines theokratischen Staatsmodells hingerichtet (vgl. Hartwich, Prediger und Erzähler. Die Rhetorik des Heiligen im Werk Thomas Manns. In: Thomas Mann-Jahrbuch, 11, 1998, S. 31–50, S. 33). Vgl. zum historischen Hintergrund der Ahnengalerie auch: Marx, Künstler, Propheten, Heilige, S. 56. Nietzsche bescheinigt dem asketischen Priester eine »laute Gebärde« (Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 370). Dieses Urteil fällt Max Weber über George (vgl. Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Heidelberg 1950, S. 466f.).

konservierung an. Seiner Leibverachtung entspricht ein künstlicher Leib, ein Leib als Artefakt, den die dekadente Dachstube verkörpert. Gerade die Dachstube als Ort der sozialer Peripherien wäre zwar nach Weber ein geeigneter Raum für einen Charismatiker, doch führt die dort getätigte Überinszenierung von Charisma, die mit einer Entpersonalisierung des Propheten einhergeht, nicht zu einem revolutionären Umsturz, sondern zwangsläufig zu einer Entcharismatisierung durch Banalisierung oder Veralltäglichung118 im Sinne Webers. Das Außeralltägliche wird schließlich vom Alltag eingeholt. In der Konzentration auf das zu modellierende Ich des Künstlers und in der Festschreibung seines auserwählten Status tritt nicht nur das sozialreformatorische Anliegen des originären Propheten in den Hintergrund, sondern auch die Ausgestaltung seiner prophetischen Rede. Das Wort wird zur gespielten Szene, zur Gebärde eines dekadent fragmentierten Körpers, dessen Prothesen einem musealen Archiv gleichen. In der Beschwörung und Zelebration prophetischer Künstlerschaft dominiert der culte du moi und besonders der Kult der eigenen Stimme. Das Wound Wann-Sagen und das In-wessen-Namen-Sprechen steht im Vordergrund, was die Überfülle der Inszenierung in der Kontrastierung zur Leere der Botschaft unterstreicht. In der Derleth-Karikatur pulsiert ferner als geheimes Zentrum Nietzsche. Nietzsche kann als repräsentatives Vorbild für den Seher in der Moderne gelten; Zarathustra verteidigt die drei Prinzipien »Wollust, Herrschsucht, Selbstsucht«119: »Und wer das Ich heil und heilig spricht und die Selbstsucht selig, wahrlich, der spricht auch, was er weiss, ein Weissager.«120 Diese Form der heiligen Autorschaft ist nach Mann von einer selbstverschuldeten Auflösung bedroht. Der Novellist ist der Gegenspieler des Propheten, da er den Wert der Liebe zum Leben verkörpert, Tonio Krögers Credo in »Tonio Kröger« (1903) vergleichbar: Ich bewundere die Stolzen und Kalten, die auf den Pfaden der großen, der dämonischen Schönheit abenteuern und den Menschen verachten, – aber ich beneide sie nicht. Denn wenn irgendetwas imstande ist, aus einem Literaten einen Dichter zu machen, so ist es dieses meine Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen und Gewöhnlichen.121

Sein Hinweis auf die Liebe, demzufolge man »mit Menschen- und Engelszungen reden könne und ohne sie doch nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle sei«122, ist tatsächlich gemäß dem »Ersten Korinther-Brief« (vgl. 1. Kor 13, 1) ein probates Mittel für die Überwindung prophetischer Rede: »Die Liebe hört niemals auf. Prophetisches Reden hat ein Ende, Zungenrede verstummt, Erkenntnis vergeht. Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser prophetisches Reden; wenn aber das Vollendete kommt, vergeht alles Stückwerk« (1. Kor 13, 8–10). Propheten-Fehden werden also über Vorbildmessungen, Wertunterschiede (Gewalt versus Liebe; pro-

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Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 142f. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 236. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 240. Th. Mann, Tonio Kröger. In: Mann, Sämtliche Erzählungen, S. 213–266, S. 265. Th. Mann, Tonio Kröger, S. 265.

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phetisches Sprechen versus Schau) oder Wertnivellierung geführt.123 Dabei tritt die Individualität hinter den Typus oder abstrakten Wert zurück. Der Prophet hat dementsprechend in »Beim Propheten« keinen eigenen Namen, besitzt keine Individualität, er verkörpert das Stellvertreterprinzip und eine Vision vom Weltenbrand, seine vielfachen Vorbilder sind letztlich austauschbar. Eine Besonderheit von Manns Propheten-Parodie ist ferner darin zu sehen, dass sie den Finger in die Wunde der selbsternannten Dichter-Propheten legt: Diese drohen unfreiwillig Züge einer Parodie anzunehmen. Prophetische Autorschaft ist deswegen parodieanfällig, weil der Anspruch des Dichter-Propheten als Wahrheitsorgan offensichtlich zu hoch ist und ihre Basis, das Prinzip einer multiplen Vorbilderkette mit typologischer Überhöhungsgeste, einen Leerlauf provoziert. Die angestrebte Authentizität des Propheten unterliegt einer unaufhaltsamen Medialisierung und Marginalisierung. Da Thomas Mann selbst mit einer prophetischen Autorpoetik liebäugelt, ist im Folgenden erkundenswert, ob er mit seiner gemäßigten, parodistischen Prophetie einem Kategorienfehler unterliegt, sofern sich die Form der Parodie nicht einfach unter die Prophetie subsumieren lässt (und umgekehrt) und sich beide genau dann gegenseitig zerstörerisch aufheben, wenn das Konzept einer Parodie als Prophetie zu einer unfreiwilligen Parodie auf sich selbst, einer parodistischen Prophetie-Parodie, mutiert. Die Figur des Propheten hat »den jungen Thomas Mann ernsthaft beschäftigt und eine Zeitlang für sich eingenommen«124. Ein Grund dafür mag sein, dass die Propheten-Figur ihm in ihrer Applikation auf das Künstlertum als »Maske für das eigene Problem von Ehrgeiz, Geltungsbedürfnis, Selbstbehauptung und Selbstzweifel«125 dient.126 Seine Auseinandersetzung mit den dichtenden Propheten-Kollegen ist indes nicht nur auf die psychologische Entlarvung ihres vorgegaukelten Übermenschlichkeitsstatus reduzierbar, wie dies Marx annimmt.127 Ironischerweise befinden sich im Dachstuben-Bilder-Archiv auch seine »eigenen Hausgötter«128 – etwa Luther,

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Derleths Spitzname lautet im Übrigen »Jesus Bonaparte« (vgl. Neymeyr, Militanter Messianismus, S. 185; zur Identifikation Derleths mit Jesus von Nazareth: Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S.  121), so seine aparte Mischung von Vorbild-Figuren. Während des Kosmiker-Streits disqualifiziert Friedrich Gundolf Alfred Schuler mit der treffenden Titulierung »violetter Ringelnero« (vgl. F. Gundolf in: Karl Wolfskehl u. Hanna Wolfskehl, Briefwechsel mit Friedrich Gundolf, hg. von Karlhans Kluncker, Amsterdam 1977, S. 316), wodurch seine römische Lebensweise ins Lächerliche gezogen wird. Vgl. zur Nero-Rezeption bei Schuler: Plumpe, Alfred Schuler und die »Kosmische Runde«, S. 221ff. Th. Mann, Frühe Erzählungen. 1893–1912. Kommentar, S.  279. So bemerkt auch schon Marx Thomas Manns »erstaunliches Interesse für moderne Propheten« (Marx, Künstler, Propheten, Heilige, S. 59). Th. Mann, Frühe Erzählungen. 1893–1912. Kommentar, S. 279. Bei der Bloßstellung des »allzumenschlichen« Propheten steht Nietzsches vehemente Kritik am asketischen Priester und dessen aus Frust gewachsenem Willen zur Macht Pate (vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 362 ff.; Th. Mann, Frühe Erzählungen. 1893– 1912. Kommentar, S. 279). Vgl. Marx, Künstler, Propheten, Heilige, S. 60. Kolbe, Heller Zauber, S. 169.

Nietzsche und Savonarola. Thomas Manns Erzählinstanz betreibt selbst eine Art Abbilderkult, indem sie dem prophetischen Konkurrenten und dessen Götzenbildern ein weiteres Bild vom prophetischen Künstler entgegenhält, in welchem seine Bilder modifiziert einverleibt sind: Die prophetische Erzählinstanz richtet nicht nur über den prophetischen Kontrahenten, sondern gibt vor, diesen zu überbieten. Im Essay »Der Literat« von 1913 beschreibt Thomas Mann die Nähe des von ihm profi lierten Literaten zum Propheten: Der Literat ist anständig bis zur Absurdität, er ist ehrenhaft bis zur Heiligkeit, ja, als Wissender und Richtender den Propheten des Alten Bundes verwandt, stellt er in der Tat auf seiner vornehmsten Entwicklungsstufe den Typus des Heiligen vollkommener dar als irgendein Anachoret einfacher Zeiten.129

»Der Literat erscheint als Richter und Prophet.«130 Dieses Statement aus dem Essayprojekt »Geist und Kunst« ist insofern gewichtig, als Manns Erzähler mitunter selbst Spielarten prophetischer Rede austesten, sich zusehends spielerisch eines ironisch gebrochenen prophetischen Habitus bemächtigen:131 Eingangs deiktische Signalwörter wie »hier« und »dort«,132 zahlreiche Anaphern zu Beginn, Parallelismen zur Evokation einer Gruppendynamik (»sie schwiegen«, »sie stiegen«, »sie schellten«133), Brechungen des nüchternen Beschreibungsstils des Ortes durch antiquiert prosaische Wendungen wie »da ward«134 und Hypertaxe in »Beim Propheten« sind Belege dafür. Einerseits liegt es schließlich mit Blick auf die Erzählung nahe, das Plädoyer des Novellisten für das Leben zu profi lieren und eine Ablehnung der lebensfeindlichen Kunst des Propheten als thematisches Zentrum der Novelle zu fokussieren,135 andererseits trägt auch die »hoffnungslose Trivialität« der überhöhten Lebensnähe des Novellisten, der von seinem »Kulturideal«136 Sonja schwärmt, parodistische Züge, so dass keine »die Weltferne des Propheten kontrastierende positive (absolute) Bewertung«137 auszumachen ist: Weder eine einseitige militaristisch-geistige noch eine lebenszugeneigte Kunst entgehen der Parodie: Sowohl die Weltuntergang-Vision als

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Th. Mann, Der Literat. In: Th. Mann, Essays I. 1893–1914, hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2002, (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 14.1) S. 354–362, S. 362. Marx, »Ich aber sage Ihnen…«, S. 49. Bernd Auerochs’ Feststellung, dass der Heilige und Prophet nur Metaphern seien »für den Ernst des Schreibens und Erkennens« ist wenig ergiebig (B. Auerochs, Drei Stilisierungsweisen. Charisma bei Buber, George, Mann. In: Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, hg. von Michael Ansel, Hans-Edwin Friedrich u. Gerhard Lauer, Berlin 2009, S. 273–298, S. 289). Vgl. Th. Mann, Beim Propheten, S. 286. Th. Mann, Beim Propheten, S. 287. Th. Mann, Beim Propheten, S. 290. Vgl. Wiegmann, Die Erzählungen Thomas Manns, S. 153. Th. Mann, Beim Propheten, S. 290. Dietrich Krusche, Kommunikation im Erzähltext. Zur Anwendung wirkästhetischer Theorie, Bd. 1: Analysen, München 1978, S. 133–137, S. 136.

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auch die Schinkensemmel-Vision wirken komisch. Um die vom prophetischen Erzähler angezeigten Hintergründe des Scheiterns des Propheten einkreisen zu können, ist ein Blick auf den prophetischen Bilderkult in »Gladius Dei« und »Fiorenza« zu werfen. IV.1.2. Abbilderkult zwischen Reklame und ›Erziehung des Menschengeschlechts‹ (»Gladius Dei«; »Fiorenza«) In Thomas Manns vorhergehender Erzählung »Gladius Dei« (1902) und in seinem Drama »Fiorenza« (1906) ist eine ähnliche parodistische Verfahrensweise wie in »Beim Propheten« zu beobachten; erneut steht der prophetische Aspekt der »Gerichtsrede«138 im Mittelpunkt und wiederum wird der Umschlag von Prophetie in Parodie vorgeführt. Beide Propheten-Studien kreisen um den lebensfeindlichen Ketzer und Propheten Hieronymus/Girolamo (Savonarola) und seine protestantische139 Erziehungs-Kunst einerseits und eine oberflächliche Erotik der Ware eines sinnenreichen Kunstgewerbes inmitten einer dekadenten Renaissance-Stadt andererseits. Dabei wird das Geheimnis der Identität von Sinnen-Künstler und Geist-Prophet, von Reklame und ›Erziehung des Menschengeschlechts‹ von einer Erzähler-Instanz unterlaufen, die sich zugleich kunstvoll-prophetisch gebärdet. Während Hieronymus (so lateinisch Girolamo)140 in »Gladius Dei« den oberflächlichen Schönheitskult Münchens, des deutschen Florenz,141 zugunsten der Herrschaft des Geistes geißelt,142 er dabei eine prophetische Kunst-Rede einsetzt, so dass nicht nur die konkurrierenden Geltungsbereiche Geist und Kunst,143 sondern zwei radikal divergierende Kunstauffassungen – erotische und ethisch-moralische Ästhetik – aufeinanderprallen144

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Marx, »Ich aber sage Ihnen…«, S.  17. Vgl. zur Karikatur Savonarolas und zu Piepsams Strafpredigt in »Der Weg zum Friedhof« zuletzt: Denis Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900. Zwischen fiktivem Archetypus und Projektionsfigur der Krise, Hamburg 2008, S. 258f. Vgl. zu Savonarolas Disposition zum Protestantismus als Kontrast zum katholischen George: Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900, S. 270. Vgl. zu den Vergleichspunkten zwischen Hieronymus und Savonarola: Ernest M. Wolf, Savonarola in München. Eine Analyse von Thomas Manns »Gladius Dei«. In: Euphorion, 64, 1970, S. 85–96, S. 85f. Vgl. zur Ähnlichkeit zwischen München und Florenz: E. Wolf, Savonarola in München, S. 90. Vgl. Thomas Mann: »Es ist verbrecherisch, die Unwissenheit der schamlosen Kinder und kecken Unbedenklichkeiten durch die Erhöhung und frevle Anbetung der Schönheit zu bestätigen […]« (Th. Mann, Gladius Dei. In: Mann, Sämtliche Erzählungen, S. 155–169, S. 166). Hier ist auch das platonische Verdikt gegen die sittenverderbende Funktion der Kunst aufgegriffen (vgl. Platon, Politeia, 595a–608b). Vgl. Wysling, Geist und Kunst, S. 123–151. Die profane Kunst richtet sich hierbei vornehmlich an das Auge und die Sinnenlust der Menschen, um zu vergnügen (delectare), die andere an das Ohr und den Geist des Rezipienten, um zu erziehen (prodesse).

und die mit Machtphantasien und Eigennutz verknüpften Ansprüche ihrer Vertreter – des pädagogischen Propheten und der Schönheits-Vermarkter145 – dialektisch entlarvt werden,146 bemächtigt sich der Erzähler beim einladenden Rundgang durch das München der Jahrhundertwende spielerisch eines prophetischen ›Zeige-Stils‹. Dieser fungiert als Scharnier zwischen beiden Kunstauffassungen: Er ahmt einerseits die Vielfalt an Reklame, insbesondere für erotische Waren, z.B. »Bacchanten, Ni-

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Vgl. die vielen Hinweise auf Plakate (vgl. Th. Mann, Beim Propheten, S. 156). Das erste Kapitel in »Gladius Dei« exponiert die Münchner, vom Renaissance-Fluidum durchtränkte Lebensweise: »Die Kunst ist an der Herrschaft« (Th. Mann, Gladius Dei, S. 157), man lebt »angenehmen Zwecken« und befolgt »unbedenkliche Sitten« (Th. Mann, Gladius Dei, S. 157). Die dort in Läden zur Schau gestellte erotische Kunst ist pseudo-sakral zur Anbetungswürdigkeit stilisiert. Als voranschreitender »Schatten« (Th. Mann, Gladius Dei, S. 159) wird das unaufhaltsame Eindringen der düsteren Gestalt des Hieronymus in das leuchtende München im zweiten Kapitel vorgestellt. Seine vom »Protest gegen das Leben« (Th. Mann, Gladius Dei, S. 158) gezeichnete Gestalt, die ausdrücklich auf das »alte Bildnis von Möncheshand« (Th. Mann, Gladius Dei, S. 158) des Savonarola verweist, seine Mönchkutte, sein herrischer Ausdruck, sein kühner Blick, die Furchen auf seiner Stirn als Ausdruck seiner Qualen verbinden ihn mit den Mann’schen Hermesfigurationen und provozieren sein Verlachen der Münchner (vgl. Th. Mann, Gladius Dei, S. 158). Als Zeuge eines Gesprächs über die Erotisierung einer ausgestellten Madonna zur »mater amata« (Th. Mann, Gladius Dei, S. 160), der eine »kleine Putzmacherin« (Th. Mann, Gladius Dei, S. 160) als Modell dient, im Geschäft Blüthenzweigs, Kulminationspunkt und Ort all der versammelten »blühenden« Kunst, fühlt Hieronymus sich zum richtenden Propheten über die Unsittlichkeit der Kunstwerke berufen, wie es sein Sendungsauftrag ihm eingibt. Mit dem Schlachtruf »Gott will es« (Th. Mann, Gladius Dei, S. 161) eingeleitet und vom Wetterwechsel versinnbildlicht – ein Gewitter droht (vgl. Th. Mann, Gladius Dei, S. 161) – macht sich Hieronymus auf, die Entfernung der zur »entblöste[n] Wollust« (Th. Mann, Gladius Dei, S. 165) verkommenen Madonna von Blüthenzweig mit modulationsloser Stimme (vgl. Th. Mann, Gladius Dei, S. 163) zu fordern. Im Dialog mit dem ihn beschnüffelnden Geschäftsführer – sein anderer Widerpart Lorenzo de Medici in »Fiorenza« besitzt dem entgegengesetzt gerade keinen Geruchssinn – stellt der Mönch im Flüsterton rhetorische Fragen nach dem Zweck der Kunst und verurteilt schließlich mit »rostigem Klange« (Th. Mann, Gladius Dei, S. 166) den »freche[n] Götzendienst der gleißenden Oberfläche« (Th. Mann, Gladius Dei, S. 166), denn: »Es ist verbrecherisch, die Unwissenheit der schamlosen Kinder und kecken Unbedenklichen durch die Erhöhung und frevle Anbetung der Schönheit zu betätigen, zu bekräftigen und ihr zur Macht zu verhelfen, denn sie sind weit vom Leiden und weiter noch von der Erlösung!« (Th. Mann, Gladius Dei, S. 166). Seinem eigenen Verständnis nach ist die Kunst ein »göttliches[s] Feuer« (Th. Mann, Gladius Dei, S. 166), also Vernichtungsstrategie zur Ausrottung einer verführerischen Kunst. Mit geballten Fäusten und erhitzt beschwört er in apokalyptischer Manier eine Art Säuberung mit dem Ziel, alles vom Heidentum und von Sünde zu reinigen. Nach seinem Rauswurf durch Blüthenzweigs Handlanger Krauthuber, Ausdruck brachialer Lebensgewalt, bleibt ihm allerdings angesichts seiner Schwäche und seiner zutage tretenden ›Überbeauftragtheit‹ hasserfüllt nur das »flüsternde« Herbeisehnen des Jüngsten Gerichts: »Gladius Dei super terram … Cito et velociter!« (Th. Mann, Gladius Dei, S. 169). Das leise Flüstern und seine Wollust hebt auch Georg Heym in seinem »Savonarola«-Gedicht hervor (vgl. G. Heym, Savonarola. In: Heym, Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe, hg. von Karl Ludwig Schneider, Bd. 1: Lyrik, bearbeitet von Karl Ludwig Schneider u. Gunter Martens, Hamburg 1964, S. 159).

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xen, rosige Nacktheiten«147 nach: »Blick um dich, sieh in die Fenster der Buchläden […] – und du mußt wissen, daß diese Weckschriften tausendfach gekauft und gelesen werden […]«148 sowie die Hinwendung der Kunst zur Erotik: »Und sieh, dort fährt ein großer Maler mit seiner Geliebten in einem Wagen die Ludwigsstraße hinauf«149, andererseits kündigt er den eben diese Verknüpfung von Kunst und Erotik mit prophetischer Rede verurteilenden Mönch an, und zwar in Form einer »typologischen Berufungsszene«150: In der dritten Nacht aber geschah es, daß ein Befehl und Ruf aus der Höhe an Hieronymus erging, einzuschreiten und seine Stimme zu erheben gegen leichtherzige Ruchlosigkeit und frechen Schönheitsdünkel. Vergebens wendete er, Mosen gleich, seine blöde Zunge vor; Gottes Wille blieb unerschütterlich und verlangte laut von seiner Zaghaft igkeit diesen Opfergang unter die lachenden Feinde. Da machte er sich auf am Vormittage und ging, weil Gott es wollte, den Weg zur Kunsthandlung, zum großen Schönheitsgeschäft von M. Blüthenzweig.151

Lediglich als Mose stilisiert und nur die »unschöne Stimme«152 mit ihm teilend,153 offenbart sich der Prophet als Hermes-Psychopompos mit Sehnsucht zum Weltenbrand mit Reinigungsfunktion,154 denn die »Kunst ist die heilige Fackel«155. Seine Worte und Verdammung des »freche[n] Götzendienst[es] der gleißenden Oberfläche«156 bleiben Schall und Rauch, wie diejenigen des Stellvertreter-Propheten in »Beim Propheten«.157 Seine verborgene Sehnsucht nach der Sinnlichkeit offenbart seine ungewöhnlich lange, stille Andacht vor der anzüglichen Madonna.158 Und so wie in »Beim Propheten« die dekadente Räumlichkeit den falschen Propheten denunziert, so verrät der abstoßende Körper des Hieronymus mit unschöner Stimme, von Querfalten gezeichneter Stirn, Wangenhöhlen, verkrampfter Handpose, dicken Lippen, irren Augen u.a.159 durch eine Kontrafaktur des stigmatisierten Propheten-Körpers als Mahnmal für die sündige Umgebung seine eigene sinnliche Unzucht. 147 148 149 150 151 152 153 154

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Th. Mann, Gladius Dei, S. 156. Th. Mann, Gladius Dei, S. 157. Th. Mann, Gladius Dei, S. 157. Marx, »Ich aber sage Ihnen…«, S. 23. Th. Mann, Gladius Dei, S. 161. Th. Mann, Gladius Dei, S. 167. Vgl. zur Christustypologie: Marx, »Ich aber sage Ihnen…«, S. 24. Vgl. zum Nothung-Motiv: Wolf Wucherpfennig, Apokalypsis monaci laeti. München um 1900, durchleuchtet von Thomas Mann. In: Attraktion Großstadt um 1900: Individuum – Gemeinschaft – Masse, hg. von Ortrud Gutjahr, Bernd Henningsen, Helmut Müssener u. Otto Lorenz, Berlin 2001, S. 81–103, S. 81f.; Wiegmann, Die Erzählungen Thomas Manns, S. 89. Th. Mann, Gladius Dei, S. 166. Th. Mann, Gladius Dei, S. 166. Seine Größe bezieht er allein aus der passenden Örtlichkeit wie der Kirche; sobald er sein Reich verlässt, schwindet seine Macht (vgl. Th. Mann, Gladius Dei, S. 158). Vgl. Joachim Wich, Thomas Manns »Gladius Dei« als Parodie. In: Germanisch-romanische Monatsschrift NF, 22, 1972, S. 389–400, S. 394. Vgl. Th. Mann, Gladius Dei, S. 166f.

Die ironische Pointe dieser Erzählung besteht darin, dass der Prophet die Technik der musealen Archivierung von »Reproduktionen von Meisterwerken«160, die serielle Anhäufung von »Porträts von Künstlern, Musikern, Philosophen, Schauspielern, Dichtern«161, von »Propagandaschriften der Kunst«162 und die unzüchtige Anbetung einer »Reproduktion«163 verdammt, die sein Alter Ego, seine ›Kopie‹, in »Beim Propheten« auf dieselbe Weise betreibt, u.a. mit dem Savonarola-Bildnis.164 Hieronymus ist zudem selbst nur ein Abbild Savonarolas.165 Die prophetische Mahnrede der ›Kopie‹ Savonarolas ist ferner gegen den Götzen- und ›Bilderdienst‹, gegen das museale München gerichtet,166 als dessen Diener sich der Prophet in »Beim Propheten« gleichermaßen häretisch schuldig macht. Die Bilder-Zensur ist demnach doppelt komisch, wenn man die spätere Erzählung hinzuzieht. Gemäß Walter Benjamin wird vom Propheten in »Gladius Dei« zum einen die sich auflösende Aura167 des Madonnen-Originals durch das fehlende Ritual,168 die Anbetung in der Kirche, und zum anderen die Reproduktion von Markenbildern bemängelt, die die Tradition verfälschen. Der »profane Schönheitsdienst, der sich mit der Renaissance herausbildet«169, wird weiterhin durch die unauthentische ›Kopie‹ des Propheten in Form des zu Renaissance-Zeiten agierenden Savonarolas versinnbildlicht, der zudem das Ritual der Anbetung in den Bereich der politischen Prophetie verschiebt. Nicht die im Laden ausgestellte Photographie und ihr »Ausstellungswert« beginnen den »Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen«170, sondern die lebende ›Kopie‹ des falschen Propheten, der das Übernatürliche verfälscht zum Ausdruck bringt: Sein Credo ist die Apotheose des Kriegs, das allerdings ironisch als Aufstand gegen die Technik und die Waren konzipiert ist, als deren Teil er zu begreifen ist. Seine alludierte antisemitische Haltung gegen Blüthenzweigs Warenreproduktion wirkt aus dem Mund eines Propheten darüber hinaus provokant. Dass Blüthenzweigs Warenhaus eine jüdische Herkunft aufweist, erinnert ferner an Ludwig Klages’ und Alfred Schulers Geißelung der modernen Warenvermarktung, die sie als »Sündenfall der Menschheit«171, als »Emanation des Bösen«172 beschreiben und die mit ihrer

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Th. Mann, Gladius Dei, S. 156. Th. Mann, Gladius Dei, S. 156. Th. Mann, Gladius Dei, S. 169. Th. Mann, Gladius Dei, S. 163. Vgl. Th. Mann, Beim Propheten, S. 289. Auf Thomas Manns Schreibtisch findet sich eine Reproduktion von Fra Bartolommeos Savonarola-Porträt (vgl. Wiegmann, Die Erzählungen Thomas Manns, S.  88; E. M. Wolf, Savonarola in München, S. 87; Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900, S. 281 u. S. 287). Vgl. zu München als Kunststadt: Wucherpfennig, Apokalypsis monaci laeti, S. 81–103. Vgl. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 16. Vgl. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 22. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 23. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 31. Plumpe, Alfred Schuler und die »Kosmische Runde«, S. 251. Plumpe, Alfred Schuler und die »Kosmische Runde«, S. 251.

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antisemitischen Haltung einhergeht. Obwohl ihnen als ›Römern‹ jede jahwistische Ausrichtung ein Ärgernis ist,173 bleibt ihr kosmisches Geschichtsdenken indes durchaus einem prophetischen Blickwinkel verhaftet.174 Die Demaskierung von Hieronymus’ fanatischem Auftritt, der allenfalls das Lachen der Umstehenden provoziert,175 geht wiederum mit einer Parodie auf die stellvertretenden Schönheitsvertreter einher, wie Krauthubers Darstellung als »übergewaltiges Etwas […] von schreckeneinflößender Fülle«176 zeigt.177 Einer doppelten Optik gemäß und durch die parodistische Aneignung des prophetischen Stils entlarvt der Erzähler nicht nur beide Kunstauffassungen, die einerseits eine Säkularisierung der Religion, besser gesagt eine Vermarktung (pseudo-)religiöser Kunst, und andererseits eine Re-Sakralisierung der Kunst in Form der prophetischen Gerichtsrede und einer platonisch inspirierten Kunst-Zensur anvisieren, als absolutistisch, sondern begründet seine Unabhängigkeit, sofern er Vergnügen und lehrreiche Kunst synthetisch in eine Zusammenschau manövriert. Ja mehr noch, der Erzähler prätendiert selbst eine typologische Verheißungsgeste, indem er als Vollender prophetischer Gerichtsrede ein ironisches, salomonisches Urteil fällt und dadurch seine Vorbilder übertrifft.178 Sein für die Dekadenz typisches Verfahren des dédoublement soll ihn von prophetischen Spiegelbildern säubern, so wie Thomas Mann seine Masken179 partiell zu destruieren scheint. Insofern partizipieren Manns Erzählinstanzen doch – v.a. in Form der ironisierten Propheten-Sprache – an der Re-Sakralisierung der Kunst unter Rekurs auf ein prophetisches Künstlertum, das Parodie und Prophetie produktiv zu kombinieren sucht. Und Manns Maskenspiel dient ihm – folgt man seinen eigenen Äußerungen – als »conditio sine qua non des Schreibens«180,181 genauer eines prophetischen Schreibens. Die Propheten-Figur befördert demnach wiederum den Schreibprozess und die Etablierung neuer prophetischer Kunst-Rede. Einer Transgression zwischen Propheten-Figur, prophetischer Erzählinstanz und prophetischem Autor muss zwar kein Glauben geschenkt werden, doch ist es auch für Thomas Mann signifikant, dass er mit der Idee eines prophetischen Gesamtkunstwerks liebäu-

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Vgl. Plumpe, Alfred Schuler und die »Kosmische Runde«, S. 230. Zur These der »jüdischen Weltverschwörung« siehe: Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 11. Vgl. Plumpe, Alfred Schuler und die »Kosmische Runde«, S. 255. Vgl. Th. Mann, Gladius Dei, S. 169. Th. Mann, Gladius Dei, S. 168. Vgl. Wiegmann, Die Erzählungen Thomas Manns, S. 94. Vgl. zur Parallele Krauthuber und Permaneder in den Buddenbrooks: E. M. Wolf, Savonarola in München, S. 96. Vgl. zu den zahlreichen Photographien, die Mann in sein Werk ›einbaut‹: Eva-Monika Turck, Thomas Mann. Fotografie wird Literatur, München u.a. 2003. Vgl. Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900, S. 283. Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900, S. 273. »Nur die Maske konnte ihm als ein Dazwischen im Kontinuum der unendlichen mittleren Ebenen dienen, die in der literarischen Erzählung Wirklichkeit und Fiktion, Autor und Erzähler, Autor und Figuren einer Linse gleich verbindet bzw. bündelt« (Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900, S. 274).

gelt, wenn auch ironisch-ernsthaft.182 Dies lässt sich auch an seinem einzigen Drama »Fiorenza« belegen. Unter dem von Lorenzo im Gespräch mit Savonarola eingeführten Schlagwort »feindliche Brüder«183 wird die Nähe von Prophet und Künstlerschaft weiter präzisiert.184 Der Prior definiert sich selbst als ein Prophet, d.i. ein »Künstler, der zugleich ein Heiliger ist«185, denn seine Kunst ist wider die »Augen- und Schaukunst« »Erkenntnis«186: Geist- und Sinnen-Schönheit sind einander erneut entgegengesetzt. Die Savonarola-Figuration artikuliert wieder einen prophetischen Richterspruch, der die Unsittlichkeit der florentinischen Lebenslust scharf verurteilt.187 Für das Sendungsbewusstsein des Propheten sind die Verschränkung der politischen (der Herrschaftsanspruch über Florenz), ästhetisch-moralischen (die Ablehnung der unsittlichen Kunst und Lebensweise) und privaten Interessen (die Rache an der Gemahlin Lorenzos: Fiorenza, die ihn einst zurückwies) entscheidend. In seiner Predigt188 mit »stark elaborierte[r] Kunstsprache«189 zieht er alle Register einer »Affektdramaturgie«190 im Rahmen einer christlichen Rhetorik: Er bedient sich eines »geheimnisvolle[n] Flüstern[s]«191, »predigt unter Schrecken, Weinen und Entsetzen«, berührt das Gewissen mittels »rätselhaft betonten Wort[es]«192, »daß die Menge wie ein einziger Körper zusammenzuckt«193, sein »schwermütiges Sehertum, sein tiefblickendes Ge-

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In »Bilse und Ich« beschreibt Thomas Mann seine literarischen Gestalten, die als Abbilder der Wirklichkeit beseelt werden als »Emanationen des dichtenden Ich« (Th. Mann, Bilse und Ich. In: Th. Mann, Essays I, S. 95–111, S. 102). Im Folgenden spricht er davon, wie er sich in seinen Gestalten als Masken »züchtigte« (Th. Mann, Bilse und Ich, S. 103): »Da ich ihm aber seine Maske mit Eigenem füllte, so wurde er mein Feind« (Th. Mann, Bilse und Ich, S. 104). Um sich auf einen Schlag aller Vorwürfe bezüglich seiner Figurengestaltung zu entledigen, schließt er: »Nicht von Euch ist die Rede, gar niemals, seid des nun getröstet, sondern von mir, von mir…« (Th. Mann, Bilse und Ich, S. 110). Th. Mann, Fiorenza, S. 808. In einem Brief an Heinrich Mann vom 17.12.1900 betont Thomas Mann: »Christus und Frau Girolamo sind Eins: nämlich die Genie gewordene Schwäche zur Herrschaft über das Leben« (Th. Mann zitiert nach Marx, »Ich aber sage Ihnen…«, S. 36). Th. Mann, Fiorenza, S. 806. Th. Mann, Fiorenza, S. 806. Zur Verherrlichung des »gewalttätigen Ästhetizismus des Renaissance-Menschen« Gobineau als Vorlage für Manns Savonarola-Rezeption siehe: Hartwich, Prediger und Erzähler, S. 40ff. Zum Renaissance-Kult und Savonarolas Kritik siehe: Hanno-Walter Kruft, Renaissance und Renaissancismus bei Thomas Mann. In: Renaissance und Renaissancismus von Jacob Burckhardt bis Thomas Mann, hg. von August Buck, Tübingen 1990, S. 89–102, S. 90f. Savonarolas Predigt in »Fiorenza« bezieht sich auf seine Predigt über den Propheten Haggai (vgl. Hartwich, Prediger und Erzähler, S. 34). Hartwich, Prediger und Erzähler, S. 36. Hartwich, Prediger und Erzähler, S. 34. »Seine Stimme ist so wunderlich leise, und nur sein Auge und seine Gebärde gibt ihr scheinbar zuweilen eine entsetzliche Donnerkraft« (Th. Mann, Fiorenza, S. 733). Th. Mann, Fiorenza, S. 741. Th. Mann, Fiorenza, S. 741. Die Vorstellung, dass das Volk ein Körper sei, liegt auch Hobbes Leviathan zugrunde (vgl. Hobbes, Leviathan).

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richt [übt] über alles Leben einen magischen Einfluß«194 aus. Die emotional angreifende Rede mit Personifi kationen und allegorischen Visualisierungen u.a.195 evoziert eine »Gewalt des Augenblicks«, »daß alles, was er sieht, zur Wahrheit und Gegenwart wird, indem er es ausspricht«196: »Seine Worte sind wie schwirrende Pfeile, ihr Herren, sie treffen, sie treffen!«197 Performatives und allegorisches Sprechen, wie seine Identifi kation der Fiorenza, Geliebte Lorenzos und Namensvetterin der Stadt Florenz, mit der Hure Babylon anzeigt,198 ist des Predigers Waffe.199 Mit stigmatisiertem Äußeren als »Krüppel«200 und Todesbote201, effektvoll-rhetorisch durchkomponierter Kunst-Prophetie, gelingt ihm eine charismatische Wirkung, die seinen Alter Egos in »Beim Propheten« und »Gladius Dei« misslingt: »Meine Kunst gewann das Volk! Florenz ist mein.«202 Er bedient sich der »liturgische[n] Demonstration«203 und Kunst-Rede gleichermaßen.204 Der Lebensmann Lorenzo, des Priors Gegenpart, tituliert als »Dionysos« und »Herr der Schönheit«205, stellt der Girolamo vorschwebenden Christus-Herrschaft des Kreuzes206 eine Herrschaft der Schönheit entgegen, die er »über Gesetz und Tugend«207 stellt. Indes eruiert er Affinitäten zum geistlichen Künstler, wie ihre Deformation, ihre Behandlung der Stadt als Machtinstrument und ihre Usurpation der Kunst als Herrschaftsgrundlage: »Ihr schmäht die Kunst und nutzt sie in Eurem Dienste doch aus. Euer Ruf und Ruhm ward laut, weil diese Zeit und Stadt das stolze Einzelwesen anbetet.«208 Letztlich sei es nämlich des

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Th. Mann, Fiorenza, S. 749. Vgl. Hartwich, Prediger und Erzähler, S. 36. Th. Mann, Fiorenza, S. 745. Th. Mann, Fiorenza, S. 763. Vgl. zur Pfeilmetaphorik in »Bilse und Ich«: Th. Mann, Bilse und Ich, S. 108; Marx, »Ich aber sage Ihnen…«, S. 38. Vgl. zu Zarathustras Worte als »Pfeile«: Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 17. Vgl. Th. Mann, Fiorenza, S. 744. In Polizianos Augen verdankt der »traurige Diktator« hingegen seine »billigen Erfolge« lediglich den »Offenbarungen seiner häßlichen Natur«, Ausdruck seiner »Habsucht nach Menschenherzen« (Th. Mann, Fiorenza, S. 746). Pico sieht seine Wirkung tiefgründiger als Ermöglichung der Moral gegen den nietzscheanischen Grundsatz »Alles ist erlaubt« (Th. Mann, Fiorenza, S. 750). Vgl. Zarathustras Perspektivismus: »Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 340; vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 399). Th. Mann, Fiorenza, S. 808. Vgl. Th. Mann, Fiorenza, S. 811. Th. Mann, Fiorenza, S. 811. Hartwich, Prediger und Erzähler, S. 38. Eine vergleichbare Instrumentalisierung magischer Praktiken und Rituale als »niedrige Form der Offenbarung« (Th. Mann, Mario und der Zauberer, S. 548) betreibt Cipolla in »Mario und der Zauberer«. Th. Mann, Fiorenza, S. 781. Vgl. zu Girolamo als imitatio christi: Marx, »Ich aber sage Ihnen…«, S. 41. Th. Mann, Fiorenza, S. 790. Th. Mann, Fiorenza, S. 809. Lorenzos Kunst ist somit auch als Selbstermächtigungsmöglichkeit von kreativer Subjektivität zu verstehen, was als ein zentraler Gedanke der RenaissancePhilosophie gelten kann.

Priors egozentrisches Streben nach Herrschaft , »Ruhm«209 und seine Sehnsucht nach Vernichtung des Schönen, die ihm mangle und die er subversiv durch eine Instrumentalisierung der Kunst betreibe. Als Vergleichsfigur für Lorenzo wählt sein Künstler-Kreis Mose,210 der auch Savonarola als Vorbild dient,211 wodurch ihr Wunsch nach prophetischer Führerschaft über das »kindische Volk«212 angezeigt ist.213 Das Programm »Dionysos gegen den Gekreuzigten« – und umgekehrt – mündet also in das Künstlerbild des Propheten Mose. Die Politisierung und Ästhetisierung des biblischen Mose geht mit einer ideologischen Vereinnahmung des Prophetischen einher und ist zugleich Ausdruck einer Überschreitung christlicher Rhetorik: Die Sakralisierung der Ästhetik wendet sich gegen die despotische Instrumentalisierung von Kunst und Religion. Die Autonomie des Heiligen macht Savonarola aber wieder zunichte, wenn er die religiöse Sprache instrumentalisiert, um seine eigene theokratische Herrschaft zu begründen.214

Die falschen Propheten sehen sich leidend zum Ruhm erkoren,215 verbergen ihre Hässlichkeit216 unter der schönen Kunst, sind krank oder tot,217 behext von der Sehnsucht nach der schönsten Frau Fiorenza,218 was ihre geheime Identität offenlegt.219 Ihr Machtanspruch ist bitter erkämpft, so dass für beide Lorenzos Credo gleichermaßen gilt: »Wir herrschen ohne Krone, von Natur […]. Wir wurden groß in uns, durch Fleiß, durch Kampf, durch Zucht.«220 Seine zentrale Vorstellung einer Kunstherrschaft mittels »Zucht« verweist auf den Prototypen des sich quälen müssenden Künstlers (sowohl des scheiternden Künstlers Aschenbach im »Tod in Venedig«221 – gemäß des Mann’schen Lieblingsheiligen, des Heiligen Sebastian –222 als auch des

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Th. Mann, Fiorenza, S. 809. Vgl. Th. Mann, Fiorenza, S. 798. Vgl. Th. Mann, Fiorenza, S. 752–753. Th. Mann, Fiorenza, S. 786. Vgl. Marx, »Ich aber sage Ihnen…«, S. 41. Hartwich, Prediger und Erzähler, S. 40. Vgl. Th. Mann, Fiorenza, S. 809. Vgl. Nietzsches Beschreibung und Verherrlichung des Kriegsvolks und seinen »Mantel des Hässlichen« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 59). Vgl. Th. Mann, Fiorenza, S. 803. Vgl. zu Nietzsches Askese-Kritik: Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 362f. Vgl. Marx, »Ich aber sage Ihnen…«, S. 36f. Vgl. Th. Mann, Fiorenza, S. 808. Marx sieht hierin wieder »den Abstand zum leichtfertigen Kunstgewerbe einerseits, und zur dionysisch inspirierten Renaissance-Verherrlichung andererseits« (Marx, »Ich aber sage Ihnen…«, S. 49) markiert. Th. Mann, Fiorenza, S. 789. Vgl. dazu ausführlich: Bernhard Böschenstein, Exzentrische Polarität. Zum »Tod in Venedig«. In: Thomas Mann. Romane und Erzählungen, hg. von Volkmar Hansen, Stuttgart 1993, S. 89–120. Vgl. Th. Mann, Der Tod in Venedig. In: Mann, Sämtliche Erzählungen, S. 353–417, S. 360. Marx, »Ich aber sage Ihnen…«, S. 61.

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Vorzeige-Künstlers alias Schiller223 in »Schwere Stunde«), der aus der heiligen Empfängnis die heilige Form gottähnlich schafft und den Thomas Mann als bewundernswerten Propheten dank seiner Kreuzung aus göttlichem Schaffen und heroischer Lebensform sieht224 und liebevoll ironisch zu favorisieren scheint: Und es wurde fertig, das Leidenswerk. Es wurde vielleicht nicht gut, aber es wurde fertig. Und als es fertig war, siehe, da war es auch gut. Und aus seiner Seele, aus Musik und Idee, rangen sich neue Werke hervor, klingende und schimmernde Gebilde, die in heiliger Form die unendliche Heimat wunderbar ahnen ließen, wie in der Muschel das Meer saust […].225

Dass sich Thomas Mann mit Savonarola partiell identifiziert, behauptet Marx.226 Der »fi ktive Archetypus«227 des revolutionären Propheten, das »Symbol für die Askese im Sinne Nietzsches«228, verwandelt sich für Mann in eine »Projektionsfigur der Krise«229, die von Manns Wagner-Krise mitbestimmt ist.230 In seinen Anmerkungen zu »Fiorenza« betont Thomas Mann zwar, dass in der antithetischen Form des Dramas zwei Gegenspieler vorgeführt werden, doch dass der Dichter hingegen die Synthese selbst ist: »Er stellt sie dar, immer und überall, die Versöhnung von Geist und Kunst, von Erkenntnis und Schöpfertum, Intellektualismus und Einfalt, Vernunft und Dämonie, Askese und Schönheit – das Dritte Reich.«231 Der Dichter versteht sich demnach als Künstler-Prophet dieses Dritten Reichs, und wie seine Protagonisten sich mit Mose identifizieren, so gibt ihr Schöpfer vor, ein Richter zu sein, der den Propheten des Alten Testaments verwandt sei.232

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Schiller wurde zur Zeit Manns zur Priesterfigur stilisiert (vgl. Marx, »Ich aber sage Ihnen…«, S. 62). Blamberger sieht in »Schwere Stunde« den »Übergang von der scheinbar geheimnisvollen, weil der Kontrolle des Verstandes entzogenen Phantasie der Inspiration zu der der bewußten Elaboration, der poetischen Arbeit« vorgeführt (Blamberger, S. 179f.). Vgl. Tonio Krögers Willen zur heiligen Form: »Während ich schreibe, rauscht das Meer zu mir herauf, und ich schließe die Augen. Ich schaue in eine ungeborene und schemenhafte Welt hinein, die geordnet und gebildet sein will, ich sehe in ein Gewimmel von Schatten menschlicher Gestalten, die mir winken, daß ich sie banne und erlöse […]« (Th. Mann, Tonio Kröger, S. 265). Vgl. die Nähe des Künstlers zum Helden: »Aber war Schaffen göttlich, so war Erkenntnis Heldentum, und beides war der, ein Gott und ein Held, welcher erkennend schuf !« (Th. Mann, Schwere Stunde. In: Mann, Sämtliche Erzählungen, S. 294–300, S. 299). Vgl. Th. Mann, Schwere Stunde, S. 300. Marx, »Ich aber sage Ihnen…«, S. 44f.; vgl. Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900, S. 277f. Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900, S. 331. Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900, S. 333. Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900, S. 331. Forasacco erläutert zuletzt die These vom Bruderdrama, wonach sich hinter Lorenzo Heinrich Mann verberge (vgl. Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900, S. 318f.). Th. Mann, Zu »Fiorenza«. In: Th. Mann, Essays I, S. 348–349, S. 349. Vgl. Th. Mann, Der Literat, S. 362.

Während in »Beim Propheten« (1904), »Gladius Dei« (1902) und »Fiorenza« (1906) parodistisch die Geißelung des Götzendienstes von Seiten selbsternannter Künstler-Propheten vorgeführt wird, dabei ihre Charaktere als weitere unscharfe Kopien ihrer vorgängigen Propheten-Vorbilder wie Mose offengelegt, gleichzeitig ihre Gegenspieler einer lebensfrohen Kunst entlarvt werden, wie dies zwischen dem jesuitisch-militanten Pastoralen Naphta und dem Aufk lärer Settembrini teilweise im Zauberberg233 ein Echo erfährt,234 bietet die Doppelbödigkeit und paradoxe Anlage235 der Mose-Figur, die Mann in seiner späten Erzählung »Das Gesetz« (1940) aufgreift, eine weitere Variante der Ästhetisierung der Prophetie. Durch Mose als Vermittler der Zehn Gebote, die er als »Diktat«236 empfängt, zeichnet sich eine Nobilitierung des Künstler-Propheten ab.237

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Vgl. zu Der Zauberberg zusammenfassend: Eva Wessell, »Der Zauberberg« als Chronik der Dekadenz. In: Thomas Mann. Romane und Erzählungen, hg. von Volkmar Hansen, Stuttgart 1993, S. 121–149. Falsche Propheten sind im Zauberberg auch der spiritistische Totenbeschwörer Krokowski und der Charismatiker Peeperkorn, der keine Botschaft hat (vgl. Auerochs, Drei Stilisierungsweisen, S. 293). Eingangs heißt es in »Das Gesetz«: »Seine Geburt war unordentlich, darum liebte er leidenschaftlich Ordnung, das Unverbrüchliche, Gebot und Verbot. Er tötete früh im Auflodern, darum wußte er besser als jeder Unerfahrene, daß Töten zwar köstlich, aber getötet zu haben höchst gräßlich ist, und daß du nicht töten sollst. Er war sinnenheiß, darum verlangte es ihn nach dem Geistigen, Reinen und Heiligen, dem Unsichtbaren, denn dieses schien ihm geistig, heilig und rein« (Th. Mann, Das Gesetz, S. 641). Moses schlechtes, stockendes Reden, sein Schütteln der Fäuste als »Implikationen der Unsichtbarkeit« (Th. Mann, Das Gesetz, S. 643), »sein stockend gestaute[s] Wesen überhaupt« (Th. Mann, Das Gesetz, S. 648), seine Neigung zum »Zungenschlag« (Th. Mann, Das Gesetz, S. 648), sein Angewiesensein auf Stellvertreter-Propheten, insbesondere auf Aarons »gaumig fließende Rede« (Th. Mann, Das Gesetz, S. 651), seine »schwere[n] Stunden mit Gott unter vier Augen« (Th. Mann, Das Gesetz, S. 661, vgl. S. 653), seine Hindernisse beim »Werk der Reinigung und Gestaltung im Zeichen des Unsichtbaren« (Th. Mann, Das Gesetz, S. 667) als Steinmetz des Volkes (vgl. Th. Mann, Das Gesetz, S. 677), seine Sinnenlust zur Mohrin (vgl. Th. Mann, Das Gesetz, S. 679) verleihen der Figur eine unprophetische, parodistische Aura. Th. Mann, Das Gesetz, S. 685. Vgl. Th. Mann, Das Gesetz, S. 687. Vgl. Hartwich, Die Sendung Moses, S. 215ff. »Das Gesetz« ist ein Auftragswerk zur Polemik gegen das Nazi-Regime (vgl. Hartwich, Die Sendung Moses, S.  215; Wiegmann, Die Erzählungen Thomas Manns, S.  246). Als Anlass für die Mann’sche Erzählung fungiert ein fiktives, von Rauschning tradiertes Hitler-Zitat, das die Befreiung vom Fluch des Sinai provokativ im nietzscheanischen Gestus anmahnt. Arnim L. Robinson plante als Replik darauf zunächst einen Film und veröffentlichte schließlich doch Erzählungen prominenter Autoren zur Thematik des Dekalogs, darunter diejenige Thomas Manns. Vgl. zur politischen Ursprungsintention von Thomas Manns »Das Gesetz«: Hans R. Vaget, Das Gesetz. In: Thomas-Mann-Handbuch, hg. von Helmut Koopmann, 3., aktualisierte Auflage, Stuttgart 2001, S. 605–610. Vgl. zu Manns Mose-Novelle im Speziellen: Hartwich, Die Sendung Moses, S. 215–226. Vgl. zur Geschichte der literarischen Verarbeitung der Mose-Gestalt in der Literatur: E. Otto, Mose. Geschichte und Legende, München 2006, bes. S. 7–9 u. S. 107f.

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IV.1.3. Prophetische Gerichtsrede: Der Prophet als gerichteter Richter (»Das Gesetz«) In »Das Gesetz« ist Mose zugleich »Meister«238, Steinmetz und Künstler,239 auf »Werbe-Wegen«240 als Erzieher des Menschengeschlechts unterwegs, um »es zu bilden und ungestört aus der heillosen Masse, die er liebte, eine heilige Gottesgestalt zu metzen«241, ein »reines Werk dem Unsichtbaren geweiht«242. Hartwich sieht in Manns Mose »die Ambivalenz der modernen Kunst, wie sie Nietzsche beschrieben hat«243 porträtiert: Als Ideologe einer ästhetizierten Politik opfert Mose das Einzelleben rücksichtslos einer abstrakten Idee. Zugleich ist er aber ein wirklicher Künstler, weil er durch die Abfassung des Gesetzes eine Sprache schafft , die mit allen Sprachen der Menschheit kommunikabel ist, und durch seinen individuellen Stil eine neue ethische Norm setzt.244

»Wenn Mose die Lettern der Gesetzestafeln mit seinem Blut ausstreicht, wird der religiöse Topos des Martyriums zur Metapher des autonomen Künstlertums.«245 Seine Erfindung des Alphabets verleiht ihm ferner Züge eines neuen »Prometheus«246. Indem sich Mann parodistisch gegen die »Politisierung des Mythos und die Ästhetisierung der Politik« wendet, versucht er den Propheten-Mythos als »Lebensform für die Zukunft der Humanität«247 zu retten, und dies nicht zuletzt aufgrund des innovativen Sprachpotentials des Propheten. Mose soll als Vorbild, Werte-Kämpfer und Künstler bestechen. Der Erzähler identifiziert sich dabei mit Mose, um in seinem Namen den falschen Propheten Hitler zu richten:248 »Das Modell der mythopoetischen Nachfolge ermöglicht dem Erzähler, in die Rolle Moses zu schlüpfen und einer säkularen Abgötterei die Tafeln des göttlichen Gesetzes entgegenzuhalten, ohne selbst dem moralischen Fanatismus und seinen inhumanen Konsequenzen zu verfallen.«249 Aus der ironisch-parodistischen Distanzierung zur Propheten-Figur unter 238 239

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Th. Mann, Das Gesetz, S. 683. Vgl. Th. Mann, Das Gesetz, S. 677. Mose wird nach dem Vorbild des Propheten Jeremia beschrieben, den Michelangelo im Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle darstellt und das zugleich ein Selbstporträt Michelangelos ist (vgl. Klaus Makoschey, Quellenkritische Untersuchungen zum Spätwerk Thomas Manns: »Joseph, der Ernährer«, »Das Gesetz«, »Der Erwählte«, Frankfurt am Main 1998, S. 109; Wiegmann, Die Erzählungen Thomas Manns, S. 251). Th. Mann, Das Gesetz, S. 648. Th. Mann, Das Gesetz, S. 662; vgl. S. 678. Th. Mann, Das Gesetz, S. 663; vgl. S. 667, S. 671 u. S. 677. Hartwich, Die Sendung Moses, S. 225. Hartwich, Die Sendung Moses, S. 225. Hartwich, Prediger und Erzähler, S. 47; vgl. Th. Mann, Das Gesetz, S. 688. Jacques Darmaun, »Das Gesetz«. Hebräische Saga und deutsche Wirklichkeit. In: Thomas Mann. Romane und Erzählungen, hg. von Volkmar Hansen, Stuttgart 1993, S. 270–293, S. 273. Hartwich, Die Sendung Moses, S. 226. Vgl. Darmaun, »Das Gesetz«, S. 270. Hartwich, Prediger und Erzähler, S. 47.

Berücksichtigung des mosaischen Bilderverbots (Ex 20, 1–5) entsteht eine ProphetenFiguration, die Geist und Leben ironisch ausbalanciert:250 Durch eine parodistische Wendung wird die Macht prophetischer Rede als Inspiration einer neuen Kunstsprache und neuer Werte aktualisiert.251 Demnach gelten Mose Tafeln, Gebote und heilige Worte mehr als die falschen Götzen und unreinen Abbilder wie etwa das goldene Kalb:252 Die Rückkehr zum heiligen Wort verdrängt scheinbar den Bilderkult. Doch wird Mose wie Savonarola – dem Manns Mose in »Das Gesetz« gleicht –253 trotz allzu menschlicher Züge als Künstler nobilitiert: Das Leitmotiv seiner schüttelnden Fäuste254 unterstreicht seine Körperpoetik. Er ist zudem in seiner Ausdrucksfähigkeit gehemmt und bedarf deswegen weiterer Stellvertreter zur Aussprache.255 Beide Propheten modellieren sich in ihrer Kunst-Mission ihre »Volkskörper«256 nach Bedarf, sind despotisch, gewalttätig und jähzornig. Die Problematik dieser Heiligung des Kunst-Propheten, der »die Gewalt der heiligen Ordnung der Gewalt der natürlichen Unordnung«257 entgegenstellt, seine teilweise gewalttätigen Mittel als Akkomodation an das kindliche Volk erklärt,258 liegt auf der Hand:259 Manns »poetisch-theologische[r] Entwurf eines ›Evangeliums‹ der Kunst«260, der von Nietzsches Askese-Kritik inspiriert ist,261 gerät hier selbst zur unfreiwilligen Parodie seines parodistischen Propheten-Entwurfs der Zukunft. Er droht mit seinem unrein-reinen Propheten262 am

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Vgl. Hartwich, Die Sendung Moses, S. 225. Vgl. etwa die Mischung von Alltagssprache, chronikal-ernsthaftem Stil und leicht parodisierenden Formen der Propheten- und Theologensprache (vgl. Wiegmann, Die Erzählungen Thomas Manns, S. 257; Darmaun, »Das Gesetz«, S. 278). Vgl. Th. Mann, Das Gesetz, S. 694. Vgl. Hartwich, Prediger und Erzähler, S. 45. Vgl. Darmaun, »Das Gesetz«, S. 271. Th. Mann, Das Gesetz, S. 648, S. 651 u. S. 659. Vom »Rohmaterial von Volkskörper«, den Mose bearbeitet, spricht Mann in seinem Vorwort (Mann zitiert nach Wiegmann, Die Erzählungen Thomas Manns, S. 249). Hartwich, Die Sendung Moses, S. 218. Vgl. zum Prinzip der Akkommodation in Lessings Die Erziehung des Menschengeschlechts zusammenfassend: Monika Fick (Hg.), Lessing-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. 2., durchgesehene u. ergänzte Auflage, Stuttgart; Weimar 2004, S. 429f. Vgl. Moses Akkommodation der Schrift an den Horizont der »Kinder« (Th. Mann, Das Gesetz, S. 685). Mann bescheinigt der Mose-Figur in seiner Erzählung »die inhumane Seite eines diktatorischen Wahrheitsanspruchs« (Hartwich, Die Sendung Moses, S. 45). Dass seine parodistische Vermenschlichung des wichtigsten alttestamentlichen Propheten sowie seine eingearbeitete Ironisierung und Psychologisierung des Zwiespalts von Geist und Leben, Kunst und Politik, Rohheit und Humanität Thomas Mann Kritik ob seiner scheinbaren Pietätlosigkeit eingetragen haben, erläutert Hartwich: Besonders provokativ wirke die »Gewalt der heiligen Ordnung«, als deren Vertreter Mose fungiert, weshalb Mann letztlich »den autoritativen Wahrheitsgestus des mosaischen Gesetzes« (Hartwich, Die Sendung Moses, S. 218) parodiere. Hartwich, Die Sendung Moses, S. 219. Vgl. Hartwich, Die Sendung Moses, S. 220f. Vgl. Th. Mann, Das Gesetz, S. 641.

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»Fels des Anstandes«263 Schiffbruch zu erleiden. Jacques Darmaun veranschaulicht die Kehrseite der Erzählung, die antijüdische Klischees – das scheinbar Allzumenschliche des Propheten – beerbe: Moses politische Machenschaften, seine demagogischen Propagandamittel, Verschwörungen, heiligen Kriege, sein Partner, der Würgeengel Josua, sind Auswüchse eines radikalen Führertums, so dass gemäß Freuds Hypothese »Mord das eigentlich religionsstiftende Ereignis«264 zu sein scheint.265 Zudem ist der Prophet Israels auch als »deutsche[r] Luther«266 konzipiert,267 ja mehr noch: Er verkörpert sowohl das ›gute‹ als auch das ›dämonische‹ Deutschland.268 Zu allem Überdruss verfängt sich Thomas Mann in seinem 1939 publizierten Essay »Bruder Hitler« schon in schiefen Vergleichen zwischen falschen Propheten und Künstlern: Hitler als gescheiterten, »verhunzten Künstler«269 zu bezeichnen, ist irritierend, bedarf der Erklärung.270 Sollen »das unergründliche Ressentiment, die tief schwärende Rachsucht des Untauglichen, Unmöglichen, zehnfach Gescheiterten, des extrem faulen, zu keiner Arbeit fähigen Dauer-Asylisten und abgewiesenen Viertelskünstlers, des ganz und gar Schlechtweggekommenen«271 Kennzeichen Hitlers wie der frühen Propheten-Karikaturen Manns sein – hingewiesen wird im Essay explizit auf »Fiorenza«272 und damit auf die Propheten-Figuration Savonarola273 – und bringt Mann beiden »eine gewisse angewiderte Bewunderung«274 entgegen, dann erfährt das »Genie«275 mit »massenwirksame[r] Beredsamkeit«276, also »Bruder Hitler«, trotz »reichlich peinliche[r] Verwandtschaft«277 zum Künstlertum eine ungeheure Be-

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Vgl. Th. Mann, Das Gesetz, S. 693. Darmaun, »Das Gesetz«, S. 283. Vgl. Darmaun, »Das Gesetz«, S. 278–284. Darmaun, »Das Gesetz«, S. 288. Savonarola ist zudem derjenige, der die zukünftige Geburt Martin Luthers prophezeit, wie es ein Topos in der »Dramatik des Renaissancismus« (Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900, S. 358) ist. Vgl. Darmaun, »Das Gesetz«, S. 290–291. Th. Mann, Bruder Hitler. In: Mann, Essays, Bd.  4: Achtung, Europa! 1933–1938, hg. von Hermann Kurzke u. Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 1995, S. 305–312, S. 307. Vgl. Thomas Mann: »Ein Künstler, ein Bruder. Aber die Solidarität, das Wiedererkennen sind Ausdruck einer Selbstverachtung der Kunst, welche denn doch zuletzt nicht ganz beim Wort genommen werden möchte« (Th. Mann, Bruder Hitler, S. 311–312). Th. Mann, Bruder Hitler, S. 306. Vgl. Th. Mann, Bruder Hitler, S.  309f.; Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900, S. 338. In den »Betrachtungen eines Unpolitischen« erscheint Savonarola als Zivilisationsliterat und als »Vertreter der ›sacrae litterae‹« (vgl. Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900, S. 341). Th. Mann, Bruder Hitler, S.  307. Manns Verhältnis zu seinem Protagonisten Savonarola oszilliert zwischen »Identifikation und Ablehnung« (Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900, S. 343). Th. Mann, Bruder Hitler, S. 310f. Th. Mann, Bruder Hitler, S. 306. Th. Mann, Bruder Hitler, S. 309.

schönigung. Ähnlich ambivalent ist Leverkühn als vom Teufel inspiriertes Genie und dem Geheimnis seiner Identität mit dem Humanisten Zeitbloom charakterisiert.278 Es bleibt im Doktor Faustus offen, ob das teuflische Genie aufgrund einer notwendigen Dialektik von Gut und Böse durch das heilige Werk zu entschuldigen sei. Mit Blick auf den geschichtlichen Hintergrund könnte die Parallele von prophetischem Künstlertum und Führertum als unpassend goutiert werden, zumal das Führertum realiter kein Stimulans der Kunst ist, auch keine nicht eben unschuldige Kunst: Es ist überhaupt keine Kunst. Für den barbarischen Umschlag des Kunst-Propheten zum teuflischen Genie ist Leverkühn ein schlagendes Beispiel,279 für ein archaisches Modell der Prophetie als schwarze Magie der falsche Prophet Cipolla in »Mario und der Zauberer«.280 Obwohl Thomas Mann George eigentlich nicht mit seiner Derleth-Karikatur verwechselt wissen will,281 zieht er selbst Parallelen zwischen diesem und seinen präfaschistischen, prophetischen Gestalten,282 was wiederum provokant ist. Die Doppelbödigkeit des Vergleichs zwischen Dichter-Propheten und Führertum droht, einen verfänglichen Interpretationsraum zu eröffnen.283 Thomas Mann muss sich für »Das Gesetz« vor dem Forum jüdischer Pietät entschuldigen,284 um

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Vgl. zur Rolle Zeitblooms mit Blick auf seine Affinität zu Leverkühn: Frank, Die alte und die neue Mythologie in Thomas Manns »Doktor Faustus«. In: Frank, Gott im Exil, S. 333–349, S.  337: Aus dem »Geheimnis ihrer Identität« entwickelt sich freilich »die beunruhigende These, daß sich das ›dämonische‹, das ›vom Teufel geholte‹ Deutschland als eine verborgene, aber tief eingewurzelte Obsession enthüllt, die das sogenannte liberale Deutschland – und sei’s im Gestus der ›inneren Emigration‹ – ›liebend‹ mit seinem Herzblut nährt.« Vgl. stellvertretend zum Doktor Faustus: Terence J. Reed, Die letzte Zweiheit. Menschen-, Kunst- und Geschichtsverständnis im »Doktor Faustus«. In: Thomas Mann. Romane und Erzählungen, hg. von Volkmar Hansen, Stuttgart 1993, S. 294–324. Vgl. zum Vergleich der geistig unkontrollierten Kunst mit der schwarzen Magie: Th. Mann, Bruder Hitler, S. 312. Helmut Koopmann weist darauf hin, dass in »Mario und der Zauberer« »Täter und Opfer, Verführer und Verführter eben nicht mehr eindeutig auseinanderzuhalten sind« (H. Koopmann, Führerwille und Massenstimmung. »Mario und der Zauberer«. In: Thomas Mann. Romane und Erzählungen, hg. von Volkmar Hansen, Stuttgart 1993, S. 151–185, S. 169). Auch Cipolla ist Künstler, Verbrecher und (unfreiwilliger) Komödiant in einem. Vgl. zur Parallele von Cipolla und »Bruder Hitler«: Koopmann, Führerwille und Massenstimmung, S. 172f. Vgl. Wolfgang F. Michael, Thomas Mann, Ludwig Derleth, Stefan George. In: Modern language forum, 35, 1950, S. 35–38. Die von Thomas Mann zeitweise vorgebrachte Argumentation, Nietzsche und George seien u.a. Propheten der Demokratie (vgl. Th. Mann, Deutschland und die Demokratie [1925]. In: Th. Mann, Essays II. 1914–1926, hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke, Frankfurt am Main 2002, (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 15.1) S. 938– 948; Marx, Der Heilige Stefan?, S. 91), ist zudem genauso prekär wie seine Revision in seiner Rezension zu Eloessers Literaturgeschichte mit dem Handschriften-Kommentar »Hitler« zu George und demselben Kommentar zu Albert Verweys George-Bericht (Mein Verhältnis zu Stefan George (1936)) (vgl. Marx, Der Heilige Stefan?, S. 97). Vgl. zur Kritik an Manns parodistischer Erzählung den Überblick bei Hartwich, Die Sendung Moses, S. 215. Vgl. Hartwich, Die Sendung Moses, S. 215.

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die Wogen zu glätten. Dieser Umstand ist ein Beispiel dafür, dass nach Hitlers Machtergreifung jede Form von uneindeutiger Kunst-Prophetie out zu werden droht. Angesichts eines charismatischen Führers285 mit dekadentem Prophetie-Anspruch und einer Gewaltexplosion, die jede Form von Kunst verabschiedet oder einseitig instrumentalisiert und gleichschaltet, erscheinen mit Ironie gesättigte, parodistische Spielarten prophetischer Autorpoetiken unzeitgemäß, insbesondere wenn sie sich an Hitlers ›Künstlertum‹ messen sollen. Trotz Manns visionärer Utopie vom parodistisch-prophetischen Künstlertum, »das als ein beflügelt-hermetisch-mondverwandtes Mittlertum zwischen Geist und Leben«286 fungieren soll,287 wird deutlich, dass eine suggestive Allianz zwischen Künstlertum und Prophetentum angesichts einer zunehmenden Politisierung der Propheten-Figur nicht mehr salonfähig ist – zeitweise auch nicht als Parodie. Das Bild vom Künstler als Propheten scheint unfreiwillig und zeitbedingt ein Ausläufermodell zu werden. Sind Kunst-Propheten wie Derleth oder Manns Propheten-Figurationen von Natur aus unironisch veranlagt und dadurch zugleich parodieanfällig, ist dies möglicherweise ein erster Hinweis darauf, dass prophetische Kunstauffassungen nicht mit ironisch-parodistischen Flankierungen zusammengehen, wenn zugleich ein prophetisches Autorschaftskonzept mit uneindeutig politischer Botschaft zugrunde gelegt wird. Das Beispiel von Thomas Manns Propheten-Rezeption zeigt nicht nur, wie schnell eine als Kunst verkaufte Prophetie in Parodie umkippen, sondern auch umgekehrt, wie eine Parodie als Prophetie ihrem eigenen Gesetz unterliegen kann, wonach selbst eine parodistische Kunst-Prophetie mit politischem Anspruch aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit als unfreiwillige Parodie – von Außenstehenden, etwa dem jüdischen Forum – gerichtet wird: als ›verhunzte‹ Kunst-Prophetie. Thomas Manns Versuch einer parodistischen Aktualisierung von politischer Prophetie scheint zeitbedingt als unpassend und verfänglich wahrgenommen und verurteilt zu werden. Das mag ihm selbst unangenehm aufgefallen sein. In »Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung« kommentiert der späte Thomas Mann den Propheten Zarathustra abfällig, wenngleich Nietzsche die geheime Gründerfigur von Leverkühn darstellt:

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Vgl. Christian Soboth, Hitler. Inszenierung eines Charismas. In: Inszeniertes Charisma. Medien und Persönlichkeit, hg. von Jürg Häusermann, Tübingen 2001, S. 129–153. Th. Mann, Bruder Hitler, S. 312. Bemerkenswert an Manns Mose-Figurationen ist ihre Kreuzung mit Hermes, so dass Athen und Jerusalem zusammenkommen. Die Physiognomie seiner Künstler-Propheten gleicht oftmals derjenigen seiner zahlreichen Hermes-Boten (vgl. Th. Mann, Gladius Dei, S. 157f.; Th. Mann, Beim Propheten, S. 288; Th. Mann, Der Tod in Venedig, S. 354, S. 364f. u. S. 369f.; vgl. zu den Hermesfigurationen bei Mann: Walter Jens, Der Gott der Diebe und sein Dichter. Ein Versuch über Thomas Manns Verhältnis zur Antike. In: Antike und Abendland, 5, 1956, S. 139–153; Jürgen Rothenberg, Der göttliche Mittler. Zur Deutung der Hermes-Figuration im Werk Thomas Manns. In: Euphorion, 66, 1972, S. 55–80). Mose schreibt in »Das Gesetz« z.B. mit »Krähenfüße[n]« (Th. Mann, Das Gesetz, S. 687), wie die Hermesfiguration des Fahrkartenverkäufers in »Der Tod in Venedig« (vgl. Th. Mann, Der Tod in Venedig, S. 364).

Dieser gesicht- und gestaltlose Unhold und Flügelmann Zarathustra mit der Rosenkrone des Lachens auf dem unkenntlichen Haupt, seinem ›Werdet hart!‹ und seinen Tänzerbeinen ist keine Schöpfung, er ist Rhetorik, erregter Wortwitz, gequälte Stimme und zweifelhafte Prophetie, ein Schemen von hilfloser Grandezza, oft rührend und allermeist peinlich – eine an der Grenze der Lächerlichkeit schwankende Unfigur.288

In Zarathustras Vision des Übermenschen erkennt er eine »Idealisierung des faschistischen Führers«289 und weist deswegen auf die gefährliche »Nachbarschaft eben von Ästhetizismus und Barbarei«290 hin. Schließlich sei Nietzsche ein Theoretiker ohne »Beziehung zum Leben«291, im Gegensatz zum Novellisten in »Beim Propheten«,292 dem Judas293 dieses dort dargestellten Abendmahls. Dieser späte Rückblick Thomas Manns versucht freilich, sein frühes Interesse an den Zarathustra ähnelnden Propheten zu kaschieren. Der Hermes-Mittler und Dieb Felix Krull etwa ist hingegen vom prophetischen Dünkel befreit: Er ist allein ein verkehrter platonischer Erotiker,294 der keine Beziehung mehr zu den alttestamentlichen Propheten unterhält. Manns frühes Porträt vom Heiligen weist anfangs überdies in eine andere Richtung: Die Transzendierung des richterlichen Propheten-Amtes zur Freisetzung einer mystisch-prophetischen tranquillitas animi ist dort deutlich artikuliert: »Seine Kunst zu zergliedern und zu bezeichnen, die kühlende, erledigende Wirkung des literarischen Wortes führt zur Auflösung und Beilegung der Leidenschaft überhaupt, zur Sanftmut, zur Stille.«295 IV.2.

Götter, Helden und George: Zwischen Vorbildverehrung und »Einfluss-Angst«

Ähnliche Bedenken wie Thomas Mann, der den Weg der Propheten-Dichter zur Parodie freilegt, führt der Soziologe Max Weber explizit gegen Stefan George ins Feld. In seiner Kritik an Georges »formalem Prophetentum« im vielzitierten Brief vom 9.5.1910 wirft er ihm seinen Übergang vom weltabgeschiedenen Ästheten und »Asket[en] mit ästhetischen Vorzeichen«296 zum engagierten Politiker mit leerem Propheten-Pathos vor:297

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Th. Mann, Nietzsche’s Philosophie, S. 27. Th. Mann, Nietzsche’s Philosophie, S. 41. Th. Mann, Nietzsche’s Philosophie, S. 45. Th. Mann, Nietzsche’s Philosophie, S. 47. Vgl. Th. Mann, Beim Propheten, S. 286, S. 290 u. S. 293. Vgl. Marx, Der Heilige Stefan?, S. 83; Marx, Künstler, Propheten, Heilige, S. 55. Vgl. zum Felix Krull unter Berücksichtigung seines hermetischen Mittlertums stellvertretend: Herbert Anton, »Hermeneutisches Doppelgängertum« in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull. In: Thomas Mann. Romane und Erzählungen, hg. von Volkmar Hansen, Stuttgart 1993, S. 325–348. Th. Mann, Der Literat, S. 362. Marianne Weber, Max Weber, S. 465. Vgl. zu Weber und George: Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 116f.

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Aber dieser Weg [Heraustreten aus dem ›ästhetischen Kloster‹] führt nun – das ist sein Verhängnis – nie zu einem mystischen Erlebnis […], sondern stets nur zum orgiastischen Dröhnen einer Stimme, die dann als ewige Stimme erscheint, nie mit anderen Worten, zu Inhalten, sondern nur zu einem leidenschaft lichen Harfengetön. Ein Versprechen eines ungeheuren, Erlösung garantierenden Erlebnisses, wird durch ein anderes, noch größeres überboten, immer werden neue Wechsel auf das, was kommen soll, gezogen, obwohl die Uneinlösbarkeit offen zutage liegt. Und da es über dies rein formale Prophetentum hinaus, schließlich keine Steigerung mehr gibt, ist der Dichter auf der beständigen Suche nach dem postulierten Inhalt seiner Prophezeiung begriffen, ohne ihn jemals erhaschen zu können.298

Die Stimme substitutiert nach und nach den Geist des Buchstabens, weswegen Weber den Terminus »formales Prophetentum« für Georges Form von Prophetie wählt. Der Dichter-Prophet bleibt als ausgehöhlte Funktionsstelle zurück, da die Botschaft fehlt. Indes zeigt sich bei George, dass seine Stimme gerade eine prophetische Kunst hervorbringt, die dem neuen Gott der Kunst huldigt. Bereits Blasberg mutmaßt, dass sich Weber, indem er »an der Vorstellung eines gegenweltlichen, außerzeitlichen Reichs der Kunst« festhält, »sich dadurch die Einsicht in die moderne, den medialen Charakter von Sprache, Körper, ›Realität‹ entfaltende Georgesche Poetik [verstellt], für die das ›rein formale Prophetentum‹ möglicherweise nicht auf der Schuld-, sondern auf der Habenseite der Kunst steht«299. Blasberg unterscheidet zwei Charismen, die auf George applizierbar sind: poetische Inspiration und ein politischer Herrschaftswillen.300 Diese beiden Charismen entsprechen freilich den zwei Seiten des modernen Dichter-Propheten: einmal seinem Selbstverständnis als Medium und einmal seiner Berufung zum aktiven Mahner. Und Weber hält nur den medialen Dichter-Propheten im Dienst der Kunst für legitim, den er irrtümlicherweise beim späten George gänzlich vermisst. Im Gegenzug zu Georges »Kathederprophetie« plädiert er deswegen für eine »Kunst des pianissimo«, eine echte Prophetie: Es ist weder zufällig, daß unsere höchste Kunst eine intime und keine monumentale ist, noch daß heute nur innerhalb der kleinsten Gemeinschaftskreise, von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes Etwas pulsiert, das dem entspricht, was früher als prophetisches Pneuma in stürmischen Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte. Versucht man, religiöse Neubindungen zu ergrübeln ohne neue, echte Prophetie, so entsteht im innerlichen Sinn etwas Ähnliches, was noch übler wirken muß. Und die Kathederprophetie wird vollends nur fanatische Sekten, aber nie eine echte Gemeinschaft schaffen.301

Gerade diese intime, prophetische Kunst ist aber Georges letztes Wort, wie anhand der späten Gedicht-Sammlung Das Lied zu zeigen sein wird. Was Blasberg einsich-

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Marianne Weber, Max Weber, S. 466f. Vgl. Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 121. Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 121. Vgl. Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 117f. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 109f.

tig im Blick auf Georges Charisma vorträgt, ist gerade auf sein Selbstverständnis als Dichter-Prophet konkretisierend zu übertragen: Wenn man also konzediert, daß der symbolistische Dichter als leibliche Person für sein Werk keine Rolle spielt, sondern als Medium einer sich durch ihn äußernden, selbsttätigen Sprache fungiert, dann erhellt sich einerseits, wie verführerisch es gewesen sein muß, diese ungewohnte Vorstellung durch die alte Idee eines charismatisch inspirierten Autors abzufangen und in gewohnte Interpretationsgleise zu lenken. Andererseits kann man nicht umhin anzuerkennen, daß die symbolistische Sprache – eine ›formale Prophetin‹ – nichts als sich selbst kundtut und mithin weniger zum Resonanzraum der göttlichen Stimme als zu einem modernen Medium disponiert ist, das, nach Altmeister McLuhans Formulierung, seine eigene ›Botschaft‹ verkörpert.302

Vorbilder hierfür sind freilich Baudelaire, Mallarmé und Verlaine,303 deren Programm der Selbstbezüglichkeit v.a. die Selbstinszenierung des Künstlers als Dandy freisetzt,304 der wie der Prophet als Einzelgänger in der »ästhetischen Opposition«305 zur Gesellschaft steht. In den Augen Webers ist George ferner unter die Kategorie »exemplarischer Prophet« zu subsumieren, da er »anderen an seinem eigenen Beispiel den Weg zum religiösen Heil zeigt«306. Entgegengesetzt dazu stehe die ethische oder auch »SendungsProphetie«, »welche im Namen eines Gottes Forderungen, naturgemäß: ethischen und oft: aktiv asketischen Charakters, an die Welt richte.«307 Schon Stefan Breuer weist darauf hin, wie sich bei George beide Richtungen kreuzen: »Er [George] erhob zugleich einen über den Kreis seiner Anhänger hinausweisenden revolutionären Anspruch, womit er die beiden idealtypisch geschiedenen Heilswege – die kontemplativ-mystische und die aktiv-asketische Richtung – in eigentümlicher Weise vermischte.«308 Insbesondere durch seine Vorbild-Verdichtung postuliert George nämlich auch ethische Werte. George versteht sich zwar nicht nur wie Derleth (oder die Münchner Kosmiker) als imperator maximus309 – auch wenn seine Algabal-Gedichte

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Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 124. Vgl. W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus, S. 16f. Wolfgang Braungart betont die wichtige Rolle des Rituals für diese Dichter: W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus, S. 17ff. Vgl. speziell zu den Ritualen der Selbstinszenierung des Dandys: W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus, S. 5ff. Mattenklott, Bilderdienst. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 273. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, hg. von Marianne Weber, [Photomechanischer Nachdruck der 1920 erschienenen Erstauflage] Tübingen 1988, S. 257. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 273. Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 117. Vgl. Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 117. Der Bruch zwischen den Münchner Kosmikern und George ist u.a. auf Schulers und Klages Misstrauen gegenüber Karl Wolfskehl zurückzuführen. Wolfkehls Judentum und seine zionistische Einstellung widersprechen dem verherrlichten Heidentum der antisemitisch eingestellten Kosmiker (vgl. Plumpe, Alfred Schuler und die »Kosmische Runde«, S. 230f.; Schonauer, Stefan George, S. 81f.).

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ebenso an den römischen Kaiser-Kult anknüpfen310 und Boehringer etwas »Imperatorisches in seinem Wesen«311 ausmacht –, doch nimmt er an der Mode heiliger Autorschaft aktiv teil, ja gilt als deren vornehmster Vertreter. Auch für ihn spielen Vorbilder, die er ernsthaft mit (abstrakten) Werten verbindet,312 eine entscheidende Rolle – wie Thomas Mann dies bei Derleth beobachtet –, woraufhin ihm, wie das Beispiel Webers zeigt, ebenfalls ein inhaltsloses »Dröhnen«313 vorgeworfen wird. Verfolgt man Thomas Manns frühe Propheten-Dichter-Kritik, die sich in Webers GeorgeStatement teilweise wiederfindet, können drei Aspekte pointiert bei George befragt werden: Erstens wie Georges maßgebliche Autorschaftsrolle als Prophet gestaltet ist, zweitens wie er seine Vorbilder literarisch verdichtet, inwiefern seine Vorbilder und deren Werte sich in seinen Propheten-Figurationen konzentrieren und dadurch drittens in ihrer Abstraktheit letztlich schemenhafte »Leerformen«314 produzieren, die sich in einer Aussparung der eigentlichen Prophetie und deren sich wandelnder Poetiken des Prophetischen niederschlagen. Dass sich im Zuge dessen die ProphetenFigur von selbst auflöst, indem sie einer Medialisierung unterliegt, ist eine besondere Pointe dieses den Niedergang in sich tragenden prophetischen Autorschaftsbilds, das dadurch paradoxerweise den Prozess einer Entcharismatisierung charismatisiert. IV.2.1. Zum Charisma Georges: Prophetische Gesetzeskraft und »Pathos der Distanz« Als »das großartigste Durchkreuzungs- und Ausstrahlungsphänomen, das die deutsche Geistesgeschichte je gesehen hat«315, lässt sich Stefan George seinerzeit mit den Worten Gottfried Benns feiern. Abgesehen davon, dass George heute für viele in Vergessenheit geraten ist, auch wenn die George-Philologie in der letzten Zeit einen Aufschwung erfahren hat,316 trifft die Aussage zumindest auf seinen Wirkungsradius

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Im Algabal ist dem römischen Kaiser Heliogabalus ein Denkmal gesetzt, der im absoluten Reich (der Sprache) uneingeschränkt herrscht (vgl. Karlauf, Stefan George, S. 102f.). Robert Boehringer, Mein Bild von Stefan George. 2., ergänzte Auflage, München; Düsseldorf 1968, S. 57f. Das George’sche Pathos normativer Lebenspraxis beleuchtet Maximilian Nutz und weist ebenfalls nach, dass die Werte in die Vorbildhaftigkeit menschlicher Existenz verlagert sind: »Mit dieser ›Verleiblichung‹ der Normen will der Kreis einerseits einem Idealismus entgehen, der Werte entweder auf apriorische kategoriale Abstraktionen von konkreten Qualitätsvorstellungen reduziert, wie der ›Kreis‹ Kant vorwirft, oder ihnen eine von der empirischen Realität losgelöste apriorische Existenz zuschreibt, andererseits einem historischen Relativismus oder Psychologismus, denen Werte nur geschichtlich bedingte Vorstellungskomplexe oder Objektivationen eines wertenden Aktes sind« (M. Nutz, Werte und Wertungen im George-Kreis. Zur Soziologie literarischer Kritik, Bonn 1976, S. 115f.). Vgl. Marianne Weber, Max Weber S. 466f. Vgl. Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 121. Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 336. Benn, Rede auf Stefan George. In: Benn, Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe in Verbindung mit Ilse Benn, hg. von Gerhard Schuster, Bd. 4: Prosa 2, Stuttgart 1989, S. 100–112, S. 102. Parallel zur Drucklegung dieser Studie erscheint das George-Handbuch: Achim Aurn-

zu Lebzeiten zu: Dort galt er einerseits als Leitfigur eines elitären Dichter-Kreises, andererseits als Stein des Anstoßes und Skandalautor.317 Hinter seiner Figur scheint sich ein Liebes- und ein Hass-Objekt wie bei einem typischen Vorbild gleichermaßen zu verbergen, das die ›Geister‹ – mit Bezug auf sein Werk und seine Person, die bei ihm als ›Gesamtkunstwerk‹318 oder als corporate identity gesetzt werden – von jeher geschieden hat.319 Insbesondere sein durchscheinendes Ressentiment gegen das Bestehende320 sowie seine extravagante Erscheinung als prophetischer Herrscher wirken

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hammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer u. Ute Oelmann (Hg.), Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. In Gemeinschaft mit Kai Kauffmann. Redaktor Birgit Wägenbaur, Berlin u.a. 2012. Vgl. zuletzt zum Ikonoklasmus Georges: R. Simon, Die Bildlichkeit des lyrischen Textes, S. 211ff. Vgl. zur sozialen, stilistischen und ethischen Nachahmung (imitatio): Gunilla Eschenbach, Imitatio im George-Kreis, Berlin; New York 2011. Vgl. zu Georges reiner Poesie: Jürgen Brokoff, Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde, Göttingen 2010, Kap. IX, S. 475ff.; siehe hierzu meine Rezension: G. Wacker, Rezension zu Jürgen Brokoff, Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde, Göttingen 2010 (607 S.). In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 53, 2012, S. 470–474. Vgl. zu George allgemein: Christophe Fricker, Stefan George. Gedichte für Dich, Berlin 2011; siehe hierzu meine Rezension: G. Wacker, Stefan George für alle? Zu Christophe Frickers exoterischen Lektüren von Georges Gedichten. Rezension zu Christophe Fricker, Stefan George. Gedichte für Dich, Berlin 2011. (383 S.). In: literaturkritik.de. Rezensionsforum für Literatur und Kulturwissenschaften. Schwerpunkt Gewalt und Tod II, 14, Feb. 2012, Nr. 2, S. 236–240; Karlauf, Stefan George; Ernst Osterkamp, Poesie der leeren Mitte. Versuch, Stefan Georges »Neues Reich« zu verstehen, München 2010. Vgl. zum Forschungsstand bis 2005: Jürgen Egyptien, Entwicklung und Stand der George-Forschung 1955–2005. In: Text + Kritik, 168, 2005: Stefan George, S. 105–122. Als Widerstandskämpfer im Nationalsozialismus war der George-Anhänger Claus Schenk Graf von Stauffenberg im Kino zu sehen (vgl. zuletzt den Bryan Singer-Film Operation Walküre. Das Stauffenberg-Attentat mit Tom Cruise in der Hauptrolle (2008)). Vgl. zum Stauffenberg-George-Verhältnis: Wolfgang Graf Vitzthum, Kein Stauffenberg ohne Stefan George. Zu Widerstandswirkungen des Dichters. In: Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, hg. von Otto Deppenheuer u.a., Heidelberg 2007, S.  1109–1126; Manfred Riedel, Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln; Weimar; Wien 2006; Marcel Beyer, Stefan George, die Brüder Stauffenberg und die Eindeutigkeit. In: Text + Kritik, 168, 2005: Stefan George, S. 35–46; Karlauf, Stefan George, S. 563ff. Ein gewisser ›Zündstoff‹ wird ihm zuletzt v.a. wegen der sich anbahnenden, im geschichtlichen Rückblick unheimlich anmutenden Allianz von »Dichter« und »Führer« attestiert (vgl. Max Kommerell, Der Dichter als Führer der deutschen Klassik. Klopstock – Herder – Goethe – Schiller – Jean Paul – Hölderlin, Berlin 1928; vgl. zu Kommerells Studie u.a.: Karlauf, Stefan George, S. 574ff.). Vgl. F. Gundolf, Stefan George in unserer Zeit S. 72; King, Pilger und Prophet, S. 67f.; Thomas Wegmann, »Bevor ich war, waren alle Gedichte noch gut«. Über Stefan Georges Marketing in eigner Sache. In: Text + Kritik, 168, 2005: Stefan George, S. 97–103, S. 103; Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 123; W. Braungart, »Was ich noch sinne und was ich noch füge / Was ich noch liebe trägt die gleichen Züge«. Stefan Georges performative Poetik. In: Text + Kritik, 168, 2005: Stefan George, S. 3–18, S. 10, S. 13 u.a. Nach Friedrich Gundolf scheidet er natürlich die Spreu vom Weizen (F. Gundolf, Das Bild Georges, S. 45). Vgl. zu Georges Kulturkritik: Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 111f.

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polarisierend. Sehen die einen in ihm einen Gott und heldenhaften Lenker seines platonisch inspirierten kleinen ›Staats‹,321 verabscheuen ihn die anderen als »giftige[n] Pilz«322 und »Dämon«323 mit erschreckendem Machtanspruch.324 Loben die ihm wohlgesonnenen Kritiker ihn als radikalen Neuschöpfer einer absoluten und reinen Poesie mit Formgröße (so etwa Friedrich Gundolf, Georg Simmel und Gottfried Benn), verurteilen ihn andere als Repräsentanten einer erstarrten Formstrenge und eingefrorenen Pose (so etwa Rudolf Borchardt und Max Weber). Des Weiteren sind ambivalente Reaktionen zu verzeichnen: Das erhabene Auftreten Georges wird – sogar beim George-Gegenspieler Rudolf Borchardt325 – schmerzlich-glücklich erfahren (ähnlich dem Numinosen): Man ist von seinem Charisma fasziniert und leidet gleichzeitig unter seiner (magischen) Gewalt.326 Eine ambivalente Rezeptionsgeschichte

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Vgl. Salin, S. 13–15; Wolters Sicht nach: F. Gundolf, Das Bild Georges, S. 42f.; Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 136ff. Vgl. zu Georges Platon-Studien: Karlauf, Stefan George, S. 401f. Ricarda Huch an Marie Braun (Brief vom 09.02.1901) zitiert nach: Karlauf, Stefan George, S. 315. Der Maler und Zeichner Karl Bauer hebt bei seiner George-Skizze Folgendes hervor: »Sehr auffallend fand ich den medusenhaften seltsamen Blick der tief unter den felsigen eckigen Stirnknochen liegenden graugrünen Augen … Alles das gab und gibt noch heute dem Antlitz etwas Sphinxhaft-Dämonisches« (Bauer zitiert nach Karlauf, Stefan George, S. 15). Sabine Lepsius berichtet anschaulich den Kontrast zwischen dem »Dämon« George und der Natur: »Ich hatte Stefan George noch niemals in der Natur erlebt, in der ich nun in völliger Einsamkeit mit ihm wandelte. Eine plötzliche, unheimliche, ich möchte fast sagen böse Wirkung ging von ihm aus, die mich ihn als unmenschlich empfinden ließ. […] Er gehörte nicht zu dieser idyllischen Natur. Der gelbe Ginster, der in Blüte stand und einen Hügel wie vergoldet erscheinen ließ, entzückte mich und ich sah fragend nach dem Freunde, der unbekümmert um die Herrlichkeit des Sommers, wie ein gefährlicher Dämon neben mir herging. Für ihn gab es kein Idyll. […] Zu Hause angelangt, wurde uns der kleine Stefan entgegen getragen, dem George sich zutraulich nahte, worauf das Kind eine solche Todesangst befiel, daß man es nur schnell unter lautem Gekreisch wieder fortbringen mußte« (Bericht von Sabine Lepsius zitiert nach Schonauer, Stefan George, S. 63f.). Vgl. insgesamt: Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Vgl. Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 148ff. Vgl. zum angespannten Verhältnis zwischen George und Borchardt generell: Kai Kauffmann, Rudolf Borchardt und der »Untergang der deutschen Nation«. Selbstinszenierung und Geschichtskonstruktion im essayistischen Werk, Tübingen 2003, S. 255ff. Auch Borchardt stilisiert den Dichter zum Propheten und Märtyrer (vgl. Kauffmann, Rudolf Borchardt und der »Untergang der deutschen Nation«, S. 39, S. 257). Borchardt führt Georges »geistiges Profil« zurück auf »die Verschmelzung von Betörendem und Grausamen in ihm, von flüchtigster Zaubermusik und rohester Lust an einer hemmungslosen Herrschaft über alle und jeden, von ausgeklügelter und verfänglichster Magie in Wort und Geste und einem wilden und heftigen Ritualismus, der im Namen einer völlig formlosen und vagen arkanen Theologie durchgesetzt wird, von unwiderstehlichem Lyrismus und mitreißendem Barock: Lyriker, Gesetzgeber, Priester, Opfernder, Wächter über uralte Zaubermittel und geheime Gifte […]« sei er (Borchardt zitiert nach: K. Kauffmann (Hg.), Das wilde Fleisch der Zeit. Rudolf Borchardts Kulturgeschichtsschreibung. Mit Ru-

liegt also im Falle Georges vor; er war nie eine allseits anerkannte Leitfigur, aber wenigen Getreuen desto intensiver.327 Indes liefert er unbestritten ein frühes Paradebeispiel, wie man sich als Autor geschickt inszeniert und in gewisser Weise auch – und das ist die andere Seite seiner Inszenierungsmedaille – selbst demontiert. Adorno hebt hervor, dass Georges aristokratische »Phantasieuniform« beeindruckend »self-styled« sei.328 Thomas Wegmann sieht im »›Dichtersimulakrum‹ George«329 sogar bereits den ersten Pop-Literaten avant la lettre: »Diese Einheit von Marke und Produkt, wie sie die Werbung seit der Moderne lanciert, entspricht dem alten Phantasma der Einheit von Werk und Leben, wie sie George auf neue und durchaus moderne Weise forcierte.«330 Für seine ausgefeilten Marketing-Strategien, sein »Eventmarketing« als »Eventmanager«331 sprechen zunächst seine von der George-Philologie längst hervorgehobenen Exklusivitätsmerkmale: Dazu zählen seine archaisch anmutende, das literarische branding erfindende Stefan-George-Schrift,332 seine teilweise irritierende Kleinschreibung,333 sein Verlagsabzeichen und Siegel bzw. Logo, seine ersten, von Melchior Lechter kunstvoll und bibliophil gestalteten Bücher mit streng limitierten Auflagen,334 weitere »auratisierte Medien«335 wie seine stilisierten Photo-Posen,336 seine Haartracht, schwarze Kleidung, seine Zurschaustellung des Dichterhaupts337 und nicht zuletzt sein prophetisch-verheißungsvoller Blick in die Ferne338. Insgesamt stechen bei diesen George-›Marken‹ seine esoterische Ausrichtung und Hermetik339, seine Kultivierung einer Geheimsprache,340 seine vielfach proklamierte Deutungshoheit, seine män-

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dolf Borchardts Nachlasstext »Stefan George. 1868–1933« in italienischer Sprache und deutscher Übersetzung, Stuttgart 2004, S. 232). Vgl. zu Berichten von den Münchner Treffen: Kolbe, Heller Zauber, S. 178f. Adorno, George, S. 526. Wegmann, »Bevor ich war, waren alle Gedichte noch gut«, S. 103. Wegmann, »Bevor ich war, waren alle Gedichte noch gut«, S. 101. Wegmann, »Bevor ich war, waren alle Gedichte noch gut«, S. 98f. Vgl. zur Stefan-George-Schrift ausführlich: Armin Schäfer, Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik, Köln; Wien; Weimar 2005, S. 98ff.; Martin Roos, Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, Düsseldorf 2000, S. 53f. Vgl. W. Braungart, »Was ich noch sinne und was ich noch füge«, S. 3. Vgl. Roos, Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, S.  66f.; Schonauer, Stefan George, S. 68f.; Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 132f. Vgl. Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 131f. Porträts zeigen George zumeist in einem dunklen ordensrockähnlichen Ornat, häufig mit Buch als Insignum seiner Priesterwürde (vgl. Mattenklott, Bilderdienst, S.  191f.); vgl. zur auratischen Photographie: Mattenklott, Bilderdienst, bes. S. 184f. u. S. 197f.; Roos, Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, S.  100ff.; Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 135f.; Karlauf, Stefan George, S. 254f. Vgl. Raulff u. Näfelt. Vgl. zur Beschreibung von Georges Schädel: F. Gundolf, Rainer Maria Rilke, Wien 1937, S. 11f.; W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus, S. 118ff. Dieser wird auch Maximin bescheinigt (vgl. Frank, Stefan Georges »neuer Gott«, S. 294). Vgl. zum Hermetismus bei George: Mattenklott, Bilderdienst, S. 305ff. Vgl. Karlauf, Stefan George, S. 63.

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nerbündische Formation mit Lektüre-Ritualen,341 seine komplizierten Nähe-Ferne-Konstellationen,342 seine durch und durch kontrollierte Lebensführung u.a. ins Auge, die von einem Normierungsbestreben343 und einem »Pathos der Distanz«344 oder »einem Habitus ritualisierter Distanzierungen«345 gleichermaßen geprägt sind. Bernd Auerochs bescheinigt George nicht zuletzt aufgrund dieser einzigartigen Insignien und seiner prophetischen Autorschaftsinszenierung ein einzigartiges »Präsenzcharisma«346, welches er aber nur nebulös und oberflächlich als Schlagwort anführt. Cornelia Blasberg verweist auf den »Musealisierungseffekt der neuen (symbolistisch/ technischen) Medienwelt«347: Im Sinne des ›charismatischen‹ Diskurses versuchen die ›Jünger‹, die virtuelle Welt der Poesie als außeralltägliches Ereignis in ihren Real-Alltag zu integrieren, wobei sie die Differenz zwischen Modell und Wirklichkeit zu wahren trachten – der ›Kreis‹ autorisiert George zum charismatischen Medium der Sprache, wie umgekehrt dem Charismatiker George die Aufgabe zukommt, seine Schüler zu Interpreten zu begnaden.348

Georges psychisches Naturell und sein Umgang mit seinen teilweise Ich-schwachen Zöglingen, die er in seinen Bann ziehe, untersucht hingegen Breuer.349 King zeigt zuletzt, wie George auf »Entindividualisierung«, »Anonymisierung«350 und »Autorität«351 abstelle, um sich symbolisches und kulturelles Kapital zu sichern. Er ziele v.a. auf eine »rituelle, mündliche, deutungsferne und interaktionsnahe Kommunikation«352 ab.353 Als weiteres Merkmal Georges ist seine chamäleonartige Wandelbarkeit im Zeichen unterschiedlicher Vorbilder hervorzuheben, die seine charismatische Gestalt stützen: Wechselnde Spiegelbilder wie der König/Kaiser der frühen Jahre,354 der von

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Vgl. W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus. Vgl. Wegmann, »Bevor ich war, waren alle Gedichte noch gut«, S. 97–103; King, Pilger und Prophet, S. 100f. Vgl. u.a. F. Gundolf, Das Bild Georges, S. 22; Landmann, Gespräche mit George, S. 21f. Vgl. Adornos Verwendung des von Nietzsche stammenden Begriffs »Pathos der Distanz« für George: Adorno, Rede über Lyrik und Gesellschaft [1957]. In: Adorno, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann u.a., Frankfurt am Main 1970–80, Bd. 11: Noten zur Literatur, Frankfurt am Main 1974, S. 49–68, S. 64; vgl. Adorno, George, S. 524; Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 371. Michael Winkler, Der George-Kreis. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus. 1890– 1918, hg. von York-Gothart Mix, München 2000, S. 231–243, S. 232. Auerochs, Drei Stilisierungsweisen, S. 284. Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 127. Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 126–127. Vgl. Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. King, Pilger und Prophet, S. 95. King, Pilger und Prophet, S. 98. King, Pilger und Prophet, S. 102. Georges Vorliebe zum Mündlichen ist vorrangig auf Platons Schriftkritik im Phaidros zu beziehen (vgl. Schonauer, Stefan George, S. 140; Karlauf, Stefan George, S. 404). Vgl. zu Georges Hang zum Königtum: Karlauf, Stefan George, S. 49.

Baudelaire angeregte artistische Dandy seit den Pariser Tagen355, der zornige Richter seiner Zeit356 alias Dante357 oder der Imperator Caesar (beim Münchner Kostümfest)358 sowie das von Kommerell geprägte Bild des Dichters als »Führer«359 sind mit dem Anspruch einer Kernsubstanz und statischer Einförmigkeit verbunden, die sich im präferierten Leitbild seiner Autorschaft sinszenierung manifestieren: Das ist der poeta vates respektive der Prophet.360 Da George auch auf die Kompetenz eines homo faber Wert legt, sind seine Selbstinszenierungen als »modernes Hybrid aus genialen und medialen Elementen«361 zu beschreiben. Dabei flankieren zahlreiche Inspirationstopoi Georges prophetische Mittlerfiguren: vom Kuss der Muse angefangen, über den Kuss des Engels362 und den Maximin-Kult363, gesteigert bis zum Sendungsauftrag des Propheten als Zeiten-Richter.364 Letztlich eröffnet die Perspektive auf die Propheten-Wahlverwandtschaft Annäherungsweisen an die ›Privatreligion‹ Georges,365 die 355

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Vgl. Schonauer, Stefan George, S. 18f.; Osterkamp, »Ihr wisst nicht, wer ich bin«. Stefan Georges poetische Rollenspiele, München 2002, S.  20; W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus, S. 5. Vgl. Schonauer, Stefan George, S. 123. Vgl. zur Identifikation Georges mit Dante: Karlauf, Stefan George, S. 255f. Vgl. Schonauer, Stefan George, S. 108f.; Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 140; Kolbe, Heller Zauber, S.  186; Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S.  215; Karlauf, Stefan George, 273f. Dass George am selben Tag wie Caesar, am 12. Juli, Geburtstag hat, heroisiert Gundolf (vgl. Karlauf, Stefan George, S. 274). Kommerell, Der Dichter als Führer. Vgl. zu Kommerells Stellung im George-Kreis: Karlauf, Stefan George, S. 532ff. Vgl. zuletzt King, Pilger und Prophet, S. 77ff.; W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus, S. 80; Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 110, Hinck, Das Gedicht als Spiegel der Dichter, S. 12ff. King, Pilger und Prophet, S. 81. Zum George’schen Kuss zwischen Erotik und Inspiration siehe: Osterkamp, Die Küsse des Dichters. Versuch über ein Motiv im »Siebenten Ring«. In: Stefan George. Werk und Wirkung seit dem »Siebenten Ring«, hg. von Wolfgang Braungart, Ute Oelmann u. Bernhard Böschenstein, Tübingen 2001, S. 69–87. Vgl. Schonauer, Stefan George, S.  103f.; Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S.  139ff. Vgl. zum Maximin-Kult: Breuer, Zur Religion Stefan Georges, S. 231f.; W. Braungart, »Was ich noch sinne und was ich noch füge«, S. 10; W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus, S. 235ff.; Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 129; Mattenklott, Bilderdienst, S. 279f.; Karlauf, Stefan George, bes. S. 352 u. S. 355f.; Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, bes. S. 192ff. Vgl. zum destruktiven Potential: Hansjürgen Linke, Das Kultische in der Dichtung Stefan Georges und seiner Schule, 2 Bde., München; Düsseldorf 1960, Bd. 1, S. 181; R. Simon, Das Wasser, das Wort, S. 48f. Vgl. R. Simon, Das Wasser, das Wort, S. 51f. Als immer noch »unausgeschöpft« bezeichnet Jürgen Egyptien in seinem Forschungsüberblick 1995–2005 Georges Religiosität, die wohl letztlich als synkretistisch bezeichnet werden müsse (vgl. Egyptien, Entwicklung und Stand der George-Forschung 1955–2005, S. 121). Vgl. den besten Aufsatz zur neuen Mythologie bei George: Frank, Stefan Georges »neuer Gott«, S. 257–314. Vgl. Böschenstein, Stefan Georges poetische Religion. In: Ästhetik – Religion – Säkularisierung, Bd. 2: Die klassische Moderne, hg. von Silvio Vietta u. Stephan Porombka, unter Mitarbeit von Sanne Ziethen, München 2009, S. 63–71; Breuer, Zur Religion Stefan Georges, S. 225–239.

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im Wesentlichen darin besteht, herbeigezwungene Götter zu bezwingen,366 gemäß dem Leitspruch: »Ich lasse nicht · du segnetest mich denn.«367 Dass als übergeordnetes Leitbild in Georges Autorschaftsinszenierung die Figur des vates und Propheten dominant ist, zeigt sich schon daran, dass immer wieder sowohl hetero-imagines als auch auto-imagines auf das ursprüngliche imago des antiken poeta vates oder des hebräischen prophētēs abzielen. Bereits die vielen Hinweise auf sein heiliges Autorschaftsbild – sowohl in Lästerungen als auch in Lobeshymnen auf George verewigt – belegen, dass er offensichtlich mit der Etablierung seines Dichterbildes als vates und Prophet im Zuge seiner Self-Fashioning-Strategie Erfolg hat: Unabhängig davon, ob die Außenbetrachter sein Selbstbild charismatisieren oder ob sie es ironisch-polemisch mit ihren Darstellungen bloßstellen, größtenteils mit dem Ziel verbunden, dieses zu entcharismatisieren, reagieren diese doch auf Georges prophetische Aura und sein Charisma. Viele Rezipienten reduzieren »nämlich das Charismatische auf den für Wendezeiten typischen Gestus des Prophetischen«368. Die um die Jahrhundertwende ebenfalls beliebten Dichterbilder des Priesters und des Nachfolgers Christi369 sind für George auch wichtig, treten aber zugunsten des leitenden Begriffs des ›Propheten‹ in den Hintergrund.370 Bereits in der Abwehrhaltung des jungen Hugo von Hofmannsthal gegenüber dem ihn stark umwerbenden Dichter George taucht das Propheten-Bild auf. Im auf diesen gemünzten Gedicht »Der Prophet« hat Hofmannsthal seinen George-Eindruck eindrücklich festgehalten und gleichsam dessen Propheten-Dichterbild avant

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Ralf Simon betont zuletzt den Inszenierungscharakter des Verhältnisses von Schöpfer und Geschöpf, wonach die »produktionsästhetische Paradoxie zum Ausdruck [gebracht wird], dass ein Gott aus einem Transzendenten kommend für das Immanente legitimatorische Funktion haben soll, aber dennoch als bloße Inszenierung gewusst wird« (R. Simon, Die Bildlichkeit des lyrischen Textes, S. 216; vgl. R. Simon, Das Wasser, das Wort, S. 53 u. S. 48f.; vgl. das Kapitel III.3.2.); Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 134. Vgl. ähnlich Breuer, Zur Religion Stefan Georges, S. 230; Linke, Das Kultische in der Dichtung Stefan Georges und seiner Schule, Bd. 1, S. 124. George, Gib mir den grossen feierlichen hauch. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 11. Vgl. als Vorlage Jakobs Kampf mit dem Engel (Gen 32, 27). Vgl. Georges Vers »Er bezwingt kühn den Gott der ihn kor …« (George, Traum und Tod. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 85). Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 114. Vgl. exemplarisch: Marx »Ich aber sage Ihnen…«; Gerhard Kaiser. Christus im Spiegel der Dichtung. Exemplarische Interpretationen vom Barock bis zur Gegenwart, Freiburg im Breisgau 1997. Vgl. Hinck, das Gedicht als Spiegel der Dichter, S.  12ff., Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, Kap. 1 u. 2. Vornehmlich die späten Kriegsgedichte Georges stellen die Figur des Propheten in das Zentrum und üben teilweise sogar explizit Kritik an den Priestern (vgl. George, Der Dichter in Zeiten der Wirren. In: George, Sämtliche Werke, Bd.  IX, S.  35f., V. 19). Wolfgang Braungart spricht von einer »Spannung zwischen ästhetizistischer Priester- und kulturkritischer Prophetenattitüde« (W. Braungart, Georges Nietzsche. »Versuch einer Selbstkritik«. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2004, S. 234–258, S. 238). Anstatt die Priester- weiter mit der Prophetenrolle zu kontrastieren, konzentriert sich vorliegende Studie auf die Doppelnatur des Propheten, die Georges Autorschaftsbild massiv prägt.

la lettre, also vor Georges ostentativer Selbstinszenierung, geprägt. Das Gedicht stellt eine facettenreiche Abrechnung mit dem ihn faszinierenden und abstoßenden Werber dar:371 Der Prophet In einer Halle hat er mich empfangen, Die rätselhaft mich ängstet mit Gewalt, Von süßen Düften widerlich durchwallt. Da hängen fremde Vögel, bunte Schlangen. Das Tor fällt zu, des Lebens Laut verhallt, Der Seele Atmen hemmt ein dumpfes Bangen, Ein Zaubertrunk hält jeden Sinn befangen Und alles flüchtet hilflos, ohne Halt. Er aber ist nicht wie er immer war, Sein Auge bannt und fremd ist Stirn und Haar, Von seinen Worten, den unscheinbar leisen geht eine Herrschaft aus und ein Verführen, Er macht die leere Luft beengend kreisen Und er kann töten ohne zu berühren.372

In Form des Sonetts sind die ersten beiden Quartette der Stimmung und Ortsbeschreibung des George’schen hortus conclusus gewidmet, der seine beängstigende Atmosphäre durch eine sogar das Atmen der Seele beeinträchtigende Lebensferne (vgl. Vers 6) bezieht. Die exotische Gegenwelt mit »fremde[n] Vögel[n], bunte[n] Schlangen« (Vers 4) und deren schwüle Enge werden durch zwei abgeschlossene, deskriptive Sätze im jeweiligen Quartett unterstrichen. Mittels Enjambement werden die beiden folgenden Terzette mit dem eigentlichen Propheten-Porträt als Konkretisierung des unheimlichen Ortes in einem Satz kunstvoll verbunden, wodurch der weitgreifende, den anderen beengende Wirkungsradius des Propheten betont wird. Prophetisch an der Figur sind ihre geradezu magischen Fähigkeiten, darunter der bannende Blick (vgl. Vers 10) sowie ihre herrisch-verführerischen Worte (vgl. Vers 11f.). Kulminationspunkt der aufgezeigten Macht des Propheten ist es, ohne Berührung töten zu

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Vgl. Karlauf, Stefan George, S. 17f.; Schonauer, Stefan George, S. 30f.; vgl. zum Aspekt des Homoerotischen und zu George als »Prophet« der »›anderen Sexualität‹«: Jens Rieckmann, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Signifikanz einer ›Episode‹ aus der Jahrhundertwende, Tübingen; Basel 1997, S. 17ff. Vgl. Hofmannsthals Gedicht »Einem, der vorübergeht«, das im Dezember 1891 unter dem Eindruck der ersten Begegnung mit dem »Zwillingsbruder« George entstand (vgl. Karlauf, Stefan George, S.  16; vgl. S.  21; Schonauer, Stefan George, S. 29ff.). Vgl. das »grausame George-Porträt in Der Tod des Tizian« (Böschenstein, Hofmannsthal und die Kunstreligion um 1900, S. 112). Vgl. zum Verhältnis George – Hofmannsthal ferner: Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 128ff. Hofmannsthal, Der Prophet. In: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hg. von Bernd Schoeller, Bd. 1: Gedichte, Dramen I: 1891–1898, Frankfurt am Main 1986, S. 125.

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können (vgl. Vers 14). Das zielsichere Wort scheint eine tödliche Kraft zu entfalten: Performatives Sprechen gehört in das Arsenal des wirkungsmächtigen Propheten, der zudem Züge eines Magiers trägt,373 wie der Hinweis auf den »Zaubertrunk« (Vers 7) nahelegt. Schefold stellt die Verknüpfung des ohne Berührung Tötenden zum zornigen Propheten Mose her, der die Leviten auf das abtrünnige Gottes-Volk mörderisch loslässt.374 In der alludierten Propheten-Figur Mose gehören im Übrigen von jeher magische und prophetische Herrschaft zusammen.375 Eines wird in diesem GeorgePorträt besonders deutlich: Im abgeschlossenen Bezirk des hortus aestheticus – der Georges frühen Kunstanspruch des l´art pour l´art versinnbildlicht –376 ist der soziale Machtanspruch des Propheten eingeschlossen, der zumindest über den Eingelassenen herrschen will. Die Macht seiner Worte dient nicht primär der Wortverehrung oder -spielerei, sondern als Waffe. Der Umschlag zwischen abgeschlossenem, selbstgenügsamen Kunstbezirk und prophetisch-tatkräftigem Führungsanspruch wird verdeutlicht. Im skizzierten Bild des Propheten dominiert dementsprechend dessen Herrschaftsanspruch über Menschen, die dem auserwählten Herrscher eines selbst erschaffenen Reichs untergeordnet sind. »Der Prophet« ist ein aus eigenen Erfahrungen gespeistes, subjektiv verdichtetes hetero-imago Georges, das sich primär auf die reale Erscheinung Georges bezieht und auf einen magischen Abwehrzauber, eine Bannung der George’schen Gewalt abzielt. Der Hinweis auf die vergewaltigte Seele (vgl. Vers 6) kann auch als Parodie auf den korrumpierten Symbolismus Georges gelesen werden. Bodo Würffel betont zu Recht die polemische Komponente dieses Gedichts, denn Hofmannsthal schmähe George gerade in der Imitation von dessen lyrischem Sprachstil,377 erschöpfe sich aber nicht darin: Eben dadurch, daß es über den Sprachstil hinaus auf die inhaltlichen Bezüge der Georgeschen Dichtung verweist und deren Ansprüche über das Mittel der Übersteigerung hervorhebt, rückt Hofmannsthal in die Nähe der späteren travestierenden Versuche, die gegen den Anspruch Georges gerichtet wurden.378

Während Hubert Arbogast die Innovation von Hofmannsthals Propheten-Zuschreibung betont, die »zu dieser Zeit aus den Inhalten der Gedichte […] in keiner Weise zu rechtfertigen war«379, verweist Würffel relativierend auf den von George bereits

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Vgl. zu Hofmannsthals Vorstellung der dichterischen Sprache als Magie: Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 142. Vgl. Karl Schefold, Hofmannsthals Bild von George. In: Stefan George. Werk und Wirkung seit dem »Siebenten Ring«, hg. von Wolfgang Braungart, Ute Oelmann u. Bernhard Böschenstein, Tübingen 2001, S. 396–402, S. 396. Vgl. Andreas B. Kilcher, Moses als Magier. In: Castrum Peregrini, 264/265, 2004, S. 18–50. Vgl. George, Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 96. Vgl. Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 165. Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 166. H. Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges, Köln; Graz 1967, S. 133.

früh verwandten Musen-Topos, der – ähnlich einer Propheten-Berufung – die Rechtfertigung des inspirierten Dichters von außen vorführt.380 Die Vorstellung vom in Mysterien eingeweihten Seher begegnet George bekanntlich früh bei Mallarmé.381 Gertrud Simmel hält schon 1908 fest, dass Georges Leben den »pathetischen Ton« habe, »dass er sich wirklich als Instrument fühlt, auf dem Gottes Finger spielt«382. Doch fehlt im Zusammenhang mit dem antiken Legitimationsmotiv des vates die spezifische Eigenart der Gewalt prophetischer Rede, die Hofmannsthal tatsächlich – über die hymnische Redeweise Georges zum damaligen Zeitpunkt hinausgehend – prophezeit und die erst ab dem Siebenten Ring ostenativ in Georges Dichtung zu finden ist,383 wenn sie sich auch zuvor subkutan abzeichnet. Kurt Breysig hinterfragt ebenfalls Georges Selbstverständnis, wonach dieser immer derselbe zu sein scheint:384 Entgegen Georges Selbstsicht: »Sein Leitmotiv ist: Ich war immer Derselbe und Gleiche«385, verweist er auf den ›neuen‹ George seit dem Stern des Bundes, an den man sich erst gewöhnen müsse: Denken Sie doch, wenn hinter der hohen Hecke aus dem schönen Garten auf einmal ein Prophet hervorgesprungen kommt, nackt, hartknochig und zottelhaarig… Darauf George einwerfend, ganz betrübt: ›Nicht zottelhaarig, bitte nicht zottelhaarig!‹ – Die einzige Stelle des Gesprächs in alter ungezwungener Schalkhaftigkeit.386

Dass der prophetische Impetus bei George eine Steigerung erfährt, scheint unstrittig. Doch ist sein Wandel eher darin zu sehen, dass seine frühen Inspirationstopoi den Wortempfänger als vates, seine späten hingegen den aktivistischen Sender fokussieren, den Richter-Propheten, wie er insbesondere in den ersten Gedichten des Neuen Reichs eingesetzt ist. George entwickelt sich in seinem Rollenspiel geradezu vom sprachbegeisterten vates zum explosiven Propheten mit Sendungsbewusstsein. Dies ist auch auf seine fortschreitende »Amalgamierung des Ästhetizismus mit einer von Nietzsche geprägten Kunstkonzeption und Kulturkritik«387 zurückzuführen. Doch wodurch ist dieser Durchbruch zum herrschsüchtigen Propheten bei gleichbleibender Folie des Seher-Dichters motiviert? Claude David deutet die Ablösung Georges vom Münchner Kosmiker-Kreis als Movens für seine Entwicklung von der Magie zur Prophetie,388 indem George erst als Künder Maximins die Rolle des Propheten-Amtes, welche freilich schon zuvor in ihm angelegt war, einnehme:

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Vgl. Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 167. Vgl. Schonauer, Stefan George, S. 16; Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 107f.; Karlauf, Stefan George, S. 85f. Simmel zitiert nach Karlauf, Stefan George, S. 206. Vgl. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, S. 154. Vgl. K. Breysig, Begegnungen mit Stefan George. In: Castrum Peregrini, 42, 1960, S. 9–32, S. 25f. Breysig, Begegnungen mit Stefan George, S. 23. Breysig, Begegnungen mit Stefan George, S. 25f. W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus, S. 13. Auch Breuer hält fest: »Für die Wandlung Stefan Georges vom symbolistischen Dichter

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Die Gewißheit seiner Mission, die George immer gehabt hat, wird ihm durch das Erscheinen Maximins bestätigt, Maximin ist der Gott, der über eine neue Ära herrschen wird, zumindest aber der Initiator eines neuen Zeitalters, der erstgeborene des Neuen Reichs, und der Dichter, der einzige Prophet, der Gründer.389

Georges Weiterentwicklung vom vates zum Propheten seines persönlichen ›ErsatzGottes‹ scheint zudem mit einer Politisierung der Propheten-Rolle einherzugehen. Der George-Gegenspieler Rudolf Borchardt attestiert 1911 George den »rechten Mohammed-Instinkt des politischen Propheten«390.391 Walter Benjamin eröffnet indes einen ganz anderen Sinnhorizont des Prophetischen, indem er auf die Kategorie des Moralischen und Überpolitischen rekurriert. In seinem George-Rückblick wird der Prophet überdies noch mit dem Reformator-Bild kontrastiert, wodurch er Georges Gefahr des In-der-Pose-Steckenbleibens aufdeckt bzw. dessen ambivalente Haltung zwischen Propheten-Amt und Schweigen hervorkehrt. George sei demnach zwar als Prophet fähig, »Strafgerichte« wie Kriege vorauszusehen, doch fehle es ihm an reformatorischem Durchsetzungsvermögen: »Es wohnt aber in diesem Dichter selbst ein Gegenspieler des Propheten. Je deutlicher die Stimme des letzteren vernehmbar wird, desto ohnmächtiger sinkt die des anderen – die Stimme eines Reformators – in sich zusammen.«392 Seine Regeln und Lebensvorschriften seien dementsprechend »lebensfremd«393. Dem Auftakt des Prophetenbildes in »Der Prophet« – datierbar auf den 24.12.1891394 – kann von Seiten Hofmannsthals knapp dreißig Jahre später ein Schlussakkord an die Seite gestellt werden, wodurch die Fremdbeschreibung Georges als Prophet erneut bestätigt wird.395 In seiner Münchner Rede »Das Schrifttum als

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nach dem Vorbild der Parnassiens zum Propheten einer Quasireligion ist die Begegnung mit den sogenannten Kosmikern von entscheidender Bedeutung gewesen« (Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 95), denn der Maximin-Mythos stelle eine Art Gegenzauber dar. Vgl. Karlauf, Stefan George, S. 334. C. David, Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967, S. 272. Hofmannsthal; Rudolf Borchardt, Briefwechsel, hg. von Marie Luise Borchardt u. Herbert Steiner, Frankfurt am Main 1954, S. 49. Marianne Weber konstatiert, dass George »seinen Dichterberuf auffaßt als ein Prophetenamt« (Marianne Weber, Max Weber, S. 503 u. S. 505). Vgl. Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 114. Benjamin, Rückblick auf Stefan George. Zu einer Studie über den Dichter. In: Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann u.a., Frankfurt am Main 1972–1989, Bd. 3, S. 392–399, S. 393. Benjamin, Rückblick, S. 393. Vgl. Karlauf, Stefan George, S. 17. George und Hofmannsthal sind sich zwar nach dem Zerwürfnis der ersten Begegnung nie mehr nahegekommen, doch wechselten sie noch unterkühlte Briefe bis 1906 (Adorno, George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel [1939]. In: Adorno, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann u.a., Frankfurt am Main 1970–80, Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft, Prismen, Ohne Leitbild, Frankfurt am Main 1977, S. 195–237; vgl. Karlauf, Stefan George, S. 24f.).

geistiger Raum der Nation«396 (1927) unterscheidet Hofmannsthal zwei konträr konzipierte Propheten, die einen Ausdruck der »deutschen Zerfahrenheit«397, der deutschen »Nation der Einzelnen«398 und Katalysatoren einer »produktiven Anarchie«399 darstellen: Der eine ist »der schweifende, aus dem Chaos hervortretende Geistige, mit dem Anspruch auf Lehrerschaft und Führerschaft – mit noch verwegeneren Ansprüchen – mit dem Anhauch des Genius auf der hohen Stirn, mit dem Stigma des Usurpators im scheulosen Auge oder im gefährlich geformten Ohr […], der nun für seinen Kriegszug Gefährten wirbt, Adepten, solche die sich ihm unbedingt unterwerfen, denn so sehr alles in seinem titanischen Beginnen auf Alleinsein gestellt ist, die völlige, starrende Einsamkeit erträgt er doch auf die Dauer nicht«400. »Mehr Prophet als Dichter«401 »ist er ein erotischer Träumer […], eine gefährliche hybride Natur, Liebender und Hassender und Lehrer und Verführer zugleich«402. Exemplarisch wird hier eine ohnmächtig-mächtige Gestalt ins Visier genommen, die – heilige Züge tragend – den Gewaltanspruch des Propheten und zugleich eine Künstlergestalt inkarniert. Obwohl dieser prophetische Künstler eher an seiner prophetischen Wirkung als am Dichten interessiert ist, denn sein »Hauptwerk«403 zielt auf eine »Umschöpfung seines Ich und damit eine Umschöpfung der Welt«404 ab, versteht er es zuzeiten, die Sprache trotz »Krisen einer Sprachbezweiflung« als »magische Gewalt« zu beschwören, »sich empor[zu]schwingen zu einer Ahnung der heilenden Funktion der Sprache, zur Erschauung verwirklichbarer Maßgestalten«, und »in den höchsten Momenten wird er wirklich ein leidenschaft lich Erschautes bis in den Rhythmus seines Leibes in sich nachzittern fühlen und dann wahrhaft Dichter sein«.405 Radikale Ich-Zentrierung, Selbstkonditionierung, die auch Gestalt, Leben, sogar den stigmatisierten Körper des charismatischen, dichtenden Propheten in den Mittelpunkt der Betrachtung treten lässt, dienen letztlich einer effektiven Erschütterung der ihn Umgebenden mit dem Ziel einer Welt-Neuschöpfung. Sein »Mythos des eigenen Ich«

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Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S.  390–413. Vgl. zur Aufwertung des Begriffes »Schrifttum« bei Hofmannsthal: Uwe C. Steiner, Die Zeit der Schrift. Die Krise der Schrift und die Vergänglichkeit der Gleichnisse bei Hofmannsthal und Rilke, München 1996, S. 251–254. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 394. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 400. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 400. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 401. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 401. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 402. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 402. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 402. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 402. In Hofmannsthals Rede »Der Dichter und diese Zeit« liest man »über das mächtige Geheimnis der Sprache«: »Vermöge der Sprache ist es, daß der Dichter aus dem Verborgenen eine Welt regiert, deren einzelne Glieder ihn verleugnen mögen, seine Existenz mögen vergessen haben. […] Diese stumme Magie wirkt unerbittlich wie alle wirklichen Gewalten« (Hofmannsthal, Der Dichter und diese Zeit, S. 63).

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rekurriert auf »Urworte« und Vorbilder, »sibyllinische Sprüche der vorplatonischen Denker, Orpheus oder Hamann«, alte »Blöcke«, die seinem »Tempel« als Fundament dienen.406 Dagegen ist der andere ein prophetisch-heroischer Wissenschaft ler, »der so zuchtvoll war, als jener erste voll Überhebung, so gebunden bis zur Qual, als jener frei bis zur Zerrüttung«407, dessen komplementäres Gegenstück: War in jenem Tun die Hybris des Herrschenwollens, fußend auf erträumten, vorweggenommenen Ordnungen, so ist in diesem eine Hybris des Dienenwollens, überkommenen Ordnungen das Blutopfer zu bringen; klingt hinter jenem Sichaufrecken ein Wildes, Heidnisches wie Tabuklänge, so tönen hinter dieser heldenhaften Strenge mit eherner Schwermut die Töne des Zinzendorfischen Kirchenliedes.408

Paradoxerweise sind diese heroischen und stigmatisierten Individualisten, diese »Deuter«, »Seher«, »Schrift leser, Handleser, Sternleser«409 einerseits Grund für die in Deutschland im Gegensatz zur französischen Nation zerstreute Gesellschaft und Vereinzelung,410 andererseits sollen sie – als veredelte, fanatisch-asketisch gesteigerte Nachfahren der schwärmerischen Romantiker mit Bindungswillen und Lebensbezug –411 Katalysatoren der neuen Nationen-Gründung im »geistigen Raum« sein, fungieren sie doch geradezu als »geistige[s] Gewissen der Nation«412, als »Synthese«413-Garanten von Geist und Leben im Zuge einer »konservative[n] Revolution«414. Das dialektische Konzept von radikalen, Ich-zentrierten, prophetischen Empörern und soziale Einheit stiftenden Führern wirkt vor dem Hintergrund von Hofmannsthals mitunter pejorativer Beschreibung der zwei vorgestellten Propheten befremdlich, wie auch Stefan Breuer anmerkt: »Dennoch überrascht die Entschiedenheit, mit der die solchermaßen Stigmatisierten auf einmal in Träger des Heils umgedeutet werden.«415 Dahinter verbirgt sich jedoch der für Propheten typische Umschlag von Stigma in Charisma. Hinter dem revolutionär-herrischen, dichtenden Propheten vermutet man u.a. Nietzsche416 und George.417 Für Breuer steht fest, dass

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Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 403. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 403f.. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S.  404f. Der Inhalt des Zinzendorf ’schen Kirchenliedes ist freilich ein Loblied auf den Fleiß. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 406. Den Franzosen wird eine deutliche Geselligkeit mit einer Künstler umgreifenden »Glaubensgemeinschaft« bescheinigt (Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 394). Vgl. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 408f. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 399. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 412. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 413. Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 146. Vgl. T. Meyer, Nietzsche und die Kunst, S. 191. Hinter der Figur des revolutionären Propheten sind Derleth, Pannwitz, George, Rang oder Brust ins Auge gefasst worden, hinter der Figur des prophetischen Wissenschaftler-Typs hat

die Rede weniger politisch zu deuten ist, da sie vielmehr »eine erneute Annäherung an den George-Kreis und zugleich eine grandiose Selbstverklärung [ist]«418: Indem die Suchenden alle Dualismen in sich hineinreißen und kraft ihrer Gewalt über die Sprache ›in eines‹ denken; indem sie diese im Innern gewonnene Einheit wieder nach außen tragen, heilen sie die Welt, führen sie sie wieder zur Einheit zurück, sich selbst dabei opfernd. So vollbringen sie in und für diese Welt, was die Märtyrer und Erlöser früherer Zeiten nur für ein Reich jenseits derselben zu leisten beanspruchten: Einheit, Synthesis, Gemeinschaft – die ›Bildung einer wahren Nation‹.419

Den zeitlichen Abstand betonend, erweist sich das Propheten-Bild, wenn man so will, als Klammer zwischen Georges anderen Dichter-Rollen, zumindest im von Hofmannsthal formulierten hetero-imago des Dichters. So sehr sich der Dichter wandeln mag (vom »salbentrunknen prinzen« über den prophetischen Fanfarenbläser zum »flötenlied«-»knaben«420), sein Autorschaftsbild als Prophet bleibt (in der Rezeption) als Kernsubstanz bestehen. Dieses Bild vom Kunst-Propheten ist indes nicht neu. Thomas Mann etwa setzt den dichtenden, prophetischen Herrscher, der als Propheten-Prothese seine Macht beschwört, mehrfach in Szene, wie oben beschrieben, und zwar passend zu Hofmannsthals Ausführungen: »Je großartiger, fragmentarischer er sich gibt, um so großartiger wird er verlangen, als ein Ganzes, als das einzige Ganze dieser zerrissenen Welt genommen zu werden…«421 Der Umschlag von Stigma und Charisma mit Blick auf den Dichter-Propheten ist ein leitendes Paradigma, das den zwischen Abscheu und Faszination oszillierenden Blickwinkel des Rezipienten lenkt. Dass George zur Charismatisierung seiner Rolle als Prophet tatsächlich zahlreiche Vorbilder mobilisiert, ist leicht zu eruieren. Die alten Meister befördern dabei auch den Geltungszuspruch des Charismas von Seiten seiner Jünger. IV.2.2. Vorbilder-Verdichtung Der George-Kreis ist bekannt für seine Heroisierung leitender Stifterfiguren:422 Dante und Shakespeare werden übersetzt, Platon, Nietzsche, Goethe, Friedrich II. und Napoleon geehrt, Jean Paul und Friedrich Hölderlin entdeckt und erstmals gewürdigt.423 Ein ausgeprägter Heroenkult, Übersetzungs- und Editionsleistungen sowie

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die Forschung Max Weber und Josef Nadler vermutet (vgl. zum Diskussionsstand: Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 146). Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 148. Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 148. Vgl. George, Das Zeitgedicht. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 6f. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 403. Vgl. zum Heroenkult: Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S.  223f.; Mattenklott, Bilderdienst, S. 226. Vgl. Schonauer, Stefan George, S. 99. Vgl. zur Napoleon-Verehrung: Karlauf, Stefan George, S.  36f. Napoleon ist (wie für Hölderlin) »das Prinzip der Tat an sich« (Karlauf, Stefan

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hagiographisch gefärbte Monographien nehmen einen breiten Raum ein. George selbst schreibt u.a. »Zeitgedichte«, Widmungsgedichte, »Tafeln« oder »Gestalten«-Gedichte (wie »Die Führer«, »Der Widerchrist«, »Nietzsche«, »Leo XIII.«, »Boecklin«, »An Derleth« u.a.) und bewertet darin Vorbilder exemplarisch. Georges Hang zu Vorbild-Verdichtungen im wörtlichen Sinn, denn George greift reduktionistisch oft einen Aspekt oder einen Wert pro Vorbild-Figur heraus, geht mit dezidiert normativen Ansprüchen einher:424 Er setzt Sinnbilder, um das individuelle Allgemeine anmahnend aufzuzeigen. Für Georg Simmel verkörpert George geradezu ein »individuelle[s] Gesetz«425. Bodo Würffel hat als erster explizit den Vorbildcharakter einiger »Gestalten«-Gedichte Georges hervorgehoben, »in denen die Person, von der das Gedicht spricht, auf jeweils andere Weise als Träger utopisch-idealer Vorstellungen und dadurch als Vorbild fungiert, das den Bereich der rein literarischen Wirkung zu überwinden vermag«426. Zu denken ist an die Widmungsgedichte mit Vorbildcharakter, v.a. die »Zeitgedichte«, die oft an historische Vorbilder gekoppelt sind, sowie an Gedichte, die historische Gestalten im Gedicht fi xieren, und zuletzt an Gedichte, in welchen »die in einen historischen Kontext eingerückten Gestalten nur noch als Träger bestimmter Eigenschaften und nicht mehr als Individuen fungieren«427 und »Paradigmata eines zeitlos gültigen Lebens entworfen«428 werden. Insbesondere die Verdichtung von Seher-Dichtern, die Würffel nicht eigens behandelt, ist gesondert zu fokussieren. Denn das Metavorbild ist für George – wie gesagt – die Figur des Dichter-Propheten, in dem sich zusammengesetzte Seher-Vorbilder und deren herauspräparierte, abstrakte Werte kristallisieren. Von derselben Technik ist sein »Bilderdienst« geprägt, wie Gert Mattenklott kritisch bemerkt: Die Unverletzlichkeit der Person des Dichters, die Unangreifbarkeit seines Image beruht auf dessen fast hinterhältiger Placierung inmitten kulturellen Porzellans: Dante, Shakespeare, Goethe. Wer auf den Dichter zielt, vergeht sich dergestalt am kulturellen Erbe. Das Erzwingen der Aura durch das Zitat der historischen Autorität, die Montage geschichtlicher Elemente zum als zeitlos gepriesenen Bild, schließlich dessen Machtanspruch denen gegenüber, für die es errichtet ist, sind uns als Technik und Wirkungsweise jener Reklamebilder bekannt, die ›Stil‹, Klassizität und ›zeitlose Form‹ als Warenqualität dem ›nur Modischen‹ gegenüber propagieren, in der Hoff nung, daß der Appell an die Angst vor der inflationistischen Entwertung übersehen läßt, daß die kopierte Form nicht enthält, was ihre Aura einst begründete.429

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George, S. 37). Vgl. zur Jean Paul-Verehrung: Karlauf, Stefan George, S. 296f. Vgl. zur Goethe-Verehrung: Karlauf, Stefan George, S.  300f. Goethe ist geradezu der »Prophet Maximins« (Karlauf, Stefan George, S.  301). Vgl. zur Goethe-Rezeption Georges: Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, S. 115ff. »Georges Werk ist ethisch-ästhetischer Lebensvollzug«, postuliert Wolfgang Braungart zu Recht (W. Braungart, »Was ich noch sinne und was ich noch füge«, S. 7). G. Simmel zitiert nach Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 115. Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 214. Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 221. Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 223. Mattenklott, Bilderdienst, S. 211.

Eine serielle Reproduktion von Vorbildern, die an Thomas Manns Derleth-Porträt erinnert,430 kann in der Tat auch mit Blick auf Georges Vorbild-Verdichtung als Anmaßung erkannt werden. Denn George postuliert insbesondere Überhöhungen des von ihm und seinem Kreis als Dichter-Seher inthronisierten Hölderlin, Nietzsches und des selbsternannten Propheten Derleth, indem er deren Werte modifizierend umdeutet, wie es als Variante einer Vorbild-Demontage im Kapitel III.4. vorgestellt wurde. Zu Derleth und Nietzsche pflegt George – Thomas Mann ähnlich – ein ambivalentes Verhältnis, vornehmlich aus ›kreispolitischen‹ Gründen. So distanziert er sich nach seiner Münchner Zeit von Derleth und dessen Ziel einer gewaltsamen Weltunterwerfung, die Form seiner »Sendungsprophetie«431, seine Inszenierungsstrategien zum prophetischen Dichter sind ihm allerdings durchaus nicht fremd; seine Gedichte findet er im Übrigen gar nicht schlecht.432 Er widmet ihm eigens ein (wenn auch qualitativ sehr mäßiges) Gedicht im Siebenten Ring: An Derleth Du fälltest um dich her mit tapfrem hiebe Und stehst nun unerbittlicher verlanger. Wann aber führt dich heim vom totenanger Die täglich wirksame gewalt der liebe? . . In unsrer runde macht uns dies zum paare: Wir los von jedem band von gut und haus: Wir einzig können stets beim ersten saus Wo grad wir stehn nachfolgen der fanfare.433

Wie der Novellist in »Beim Propheten« hinterfragt George das Vorbild aufgrund von dessen fehlendem Liebesvermögen – in aller Abstraktheit –, verschlüsselt spielt er freilich auf Derleths wünschenswerte Eingliederung in seinen Kreis an, denn der Gewaltausübende solle von der Gewalt der Liebe des Kreises überwunden werden (vgl. Vers 4).434 Ausgleichend wird an Derleth seine prophetische ›Rufbereitschaft‹ als gemeinsames Merkmal herausgestrichen, wodurch sich das Gedicht auch als Protreptikos für eine potentielle Mitgliedschaft im George-Kreis lesen lässt.435 Es ist ein Beispiel für Georges »Wille zum literarischen Handeln« und für seine »Ästhetik des 430 431 432 433 434

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Vgl. hierzu das Kapitel IV.1.1. Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 121. Vgl. Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 119. George, An Derleth. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 196. Georges zentraler Begriff ›Liebe‹ ist platonisch, sozial, (homo-)erotisch, sexuell ausgelegt worden. Vgl. zur pädagogischen Liebe v.a. das Gedicht »Belehrung«: »Dein rechter lehrer bin ich wenn ich liebe .. / Du musst zu innerst glühn – gleichviel für wen! / Mein rechter hörer bist du wenn du liebst« (George, Belehrung. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 111). Bereits Würffel hält fest, »daß solche Gedichte über die literarische Rezeption hinaus wirken und Verhaltensweisen der Angesprochenen ändern wollen« (Würffel, Wirkungswille und

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Performativen«.436 George statuiert deutlich »Gegenbilder«437, um seine unliebsamen Konkurrenten zu bannen. Einer vergleichbaren, gemischten Kritik unterzieht er Nietzsche (Derleths Leibautor) in seinem »Nietzsche«-Gedicht von 1900, dessen einsames Führertum, dessen Zeitkritik und Verachtung der Masse ihn zum »Erlöser« (Vers 17) adele, obgleich ihm der »plastische Gott«438 ermangele: Nietzsche Schwergelbe wolken ziehen überm hügel Und kühle stürme – halb des herbstes boten Halb frühen frühlings… Also diese mauer Umschloss den Donnerer – ihn der einzig war Von tausenden aus rauch und staub um ihn? Hier sandte er auf flaches mittelland Und tote stadt die lezten stumpfen blitze Und ging aus langer nacht zur längsten nacht.   Blöd trabt die menge drunten . scheucht sie nicht! Was wäre stich der qualle . schnitt dem kraut! Noch eine weile walte fromme stille Und das getier das ihn mit lob befleckt Und sich im moderdunste weiter mästet Der ihn erwürgen half sei erst verendet! Dann aber stehst du strahlend vor den zeiten Wie andre führer mit der blutigen krone.   Erlöser du! selbst der unseligste – Beladen mit der wucht von welchen losen Hast du der sehnsucht land nie lächeln sehn? Erschufst du götter nur um sie zu stürzen Nie einer rast und eines baues froh? Du hast das nächste in dir selbst getötet Um neu begehrend dann ihm nachzuzittern Und aufzuschrein im schmerz der einsamkeit.   Der kam zu spät der flehend zu dir sagte: Dort ist kein weg mehr über eisige felsen Und horste grauser vögel – nun ist not: Sich bannen in den kreis den liebe schliesst..

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Prophetie, S. 216; vgl. ähnlich: W. Braungart, »Was ich noch sinne und was ich noch füge«, S. 12). W. Braungart, »Was ich noch sinne und was ich noch füge«, S. 13. Vgl. Andres, Gegenbilder. Stefan Georges poetische Kulturkritik in den »Zeitgedichten« des »Siebenten Rings«. In: George-Jahrbuch, 6, 2006/2007, S. 31–54. Vgl. George: »Er hat die wesentlichen grossen Dinge verstanden: nur hatte er den plastischen Gott nicht« (George; Gundolf, Briefwechsel, S. 202). Vgl. zu Georges Verabsolutierung des Apollinischen: T. Meyer, Nietzsche und die Kunst, S. 178ff.

Und wenn die strenge und gequälte stimme Dann wie ein loblied tönt in blaue nacht Und helle flut – so klagt: sie hätte singen Nicht reden sollen diese neue seele!439

Es ist geradezu ein Muss, sich als Prophet der Jahrhundertwende zu Nietzsche zu äußern.440 Georges Ehrung und Vernichtung dieses Vorbilds oder dieser negativen Leitfigur läuft über die Kritik an Nietzsches Mangel an Liebe,441 die bei Nietzsche nur alludiert sei und die sich – wie bei Derleth – in seinem fehlenden Willen zur Kreisbildung manifestiere (vgl. Vers 27/28). Im Nietzsche-Bild Georges wird nicht nur die Dichotomie vom einzelnen Seher auf dem Hügel (vgl. 1. Strophe), der an Nietzsches Zarathustra erinnert und der blöden Masse gegenübersteht (vgl. 2. Strophe), betont, sondern v.a. die unproduktive Einsamkeit des Dichter-Sehers im Gegensatz zum Kreis der Liebe von Gleichgesinnten polemisch hervorgehoben (vgl. Vers 28).442 Nietzsche fehle es demnach an Verbündeten und an einer innovativen Neubelebung des leeren Götterhimmels gleichermaßen. Insbesondere das leicht modifizierte Nietzsche-Zitat »sie hätte singen / Nicht reden sollen diese neue seele!« (Vers 31/32)443 zeigt,444 wie George Nietzsche mit den eigenen Waffen zu schlagen gedenkt.445 Hinter der singenden Seele verbirgt sich die Vorstellung einer genuin dionysisch-mystischen Aussprache. Das funktionale Tönen der Stimme, das Weber George vorwirft ,446 diagnostiziert George (ironischerweise) zuvor bei Nietzsche (vgl. Vers 29f.) mit Bezug auf

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George, Nietzsche. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 12. Vgl. Karlauf, Stefan George, S. 293. Vgl. zur weiteren Rezeption Nietzsches durch George: Karlauf, Stefan George, S.  293ff. Fünf aufeinanderfolgende Phasen der Nietzsche-Rezeption – Nietzsche als »Mitkämpfer«, »Erlöser«, »Prophet«, »Vorläufer seiner selbst« und »Gescheiterter« seien gemäß Frank Weber bei George auszumachen (W. Braungart, Georges Nietzsche, S. 235). Karl Wolfskehl betont in seinem »Zarathustra«-Gedicht die mystische Komponente Zarathustras: »Tief innen dein blick und dein wissen tief innen. / […] einsamkeit / Hielt dich umfangen« (K. Wolfskehl, Zarathustra. In: Wolfskehl, Gesammelte Werke, Bd. 1: Dichtungen, Dramatische Dichtungen, hg. von Margot Ruben u. Claus V. Bock, Claassen 1960, S. 8). Braungart hält mit Blick auf das »Nietzsche«-Gedicht fest, dass der »Orator«-Philosoph (W. Braungart, Georges Nietzsche, S.  239) für George »zum Medium poetisch-poetologischer Selbstreflexion und Selbstkritik wird« (W. Braungart, Georges Nietzsche, S. 250). Da der Werte-Zerstörer Nietzsche zuletzt in eine unfruchtbare Isolation gerate, müsse sich George von ihm distanzieren (vgl. W. Braungart, Georges Nietzsche, S. 253). Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 15: »Sie hätte singen sollen, diese ›neue Seele‹ – und nicht reden«. Vgl. den Kommentar zu Nietzsche in: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 202. Vgl. T. Meyer, Nietzsche und die Kunst, S. 180. Im »Versuch einer Selbstkritik«, seiner Vorrede zur Geburt der Tragödie bemängelt Nietzsche ja selbst, dass sein »schwärmerisches Buch« »für Eingeweihte« die »fremde Stimme, der Jünger eines noch ›unbekannten Gottes‹« auf eine Art verlauten lasse, die ein Dichter besser hätte ausdrücken können (Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 14f.). Vgl. wieder: Marianne Weber, Max Weber, S. 466f.

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dessen mystisch inspiriertes »Nachtlied« im Zarathustra: »Und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden«447; »ein loblied tönt in blaue nacht« (Vers 30), heißt es bei George. Was bei Nietzsche unter Rekurs auf ein mystisches Bild der unio der Liebenden entwickelt ist, nämlich die dionysisch-mystische Sprache der Liebenden, prangert George als verfehlte Liebeskonzeption des von einer Mauer (vgl. Vers 3) Umgebenen an. Die von Nietzsche anvisierte Liebessprache degradiert George zu einer »strenge[n] und gequälte[n] stimme« (Vers 29). Ironischerweise wird der Leerlauf von Nietzsches Rolle als »prophetische[r] Orator«448 prophezeit, was andere später George vorwerfen. Mit den »vier blockhaft statuarischen Strophen« des Gedichts gebietet der »formstrenge George« so dem »maßlosen Nietzsche« Einhalt.449 Ferner erprobt er neben der »kulturkritisch-prophetische[n] Oratorik«450, auch die ebenfalls bei Nietzsche angelegte prophetische Seite als Medium der Sprache, wie mit Blick auf die späten Lieder Georges zu zeigen sein wird. Georges Nietzsche-Bild ist des Weiteren auch ein Produkt einer Vorbilder-Akkumulierung:451 Neben seiner durch Zitat geltend gemachten Identifizierung Nietzsches mit Zarathustra vergleicht er ihn ferner mit Zeus (der »Donnerer«, Vers 4), mit Christus (»führer mit der blutigen krone«, Vers 16; »Erlöser«, Vers 17) und indirekt auch mit Dionysos (singende Seele). Dasselbe Verfahren der Vorbilder-Kombination, das bei Nietzsches Propheten-Figuration Zarathustra zugrunde liegt, der Züge des Propheten Mose, Dionysos’ und des Gekreuzigten trägt, zeichnet er nicht nur nach, sondern erweitert es um eine neue Figur: die des Kreis-Liebenden. Insofern ist das »Nietzsche«-Gedicht nicht nur als Grabrede, sondern auch als Auferstehungshymne eines vollendeten Nietzsche zu verstehen. Es changiert zwischen Liebeserklärung und Vorbildvernichtung aufgrund von »Einfluss-Angst«452, um George selbst als »Vollender und Überwinder«453 zu profi lieren. Georges Nietzsche-Kritik, die vorgibt, Nietzsches Liebesverständnis des einsamen Sehers auszuweiten, ist indes insofern nicht überzeugend, als Georges Vorwurf, dass Nietzsche nur Götter postuliere, um sie zu stürzen (vgl. Vers 20), wiederum auf Georges Nietzsche-Verhältnis übertragbar ist: George schafft einen Dichter-Seher (»Erlöser du!«, Vers 12), stilisiert sich zum Knaben dieses Meisters, um seine eigene Meisterschaft zu fundieren, indem er die Erlöserfigur inklusive ihrer Vorgänger sich partiell einverleibt, modifiziert, dabei verabschiedet und gleichzeitig auf sich als Nachfolger und Vollender aufmerksam macht.

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Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 138. W. Braungart, Georges Nietzsche, S. 253. T. Meyer, Nietzsche und die Kunst, S. 180. W. Braungart, Georges Nietzsche, S. 256. Thomas Mann verwendet den George-Vers »Und ging aus langer nacht zur längsten nacht« (Vers 8) zur Beschreibung des Schicksals seines Doktor Faustus: »nachdem er aus tiefer Nacht in die tiefste gegangen« (Th. Mann, Doktor Faustus, S. 7), heißt es auf der ersten Seite des Doktor Faustus. Vgl. Bloom, Einfluss-Angst. Karlauf, Stefan George, S. 296.

Als Gegenfiguren zu den ›lieblosen‹ Sehern, die immerhin prophetische Zeitkritiker sind, werden hingegen – im Siebenten Ring – z.B. Dante, der mit seinem Höllenkolorit die Liebe als Loblied und höchstes Prinzip ausmalt454 und mit dem Bild Georges verschmilzt,455 ebenso Böcklin, der im Umschlagspunkt von Schrei und Hoffnung »dem schmerz sein maass«456 gibt, »dies kleinod reinster helle«457 und das »heilige feuer«458 bewahrt, ins Bild gesetzt. Das neue Credo verkündet des Weiteren der mit Amtscharisma versehene Papst Leo XIII., »ein vorbild / Erhabnen prunks und göttlicher verwaltung«459, indem er die Liebe als Ursprung des neuen Heils preist: »So singt der dichter und der seher weiss: / Das neue heil kommt nur aus neuer liebe.«460 Diese Vorbilder gelten aufgrund ihrer Zeitkritik und ihrer Wertschätzung der Liebe als »Märtyrer«461 und Hoffnungsträger zugleich, fungieren von daher nicht nur als Gegenbilder zu Nietzsche oder Derleth u.a., sondern ebenfalls als Spiegelbilder für den George’schen Propheten, der sich sowohl als prophetischer, politischer Zeitkritiker als auch als authentisch Liebender und sozialer Reformator entwirft. Ihre Antifiguren sind radikal falsche Propheten wie der Widerchrist462 oder wollüstige Priester463. Dass die Erlangung der Meisterschaft des Propheten-Dichters auf ein Changieren zwischen Vorbildverehrung eines Dichters und ›Einflussangst‹ hindeutet, ist anhand der Beziehung Georges zu Hölderlin ebenfalls deutlich zu eruieren.464 Auf Hölderlin

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Vgl. George: »[…] doch des vollen feuers / Bedurft ich zur bestrahlung höchster liebe / Und zur verkündigung von sonn und stern« (George, Dante und das Zeitgedicht. In: George, Sämtliche Werke, Bd.  6/7, S.  8f.). Ähnlich endet Dantes Göttliche Komödie: »Da wurde plötzlich, wie von einem Blitze, / Mein Geist durchzuckt und das Ersehnte kam. / Hier schwand die Kraft der hohen Phantasie; / Doch schon bewegte Willen und Verlangen / Mir, wie ein gleichbewegtes Rad, d i e Liebe, / Die kreisen macht die Sonne wie die Sterne« (Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Berlin 1916, S. 423). Vgl. Friedrich Gundolfs Zitation dieser Verse: F. Gundolf, Vorbilder, S. 12. Vgl. Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 220. George, Böcklin. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 14f., S. 15. George, Böcklin. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 14f., S. 14. George, Böcklin. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 14f., S. 15. George, Leo XIII. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 20f., S. 21. George, Leo XIII. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 20f., S. 20. Karlauf, Stefan George, S. 291. Vgl. George, Der Widerchrist. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 56f. Vgl. George, Priester. Zitiert nach Stefan George, Gedichte, hg. und mit einem Nachwort von Ernst Osterkamp. Mit Abbildungen, Frankfurt am Main; Leipzig 2005, S. 18. Galt Hölderlin um die Jahrhundertwende noch als absoluter Insider, gehört er seit Norbert von Hellingraths Wiederentdeckung seines Spätwerks (Hölderlins Pindar-Übertragungen) um 1910 und der anschließend in Gang gesetzten kritischen Edition – 1916 erscheint von ihm herausgegeben ein Band mit Hölderlins später Lyrik – zu den Klassikern der vates-DichterIkonen (vgl. J. Schmidt, Hölderlin im 20. Jahrhundert. Rezeption und Edition. In: Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, hg. von Gerhard Kurz, Valérie Lawitschka u. Jürgen Wertheimer, Tübingen 1995, S.  105–125, S.  105 u. S.  107; Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, S. 152ff.). Die von Norbert von Hellingrath begonnene und von Friedrich See-

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geht der »Dichterberuf«465 prophetischer Provenienz zurück. Bezeichnend für seine erste Rezeption ist ein doppeltes Interesse der Hölderlin-Verehrer, einmal dasjenige an seiner Dichtung und ein andermal dasjenige an »Hölderlin selbst als dichterische[r] Existenz«466, da er vornehmlich als »Inbegriff des Rein-Dichterischen«467 wahrgenommen wird: »Er ist den modernen Dichtern zur Figur eigener Gefährdung, eigener Ausgesetztheit in einer fremden Welt geworden.«468 Besonders seine späten Hymnen, seine Vaterländischen Gesänge, beschwören prophetische Gestalten und heroische Ahnen aus der Antike und Historie (Barbarossa, Konradin, Herakles, Dionysos, Christus u.a.), die eine versöhnliche Utopie, eine Verschwisterung von Göttlichem und Menschlichem vorstellen. Diese Praxis der akkumulativen Ahnengalerie zur Beschwörung eines ›neuen Reichs‹ schreiben die Hölderlin-Rezipienten ungeniert fort. Im Sinne eines typologischen Modells469 fungiert Hölderlin als Bindeglied zwischen den alten und den neuen vates-Dichtern und damit zeitweise auch als Vorbild für George. Durch ihn erfährt er eine »Sakralisierung der Dichtergestalt«470, indem er zur »Leitfigur des Kreises und als Präfiguration des in George inkarnierten Seherdichters«471 avanciert: »Als nationaler Heros wird Hölderlin zu einer Präfiguration Georges.«472 In Georges »Lobrede auf Hölderlin«473 (1919) avanciert Hölderlin zum großen Seher-Vorbild, da er die Sprache erneuere und Sprecher des neuen Gottes sei. In der »Rolle als Vorläufer Georges«474 erfährt Hölderlin eine deutliche »›Georgesierung‹«475: Als »stifter einer weiteren ahnenreihe«476 wird Hölderlin

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bass und Ludwig von Pigenot fortgeführte Werkausgabe umfasst sechs Bände (1913–1926). Schon Hellingrath tituliert Hölderlin als vates und »deutschen Propheten« des »geheimen Deutschland«, dessen Gesinnungsart »heilig-nüchtern« sei (Achim Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin. In: Euphorion, 81, 1987, S. 81–99, S. 85). Auch Gundolf sieht in Hölderlin den reinster Vertreter des vates-Dichters, denn die »Göttersprache zu vernehmen und zu künden, ist der Vates in die Welt geschickt, er hat das doppelte Amt: die offenbar gewordene Gottheit zu preisen und die schlafende zu wecken« (F. Gundolf, Hölderlins Archipelagus, Heidelberg 1911, S. 29). Nach Gundolf ist durch ihn der Weg geebnet für »eine Traditionslinie, in die andere Propheten treten können« (Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin, S.  87). Vgl. zu detaillierten Nachzeichnung von Georges Hölderlin-Rezeption: Bothe, »Ein Zeichen sind wir, deutungslos«. Vgl. Hölderlin, Dichterberuf. In: Hölderlin, StA, Bd. II/1, S. 47. J. Schmidt, Hölderlin im 20. Jahrhundert, S. 107. J. Schmidt, Hölderlin im 20. Jahrhundert, S. 108. J. Schmidt, Hölderlin im 20. Jahrhundert, S. 107. Vgl. Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin, S. 87, S. 98. Claudia Albert, Sakralisierung der Dichtergestalt. Hölderlin-Rezeption im George-Kreis. In: Deutsche Klassiker im Nationalsozialismus. Schiller, Kleist, Hölderlin, hg. von Claudia Albert, Stuttgart 1994, S. 193–197, S. 193. Albert, Sakralisierung der Dichtergestalt, S. 193. Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin, S. 87. George, Hölderlin. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 68–71. Albert, Sakralisierung der Dichtergestalt, S. 194. Albert, Sakralisierung der Dichtergestalt, S. 195. George, Hölderlin. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 68–71, S. 70.

nicht nur als »grosse[r] Seher für sein volk« mit seinem bisher unentdeckten »sibyllinische[n] buch«477 und als Entdecker Pindars, Dionysos’, Orpheus’ und prägnanter »gegenbilder wie Herakles-Christos«478 gewürdigt, sondern auch als »verjünger der sprache und damit der verjünger der seele .. mit seinen eindeutig unzerlegbaren wahrsagungen [sei er] der eckstein der nächsten deutschen zukunft und der rufer des Neuen Gottes«479. Die identifi katorische Annäherung an George konzentriert sich auf Hölderlins innovative Sprachmacht,480 die es allerdings – wie auch sein »zerrissenes dasein«481 – zu überbieten gelte: »Denn es gilt höheres«482. Das zugrunde gelegte »Modell von Prophezeiung und Erfüllung«483 geht also nicht in einer reinen Vorbildverehrung auf, sondern impliziert auch eine Distanzierung von Hölderlin mittels Überbietungsgestus, die überhaupt erst Platz für Nachfolger in der Galerie der Seher-Dichter schafft . Nicht eine imitatio Hölderlins strebt George an, sondern eine typologische Verheißungsgeste ist kennzeichnend für seine Hölderlin-Rezeption: Der biblische Eckstein ist derjenige, der zunächst verworfen wurde (vgl. Ps 118, 22), um im Neuen Testament die Inkarnation Christi zu begründen (vgl. Eph 2, 20).484 Das Prinzip der aemulatio, der wetteifernden Auseinandersetzung, ist kennzeichnend für die Hölderlin-Rezeption Georges. Neben seiner Funktion als Legitimationsgarant für die Leitfigur George wird Hölderlin zunächst als Prophet und Verheißer des MaximinKults aktiviert,485 und zwar derart, dass die Epiphanie Maximins im Neuen Bund den Alten Bund hyperbolisch ablöst.486 Dabei geht zudem ein Austausch von Leitfiguren vonstatten, denn George setzt Hölderlin an die Stelle Goethes.487 Maximin ist des Weiteren das »männliche Derivat von Diotima«488, deren ›Neues Reich‹ der Freiheit wird in ein »hierarchisch geordnetes Reich«489 umgeformt. Besonders im Aufgreifen des Paradoxons »heilig-nüchtern«490 zeigt sich die George’sche Pointe, den durch Hölderlin verbreiteten Inspirationstopos mit seinen eigenen Bemühungen

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George, Hölderlin. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 68–71, S. 69. George, Hölderlin. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 68–71, S. 70. George, Hölderlin. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 68–71, S. 71. Nach Hinck, der Gadamers Aufsatz »Hölderlin und George« referiert, ist George und Hölderlin ein pindarisches Erbe zu bescheinigen; während Hölderlin auf eine DichterDemut abziele, dominiere bei George die »herrische Gebärde« (Hinck, Das Gedicht als Spiegel der Dichter, S. 26, vgl. S. 25). George, Hölderlin. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 68–71, S. 68f. George, Hölderlin. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 68–71, S. 71. Albert, Sakralisierung der Dichtergestalt, S. 195. Vgl. Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin, S. 99; Albert, Sakralisierung der Dichtergestalt, S. 196. Vgl. Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin, S. 87ff. Vgl. Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin, S. 89, S. 95. Vgl. Karlauf, Stefan George, S. 409. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, S. 145. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, S. 147. Hölderlin, Hälfte des Lebens. In: Hölderlin, StA, Bd. II/1, S. 117.

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um eine strikte Kreis-Organisation zu korrelieren.491 Entscheidend ist, dass »wie aus Jesse […] aus Hölderlin, dem Bewahrer der heroischen Vergangenheit, eine heilige Schar entspringen [wird]«492. In »Geheimes Deutschland«493 wird Hölderlin schließlich als »Vorfahr« geadelt.494 Wie sehr Georges Kultstift ung die »ästhetische Qualität«495 ausblendet, indem der Poet mehr und mehr hinter den Propheten zurücktritt, betont schon Achim Aurnhammer überzeugend. Indes spiegelt die Überwindung der Hölderlin’schen »eindeutig unzerlegbaren wahrsagungen«496 auch eine Hinwendung zum Interpretationsverzicht als Ausweis einer neuen Prophetie.497 Georges Vorbilder-Archiv beeinflusst auch die Transformation seiner Prophetie-Poetik: Die Auflösung des Dichter-Propheten durch seine Einverleibung von Dichter-Seher-Vorbildern befördert eine Prophetisierung der Ästhetik. Doch fi ndet sich bei George zuletzt auch eine prophetische Ästhetik, die den rhetorischen Aspekt des Prophetischen in den Hintergrund treten lässt, wie es im Folgenden zu zeigen sein wird. IV.2.3. Georges Prophetie-Poetik: Hypertrophes Stückwerk – Entleibung des Propheten In Georges Poetiken des Prophetischen sind mehrere Etappen zu erkennen. Den Inspirationstopos bemüht George schon früh, wenn in seinen Gedichten die Muse oder ein Engel mehrfach als Inspirations-Initiatoren genannt werden.498 Der Dichter ist

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Vgl. Albert, Sakralisierung der Dichtergestalt, S.  194; Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin, S. 90ff. Als ein weiteres besonderes Dokument der Hölderlin-Adaption Georges ist ferner seine »Hyperion«-Gedicht-Triologie zu nennen, wo sich der Seher-Dichter »nach dem Bruch mit dem goethezeitlichen Autonomiekonzept als Künder des neuen Gottes und Seher des Neuen Reichs« (Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, S.  157) erprobt. Das vorangestellte Hölderlin-Zitat »bestätigt den Zitatcharakter seiner neuen Rolle als DichterSeher« (Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, S. 159f.) und wieder wird ersichtlich, dass »die Rollenfiktion des Hyperion« eine »doppelte Möglichkeit« bietet, sich einerseits »ganz in das von Hölderlin repräsentierte Dichtermodell [zu] fügen und es andererseits vollständig den eigenen Intentionen anverwandeln zu können« (Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, S. 161). Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin, S. 95. George, Geheimes Deutschland. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 59f. Vgl. Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin, S. 96. Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin, S. 99. George, Hölderlin. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 68–71, S. 68f. Vgl. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, S. 158. Vgl. den herbeigezwungenen Musen-Kuss in seiner frühen Hymne »Weihe«: »Indem ihr mund auf deinem antlitz bebte / Und sie dich rein und so geheiligt sah / Dass sie im kuss nicht auszuweichen strebte / Dem finger stützend deiner lippe nah« (George, Weihe. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 12–13). Vgl. die Engelsfigur in »Ein Angelico« (George, Ein Angelico. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 47), in »Einführung«: »Gesang des engels tönt.. sein mund / Auf deinem brennt dich rein« (George, Einführung. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 100) und in »Auf das Leben und den Tod Maximins: Das Ers-

demnach mit einer undankbaren Aufgabe betraut; er muss die inspirativen Zuwendungen dichterisch umsetzen:499 […] Der dichter auch der töne lockung lauscht. Doch heut darf ihre weise nicht ihn rühren Weil er mit seinen geistern rede tauscht: Er hat den griffel der sich sträubt zu führen.500

Ausgeprägt zeigt sich der Seher ab dem Jahr der Seele:501 Des sehers wort ist wenigen gemeinsam: Schon als die ersten kühnen wünsche kamen In einem seltnen reiche ernst und einsam Erfand er für die dinge eigene namen –. […]502

Neben der angezeigten Erfindung einer exklusiven Sprache für Eingeweihte, die mit einer »Erneuerung der Dinge aus der Macht des sie nennenden erwählten Dichters«503 und einem Herrschaftsanspruch über die religiös codierte Sprache einhergeht, wird die Auflösung des Dichter-Sehers in Töne in »Entrückung« (1907) vorgeführt: Entrückung […] Ich löse mich in tönen · kreisend · webend · Ungründigen danks und unbenamten lobes Dem grossen atem wunschlos mich ergebend. […] Ich fühle wie ich über lezter wolke

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te« (George, Auf das Leben und den Tod Maximins: Das Erste. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 105). Vgl. die (ebenfalls herbeigezwungene) Engelsfigur im Vorspiel zu Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel (George, Vorspiel III. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 12). Vgl. zur charismatisierenden Funktion wieder: Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 127. Indem Schönberg dieses Gedicht in einem Streichquartett vertont, überträgt er den Propheten-Gestus Georges geradezu auf sich selbst. George wirkt damit ausnahmsweise prospektiv: als ungewollter Ahnherr der Neuen Musik. George, Im Park. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 14. Vgl. Schonauer, Stefan George, S. 59. George, Des sehers wort ist wenigen gemeinsam. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 51. Vgl. Schonauer, Stefan George, S. 59. Mattenklott, Bilderdienst, S. 308.

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In einem meer kristallnen glanzes schwimme – Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme.504

Der Prophet als Erfinder neuer Namen mit absoluter Deutungshoheit im hortus conclusus und als reines Medium der Sprache unterscheidet sich vom Inspirationstopos der frühen Gedichte, der vornehmlich einen Geltungsanspruch proklamiert. Die Figur des Sehers stellt mit Blick auf die Eigenmacht der (selbst geschaffenen) Wörter autopoetische Konstruktionen505 vor. Die Verklärung des Sänger-Propheten ist dionysisch gefärbt.506 Indes ist die Auflösung des Ich in Töne gerade nicht als Ich-Verlust zu verstehen507 oder als reine »Subjektivitätskritik«508, sondern als Ausdruck einer gesteigerten Subjektivität sowie als Stimme einer Gegenwelt (»Ich fühle luft von anderem planeten«, Vers 1): »Dieser Wechsel vom lyrischen Ich zur Fiktion einer Sprechinstanz schließt nicht aus, daß die Instanz weiterhin ›Ich‹ heißt«509, wenn ein prophetisches Ich zugrunde liegt. Armin Schäfer greift hilfreich auf die antike Bedeutung des Persona-Begriffs zurück, um das Person-Sein als Stellvertreter-Sein zu erklären,510 und diese Stellvertreterinstanz ist wiederum als prophetische Sprechinstanz näher zu charakterisieren. Ähnlich wie bei Werfel ist der Stimme des Propheten durchaus eine Personalität zu bescheinigen,511 wonach prophetisches ›Ich‹ und prophetische Stimme sich nicht ausschließen: »Ich euch gewissen · ich euch stimme dringe / Durch euren unmut der verwirft und flucht«512, heißt es im »Zeitgedicht«. Die wechselseitige Abhängigkeit von tönendem Subjekt und Sprache beschreibt am besten Adorno in seiner »Rede über Lyrik und Gesellschaft«: Die höchsten lyrischen Gebilde sind darum die, in denen das Subjekt, ohne Rest von bloßem Stoff, in der Sprache tönt, bis die Sprache selber laut wird. Die Selbstvergessenheit des Subjekts, das der Sprache als einem Objektiven sich anheimgibt, und die Unmittelbarkeit und Unwillkürlichkeit seines Ausdrucks sind dasselbe. […] Andererseits ist die Sprache aber auch nicht, wie es manchen der heute geläufigen ontologischen Sprachtheorien gefiele, als Stimme des Seins wider das lyrische Subjekt zu verabsolutieren. Das Subjekt, dessen Ausdrucks, gegenüber der bloßen Signifi kation objektiver Inhalte, es bedarf, um jene Schicht der sprachlichen Objektivität zu erlangen, ist keine Zutat zu deren eigenem

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George, Entrückung. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 122. Vgl. Schäfer, Die Intensität der Form, S. 204. Vgl. Frank, Stefan Georges »neuer Gott«, S. 303. Vgl. Mattenklott, Bilderdienst, S.  270: »Die Konsistenz des Ich selbst wird hier als Last empfunden, sein individueller Bestand als zu überwindender.« Mit Verweis auf Rudolf Ottos Das Heilige stellt Mattenklott die »höchste Steigerung des Individuellen« heraus, die »das allgemeine Bewußtsein des Heiligen, Numinosen und Anderen wach« hält (Mattenklott, Bilderdienst, S. 271). W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus, S. 85. Schäfer, Die Intensität der Form, S. 204. Vgl. Schäfer, Die Intensität der Form, S. 206. Vgl. dazu das Kapitel VII.3.2. George, Das Zeitgedicht. In: In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 32.

Gehalt, ist ihr nicht äußerlich. Der Augenblick der Selbstvergessenheit, in dem das Subjekt in der Sprache untertaucht, ist nicht dessen Opfer ans Sein. Es ist keiner der Gewalt, auch nicht der Gewalt gegen das Subjekt, sondern einer von Versöhnung: erst dann redet die Sprache selber, wenn sie nicht länger als ein dem Subjekt Fremdes redet, sondern als dessen eigene Stimme. Wo das Ich in der Sprache sich vergißt, ist es doch ganz gegenwärtig; sonst verfiele die Sprache, als geweihtes Abrakadabra, ebenso der Verdinglichung wie in der kommunikativen Rede.513

Das von Adorno hervorgehobene tönende Subjekt ist gut mit der Vorstellung einer prophetischen Mittler-Instanz vereinbar. Dies zeigt sich insbesondere auch anhand von Trakls tönenden Propheten-Figurationen, wie im VI. Kapitel ausführlich dargestellt. Der Übergang der prophetisch inspirierten Sprache zum »geweihte[n] Abrakadabra« ist – bei George und Trakl – noch nicht gänzlich vollzogen, aber in einigen verklausulierten Einlagen angezeigt. Adorno bescheinigt deswegen George mit seinem Maximin-Kult den »Umschlag der ins Maßlose gesteigerten Individualität zur Selbstvernichtung«514. Maximin ist als Dionysos-Christus-Figuration515 mit prophetischen Zügen zu beschreiben, der zudem auf den Antinoos-Mythos516 verweist, wonach Kaiser Hadrian einen Kult um einen im Nil ertrunkenen Lieblingsknaben betreibt. Der Jüngling wird als Kunstfigur wie die Propheten berufen: Er ist ein Nachfahre Moses, da er wie dieser neues Land schaut (»Wie du hier stehst bist du erkoren / Ins neue land zu schaun«517), und sein Mund wird wie derjenige Jesajas rein gebrannt, von Sünde gereinigt, wie es auch Werfel ins Bild setzt:518 »Gesang des Engels tönt.. sein mund / Auf deinem brennt dich rein ·«519 Gleichzeitig stellt er paradoxerweise eine Personalunion mit Gott vor, der mit seinem Kuss neue Propheten beruft: »Auch ihr habt eines gottes ruf vernommen / Und eines gottes mund hat euch geküsst.«520 Zugleich initiiert er wie Mose einen »Neuen Bund«521. Die Exklusivität von Georges prophetischen Figuren steht freilich außer Frage: »In jeder ewe / Ist nur ein gott und einer nur sein

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Adorno, Rede über Lyrik und Gesellschaft, S. 56f. Adorno, Rede über Lyrik und Gesellschaft, S. 67. Vgl. Frank, Stefan Georges »neuer Gott«, S. 299. Vgl. Frank, Stefan Georges »neuer Gott«, S. 303. Vgl. Rilkes Gedicht »Klage um Antinous« und dazu: Hans Berendt, Rainer Maria Rilkes Neue Gedichte. Versuch einer Deutung, Bonn 1957, S. 202f. George, Erwiderungen: Einführung. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 100. Vgl. zur biblischen Vorlage: Dtn 34, 1–4. Vgl. zur Dornbusch-Allusion: »Du warst für uns in frostiger lichter glosen / Der brand im dornenstrauch« (George, Das Fünfte: Erhebung. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 110). Vgl. zur Mund-Initiation: F. Werfel, Die Erweckung des Propheten Jesaja. In: Werfel, Das lyrische Werk, hg. von Adolf D. Klarmann, Frankfurt am Main 1967, S. 458–460; siehe die biblische Vorlage: Die Berufung des Propheten ( Jes 6, 5–7). George, Erwiderungen: Einführung, S. 100. George, Auf das Leben und den Tod Maximins. Das erste, S. 105. Frank, Stefan Georges »neuer Gott«, S. 302.

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künder.«522 Für Ernst Osterkamp ist Maximin ein »Wunder der Mitte«523, die Einheit von Leib und Geist. In den späten Propheten-Gedichten, wo der Seher nicht mehr als Medium einer absoluten Poesie fungiert, erscheint er explizit als prophetischer Mahner und zugleich als Überwinder vorgängiger Propheten. Die größte Verdichtung aller Seher-Vorbilder findet sich in Georges späten Gedichten »Der Krieg« (1917) und »Der Dichter in Zeiten der Wirren« (vor 1921) in Das Neue Reich (1928). Beide Gedichte werden als explosives Zündkraut mit präfaschistischem Potential gelesen, aber auch als Friedensplädoyers.524 Die im großen Blankversgedicht »Der Krieg« auftretende aktivistische Propheten-Instanz stellt eine dominante Projektionsfläche für Vorbilder und deren Überwindung dar. Im Gedicht akkumulieren sich zwei Sprecherpositionen: Siedler und lyrische Sprechinstanz.525 Hinzu kommt als Gegengröße das Volk. Im ersten Teil von »Der Krieg«526 ist die Rede vom »Seher« (Vers 25), der im Verbund mit einem vertretenden Mann (vgl. Vers 61), einem »schmucklose[n] greis« (Vers 69) – gemeint ist der General Hindenburg –,527 gegen »falsche heldenreden« (Vers 53) und »spotthafte könige« (Vers 63) opponiert. Das Volk in der Not, auch ein Abbild des von George verachteten »satten Bürger[s]«528, befragt diesen »Siedler auf dem berg« (Vers 13), der Züge Zarathustras trägt und raunend prophezeit: »Das meiste war geschehn und keiner sah / Das trübste wird erst sein und keiner sieht« (Vers 20/21). Er liefert »Endzeitdiagnosen« und rät im Verkündungstonfall zur »Innerlichkeit«.529 Die »Dialogisierung«530 des Gesprächs zwischen Siedler und Volk dient lediglich »der Abwendung von den Vorstellungen des Fragenden, der abrupten Konfrontation mit der eigenen Wertwelt«531, der Prophezeiung des Siedlers. Die Dialogpartner sind nicht ebenbürtig, das Gespräch gleicht – den frühen sokratischen Dialogen ähnelnd – einem Selbstgespräch. Der Seher ist weiterhin wie Jeremia verkannt: »Nie wird dem Seher dank .. er trifft auf hohn« (Vers 25) und »sein amt ist lob und fem · gebet und sühne ·« (Vers 37). Wie ein revolutionärer Prophet und antiker Seher lehnt er die gängigen falschen Werte ab: »Was 522 523 524

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George, Jahrhundertspruch. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 208. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, S. 134. Siblewski betont zu Recht die Mehrdeutigkeit des Gedichts, das einerseits eine »ethnische Säuberung« (Siblewski, »Diesmal winkt sicher das Friedensreich«, S. 19) alludiert, andererseits pazifistische Formeln enthält (vgl. Siblewski, »Diesmal winkt sicher das Friedensreich«, S.  20). Vgl. zur Rezeptionsgeschichte von »Der Krieg«: Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 348ff. Vgl. zu Georges Abgrenzung gegenüber Spenglers Der Untergang des Abendlandes: Karlauf, Stefan George, S. 498f. Vgl. zu Georges Abgrenzung seines SwastikaSignets gegenüber dem Hakenkreuz: Karlauf, Stefan George, S. 578. Vgl. Schäfer, Die Intensität der Form, S. 291. George, Der Krieg. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 26–34. Vgl. Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 347. Frank, Stefan Georges »neuer Gott«, S. 272. Siblewski, »Diesmal winkt sicher das Friedensreich«, S. 28. Vgl. zur Dialogisierung: Jürgen Wertheimer, Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen, München 1978, S. 160f. Wertheimer, Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges, S. 166.

ist IHM mord von hunderttausenden / Vorm mord am Leben selbst? Er kann nicht schwärmen / Von heimischer tugend und von welscher tücke« (Vers 30f.). Und wie die Propheten verdammt er nicht nur die eigene Kriegs-Zeit und verkörpert den »fluch« (V. 126), sondern verkündet abschließend eine hoffnungsfrohe Vision, die »vollste umkehr: schau und innrer sinn« (Vers 98) voraussetze. »Die graduelle Umwandlung der Sprechhaltung – von der Wiedergabe der Worte eines Dritten zur spontanen, agitativen, unmittelbaren Rede – in der siebenten Strophe«532 über die Fluchrede in der zehnten Strophe mündet in die »Verkündigung einer utopischen Gegenvision«533 in den letzten beiden Strophen. Dort wird ein »sinnbild« (Vers 82) postuliert, das Christus (»der an dem Baum des Heiles hing«, Vers 142) und Dionysos Zagreus (vgl. Vers 143f.) durch eine Kreuzung von Antike und Germanentum534 überbietet: […] .. Apollo lehnt geheim An Baldur: ›Eine weile währt noch nacht · Doch diesmal kommt von Osten nicht das licht.‹ Der kampf entschied sich schon auf sternen: Sieger Bleibt wer das schutzschild birgt in seinen marken Und Herr der zukunft wer sich wandeln kann.535

Die Überbietung der vorgängigen Seher und Propheten – darunter Dante, aus dessen 17. Gesang seines Paradiso Verse vorangestellt sind,536 Hesekiel, dessen Waldbrandgleichnis (vgl. Hes 21, 3) alludiert ist, Elia, der als Ratgeber und Seher auf dem Berg sitzt (vgl. 2. Kön 1, 9), Jesus mit seinen Weissagungen über Jerusalem (vgl. Luk 19, 39–44 u. 13, 34–35), Jeremia und seine Klagelieder, Zarathustra und seine Tafeln und Hölderlin mit seiner Kombination von Dionysos und Christus –537 gipfelt in einer vagen Andeutung des ›Neuen Reichs‹. Vage ist dieses ›Neue Reich‹ insofern, als das neue Sinnbild nicht explizit über die Gedächtnisleistung der Ahnen hinausreicht. Dass die entrückte Entscheidung auf Sternen538 – fatumsgleich – die vorhergehende Botschaft des Sehers zu konterkarieren scheint,539 indem sie ihn in die marginale »Rolle als Medium«540

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Wertheimer, Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges, S. 175. Wertheimer, Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges, S. 176. Vgl. Siblewski, »Diesmal winkt sicher das Friedensreich«, S. 32. George, Der Krieg. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 26–34, S. 26. Vgl. zu den Vergleichsschemata, Neologismen, der »Spaltung von Sprecher und Publikum« (Wertheimer, Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges, S.  165), dem dialektischen Wechsel von Frage und Antwort in »Der Krieg«: Wertheimer, Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges, S. 160f. Vgl. den ausführlichen Kommentar zu »Der Krieg« in: George, Sämtliche Werke, Bd.  9, S. 139–142. Vgl. zur Verwandlung des Heros in einen Stern und den weiteren Bedeutungen des SternMotivs bei George: Böschenstein, Stefan Georges Spätwerk als Antwort auf eine untergehende Welt. In: Stefan George. Werk und Wirkung seit dem »Siebenten Ring«, hg. von Wolfgang Braungart, Ute Oelmann u. Bernhard Böschenstein, Tübingen 2001, S. 1–16, S. 6f. Vgl. Siblewski, »Diesmal winkt sicher das Friedensreich«, S. 32. Siblewski, »Diesmal winkt sicher das Friedensreich«, S. 33.

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zurückweist, führt zudem zu einer radikalen Entpersonalisierung der Mission. Vorschub für die zunehmende Entleerung der Seher-Instanz541 leistet schon der »Rückzug hinter die anonym-objektive Maske des Sehers in Verbindung mit der Warnung vor falschem Verständnis«542. Beides bewirkt auch – wie es Cornelia Blasberg für die Gedichte des Stern des Bundes festhält – einen »Widerstreit zwischen ›ZeichenVollzug‹ und ›Zeichen-Deutung‹«543. George konzentriert und archiviert die vorgängigen Seher, vornehmlich Dante, Nietzsche, Hölderlin und die alttestamentlichen Propheten, die ihm für seine Zeitkritik Pate stehen, verzichtet aber auf die Ausgestaltung des neuen Sehers, des »Herr[n] der zukunft«, der im letzten Vers 149 lediglich durch die magische Zahl der Apokalypse beschworen wird: Das Gedicht besteht (zahlensymbolisch bedeutsam) aus zwölf Strophen zu je zwölf Zeilen, wodurch der Blick auf »Georges eigenen prophetischen Anspruch«544 gelenkt wird, was auch Thomas Mann bemerkt.545 Wie Würffel in seiner Studie Wirkungswille und Prophetie richtig aufzeigt, provoziert Georges prophetische Rede Missverständnisse, da in ihrer mythologisch und vorbildbestückten Aussage eine schillernde »Offenheit«546 aufgrund von Leerformen eingeräumt ist: Eine Entsemantisierung und Plurivalenz des Gedichts sind das Ergebnis. Dies mag auch mit Georges Rezeption von Platons Schriftkritik im Phaidros und »Siebenten Brief« und seiner sogenannten »ungeschriebenen Lehre« zusammenhängen, wonach zwischen esoterischem und exoterischem Wissen zu unterschieden ist und das Geschriebene nur eine Erinnerung (im Rahmen einer Hebammenkunst) an das wesentliche, mündlich vermittelte Wissen darstellt.547 Denn »für den charismatischen Führer ist es wichtig, dass er das Interpretationsmonopol auch über die Ideologie behält«548. Deswegen werden die Vorbilder mitsamt ihrer Werte verabschiedet – auch wenn sie als heuristische Vorbilder genannt sind –, ihre Stelle nimmt ein neuer Seher ein: Dessen Botschaft ist allerdings derart abstrakt, geradezu leer,549 dass er selbst zuletzt aufgrund des ungenannten Werts

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Vgl. Osterkamp, »Ihr wisst nicht wer ich bin«, S. 42. Wertheimer, Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges, S. 168. Blasberg, »Auslegung muß sein«. Zeichenvollzug und Zeichendeutung in Stefan Georges Spätwerken. In: Stefan George. Werk und Wirkung seit dem »Siebenten Ring«, hg. von Bernhard Böschenstein, Wolfgang Braungart u. Ute M. Oelmann, Tübingen 2001, S. 17–33, S. 31. Siblewski, »Diesmal winkt sicher das Friedensreich«, S. 27. Vgl. Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 346. Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 352. Vgl. zur Platon-Rezeption Georges wieder: Karlauf, Stefan George, S.  401f. Vgl. zur »ungeschriebenen Lehre« Platons: Thomas A. Szlezák, Platon lesen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, bes. S. 56ff. u. S. 152ff. Rainer Lepsius zitiert nach: Karlauf, Stefan George, S. 431. Marx hält für George allgemein fest: »In diesem Sinne ist Georges dichterisches Prophetentum ›dogmenfrei‹; sein Werk zelebriert die Geste der Verkündigung – und verweigert deren Botschaft« (Marx, Heilige Autorschaft ?, S.  115). Daraus ergebe sich das (auch von Max Weber konstatierte) »Dilemma, einerseits Deutungsgewalt zu reklamieren, andererseits jede einsinnige Deutung zu verweigern« (Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 116).

des ›Neuen Reichs‹ auf einen Flöten-Ton (vgl. Vers 131) reduziert und darüber hinaus vom Fatum als Zukunftsinstanz abgelöst wird. Georges späte Prophetie ist vom Paradoxon geprägt, »dass in ihr das Absolute immer zugleich das Vorläufige ist«550. Seine Gedichte inszenieren ferner geradezu einen Gestus, wonach »Theologie durch Tautologie«551 ersetzt wird. »Der Krieg« ist aber auch ein Dokument, wo ein Dichter-Seher im Zuge einer ›Überprophetisierung‹ die immanente Seher-Instanz selbst verabschiedet, genauer gesagt die Seher-Figur in die Form einer tautologischen Selbstreferenz umwandelt. Zurück bleibt eine unbestimmte Verweisstelle, die der formalen Einheit des Gedichts entspricht, die »thematisch (der Krieg), metrisch (fünfhebiger Jambus), strophisch (jede Strophe ist gleich lang) und numerisch (zwölf Strophen zu je zwölf Versen) erzeugt«552 wird. Des Sehers Fragmentierung spiegelt sich geradezu in »Mikroketten«553 (Kopulae statt Hypotaxen) und »diese Teile erscheinen nicht als einzelne, isolierte Elemente, sondern bereits als Variation, Verdopplung und Reihung, als Mikroeinheiten, die sich wiederum aneinanderreihen und in einen Zusammenhang treten durch ein übergreifendes Thema und eine übergreifende Formsetzung: 12×12«554. Wie bei Trakl überlebt der Prophet als apokalyptische Form, als göttliches Zeichen oder als artistische Zahl: Diese Form der Apokalypse statuiert eine Kunst-Vision der göttlichen Form.555 Den Rollencharakter der Seher-Rede betonend ist George freilich nicht mit dem Seher auf dem Berg gleichzusetzen. Siblewskis ästhetischer Kritik an George, die darin besteht, »dass er die Zerstörung in ihrem umfassenden Ausmaß zwar begriffen hatte, daraus aber nicht die zwingende literarische Konsequenz zu ziehen vermochte, die allein darin hätte bestehen können, den vaterländischen Ton als Sprechhaltung und Denkausrichtung im Gedicht grundsätzlich aufzugeben«556, entgeht insofern die Eigenregie prophetischen Dichtens, die zuweilen eine Selbstzersetzung der immanenten Seher-Instanz zugunsten der prophetischen Form betreibt.557 In »Der Dichter in Zeiten der Wirren«558 ist eine vergleichbare Vorbilder-Mobilisierung zu verzeichnen, vom tönenden Kind und Dichter-Seher in Friedenszeiten (vgl. Vers 2f.) über den wie Kassandra und Jeremia klagenden Seher (vgl. Vers 7f.) bis hin zum »Sänger« (Vers 61), der die »heilige glut« (Vers 63), »ein bei George immer wiederkehrendes Symbol fürs Heilige«559, schürt und der den Wert der neuen Liebe inkarniert:

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Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, S. 229. Osterkamp, »Ihr wisst nicht wer ich bin«, S. 43. Schäfer, Die Intensität der Form, S. 293. Schäfer, Die Intensität der Form, S. 294. Schäfer, Die Intensität der Form, S. 294. Vgl. hierzu das Kapitel VI.11. Siblewski, »Diesmal winkt sicher das Friedensreich«, S. 33. Auch der von ihm vorgeschlagene Ausweg der Ironie für George ist kein Allheilmittel (vgl. Siblewski, »Diesmal winkt sicher das Friedensreich«, S. 34), wie man am Beispiel Thomas Manns sieht. George, Der Dichter in Zeiten der Wirren. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 35–39. Frank, Stefan Georges »neuer Gott«, S. 283.

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[…] · er holt aus büchern Der ahnen die verheissung die nicht trügt Dass die erkoren sind zum höchsten ziel Zuerst durch tiefste öden ziehn dass einst Des erdteils herz die welt erretten soll …560

Die Verheißung entspringt direkt aus der Vollendung der Dichter-Seher-Vorlagen wie Hölderlin, Klopstock und Pindar und aus den Sinnbildern der Liebe wie Dante und Böcklin, also einer breiten Traditionsstift ung.561 Durch die Belebung des Herzens setzt der neue Seher als prophetischer Gesetzgeber wie Mose das »ewige recht« (Vers 85) und platziert das »wahre sinnbild« (Vers 87) als Führer der »treuen schar« (Vers 89). Zuletzt »pflanzt« er das »Neue Reich« (Vers 90). Auch dieses Gedicht »feiert den poeta vates als Rekrutierer der neuen Elite und Verkünder eines politischen Führers«562. Die Verse treten »in den Dienst eines politischen Programms« und die »Struktur ist nicht mehr poetisch, sondern rhetorisch«.563 Und doch ist dieses späte Gedicht Georges ebenfalls ein Beispiel dafür, wie eine kulturelle Normeinschreibung verfehlt wird, da aufgrund der abstrakten Ungegenständlichkeit ein rein funktionales Sinnbild statuiert wird, das nur innerhalb des Kreises entzifferbar zu sein scheint.564 Versteht man die Vorbilder-Kombination mit Überbietungsgestus als Charisma-Inszenierung, ist der unfreiwillige Umschlag ins Stigma darin zu sehen, dass der Requisitenschatz das Sinnbild derart verklausuliert, dass der Prophet von selbst zersetzt wird, was mit der Auflösung einer sinnstiftenden Wertsetzung einhergeht. So heißt es prophetisch: »Was soll hier himmels stimme, wo kein ohr ist / Für die des plansten witzes?«565 Es gibt dementsprechend »überhaupt kein Ich mehr, sondern allein noch die Objektivität des Dichteramts«566 als Ausdruck einer entpersonalisierten prophetischen Wortkunde, die selbst spricht. Bestehen bleibt allein die prophetische Form,567 die sogar »das Programm der Substitution mythisch biblischer Topoi durch

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George, Der Dichter in Zeiten der Wirren, In: George, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 35–39, S. 38f. Vgl. den ausführlichen Kommentar zu »Der Dichter in Zeiten der Wirren«. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 142–145. Vgl. auch: Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 442f. Barbara Beßlich, Vates in Vastitate. Poetologie, Prophetie und Politik in Stefan Georges »Der Dichter in Zeiten der Wirren«. In: Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein, hg. von Olaf Hildebrand, München 2003, S. 198–219, S. 204. Beßlich, Vates in Vastitate, S. 213. Deswegen bietet es sich geradezu für aktualisierende Bezugsmöglichkeiten für verschiedene Ideologien an (vgl. Würffel, Wirkungswille und Prophetie, S. 356f.). George, Der Dichter in Zeiten der Wirren. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 35–39, S. 37. Osterkamp, »Ihr wisst nicht wer ich bin«, S. 39. Schon Gottfried Benn insistiert, dass George selbst da, »wo er scheinbar politisch, scheinbar prophetisch, scheinbar aktuell und legislativ auftritt […] niemals den formalen Standpunkt [verlässt], er bleibt immer und allein und in uneingeschränktem Umfang der absolute Gestalter, bleibt der Artist« (Benn, Rede auf Stefan George, S. 109).

national-poetologische Ideologeme«568 übertrifft . Dieses Ergebnis ist mitunter auf Georges »Aufspaltung in eine multiple Rollenidentität« zurückzuführen, die einen »Allerweltschiliasmus« befördert.569 Die Arbeit am Dichterporträt des Propheten geht bei George mit einer kombinatorischen imitatio von Vorbildern einher, die wiederum reduktionistisch auf Kernaspekte (Werte) hin konzentriert werden. Ahnengalerien stellen eine Technik der Vorbilder-Einverleibung dar: An ihnen lässt sich ablesen, wie sich eine Figur dadurch zur Leitfigur zu erheben sucht, dass sie sich in eine Reihe mit Vorbildern stellt und diese zu konservieren und zu überbieten ankündigt. Eine Gefahr des Inspurengehens wird deutlich: Die Einverleibung von Vorbildern kann einen destabilisierenden Effekt erzeugen, wenn die Imitatio-Figur in der Nachahmung steckenbleibt, sie den vorgeführten Vorbildern nichts Neues entgegenzusetzen vermag, was ihren Status als eigenständige Leitfigur festschreiben könnte – wie das Beispiel Derleths schon zeigte. Dann erweisen sich Refigurationen von kulturellen Leitbildern im Verbund mit abstrakten Normzuschreibungen als Bremsblock: Vorbilder können als ›Über-Ich‹ den Epigonen überfordern, so dass die anvisierte Überbietung des Propheten zur eigenen Zersetzung im selbst konstruierten musealen Archiv umkippen kann.570 Selbstinszenierungen können Hand in Hand mit Selbstdemontagen gehen. Anders gesagt: Wer sich mit Göttern und Helden in eine Reihe stellt, der droht allzu menschlich im Vergleich zu diesen abzufallen.571 Schon Nietzsche spricht in »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« davon, dass das Vergangene teilweise vergessen werden müsse, damit es nicht »zum Todtengräber des Gegenwärtigen werden soll«572. Unter »plastische[r] Kraft« versteht er »jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen«573. Antiquarische (der Bewahrenden) und monumentalistische Historie (der Strebenden) sind durch die kritische Historie (der Befreiung Bedürftigen) zu ergänzen. George bleibt indes zunächst in der Kritik stecken bzw. reduziert seine Macht auf die Deutungshoheit prophetischer Rede, die spätestens nach seinem Ableben gebrochen wird. Seine magische ›Totenbeschwörung‹574 von Göttern und toten Helden als Schamane im

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Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 444. Osterkamp, »Ihr wisst nicht wer ich bin«, S. 41. Wolfgang Braungart spricht mit Blick auf die Widmungsgedichte von einem »poetische[n] Mausoleum« (W. Braungart, »Was ich noch sinne und was ich noch füge«, S. 11). Diese Verdrängung der Vorbilder ist im »Zeitgedicht« kritisiert: »Ihr wandet so das haupt bis ihr die Schönen / die Grossen nicht mehr saht – um sie zu leugnen / Und stürztet ihre altund neuen bilder« (George, Das Zeitgedicht. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 32). Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen II. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, S. 243–334, S. 251. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen II, S. 251. Vgl. George, Die Gräber in Speier. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 22f.

173

Rahmen eines ausufernden Polytheismus575 fördert keine Werte, sondern artistische prophetische Formen. Mithilfe des Hyperion angedichteten Prinzips »Ich werde heldengrab«576 entsteht zwar kein neuer Gott, aber eine prophetische Formel. Begreift man Georges Propheten-Figurationen als durch Vorbilder geschaffene, überhöhte, sich selbst formalisierende Figuren, muss man in ihnen nicht nur Prediger der ›völkischen Gesamterlösung‹ erkennen.577 In Richard Beer-Hofmanns Der Tod Georgs (1900) findet sich ein Traumelement, das ironisch das Kommunikationsproblem einer kryptisch-hermetischen Priester-Sprache festhält: Weißgewandete Priester warfen ihnen [den Fischen] des Morgens ihr Futter und riefen sie mit fremdklingenden Worten einer Sprache, die lange gestorben war. Nichts war von ihr geblieben als die lockenden Worte, die, unverstanden, Priester einander überliefert – die letzten, die darauf hörten, waren rotglänzende Fische, die mit feisten Rücken, die aus dem Wasser ragten, und schnappenden, rosenrot bebarteten Lippen sich ans Ufer drängten, und dann satt sich sinken ließen, bis sie nur mehr wie große Blutstropfen aus der dunklen Tiefe schimmerten. Inmitten des Sees ragte ein steinerner Altar aus dem Wasser, nicht auf einem Sockel ruhend und von keinen Stufen umgeben. Zu ihm hin schwammen freiwillig morgens und abends Andächtige, ihn zu bekränzen.578

Man könnte versucht sein, diese Priester-Vision nachträglich auf Stefan George zu beziehen. Seine prophetische Gebärde, seine Lyrik für Eingeweihte, sein Jünger-Kult mögen manchem tatsächlich als unfreiwillige Parodie eines untergehenden, religiösen Geheimreichs vorkommen: Die Priester-Worte sind schön und lockend, aber unverständlich, außer für die letzten ›Hörigen‹. Sobald diese aussterben, bleibt nichts zurück als die prophetische Form. Ein Grund dafür ist die hypertrophe Selbststilisierung zum formalen Propheten durch eine serielle Reproduktion von Dichter-Seher-Vorbildern, die eine ausufernde Medialisierung anstatt einer Authentifizierung der Propheten-Figur befördern. Georges Kriegsgedichte stellen geradezu eine Entleibung von Seher-Figurationen vor Augen. Doch immerhin ist das nicht Georges letztes Wort. George geht nicht gänzlich im »Akt der Verkündigung«579 auf, sowenig ihn sein Rückgriff auf das prophetische Autorschaftsbild völlig vom »Originalitätsdruck der Genie-Ästhetik«580 entlastet. Er formuliert nämlich den Abgesang auf den Seher

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Vgl. die »schamanistische Triologie« (George, Auf das Leben und den Tod Maximins. Das fünfte: Erhebung, Bd. 6/7, S. 110; George, Einverleibung, Bd. 6/7, S. 118; George, Entrückung, Bd. 6/7, S. 122). Für diesen Hinweis und für seinen Beitrag »Stefan George als Schamane« bei der Tübinger Tagung »Kulturelle Normeinschreibung am Beispiel von Ikonen – Leitfiguren« (Tübingen, 07.–08. November 2008) danke ich Herrn Prof. Dr. Wolfgang Riedel. Vgl. zum Polytheismus Georges: Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, S. 229. George, Hyperion III. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 17. Vgl. stellvertretend Benns problematisch politisierende Lesart: Benn, Rede auf George, S. 108–111. Richard Beer-Hofmann, Der Tod Georgs. Nachwort von Hartmut Scheible, Stuttgart 2005, S. 26f. Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 120. Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 119.

selbst, wie sich dies in »Der Krieg« schon abzeichnet, wo der Seher zur apokalyptischen Form gerinnt: […] Dir kam ein schön und neu gesicht Doch zeit ward alt · heut lebt kein mann Ob er je kommt das weisst du nicht Der dies gesicht noch sehen kann.581

Den »Tempelton des charismatischen Führers«582 überwindend gewinnt George gerade »sein Charisma am Ende dort zurück, wo er den Habitus des Charismatikers ablegt: in der kunstvollen Schlichtheit und der semantischen Offenheit des Lieds«583. Genauer gesagt besinnt sich der aktionistisch agierende Dichter-Prophet auf sein ursprüngliches Prophetentum im Dienst der Kunst.584 So endet George gerade nicht mit einem Widerruf auf das Rollenspiel des Dichter-Propheten, sondern mit einer Rückbesinnung auf eine mystisch-prophetische Grundierung des Dichter-Amts. Hier erscheint das Konzept des ›reinen‹ Propheten in Reinform.585 Gutschinskaja sieht zu Recht in der Figur des Knechts in Das Lied586 eine Dichter-Propheten-Figuration: Dieses Lied ist Offenbarung, also Prophetie der Dinge als dichterische Sprache, in der das ursprüngliche Sein erschlossen wird. Eben dies ist Aufgabe des Dichters, alle Dinge bei ihrem ursprünglichen Namen zu nennen und so neu zu entdecken und für die Zukunft aufzubewahren.587

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George, Horch was die dumpfe erde spricht. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 129. Osterkamp, »Ihr wisst nicht wer ich bin«, S. 51. Osterkamp, »Ihr wisst nicht wer ich bin«, S. 50. Insofern ist auch dem Motto des letzten Zyklus »Das Lied« zuzustimmen: »Was ich noch sinne und was ich noch füge / Was ich noch liebe trägt die gleichen züge« (George, Das Lied. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 124). Brokoffs These, wonach die »Ideologie des reinen Poeten« (Brokoff, Geschichte der reinen Poesie, S. 40, S. 467) dominiere, wenn bei George der Dichter als geweihte Person, als Seher auftrete (vgl. Brokoff, Geschichte der reinen Poesie, S. 466), was einer »Tendenz zur Verhärtung« (Brokoff, Geschichte der reinen Poesie, S. 503) der Sprache Vorschub leiste und nach Brokoff an die Tradition der Dichtergedichte aus dem 19. Jahrhundert anschließe, ist fragwürdig. Folgt man seinem Befund, stehen das Konzept einer reinen Poesie und das des reinen Poeten bei George konträr zueinander, ja letztes scheint ersteres zu gefährden. Die These, dass nur das »überpersönliche Kunstwerk« (Brokoff, Geschichte der reinen Poesie, 467) in die »Geschichte der reinen Poesie« passt, ist aber nicht ganz überzeugend, ebenso wenig, dass »das Konzept der reinen Poesie […] mit einer Stilisierung der Person des Dichters und Künstlers zum reinen (und deshalb machtvollen) Poeten unvereinbar« sei (Brokoff, Geschichte der reinen Poesie, 470). Denn gerade der reine Dichter-Seher wird bei George – übrigens ganz ähnlich wie bei Arthur Rimbaud und Georg Trakl – auch als Garant einer reinen Poesie verhandelt. George, Das Lied. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 126. Nina Gutschinskaja, Sprache als Prophetie: zu Stefan Georges Gedichtband »Das Neue

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Auch das »uralt Magische, das Vor-Bedingte«588 gehört in den Bereich prophetischen Dichtens. Davon zeugt auch Georges berühmter Vers »kein ding sei wo das wort gebricht«589, den Heidegger als »Kein Ding ist ohne das Wort«590 interpretiert hat, denn der im Gedicht genannte Verzicht habe auch eine positive Seite: Die Worte beleben die Dinge. Ralf Simon stellt sich zu Recht die Frage, inwiefern diese Lieder einen Machtentzug darstellen und kommt zu dem Schluss, dass der Machtentzug wiederum nur inszeniert ist.591 In seinem brillanten Aufsatz »Das Wasser, das Wort« hat er die Öff nung der späten Lieder Georges zu einem Grund, einem »prinzipiell Anderen«592 aufgezeigt und Georges berühmtes Gedicht »Das Wort« dahingehend interpretiert, dass der Dichter einerseits die Signifi kanten für seine Signifi kate bei der Norne als Muse erbitte, die damit – entgegen dem ursprünglichen Musentopos –593 zur bloßen Dolmetscherin degradiert würde und zugleich nur als Archivarin des Brunnens diene, dass aber andererseits letztlich beide die Signifi kation nicht leisten: »Beide verwalten sie nur: der Dichter mittels der Norne, die Norne mittels ihres Zugangs zum ›born‹.«594 Damit bleibt nur die Sprache als ›Grund‹, »die die Instanzen der Personalisierung nur medial benutzt, um ihrem eigenen Gesetz zu folgen«595. Der Knecht stünde demnach im Dienst der Sprache. Und doch kann durch Zwang die Signifi kation abgerungen werden, wie Simon unter Rekurs auf das »Templer«-Gedicht des Siebenten Rings zeigt:596 Statt eine Selbstreferenz zu etablieren, endet George wieder bei einer »Zeugung aus dem Selbstbezug heraus«597. Es bewahrheiten sich Georges Verse: Ihr sehet wechsel · doch ich tat das gleiche. Und der heut eifernde posaune bläst Und flüssig feuer schleudert weiss dass morgen Leicht alle schönheit kraft und grösse steigt Aus eines knaben stillem flötenlied.598

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Reich«. In: Stefan George. Werk und Wirkung seit dem »Siebenten Ring«, hg. von Wolfgang Braungart, Ute Oelmann u. Bernhard Böschenstein, Tübingen 2001, S. 114–124, S. 119. Gutschinskaja, Sprache als Prophetie, S. 122. George, Das Wort. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 134. Heidegger, Das Wort, S. 233. Vgl. R. Simon, Die Bildlichkeit des lyrischen Textes, S. 218. R. Simon, Das Wasser, das Wort, S. 57. Vgl. Simon, Die Bildlichkeit des lyrischen Textes, S. 224: »Die inventio ist beim Dichter, die elocutio bei der so verwandelten Muse.« R. Simon, Das Wasser, das Wort, S. 62. R. Simon, Das Wasser, das Wort, S. 62. Vgl. R. Simon, Das Wasser, das Wort, S. 64. R. Simon, Das Wasser, das Wort, S. 66. George, Das Zeitgedicht. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 6. Vgl. Georges Verse: Ich wandle mich doch wahre gleiches wesen« (George, Ihr wisst nicht wer ich bin.. nur dies vernehmt. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 10).

Neben dem »performativen Paradoxon der lyrischen Form«599 und dem »sakralen Paradoxon des inszenierten Gottes«600 kommt nunmehr »das legitimatorische Paradoxon des machtnotwendigen Machtentzugs« zum Vorschein.601 Dadurch wird der Knecht wieder zum Meister, aber auch der Dichter wieder zum Prophet seines Gottes Sprache. So schließt sich der Kreis, wie es das Oxymoron des Schlussverses – »eines stille[n] flötenlied[s]«602 – nahelegt, wonach George zu seinen Anfängen zurückkehrt: der Vorstellung vom schwindenden Propheten als Medium des Worts, zugunsten des prophetischen Worts, der durch den Dichter-Propheten gesetzten prophetischen Form.

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Simon geht davon aus, dass mit Posaune und Flöte »unterschiedliche lyrische Schreibweisen« (R. Simon, Die Bildlichkeit des lyrischen Textes, S. 214) gemeint sind. Die »Ungleichheit der Form« werde durch die »Gleichheit des Inhalts« aufgehoben, was eine »Depotenzierung der Lyrik« bedeute: »Als Vers depotenziert er die Lyrik durch eine Ablösung des Inhalts von der Form, aber in der Form seines Sagens widerspricht er als lyrischer dem Inhalt, der diese Trennung aussagt« (R. Simon, Die Bildlichkeit des lyrischen Textes, S. 214). Das Sichgleichbleiben bei sich ändernder Form muss sich aber nicht auf die gleichbleibenden Botschaften Georges beziehen, sondern kann auch die Doppelnatur – Medium und Herrschernatur – des einen Propheten meinen. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel III.3.2. R. Simon, Die Bildlichkeit des lyrischen Textes, S. 211. George, Das Zeitgedicht. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6/7, S. 6.

177

V.

Rainer Maria Rilke: Transformation prophetischer Poetiken

V.1.

Rilke als Prophet – ein Blick zurück Wenn ich, wie du, mich nie den Märkten menge Und leiser Einsamkeiten Segen suche, Ich werde nie mich neigen vor der Strenge Der bleichen Bilder in dem tiefen Buche.1

So äußert sich ein lyrisches Ich ehrfürchtig in Rilkes »An Stefan George« (1897), in dem es zwar die Gemeinsamkeit der solitude als Merkmal des Segensuchenden betont, sich zugleich aber von der »Strenge« (Vers 3) des vates-Dichters und seiner harten Formen abgrenzt.2 Später scheint Rilke einen anderen Blickwinkel auf den GeorgeKreis zu entwickeln, wenn er dessen mystische Seite hervorkehrt: »Innen mystisch zu sein, die täglich widerfahrenden Dinge im Sinn ihrer eigentlich göttlichen Abstammung aufzunehmen, vielleicht ist dies das besondere Geheimnis des Kreises um St[efan] G[eorge] (und kein ästhetisches).«3 Als »Verkünder der Lebenskräfte« mit ihrer »Gabe der tönenden Erleuchtung oder des offenbaren Geheimnisses«4 stellt Friedrich Gundolf Rilke in seinem Rilke-Aufsatz von 1937 an die Seite Georges.5 Im Gegensatz zu George sieht er in Rilke jedoch »kein[en] Gebieter und Lenker, kein[en] Gründer und Bildner, doch ein Medium der weltdurchfahrenden Gewalten«6. Mit seinem »Erzieher- und Richterverlangen«7, seinem »plastische[n] Gebot: aus

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Rilke, An Stefan George. In: Rilke, Sämtliche Werke, Bd. 3: Jugendgedichte, Frankfurt am Main 1963, S. 596–597. Vgl. W. Braungart, Der Maler ist ein Schreiber. Zur Theo-Poetik von Rilkes »StundenBuch«. In: BlRG, 27/28, 2006/2007, S. 49–76, S. 67f. Rilke, Brief an Marie Taxis vom 13.04.1915. In: Rilke u. Marie von Thurn und Taxis, Briefwechsel. Besorgt durch Ernst Zinn, mit einem Geleitwort von Rudolf Kassner, Bd. 1, Zürich 1951, S. 417. Die Wendung ›offenbar Geheimnis‹ ist Johann Wolfgang Goethes West-östlichen Divan entlehnt: »Offenbar Geheimnis  // Sie haben dich, heiliger Hafis,  / Die mystische Zunge genannt / Und haben, die Wortgelehrten, / Den Wert des Worts nicht erkannt. […]« (Goethe, Offenbar Geheimnis. In: Goethe, Werke. Jubiläumsausgabe, hg. von Friedmar Apel u.a., Bd. 1: Gedichte, West-Östlicher Divan, hg. von Hendrik Birus u. Karl Eibl, Frankfurt am Main; Leipzig 1998, S. 322). F. Gundolf, Rainer Maria Rilke, Wien 1937, S. 7. F. Gundolf, Rainer Maria Rilke, S. 9. F. Gundolf, Rainer Maria Rilke, S. 10.

dem ungefügen Block das herrische oder lockende Gesicht einer reineren, strengeren Menschheit herauszumeißeln ... das politische Gesetz seines hellenisch-römischen, katholischen Charakters«8 sei George ein Meister »neuer Bindung«9, der Systole, ein Dichter-Prophet mit Sendungsbewusstsein und Herrschaftsanspruch. Rilke hingegen sei ein Mystiker mit »Unruhe zu Gott«10, ein »Dichter der Diastole«11, ein »Welterleider«12, ein »Saitenspiel«13; man könnte auch sagen: ein prophetisches Medium: Denn als passives und durchlässiges Ich, nehme er alle Dinge auf, leihe ihnen eine »Stimme«14. Da Rilke den Zustand der mania indes nicht gänzlich erfahre, er nicht der »völlige[n] Gott-Trunkenheit«15 verfalle, könne man etwa seine Duineser Elegien als »das lässige Gespräch eines zeitlichen, hiesigen Edelmannes mit dem zeitlosen Wesen, von dem er den festlichen Hauch, den langen Atem, die vollendet gute Sitte und die großzügige Unbefangenheit als Gnaden in seinen Vers hinein empfängt, ohne seine gebrechliche Gegenwart zu verhehlen«16, verstehen. Diese Rilke bescheinigte mediale Anlage, die zugleich einen Freiraum in Form einer »lässigen« Distanz gegenüber den ›fremden Mächten‹ erkennen lässt, ist für Rilkes vates-Dichtertum tatsächlich grundlegend. Indes ist es bei genauerem Hinsehen einseitig, in George nur den Offenbarungsverwalter und Priester und in Rilke nur den passiven Mittler und medialen Propheten zu erkennen, wie es etwa Martina King und Manfred Koch vorschlagen.17 Im IV. Kapitel ist bereits dargelegt, dass sich George durchaus zeitweise des priesterlichen Gestus entledigt und sich als fremdgesteuertes, prophetisches Medium der sich offenbarenden Sprache entwirft; Rilke entwickelt zusätzlich zu seiner vatesInszenierung ein Kompetenzmodell, das die Fähigkeit des prophetischen Künstlers zur Inspirationsverarbeitung herausstreicht. Wie sehr George und Rilke als Propheten ihrer Zeit im kulturellen Künstler-Gedächtnis festgeschrieben sind, mag u.a. Erich Kästners »Nachruf auf Rilke« (1926) aufzeigen. Denn es ist geradezu bezeichnend und erstaunlich zugleich, dass ein ›sachlicher‹ Autor wie Erich Kästner das Phantasma vom prophetischen Künstler, der Heil 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

F. Gundolf, Rainer Maria Rilke, S. 10f. F. Gundolf, Rainer Maria Rilke, S. 11. F. Gundolf, Rainer Maria Rilke, S. 16. F. Gundolf, Rainer Maria Rilke, S. 11. F. Gundolf, Rainer Maria Rilke, S. 16. F. Gundolf, Rainer Maria Rilke, S. 26. F. Gundolf, Rainer Maria Rilke, S. 38. F. Gundolf, Rainer Maria Rilke, S. 27f. F. Gundolf, Rainer Maria Rilke, S. 29. Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 80; King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung, S. 103f.; M. Koch, Rilkes Engel oder Der heilige Kampf um die Sprache. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Bd. 2: Um 1900, hg. von Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs u. Manfred Koch, Paderborn; München u.a. 1998, S. 123–140, S. 124. Koch beschreibt George und Rilke als »komplementäre Typen religiöser Erwartungshaltung« (Koch, Rilkes Engel, S. 123f.): »George inszeniert sein Dichten als heilige Feier des Worts inmitten einer Gesellschaft, der die communio-Erfahrungen schwinden; Rilke das seine als Drama der opferbereiten Einsamkeit.«

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bringt, retrospektiv fortspinnt, ja geradezu als (wenn auch unzeitgemäßes und überholtes) Optimum im Vergleich zur ›Neuen Sachlichkeit‹ würdigt: Seine wahre Bedeutung lag innerhalb einer Ebene, an welche die Sachlichkeit nie heranreichen wird. Sein Tod wird nicht so sehr deshalb ergreifen, weil ein Dichter, sondern weil einer der letzten Dichter starb! Rainer Maria Rilke galt unserer Generation, in gewissen Jahren, als Repräsentant eines erlöschenden Typus. Nach seinem Tode bleibt nur einer noch zurück; härter, kühler und größer: Stefan George ... Es gibt keine Dichter mehr; keine Menschen, die, verwandt, neben Heiligen und Propheten zu stehen vermöchten; keine Beschwörer des Wortes, die, ungewollt und echt, wie verehrungswürdige Fremde unter uns anderen stehen und wandeln. Unsere Zeit hat an Ehrfurcht eingebüßt, was sie an Tüchtigkeit gewann. Die Schranken, die zugunsten der meisten fielen, beseitigten zugleich die Schranken zwischen diesem Gros und den letzten geistigen Aristokraten. Es gibt nur noch Schriftsteller. – Das Problem der Wissenschaft , Qualitäten als Quantitätsunterschiede zu erkennen und zu beherrschen, erfuhr seine parallele Lösung im Distrikt der Kunst: der Autor von heute ist nicht länger genialer Fremdling unter den Menschen; er ist einer von ihnen geworden, der sich nur durch Steigerungen unterscheidet. – [...] Sie spürten nicht, was diesem Dichter die Sprache war: eine Welt, eine Macht, ein Material wie Marmor oder Ton. [...] Er kann uns kein Ideal sein: unsere Wege eilen von ihm fort. Aber ein Monument, ein Denkmal wird er uns bleiben, zu dem wir zuweilen zurückkehren sollten. In Minuten der inneren Einkehr [...].18

Die Nähe zum Heiligen und Prophetenhaften zeichnet ›Dichter‹ wie Rilke und George als geniale Fremdlinge, monumentale Aristokraten und mächtige Former des Wortmaterials im Gegensatz zum Schriftsteller aus. Der Ablöseprozess des ›Dichters‹ durch den ›Schriftsteller‹ ist bereits vollzogen; das »Ideal« des prophetischen Dichters ist nur noch ein Gegenstand des Andenkens: Während sich ein ›Dichter‹ wie Rilke oder George noch selbstverständlich des prophetischen Habitus bedient und fernab des Literaturbetriebs agiert – folgt man der Beschreibung Kästners –, wird sich der ›Schriftsteller‹ allenfalls noch mit Schreibmaschine ablichten lassen können. Die Identifizierung der beiden als letzter Propheten-Dichter ist nicht nur auf ihre Vorliebe für eine prophetische Dichtung zurückzuführen, sondern scheint offensichtlich auch in ihrer Gestalt, ihrem (literarischen) Autorschaftsbild, unübersehbar präsent zu sein.19 In seiner Rede zur Rilke-Feier in Berlin am 16. Januar 1927 exponiert Robert Musil allgemein Rilkes spezielle religiöse Grundierung, indem er ihn als Nachfahren Novalis’ bezeichnet: »Er war in gewissem Sinn der religiöseste Dichter seit Novalis,

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Erich Kästner, Rainer Maria Rilke. In: Kästner, Werke, hg. von Franz Josef Görtz, Bd.  6: Splitter und Balken. Publizistik, hg. von Hans Sarkowicz u.a., München 1998, S.  52f. Für diesen Zitat-Hinweis danke ich Prof. Dr. Friedhelm Marx. Wie weiter unten dargelegt, lagert sich so Rilkes Vorliebe für das Alte Testament und dessen wichtigste Figuren, die Propheten, in seinem rezipierten Autorschaftsbild als Prophet und vates ab. Zeit seines Lebens hat Rilke überdies den Kontakt zu jüdischen Künstlern gesucht, welche ebenfalls an einer spezifischen Renaissance der Propheten in der Literatur mitwirken. Neben Stefan Zweig sind u.a. Franz Werfel, Martin Buber und Richard Beer-Hofmann zu erwähnen (vgl. Günther Schiwy, Rilke und die Religion, Frankfurt am Main; Leipzig 2006, S. 126).

aber ich bin nicht sicher, ob er überhaupt Religion hatte.«20 Wie Kästner betont auch Franz Werfel in seinen »Begegnungen mit Rilke« (1927)21 dessen Einheit von »Lebensführung« und religiösem Dichtertum: ›Dichter sein‹ – das war etwas Religiöses, Gnade jenseits alles Willens, besondere Lebensführung – keinesfalls aber bloße Gestaltungsgabe oder Originalität. […] Rilke – (durch Landsmannschaft mir nahe) – hat mir den ersten Begriff vom Dichter gegeben: ein unendliches Offensein und ständige Empfängnis für das Leben. […] Er war für mich der große Dichter.22

Gemäß dem Topos vom ›Gesamtkunstwerk‹ des Dichter-Propheten, d.h. einem syllogismus practicus, stehen prophetische Autorschaftsinszenierung, exemplarische Lebensführung und Prophetie-Poetiken in einem engen Verhältnis. Anders gesagt ist Rilkes Künstler-Leben selbst als literarisches Artefakt zu begreifen. Ein Blick auf Rilkes ›epistolare Selbstsakralisierung‹23 genügt bereits, um wie Werfel in Rilkes Gedichten mehr als nur private Zeugnisse zu sehen: So wertet Werfel sie als »Gedichte im kristallinischen Zustande« und weiter als »Kunstwerke eines in jeder Regung wortbewussten Menschen, der alles, was er zu sagen hat, nur dichten kann!«24 Ebenso liest man bei Stefan Zweig, in seiner Rede »Abschied von Rilke« (1927): Denn Dichter, dies war er, Rainer Maria Rilke, ihm ziemt vollgültig dies Wort, das uralt-heilige, dies ehern gewichtige und anspruchsvolle, das unsere fragwürdige Zeit allzuleichthin vermengt mit dem minderen und ungewissen Begriff des Schriftstellers, des bloß Schreibenden. Dichter, er, Rainer Maria Rilke, er war es noch einmal und wiederum in dem reinen und vollkommenen Sinn, wie Hölderlin ihn anruft , den ›göttlich erzogenen, tatlos selber und leicht, aber vom Aether doch angeschauet und fromm‹ und war es nicht bloß dank der Gnade des Geistes, sondern nicht minder kraft der innen bewährten Reinheit adeligen Lebens. Dichter, er war und blieb es unwandelbar und unwiderleglich in jedem Wort und jeder Handlung seines früh geendeten Zeitseins. Nicht wie bei vielen andern, denen gleichfalls die Aura so stolzen Namens gebührt, war er ein Dichter bloß in den Augenblicken des Erhobenseins, in jenen unfaßbar vollen Intervallen, da die Welt von außen nach innen in einen Menschen stürzt und in seiner staunenden Seele noch einmal sich werdend gestaltet: nein, er offenbarte sich allzeit und immer als der reine und ruhelose Künstler, wir wissen um keine Stunde, in der er nicht Dichter gewesen; jedes Wort, das er

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Robert Musil, Rede zur Rilke-Feier in Berlin am 16. Januar 1927. In: Musil, Gesammelte Werke, erweiterte Neuausgabe, hg. von Adolf Frisé, Bd. 2: Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 1229–1242, S. 1240. Rilke wiederum beschäftigt sich schon 1913 intensiv mit Franz Werfel und nimmt ihn sogar als Vorlage für seinen Aufsatz »Über den jungen Dichter« (vgl. King, Pilger und Prophet, S. 263). F. Werfel, Begegnungen mit Rilke. In: Werfel, Gesammelte Werke in Einzelbänden, hg. von Knut Beck, Bd.  6: »Leben heißt, sich mitteilen«. Betrachtungen, Reden, Aphorismen, Frankfurt am Main 1992, S. 310–315, S. 310f. Vgl. King, Pilger und Prophet, S.  115ff.; King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung, bes. S. 92ff. Werfel, Begegnungen mit Rilke, S. 310.

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sprach, jeder Brief, den er schrieb, jede Geste, die seinem zarten und melodischen Körper entsprang, das Lächeln seiner Lippe und die reine Rundung seiner Schrift , all dies Einheitliche und Einmalige gehorchte ebendemselben schöpferischen Gesetz, das seine Verse zu vollendeten formt. So trat aus seinem Wesen uns Reinheit und Einheit strahlend entgegen, kristallen umschlossen und deutsam durchsichtig wie sein Gedicht – und diese unverbrüchige Gewißheit seiner Sendung, sie hat uns von Jugend her ihm, dem Menschen, dem Künstler, hörig und ehrfürchtig gemacht. Denn dank dieser Allgegenwart der Schönheit im Wesen und Werke haben wir an ihm, an Rainer Maria Rilke, das heute fast Unwahrscheinliche, haben wir einmal und unvergeßlich den reinen Dichter in Antlitz und Atem gesehen.25

Auch Zweig fokussiert – wie Kästner und Werfel – die Differenz von ›Dichter‹ und ›Schriftsteller‹, stellt Rilke als ›heiligen Dichter‹ in eine Ahnenreihe mit dem Dichter-Seher Hölderlin – auf den Rilke ein Gedicht »An Hölderlin« (1914) münzt26 und der im Übrigen zu dieser Zeit noch als Geheimtipp anzusehen ist27 – und verweist auf die einmalige Koinzidenz von Wesen und Werk:28 Entscheidend ist wiederum, dass nicht nur seine Worte und seine Dichtung, sondern auch seine Gestik und seine Schriftgestaltung u.a. seine dauerhafte ›Sendung‹, die nachhaltige Wirkung seiner Inspiration offenbaren. Als »Wesen der Reinheit« ist er – Trakl vergleichbar – als typischer Dichter-Prophet in sich »kristallen« und von der Außenwelt abgeschlossen,29 und doch im Gegensatz etwa zu Trakls Seher-Porträt »deutsam durchsichtig«. Überdies stellt auch Zweig Rilkes andauernde Arbeit an sich und seine damit einhergehende Wandelbarkeit heraus, d.h. er betont die Kombination von erfahrener Gnade und geleistetem Verdienst des Dichters, von punktueller Inspiration und seiner Fähigkeit zur Verarbeitung des Geschauten: Wie früh hat dieser Wunderbare erkannt, was die andern spät und oft niemals lernen, daß das selig Zugefallene vom wahrhaften Dichter noch einmal und immer wieder neu verdient sein müsse durch unabsehbare Mühe, daß der Mann in beharrlichen und furchtba-

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S. Zweig, Abschied von Rilke. Rede im Rahmen einer Gedächtnisfeier am 20. Februar 1927, gehalten im Staatstheater München. In: Rainer Maria Rilke und Stefan Zweig in Briefen und Dokumenten, hg. von Donald A. Pater, Frankfurt am Main 1987, S. 113–129, S. 114. Hebt Rilke in seinem ›Hölderlin-Gedenkgedicht‹ eine andauernde ›Wandlungsfähigkeit‹ emphatisch hervor: »O du wandelnder Geist, du wandelndster!« (Rilke, An Hölderlin II. In: Rilke, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, hg. v. Manfred Engel, Ulrich Fülleborn u.a., Bd.  2: Gedichte 1910–1926, hg. von Manfred Engel u. Ulrich Fülleborn, Frankfurt am Main; Leipzig 1996, S. 123f., S. 123), ist sein eigenes In-Spuren-Gehen mit Blick auf sein vates-Vorbild ein Hinweis auf sich selbst als stetig Wandelnden. Koch sieht Rilkes und Hölderlins Gemeinsamkeit v.a. in der »Identifikation des Schönen mit dem Schrecklich-Erhabenen« (Koch, Rilkes Engel, S. 126). Vgl. zu Zweig und Rilke ausführlich: Klaus E. Bohnenkamp, Der reine Dichter. Rainer Maria Rilke im Urteil Robert Musils und Stefan Zweigs. In: BIRG, 26, 2005, S. 99–147. Vgl. Rilkes Nachruf auf Georg Trakl: Rainer Maria Rilke in Briefen an den Herausgeber des »Brenner« vom Februar 1915. In: Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe, hg. von Ignaz Zangerle, Salzburg 19592, S. 10–11.

ren Ernst dauernd zu verwandeln verschuldet sei, was der Genius ihm anfänglich bloß als Spiel und gleichsam zur Leihe gegeben.30

Rilke wird also nicht lediglich als Prophet gefeiert, sondern auch als kompetenter Dichter und Leistungsethiker gewürdigt. Ingenium und ars scheinen sich mit Blick auf das zeitgemäße Verständnis des heiligen Dichtertums nicht auszuschließen. Die prophetische Qualität des Dichters bedarf seines produktiven Nachweises durch herausragende Kunstfertigkeit. Für alle drei Produktionsphasen Rilkes resümiert Zweig:31 »Rainer Maria Rilke, er hat sich nur der Kunst gegeben, dem heiligen Abseits und der stillen Askese des Werks.«32 Das Bild des inspirierten Propheten als ›Mundstück‹ der Natur, als Instrument und Medium einer ihm von höherer Warte aus oder von den Dingen selbst eingeflößten Offenbarungsgabe führt Rilke immer wieder vor Augen. Auch von den Verfahrensweisen der Inszenierung des poeta vates und des Dichter-Propheten macht er reichlich Gebrauch. Sowohl in seiner epistolaren Selbstdarstellung,33 als auch in seinen prophetischen Figuren findet sich der Topos vom Erleiden der Inspiration, der medialen Situiertheit des Propheten, aber auch der gewaltigen ›Stimm-Macht‹ des Propheten; ferner thematisiert Rilke eingehend den gemäß der Natur arbeitenden Künstler. Seine Adaption ist ein Zeugnis dafür, wie mit den Worten Heideggers »Dichtertum und Dichterberuf zur Dichterischen Frage werden« und »dieses Sich-

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Zweig, Abschied von Rilke, S. 116f. Die von Zweig angedeutete Wandlung Rilkes bezieht sich auf dessen Fortentwicklung von der »metaphysische[n] Verbundenheit und d[em] metaphorische[n] Ähnlichsein der Dinge im irdischen Raume, d[er] mystische[n] Verschwisterung aller Erscheinung im allesumfassenden Gefühl« seiner frühen Dichtung zum neuen Unterfangen, den »heiligen Monolog, den jedes Wesen im Weltall mit sich allein führt, nicht mit dem eigenen zuhorchenden Atem zu stören« in seinen Neuen Gedichten (Zweig, Abschied von Rilke, S. 121). Letztgenanntes Programm impliziert ein »sich Verschweigen im Werke, damit sich das eigenste leiblichste Wesen jedes Dings vollkommen aussage« (Zweig, Abschied von Rilke, S. 122). Gemeint ist damit ein Zurücktreten des Dichters zugunsten eines Monologs der Dinge und Worte. Diese Demutsgeste und Zurücknahme des Dichters angesichts der sich selbst artikulierenden Dinge ist mit dem prophetischen Autorschaftsbild eng korreliert, wie es Gundolf schon mit Blick auf Rilkes ›mediale Anlage‹ herausstellt, wie oben erläutert. Ein vergleichbares Verständnis prophetischen Dichtens ist auch bei George und Trakl zu finden. In seiner dritten Schaffensphase werde das Prophetische nach Zweig durch das orphische Sagen exemplifiziert: »In diesen Duineser Elegien ist Rilke, der einst lyrische und dann franziskanische, schließlich der orphische Dichter geworden, jenes heiligen Dunkels voll, das so großartig die Verse der andern deutschen Frühentführten, jene des Novalis und Hölderlin überwogt« (Zweig, Abschied von Rilke, S. 124). Das ist als Hinweis darauf zu werten, dass das Orphische das Mystisch-Prophetische Rilkes steigere oder sogar ablöse. Zweig, Abschied von Rilke, S. 126. Vgl. King, Pilger und Prophet, bes. S. 115ff.; King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung, bes. S. 93ff.

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Besinnen des Dichters, das darauf abzielt, sein eigenes Wesen zu ›entbergen‹«34, zum Thema erhoben wird. Dementsprechend ist Rilke nicht nur von seinen Dichter-Kollegen, sondern auch von der Rilke-Philologie längst als poeta vates und Dichter-Prophet identifiziert.35 Er gilt als herausragendes Beispiel für ein prophetisches ›Gesamtkunstwerk‹36. Die Rilke-Philologie hat sich von allen Seiten Rilkes heiligem Autorschaftskonzept zugewandt, allerdings ohne die Reihe der prophetischen Figuren, die Rilke vorstellt, gesondert zu klassifizieren. Da diese einen wichtigen Beitrag zu Rilkes Inspirationsverständnis ermöglichen und einen Fokus auf die Rilke-typische Kombination von ars und ingenium erlauben, sind sie genauer hervorzuheben. Genannt seien vorab nur die größeren Studien, die den Inspirationstopos oder Rilkes heilige Autorschaft eingehend in den Mittelpunkt stellen. Den ›Mystiker‹ Rilke stellt am anschaulichsten Martina Wagner-Egelhaaf vor.37 Sie verfolgt, wie »das mystische Paradigma bei Rilke im thematischen und funktionalen Kontext der Kunst- und Textproduktion reflektiert wird und seine Dynamik entfaltet«38, indem »aus dem Gott der Mystiker, dem Unsagbarkeit als Prädikat beigelegt wird, das Unsagbare schlechthin«39 resultiert, genauer »das hoffnungsvollerweise noch zu Sagende«40. Dieser Zugang ist insofern naheliegend und ergebnisreich, als Rilke zeitlebens die Mystiker mit großem Interesse rezipiert,41 er »einzelnen mystischen Gestalten« ein »hohe[s] Maß an persönlicher Identifi kation«42 entgegenbringt und neben der Vielzahl an mystischen Anleihen des Stunden-Buchs43 auch die Nähe des Mystischen zum Ästhetischen im Malte auslotet. Dort ist durch die mystische Bildersprache »ein dezidiert poetologisches Programm«44 vorgestellt, das »einen unendlichen und unendlich produktiven Signifi kationsprozeß« und eine »nahezu unbegrenzte Fülle der Verweisungsmöglichkeiten«45 impliziert. Unter dem Blickwinkel der Dekonstruktion kommt so auch die spezifische Differenzerfahrung der Moderne zum Vorschein. Das im Malte virulente Phänomen des automatischen

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Heidegger zitiert nach Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Manfred Engel unter Mitarbeit von Dorothea Lauterbach, Stuttgart; Weimar 2004, S. 156. Vgl. etwa Koch, Rilkes Engel, S. 124; Zimmermann, Der Dichter als Prophet, S. 40f.; Victor A. Schmitz, Stefan George und Rainer Maria Rilke. Gestalt und Verinnerlichung, Bern 1978, S. 32; Muschg, Tragische Literaturgeschichte, bes. S. 153ff.; Hinck, Das Gedicht als Spiegel der Dichter, bes. S. 12–27. Vgl. zuletzt und zusammenfassend: King, Pilger und Prophet, S. 67ff. Vgl. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 62ff. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 63. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 105. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 105. Vgl. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 64. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 66. Vgl. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 67ff. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 80. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 97.

Schreibens, dem Wagner-Egelhaaf unter poetologischen Gesichtspunkten eine große Bedeutung beimisst, ist indes nicht nur mystisch konnotiert,46 sondern auch im Zusammenhang mit Rilkes Propheten-Gedichten zu betrachten. Unter dem Terminus ›Neomystik‹ verhandelt Uwe Spörl die von Nietzsche angeregte Kreuzung von Atheismus und Mystik, insbesondere mit Fokus auf den frühen Rilke und seine Rezeption von Maurice Maeterlincks Gebärde-Konzeption und Rudolf Kassners spirituellen Holismus.47 Gísli Magnússons Kritik an Spörls verengtem Blickwinkel48 ist indes auf seinen eigenen spiritistisch-okkulten Zugang übertragbar.49 Magnússon belegt im Anschluss an Priska Pytlik50 und Monika Fick51 materialreich und detailliert, wie umfassend Rilke am »esoterisch-okkultistischen kulturellen Code«52 seiner Zeit partizipiert:53 Besonders wichtig »für Rilkes spiritistisches Denken sei seine Vorstel-

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Vgl. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 99. Vgl. Spörl, Gottlose Mystik, S. 310–327. Vgl. Magnússon: Dichtung als Erfahrungsmetaphysik, S. 51f. Vgl. dazu im Folgenden v.a. meine Rezension: Gabriela Wacker, Rezension zu Gísli Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik. Esoterische und okkultistische Modernität bei R.M. Rilke, Würzburg 2009. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 51, 2010, S. 485– 491. Vgl. Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 167–194. Unter der Idee des Unbewussten, des psychophysischen Monismus, auch der ›Geheimwissenschaft‹ du Prels nähert sich Monika Fick Rilke (vgl. M. Fick, Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, bes. S. 122–129; Fick, Spiritismus, Okkultismus, Gnostizismus und Rilkes Roman »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. In: Europäische Jahrhundertwende. Literatur, Künste, Wissenschaften um 1900 in grenzüberschreitender Wahrnehmung. Erstes Kolloquium, hg. von Werner Frick u. Ulrich Mölk, Göttingen 2003, S. 127–142). Magnússon: Dichtung als Erfahrungsmetaphysik, S. 13. Vgl. G. Wacker, Rezension zu Gísli Magnússon, S. 485–486: »Ausgehend von einer Kritik an den bisherigen Ansätzen der Rilke-Forscher, die entweder eine religiös-theologische oder eine atheistisch-ästhetizistische Perspektive einnähmen (vgl. 47), fokussiert Magnússon einen ›dritten Weg‹ (13), den der ›alternativen Religiosität‹ (47) Rilkes: Sein Augenmerk richtet er auf die – seiner Ansicht nach zu Unrecht – marginalisierten Strömungen Okkultismus, Spiritismus und Esoterik, denen gegenüber Rilke offenkundig ein reges Interesse bewies. Da diesen spirituellen Strömungen zudem signifikante Säkularisierungstendenzen eingeschrieben seien, dürfe man sie gerade nicht als vormodern abqualifizieren, sondern solle sie vielmehr als hochmodern wahrnehmen (vgl. 16, 179ff.). Ferner speise sich das von Rilke gut studierte okkultistische Vokabular gerade aus der Physik entlehnten Begriffen (Schwingung, Welle, Strahlen) mit Rekurs auf zeitgenössische physikalische Entdeckungen (Röntgenstrahlen, elektromagnetische Wellen, drahtlose Telegraphie) (vgl. 289f.) – ein Beleg für den okkultistischen Anspruch, Religion und Wissenschaft auf der Höhe der Zeit zu vereinen (vgl. 14, 292). Dementsprechend entwirft Magnússon das Bild des ganz ›anderen Rilke‹, des esoterisch-okkulten Rilke der ›vierten Dimension‹ (vgl. 58) und zugleich das einer ›andere[n] Moderne‹ (12). Der vielzitierten ›Entzauberung der Welt‹ (Max Weber) stellt er somit einen gleichrangigen ›Wiederbezauberungsdiskurs‹ als Signum der ›spirituelle[n] Moderne‹ (12) an die Seite, welchem bisher nicht genügend Beachtung gezollt wurde (vgl. 35, 65, 234). […] Magnússons Studie untergliedert sich in fünf Teile (vgl. 16–21): Im ersten Teil werden seine Termini ›künstlerische Gnosis‹ und ›Erfahrungsmetaphysik‹ eingeführt. Rilkes

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lung von einer möglichen Interaktion zwischen Totensphäre und Sphäre der Lebendigen (vgl. 58), charakteristisch für seine okkultistische Sichtweise sein ›Glaube‹ an eine sinnlich-übersinnliche Einheit (vgl. 223), an eine ›Duo-Einheit‹ (284): Demzufolge korrespondiere Rilkes Vorstellung einer ›vollzähligen Wirklichkeit‹ (bei Rilke auch ›das Ganze‹ genannt) mit der Annahme einer Einheit des Diesseits und Jenseits, des Sichtbaren und des Unsichtbaren, des ›Hiesigen‹ und des ›Mehr-als-Hiesigen‹ (vgl. 177, 284).«54 Problematisch an seinem an sich ergiebigen Zugang zum ›anderen Rilke‹ ist sein terminologischer Rückgriff auf den Überbegriff ›Gnosis‹, denn Rilke setzt sich schlicht mit spiritistisch-okkultem Gedankengut auseinander und spricht selbst an keiner Stelle explizit von Gnosis/Gnostizismus.55 Der Terminus ›Gnosis‹ mutiert am Rande zu einer Art Blackbox, die an die Spinozismus-Querellen des 18. Jahrhunderts erinnert: »Da Rilke, wie Magnússon selbst schreibt, wesentliche Grundtheoreme des Gnostizismus nicht teilt (Dualismus, Leibverachtung u.a., vgl. 31), drängt sich die Frage nach der Eignung dieser Kategorisierung unweigerlich auf.«56 Aufgrund seines teilweise einseitigen Fokus auf die Gnosis »thematisiert Magnússon zu wenig die Amalgamierung von antiken Topoi mit okkulten Elementen in den Sonetten an Orpheus. Ist Orpheus nun die Inkarnation der esoterischen Ausrichtung und mit den neuen Geistern/Schwellengängern problemlos kompatibel oder wäre der antiken Mythologie ein höheres Gewicht gegenüber der neuen Esoterik einzuräumen? Stellt die Orpheus-Figur als Künstler-Denkmal gar eine den Spiritismus transzendierende Figur vor? Zu dieser zugespitzten Grundfrage findet sich keine Reflexion.«57 Gerade Rilkes

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Spiritismus- und Okkultismusrezeption wird im zweiten Teil dargelegt. Nach kritischer Auseinandersetzung mit Hugo Friedrichs und Manfred Engels Terminus ›leere Transzendenz‹ folgt eine Profilierung der ›künstlerischen Gnosis‹ als Basis für Rilkes Dichtungsverständnis im dritten Teil. Der umfangreichste, vierte Teil widmet sich den Säkularisierungselementen der Esoterik und Zügen ihrer spezifischen Modernität (Kritik am Absolutheitsanspruch des Christentums im Sinne der Vorstellung einer philosophia perennis, nonduale Kultur- und Materialismuskritik u.a.) sowie Aspekten der spirituellen Lebensphilosophie (anhand eines Vergleichs mit Martin Buber u.a.) und nicht zuletzt dem Nachweis von Rilkes okkultistischer Modernität anhand erster Fallstudien (»Requiem an eine Freundin«, »Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth«, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und die »Erste Duineser Elegie«). Im fünften Teil verlässt Magnússon das ideengeschichtliche Terrain, um einen dezidiert textanalytischen Abschluss zu den Sonetten an Orpheus zu liefern.« G. Wacker, Rezension zu Gísli Magnússon, S. 487. Vgl. G. Wacker, Rezension zu Gísli Magnússon, S. 488. Lediglich in »II/27« der Sonette an Orpheus wird der ›böse Demiurg‹ der Gnostiker alludiert: »Dieses Herz, das unendlich den Göttern gehörende, / wann vergewaltigts der Demiurg?« (Rilke, Sonette an Orpheus, II/27. In: Rilke, Werke, Bd. 2, S. 271). G. Wacker, Rezension zu Gísli Magnússon, S. 488. »Ähnlich aufgesetzt wirkt seine Begrifflichkeit ›Yantra‹/›Ikone‹ für ›Dinge‹ wie die Rose (390f.)« (G. Wacker, Rezension zu Gísli Magnússon, S. 488). G. Wacker, Rezension zu Gísli Magnússon, S. 489. »Seine Distanzierung von Wolfgang Riedels (›Homo natura‹. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin; New York 1996) und Marianne Wünschs (Die fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). Definitionen, Denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen, München 1991) vertretener These, dass der

Propheten-Figurationen und Propheten-Gedichte sind indes für sein Verständnis einer künstlerischen Medialität aufschlussreich. An ihnen lassen sich bereits Distanzierungen zu inspirativen Zuständen markieren, die auch für die esoterisch kodierten späten Gedichte und den ›neuen Propheten‹ Orpheus erhellend sind. Rilke ist einmal mehr ein gutes Beispiel dafür, wie sich auf die anachronistische Figur des Propheten mystische, biblische und esoterisch-okkultistische Denkmuster applizieren lassen und wie der Prophet mit anderen Figuren wie Orpheus zumindest partiell harmoniert. Anstatt die unterschiedlichen Gewichtungen von antiken, biblischen, mystischen oder spiritistischen Einflüssen müßig zu sondieren, bietet es sich deswegen an, primär die vorliegenden Propheten-Figurationen zu fokussieren und erst im Anschluss daran zu diskutieren, von welchen Motiviken und Semantiken sie jeweils durchdrungen sind und welche poetologischen Konsequenzen sich daraus jeweils ergeben. Sandra Kluwe nähert sich mit ihrem Schlagwort ›Kairologie‹ dem Inspirationstopos bei Rilke werkgeschichtlich.58 Sie legt ihren Interpretationsschwerpunkt auf die Entstehungsgeschichte der Duineser Elegien. Überzeugend rückt sie Rilkes Konzept einer ›theonomen Autonomie‹ ins Zentrum ihrer Überlegungen und forciert einen für Rilke typischen Konflikt zwischen Autonomieästhetik und Inspirationspoetik: »den Konflikt zwischen dem kairotischen Willen zur Macht und der gleichzeitigen Abhängigkeit von einem kairologischen ›Diktat‹«59, genauer das damit verbundene Problem Zeit: Auf der einen Seite steht die autonomieästhetische Machtergreifung, die in vorliegender Arbeit als Konstruktion poetischer Eigenzeit und als Kairos des Augen-Scheins expliziert werden soll, auf der anderen Seite die Ohnmacht der Sprache und der Zeichen, die Dekonstruktion der poetischen Eigenzeit und die Krisis des Scheins.60

Bei ihrer Darstellung von Rilkes Kairos von Duino erkennt sie dabei auch ein »prophetisches Modell«61, das sie auf Rilkes Rezeption der »Apokalypse des Johannes«62 und des zeitgenössischen Spiritismus-Diskurses63 zurückführt. Im Wesentlichen kann diesem überzeugenden Ansatz gefolgt werden, auch wenn die psychoanalytischen und poststrukturalistischen Methoden Rilke teilweise überspitzt zum Zwangs-

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Okkultismus lediglich im Umfeld minderbegabter Poeten gedeihe (vgl. 136), scheint insofern nicht ganz abwegig, als Rilke zwar auf der gesamten Klaviatur des ›esoterischen Codes‹ spielt, dabei jedoch stets auch andere Quellen hinzuzieht« (G. Wacker, Rezension zu Gísli Magnússon, S. 489). Vgl. S. Kluwe: »Die Werkgeschichte Rilkes dokumentiert den bisweilen verzweifelten Versuch, Kairos, den göttlich scheinenden Augenblick, produktionsästhetisch herbeizuzwingen und werkästhetisch zu ›leisten‹« (S. Kluwe, Krisis und Kairos. Eine Analyse der Werkgeschichte Rainer Maria Rilkes, Berlin 2003, S. 14f.). Kluwe, Krisis und Kairos, S. 15. Kluwe, Krisis und Kairos, S. 86. Kluwe, Krisis und Kairos, S. 174. Kluwe, Krisis und Kairos, S. 174. Vgl. Kluwe, Krisis und Kairos, S. 176ff.

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neurotiker stilisieren.64 Doch sind – wie gesagt – prophetische Reflexionsfiguren für Erfahrungen dieser ambivalenten Macht detailliert und systematisch zu orten, wofür das frühe und mittlere Werk Rilkes, auch der Widerstreit zwischen einer Ästhetik des Erhabenen und einer Ästhetik des Schönen, herauszustellen ist. Fokussiert man Rilkes Vorliebe für prophetische Figuren als Spiegelbilder des Künstlers, bieten sich die um das Prophetische rankenden Termini besser an als der religiös-philosophische Begriff ›Kairos‹, den Rilke selbst nicht verwendet und der v.a. im zeitgenössischen Kontext keine entscheidende Rolle spielt. Eine sozialwissenschaftlich orientierte Studie zu Rilkes heiligem Autorschaftskonzept legt King vor, die es sich zur Aufgabe macht, Rilkes sozialpraktische Dimension seiner Inszenierung als ›heiliger Autor‹ zu beleuchten:65 Sie widmet sich vornehmlich seinem Briefwerk unter soziologischen Gesichtspunkten: Anhand ausgewählter Schreiben Rilkes (an Clara Westhoff, Franz Xaver Kappus, Lou Andreas-Salomé, Ellen Key, Katharina Kippenberg, Anton Kippenberg, Marie Taxis und andere), die sie als Medium seiner literarisierten Selbststilisierung zu einer religiös codierten Autorschaft und damit auch als Katalysator für seine Gemeindebildung versteht (Gemeinde verstanden als »Hybrid zwischen Gruppe und Netzwerk«66), zeigt sie auf, wie Rilke in unzähligen Briefen ›Gruppenverträge‹ zwischen heiligem Autor und Rezeptionsgemeinde aushandelt.67 »Die ›gemeinsame Arbeit am Autor‹68 lau-

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Vgl. Kluwe, Krisis und Kairos, S. 174. Auf der Suche nach neurophysiologischen Ausmessungen des furor poeticus stellt Kluwe zudem die Frage nach dem Verhältnis unterschiedlicher Autorschaftsmodelle in produktionsästhetischer Hinsicht: »Der die Literaturgeschichte durchziehende Gegensatz zwischen Inspirations-Poetik und Regel-Poetik, ingenium und ars, poeta-vates-Modell und poeta-faber-Modell bedarf aus Sicht der modernen Neurophysiologie einer Relativierung: Ingenium est effabile; und der kreative Zustand ist bis zu einem gewissen Grad ›machbar‹: Die ›Maschine‹ Mensch, deren ›Erregbarkeit‹ in einem solchen Zustand maximal gesteigert ist (Friedrich Nietzsche), kann mehr oder weniger geschickt, kenntnisreich und sensibel bedient, wenn auch nicht geradezu kybernetisch beherrscht werden. Allerdings ist es in einem solchen Fall nicht der Text, sondern sein Produzent selbst, der die Position eines Kunst- oder Machwerks einnimmt. Anders gesagt: Je gekonnter der Künstler die produktive Maschine, die er selbst ist, zu bedienen vermag, desto eher ist er in der Lage, diese Maschine gleich einem Automaten sich selbst zu überlassen und einer ›écriture automatique‹, einem Rilke’schen ›Diktat‹ oder sonst einer (hypo)manischen Eigendynamik zu überlassen« (Kluwe, Furor poeticus. Ansätze zu einer neurophysiologisch fundierten Theorie der literarischen Kreativität am Beispiel der Produktionsästhetik Rilkes und Kafkas. In: www.literaturkritik.de, Nr. 2, Februar 2007. [Online-Publikation]). Vgl. King, Pilger und Prophet. Vgl. hierzu meine Rezension: G. Wacker, Zum Mythos des heiligen Autors. Martina King untersucht, wie das »Gesamtkunstwerk« Rainer Maria Rilke funktioniert. Rezension zu Martina King, Pilger und Prophet. Heilige Autorschaft bei Rainer Maria Rilke, Göttingen 2009 (413 S.). In: literaturkritik.de. Rezensionsforum für Literatur und Kulturwissenschaften. Schwerpunkt Karl May, 11, Aug. 2009, Nr. 8, S. 141–146. Vgl. King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung, S. 89–105. King, Pilger und Prophet, S. 160. Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 45. Vgl. G. Wacker, zum Mythos des heiligen Autors, S. 143. King, Pilger und Prophet, S. 167.

fe über einen von allen genutzten neureligiösen ›Sacralcode‹69. Das Besondere am Briefmedium und an Rilkes Briefkommunikation erkennt King in der dort artikulierten ›Nähesuggestion‹70, wenn der ständig reisende Autor immer wieder aus der Ferne Präsenz verspreche, in der der Briefform eigenen ›Mündlichkeitsillusion‹ und in deren Funktion als materielles ›Autor-Archiv‹71, das für die Langlebigkeit seines Mythos sorge.72 Dass es sich bei Rilkes Konstruktion heiliger Autorschaft um einen kooperativen Prozess, eine Dialogizität mit den Briefadressaten handelt, die letztlich auf einen gegenseitigen Prestigegewinn, eine Art ›Tauschhandel‹73 abzielt, ist Kings innovativer Blickwinkel: Der Briefempfänger […] empfange eine ›Adressatenweihe‹74, und indem er Rilkes heiliges Autorschaftsbild im Antwortbrief bestätige und ihm dadurch Charisma zuschreibe, werde er selbst geradezu zum ›Co-Heiligen‹«75 und »Co-Autor«76.77 »Derart kompensiere der Auratiker Rilke seine Literaturbetriebsabstinenz und sichere sein ›Sozialkapital‹ im paradoxen Status des ›integrierten Solitärs‹78.«79 Er suggeriere anhand seines heiligen Autorschaftsbildes zudem eine »autoritätslose Autorität«80, da er einerseits »Selbstverkleinerung[en]«81 formuliere, andererseits zugleich an seinem ins Sakrale überhöhten Selbstbild festhalte.82 Ferner verzichte er im Gegensatz zu George auf Hierarchien in seiner »Briefgemeinde«, die eine Summe »vieler selbstbewusster Einzelner«, zudem Vertreter der gesamten Klassengesellschaft, versammle.83 Seine Distinktion gehe demnach nicht in der reinen Opposition zu einem George auf, sondern biete im Briefverkehr zahlreiche »Anschlussangebote« und Identifi kationsangebote.84 Er sei so als »›Mischtyp‹ zwischen Integration und Separation«85 zu klassifizieren,86 da er zwischen »heiliger Enthaltsamkeit«87 und Marktkonformität (im Sinne einer Kooperation mit Kultur-

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King, Pilger und Prophet, S. 167. King, Pilger und Prophet, S. 121. King, Pilger und Prophet, S. 130. Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 100f. u. S. 123f. King, Pilger und Prophet, S. 256. King, Pilger und Prophet, S.  125, S.  348 u. S.  360; vgl. King, Säkularisierung und ReSakralisierung, S. 95, S. 96 u. S. 97. G. Wacker, zum Mythos des heiligen Autors, S. 144. King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung, S. 95. Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 125 u. S. 344. King, Pilger und Prophet, S. 145. G. Wacker, zum Mythos des heiligen Autors, S. 144. King, Pilger und Prophet, S. 165. King, Pilger und Prophet, S. 185. Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 165, vgl. S. 185. Vgl. G. Wacker, zum Mythos des heiligen Autors, S. 143. King, Pilger und Prophet, S. 90. Vgl. G. Wacker, zum Mythos des heiligen Autors, S. 143. King, Pilger und Prophet, S. 109. Vgl. G. Wacker, zum Mythos des heiligen Autors, S. 143. King, Pilger und Prophet, S. 42. Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 43. King, Pilger und Prophet, S. 41.

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und Individualverlegern) changiere: So sieht sie in Rilke einerseits den »Solitär«88, andererseits den als Briefeschreiber beeindruckenden Netzwerker89.90 »Während er sich körperlich entziehe, trete er brieflich in Erscheinung – so ihre Hauptthese […].91 Das Konstrukt heiliger Autorschaft bedürfe nämlich einer zustimmenden ›Gemeinde‹.92 Damit erweisen sich Rilkes Distinktionsstrategien wie Marginalisierung, Singularisierung und Nobilitierung nicht nur als ›Exodus aus der bestehenden Gesellschaft‹93, sondern auch als ›Projekt eines identifikatorischen Einbezugs des sozialen Bezugsfeldes‹94.«95 Dass Rilkes überdimensionales Briefwerk ab ungefähr 1910 geradezu von prophetischen Autorschaftsbildern durchdrungen ist, belegt King materialreich: Er tritt als anpassungsfähiges epistolarisches Gesamtkunstwerk in Erscheinung und bezieht dabei die Figuren, Motive, Metaphern seiner Selbstdarstellungen immer wieder aus poetischen Prätexten: in der Frühphase, während er sich bevorzugt als heiliger Mönch und Mystiker entwirft , aus dem Stundenbuch, nach 1910 aus den Prophetengedichten der Neuen Gedichte, die die Stoffquelle für Rilkes Rolle des prophetischen Sehers abgeben.96

Unter Bezugnahme auf Bourdieus ›Feldtheorie‹97 kommt sie dabei zu dem Ergebnis, dass Rilkes Autorschaftsbild als »heilige[r] Mönch und Mystiker«98 seine ›Durchsetzungsphase‹ dominiere, in der er als Anfänger ›symbolisches Kapital‹ erwerbe.99 »Sein Wandel zur Propheten-Rolle sei seiner darauf folgenden ›Konsolidierungs- und Etablierungsphase‹100 zuzuordnen. Wie Rilkes ›Stundenbuch‹ mit seinem spezifi-

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King, Pilger und Prophet, S. 135. Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 117. Vgl. G. Wacker, zum Mythos des heiligen Autors, S. 142f. Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 68 u. S. 120–122. Vgl. King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung, S. 92. King, Pilger und Prophet, S. 28. King, Pilger und Prophet, S. 59. G. Wacker, zum Mythos des heiligen Autors, S. 143. King, Pilger und Prophet, S. 72. Zu Recht trifft King vorab eine hilfreiche Unterscheidung zwischen den Begriffen ›Strategie‹ und ›Intention‹ einerseits sowie ›Habitus‹ und ›Bedeutung‹ des Autors andererseits, um die Grenzen des soziologischen Ansatzes in der Übertragung auf das Feld der Literatur zu entschärfen (vgl. King, Pilger und Prophet, S. 63–67). Sie begründet ihre Verwendung des Habitusbegriffs Bourdieus damit, dass die primär nichtfiktionalen Dokumente Rilkes, also v.a. seine Briefe, auch ein ›Rollenspiel‹ in der realen Welt in Gang setzten. Ohne das ›Problem‹ der Intentionalität oder der dem Autor zu unterstellenden Strategie auszuklammern, hebt sie hervor, dass die Rede von der Strategie des Autors doch erst ex post Bedeutung gewinnen könne und insofern die Annahme eines ›habitualisierten Verhaltens‹ als Kategorie brauchbar sei, um willkürliche Spekulationen über Intentionen und Strategien des Autors gänzlich zu vermeiden (vgl. King, Pilger und Prophet, S. 63–67). Denn die Eigenart des prophetischen ›Kunstwerkprogramms‹ besteht gerade darin, dass nichtfiktionale und fiktionale Dokumente sich gegenseitig bereichern und kommentieren sollen. King, Pilger und Prophet, S. 173ff. Vgl. G. Wacker, zum Mythos des heiligen Autors, S. 144. King, Pilger und Prophet, S. 281, vgl. S. 199.

schen Künstler- und Autorvokabular vor allem des zeitgenössischen Franziskus-Diskurses,101 mit seinen Bildern künstlerischer Einsamkeit, Armut, Demut, stiller Gebetshaltung und mit vitalistischen ›Wasser- und Fließmetaphern‹102 als Modell für Rilkes ›leise Anfänge‹103 ab 1900, das heißt seinen ersten auktorialen Selbstentwurf als Mönch fungiert, so die Prophetengedichte in den ›Neuen Gedichten‹ mit exemplarischen Figuren wie Josua«104 sowie vitalistischen »Feuer-, Wasser- und Windmetaphern«105 und ihrer Sturmmetaphorik als Vorlage für seine epistolare, nunmehr eruptive Propheten-Rolle und »expressive Autor- und Inspirationssemantik«106, die ab etwa 1910 dominiere und bis in Rilkes Elegien-Zeit fortwirke.107 »Zwischen fi ktionaler und brieflicher Autorsemantik konstatiert King ein ›Fließgleichgewicht‹108, eine wandernde Semantik zwischen Dichtung und Briefwerk, die einer ›Entdifferenzierung von Autor und Werk‹109 zuarbeite. Beiden Rollen – Mönch und Prophet – sei die für Rilke typische Komplementarität von ›Selbstüberhöhung und Selbstverminderung‹110 eingeschrieben, die sich nicht zuletzt in einer minimierten Autor-Autorität zugunsten einer ›gesteigerte[n] Textautonomie‹111 spiegele:«112 Die Vorstellung vom selbstherrlichen Text-Schöpfer der Genie-Ästhetik wird im Bild des automatisch schreibenden Apokalyptikers ebenso verabschiedet, wie in der transitiven Figur des ›Vom-Sturm-bewegt-Seins‹. An die Stelle des autonomen Autors, der sich an der letzten Jahrhundertschwelle zunehmend produktionsästhetischer Reflexion verschrieben hatte, tritt ein Inspirationsszenario der heteronomen Unmittelbarkeit. Diese konsequent behauptete Umkehrung der Autoritätsverhältnisse zwischen Autor und Werk gipfelt schließlich in einer Figur, die bei aller Modernitätsskepsis moderner nicht sein könnte: der autoritätslose, sich in einem Zirkel der Autopoiesis selbst erzeugende Text.113

Kings »Reduktion rein fi ktionaler Texte auf ihre Funktion als Stoffquelle für das briefliche Rollenspiel Rilkes und die Fokussierung auf seinen Habitus sowie auf soziale Funktionen blende[n] indes metatextuelle und genuin poetologische Überlegungen heiliger oder prophetischer Rede gänzlich aus«114: »Herausgegriffene Figuren und deren Bildlichkeit, schlagwortartig subsumierte Semantiken (Sturm et cetera),

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Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 192f. u. S. 234f. Vgl. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 70 u. S. 74. King, Pilger und Prophet, S. 221. King, Pilger und Prophet, S. 269. G. Wacker, zum Mythos des heiligen Autors, S. 144. King, Pilger und Prophet, S. 290. King, Pilger und Prophet, S. 288. Vgl. G. Wacker, zum Mythos des heiligen Autors, S. 144. King, Pilger und Prophet, S. 237, S. 283. King, Pilger und Prophet, S. 252. King, Pilger und Prophet, S. 347, vgl. S. 48, S. 191 u.a. King, Pilger und Prophet, S. 351. G. Wacker, zum Mythos des heiligen Autors, S. 144f. King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung, S. 103f. G. Wacker, zum Mythos des heiligen Autors, S. 145.

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einmal aus lyrischen Zeugnissen und einmal aus Briefstellen fi ltriert, versperren den Blick auf die Artifizialität und Exzeptionalität von Rilkes Lyrik.«115 Kings sorgfältiger Erschließung und Auslegung von Rilkes Briefwerk mit Blick auf sein heiliges Autorschaftsbild soll im Folgenden daher eine genaue Analyse des Zusammenhangs von poetologischem Wandel und sich wandelnder Autorschaftspoetik an die Seite gestellt werden. Es wird sich herausstellen, dass die Rilke’schen Propheten-Figurationen poetologische Reflexionsfiguren darstellen, mithin die Propheten-Gestalt einen Schauplatz des ständigen agonalen Wechsels zwischen Autonomie der (göttlichen) Worte (Macht der Sprache) und menschlicher Autonomie (Sprach-Macht) vorstellt, die eine reine, von King behauptete »Umkehrung der Autoritätsverhältnisse zwischen Autor und Werk«116 wieder in Frage stellt. Denn bei Rilke sind nicht nur Parallelen, sondern auch produktive Brüche zwischen der Sprachwelt fi ktionaler Texte und seinen faktualen Selbstdarstellungen, die seinen reflexiven Umgang mit dem traditionellen Topos des reinen Dichters als Dieners des Worts anzeigen, zu finden, so dass sein Autorschaftsbild und seine Poetik gerade nicht in einer reinen vatesKonstruktion aufgehen. Mit Blick auf Kästners, Werfels oder Zweigs Rilke-Nachrufe lässt sich – gegen den Strom gelesen – fragen, inwiefern prophetische Dichter gerade dadurch prophetische Größe entwickeln, dass sie prophetische Rollenspiele als ›Abschiedspoetiken‹ und ›Schwanengesänge‹ inszenieren, die Erinnerungspoetik und visionäre Poetik in einem sind, indes auf weitere zukünftige Propheten warten lassen. Dazu gilt es, Rilkes an Rodin erinnerndes Arbeitsethos, d.h. seine Selbstcodierung als unermüdlicher Feiler und Arbeiter, die seiner Inspirationssemantik teilweise diametral gegenübersteht bzw. diese anders akzentuiert, einzubeziehen. Rodin ist für Rilke ebenfalls ein Künstler-Prophet. An seiner Figur lässt sich Rilkes Schwanken zwischen »einer autonomen und einer heteronomen Kunstauffassung«117 präzisieren. Eine Nachzeichnung von Rilkes Produktionsästhetik der Inspiration lässt sich nicht von seinem Dichterbild als Arbeiter (poeta faber) und Leistungsethiker trennen.118 Vielmehr ist zwischen Inspirationserlebnis, Inspirationsbericht respektive Inspirationsverarbeitung zu sondieren.119 Das notorisch vernachlässigte Frühwerk Rilkes offenbart zudem bereits eine Vorliebe für die Propheten-Figuren, und dies noch vor seiner so genannten ›Mönchs-Phase‹. Genauer gesagt beginnt Rilkes prophetische

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G. Wacker, zum Mythos des heiligen Autors, S. 145. King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung, S. 103. Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 131. Sascha Löwenstein macht dies nur für die Rodin- und Cézanne-Phase geltend und sieht das Frühwerk im Zeichen der Inspirationspoetik (vgl. S. Löwenstein, Poetik und dichterisches Selbstverständnis. Eine Einführung in Rainer Maria Rilkes frühe Dichtungen (1884–1906), Würzburg 2004, S. 212f. u. S. 217). Auch er schenkt den frühen prosaischen Schriften Rilkes keine gebührende Beachtung. Vgl. wieder Blambergers Differenzierung der Inspirations-Ebenen: Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen, S. 35 u. S. 37.

Autorschaftspoetik nicht mit ›leisen Anfängen‹, wie es King suggeriert,120 sondern mit einem gewaltigen Paukenschlag: seinem aggressiven Apostel nietzscheanischer Provenienz in »Der Apostel«, wie weiter unten dargelegt. Inwiefern die OrpheusFigur in den Sonetten an Orpheus den prophetischen Gestus der frühen und mittleren Phase noch steigert und gleichzeitig relativiert, ist gesondert in den Blick zu nehmen; dabei sind mystische und spiritistische Einflüsse,121 aber auch ihre Grenzen geltend zu machen, die oftmals neben antiken und biblischen Prätexten hinzugezogen werden; ähnliches gilt für Rilkes Malte-Roman. Die Fokussierung der Propheten-Gestalt als durchgehendes Dichterbild Rilkes sowie deren Funktionalisierung als Reflexionsfläche für prophetisches Schreiben ist zunächst u.a. auf Rilkes Interesse am Alten Testament zurückzuführen. Wie King im Anschluss an Marx zu Recht hervorhebt, bedient sich Rilke der seit Nietzsche freigewordenen »kanonischen Texte der alttestamentarischen und christlichen Tradition als rein ästhetisches Phänomen und als Instrument der Selbstinterpretation«122.

V.2.

Rilke und das Alte Testament

Für Rilke stellt die Bibel das Buch aller Bücher dar, trägt er doch nachweislich stets ein Exemplar mit sich, wie er in einem Schreiben an den dichtenden Offi zier Franz Xaver Kappus von 1903 aus Viareggio hervorhebt: »Von allen meinen Büchern sind mir nur wenige unentbehrlich, und zwei sind sogar immer unter meinen Dingen, wo ich auch bin. Sie sind auch hier um mich: die Bibel, und die Bücher des großen dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen.«123 Rilkes Bibellektüre konzentriert sich mit Vorliebe auf das Alte Testament, insbesondere auf das Buch der Psalmen.124 Das bezeugen sowohl einige seiner brieflichen Äußerungen als auch zahlreiche biblische Spuren in seinem Œuvre. Eine deutlich ablehnende und konstant kritische Haltung Rilkes gegenüber dem Neuen Testament ist ebenfalls evident. In seiner frühen Erzählung »Der Apostel« (1886) wird – wie unten weiter ausgeführt – die Absurdität messianischer Liebe besonders deutlich ausgesprochen, heißt es dort prägnant: »Der, den sie als Messias preisen, hat die ganze Welt zum Siechenhaus gemacht.«125 Rilkes prominente Kon-

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Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 269. Vgl. zur Forschung zum ›mystischen‹ und ›spiritistischen‹ Rilke v.a. die Hinweise im Kapitel V.3.6. King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung, S. 91; vgl. Marx, Heilige Autorschaft? Rilke, Brief an Franz Xaver Kappus vom 05.04.1903 aus Viareggio zitiert nach Katja Brunkhorst, Bibel. In: Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Manfred Engel unter Mitarbeit von Dorothea Lauterbach, Stuttgart; Weimar 2004, S. 37–43, S. 38. Vgl. Ulrich Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel. In: Rilke und die Weltliteratur, hg. von Dieter Lamping u. Manfred Engel, Düsseldorf; Zürich 1999, S. 19–38, S. 19 u. S. 21f. Rilke, Der Apostel. In: Rilke, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, hg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn u.a., Bd. 3: Prosa und Dramen, hg. von August Stahl, Frankfurt am Main 1996, S. 47–53, S. 50.

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trafaktur des ›Gleichnisses vom verlorenen Sohn‹ (vgl. Luk 15, 11–32), der nicht (als Objekt) geliebt werden will, also die für Rilke typische intransitive Liebe vorstellt, ist ein weiteres bekanntes Beispiel für seine eigenwillige und kritisch-zersetzende Bezugnahme auf das Neue Testament:126 Dass Gott eben »nur eine Richtung der Liebe ist, kein Liebesgegenstand«127, ist eine zentrale Einsicht des Malte. Eine kommunikative Einbahnstraße ins Jenseits (im Zeichen eines messianischen Horizonts) erscheint Rilke schlicht unergiebig. So kontrastiert er ironisch in einem Brief an seine Mäzenin und Vertraute, die Fürstin Marie von Thurn und Taxis, vom 17. Dezember 1912 den unmittelbaren Gottesbezug des Koran-Propheten Mohammed mit der ›christologischen Ferne‹ des Neuen Testaments: Mohammed war auf alle Fälle das Nächste, wie ein Fluß durch ein Urgebirg, bricht er sich durch zu dem einen Gott, mit dem sich so großartig reden läßt jeden Morgen, ohne das Telephon ›Christus‹, in das fortwährend hineingerufen wird: Holla, wer dort? und niemand antwortet.128

Als zentraler Vergleich für die unmittelbare und natürliche Gottzugewandtheit des Propheten fungiert der ›strömende Fluss‹, der eine monistisch getönte Einheit zwischen Gott und Mensch alludiert und der den ›technischen‹ Gottesbezug samt Kommunikationsbarriere übersteigt.129 Im Propheten sieht Rilke einen Bruder des Künstlers: »Es gibt doch Menschen, über die das so kommt (und über den Künstler muß es doch kommen, so gut wie über Mohammed mindestens) die Aufgabe, die immer da ist und immer genau und immer verlangend.«130 In Rilkes »Brief des jungen Arbeiters« (1922), gerichtet an den Dichter Verhaeren, wird ebenfalls geraten, endlich Christus131 aus dem Spiel zu lassen, und zwar mit der Begründung, dass »sonst das Alte Testament noch besser dran [sei], das voller Zeigefinger ist auf Gott zu, wo man es aufschlägt, und immer fällt einer dort, wenn er schwer wird, so grade hinein in Gottes Mitte«132. Auch dem Pfarrer Rudolf Zimmermann bekennt er in einem Brief

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Vgl. Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel, S. 31; Schiwy, Rilke und die Religion, S. 112–144. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt am Main 1979, S. 225. Rilke, Brief an Marie Taxis vom 17.12.1912. In: Rilke, Briefe in zwei Bänden, hg. von Horst Nalewski, Frankfurt am Main; Leipzig 1991, Bd. 1, S. 447–453, S. 448. Nietzsche mokiert sich ähnlich über Wagner, indem er dessen Aufwertung des Musikers mit einem Priester vergleicht: »eine Art Mundstück des ›An-sich‹ der Dinge, ein Telephon des Jenseits« (Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 346). Vgl. Rilkes Gedicht »Mohammeds Berufung« (1907), wo der Engel den Propheten zum Lesen zwingt: Rilke, Mohammeds Berufung. In: Rilke, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, hg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn u.a., Bd. 1: Gedichte 1895–1910, hg. von Manfred Engel u. Ulrich Fülleborn, Frankfurt am Main; Leipzig 1996, S. 582–583. Rilke, Brief an Marie Taxis vom 31.05.1911. In: Rilke u. Taxis, Briefwechsel, S. 42. Vgl. zu Rilkes Verhandlung der Christusfigur: Manfred Windfuhr, »Religiöse Produktivität«. Die biblisch-jüdischen Motive in Rilkes »Neuen Gedichten«. In: »Das offene Ende, durch das wir denken und atmen können…« Theologie und Literatur im wechselseitigen Fragehorizont, hg. von Konrad Hilpert, Münster 2001, S. 41–58, S. 51ff. Rilke, Brief des jungen Arbeiters, S. 736f. zitiert nach Brunkhorst, Bibel, S. 38; Windfuhr,

aus dem Jahr 1922 unverhohlen seine Präferenz des Alten Testaments: »Es ist in mir eine am Ende doch ganz unbeschreibliche Art und Leidenschaft , Gott zu erleben, die unbedingt dem Alten Testament näher steht, als der Messiade.«133 Ulrich Fülleborn konstatiert mit Blick auf Rilkes Bibellektüre dementsprechend: Während Rilkes produktive Lektüre des Alten Testaments auf einer von ihm angenommenen Übereinstimmung mit der altjüdischen Religiosität beruhte, liegt dem Umgang mit dem Neuen Testament meist eine Tendenz zugrunde, die im einzelnen Gedicht einen Gegensinn produziert – beginnend mit den frühen ›Christus-Visionen‹, über die Gedichte der mittleren Zeit bis zum Spätwerk.134

Als Dichter des Diesseits und des Hiesigen – wie Rilke gerne apostrophiert wird – fasziniert ihn die unmittelbare, persönliche Gottesbegegnung, wie sie sich exemplarisch immer wieder im Alten Testament artikuliert findet.135 In seiner ›ästhetischen Theologie‹136, die von einer »religiöse[n] Produktivität«137 gekennzeichnet ist, geht es ihm letztlich »um den eigenen Gott, den persönlichen Zugang zu Gott, eine auf existenziellen Erfahrungen, Gefühlen und Leidenschaften beruhende Annäherung zwischen Einzelmensch und Gott«138. Als inspirative Quelle für seine zeitlebens begeisterte Aufnahme des Alten Testaments mag ihn Lou Andreas-Salomé – die Rilke im Frühjahr 1897 in München kennenlernte – schon früh mit ihrem Aufsatz »Jesus der Jude« (1896) angeregt und bestätigt haben.139 Denn dort heißt es pointiert: »Der Jude grübelte nicht über seinen Gott, er litt und lebte und fühlte.«140 Im Zentrum der jüdischen Religion steht gemäß Andreas-Salomé grundsätzlich das Gefühl und nicht die Verstandesdurchdringung des göttlichen Wesens, genauer die »praktischen Herzensfragen und Herzenssorgen zwischen Gott und Menschen«141. Dass erstens Gott zwar lediglich eine Schöpfung des Menschen, eine ›anthropomorphe Gestalt‹ sei142 (wie es Feuerbach in seiner ›Projektionstheorie‹ in Das Wesen des Christentums [1841] populär festschreibt), zweitens der religiöse Mensch indes paradoxerweise vor

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Rilke und die Religion, S.  43. Im Prosastück »Eine Morgenandacht« (1905) liest man: »Dann kommt Gott in dein Schweres wenn es fertig ist. Und welche Stelle wüßtest Du sonst, um mit ihm zusammenzukommen?« (Rilke, Morgenandacht, zitiert nach Brunkhorst, Bibel, S. 41). Rilke, Brief an Rudolf Zimmermann vom 10.03.1922. In: Rilke, Briefe in zwei Bänden, Bd. 2, S. 226–228, S. 227; vgl. Brunkhorst, Bibel, S. 38; Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel, S. 19. Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel, S. 31. Vgl. Brunkhorst, Bibel, S. 39. Vgl. Koch, Der Gott des innersten Gefühls. Zu Rilkes ästhetischer Theologie. In: Der Deutschunterricht, 5, 1998, S. 49–60. Windfuhr, »Religiöse Produktivität«, S. 45. Windfuhr, »Religiöse Produktivität«, S. 41. Vgl. Brunkhorst, Bibel, S. 39f; Windfuhr, »Religiöse Produktivität«, S. 43. Andreas-Salomé, Jesus der Jude. In: Neue Deutsche Rundschau, 7, 1896, S. 342–351, S. 347; vgl. Schiwy, Rilke und die Religion, bes. S. 72. Andreas-Salomé, Jesus der Jude, S. 346. Vgl. Andreas-Salomé, Jesus der Jude, S. 343.

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seinem eigenen ›Geschöpf‹ (als Schöpfer) knie143 – ein Paradox, das die ambivalente Konzeption der Wechselbeziehung zwischen Gott und Mensch präge – und drittens Jesus als religiöses Genie die jüdische Religion inkarniere,144 sind die Hauptthesen der ehemaligen Gefährtin Nietzsches, die Rilke an seine Christus-Visionen (1886) erinnern dürften. Besondere Beachtung schenkt Lou den Religionsstiftern und den einzelnen Erleuchteten wie Jesus, deren Wirken sie bezeichnenderweise mit dem des Künstlers analogisiert: Das religiöse Genie erlangt auf diese Weise eine künstlerische Komponente bzw. wird umgekehrt der Künstler in eine Reihe mit dem schlichten, kindlich-naiv agierenden, religiösen Genie gestellt:145 Denn das ist gerade die Art des wahrhaft naiven religiösen Genies, dass es sich bei seinem Schaffen von nichts bestimmen lässt, als von dem, was ihm sein religiöser Genius einflüstert, dass es dagegen alle Erwägungen zweiten Ranges, alles was dagegen Einfluss gewinnen will, ebenso rücksichtslos von sich weist, wie der grosse [sic!] Künstler bei seinem Werk.146

Der Lyrikerin Ilse Blumenthal-Weiss verdeutlicht Rilke in einem Brief vom 28. Dezember 1921 seine bewundernde Sicht der Beziehung der jüdischen Gläubigen zu ihrem Gott, die auf einem intensiven Gefühl basiere, einer »Richtung des Herzens«147: Und Sie, als Jüdin, mit so viel unmittelbarster Gotterfahrung, mit so altem Gottesschrecken im Blut, sollten sich um ein ›Glauben‹ gar nicht kümmern müssen. Sondern einfach fühlen, in Ihrer Gegenwart die Seine: und wo Er, Jehova, gefürchtet werden wollte – da wars ja nur, weil es in vielen Fällen kein anderes Mittel gab zu gegenseitiger Nähe von Mensch und Gott als eben die Furcht.148

Die Geschichten des Alten Testaments sind oftmals geprägt von individuellen Gottesbegegnungen, darunter auch Leidenserfahrungen, aber auch gekennzeichnet durch ein dialogisches Prinzip, einen ›dialogischen Gott‹, eine einmalige Nähe zwischen Mensch und Gott, welche Rilke produktiv aufgreift und adaptiert.149 Als zentrales Thema Rilkes erkennt auch Günther Schiwy allgemein die Frage nach Gott und greift so einen Topos der Rilkeforschung auf;150 einen breiten Raum nimmt genauer gesagt die inspirative Gotteszuwendung alttestamentlicher Provenienz ein. Freilich treibt den Gottsucher Rilke nicht die institutionalisierte Variante

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Vgl. Andreas-Salomé, Jesus der Jude, S. 344. Vgl. Andreas-Salomé, Jesus der Jude, S. 345 u. S. 347. Unverkennbar schwingt hier indirekt Lous bekannte Apotheose Nietzsches als religiösen Genies mit (vgl. Spörl, Gottlose Mystik, S. 174). Überdies sieht sie Jesus als Sprössling der vorexilischen Propheten (vgl. Andreas-Salomé, Jesus der Jude, S. 345 u. S. 349). Andreas-Salomé, Jesus der Jude, S. 345. Rilke, Brief an Ilse Blumenthal-Weiss vom 28.12.1921. In: Rilke, Briefe in zwei Bänden, Bd. 2, S. 198–201, S. 200. Rilke, Brief an Ilse Blumenthal-Weiss vom 28.12.1921, S.  199; vgl. Schiwy, Rilke und die Religion, S. 124. Vgl. Windfuhr, »Religiöse Produktivität«, S. 43. Vgl. Schiwy, Rilke und die Religion, S. 9.

des Christentums um,151 wie es ihm in Form der überfrommen Mutter von früh auf vergällt ist.152 Vielmehr baut er an seinem eigenen Gott, ja erschafft diesen (künstlerisch) als sein ›Geschöpf‹ geradezu selbst153 – und dies im Rahmen des Projekts einer unendlichen Annäherung im Medium einer am Diesseits orientierten Dichtkunst. In Anlehnung an sein Ressentiment gegenüber den Priestern als ›Amtshütern‹ der Kirche154 kristallisiert sich zudem Rilkes Vorliebe für die Prophetenfigur heraus, die einen Schwerpunkt seiner Lektüre und dichterischen Anverwandlung zentraler Stoffe des Alten Testaments bildet. Die Forschungslandschaft zum Thema ›Rilke und die Bibel‹ ist erstaunlich spärlich und wenig differenziert, wie Katja Brunkhorst in ihrem Rilke-Handbuch-Beitrag zur Bibel feststellt.155 Einigkeit besteht allenfalls darin, dass Rilke auf seine Art ein religiös gestimmter Dichter sei.156 Eine eingehende Studie, die

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Vgl. Brunkhorst, Bibel, S. 38 u. S. 42. Vgl. zu Rilkes Christentumskritik zuletzt zusammenfassend: Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik, S. 213ff. Vgl. Schiwy, Rilke und die Religion, S. 13–15. Schiwy indiziert aus Rilkes Verhältnis zu seinem Vater den Rollentausch zwischen Künstler und Gott: »Der Künstler wird zum Schöpfer, das neue Gottesbild ist sein Werk, sein ›Sohn‹, wobei sich Rilke des Einverständnisses seines Gottes sicher ist, zu dem er als Pilger unterwegs ist« (Schiwy, Rilke und die Religion, S. 22). Bereits im Stundenbuch, im zweiten Teil »Von der Pilgerschaft«, vollzieht Rilke die typologische Umkehr zwischen Vater und Sohn, Schöpfer und Geschöpf: »Das ist der Vater uns. Und ich – ich soll / dich Vater nennen? / Das hieße tausendmal mich von dir trennen. / Du bist mein Sohn. Ich werde dich erkennen, / wie man sein einzigliebes Kind erkennt, auch dann, / wenn es ein Mann geworden ist, ein alter Mann« (Rilke, Das ist der Vater uns… In: Das Stunden-Buch, Von der Pilgerschaft. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 207). Aus dieser Konstruktion leitet sich die mystisch gefärbte Abhängigkeit Gottes von seinem ihn schöpfenden Geschöpf ab: So fragt das lyrische Ich in »Vom mönchischen Leben« provokant: »Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? / Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?) / Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?) // Bin dein Gewand und dein Gewerbe, / mit mir verlierst du deinen Sinn. // Nach mir hast du kein Haus, darin / dich Worte, nah und warm, begrüßen« (Rilke, Was wirst du tun… In: Das Stunden-Buch, Vom mönchischen Leben. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 176; vgl. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 71f.). George betreibt diese Umkehrung zwischen Schöpfer und Geschöpf – wie oben herausgestellt – in seinem ›Maximin-Kult‹ ganz ähnlich. In einem frühen Glaubensbekenntnis Rilkes vom 02. April 1893 ist eine ablehnende Haltung gegenüber der christlichen Frömmelei exemplarisch kondensiert: »Ihr lippenfrommen Christen / nennt mich den Atheisten / und flieht aus meiner Näh’, / weil ich nicht wie ihr alle / betöret in der Falle / des Christentums geh. // Ich weiß es, eure Lehren, / die wissen zu bekehren, / die machen fromm und – dumm. / Denn nur damit ihr sündigt, / hat man euch einst verkündigt / das Evangelium. // Und eure Priester sorgen, / daß heute oder morgen / euch nicht mehr Klarheit wird. / Wacht mit Gesetz und Strafe / doch über seine Schafe / der unfehlbare Hirt. // […]« (Rilke, Glaubensbekenntnis. In: Rilke, Erste Gedichte. In: Rilke, Die Gedichte, Frankfurt am Main; Leipzig 2006, S. 13f.). Vgl. Brunkhorst, Bibel, S.  43. Ausnahmen bilden v.a. folgende Aufsätze und Studien: W. Braungart, Ästhetische Religiosität oder religiöse Ästhetik, S.  15–29; Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel, S.  19–38; Koch, Der Gott des innersten Gefühls, S.  49–60; Windfuhr, »Religiöse Produktivität«; Schiwy, Rilke und die Religion; King, Heilige Autorschaft in der Moderne; King, Pilger und Prophet; King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung, S. 89–105. Einzig die mystische Grundierung von Rilkes Autorschaftsbild und seiner Poetologie ist

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sich dezidiert mit Rilkes Propheten-Figurationen, ihren poetologischen Implikationen und seinem prophetisch grundierten Autorschaftsbild im Wechselspiel beschäftigt, steht aus und soll von daher als Forschungsdesiderat aufgegriffen werden.157 Es wird sich zeigen, dass Rilke seine Propheten-Figurationen ebenso wiederholt umschreibt, wie er sich seinen ›Kunst-Gott‹ geduldig erarbeitet: Rilkes Gottesvorstellung erfährt mehrere Transformationen: vom pantheistischen Gottesgefühl über den gewaltsam den Menschen heimsuchenden Gott und über den trostspendenden Gott bis zur nietzscheanisch geprägten Gottesferne. In Korrelation zum sich wandelnden bzw. facettenreichen Gottesverständnis ist ein sich transformierendes Bild vom Menschen und Dichter als ›Gefäß Gottes‹ erkennbar,158 das Rilkes Autorschaftsbild prägt, wie er es beispielsweise Ende August 1907 prägnant formuliert:

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v.a. von Martina Wagner-Egelhaaf und Uwe Spörl gründlich aufgearbeitet worden, wie oben ausgeführt: Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne; Wagner-Egelhaaf, Die mystische Tradition der Moderne; Spörl, Gottlose Mystik, S. 310–327. Eine soziologische Aufarbeitung von Rilkes Prophetenbild legt – wie oben dargelegt – King vor: King, Pilger und Prophet; King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung. Vgl. hierzu meine Rezension: G. Wacker, Zum Mythos des heiligen Autors. Vgl. zum Forschungsstand das Kapitel V.1. Dass die Gott-Suche eine Ich-Suche impliziert und anstößt, deuten bereits frühe Zeilen aus dem Jahr 1899 an, wie es zu Beginn des »Buches vom mönchischen Leben« programmatisch heißt: »[…]  // Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,  / und ich kreise jahrtausendelang; / und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm / oder ein großer Gesang« (Rilke, Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen… In: Rilke, Das Stunden-Buch. Vom mönchischen Leben, S. 157; vgl. zur mystischen Konnotation: Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 68f.). Das Bild des Umkreisens der sprachlichen Annäherung an die Phänomene ›Gott‹ und ›Ich‹ weist indes schon auf die Schwierigkeit hin, ins Zentrum des Gesuchten und Erstrebten vorzustoßen (vgl. Elke Austermühl, Lyrik der Jahrhundertwende. In: Naturalismus, Fin de Siècle, Expressionismus. 1890–1918, hg. von York-Gothart Mix, München 2000, S. 350–366, S. 363). Die diversen Gesichter Gottes münden schließlich in eine Hinwendung zum Diesseits, genauer in die Innerlichkeit des Künstlers: Gott wird als schöpferische Kraft erfahren, die vor allem dem prophetischen Künstler widerfährt. Die stürmische Erfahrung der Inspiration aktiviert den ›großen Gesang‹. Der Sturm-und-Drang-Programmatik ähnelnd – man denke etwa an das ›heilig glühend Herz‹, das den Goethe’schen Prometheus im Götterzwist als Künstler antreibt – (vgl. Hinck, Das Gedicht als Spiegel der Dichter, S. 30), steht bei Rilke das ›glühende Herz‹ des Künstlers im Mittelpunkt der Gottes-Begegnung, so etwa exemplarisch in den folgenden Zeilen aus dem frühen Gedichtband Mir zur Feier (1899) formuliert: »[…] // Da mußt Du wissen, daß dich Gott durchweht / seit Anbeginn, / und wenn dein Herz dir glüht und nichts verrät, / dann schafft Er drin« (Rilke, Du darfst nicht warten, bis Gott zu dir geht... In: Rilke, Mir zur Feier. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 111). Eine Verinnerlichung des religiösen Gefühls, die mit einer inspirativen Bewegung des Herzens korreliert, ist spätestens seit Nietzsches Nobilitierung der Kunst als Nachfolgerin der Religionen gängig (vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 144). Die Reduktion Gottes auf seine schöpferische Funktion im Künstler bewahrt den ›Kunst-Gott‹ dennoch als treibende Kraft, welcher das lyrische Ich ausgesetzt ist.

Siehe der Dichter: ihn trug das Geschaute weil er sich willig umschrieb und umschrieb bis er gelöst in die leisesten Laute über der Tiefe vor der allen graute auf dem schweren Hingehn trieb.159

Diese Verse enthalten in nuce wesentliche Schlüsselbegriffe von Rilkes Autorschaftsbild: Das Verhältnis von Schauen und Schreiben/Sagen, Geschehenlassen und Können, das Motiv der Wandlung sowie die Begriffe der Erlösung und des Sich-TreibenLassens, allesamt bezogen auf den Dichter, lassen sich daran indirekt ablesen. Mittels des imperativisch-prophetischen Auftakts »Siehe« (Vers 1) wird der Blick auf den Dichter und dessen Verhältnis zum bereits Geschauten gelenkt. Die Wandlungsfähigkeit des sich immer wieder aktiv umschreibenden Dichters, des Sagenden, ist Bedingung dafür (in Form eines Kausalnexus vorgestellt), dass er als passiver Rezipient vom Geschauten getragen wird – und über dem Abgrund treibt. Die Akkomodation an das Geschaute zielt indes darauf ab, sich als Dichter in den ›gelöst Treibenden‹ aufzulösen, d.h. sich mittels »leiseste[r] Laute« (Vers 3) gleichsam zu erlösen. Offen bleibt, ob das Adjektiv »gelöst« (Vers 3) eher die Auflösung des Dichters und dessen substantielle Vertilgung impliziert oder ob es sich eher als erlösendes Moment lesen lässt, wonach er sich in den Tönen subjektiv manifestiert und nicht verliert, sondern dort das Geschaute verarbeitet und vor dem Sturz in den Abgrund bewahrt ist, wobei sein ›schwereloses Dasein‹ gleichwohl mit der Schwere konfrontiert bleibt. Diese Doppelbödigkeit des aufgelösten und des sich erlösenden Dichters bestimmt im Wesentlichen Rilkes Autorschaftsbild des heiligen Dichters. Die ›Heimsuchung‹ des lyrischen Ich als zentrales Thema aller Kunstreflexionen Rilkes trägt oftmals die Signatur des Prophetischen. Der Ort, wo, und die Art, wie Gott dem lyrischen Ich widerfährt, führt überdies oftmals zu Vergleichen mit Naturerlebnissen. Ungeachtet jeder Dogmatik kreuzen sich in den dargestellten prophetischen Erlebnissen immer wieder Gott- und Naturerlebnis, die beide als überwältigendes Erhabenes vom Standpunkt des Dichter-Propheten wahrgenommen werden. Dass v.a. faszinierend übermächtige Landschaften und die Bibel miteinander in Verbindung gesetzt werden können, deutet u.a. eine Briefäußerung von 1915 an, wonach »Russland, Frankreich, Italien, Spanien, die Wüste und die Bibel [ihm, Rilke] das Herz ausgebildet hätten«160. Ein beredtes Beispiel dafür sind Rilkes Briefe aus Toledo während seines Spanienaufenthalts 1912, besonders ein Brief vom 28. November an Elsa Bruckmann: […] aber schließlich ist ein einziges unter diesen Umständen möglich: das Alte Testament, der Maßstab ist fast der gleiche, man schlägt die Bibel auf und liest in der Landschaft weiter, einer Landschaft , die nicht redet, die prophezeit, über die der Geist ihrer Großheit

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Rilke, Siehe der Dichter: ihn trug das Geschaute…. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 402. Rilke, Brief an Ilse Erdmann vom 11.09.1915. In: Rilke, Briefe in zwei Bänden, Bd. 1, S. 591– 593, S. 593.

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kommt, überall, von jedem Tor bricht sie in Größe aus, und die Stadt selbst ist so unmittelbar ohne eine Schicht, die sie isoliert, auf die Erde, auf die erschaffene Erde gestellt, wie auf alten Kupfern der Turm zu Babel.161

Jutta Wermke weist darauf hin, dass Rilke »Faszinosum und Tremendum« der spanischen Natur »konsequent in Bilder des Alten Testaments […] als des Zeugnisses einer Religion, die Tod und Leben, Herrlichkeit und Schrecken noch als Einheit zu gelten lassen vermochte«162, fasst.163 Auch seine Förderin Taxis lässt Rilke wissen, dass der Natur in Toledo prophetische Kräfte eignen: Diese unvergleichliche Stadt hat Mühe, die aride, unverminderte, ununterworfene Landschaft , den Berg, den puren Berg, den Berg der Erscheinung in ihren Mauern zu halten, ungeheuer tritt die Erde aus ihr aus und wird unmittelbar vor den Toren: Welt, Schöpfung, Gebirg und Schlucht, Genesis. Ich muß immer wieder an einen Propheten denken bei dieser Gegend, an einen, der aufsteht vom Mahl, von der Gastlichkeit, vom Beisammensein, und über den gleich, auf der Schwelle des Hauses noch, das Prophezeien kommt, die immense Sehung rücksichtsloser Gesichte; so gebärdet sich diese Natur rings um die Stadt, ja selbst in ihr, da und dort, sieht sie auf und kennt sie nicht und hat eine Erscheinung.164

Die Rilke’sche Geschichte dieser ›rücksichtslosen Gesichte‹165 lässt sich anhand des Nexus erhabene Naturerscheinung und Propheten-Figuration eruieren. Rilkes Gottsuche manifestiert sich in den Konturen und Schattierungen seiner prophetischen Gestalten, seiner prophetisch aufgeladenen Naturwahrnehmungen und überdies in seinen heiligen Autorschaftsbildern, wie sie werkintern und -extern immer wieder entfaltet werden. So beerbt Rilke den von Nietzsche inthronisierten prophetischen Gestus. Denn Nietzsche profi liert – wie nach ihm Rilke – ebenfalls das Alte Testament wegen der Größe erhabener alttestamentlicher Menschen und einer heroischen Landschaft: Ich liebe das ›neue Testament‹ nicht, man erräth es bereits. […] Das alte Testament – ja das ist ganz etwas Anderes: alle Achtung vor dem alten Testament! In ihm fi nde ich grosse

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Rilke, Brief an Elsa Bruckmann vom 28.11.1912, zitiert nach Schiwy, Rilke und die Religion, S. 123f. J. Wermke, Landschaft als ästhetische Konstruktion. Zur Überwindung der »gedeuteten Welt«. Ein Interpretationsansatz für Rainer Maria Rilke. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1990, S. 252–307, S. 279. Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 294. Rilke, Brief an Marie Taxis vom 13.11.1912. In: Rilke, Briefe in zwei Bänden, Bd. 1, S. 438–441, S. 438f. Vgl. Rilke: »Manchmal geh ich gegen Abend da drüben in den Felsen und Bergtrümmern herum, nur die tiefe schmale Flußschlucht zwischen mir und der wie ein Auferstehender (wie Lazarus aufersteht auf dem Rembrandt’schen Blatt) angeschienenen Stadt, drüben wo die Landschaft sofort ausbricht und wie ein Löwe ist … geh dort auf und ab, wo Propheten gehen könnten« (Rilke zitiert nach Fritz J. Raddatz, Rilke. Überzähliges Dasein. Eine Biographie, Zürich; Hamburg 2009, S. 92). Vgl. Rilke: »Rücksichtslos redet Zukünftiges durch ihn« (Rilke, Über Kunst. In: Rilke, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, hg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn u.a., Bd. 4: Schriften, hg. von Horst Nalewski, Frankfurt am Main; Leipzig 1996, S. 114–120, S. 118).

Menschen, eine heroische Landschaft und Etwas vom Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivetät des starken Herzens; mehr noch, ich finde ein Volk. Im neuen dagegen lauter kleine Sekten-Wirthschaft , lauter Rokoko der Seele, lauter Verschnörkeltes, Winkliges, Wunderliches, lauter Conventikel-Luft […].166

Wie sehr auch Rilke das in Kapitel II.3.1. dargelegte Bild des modernen Propheten adaptiert, wird anhand seiner Propheten-Figurationen einsichtig.

V.3.

Der Prophet als literarisches Sujet: Prophetische Künstlerpoetiken

Dass Rilke sich aus dem reichen Fundus des alttestamentlichen Bibelarsenals als Stoffquelle bedient, ist leicht einsehbar. Allein in den Neuen Gedichten finden sich dreiundzwanzig Gedichte, die auf biblische Figuren als Vorlage zurückgreifen.167 Es ist auffallend, dass insgesamt sieben Gedichte in den Neuen Gedichten und den Neuen Gedichten anderer Teil explizit konzentrierte Propheten-Porträts vorstellen: »Josuas Landtag« (Juli 1907), »Ein Prophet«, »Samuels Erscheinung vor Saul«, »Jeremia« (beide August 1907), »Mohammeds Berufung« (1907), »Tröstung des Elia« und »Saul unter den Propheten« (beide Sommer 1908). Das Gedicht »Eine Sibylle« (Ende August, Anfang September 1907) folgt unmittelbar auf die alttestamentlichen Propheten-Gedichte und kann als griechisch-weibliches Pendant dazu gezählt werden. Dieser ›Propheten-Zyklus‹ stellt ein besonderes Experimentierfeld für die prophetische Denkfigur Rilkes dar. Das später entstandene Gedicht »Der Tod Moses« (1915) stellt nochmals eine Propheten-Figur vor Augen.168 Die Prominenz der ProphetenFigurationen in der so genannten ›mittleren Werkphase‹ Rilkes ist allerdings – und dies ist von der Forschung bisher stiefmütterlich behandelt worden – auf ihre Anfänge in ausgewählten frühen Erzählungen zu beziehen. Diese weniger beachteten frühen Schriften sollen daher erstmals eine gebührende Aufmerksamkeit in ihrer Funktion als Grundpfeiler für Rilkes Prophetie-Poetik erfahren. Besonders »Der Apostel«, »Der Totengräber« und »Die Geschichten vom lieben Gott« können als Basistexte für Rilkes Auseinandersetzung mit prophetischen Figuren und deren poetologischen Energien herangezogen werden, um die Fortschreibung unterschiedlicher prophetischer Reflexionsfiguren für seine Künstler-Modelle heiliger Autorschaft einsehen zu können. Denn Rilkes eigenwillige, poietische Anverwandlung prophetischer Figuren führt ins Zentrum einer spannungsreichen Kreuzung von Prophetie und Poetik. Die Nähe der Prophetenfigurationen zum Künstlertypus und ihre Funktion als Vorlage für eine heilige Autorschaftskonzeption ist evident. Ein Seitenblick auf Rilkes Dichterbild als poeta vates respektive Prophet markiert den Bezugspunkt zwischen

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Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 393. Vgl. Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel, S. 24; Brunkhorst, Bibel, S. 38. 1913 liest Rilke Martin Bubers prophetischen Roman Daniel (vgl. Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik, S. 276f.).

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immanenter und externer heiliger Autorschaftspoetik sowie Affinitäten aber auch Differenzen zu seiner jeweiligen poetologischen Situierung. Verschiebungen und Fortschreibungen prophetischer Autorschaftspoetiken sind dabei auf die sich ebenfalls wandelnden oder sich teilweise sperrenden prophetischen Poetiken zu beziehen. Dass der anachronistische Prophet der Moderne bei Rilke ästhetische Innovationen freisetzt, soll insbesondere im Durchgang durch die Stationen seiner werkintern entfalteten prophetischen Autorschaftspoetiken herausgestellt werden. Wie es in der Natur prophetischen Sprechens liegt, avanciert allerdings die Darstellung des Dichter-Propheten mitunter zum Stolperstein für den Propheten und dessen Botschaft, ja sie desavouiert ihn bisweilen geradezu. Denn: Wenn der Künstler-Prophet – wie zu zeigen sein wird – ›Mundstück‹ Gottes sein soll, darf seine Botschaft eigentlich nicht durch ein Medium behindert, verfremdet oder abgelenkt werden: Er selbst ist ja bereits Medium von Gottes Inspiration. Die Kollision von prophetischen Unmittelbarkeits-Poetiken mit literarischen sowie lyrischen Formen und Texturen provoziert insofern auch Fragen nach den Grenzen einer Prophetie-Poetik. Sie zeigt aber auch, wie sich Rilke in seinen prophetischen Selbstentwürfen teilweise von seinen prophetisch Inspirierten abhebt, indem seine Texturen diese konterkarieren oder er den Typus des prophetischen Formers vom Typus des erleidenden Propheten abhebt. Belege dafür sind nämlich auch in seinen epistolaren Zeugnissen zu finden. V.3.1.

Rhetorische Kriegspoetik des ›Übermenschen‹ (»Der Apostel«)

In Rilkes frühem Prosastück »Der Apostel« (1896) tritt ein merkwürdiger Sonderling in eine bohèmehaft gestrickte, im Rahmen einer Wohltätigkeitsveranstaltung zusammengekommene Abendgesellschaft und kündigt dort unheimlich entrückt seine Vorhaben an, in die Welt auszuziehen, um die Liebe zu töten und den Hass zu predigen: kurz den Heiligen Krieg wider das Mitleid respektive die Nächstenliebe zu führen. So weist er kompromisslos die Aufforderung zu einer Beteiligung an einem Wohltätigkeitszweck von sich und erklärt der reichen Gesellschaft samt anwesendem katholischen Geistlichen brachial: »Ich gehe in die Welt, die Liebe zu töten. Kraft sei mit euch! – Ich gehe in die Welt und predige den Starken: Haß! Haß! Aberhaß!«169 In der aggressiven Destruktion und unmissverständlichen Attacke auf das Herzstück der christlichen Botschaft, die Nächstenliebe, erweist sich der Gesandte der starken Machtmenschen als Provokateur und als falscher Apostel. Er ist ein Querulant, der eine erste Vorlage für einen provokativ-prophetischen Typus Rilke’scher Manier bietet.170 Gestus, Kleidung, Gebärde und Redeweise des Apostels illustrieren ostenta-

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Rilke, Der Apostel, S. 52. Als ähnliche Propheten-Figuration kann Hauptmanns vermeintlicher Friedensbote in »Der Apostel« (1890) betrachtet werden. Sich in die Rolle des Friedensapostels imaginierend wünscht der Prophet, um die Kulturverderbnisse der Städte anzuprangern, »mit der Stimme des Donners reden zu können« (G. Hauptmann, Der Apostel, Stuttgart 1970, S. 39), um den Weg zur Natur neu zu ebnen und das »Wortjuwel« Friede zu verkünden. Die »Allmacht der

tiv sein Außenseitertum, seine Machtgelüste und seine schonungslose Kriegsansage wider die saturierte, verweichlichte Gesellschaft. Auch sein Künstler-Habitus wird erwähnt, wenn seine Gegenspielerin, eine reiche polnische Baronin Vilovsky, in ihm dezidiert einen Künstler vermutet.171 Einem heiligen Apostel ähnelnd, ist der Fremdling auffallend bleich sowie mit hoheitsvoll-mächtigem, herrischen Blick, durchgeistigten Zügen und unmodisch schwarzer Kleidung versehen.172 Ferner vertritt er ein vulgär gemischtes Konglomerat von darwinistisch-nietzscheanischen und kallikleischen Ideen, wonach nur die Starken, die vom Willen beflügelten ›Übermenschen‹ ihr neues, kulturell fortentwickeltes Reich zu Recht auf den Leichen der Schwachen als Spitze der »Pyramide des Werdens«173 gründen. Indem sich die Feinde des Messias durch Umkehrung von dessen Nächstenliebe-Gebot zur selbsterkorenen Gottheit emporschwingen, unterminieren sie prometheisch das minderwertige ›Kindheitsalter‹ der Menschheit. Seiner Kreuzung aus Militarismus und Geistlichkeit entsprechend versucht der militante Pastorale, die Gesellschaft persuasiv für seine ›Predigt‹ einzunehmen. Sein brennendes Auge, seine sich emporreckende Gestalt, der Anschein einer Lichtscheinumrahmung,174 sein militärischer Kommando-Ton

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Wahrheit« und den »Stolz eines Feldherrn« in sich fühlend strebt er die Erlösung der ganzen Menschheit an (Hauptmann, Der Apostel, S. 40 u. S. 47). Kulturkritik, Lebensreform im Zeichen des pantheistischen Naturkults verkündet der Prophet auf dem Berg (wie Zarathustra) in Konkurrenz zu den Priestern, »denn er hatte mehr mitzuteilen als sie« (Hauptmann, Der Apostel, S.  39). Seine Visionen werden zuletzt als ein »Schwatzen« im Ohr (Hauptmann, Der Apostel, S. 36) psychopathologisch bloßgestellt. Paten des ›krankhaften Heiligen‹ sind Emanuel Quint in Der Narr in Christo Emanuel Quint (1910) und Ludovico in Der Ketzer von Soana (1917). Während Ludovico im Zeichen einer dionysischen Entgrenzung den Leib heiligt, entdeckt Quint den Geist als Lebensmaxime. Vgl. zu Hauptmanns ›Heiligen‹: Marx, Gerhart Hauptmann, Stuttgart 1998, S. 274–276. Vgl. zu Hauptmann und Diefenbach: Hermann Müller, Propheten und Dichter auf dem Berg der Wahrheit. Gusto Gräser, Hermann Hesse, Gerhard Hauptmann. In: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., hg. von Kai Buchholz, Rita Latocha u. Hilke Peckmann, Darmstadt, 2001, S. 321–324. Vgl. zum Motiv der ›Konversion von Christus zu Dionysos‹ bei Hauptmann mit Blick auf Der Ketzer von Soana: W. Riedel, ›Homo natura‹, S. 199 u. S. 263–270; W. Riedel, Homo natura. Zum Menschenbild der Jahrhundertwende. In: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., hg. von Kai Buchholz, Rita Latocha u. Hilke Peckmann, Darmstadt 2001, S. 105–107, S. 106f. Auf Hauptmanns »Entwicklung vom Naturalisten zum ›Mönch der Poesie‹« (Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 111) macht Marx aufmerksam, denn Hauptmann nimmt ebenfalls an der Nobilitierung der Propheten-Autorschaft teil, wenn er u.a. schreibt: »Der Dichter, wahrhaft durchdrungen vom Göttlichen, vom Hauch einer tiefen Erkenntnis berührt, ist zum Werkzeug göttlicher Bildkraft geworden und erfüllt eine köstliche, lebendige Mission, die ihn zum dogmenfreien Priester macht« (Hauptmann, Kunst und Jugend [1912] zitiert nach: Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 111). Vgl. Rilke, Der Apostel, S. 48. Vgl. Rilke, Der Apostel, S. 47f. Rilke, Der Apostel, S. 51. Vgl. Rilke, Der Apostel, S.  52: »Sein Auge brannte. Er war aufgestanden. Die schwarze

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(»Seid hart, seid furchtbar, seid unerbittlich«175), seine metaphorisch aufgeladene Redemacht (vom Gift der Seele, den Raubtieren, der Liebe als herrlichem Ruhekissen, dem Opferherde der Barmherzigkeit u.a.) verleihen ihm die Aura eines Endzeitpropheten, der typischerweise erst die Missverhältnisse des Siechenhauses ›Welt‹ drastisch in ihrer Gebrechlichkeit ausmalt und gewittergleich, sprich im Zuge unmittelbarer Rede, verdammt: »Wie ein heißes Gewitter donnerten die Worte des Begeisterten in das schwüle Schweigen«176. Konträr dazu statuiert er das ›neue Reich‹ persuasiv (in Form einer Klimax): »[...] aber wenige Große, Gewaltige, Göttliche werden sonnigen Auges das neue, gelobte Land erreichen.«177 Der falsche Prophet predigt und beschwört so das destruktive Zerstörungswerk des übersteigerten Machtsubjekts nietzscheanischer Provenienz, wodurch die Welt in eine Art Hobbes’schen Naturzustand des homo homini lupus zurückfällt. Er gleicht geradezu Thomas Manns Derleth-Porträt in »Beim Propheten« (1904).178 Das Prosastück erschien im Frühjahr 1896 in Die Musen. Monatshefte für Production und Kritik in Berlin. Seit Beginn seines Studiums beschäftigt sich Rilke nachhaltig mit der Lektüre Nietzsches.179 Ein Jahr nach Erscheinen des »Apostels«, im Mai 1897, lernt Rilke Lou Andreas-Salomé kennen, die ihn als ehemalige Weggefährtin und enge Vertraute Nietzsches für dessen Philosophie begeistert haben mag.180 Dass Rilke zwar kein Nietzscheaner kat’ exochen sei, indes der frühe Rilke (nicht nur mit seinem Apostel-Porträt) deutlich in den Spuren Nietzsches wandelt, betont Meyer zu Recht: Dennoch zeigt sich beim frühen Rilke ein Einfluß Nietzsches, und zwar in doppelter Hinsicht: zum einen in der Problematik der Einsamkeit und des Schaffens, in der Apotheose des schaffenden Künstlers, sowie im weltimmanenten, ›dionysischen‹ Daseinsverständnis, zum anderen im Motiv der Gottverlassenheit und in elitärer Kritik an der Gesellschaft.181

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Gestalt erstreckte sich übergroß in die Höhe. Es war als ob ein Lichtschein sie umrahme. – Er sah wie ein Gott aus. Sein Blick hing weit an der herrlichen Vision seiner Seele [...].« Rilke, Der Apostel, S. 51. Rilke, Der Apostel, S. 50. Rilke, Der Apostel, S. 52. Vgl. Th. Mann, Beim Propheten. Vgl. dazu das Kapitel IV.1.1. Vgl. Schiwy, Rilke und die Religion, S. 55. Manfred Engel zeigt, wie sich der junge Rilke im Florenzer Tagebuch als »zweiter Zarathustra/Nietzsche« (M. Engel, Rainer Maria Rilkes »Duineser Elegien« und die moderne deutsche Lyrik, Stuttgart 1986, S. 107) entwirft. Dort wird auch der Künstler mit dem Feldherrn zusammengestellt, wie es auch für den Apostel und seine Gewaltsamkeit zutrifft: »Wisset denn, daß die Kunst ist: das Mittel Einzelner, Einsamer, sich selbst zu erfüllen. Was Napoleon nach außen war, das ist jeder Künstler nach innen. Es geht über Siege wie über Stufen aufwärts« (Rilke, Florenzer Tagebuch, zitiert nach Engel, Rainer Maria Rilkes »Duineser Elegien«, S. 107). Vgl. David, S. 163. Rilkes »Marginalien zur Geburt der Tragödie« (1900), aus dem Nachlass Lous, sind das bekannteste Zeugnis für Rilkes Nietzsche-Rezeption (vgl. Rilke, Marginalien zu Friedrich Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie«. In: Rilke, Werke, Bd. 4, S. 161–172). T. Meyer, Nietzsche und die Kunst, S. 198.

Besonders das Apostel-Porträt sei ganz im nietzscheanischen Gedankengut zu verorten.182 Metaphorik, Semantik, Gestik, Habitus des Apostels und natürlich seine scharfe Kritik am Mitleidspostulat erinnern an Nietzsches Zarathustra.183 Eine Rezension im 6. Heft der Musen (Berlin Mai oder Juni 1896) zeigt, dass der NietzscheEinfluss für die damaligen Leser offensichtlich ist: »Dann der ›Apostel‹ von René Maria Rilke, der uns Nietzsches Lehren in krasser Deutlichkeit an üppiger Tafel demonstriert: Man muß das lesen, um an Nietzsches Übermenschen wieder einmal gründlich irre zu werden.«184 Rilkes briefliche Äußerung, dass der Apostel »[s]ein halb tief ernstes, halb satirisches Glaubensbekenntnis«185 sei, verweist einerseits auf seine überzeichnete, damit distanzschaffende Darstellung des Übermenschen-Epigonen, die doch andererseits im Kern seine Kritik am neutestamentlichen Liebesverständnis offenlegt, die allerdings in dieser Schroffheit einzigartig im Rilke’schen Œuvre ist. Abgesehen von Rilkes späterhin favorisierter franziskanischer Liebeskonzeption bzw. seiner berühmten Entfaltung des Modells der ›intransitiven Liebe‹ im Malte scheint diese nietzscheanische Apostel-Figur wegen ihrer Affi nität zum prophetischen Künstlertum für Rilke so faszinierend zu sein, dass er Züge von ihr fortschreibt. Dass er sich in seinen frühen Erzählungen an der von Nietzsche herrührenden Kombination von Ästhetik und Gewalt im Gewand des Propheten weitgehend klischeeverhaftet abarbeitet, sei unbestritten, doch ist unübersehbar, wie der ›wilde Krieger‹, ähnlich wie der Totengräber – wie im folgenden Kapitel gezeigt wird –, als ein prophetischer ›Zufrühkommer‹ verhandelt wird und damit als prophetenähnliche Künstlerfiguration: Die unheimliche Nähe zwischen Apostel und Künstler ist das fascinosum der Erzählung. Der Apostel stellt geradezu eine erste prophetische Autorpoetik im Geiste Nietzsches vor. Mit dem Apostel greift Rilke nämlich das Bild des ›einsamen Zukunfts-Künstlers‹186 auf, wie er ihn in seinem kunsttheoretischen Essay »Über Kunst« (1898) entfaltet. Dieser Essay liest sich wie eine Programmschrift der Propheten-Figur:

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Meyer sieht hier einen waschechten Nietzscheaner am Werk, »dominiert doch das Credo, die Identifikation mit den Aussagen dieses elitären, ›aristokratischen‹ Subjekts. In diesem Text erweist sich Rilke in der Tat als Nietzscheaner« (T. Meyer, Nietzsche und die Kunst, S.  198). Vgl. David, S.  162; Walter Seifert, Der Ich-Zerfall und seine Kompensation bei Nietzsche und Rilke. In: Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne, hg. von Manfred Pfister, Passau 1989, S. 229–239, S. 234. Rilkes Zarathustra-Lektüre belegt erstmals Brunkhorst: Brunkhorst, ›VerwandtVerwandelt‹. Nietzsche’s Presence in Rilke, München 2006. Zitiert nach Rilke, Der Apostel. Entstehung und Überlieferung, Textgrundlage, S. 809. Rilke, Brief an den Schriftsteller Bodo Wildberg vom 07.03.1896 zitiert nach Brunkhorst, Bibel, S. 39. Vgl. T. Meyer, Nietzsche und die Kunst, S. 198. Vgl. Ähnlich äußert sich übrigens Egon Friedell in seinem Beitrag zu Peter Altenberg von 1909: »Ein Dichter ist ein Seher, ein Seher gegenwärtiger und zukünftiger Dinge. […] Er erblickt Dinge, die vor ihm noch niemand gesehen hat […]« (E. Friedell, Peter Altenberg. Zu seinem fünfzigsten Geburtstag. In: Theorie des literarischen Jugendstils. Mit 14 Abbildungen, hg. von Jürg Mathes, Stuttgart 1984, S. 206–216, S. 207).

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Die Geschichte ist das Verzeichnis des Zufrühgekommenen. Da wacht immer wieder Einer in der Menge auf, der in ihr keine Ursache hat und dessen Erscheinen sich in breiteren Gesetzen begründet. Er bringt fremde Gebräuche mit und fordert Raum für unbescheidene Gebärden. So wächst eine Gewaltsamkeit aus ihm und ein Wille, der über Furcht und über Ehrfurcht wie über Steine schreitet. Rücksichtslos redet Zukünftiges durch ihn; und seine Zeit weiß nicht, wie sie ihn werten soll, und in diesem Zögern versäumt sie ihn. Er geht an ihrer Unentschlossenheit zu Grunde.187

Markant wird hier ein prophetischer Künstler-Typus des Außenseiters beschrieben: Seine Fremdheit gründet in seiner Andersartigkeit, die mit einer unbedingten Gewaltsamkeit einhergeht, und darin, Vermittler des Zukünftigen zu sein. Kunst sei ferner »die sinnende Möglichkeit neuer Welten und Zeiten«, der Künstler demnach »der Mensch des letzten Zieles«, »denn er selbst baut an diesem Gott«188: »Und erst aus diesem Zwiespalt zwischen der gegenwärtigen Strömung und der zeitfremden Lebensmeinung des Künstlers entsteht eine Reihe kleiner Befreiungen, wird des Künstlers sichtbare Tat: das Kunstwerk.«189 Signifikant für den prophetischen ›Zufrühkommer‹ ist, dass das Zukünftige sich des Künstler-Mediums als Sprachrohrs bedient, wenn es rücksichtslos aus ihm spricht. Sein Scheitern ergibt sich aus seiner unzeitgemäßen Außenseiterposition, seiner Fremdartigkeit und dem ihm entzogenen Geltungszuspruch von Seiten seiner Rezipienten, die eine Charismatisierung seiner defektiven Stigmata verhindert.190 Dass Rilke im »Kunst-Essay« seine Apostel-Figuration nochmals reflektiert, ist naheliegend. Der Apostel verkehrt allerdings nicht nur die Maßstäbe, wenn er den Hass zugunsten der Liebe adelt, sondern er verkehrt auch den Zeitmaßstab, wenn er nicht sich, sondern das Liebesgebot als zu früh gekommen verdammt: Sie tun ein Werk der Liebe; ich geh in die Welt, um die Liebe zu töten. Wo ich sie fi nde, da morde ich sie. Und ich fi nde sie oft genug in Hütten und Schlössern, in Kirchen und in der freien Natur. Aber ich folge ihr unerbittlich. Und wie der starke Lenzwind die Rose bricht, die sich zu früh hervorgewagt, so vernichte ich sie mit meinem großen, zürnenden Willen: denn zu früh ward uns das Gesetz der Liebe.191

Er ist dementsprechend ein Paradebeispiel für den Künstler-Typus, aus welchem Gewalt wächst, welcher fremde Gebräuche verkörpert und welcher den »steinigen Pfad« der Ehrfurchtslosigkeit rücksichtslos beschreitet: Und wenn ich es in mir fühle heiß, innig und himmlisch, das stürmende Drängen nach Licht, und wenn ich mit festem Fuß den steilen, steinigen Pfad der Erreichung aufwärts

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Rilke, Über Kunst, S. 118. Rilke, Über Kunst, S. 115. Rilke, Über Kunst, S. 115. Ganz ähnlich ergeht es dem Propheten Daniel in Thomas Manns Erzählung »Beim Propheten«: Während ein Bankier in »Der Apostel« nach Anhörung des Strafgerichts gelangweilt zur »Hummerpastete« (Rilke, Der Apostel, S.  52) greift, distanziert sich der Novellist in »Beim Propheten« durch eine Schinkensemmel-»Vision« (Th. Mann, Beim Propheten, S. 292). Rilke, Der Apostel, S. 49 [Hervorhebung, GW].

steige, und wenn ich es leuchten sehe, das lodernde, göttliche Ziel, dann soll ich mich zu dem Krüppel bücken, der am Wege zusammengesunken dahockt, soll ihn loben, aufrichten, mitschleppen und soll meine fiebernde Kraft versickern lassen in dem ohnmächtigen Kadaver, der nach wenigen Schritten doch wieder hintaumelt? –192

Ist im »Kunst-Essay« schließlich die Rede von der Rücksichtslosigkeit des Zukünftigen, die sich des passiven Elements des Künstlers bedient, ist die Apostel-Gestalt hingegen noch von der aktiv-aggressiven Seite dessen geprägt, der die Rücksichtslosigkeit seines Willens auszuleben vermag, denn: »nur der ›Eine‹, der Große, den der Pöbel haßt im dumpfen Instinkte eigener Kleinheit, kann den rücksichtslosen Weg seines Willens mit göttlicher Kraft und sieghaftem Lächeln wandeln. –«193 In Nietzsches erstem Teil von Also sprach Zarathustra (1883) wird die Liebe zur Zukunft gegen eine Nächstenliebe ausgespielt: »Rathe ich euch zur Nächstenliebe? Lieber noch rathe ich euch zur Nächsten-Flucht und zur Fernsten-Liebe! Höher als die Liebe zum Nächsten ist die Liebe zum Fernsten und Künftigen […]. Die Zukunft und das Fernste sei dir die Ursache deines Heute.«194 Und auch der tolle Mensch, der im berühmten Aphorismus 125 der Fröhlichen Wissenschaft den Tod Gottes verkündet, wird als ›Zufrühkommer‹ beschrieben: Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert, — es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden.195

In Rilkes Vorführung des regressiven ›Vorzeitzustands‹, des kriegerischen Naturzustandes des Rechtes des Stärkeren bleibt für die Propheten-Figuration, die subjektiveigenmächtig explizit im Kampf gegen den Gott der Liebe handelt, die ›Umkehr der Welt‹ allerdings heuristischer Zielpunkt. Blickt man auf den »Kunst-Essay«, ist dennoch nachvollziehbar, welche Aspekte der frühen Propheten-Figuration Rilke betont: Es ist der visionäre Blick des Künstlers, der separiert von der Gemeinschaft mit seiner fremdartigen Rede versagt. Fremd muten nicht nur sein Habitus und seine Gebärde an, sondern auch seine prophetische Rede, die durch eine Metaphorik unmittelbarer Gewalt gekennzeichnet ist. Die Koinzidenz von Gestalt und sprachlichem Modus der prophetischen Figur ist offensichtlich, eine Nähe zu Nietzsches Zarathustra erkennbar: Auch Zarathustra wird im Gewand des Propheten mit ›Wortblitz‹ vorgeführt, wie oben gezeigt. In »Der Apostel« werden das Mitleid als »jauchzende Flamme«196 und die Worte der Gesellschaft als »Feuerfunken«197 beschrieben, die gerade vom ›Donnerschlag‹, dem »heiße[n] Gewitter« und der sturmgleichen Tirade des Apos-

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Rilke, Der Apostel, S. 50 [Hervorhebung, GW]. Rilke, Der Apostel, S. 51. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 77f. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 125, S. 480. Rilke, Der Apostel, S. 51. Rilke, Der Apostel, S. 47.

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tels gelöscht werden sollen.198 Der Figur des Apostels entspringt sozusagen ebenfalls ein ›entfesselter Stil‹.199 Schlaffers oben dargelegte Stil- und Typ-Analyse lässt sich auf den Auftritt und die Rede des Apostels applizieren: Insbesondere das Wort, das zur Tat drängt, prägt die Vision des Apostels. Wie in Kapitel II.3.1 dargelegt, kursieren seit Nietzsche zwei Seiten des Autors: der im Zeichen heiliger Autorschaft monumental gewachsene Künstler und der Künstler auf der Schwundstufe des Vergehens.200 Die Apostel-Figur verkörpert den über eine ungeheure Redemacht verfügenden Künstler, der hier erstmals bei Rilke mit der Metaphorik des Gewitters verbunden ist und eine Ästhetik des Erhabenen alludiert. Bei Pseudo-Longin besteht die gewaltige Wirkung des Erhabenen darin, dass es, »wo es am rechten Ort hervorbricht, den ganzen Stoff wie ein plötzlich zuckender Blitz zerteilt und schlagartig die geballte Kraft des Redners offenbart«201 und »daß nichts so sehr wie echtes Pathos am rechten Ort einen erhabenen Eindruck macht, daß es wie aus Entzückung und Eingebung einen Hauch von Begeisterung verströmt und die Rede gleichsam mit prophetischer Macht erfüllt«202. So sehr des Apostels Prophezeiung übersteigert auf eine ›Gewalt des Augenblicks‹ ausgerichtet ist, so sehr unterliegt seine Figur indes einer unfreiwilligen Komik, ähnlich wie Thomas Manns Prophet in »Beim Propheten«. Die Nähe von Prophetie und Parodie/Komik bildet auch den Auftakt von Rilkes Beschäftigung mit prophetischen Figuren. Gleichzeitig scheint diese Konstellation Anlass zu geben, die Nähe von Künstlertum und Prophetentum ›ernsthafter‹ auszugestalten. V.3.2. Der Prophet als Zufrühkommer: Naturpoetik (»Der Totengräber«) Geradezu als Zwilling des Apostels, als ›geheimer Bruder‹ unter umgekehrtem Vorzeichen und damit als weitere prophetische Künstler-Gestalt ist die Figur des Totengräbers in den Blick zu nehmen. Diese partizipiert zwar auch am programmatischen Künstler-Typus des einsamen Außenseiters (wie im »Kunst-Essay« beschrieben),203

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Rilke, Der Apostel, S. 50. Vgl. Schlaffer, Das entfesselte Wort. Vgl. Vietta u. Kemper, Einleitung. In: Ästhetische Moderne in Europa, S. 31. Longinus, Vom Erhabenen, S.  7. Als Lehrbuch für Rhetoriker gesteht Longinus dem Inspirationstopos wieder sein Recht zu, denn der Redner müsse enthusiasmiert sein, also Talent haben, aber auch seine technische Schulung sei vonnöten (vgl. u.a. Kohl, Poetologische Metaphern, S. 58–61). Longinus, Vom Erhabenen, S. 21. Volker Mergenthaler ist bisher der einzige Interpret, der der frühen Erzählung Rilkes eine gebührende Beachtung schenkt und der immanenten Poetik von Rilkes »Totengräber«-Erzählung ebenfalls auf den Grund geht. Er nimmt allerdings nicht den »Apostel« als Gegenstück in den Blick und identifiziert den Totengräber-Künstler als einzigartige Ausgestaltung von Rilkes »Kunst-Essay«, ohne Differenzen zu benennen (vgl. V. Mergenthaler, »Einer, der zu früh gekommen ist«. Zur immanenten Poetik von Rilkes »Totengräber«-Erzählung. In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne, 16, 2008, S. 139–156, S. 142).

verkörpert indes als Gegenstück zum Apostel eine prophetische Sendung der Nächstenliebe, der Ehrfurcht und der Gewaltlosigkeit im Symbol der Rose gefasst, die der Apostel – wie oben erwähnt – als zu früh gekommene Werte degradiert: »Und wie der starke Lenzwind die Rose bricht, die sich zu früh hervorgewagt, so vernichte ich sie mit meinem großen, zürnenden Willen: denn zu früh ward uns das Gesetz der Liebe.«204 Die symbolische Vernichtung der Rose und die Destruktion des Gesetzes der Liebe thematisiert Rilke erneut und schreibt damit indirekt die Provokation des Apostels mit seinem Totengräber-Antagonisten fort: So wird in Rilkes früher, wenig beachteter Erzählung »Der Totengräber«205 (1903, entstanden 1899/1900, ursprünglich »Der Grabgärtner« tituliert) geschildert, wie ein aus dem Norden hergereister Fremder das vakante Amt des Totengräbers in San Rocco antritt und auf denkbar merkwürdige Weise verübt, indem er nämlich den traurigen Schauplatz des Friedhofes in ein Blumenmeer, einen locus amoenus verwandelt. Im »rätselhaften Schlusssatz«206 ist die Parallele zum zu früh gekommenen Künstler und zum scheiternden Apostel angezeigt: »Und so geht er langsam aus seinem Garten, in die Nacht: ein Besiegter. Einer, der zu früh gekommen ist, viel zu früh.«207 Der mit Edelmannszügen auftretende Fremde ist eine sonderbare ProphetenFiguration,208 da er letztlich selbst gegen das Endgericht Gottes ankämpft , welches seine Liebes-Poetik in Frage stellt. Als Totengräber mit Künstlerzügen verkörpert er den Versuch einer allumfassenden Verlebendigung, einer Vitalisierung der Grabkultur, im übertragenen Sinn eine allharmonisch-paradiesische Sprache: Er stellt eine harmonische Naturpoetik im Zeichen des Schönen vor, die einen Gegenpol zur erhabenen Rede-Gewalt des Apostels darstellt. So modelliert er mittels Blumenkunst den Friedhof nicht nur zu »einem kleinen, stillen Fest«209 als Trost für Besucher,210 sondern bringt die Erde zum Sprechen, »daß man meinen konnte, der schwarze Mund der Erde habe sich nur aufgetan, um Blumen zu sagen, tausend Blumen«211. Sogar der Rhythmus seines Grabens leitet die Gespräche zwischen ihm und seiner neugefundenen Geliebten,212 der sechzehnjährigen Bürgermeistertochter Gita, die

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Rilke, Der Apostel, S. 49 [Hervorhebung GW]. Rilke, Der Totengräber. In: Rilke, Werke, Bd. 3: Prosa und Dramen, hg. von August Stahl, Frankfurt am Main 1996, S. 441–453. Bernard Dieterle, Erzählungen. In: Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Manfred Engel unter Mitarbeit von Dorothea Lauterbach, Stuttgart; Weimar 2004, S. 239– 263, S. 247. Vgl. Mergenthaler, »Einer, der zu früh gekommen ist«, S. 141. Rilke, Der Totengräber, S. 452. Mergenthaler sieht in ihm ebenfalls einen »prophetischen Künstler« (Mergenthaler, »Einer, der zu früh gekommen ist«, S. 142 u. S. 155). Rilke, Der Totengräber, S. 443. Dass der vom Totengräber arrangierten »schönen Blütenpracht« eine »Trostfunktion« zukommt, betont auch Mergenthaler (Mergenthaler, »Einer, der zu früh gekommen ist«, S. 144). Rilke, Der Totengräber, S. 443. Vgl. Rilke, Der Totengräber, S. 444.

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beide bisweilen gemeinsam in »Schweigsamkeiten« schwelgen, »in denen die Dinge zu ihnen redeten«213. Die mystisch konnotierte Selbstaussprache der Dinge ist für den frühen Rilke zentral.214 In der Einsamkeit erfährt und erkennt auch Zarathustra, dass dort das lebendige Werden pulsiert: »Hier springen mir alle Seins Worte und WortSchreine auf: alles Sein will hier Wort werden, alles Werden will hier von mir reden lernen.«215 In der zweiten Fassung von Rilkes »Aufzeichnung über Kunst« (1898) ist der Wunsch der Dinge, mittels der Kunst Sprache zu werden, ähnlich ausgeführt: Die Kunst ist der dunkle Wunsch aller Dinge. Sie wollen alle Bilder unserer Geheimnisse sein. […] Das ist das Rufen, das der Künstler vernimmt: der Wunsch der Dinge, seine Sprache zu sein. Er soll sie aus den schweren unsinnigen Beziehungen der Konvention in die großen Zusammenhänge seines Wesens heben.216

Kunst und Leben/Lieben, der Künstler und die Elemente der Natur bilden (scheinbar) eine versöhnliche Einheit, denn der Totengräber lebt in der Überzeugung, »daß das Leben stärker ist als der Tod«217. Seine Kunst gestaltet die Lebendigkeit des Toten, gibt den Toten ein lebendiges Angesicht, indem er die Natur, in deren Kreislauf die Toten eingebettet sind, ästhetisiert. Sofern seine Blumenkunst Ordnung stiftet, verleiht sie mittels der Signatur des Schönen dem Bereich des zerstörenden Todes einen Sinn. Im frühen Gedicht »Allerseelen« aus dem Gedichtband Larenopfer (1895) wird der Grabgärtner ebenfalls als rosenliebhabender Sinnstifter aufgeführt: Allerseelen I Rings liegt der Tag von Allerseelen voll Wehmut und voll Blütenduft , und hundert bunte Lichter schwelen vom Feld des Friedens in die Luft. Sie senden Palmen heut und Rosen; der Gärtner ordnet sie mit Sinn – und kehrt zum Ort der Glaubenslosen die alten, welken Blumen hin. […]218

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Rilke, Der Totengräber, S.  445. Auch im ›Chandos-Brief‹ wird das Ideal einer Sprache benannt, »in welcher die stummen Dinge zuweilen zu mir sprechen« (Hofmannsthal, Ein Brief, S.  52). Die Bezeichnung »modrige Pilze« für zerfallene Begriffe ist ein berühmter Topos im ›Chandos-Brief‹, der übrigens auch bei Nietzsche zu finden ist: »Aber dem Pilze gleich ist der kleine Gedanke: er kriecht und duckt sich und will nirgendswo sein – bis der ganze Leib morsch und welk ist vor kleinen Pilzen« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 115). Vgl. Spörl, Gottlose Mystik, S. 311f. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 232. Rilke, Aufzeichnung über Kunst. In: Rilke, Werke, Bd. 4, S. 91f. Rilke, Der Totengräber, S. 444. Rilke, Allerseelen. In: Larenopfer. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 24f., S. 24.

Hier wie dort ist der Totengräber indes mit Gegenspielern, den Glaubenslosen, konfrontiert, die die letzte Würde des Menschen – seine ewige Ruhestätte – mit Füßen treten. Vorgewarnt durch einen »bösen Traum« beginnt eines Tages die »ernsthafte Arbeit« für den Totengräber:219 Die paradiesische Züge tragende Zeit ist vorbei, das an das Hohelied gemahnende Liebesglück des Totengräbers und seiner Geliebten steht auf dem Prüfstand.220 Eine Art Gericht Gottes, versinnbildlicht durch die einbrechende Pest, bricht in San Rocco ein.221 Die Dorfbewohner machen den Fremdling für den Ausbruch der Pest verantwortlich, da er durch seine Vorbereitung frischer Gräber provokativ neue Tote beschwöre. Der Totengräber begegnet dieser Denunziation damit, dass er zum standhaften »Stein«222 wird, die Toten – auch seine von den aufgebrachten Dorfbewohnern gesteinigte Geliebte – begräbt, sein »Spaten die einzige Stimme in der Nacht wird«223, er gegen die Sendung Gottes (den »bösen Traum«) arbeitet, im Wissen: »[...] so lang er Herr ist hier, in diesen vier Hecken, so lang er hier ordnen kann und bauen, und wenigstens außen, wenigstens durch Blumen und Beete, diesem wahnwitzigen Zufall einen Sinn geben und ihn mit dem Land ringsherum versöhnen und in Einklang bringen kann, so lange hat der andere nicht Recht, und es kann ein Tag kommen, wo er – der andere – müd wird, nachgibt.«224 Der Fremde ist also ein abtrünniger Prophet, ein Eingeweihter zwar, der aber widerstreitet, bis zu seiner Erschöpfung, woraufhin er als »Besiegter«225 mit gesenkter Stirn geht. Sein Fortgehen ist aber kein Zugeständnis an die Herrschaft des Todes, vielmehr kann es auf die von ihm zuvor erzählte Liebesgeschichte des Mannes in der Binnenerzählung (vermutlich seine selbst erlebte Geschichte)226 bezogen werden, der Reste des Lebens seiner verstorbenen Frau in aufgegangenen Rosenknospen, die ihre toten Augen bedecken sollten, konserviert:227 Der symmetrischen Anordnung des Friedho-

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Rilke, Der Totengräber, S. 448–449. Der Vergleich der Geliebten mit einer Blume (vgl. Hld 2, 1), mit einem verschlossenen (Lust-)Garten (vgl. Hld 4, 12), die Entfachung der Liebe durch den ›Zauberblick‹ (Rilke, Der Totengräber, S.  441; vgl. Hld  4,  9), das Singen der Nachtigall zum Liebesglück (vgl. Rilke, Der Totengräber, S.  443), Gitas Warnung an den Fremden: »Flieh, flieh!« (Rilke, Der Totengräber, S. 449; Hld 8, 14), das Leitmotiv von der Macht der Liebe über den Tod (Rilke, Der Totengräber, S. 444; vgl. Hld 8, 6) rufen den locus amoenus und hortus conclusus des Hohenliedes auf, verbinden ihn mit der Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies und mit dem Topos vom Gottes-Gericht. Als ›Sündenfall‹ wird der ›Wille‹ der Menschen zum Tode alludiert, der »Wille, der nicht spricht, und der fiel, fiel auf den Tod zu, wie die Frucht vom Baum« (Rilke, Der Totengräber, S. 445) und ferner die Liebe, d.h. »aneinander schuldig werden« (Rilke, Der Totengräber, S. 448). Der Heilige San Rochus ist ein Schutzpatron gegen die Pest. Rilke, Der Totengräber, S. 450. Rilke, Der Totengräber, S. 451. Rilke, Der Totengräber, S. 451. Rilke, Der Totengräber, S. 452. Vgl. Mergenthaler, »Einer, der zu früh gekommen ist«, S. 147 u. S. 150. Auch der Totengräber deckt Gita »mit Blumen zu« (Rilke, Der Totengräber, S. 450), sie, die von einem Stein an der Stirn getroffen umkam. Zuvor wurde er zu »Stein« (Rilke, Der

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fes korrespondiert in der Erzählung die Einbettung der Binnen- in die Rahmenhandlung.228 Damit der Mann die toten Augen seiner Frau nicht sehen muss, legt er ihr nämlich »zwei späte harte Rosenknospen«229 auf ihre Lider, die – wie die Sprache, die sprechenden Blumen – ihr ›anderes‹ Leben konservieren, dieses vor der Gewalt des Todes retten: »Das Gesicht gewöhnte sich an den Tod, aber die Rosen gingen auf wie Augen, welche in ein anderes Leben schauten. [...] In ihnen, die vor Schwere schwankten, trug er ihr Leben, den Überfluß ihres Lebens, den auch er nie empfangen hatte.«230 Obwohl er das Dorf schließlich verlässt, hält er daran fest, »daß die Menschen nicht zu einander können, die Lebenden nicht und nicht die Toten. Und das ist ihr Elend, nicht, daß sie sterben«231. Gegenspieler des Totengräbers ist also nicht ein zürnender Gott oder der Tod, sondern die Lieblosigkeit der Menschen. Präludiert wird in Rilkes früher Erzählung bereits eine schwebende Sphäre zwischen Totenreich und Leben, die kraft der Liebe auf dem Feld des Ästhetischen als tröstendes Bollwerk gegen die sündhafte Entzweiung der Menschen und das drohende Strafgericht kurzzeitig überbrückt wird. Schließlich ist die vernichtende Übermacht ›des Anderen‹ unbeugsam, weil sie an den verrohten Umgang der wahnsinnigen Menschen, ihre Liebesunfähigkeit im Allgemeinen und ihren lieblosen Umgang mit den Toten im Besonderen rückgekoppelt ist. Die Pest symbolisiert schließlich die Ehrfurchtslosigkeit der Dorfbewohner und verweist damit auf eine mangelnde ethisch-sittliche Komponente: »Würden gelten nicht mehr«232, heißt es lapidar als Kommentar zur wegen der Pest aus den Fugen geratenen Situation im Dorf. Die ästhetische Erziehung der Dorfbewohner zum Sittlich-Schönen scheint genauso misslungen wie die ›Sendung‹ des Apostels. Provoziert von der pietätlosen Leichenschändung Pippos wird der Totengräber zuletzt selbst zum Mörder: Sein Spaten trifft den Frevler Pippo tödlich; er lässt die Leiche unbegraben liegen und geht. Präludiert wird in Rilkes früher Erzählung nicht nur eine Propheten-Figuration, sondern auch deren poetologisches Reflexionspotential. Die tröstende Ordnungspoetik des Totengräbers ist einerseits als Erinnerungspoetik zu lesen, »als Metapher einer auf Schönheit und Sinnstiftung ausgerichteten Dichtkunst«233, deren Zeit nur scheinbar abgelaufen ist, denn die Erzählung selbst konserviert freilich ›das heilige Leben‹ der Toten in ihrer ihr eigenen schönen Anordnung.234 Andererseits stellt sie

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Totengräber, S. 450) und bat sie, fortzugehen; am Ende – nach seiner Mordtat – senkt er die Stirn. Vgl. Mergenthaler, »Einer, der zu früh gekommen ist«, S. 151. Rilke, Der Totengräber, S. 446. Rilke, Der Totengräber, S. 447. Rilke, Der Totengräber, S. 448. Rilke, Der Totengräber, S. 451. Mergenthaler begreift dementsprechend »das Zusammenspiel von Totengräber-Figur und -Erzählung als Modell einer vom prophetischen Dichter hervorzubringenden Dichtung [...], als Modell einer Erzählkunst, die an den Forderungen der Realität – noch – scheitern muß« (Mergenthaler, »Einer, der zu früh gekommen ist«, S. 145 u. 155). Vgl. Mergenthaler, »Einer, der zu früh gekommen ist«, S. 148f.

eine visionäre Poetik vor, die aus dem Zirkel, der ›Wiederkehr des Immergleichen‹ auszubrechen versucht, was in eine Aporie führt: Der Totengräber wirft schließlich den Spaten als Signatur für das Kunstwerkzeug weg: Das Sagen des Schönen ist bisher nur jenseits der Gemeinschaft möglich, oder – um mit Volker Mergenthaler zu sprechen – nur an einem ›Andersort‹235, der in seiner Abgeschiedenheit als Friedhof vom Leben klar getrennt ist. Nicht nur die sich aus den prophetischen Figuren ergebenden Ethiken, sondern auch ihre Poetiken erscheinen unzeitgemäß. In der Anlage der Erzählung ist des Weiteren angezeigt, wie der Künstler gegen den ›bösen Traum‹, die Eingebung, arbeitet – und dies nicht als inspiriertes Medium, sondern als homo faber: Aus dieser Propheten-Figuration redet das Zukünftige noch nicht rücksichtslos, sie stellt vielmehr eine Arbeit an der Zukunft (auch von Rilkes eigener Dichtung) vor. Auch die Eigenständigkeit des Kunstwerks, das losgelöst von seinem Urheber bestehen kann, wird durch das Fortgehen des Totengräbers betont. Im »Kunst-Essay« liest man: Diese Selbstständigkeit des Kunstwerkes ist die Schönheit. […] Wir müssen es aussprechen, daß das Wesen der Schönheit nicht im Wirken liegt, sondern im Sein. […] Aber sie [die Künstler] sind Zufrühgekommene. Und was sich ihnen nicht löst im Leben, das wird ihr Werk.236

Die Signatur des Schönen – eingebettet in die Rosenmetaphorik und das alludierte Liebesparadies des Hohenliedes – verweist genauer darauf, dass der Künstler der Welt einen ästhetisch vermittelten Sinn mittels harmonisch-symmetrischer Anordnung seiner Kunstwerküberformung abzugewinnen sucht, wenn auch angesichts größter existentieller Not. Das ›Blumen-Sagen‹ ist im Übrigen schon bei Hölderlin als Sprache einer gottfernen Zeit gekennzeichnet, etwa in seiner berühmten Elegie »Brod und Wein«:237 So ist der Mensch; wenn da ist das Gut, und es sorget mit Gaben Selber ein Gott für ihn, kennet und sieht er es nicht. Tragen muß er, zuvor; nun aber nennt er sein Liebstes, Nun, nun müssen dafür Worte, wie Blumen, entstehn.238

Besonders die Rosenmetaphorik, seine »Rosenphilosophie«239 wird Rilke fortschreiben: Auf seinem Grabstein sind die folgenden Zeilen zu lesen: »Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, / Niemandes Schlaf zu sein unter soviel / Lidern.«240 Bereits im

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Vgl. Mergenthaler, »Einer, der zu früh gekommen ist«, S. 154. Rilke, Über Kunst, S. 115, S. 116 u. S. 119. In Hölderlins Hymne »Germanien« ist ferner von der dichterischen »Blume des Mundes« die Rede (vgl. Hölderlin, Germanien. In: StA, Bd. 2/1, S. 151). Hölderlin, Brod und Wein. In: StA, Bd. II/1, S. 92f. Raddatz, Rilke, S. 113–115. Diese Verse sind auf Rilkes Grabstein auf dem Bergfriedhof in Raron eingemeißelt (vgl. Horst Nalewski, Rainer Maria Rilke, Leipzig 1976, S. 109). Vgl. zu Rilkes Grabschrift Joachim Wolff, Rilkes Grabschrift. Manuskript- und Druckgeschichte, Forschungsbericht, Analysen und Interpretation, Heidelberg 1983, S. 144–160).

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»Worpsweder Tagebuch« fungiert das Rosen-Motiv als Metapher für Zärtlichkeit, die einen neuen Morgen inkludiert: »Ich erfand mir eine neue Zärtlichkeit: eine Rose leise auf das geschlossene Auge zu legen, bis sie mit ihrer Kühle kaum mehr fühlbar ist und nur die Sanftmut ihres Blattes noch über dem Lid ruht wie Schlaf vor Sonnenaufgang.«241 Den Kontrast zwischen den zwei scheiternden, weil zu früh kommenden Propheten – dem Apostel und dem Totengräber – und ihren poetologischen Signaturen, einmal dem Erhabenen, Dionysischen, Ekstatischen und einmal dem Schönen, Apollinischen, Harmonischen, wiederholt indirekt, in Zusammenhang mit dem griechischen Kunstgott Apollo,242 das Auftaktgedicht der Neuen Gedichte: Früher Apollo Wie manches Mal durch das noch unbelaubte Gezweig ein Morgen durchsieht, der schon ganz im Frühling ist: so ist in seinem Haupte nichts was verhindern könnte, daß der Glanz aller Gedichte uns fast tödlich träfe; denn noch kein Schatten ist in seinem Schaun, zu kühl für Lorbeer sind noch seine Schläfe, und später erst wird aus den Augenbraun hochstämmig sich der Rosengarten heben, aus welchem Blätter, einzeln, ausgelöst hintreiben werden auf des Mundes Beben, der jetzt noch still ist, niegebraucht und blinkend und nur mit seinem Lächeln etwas trinkend, als würde ihm sein Singen eingeflößt.243

Produktionsästhetisch betrachtet ist der frühe Apollo auch ein Zufrühkommer, »ein noch schweigender Dichter«244. Der in Vers 9 genannte »Rosengarten« mag an die an das Hohelied angelehnte Poetik des Schönen in Rilkes »Totengräber«-Erzählung erinnern. Der fast tödlich treffende Glanz der Gedichte und des Gottes erinnert an den erleuchteten Apostel und seine Gewaltbereitschaft .245 Die Betonung

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Rilke, Worpsweder Tagebuch. In: Rilke, Tagebücher aus der Frühzeit, hg. von Ruth SieberRilke und Carl Sieber, Frankfurt am Main 1973, S. 257–358, Eintrag vom 27.09.1900, S. 259– 272, S. 259. Vielleicht wird das Scheitern des frühen Propheten auch in der »Achten Duineser Elegie« aufgriffen: »Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag, / den reinen Raum vor uns, in den die Blumen / unendlich aufgehn« (Rilke, Achte Duineser Elegie. In: Rilke, Werke, Bd. 2, S. 224–226, S. 224). Vgl. zur engen Verbindung zwischen den Musen und Apollon: Barmeyer, Die Musen, S. 59f. Rilke, Früher Apollo. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 449. Michael Kahl, Lebensphilosophie und Ästhetik. Zu Rilkes Werk 1902–1910, Freiburg im Breisgau 1999, S. 132. Vgl. Rilke, Der Apostel, S. 52.

der Augenbrauen, des Mundes Beben, das Einflößen des Singens weist voraus auf die Propheten-Gedichte Rilkes und auf das inspirative Moment, das dem lyrischen Ich widerfährt. So kann das Gedicht – hier rudimentär und in aller Kürze vorgestellt – auch als Scharnier zwischen Rilkes frühen Erzählungen und den »Neuen Gedichten« gelesen werden. Manfred Koch deutet hellsichtig den »Weg vom Auge zum Mund« als »Übergang vom Erhabenen (›fast tödlicher Glanz‹) zum Schönen (Rosenblätter)«246 an. Dichterisches Sprechen birgt die Kraft einer »Humanisierung einer göttlichen, sonnengleichen, Elementargewalt«247, wie sie uns bereits als – wenn auch im »Apostel« primitiv ausgestaltete – Elementargewalt des Künstler-Propheten bekannt ist. Dass gerade im Schönen das Erhabene geborgen bzw. domestiziert ist, wiederholen Verse aus der »Ersten Duineser Elegie«: »Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang.«248 Der Ausbruch des Erhabenen im Schönen wird dabei angekündigt, ohne allerdings scheinbar das Schöne sprengen zu können. Rilke könnte so an Nietzsches Vorstellung des in der Schwebe bleibenden Ausbruchs des Schrecklichen im Schönen anknüpfen.249 Im Gegensatz zu den frühen Erzählungen ist eine weitere Ästhetisierung prophetischer Figuren zu verzeichnen, die den ethischen Impetus mehr und mehr verdrängt. V.3.3.

Dichtung als Inspiration – Dichtung als Hand-Werk (Geschichten vom lieben Gott)

Für die Präsenz des poeta faber-Autorbildes im Verbund mit dem poeta-vates-Modell sei exemplarisch auf das Hand-Motiv verwiesen, das in Rilkes Œuvre omnipräsent ist.250 Dichtung ist für Rilke nicht nur inspirative Gabe, sondern im Wesentlichen auch ›Hand-Werk‹. Der Kunst-›Gott‹ ist vom Künstler abhängig und umgekehrt. Schon in seinen originellen Geschichten vom lieben Gott251 bildet den Auftakt der Erzählungen »Das Märchen von den Händen Gottes«. Aus Anlass eines Gesprächs des Erzählers mit seiner Nachbarin über deren neugierige Kinder, die seltsame Fragen über Gott stellten, werden »einfache Tatsachen«252, die zudem wahrhaftig seien, über Gottes Zwist mit seinen Händen beim Schöpfungsvorgang der Menschen berichtet: Demnach habe Gott bei voller Konzentration auf das für ihn lustvolle

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Koch, Der Gott des innersten Gefühls, S. 56. Koch, Der Gott des innersten Gefühls, S. 56. Rilke, Die erste Elegie. In: Rilke, Die Gedichte, S. 689. Vgl. Zelle zu Nietzsche: »Der ästhetische Schein ist in gegenstrebiger Weise an die negativen Energien des Schrecklichen gebunden, ›wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen‹, so daß ein Fragment bündig die Einsicht formuliert: »Es giebt keine schöne Fläche ohne eine schreckliche Tiefe« (Ende 1870–April 1871) (Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 332). Vgl. zur Autonomie von den Händen im Malte: Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 90ff. Rilke, Geschichten vom lieben Gott. In: Rilke, Werke, Bd. 3, S. 343–430. Rilke, Geschichten vom lieben Gott. Das Märchen von den Händen Gottes, S. 348.

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Formen des Menschen nach seinem Bilde die Welt zeitweilig aus dem Blick verloren. Ein Engel lügt daraufhin beim Gesang, dass Gott alles sehe, woraufhin dieser (erschüttert über die Vorhaltungen, dass er die katastrophalen Vorgänge auf Erden nicht sehe) seine Augen auf die Erde fi xiert, nur noch schaut und seine Hände ein Eigenleben beginnen, indem sie eigenhändig die Menschen formen, den ungeduldig menschwerdenden Klumpen versehentlich fallen lassen und daraufhin in Ärger mit Gott geraten, so dass sie nun seither selbstständig und defizitär agieren, denn: »[...] sie können nur beginnen, was sie auch tun. Ohne Gott gibt es keine Vollendung. Und da sind sie es endlich müde worden. Jetzt knien sie den ganzen Tag und tun Buße, so erzählt man wenigstens.«253 Der Zwist dauert voraussichtlich solange, »bis Gott wissen wird, wie der Mensch, den die Hände gegen seinen Willen losgelassen haben, aussieht«254. Des Künstlers Aufgabe ist es seither, am Menschenbild für Gottes gute Ansicht des Menschen zu werkeln, d.h. auch am Schöpfungsvorgang weiterzubasteln, selbst zum ›Ko-Schöpfer‹ zu werden. Denn die, die es ihm sagen werden, wie die Menschen nackt, d.h. wirklich sind, sind »einfach die Kinder und dann und wann auch diejenigen Leute, welche malen, Gedichte schreiben, bauen...«255. Die Motive Sehen und Hand-Werk/Formung finden so schon früh eine originelle Darstellung. Denn die beiden Basisorgane treten in ihrer Tätigkeit funktional auseinander; so ist Gottes Hand-Werk unbewusst vor sich gegangen, getrennt vom Sehen. Den Mythos von den eigenständigen Händen greift Rilke in seiner Rodin-Studie auf: »Es gibt im Werke Rodins Hände, selbstständige, kleine Hände, die, ohne zu irgend einem Körper zu gehören, lebendig sind. […] Es gibt eine Geschichte der Hände, sie haben tatsächlich ihre eigene Kultur, ihre besondere Schönheit.«256 Rodin beherrsche diese »Sprache der Hände«257. Auch im Malte ist die Eigenmächtigkeit der Hände mit dem Bewusstseinsausfall des kleinen Malte und seiner Vision vom zukünftigen, prophetischen Künstler korreliert, wie in Kapitel V.3.6. dargelegt.258 Das Ebenbild Gottes, der im Mikrokosmos tätige Schöpfer, ist, wie in der Geschichte »Von einem, der die Steine belauscht«, in analoger Form zu seinem Schöpfer tätig. Im Bild des Hand-Werkers und Bildhauers Michelangelo wird der Mythos vom Eigenleben der Hände weitergesponnen. Gott sieht und betrachtet den »schaffenden Mann« und dessen »am Steine horchende Hände«259. Da Gott gleichsam im Steine sei – so die pantheistische Wendung –, wird zunächst seine Abhängigkeit von den Künstler-Händen Michelangelos geschildert, da er hofft , von diesem aus der Enge des Steins befreit zu werden. Gemäß gnostischem und alchemistischem Gedankengut ist

253 254 255 256 257 258 259

216

Rilke, Geschichten vom lieben Gott. Das Märchen von den Händen Gottes, S. 351. Rilke, Geschichten vom lieben Gott. Das Märchen von den Händen Gottes, S. 351. Rilke, Geschichten vom lieben Gott. Das Märchen von den Händen Gottes, S. 351. Rilke, Auguste Rodin. Mit sechsundneunzig Abbildungen, Frankfurt am Main 1994, S. 31. Rilke, Auguste Rodin, S. 42, vgl. S. 50f. Vgl. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 88f. Rilke, Geschichten vom lieben Gott. Von einem, der die Steine belauscht, S. 391.

die im Stein befindliche göttliche Substanz, die materia prima, zu erlösen.260 Beim Entwurf des Grabmals von Julius wird dem Künstler eine Offenbarung zuteil: Lange stand Michelangelo vor seiner verhüllten Stirne. Plötzlich bemerkte er darunter zwei riesige Augen aus Stein, welche ihn betrachteten. Und Michelangelo fühlte seine Gestalt wachsen unter dem Einfluß dieses Blickes. Jetzt ragte auch er über dem Land, und es war ihm, als ob er von Ewigkeit her diesem Berg brüderlich gegenüberstände. Das Tal wich unter ihm zurück wie unter einem Steigenden, die Hütten drängten sich wie Herden aneinander, und näher und verwandter zeigte sich das Felsengesicht unter seinen weißen steinernen Schleiern. Es hatte einen wartenden Ausdruck, reglos und doch am Rande der Bewegung. Michelangelo dachte nach: ›Man kann dich nicht zerschlagen, du bist ja nur Eines‹, und dann hob er seine Stimme: ›Dich will ich vollenden, du bist mein Werk.‹ Und er wandte sich nach Florenz zurück. Er sah einen Stern und den Turm vom Dom. Und um seine Füße war Abend.261

Dem Wachsen des Inspirierten entgegenwirkend findet sich Michelangelo daraufhin in seiner engen Stube: Ihre Wände legten sich an ihn, und es war, als kämpften sie mit seinen Übermaßen und zwängten ihn zurück in die alte, enge Gestalt. Und er duldete es. Er drückte sich in die Knie und ließ sich formen von ihnen. Er fühlte eine nie gekannte Demut in sich und hatte selbst den Wunsch, irgendwie klein zu sein. Und eine Stimme kam: ›Michelangelo, wer ist in dir?‹ Und der Mann in der schmalen Kammer legte die Stirn schwer in die Hände und sagte leise: ›Du mein Gott, wer denn sonst?‹262

Den Wechsel zwischen der Größe des inspirierten Künstlers, der zum aktiven Schaffen schreitet, und seiner Demut und Geduld – wie er ihn v.a. Rodin zuschreibt – entwickelt Rilke also schon früh, und zwar am berühmten Propheten-Bildner der Sixtinischen Kapelle. Die Mitarbeit des Handwerkers unter Einbeziehung des strengen Gesetzes der Form, wie es für die Prophetengedichte und Rilkes Inspirationsverständnis von Bedeutung ist, ist auch Thema des folgenden Gedichts aus dem Stunden-Buch: Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz, an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen; du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen, du Wald, aus dem wir nie hinausgegangen, du Lied, das wir mit jedem Schweigen sangen, du dunkles Netz, darin sich flüchtend die Gefühle fangen. [...] Laß deine Hand am Hang der Himmel ruhn Und dulde stumm, was wir dir dunkel tun.263

260 261 262 263

Vgl. Heinrich Imhof, Rilkes Gott. R.M. Rilkes Gottesbild als Spiegelung des Unbewussten, Heidelberg 1983, S. 60. Rilke, Geschichten vom lieben Gott. Von einem, der die Steine belauscht, S. 392f. Rilke, Geschichten vom lieben Gott. Von einem, der die Steine belauscht, S. 393. Rilke, Ich liebe dich… In: Rilke, Das Stunden-Buch. Vom mönchischen Leben, S. 169.

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Das Ringen mit dem aufoktroyierten Gesetz – der Form des Gedichts und den Abhängigkeiten des Künstlers – wandelt sich in eine imperativische Geste, damit die Schöpferhand ruhe und die ›Ko-Schöpfer‹ die Kunstwerke selbstgenügsam erstellen können. V.3.4. Rilkes Propheten-Vorbilder: Rodin und Cézanne Als Vorbildmodelle für Rilkes Propheten-Figurationen Der Neuen Gedichte anderer Teil können sowohl der Bildhauer Auguste Rodin als auch der Maler Paul Cézanne gelten. Rilke entwirft Rodin wie George Mallarmé als einen vorbildhaften »Propheten oder Religionsstifter«264. In seiner »Rodin-Studie« – bestehend aus einer Monographie von 1903 und einem Vortrag von 1905, beide in endgültiger Form 1907 veröffentlicht –, die hagiographische Züge trägt, schildert Rilke seinen Vorgesetzten, bei dem er zeitweise als Privatsekretär in Paris beschäftigt war (von Mitte September 1905 bis Mitte Mai 1906),265 als weitsichtigen Propheten,266 aber auch als inspirierten Arbeiter mit Bezugnahme auf Rodins Maxime Oui, il faut travailler, rien que travailler. Et il faut avoir patience267: Und wenn er im Gespräch die Zumutung der Inspiration nachsichtig und mit ironischem Lächeln abschüttelt und meint es gäbe keine –, keine Inspiration sondern nur Arbeit, so begreift man plötzlich, daß für diesen Schaffenden die Eingebung dauernd geworden ist, daß er sie nicht mehr kommen fühlt, weil sie nicht mehr aussetzt, und man ahnt den Grund seiner ununterbrochenen Fruchtbarkeit. [...] Für Rodin’s einfache und einheitliche Natur, die über unglaubliche Kraft vorräte verfügt, war diese Lösung möglich; für sein Genie war sie notwendig; nur so konnte es sich der Welt bemächtigen. Zu arbeiten wie die Natur arbeitet, nicht wie Menschen, das war seine Bestimmung.268

Dauer-Inspiration, Weltbemächtigung und das Arbeiten gemäß der Natur sind die Kennzeichen eines Künstler-Propheten wie Rodin. Sein prophetisches Sehen verleihe seinen Plastiken ferner »prophetische Größe«, und zwar vor allem mittels seiner »Macht, Vergangenes zum Unvergänglichen zu erheben«269: Voll von seines ganzen Wissens lebendiger Last, sah er wie ein Zukünftiger in die Gesichter derer hinein, die um ihn lebten. Das giebt [sic] seinen Porträts die ungemein klare Be-

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Michaela Kopp, Rilke und Rodin. Auf der Suche nach der wahren Art des Schreibens, Frankfurt am Main u.a. 1999, S. 62. Vgl. Kommentar. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 905. Vgl. Rilke über Rodin: »Und soll man sagen, was von dieser Erscheinung [Rodins] ausgeht, so ist es dieses: daß sie zurückzureichen scheint wie ein Flußgott und vorauszuschauen wie ein Prophet« (Rilke, Auguste Rodin, S. 87). Vgl. Kopp, S. 62f. Rilke u. Auguste Rodin, Der Briefwechsel und andere Dokumente zu Rilkes Begegnung mit Rodin. Mit Abbildungen, hg. von Rätus Luck, Frankfurt am Main 2001, S.  11; vgl. Rilke, Brief an Lou Andreas-Salomé vom 10. August 1903. In: Rilke, Briefe in zwei Bänden, Bd. 1, S. 154–159, S. 156. Rilke, Auguste Rodin, S. 89f. Rilke, Auguste Rodin, S. 54.

stimmtheit, aber auch jene prophetische Größe, die in den Bildern des Victor Hugo oder des Balzac sich zu einer unbeschreiblichen Vollendung erhob. Ein Bildnis schaffen hieß für ihn, in einem gegebenen Gesichte Ewigkeit suchen, jenes Stück Ewigkeit, mit dem es teilnahm an dem großen Gange ewiger Dinge. Er hat keinen gebildet, den er nicht ein wenig aus den Angeln gehoben hätte in die Zukunft hinein; wie man ein Ding vor den Himmel hält, um seine Formen reiner und einfacher zu verstehen. Das ist nicht, was man verschönern heißt, und auch charakteristisch machen ist kein passender Ausdruck dafür. Es ist mehr; es ist: das Dauernde vom Vergänglichen scheiden, Gericht halten, gerecht sein.270

Prophetische Kunst umschreibt Rilke hier als eine Art Gerichthalten des ProphetenKünstlers – Vorbild ist u.a. auch der ›Seher‹ Dante mit seiner Divina Commedia als Vorlage für Rodins »Höllentor« –,271 aber nicht im Sinne der prophetischen Richter, die eine anstößige Wirklichkeit brandmarken und Menschen zur Umkehr aufrufen, indem sie Gottes drohendes Gericht prophezeien, sondern im Sinne einer prophetischen Zukunftsschau, die das Vergängliche vom Ewigen absondert und so mittels Kunst die Ewigkeit modelliert. Wie der Apostel und der Totengräber agiert Rodin als ein »Zukünftiger«, nur ohne ethische Ausrichtung gegenüber einer Gemeinde. Seine ethische Haltung ist auf eine ›gerechte‹ Behandlung der Kunstdinge ausgerichtet. Die Zukunfts- und Ewigkeitsgewandtheit der Kunst-Dinge verleihen ihnen visionäre Züge, sogar überweltlichen Status, wie Rilke an anderer Stelle in seiner kleinen Abhandlung »Kunstwerke« von 1902 schreibt: Denn das, was die Kunstwerke unterscheidet von allen anderen Dingen, ist der Umstand, daß sie gleichsam zukünftige Dinge sind, Dinge, deren Zeit noch nicht gekommen ist. Die Zukunft, aus der sie stammen, ist fern; sie sind die Dinge jenes letzten Jahrhunderts, mit welchem einmal der große Kreis der Wege und Entwicklungen sich schließt, sie sind die vollkommenen Dinge und Zeitgenossen des Gottes, an dem die Menschen seit Anbeginn bauen und den sie noch lange nicht vollenden werden.272

Visionäre Kunstwerke sind Boten eines ›evangelischen Zeitalters‹, analog zu ihnen sind ihre Künstler prophetische ›Zufrühkommer‹. Rodin gleiche ferner einem furchteinflößenden Genie. Einem Prometheus vergleichbar schafft der Künstler mit seinen Händen die Welt neu, indem er sie durch Konzentration, die Fülle und das Fließende umwandelnd, fasst und verdichtet: Denn das Innere, das diese Zeit ausmacht, ist ohne Form, unfaßbar: es fließt. Dieser hier mußte es fassen; er war ein Former in seinem Herzen. Er hat alles das Vage, Sich-Verwandelnde, Werdende, das auch in ihm war, ergriffen und eingeschlossen und hingestellt wie einen Gott; denn auch die Verwandlung hat einen. Als ob einer ein dahinstürzendes Metall aufh ielte und es erstarren ließe in seinen Händen. Vielleicht erklärt es einen Teil des Widerstandes, der sich diesem Werke überall entgegenstemmte, daß hier Gewalt geschah. Das Genie ist immer ein Schrecken für seine Zeit; aber indem hier eines die unsere nicht

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Rilke, Auguste Rodin, S. 47. Vgl. Rilke, Auguste Rodin, S. 19, S. 34f. Rilke, Kunstwerke. In: Rilke, Werke, Bd. 4, S. 303f., S. 303.

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nur im Geiste, sondern auch im Verwirklichen fortwährend überholt, wirkt es furchtbar, wie ein Zeichen am Himmel.273

Als »Zeichen am Himmel«, das die eigene Zeit transzendiert, agiert Rodin als prophetischer Richter seiner Zeit, gerade wie der ungelenke Apostel Rilkes oder sein Totengräber, nur – wie gesagt – ohne direkten Bezug zur Außenwelt, so dass seine Gewalt auf den Bereich der Kunstschöpfung konzentriert ist. Das prophetische Gerecht-Sein des Künstlers impliziert ferner eine Annahme der »Abgeschlossenheit« der Dinge. Denn das Kunstwerk »mußte irgendwie unantastbar werden, sakrosankt, getrennt vom Zufall und von der Zeit, in der es einsam und wunderbar wie das Gesicht eines Hellsehers aufstand«274. Doch geht diese beschworene Abgeschlossenheit der Dinge nicht mit einer Entpersönlichung des Künstlers einher, sondern seine Fähigkeit zu Transformation des Stoffes »in Sachliches und Namenloses: in die Sprache der Hände«275, machen die Kunstwerke gerade wieder zur »Offenbarung seiner Persönlichkeit«276. ›Sachliches Sagen‹ und prophetisches Künstlerbild harmonieren. Die ›prophetische Größe‹ der Dinge offenbart das ›prophetische Gesicht‹ ihres Meisters und umgekehrt. Ebenso antwortet dieser auf die Gnade der Offenbarung mit der Meisterschaft seiner Kunst: Aber dieser Schaffende lebt so sehr unter seinen Dingen, ganz in der Tiefe seines Werkes, daß er Offenbarungen gar nicht anders empfangen kann, als nur mit den schlichten Mitteln seiner Kunst. Neues Leben heißt für ihn letzten Sinnes nur: neue Oberflächen, neue Gebärden. […] Man wird einmal erkennen, was diesen großen Künstler so groß gemacht hat: daß er ein Arbeiter war, der nichts ersehnte, als ganz, mit allen seinen Kräften, in das niedrige und harte Dasein seines Werkzeugs einzugehen. Darin lag eine Art von Verzicht auf das Leben; aber gerade mit dieser Geduld gewann er es: denn zu seinem Werkzeug kam die Welt.277

Deutlich wird in Rilkes Rodin-Hommage, dass jenseitige Dinge nicht geschenkte Gnadenakte ›von oben‹ sind, sondern Produkte des natürlichen Schaffensdrangs der Arbeiter-Künstler. Den Künstler Rodin zeichnet einerseits ein perfektes Beherrschen seiner Technik aus; und andererseits ist sein absichtloses Wirken angewiesen auf die Hinabkunft des Schönen, denn: Niemand hat je Schönheit gemacht. Man kann nur freundliche oder erhabene Umstände schaffen für Das [sic!], was manchmal bei uns verweilen mag: einen Altar und Früchte und eine Flamme – Das Andere steht nicht in unserer Macht. Und das Ding selbst, das, ununterdrückbar, aus den Händen eines Menschen hervorgeht, ist wie der Eros des Sokrates, ist ein Daimon, ist zwischen Gott und Mensch, selber nicht schön, aber lauter Liebe zur Schönheit und lauter Sehnsucht nach ihr. Nun stellen Sie sich vor, wie diese Einsicht, wenn sie einem Schaffenden kommt, alles verändern muß. Der Künstler, den diese Erkenntnis

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220

Rilke, Auguste Rodin, S. 103. Rilke, Auguste Rodin, S. 16. Rilke, Auguste Rodin, S. 42. Rilke, Auguste Rodin, S. 43. Rilke, Auguste Rodin, S. 65f.

lenkt, hat nicht an die Schönheit zu denken; er weiß ebensowenig wie die Anderen, worin sie besteht. Gelenkt von dem Drang nach der Erfüllung über ihn hinausreichender Nützlichkeiten, weiß er nur, daß es gewisse Bedingungen giebt [sic!], unter denen sie vielleicht zu seinem Dinge zu kommen geruht. Und sein Beruf ist, diese Bedingungen kennen zu lernen und die Fähigkeit zu erwerben, sie herzustellen.278

Der Vergleich der Kunst-Dinge mit dem sokratischen Eros279 aktualisiert die platonische Schönheitslehre280 und unterzieht sie zugleich einer Materialisierung: Dem Wesen der Dinge gerecht zu werden heißt, selbst als Künstler die eigene Beschränkung auf das Machbare hinzunehmen, sich auf die Modellierung der Oberfläche zu konzentrieren. So wie das Ding ein Daimon ist, ist der Künstler ein prophetischer Mittler. Orientierungspunkt ist für ihn die veräußerlichte platonische Idee der Schönheit, denn im Grunde gibt es »nur eine einzige, tausendfältig bewegte und abgewandelte Oberfläche. In diesem Gedanken konnte man einen Moment die ganze Welt denken, und sie wurde einfach und als Aufgabe dem in die Hände gelegt, der diesen Gedanken dachte«281. Wie bei einer intellektualen Anschauung muss der Künstler das Ideal der »einen Oberfläche«282, eine Art ›Universalregister‹– »alle Leiber, alle Gesichter, alle Hände«283 – beherrschen, was einer gottgleichen Total-Schau gleichkommt. Georg Braungart erkennt folgerichtig in Rilkes »Semiologie der Oberfläche«284 auch eine »Erkenntnistheorie der Plastik«285. Die Gestaltung der Schönheit ist zudem nur unter einem interesselosen Blickwinkel des Künstlers in Kombination mit einer intransitiven Liebeseinstellung286 möglich; dadurch erlangen fertig modellierte Dinge »ihre Gelassenheit«287, »stille Würde«288 und Reinheit289, die wiederum dem »Gut-Machen«290, dem Arbeiten mit »reinstem Gewissen«291, der – unter ethischer Perspektive – gerechten Einstellung des Künstlers entspricht. Dabei ist das Zusammenspiel von Inspiration und Hand-Werk im Schaffen des prophetischen Künstlers entscheidend, wie es auch Manfred Koch herausstellt: Aus der Einsicht, daß es letztlich um ein Nicht-Herbeiführbares geht, ergibt sich für Rilke aber keine reine Poetik der Inspiration. Das Erlernen der Technik, die Einrichtung in einem nicht fi xierenden Erfahrungskontinuum ist keine zureichende, aber eine notwen-

278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291

Rilke, Auguste Rodin, S. 75f. Vgl. den Hinweis auf Rodins Platon-Lektüre: Rilke, Auguste Rodin, S. 99. Vgl. Platon, Symposion, bes. 202e f. u. 210a ff. Rilke, Auguste Rodin, S. 77. Rilke, Auguste Rodin, S. 79. Rilke, Auguste Rodin, S. 79. G. Braungart, Leibhafter Sinn, S. 257. G. Braungart, Leibhafter Sinn, S. 256. Vgl. Rilke, Auguste Rodin, S. 80. Rilke, Auguste Rodin, S. 74. Rilke, Auguste Rodin, S. 74. Vgl. Rilke, Auguste Rodin, S. 81. Rilke, Auguste Rodin, S. 80. Rilke, Auguste Rodin, S. 80.

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dige Voraussetzung des künstlerischen Gelingens. Der Künstler muß die Bedingungen, unter denen sich das Unbedingte einstellen kann, genauestens kennen.292

So ist die Demuts-Geste des Künstlers nur eine erste Reaktion auf die Inspiration;293 dadurch dass er die Techniken der Verarbeitung genau beherrscht, wird er zuletzt zum ›überwundenen Überwinder‹: »Aber wie in einem Märchen das Übergroße, wenn es einmal bewältigt ist, sich klein macht für seinen Überwinder, um ihm ganz zu gehören, so hat der Meister diesen von seinen Dingen gewonnenen Raum wirklich in Besitz nehmen dürfen, als sein Eigentum.«294 Rodin sei dementsprechend ein Herrscher eines »Volk[es] von Händen«295 und zeichne sich als gewissenhafter Hand-Werker, als Meister einer ausgefeilten Technik aus: »Seine Kunst baute nicht auf eine große Idee auf, sondern auf eine kleine gewissenhafte Verwirklichung, auf das Erreichbare, auf ein Können.«296 Die schönste Skizze zum Verständnis des Künstlers bietet Rodins Entwurf zum »Turm der Arbeit« (Tour du travail), den Rilke in einer abschließenden Anmerkung nochmals originell beschreibt.297 Der Turm besteht aus unterschiedlichen Schichten von Arbeitern, spiralförmig führt ein Band nach oben, wo sich zum Abschluss des Ganzen zwei geflügelte Figuren finden: die Genien. Die Interaktion zwischen Arbeit und Genien interpretiert Rilke faszinierend, fast Bezug nehmend auf das Lächeln Rodins über seine Inspirationsgaben: Das Band, das die Spirale an ihrem Ende schließlich von außen zusammennimmt, trägt die Bilder des Tierkreises, die wiederholen sollen, was schon die Statuen des Tages und der Nacht am Fuße des Denkmals andeuten: daß alles das ununterbrochen am Werke ist und im Steigen, auf die Genien zu, die sich aus den Himmeln segnend niederlassen, von der Fülle der wirkenden Kräfte wie von einem Anruf angezogen. Unten am Turme sind noch zwei Steinreliefs, wie Grabtafeln eingemauert, die an Herakles und Hephaïstos erinnern, die heroischen Ahnherrn menschlicher Arbeit.298

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M. Koch, ›Mnemotechnik des Schönen‹. Studien zur poetischen Erinnerung in Romantik und Symbolismus, Tübingen 1988, S. 211. Vgl. zur notwendigen Demut des Künstlers: »Diese Arbeit (die Arbeit am Modelé) war die gleiche bei allem was man machte, und sie mußte so demütig, so dienend, so hingegeben getan sein, so ohne Wahl an Gesicht und Hand und Leib, daß nichts Benanntes mehr da war, daß man nur formte, ohne zu wissen, was gerade entstand, wie der Wurm, der seinen Gang macht im Dunkel von Stelle zu Stelle. Denn wer ist noch unbefangen Formen gegenüber, die einen Namen haben? Wer wählt nicht schon aus, wenn er etwas Gesicht nennt? Der Schaffende aber hat nicht das Recht, zu wählen. Seine Arbeit muß von gleichmäßigem Gehorsam durchdrungen sein. Uneröffnet gleichsam wie Anvertrautes, müssen die Formen durch seine Finger gehn, um rein und heil in seinem Werke zu sein« (Rilke, Auguste Rodin, S. 81). Rilke, Auguste Rodin, S. 84. Rilke, Auguste Rodin, S. 9. Rilke, Auguste Rodin, S. 17. Georg Simmel berichtet in seiner »Erinnerung an Rodin« (1917) von Rodins Verhältnis zu diesem Entwurf, »an dem offenbar sein ganzes Herz hing« (Simmel, Erinnerung an Rodin. In: Vossische Zeitung, 606 [http://socio.ch/sim/verschiedenes/1917/rodin.htm]). Rilke, Auguste Rodin, S. 107f.

Mittels Persuasionsgabe initiiert der Künstler geradezu eine typologische Umkehr: Nicht die Genien berufen den Künstler, oder er sie mit einer direkten invocatio, sondern das stete Handwerk des Künstlers attrahiert die Genien derart magisch, dass sie sich dem ›Turm der Arbeit‹ zuneigen und dem Werk huldigen. Anders gesagt zeigt das Bild das Zusammenwirken von Arbeit und Genius (ars und ingenium) und ihre wechselseitige Zuneigung, die der Künstler in Gang setzt. Nach dem Streit mit Rodin im Mai 1906 wendet sich Rilke in der Folgezeit zwei weiteren Künstlern zu: Vincent van Gogh und Paul Cézanne. In Rilkes CézanneVerehrung spitzt sich das Künstlerbild vom Propheten in seiner Schrift Briefe über Cézanne (1907) weiter zu.299 Er überträgt geradezu das an Rodin entwickelte prophetische Künstlerbild auf Cézanne. In seiner Pariser Zeit um 1907 avanciert Cézanne zum überragenden Leitbild für Rilke. Wie er eigens betont, erkennt er auch in ihm nicht nur einen überragenden Arbeiter,300 sondern erneut einen Propheten: »Denn wie an einen Propheten denkt man an ihn«301, konstatiert Rilke 1916 prägnant.302 Dass er von Cézanne sehen lerne, bekennt Rilke seiner Gattin Clara: Während ich hier gestern den aufgelösten lichten Herbst bewunderte, gingst Du durch jenen andern heimatlichen, der auf rotem Holz gemalt ist, so wie dieser hier auf Seide. Und das eine reicht an uns heran und das andere; so tief auf den Grund aller Verwandlung sind wir gestellt, wir Wandelbarsten, die mit einer Neigung, alles zu begreifen, herumgehen und die (indem wir es doch nicht fassen) das Übergroße zur Handlung unseres Herzens machen, damit es uns nicht zerstöre. [...] Zwar hat diese Verwandlung, da ich sie einmal ganz erlebte und teilte, einen Teil des Stundenbuchs hervorgerufen; aber damals war mir die Natur noch ein allgemeiner Anlaß, eine Evokation, ein Instrument, in dessen Saiten

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Die Briefe an seine Frau waren von Anfang an für die Öffentlichkeit bestimmt und stellen mehr als private Mitteilungen dar (vgl. Kimmich u. Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 133). Vgl. zum Arbeitsethos auch Kimmich u. Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 134. Kleinere Unterschiede, was das Arbeitsethos beider Künstler betrifft, charakterisiert Martina Kurz: »Repräsentierte Rodin den titanhaften gestaltenden Demiurgen, der souverän seine Geschöpfe aus dem Stein befreit und dem schier alles zu gelingen schien, so eignet Cézannes Arbeitsethos etwas Verbissenes und ›Gehetztes‹« (M. Kurz, Bild-Verdichtungen. Cézannes Realisation als poetisches Prinzip bei Rilke und Handke, Göttingen 2003, S. 284). Zitiert nach: Rilke, Briefe über Cézanne, hg. von Clara Rilke. Besorgt und mit einem Nachwort versehen von Heinrich Wiegand Petzet. Mit siebzehn farbigen Abbildungen, Wiesbaden 1952, S. 83. Und über Cézannes Bilder des Montagne Sainte Victoire bemerkt Rilke gegenüber dem Grafen Harry Kessler: »seit Moses habe niemand ein Gebirg’ so groß gesehen« (zitiert nach: Rilke, Briefe über Cézanne, S. 83). Angeregt ist Rilke v.a. von einer Gedächtnisausstellung zu Ehren Cézannes, die im Oktober 1907 im Pariser Salon d’Automne stattfand (vgl. Kommentar. In: Rilke, Werke, Bd.  1, S. 908). Seine Propheten-Gedichte entstanden teilweise kurz zuvor, aber Rilke hat sich genau zwischen den Entstehungszeiten der beiden Teile der Neuen Gedichte schon mit Cézanne beschäftigt (vgl. Kommentar. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 908). Das »religiöse Pathos« der Briefe betonen auch Kimmich und Wilke (Kimmich u. Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 134).

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sich meine Hände wiederfanden, ich saß noch nicht vor ihr; ich ließ mich hinreißen von der Seele, welche von ihr ausging; sie kam über mich mit ihrer Weite, mit ihrem großen übertriebenen Dasein, wie das Prophezeien über Saul kam; genau so. Ich schritt einher und sah, sah nicht die Natur, sondern die Geschichte, die sie mir eingab. Wie wenig hätte ich damals vor Cézanne, vor van Gogh zu lernen gewußt. Daran, wieviel Cézanne mir jetzt zu tun gibt, merk ich, wie sehr ich anders geworden bin. Ich bin auf dem Wege, ein Arbeiter zu werden, auf einem weiten Wege vielleicht und wahrscheinlich erst bei dem ersten Meilenstein; aber trotzdem, ich kann schon den Alten begreifen, der irgendwo weit vorne gegangen ist, allein, nur mit Kindern hinter sich, die Steine werfen (wie ich es einmal in dem Fragment von den Einsamen beschrieben habe).303

Rilke schildert hier seine Wandlung vom frühen, medialen Propheten des StundenBuchs, für den – wie für Saul – die Natur eine Evokation ›rücksichtsloser Gesichte‹ darstellt, zum einsamen Propheten wie Cézanne, der die Natur als Objekt an sich (und nicht nur als ›Vorwand‹304) wahrnimmt.305 Das Zwingen der Dinge zum ästhetischen Artefakt folgt sodann einem Bezwungenwerden des Künstlers, der Bewusstseinszustände zurückweisen soll, denn: Wer dazwischenspricht, wer anordnet, wer seine menschliche Überlegung, seinen Witz, seine Anwaltschaft , seine geistige Gelenkigkeit irgend mit agieren läßt, der stört und trübt schon ihre Handlung [den Verkehr der Farben untereinander]. Der Maler dürfte nicht zum Bewußtsein seiner Ansichten kommen (wie der Künstler überhaupt): ohne den Umweg durch seine Reflexion zu nehmen, müssen seine Fortschritte, ihm selber rätselhaft, so rasch in die Arbeit eintreten, daß er sie in dem Moment ihres Übertritts nicht zu erkennen vermag.306

Demnach fungiert der prophetische Künstler nunmehr als notwendiges Pendant zu den sich seiner bemächtigenden autoreferentiellen Zeichen; dies erinnert an den Lobpreis der selbstreferentiellen Geschlossenheit der Zeichen in Novalis’ Monolog und dem dort zugrunde gelegten Autorschaftsbild des Propheten, wonach der rezeptive Künstler-Prophet lediglich ein Medium der Sprache ist.307 Rilke gesteht aber auch Cézanne eine subjektive Note bei der Kunstproduktion zu:

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Rilke, Briefe über Cézanne (Paris 13. Oktober 1907), S. 26f. Vgl. Rilkes Vortrag »Über moderne Lyrik« (1898) und zur ›Vorwands-Ästhetik‹: Engel, Rainer Maria Rilkes »Duineser Elegien«, S. 110. Bis »zur Ohmacht verbraucht«, »verlacht, verspottet, mißhandelt« (Rilke, Briefe über Cézanne [Paris 09. Oktober 1907], S. 21) strebe der Maler nach unzerstörbarer Größe, die ihn als Überbeauftragten, Gespaltenen martert. Dieses Porträt vom sich in der Arbeit verzehrenden Cézanne übernimmt Rilke von »einem nicht sehr sympathischen Maler«, gemeint ist der Maler Émile Bernard (1868–1941), der zum Kreis der Pariser Nabis zu zählen ist. Zum berühmten Gemälde »Le rêve du poète ou le Baiser de la Muse«, das die göttliche Enthusiasmierung darstellt, siehe anschaulich: Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen, S. 1f. Rilke, Briefe über Cézanne (Paris 21. Oktober 1907), S. 37. Vgl. Novalis, Ein Monolog. In: Novalis, Werke in einem Band, hg. von Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel, München; Wien 1981, S. 522. Vgl. dazu ausführlicher die Ausführungen im Kapitel VI.5.

Ich denke mir, daß die beiden Vorgänge, des schauenden und sicheren Übernehmens und des Sich-An-eignens [sic!] und persönlichen Gebrauchens des Übernommenen, sich bei ihm, vielleicht infolge einer Bewußtwerdung, gegeneinander stemmten, daß sie sozusagen zugleich zu sprechen anfi ngen, einander fortwährend ins Wort fielen, sich beständig entzweiten.308

Objektive Schau und subjektive Verarbeitung des Geschauten kreuzen sich, und zwar zeitgleich.309 Das Gefühl des Überwältigtwerdens, das mitunter epiphanische Züge trägt und mit einer prophetischen Vision vergleichbar ist, geht einher mit der Reaktion des ›trotzdem‹ des unermüdlichen Arbeiters und dessen individuellen Aneignens und Verarbeitens. Rilke changiert also zwischen Deutungen des Inspirationstopos im Sinne eines vorreflexiven Zustands des Künstlers und der bewussten Verarbeitung bzw. Attraktion von Inspiration durch Arbeit. Als weitere Hommage an die Künstler-Porträts Rodins und Cézannes und deren Arbeitsweise als Künstler-Propheten können die Propheten-Gedichte in Der Neuen Gedichte anderer Teil310 gelesen werden. Dort verdichtet Rilke auch seine Eindrücke von der Arbeitsweise der beiden prophetischen Künstler. Insbesondere Rodin als Meister der »Gebärde«311 ist prägend für die Propheten-Gedichte. Denn die Propheten stellen ebenfalls »uralte heilige Gebärde[n]«312 vor, wie sie in Rodins »Jüngstem Gericht« vorgeprägt sind.313 Bei Rodins erhabenen Figuren und Gebärden lasse sich schließlich an »Claux Sluter und seine Propheten in der Chartreuse von Dijon«314 denken. Als »Schlüssel für die Sprachlosigkeit der Moderne gegenüber ihren eigenen Rätseln und Konflikten« erkennt Georg Braungart Rilkes an Rodin geschulte Sprache der Körper315, die sich auch in seinen Propheten-Figuren manifestiert. Indem der

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Rilke, Briefe über Cézanne (Paris 09. Oktober 1907), S. 21. Mit Blick auf Balzac verdeutlicht dies Rilke nochmals: »Balzac hatte vorausgeahnt, daß es beim Malen plötzlich zu so etwas Übergroßem kommen kann, mit dem keiner fertig wird. Aber den nächsten Tag fing er trotzdem wieder an mit seiner Bewältigung« (Rilke, Briefe über Cézanne [Paris 09. Oktober 1907], S. 22f.). In Rilkes Gedichtreihe Der Neuen Gedichte anderer Teil, in welcher zwischen dem 31. Juli 1907 und dem 02. August 1908 in Paris relativ zügig verfasste Gedichte zusammengestellt sind, findet sich relativ zu Beginn ein sechs Gedichte zählender Zyklus mit ›ProphetenPorträts‹, die wiederum zum Teil Michelangelos Vor-Bilder in der Sixtinischen Kapelle vor Augen stellen (die Fresken des Jeremia und Ezechiel sowie der cumaeischen Sibylle). Diese dürfte Rilke wohl während seines vorhergehenden Rom-Aufenthalts (20.–24. April 1908) gesehen haben (vgl. Berendt, S. 212f.). Rilke, Auguste Rodin, S. 27, S. 35. Rilke, Auguste Rodin, S. 33. Vgl. Rilke, Auguste Rodin, S. 34ff. Rilke, Auguste Rodin, S. 57. G. Braungart, Leibhafter Sinn, S.  244. Vgl. Rilke: »Sie mußte einer Zeit helfen können, deren Qual es war, daß fast alle ihre Konflikte im Unsichtbaren lagen. Ihre Sprache war der Körper« (Rilke, Auguste Rodin, S. 14).

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Körper der Propheten zum Sprechen gebracht wird, ersetzt ein »Körpervertrauen« die »Sprachskepsis«:316 Die Wiedererweckung des Körpers: Das ist die Mission, die Rilke seinem Helden Rodin zugedacht hat. Die Sprache des Körpers soll die Epoche zu sich selbst bringen: ›Hier war eine Aufgabe, groß wie die Welt.‹ Wer sie vollbringen kann, muß geradezu ein zweiter Messias sein. Und Rodin, wie Rilke ihn zeichnet, hat stellenweise solche Züge.317

Insbesondere das Verständnis vom Künstler als Propheten gewinnt an Bedeutung, wie es genauer herauszustellen ist. Insofern ist es nicht ganz richtig, dass Rilke nur Rodin und die Antike zusammenbringe und das »Christentum mit seiner Verdrängung des Körpers«318 ausblende. Denn die sich um die Propheten-Gestalten gruppierenden Varianten der Ausdrucksnot, der gesteigerten Körpersprache sowie die alludierte Macht autoreferentieller Zeichen, die den Propheten-Künstler als Medium im Sinne Cézannes beschwört, aber auch als prophetischen Hand-Werker auszeichnet, kristallisieren sich in den Propheten-Gedichten, die ein genuin biblisches Fundament der ›Gebärdensprache‹ erkennen lassen. V.3.5.

Prophetische Körperpoetik (Neue Gedichte)

Die um das dominante Thema der Inspiration kreisenden Propheten-Gedichte Rilkes sind nicht nur als künstlerische Verarbeitung biblischer Texte des Alten Testaments zu lesen,319 sondern teilweise auch als poetologische Gedichte, die die Stellung des prophetischen Künstlers zu seinem Schaffen, seinem Leiden und seinen Abhängigkeiten reflektieren, mithin die Bedingungen der Möglichkeit prophetisch-künstlerischen Wirkens ausmessen. Genauer gesagt sind sie als Reflexionsmedien für den prophetischen Künstlertypus an sich zu verstehen.320 Tröstende Gottesnähe und Inspiration einerseits sowie Gottesferne und Verlust der Inspiration andererseits können als übergreifende Themen gelten; der Prophet als ›Mundstück‹ Gottes ist dabei Kulminationspunkt der Propheten-Betrachtung. Im Zentrum von Rilkes Interesse an den Propheten steht nicht eine Verherrlichung der Inspiration als Gottesgnade allein, sondern die Autonomie der (sprachlichen) Zeichen einerseits und die Bedingungen der Festigung, Verarbeitung, Konservierung dessen, was via Inspiration dem Propheten-Künstler als ihn überwältigende oder zu bewältigende Aufgabe zukommt, andererseits. Symptomatisch liegt die Innovation der prophetischen Darstellung auch bei Rilke nicht im inhaltlichen Gehalt, sondern im formal-sprachlichen Modus der

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G. Braungart, Leibhafter Sinn, S. 245. G. Braungart, Leibhafter Sinn, S. 246. G. Braungart, Leibhafter Sinn, S. 276. Vgl. Berendt, S. 194 u. S. 209. So nähert sich auch Kahl den Propheten-Gedichten: »Es liegt nahe, in dieser Figur eine allegorische Darstellung des Dichters zu sehen« (Kahl, Lebensphilosophie und Ästhetik, S. 211). Vgl. Windfuhr, »Religiöse Produktivität«, S. 50.

Vermittlung: Konzentriert finden sich Momente prophetischer Erhebung, die poetologische Konzepte des Prophetischen alludieren. Zwei grundlegende Propheten-Typologien lassen sich dabei erkennen, die an den eingangs dargestellten nietzscheanischen Januskopf Zarathustras erinnern: Erstens der Prophet mit Sprachmacht (ein Hinweis auf den kompetenzorientierten Propheten-Künstler), der sich u.a. mit Gewalt seine Stellung als gottgleicher Revolutionär sichert, und zweitens der von der Macht der Sprache medialisierte Prophet, dem eine inspirative Erfahrung im Modus des Leidens widerfährt (ein Hinweis auf den depersonalisierten, ohnmächtigen, dezentrierten Propheten-Künstler). Im Gedicht »Josuas Landtag«, das im Juli 1907 verfasst wurde und in den Neuen Gedichten zu fi nden ist, wird ironisch vorgeführt, wie sich das Leiden des Propheten aufgrund seiner Bindung an eine höhere Instanz aufheben lässt: Die Selbstermächtigung des Propheten und sein wirkungsträchtiges Wort sind an das körperliche Leiden Gottes im Dienst des Propheten gekoppelt: Der hier ins Bild gesetzte erste Typus des Propheten, der nicht nur über die frevelnden Menschen, sondern sogar über Gott herrscht, indem er diesen für seine Zwecke instrumentalisiert, unterscheidet sich vom zweiten, dem medial konstruierten Propheten dadurch, dass er selbstbestimmt agiert: Josuas Landtag So wie der Strom am Ausgang seine Dämme durchbricht mit seiner Mündung Übermaß, so brach nun durch die Ältesten der Stämme zum letztenmal die Stimme Josuas. Wie waren die geschlagen, welche lachten, wie hielten alle Herz und Hände an, als hübe sich der Lärm von dreißig Schlachten in einem Mund; und dieser Mund begann. Und wieder waren Tausende voll Staunen wie an dem großen Tag vor Jericho, nun aber waren in ihm die Posaunen, und ihres Lebens Mauern schwankten so, daß sie sich wälzten, von Entsetzen trächtig und wehrlos schon und überwältigt, eh sie’s noch gedachten, wie er eigenmächtig zu Gibeon die Sonne anschrie: steh: Und Gott ging hin, erschrocken wie ein Knecht, und hielt die Sonne, bis ihm seine Hände wehtaten, ob dem schlachtenden Geschlecht, nur weil da einer wollte, daß sie stände. Und das war dieser; dieser Alte wars, von dem sie meinten, daß er nicht mehr gelte

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inmitten seines hundertzehnten Jahrs. Da stand er auf und brach in ihre Zelte. Er ging wie Hagel nieder über Halmen. Was wollt ihr Gott versprechen? Ungezählt stehn um euch Götter, wartend, daß ihr wählt. Doch wenn ihr wählt, wird euch der Herr zermalmen. Und dann, mit einem Hochmut ohnegleichen: Ich und mein Haus, wir bleiben ihm vermählt. Da schrien sie alle: Hilf uns, gib ein Zeichen und stärke uns zu unsrer schweren Wahl. Aber sie sahn ihn, wie seit Jahren schweigend, zu seiner festen Stadt am Berge steigend; und dann nicht mehr. Es war das letzte Mal.321

Fülleborn hat bereits nachgewiesen, dass in »Josuas Landtag« die »intertextuelle Verwebung mit dem Alten Testament extrem dicht«322 ist. Drei im biblischen Bericht zeitlich auseinander liegende Ereignisse sind in diesem Erzählgedicht kondensiert: der Landtag von Sichem, die Schlacht um Gibeon und die Eroberung Jerichos (vgl. Jos 24ff.; Jos 10, 12f.; Jos 10, 14; Jos 6f.).323 Josua verkörpert den prophetischen »Übermenschen«324, genauer den »Triumph einer Prophetenstimme«325 im Dienst eines prophetischen Gerichts. Er gilt im biblischen Kontext zuerst als Gehilfe und zuletzt als Nachfolger Moses (vgl. Dtn 34, 9; Jos 1, 1). Mittels zahlreicher Vergleiche wird seine gewaltige Stimme (vgl. 1. Strophe), sein apokalyptisch kündender Mund (vgl. 2. Strophe), die aus ihm erschallenden Posaunen (vgl. 3. Strophe) – als Hinweis auf die anstehende Wahl zwischen dem wahren Gott Jahwe und den falschen Göttern – und seine Brandmarkung des menschlichen Abfalls von Gott durch eine Unwetter-Zerstörung (vgl. 7. Strophe) ins Bild gesetzt. Die wörtliche Botschaft des Propheten wird teilweise zugunsten einer Fokussierung seiner Stimm-Gewalt und seiner unwetterartigen Agitation ausgeblendet. Im Gegensatz zu Rilkes anderen Propheten-Gedichten findet sich jedoch in den Strophen 7 bis 9 ein Dialog zwischen dem allwissenden Propheten und dem verzweifelten Volk, der in eine Entsagung des Propheten, genauer gesagt in seine Verweigerung der Zeichen-Setzung und -Deutung zugunsten einer Entscheidungshilfe für die Frevelnden mündet (vgl. 9. und 10. Strophe). Der Prophet

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Rilke, Josuas Landtag. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 457f., S. 457. Als Vorlage für die Abhängigkeit Gottes vom menschlichen Schöpfer dürfen schon provokante Zeilen aus dem Stunden-Buch gelten: »Was wirst Du tun, Gott, wenn ich sterbe?« (Rilke, Was wirst du tun…, S. 176). Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel, S. 25. Vgl. Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel, S. 26. Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel, S. 27. Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel, S. 26.

als »großes, einsames Individuum«326, als hochmütiger Einzelgänger (vgl. Vers 29), der sich entgegen der biblischen Vorlage zuletzt – wie in der letzten Strophe beschrieben – heroisch vom Volk abwendet, kann auch als Nachfolger des Apostels der frühen Erzählung »Der Apostel« identifiziert werden. Insofern ersetzt die Propheten-Figur auch nicht erst in der mittleren Werkphase seine Mönchs- bzw. Mystikerfigur der frühen Jahre, wie King irrtümlich annimmt.327 Vielmehr verläuft Rilkes Interesse für verschieden gelagerte prophetische Typologien von Anfang an parallel. Ähnlich wie für den Apostel ist für den dionysisch gezeichneten Propheten Nietzsche als Vorlage erkennbar,328 insbesondere seine Propheten-Figuration Zarathustra. Der ProphetenMund, der unmittelbar wie eine Sturmflut gewaltig über das Volk niedergeht, erinnert an die sturmgleiche Rede des nietzscheanisch geprägten Apostels, die ebenfalls komische Züge trägt.329 Neu an der Gestaltung Josuas ist die typologische Umkehr des Machtverhältnisses von Gott und Prophet, des Herr-Knecht-Verhältnisses330 – die an die Wechselseitigkeit von »Brauchen und Gebrauchtwerden«331 des Stunden-Buchs erinnert –, wonach Gott in geradezu ironischer Form (»nur weil da einer wollte, daß sie [die Sonne] stände« [Vers 20]) als »Knecht« (Vers 17) im Einsatz für den Propheten Josua tätig ist; eine originelle Erfindung Rilkes, die die Indienstnahme Gottes durch den Propheten fokussiert. Der Prophet avanciert geradezu zum komischen Helden;332 der ihm von King attestierten Rolle als »Elementarkraft, die ihr Subjekt passiviert und seiner selbst beraubt«333, entledigt er sich selbstständig bis hin zum

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Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel, S. 27. Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 259. Insofern ist Kings Darstellung von Rilkes »Laufbahnphasen« (King, Pilger und Prophet, S. 73) zwar – was die Dominanz der Selbstdarstellungen und Semantiken betrifft – richtungsweisend, aber doch nicht ganz stimmig. Vgl. ähnlich Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel, S. 26. Vgl. Rilke, Der Apostel, S. 50. Vgl. Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel, S. 26. Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel, S. 28. In der Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte aus den mittleren und späten Jahren finden sich »Fünf Sonette« für Frau Grete Gulbransson geschrieben (im November 1913 in Paris verfasst). Dort werden Heldentum und Prophetentum zusammengeführt, der Gewaltanspruch des Propheten als zu mäßigende Hybris markiert. Vorgestellt wird die Karriere einer ähnlichen Figur wie Josua, der des Helden, der ebenfalls über prophetische Kräfte verfügt: Über die gewöhnliche Sinnenwahrnehmung hinausgehend ist der Einbruch des Übernatürlichen durch die »Stimme des Dornbuschs« erkennbar, die die Berufung des Propheten – in Anlehnung an Moses Dialog mit Gott im brennenden Dornbusch (vgl. Ex 3, 1–17) – initiiert. Dem Helden ist von Gott eine Gewalt verliehen, so dass er die Welt aus den Angeln zu heben vermag, ähnlich wie Rodin (vgl. Rilke, Auguste Rodin, S. 47). Im Gegensatz zu Josua »hat ihm der Herr die Faust geballt«. Er ist also als Knecht Gottes konzipiert, und seine Entgrenzung wird dadurch begrenzt, dass er »zu den gestirnten Bildern« erhoben, »in ihre Maße hinversetzt, nachgebe, sich am Kreisenden zu mildern«. Seine Einbindung in einen begrenzenden Bezug spiegelt sich in der Figur des Dichters, der ebenfalls »erschrocken in den Himmeln halt« macht (vgl. Rilke, Fünf Sonette. In: Rilke, Werke, Bd. 2, S. 71–73). King sieht in Josua lediglich ein passives Medium und blendet die ironische Komponente seiner Selbstermächtigung aus (vgl. King, Pilger und Prophet, S. 291).

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Schweigen, wie es am Ende des Gedichts betont wird: »Aber sie sahn ihn, wie seit Jahren schweigend […]« (Vers 33). Nebenbei bemerkt, ist deswegen auch die Annahme, dass »satirische und komödiantische Stilebenen mit der Erhabenheits-Verpflichtung des Vates-Modells konfligieren«334, zu korrigieren. Gerade das Erhabene ist anfällig für den Umschlag ins Komische.335 Friedrich Gundolf bescheinigt Rilke feinsinnig einen »klirrende[n] Witz«336, der etwa in Die Versuchung337 durchbreche und dort das Ringen mit dem Engel desavouiere. Die Aufeinanderfolge von prophetisch vermittelter Gottesbotschaft in Form einer naturgleichen Stimmen-Macht sowie weniger, unmissverständlicher Worte des Propheten (vgl. Verse 26–30) und seinem radikalen Verstummen überwindet Rilke in den folgenden Propheten-Gedichten mit einer neuen prophetischen Sprachform, der des beredten Propheten-Körpers. Als exemplarisches Gattungsgedicht für den Propheten-Zyklus und den zweiten Propheten-Typus ist das Gedicht »Ein Prophet« (1908, entstanden August 1907) in Der Neuen Gedichte anderer Teil besonders aufschlussreich: Die Metaphorik des Dammbruchs ist in diejenige des Vulkanausbruchs überführt, die ebenfalls die »Tradition der alttestamentarischen Theophanie«338 im »Medium elementarer Naturbilder«339 beerbt: Ein Prophet Ausgedehnt von riesigen Gesichten, hell vom Feuerschein aus dem Verlauf der Gerichte, die ihn nie vernichten, sind die Augen, schauend unter dichten Brauen. Und in seinem Innern richten sich schon wieder Worte auf, nicht die seinen (denn was wären seine und wie schonend wären sie vertan) andre, harte: Eisenstücke, Steine, die er schmelzen muß wie ein Vulkan,

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King, Pilger und Prophet, S. 79; vgl. zur Tonlage des Erhabenen auch: Hinck, Das Gedicht als Spiegel der Dichter, S. 23. Vgl. zum Erhabenen und Komischen das Kapitel II.1. F. Gundolf, Rainer Maria Rilke, S. 34. Als Gegenfigur zu den leidvollen Propheten ist ferner beispielsweise der ironisch verzerrte Alchemist zu erwähnen, der »lallend wie ein Trunkenbold, / lag über dem Geheimfach und begehrte / den Brocken Gold, den er besaß« (Rilke, Der Alchemist. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 530). Vgl. die ersten beiden Verse und die letzten beiden Strophen von »Die Versuchung«: »Nein, es half nicht, daß er sich die scharfen / Stacheln einhieb in das geile Fleisch; / […] Und da schrie er nach dem Engel, schrie: / Und der Engel kam in seinem Schein / Und war da: und jagte sie / wieder in den Heiligen hinein, // daß er mit Geteufel und Getier / in sich weiterringe wie seit Jahren / und sich Gott, den lange noch nicht klaren, / innen aus den Jäsen destillier« (Rilke, Die Versuchung. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 529). King, Pilger und Prophet, S. 290. King, Pilger und Prophet, S. 290.

um sie in dem Ausbruch seines Mundes auszuwerfen, welcher flucht und flucht; während seine Stirne, wie des Hundes Stirne, das zu tragen sucht, was der Herr von seiner Stirne nimmt: Dieser, Dieser, den sie alle fänden, folgten sie den großen Zeigehänden, die Ihn weisen wie Er ist: ergrimmt.340

Von den Augen zum Mund, vom Sehen zum Sagen, vom Inneren zur Oberfläche, von der Vision zur Verkündung führt der betrachtende Blick. Die von der Schau ausgedehnten Augen des Propheten (vermutlich Ezechiels341) im ersten Satz finden ihre Entsprechung in einem weitausgreifenden Satzbau; dieser unterstreicht im Verbund mit zahlreichen Enjambements auch im folgenden Satz die sich im Propheten ansammelnden, fremden Worte. Eine rhythmische Unterbrechung als Zäsur findet sich nur in Vers 9 – der Mitte des Gedichts –, in welchem das Rohmaterial, die »Eisenstücke« und »Steine« erwähnt werden, deren Schmelzen (vgl. Vers 10) durch den Propheten wiederum im Fortgang des Langsatzes nachempfunden wird. Im Zentrum des Gedichts steht die Thematik des richtenden Endzeitpropheten, dessen sich Gott als Sprachrohrs bedient. (Göttlich-)Fremde, ihm eingegebene Worte drängen sich dem Propheten ungewollt auf, werden zu seiner qualvollen Aufgabe des Datentransfers. Mit der Verarbeitung des Rohmaterials (der Worte) ist der Prophet betraut, besser gesagt seine Körperpartie Mund, die zum Schmelztiegel wird; so folgert Windfuhr: Sie [die Prophetenrede] muss in eine für den Sprecher gerade noch verträgliche Form verwandelt werden, verwandelt aus einer Kunde Gottes in menschliche Sprache. Der Prophet ist kein bloßes Sprachrohr Gottes, durch das die Verkündigung wie durch ein gefühlloses Instrument hindurchgeht, sondern er ist mit seiner Empfindungsfähigkeit und Sprachfähigkeit anwesend. Man kann hinzufügen, dass der göttliche Text auch nur so für die Rezipienten aufnehmbar, d.h. verständlich wird.342

Windfuhrs Hervorhebung der »Empfindungsfähigkeit« und »Sprachfähigkeit« des Propheten, die er mit Bultmanns Forderung einer Neuinterpretation biblischer Texte assoziiert,343 ist vielleicht zu hoch gegriffen für das, was die Prophetenfigur bei der Verlautbarung der göttlichen Worte leistet. Doch ist mit dem Schmelzprozess der Worte angedeutet, dass der Prophet nicht nur ein rein passives Medium Gottes, besser des Sprachmaterials ist, sondern auch einen aktiven Gestaltungsauftrag übernimmt. Indes ist seine Botschaft, die verkürzt dem alttestamentlichen Gottesbild der Gewalt und des Grimms (vgl. Vers 18) entspricht, nicht eigens ausgestaltet, sondern auf die Gebärde des fluchenden Mundes reduziert (vgl. Vers 11). Und diese Fluch-Gebärde

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Rilke, Ein Prophet. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 521. Vgl. Berendt, S. 212. Windfuhr, »Religiöse Produktivität«, S. 48. Vgl. Windfuhr, »Religiöse Produktivität«, S. 48.

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wird nicht durch einen expliziten ethischen Appell überhöht, wie etwa: »Du mußt dein Leben ändern.«344 Insofern inkarniert die Propheten-Gestalt bereits – auch durch die Metaphorik des Vulkanausbruchs – das hereinbrechende Unheil, was ihre subjektive Komponente beim Transfer der göttlichen Botschaft wieder relativiert: »Das prophetische Wort wird zum Ideal der dichterischen Sprache, insofern es selbst ist, wovon es spricht. Die dargestellte Wirklichkeit ist im prophetischen Wort, in den Signifi kanten selbst präsent, statt bloß von ihr re-präsentiert zu werden.«345 Demzufolge stellt der Prophet eine Unmittelbarkeitspoetik vor, eine spezifisch prophetische Konzeption des Ausdrucks als Klage, die gleichermaßen den Trakl’schen ProphetenFiguren eignet.346 Der Mund als blutende Wunde ist auch das Leitmotiv in »Saul unter den Propheten«347 und in »Jeremia«348: […] Welchen Mund hast du mir zugemutet, damals, da ich fast ein Knabe war: eine Wunde wurde er: nun blutet aus ihm Unglücksjahr um Unglücksjahr. Täglich tönte ich von neuen Nöten, die du, Unersättlicher, ersannst, und sie konnten mir den Mund nicht töten; sieh du zu, wie du ihn stillen kannst.349

Jeremias blutender Mund inkarniert wieder die Not, die ferner ein Tönen freisetzt, eine spezifisch vorsprachliche Artikulation, eingebunden in die Assonanz Tönen – Nöten – Töten, und die zuletzt den Wunsch des Propheten befördert, »endlich [s]eine Stimme wieder[zu]hören, die von Anfang an ein Heulen war«350. Die »protosprachliche Lautbildung«351 Heulen gehört zu den für Rilke typischen Wortfamilien

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So unverblümt wie in den Schlussversen von Rilkes »Archaïschem Torso« bricht in seinen Propheten-Gedichten das Ethische nicht hervor. Dort ist beschrieben, wie der fragmentierten Götter-Figur ein ethischer Appell entspringt: »[…] und bräche nicht aus allen seinen Rändern / aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern« (Rilke, Archaïscher Torso Apollos. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 513). Für Rilkes »Torso« gilt dasselbe Prinzip wie für Trakls fragmentierte Propheten-Figuration Elis, wie im VI. Kapitel dargelegt: »Als Fragment im romantischen Sinne ist er die einzig mögliche Erscheinungsweise des Absoluten. Das gilt pointiert für das Fragment eines Götterbildes« (G. Braungart, Leibhafter Sinn, S. 259). Kahl, Lebensphilosophie und Ästhetik, S. 212. Vgl. dazu das Kapitel VI.5. Vgl. Rilkes »Saul unter den Propheten«: »Doch einst: er hatte prophezeit // fast als Kind, als ob ihm jede Ader / mündete in einen Mund aus Erz« (Rilke, Saul unter den Propheten. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 519f., S. 519). Vgl. Windfuhr, »Religiöse Produktivität«, S. 49. Rilke, Jeremia. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 521f. Rilke, Jeremia, S. 522. King, Pilger und Prophet, S. 289f.

Schreien, Rufen und Klagen.352 Insbesondere die Fokussierung des Mundes unterstreicht die Favorisierung einer prophetischen Körperpoetik,353 in der Schau, darstellende Verkündung, Imagination und unmittelbarer Ausdruck des zu Sagenden, Zeichen und Bedeutung zusammenfallen:354 Im Bild des Propheten formuliert Rilke eine radikale Poetik der Unmittelbarkeit. Jede wesenhafte und zeitliche Differenz zwischen der Sprache und ihrem Gegenstand wird in dieser Vorstellung geleugnet. Zugleich fallen verbale Sprache und Sprache des Körpers zusammen.355

Die Verkürzung der Botschaft auf die Mund-Gebärde des fluchenden Propheten wird aber noch gesteigert, wenn sie durch die Gebärde der »großen Zeigehände« (Vers 17) überboten wird: Die »Zeigehände« sind noch unmittelbarerer Ausdruck des Erzürnten. In seiner Rodin-Studie betont Rilke vergleichbar die »redenden, erregten Arme«356 des Johannes, die ebenfalls mittels Körpersprache eine »nicht korrumpierbare Authentizität«357 vorstellen, wie dies Georg Braungart allgemein für die Körperpoetik Rilkes festhält. In welcher Weise die »Gebärden das Individuum, das ihr Anlaß und ihr Träger ist«358, transzendieren, lässt sich besonders gut an der Propheten-Figur veranschaulichen, da diese per definitionem auf etwas Übergeordnetes verweist, indem es dieses unmittelbar vorstellt. Dass der Prophet und sein Gott zu einer Sprachfigur zu verschmelzen scheinen, zeigt zudem das grammatikalisch auf beide beziehbare Demonstrativpronomen »dieser« (Vers 16) an. Der Prophet ist also ein leiblich-sprachliches und authentisches Medium, das den Zorn Gottes und damit Gott selbst zeigt, indem er ihn genau so verkörpert »wie Er ist: ergrimmt« (Vers 18). Der Fluch Gottes tritt geradezu aus dem Inneren an die Oberfläche des Propheten-

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Vgl. Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel, S.  22. Fülleborn verweist ferner auf die Psalmenlektüre Rilkes, wovon sich die genannte Wortgruppe ableiten lässt. Das erklärt auch, weswegen die Gottesgnade sich bei Rilke häufig auf funktionale Auffrischungen des Körpers – der Unheil kündenden Naturgewalt oder ›Maschine‹ – des Propheten beschränkt, so etwa in »Tröstung des Elia«: »Doch grade da kam ihn der Engel ätzen  / mit einer Speise, die er tief empfing« (Rilke, Tröstung des Elia. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 518f., S. 518). Vgl. zum »nährenden Gott« bei Rilke: Imhof, S. 95ff. Rilkes Berliner Diskussionen mit Georg Simmel über dessen »Michelangelo«-Aufsatz 1905 und die darin anvisierte Überwindung des Leib-Seele-Problems (vgl. G. Braungart, Leibhafter Sinn, S. 271) könnten im Zusammenhang mit Michelangelos Ausgestaltung der Sixtinischen Kapelle und ihren Propheten-Darstellungen als Vorlage für Rilkes Propheten-Verdichtungen interessant gewesen sein. Simmel hält für Michelangelos plastikgleiche Porträts fest: »Ganz unmittelbar, nicht erst durch ein ihnen jenseitiges Dasein legitimiert, sind sie, was sie darstellen« (Simmel, Michelangelo. In: Simmel, Philosophische Kultur, Leipzig 19192, S. 142–167, S. 150f.) [Hervorhebung GW]. Kahl, Lebensphilosophie und Ästhetik, S. 213. Rilke, Auguste Rodin, S. 28. G. Braungart, Leibhafter Sinn, S. 275. G. Braungart, Leibhafter Sinn, S. 248.

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Körpers und wird so unmittelbar sichtbar. Die Stirn wird zudem – wie bei Trakl359 – als Sitz des Propheten-Leidens ausgezeichnet, denn sie verweist darauf, dass sich der Prophet wie ein Hund unter das »Joch«360, das Leiden durch die Verkündigung zu beugen habe.361 Die aufeinanderfolgende Herauspräparierung von ausgezeichneten Körperpartien – Auge, Mund, Stirn, Zeigehände – befördert eine fragmentarische Sichtweise des Propheten,362 wie dies auch bei Trakls Propheten-Figuren zu beobachten ist.363 Dieser suggerierten Fragmentierung und Verdinglichung des Propheten sowie seiner Objektivierung zum willenlosen Instrument der Signifi kanten steht – in Form eines performativen Widerspruchs – allerdings die handwerklich ausgefeilte Gedicht-Form entgegen: So wird der durch die Propheten-Figur in Aussicht gestellte ›vulkanische‹ Wortausbruch einerseits mittels virtuoser Sprachgebilde, übergreifend-langer Satzkonstruktionen und zahlreichen Enjambements ansatzweise nachgeahmt und andererseits durch die relativ strenge Gedichtform begrenzt und nahezu konterkariert. Dem angedeuteten Körpertorso des Propheten steht der relativ unversehrte Gedichtkörper entgegen. Die Gedicht-Form stellt immer noch eine Re-Präsentation der unmittelbaren Präsentation des Künders dar. So scheinen geradezu Chancen innovativer, visionärer Poetiken aufgehoben zu werden. Für die Propheten-Gedichte ist indes gerade das Wechselverhältnis von unmittelbarem Ausdruck (einer leidvoll zerstückelten Figur) und mittelbarer Darstellungsform prägend. Das Erhabene ist vom Schönen domestiziert. Das prophetisch inspirierte ›Schön-Erhabene‹ gewinnt bei Rilke an Kontur. Im Rahmen seiner Selbststilisierung zum Dichter-Propheten distanziert sich Rilke zudem auch von der Radikalität seiner Propheten-Figuren und ihren prophetischen Ausdrucksweisen, wie noch zu zeigen sein wird. Rodins Rezeption Baudelaires ist jedenfalls für Rilke anregend, denn dieser suche nach »Leibern […], in denen das Leben größer war, grausamer und ruheloser«364 und zudem modelliere er – die unüberbrückbare Differenz zwischen Bildhauerei und Dichtertum schmälernd – ›plastische Worte‹, eine »Sprache als leibliche Gebärde«365:

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Vgl. dazu die Ausführungen im Kapitel VI.8.2.2. Windfuhr, »Religiöse Produktivität«, S. 48. Der alttestamentliche Prophet Ezechiel/Hesekiel besitzt genauer eine Stirn aus Diamant, ein besonderes Stigma, das die Verhärtung des Volks symbolisiert (vgl. Hes 3, 7–9). Seine Stirn ist also ein Zentrum des zeichenhaften Austauschs zwischen dem Propheten, Gott und den sündigen Menschen. Am 17. November 1900 notiert Rilke in sein Tagebuch, dass bei Rodin die belebten Gestalten aus dem harten Stein treten »wie ein Gedanke aus der massigen Stirn, die ihn gedacht hat« (Rilke u. Rodin, Briefwechsel, S. 24f.). Man ist zudem an das Hundebild für Cézanne erinnert (vgl. Berendt, S. 212). Auch diese fragmentarische Betrachtungsweise ist im Sinne Rodins: »Da war kein Teil des Körpers unbedeutend oder gering: er lebte« (Rilke, Auguste Rodin, S. 18). Vgl. dazu die Ausführungen zur fragmentarischen Gestalt des Elis im Kapitel VI.6. Rilke, Auguste Rodin, S. 20. G. Braungart, Leibhafter Sinn, S. 281.

Und in diesen Versen gab es Stellen, die heraustraten aus der Schrift , die nicht geschrieben, sondern geformt schienen, Worte und Gruppen von Worten, die geschmolzen waren in den heißen Händen des Dichters, Zeilen, die sich wie Reliefs anfühlten, und Sonette, die wie Säulen mit verworrenen Kapitälen die Last eines bangen Gedankens trugen.366

Die – wie die Augen des Propheten – ausgedehnte Gedichtform entspricht Rilkes Verständnis vom Künstler als prophetischem Former, wie er ihn in Rodin erkennt. Derart gestaltet sich der Übergang von der Plastik zur Poesie, »der Übergang von der ›impliziten Sprache‹ des Körpers zur ›expliziten‹ Wortsprache«367 ansatzweise elegant, die Brüche retuschierend und doch im Status des Übergangs verbleibend. Rilke scheint sich geradezu dem Grundproblem prophetischer Rede, das darin besteht, dass die Botschaft eigentlich durch kein Medium verfremdet werden soll und zugleich die Identität von Inspiration und prophetischer Darstellung nicht gewährleistet werden kann, dahingehend zu stellen, dass die Darstellung der Botschaft durch einen unausdrücklichen Sprecher den prophetischen Botschafter desavouiert. Indes ist ebenso unbestreitbar, dass Rilke dem »Autonom-Werden der Materialien«368 – wie er dies von Cézanne kennt – insbesondere mit Blick auf die mediale Stellung des Propheten eine große Aufmerksamkeit schenkt. So wird der Prophet mitunter zur willenlos von Worten heimgesuchten und umkreisten Figur, ähnlich wie die (eventuell cumaeische) Sibylle im Gedicht »Eine Sibylle«: Eine Sibylle Einst, vor Zeiten, nannte man sie alt. Doch sie blieb und kam dieselbe Straße täglich. Und man änderte die Maße, und man zählte sie wie einen Wald nach Jahrhunderten. Sie aber stand jeden Abend auf derselben Stelle, schwarz wie eine alte Citadelle hoch und hohl und ausgebrannt; von den Worten, die sich unbewacht wider ihren Willen in ihr mehrten, immerfort umschrieen und umflogen, während die schon wieder heimgekehrten

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Rilke, Auguste Rodin, S. 20. Zu diesem Ergebnis kommt Georg Braungart mit Blick auf den »Archaïschen Torso Apollos«: G. Braungart, Leibhafter Sinn, S. 261. Vgl. zu Rilkes »Archaïschem Torso Apollos« auch: G. Braungart, Prägnante Momente. Rainer Maria Rilkes Archaïscher Torso Apollos und das Ende ästhetischer Beliebigkeit. In: Der Bildhunger der Literatur. Festschrift für Gunter Grimm, hg. von Dieter Heimböckel, Würzburg 2005, S. 229–236. Winfried Eckel, Wendung. Zum Prozeß der poetischen Reflexion im Werk Rilkes, Würzburg 1994, S. 108.

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dunkel unter ihren Augenbogen saßen, fertig für die Nacht.369

Der deformierte Körper der Prophetin und ihre wohl ausgehöhlten Augen dienen als Magnet und Refugium fremder Worte, die sie geradezu auszuhöhlen scheinen, indem sie sich ihrer als Heimstätte gnadenlos bedienen. Ihrer Verdinglichung zum willenlosen Instrument der Signifi kanten-Schar steht gleichwohl erneut die Artifizialität des Gedichts, die handwerklich ausgefeilte Gedicht-Form des ›verflüssigten Sonetts‹370 entgegen. So wird die ausgebrannte Ruine ›Sibylle‹ etwa mittels dunkler Vokale wie »a« und »o« in den ersten Versen evoziert und durch die folgenden kunstvollen Alliterationen geschmückt (Worte, unbewacht, wider Willen; umschrieen und umflogen). Fülleborn erkennt zu Recht in Rilkes ›Propheten-Zyklus‹ zwei konkurrierende Prophetentypen: Die Machtspiele zwischen den Propheten und dem Gott Abrahams, die als ein Brauchen und Gebrauchtwerden inszeniert sind, ergeben sich bei Rilke nicht aus der Spannung zwischen einem jenseitigen Gott und dem diesseitigen Menschen, sondern sie vollziehen sich zwischen zwei innerweltlichen Machtpolen. Einmal ist der Prophet (Josua) mächtiger als sein Gott, das andere Mal unterliegt er ihm und bedarf sogar seiner Tröstung (Elia).371

Präzisierend ist hinzuzufügen, dass der zuletzt sich ins Schweigen zurückziehende Josua durch die (Wort)-Figuren des Propheten oder der Sibylle, deren ruinöse Körper im Dienst der Sprache stehen, überhöht wird. Rilkes Changieren zwischen der Projektion einer Hybris- oder Demuts-Geste auf den Propheten,372 der einerseits selbstherrlich die Macht des Gottesgerichts usurpiert, andererseits ein leibliches Medium der ihn durchlaufenden Worte ist und als Naturgewalt fungiert, ist auch – in Form einer synoptischen Betrachtung – bezeichnend für eine typisch Rilke’sche Synthese des ›Prophetenbildners‹ zwischen Vermittlung von Inspirationserfahrungen und der teilweise ironischen Durchdringung der ›radikalen Mitteilungsform‹ des Propheten sowie für den Balanceakt zwischen rhythmischen Ausschweifungen373 und seinem Festhalten an der konventionellen Gedichtform. Während bei Rilke visionär autopoetische Konstruktionen in Aussicht gestellt, prophetische Körperpoetiken verführerisch vorgeführt werden – die teilweise den Arbeitsweisen von Cézanne und Rodin ähneln –, wird das Modell derjenigen Arbeitsweise doch nicht preisgegeben, die als subjektive Leistung die geordnete Verdichtung inspirativer Erfahrung markiert. Wie

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Rilke, Eine Sibylle. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 522. Vgl. Deutungsaspekte. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 917. Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel, S. 28. King spricht von »Selbstverkleinerung und Selbstüberhöhung« (King, Pilger und Prophet, S. 281). In einem Vergleich zwischen Henry Millers und Rilkes Sprachauffassung bemerkt Barmeyer, dass bei beiden die Inspiration, das selige Diktat als rhythmisches Phänomen gekennzeichnet ist (vgl. Barmeyer, Die Musen, S. 30).

Michelangelo – »der Mann der über einem Maß, / gigantengroß, / die Unermesslichkeit vergaß«374 – gottgleich die Propheten in der Sixtina ausmalt, ist die lyrische Textur schöpfergleich geformt.375 Der Topos des im Dienst der Sprache stehenden Propheten ist als eine Vision prophetischer Unmittelbarkeits-Poetiken zu sehen, die Rilke indes nicht unmittelbar umsetzt. Wie der Apostel und der Totengräber sind Josua, der Prophet und die Sibylle wiederum ›Zufrühkommer‹. Die den ›Propheten-Zyklus‹ dominierenden Feuer-, Sturm- und Fließmetaphern und die »expressive ›Autorsemantik des Schreis‹«376 wandern – wie King zeigt – in Rilkes Brief-Semantik (ungefähr ab 1910);377 sie liefern »die poetische Grundlage für Rilkes epistolare Prophetenrolle«378. Rilke äußert etwa gegenüber Magda von Hattingberg in einem Brief vom 16.2.1914 in Anlehnung an sein ›Propheten-Gedicht‹: »Es müsse der Feuerschein meiner aufständigen Lava über mir stehn, wie über dem Stromboli in seinen Element-Tagen.«379 An seinen Verleger Kippenberg schreibt Rilke aus Spanien, er werde, »wie Josua, die Sonne hier festhalten müssen«380. Rilke stilisiert sich zudem selbst zum wunden ›Mundstück‹: »Was ein Mund sein sollte, war eine Wunde geworden.«381 Oder er betont die inspirative Komponente bei der Gedicht-Entstehung: »Viele meiner Neuen Gedichte haben sich gewissermaßen selbst geschrieben, in endgültiger Form, oft mehrere an einem Tage […].«382An Marie von

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Rilke, Das waren Tage Michelangelo’s. In: Das Stunden-Buch. Vom mönchischen Leben, S. 172. Die letzte Strophe von »Das waren Die Tage Michelangelo’s« lautet: »Die vor ihm hatten Leid und Lust; / Er aber fühlt nur noch des Lebens Masse / Und daß er alles wie ein Ding umfasse, – / Nur Gott blieb über seinem Willen weit: / Da liebt er ihn mit seinem hohen Hasse« (Rilke, Das waren Tage Michelangelo’s, S. 172). Bei Rilke ist das »Handwerk der Dichtung in der Arbeit am Sprachmaterial zu erkennen« (Kahl, Lebensphilosophie und Ästhetik, S. 25). Es geht ihm dabei letztlich um die Konstruktion von Wirklichkeit: »Irgendwie muß auch ich dazu kommen, Dinge zu machen; nicht plastische, geschriebene Dinge – Wirklichkeiten, die aus dem Handwerk hervorgehen« (Rilke, Brief an Lou Andreas-Salomé vom 10. August 1903. In: Rilke: Briefe, Bd. 1, S. 157). Insofern ist Kahl zuzustimmen, der im Anschluss an Wellbery und Breuninger in diesem Zusammenhang den Mythos vom ›Dinggedicht‹ relativiert und die »Dinglichkeit der poetischen Artefakte selbst« fokussiert: »Die Dinglichkeit der Dichtung wäre also in ihrem Darstellungsmedium und nicht in ihrem Gegenstand begründet« (Kahl, Lebensphilosophie und Ästhetik, S. 25). King, Pilger und Prophet, S. 269. Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 293. King, Pilger und Prophet, S. 289. Rilke, Brief an Magda von Hattingberg vom 16.–20.02.1914. In: Rilke, Briefwechsel mit Magda von Hattingberg »Benvenuta«, hg. von Ingeborg Schnack u. Renate Scharffenberg, Frankfurt am Main; Leipzig 2000, S. 111–137, S. 119. Rilke, Brief an Anton Kippenberg vom 09.11.1912. In: Rilke, Briefwechsel mit Anton Kippenberg 1906 bis 1926, hg. von Ingeborg Schnack u. Renate Scharffenberg, Frankfurt am Main; Leipzig 1995, S. 365. Rilke zitiert nach Windfuhr, »Religiöse Produktivität«, S. 50. Aus einem Gespräch Rilkes mit Maurice Betz 1925, zitiert nach Kommentar. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 901. Vgl. Rilke: »Ich rausche nur wie der Busch, in den der Wind gefahren ist,

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Thurn und Taxis schreibt er: »Sie werden schon fühlen, daß ich keine Wahl hatte. Die Stimme, die sich meiner da bedient, ist mehr als ich.«383 Solche brieflichen Äußerungen suggerieren freilich, dass der »Entstehungsprozess von Dichtung […] hinter dem Rücken des Subjekts«384 abläuft und der Text sich dabei des Autors bemächtigt.385 Rilke stilisiert sich aber nicht nur zum poeta vates oder Dichter-Propheten, sondern rekurriert ebenso auf das poeta-faber-Modell – was gerne übersehen wird oder jedenfalls nicht in direkter Gegenüberstellung zur Propheten-Inszenierung gebührend verhandelt wird.386 An Clara schreibt Rilke am 9.8.1907 beispielsweise mit Blick auf die Neuen Gedichte: »Es ist ein Buch: Arbeit, der Übergang von der kommenden Inspiration zur herbeigerufenen und festgehaltenen.«387 An die Adresse Lou Andreas-Salomés gehen ähnliche Zeilen, in denen er sich geradezu zum Leistungsethiker stilisiert: »Mit einer Art Beschämung denke ich an meine beste pariser Zeit, die der Neuen Gedichte, da ich nichts und niemanden erwartete und die ganze Welt mir immer mehr nur noch als Aufgabe entgegenströmte und ich klar und sicher, mit purer Leistung antwortete.«388 Schreiben thematisiert Rilke nicht nur als Gnadenakt, sondern ebenso als »schweres Handwerk«389, das als begrenzendes Gegengewicht zur Erfahrung der Entgrenzung fungiert. Trotz zahlreicher epistolarer Selbststilisierungen zum Dichter-Propheten, die auf Heiligenlegenden, das Alte Testament und auf Pfingstmotive der Apostelgeschichte u.a. rekurrieren,390 betont Rilke nicht nur das inspirative Moment,391 den Topos des furor poeticus, sondern auch seine Arbeitsleistung: Er distanziert sich zudem auch von seinen fi ktionalen Propheten, wenn er sich zum kompetenten Propheten-Schöpfer stilisiert. An Rilkes Aussage: »aber ich bin nicht wie Josua«392 ist doch beispielsweise eine deutliche Distanzierung zu seiner

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und muß mirs geschehen lassen« (Rilke, Brief an Marie Taxis vom 12.01.1912. In: Rilke u. Taxis, Briefwechsel, S. 91). Rilke, Brief an Marie Taxis vom Januar 1912, zitiert nach King, Pilger und Prophet, S. 308. King, Pilger und Prophet, S. 82. Vgl. King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung, S. 103f. Martina King pocht hingegen darauf, dass Rilke »nicht auf rationale Konzeptionen von Autorschaft wie poeta faber oder doctus abstellt, sondern auf das irrationale Modell des Vates« (King, Pilger und Prophet, S. 286). Rilke, Brief an Clara Rilke vom 09.08.1907 zitiert nach Kommentar. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S.  901; vgl. Wolfgang G. Müller, Neue Gedichte  / Der Neuen Gedichte anderer Teil. In: Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Manfred Engel unter Mitarbeit von Dorothea Lauterbach, Stuttgart; Weimar 2004, S. 296–318, S. 297. Rilke, Brief an Lou Andreas-Salomé vom 28.12.1911. In: Rilke, Briefe in zwei Bänden, Bd. 1, S. 367–372, S. 370. Rilke, Brief an die Gräfin Sizzo vom 17.03.1922. In: Rilke, Briefe in zwei Bänden, Bd.  2, S. 232–240, S. 236. Vgl. King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung, S. 98 u. S. 100. Vgl. King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung, S. 89–105 u. King, Pilger und Prophet, bes. S. 115ff. Rilke, Brief an Magda von Hattingberg vom 23.02.1914. In: Rilke, Briefwechsel mit Magda von Hattingberg »Benvenuta«, S. 167.

prophetischen Figur erkennbar. So beerbt er vielmehr sein prophetisches Vorbild Rodin, dem er Der Neuen Gedichte anderer Teil widmet:393 Diesen hatte er zuvor zum arbeitswütigen Propheten stilisiert, weil er sich auf Zukünftiges verstehe und zugleich das Credo des toujours travailler394 und des il faut avoir patience wie kein anderer inkarniere, wie oben ausgeführt. Die Dominanz der prophetischen Semantik scheint allerdings so stark, dass Rilke in der Rezeption vorgängig als poeta vates respektive als Dichter-Prophet wahrgenommen und fortgeschrieben wird.395 Seinen Künstlerberuf zwischen Inspiration und Handwerk entwerfend profi liert Rilke indes die zwei Gegenpole Zerstreuung und Konzentration, die an die inspirative Eingabe und das Prinzip der Arbeit respektive der Verarbeitung und Bewältigung von Erfahrungen zu koppeln sind. Diese beiden Pole spaltet er teilweise in seinen Propheten-Figuren auf und doch sind die beiden Propheten-Typologien aufeinander beziehbar. WagnerEgelhaaf verweist auf die mystische Paradoxie, die bereits den jungen Rilke in den Bann ziehe: »Selbstverkleinerung ist zugleich Selbstvergrößerung, Selbstzerstörung zugleich Selbstkonstitution.«396 Insbesondere das Motiv des Kampfes mit dem Engel stellt ebenfalls die Figur des ›überwundenen Überwinders‹ vor.397 Marie von Thurn und Taxis verehrt Rilke bekanntlich als dottor serafico, d.h. mit dem Beinamen Bonaventuras.398 Koch hebt zu Recht mit Blick auf die Duineser Elegien (1922) die Figuren des Engels hervor als »Figurationen der qualvollen Arbeit an einer neuen poetischen Sprache, die – wenn sie eintritt – zugleich persönliche Leistung und anonymes Geschehen, Ergebnis einer individuellen Anstrengung und Geschenk einer unverfügbaren Macht ist. In diesem Sinn kann Rilkes Engel verstanden werden als eine mythopoietische Figur der künstlerischen Arbeit und Inspiration.«399 Mit den Engels- wie mit den Propheten-Figuren wird nicht nur der »Augenblick der Eingebung, sondern das Gesamt der Voraussetzungen, Techniken, Gegenstände und subjektiven Quellen gelingenden Schreibens«400 abgemessen: »Es geht um die erarbeitete Gnade der

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Vgl. die Widmung: A mon grand ami Auguste Rodin (vgl. Rilke, Widmung. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 512; vgl. die Hinweise zur Entstehung der Neuen Gedichte und der Neuen Gedichte anderer Teil: Kommentar. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 899). Vgl. Rilke, Brief an Lou Andreas-Salomé vom 10. August 1903, S. 156. Vgl. zur Rezeption: King, Pilger und Prophet, S.  330f.; King, Säkularisierung und ReSakralisierung, bes. S. 96ff. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 60. Rilke zeigt die Überwindung des Propheten in der Rolle des ›Heimgesuchten‹ durch den Engel in »Der Schauende« (1901) schon früh an: »[…] Das ist der Engel, der den Ringern / des Alten Testaments erschien: / wenn seiner Widersacher Sehnen / im Kampfe sich metallen dehnen, / fühlt er sie unter seinen Fingern / wie Saiten tiefer Melodien. // Wen dieser Engel überwand, / welcher so oft auf Kampf verzichtet, / der geht gerecht und aufgerichtet / und groß aus jener harten Hand, / die sich, wie formend, an ihn schmiegte. / Die Siege laden ihn nicht ein. / Sein Wachstum ist: der Tiefbesiegte / von immer Größerem zu sein« (Rilke, Der Schauende. In: Das Buch der Bilder. In: Rilke, Werke, Bd. 1, S. 332f.). Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 238. Koch, Rilkes Engel, S. 128. Koch, Rilkes Engel, S. 128f..

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Sprachfindung, den Akt gelingenden Schreibens im Zusammenhang von Bewußtem und Unbewußtem, Intendiertem und Vernommenem, Können und Geschehenlassen.«401 So wie die Basis für die Engels-Figurationen der Duineser Elegien bereits im Buch der Bilder angelegt ist, so sind auch die Propheten-Gestalten der Neuen Gedichte in den frühen Erzählungen und im Übrigen auch schon im Stunden-Buch präfiguriert, etwa in »Ein Pilgermorgen«: Er neigte sich, als bräch er sich entzwei, und warf sich in zwei Stücken auf die Erde, die jetzt an seinem Munde wie ein Schrei zu hängen schien und so als sei sie seiner Arme wachsende Gebärde.402

Die hier genannte körperliche Zerstörung, der Mund als exponiertes Körperteil, die Gebärde sind richtungsweisend für Rilkes Prophetenfiguren. In »Tröstung des Elia« heißt es: »Gott, gebrauche / mich länger nicht. Ich bin entzwei.«403 Bei Rilke zieht sich demnach die Rezeption der prophetischen Inspirationstopoi und prophetischen Typologien wie ein roter Faden durch sein Werk. Als Ideal poetischer Sprache zelebriert er einerseits das prophetische Wort des Inspirierten, weil in ihm unmittelbar Wirklichkeit in den Signifi kanten aufscheint, die eine komplexe Repräsentation überflüssig macht, andererseits das prophetische Wort des zukunftsmodellierenden Selbstmachers, der auf seine Weise zu sehen und sich des inspirativen Auftrags zu bemächtigen gelernt hat. Unter Rekurs auf die Prophetenfigur werden von daher künstliche Synthesen zwischen poeta vates und poeta faber erprobt. Schwereloses Schreiben zielt schon seit Kleists Aufsatz »Über das Marionettentheater« gerade nicht auf Selbstverlust ab, sondern meint eine höchstmögliche Selbstreflexivität, die mit einer gesteigerten Selbstkonditionierung einhergeht.404 Ferner ist Rilkes an Rodin entwickeltes Leistungsdenken zu erinnern. In seiner Rolle als Mittlerwesen zwischen Diesseits und Jenseits präfiguriert die Prophetenfigur darüber hinaus die spätere Engels- und Orpheus-Gestalt.405 Als Hintergrund für Rilkes Propheten-Gedichte ist zudem Paris als Entstehungsort hervorzuheben, der Ort, an dem Malte mit spezifischen Angst-Erfahrungen konfrontiert wird.406

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Koch, Rilkes Engel, S. 129. Rilke, Ein Pilgermorgen. In: Rilke, Das Stunden-Buch. Von der Pilgerschaft, S. 226. Rilke, Tröstung des Elia, S. 518. Vgl. Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater. In: Kleist, Sämtliche Werke. Mit einer Einführung von Erwin Laaths, München 1952, S. 882–888. Vgl. Windfuhr, »Religiöse Produktivität«, S. 51. Vgl. ähnlich: Fülleborn, Rilkes Gebrauch der Bibel, S. 30.

V.3.6. Prophetische Nachklänge: Neues Sehen, neues Schreiben? (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, ›Jubelbriefe‹, Sonette an Orpheus) Die für die Propheten-Gedichte konstatierte Diskrepanz zwischen den prophetischen Unmittelbarkeits-Poetiken einerseits und den sich kunstvoll der radikalen Entgrenzung sperrenden Formen andererseits ist auch für Rilkes Malte (zwischen 1904 und 1910 entstanden) prägend. Dort wird die prophetische Wahrnehmungsweise durch die zentrale Thematik des Sehen-Lernens fortgeschrieben;407 vordergründig sind mystische und spiritistische Einflüsse zu verzeichnen, die wiederum passend zur vorangehenden Beschäftigung Rilkes mit prophetischen Figuren exponiert sind. Die Rilke-Philologie hat diese unter poetologischer Perspektive v.a. mit der Vorstellung des ›automatischen Schreibens‹ korreliert.408 Die Thematik des ›heiligen Diktats‹ ist bereits in den Propheten-Gedichten vorgebildet. Im Malte wird sie aufgegriffen und v.a. auf die Johannes-Figur projiziert, einen frühchristlichen Propheten,409 der somit ebenfalls einen mystisch-prophetischen Ursprung der Inspirationsthematik verbürgt:410 Das Schreiben mit zwei Händen steht also bei Rilke für das, was man gemeinhin als Inspiration bezeichnet, die sich für Rilke als ein der Kontrolle des Subjekts entglittenes potenziertes Schreiben darstellt, als ein Schreiben dem sich der Schreibende ›demütig‹ (vgl. die Bettine-Goethe-Stelle) zu unterwerfen hat. Der Schreiber ist dann nurmehr Reflex des Diktats. Dieses Phänomen des automatischen Schreibens ist aus der Mystik bekannt, die den schreibenden Mystiker sich als Werkzeug der göttlichen Macht empfi nden läßt.411

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Vgl. zu den okkultistischen Implikationen des Sehen-Lernens u.a.: Pytlik, Spiritismus und ästhetische Moderne, S.  173. Einige Briefe Rilkes können zudem als Rohmaterial für den Großstadt-Roman erkannt werden, und in diesen finden sich Bezüge zum zornigen Gott des Alten Testaments, so auch in folgender Briefpassage: »Paris […] ist eine schwere, schwere, bange Stadt. Und die schönen Dinge, die da sind, machen mit ihrer strahlenden Ewigkeit doch nicht ganz gut, was man durch die Grausamkeit und Wirrheit der Gassen und die Unnatur der Gärten, Menschen und Dinge leiden muß. Paris hat sich ganz verloren, es rast wie ein bahnverirrter Stern auf irgendeinen schrecklichen Zusammenstoß zu. So müssen die Städte gewesen sein, von denen die Bibel erzählt, daß der Zorn Gottes hinter ihnen emporstieg, um sie zu überschütten und zu erschüttern« (Rilke zitiert nach Raddatz, Rilke, S. 68f.). Der Gott der schrecklich-unordentlichen Stadt erschüttert Malte wie die Propheten. Vgl. zuletzt zusammenfassend: King, Pilger und Prophet, S. 314f. Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 316. In Rilkes Malte findet sich in der berühmten Passage über die intransitive Liebe ein Seitenblick auf den ›Diktatschreiber‹ Johannes von Patmos: »Solche Liebe bedarf keiner Erwiderung, sie hat Lockruf und Antwort in sich; sie erhört sich selbst. Aber demütigen hätte er sich müssen vor ihr in seinem ganzen Staat und schreiben was sie diktiert, mit beiden Händen, wie Johannes auf Patmos, knieend. Es gab keine Wahl dieser Stimme gegenüber, die ›das Amt der Engel verrichtete‹; die gekommen war, ihn einzuhüllen und zu entziehen ins Ewige hinein. Da war der Wagen seiner feurigen Himmelfahrt. Da war seinem Tod der dunkle Mythos bereitet, den er leer ließ« (Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 188f.). Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 99.

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Wagner-Egelhaaf folgert zuletzt, dass »der Text des ›Malte‹ also ›nahezu‹ das utopisch-ideale Schreiben selber ist. Nahezu: weil eine völlige Hingabe des Subjekts, vollkommene Gelassenheit erstens nicht erreicht werden kann und zweitens Subjekterfahrung und Schreiben unmöglich machen würde«.412 Als Vorlage für diesen Befund kann wieder an Rilkes Propheten-Gedichte mit ihrer Form-Strenge erinnert werden, aber auch an die Geschichten vom lieben Gott413, wo der Alleingang der schöpferischen Hände schon ironisch exponiert ist.414 Moritz Baßler, Georg Braungart, Priska Pytlik, Monika Fick und neuerdings Gísli Magnússon leiten hingegen Inspirationspoetik und Konzept des automatischen Schreibens von der bei Rilke virulenten spiritistischen Motivik her.415 Baßler weist eindringlich darauf hin, dass sich Rilke trotz Übernahme spiritistischen Gedankenguts von den spiritistischen Rhetoriken distanziere: Die merkwürdige Zwischenstellung des Malte liegt also darin, daß er die spiritistisch-emphatische Rhetorik poetologisch vertextet, ohne selber die dazu passenden Texturen aufzuweisen. [...] Maltes Schreibhand verselbständigt sich gar nicht, das Projekt einer Écriture automatique wird – wie gesagt – im Text nicht ausgeführt, sein ›Zitieren‹ bleibt bei einer Umschrift überkommener historischer und biblischer Texte stehen.416

Blickt man auf die Propheten-Gedichte, gehört es indes gerade zur Logik von Rilkes Überformung der Inspirationspoetik, dass sich ästhetische Leistung, formale Meisterschaft, Begrenzung einerseits und inspirative Entgrenzung, Dezentrierung und Aufwertung der eigenständigen Worte andererseits bei der Kunstentstehung gegenseitig ergänzen. Als zentrale Passage für die aus den Neuen Gedichten bekannte, prophetisch inspirierte Figur des ›überwundenen Überwinders‹ kann auch die berühmte, mystisch und spiritistisch aufgeladene ›Geistererscheinung‹ der fremden Hand

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Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 107. Vgl. Rilke, Die Geschichten vom lieben Gott. Das Märchen von den Händen Gottes, S. 348f. Vgl. ähnlich Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 100. In »O Nächte, Nächte, Nächte…« heißt es, »daß ich selber Hand bin eines, der mit mir wundersame Dinge tut« (Rilke, O Nächte, Nächte, Nächte…: Eintrag vom 21.11.1899. In: Rilke, Tagebücher aus der Frühzeit, zitiert nach: Pytlik, Spiritismus und ästhetische Moderne, S. 179). Vgl. Moritz Baßler, Maltes Gespenster. In: Mystique, mysticisme et modernité en Allemagne autour de 1900 = Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900. Mit einem Vorwort von Antoine Faivre / Préface de Antoine Faivre, hg. von Moritz Baßler u. Hildegard Châtellier, Strasbourg 1998, S.  239–253; G. Braungart, Spiritismus und Literatur um 1900. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Bd. 2: Um 1900, hg. von Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs u. Manfred Koch, Paderborn; München u.a. 1998, S.  85–92, bes. S.  90f.; Pytlik, Okkultismus und Moderne, S.  167–194; Fick, Spiritismus, Okkultismus, Gnostizismus und Rilkes Roman »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«; Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik, S. 338ff. Leitend für Rilkes spiritistische Vorstellungen ist v.a. Carl du Prels Maxime, dass das Jenseits nur das anders angeschaute Diesseits sei (vgl. Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 179), wodurch einem neuen Sehen der Weg gebahnt und v.a. eine Brücke zwischen Tod und Leben gebaut ist (vgl. Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 184 u. S. 186). Baßler, Maltes Gespenster, S. 245.

näher besehen werden, die die Konfrontation mit dem Medialen und der ästhetischen Verweigerung ihrer Umsetzung ins Bild setzt.417 Malte widerfährt diese vielzitierte Hand-Vision im Halbdunkel unter dem Schreibtisch auf der Suche nach dem für das Malen benötigten Rotstift: Ich erkannte vor allem meine eigene, ausgespreizte Hand, die sich ganz allein, ein bißchen wie ein Wassertier, da unten bewegte und den Grund untersuchte. Ich sah ihr, weiß ich noch, fast neugierig zu; es kam mir vor, als könnte sie Dinge, die ich sie nicht gelehrt hatte, wie sie da unten so eigenmächtig herumtastete mit Bewegungen, die ich nie an ihr beobachtet hatte. Ich verfolgte sie, wie sie vordrang, es interessierte mich, ich war auf allerhand vorbereitet. Aber wie hätte ich darauf gefaßt sein sollen, daß ihr mit einem Male aus der Wand eine andere Hand entgegenkam, eine größere, ungewöhnlich magere Hand, wie ich noch nie eine gesehen hatte. Sie suchte in ähnlicher Weise von der anderen Seite her, und die beiden gespreizten Hände bewegten sich blind aufeinander zu.418

Doch diese Vision setzt keineswegs ein spiritistisch inspiriertes automatisches Diktat in Gang, wie Baßler dies für den Malte allgemein – wie gesagt – konstatiert.419 Auch scheint es verfehlt, im Malte nur immer wieder Dissoziations- und Entfremdungserfahrungen zu sichten.420 Die Ohmacht des schreibenden Subjekts ist mit der temporären Suche nach dem Schreibwerkzeug verknüpft. Der Verlust von Maltes Stift

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Auch Wagner-Egelhaaf hebt die Hände Maltes als »Allegorie des Erzählens und Schreibens« (Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 93) hervor. In der berühmten ›Spiegelszene‹ erfährt der maskierte Malte beim Blick in den Spiegel eine ähnliche Verobjektivierung, wonach er zum Objekt, zum Spiegel, zu einem reinen »Stück« mutiert, während gleichzeitig der Spiegel eine subjektähnliche Macht entfaltet: »Der Augenblick der Vergeltung war für ihn gekommen. Während ich in maßlos zunehmender Beklemmung mich anstrengte, mich irgendwie aus meiner Vermummung hinauszuzwängen, nötigte er mich, ich weiß nicht womit, aufzusehen und diktierte mir ein Bild, nein, eine Wirklichkeit, eine fremde, unbegreifliche monströse Wirklichkeit, mit der ich durchtränkt wurde gegen meinen Willen: denn jetzt war er der Stärkere, und ich war der Spiegel. Ich starrte diesen großen, schrecklichen Unbekannten vor mir an, und es schien mir ungeheuerlich, mit ihm allein zu sein. Aber, in demselben Moment, da ich dies dachte, geschah das Äußerste: ich verlor allen Sinn, ich fiel einfach aus. Eine Sekunde lang hatte ich eine unbeschreibliche, wehe und vergebliche Sehnsucht nach mir, dann war nur noch er: es war nichts außer ihm« (Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S.  101f.). Die Verkleidung der Menschen steht einer wirklichen Wahrnehmung im Spiegel entgegen, und so drohen die Menschen ›Hälften‹ – wie im Aristophanes-Mythos in Platons Symposion – und Grenzfiguren zu sein, »weder Seiende noch Schauspieler« (Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 210). Wagner-Egelhaaf erkennt hierin »wesentliche Strukturmerkmale einer unio mystica« (Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 84), zumal der »Ausfall des Subjekts« (Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 84) mit einem Verstummen einhergehe. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 89. Vgl. Baßler, Maltes Gespenster, S. 240 u. S. 245. Vgl. zur Forschung, die die Verwandlung des Ichs unter negativen Vorzeichen interpretiert zusammenfassend: Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 180. Pytlik sieht hingegen zu Recht ein neues »Wirklichkeits- und Subjektverständnis« (Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 181) zugrunde gelegt, das sie unter Rekurs auf du Prels Vorstellung vom ›transzendentalen‹ Subjekt entwickelt.

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– dem Grabspaten des Totengräbers der frühen Erzählung vergleichbar – zeigt gerade die Unmöglichkeit prophetischer Kunst an, die erneut zu früh kommt.421 Nur ohne Schreibwerkzeug ist Malte befremdlichen Visionen ausgeliefert, wodurch er eine Dezentrierung und partielle Verdinglichung erfährt.422 Diese flößt ihm ein Grauen ein, letztlich davor: wie das ihm Widerfahrene zu erzählen sein könnte, denn das würde heißen: »Das Wirkliche da unten noch einmal durchzumachen, anders, abgewandelt, von Anfang an; zu hören, wie ich es zugebe, dazu hatte ich keine Kraft mehr.«423 Malte bevorzugt dementsprechend als unmittelbare Reaktion auf das seltsame Ereignis zunächst das Schweigen,424 das auch als eine typisch mystische ›Antwort‹ auf die Vision gewertet werden kann.425 Doch das Schweigen hat nicht das letzte Wort. Die Schweigsamkeit als eine Art Familieneigenschaft überwindend426 findet der gereifte Erzähler Malte – bildlich gesprochen – den Stift wieder und hat die Kraft, die Worte zu formen, das Erlebte zu erzählen. Bedingung für das Schreiben ist zwar die erfahrene Vision und die Fähigkeit des kleinen Malte, sich mit Neugierde427 auf das Eigenleben der Hand einzulassen.428 Doch liest man genau, wird die Wiedergabe des ominösen Erlebnisses auch ironisch abgemildert geschildert, was als Distanzierung zur mystisch oder spiritistisch konzipierten Figur des Medialen zu werten ist:429 Kurz vor der Begegnung der beiden Hände heißt es: »Ich verfolgte sie [die Hand], wie sie vordrang, es interessierte mich, ich war auf allerhand vorbereitet.«430 In der Verarbeitung der Vision agiert der Schreiber eigenmächtig, versteht sein Hand-Werk, wie das eingangs

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Vgl. dazu die obigen Ausführungen zu Rilkes »Der Totengräber« in Kapitel V.3.2. Vgl. zur Verdinglichung der Hand auch Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 144. Kimmich und Wilke konstatieren, »dass Rilke die moderne Form der Entfremdung und die ›vormoderne‹ Form von magischen Erlebnissen«, »hysterische Dislokation und magisch-mystische Erfahrung« (Kimmich, Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 144) hierbei zusammenstellt. Dass die Prophezeiung des ›Todes des Autors‹, der kameraähnlichen Aufzeichnung der Bilder, »der Mensch als Maschine, der Dichter als Kamera« (Kimmich u. Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 145) nur eine Episode im Malte darstellt, ist bei diesen unerfüllten Prophezeiungen indes zu berücksichtigen. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 90. Vgl. zur grundlegenden Angst vor der Unsagbarkeit: Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 63. Vgl. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, S. 92. Vgl. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 31. Vgl. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 89. Vgl. Malte beim Maskenspiel: »Sie [die Hand] bewegte sich wie ein Akteur, ja, ich möchte sagen, sie sah sich selber zu, so übertrieben das auch klingt. Diese Verstellungen gingen indessen nie so weit, daß ich mich mir selber entfremdet fühlte; im Gegenteil, je vielfältiger ich mich abwandelte, desto überzeugter wurde ich von mir selbst« (Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 98). King sieht einzig eine »ironisch vollzogene Dissoziation von Autor und Werk« bei der Stellvertreterfiktion des Grafen C.W. im »Nachlass des Grafen C.W.« am Werk (King, Pilger und Prophet, S. 347). Vgl. zur ernsthaften Interpretations-Variante: Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik, S. 101ff. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 89 [Hervorhebung, GW].

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aufgestellte Postulat es vorgibt: Da endlich etwas geschehen muss, wird Malte schreiben müssen.431 Eingelöst wird Maltes frühe Vermutung: »Ich glaube, ich müßte anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt da ich sehen lerne.«432 Die Vision ist Bedingung für die Möglichkeit des Schreibens; das Schreiben stellt deren Ver-Arbeitung und gleichsam Überwindung dar. Die Konzentration auf die Arbeit lässt die Quelle der Inspiration geradezu in Vergessenheit geraten; so heißt es am Ende der Aufzeichnungen: »Er vergaß Gott beinah über der harten Arbeit, sich ihm zu nähern«433. Deswegen ist es kurzschlüssig, die ausbleibende unmittelbare écriture automatique entweder gar nicht zu thematisieren, sie vorschnell als ›unmodern‹ zu bewerten oder allein die »mediale Befähigung des künstlerischen Subjekts«434 als bevorzugtes Dichterbild Rilkes auszugeben. Die Eigenmacht des Schreibenden findet sich darin begründet, in einer Welt der eigenen Bedeutungen leben zu wollen: »Ich würde so gerne unter den Bedeutungen bleiben, die mir lieb geworden sind:«435 Konträr dazu gleicht die Vorstellung vom Geschrieben-Werden, die oftmals als zentrale Passage für den Entwurf einer »Écriture automatique mit dem Ergebnis einer völlig neuen Textur (›kein Wort auf dem anderen‹) und Semiose (der Sinnwolkenbruch)«436 zitiert wird, geradezu einer apokalyptischen Prophezeiung, wie Malte sie im Futur formuliert:437 Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und es wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken sich auflösen und wie Wasser niedergehen. [...] Aber diesmal werde ich geschrieben werden. Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird.438

Der angezeigte Signifi kanten-Regen nimmt die Metaphorik prophetischer Rede auf, wie sie ähnlich in »Josuas Landtag«439 ausgestaltet ist. Die Isolation der Körperpartie ›Hand‹ als pars pro toto für den Schreibenden (oder als ›Torso‹) erinnert an die Fokussierung des Mundes als prophetisch relevante Körperpartie in vielen der Propheten-Gedichte. Wie in den Propheten-Gedichten sind Sprache und Körperlichkeit korreliert.440 Doch wird die Sprach-Vision, die darin besteht, dass die »Materialität

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Vgl. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 26. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 21. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 232. Vgl. etwa Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 187 u. S. 192. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 51f. Baßler, Maltes Gespenster, S. 240. Georg Braungart vergleicht diese Zukunfts-Vision interessanterweise mit Ausführungen der Mystikerin Marie Guyon (vgl. G. Braungart, Spiritismus und Literatur um 1900, S. 91f.). Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 52. Vgl. Rilke, Josuas Landtag, S. 457. Verse seien wiedergekommene Erfahrungen, heißt es: »Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht« (Rilke, Die

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der Sprache«441 unmittelbar die des menschlichen Körpers sein soll,442 – wie in den Propheten-Gedichten – nicht umgesetzt. Die berühmte Vision von der Eigenmacht der Worte, die das Subjekt entthronen, entspricht gerade nicht Maltes Wunschvorstellung,443 der vielmehr gegen diese ›Zukunftsmusik‹ einer Entsubjektivierung anschreibt. Die Verwirklichung dieser Vision leistet er nicht: »Aber ich kann diesen Schritt nicht tun, ich bin gefallen und kann mich nicht mehr aufheben, weil ich zerbrochen bin.«444 Das geschilderte Gefühl des Zerbrochenseins ist ebenfalls aus den Propheten-Gedichten herleitbar.445 Der Schritt zum Geschrieben-Werden würde Malte zwar mittels Selbstveräußerung befreien, ihn von seiner ›Arbeit am Wort‹ erlösen. Dagegen ist im Malte auch eine Gott-Annäherung mittels Werktätigkeit impliziert, die den Heiligen und den Dichter aufgrund ihrer Arbeitswilligkeit trotz Differenzen zusammenführt: Ich konnte mir denken, daß dies dem Heiligen geschah, damals, den eifernden Voreiligen, die gleich mit Gott anfangen wollten um jeden Preis. Wir muten uns dies nicht mehr zu. Wir ahnen, daß er zu schwer ist für uns, daß wir ihn hinausschieben müssen, um langsam die lange Arbeit zu tun, die uns von ihm trennt. Nun aber weiß ich, daß diese Arbeit genau so bestritten ist wie das Heiligsein; daß die da um jeden entsteht, der um ihretwillen einsam ist, wie es sich bildete um die Einsamen Gottes in ihren Höhlen und leeren Herbergen, einst.446

Im Gegensatz zu den »entarteten Geräten«, die sich in der »Unzucht der Zerstreuung« verlieren, eignet dem einsamen Heiligen wie dem Dichter die Fähigkeit, sich zusammenzunehmen:447 Der expansiven Ausdehnung der Dinge steht ein kontraktiver Modus entgegen, wie der vorgeführten Entsubjektivierung des Künstlers eine Resubjektivierung durch das Schreiben zu bescheinigen ist. Zwar wird im Malte mit

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Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 22). Vgl. ähnlich Kahl, Lebensphilosophie und Ästhetik, S. 213f. Kahl, Lebensphilosophie und Ästhetik, S. 216. Kahl folgert sogar, dass »die Bewegung des Körpers, der Weg Maltes durch die Stadt […] der eigentliche ›Text‹ der Aufzeichnung« (Kahl, Lebensphilosophie und Ästhetik, S. 217) sei und behauptet ferner im Anschluss an Kittler, dass »der ›Kurzschluss‹ zwischen ›Wortkörper‹ und biologischem Körper« (Kahl, Lebensphilosophie und Ästhetik, S. 219) möglich sei. Zuletzt erkennt er allerdings in seinen Reflexionen über die Motive Wand, Maske und Gesicht zu Recht eine »Warnung«, »das Ideal des unmittelbaren Schreibens, das im Malte gewiß eine wichtige Rolle spielt, auf Kosten des Moments ästhetischer Vermittlung absolut zu setzen« (Kahl, Lebensphilosophie und Ästhetik, S. 234, vgl. S. 238). Magnússons Folgerung, »der schlechte Künstler (= der junge, unreife Malte) schreibt, der mediale Künstler (= der in die Zukunft hineinprojizierte Idealkünstler Malte) ›wird geschrieben‹« (Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik, S. 326), berücksichtigt wieder nicht die offenkundige Distanznahme zu den esoterisch konnotierten medialen Konstruktionen. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 52. Vgl. Rilke, Tröstung des Elia. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 170. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 169.

einem strikt chronologischen Erzählen gebrochen,448 die Handlung und die zeitliche Kontinuität des Geschehens aufgelöst,449 doch hält der Erzähler Malte die Erzähleinheiten zusammen und es ist eine »räumliche Logik«450 als Gegengewicht zur radikalen Entgrenzung zu verzeichnen. Die den Propheten-Gedichten entlehnte Inspirationssemantik dominiert zuletzt noch die sogenannten ›Jubelbriefe‹ über die Vollendung der Duineser-Elegien und die Niederschrift der Sonette an Orpheus (1922).451 Implizite Autorpoetik in der Lyrik und explizite Selbstinszenierung im Brief sind bei Rilke in Beziehung gesetzt, bis zuletzt die epistolare Darstellung im poetischen Werk teilweise »wiederverwertet«452 wird.453 Eindringlich weist u.a. Sandra Pott auf die Widersprüchlichkeiten in Rilkes »emphatischen Selbstdarstellungen«454 hinsichtlich der Inspirationspoetik seiner Briefe hin: Der »lange Reflexionsprozeß«455 stehe an sich schon konträr zu seiner Inspirationspoetik. Vermutungsweise deutet Adriana Cid an, Rilke habe Arbeit und Inspiration kombiniert.456 Annette Gerok-Reiter bemerkt nebenbei, dass der »Sonettensturm« »völlig unerwartet, mit ungeheurer Intensität und dennoch verblüffender Präzision«457 über Rilke komme. Für die Legende um seine Inspiration im Februar 1922 unterscheidet Pott drei Akzentuierungen: Die Rilke zuteil gewordene Inspiration wird erstens als unverdientes Geschenk gepriesen,458 zweitens dient ihre

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Vgl. Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 199 u. S. 202. Vgl. u.a. Kahl, Lebensphilosophie und Ästhetik, S. 207. Kahl, Lebensphilosophie und Ästhetik, S. 208. Insbesondere die Technik des Aussparens gibt der »Imagination Raum« (Kahl, Lebensphilosophie und Ästhetik, S. 220). Vgl. zu den vorangehenden ›Duino-Briefen‹ von 1912: King, Pilger und Prophet, S.  293, S. 301 u. S. 308; vgl. zur »expressiven Autorsemantik des Schreis«: King, Pilger und Prophet, S. 269. King differenziert, dass »Rilkes Selbstentwurf im Brief weitaus weniger animalisch ausfällt als die Inspirationsbilder der Prophetengedichte« (King, Pilger und Prophet, S. 292). Vgl. zu den ›Jubelbriefen‹ von 1922 mit Forschungsüberblick: King, Pilger und Prophet, S. 311 u. S. 319ff., v.a. S. 330ff. King, Pilger und Prophet, S. 283, vgl. S. 269ff., bes. S. 282 u. S. 321. Axel Gellhaus meint deswegen, man müsse »die poetologische Reflexion der späten Gedichte auf die Erfahrung der Autonomie des poetischen Prozesses hin befragen« (A. Gellhaus, Enthusiasmus und Kalkül. Reflexionen über den Ursprung der Dichtung, München 1995, S. 87). Auch Nikolaus Lohse beschäftigt sich mit Rilkes Inspirationspoetik und verbindet sie mit poetologischen Perspektiven (N. Lohse, Dichterische Inspiration? Überlegungen zu einem alten Topos und zur Frage der Entstehung von Texten. In: Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen, hg. von Axel Gellhaus, Würzburg 1994, S. 287–311, S. 290). Vgl. S. Pott, Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke, Berlin 2004, S. 335. Pott, Poetiken, S. 341. Vgl. A. Cid, Mythos und Religiosität im Spätwerk Rilkes, Frankfurt am Main; Bern u.a. 1992, S. 68. A. Gerok-Reiter, Wink und Wandlung. Komposition und Poetik in Rilkes »Sonette an Orpheus«, Tübingen 1996, S. 15. Vgl. Rilke, Brief an Dory Von der Mühl vom 23.06.1922. In: Rilke, Briefe an Schweizer Freunde, hg. von Rätus Luck. Erweiterte und kommentierte Ausgabe, Frankfurt am Main u.a.

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Bekundung dazu, den asketisch-heiligen Dichter als Vorbild für den Gymnasiasten Xaver von Moos zu profi lieren459, und schließlich drittens wird die Inspiration – wie in den Propheten-Gedichten – als Naturgewalt ausgezeichnet460.461 Die Varianz der Inspirations-Beschreibungen ist freilich auch als Akkomodation an den jeweiligen Adressaten zu verstehen, wie dies insbesondere King sorgfältig herausstellt.462 Kulminationspunkt der Inspirationspoetik ist für Pott das reaktivierte Bild vom »passiven Dichter- bzw. Schreiber-Selbst«463: »Rilke setzt Machs ›unrettbares Ich‹ poetisch um. Der passive ›reine‹ Dichter gibt sich als Mensch ganz auf und notiert nunmehr, was ihm eine fremde, beängstigende und doch bereichernde Inspiration eingibt.«464

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1994, S. 299: »[…] weil sie ohnehin ihrer Natur nach mehr sind als von mir, nun eigentlich geschenkt worden.« Vgl. Rilke, Brief an Margot Sizzo vom 12.04.1923. In: Rilke, Briefe in zwei Bänden, Bd. 2, S. 294–300, S. 297: »Ich konnte nichts tun, als dieses Diktat dieses inneren Andrangs rein und gehorsam hinzunehmen.« Vgl. Rilke, Brief an Withold Hulewicz vom 13.11.1925. In: Rilke, Briefe in zwei Bänden, Bd. 2, S. 374–378, S. 375: »Als ich 1922 (hier) diese [Duineser Elegien] wieder aufzunehmen wagte, kamen den neuen Elegien und ihrem Abschluss die, in wenigen Tagen, stürmisch sich auferlegenden ›Sonette an Orpheus‹ (die nicht in meinem Plane waren) zuvor. Sie sind, wie das nicht anders sein kann, aus derselben ›Geburt‹ wie die ›Elegien‹, und daß sie plötzlich, ohne meinen Willen, im Anschluß an ein frühverstorbenes Mädchen, aufkamen, rückt sie noch mehr an die Quelle ihres Ursprungs; dieser Anschluß ist ein Bezug mehr nach der Mitte jenes Reiches hin, dessen Tiefe und Einfluß wir, überall unabgegrenzt, mit den Toten und Künftigen teilen.« Vgl. Rilke, Brief an Xaver von Moos vom 20.04.1923. In: Rilke, Briefe an Schweizer Freunde, S. 350: »Sie erwähnen der Sonette an Orpheus: diese mögen dem Leser, ab und zu, etwas rücksichtslos gegenüberstehen. Sie sind vielleicht das geheimste, mir selber, in ihrem Aufkommen und sich-mir-Auftragen, rätselhafteste Diktat, das ich je ausgehalten und geleistet habe; der ganze erste Teil ist, in einem einzigen atemlosen Gehorchen, zwischen dem 2. und dem 5. Februar 1922 niedergeschrieben, ohne daß ein Wort im Zweifel oder zu ändern war.« Vgl. Rilke, Brief an Claire Studer-Goll vom 11.04.1923. In: Rilke, Briefe in zwei Bänden, Bd. 2, S. 293f.: »Denn daß mein Schweigen so vorhalten konnte, lag nur an diesem Ergriffensein durch die Arbeit; nie hab ich so ungeheure Stürme des Ergriffenwerdens durchgemacht, ich war ein Element, Liliane, und konnte alles, was eben Elemente können; und obgleich diese Hoch-Zeit menschlich gemessen, kurz war (länger hätte sie mein Körper kaum durchgehalten) so war eben doch alles vorher und nachher von ihr bestimmt und befehligt […].« Vgl. Rilke, Brief an Marie Taxis vom 19.12.1922. In: Rilke u. Taxis, Briefwechsel, S. 115: »Der Geist fährt so unwirsch aus und ein, kommt so wild und bleibt so plötzlich aus, daß mir zumuth wird, als ging ich, körperlich, dabei in Stücke.« Vgl. die Anlehnung an Rilkes »Tröstung des Elia«: Rilke, Tröstung des Elia. Vgl. Pott, Poetiken, S. 338f. Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 319ff., v.a. S. 330ff. King differenziert dabei auch individuelle Schwerpunkte von Inspirationssemantiken, wonach etwa Rilke und die ältere Philosophin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé »Passions- und Prophetiebilder« austauschen, »Rilke und die Musikerin Hattingberg Gebets- und Predigtrhetorik, Rilke und die einflussreiche Insel-Herrin Katharina Kippenberg Pfingstfiguren« (King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung, S. 99). Pott, Poetiken, S. 341. Pott, Poetiken, S. 384. Vgl. Pott, Poetiken, S. 340: So »läßt sich Rilkes Inspirationspoetik als ein Verständnis vom dichterischen Prozeß beschreiben, das diesen als von einer höheren

Diese Vorstellungen vom inspirierten Dichter scheinen demnach wieder in Vorstellungen einer écriture automatique, eines ›dezentrierten Schreibens‹, den Topos des ›rätselhaften Diktats‹ zu münden: Die Aufsprengung und Entgrenzung des schreibenden Subjekts ginge dann mit seiner Degradierung zum reinen Medium einher, die einer radikalen Entmachtung des Autors gleicht: Diesem Befund schließt sich zuletzt King an, denn in Rilkes »Inspirationsszenarios bemächtigt sich der Text des Autors«465, wie sie behauptet,466 und der Verfasser bleibe »fremdbestimmt«467, was sie nicht näher mit Blick auf die Gedichte erläutert. Pytlik und Magnússon betonen – wie gesagt – die spiritistische Grundierung von Rilkes medialem Autorschaftsbild, auch in seinen Briefen.468 Merkwürdigerweise vernachlässigt die Rilke-Philologie Rilkes Abwertung medialer Ereignisse zugunsten eines Lobs seiner Leistung,469 wie etwa im Brief an Nora Purtscher-Wydenbruck vom 11.8.1924 artikuliert, oder zieht nicht die notwendigen Schlüsse aus derartigen Aussagen: Wer, innerhalb der dichterischen Arbeit, in die unerhörten Wunder unserer Tiefen eingeweiht, oder doch von ihnen, wie ein blindes und reines Werkzeug, irgendwie gebraucht wird, der mußte dazu gelangen, sich im Erstaunen eine der wesentlichen Anwendungen seines Gemüts zu entwickeln. Und da muß ich gestehen, mein größtes, mein leidenschaftlichstes Staunen ist bei meiner Leistung, ist bei gewissen Bewegungen in der Natur, mehr noch als etwa bei den medialen Ereignissen, so ergreifend sie mir ab und zu geworden.470

»Ich bin, zum Glück, medial vollkommen unbrauchbar«471, hält Rilke im selben Brief unmissverständlich fest. In diesem ›Spiritismus-Brief‹472 spricht er zudem von

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Macht angestoßen sieht und den Dichter als Mittler oder ›Element‹ betrachtet: als passiv empfangendes und bloß ausführendes Organ, als Schreiber, der sich ganz in den Dienst des unbekannten Schöpfers oder der schöpferischen Naturgestalt stellt.« King, Pilger und Prophet, S. 323. Vgl. King, Säkularisierung und Re-Sakralisierung, S. 103f. Zugleich relativiert sie diese Aussage selbst, wenn sie an anderer Stelle Rilkes ausgeprägten »Form und Stilisierungswillen« und den Artefakt-Charakter der Briefe benennt (King, Pilger und Prophet, S. 340), ohne dieses Faktum indes kritisch von den Inspirationsschilderungen abzuheben. King, Pilger und Prophet, S. 350. Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 170f., bes. S. 187 u. S. 192f.; vgl. Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik, bes. S. 109ff. Pott weist zwar auf die Hervorhebung der Leistung hin, setzt diese aber nicht in Zusammenhang mit Rilkes poetologischen Konsequenzen (vgl. Pott, Poetiken, S. 343). Sie betont die »Kontinuität des schöpferischen Prozesses« Rilkes, seine »Eigenmächtigkeit«, »auszuwählen und zu gestalten« (Pott, Poetiken, S. 341f.), wodurch ein Widerspruch zu seiner inszenierten plötzlichen Ergriffenheit entstehe. Konzentriert man Rilkes Selbstinszenierung indes auf das Mittlertum eines typischen Propheten, spiegelt sich in der widersprüchlichen Erklärungsstruktur nur die Dialektik desselben: Ergriffen ist der Prophet Objekt, arbeitend wird er zum kreativen Subjekt. Rilke, Brief an Nora Purtscher-Wydenbruck vom 11.08.1924. In: Rilke, Briefe in zwei Bänden, Bd. 2, S. 331–336, S. 334f. Rilke, Brief an Nora Purtscher-Wydenbruck vom 11.08.1924, S. 335. Vgl. zu den Umständen des ›Spiritismus-Briefs‹: Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik, S. 111f. Vgl. G. Wacker, Rezension zu Gísli Magnússon, S. 487f.: »Als Summe

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notwendigen »Gegengewichten«, die sein Bewusstsein den Erscheinungen seiner ›Duineser Sitzungen‹ entgegensetze: Aber ich habe gerade diesen [den Erscheinungen] gegenüber, während ich sie gehorsam, ernst und ehrfürchtig hinnahm, den merkwürdigen Instinkt, ihnen sofort, wenn sie in mich ein- und übergehen, Gegengewichte in meinem Bewußtsein aufzuwecken: nichts wäre mir fremder, als eine Welt, in der solche Mächte und Eingriffe die Oberhand hätten.473

»Schreiben zu können ist, weiß Gott, nicht minder ›schweres Handwerk‹«474, lässt er Margit Sizzo wissen. Die Behauptung, dass »Einträge von Reflexivität und Mittelbarkeit allerdings fehlen, wenn sich Rilke zum Propheten stilisiert«475, ist insofern fragwürdig. Wie Axel Gellhaus allgemein zum Inspirationsdiskurs des 18. Jahrhunderts bemerkt, sind Unmittelbarkeit und Reflexivität – u.a. bei Hölderlin – dialektisch aufeinander zu beziehen.476 Wie bei Trakl spielt auch bei Rilke die Figur der sobria ebrietas noch eine entscheidende Rolle in den Vorstellungen der Kunstproduktion.477 So weit entfernt ist Rilke dabei nicht von einer poetologischen Tradition, die die Dialektik von Entrückung und Besonnenheit, ›Natur und Reflexion‹478 als Basis jeder Kunstentstehung postuliert. Wenn in der Forschung immer wieder forciert wird, dass Rilke zeitlebens eine Produktionsästhetik der Inspiration vertreten habe,479 ist dies

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von Rilkes Spiritismus- und Okkultismusrezeption kann der berühmte ›Spiritismus-Brief‹ von Rilke an Nora Purtscher-Wydenbruck gelten, wo Rilke allerdings bewusst ein ›Gegengewicht im Bewusstsein‹ zum Übersinnlichen fordert, was Magnússon mit Blick auf Rilkes ›nonduale Figur‹ (102) erläutert. Er versteht Rilkes Zeugnisse seiner ›Gipfelerfahrungen‹ ferner als Dokumente eines höheren Bewusstseinszustandes, genauer des transrational höheren Bewusstseins und gerade nicht als diejenigen eines prärational niederen Unbewussten, um dem von der Forschung ignorierten ›Prä/Trans-Irrtum‹ (240) zu entgehen.« Rilke, Brief an Nora Purtscher-Wydenbruck vom 11.08.1924, S. 335. Ähnlich kritisch wie gegenüber den spiritistischen Erscheinungen äußert sich Rilke gegenüber dem Christlichen: »[…] denn das Christliche ist fortwährend, vor unseren Augen, außer stand, den Übergewichten der Not die reinen Gegengewichte zu stellen« (Rilke, Brief an Rudolf Zimmermann vom 16.01.1922. In: Rilke, Briefe, hg. vom Rilke-Archiv in Weimar in Verbindung mit Ruth SieberRilke. Besorgt durch Karl Altheim, Bd. 2: 1914–1926, Wiesbaden 1950, S. 299–301, S. 300). Rilke, Brief an die Gräfin Sizzo vom 17.03.1922, S. 236. King, Pilger und Prophet, S. 350. Vgl. Gellhaus, S. 261ff. Vgl. zur sobria ebrietas stellvertretend: Gellhaus, S. 69ff. und Lohse, S. 293f. Nach Mathias Mayer speist sich auch »die Natürlichkeit Goethescher Lyrik gerade aus der integrativen Leistung einer ›sentimentalischen Reflexion‹ (7) mit den Kategorien Schillers beschrieben und zwar mit dem Resultat, dass sich seine Lyrik durchgehend von einer ›natürlichen Reflexion‹ (vgl. 9) strukturieren lässt […]. Die vielfach von der Forschung eingehend diskutierten Kategorien des Erlebnisses, der Subjektivität, des Kunstcharakters werden von Mayer zwar nicht bestritten, aber doch aus einer neuen Perspektive verhandelt, wenn etwa der Zusammenhang von realem Erlebnis und poetischer Gestaltung mit den Kategorien ›Natur‹ und ›Reflexion‹ neuartig durchmessen wird« (G. Wacker, Rezension zu Mathias Mayer, Natur und Reflexion. Studien zu Goethes Lyrik, Frankfurt am Main 2009 [374 S.]. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 51, 2010, S. 457–461, S. 457f.). Vgl. stellvertretend Löwenstein, S. 212f. u. S. 217. Vgl. zum Stunden-Buch: W. Braungart, Das

einerseits richtig, andererseits dann irreführend, wenn er nur noch als Inspirierter erkannt wird. Zwar häufen sich ab 1911 Inspirationstopoi,480 doch wird gleichzeitig auch vermehrt die Kompetenz des Dichters exponiert. Als Merkmale der Leistung sind vornehmlich Rilkes poetologische Umsetzungen der inspirativen Erfahrungen hervorzuheben, wodurch die Differenz zwischen seiner poeta-vates-Inszenierung, einem Verständnis des Dichters als Mediums und seiner dem zuwider laufenden, relativ konventionellen, d.h. formbedachten Dichtungsart in den Blick gerät. Die Rettung des künstlerischen Subjekts vor einer vollständigen Auflösung im Medialen, wie sie auch in der Propheten-Figur als Medium aus den Neuen Gedichten bekannt ist, liegt eben in der Form, die als notwendige Bedingung und als Gegengewicht einer ekstatischen Mitteilung fungiert. Mit Ernst Stadler zu sprechen, wäre demnach Form auch »Wollust«,481 weil sie erst den notwendigen Stoff zum Zersprengen bietet. Die Formgebung überhöht die mediale Konstruktion und entspricht der subjektiven Leistung, wie es bereits an den Propheten-Gedichten ablesbar ist: Der von außen einbrechenden Entgrenzung des Subjekts steht dabei eine Selbst-Begrenzung durch Formgebung zur Seite, auch wenn diese ansatzweise Auflockerungen erfährt. So kann insbesondere die »Erste Duineser Elegie« zwar als »Diktat aus dem Jenseits«482 interpretiert werden, doch ist trotz Pluralität an Perspektiven selbst das lyrische Ich nicht annulliert.483 Mit Blick auf die Sonette an Orpheus ist eine »poetische Transformation okkultistischer Vorstellungen«484 zu verzeichnen,485 die das von den Propheten-Gedichten exponierte Thema der medialen Situiertheit des Künstlers aufgreift. Neben der von

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Stunden-Buch. In: Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Manfred Engel unter Mitarbeit von Dorothea Lauterbach, Stuttgart; Weimar 2004, S.  216–227, S.  218; Kluwe, Krisis und Kairos, S. 170f.; King, Pilger und Prophet, S. 318. Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 182. Vgl. E. Stadler, Form ist Wollust. In: Stadler, Dichtungen, Schriften, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Klaus Hurlebusch u. Karl Ludwig Schneider, München 1983, S. 138. Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 193. Vgl. Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 202. Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik, S. 386. Sie zeigen nach Magnússon deutlich, »dass eine ›visionäre Mimesis‹ (37, 364), der Versuch einer Versprachlichung der sinnlich-übersinnlichen Wirklichkeit auf die Präsenz des ›esoterisch-okkultistischen Codes‹ rekurriere, wie dies schon Kandinsky mit seinem Programm der ›inneren Notwendigkeit‹ und des Klangs postuliere (37). Das soteriologische Prinzip Orpheus sei überdies in der Rettung des Heiligen im Kunstwerk verankert (vgl. 370); die Vorstellung der Verwandlung des Sichtbaren ins Unsichtbare sei der alchemistischen Verwandlung (Transmutation) entlehnt (371); die Präsenz des ›Hiesigen‹ im ›Mehr-als-Hiesigen‹ als Figur der ›Kugel des Seins‹ entschärfe einzelne, teilweise aufscheinende dualistische Tendenzen (vgl. 386) und stamme aus dem Repertoire des sinnlich-übersinnlichen Monismus der okkultistischen Tradition« (G. Wacker, Rezension zu Gísli Magnússon, S. 488). Vgl. zum entindividualisierten und depersonalisierten Orpheus: J. Schmidt, Dichtung als esoterische Sinnstiftung. Rilkes »Sonette an Orpheus«. In: Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen, hg. von Olaf Hildebrand, Köln; Weimar; Wien 2003, S. 219–241. Vgl. zu den Sonetten an Orpheus und ihre »neue Poetologie« auch: GerokReiter, Wink und Wandlung, S. 67.

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Magnússon gezogenen Unterscheidung zwischen »spiritistischer« und »künstlerischer Medialität«486 ist indes auch die ästhetische Überformung der »künstlerischen Medialität« durch eine ›künstlerische Aktivität‹ hervorzuheben:487 »Eine ›ästhetisch gelungene Verwandlung‹ (vgl. 328) markiert eine Überwindung der Medialität, auch wenn diese die Vorbedingung für den ästhetischen Vollzug darstellt.«488 Im ›Spiritismus-Brief‹ heißt es zudem: »Wie viele Worte […] mögen auf Rechnung ihrer [der Einflüsse heimatloser Kräfte] Einwirkung zu schreiben sein.«489 Demnach gilt vielmehr auch für Rilke: »Wir machen mit Worten und Fingerzeigen / uns allmählich die Welt zu eigen.«490 Die rätselhafte Schlusspassage des Orpheus-Gedichts I, 16: »Doch meines Herrn Hand will ich führen und sagen: Hier. Das ist Esau in seinem Fell«491, zeigt beispielsweise, dass der Dichter die Hand des Orpheus führen will – wie es ein Brief Rilkes an die Gräfin Sizzo offenlegt –,492 um den Hund, dem dieses Gedicht gewidmet ist, segnen zu lassen, obgleich dieser, trotz medialer Begabung, wie es mit Blick auf die einem Hunde gleichende Stirn des Propheten im gleichnamigen Gedicht auch deutlich wird,493 keinen Anspruch auf das menschliche Erbe erheben darf. Magnússons Behauptung, dass der Dichter dadurch medial tätig sein werde,494 ist wieder irreführend, weil sich der Dichter doch sowohl des Mediums Orpheus als auch desjenigen des Hundes als Akteurs der Segnungsszene bedient.

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Vgl. G. Wacker, Rezension zu Gísli Magnússon, S. 488: »Dass Rilke indes noch mehr über die künstlerische Verwandlung staune denn über die medialen Ereignisse spiritistischer Provenienz, veranlasst Magnússon, zu Recht Rilkes Höherbewertung der ›künstlerischen Medialität‹ vor der ›spiritistischen Medialität‹ zu betonen (20, 327f.).« Vgl. G. Wacker, Rezension zu Gísli Magnússon, S. 489. »Seine [Magnússons] Kritik an der zu stark poetologisch orientierten Perspektive auf die Geisterhand im Sinne einer écriture automatique, die die genuine spiritistische Erfahrungsebene verwische, lässt bewusst außer Acht, dass oftmals gerade die ›Texturen‹ (Moritz Baßler) die spiritistische wie die ›künstlerische Medialität‹ übersteigen (346). So reduziert Magnússon allerdings selbst seinen eigenen Anspruch wieder, nicht nur spiritistisch-okkulte Quellen und Metaphern klassifizieren zu wollen. Anders gesagt verweigert er sich, die ›Gegengewichte‹ zum Spiritismus, die Formen und Texturen, anzuerkennen bzw. sich mit ihnen überhaupt auseinanderzusetzen, wie er dies eingangs ankündigt, wenn er betont, wie die écriture automatique zu künstlerischen Experimenten hinüberleite (vgl. 46, 51, 323). […] Es ist demnach missverständlich, Rilkes Leistungsgedanken, der nach Rilke höher als mediale Ereignisse zu bewerten sei, als ›künstlerische Medialität‹ (worunter die Forschung Rilkes ›selige Diktate‹ zählt) zu klassifizieren« (G. Wacker, Rezension zu Gísli Magnússon, S. 489f.). G. Wacker, Rezension zu Gísli Magnússon, S. 490. Rilke, Brief an Nora Purtscher-Wydenbruck vom 11.08.1924, S. 335. Rilke, Sonette an Orpheus, I/16, S. 248. Rilke, Sonette an Orpheus, I/16, S. 248. Vgl. Rilke, Brief an die Gräfin Sizzo vom 01.06.1923. In: Rilke, Briefe in zwei Bänden, Bd. 2, S. 305–308, S. 307: »Der Dichter will diese Hand führen, daß sie auch, um seiner unendlichen Teilnehmung und Hingabe willen, den Hund segne, der, fast wie Esau [ Jakob], sein Fell auch nur umgetan hat, um in seinem Herzen einer, ihm nicht zukommenden Erbschaft: des ganzen Menschlichen mit Not und Glück, teilhaft zu werden.« Vgl. Rilke, Ein Prophet, S. 521. Vgl. Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik, S. 382.

Orpheus gleicht den prophetischen Figuren, weil er eine Mittlerfigur zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem vorstellt,495 und »er gehorcht, indem er überschreitet«496, und doch bedient sich der Dichter seiner wie der Propheten. Wie im Malte und Rilkes frühen Erzählungen, die den prophetischen ›Zufrühkommer‹ vorführen, klingt die Frage nach der Möglichkeit einer ›reinen Empfängnis‹ des Dichters nur immer vage an, denn: »Wir, Gewaltsamen, wir währen länger. / Aber wann, in welchem aller Leben, / sind wir endlich offen und Empfänger?«497 Im Orpheus-Sonett »Atmen, du unsichtbares Gedicht!« wird der aus dem ›Spiritismus-Brief‹ genannte Begriff »Gegengewicht« verdichtet: »Gegengewicht, / in dem ich mich rhythmisch ereigne.«498 Als »Gegengewicht« ist dabei die Sonett-Form zu erkennen.499 Insofern ist der berühmte Vers »Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung«500 auch auf das Verhältnis von Begrenzung und Entgrenzung, Form und Ekstase applizierbar. Mit den an den Propheten-Figurationen exemplifizierten Polen des poeta vates, der Diener der Worte und zugleich – blickt man auf die Betonung der Gegengewichte, der formalen Meisterschaft – Handwerker und Former ist, lässt sich der Mythos von der reinen Inspirationspoetik relativieren, wie dies auch in späten Versen Rilkes deutlich artikuliert ist: Da dich das geflügelte Entzücken Über manchen frühen Abgrund trug, Baue jetzt der unerhörten Brücken Kühn berechenbaren Bug. Wunder ist nicht nur im unerklärten Überstehen der Gefahr; erst in einer klaren reingewährten Leistung wird das Wunder wunderbar. Mitzuwirken ist nicht Überhebung an dem unbeschreiblichen Bezug, immer inniger wird die Verwebung, nur Getragensein ist nicht genug. Deine ausgeübten Kräfte spanne, bis sie reichen, zwischen zwein Widersprüchen ... Denn im Manne will der Gott beraten sein.501

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Vgl. ähnlich: M. Frank, Rilkes Orpheus. In: Frank, Gott im Exil, S. 180–211, S. 186. Rilke, Sonette an Orpheus, I/5, S. 243. Rilke, Sonette an Orpheus, II/5, S. 259. Rilke, Sonette an Orpheus, II/1, S. 257. In der Musendichtung hingegen repräsentiert »die Objektivität des altgriechischen Sprachrhythmus […] ein überpersönliches, nach antiker Vorstellung: göttliches Prinzip des Sprechens« (Barmeyer, Die Musen, S. 45) Rilke, Sonette an Orpheus, II/13, S. 263. Rilke, Da dich das geflügelte Entzücken…. In: Rilke, Werke, Bd. 2, S. 314.

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Wunder-Erfahrung und mitwirkende Leistung als Komponenten des Dichters schließen sich nicht aus, sie gehen vielmehr ein Wechselverhältnis ein. Anstelle eines Sich-passiv-Tragenlassens wird die Aktivität des Künstlers hervorgehoben, die darin besteht, das Wunder zu verarbeiten; dadurch wird das Wunderbare noch gesteigert, noch »wunderbarer« (Vers 8). Schon frühe Zeilen aus »Am Rande der Nacht« geben weiteren Aufschluss über das Verhältnis von lyrischem Ich und den Dingen: Am Rande der Nacht Meine Stube und diese Weite, wach über nachtendem Land, – ist Eines. Ich bin eine Saite, über rauschende breite Resonanzen gespannt.   Die Dinge sind Geigenleiber, von murrendem Dunkel voll; drin träumt das Weinen der Weiber, drin rührt sich im Schlafe der Groll ganzer Geschlechter..... Ich soll silbern erzittern: dann wird Alles unter mir leben, und was in den Dingen irrt, wird nach dem Lichte streben, das von meinem tanzenden Tone, um welchen der Himmel wellt, durch schmale, schmachtende Spalten in die alten Abgründe ohne Ende fällt...502

Dass der Dichter wie der »biblische Heiland« »mit seiner Kunst Licht und Leben über die heillos im Abgrund liegende Welt« bringe und die Dichtung dadurch eine »messianische Qualität« erhalte, hält Kiesel fest.503 Nach Paul de Man ist die kühne Metapher der Dinge als »Geigenleiber« im Verbund mit der Saite folgendermaßen aufzuschlüsseln: Die Totalität des Einen besteht so aus einer perfekten Komplementarität: ohne den Resonanzboden der Geige ist die Saite ohne Wert, doch es genügt, beide zusammenzubringen, um ›die dunkle und tiefe Einheit‹ der Welt zittern und aufscheinen zu lassen. Alles scheint darauf hinzudeuten, daß dieses Gedicht als eine spätere Fassung der ›Übereinstimmung‹ zwischen der Innerlichkeit des Subjekts und der Außenwelt angesehen werden kann.504

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Rilke, Am Rande der Nacht. In: Rilke, Das Buch der Bilder, Bd. 1, S. 283. Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 125. Paul de Man, Allegorien des Lesens. Aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher u. Peter Krumme. Mit einer Einleitung von Werner Hamacher, Frankfurt am Main 1988, S. 67.

Die gegenseitige Durchdringung, ja technische Abhängigkeit von lyrischem Ich und den Dingen wird zudem genauer exemplifiziert. Zwar ist es das Subjekt, welches den Dingen eine Stimme verleiht, doch ist es selbst nur Mittler, Stimme der Dinge und scheint demnach selbst an Autonomie einzubüßen: »Dadurch, daß es eine Saite eines Musikinstruments wird, hat das Selbst für immer am Irren der Dinge teil. Immerhin verleiht es diesem Irren eine Stimme.«505 Zur dominanten Figur des Gedichts ist aber noch ein Überbau hinzuzudenken: Nicht nur die Struktur »der Metapher der Metapher«, wonach das Musikinstrument »ein der Sprache innewohnendes Potential« repräsentiert und gleichsam das »vollkommene Aneinanderfügen« von Subjekt und Objekt vorwegnimmt, kann als Pointe des Gedichts gelten.506 Das Zusammenstimmen von Saite und Geigenboden bedarf zur Tonerzeugung, zur Klangerzeugung ergänzend des Geigen-Bogens oder zumindest einer Hand, die die Saite berührt als Verknüpfungselement und als Befehlsgeber für das lyrische Ich, das »silbern erzittern« (Vers 11/12) soll. Als virtueller Bogen ist das Gedicht selbst in den Blick zu nehmen, in welchem ein Bogen geschlagen wird zwischen der Enge der Stube und der Weite des Landes sowie zwischen Saite/lyrischem Ich und den Dingen, ferner zwischen Dunkel und Licht, Irrnis und Leben, Abgrund und Himmel. Stellt man Rilkes poeta-vates-Inszenierung an die Seite des poeta-faber-Modells, tritt wieder in den Vordergrund, was beispielsweise Gottfried Benn in seinem Vortrag »Probleme der Lyrik« illusionslos als Diktum festschreibt: »Ein Gedicht entsteht überhaupt nur selten – ein Gedicht wird gemacht«507, wenn auch auf wunderbare Weise, wie man im Sinne Rilkes hinzufügen könnte.

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De Man, Allegorien des Lesens, S. 69. De Man, Allegorien des Lesens, S. 69f. Benn, Probleme der Lyrik [1951]. In: Benn, Gesammelte Werke in acht Bänden, hg. von Dieter Wellershoff, Bd. 4: Reden und Vorträge, Wiesbaden 1968, S. 1058–1096, S. 1059. Nicht vergessen werden darf freilich, dass Benn zwar als Kronzeuge für eine rationalistisch begründete Produktionsästhetik der Machbarkeit und damit einhergehend für eine Apologie des poeta-faber-Modells einsteht, mit einer kritischen Geste gegenüber seinen vorausgehenden Seher-Dichter-Kollegen verbunden (vgl. Detken, Art. Poeta, Sp. 1300), er indes in jungen Jahren selbst die Entstehung der Morgue-Gedichte (in seiner autobiographischen Schrift Lebensweg eines Intellektualisten von 1934) als Selbstkonstitution der Texte beschreibt und hierbei der Autor als mediale Größe konzipiert ist, als inspirierter Dichter: Er spricht von diesem Zyklus von sechs Gedichten »die alle in der gleichen Stunde aufgestiegen, sich herauswarfen, da waren, vorher war nichts von ihnen da; als der Dämmerzustand endete, war ich leer, hungernd, taumelnd und stieg schwierig hervor aus dem großen Verfall« (Benn, Lebensweg eines Intellektualisten. In: Benn, Gesammelte Werke in acht Bänden, hg. von Dieter Wellershoff, Bd. 4: Reden und Vorträge, Wiesbaden 1968, S. 19–68, S. 45). Der »Verfall«, die geschilderte Auslaugung des Autors geht typischerweise mit einer gesteigerten Produktionsleistung – göttergleich – im Zustand des Dämmerns einher. Die Inspirationsschilderung ist mit den üblichen Metaphern für die Dichter-Seher-Produktion versehen (vgl. zu Benns rationalen und irrationalen Momenten in seinen produktionsästhetischen Reflexionen: Barmeyer, Die Musen, S. 31ff.).

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VI. Georg Trakl: Prophetische Sprachfiguren

VI.1. Okkultes Erbe – mystisches und prophetisches Erbe bei Trakl Ich denke mir, daß selbst der Nahstehende immer noch wie an Scheiben gepreßt diese Aussichten und Einblicke erfährt, als ein Ausgeschlossener: denn Trakls Erleben geht wie in Spiegelbildern und füllt seinen ganzen Raum, der unbetretbar ist, wie der Raum im Spiegel. (Wer mag er gewesen sein?)1

Mit diesen gern zitierten Worten Rilkes ist die hermetisch anmutende Welt Georg Trakls einprägsam charakterisiert. Indem sich der kongeniale Propheten-Dichter Rilke angesichts Trakl’scher Verse in der Rolle des »Ausgeschlossene[n]«2 (im Modus einer nahen Ferne) begreift, spricht er wohl den meisten Trakl-Lesern aus dem Herzen.3 Dementsprechend maßt sich Rilke auch kein wörtliches Verstehen seines Kollegen an, sondern ist um eine intuitive Annäherung an dessen (Gesamt-)Erscheinung bemüht.4 Animiert von einer ihn faszinierenden »Helian«-Lektüre, die ihm das »grenzenlos Wortlose«5 vorstellt, beschäftigt sich Rilke eingehend mit Trakls Sebastian im Traum, dessen Einzigartigkeit des »Auftönens und Hinklingens«6 er

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Rilke in Briefen an den Herausgeber des »Brenner« vom Februar 1915. In: Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe, hg. von Ignaz Zangerle, Salzburg 19592, S. 10f., S. 11. Rilke in Briefen an den Herausgeber des »Brenner« vom Februar 1915, S. 11. Noch deutlicher kommentiert Ludwig Wittgenstein seine Lektüre Trakl’scher Gedichte: »Ich verstehe sie nicht. Aber ihr Ton beglückt mich« (Ficker, Briefwechsel 1914–1925, S. 328, zitiert in: Wunberg, Jahrhundertwende, S. 49). Auch Theodor Däubler betont, dass Trakls hermetische Sprache nur für wenige Eingeweihte verständlich sei (vgl. Clemens Heselhaus, Die Elis-Gedichte von Georg Trakl. In: DVjs, 28, 1954, S. 384–413, S. 384). Der Tenor der Trakl-Philologie ist ebenfalls dominiert vom Eindruck einer hermetischen Grundierung Trakl’scher Verse, die interpretatorische Festlegungen von vorneherein erschwert, wenn nicht gar grundsätzlich verwehrt (vgl. zum aktuellen Forschungsstand stellvertretend: Kemper, »Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«. Zur magischen Verwandlung von sprachlichem ›Un-Sinn‹ in Traklschen ›Tief-Sinn‹. In: Georg Trakl und die literarische Moderne, hg. von Károly Csúri, Tübingen 2009, S. 1–30; Eva Thauerer, Ästhetik des Verlusts. Erinnerung und Gegenwart in Georgs Trakls Lyrik, Berlin 2007, S. 61–124). Vgl. Rilke in Briefen an den Herausgeber des »Brenner« vom Februar 1915, S. 11. Insbesondere der »Helian« sei wie auf »Pausen aufgebaut, ein paar Einfriedungen um das grenzenlos Wortlose: so stehen die Zeilen da. Wie Zäune in einem flachen Land, über die hin das Eingezäunte fortwährend zu einer unbesitzbaren großen Ebene zusammenschlägt« (Rilke in Briefen an den Herausgeber des »Brenner« vom Februar 1915, S. 10). Rilke in Briefen an den Herausgeber des »Brenner« vom Februar 1915, S. 11.

rühmt. Darüber hinaus meint er, über die Helian-Figur Aufschlüsse über die »linoshaft mythische«7 Gestalt Trakls zu erhalten, scheint ihm doch dessen Werk aus dem »schicksalshaft Untergänglichen«8 seines Verfassers ableitbar. Diese Leidenschaft Rilkes für Trakl ist nicht allzu überraschend: Trotz noch so großer Unterschiede zwischen diesen beiden Lyrikern – im Lebensstil wie in ihrer literarischen Ausrichtung – sind doch einige Affinitäten bemerkenswert. Beispielsweise wird Trakl – ähnlich wie Rilke – neuerdings eingehend als spiritueller Dichter profi liert:9 Wenn man wie Kleefeld die virulente Rezeption gnostischer Elemente bei Trakl sichtet, erkennt man, wie sich für den österreichischen Lyriker das Dichten als ein »alchemistisches Sprachexperiment«10 entpuppt,11 genauer stellt sich »Trakls poetische Schmiedekunst«12 als eine »alchemistische Läuterungs- und Reinigungsprozedur«13 dar.14 Obwohl Rilkes Orpheus-Sonetten ein ganz anderer Ton zugrunde liegt, wählt zuletzt Magnússon einen vergleichbar fruchtbaren Zugang zum okkulten Rilke, wie im

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Rilke in Briefen an den Herausgeber des »Brenner« vom Februar 1915, S. 10. Rilke in Briefen an den Herausgeber des »Brenner« vom Februar 1915, S. 10. Die wesentlichen Grundzüge von Trakls »gnostische[m] Artistenevangelium« erarbeitet Gunther K. Kleefeld in seiner Studie Mysterien der Verwandlung. Das okkulte Erbe in Georg Trakls Dichtung (G. K. Kleefeld, Mysterien der Verwandlung. Das okkulte Erbe in Georg Trakls Dichtung, Salzburg; Wien 2009, S. 191, S. 206, S. 238, S. 240 u.a.). Ausgehend von einem aus dem Nachlass der Schwester Margarete Trakl neu entdeckten Skizzenblatt mit astrologisch-numerischen Zeichnungen und Berechnungen, hinter denen Kleefeld anthroposophisches und explizit Rudolf Steiner entlehntes Gedankengut vermutet, rekonstruiert er eine Fülle an gnostischem Material bei Trakl: Vornehmlich die zentrale Rolle der Zahl Sieben – sowohl in der Bibel als auch im anthroposophischen Umfeld Steiners – lasse sich demonstrativ als zahlenkompositorischer Baustein auf einzelne Gedichte sowie auf den ›Bauplan‹ von Trakls Gedichtzyklen beziehen (vgl. Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, bes. S. 15–54). Dass sich Inzest-, Schuld- und Sühne- sowie Androgynie-Thematik bei Trakl unter biographischer Perspektive auf sein vieldiskutiertes (möglicherweise inzestuöses) Verhältnis zu seiner fünf Jahre jüngeren Schwester Grete kreuzen, und zwar fußend auf der alchemistischen Vorstellung der Transmutation (vgl. Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, bes. S. 99ff.), genauer der Verwandlung des Bösen, ist das Leitthema von Kleefelds Studie. Spekulativerweise geht Kleefeld allerdings mitunter so weit, Tra(c)kl in eine Reihe mit dem finsteren Vampir Dracula als potentiellen Namensvetter zu stellen (vgl. Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 243f.), und spätestens hier wird es schwierig, seinen assoziativen Ausführungen wissenschaftlich folgen zu können. Erste Hinweise auf gnostische Motive bei Trakl liefert Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 125, Fußnote 60. Vgl. zur Hermetik als essentiellem Kern moderner Ästhetik grundlegend auch: Ulli Seegers, Alchemie des Sehens. Hermetische Kunst im 20. Jahrhundert. Antonin Artaud, Yves Klein, Sigmar Polke, Köln 2003. Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 139. Trakl folgt hierbei der experimentellen Stoßrichtung der französischen Symbolisten Baudelaire, Mallarmé und Rimbaud (vgl. Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 131ff.). Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 136. Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 177. Vgl. Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 64.

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V. Kapitel dargestellt.15 Während Kleefeld bei Trakl vorrangig okkultes Gedankengut durchsieht16 und hauptsächlich auf den Sündenfall des inzestuös-triebhaften Menschen und dessen Erlösungsbedürftigkeit – im Rahmen einer kompensatorischen Kunstproduktion unter dem Leitmotiv »Das Gedicht als Sühne« – abhebt,17 bietet es sich an, die Projektion dieser okkult-hermetischen Vorstellungen auf die seinerzeit beliebte, ästhetisierte Propheten-Figur – wiederum wie bei Rilke – ergänzend auszuloten. Reminiszenzen an die biblische Arithmetik sind nämlich nur ein kleiner Ausschnitt aus Trakls Poetologie des Prophetischen.18 Das biblische und genuin prophetische Sprechen bietet einen entscheidenden Referenzpunkt für Trakls Sprachverständnis, das sich an Vorstellungen inspirierten Dichtens abarbeitet. Durch seine mythische Gestalt erhält es eine besondere Schattierung.19 Trakl ist wie Rilke als Dichter-Prophet zu identifizieren.20 Und selbst wenn prophetische Selbstbespiegeler (um nicht zu sagen Narzissten21) sich untereinander zunächst als ›fensterlose Monaden‹ wahrnehmen, scheinen sie sich doch in ihrem prägnanten Entwurf einer »mythisch« aufgeladenen Autorschaftspoetik zu erkennen, von der aus sie Bedingungen für ein (prophetisches) »Auftönen« grenzenlos-wortloser und zugleich schöner Verse ausbuchstabieren.22 Diese prophetische Wahlverwandtschaft mag mitunter Rilkes 15 16

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Vgl. Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik, bes. S. 363ff. Kleefeld folgt vornehmlich den Erkenntnissen von Pauens Gnosis-Studie. Dieser identifiziert bereits gnostische Elemente bei Charles Baudelaire und Stéphane Mallarmé und diskutiert ihren Stellenwert für Stefan George und Ludwig Klages (vgl. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, bes. S. 95ff. u. S. 135ff.). Vgl. seine vorausgehende Studie: Kleefeld, Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine psychoanalytische Studie, Tübingen 1985. Nur ansatzweise finden in Kleefelds Studie die vielfältigen Quellen und die historische Tiefenschicht, die der theosophischen Blütezeit um 1900 vorausgehen, eine Erwähnung, beispielsweise mit Verweis auf die lange Tradition der Zahlenmystik: »Mit seinem Kult der Sieben zeigt er sich als Adept einer Zahlenmystik, die, ausgehend von archaischer biblischer Arithmetik und inspiriert von pythagoräischem Denken, ein wesentlicher Bestandteil der kabbalistischen und gnostischen Überlieferung ist, ein Erbe der hellenistischen Spätantike« (Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 64). Vgl. zusammenfassend zur Diskussion über eine christlich religiöse Sinngewissheit bei Trakl: Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 90–99. Insbesondere in der frühen Trakl-Philologie sind Bemerkungen zu finden, die Trakl nebenbei als Dichter-Priester etikettieren: Trakl sei ein »Wahrheitskünder«, »nicht Mensch, sondern Priester, der in der Wahrheit Gottes dient« (Werner Meyknecht, Das Bild des Menschen bei Georg Trakl, Münster 1935, S. 8; vgl. Raymond Stephen Furness, A comparative study of the aesthetic and religious significance of the work of Rilke and Trakl, with special reference to the theme of death, Manchester 1962/63, S. 107); vgl. Matteo Neri: »In einer Reihe mit Dante und Hölderlin ist der Dichter Verkünder ewiger Wahrheiten, Prophet des Weltgeschehens, des herannahenden Unheils […]« (M. Neri, Das abendländische Lied. Georg Trakl, Würzburg 1996, S. 105). Vgl. zum Narziss-Mythos bei Trakl: Eric Williams, Schweigendes Tönen. Zur Wiederkehr der Flöten. In: Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion, hg. von Károly Csúri, Tübingen 1996, S. 149–167, S. 163. Vgl. nochmals: Rilke in Briefen an den Herausgeber des »Brenner« vom Februar 1915, S. 10f.

großes Interesse an Trakls Gedichten und an seiner mythischen Dichter-Gestalt erklären. Und so gelangt man zu einer weiteren Frage, neben derjenigen nach dem Mythos Trakl: Wer mag Helian gewesen sein? Etwas ähnlich linoshaft Mythisches wie Trakl selbst? Überdies mit mystisch-prophetischen Zügen versehen? Auf diese besondere Verknüpfung von Trakls Selbstentwurf als Prophet und seinen prophetisch ausgerichteten Kunstfiguren ist im Folgenden detailliert einzugehen. Neben dem skizzierten okkulten Erbe Trakls sind in der Trakl-Philologie Ansätze zu verzeichnen, die Trakls mystisches Erbe – wiederum den Rilke-Mystik-Studien vergleichbar23 – herausstellen und ferner sprachkritischen Reflexionen Trakls nachgehen.24 Siedelt man Trakls Verse an der Grenze des Sagbaren an und betont das typisch mystische Paradox, dass der Mystiker über etwas sprechen muss, worüber man eigentlich nicht sprechen kann,25 gelangt man wie Hans-Georg Kemper zu dem Ergebnis, dass die Mystik als ein bedeutsamer »Konvergenzpunkt von Person und Werk«26 bei Trakl fungiere, und dass zudem die für Trakl typischen Merkmale seiner lyrischen Sprache, das sind Abstraktion und Bildlichkeit, dem Sprachverständnis der Mystiker entlehnt seien.27 Kemper begnügt sich indes damit, diese »typologische Verwandtschaft«28 anzudeuten und verweist dabei relativierend auf den anderen Trakl, »der mit äußerster Anspannung, bewußt und logisch-rational in seinen Gedichten die Offenheit zwischen den Positionen herstellt. Wer auch diesen Zug etikettieren wollte, könnte ihn ›magisch‹ nennen und auch in der Biographie des Dichters die erwünschten Entsprechungen finden.«29 Mystik und Magie sind tatsächlich grundlegende

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Vgl. zur mystischen Tradition bei Rilke stellvertretend wieder: Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, bes. S.  62–107; Spörl, Gottlose Mystik, bes. S.  310–327; Muschg, Tragische Literaturgeschichte, S. 154. Vgl. die frühen Studien: Edgar Hederer, Mystik und Lyrik, München; Berlin 1941, S. 258ff.; Wolfgang Held, Mönch und Narziß. Hora und Spiegel in der Bild- und Bewegungsstruktur der Dichtungen Georg Trakls. Interpretationen, Freiburg im Breisgau 1960, S. 92ff.; Kemper, Georg Trakls Entwürfe. Aspekte zu ihrem Verständnis, Tübingen 1970, S. 204–209. Kemper zitiert zur Veranschaulichung sprachkritischer Reflexionen bei Trakl folgende Zeilen aus dem Fragment »Don Juans Tod«: »Dem Unfaßbaren hascht das träge Wort / Vergeblich nach, das nur in dunklem Schweigen / An unsres Geistes letzte Grenzen rührt« (Trakl zitiert nach: Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 202; vgl. Trakl, Don Juans Tod. In: Trakl, Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe in zwei Bänden, Bd. 1, hg. von Walther Killy u. Hans Szklenar, Salzburg 19872, S. 449–453, S. 449). [Im Folgenden sind, wenn nicht anders vermerkt, Trakls Schriften nach der Salzburger-Ausgabe zitiert. Zur Kritik an der Innsbrucker Edition vgl. Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 114]. Vgl. zum mystischen Paradox grundlegend: Alois M. Haas, Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik, Frankfurt am Main; Leipzig 2007 [zuerst Suhrkamp 1996], S. 127ff. Vgl. zu den typischen Paradigmata mystischer Rede in der Moderne stellvertretend und grundlegend wiederum: Wagner-Egelhaaf, Die mystische Tradition der Moderne, S. 41–57. Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 204. Vgl. Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 204–209. Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 209. Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 209.

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Subtexte mit Blick auf Trakls Autorschaftsentwurf und Sprachverständnis. Zur letztgenannten rationalen Komponente in der Dichtungsweise Trakls wäre hauptsächlich sein unermüdliches Feilen an Gedicht-Entwürfen zu zählen, ein Charakteristikum, das dem Dichterbildnis vom Handwerker nahekommt, dem Autorschaft sbild vom poeta faber, das auch Kleefeld bei Trakl mit Blick auf die magisch-alchemistische Wortkonzeption der Symbolisten fokussiert.30 Beide Zugangsweisen zu Trakl, sowohl die über okkultes als auch die über mystisches Gedankengut, sind freilich berechtigt und ergiebig. Dennoch ist Trakls Erbe noch breiter gestreut, denn neben vielerlei mythologischen Figuren (man denke nur an Orpheus oder das auch bei Trakl virulente (antike) Sehermotiv) nehmen auch Propheten-Figurationen einen großen Raum ein.31 Insbesondere Trakls Elis-Gedichte sind Zeugnisse einer solch biblisch-prophetischen Aufladung.32 Elis sowie die ihm verwandte Figur Helian verweisen auf eine esoterisch-prophetische Grundierung des Künstlerbilds bei Trakl. Und es ist geradezu verwunderlich, dass das prophetische Material – als Dichterbildnis und als Reflexionsfigur für eine Poetik des Prophetischen – bei Trakl noch nicht eingehend und umfassend gewürdigt wurde, auch wenn einzelne Aufsätze diese prophetische Fragestellung vorbereiten.33 Gerade Trakls prophetisches Erbe ist als eine Fundgrube für die poetologische Reflexionsfigur des Propheten in der Moderne hervorzuheben. Ein profunder prophetischer Zugang zu Trakl und seinen Gedichten bietet sich, genauer gesagt, aus zweierlei Gründen an: Erstens verwenden

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Lediglich anhand seltener Belege für die harte Arbeit am Material scheint das Autorschaftsmodell des poeta faber bei Trakl auf. So klagt Trakl in einem Brief an Erhard Buschbeck über ein Plagiat seines bildhaften Schreibstils, denn »mit einem Wort bis ins kleinste Detail ist das Gewand, die heiß errungene Manier meiner Arbeiten nachgebildet worden« (Trakl, Brief an Erhard Buschbeck, Wien, zweite Hälfte Juli 1910. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 478–479, S. 478). Für dieses Handwerker-Autorschaftsbild ist wieder Gottfried Benns vielzitierte Äußerung aus seinem Marburger Vortrag einschlägig: »Ein Gedicht entsteht überhaupt nur selten – ein Gedicht wird gemacht« (Benn, Probleme der Lyrik, S. 1059; vgl. stellvertretend zu Gottfried Benn: Jürgen Schröder, Gottfried Benns späte Lyrik und Lyriktheorie. In: Schröder, Gottfried Benn und die Deutschen. Studien zu Werk, Person und Zeitgeschichte, Tübingen 1986, S. 58–72; vgl. die Anmerkungen zu Benn im Kapitel V.3.6. dieser Studie). Eduard Lachmann betont als einer der Ersten allgemein Trakls Zugehörigkeit zur Tradition »prophetischer Dichtung« (E. Lachmann, Kreuz und Abend. Eine Interpretation der Dichtungen Georg Trakls, Salzburg 1954, S. 7). Hinter der ominös mythologisierten, prophetisch inspirierten Knaben- und Heilsgestalt Elis, die in einigen Gedichten Trakls (zentral in den Elis-Gedichten »An den Knaben Elis« (entstanden im April 1913) und in »Elis« (entstanden im Mai 1913) sowie in »Abendland« (vom Frühjahr 1914)) und im »Fragment 2« (»Ein Kreuz ragt Elis / Dein Leib auf dämmernden Pfaden«) erscheint, vermutet Kleefeld ein androgynes Wesen mit zerstörerischen Sehnsuchtstendenzen zur Ganzheit, genauer das Pendant zu Elisabeth, dem Opfer Blaubarts im »Blaubart-Fragment« (1910) (vgl. Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 111), ohne indes auf seine prophetischen Züge einzugehen. Verweise auf den Forschungsstand finden sich am jeweiligen, geeigneten Platz. Vgl. zum allgemeinen Forschungsstand wieder: Thauerer, Ästhetik des Verlusts, bes. S. 90–99.

die Biographen Trakls auffallend oft, geradezu unermüdlich, das Seher-Künstlerbild, um Trakls hellsichtige Verse und seine Erscheinung als Außenseiter, Sonderling, Fremdling, Zeitkritiker und visionärer Künstler auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.34 Zweitens leiten sie diese Sichtweise auf Trakl unter mannigfaltigem Rekurs auf seine literarischen Propheten-Figurationen ab; ihre Semantik, ihr teilweise biblisch aufgeladener Sprachstil speisen sich offenkundig aus Trakls prophetischem Motiv-Repertoire seiner heiligen Autorschaftspoetik. Unabhängig davon, ob man diesen Stilisierungen Trakls zum Seher und Propheten seiner Zeit Glauben schenken mag, lenken sie den Blick auf die Dominanz dieses Motivs in Trakls Lyrik und werfen – wie bei Rilke – die Frage nach dem Zusammenhang von (textexterner wie interner) Selbst- und Fremddarstellung als Dichter-Prophet, mithin von prophetischer Autorpoetik und einer daraus resultierenden Poetik des Prophetischen auf. Des Weiteren ist Trakls präferiertes Autorschaftsbild des Propheten nicht nur konzentriert in seinen Propheten-Figurationen zu finden, sondern diese geben gleichermaßen Paradebeispiele für eine Reflexionsbasis des reinen, biblisch-prophetischen Stils und eines symbolischen Schauens ab. Ferner zeigen sie Möglichkeiten, aber auch Widerstände einer wahrhaften Mitteilung auf. So sind die von ihnen ausgesendeten Authentizitätsund Präsenzsignale im Rahmen einer Unmittelbarkeitspoetik und durch die mediale Künstlersituierung einerseits deutlich exponiert, andererseits werden sie ansatzweise in der Präsentation bereits aufgehoben: Zwar drängen sich – wie bei Rilke –35 zeitweise die Diskrepanzen zwischen Schilderungen bewusstloser Selbstentäußerung (sei es im Rahmen einer Konstitution des Seher-Ich in Briefen, sei es mittels Inspirationstopoi in Gedichten), Annäherungen an ein prophetisch-authentisches Dichten (v.a. durch die Vorliebe für prophetische Heils- und Untergangsboten in Trakls Lyrik verkörpert) und reflexivem Schreibakt teilweise auf, doch sind bei Trakl vorwiegend interessante Analogien zu verzeichnen, etwa die Erfindung des Reihungsstils oder die paradox-mystische und prophetische Struktur des Sagens. Trakls prophetische Gestalten können deswegen als Kristallisationspunkte seiner Seher-Autorpoetik und seiner kreativen Transformation biblischen Sprechens aufgefasst werden.36 Denn

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Zur Dichterrolle Trakls als »Fremdling« siehe auch: Gudrun Susanne Littek, Existenz als Differenz. Der »Dichter« im Werk Georg Trakls, Marburg 1995, bes. S. 86–93. Vgl. als Quellengrundlage die ersten Nachrufe auf Trakl in: Erinnerung an Georg Trakl. Vgl. dazu wieder Baßlers Hinweis auf die »in narrativer Hinsicht irritierend unterdeterminiert« bleibende »spiritistisch-emphatische Rhetorik« im Malte (Baßler, Maltes Gespenster, S. 239 u. 245). Ähnliches wird mit Blick auf das prophetische Erbe und seine poetologischen Potentiale bei Trakl zu prüfen sein. Hebt die vorliegende Studie die Evokation biblischer Prophetie bei Trakl hervor, dann soll dies allerdings dezidiert nicht mit dem Ziel verbunden sein, einmal mehr eine müßige und spekulative Erörterung seiner individuell ausgeprägten Form der Religiosität anzustoßen, sondern es soll mit der Absicht geschehen, das Potential künstlerischer Anverwandlung der prophetischen Figur freizulegen. Insbesondere die frühe Trakl-Forschung wurde hingegen nicht müde, genuin christliche Interpretationen zu Trakl vorzulegen, und zwar mit Rekurs auf Trakls christlichen Freund, Förderer und Herausgeber der Brenner-Zeitschrift Ludwig

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seine prophetischen Kunstfiguren fungieren als Katalysatoren für neue prophetische Ausdrucksweisen, die in mehrere Entwicklungsstufen einzuteilen sind. Dies hängt auch mit seiner langwierigen Rezeption von unterschiedlichen Dichter-Seher-Vorgängern zusammen: Seine prophetischen ›Töne‹ speisen sich offenkundig aus einem Konglomerat an Dichter-Seher-Archivalien (v.a. Hölderlin, Novalis, Nietzsche, Rimbaud), einer geradezu wuchernden literarischen Intertextualität und Intratextualität im Sinne transformativer Aneignungsprozesse,37 die insbesondere die Einflussnahme von Seher-Dichtern großschreibt, sowie aus einer dichterischen Anverwandlung des berühmten Schlusskapitels des Neuen Testaments, des prophetischen Buchs »Die Offenbarung des Johannes«38, auch als ›Apokalypse des Johannes‹ bekannt.39 In der Darstellung unterschiedlicher Propheten-Figurationen, im inszenierten Dialog zwischen einer höheren Macht und dem (Dichter-)Propheten rückt ferner das Motiv der Schuld40 des Dichter-Propheten ins Zentrum, aber auch das des schuldig-unschuldigen Leidens, ja sogar das der felix culpa und nicht zuletzt das Propheten-Modell des stellvertretenden Leidens,41 das einem kathartischen Reinigungsakt entspricht. Um sich Trakls prophetischem Erbe zu nähern, sind einleitend einige wenige Hinweise zu Trakls Auseinandersetzung mit der biblischen Mitteilungsform im Allgemeinen erhellend. Gemäß einer Tagebuchnotiz Karl Röcks vom Juni 1912 reflektiert Trakl ausdrücklich die Diskrepanz zwischen biblischer und poetischer Mitteilungsweise, indem er letztlich das Mitteilungsorgan Lyrik grundsätzlich in Frage stellt:42

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von Ficker (vgl. v.a. Lachmann, Kreuz und Abend, S. 10; vgl. zum Forschungsstand: Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 90–99). Vgl. für eine theoretische Reflexion auf eine intertextuelle Lektüre bei Trakl exemplarisch zuletzt: Anette Hammer, Lyrikinterpretation und Intertextualität. Studie zu Georg Trakls Gedichten »Psalm I« und »De profundis II«, Würzburg 2006. Vgl. Offb 1–22, 21; vgl. Alfred Doppler, Orphischer und apokalyptischer Gesang. (Zum Stilwandel in der Lyrik Georg Trakls). In: Doppler, Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte, Wien; Köln; Weimar 1992, S. 11–32. Eine Nachzeichnung des prophetischen Impetus bei Trakl soll sich allerdings nicht einmal mehr darin erschöpfen, intertextuelle Bezüge aus dem großen Fundus des abendländischen Dichter-Seher-Topos summarisch nachzuweisen, sondern soll diese bilanzierend zusammentragen, um prophetische Dichtungsparameter zu eruieren. Vgl. Elisabetta Mengaldo, »Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn«. Religiöse Motive und elegische Dichtung bei Georg Trakl. In: Ästhetik – Religion – Säkularisierung, Bd. 2: Die klassische Moderne, hg. von Silvio Vietta u. Stephan Porombka, München 2009, S. 73–87, S. 75. Es ist noch zu klären, ob Schünemanns kurzer Hinweis auf die peccata irremissibilia sive mortalia (nach 1. Joh 5, 16 u. 17 solche Todsünden, welche den geistigen Tod, d.h. den Verlust des Gnadenstandes, zur Folge haben) für ein Trakl gemäßes Gnadenverständnis überhaupt zutrifft (vgl. Peter Schünemann, Georg Trakl. München 1988, S. 18–21), denn der Angst vor der ewigen Verdammnis sind bei Trakl auch positive Bilder mit utopischen Friedensanklängen an die Seite gestellt. Ebenso ist es einseitig, die Schuld als Blutschuld des Inzests auf das felix culpa-Modell zu übertragen (vgl. zu dieser These: Neri, Das abendländische Lied, S. 152). Dieses poetologische Statement Trakls erinnert an Goethes Differenzierung zwischen poetischem und prophetischem Sprechen (vgl. Goethe, Noten und Abhandlungen zum besseren

[…] was brauche man Gedichte und Welt als Wille und Vorstellung, wenn man das Evangelium habe. Ein paar Worte des Evangeliums haben mehr Leben und Welt und Menschenkenntnis als all diese Gedichte: ›Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich‹. Daneben seien die Dichter so überflüssig, so dumm, so […?]. Alle Dichter sind eitel und Eitelkeit sei widerlich […]. Mitteilen könne man sich auch nicht mit Gedichten. Man kann sich überhaupt nicht mitteilen.43

Derartige Überlegungen Trakls hinterlassen zunächst den Eindruck einer radikalen Sprachskepsis,44 sofern Lyriker eine anschauliche Mitteilung an einen Adressaten zu verfehlen drohen, geschweige denn eine erlösende Perspektive (vielleicht auch im Geiste Schopenhauers und seiner Welt als Wille und Vorstellung) bieten würden, wie die Botschaft der Bergpredigt (Mt 5, 1–7, 29, hier Mt 5, 3), das Manifest des neuen Mose45 Jesu, es hingegen modellhaft vormache:46 So legt dieser prägnante Vergleich zwischen Evangelist und Dichter den Schluss nahe, dass für Letztgenannten »das ästhetische Schaffen zu selbstreferentiell sei und, im Gegensatz zur Heiligen Schrift, der

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Verständnis des West-Östlichen Divans. In: Goethe, Sämtliche Werke in 18 Bänden, hg. von Ernst Beutler, Bd. 3: Epen, Westöstlicher Divan, Theatergedichte, Zürich 1977, S. 413–566, S. 432). Hans Szklenar, Beiträge zur Chronologie und Anordnung von Georg Trakls Gedichten auf Grund des Nachlasses von Karl Röck. In: Euphorion, 60, 1966, S. 222–262, S. 227; vgl. auch Mengaldo, »Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn«, S. 73. Vgl. Mengaldo, »Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn«, S. 73. Die »Bergpredigt« ist ein wichtiges Dokument für den Nachweis, dass die Verheißung der Propheten des AT im Sinne einer gesteigerten Wiederholung (gemäß einer Figural-Deutung) in Erfüllung geht: »Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen« (Mt 5, 17). Durch den Hinweis auf die Wirkung der »Bergpredigt« wird nochmals betont, dass hier einer spricht, der wie die Propheten (v.a. wie einst Mose als Künder der Zehn Gebote auf dem Berg Sinai) im Besitz der göttlichen Vollmacht ist (vgl. Mt 7, 28–29). Explizit ist ferner eine kleine Propheten-Kunde in die große Rede über die wichtigsten Gesetze im Rahmen einer neuen Heilsordnung und in das übergreifende Thema Gerechtigkeit eingebaut, wenn dort ausdrücklich vor den falschen Propheten wegen ihrer Unproduktivität, leeren Worte und Scharlatanerie gewarnt wird (vgl. Mt 7, 15–23). Die im Hauptteil angeführten »Antithesen« (vgl. Mt  5,  21–5,  48) überhöhen den schlichten Stil der »Seligpreisungen«, den Trakl (in der Schilderung Röcks) zunächst hervorhebt. Das Prinzip der paradoxen Formulierung lässt sich aber auch bei Trakl an anderer Stelle als strukturbildendes Prinzip, besonders im Blick auf seine Hölderlin- und Nietzsche-Rezeption, nachweisen. Vgl. zur »Bergpredigt« allgemein: Volker Eid, Helmut Merklein u. Louis Ridez, Bergpredigt. In: Lexikon für Theologie und Kirche, 2., völlig neu bearbeitete Auflage, hg. von Joseph Höfer, Bd. 2, Freiburg 1958, Sp. 223–227. An Erhard Buschbeck schreibt Trakl schon im Juli 1910 ganz ähnlich über seine angesichts der Worte empfundene »Ohnmacht«, indem er den Wortlaut der Bergpredigt stark modifiziert, wenn die Schau der Dinge einen Reichtum beschere, obwohl sie einen selbst (wahrscheinlich im Blick auf die adäquate Wortfindung) verarmen lassen würden: »Und es bleibt immer bei den Worten, oder besser gesagt bei der fürchterlichen Ohnmacht! […] Alles ist so ganz anders geworden. Man schaut und schaut – und die geringsten Dinge sind ohne Ende. Und man wird immer ärmer, je reicher man wird« (Trakl, Brief an Erhard Buschbeck, Wien, etwa 09.–15.07.1910. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 477).

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Lebens- und Wahrheitsdarstellung nicht gewachsen sei«47. Hermetik einerseits und Heilsbotschaft andererseits scheinen sich demnach auszuschließen. Im selben Augenblick verurteilt Trakl außerdem die persönliche Qualität des Dichters im Vergleich zum Evangelisten (hier Matthäus):48 Der Todsünde der Eitelkeit (superbia) verfallen, erfährt die Selbstbespiegelung des Dichters aufgrund ihrer mangelnden Demut und ob ihrer Nutzlosigkeit von ihm eine unmissverständliche Absage. Diese angezeigte Kontrastfolie des evangelischen Sprechens führt in das Zentrum sprachkritischer Reflexionen Trakls, die indes eine produktive Wende nehmen: Die aufgezeigte Grenzziehung fungiert als Movens für eine reanimierende Kreuzung von biblischem und poetischem Sprechen.49 Viele von Trakls Gedichten sind im Frühwerk bereits mit religiösen Motiven versehen, die manchmal dekorativ, manchmal biographisch angereichert sind.50 In seiner mittleren Periode kündigt sich »eine programmatische Wendung ins Religiöse«51 an, bereits ablesbar an Titeln wie »De profundis« oder »Psalm« (beide im September/Oktober 1912 verfasst).52 Früh betont Erwin Mahrholdt (1900–1925) die Anregungsfunktion des biblischen Stils für Trakl: »Die Bibel hielt Trakl als göttliche Offenbarung heilig; er gab sich ihrem Geiste hin, seine Verse klangen davon wider. Durch sie wurde die Schlichtheit und Reinheit seines Stils und sein symbolisches Schauen gefördert.«53 Und dieser angedeutete Einbruch des Biblischen (näherhin des Prophetischen) in seine ästhetische Mitteilungsform weist auf eine integrative und transformierende Imitation des evangelischen Sprechens hin (v.a.

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Vgl. Mengaldo, »Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn«, S. 73f. Den Auftakt der Bergpredigt bilden die zehn »Seligpreisungen« (vgl. Mt 5, 3–12), wo Tugenden und sittliche Bedingungen wie geistliche Armut, Trauer, Demut, Sanftmut, Gerechtigkeitssuche, Barmherzigkeit, ein reines Herz, Friedensstiftung und Leidensbereitschaft gepriesen werden. Insbesondere die Forderung nach einem reinen Herzen (vgl. »Selig, die ein reines Herz haben; / denn sie werden Gott schauen« (Mt 5, 8)) ist für Trakls Verständnis des inspirierten Dichters von großem Belang, wie es noch zu zeigen sein wird: Ähnlich wie Nietzsche, der bekanntlich die Vision der Bergpredigt scharf kritisiert, indem er die dort formulierten ethischen Gebote als Auswüchse einer »Sklavenmoral« brandmarkt (vgl. stellvertretend: Stephan Günzel, Art. Herrenmoral – Sklavenmoral. In: Nietzsche-Handbuch, hg. von Henning Ottmann, Stuttgart; Weimar 2000, Sp. 253–255), kreisen wichtige (auch poetologisch ergiebige) Motive bei Trakl immer wieder um das reine-unreine Herz des Dichters. Und dazu lässt sich mehr sagen, als dass »Sprache und Bilder des Christentums für Trakls Dichtung wesentlich [sind]« (Bernhard Gajek, Der Niederschlag religiöser Erfahrung in moderner deutscher Lyrik. [3. Georg Trakls »De Profundis«]. In: Moderne Lyrik als Ausdruck religiöser Erfahrung. Mit Beiträgen von Dieter Seiler, Bernhard Gajek u. Reinhard Dross, Göttingen 1964, S. 49–55, S. 54). Vgl. Hans Esselborn, Georg Trakl. Die Krise der Erlebenslyrik [sic!], Köln; Wien 1981, S. 31f. Mengaldo, »Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn«, S. 74. Vgl. zu diesen beiden Gedichten insbesondere: Hammer, Lyrikinterpretation und Intertextualität. Erwin Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl. In: Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe, hg. von Ignaz Zangerle, Salzburg 19592, S. 21–90, S. 67.

mit Bezug auf das Postulat der »Schlichtheit und Reinheit seines Stils«54) und zeigt, dass sich eine Interrelation von biblischem Sprechen und dichterischem Wort bei Trakl (auch angesichts einer drohenden Sprach-Ohnmacht) manifestiert. Aber auch umgekehrt kann gefragt werden, wie sich das Gebrechen am reinen Wort biblischer Provenienz bei Trakl äußert, wie sich Abgrenzungen zum genuin biblischen Sprechen abzeichnen. Alfred Dopplers grundsätzliche Einschätzung, dass »die Bibel zur Quelle für eine poetische Mitteilung wird, in der sich das Religiöse nicht direkt ausspricht, aber in der Struktur der Gedichte anwesend ist«55, ist richtungsweisend: Es ist eine undogmatische, gegen alles Ideologische gerichtete Religiosität, sie wird durch die Auffassung bestimmt, daß es Unsägliches gibt, daß sich die Heilsgeschichte der konventionellen Erfahrung und Mitteilung entzieht und daß sich die zeitgeschichtliche Dimension dieses Prozesses nur in der poetischen Vision und Konstruktion vermitteln läßt.56

Trakls Sprache wurzelt schließlich in der charakteristischen Mehrdeutigkeit und paradoxen Struktur prophetischen Kündens. Darauf macht auch Martin Heidegger früh aufmerksam: »In der selben Mehrdeutigkeit der Sprache, die aus dem Ort des Trakl’schen Gedichtes bestimmt ist, sprechen auch die häufigen Worte, die zur biblischen und kirchlichen Vorstellungswelt gehören.«57 Folgt man zudem dem oben genannten Vergleich mit der »Bergpredigt«, ist Trakls bevorzugtes Autorschaftsbild des inspirierten Dichters auch auf die biblische Tugend der Demut – angezeigt durch das Motiv des reinen Herzens58 (als Gegenpol zur Eitelkeit des Dichters) – und auf einen (wie im biblischen Sprechen verankerten) postulierten Wahrheitsanspruch59 hin zu befragen. Die wichtigsten Diskussionsfelder in der Trakl-Philologie lassen sich überdies erstaunlich präzise auf die Möglichkeiten des Dichter-Sehertums in der Moderne ausrichten. Im Vordergrund stehen Überlegungen über das »autonom poetische Universum«60 Trakls, die Selbstreferentialität der Sprache, die Ungegenständlich-

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Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 67. A. Doppler, Elemente der Bibelsprache in der Lyrik Georg Trakls. In: Trakl-Forum 1987, hg. von Hans Weichselbaum, Salzburg 1988, S. 109–117, S. 111. Doppler, Elemente der Bibelsprache, S. 111. M. Heidegger, Die Sprache im Gedicht. Eine Erörterung von Georg Trakls Gedicht. In: Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Stuttgart 200714, S. 37–82, S. 75. Doppler macht ebenfalls darauf aufmerksam, dass das Herz bei Trakl auf biblische Kontexte verweist (vgl. Doppler, Elemente der Bibelsprache, S. 112). Von Coelln hält fest, dass der fehlende Sinnbezug der Worte, der »Verzicht auf die Autonomie einer aktiven sinndeutenden Subjektivität« gerade zu einer Sinnverdichtung führe (Hermann von Coelln, Sprachbehandlung und Bildstruktur in der Lyrik Georg Trakls, Essen 1995. [zuerst Diss. [Masch.], Heidelberg 1960], S.  267). Darin muss man allerdings nicht gleich – wie von Coelln es tut – ein erhofftes Paradies erblicken. Károly Csúri, Über die Erkennbarkeit von Trakls Dichtung. Die Aufbauprinzipien seiner poetischen Welten. In: Österreichische Germanistik im Ausland. Ideal und Wirklichkeit. Beiträge der Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik in Pécs 1997, hg. von Kurt Bartsch, Wien 1997, S. 97–106, S. 99.

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keit der dichterischen Sprachfiguren einerseits und eine von biographischer Warte aus im Raum stehenden Interrelation von (Seher-)Autor und (Seher-)Figuren – eine Transgressionspoetik – andererseits, aber auch die vielschichtigen Dimensionen der Trakl’schen Bilder, die von vorneherein einseitige Festlegungen zu verweigern scheinen, da sie mitunter zwischen Abstraktheit und Konkretheit changieren,61 so dass die Ebenen des Eigentlichen und des Uneigentlichen verschwimmen.62 Die Figur des Dichter-Propheten als Reflexionsbild künstlerischen Selbstverständnisses scheint zunächst in die von Moritz Baßler in Bezug auf Trakl vorgegebene Richtung der amimetischen, selbstreferentiellen, autonomen Textur von Lexemen (des Trakl’schen »Thesaurus«) zu weisen,63 die typischerweise den Dichter-Propheten als Bürgen inauguriert. Das Sprachsystem erzeugt demnach seine eigenen Texturen, welche der Prophet als Medium der Sprache ergeben zulässt. Eine Schnittstelle zwischen Autor und Text wäre demzufolge (suggestiv) eliminiert, und zwar zugunsten der Autonomie der Lexeme. Und doch ist bei Trakl dem freien Spiel der Signifi kanten, die sich wie von selbst anordnen, eine Ankerung, die Vermittlerfigur des Dichter-Propheten, zugeordnet, was es ebenfalls zu erläutern gilt. Beharren antihermeneutische Tenden-

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Indirekt fallen in der Forschung in die Richtung des prophetischen Autorschaftsbildnisses weisende Bemerkungen: Kemper folgert aus seinen Beobachtungen über die »starke Klangorientiertheit, das assoziative Moment und die relativ enge Begrenztheit des Motiv- und Bildbestands«, »daß der Anteil des rational nicht Kontrollierten, des Spontanen, Emotionalen und Affektiven bei der Gedichtentstehung nicht gering sei« (Kemper, Gestörter Traum. Georg Trakl, »Geburt«. In: Expressionismus, hg. von Silvio Vietta u. Hans-Georg Kemper, München 19976, S. 229–285, S. 255f.). Hinter diesem Eindruck verbirgt sich einmal mehr die Vermutung – auf einer textexternen Produktionsebene – von einer den Dichter antreibenden Macht der Worte, wie sie ähnlich der Dichter-Prophet duldet: Versteht man Trakls Dichtung als Ausdruck des Unbewussten, ist der Schritt, seine Dichtung als »Offenbarung, als Prophetie« (Heinrich Goldmann, Katabasis. Eine tiefenpsychologische Studie zur Symbolik der Dichtungen Georg Trakls, Salzburg 1957. [zuerst Diss. 1954], S. 11, vgl. S. 25) zu titulieren, schnell getan. Von einer Grammatik des Unbewussten (wie im Traumzustand) getrieben, entstehen derart unauflösbare Chiffren einer privaten, sich selbst regierenden Sprachwelt. Unter Hinweis auf Freuds Traumarbeit, v.a. die Prinzipien Verdichtung und Verschiebung, erklärt Kemper ferner die Ambivalenz der Trakl’schen Bilder (vgl. Kemper, Gestörter Traum, S.  256f.). Zum Trakl’schen System von Chiffren bemerkt zuerst Walther Killy Folgendes: »Das Dichtwerk ist eine Welt in sich selbst, eine Welt in der Welt; die Zeichen dieser besonderen Welt müssen wir uns erschließen wie einstmals die Forscher die Hieroglyphen« (W. Killy, Über Georg Trakl. Erweiterte Auflage, Göttingen 1967. [zuerst 1960], S. 20). Sicherlich ist diese rudimentäre Skizze der hermetischen Anlage Trakl’scher Lyrik einsichtig, doch soll im Folgenden gerade nicht von Hieroglyphen und Chiffren gesprochen werden, um die systematische Tradition der Trakl’schen Bilder und Spachfiguren unter Rekurs auf die Propheten-Dichter-Tradition zu betonen. Vgl. Kemper, Gestörter Traum, S. 234. Vgl. M. Baßler, Wie Trakls Verwandlung des Bösen gemacht ist. In: Gedichte von Georg Trakl, hg. von Hans-Georg Kemper, Stuttgart 1999, S. 121–141, S. 130ff.; M. Baßler, Trakl. In: Historismus und literarische Moderne, hg. von Moritz Baßler, Christoph Brecht, Dirk Niefanger u. Gotthart Wunberg. Mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs, Tübingen 1996, S. 211–220, bes. S. 211 u. S. 219f.

zen in der Trakl-Forschung darauf, das freie Spiel der Signifi kanten oder die Autonomwerdung der Lexeme zu konstatieren, gelangt Kleefeld – wie zuletzt Thauerer64 – hingegen wieder zu dem Ergebnis, dass es ein Kurzschuss sei, Bemühungen um ein Verständnis Trakl’scher Lyrik als sinnlos zu deklarieren: Das symbolistische Wortkunstwerk Trakls will nicht nur ›tönen‹, es ›macht‹ auch Sinn: Das komplexe simultane Sinngeschehen, das durch das Spiel der Signifi kanten, durch das Interagieren der Lexeme, das Zusammen- und Gegeneinanderwirken ihrer evokativen Potentiale generiert wird, will im Mit-Spiel des Lesers realisiert und ausgelotet werden.65

Die sich in der Sichtweise Kleefelds einschleichenden Dichotomien zwischen Tönen und Sinn, Spiel der Signifi kanten und geschichtlichem Erbe, Sinnentzug und Traditionsbezug (im Sinne eines ›entweder … oder‹) sind indes zu differenzieren, indem man ihr Wechselspiel im Sinne einer unauflöslichen Interaktion – einem paradoxen Sprachgebilde – erhellt. Trakls Propheten-Figuren sind auf Grenzen hin ausgerichtet, die in ihrer Funktion auch als Reflexionsbasis für poetologische Situierungen dienen und einseitigen interpretatorischen Begrenzungen – seien sie hermeneutischer oder seien sie poststrukturalistischer Art – entgegenstehen. Auch darauf wird zurückzukommen sein. Wie viel ästhetische Vollkommenheit und Verständlichkeit man den Trakl’schen Gedichten zugesteht und wie viel Unverständlichkeit66 sie provozieren, markiert also das umstrittene Terrain der Trakl-Philologie67 und tangiert auch Trakls Propheten-Figuren, scheint ihnen doch auf besondere Weise die Signatur des Verständlich-Unverständlichen eingeschrieben zu sein: Erkennt man in Trakls prophetischen Figuren – mit Hölderlins Worten – ›deutungslose Zeichen‹68, wird ersichtlich, dass sie eine eigene prophetische Semiotik exemplifizieren: Prophetische Zeichen sind insofern (fast) deutungslos, als sie den üblichen Horizont von Sprache übersteigen – was indes nicht heißt, dass sie nichts sagen –, da sie bei Trakl beispielsweise ein Tönen freisetzen. Gleichzeitig inkarnieren Trakls Propheten-Figurationen mittels Körperpoetik ihre je eigene Botschaft und zeigen damit das Feld des Ausdrucks als

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Vgl. Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 125f. Kleefeld fährt fort: »Die Lexeme, die Trakl in seinen Thesaurus aufgenommen hat und die er in unterschiedlichsten Konstellationen als Bausteine benutzt, tragen Geschichte in ihrem semantischen Gepäck, und so führte die hermeneutische Exploration der Texte dann unausweichlich immer wieder zu einer ›weltanschaulichen‹ Thematik, damit zu Fragestellungen, wie sie in den Augen der – in dieser Studie durch Preisendanz und Baßler vertretenen – hermeneutischen Agnostiker gegenüber modernen lyrischen Texten völlig fehl am Platze sind« (Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 239). Vgl. zuletzt den Szegeder-Tagungsband zum Thema »Schön, aber unverständlich? Georg Trakl und die literarische Moderne«: Csúri (Hg.), Georg Trakl und die literarische Moderne, Tübingen 2009. Vgl. stellvertretend: Kemper, Nachbemerkung. In: Kemper, Georg Trakl. Fünfzig Gedichte, ausgewählt von Hans-Georg Kemper, Stuttgart 2001, S. 77–83, S. 77; vgl. zum Forschungsstand auch: Thauerer, Ästhetik des Verlusts, bes. S. 114–124; vgl. zur These der Unverständlichkeit der Lyrik in der Moderne allgemein: Wunberg, Jahrhundertwende, S. 46. Vgl. Hölderlin, Mnemosyne (2. Fassung). In: Hölderlin, StA, Bd. II/1, S. 195.

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(prophetische) Klage und teilweise als Heilsgeschehen an, vom utopischen Horizont einer Unmittelbarkeitspoetik eingerahmt.69 Diese prophetische Unmittelbarkeitspoetik, die Trakls Propheten-Figurationen entspringt, lässt sich als Reflex auf Trakls Autorschaftsbild als Prophet verstehen. Dabei kommt auch Rilkes Frage »Wer mag er gewesen sein?«70 wieder in den Blick. Denn in der Tat provoziert das Trakl zugeschriebene Autorschaftsbild des Propheten zudem eine Sichtweise auf seine Lyrik, die ihn dort einerseits eskamotiert, ihn andererseits als Spiegelbild seiner Figuren und als deren Ahnvater hineinzaubert.71 Insbesondere »Sebastian, Kaspar Hauser, Elis, Helian, aber auch ungenannte Gestalten wie der Blinde, der Seher oder der Fremdling« können als »Evokationen lyrischen Daseins« verstanden werden,72 oder gar als Medien der »Selbstbegegnung«73 Trakls. Und diesen immer wiederkehrenden Figuren eignen nicht zufällig allen prophetische Züge. Insofern ist zu erkunden, ob Trakls Adaption des Seher-Dichterbildnisses einer Transgression zwischen dem Autor und seinen Figuren Vorschub leistet. Folgt man beispielsweise Erwin Mahrholdt, dessen auf Trakl appliziertes Dichterbild des Sehers im Folgenden noch entfaltet wird, gehen die Schau des Sehers als Duldung und seinTönen als Ausdruck einer die mannigfaltigen Eindrücke fi lternden Formung des Geschauten Hand in Hand.74 Anders gesagt suggerieren Trakls Biographen eine nahe Ferne75 des prophetischen Dichters Trakl

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Über das Moment einer zitathaft aufgerufenen Bildungstradition des Biblischen hinausgehend und des Weiteren eine motivische Anleihe an den katholischen Kultus »auf der Ebene motivischer Bezugnahmen« übersteigend (W. Braungart, Zur Poetik literarischer Zyklen. Mit Anmerkungen zur Lyrik Georg Trakls. In: Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion, hg. von Károly Csúri, Tübingen 1996, S. 1–27, S. 26f.), kann man so nach der poetischen Qualität bzw. Eigenart prophetisch inspirierter Poesie fragen. Rilke in Briefen an den Herausgeber des »Brenner« vom Februar 1915, S. 11. Besonders prekär, aber auch fesselnd wirken Interpretationsansätze, die sich der Trakl’schen Welt und seiner inzestbedingten Schuld durch psychoanalytische Ansätze nähern (vgl. stellvertretend: Kleefeld, Das Gedicht als Sühne; Kleefeld, Ein Zeichen, deutungslos? Poetik und Hermeneutik der lyrischen Chiffre bei Georg Trakl. Untersuchungen am Beispiel des Mondes. In: Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd.  5, hg. von Johannes Cremerius u.a., Würzburg 1986, S. 161–196; Kleefeld, Zaubersprüche. Psychoanalytische Anmerkungen zur Poetik Georg Trakls. In: Aporie und Euphorie der Sprache. Studien zu Georg Trakl und Peter Handke. Akten des internationalen Europalia-Kolloquiums Gent 1987, hg. von Heidy M. Müller u. Jaak de Vos, Leuven 1989, S. 53–76; Williams, Schweigendes Tönen, S. 149– 167). Vgl. zu weiteren, psychoanalytisch geprägten Forschungstendenzen: Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 67f.; vgl. S. 99ff. Kathrin Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne. Georg Trakls Evokationen lyrischen Daseins, Salzburg 1983, S. 8. Nach Killy stellt das »Kaspar Hauser Lied« ein solches »Medium der Selbstbegegnung« (Killy, Über Georg Trakl, S. 7) vor. »Sebastian im Traum« könnte gemäß Pfisterer-Burger »eine Metapher sein für die Existenz des Dichters, der als Umnachteter sein Leiden träumt« (Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 24). Vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl. Benjamin definiert bekanntlich den Begriff »Aura« als »einmalige Erscheinung einer Ferne,

in seinen (Spiegel-)Figuren.76 Zugespitzt formuliert bringt Trakls prophetische Poesie dann nicht ausschließlich eine autonome Poesie hervor, sondern sie verweist auf die Vermittlungsinstanz des prophetischen Autors, die nicht nur das Trakl textextern zugeschriebene Propheten-Bildnis berührt, sondern darüber hinaus einen typischen Zug seiner Propheten-Figurationen ausmacht: Die suggerierte Schwundstufe des prophetischen Dichters, der als medialisierte Vermittlerinstanz der Worte gilt, geht mit einer evozierten Realpräsenz des Propheten in der Programmatik des Tönens einher, folgt man der Leben und Werk, Autor und Figuren vermengenden Sichtweise Mahrholdts. Um sich dem Trakl’schen ›Gesamtkunstwerk‹ als Dichter-Prophet angemessen nähern zu können, ist eingangs Trakls Propheten-Porträt vorzustellen. Im Anschluss daran sind die prophetischen Figuren als Brennpunkte seiner poetologischen Reflexionen zu fokussieren: In den Propheten-Figurationen Elis und Helian konzentriert sich Trakls prophetisches Erbe augenfällig. Eine Vielzahl von Trakls Gedichten sind überdies (intratextuell) mit Motiven seiner prophetischen Figuren übersät, so dass ein Netzwerk an prophetischen Stückwerken auszumachen ist. Abschließend kann die systematische Übernahme der von Hölderlin bekannten Figur des Paradoxons und seiner ›unreinen Poetik des Reinen‹ erstmals eingehend in den Mittelpunkt gestellt werden, um Trakls sich herauskristallisierende (Künstler-)Poetik des Prophetischen – auch in der Nachfolge Nietzsches, Hölderlins und Rimbauds – in einem thematischideengeschichtlichen Rahmen und unter dezidiert poetologischen Gesichtpunkten einordnen zu können. Propheten-Autorsemantik und Poetik des Prophetischen sind auch bei Trakl aufeinander bezogen.

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so nah sie sein mag« (Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S.  19). Insbesondere die konkret wirkende Beschreibung einzelner Körperteile der Trakl’schen Figuren – die sich hier in der Rezeption andeutet – suggeriert eine Nähe ihres Schöpfers (des Propheten-Dichters), die von seiner gleichzeitigen Unfassbarkeit und Abstraktheit wieder in eine Ferne gerückt wird, so dass ihm aufgrund dieses Wechselspiels von Nähe und Ferne eine geheimnisvolle Aura zu bescheinigen ist. So beschreibt Mahrholdt die Ambivalenz des trotz Nähe fernen Dichters Trakl in seinen Werken: »Durch das scheinbar völlige Ausschalten seiner Person hat er ihre [die Bilder der Welt] Wirklichkeit und Schwere gehoben und ihre Wahrheit eindringlicher betont. Fast nie spricht er von sich in der Ichform, oft spürt man ihn durch die angedeuteten Gefühle, manchmal neigt sich ein Haupt, Hände breiten sich aus oder die Schläfen suchen nach Kühlung. Das Eigenschicksal als Menschenschicksal zu betrachten, erlöst etwas von der quälenden Icheinsamkeit. [...] Und doch ist er stets da, aus dem Geschauten sich entfaltend und in den Menschen seines Werkes erscheinend« (Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 47f.).

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VI.2. Trakl als Seher und Prophet: Inszeniertes Stigma – charismatische Beglaubigung Zum engeren Verständnis der Propheten-Figurationen ist das Trakl zugeschriebene Autorschaftsbild des Dichter-Propheten erhellend.77 Zwar kann vorab festgehalten werden, dass sich der bei Trakl abzeichnende prophetische Subtext schwerpunktmäßig als textimmanente Reflexionsfigur zeigt. Im Gegensatz zu George oder Rilke strickt Trakl nämlich nicht mittels biographischer Dokumente, die bei ihm auch in deutlich geringerer Zahl vorliegen, engagiert an einem Autorschaftsbild des Propheten mit dem Ziel, ›Jünger‹ um sich zu scharen oder um aktiv ins soziale Leben einzugreifen.78 Er erhebt sich selbst nicht zum Propheten, der zur Umkehr aufruft. Da die Mannigfaltigkeit der Propheten-Dichter in der Moderne nicht nur mit aktionistisch-revolutionären, teilweise politisch oder sozial unterlegten Adaptionen bestückt ist, sondern auch introvertierte Ausprägungen kennt, ist Trakl in diese zweite Großgruppe einzuordnen: Seine Propheten-Autorpoetik wirkt zunächst hermetisch und passiv, denn Trakl legt keine Kampfschriften, Pamphlete oder Streitschriften wie manche expressionistischen Dichter vor – man denke nur an Ludwig Rubiner, Johannes R. Becher, Walter Hasenclever oder an Ernst Toller –,79 und er artikuliert keine gesetzesähnlichen Vorschriften für seine Anhänger wie George.80 Im Unterschied zu

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Die Autorschaftsbilder des poeta faber und poeta doctus spielen bei Trakl keine entscheidende Rolle. Schenkt man Mahrholdt Glauben, dann zeichnet sich Trakl als Toter in einer mönchsartigen Kutte (vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 58) und bedient sich auch sonst oft eines mönchisch-asketischen Habitus, der seine Abgeschlossenheit von der sozialen Außenwelt verdeutlicht. Bei Rilke dominiert nach King in seiner frühen Werkphase, konzentriert im Stundenbuch, ebenfalls die Figur des klösterlich-minoritischen Heiligen (vgl. King, Pilger und Prophet, S. 173ff. u. S. 215f.). An Lou schreibt Rilke: »Und ich möchte mich irgendwie tiefer zurückziehen in mich, in das Kloster in mir, in dem die großen Glocken hängen« (Rilke, Brief an Lou Salomé vom 10.08.1903 zitiert nach King, Pilger und Prophet, S. 216). An das Ehepaar von der Heydt: »[…] wohl aber muß ich sehen, nach und nach zu einem Kloster auszuwachsen und so dazustehen in der Welt, mit Mauern um mich, aber mit Gott und den Heiligen in mir […]« (Rilke, Brief an Karl und Elisabeth von der Heydt vom 11.12.1906. In: Rilke, Briefe in zwei Bänden, Bd. 1, S. 221–225, S. 221). Nicht nur das Mönchund Klostermotiv, sondern auch die (mystische) Vorstellung, durch Mauern von der Außenwelt abgeschirmt und eingeschlossen zu sein, findet sich ganz ähnlich bei Trakl. Vgl. zum prophetischen Aktionismus expressionistischer Dichter stellvertretend: Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 188ff. Vgl. etwa Ludwig Rubiners »Die Ankunft« oder Der Mensch in der Mitte (vgl. Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 192) oder Johannes R. Bechers »Mensch stehe auf !« (vgl. Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 190) oder Walter Hasenclevers Verse »Tritt mit der Posaune des Jüngsten Gerichts / Hervor, o Mensch, aus tobendem Nichts« (Hasenclever zitiert nach Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 190) oder Ernst Tollers Die Wandlung (vgl. Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 199f.). Vgl. Muschg, Tragische Literaturgeschichte, S. 153; Nishioka, Dichung als Prophetie, S. 108f. Vgl. die Ausführungen in Kapitel VII.1. Zum sozialen Radius bei George siehe stellvertretend: Karlauf, Stefan George; Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus.

Rilke, George und anderen prophetischen Dichtern seiner Zeit zielt sein prophetisches Kunstwerk zudem nicht auf eine beispielhafte Lebensführung ab. Gutes Dichten korreliert nicht automatisch wie bei Rilke mit einem guten Leben.81 Ein extremes Dichten scheint vielmehr ein extremes Leben zu fordern. Trakls briefliches, teilweise fi ktionalisiertes prophetisches Autor-Ich bietet wenig Anschluss für seine Adressaten im Sinne einer Nachfolge, weil sein individualistischer Stil mit Verzweiflungscharakter eine ausschließende Geste signalisiert, auch wenn er sich zuletzt als exemplarisches Abbild eines verfluchten Jahrhunderts begreift.82 Seine heilige Autorschaft geht also gerade nicht völlig im Sozialen auf und ist primär als literarisches Phänomen von Bedeutung, geprägt von einer unübersehbaren Monologizität. Und doch wieder Rilke vergleichbar, wenn er auch lange nicht an dessen briefliches Monumentalwerk heranreicht und kein unermüdlicher ›Netzwerker‹83 ist, denn Trakl pflegt nicht einen regelmäßigen Briefwechsel, sondern sendet flüchtige Notizen an wenige Freunde (Erhard Buschbeck, Karl Borromäus Heinrich und andere), Verwandte (Mia von Rauterberg, Maria Geipel, Friedrich Trakl und andere) und an seine Verleger (Ludwig von Ficker, Kurt Wolff und andere),84 nutzt Trakl das Medium Brief mitunter zu seiner Inszenierung zum Seher für Eingeweihte und entwickelt insofern zumindest ansatzweise einen prophetisch-sozialen Impetus: So entwirft er durchaus in seinen Briefen besonders diejenige Künstlerrolle des Propheten, die ihn als heimgesucht von Gesichten, Stimmen und Bildern präsentiert und die mitunter einen prophetischen Nimbus hervorruft. Sich selbst als einsamen Seher zu positionieren, sich zum heiligen Autor zu stilisieren, sich von den Gewöhnlichen respektive Bürgerlichen zu separieren, um sich einen Exklusivitätsanspruch, eine markante Differenz als prophetischer Dichter zu sichern, sind typische Distinktionsstrategien.85 Da diese Prozesse über die

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Vgl. zum ›Gesamtkunstwerk‹ Rilke wiederum: King, Pilger und Prophet, S. 55. Vgl. Trakl, Brief an Ludwig von Ficker, Salzburg, 26.06.1913. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 518f. Vgl. King, Pilger und Prophet, bes. S. 135f. Vgl. Erinnerung an Georg Trakl, S. 125. Ob Trakls Selbstentwurf als Seher und als ein von Gesichten Bedrängter auch teilweise mit einem Bittgestus oder Hilferuf zusammenhängt, auf dass seine Freunde und Gönner sich seiner dementsprechend annehmen – sei es finanziell-materiell, sei es mit Zeitaufschub oder mit mentaler Unterstützung, sei es um seine symbolische Leistung gewürdigt zu wissen –, berührt Fragen einer sozialwissenschaftlich ausgerichteten Autorforschung, wie oben ausgeführt: Mit Bourdieus Feldtheorie kann man en passant die präferierte Rolle des Sehers als Selbstdarstellung zur sozialen und symbolischen Positionierung, zur Akkumulierung dieses Kapitals im literarischen Feld diskutieren. Eine historische Verankerung der Seher-Poetik aufgrund von Trakls Rekurs auf sein prophetisches ›Viergestirn‹ (Novalis, Hölderlin, Nietzsche, Rimbaud) ist dieser Zugangsweise beizustellen. Vgl. zur Theorie des Habitus stellvertretend: Bourdieu, Sozialer Sinn, S.  104f. Darüber hinaus gibt in Trakls Selbstentwurf als Seher dieser die ›Marke‹ für sein ›Produkt‹ ab, indem er im Sinne eines ingredient branding als ›Marke in der Marke‹ im Rahmen eines Gesamtkunstwerkverständnisses fungiert und ›mitgekauft‹ wird (vgl. zum ingredient branding-Prinzip: Waldemar Pförtsch u. Indrajanto

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Kommunikation mit der selbstgewählten Sozietät laufen,86 ja laufen müssen, denn der Dichter-Prophet benötigt zur Selbstaussprache, zur Positionierung und zur bestätigenden Charisma-Zuschreibung ein Publikum,87 zumindest ein privat dezimiertes, kann der Seher-Künstler, wie er bei Trakl entworfen wird, zum Typus des »integrierten Außenseiters«88 gezählt werden. Und gerade die Textsorte Brief ist ein beliebtes Instrument der Selbsterfindung, -medialisierung und Platzmarkierung im sozialen und literarischen Feld.89 Trakls Briefe liefern entscheidende Hinweise auf seine religiös kodierte Autorschaft und zeigen auf, wie er in die Fußstapfen der Seher-Dichter tritt, die ihre Autorschaft um die Jahrhundertwende als Berufung konstruieren und sich zunächst im Gegensatz zum Geniekonzept mit Originalitätsanspruch als Vermittlungsinstanz und als Medium einer ästhetischen Offenbarung verstehen.90 In seinen Briefen finden sich die wichtigsten Parameter einer exzeptionellen Autorschaft, nämlich »Marginalisierung«, »Singularisierung« und »Nobilitierung«.91 Und in ihnen teilt Trakl näherhin sein Künstlerverständnis gemäß seiner erhebenden wie verstörenden Visionen mit, reiht sich in die Traditionslinie des Dichter-Propheten ein und nobilitiert sich dadurch, dass er den eigenen Leidensschüben eine eigene Größe des Märtyrers zubilligt. In ihrer Ausprägung als ausbalancierende Gegenfigur zu seinen tief greifenden Ohnmachtsgefühlen ist diese Selbstheiligung mitunter von einer doppelten Struktur geprägt: Selbsterhebungsmomente einerseits und ›Depersonationsmomente‹ andererseits wechseln sich in seinen brieflichen Äußerungen ab, in welchen mithin krisenhafte Selbsterfahrungen eines gefährdeten Künstlertums zur Tagesordnung gehören. Und diese mit einem Sakralcode versehene Autorpoetik prägt seine prophetischen Kunstfiguren und umgekehrt.92 Derart stellt sein Briefwerk ein

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Müller, Die Marke in der Marke. Bedeutung und Macht des Ingredient Branding, Berlin; Heidelberg; New York 2006). Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 18. Zur Charismatisierung Georges siehe wieder: Blasberg, Charisma in der Moderne, S. 111– 145. Vgl. zur »Zuschreibung von Charisma in den Antwortbriefen« an Rilke: King, Pilger und Prophet, S. 344. Victor Zmegac, Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Weinheim 1995, S. 307; vgl. Hans Zitko, Die Resistenz des Charisma. Zu den Rollenbildern des Künstlers in der Moderne. In: Kunst und Religion im 20. Jahrhundert, hg. von Richard Faber, Würzburg 2001, S. 19–34, S. 23; King, Pilger und Prophet, S. 57. Schaffenskrisen und Vorbilder-Begegnungen – angefangen bei Nietzsches »Dionysos gegen den Gekreuzigten« (Nietzsche, Ecce homo, S. 374) über seine Lieblingsautoren der SeherDichter-Tradition – sind Ereignisse, die auf Trakls Habitus Einfluss ausüben. Vgl. Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 116. Klaus Michael Bodgal verweist mit Nachdruck auf eine »Intensivierung und Reformulierung der Autonomie- und Originalitätsvorstellungen« (K. M. Bodgal, Akteure literarischer Kommunikation. In: Literaturwissenschaft, hg. von Jürgen Fohrmann u. Harro Müller, München 1995, S. 273–297, S. 281; vgl. King, Pilger und Prophet, S. 51). Den Wechsel zwischen »Selbstüberhöhung« und »Selbstverkleinerung« hat – wie oben erwähnt – King als typisches Charakteristikum Rilkes belegt (vgl. King, Pilger und Prophet, S. 48 u.a.).

personales Archiv für seine eigenen Dichtungen und auch für seine Nachrufe dar. Sein teilweise ästhetisierter Briefstil,93 besonders dann, wenn es um die Dichter-Propheten-Thematik geht, ist dabei nicht nur durch eine erhabene Stilhöhe gekennzeichnet, sondern auch durch einen spezifisch apokalyptisch-klagenden (und eher selten himmelhoch jauchzenden) Propheten-Ton. Die Ohnmacht des Autors und die Macht der Worte über den Autor gewinnen mit Blick auf seine Schaffenskrisen an Bedeutung, aber auch seine (aus Not geborene) kreative Produktivität. Darüber hinaus deutet sich das Wechselverhältnis von Stigma und Charisma als evidenter Ausweis der Exzeptionalität des Propheten-Dichters in seinen Briefen an. Trakl ist also ein gutes, bisher wenig erforschtes weiteres Beispiel für einen sakralen Autorschaftsentwurf zu Beginn der Moderne mit ›Gesamtkunstwerk‹-Charakter.94 Die Parallelen zwischen seiner epistolaren Selbstdarstellung als Dichter-Prophet und seinen lyrischen Propheten-Figurationen ist anhand exemplarischer Briefbeispiele einsehbar. Einmal zunächst unspezifisch, nur vage prophetisch klingend, schildert Trakl in einem Brief an seine Schwester Minna vom 5.10.1908, dass ihm bei seiner Ankunft in Wien das Leben so klar vor Augen liege, »ohne alle persönliche Deutung, nackt, voraussetzungslos, als vernehme ich alle jene Stimmen, die die Wirklichkeit spricht, die grausamen, peinlich vernehmbar«95. Die »Stimmen« der Wirklichkeit

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Auch wenn das Medium Brief genuin als eine nichtfiktionale Textsorte zu kategorisieren ist, sind literarisierte Passagen in Briefen Trakls durchaus als fiktionalisierte Elemente zu sichten (vgl. allgemein zur Diskussion des Fiktiven: Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001). Trakls Briefe lassen sich natürlich in Dokumente pragmatischer Alltagskommunikation und in ästhetische Metareflexions-Passagen unterteilen. Das Besondere am Medium Brief ist sicherlich in der suggestiven Mündlichkeit und Unmittelbarkeit dieser schriftlichen Mitteilungsform zu sehen (vgl. ähnlich Anne Overlack, Was geschieht im Brief ? Strukturen der Briefkommunikation bei Else Lasker-Schüler und Hugo von Hofmannsthal, Tübingen 1993, S. 33), ferner in seiner Funktion als Archivwerk und damit als Gedächtnisstütze (vgl. Wunberg, Wiedererkennen. Literatur und Wahrnehmung in der Moderne, Tübingen 1983, S. 55). Dass »Figuren der Autorschaft in der Briefkultur« einerseits eine »Gedächtnisbildung« sichern, andererseits mit Blick auf Auslegungen »Umschriften« und die »Erzeugung neuer Bilder des Autors« provozieren können, betont Jochen Strobel zu Recht ( J. Strobel, Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. In: Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur, hg. von Jochen Strobel, Heidelberg 2006, S. 7–32, S. 15). Nach Auerochs erscheint überdies das »Phantasma der Kunstreligion am reinsten« (Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006, S. 100) in Zeugnissen der Selbstinterpretation, wie im Brief, artikuliert. Die These, dass Rilke und George die einzigen kanonisierten Autoren der Moderne seien, »die langfristig und erfolgreich in der Rolle des heiligen Sehers auftreten« (King, Pilger und Prophet, S. 62), scheint korrekturbedürftig, denn es gibt eine Vielzahl an weiteren Autoren – z.B. Trakl –, die ähnliche Seher-Poetiken entwerfen und ebenfalls kanonisiert sind, auch wenn sie lediglich einen lockeren Umgang mit einer ›Gemeinde‹ pflegen. Man denke bei Trakl an sein Zugehörigkeitsgefühl zum Brenner-Kreis, der nun eben im Gegensatz zum George-Kreis von antiautoritären Strukturen geprägt ist. Trakl, Brief an Hermine von Rauterberg, Wien, 05.10.1908. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 471f., S. 472.

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(in Wien) brechen also ungefi ltert in seine Wahrnehmung ein, wie bei Rilke etwa die Großstadt Paris auf den Sehen lernenden Malte einstürzt96 oder wie die Großstadt Berlin (samt prophetischen Stimmen) auf den sich dabei verlierenden, ›blinden‹ und ebenfalls vom Tod zur inneren Schau aufgeforderten Franz Biberkopf einfällt.97 Deren Großstadt-Schock vergleichbar,98 welcher auch offensiv eine biblisch-prophetische Überhöhung erfährt, artikuliert Trakl auch eine Art »Alp«99: Er sei »wie ein Toter an Hall vorbeigefahren, an einer schwarzen Stadt, die durch [ihn] durchgestürzt ist, wie ein Inferno durch einen Verfluchten«100. Das Bild von der mythologisch überhöhten, gnadenlosen Gewalt der lebensfeindlichen Stadt als »Inferno«, wo die »Verfluchten« hausen, ist bekanntlich auch bei den Expressionisten, etwa bei Georg Heym, ein zentrales Sujet, man denke nur an sein berühmtes Gedicht »Der Gott der Stadt« (1910).101 Und wie den einstigen Häftling Biberkopf nach seiner Entlassung

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Im Malte heißt es explizit zu Beginn: »Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht« (Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 9). Diese Art des Sehens im Malte meint nicht nur ein Wahrnehmen, sondern auch ein Sehen des Unsichtbaren, wie oben ausgeführt (vgl. Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 173f.). Über Franz Biberkopf heißt es, wie ähnlich über Malte: »Er muß einen langen Weg gehen, bis er es sieht« (Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz, München 199736, S. 91). Dieses neue Sehen ist eingebettet in prophetische Stimmen: Gemäß dem immer wiederkehrenden Jeremias-Zitat ist der Mensch verflucht, der sich auf Menschen verlässt (vgl. Jer 17, 5), »der das Fleisch zu seiner Stütze macht und dessen Herz von Gott abfällt« (vgl. Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 175, S. 189 u.a.). Auch Jeremias Kampf gegen die Chaldäer, die mit den Berliner Großstädtern assoziiert sind, wird leitmotivartig aufgerufen (vgl. Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 14). Als Leitspruch fungieren ferner berühmte Sprüche des Prediger Salomo: »Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh; wie dies stirbt, so stirbt er auch« (Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 117) und seine Rede von der Vergänglichkeit der Zeit (vgl. Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 311, S. 326 u. S. 399) sowie die Klage über das Unrecht unter der Sonne (vgl. Döblin, Berlin Alexanderplatz, S.  341 u. S.  346) und das Lob der Toten (vgl. Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 348). Vgl. zum Großstadtkomplex im Roman generell die schöne Studie von Volker Klotz: V. Klotz, Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin, München 1969. Trakl, Brief an Hermine von Rauterberg, Wien, 05.10.1908, S. 472. Trakl, Brief an Erhard Buschbeck, Innsbruck, 04.01.1913. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 499. Im Malte werden ganz ähnliche Erfahrungen geschildert: »Es ist, als wäre das Bild dieses Hauses aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem Grunde zerschlagen. […] Man saß da wie aufgelöst; völlig ohne Willen, ohne Besinnung, ohne Lust, ohne Abwehr. Man war wie eine leere Stelle« (Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 27). Die Fülle des Außen befördert demnach eine Leere des Inneren. Vgl. dazu: Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 52f.; vgl. allgemein zum Thema Großstadtlyrik: Hee-Jik Noh, Expressionismus als Durchbruch zur ästhetischen Moderne. Dichtung und Wirklichkeit in der Großstadtlyrik Georg Heyms und Georg Trakls, Tübingen 2001; Heinz Rölleke, Die Stadt bei Stadler, Heym und Trakl, Berlin 1966.

aus Tegel in der Auseinandersetzung mit der ›Hure Babylon‹102 Berlin Schuldgefühle plagen und ihn sogar die Erinnyen103 und die Stimme des Schnitters Tod104 heimsuchen, so lösen die Stimmen Wiens in Trakl Gefühle der Depersonalisation und des Verbrechertums aus. Gerade diese angezeigte Affinität zu Alfred Döblin ist auch unter der Rubrik prophetische Apokalypse zu verorten.105 Gegenstand des Visionären ist hier wie dort zunächst die raue Wirklichkeit selbst. Die Faszination oder regressive Wurzel dieser Szenarien besteht darin, wie Wunberg allgemein zum MythologieBoom um die Jahrhundertwende bestechend anmerkt, dass antik-mythologische Wucherungen mögliche zeitgemäße Bilder, z.B. technischer Art, ersetzen; die antike Thematik hilft, die »spezifischen Probleme der eigenen Zeit« in eine »Fremdsprache«106 zu übersetzen. Anhand einer Analyse von Antike-Figurationen um 1900 wird in Wunbergs breiter Studie zur Jahrhundertwende auch dargelegt, wie mythologische Figuren zugleich der Chiffrierung und der Selbstversicherung des Individualismus dienen: Da sie einerseits aus dem Reservoir des wohlbekannten Schulkanons vertraut seien, andererseits auch fremd wirken würden, ergebe sich durchaus ein »innovatori-

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Vgl. Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 262, S. 342, S. 347 u. S. 400. Vgl. Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 84ff. So etwa im Hiob-Kapitel in Berlin Alexanderplatz (Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 124ff., vgl. S. 201, S. 310, S. 333 u. S. 341f.). Der psychiatrisch geschulte Arzt und Dichter Döblin ist ein prominentes Beispiel für die Modernität medialer Autorschaft: Mit seiner Poetik der »Entselbstung, Entäußerung des Autors und Depersonation« (Döblin, An Romanautoren und ihre Kritiker [1913]. In: Döblin, Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur, hg. von Erich Kleinschmidt, Olten; Freiburg im Breisgau 1989, S.  119–123), seinem experimentellen Wagnis des Montageromans Berlin Alexanderplatz (1929), wo eine reine Objektivität – man könnte sagen eine Selbstaussprache der Dinge – anstelle auktorialen Erzählens eingesetzt oder zumindest dieser Paradigmenwechsel im Erzählstil suggeriert wird [Albrecht Schöne erklärt demzufolge die Auflösung der Figur eines persönlichen oder auktorialen Erzählers sowie das Einströmen verschiedener Stimmen auf Biberkopf als unvermeidlich, da es in der Logik des Romans liege, die geforderte Zurücknahme des Einzelnen und dessen solidarische »Einreihung« im Hinblick auf das »organische Kollektiv« dergestalt zu illustrieren (A. Schöne, Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz. In: Der deutsche Roman. Vom Barock zur Gegenwart. Struktur und Geschichte, hg. von Benno von Wiese, Bd. 2, Düsseldorf 1963, S. 291–325)], die Prinzipien der Multiperspektivität, Heterogenität und Simultaneität Anwendung finden und zugleich ein dominanter Anteil an mythologisch-biblischem Sprechen in seiner Großcollage eingewoben ist (vgl. stellvertretend zur Analyse der Motivgeflechte in Berlin Alexanderplatz: Otto Keller, Döblins Montageroman als Epos der Moderne. Die Struktur der Romane »Der schwarze Vorhang«, »Die drei Sprünge des Wang-lun« und »Berlin Alexanderplatz«, München 1980), kann er als gutes Beispiel dafür dienen, wie – allerdings im Gegensatz zu Trakl – Rekurse auf die Seher-Poetik mit modernstem medizinisch-psychiatrischem, auch okkult-spiritistischem Wissen (vgl. zum spiritistischen Einfluss bei Döblin: Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 141ff.) zusammengehen können. Und beide Forminnovationen – das Prinzip der Montagetechnik im Roman und der Reihungsstil in der Lyrik – werden mit einer prophetischen Wahrnehmung in Zusammenhang gebracht. Wunberg, Jahrhundertwende, S. 35.

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sche[r] Charakter dieses neuen Identifi kationsangebotes«107. Präzisierend ist hinzuzufügen, dass gerade prophetische Bilder oder Motive, die mit dem antiken Sehertopos zusammenhängen, neben Nietzsches Apoll und Dionysos und Ödipus, die von Wunberg als die zwei andauernden »Identifi kationsmodelle«108 um die Jahrhundertwende hervorgehoben werden, sich nachhaltig und bevorzugt einer großen Beliebtheit erfreuen. Und dies natürlich aufgrund eines ähnlich gelagerten Ausgangsbefunds: Eine als ausweglos empfundene Transzendenzlosigkeit, eine Erschütterung durch die Schnelligkeit des Großstadtlebens lösen eine fieberhafte Suche nach Identifi kationsmustern, nach Geborgenheit und Versöhnung in einer unwirtlichen Welt aus, die alte Requisiten, antike Figuralität, gerade auch biblische Figuralität, salonfähig macht, um für Chiffrierung und Selbstversicherung gleichermaßen zu sorgen.109 So verhält es sich auch hinsichtlich der religiös-mythologisch aufgeladenen Motive in Trakls brieflichen Äußerungen. Die Bedrängnis durch die von Trakl ungeliebte Stadt Wien fungiert ferner – wie späterhin auch seine Drogenexperimente – als Katalysator für unheimliche Visionen: »Ich habe die fürchterlichsten Möglichkeiten in mir gefühlt, gerochen, getastet und im Blute die Dämonen heulen hören, die tausend Teufel mit ihren Stacheln, die das Fleisch wahnsinnig machen. Welch entsetzlicher Alp!«110 Trakl erscheint in diesem Zusammenhang – gemäß dem zeitgemäßen Topos der verstörenden Großstadt, in der das Individuum unterzugehen droht – als dezentriertes Subjekt, das den belebten Objekten und seiner eigenen dämonischen Nachtseite hilflos ausgeliefert ist.111 Die Belebung der Objektwelt, die Macht der grausamen Stimmen gehen typischerweise mit einer Verobjektivierung des Individuums, einer Infragestellung seiner Subjektivität einher: Die Einheit des Ich droht durch die Vielfalt seiner Wahrnehmungen unterminiert zu werden.112 Die über ihn ergehende Marter

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Wunberg, Jahrhundertwende, S. 35. Wunberg, Jahrhundertwende, S. 35: »Hinzu kommt, daß aufkommende Industrialisierung, Technisierung, auch die Bedrohlichkeit der Großstädte weitgehend in Naturbildern gefaßt werden, also im wahren Wortsinne: nicht selbst, sondern nur als fremde, als Fremd-Worte zur Sprache kommen. Allerdings weist der Rückgriff auf die Reservate der Naturmetaphorik nicht nur in eine allgemein ›irrationale‹ Richtung, sondern zugleich auf ein Bedürfnis nach ›ursprünglichen‹ Benennungs- und damit Identifikationsmodellen.« Eine weitere herausragende Identifikationsfigur, deren sich Rilke bedient, ist der Heilige Franziskus (vgl. King, Pilger und Prophet, S.  234ff.). Im Umfeld heiliger Autorschaft ist auch der prophetische Revolutionär Savonarola als Projektionsfläche modernen Dichtertums beliebt, wie es – wie oben ausgeführt – bei Th. Mann nachzuweisen ist (vgl. Forasacco, Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900). Vgl. Wunberg, Jahrhundertwende, S. 41ff. Trakl, Brief an Hermine von Rauterberg, Wien, 05.10.1908, S. 472. Vgl. zur Geschwindigkeit der Wahrnehmung in der Großstadt und zur Verdinglichung des Subjekts auch: Kemper, Vom Expressionismus zum Dadaismus, S. 33ff. In »Die Großstädte und das Geistesleben« von 1903 stellt Simmel bekanntlich als Gegenpol zur massiven Überflutung von Sinneseindrücken, zum Einbruch der Gefährdung durch Nervosität in der Großstadt die Figur des ›Blasierten‹ vor, der durch seine Reserviertheit und Indifferenz das Schreckensbild der Metropole entdämonisiert, indem er sich einen

des (wohl sündigen) Körpers suggeriert zudem einen fortschreitenden Prozess der Stigmatisierung. Im selben Brief setzt Trakl dieser Alptraum-Erfahrung aber wieder eine andere Variante entgegen, eine Form der inneren Vision anstelle der dissoziierenden »Vision der Wirklichkeit«, wenn er in der Abkehr von den ihn bedrängenden Dingen dazu kommt, zu »lausche[n], ganz beseeltes Ohr, wieder auf die Melodien, die in mir sind, und mein beschwingtes Auge träumt wieder seine Bilder, die schöner sind als alle Wirklichkeit! Ich bin bei mir, bin meine Welt! Meine ganze, schöne Welt, voll unendlichen Wohllauts.«113 Das ›träumende Auge‹, die innerliche Schau einer unberührten Welt, die noch den Einklang zwischen Ich und Welt garantiert, thematisiert Trakl immer wieder mit seinen Heilsgestalten prophetischer Provenienz, die allerdings auch vom »Alp«114 berührt sind. So wie die »Vision der Wirklichkeit« durch eine Subjektsprengung gekennzeichnet ist, so konstituiert die innere Vision eine Gegenwelt, die ästhetisch wertvoll, weil schöner als die Wirklichkeit ist und dem Ich eine ästhetische Eigenwelt, eine Heimat zugesteht, in welcher der harmonische »Wohllaut«115 des geordneten Kosmos regiert.116 Von einer Heimsuchung von Dämonen und einem Misstrauen gegenüber den animalischen Trieben ist dann auch vorerst nicht mehr die Rede. Diese ästhetische Welt scheint die zerstörende Wirkung auf das Ich zurückzunehmen, es vor den eigenen Gefährdungen zu schützen.117 Im Zuge dieser angezeigten Rettung im Sinne einer Ich-Besinnung ist auch erst eine soziale Ausrichtung, hier gegenüber der Schwester Hermine, wie Trakl am Schluss des Briefes hervorhebt, möglich.118 Erst wenn das Ich bei sich ist, kann es sich einem Du öffnen und sich mitteilen. Mit Nietzsches Worten stellen die beiden Visionen die rauschhaftdionysische Erfahrung der Wirklichkeitsüberfülle und den apollinischen BilderTraum einer schönen Welt vor, die das Ich erst wieder neu beheimatet.119 Wie die

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Reizschutz, ein Schutzorgan an der Oberfläche zulegt, das insbesondere einem drohenden inneren Tumult, einer massiven Zerstreuung durch die habituelle Distanzierung zum Äußeren vorbeugt. Dieser verstandesgeleitete Kompensationsversuch wendet sich auch gegen das Phänomen der Neurasthenie als Zivilisationskrankheit der Moderne (vgl. Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben; vgl. dazu stellvertretend: L. Müller; Klaus Lichtblau, Das Pathos der Distanz. In: Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, hg. von Heinz-Jürgen Dahme u. Ottheim Rammstedt, Frankfurt am Main 1984, S. 231–281; Kimmich, Indifferenz oder: Prothesen des Gefühls. Bemerkungen zur Variation einer männlichen Emotion. In: Arcadia, 44/1, 2009, (Heft: Kulturen der Leidenschaften – Leidenschaften der Kulturen) S. 161–174). Trakl, Brief an Hermine von Rauterberg, Wien, 05.10.1908, S. 472. Trakl, Brief an Hermine von Rauterberg, Wien, 05.10.1908, S. 472. Trakl, Brief an Hermine von Rauterberg, Wien, 05.10.1908, S. 472. Ähnlich gibt dies auch das alte Programm der pythagoreischen Sphärenharmonie vor. Aus ästhetischer Sicht wäre das hier genannte Motiv der inneren Vision in die Stoßrichtung des Symbolismus leicht einzuordnen, als eine von außen ungestörte Poesie der schönen Töne, eine poésie pure. Trakl, Brief an Hermine von Rauterberg, Wien, 05.10.1908, S. 472. Vgl. ähnlich Kemper, Nachwort. In: Georg Trakl. Werke – Entwürfe – Briefe, hg. von HansGeorg Kemper und Frank Rainer Max, Stuttgart 1984, S. 267–320, S. 274. Zur Nietzsche-

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beiden Gottheiten, Triebe und Kunstwelten Dionysos und Apoll bei Nietzsche die Prinzipien Entgrenzung, Ent-Individuation einerseits und Begrenzung, Individuierung andererseits – auch Sprengung und Garantierung des principii individuationis – verkörpern, so muss der Lyriker zwischen beiden Polen vermitteln. Um den tragischen Urschmerz konsumieren zu können, bedarf es schließlich einer apollinischen representatio in Bildern.120 Diese ästhetische Ich-Welt sollte indes nicht vorschnell mit einer Geste der Subjektermächtigung gleichgesetzt werden. Die im Ich verankerten Melodien können auch als ›Ersatzgottheiten‹ interpretiert werden, für welche der Dichter-Seher nur als Gefäß, mit Mallarmé als »Wortklavier«, mit Rilke auch als Vermittler des »Urgeräuschs« oder modern gesprochen als Recorder taugt. Insbesondere Hölderlins Hyperion beschwört – ähnlich wie Trakl – diese Welt des Wohllauts:121 »Wie Jupiters Adler dem Gesange der Musen, lausch ich dem wunderbaren unendlichen Wohllaut in mir.«122 Das bei Trakl dominante Prinzip des Tönens, auch dasjenige des Lyrikers und seines (aufgelösten) Ich aus dem Abgrund des Seins,123 macht ferner auf die Fragwürdigkeit eines apollinisch-dionysischen Ausgleichs aufmerksam.124 Ein dionysisches Ich stellt aber nicht nur eine radikale Negation des Ich

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Lektüre hat sich Trakl früh, schon 1906, bekannt. Zarathustra, Die Geburt der Tragödie und Jenseits von Gut und Böse befinden sich in seinem Besitztum. Trakls Nietzsche-Rezeption legt einen Schwerpunkt auf dessen ›Artisten-Metaphysik‹ (vgl. Kemper, Nachwort. In: Georg Trakl, S. 283f.). Vgl. zu den Nietzsche-Einflüssen bei Trakl ferner: Ferdinand Fellmann, Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 57ff.; Walter Methlagl, Nietzsche und Trakl. Zur bleibenden Erinnerung an Eduard Lachmann. In: Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion, hg. von Rémy Colombat u. Gerald Stieg, Innsbruck 1995, S. 81–118; Doppler, Orphischer und apokalyptischer Gesang; vgl. zu den beiden Prinzipien des Apollinischen und des Dionysischen: Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 25ff. In Nietzsches Geburt der Tragödie wird bekanntlich der griechische Lyriker der archaischen Epoche als Musiker und als dionysischer Künstler vorgestellt, der »gänzlich mit dem UrEinen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden« (Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 43f.): »Das ›Ich‹ des Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde des Seins: seine ›Subjectivität‹ im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung« (Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 44). So liest man in Hölderlins Hyperion: »[…] Ich, von allem schon so innigst abgeschieden, so mit ganzer Seele fremd und einsam unter den Menschen, so lächerlich begleitet von dem Schellenklange der Welt in meines Herzens liebsten Melodien« (Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland. In: Hölderlin, Werke in zwei Bänden, hg. von Günter Mieth, Bd. 1, München; Wien 1978, S. 575–744, S. 602); »Nur in kindlicher einfältiger Beschränkung fand ich noch die reinen Melodien« (Hölderlin, Hyperion, S.  613). Vgl. »[…] und wenn in uns / Vom stetigstillen Jahre der Wohllaut tönt, / So sollt es klingen, gleich als hätte / Mutig und müßig ein Kind des Meisters // Geweihte, reine Saiten im Scherz gerührt?« (Hölderlin, Dichterberuf. In: Hölderlin, StA, Bd. II/1, S. 47). Hölderlin, Hyperion, S. 624. Vgl. Doppler, Orphischer und apokalyptischer Gesang, S. 23. Vgl. zu Nietzsches Einfluss auf Trakl auch: Kemper, Nachwort. In: Georg Trakl, S. 283ff.; vgl. zur These eines verweigerten apollinischen Trosts bei Trakl: Kemper, Nachwort. In: Georg Trakl, S. 291.

vor, sondern eben ein anderes Ich, ein absolutes Ich, das allerdings keine Individualität im herkömmlichen Sinne kennt.125 Es ist mit einem Resonanzboden vergleichbar, das die Urmusik medial vermittelnd zum Ertönen bringt.126 Aus dem Grunde dieses Ur-Ich brechen die Bilder wie »verschiedene Objectivationen von ihm«127 hervor. Nicht von ungefähr enden einige Gedichte Trakls mit dem Hinweis auf ein duratives Tönen, wie es noch zu zeigen sein wird. Vorerst gilt es festzuhalten, dass die gegenübergestellte »Vision der Wirklichkeit« und die innere Vision des »Wohllauts« mit einer Figur der Ich-Dissoziation, des Animalischen einerseits und der Ich-Beheimatung (mit Blick auf das tönende Ich) und Reinheit des Schönen andererseits verknüpft sind, die insbesondere in ihrem Wechsel auch den prophetischen Figurationen Elis und Helian angedichtet sind: Einmal erscheinen diese gezeichnet vom Grauen der Wirklichkeit und ohnmächtig-dissoziiert, ein andermal bringen sie als prophetische Medien die Melodien einer schöneren Welt zum Erklingen. Sie sind als Visionäre genau zwischen diesen beiden Bereichen – denjenigen des Apollinischen und Dionysischen – als Grenzgänger angesetzt und sorgen für eine Reklamierung und Verunsicherung der Vermittlungsmöglichkeit beider Erfahrungswelten zugleich. Dass in den unterschiedlichen Entwicklungsstufen Trakl’scher Lyrik einmal mehr der Traum des Apollinischen, einmal mehr das Moment des Dionysischen dominiert, wird anhand der Propheten-Figurationen Trakls deutlich. Folgt man dem besprochenen Briefzeugnis Trakls, suggeriert er zunächst seine Erfahrung der drohenden Entmachtung des Ich durch die Übermacht der Realität und der Vergewisserung des Ich in einer poetischen Welt mit messianischem Anstrich.128 Und seine Autorpoetik beerbt hier schon augenfällig die Tradition der Erfahrungswelten des Dichters als Propheten.

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Dieses absolute Ich gleicht wieder dem dionysischen Künstler-Ich: Sein Ich ist die »im Grunde der Dinge ruhende Ichheit« (Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 45). Gemäß Döblin ist das Prinzip der Montage von intertextuellen Bezügen auch mit einem Resonanzboden vergleichbar: Das Prinzip der »Resonanz« im Sinne eines Mitschwingens, Mitklingens, eines alles durchwaltenden Ursinns schafft Ähnlichkeiten, Analogien und partielle Identitäten zwischen Ich und Welt und ist Ausdruck der Lebendigkeit der Sprache als Klangleib (vgl. Döblin, Unser Dasein. 3. Buch, Olten; Freiburg im Breisgau 1964, S. 168ff.). Demgemäß muss der Dichter selbst zum Resonanzboden vielfältiger Stimmen werden. Pytlik betont mit Blick auf Maltes ›Anderssehen‹ und seine Selbstaufgabe – als Bedingung eines neuen spiritistischen Schreibens unter Rekurs auf Carl du Prels Subjekttheorie – vergleichbar das Inkrafttreten eines »transzendentalen Subjekts« als Ausdruck einer veränderten Subjektvorstellung (Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 181). Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 45. Vietta und Kemper haben unlängst auf die typische Epochenspannung des Expressionismus zwischen Ich-Verlust, Enthumanisierung, Zerfall der Werte einerseits und innerer Erneuerung, messianischem Aufbruchspathos, Lob des ›neuen Menschen‹ andererseits gründlich aufmerksam gemacht: »Beide Aspekte: Strukturkrise des Ich und der Versuch einer Erneuerung des Menschen gehören aber wesensmäßig zusammen. Erst die Dialektik von Ich-Dissoziation und Icherneuerung kennzeichnet die Signatur dieser Epoche in ihrer ganzen Komplexität. Erst die Grundlagenkrise des modernen Subjekts führt zu den typischen expressionisti-

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Trakl schildert ferner öfters das zwiespältige Gefühl, wonach sich das ihm Zugedrängte, »was qualvoll nach einer Erlösung verlangte, so plötzlich und einem unerwartet ans Licht stürmt, freigeworden, freimachend. Ich habe gesegnete Tage hinter mir – o hätte ich noch reichere vor mir, und kein Ende, um alles hinzugeben, wiederzugeben, was ich empfangen habe […].«129 Der Segen ist als Befreiung vom »Alp«130 der subjektentäußernden Brutalität der Wirklichkeit oder des poetischen Materials zu begreifen. Das von Trakl eingesetzte Vokabular ist sakral überhöht (Erlösung, gesegnete Tage) und mit typisch mystischen Inspirationstopoi unterlegt (plötzliches Ans-Licht-Stürmen),131 wie es auch für Nietzsches und Rilkes Inspirationsbeschreibungen charakteristisch ist.132 Quälende Empfängnis und erlösende Wiedergabe des Empfangenen sind die beiden Pole des schmerzlich-glücklichen Dichtererlebnisses, wie es in Trakls epistolarer Propheten-Künstlerpoetik vorgegeben ist. Die Angst vor einer Überforderung, einer grundlegenden Zerstreuung angesichts der sich auftürmenden Bilder artikuliert Trakl deutlich, wenn er an Buschbeck schreibt, er sei »derzeit von allzu viel (was für ein infernalisches Chaos von Rhythmen und Bildern) bedrängt, als daß ich für anderes Zeit hätte, als dies zum geringsten Teile zu gestalten, um mich am Ende vor dem was man nicht überwältigen kann, als lächerlicher Stümper zu sehen«133. Dem angezeigten Bilder-Sturm gemäß charakterisiert Trakl etwa die Umarbeitung seines Gedichts »Klagelied« gegenüber Buschbeck geradezu als Akt der Entpersönlichung: »Es ist umso viel besser als das ursprüngliche als es nun unpersönlich ist, und zum Bersten voll von Bewegung und Gesichten.«134 In diesem Brief fügt Trakl hinzu, dass es ihm, den »Gesichten« zum Trotz, »niemals leicht fallen wird, mich bedingungslos dem Darzustellenden unterzuordnen und ich werde mich immer und immer wieder berichtigen müssen, um der Wahrheit zu geben, was der Wahrheit ist«135. Sich dem Darzustellenden unterzuordnen ist Trakls Reaktion auf die prophetische Erfahrung der Bilderflut, die allerdings nahezu einer vollständigen Entpersonalisierung des Dichters gleichkommt, und dies zugunsten einer Wahrheit der Dinge. Der Verlust der Personalität scheint demnach den Weg für eine wahre, d.i. objektive Poesie zu garantieren. Damit ist schon die Programmatik des prophetisch

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schen Aufbruchs- und Erneuerungsversuchen« (Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 186). Bei Trakl sind beide Tendenzen zu beobachten (vgl. Kemper, Gestörter Traum, S. 262). Trakl, Brief an Erhard Buschbeck, Wien 11.06.09. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 475. Trakl, Brief an Hermine von Rauterberg, Wien, 05.10.1908, S. 472. So gelangt der Mystiker nach Kemper zur Aussprache (vgl. Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 204). Vgl. zur mystischen Grundierung bei Rilke: Spörl, Gottlose Mystik, bes. S. 174ff. u. S. 310. Trakl, Brief an Erhard Buschbeck, Wien zweite Hälfte Juli 1910. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 479. Trakl, Brief an Erhard Buschbeck, Salzburg?, Spätherbst? 1911. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 485f., S. 485. Trakl, Brief an Erhard Buschbeck, Salzburg?, Spätherbst? 1911, S. 486.

inspirierten Reihungsstils eingeläutet.136 Gegenüber Buschbeck verwendet Trakl religiöses Vokabular zur Danksagung für Honorarübermittlungen und vermengt somit finanzielles mit symbolischem Kapital: Ihre herrlichen Worte haben in meinem Herzen einen Altar aufgebaut, auf dem Tag und Nacht das Feuer des Dankes und Lobpreisung nicht ausgeht. Ja, Sie sind der Einzige, der den Dichter mit der Seele versteht und dieser Gedanke richtet den Vielgeprüften wunderbar auf. Ach was bedeutet ferner noch des Leibes Not. Ich sage nur eines: Honorar! O süßes, himmlisches Wort!137

Wenn Trakl an Ullmann schreibt, dass er nach einem guten Stück Arbeit den Wunsch hege, »ein wenig zu rasten, wenn Gott es will«, um dadurch »ein schöner Engel zu werden«, klingt in der Selbststilisierung zum heiligen Autor freilich auch ein Bittgestus an.138 Ähnlich wie Rilke (und zuvor Hölderlin und Nietzsche) nützt Trakl auch die Gewittermetaphorik, um den Vorgang der ›Aufladung‹ des Dichters – die Schau oder hier das Hereinbrechen der Bilder – und seine ›Entladung‹ – den Output – zu beschreiben:139 »Irgendwie wird sich das Gewitter, das sich in mir ansammelt, schon entladen.«140 Es war schon in den Kapiteln II.3.1. und V. zu beobachten, wie bei Rilke, Nietzsche und Hölderlin dieses Gewitterszenario als Bild für die Inspiration eingesetzt wird, der Sturm als Ausdruck der Begeisterung fungiert,141 Elementarkräfte, Strömungs- und Fließmetaphern sowie die Ebene des Erhabenen eine Plattform für den Verlust und die Selbstfindung des Dichter-Sehers bieten.142 Insofern ist anhand dieses Beispiels leicht demonstrierbar, wie in Trakls brieflichen Äußerungen ein inter-

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An seinen Jugendfreund Buschbeck übermittelt Trakl auch »Rythmen [sic!] aus [seinem] Inferno« (Trakl, Brief an Erhard Buschbeck, Salzburg, 1909 (?) oder Ende Januar 1912 (?). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 549f, S. 549). Des Weiteren sendet Trakl an Karl Kraus einige Verse mit dem Hinweis – einen Bescheidenheits- und Genialisierungstopos zugleich aufgreifend –, dass diese in »rasender Betrunkenheit und verbrecherischer Melancholie« entstanden seien (Trakl, Brief an Karl Kraus, Innsbruck, 13.12.1913. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 530f., S. 530). Wenn er dann noch »Loos-Luzifer« grüßen lässt, wird ersichtlich, dass er sich in den Reigen des verbrecherischen Genies zur Selbstnobilitierung einreiht (Trakl, Brief an Karl Kraus, Innsbruck, 13.12.1913, S. 531). Trakl, Brief an Erhard Buschbeck, Salzburg, 03.10.1911. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 484. Trakl, Brief an Ludwig Ullmann, Innsbruck, etwa 24.10.1912. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 490f. Ironische Nachwehen zu diesem Propheten-Konzept finden sich etwa in Thomas Manns »Mario und der Zauberer« (erschienen 1930), wo dem Treiben des menschenfeindlichen Magiers Cipolla letztlich durch einen Pistolenschuss ein Ende gesetzt wird, und zwar der Konzeption nach analog zu einem reinigenden Gewitter (vgl. Th. Mann, Mario und der Zauberer, S. 523ff.). Trakl, Brief an Erhard Buschbeck, Innsbruck, 24.04.1912. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 487f., S. 488. Vgl. speziell zu Rilke wieder: King, Pilger und Prophet, S. 290ff. Vgl. King, Pilger und Prophet, S. 287ff. u. S. 304ff.

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textuelles Gewebe von Sehertopoi, aus diversen Traditionen gespeist, zu verzeichnen ist. Die leitmotivartig wiederkehrende Hervorhebung seines Dichterums als Erleiden, als Passion und Bearbeiten von Gesichten ähnelt in ihrem Kern beispielsweise Rilkes Briefsemantiken, die sich ebenfalls in die Tradition der inspirativen Schübe des Dichter-Sehers einreihen lassen.143 Besonders virulent ist bei Trakl aber die Vorstellung, dass der auserwählte Seher notwendig gereinigt oder zerstört werden muss, ja dass vielleicht eine Reinigung (im Sinne eines kathartischen Verständnisses) am ehesten einer Zerstörung gleichkommt. Die Hoffnung auf die Entladung des Gewitters weicht beim späten Trakl zunehmend der Vorstellung vom apokalyptischen Gottesgericht und dem alttestamentlich bzw. auch griechisch-mythologisch konnotierten Zorn Gottes, die Trakl öfters zur Charakterisierung seiner insbesondere durch die Kriegserlebnisse ausgelösten verfahrenen Situation aufruft.144 Gegenüber Heinrich äußert Trakl zuletzt den Wunsch, »ein Gewitter möchte hereinbrechen und mich reinigen oder zerstören. O Gott, durch welche Schuld und Finsterniß müssen wir doch gehen«145. Spätestens ab 1913 dominiert dieser dunkle Ton in den Beschreibungen seiner Gesichte, da sie seinen Körper schmerzlich zu affizieren beginnen: »Seltsame Schauer von Verwandlung, körperlich bis zur Unerträglichkeit empfunden, Gesichte von Dunkelheiten, bis zur Gewißheit verstorben zu sein, Verzückungen bis zu steinerner Erstarrtheit; und Weiterträumen trauriger Träume.«146 »Heimgesucht von unsäglichen Erschütterungen, von denen ich nicht weiß ob sie mich zerstören oder vollenden wollen«147 – so heißt es im Petitionsbrief an seinen Gönner Ludwig von Ficker, der ihm vielleicht noch symbolisches und soziales Kapital sichern könnte, denn Trakl betont ausdrücklich, wie ihm der Brenner-Kreis eine rettende Heimat sei – beginnt Trakl letztlich an der heilbringenden Möglichkeit der inneren Vision zu zweifeln: Noch drastischer und voller Verzweiflung beschreibt Trakl Ludwig von Ficker seinen »sprachlose[n] Schmerz«, dass es »ein so namenloses Unglück [sei], wenn einem die Welt entzweibricht. O mein Gott, welch ein Gericht ist über mich hereingebrochen«148. In Rilkes »Tröstung des Elia« verzweifelt der Prophet mit ähnlichen Worten: »Gott, gebrauche / mich länger nicht. Ich bin entzwei.«149 Und einer drohenden Sprachlosigkeit angesichts des großen Schmerzes stellen beide den stigma-

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Vgl. King, Pilger und Prophet, bes. S. 115ff. Vgl. auch das Bild vom zürnenden Gott in »Grodek« (vgl. Trakl, Grodek (2. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 167). Trakl, Brief an Karl Borromaeus Heinrich, Innsbruck, Anfang (?) Januar 1914. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 532. Trakl, Brief an Karl Borromaeus Heinrich, Salzburg, etwa 19.02.1913. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 503. Trakl, Brief an Ludwig von Ficker, Salzburg, 23.02.1913. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 504. Trakl, Brief an Ludwig von Ficker, Wien, Ende (?) November 1913. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 529f., S. 530; vgl. Trakl: »Unsäglich ist das alles, o Gott, daß man erschüttert ins Knie bricht« (Trakl, Unterwegs II. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 81f., S. 81). Rilke, Tröstung des Elia, S. 518.

tisierten und prophetischen Leidenskörper entgegen. In Ermangelung von genügend Liebe, Erbarmen und Gerechtigkeit sieht sich Trakl schließlich als Verbrecher, äußerlich ablesbar an seiner »Spottgestalt aus Kot und Fäulnis«, »die ein nur allzutreues Spiegelbild eines gottlosen, verfluchten Jahrhunderts ist«150. Seine Seele dürste nach einer Ausflucht aus seinem »verpesteten Körper«151. Solche Aussagen gleichen einer Selbststigmatisierung, die ihm indes wieder ein charismatisches Potential als ausgezeichneter Dichter zuzuschreiben hilft. Denkt man an Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (erschienen 1890) und die dort dominante Stellung des Spiegels (in Form eines Gemäldes), der dem dandyhaften Künstler letztlich die von moralischer Schuld deformierte Fratze seiner selbst vorsetzt, ist die Tradition dieser Koinzidenz von moralischer Schuldhaftigkeit und deformiertem Äußeren152 bei Trakl auch metaphorisch überhöht als Abdruck des verfluchten Jahrhunderts im Einzelnen aufgerufen.153 Interessanter als offensichtliche Ineinssetzungen von körperlichen und moralischen Auswüchsen154 sind aber stellvertretende Deformationen: Und betrachtet man die Spiegel-Szenerie im Dorian Gray genauer, ist das gemalte Bildnis Dorians, also sein Abbild als (Zerr-)Spiegel, ›echter‹ als das Urbild, seine schöne, ewig jung und frisch bleibende Gestalt. Bis zu Dorians Zerstörung seines Gemäldes, die einem 150 151 152

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Trakl, Brief an Ludwig von Ficker, Salzburg, 26.06.1913. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 519. Trakl, Brief an Ludwig von Ficker, Salzburg, 26.06.1913, S. 519. So funktioniert die physiognomische Darstellung der Dramenfiguren schon bei Friedrich Schiller, der Lavaters Physiognomische Fragmente zugrunde legt, und ganz traditionalistisch seinen Protagonisten Franz in den Räubern (1781) als Auswuchs von moralischer und körperlicher Schreckensgestalt, als einen von der Natur Benachteiligten zeichnet, wie schon Shakespeare seinen Richard III. (vgl. F. Schiller, Die Räuber. Anmerkungen von Christian Grawe, Stuttgart 1992, I/1, S. 16). Diese Selbstbetrachtung ist für Franz auch ein Auslöser für seinen Rachefeldzug gegen seine Familie, das heilige Band jeder Sozietät. Ebenso ist der Verbrecher aus Schillers Erzählung »Der Verbrecher aus verlorener Ehre« wegen seiner Missgestalt scheinbar und provokativ zum trotzigen Verbrecher determiniert: »Er wollte ertrotzen, was ihm verweigert war; weil er missfiel, setzte er sich vor zu gefallen« (Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Durchgesehene Ausgabe, Stuttgart 2003, S. 9). Im Laufe seiner unglücklichen Verbrecherkarriere werden seine Gesichtszüge bis zum Grässlichen entstellt: »Bin ich denn irgendwo auf der Stirne gezeichnet, oder habe ich aufgehört, einem Menschen ähnlich zu sehen, weil ich fühle, dass ich keinen mehr lieben kann?« (Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 13). Im Sinne einer poetischen Gerechtigkeit wird der Leser explizit als unparteiischer Richter inthronisiert, um sich den kausalen Zusammenhängen von sozialer Zurücksetzung und Verbrechertum kritisch zu widmen. Auf das Motiv der Stirnzeichnung als charismatisierendes Stigma bei Trakl wird noch gesondert eingegangen. Auf eine strukturähnliche Analogie zur narzisstischen Komponente im Werk Trakls und in Wildes Dorian Gray macht Williams aufmerksam (vgl. Williams, Schweigendes Tönen, S. 164f.). Vgl. auch das »Helian«-Gedicht: »Da Helians Seele sich im rosigen Spiegel beschaut / Und Schnee und Aussatz von seiner Stirne sinken« (Trakl, Helian. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 69–73, S. 73; vgl. »Rosiger Spiegel: ein häßliches Bild, / Das im schwarzen Rücken erscheint, / Blut aus brochenen Augen weint / Lästernd mit toten Schlangen spielt« (Trakl, Rosiger Spiegel: ein häßliches Bild. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 302).

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Selbstmord gleicht, konkurrieren indes der Trug der schönen Gestalt und das Abbild des voranschreitenden Verfalls. Der sündig-schöne Dandy ist ein provokatives Mahnmal eines modernen Künstlerporträts, das demjenigen vom Dichterbildnis als Propheten gegenübersteht: Während Trakl – neben seiner Selbstdiagnose (»Spottgestalt«155) – gerne auch den Traum vom ewigen Jungbrunnen, die platonische Vorstellung einer Kalokagathie, einer Überschneidung von Schönem und Gutem, in seiner Sehnsucht nach einer reinen, ewig währenden Kindheit thematisiert, wie er dies u.a. von Hölderlin her kennen mag,156 konterkariert Wilde von Anfang an dieses altehrwürdige Ideal, wenn der Schönling zugleich der große Wüstling ist, so das ›Evangelium‹ Lord Henrys.157 Eben diese Doppelung von Urbild und Abbild ist ebenfalls für Trakls Propheten-Gestalten bedeutsam, denn sie sind schön-unschuldig und verdorben-gezeichnet zugleich und es wird zu diskutieren sein, inwiefern sich hier eine Entlastung für sündige Ausschweifungen des Dichter-Propheten einschleicht.158 So steht etwa im »Nachtlied«: »Elai! dein Antlitz / Beugt sich sprachlos über bläuliche Wasser. // O! ihr stillen Spiegel der Wahrheit. / An des Einsamen elfenbeinerner Schläfe / Erscheint der Abglanz gefallener Engel.«159 Und eine markante Passage im »Helian« gleicht der unheimlichen Selbstschau Dorians: »Da Helians Seele sich

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Trakl, Brief an Ludwig von Ficker, Salzburg, 26.06.1913. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 519. Ein Loblied auf die »Ruhe der Kindheit! himmlische Ruhe« singt z.B. Hyperion in einem Brief an Bellarmin, wonach »ein göttlich Wesen ist das Kind«: »Es ist ganz, was es ist, und darum ist es so schön. Der Zwang des Gesetzes und des Schicksals betastet es nicht; im Kind ist Freiheit allein.« Die Schönheit des ungeteilten, ursprünglichen Kindes ist allein in der Anschauung erfahrbar, denn »von Kindheit, Unschuld haben wir keine Begriffe« (Hölderlin, Hyperion, S. 584). Lord Henrys ›Evangelium des schönen Wüstlings‹ als Genie-Symbol lautet auszugsweise folgendermaßen: »Eines Tages, wenn Sie alt und runzlig und häßlich sein werden, wenn das Denken Ihre Stirn mit seinen Linien verwüstet und die Leidenschaft Ihre Lippen mit ihrem eklen Feuer gezeichnet hat, werden Sie es empfinden, furchtbar empfinden. Jetzt, gehen Sie, wohin Sie wollen, entzücken Sie alle Welt. Wird es immer so sein? … Sie haben ein wunderbar schönes Gesicht, Herr Gray. Runzeln Sie nicht die Stirn, Sie haben es. Und Schönheit ist eine Form des Genies, steht in Wahrheit höher als das Genie, da sie keiner Erklärung bedarf. […] Ein neuer Hedonismus – das ist es, was unser Jahrhundert braucht. Sie könnten sein sichtbares Symbol sein« (Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray. Deutsch von Hedwig Lachmann u. Gustav Landauer. Mit einem Essay, einer Auswahlbibliographie und einer Zeittafel, hg. von Norbert Kohl, Frankfurt am Main; Leipzig 1991, S. 34f.). Die seinerzeit beliebte Spiegelmetapher steht aber auch für eine paralysierende Wirkung bis zur Ich-Dissoziation, etwa in Guy de Maupassants berühmter Erzählung »Le Horla« (1887) (G. de Maupassant, Le Horla. In: Maupassant, Six contes, hg. von Ernst Kemmner, Ditzingen 1997, S. 70–116, S. 111f.). Nach Trakl habe Maupassant eben dieselbe Krankheit gehabt wie Nietzsche: den »Wahnsinn« (vgl. Hans Limbach, Begegnung mit Georg Trakl. In: Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe, hg. von Ignaz Zangerle, Salzburg 19592, S. 113–120, S. 117). Trakl, Nachtlied III. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 68.

im rosigen Spiegel beschaut / Und Schnee und Aussatz von seiner Stirne sinken.«160 Insbesondere die exponierte Stellung der gebrandmarkten Stirn der Propheten, die nicht nur als Verweis auf das Kainsmal zu verstehen ist,161 sondern auch als besonderes Stigma, kehrt bei Trakl immer wieder. Ebenso betrachtet der Prophet Zarathustra, ein Vorbild für Trakls Propheten-Figurationen, seine angegriffene Lehre als Spiegelbild seiner Deformation: »Aber als ich in den Spiegel schaute, da schrie ich auf, und mein Herz war erschüttert: denn nicht mich sahe ich darin, sondern eines Teufels Fratze und Hohnlachen.«162 Und hier wie dort ist ein mit Unschuld und ursprünglichem Wissen ausgestattetes Kind als Heilsbringergestalt Wegweiser der Wahrheit,163 bzw. wird Zarathustra von einer Stimme in der »stillsten Stunde«164 belehrt, noch Kind ohne Scham werden zu müssen. Ferner ist die stellvertretende Inkarnation des körperlichen Verfalls auch ein prominenter Propheten-Topos: Der selbst unschuldige Prophet offenbart mit seinem leidenden, von Mahnmalen übersäten Körper, dass um ihn herum gesündigt wird:165 Er ist mitunter der Sündenbock von Sodom und Gomorra.166 Inwiefern Trakls Propheten sich in das Konzept des zum Sündenbock stilisierten Propheten einreihen lassen, ist im Blick auf seine Spiegelfiguren prophetischer Provenienz jedenfalls im Auge zu behalten, denn in deren körperlichen Leiden spiegelt sich ebenso der Niedergang des Abendlandes. Und einer inszenierten Identifi kation mit dem Sündenbock-Modell eignet gemeinhin eine felix culpa-Ideologie, die eine mögliche Entlastung des gezeichneten Dichters durch den Selbstentwurf zum Propheten andeutet. Nicht ohne Vorlage wird Trakl das Autorschaftsbild des Dichter-Propheten sodann von Lesern, Kollegen und Biographen zugeschrieben, wenn diese zudem Versatzstücke prominenter Figuren (v.a. Elis und Helian) und entscheidende Motive von Trakls Lyrik (die Art des Schauens und des Tönens u.a.) auf sein prophetisches Erscheinungsbild projizieren und damit wiederum einer Verschmelzung von prophetischem Autorschaftsbild und prophetischem Werk Vorschub leisten, wie es auch im

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Trakl, Helian, S. 73; und Helian: »In schwarzen Wassern spiegeln sich Aussätzige« (Trakl, Helian, S. 72). Vgl. das Ich und sein narzisstischer Blick in den Spiegel im Sonett »Das Grauen«: »Aus Graun und Finsternis ein Antlitz: Kain! […] Da bin mit meinem Mörder ich allein« (Trakl, Das Grauen. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 220). Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 105; vgl. S. 307. »Was erschrak ich doch so in meinem Traume, dass ich aufwachte? Trat nicht ein Kind zu mir, das einen Spiegel trug? Oh Zarathustra – sprach das Kind zu mir – schaue Dich an im Spiegel!« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 105; vgl. S. 111). Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 189. So heißt es auch in Zarathustras Gleichnis von den drei Verwandlungen des Geistes (vom Kamel über den Löwen zum Kind): »Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 31). Vgl. z.B. Jes 53, 3–6; Jes 52, 14. Vgl. zum Sündenbock-Modell allgemein: Lev 16, 1–34, bes. 16, 15f.

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Umfeld Georges und Rilkes geschieht.167 Man könnte diesen Biographen geradezu eine Ko-Autorschaft bescheinigen, da sie Trakls Künstlerpoetik des Propheten posthum festschreiben. Erinnert man sich an die ›Gesichte‹-Semantik in seinen Briefen, können die nun Trakl zugeschriebenen biographischen Sehertopoi auch als Antworten auf seine Briefe sowie auf seine prophetische Erscheinung gelesen werden, ja als Zustimmung seines inszenierten Seher-Selbstporträts, das zwar zunächst einem Akt der Monologizität entsprungen ist, aber in Briefform immer schon einen dialogischen Charakter anzeigt.168 Auch wenn die Biographen keine Einsicht in die Briefstellen hatten, ist anzunehmen, dass Trakl die dort entworfene prophetische Autorpoetik auch im persönlichen Gespräch äußert oder die wichtigsten Motive über seine lyrischen Zeugnisse Bekanntheit erlangen. Erwin Mahrholdt, der als einer der Ersten ein subjektiv gefärbtes Dichterbild Trakls vorlegt, beschreibt den eigenwilligen Salzburger ausführlich als einen Seher und Flüchtling aus einer maschinellen und entseelenden Zeit, woraus sich dessen künstlerische Opposition im Sinne seiner Selbstbesinnung als Lyriker ergebe: Diesem Wirrsal vermag der Sehende zu entfliehen, indem er sich ihm als ein anderes entgegensetzt und Einkehr hält bei sich, wo er die erste Wirklichkeit und die erste Wahrheit fi ndet. Dem Bedürfnis nach dieser Abschließung sind nur wenige Arten der Dichtung angemessen; am unmittelbarsten und schönsten die Lyrik, in den letzten Jahrzehnten von Unzähligen mit Verzweiflung ergriffen. Der Lyriker steht mitten im Trubel da, sich seiner besinnend, den Anprall der Geschehnisse erleidend: das Bewußtsein seines unwiederbringlichen Lebens hält ihn.169

Erkennt man das Lyrische als die exemplarische Gattung der Selbstaussprache, avanciert Trakl zum Monologisierer katexochen, da seine Dramaturgie im Dienst eines individuellen ecce homo zu stehen scheint.170 So ist der Übertritt zu einer transgressiven Autorschaftspoetik freilich schnell vollzogen. Mahrholdt schildert Trakl ausführlich als einsamen Fremdling und Pilger,171 vielen seiner Figuren verwandt und den RilkePorträts zum Verwechseln ähnlich:

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Vergleicht man die Rezeption Rilkes mit derjenigen Trakls, fällt die verallgemeinerbare Abstraktheit, um nicht zu sagen die Eindimensionalität des Nachrufvokabulars auf. Andererseits verdeutlicht sie das dialogische Verfahren zwischen Briefentwürfen, Gedichten sowie biographischen Hommagen im Horizont eines prophetischen Autorschaftsentwurfs. Es ist irreführend, Trakls (Nietzsche verwandte) Tendenz zur Einsamkeit und zum Monologisieren mit einer radikalen Zurückweisung einer »Kunst vor Zeugen, der immer ein Moment von Schauspielertum und Selbstinszenierung des Künstlers im Hinblick auf reale und fiktive Zuschauer anhaftet« (Methlagl, Nietzsche und Trakl, S. 93) zu parallelisieren. Eine heilige Autorschaft funktioniert nur, wenn Zeugen diese beglaubigen. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 24. Vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 71: »Das Wesen der Lyrik wird es wohl immer ausmachen, daß einer nur sich singe, für sein verschlossenes Leben ein Tor zum Licht finde im Sturm seiner Stimmungen. Sehet, das bin ich, will er sagen, nicht wie der Dramatiker oder Epiker: so sehe ich euch.« Vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 52: »Wie auf Erden ein Fremdling,

Und doch ist er stets da, aus dem Geschauten sich entfaltend und in den Menschen seines Werkes erscheinend. […] Den mannigfaltigen Seiten seines Wesens entsprechen auch die seiner Erscheinung beigelegten Namen: er ist der Einsame, der Fremdling und der Heimatlose auf Erden, zieht als der Wanderer seinem Ziel entgegen; als Müder trägt er die Lasten des Daseins, als Duldender nimmt er die eigene Schuld auf sich; dann taucht er als der weiße Magier auf, voll von Teufelskünsten im Spiele mit Schlangen, oder als Seher, von Gott erleuchtet. Nie nennt er sich Dichter; vielleicht hätte es ihm auch anmaßend und falsch geklungen. Dafür setzt er das unpersönliche, von Hölderlin übernommene Wort Saitenspiel. Der Künstler erscheint ihm als der wahre Mensch, sein Wesen geteilt in den Schauenden, dem seine Sinne die reiche Welt offenbaren, und in den Tönenden, aus dem die Fülle geläutert und harmonisch widerklingt. Schauen und Tönen, Erleiden und Wiedergeben könnte man auch als Eigenschaften der menschlichen Seele bezeichnen. Nur durch ihr Gegenüberstehen kann sie die Dinge bemeistern, darum heißt es: Seele sang den Tod, die grüne Verwesung des Fleisches. Anschauend leidet die Seele, weiblich den Eindrücken hingegeben; Trakl forderte auch vom Dichter als erstes völlige Hingabe. Tönend, mitteilend wird die Seele männlich, am reinsten in der Kunst: sie gleicht die Wirklichkeit ihrer Eigenart an, zeugt sie von neuem und bringt nur das ihr Verwandte zum Widerhallen, zum Tönen. (Einer, der sein Leid ganz auf seine Schultern nimmt und nur mehr vor Gott sich äußern kann, ist der Duldende oder der Heilige, ein lichterer Bruder des Künstlers).172

Leitmotivartig auftauchende Partikel und Figuren aus dem lyrischen Œuvre Trakls (der weiße Magier, das Saitenspiel, das Tönen u.a.) und an Trakls Briefzeugnisse erinnernde Motive (Seher und Duldender u.a.) werden für die Beschreibung des prophetischen Dichters verwendet, ist es doch per definitionem Kennzeichen des prophetischen Künstlers, einerseits zu schauen und andererseits zu tönen, d.h., einmal die vielfachen Facetten der Welt wie die des Transzendenten in der Wahrnehmung überdeutlich zu erleiden (passio) und ein andermal in lyrischer Sprache geformt und gefi ltert, der je eigenen Wirklichkeit akkommodiert, wiederzugeben (actio). So wie prophetisches Erleben immer durch den doppelten Zustand des »berufenen Rufer[s]«173 (nabi) bestimmt ist, so markieren hier das Schauen und das Tönen zwei markante Stadien prophetischen Dichtens, die mediale und die aktive Seite des Dichter-Propheten. Trakls eigene Schilderung des Wechsels von der Vision der Wirklichkeit, die zu erleiden ist, zur inneren Vision des schönen »Wohllauts« klingt an.174 Das Signifi kante an der Art der lyrischen Wiedergabe ist freilich, dass das von Trakl häufig verwendete (durative) Tönen eine Art vorsprachlich-semiotisches, prälogisches

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war er auch unter den Menschen ein unaufdringlicher Gast, der niemandem im Wege stand.« Auf die Dominanz der Dichterrolle als »heimatloser Fremdling« bei Trakl macht auch Littek aufmerksam: Littek, Existenz als Differenz, bes. S. 86–93; vgl. zur Figur des Einsamen z.B.: Trakl, Allerseelen. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 34; Trakl, Seele des Lebens. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 36; Trakl, Verklärter Herbst. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 37. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 48f. Josef Ernst, Karl Hoheisel, Frank-Lothar Hossfeld, Helga Sciurie u. Jürgen Werbick: Art. Propheten, Prophetie, Sp. 628. Vgl. wieder: Trakl, Brief an Hermine von Rauterberg, Wien, 05.10.1908, S. 472.

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Sagen anzeigt,175 das aber gerade die subjektive Signatur des Geschauten in der Verlautbarung garantieren soll.176 Das Tönen als dominantes vorsprachliches Gebilde in der Lyrik Trakls markiert einen Zwischenbereich zwischen Schweigen und Sagen, Ich-Dissoziation und Subjektäußerung und ist mit der Seher-Figur eng korreliert,177 wie es weiter unten genauer exemplifiziert wird. Die leidvollen Züge der Dissoziation bei Trakl sind von Mahrholdt zurückgenommen und durch das religiöse Motiv des Duldens verdrängt. Ferner deutet sich auch bei Mahrholdts Trakl-Porträt das Wechselverhältnis von Charisma und Stigma an, wie die Parallelisierung vom »Bewußtsein des Göttlichen« als »Fluch auf der Stirn«178 zeigt. Trakl selbst fühle sich als übergreifende Einheitsgestalt, die sich unterschiedlich aufspalten könne, erscheinend als Hirte oder Jäger, Mönch oder Kreuzfahrer, im Untergang Schauender oder als selig Auferstandener,179 wie für ihn Tod und Leben dasselbe sei.180 Hinter diesem Prinzip der dualen Einheit, das eine höhere Zweiheit (auch im Sinne der Androgynie) im-

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Vgl. Williams, Schweigendes Tönen, S. 161f. Vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 71: »Trakl war mit ungemein reizbaren Sinnen begabt, das Geringste konnte ihn erregen, wenn es ihn innerlich herausforderte. Darum überstürzten sich oft in seinen Gedichten die Bilder, er unterliegt ihnen, indem er sie aussagen muß, doch werden sie durch das Band seines Wesens und die Einheit der Stimmung zusammengehalten, er hat sie gewählt und nur die auf ihn wirkenden tauchen im Werke auf. So lebt der Künstler ein doppeltes Leben: den Eindruck empfangend und ihn von sich gebend.« Das Dulden als das ›weibliche Prinzip‹ und das Tönen als das ›männliche Prinzip‹ zu klassifizieren, ist der männlichen Sichtweise des Verfassers geschuldet, die ferner davon ausgeht, dass Trakls ›männliche Lyrik‹ nicht nur von Frauen kaum gelesen, sondern noch weniger verstanden werden könne (vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 34). Diesem Urteil muss man sich als Trakl-Leserin nicht zwingend anschließen. Trakl selbst appliziert übrigens das Prinzip des Tönens natürlich auch auf die »Schwester« in »Geistliche Dämmerung«: »Immer tönt der Schwester mondene Stimme / Durch die geistliche Nacht« (Trakl, Geistliche Dämmerung (2. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 118). Von historischem Interesse ist gleichwohl, wie Mahrholdt neben Otto Weiningers Schrift Geschlecht und Charakter immer wieder dessen breit rezipierte Schrift Genie und Verbrechen anzitiert und die dort vertretene These von der Kreuzung von Wahnsinn und Verbrechertum beim Genie – dem Inbegriff des Männlichen – auf Trakl bezieht (vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 39; vgl. Ursula Heckmann, Das verfluchte Geschlecht. Motive der Philosophie Otto Weiningers im Werk Georg Trakls, Frankfurt am Main 1992; Gerald Stieg, »Ein Geschlecht«? Trakl und Weininger. In: Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion, hg. von Rémy Colombat u. Gerald Stieg, Innsbruck 1995, S. 123f.; Doppler, Georg Trakl und Otto Weininger. In: Peripherie und Zentrum. Studien zur österreichischen Literatur. Festschrift für Adalbert Schmidt, hg. von Gerlinde Weiss, Salzburg; Stuttgart; Zürich 1971, S. 84–93). Ebenso sind die Eigennamen Elis, Anif, Helian (nach Heliand), Sebastian (der von Pfeilen der Ungläubigen vielfach durchbohrte Märtyrer), Afra, Sonja auch tönend (vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 78). Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 41. Vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 50. Vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 46.

pliziert, zeige sich eine Vorstellung von Ganzheit, die Gegensätze bestehen lässt, z.B. diejenigen von »Gut und Böse, Gott und Mensch«181. Die Sichtweise Karl Borromäus Heinrichs auf Trakl, die dieser als Aufzeichnungen 1913 und 1926 unter dem Titel »Die Erscheinung Georg Trakls« in der von Ficker herausgegebenen Zeitschrift Brenner veröffentlicht, dem wichtigsten Publikationsorgan Trakls, ist fast identisch mit derjenigen Mahrholdts, nur dass das sich einschaltende subjektive Moment des Künstlers in der Weise des lyrischen Tönens nicht direkt genannt wird. Heinrichs Trakl-Porträt ist noch näher an Trakls eigenen Aussagen anzusiedeln. Wenn der Dichter-Mund als »Echo des Geschauten« fungiert, so dass er das Geschaute nur im Rhythmus meistert, ist erkennbar, dass ein dezentriertes Subjekt (als Seher) der Bilderwelt untergeordnet ist, wie es Trakl an anderer Stelle selbst anvisiert:182 Als ich, wie gesagt, solches an diesem Dichter erfuhr, empfand ich ihn als die Erscheinung eines Sehers. Zu ihm redet die Welt in Bildern, aus ihm tönt sie in Bildern zurück. Sein Auge ist ein Spiegel von Bildern; sein Mund das Echo des Geschauten; seine Seele meistert es in Rhythmus. [...] Meine Überzeugung: daß sich in seinem Werke etwas Außerordentliches offenbart, wofür derzeit der Sinn fehlt (ja was wir als den eigentlichen und wahren Begriff des Dichters nur mehr aus der Erinnerung an geschichtliche Zeiten kennen, wo der Dichter noch ein Seher war, ein in sich ruhendes Auge, in dem sich die Welt in Bildern bricht, und ein weissagender Mund, aus dem Bilder tönen; denn solches ist der Dichter, von dem ich hier rede), diese meine Überzeugung wurde immer mehr bestärkt.183

Hier bürgt der Biograph geradezu als Zeuge – wozu er sich selbst stilisiert – für den heiligen Dichter.184 Der über Nietzsche promovierte, zeitweise als Redakteur des Simplicissimus (1909–1912) und Hauptmitarbeiter von Fickers Brenner etablierte Heinrich gilt als Freund und Lektor Trakls. Heinrichs religiös ausgerichtetes essayistisches und lyrisches Werk, sein Eintritt als Weltoblate im Benediktinerkloster Einsiedeln mögen seine sakralisierend verfahrende Zeichnung Trakls biographisch unterlegen. Sein Hinweis auf tönende Bilder bei Trakl ruft ferner Nietzsches Bild vom dionysischen Lyriker ins Gedächtnis,185 das er von seinen eigenen Nietzsche-Studien her kennen mag. Ähnlich wie in Trakls Elis-Gedichten und im »Helian« fällt bei Heinrichs Beschreibung des Sehers die fragmentarische Betonung der Augen- und Mundpartie als ausgezeichnete Wahrsagungsorgane auf. Heinrich zieht insbesondere die HelianFigur als Kronzeugen für Trakls Sehertum heran – Rilke vergleichbar –, indem er den »Helian« als prophetische Offenbarung des Untergangs des Abendlandes begreift.186 Bereits die Produktionsphase imitiert einen prophetischen Auftrag: Trakl verlasse ei-

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Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 37. Vgl. wieder: Trakl, Brief an Erhard Buschbeck, Salzburg?, Spätherbst? 1911. Karl Borromaeus Heinrich, Die Erscheinung Georg Trakls. In: Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe, hg. von Ignaz Zangerle, Salzburg 19592, S. 91–110, S. 95f. Heinrich, Die Erscheinung Georg Trakls, S. 105. Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 44. Trakl selbst betont in einem Brief an Buschbeck, dass der »Helian« »das teuerste und

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gens Wien, weil er den »Helian« nur in Innsbruck vollenden könne und er »dem gebieterischen Rufe der inneren Gesichte, die den ›Helian‹ beseelen, untertan«187 war: Der Dichter hat keine Wahl in seinen irdischen Dingen; auf die Gefahr hin, von den Menschen Narr genannt zu werden: immer muß er Gott mehr gehorchen als den Menschen. [...] Vom Helian aus hatte ich einen tiefen Blick in die Seele des Dichters tun können, deren tiefste Vision der Helian darstellt: so tief, wie sie eben sein muß, um ein solches Schicksalsgedicht, unter dessen Zeichen sein Dichter geboren ist und welches zu schreiben zu seiner tragischen, aber grandiosen Bestimmung gehört hat; das auch zugleich eine Offenbarung über das Hinsterben des Abendlandes darstellt und über die reiche versinkende Schönheit seines Unterganges, wie sie nur durch den Mund dieses Dichters laut werden konnte.188

Die Wahllosigkeit und Heteronomie des Dichters aufgrund höherer Mächte (hier Gott) sind Sehertopoi und finden sich etwa auch in Nietzsches Zarathustra-Darstellung: »Ich habe nie eine Wahl gehabt.«189 Weiterhin überhöht Heinrich das Dichtertum Trakls, wenn er ihn (im Sinne Nietzsches) trotz verunreinigender Leidenschaft als Figuration der Reinheit adelt: […] er hatte die Seele eines Kindes. Und deren Reinheit! Denn rein blieb seine Seele durchaus, auch auf der Folter der gewaltigsten Leidenschaft, der bluthaft bestimmten, rein blieb seine Seele wie sein Leiden durchaus. Und um seine Reinheit, in allem und jedem, vermehrten sich täglich alle seine Leiden.190

Dieses Bild des reinen Künstlers appliziert Heinrich auf Trakl: »Hätte ich, lieber Bruder, die Kraft, mit solcher Reinheit auf die Menschen zu wirken wie Sie, so wüßte ich, wo ich mich befände, und wäre allezeit getrost.«191 Denn: »Sie sind ausgezeichnet, lieber Freund, von Ihrem Gott.«192 Und Heinrich imaginiert sich selbst gerne als Inspirierter: »Solang ich irgendwo noch sehe, daß mich Gott für würdig hält, durch das, was er mir eingiebt [sic] oder auch nur einfallen läßt, wenn ich es ehrlich aussage, die Seele eines Menschen zu erfreuen, solang will ich mich nicht ganz verloren fühlen.«193 Auch Adolf Loos schwört Trakl brieflich auf seine Rolle als »Gefäß des heiligen Geistes«194 ein. Ludwig von Ficker, der Trakls Gedichte über Jahre in seiner Zeitschrift Brenner druckt und dem Dichter selbst freundschaft lich verbunden ist, endet seinen Nachruf ebenfalls mit der Hervorhebung von Trakls Sehertum:

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schmerzlichste [sei], was [er] je geschrieben« habe (Trakl, Brief an Erhard Buschbeck, zweite Hälfte Januar 1913. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 500f., S. 501). Heinrich, Die Erscheinung Georg Trakls, S. 102. Heinrich, Die Erscheinung Georg Trakls, S. 102f. Nietzsche, Ecce homo, S. 339. Heinrich, Die Erscheinung Georg Trakls, S. 107. Heinrich, Brief an Georg Trakl, Osterdienstag 1913. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 2, S. 769f., S. 770. Heinrich, Brief an Georg Trakl, 11.01.1914. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 2, S. 772. Heinrich, Brief an Georg Trakl, 05.03.1913. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 2, S. 769. Loos, Brief an Georg Trakl, 27.06.1914. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 2, S. 777.

›Strahlender Arme Erbarmen umfängt ein brechendes Herz‹ –, so ist das ja nicht Hingabe an Einbildungen, die mit Wahrheit in göttlich erschlossenem Verstande nichts zu tun haben, sondern im Gegenteil: Lichteinbruch, überwältigender, einer in den Augenblick versenkten Wirklichkeit, wie er nur dem Trauergeist einer so erstaunlichen Sehergabe wie der Georg Trakls beschieden sein konnte, und einer Besinnungsgabe, die eingedenk blieb jener anderen Erfahrung des Dichters im Umgang mit seinen übermächtigen Gesichten: ›Unsäglich ist das alles, o Gott, daß man erschüttert ins Knie bricht.‹195

Im Gegensatz zu Trakls apokalyptischer Schilderung seiner leidvollen Existenz196 charismatisiert Ficker den Propheten-Dichter als Lichtgestalt, dem Gnade widerfährt, und orientiert sich in seiner Antwort an dem ihm gewidmeten Gedicht »Gesang einer gefangenen Amsel«197. Dieses Gedicht sei überdies inspiriert durch den Anblick einer prophetischen Landschaft.198 Dieser erhebenden und verklärenden Funktion der Nachrufe vergleichbar schreibt Josef Leitgeb in seinem Trakl-Rückblick: »Je ursprünglicher ein Werk, desto rücksichtsloser gebraucht es seinen Schöpfer als Werkzeug. Da gibt es keine Wahl; und wenn der Mensch zerbrechen muß, damit die neue Welt aus ihm springe, er kann sich nicht retten; hier ist die Rettung eben, daß er zerbricht.«199 Dementsprechend äußert sich das Unsägliche in der körperlichen Reaktion, einer Sprache des Schmerzes. Und die »Vorstellung, daß der Dichter der Offenbarer der verborgenen Heilsgeschichte sei und sich einer prophetischen Aufgabe unterworfen weiß, wird konkretisiert durch die Deutungen der Dichtungen Georg Trakls, die Zangerle im direkten Anschluß an Ficker vornimmt«200. Während von Ficker Parallelen zu Lasker-Schüler unter dem Stichwort ›Sendung‹ ortet, vergleicht Zangerle Trakl mit Rilke und Kafka und stilisiert ihn zum vollkommenen Märtyrer.201 Diese Vorstellung dominiert auch das Dichterbild im Umfeld des Brenners nach 1945: Der Dichter ist nicht nur ein Heiliger, sondern auch Prophet einer Humanisierung des Menschen.202 Schließlich begründet Karl Röck seine Trakl-Gesamtausgabe mit seiner eigenwilligen Anordnung der Gedichte in Siebenerzyklen damit, dass er allein einen »dem Seher-Instinkte und -Schicksal des Dichters völlig angemessene[n] architektonische[n] Grundplan gefunden«203 habe. Er orientiert sich dabei an

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Ludwig von Ficker, Der Abschied. In: Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe, hg. von Ignaz Zangerle, Salzburg 19592, S. 181–204, S. 204. Vgl. Trakl, Unterwegs II. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 81f., S. 81; Trakl, Brief an Ludwig von Ficker, Wien, Ende (?) November 1913, S. 530. Trakl, Gesang einer gefangenen Amsel. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 135. Vgl. Ficker, Der Abschied, S. 203. Josef Leitgeb, Die Trakl-Welt. Zum Sprachbestand der Dichtungen Georg Trakls. In: Wort im Gebirge. Schrifttum aus Tirol, 3, 1951, S. 7–39, S. 8. Alfred Doppler, Georg Trakl als Vorbild für die Bestimmung des Dichters im »Brenner« nach 1945. In: Doppler, Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte, Wien; Köln; Weimar 1992, S. 104–111, S. 107. Vgl. Doppler, Georg Trakl als Vorbild, S. 109. Vgl. Doppler, Georg Trakl als Vorbild, S. 110. Karl Röck, Über die Anordnung der Gesamtausgabe von Trakls Dichtungen. In: Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe, hg. von Ignaz Zangerle, Salzburg 19592, S. 211–235, S. 226.

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Georges Architektonik des Siebenten Rings,204 aber auch die prominente Rolle der Zahl Sieben in der »Offenbarung des Johannes« mag Pate gestanden haben.205 Mahrholdt, Heinrich, von Ficker, Leitgeb, Röck und Zangerle betreiben nicht nur eine Sakralisierung von Trakls Dichteramt, sondern adeln zudem seine Sprache als heilige Mitteilungsform: »Seine Bildwelt mitzuteilen, bediente sich Trakl der Sprache als eines heiligen Mittels. Er unterwarf sich seinen Gesichten; als Künstler war ihm aufgegeben, sie durch die Sprache zu verlebendigen. Der Wohllaut seiner Verse quoll aus dem Gesehenen.«206 Der »Wohllaut seiner Verse«207 wird als Wiedergabe von Gesichten erklärt, wie es Trakl in seinen Briefzeugnissen ebenfalls kundtut.208 Seine ständige Formung des Geschauten als spezifisches surplus des prophetischen Künstlers vor dem rein passiv die Gesichte erleidenden Heiligen betont der Biograph Trakls unermüdlich:209 »Trakl war von seinem Dichterberufe heilig ergriffen. Er besserte an sich und seiner Kunst, Halbes und Unechtes verwerfend, so wie er im Leben Lüge und Falschheit haßte und nur vom Rein-Menschlichen erfüllt war.«210 Und weiter ist Trakls Wandlung zum Apokalyptiker und Endzeitpropheten angedeutet: Diese Gabe des Durchschauens erweiterte sich zur Sehergabe. Im Herbst öff net sich das herbstliche Gemüt des jungen Trakl und er geht, ein Hellseher in brauner Au, vor den verfluchten Mauern fliehend, ein umnachteter Seher, an Mauern hin. Allmählich wächst seine Gestalt zum Zeichen unserer Zeit und sein Gedicht spiegelt sie wider. Das Geschaute auszusagen, wurde ihm zum Auftrag von oben: hinzugehen und zu singen vom Beinerhügel fi nstere Zeiten und den flammenden Sturz des Engels.211

Alludiert wird hier das apokalyptische Szenario von »Traum und Umnachtung« (»Wenn der Herbst kam, ging er, ein Hellseher, in brauner Au«212, »ein umnachteter Seher sang jener an verfallenen Mauern und seine Stimme verschlang Gottes Wind«213) und von »Verwandlung des Bösen« (»singen vom Beinerhügel finstere Zeiten«214). Der Verweis auf die oftmals in Trakls Gedichten erwähnten Mauern ist näherhin auch als Partikel von Trakls Hölderlin-Rezeption zu erkennen, wonach die Mauern ein Bild für die bedrohliche Situation der Sprachlosigkeit abgeben.215 Aber auch ihre mystische Grundierung als Grenzfigur im Sinne Cusanus’ mag aufgerufen

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Vgl. Röck, Über die Anordnung der Gesamtausgabe von Trakls Dichtungen, S. 216. Vgl. zur Zahl Sieben bei Trakl: Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 15f. u. S. 42f. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 77. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 77. Vgl. Trakl, Brief an Hermine von Rauterberg, Wien, 05.10.1908, S. 472. Vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 89. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 62. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 53f. Trakl, Traum und Umnachtung. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 145–150, S. 147. Trakl, Traum und Umnachtung, S. 149. Vgl. Trakl, Verwandlung des Bösen (2. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd.  1, S. 97f., S. 98. Vgl. Bernhard Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud. Simultane Rezeption als Quelle poetischer Innovation im Werke Georg Trakls. In: Salzburger Trakl-Symposion, hg. von Hans

sein.216 Gemäß dem bereits zitierten Hölderlin-Vers »Ein Zeichen sind wir, deutungslos«217 avanciert Trakl in dieser Darstellung zum Zeichen seiner Zeit, das allerdings erstaunlich leer wirkt. Als Endzeitprophet sieht er den nahenden Untergang der Welt prophetisch vorher und besingt ihn lyrisch in aller Abstraktheit.218 Gemäß dem Topos vom überbeauftragten Propheten, der sich seinem MissionsAuftrag zu entziehen bemüht, interpretiert Heinrich ferner Trakls Sucht – subkutan wohl seinen übermäßigen Drogenkonsum – als Widerstand gegen seine Sehergabe: »Da gedachte er sich zu betäuben, aber wurde noch wacher; da schrie er zu Gott um Betäubung, auf daß er seine Gesichte vergäße und seiner selbst. Aber es ward ihm verweigert.«219 Heinrichs Sprache nähert sich deutlich dem biblischen Ton an, die Berufungs- bzw. Verweigerungsgeschichten biblischer Propheten imitierend. Trakls visionäres Element wird im biblischen Sprachduktus geradezu von den profanen, die Sinne betäubenden Suchtmitteln gereinigt.220 Die verblüffende Ähnlichkeit zwischen Trakls und Rimbauds Biographien,221 ihr turbulentes Dichten zwischen Sucht und Vision werden nirgends aufgegriffen, obwohl die Parallelen doch so augenfällig sind, dass nach Mahrholdts Bericht sogar auf Trakl – wie legendär von Verlaine auf Rimbaud – geschossen wurde.222 Folgt man den ersten Nachrufen, wird die biblisch fundierte Ekstase streng von der durch Sucht gesteigerten Vision des modernen Dichter-Propheten geschieden, die in Rimbauds ›Entgrenzungsprogramm‹ hingegen einen augenscheinlichen Nexus aufweisen.223 Trotzdem vergleichen Trakls Biographen ihn partiell mit dem voyant Rimbaud:

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Weichselbaum u. Walter Weiß, Salzburg 1978, S. 9–27, S. 24 (vgl. als Vorlage Hölderlin, Hälfte des Lebens. In: Hölderlin, StA, Bd. II/1, S. 117). Vgl. Haas, Mystik als Aussage, S. 165. Hölderlin, Mnemosyne (2. Fassung), S. 195. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 38: »So schaut er, vom Geiste durchdrungen, den Untergang des Geschlechts und darin den Untergang einer verfluchten Zeit (Helian).« Heinrich, Die Erscheinung Georg Trakls, S. 109. Deutlichere Bezugnahmen auf Trakls Entgrenzungsversuche, seine Alkohol- und Betäubungsmittelexesse sind im Umfeld der Seher-Porträts nicht auszumachen. Separierte Bemerkungen zu seinem ausschweifenden Lebensstil finden sich zwar zerstreut, tangieren indes nicht kausal seine Sehergabe. Vgl. Schünemann, Georg Trakl, S. 12. Gemeinsamkeiten wären etwa die physische Robustheit, das Wandern, Betrinken, die Giftexperimente, die Qual der Sinnlichkeit, das gespannte Verhältnis zur Mutter (vgl. Reinhold Grimm, Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N.F. 9, 1959, S. 288–315, S. 306). Vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 39. Dass insbesondere Dostojewski und Rimbaud auf Trakl eine große Faszination ausübten – neben Tolstoi, Baudelaire, Verlaine, Hölderlin u.a. – unterstreicht ebenfalls Mahrholdt (vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 63); vgl. R. Grimm, Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud, S. 306; vgl. detailliert zur Dostojewski-Rezeption Trakls: Hanna Klessinger: Krisis der Moderne. Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis. Würzburg 2007, S. 15ff. u. S. 59ff. Vgl. Rimbaud, Brief an Georges Izambard vom 13. Mai 1871 und Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871.

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Verwandt waren ihm [Trakl] besonders die ungeheuren Gesichte des Franzosen [Rimbaud], sein rücksichtsloses Erfassen dieser verseuchten und verwesenden Welt und die Kühnheit, es herauszusagen; fremd dagegen die ganze aufs Irdische gerichtete Lebensanschauung.224

Trakl bleibt allerdings nicht bei Beschreibungen des »Kot[s]«225 – wie Rimbaud – stehen, denn die Pole Reinheit und Unreinheit sind bei ihm nicht getrennt zu denken. Doch gehört es zur Verfahrensweise der Stilisierung zum Seher, dass etablierte Dichter-Seher als Vorgänger zugezogen werden. Trakls Nähe zu Hölderlin nimmt ebenfalls einen breiten Raum ein.226 Wie es sich für ein Propheten-Dichterporträt schickt, endet Mahrholdt seine Ausführungen mit einem Hinweis auf das Unzeitgemäße Trakls, das einen historischen Abstand zur Würdigung seiner Gesichte – natürlich von Seiten ebenfalls erleuchteter Rezipienten – voraussetze: »Je mehr die Zeit von ihm abrückt, desto gräßlicher wird die Wahrheit seiner Gesichte bloßgelegt werden und er umso schöner für die einzelnen Sehenden leuchten.«227 Hinter der medialen Seher-Figur verbirgt sich ein Wahrheitsanspruch, der ausschließlich für die Eingeweihten einsehbar sein soll. Trakls Propheten-Künstlerbildnis ist im Gegensatz zum George-Kreis und zur Rilke›Gemeinde‹ aber – wie gesagt – gerade nicht mit Bezug auf eine zeitgleich agierende Zuhörerschaft (abgesehen von seinem Freundeskreis) angelegt, sondern er tritt in isolierter, introvertierter Form in Erscheinung. Elis und Helian sind wie Trakl selbst anfangs mehr in sich schauende Seher – den Mystikern vergleichbar228 – denn die Welt verändernde Propheten: Trakls Chiffren des Untergangs und zeichenhaften Vorboten des Todes229 implizieren keinen direkten Aufruf zur Umkehr. So berichtet Heinrich, wie Trakls Erscheinung und sein Habitus als sich separierender Einzelgänger mit Tendenz zum Monologisieren, zur prophetisch-apokalyptischen Rede auffalle: [...] seine monologische Art zu sprechen entsprach durchaus der seltsamen mönchischen Einsamkeit, der innerlich streng und durchgreifend vollzogenen Abgrenzung, die er, wo immer er sich befindet und selbst in Gesellschaft zahlreicher Menschen, stets mit sich trägt. Darum klang auch seine Stimme nicht zum Nachbarn gewendet, sondern wie von weither; in ihrem Ton lag Grollen. Seine Augen sahen nie auf die Umgebenden, sondern,

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Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 65. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 65. Vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 63 u. S. 66f. Vgl. zur Nähe Trakls zu Hölderlin die Kapitel VI.8. und VI.8.1. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 90. Vgl. zur mystischen Einfärbung in Trakls Lyrik z.B. folgende Zeilen aus »Die Sonne«: »Wenn es Nacht wird, / Hebt der Wanderer leise die schweren Lider; / Sonne aus finsterer Schlucht bricht« (Trakl, Die Sonne. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 134). Vgl. zu Trakls mystischen Zügen wieder: Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 204f. Nach Aussage von Theodor Däubler spricht Trakl auch privat fortweg vom Tod (vgl. Theodor Däubler, Athen, Herbst 1921. In: Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe, hg. von Ignaz Zangerle, Salzburg 19592, S. 12f., S. 12).

selbst bei direkter Ansprache, stets irgendwohin in die Ferne. Manchmal erhob sich seine Rede wie eine Beschwörung gegen heranziehendes schweres Schicksal.230

Trakls hier geschildertes ›Pathos der Distanz‹ geht mit einer hermetischen Poesie einher, wodurch geradezu eine von der Trakl-Philologie unaufhörlich bezeugte ›Wut des Verstehens‹ provoziert wird:231 Ihr eigenstes Merkmal ist es zunächst, einem monologisierenden Sprechen Raum zu gewähren, wie die oben genannten Biographen den Griff zur Gattung Lyrik erklären.232 »Den poetischen Monismus«233 im Stil Trakls kennzeichnet im Wesentlichen ein fehlendes Du, wodurch der Eindruck einer kommunikationslosen Rede evoziert wird. Bei Trakl dominiert der Typus des introvertierten Propheten, des um sich (narzisstisch) kreisenden, prophetisch konnotierten Künstlers. Über die eigenwillige, subjektiv unterlegte Stilisierung Trakls zum einsamen Dichter-Propheten in Zeugnissen seiner Freunde hinausgehend, ist überdies die »immanente Poetik«234 des Prophetischen auszubuchstabieren. Anhand der ProphetenFigurationen Elis und Helian zeigt sich, wie das prophetische Erbe Trakls durch die Rezeption vorgängiger Dichter-Seher thematisiert und einer eigenständigen prophetischen Poetologie anverwandelt ist. Hierdurch lässt sich die Filiation vom Propheten Trakl und seinen prophetischen Figuren prüfen und teilweise wieder differenzieren. Trakls Briefe, verstanden auch als fi ktional durchsetzte Dokumente, können nicht nur als Medium der Selbststilisierung, sondern auch als (erste oder letzte) Werkstufe seiner Gedichte herangezogen werden, woran sich zuletzt – wie gesehen – eine posthume Mythenbildung des Propheten anschließt: Sein Selbstentwurf als Prophet ist teilweise vorgängigen Propheten-Dichter-Semantiken entlehnt, die, seinen Briefen entspringend, in seine Gedichte wandern und umgekehrt, bis sie schließlich in seinen Nachrufen konserviert sind. Trakl – so wird sich zeigen – ist indes weder absolut identisch mit Novalis, Hölderlin, Nietzsche oder Rimbaud noch mit Elis und Helian. Es ist vielmehr ein kombinatorisches Spiel aus Einflussnahme und Modifi kation des prophetischen Erbes in der Motivik und Struktur einzelner Gedichte auszumachen, das einem identifi katorischen Stillstand im Sinne einer absoluten Fassbarkeit Trakls

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Heinrich, Die Erscheinung Georg Trakls, S.  98. Im Gespräch äußere sich Trakl mit einer »wie ferner Donner grollenden Stimme«, die »jene sybillischen, orakelhaften Worte und Sprüche hinzuwerfen […]: er schrieb in einem gewissen Sinn genau so, wie er redete« (Limbach, Begegnung mit Georg Trakl, S. 115). Vgl. zum Forschungsstand wieder: Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 61–124. Auch Kemper verdeutlicht dies: »Das ›Ich‹ kreist um sich selbst. [...] Es schließt sich zyklisch ein, vermag sich nicht dem andern zu öffnen, sondern dieses nur als Fremdes, Bedrohliches, ja Vernichtendes zu erfahren. Trakls hermetisch-monologisches poetisches Sprechen hat daher auch keinen eigentlichen Adressaten« (Kemper, Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten. Georg Trakl und der Expressionismus. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Bd. 2: Um 1900, hg. von Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs u. Manfred Koch, Paderborn; München u.a. 1998, S. 141–169, S. 165f.). Kemper, Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, S. 166. Vgl. zum Begriff »immanente Poetik« wieder: Selbmann, Dichterberuf, S. 3.

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als Seher in seinen lyrischen Zeugnissen entgegensteht. So wenig sich Trakls prophetische Figuren eindeutig greifen lassen, so wenig ist ihm das Korsett eines festgezurrten Seher-Modells auf den Leib zu schneidern. Es bleibt dabei: Prophetische Zeichen sind (fast) deutungslos.

VI.3. Wollust der Priesterschaft – Wahrhaftigkeit des Propheten? Um ein Propheten-Autorschaftsbild zu etablieren oder um eine Propheten-Figuration einzuführen, bietet es sich an, etablierte Konkurrenz-Figuren zu desavouieren oder zwei ähnliche Figuren zu spiegeln: Die Opponenten des Propheten sind von jeher die Priester oder die falschen Propheten.235 Während der Prophet dem Sprichwort nach im eigenen Land nichts gilt, sind die Priester Amtsinhaber, eventuell korrumpiert, jedenfalls blind für die Wahrheit der den Status quo in Frage stellenden Propheten. Priester werden von daher oftmals als bequem, Propheten hingegen als unbequem beschrieben. Nietzsche stellt sich demgemäß nicht nur in seiner Christentumsschelte kritisch gegen die Priester, sondern stellt diesen seine eigene prophetische Kunstfigur Zarathustra gegenüber.236 In einigen Gedichten Trakls sind scharfe Attacken auf das geistliche Amt der Priesterschaft formuliert, die Nietzsches fundamentaler Verurteilung scheinheiliger Vertreter des Christentums in nichts nachstehen.237 Einflüsse auf derartige Blasphemien sind auch Trakls Baudelaire-Rezeption zuzuschreiben.238 Dementsprechend werden bei Trakl »Mönche der Wollust bleiche Priester« mit »schlanke[n] Weiblein« in einem Zuge genannt, um die Scheinmoral der Askese bloßzustellen, wohin-

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Vgl. etwa Jer 14, 15; Jer 25, 30–38; Jer (Klagelieder) 4, 13. »Die Inkompatibilität der Ansprüche von charismatisch-solistischem Wissensträger (Prophet) und heilsverwaltenden Amtsträgern (Priestern) bzw. Institutionen (Kirche) wurde schon in der frühchristlichen Religionsgeschichte zum Stein des Anstoßes« (Frick, Poeta vates, S. 130). Auch Bourdieu verweist in Das religiöse Feld – wie Max Weber – auf die antagonistische Stellung von Priester und Prophet: Der Prophet unterminiert als Mann des Umbruchs das Programm der Kirche und versucht das Monopol der Priester zu brechen, indem er eine neue Symbolordnung entwickelt. Wenn es ihm gelingt, von den Laien beglaubigt zu werden, dann wird der Priester vom Propheten abgelöst (vgl. Bourdieu, Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz 2002). Vgl. zur Sicht auf das Verhältnis von Priester und Prophet in den theologischen und soziologischen Studien um die Jahrhundertwende: Lang, Prophet, Priester und Virtuose, S. 174f., speziell zu Weber: Lang, Prophet, Priester und Virtuose, S. 186f. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 117f. Vgl. Kemper, Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, S. 149f. Neben diesem allgemeinen Einfluss auf eine christentumskritische Haltung (vgl. Dominique Iehl, Trakl et Baudelaire. In: Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion, hg. von Rémy Colombat u. Gerald Stieg, Innsbruck 1995, S. 9–20, S. 10 u. S. 12), welche die Poeten Baudelaire und Trakl als »poètes de la frustration religieuses« (Iehl, Trakl et Baudelaire, S. 13) charakterisieren lässt, vererbt Baudelaire »au jeune Trakl le décor du mal et de la laideur, il lui transmet de vertiges, l’initie aux modes divers de la mélancholie« (Iehl, Trakl et Baudelaire, S. 10).

gegen Heilige aus schwarzen Wundmalen treten, ein Hinweis auf den Brauch des Martyriums, und Blinde in »eiternde Wunden Weiherauch« streuen, um wie magische Ärzte zu agieren.239 Die Leibfeindlichkeit der Heiligen wird immer wieder angegriffen, wie in »Der Heilige«: Der Heilige Wenn in der Hölle selbstgeschaffener Leiden Grausam-unzüchtige Bilder ihn bedrängen – Kein Herz ward je von lasser Geilheit so Berückt wie seins, und so von Gott gequält Kein Herz – hebt er die abgezehrten Hände, Die unerlösten, betend auf zum Himmel. Doch formt nur qualvoll-ungestillte Lust Sein brünstig-fieberndes Gebet, des Glut Hinströmt durch mystische Unendlichkeiten. Und nicht so trunken tönt das Evoe Des Dionys, als wenn in tödlicher, Wutgeifernder Ekstase Erfüllung sich Erzwingt sein Qualschrei: Exaudi me, o Maria!240

Der triebgesteuerten Bilderwelt des Heiligen entsprechen die Langsätze und zahlreichen Enjambements. Dass das »Fleisch des Heiligen auf glühendem Rost hinschmilzt«241, verdeutlicht den Einbruch des Dionysischen, eine Form der sexualisierten Ekstase, vor der auch die – im Sinne Nietzsches widersprüchlichen – Askese-Ideale ›dahinschmelzen‹.242 Im nicht erhaltenen Drama »Totentag« Trakls, das 1906 am Salzburger Theater uraufgeführt wurde, sind – den Rezensionen gemäß – ebenfalls nietzscheanische, askesekritische Bemerkungen eingewoben: Ein philosophierender Blinder verurteilt die Bibel und will bei seiner geliebten Schwester Grete bleiben, deren Auszug zur Heirat er mit allen Mitteln zu verhindern sucht.243 Im Gegensatz zur dionysischen Wollust der Priester sind die frühen Propheten-Figuren Trakls standhaft und wahrhaftig,244 aber auch Opfer sinnlicher Anschläge: Trakl interessiert sich beispielsweise für den Salome-Stoff (1906), gemäß dem der vom Tetrarch in einer Zis-

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Trakl, Drei Blicke in einen Opal. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 66f. Trakl, Der Heilige. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 254. Trakl, Helian, S. 72. Vgl. Nietzsche, Genealogie der Moral, bes. S. 363 u. S. 366. In den handschriftlichen Entwürfen zu »An die Nacht« findet sich ein weibliches Pendant zum wollüstigen Heiligen: »Mönchin dein lüstern Wolkendunkel« (vgl. Trakl, An die Nacht (3. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 2, S. 308). Vgl. Trakl, Totentag, In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 2, S. 511–516. Kemper weist in einer Fußnote ferner bereits auf Propheten-Figuren bei Trakl hin: »Schon in den ersten Jugendwerken Trakls erscheint als dominante Figur der Prophet – Jochanaan in ›Salome‹, ein Blinder als ›Hellseher‹ in ›Totentag‹, Jesus selbst als ›seltsamer‹ bzw. ›sonderlicher Prophet‹ in ›Maria Magdalena‹« (Kemper, »Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«, S. 24).

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terne eingebunkerte Prophet Jochanaan, welcher die Gemahlin des Herrschers verurteilt, der Liebes-Wollust Salomes zum Opfer fällt: Salome tanzt bekanntlich für den lüsternen Herodes, um den gefällten Kopf des Propheten zum Kuss zu erobern.245 Der wahrhaftige Prophet fällt also der dionysischen Tänzerin zum Opfer. Im Gegensatz dazu steht im Dialog »Aus goldenem Kelch. Maria Magdalena«246 (1906) eine Bekehrung im Vordergrund: Hier erzählt Marcellus seinem Freund Agathon die Geschichte der Dionysos-Dienerin und rauschhaften Tänzerin Maria Magdalena, die alles liegen und stehen lässt, für einen »seltsamen Propheten, der sie vielleicht mit den Augen gerufen hatte«247, um diesem (Jesus von Nazareth) nachzufolgen. Die Begeisterung für die besondere Macht dieses Propheten über die schöne Frau ist natürlich bestechend. In der Todesstunde Jesu wird das dionysische Treiben des – anstelle des wahren Propheten von Pilatus freigelassenen – Barrabas gerichtet, wie im frühen Prosastück »Barrabas«248 (1906) dargelegt. Das Konkurrenzmodell Prophet-Priester/Mönch wird ebenfalls in »An den Knaben Elis« aufgerufen: In den Leib des Propheten Elis taucht – dem Muster vom geilen Priester und der Attraktivität des Propheten folgend – »ein Mönch die wächsernen Finger«249. Während der Propheten-Leib ein Sinnträger für höhere (wenn auch nicht christliche) Wahrheiten ist, fokussieren die falschen Priester den handfesten Körper.250 Und während beim frühen Trakl das Dionysische mit dem Prophetischen kontrastiert ist, wenn auch eine Faszination für die Entgrenzung mitschwingt, zeigen sich ab dem ›mittleren‹ Trakl zunehmend deformierte Propheten, die sich das priesterlich-dionysische Element einverleiben. Eignet den Propheten-Figuren etwas Unschuldiges, sind sie doch von der dionysischen Ekstase affiziert, die ihre Sprache prägt. Ein Beispiel für Trakls frühe Anverwandlung prophetischen Sprechens in Korrelation zum Einbruch des Dionysischen ist der dritte Traum in »Drei Träume«. Der erste Traum ist dem apollinischen Träumen (»Mich däucht, ich träumte vom Blätterfall«251) gewidmet und der zweite Traum stellt den dionysischen Welterzeuger im Sinne Nietzsches vor (»Meine Seele gebar blut-purpurne Himmel«252).253 Im dritten Traum kommt die Vermittlungsinstanz des Propheten zum Zuge:

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Vgl. Trakl, Salome. In: Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls, hg. von Hermann Zwerschina in Zusammenarbeit mit Eberhard Sauermann, Basel; Frankfurt am Main 1995ff., S. 53–54. Trakl, Aus goldenem Kelch. Maria Magdalena. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd.  1, S. 195–198. Trakl, Aus goldenem Kelch, S. 196. Trakl, Barrabas, S. 193f. Trakl, An den Knaben Elis. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 84. Vgl. zur Wirkung der Priesterschelte auch den Priester als Schlächter in »Verwandlung des Bösen« (vgl. Trakl, Verwandlung des Bösen (2. Fassung), S. 97). Trakl, Drei Träume. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 215f., S. 215. Trakl, Drei Träume, S. 215. Vgl. Kemper, Nachwort. In: Georg Trakl, S. 286.

III Ich sah viel Städte als Flammenraub Und Greuel auf Greuel häufen die Zeiten, Und sah viel Völker verwesen zu Staub, Und alles in Vergessenheit gleiten.   Ich sah die Götter stürzen zur Nacht, Die heiligsten Harfen ohnmächtig zerschellen, Und aus Verwesung neu entfacht, Ein neues Leben zum Tage schwellen.   Zum Tage schwellen und wieder vergehn, Die ewig gleiche Tragödia, Die also wir spielen sonder Verstehn,   Und deren wahnsinnsnächtige Qual Der Schönheit sanfte Gloria Umkränzt als lächelndes Dornenall.254

Hier fungiert der Prophet als der apokalyptische Richter seiner Zeit, der in den ersten beiden Quartetten den Wechsel von Zerstörung und Wiederaufbau schaut (»Ich sah«). Ist der im letzten Terzett genannten Schönheit die Funktion des Scheins im Sinne Nietzsches zuzuordnen, die den Ablauf der ewigen Tragödie erst garantiert, verweist die contradictio in adjecto »lächelndes Dornenall«255 auf eine Grenzfigur zwischen Dionysischem und Apollonischem, die für Trakls prophetische Kunstfiguren prägend ist, denn diese tragen in gewisser Weise alle einen Dichterkranz mit Dornen: Helian mit seiner von Schnee und Aussatz gezeichneten Stirn, ein junger Novize mit braunem Laub bekränzt im »Helian« u.a.256 Insbesondere aber die sprachliche Figur des Paradoxons kennzeichnet seine Propheten-Figurationen,257 die die unauflösliche Schwebe zwischen Untergang und Wiederkehr, die Schönheit im Niedergang anzeigen. Zunächst dominiert aber die dionysische Ich-Sprengung, wie im zweiten Traum dargestellt.

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Trakl, Drei Träume, S. 215. Kemper sieht darin eine Verweigerung des Trosts, die eine Tendenz zur lügenhaften Kunst impliziere (vgl. Kemper, Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, S. 149). Für diese Ansicht spräche die Figur der Verfluchten in »Die Verfluchten«, heißt es dort über die einstige Reine: »O! blauer Glanz, den sie in Scheiben weckt, / Umrahmt von Dornen, schwarz und starrverzückt« (Trakl, Die Verfluchten. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 103f., S. 104). Lächelt Sonja hier noch »sanft und schön«, mag dies als Hinweis für eine Absurdität des schönen Scheins gelten. Vgl. Trakl, Helian. Auch Gerolf Fritsch betont allgemein die »Paradoxie, mit der die dichterische Phantasie unzusammengehörige Dinge und Geschehnisse miteinander verknüpft, [...] zugleich Beziehungen zwischen zusammengehörigen Dingen und Vorgängen zerstört« (G. Fritsch, Form und Sinn der Landschaft in der Dichtung Georg Trakls. Bonn 1958. [Masch.], S. 6).

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VI.4. Prophetische Bilderfluten: Trakls Reihungsstil Dass Trakls ästhetisiertes Leben, dokumentiert in seinen teilweise fi ktionalisierten Briefen und in den Nachrufen, auch als ›Gesamtkunstwerk‹ zu klassifizieren ist, wie oben behauptet, bezeugen teilweise seine Gedichte, die nicht nur Prätexte oder Posttexte der Künstlerpoetik des Propheten darstellen, sondern auch Analogien anzeigen, die eine Grenzziehung zwischen externer und interner Dichter-Propheten-Poetik verwischen: Die poetische Sprache wird für das prophetische Selbstbild diszipliniert. In der Schau des Dichter-Sehers sind nämlich grundsätzlich zwei Arten unterscheidbar: die eindrucksmächtige (impressionistische) und die ausdrucksmächtige (expressionistische). In der ersten zeigt sich das Leben, wie es empfangen wurde, in vielen Bildern; von der Seelenverfassung des Dichters, die sie eigentlich aussagen soll, wird kaum geredet, sie wird nur aus der Wahl des Dargestellten erfühlt.258

Mahrholdt leitet aus Trakls »impressionistische[r]« Schau schon indirekt den sogenannten Reihungsstil ab, wo eine Vermittlungsinstanz zugunsten der empfangenen Bilder in den Hintergrund tritt. Ein passendes Pendant zur dionysischen Entgrenzung oder prophetischen Dienerschaft ist eben die Reihungsstil-Technik: Mit der Vorstellung, dass sich die Sprache selbst dichtet, die Bilder ein Eigenleben entwickeln, disparate Aussagen willkürlich nebeneinander stehen – in »harmonische[r] Zusammenhanglosigkeit«259 –, die Lexeme autonom werden,260 korrespondiert das Dichterbildnis vom Propheten, der als Gefäß dieser ›Bilderfluten‹ fungiert, eine Vorstellung, die beispielsweise Novalis,261 T. S. Eliot262 oder Rimbaud263 profi lieren. So entstehen unpersönliche Gedichte, die »zum Bersten voll von Bewegung und Gesichten sind«264. Stellt man das in den Briefen entworfene Künstlerbild vom ProphetenDichter dazu, zeigt sich, wie prophetische Autorpoetiken moderne Schreibstrategien

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Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 72. Heselhaus zitiert nach Kemper, Gestörter Traum, S. 259. Vgl. Baßler, Trakl, S. 216. Vgl. dazu das noch folgende VI.5. Kapitel. Man denke etwa an T. S.  Eliots düstere Visionen vom Untergang in »The Waste Land« (1922): Insbesondere die Worte des Propheten Hesekiel (vgl. Thomas S.  Eliot, Das wüste Land. Englisch und deutsch. Übersetzt von Ernst Robert Curtius. Mit einem Vorwort von Hans Egon Holthusen, Frankfurt am Main 19915, Vers 20f.) werden in Verbindung zu einer modernen Sprachlosigkeit gebracht, aber auch Tiresias, »pochend zwischen zwei Leben« (Eliot, Das wüste Land, Vers 218f.), spielt eine zentrale Rolle in diesem Seher-Gedicht, ebenso die Seherin Sosostris (vgl. Eliot, Das wüste Land, Vers 43f.). Eliot wendet seine »mythische Methode« an, um das »immense Panorama aus Nichtigkeit und Anarchie« »unter Kontrolle zu bringen, zu ordnen, ihm Form und Bedeutung zu geben« (Eliot zitiert nach Holthusen, Vorwort. In: Eliot, Das wüste Land, S. 7–34, S. 10). Das Dichter-Sein bedeutet für Eliot: »›Befreiung von der Persönlichkeit‹, um ›Medium‹ für vielerlei Erfahrungen werden zu können« (Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 142). Vgl. R. Grimm, Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud, S. 313. Trakl, Brief an Erhard Buschbeck, Salzburg?, Spätherbst? 1911, S. 485.

inspirieren. Die in den Briefen und Nachrufen angedeutete Auflösung des prophetischen Dichter-Ich steht in Verbindung mit Trakls Prophetie-Poetik, die teilweise dieser Ich-Dissoziation entspricht.265 Trakls Reihungsstil-Technik (ab 1910 eingeführt, v.a. in den Gedichten von 1913 zu finden)266, das Simultangedicht,267 welches durch die heterogene Verknüpfung disparater Bilder gekennzeichnet ist,268 kann man somit nicht nur als Reflex auf die Simultaneität des Disparaten in der Großstadt verstehen269 oder als Reminiszenz an Machs Auflösung der Subjekt-Objekt-Relation zu-

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Freilich wären mehrere ästhetische Antworten auf Trakls (prophetisch anmutende) Wahrnehmungsanalyse möglich: Eine ästhetische Konsequenz dieser Selbsterfahrung der IchSprengung (ausgelöst durch einen Großstadtschock, später durch Trakls Kriegserlebnisse) könnte eine (naturalistische) (intentionslose) Selbstaussprache der Dinge fördern, die sich unsublimiert, d.h. schonungslos, auch in ihrer Grausamkeit zu Wort melden. Streckenweise erzählt sich z.B. die Großstadt Berlin bei Döblin in Berlin Alexanderplatz selbst (z.B. der Rosenthaler Platz (vgl. Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 40f.) oder die Dampframme (vgl. Döblin, Berlin Alexanderplatz, S.  144f.)) und eine zumindest scheinbar ungestörte Aussprache der Dinge ist bei Rilke – mitbefördert durch die Eindrücke seiner Paris-Aufenthalte – die dichterische Novität. Es ist schon bemerkt worden, dass sowohl bei Döblin als auch bei Rilke charakteristischerweise prophetische Stimmen diese neuen Mitteilungsweisen begleiten. Eine andere Möglichkeit besteht darin, mit unverständlichen Texten auf eine unverständlich gewordene Welt, die bis zum Inferno mutieren kann, zu antworten (vgl. Wunberg, Jahrhundertwende, S. 46ff.). Zu erinnern ist, dass der Dadaist Hugo Ball seine Lautgedichte als magischer Bischof im Club Voltaire ›predigt‹, wie in der Einleitung erwähnt (vgl. zu Balls Auftritt als magischer Bischof: Ball, Die Flucht aus der Zeit, S. 99f.). Trakl folgt den seinerzeit radikal-experimentellen Varianten am ehesten mit seinem Reihungsstil. So wäre Trakl ohne weiteres auch als Dichter der »Ich-Dissoziation« zu klassifizieren (vgl. Vietta u. Kemper, Expressionismus). Diese depersonalisierenden Momente sind allerdings noch in Trakls Lyrik zu diskutieren. Vgl. zur Ablösung des Erlebnisgedichts durch die vom Reihungsstil geprägte neue Gedichtform: Esselborn, Georg Trakl. Vgl. zu einem prägnanten Beispiel wie »Romanze zur Nacht«: Kemper, »Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«, S. 5f.; Kemper, Gestörter Traum, S. 229f. In einem Brief an Buschbeck klagt Trakl über ein Plagiat seines »Gewitterabend«, das »[s]eine bildhafte Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet« (Trakl, Brief an Erhard Buschbeck (in Salzburg), Wien, zweite Hälfte Juli 1910, S. 478), unverhohlen imitiere. Als bekannteste Beispiele für den sogenannten Reihungsstil gelten Jakob van Hoddis’ »Weltende«, Alfred Lichtensteins »Die Dämmerung« oder »Punkt« (vgl. dazu Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 30ff.) oder »Prophezeiung«. Deren anklingende ironische Signale finden sich bei Trakl hingegen selten. Trakl hat den Reihungsstil 1910 neben van Hoddis und Lichtenstein erfunden (vgl. dazu auch: Kemper, Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, S. 156, Fußnote 54). Besonders der in der frühexpressionistischen Lyrik häufig verwendete Reihungsstil ist nach Vietta als typische Großstadtlyrik zu klassifizieren, die den neuen Wahrnehmungsstrukturen Rechnung trägt (vgl. Vietta, Großstadtwahrnehmung und ihre literarische Darstellung. Expressionistischer Reihungsstil und Collage. In: DVjs, 48, 1974, S. 354–373; vgl. Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 30ff.). Georg Simmel und sein Aufsatz »Die Großstadt und das Geistesleben« gelten ihm als Kronzeuge für die Beschreibung der großstädtischen Wahrnehmungsnorm (vgl. Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 34f.).

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gunsten von Empfindungen,270 sondern auch als Ausdruck eines Chaos von Bildern interpretieren, die auf den Dichter-Propheten einstürzen und die dieser als reines Medium möglichst objektiv, unmittelbar und gelassen271 wiedergibt. Entpersönlichung, Anonymisierung und Auflösung des Ich sowie dessen Aufsplitterung in Perspektivfiguren sind besondere Charakteristika des Reihungsstils, der zudem ein (paradoxes) Nebeneinander von Schönem und Hässlichen, Gutem und Bösen ermöglicht: Alle diversen Bilder werden nicht nur gleichgültig registriert, sie erscheinen dadurch auch als gleichwertig. Diese Perspektivierung der Wahrnehmung im Sinne Nietzsches ist mit einer Zurücksetzung von Subjektivität verknüpft, die wiederum passend im Bild des Dichter-Propheten aufgeht: Eine Figur der Schwundstufe des Subjekts stellt den Dichter-Propheten als Medium vor. Die prophetische Wahrnehmungsform ist mit dieser ästhetischen Darstellungsform des Reihungsstils kompatibel, ja geradezu erstaunlich oft in eins gesetzt. So auch bei Trakl. Die Innovation des Reihungsstils lässt sich also auch vom anachronistischen Autorschaftsbild des Propheten herleiten.272 Das »Klagelied«273, das Trakl als voll von Gesichten bezeichnet,274 zeigt dies gut.275 Dort werden biblische und prophetische Subtexte aufgerufen. Dazu zählen erstens die Verse »Goldener Mund, der meine Lippen rührt, / Und sie erklingen wie die Sterne / Über dem Bache Kidron«276, mit denen nicht nur der Topos vom (hier tödlichen) Musenkuss, sondern auch die prophetisch verheißene Auferstehung der Toten aufgerufen wird,277 zweitens eine Allusion auf die Liebesmystik des Hohenliedes (»O!

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Vgl. Kemper, Gestörter Traum, S. 264f. u. S. 280f. Vgl. Rilkes Vorstellung vom medialen Dichter: »Und ähnlich unbeholfen bin ich den Ereignissen gegenüber, die kommen und gehen, ohne die Gabe der Auswahl, ohne die Gelassenheit der Aufnahme, ein hin und her gewendeter Spiegel, aus dem alle Bilder fallen« (Rilke, Brief an Lou Salomé vom 10.08.1903, S. 156). Vergleichbar interpretiert Gerhard Kaiser »Psalm II« als »Gegenpsalm«, denn der Verlust des grammatikalischen Halts spiegele die Zersetzung und Auflösung biblisch-religiöser Vorstellungen (vgl. G. Kaiser, Georg Trakl, »Psalm«. In: Kaiser, Christus im Spiegel der Dichtung, S. 124–131, S. 130f.). Trakl, Klagelied. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 280. Vgl. Trakl, Brief an Erhard Buschbeck, Salzburg?, Spätherbst? 1911, S. 485. Vgl. als Bezug zum Titel die Klagelieder des Jeremias: Jer 11, 18–23; 12, 1–6; 15, 10–21; 16, 1–917, 12–18; 18, 18–23, 20, 7–18; 23, 9–19; vgl. Jer (Klagelieder) 1–5. Trakl, Klagelied, S. 280. Vgl. den »Helian«-Vers: »Ein erhabenes Schicksal rinnt den Kidron hinab« (Trakl, Helian, S. 72). In Friedrich Gottlob Klopstocks Der Messias (Teil IV, 18. Gesang) wird interessanterweise das Stirn-Bluten des auferstandenen Richters über die Toten betont – das zur Nachfolge im Geiste des Märtyrers animieren soll –, das auch für Trakls Propheten-Gestalt Elis von charakteristischer Bedeutung ist: »Warum trieft Dir die Stirne von Blut wie der Streitenden Stirne? / […] / Wunden gabst Du auch uns, daß wir Deine Märtyrer würden […] (F. G. Klopstock, Der Messias. In: Klopstocks Sämmtliche Werke, Bd. 5, Leipzig 1823, S. 115). Der Ölberg beim Bach und Tal Kidron (vgl. 2. Sam 15, 23), wo der älteste jüdische Friedhof liegt, wird auch das Tal Jehosafats genannt, wo Gott die Nationen der Welt richten wird (vgl. Joel 3, 12). In Joh 18, 1 wird beschrieben, wie Jesus den Bach Kidron überschreitet, um im Garten Gethsemane zu beten, wo sodann seine Gefangennahme stattfindet.

meine Freundin deine Lippen / Granatapfellippen / Reifen an meinem kristallenen Muschelmund«278) und drittens eine Erinnerung an Herodes’ Kindsmord (»Zum Himmel dampft das Blut / Der von Herodes / Gemordeten Kinder«279), ausgelöst durch eine Fehldeutung der Sterndeuter.280 Aber auch in »Geistliches Lied« wird die Inspiration, der Hauch Gottes, im Bilder-Reigen exponiert:281 Zeichen, seltne Stickerein Malt ein flatternd Blumenbeet. Gottes blauer Odem weht In den Gartensaal herein, Heiter ein. Ragt ein Kreuz im wilden Wein.282

Und als Pendant zur Inspiration wird zudem der Rosenkranz als poetologisches Bild bemüht, vielleicht gerade deswegen, weil er ebenfalls auf das Verkettungsverfahren im Reihungsstil anspielt:283 »Und in Rosen Kranz und Reihn, / Rosenreihn / Ruht Maria weiß und fein.«284 Die echoartige Reimform wirkt freilich komisch. Van Hoddis’ »Weltende« vergleichbar werden in Trakls Reihungsstil-Gedichten aber auch düstere, prophetisch-apokalyptische Szenarien entworfen, etwa in »Winterdämmerung«, wie in den ersten zwei Strophen erkennbar:285 Schwarze Himmel von Metall. Kreuz in roten Stürmen wehen Abends hungertolle Krähen Über Parken gram und fahl.   Im Gewölk erfriert ein Strahl; Und vor Satans Flüchen drehen Jene sich im Kreis und gehen Nieder siebenfach an Zahl.286

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Trakl, Klagelied, S. 280; vgl. Hld. Trakl, Klagelied, S. 280. Josef und Maria fliehen aus Bethlehem nach Ägypten, wodurch sich die Prophetenschrift erfüllt (vgl. Mt 3, 3), und entgehen so Herodes’ Kindsmordpogrom (vgl. Mt 2, 16–18). Vgl. den Hinweis auf den Musenkuss »In einem verlassenen Zimmer«: »Wessen Atem kommt mich kosen? / Schwalben irre Zeichen ziehn. / Leise fließt im Grenzenlosen / Dort das goldne Waldland hin« (Trakl, In einem verlassenen Zimmer. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 25). Trakl, Geistliches Lied. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 30. Andernorts heißt es: »Vor trüben Augen blaue Bilder gaukeln« (Trakl, Menschliches Elend (2. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 62). Trakl, Geistliches Lied, S. 30. Vgl. auch Trakl, Trübsinn (1. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 53. Trakl, Winterdämmerung. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 20.

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Diesen apokalyptischen Bildern steht die auffallend wohlgeordnete Form mit ihren Vierzeilern gegenüber.287 In reflexiven Versen zum Reihungsstil tauchen ferner Motive auf, die auf die Propheten-Figurationen und insbesondere auf Elis hindeuten, so in »Verklärter Herbst«: Es ist der Liebe milde Zeit. Im Kahn den blauen Fluß hinunter Wie schön sich Bild an Bildchen reiht – Das geht in Ruh und Schweigen unter.288

So, wie sich die Bilder im Reihungsstil aneinanderreihen, so wird Elis gemäß einem prophetischen Dichterbildnis im Kahn untergehen bzw. zum Sternbild am Himmel erhoben, als Zeichen für seinen Status als objektiver Vermittler der Bilder.289 Der auf Helians Stirn auftretende Aussatz,290 ein prominentes Zeichen bei Trakl, das auch den inspirierten Propheten-Dichter stigmatisiert und zugleich charismatisiert, wird in »Kleines Konzert« aufgerufen, wo zudem die Dichter-Seher Rimbaud, Hölderlin und Novalis als ›Bilder‹ eingewoben sind:291 Im grünen Tümpel glüht Verwesung. Die Fische stehen still. Gotts Odem Weckt sacht ein Saitenspiel im Brodem. Aussätzigen winkt die Flut Genesung.   Geist Dädals schwebt in blauen Schatten, Ein Duft von Milch in Haselzweigen. Man hört noch lang den Lehrer geigen, Im leeren Hof den Schrei der Ratten.292

Hölderlin, Rimbaud und Novalis passen nicht nur fugenlos in dieses Gedicht,293 sondern die Tradition der Dichter-Propheten kann auch als Movens für den Reihungsstil

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Kemper weist darauf hin, dass Trakl anfangs »die Schreckensbilder im ›schönen Schein‹ aufzuheben oder gar an diesen zu verraten droht« (Kemper, Nachwort. In: Georg Trakl, S. 294). Trakl, Verklärter Herbst. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 37. Vgl. dazu den folgenden Vers aus dem »Elis«-Gedicht: »Ein goldener Kahn / Schaukelt, Elis, dein Herz am einsamen Himmel« (Trakl, Elis (3. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 85f., S. 85). Vgl. Trakl, Helian, S. 73. Dass sich hinter dem »Geist Dädals« der Dichter-Seher Hölderlin verbirgt, ferner das Thema des Aussatzes auf Rimbaud als weiteres Mosaiksteinchen in diesem Gedicht verweist, überdies beider Sprachverständnis durchscheint und auch die Bläue Novalis’ anklingt, hat Böschenstein nachgewiesen: »Die Kurzform ›Geist Dädals‹ resümiert die Rimbaudsche Reihungstechnik genauso wie die daktylische Form ›Dädalus Geist‹ oder ›Dädalus‹ eine sprachlich und thematisch Hölderlin ernsthafter verpflichtete Dichtungsform spiegelt« (Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 11). Trakl, Kleines Konzert. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 42. Vgl. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S.  10; R. Grimm, Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud, S. 314.

hervorgehoben werden.294 Dass bei Trakl nach und nach das Mosaikverfahren und die kurzräumige Strophe (mit Vierheber und Reimzwang) abnehmen, gleichsam der Einfluss Rimbauds schwindet und »einer zusammenhängenderen, rhythmisch differenzierteren, oft odische und hymnische Elemente einbegreifenden Diktion«295 im Sinne Hölderlins Platz macht, was sich auch in »prosanäheren Rhythmen und elliptischeren Satzgefügen«296 äußert, bemerkt Bernhard Böschenstein richtig. Die von Böschenstein hervorgehobene Dominanz Hölderlins und Novalis’ als »brüderliche Spiegelungen«297 Trakls in Bezug auf seine zunehmend sakralisierte Wortwahl und Syntax beweist nicht nur, dass sich Trakls neuer Sprachstil erneut von prophetischen Dichtern inspirieren lässt, sondern auch, dass das Dichterbildnis vom Propheten für Trakl virulent bleibt.298 Und in dieser Hinsicht ist Rimbaud noch nicht zu verabschieden, genauso wenig Nietzsche. Es ist irreführend, Trakls Durchbruch zu freien Rhythmen mit einer Abkehr von Rimbaud und Nietzsche zu besiegeln.299 Gerade Rimbauds und Nietzsches Konzeption des Sehers, der sich allen Entgrenzungen ausliefert und dem das reine Herz zu brechen droht, gehört neben Hölderlin weiterhin zu den Bezugsfiguren für das schuldig-unschuldige, unreine-reine Fundament des Dichter-Propheten, dessen Gnade auf der Kippe steht,300 wie in einem späten Gedicht von 1914, in »Gesang einer gefangenen Amsel«, beschrieben: »Strahlender Arme Erbarmen / Umfängt ein brechendes Herz.«301 Obwohl Rimbauds sprachliche Einflüsse (die Reihungsstil-Technik) schwinden, bleibt sein Bild vom sündigen, sich entgrenzenden voyant präsent, seine Konzeption des Dichters als »Hellseher«302 mit unrei-

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Der Vers »Aussätzigen winkt die Flut Genesung« (Trakl, Kleines Konzert, S. 42) intoniert bereits ein wesentliches Prinzip von Trakls Seher-Bildnis, nämlich die Vorstellung, dass der verunreinigte Seher einer Reinigungs-Kur, einer Rein-Waschung zu unterziehen ist, wie es einer Poetik des Unreinen-Reinen entspricht, worauf in Kapitel VI.8.2. noch genauer eingegangen wird. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 11, vgl. auch S. 12. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 15. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 16. Dass Demut und Geduld – wie bei Hölderlin oder auch Nietzsche – Bedingungen für ein prophetisches Verständnis vom Dichter sind, da dieser sich den Dingen zu ergeben hat, ist überdies in »In ein altes Stammbuch« angedeutet: »Demutsvoll beugt sich dem Schmerz der Geduldige / Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn. / Siehe! es dämmert schon« (Trakl, In ein altes Stammbuch. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 40). Dadurch, dass Methlagl nicht die prophetische Poetik im Blick hat, sieht er im »Wechsel vom Gleichton der Vierzeiler zu den freien Rhythmen in Lang- und Kurzzeilen« eine »zunehmende Distanzierung von Nietzsche« (Methlagl, Nietzsche und Trakl, S.  98), ja eine Abkehr, ohne die Verschiebung in Trakls Nietzsche-Rezeption wahrzunehmen. Vgl. zum Schuldverständnis Trakls zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten auch Kemper: »Was Trakl im Medium eines dionysischen Mysteriums mißlang, nämlich die Sünde wider das eigene ›Blut‹ zu entsühnen, das scheitert in der poetischen Verarbeitung der spezifisch christlichen Erlösungsvorstellung erst recht« (Kemper, Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, S. 159; vgl. S. 162). Trakl, Gesang einer gefangenen Amsel, S. 135. Doppler, Orphischer und apokalyptischer Gesang, S. 22.

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nen Elementen. Das »Helian«-Gedicht (um die Wende von 1912/1913), das deutliche Rimbaud-Anklänge aufweist, ist zudem vor dem Durchbruch zu einer odisch-elegisch-hymnischen Diktion entstanden.303 Passend zu Trakls Lob des evangelischen Sprechens ist die Selbstüberhöhung und Selbstauflösung des Dichters im Horizont einer heiligen Autorschaft auch als ein Reflex auf sprachskeptische Überlegungen zu verorten. Eine Akkomodation an die Vorstellung der Schau stellt bei Trakl zunächst der Reihungsstil dar. Indes zeichnen sich konterkarierende Versuche ab, dieses prophetische Vermittlungsverständnis im Rahmen einer medialen Autorschaft hin zu einem ästhetischen Konzept der Eigenleistung und der subjektiven Verarbeitung des Geschauten zu überwinden, man könnte auch sagen zu einer Re-Subjektivierung des Medialen zu steigern, oder zumindest die Grenzlinien zwischen Authentizität und Medialität zu betonen. Ein Beispiel dafür ist der Wohllaut der Verse, welcher den Reihungsstil begleitet.304 Trakls Durchbruch zur poetischen Narration und zu freien Rhythmen ab 1912 geht mit einer Einführung prophetischer Figuren (v.a. Elis) einher, die Trakl auch zur Selbstapotheose gereichen.305

VI.5. Elis und Novalis – ›NovElis‹: Ausdruck als Klage Im Trakl’schen Lebensbericht Mahrholdts findet sich ein passendes Resümee zu Trakls Verhältnis zu seinen Dichter-Vorbildern:306 »Je größer ein Mensch, desto mehr Menschen wohnen in ihm. Trakl konnte die Verwandtschaft mit anderen nicht

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Vgl. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 17. Vgl. wieder: Kemper, Nachwort. In: Georg Trakl, S. 294. Diesen eignen mitunter androgyne Züge, die Grenzen der Differenz nebulös verwischend. Neben der Elis-Figur ist die Schwester als androgyne Lichtgestalt und als Gegenfigur zu den Prostituierten, etwa Afra und Sonja, zu nennen (vgl. Kemper, Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, S. 156f.) Erste Hinweise auf das prophetische Erbe Trakls liefert seine Rezeption vorgängiger Dichter-Seher, insbesondere Novalis’, Hölderlins oder auch Rimbauds (vgl. die vorliegenden vergleichenden Studien zu Trakl und den ihn beeinflussenden Autoren: Klessinger, Krisis der Moderne; Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 9–27; R. Grimm, Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud; Tymofiy Havryliv, Trakl. Zwischen Baudelaire und Rimbaud. In: Georg Trakl und die literarische Moderne, hg. von Károly Csúri, Tübingen 2009, S. 165–183; Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud; Friedhelm Pamp, Der Einfluß Rimbauds auf Georg Trakl. In: Revue de littérature comparée, 32, 1958, S. 396–406; Herbert Lindenberger, Georg Trakl and Rimbaud. A study in influence and development. In: Comparative Literature, 10, 1958, S. 21– 35; Kurt Bartsch, Die Hölderlin-Rezeption im deutschen Expressionismus, Frankfurt am Main 1974; Theodore Fiedler, Trakl and Hölderlin. A study in influence, Washington 1969. [Diss. [Masch.]]). Dass Hölderlin im Umfeld des Brenner aus der Perspektive Nietzsches rezipiert wird, hebt Methlagl hervor: Methlagl, »Versunken in das sanfte Seitenspiel seines Wahnsinns…«. Zur Rezeption Hölderlins im »Brenner« bis 1915. In: Untersuchungen zum »Brenner«. Festschrift für Ignaz Zangerle zum 75. Geburtstag, hg. von Walter Methlagl, Salzburg 1981, S. 35–69.

zum Verderben gereichen, denn er paßte sie seinem Wesen an und stieg gekräftigter und reiner aus dem Kampf mit ihnen hervor.«307 Wie Jakob im Kampf mit dem Engel als Sieger hervorgehend (vgl. Gen 32, 25–31) und den anderen Seher-Dichtern seiner Zeit vergleichbar, setzt sich Trakl intensiv mit der Prominenz der Ahnväter der vates-Dichter (Hölderlin, Novalis, Nietzsche, Rimbaud) zur Markierung seiner eigenen prophetischen Figuren auseinander, indem er Elemente ihrer prophetischen Signaturen kombinatorisch miteinander verzahnt und sich einverleibt. Für seine prophetischen Heilsgestalten Elis und Helian ist Novalis’ prophetische Dichtungskonzeption aufschlussreich. Daran anschließend ist die amalgamierende Verschmelzung von Novalis und Elis zur Kunstfigur ›Nov-Elis‹ zu fokussieren,308 in der sich Trakls Poetik des Prophetischen kondensiert. Kemper weist als Quelle für die historische Vermittlung magisch-mythischer Hermetik auf Trakls Verehrung des Frühromantikers Novalis hin.309 Tatsächlich hat Trakl ein Widmungsgedicht »An Novalis« geschrieben,310 in welchem er ihn explizit als heiligen Dichter und als Vertreter eines prophetischen Dichtungsverständnisses verewigt: An Novalis 2. Fassung (a) In dunkler Erde ruht der heilige Fremdling. Es nahm von sanftem Munde ihm die Klage der Gott, Da er in seiner Blüte hinsank. Eine blaue Blume Fortlebt sein Lied im nächtlichen Haus der Schmerzen.311

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Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 67. Auf die enge Verwandtschaft zwischen Novalis und Trakls Kunstfigur Elis weist E. L. Marson als erster hin: »Nov-alis became Neu-Elis as it were« (E. L. Marson, Whom the Gods Love. A new Look at Trakl’s Elis. In: German Life and Letters, 29, 1975/76, S. 369–381, S. 373). Aber auch Pfisterer-Burger liefert wertvolle Hinweise auf die Novalis-Elis-Kontamination (vgl. Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, bes. S. 79–136). Vgl. Esselborn, »Blaue Blume« or »Kristallene Tränen«? Trakl’s poetology and relation to Novalis. In: The dark flutes of fall. Critical essays on Georg Trakl, hg. von Eric Williams, Columbia, SC 1991, S. 203–232. Zuletzt untersucht Klessinger das Verhältnis von Trakl und Novalis, ohne allerdings die Propheten-Dichter-Verwandschaft eingehend zu thematisieren (vgl. Klessinger, Krisis der Moderne, S. 139ff.). Kemper: »Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«, S. 23. Zu Trakls eingehender Beschäftigung mit Novalis siehe im Folgenden ebenfalls: Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne; Klessinger, Krisis der Moderne, S. 139ff. Auch im Blick auf »Ruh und Schweigen« bemerkt Kemper treffend, dass das dichterische Selbstverständnis Trakls mit der vates-Tradition, namentlich mit Novalis, zusammenhänge. Und es ist tatsächlich bemerkenswert, »daß Novalis der einzige Dichter aus der literarischen Tradition ist, dem Trakl ein Gedicht gewidmet hat« (Kemper, Gestörter Traum, S. 239). Trakl, An Novalis (2. Fassung (a)). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 325.

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Neben der Koinzidenz von romantischem Kunstideal (im Symbol der berühmten blauen Blume312 erinnert) und der Heiligkeit des Novalis, die eine Kongruenz von poetischem Programm und personaler Vertreterfigur im Rahmen einer heiligen Autorschaft unterstreicht, wie sie typischerweise bei der Propheten-Autorschaftspoetik, wie eingangs erörtert, gerne beschworen wird, ist der Topos von der Ewigkeit der Dichtung313 im Gegensatz zur Vergänglichkeit des Dichters alludiert: Bildlich gesprochen überlebt die blaue Blume – das Lied – gerade das Verwelken des Dichters.314 Das Hinsinken Novalis’ in seine Blume ist demnach doppelt konnotiert: Während der Dichter verblüht und stirbt, blüht und lebt seine Kunst weiter und sichert ihm dadurch seine (dichterische) Existenz.315 Die Nähe des Poesieverständnisses des Ro-

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In Novalis’ Fragment gebliebenem Roman Heinrich von Ofterdingen begegnet dem Leser das Symbol der blauen Blume erstmals, als Heinrich (zu Beginn des Romans) über die Begegnung mit einem sonderlichen Fremden nachsinnt: »Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager, und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst; fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn’ ich mich zu erblicken« (Novalis, Heinrich von Ofterdingen. In: Novalis, Werke in einem Band, S. 237–413, S. 240). In einem darauffolgenden Traum erscheint die blaue Blume wieder als Symbol für seine Sehnsucht, das Streben nach dem Unendlichen: »Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung […]« (Novalis, Heinrich von Ofterdingen, S. 242). Vgl. zu dieser Parallele mit Blick auf »Ruh und Schweigen«: Kemper, Gestörter Traum, S. 240. Vgl. zum Topos von der Unvergänglichkeit der Dichtung: Horatius Flaccus, Quintus, Oden und Epoden. Lateinisch und Deutsch. Übersetzt von Christian Friedrich Karl Herzlieb und Johann Peter Uz. Eingeleitet und bearbeitet von Walther Killy und Ernst A. Schmidt, Zürich; München 1981, Carmina III, 30, 1f., S.  263; Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, Düsseldorf 2004, 15, S. 873–876; Ovid, Amores. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt und hg. von Michael von Albrecht, Stuttgart 1997, 1, 15,7–8 u. 41–42. Vgl. ähnlich Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 108. Die erste Fassung und die zweite Fassung b des Gedichts »An Novalis« sind hierin noch weniger deutlich, denn dort behält das Verstummen das letzte Wort, wenn auch in der zweiten Fassung b die »Blüte« wiederum auf die Reife, die Vollendung seines Werks hindeuten kann: »An Novalis (1. Fassung) // Ruhend in kristallner Erde, heiliger Fremdling / Vom dunklen Munde nahm ein Gott ihm die Klage, / Da er in seiner Blüte hinsank / Friedlich erstarb ihm das Saitenspiel / In der Brust, / Und es streute der Frühling seine Palmen vor ihn, / Da er mit zögernden Schritten / Schweigend das nächtige Haus verließ« (Trakl, An Novalis (1. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 324). »An Novalis (2. Fassung (b)) // In dunkler Erde ruht der heilige Fremdling / In zarter Knospe / Wuchs dem Jüngling der göttliche Geist, / Das trunkene Saitenspiel / Und verstummte in rosiger Blüte« (Trakl, An Novalis (2. Fassung (b)), S. 326). Novalis ist ferner mit der Figur des Frühverstorbenen assoziierbar (vgl. Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 112; Klaus Simon, Traum und Orpheus.

mantikers zur Musik ist überdies im Begriff des Lieds (in den beiden anderen Fassungen auch des »Saitenspiel[s]«) erinnert. Obwohl Gott dem sterbenden Dichter die Klage vom Mund nimmt, ist anzunehmen, dass das unvergängliche Lied die Klage des Dichters konserviert, wenn dessen Fortleben gerade »im nächtlichen Haus der Schmerzen«316 (so der Abschlussvers) lokalisiert wird: Das Ausdrucksgebiet der (musikalisierten) Poesie wäre demnach die Klage, eine Vorstellung, die wiederum direkt mit der Figur des »heiligen Fremdlings«, dem Dichter-Propheten als Leidenden und Untergangsboten, korrelierbar ist: Denn der Prophet ist oftmals selbst ein inkarnierter Ausdruck der Klage, so auch bei Trakl. Interessant ist ferner, dass sich in den anderen beiden Varianten des Widmungsgedichts »An Novalis« bereits ein eingewobener Verweis auf Hölderlin findet: Das bei Trakl öfters genannte »Saitenspiel« ist Hölderlin entlehnt.317 In der Charakterisierung des Novalis schimmert also ein weiterer Dichter-Seher durch. Immer wieder finden sich bei Trakl palimpsestartige Überschreibungen von evozierten DichterGestalten prophetischer Provenienz. Wie sich einzelne Dichter-Seher als punktuell prägend erweisen, so lösen sie sich indes wieder in ihrer Individualität auf. Obwohl im Widmungsgedicht »An Novalis« ausnahmsweise namentlich der Bezugspunkt genannt ist und nicht nur Assoziationssignale oder verkürzte Zitate einen Dichter-Seher anberaumen, entsteht auch hier eine paradoxe Rezeptionssituation: Das Gedicht vermittelt den Eindruck einer genau bestimmbaren Unbestimmtheit durch Überbestimmung. Anders gesagt: Je näher ein Autor wie Novalis von Trakl anvisiert wird, umso ferner, nebulöser erscheint dieser, umso austauschbarer. Und dieser Trakl-typische Wechsel zwischen Konkretum und Abstraktum ist auch für seine Seher-Rezeption charakteristisch. Die Ebenen des Eigentlichen und des Uneigentlichen sind

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Eine Studie zu Georgs Trakls Dichtungen, Salzburg 1955, S. 158f.): »An einen Frühverstorbenen // [...] / Der Geist des Frühverstorbenen stille im Zimmer erschien. // O, das Blut, das aus der Kehle des Tönenden rinnt, / Blaue Blume; o die feurige Träne / Geweint in die Nacht« (Trakl, An einen Frühverstorbenen. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 117). Einen Hinweis auf die blaue Blume als Symbol der Romantik enthalten ferner die letzten Verse in »Verklärung«: »Blaue Blume, / Die leise tönt in vergilbtem Gestein« (Trakl, Verklärung. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 120). Dass der Tod nicht das absolute Ende bedeutet, betont auch Novalis: »Der Tod ist eine Selbstbesiegung – die, wie alle Selbstüberwindung, eine neue, leichtere Existenz schafft« [Ath. 292] oder: »Leben ist der Anfang des Todes. Das Leben ist um des Todes willen. Der Tod ist Endigung und Anfang zugleich – Scheidung und nähere Selbstverbindung zugleich« (Novalis, Vermischte Bemerkungen. In: Novalis, Werke in einem Band, S. 423–483, S. 428). Ferner liest man bei Novalis: »Ohne Inspiration keine Geistererscheinung. Inspiration ist Erscheinung und Gegenerscheinung, Zueignung und Mittheilung zugleich« (Novalis, Vermischte Bemerkungen, S. 438). Trakl, An Novalis (2. Fassung (a)), S. 325. Vgl. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 12f.; siehe den Anfangsvers von Hölderlins »Brod und Wein«: »Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten…« (Hölderlin, Brod und Wein, S. 90); vgl. ähnlich Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 110f.; vgl. zum »Saitenspiel« als Metapher für die Vergangenheit und für Hyperions zerrissenes Dasein: Hölderlin, Hyperion, S. 623, S. 628 u. S. 669.

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verwischt: »An Novalis« ist wieder so allgemein gehalten, dass nahezu jeder andere Seher-Autor im Titel genannt sein könnte.318 Ja, Trakl hätte auch eine ad se ipsumGrabinschrift wählen können. Diese Entleerung des Vorgängers (trotz gleichzeitiger Fülle an Details) macht Platz für potentielle Nachfolger. Als Anklänge an die Figur des heiligen Dichters ist dennoch insbesondere Novalis’ prophetisches Dichtungsverständnis beizuziehen,319 und es ist anzunehmen, dass Trakl dieses gekannt hat.320 Auf die enge Verwandtschaft von Dichter und Prophet weist Novalis in seiner kurzen programmatischen Schrift »Monolog« nachdrücklich hin, wo er einen neuen ›Gott‹, die autonome Sprache und deren Sprachrohr, den Dichter-Propheten, profi liert: Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner. [...] Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei – Sie machen eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das Verhältnißspiel der Dinge. Nur durch ihre Freiheit sind sie Glieder der Natur und nur in ihren freien Bewegungen äußert sich die Weltseele und macht sie zu einem zarten Maaßstab und Grundriß der Dinge. So ist es auch mit der Sprache – wer ein feines Gefühl ihrer Applicatur, ihres Takts, ihres musikalischen Geistes hat, wer in sich das zarte Wirken ihrer innern Natur vernimmt, und danach seine Zunge oder seine Hand bewegt, der wird ein Prophet sein [...].321

Novalis bemüht die Figur des Propheten als Dichterbild,322 um die Selbstreferentialität der Zeichen, die hermetische Abgeschlossenheit der Sprache und ihrer Formeln als eigenes System sowie ihre musikalische und magische Qualität zu unterstreichen,323 verkörpert der Prophet doch eine Art dezentriertes Subjekt und fungiert als reines Me318

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Kemper würde sogar so weit gehen, jeden anderen Autoren einzusetzen, wenn die ursprünglich erwogenen Titel »Grabsteinschrift« oder »Im Traum« beibehalten worden wären (vgl. Kemper, Nachwort. In: Georg Trakl, S. 276). Zu Novalis als Dichter-Seher siehe allgemein: Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 237–275. Zu weiteren intertextuellen Bezügen zwischen Novalis und Trakl siehe: Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 79ff. u. Klessinger, Krisis der Moderne, S. 139ff. Novalis, Monolog, S. 522. Bei Novalis heißt es ferner: »Dichter und Priester waren im Anfang Eins – und nur spätere Zeiten haben sie getrennt. Der ächte Dichter ist aber immer Priester, so wie der ächte Priester immer Dichter geblieben – und sollte die Zukunft nicht den alten Zustand der Dinge wieder herbeyführen? Jener Repraesentant des Genius der Menschheit dürfte leicht der Dichter kat exochin sein« (Novalis, Blüthenstaubfragment Nr. 71 / Vermischte Bemerkungen Nr. 75. In: Novalis, Werke in einem Band, S. 458f., S. 458; vgl. S. 453–455). Und: »Der Zauberer ist Poet« (Novalis zitiert nach Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 115). Friedrich profiliert Novalis früh als Vorreiter einer »Struktur der modernen Lyrik«, indem er betont, dass bei Novalis die Sprache eine »Selbstsprache«, also eine Sprache ohne Mitteilungszweck sei, die Bedeutung der Worte in den Hintergrund trete und zwar zugunsten von Ton- und Spannungsfolgen, Euphonie, Wohlklang, wodurch wiederum ein fragmentarischer Charakter, Dunkelheit und Inkohärenz der Sprache befördert würden (vgl. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, S. 28f.). Die Lesart der romantischen Ironie profiliert Ingrid

dium der Sprache. Zur Verlautbarung der Sprachformeln bedarf es der medialen Vermittlung durch den Dichter-Propheten und diese Form der prophetischen Vermittlung ist speziell: Um ein traditionell eingefahrenes Mimesis-Modell zu verabschieden, welches ein intentionales Sprechen und damit auch eine Autorintention zugrunde legt, provoziert Novalis seinerzeit mit einem neuartigen Repräsentationsmodell, wonach die Zeichen das »seltsame Verhältnißspiel der Dinge« spiegeln, denn »nur in ihren freien Bewegungen äußert sich die Weltseele und macht sie zu einem zarten Maaßstab [sic] und Grundriß der Dinge«324. So gesehen ist die Sprache nicht gänzlich ausdruckslos, sondern Ausdrucksgebiet der »Weltseele«, wie es auch Schelling in pantheistischer Tradition vorschreibt.325 Zudem ist die herkömmliche Vermittlungsinstanz nicht gänzlich getilgt, sondern durch die Figur des Propheten ersetzt: Wer wie Novalis der Sprache ein Eigenleben, ein freies Spiel ihrer Bewegung zugesteht, greift passgenau auf die reine Vermittlerfunktion des Propheten als Dichterbild zurück, da dieser sich per definitionem medial in den Dienst der Gottheit – hier der Sprache – stellt und nicht umgekehrt von einer souveränen Macht des Sprechers über die Sprache auszugehen ist. Es handelt sich bei dieser Art des Dichter-Propheten freilich nicht mehr um einen Enthusiasmierten, einen Gottbegeisterten im biblischen Sinne, sondern um einen primär »Sprachbegeisterte[n]«326. Die Sprache avanciert zum ›Gott‹ des Dichter-Propheten. Im Sinne Heideggers spricht sie sich selbst aus, ist im Selbstgespräch mit sich begriffen: So ist auch der Titel »Monolog« passend, da er ein derartiges Selbstgespräch der Sprache anzeigt. Darüber hinaus verweist die Figur des Dichter-Propheten aber auch auf einen speziellen Adressatenkreis, wie Hugo Friedrich bemerkt: »Wohl ist noch ein Verstehen angestrebt. Aber es ist das Verstehen weniger Eingeweihter.«327 Bei Novalis münden derartige sprachphilosophische Überlegungen allerdings schon in eine Aporie: Besteht seine Einsicht in das Wesen der Sprache darin, dass sie selbstreflexiv sei und ihre eigenen Bedeutungen generiere, an die der Sprechende nur im »Schwatzen«328 oder in prophetischer Sprache heranreiche, dann wären die affirmativen Aussagen über das Wesen der Sprache im »Monolog« immer schon unwahr. Dennoch tragen der Autoreflexivität des Textes immerhin der Wechsel zur Frageform und zum Konjunktiv in den abschließenden Sätzen des »Monolog[s]« Rechnung. Es macht jedenfalls die Originalität dieses Textes aus, sich

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Strohschneider-Kohrs: I. Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, Tübingen 1960, S. 250–273). Novalis, Monolog, S. 522. Schelling denkt die Natur ja gerade nicht mechanistisch, sondern organisch-dynamisch: So eignet ihr eine selbsttätige Freiheit, eine selbstbezügliche Subjektivität, systemtheoretisch ausgedrückt eine selbstreferentielle Autopoiesis, und sie ist von einer Urkraft, d.i. der Weltseele, in spinozistischer Manier als natura naturans durchdrungen (vgl. Schelling, Von der Weltseele. In: Schelling, Werke, Erster Hauptband: Jugendschriften 1793–1798, hg. von Manfred Schröter, Leipzig 1927, S. 413–651). Novalis, Monolog, S. 523. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, S. 29. Novalis, Monolog, S. 522.

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auch als Manifest für dekonstruktivistische Lesarten etabliert zu haben:329 Novalis gilt geradezu als Ahnvater einer künstlerischen Moderne, die einerseits ihre Wörter, Töne und Farben nach immer abstrakteren Prinzipien anordnet (absolute Poesie, absolute Musik u.a.) und rhetorische Funktionalisierungen überwindet und andererseits zugleich beansprucht, in das Geheimnis des Universums vorzudringen. Dieser autoreferentielle Ansatz impliziert also noch einen verborgenen Sinn, zumindest für Eingeweihte; als Referenzpunkt ist die »Weltseele«330 genannt. Das angedeutete Verschwinden des Dichter-Subjekts hinterlässt so auch interessanterweise seine Spur im Dichterbild vom Propheten. Der Bezugspunkt des medialen Propheten ist nunmehr die (magische) Sprache; diese bleibt indes auf die Propheten-Vermittlungsinstanz bezogen und ist zudem mit der »Weltseele«331, einem vorgängigen Urgrund, korreliert. Auf welche Weise der Dichter-Prophet der Sprache konkret zum Ausdruck verhilft , ist im Einzelfall zu erkunden. Auszugehen ist von einer unmittelbaren Wiedergabe ihrer eigenen Welt in Form einer Selbstaussprache. Für Novalis wie für Trakl ist das Tönen ein Ausdruck der göttlich inspirierten Natursprache: Prophetische Figuren – wie Trakls Elis – produzieren reine und einfache Klänge.332

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Vgl. zu Novalis als Vorreiter der Postmoderne z.B.: Bernward Loheide, Fichte und Novalis. Transzendentalphilosophisches Denken im romantisierenden Diskurs, Amsterdam; Atlanta 2000, S. 176–181. Novalis, Monolog, S. 522. Novalis, Monolog, S. 522. Siehe dazu Novalis’ »Urtöne meiner Empfindung«: »Bey mir gränzt Einfalt und Natur so nahe an Größe und Hochempfindung, daß die größte Naivetaet in der Sprache des innern, geistigen Gefühls, der reinste aber kunstloseste, einfachste Klang des gerührten Organs meine Seele, ich nehme dies unbedeutende, kalte Wort in dem heiligen hohen Sinne, der auch in der sinnlichen Benennung dieser Unaussprechlichen, Unbenennbaren – weben sollte, erhebt und beseligt. Es werde Licht und es Ward; die Seele, die das empfand, aus deren sinnlichen Sprachorgan diese herzerhebende gleichsam anschauliche, sichtbare Schöpfung hervorklang muß den höchsten Sinn, das süßeste Umfassen der alllebendigen, allschaffenden Gottheit gehabt haben, und wohl jedem, der dieses besizt: Du weißt, Bester, wie meine Seele sich zu diesen Vorstellungen hinneigt, wie ganz drinn versunken sie so selig schwärmt« (Novalis, Urtöne meiner Empfindung. In: Novalis, Werke in einem Band, S. 97). Vgl. zur magischen Sprachauffassung und deren Entstehung durch Begeisterung: Novalis, Von der Begeisterung [1788]. In: Novalis, Werke in einem Band, S. 99f, S. 99: »Der erste Wind, das erste Lüftchen, das dem Ohre des Wilden hörbar durch den Gipfel der Eiche sauste, brachte gewiß in demselben in seinem jungen, unausgebildeten, allen äußerlichen Eindrücken noch offenen Busen eine Bewegung, einen Gedanken von dem Dasein eines mächtigen Wesens hervor, der sehr nahe an die Begeisterung grenzte und wo ihm nichts als Worte fehlten, um sein volles überfließendes Gefühl durch sie ausströmen und es gleichsam den leblosen Gegenständen um ihn mitempfinden zu lassen, da er jetzt ohne Sprache gewiß unwillkürlich auf die Kniee sank und durch seine stumme Bewegung verriet, daß Gefühle an Gefühle in seinem Herzen sich drängten. Wie sich allmählich die Sprache auszubilden anfing und nicht mehr bloß in Naturtönen stammelte, sondern mit vollem Strome der Jugendfülle des menschlichen Geschlechts dahinbrauste und jeder Ton, jede Stimme derselben fast Empfindung und durch abstrakte Begriffe und Erfahrung noch nicht ausgebildet und verfeinert war, da entstand zuerst die Dichtkunst, die […] in ihrer Urbedeutung, zu ihrer größten Stärke, Zauberei und

Passender als mit Rekurs auf Novalis könnte die Eigenart des vieldiskutierten, auch musikalisch und mathematisch konstruierten Trakl’schen ›Tontextes‹ nicht ausgedrückt werden:333 Seit Baßlers vieldiskutierter These über die »eine Textur«334 des Trakl’schen »Thesaurus«335 kreist die Trakl-Philologie einmal um Fundierungen der Polyvalenz und – dem entgegengesetzt – ein andermal um sinnstiftende Wiederbelebungsversuche des Trakl’schen (Un-)Sinns.336 Als Schnittstelle sowohl für die hermeneutischen als auch für die (post-)strukturalistischen Ansätze in der Trakl-Forschungslandschaft ist Trakls Propheten-Figur hervorzuheben, denn diese impliziert Anknüpfungspunkte für beide Lesarten: Das Autonom-Werden der Lexeme korrespondiert mit dem Bild des sprachdienlichen Propheten, der gleichwohl personal die Macht der Sprache, aber auch deren angedeutete Rückwendung auf den Urgrund »Weltseele«337 authentifiziert, auch wenn dieser Transzendenzbezug bei Trakl nebulös bleibt: Nur der unbestimmte Verweis ist für die Eingeweihten angezeigt. Der Leib des Propheten trägt ferner Spuren dieser besonderen, prophetischen Sprach-Passion. Zur Aufschlüsselung dieser von Trakl aufgegriffenen und aktiv fortgeschriebenen

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Wirkung auf die Gemüter, ihrer Mutter, der hohen Begeisterung, noch immer nötig hat.« Diesen Mythos von den (magischen) Naturtönen verkörpert auch die Trakl’sche ProphetenFiguration Elis. Eine Novalis vergleichbare Vorstellung von der Poesie als Magie vertritt auch Hugo von Hofmannsthal, wonach die Poesie Worte ausspricht, »um der Worte willen, das ist ihre Zauberei. Um der magischen Kraft willen, welche die Worte haben, unseren Leib zu rühren, und uns unaufhörlich zu verwandeln« (Hofmannsthal, Das Gespräch über Gedichte. In: Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 7: Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen, hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt am Main 1979, S.  495–509, S.  503). Und wie bei Trakl ist der Leib von der magischen WortPassion affiziert. In Hofmannsthals ›Chandos-Brief‹ besteht der Körper vergleichbar »aus lauter Chiffern«, wodurch die »Befreiung des Körpers aus einem solchen Unterordnungsverhältnis zum Subjekt« und eine eigene »Körpersprache« angezeigt ist (G. Braungart, Leibhafter Sinn, S. 222; vgl. Hofmannsthal, Ein Brief, S. 52). Baßler, Trakl, bes. S. 219f.; vgl. Baßler, Wie Trakls Verwandlung des Bösen gemacht ist, bes. S. 132 u. S. 137ff ; schon Heidegger vermerkt über Trakl: »Jeder große Dichter dichtet nur aus einem einzigen Gedicht« (Heidegger, Die Sprache im Gedicht, S. 37). Baßler präzisiert zwar, dass der Trakl’sche »Thesaurus« (Baßler, Trakl, S.  211) eine literarische Tradition beherberge, wodurch »intertextuell vermittelte Bedeutungs- und Stimmungskomplexe« (Baßler, Trakl, S. 219) aufgerufen würden, schlussfolgert daraus aber, dass dieser semantische Bezug nur auf die in »Wörtern vertretenen Vorstellungskomplexe, aber nicht auf die sonst den Vorstellungskomplexen zuzuordnenden Dinge und Sachverhalte besteht« (Baßler, Trakl, S. 219). Nur den Wörtern hafte ein »Rest von Referenz« (Baßler, Wie Trakls Verwandlung des Bösen gemacht ist, S. 132) an und nicht den Sätzen, so »daß Bedeutung, ›Welt‹, nicht über Aussagen, sondern über Konnotationen zum Thesaurus in den Text kommt« (Baßler, Wie Trakls Verwandlung des Bösen gemacht ist, S. 132). Ein solcher Standpunkt marginalisiert zu Unrecht Trakls genealogisch hergeleitetes Dichter-ProphetenErbe. Siehe stellvertretend zum aktuellen Forschungsstand: Kemper, »Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«. Novalis, Monolog, S. 522.

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Dichter-Propheten-Tradition sind die von Kemper bei Trakl angedeuteten »Projektionsmöglichkeiten auf das ›seherische‹ Dichterverständnis«338 zu vertiefen, die einen Brückenschlag zu Trakls geheimnisumwitterten und prophetisch inspirierten Figuren Elis und Helian ermöglichen. So lässt sich sein Hinweis auf magische Figuren im Werk Trakls präzisieren.339 Die Legenden der vorgängigen Dichter-Seher hinterlassen Spuren, von denen die Propheten-Figuration Elis klangvoll (so auch durch reichlichen Gebrauch von Assonanzen unterstrichen) berichtet, so dass generalisierend gilt: »Und in heiliger Bläue läuten leuchtende Schritte fort.«340 Dass sich hinter Trakls mythenumwobener Kunstfigur Elis341 nicht nur eine Anspielung auf den Namensvetter Elis Fröbom verbirgt, einen schwedischen Bergwerksarbeiter im 17. Jahrhundert, bekannt durch E.T.A. Hoffmanns Erzählung »Die Bergwerke zu Falun« (1818) und Hugo von Hofmannsthals Versdrama-Fragment »Die Bergwerke zu Falun« (1906),342 noch lediglich ein Verweis auf eine Landschaft Elis (im Nordwesten der Peloponnes liegend) gemäß Hölderlins Gedicht »Der Einzige« oder seinem Hyperion343 oder gar ein Fingerzeig auf Verlaines Cousine Elisa oder eine Anverwandlung der mythischen Gestalt Endymion344 oder des Hyakinthos345, sondern auch ein Verweis auf den prominenten Propheten des Alten Testaments namens Elijas, heben erstmals Adrien Finck, Hans Esselborn und später Maximilian Bergengruen weitsichtig hervor, ohne indes dieser Namensverwandtschaft explizit nachzugehen.346 Für ein prophetisches Erbe der Elis-Figur spricht zunächst der mit-

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Kemper, »Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«, S. 25f. Vgl. Kemper, »Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«, S. 24. Trakl, Kindheit II. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 79. Vgl. die zahlreichen Hinweise zum Namen Elis in: Index zu Georg Trakl. Dichtungen, bearbeitet von Wolfgang Klein u. Harald Zimmermann, Frankfurt am Main 1971; vgl. Heselhaus, Die Elis-Gedichte, bes. S. 386f. Vgl. Heselhaus, Die Elis-Gedichte, S. 388f. u. S. 395. Das ausgestorbene Tal von Elis erinnert Hyperion daran, dass »des Menschen herrliche Natur jetzt kaum noch da ist« (Hölderlin, Hyperion, S. 589). Hyperions Schneiden eines Dornbuschs (vgl. Hölderlin, Hyperion, S. 589) könnte ferner als Vorlage für das bei Trakl auftauchende Bild vom Dornbusch dienen. Vgl. Heselhaus, Die Elis-Gedichte, S. 387f. Vgl. Esselborn, Trakls Knabenmythos. In: Gedichte und Interpretationen, Bd. 5: Vom Naturalismus zur Jahrhundertwende, hg. von Harald Hartung, Stuttgart 2006, S. 176–184, S. 178. Vgl. A. Finck, Georg Trakl. Essai d’interprétation, Lille 1974, S. 465; Esselborn, Trakls Knabenmythos, S.  182; M. Bergengruen, Untergang der »Mondnacht«. Umschreibungen in Trakls »Abendland«. In: Gestirn und Literatur im 20. Jahrhundert, hg. von Maximilian Bergengruen, Davide Giuriato u. Sandro Zanetti, Frankfurt am Main 2006, S. 261–276, S. 267. Heselhaus weist in einer Fußnote auf die Verbindung des Namens Elis zum Propheten Elisa hin, ohne dieser Konstellation jedoch weiter nachzugehen: »Mündlich wird aus dem Brennerkreis überliefert, Elis sei eine Verkürzung des Prophetennamens Elisa (1 Kön 19, 19), wie Helian für Heliand« (Heselhaus, Die Elis-Gedichte, S. 387). Der Name Elis lässt sich auch vom hebräischen »el – isch« (d.h. »Gott – Mensch«) ableiten (vgl. Lachmann, Kreuz und Abend, S. 89; Regine Blass, Die Dichtung Georg Trakls. Von der Trivialsprache zum Kunstwerk, Berlin 1968, S. 213; Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 81). Pfisterer-Burger betont

unter anklingende apokalyptische Grundtenor, welcher die Erscheinung begleitet. Bergengruen erarbeitet mit Bezug auf »Abendland II« (1914) anschaulich Trakls Fehllektüre (nach Bloom) von Eichendorffs »Mondnacht« und kommt im Zuge dieses Untergangs auf den Knaben Elis, den Untergangsboten, zu sprechen.347 In diesem Gedicht sei ein derartig apokalyptisches »Schreckensszenario«348 entfaltet, dass zuletzt sogar »die Zeichen und die Zeichendeutung der Apokalypse ihr selbst zum Opfer fallen«349: Denn sowohl die (sieben) Sterne – als aus der »Offenbarung des Johannes« (vgl. Offb 1, 16) bekannte Zeichen des Untergangs – sind bereits im Fall

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»die Geste des magischen Heraufbeschwörens, des hymnischen Anrufens, das die Wirkung einer Zauberformel zu haben scheint – Elai! –«, was auch darauf hindeute, »daß Elai eine sprachlich Variation zu Elis [sei], sein Vokativ gewißermaßen, eine Form auch, welche der Gestalt eine alttestamentarische Erhabenheit verleiht« (Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 84): »Während Elis ein Knabe bleibt, gewinnt Elai durch die Antikisierung etwas Prophetenhaftes, scheint ihm etwas anzuhaften von einer sehr alten Instanz oder gar Gerichtsbarkeit« (Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 84). Betrachtet man Elis’ Martyrium, sind ihm indes ebenfalls prophetische Züge angedichtet und er kann als Propheten-Figuration etikettiert werden. Thauerer erinnert der Eingang des Gedichts »An den Knaben Elis« an die Prophezeiung des Untergangs des Hauses Eli im ersten Buch Samuel (vgl. 1. Sam 3, 10–14; vgl. Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 147f.). Die breite Palette an weiteren Zuschreibungen – Elis als »in den Untergang gerufene[r] Fremdling« (Heidegger, Die Sprache im Gedicht, S. 54), als Verkörperung des Zustands der Kindheit (vgl. Jost Hermand, Der Knabe Elis. Zum Problem der Existenzstufen bei Georg Trakl. In: Monatshefte, 51, 1959, S. 225–236, S. 229) und der verlorenen Reinheit (vgl. Hermand, Der Knabe Elis, S. 231), als (umgekehrt gelesen) lateinisch »sile!« und (als Anagramm gelesen) »leis« (Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 192, Fußnote 10), als ein Verwandter Novalis’ (Marson) – resümieren zuletzt Ulrike Rainer (vgl. U. Rainer, Georg Trakls Elis-Gedichte. Das Problem der dichterischen Existenz. In: Monatshefte, 72, 1980, H. 4, S. 401–415, S. 405f.), Pfisterer-Burger – die ihn zudem dem »visionären Bereich des Lichten und Schönen« zuordnet (Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 80; vgl. zu den Namensspekulationen: Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 80ff.) – und Thauerer (Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 146ff.). Für Christian Paul Berger ist Elis »die Traklsche Maske der Transparenz. Transparenz wird hier als Durchsichtigkeit des Sprachlichen verstanden, wir können dieses System von Masken nur im Spannungsfeld einer genuin theologischen Bedeutung wirklich verstehen« (C. P. Berger, Die Setzung und die Kritik des poetischen Nihilismus. Mallarmé, Trakl und die Poetik der klassischen Moderne. In: Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion, hg. von Rémy Colombat u. Gerald Stieg, Innsbruck 1995, S. 21–48, S. 41). Arno Dusini verweist originell auf den Konnex von Elis und angelis: »O, wie lange bist, Elis, du verstorben« (Trakl, An den Knaben Elis, S. 84; A. Dusini, Variante, Invariante. Georg Trakls »Kaspar Hauser Lied«. In: Georg Trakl und die literarische Moderne, hg. von Károly Csúri, Tübingen 2009, S. 199–218, S. 208). Als »Sinnbilder von Trakls eigener Existenz« (Heselhaus, Die Elis-Gedichte, S. 388) versteht schon Heselhaus Trakls legendäre Figuren, darunter Elis. Schon Esselborn erkennt, dass das Gedicht »Abendland« unverkennbar »eine Art von poetischem Rückblick auf die Elis-Gestalt enthält« (Esselborn, Trakls Knabenmythos, S. 176). Böschenstein hebt anhand der vierten Fassung von »Abendland« Bezüge zum Bruder und Fremdling Hölderlin hervor (vgl. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 19). Bergengruen, Untergang der »Mondnacht«, S. 267. Bergengruen, Untergang der »Mondnacht«, S. 268.

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begriffen als auch der Knabe Elis, der als verhallender Toter und als Propheten-Figuration zu erkennen ist. »Abendland II« enthält also einen Rückblick auf Elis und lädt dadurch zu einem Resümee dieser prophetischen Figur ein. Bergengruen konstatiert dementsprechend: »Am Ende bleiben, wie es in ›Abendland II‹ heißt, alle Propheten – am gestirnten Himmel wie auf der rhetorischen Ebene – ›sprachlos‹.«350 Indem er die vorgängigen Elis-Figurationen unberücksichtigt lässt, wird er der Elis-Figur jedoch nicht vollständig gerecht. Denn Elis ist als Propheten-Figur zwar ganz treffend gekennzeichnet, als Figur der Sprachlosigkeit hingegen nicht erschöpfend charakterisiert.351 Heidegger weist schon anschaulich auf die Differenz zwischen ›leise‹ und ›schweigend‹ hin: »Das Leise ist das Entgleitende«352, also etwas, das in Bewegung ist und nicht im Stillstand (des Schweigens) verharrt.353 Im Gedicht »Am Mönchsberg« findet sich ein Hinweis auf die Möglichkeit eines ›leisen Sagens‹, was auch für die Elis-Sprache bezeichnend ist, im Verbund mit der Wiederbelebung alter Legenden,354 wodurch die Elis-Figur (auch als Nachfolger von Novalis und Hölderlin) durchscheint:355 »Über knöchernen Steg, die hyazinthene Stimme des Knaben, / Leise sagend die vergessene Legende des Walds, / Sanfter ein Krankes nun die wilde Klage des Bruders.«356 Elis ist zwar im herkömmlichen Sinne nicht beredt, auch stellt er in gewisser Weise eine »Evokation der Stille«357 vor, doch eignet ihm ein prophetischer Modus des Sprechens: Sein Leib operiert augenfällig als Offenbarungsgefäß und spricht seine eigene (Leidens-)Sprache, wie es im Topos der prophetischen Leidensmänner und deren ›Sprach-Passion‹ verankert ist.358 Seine (idyllische) Passion vollzieht sich gerade im Horizont von Sprache; die Elis-Gedichte sind deswegen als 350 351

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Bergengruen, Untergang der »Mondnacht«, S. 273. Nur auf den ersten Blick verweisen Trakls Propheten-Figurationen auf ein rein mystisches Erbe, wie es Kemper erörtert, indem er Elis als »Personifizierung des Schweigens« beschreibt (Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 192). Heidegger, Die Sprache im Gedicht, S. 43. Vgl. zu den Ebenen der silence bei Trakl: Marc Petit, Le silence dans la poésie de Georg Trakl. In: Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion, hg. von Rémy Colombat u. Gerald Stieg, Innsbruck 1995, S. 197–222. Auch Nietzsche profiliert immer wieder ein ›leises‹ Sagen als eindringliche Sprache des Schönen: »Aber der Schönheit Stimme redet leise: sie schleicht sich nur in die aufgewecktesten Seelen« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 120). Böschenstein hat darauf aufmerksam gemacht, dass sowohl Novalis (hyazinthne Stimme des Knaben) als auch Hölderlin (Klage des Bruders) wieder in dieses Gedicht hineingelesen werden können (vgl. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 54). Vgl. Trakl, Sommersneige. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 137: »Der grüne Sommer ist so leise / Geworden und es läutet der Schritt / des Fremdlings durch die silberne Nacht. / Gedächte ein blaues Wild seines Pfads, // Des Wohllauts seiner geistlichen Jahre!« Vgl. auch zur Verbindung der Blindheit und der Legenden: »Die kleine Blinde läuft zitternd durch die Allee, / Und später tastet ihr Schatten an kahlen Mauern hin, umgeben von Märchen und heiligen Legenden« (Trakl, Psalm I (2. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 56). Trakl, Am Mönchsberg (2. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Schriften, Bd. 1, S. 94. Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 190. Pfisterer-Burger spricht von einer »Trauer- und Schmerzsprache« (Pfisterer-Burger, Zeichen

poetologische Reflexe einer Prophetie-Poetik zu verstehen. Um die Elis-Figur rankt sich der Topos des Tönens als Ausdruck prophetischen Sprechens, der Versuch einer Wiederbelebung einer Ursprache, die gerade einer modernen Sprachskepsis entgegensteht. Die prophetische Figur avanciert so zum verheißungsvollen Klanggefäß und inkarniert auf diese Weise das klangliche Tönen, auch im Sinne Kandinskys,359 was das Fortleben des Lieds in der Tradition des Novalis360 verbürgt.361 Dafür ist zunächst das prominente Gedicht »An den Knaben Elis« aufschlussreich, das im April 1913 auf der Hohenburg entstand und erstmals im Mai desselben Jahres in Der Brenner erschien: An den Knaben Elis Elis, wenn die Amsel im schwarzen Wald ruft , Dieses ist dein Untergang. Deine Lippen trinken die Kühle des blauen Felsenquells. Laß, wenn deine Stirne leise blutet Uralte Legenden Und dunkle Deutung des Vogelflugs. Du aber gehst mit weichen Schritten in die Nacht, Die voll purpurner Trauben hängt, Und du regst die Arme schöner im Blau. Ein Dornenbusch tönt, Wo deine mondenen Augen sind. O, wie lange bist, Elis, du verstorben. Dein Leib ist eine Hyazinthe, In die ein Mönch die wächsernen Finger taucht. Eine schwarze Höhle ist unser Schweigen,

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und Sterne, S. 89, vgl. S. 92), ohne allerdings das prophetische Moment einer derartigen Körperpoetik zu benennen. Vgl. Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst; Petra Renkel, Das Wort ist ein innerer Klang. Abstraktionstendenzen in der expressionistischen Kunst zwischen Wassily Kandinsky und Georg Trakl. In: Intermedialität. Vom Bild zum Text, hg. von Thomas Eicher u. Ulf Bleckmann, Bielefeld 1994, S. 77–93. Vgl. zum prominenten Thema Klang bei Trakl ferner: Albert Hellmich, Klang und Erlösung. Das Problem musikalischer Strukturen in der Lyrik Georg Trakls, Salzburg 1971; Heinz Wetzel, Klang und Bild in den Dichtungen Georg Trakls, Göttingen 1968. Marson weist als erster grundsätzlich darauf hin, dass das mythisierte Leben Novalis’ als Vorbild für Elis fungiert (vgl. Marson, Whom the Gods Love, S. 370ff.). Etwas vereinfacht, aber die Trakl-Philologie prägend, betont schon Killy die Wichtigkeit des sinnlichen Klanges des Satzes vor dem Gehalt (vgl. Killy, Wandlungen des lyrischen Bildes. 2., erweiterte Aufl., Göttingen 1958. [zuerst 1956], S. 122); vgl. zu den musikalischen Bauprinzipien bei Trakl (Leitmotivik, Rhythmus, Polyphonie, Vokalität u.a.) allgemein: Hellmich, Klang und Erlösung.

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Daraus bisweilen ein sanftes Tier tritt Und langsam die schweren Lider senkt. Auf deine Schläfen tropft schwarzer Tau, Das letzte Gold verfallener Sterne.362

Es handelt sich bei diesem freirhythmischen Gedicht um eine Art Toten-Requiem auf Elis, vergleichbar mit dem Widmungsgedicht »An Novalis«363 (1912). Der dort entwickelten Dichotomie zwischen dem Hinscheiden des Dichters Novalis und dem Fortwirken seines Liedes folgend, tritt Elis als ein bereits Verstorbener in Erscheinung, dessen Leib ebenfalls eine Verwandlung in eine blaue Blume erfährt:364 In Vers 14 wird dieser als Hyazinthe identifiziert. Das in Die Lehrlinge zu Sais eingewobene Märchen »Hyacinth und Rosenblüthe« von Novalis klingt an:365 Die von Trakl bevorzugte Farbe Blau als Transzendenzfarbe366 dominiert die idyllische Aura Elis’.367 Die genuine Grundfarbe der Hyazinthe ist Blau und das romantische Symbol der blauen Blume ist somit ebenfalls aufgerufen.368 Erkennt man also in Elis einen Nachfahren des Propheten-Dichters Novalis,369 ist die bekannte Kraft des Fortlebens im Lied mit Elis’ Verstorbensein und seiner Wiederkehr zu verknüpfen: Elis lebt im Gedicht weiter. Wie der Verstorbene lebend vorgeführt wird,370 so mischen sich im Übrigen Passion und Idylle in der Elis-Figur. Heidegger betont ferner die Nähe Elis’ zu Hölderlins »Blindem Sänger«, der prophetisch den Untergang des Menschengeschlechts beklagend antizipiert.371 Trakls Kunstfigur Elis ist offensichtlich als archivalische Figur der Dichter-Propheten konzipiert. Ähnlich wie in »Verfall« thematisiert, konserviert Trakl die Reliquien der Dichter-Seher.372 Und diese »Fülle von

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Trakl, An den Knaben Elis, S. 84. Trakl, An Novalis (2. Fassung (a)), S. 325. Vgl. ähnlich Marson: »Nov-alis became Neu-Elis as it were« (Marson, Whom the Gods Love, S. 373). Vgl. dazu auch Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 95f. Vgl. zum Stellenwert der Farbe Blau in der Mystik: Haas, Mystik als Aussage, S. 215ff. »[S]eine Lippen trinken die Kühle des blauen Felsenquells«, heißt es in Vers 4; ferner regt er »die Arme schöner im Blau« in Vers 10 (Trakl, An den Knaben Elis, S. 84). Ähnlich benetzt Heinrich von Ofterdingen im Traum von der blauen Blume in einer Höhle seine Lippen mit Wasser aus dem blauen Becken (vgl. Novalis, Heinrich von Ofterdingen, S.  241, vgl. dazu auch Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 100f.). Vgl. auch zu Novalis als Subtext: Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 94ff.; zu Novalis und Trakl allgemein zuletzt: Klessinger, Krisis der Moderne, S. 139ff. Vgl. Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 79ff. Vgl. auch Trakl, Ein Herbstabend. In: Trakl, Dichtungen und Schriften, Bd. 1, S. 61. Vgl. Heidegger, Die Sprache im Gedicht, S. 43. Vgl. Trakl, Verfall I. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 233: »[…] Die Ahnenbilder lächeln leise / Und fern – ihr letzter Schatten fiel, […] // Verlorner Sinn vergangner Zeiten / Blickt aus den steinernen Masken her, / Die schmerzverzerrt und daseinsleer / Hintrauern in Verlassenheiten. // Versunkner Gärten kranke Düfte / Umkosen leise den Verfall – / Wie schluchzender Worte Widerhall / Hinzitternd über off ’ne Grüfte.« In »Verfall« ist im Üb-

geistigen Traditionen« initiiert bisweilen eine »Überdetermination, wie sie Freud bei den Traummotiven feststellt«373.374 Dadurch löst sich die Elis-Figur von der novalischen Vorlage; sie rekurriert ebenso auf biblische und nietzscheanische Vorstellungen.

VI.6. Elis als Prophet: Die fragmentarische Leib-Sprache des Propheten Für Elis’ dezidiert prophetische Herkunft sprechen mehrere Hinweise: Sowohl Elijas als auch dessen Nachfolger Elisa wird in der Bibel ein legendarischer Charakter aufgrund ihrer magischen Wunderheilerkraft attestiert: Elisa etwa gilt als Reiniger des Quellwassers (2. Kö 2, 19–22), und Trakls Elis trinkt aus einem blauen Felsenquell (Vers 4).375 Dass Elis’ »mondene Augen« Bedingung für das Tönen des Dornbuschs376 sind – wie in der vierten Strophe beschrieben –, eröffnet den Zusammenhang von Schau und Tönen in der variierten Version der Mose-Gestalt, welcher Gott ursprünglich im Dornbusch erscheint (vgl. Ex 3, 1–4, 17).377 Es liegt nahe, den bei

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rigen als Bild für einen hermetischen Bereich – in einem George ähnlichen Stil – ein abgeschlossener Garten imaginiert (vgl. George, Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 96). Im Gegensatz zu dieser Verfall-Betonung dominiert im Gedicht »An den Knaben Elis« zunächst der Zustand einer traumhaft-entrückten Gegenwelt des prophetischen Knaben. Esselborn, Trakls Knabenmythos, S. 183. Jaak de Vos konstatiert, dass sich Trakls Gedichte »aus einer Metasprache zusammen[setzen], die auf einem eigenwilligen Metapherngeflecht beruht, mittels dessen es dem Dichter gelingt, trotz seiner Skepsis die Sprache für seine Magie produktiv zu machen. […] in den ›geretteten‹, Bedeutung tragenden Sprachelementen häufen sich dagegen, bis zur Überbelastung, die Konnotationen« ( J. de Vos, »Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen: O Mensch!«. Sprache als Fluch in Trakls »Kaspar Hauser Lied«. In: Aporie und Euphorie der Sprache. Studien zu Georg Trakl und Peter Handke. Akten des Internationalen Europalia-Kolloquiums Gent 1987, hg. von Heidy M. Müller u. Jaak de Vos, Leuven 1989, S. 125–147, S. 127). Auch Georges Maximin wird durch den Trunk aus dem Quellwasser wiederbelebt: »Du hast vom quell getrunken: / Betritt die offnen aun!« (George, Erwiderungen: Einführung, S. 100). Vgl. ähnlich Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 99f. Zu dieser Dornbusch-Analogie vgl. auch Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 98. Dass der tönende Dornbusch an den »Auftrag Gottes an Mose und zugleich an Christi Dornenkrone« erinnert, stellt auch Esselborn fest (Esselborn, Trakls Knabenmythos, S. 177). Es ist interessant zu erinnern, dass Jesus die Dornbusch-Szene bei der so genannten Sadduzäerfrage (Mk 12, 18–27) als Schriftbeweis für die Auferstehung verwendet, und dabei wird Gott als der Lebendige verstanden: Der mit Anspielung auf den Dornbusch erinnerte und doch abwesende Gott könnte einerseits auf die Wiederkehr der Verstorbenen hindeuten, in Analogie zur Wiederkehr des verstorbenen Elis im Gedicht, andererseits aber auch auf die unwiederbringliche Gottferne verweisen, die den Dialog mit den Menschen nunmehr unmöglich macht. Eine Allusion auf eine Gottes-Epiphanie im Dornbusch findet sich auch in »De profundis«, wo Hirten den »süßen Leib« der »sanfte[n] Waisen« »verwest im Dornenbusch« auffinden (Trakl, De Profundis II. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd.  1, S.  46). Nicht

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Trakl oftmals zu verzeichnenden deus absconditus (vgl. Jes 45, 15) vom Tönen und dem Lied substituiert zu sehen, welche die Interaktion der Dichterfigur mit der Gottheit als Sprache nur indirekt dialogisch erfahrbar machen: Die Macht Elis’, den Dornbusch tönen zu lassen (vgl. Vers 11)378, ersetzt Gottes Schweigen und wird zudem mit unserem Schweigen (vgl. Vers 16) kontrastiert, wie Anklänge an eine Körperpoetik (vgl. die zweite und vorletzte Strophe) mit dem Vergehen des Revenants Elis verbunden werden. Markiert ist mit dieser Kunstfigur also auch ein Zwischenfeld zwischen Sprachskepsis und herkömmlicher biblischer Mitteilung. Wie eingangs hervorgehoben, ist Elis ein prophetischer Mittler zwischen zwei Reichen, »er ist Lichtkörper und Nachtkörper zugleich. Als Lichtkörper evoziert er das Wunschbild einer traumhaften und verklärten Daseinsweise, als Nachtkörper den Frühverstorbenen, den Leidenden und Duldenden«379. Insofern ist er eine Doppelgestalt380, die als Grenzgänger zwei gegensätzliche Welten umfasst und die gerade nicht – wie auch Pfisterer-Burger381 annimmt – nur eine Sprachlosigkeit vorstellt. Und sein paradoxes ›schweigendes Sagen‹ wird auch nicht nur von der Trauer- und Schmerzsprache des Dichters Trakl überhöht,382 sondern diese sind ist schon in Elis’ ›Gebärdensprache‹ verankert. Dass die fragmentiert aufgerufenen Körperteile383 (Lippen, Stirn, Beine, Arme, Augen, Lider) der prophetischen Figur von ihrer Schau affiziert sind, ist in »An den Knaben Elis« bedeutend:384 Elis’ ekstatische Schritte und Bewegungen werden exponiert (»Du aber gehst mit weichen Schritten in die Nacht« (Vers 8); »Du regst die Arme schöner

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nur der Bruch mit dem Vertrauen auf Gott in Anlehnung an Psalm 130 (vgl. Manfred Kux, »De profundis«. Aus dem Abgrund. In: Gedichte und Interpretationen, Bd. 5: Vom Naturalismus zur Jahrhundertwende, hg. von Harald Hartung, Stuttgart 1984, S. 166–174, S. 167) dominiert diese Kontrafaktur des biblischen Geschehens, sondern die »irdische Schwester des Elis« (Lachmann, Kreuz und Abend, S. 138) sprengt die Übertragung der DornbuschSzene auf die unbefleckte Empfängnis Mariens. Nach Kirchenvätertradition gilt nämlich: Gott zeigt sich in einem brennenden Dornbusch, der wie Maria während ihrer unbefleckten Empfängnis unversehrt bleibt. Ob dem Tod der Waisen ein gewaltsamer Übergriff vorausgeht, bleibt allerdings offen. Die letzten beiden Verse – »Im Haselgebüsch / Klangen wieder kristallne Engel« – deuten eine Wiederbelebung der Dornbusch-Legende an. Wenn Kux hingegen die Aporie in der gottlosen Welt betont und festhält, dass die Engel »keine Botschaft« mehr vermitteln würden, sondern »verschwebende ›Klänge‹« (Kux, »De profundis«, S. 172), entgeht ihm die Trakl eigene Pointe, dass das Tönen die höchste Form von prophetischer Sprache und Kunst impliziert. Vgl. ähnlich Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 100; Rainer, Georg Trakls Elis-Gedichte, S. 408; Erich Bolli, Georg Trakls »dunkler Wohllaut«. Ein Beitrag zum Verständnis seines dichterischen Sprechens, München; Zürich 1978, S. 116. Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 104. Rainer sieht in Elis den Ruhenden und Leidenden in einem (vgl. Rainer, Georg Trakls ElisGedichte, S. 410). Vgl. Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 86f. Vgl. Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 89. Vgl. ähnlich Rainer, Georg Trakls Elis-Gedichte, S. 407. Und zusammen mit Friedrich Schlegel profiliert Hardenberg das Fragment als romantische Kunstform.

im Blau« (Vers 10)). Die vorherrschende Detailautonomie und die fragmentarische Wahrnehmung isolierter Körperpartien suggerieren einerseits eine absolute Nähe der Elis-Gestalt, provozieren andererseits ein Verschweigen des ›ganzen‹ Elis, rücken ihn in die Ferne, wodurch diese Figur eine besondere Aura erhält. Anders gesagt: Die Propheten-Figur Elis erscheint in ihren Attributen, wodurch sie zugleich präsent und greifbar sowie fragmentiert und aufgelöst wirkt. So bleibt der Rezipient gegenüber seinem Gesamtbild im Unklaren.385 Die auffällige Verschiebung vom Träger Elis auf seine Körperteile geht mit einer synekdochisch zergliedernden Perspektive einher.386 Hinter diesem fragmentarischen Blickwinkel verbirgt sich dennoch die Illusion des ›ganzen‹ Elis, obwohl das Subjekt zergliedert ist, unterstrichen durch den (Trakltypischen) Verzicht auf eine Ich-Kategorie in diesem Gedicht. Da man zudem nicht genau weiß, wer Elis nun eigentlich ist, gleicht die Setzung seiner Person immer schon einer Fiktion. Seine Gebärden negieren geradezu das individuell Begrenzte zugunsten der ›reinen‹ Persönlichkeit, wie es auch Hofmannsthals Vorstellung der Gebärde entspricht: »Eine reine Gebärde ist wie ein reiner Gedanke, von dem auch das augenblickliche Geistreiche, das begrenzte Individuelle, das fratzenhaft Charakteristische abgestreift ist. […] So tritt in reinen Gebärden die wahre Persönlichkeit ans Licht und über die Maßen reichlich wird der scheinbare Verzicht auf Individualität aufgewogen.«387 Diese Übersteigerung des Subjektiven, die Naturhaftigkeit, die Betonung der Gebärde des Elis, die ein Tönen freisetzt,388 sind nach Nietzsche auch typische Merkmale des dionysischen Zustands:

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Vgl. ähnlich Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 94. Ähnlich verfährt Gottfried Benn mit seinem ärztlichen Sezierblick, um die Reduktion des Subjekts auf seine Körperlichkeit und seinen Zerfall sowie auf seine Hässlichkeit sichtbar zu machen, worauf Vietta aufmerksam macht (vgl. Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 64f.). In seinen ›Rönne-Novellen‹, v.a. in »Gehirne«, thematisiert Benn ebenfalls die drohende Auflösung des Ich: »Es schwächt mich etwas von oben. Ich habe keinen Halt mehr hinter den Augen. Der Raum wogt so endlos; einst floß er doch auf eine Stelle. Zerfallen ist die Rinde, die mich trug« (G. Benn, Gehirne. In: Benn, Sämtliche Erzählungen, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 11–16, S. 14). Eine ähnliche Ästhetik des Hässlichen verkörpert natürlich auch Baudelaires legendäres Gedicht »Une Charogne«. Ein gutes Beispiel für eine detaillierte Beschreibung mittels Fokussierung von Körperteilen ist auch Georg Heyms Gedicht »Robespierre«: »[…] Die aschengraue Stirn wird schweißbetaut. / Der Mund verzehrt sich furchtbar im Gesicht. / Man harrt des Schreis. Doch hört man keinen Laut« (Heym, Robespierre zitiert nach: Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 61). Hofmannsthal, Über die Pantomime. In: Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd.  8: Reden und Aufsätze I: 1891–1913, hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt am Main 1986, S. 502–505, S. 504. Und in »Die Mimin und der Dichter« (1925) heißt es: »Meine Gebärde, das bin ich – in einen Moment zusammengepreßt, spricht sie mich aus […]« (Hofmannsthal, Die Mimin und der Dichter. In: Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 4: Dramen IV: Lustspiele, hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt am Main 1979, S. 556–558, S. 557). Vgl. zu Hofmannsthals Vorstellung der Gebärde: Wolfram Mauser, Bild und Gebärde in der Sprache Hofmannsthals, Graz 1961. Hofmannsthals Ausführungen zur Pantomime zielen darauf ab, die Sprache des Körpers als

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Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Th iere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Uebernatürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah: Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches.389

Die Utopie des paradiesisch-harmonisch anmutenden Bildes der dritten Strophe weist indes (neben den Trauben als Hinweis auf das Dionysische) auch auf das Apollinische, das Prinzip des schönen Scheins, denn auch die Welt des Apollo kennt die ›Gebärdensprache‹, durch die Elis mit seinen pantomimischen Zügen ebenfalls gekennzeichnet ist: Er zeigt uns, mit erhabenen Gebärden, wie die ganze Welt der Qual nöthig ist, damit durch sie der Einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde und dann, ins Anschaun derselben versunken, ruhig auf seinem schwankenden Kahne, inmitten des Meeres, sitze.390

Elis’ ›Gebärdensprache‹ ist an der Grenze zwischen Apollinischem und Dionysischem angesiedelt.391 Und wie Apollo im Kahn auf hoher See sitzt, so ist Elis’ Herz in der Weite des Himmels platziert: »Ein goldener Kahn / Schaukelt, Elis, dein Herz am einsamen Himmel.«392 Dass die prophetischen Gebärden Elis’ eine radikale Sprach-

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»höchst persönlich« (Mauser, Bild und Gebärde in der Sprache Hofmannsthals, S.  505) herauszustellen. Wie Elis vermag der Tänzer Nijinski »in der Gebärde eines, der mit hohler Hand am Quell sich Wasser schöpft, alle Reinheit und Erhabenheit der unverderbten menschlichen Natur zu offenbaren« (Mauser, Bild und Gebärde in der Sprache Hofmannsthals, S. 503). Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 30. Bei Trakl fehlt natürlich das Gemeinschaftsgefühl der dionysischen Ekstase, aber das Tönen wird ebenfalls in den Bereich der Natur verlagert. Der Klagelaut des zerstörten Ich ruft auch einen sentimentalischen Zug der Natur hervor, »als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu seufzen habe« (Mauser, Bild und Gebärde in der Sprache Hofmannsthals, S.  33). Tanz und Gebärde sind unmittelbare Ausdrucksformen der dionysischen Affekte (vgl. dazu auch Spörl, Gottlose Mystik, S. 182ff.). Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 39f. Denn das Regen der Arme des Elis könnte ferner an eine Tanzgebärde erinnern, auch ein Moment des dionysischen Dithyrambus: »Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde« (Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 33f.). Die »Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte« geht natürlich mit einer dionysischen »Selbstentäusserung« einher (Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 34). Vgl. Zarathustra als Tänzer: »Nur im Tanze weiss ich der höchsten Dinge zu reden: – und nun blieb mir mein höchstes Gleichniss ungeredet in meinen Gliedern« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 144). Trakl, Elis (3. Fassung), S. 85; vgl. zur Vorlage bei Nietzsche: Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 282.

losigkeit überhöhen, ist also im Sinne von Nietzsches Gebärden-Verständnis,393 verkündet durch die prophetische Kunstfigur Zarathustra: Und diess redlichste Sein, das Ich – das redet vom Leibe, und es will noch den Leib, selbst wenn es dichtet und schwärmt und mit zerbrochnen Flügeln flattert. Immer redlicher lernt es reden, das Ich: und je mehr es lernt, um so mehr fi ndet es Worte und Ehren für Leib und Erde.394

Im Gegensatz zu Nietzsche findet Trakl allerdings keine Ehrenworte für Leib und Erde, sondern Ausdrucksformen des sublimierten Leidens. Im dionysischen Szenario des Untergangs (eingeläutet durch den Amselruf395) des fragmentierten Elis, der zudem an den zerstückelten Dionysos Zagreus erinnert, scheint das Apollinische zumindest auf, so wie der verstorbene Elis (durch die beschwörende Anrede aufgerufen) wiederkehrt. Denn ist der dionysische Musiker bei Nietzsche »ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben«396, ist der lyrische Genius gezwungen, ständig neue Bilder hervorzubringen. V.a. aber ist der Künstler nach Nietzsche auch »Medium«397. An die Stelle der evozierten meditativen Stille des Elis398 tritt zunächst eine optische Entgrenzung, die einer ausdrucksvollen Körper- und ›Gebärdensprache‹ Raum gewährt und schließlich in einer akustischen Epiphanie gipfelt: dem Tönen des Dornbuschs (vgl. Vers 11). Dieses besondere Szenario der ElisErscheinung mutet durchaus kultisch an, dem Ablauf einer Messe vergleichbar, wo die

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Nietzsche unterstreicht immer wieder den Gebärdencharakter der Sprache: »Man teilt sich nie Gedanken mit: man teilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken zurückgelesen werden« (Nietzsche zitiert nach: Methlagl, Nietzsche und Trakl, S. 90). Und weiter liest man bei ihm: »Der Reichtum an Leben verrät sich durch Reichtum an Gebärden. Man muß alles, Länge und Kürze der Sätze, die Interpunctionen, die Wahl der Worte, Pausen, die Reihenfolge der Argumente – als Gebärden empfinden lernen!« (Nietzsche zitiert nach: Methlagl, Nietzsche und Trakl, S. 90). Vgl. Nietzsche: »Gut ist jeder Stil, der einen inneren Zustand wirklich mittheilt, der sich über die Zeichen, über das tempo [sic] der Zeichen, über die Gebärden – alle Gesetze der Periode sind Kunst der Gebärde – nicht vergreift« (Nietzsche, Ecce homo, S. 304); die Felder Gebärde und Geburt sind bei Nietzsche öfters verzahnt, vergleiche etwa.: »Selig aber ist der also Schwangere« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 287). Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S.  36. Vgl. auch Nietzsches Kritik an Scheinpassionen: »Kranke und Absterbende waren es, die verachteten Leib und Erde und erfanden das Himmlische und die erlösenden Blutstropfen: aber auch noch diese süßen und düstern Gifte nahmen sie von Leib und Erde!« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 37). Vgl. weiterhin zur Verherrlichung des Leibes bei Nietzsche: »Leib bin ich und Seele – so redet das Kind. Und warum sollte man nicht wie die Kinder reden? Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 39). Vgl. zur Amsel als Untergangsboten auch: Trakl, Verfall I, S. 233. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 44. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 47. Vgl. zu Elis als Figuration der Stille wieder: Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 189f.

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mysterienhafte Stille, das Läuten der Glocken Signale für die Erscheinung des Heiligen sind.399 Und Nietzsche beschreibt schon den Übergang von der ›Gebärdensprache‹ zum Ton, passend zur Transzendierung der Elis-Gebärden durch das durative Tönen des Dornbuschs: Sobald man sich in Gebärden verstand, konnte wiederum eine S y m b o l i k der Gebärde entstehen: ich meine, man konnte über eine Tonzeichensprache sich verständigen, so zwar, dass man zuerst Ton u n d Gebärde (zu der er symbolisch hinzutrat), später nur den Ton hervorbrachte. — Es scheint sich da in früher Zeit das Selbe oftmals ereignet zu haben, was jetzt vor unseren Augen und Ohren in der Entwicklung der Musik, namentlich der dramatischen Musik, vor sich geht: während zuerst die Musik, ohne erklärenden Tanz und Mimus (Gebärdensprache), leeres Geräusch ist, wird durch lange Gewöhnung an jenes Nebeneinander von Musik und Bewegung das Ohr zur sofortigen Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und kommt endlich auf eine Höhe des schnellen Verständnisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht mehr bedarf und den Tondichter ohne dieselbe v e r s t e h t . Man redet dann von absoluter Musik, das heisst von Musik, in der Alles ohne weitere Beihülfe sofort symbolisch verstanden wird.400

Genau diesen Fortgang von der Gebärde zum absoluten Ton zeichnet das Gedicht »An den Knaben Elis« bis zum Tönen des Dornbuschs (vgl. Vers 11) nach, um dann allerdings wieder in die Gebärden-Symbolik umzuschlagen.401 Trakl steigert das Wort zur Gebärde als prophetische Sprache. Die ambivalente Interaktion von Leib und Schrift dominiert die zweite Strophe: Der Hinweis auf »uralte Legenden« (Vers 6) ruft den Bereich der Schrift lichkeit und den Bereich der Heiligen auf, denn eine Legende ist ja nichts anderes als eine Lesung aus einem Legendar oder eine sagenhafte Erzählung, spezieller ein episch-lyrisches Tonstück, ursprünglich die Heiligenlegende behandelnd.402 Nicht zu vergessen ist, dass sich um den Knaben Elis selbst mehrere Legenden ranken, wie die Spekulationen über seine Namensgebung – wie oben dargelegt – bezeugen. Elis ist eine von Trakl erschriebene Legende, die wiederum (intertextuell) vorgängige Legenden anzitiert und intratextuell fortgesponnen wird. Es ist zwar diskutabel, inwiefern diese Subtexte nur als vage Konnotationen aufscheinen,403 doch werden nicht nur einzelne

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Vgl. Kempers Ausführungen zum Gedicht »Geistliche Dämmerung«: Kemper, Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, S. 158. Der Begriff Dämmerung weist überdies auf einen Übergang hin, der auch die Elis-Figur kennzeichnet, ist sie doch zwischen Erscheinen und Schwinden begriffen. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, S. 176f. Nach Wagners Musikauffassung vom Kunstwerk der Zukunft braucht der Ton das Wort wie der Mann das Weib. In Oper und Drama hält Wagner deswegen ein Plädoyer für die Gattung von Ton und Wort. Der Erzeuger des Kunstwerks der Zukunft ist freilich auch ein revolutionärer Visionär (vgl. Wagner, Oper und Drama, Stuttgart 1984). Vgl. Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 192. Vgl. Baßler, Wie Trakls Verwandlung des Bösen gemacht ist, S. 135. Baßler generalisiert zu Recht die Dignität der Trakl’schen Bilder: »Wie geschliffene Edelsteine leuchten die Worte des Traklschen Thesaurus vielmehr vor allem deshalb, weil sie selbst bereits Artefakten entstammen. Der Steinbruch, dem Trakl sein Wortmaterial entnimmt, ist kein geringerer als

Wörter kulturell aufgeladen, sondern übergreifende Strukturmuster – die Tradition des Dichter-Propheten – bearbeitet.404 Elis kann von daher auch als Figuration des Erinnerns betitelt werden, denn er ist geradezu tätowiert mit Erinnerungsspuren405, insbesondere an vorgängige Dichter-Seher, wodurch er fremd und vertraut zugleich wirkt. Und mehr noch: Das Assoziationsfeld und die Erinnerungsarbeit des Lesers hinsichtlich der zugrunde liegenden Subtexte werden breit aufgefächert. Neben die Anklänge an biblische Propheten-Geschichten tritt der griechische Mythos, wie derjenige um Hyakinthos: Konkret bedeutet hier die Identifizierung mit einer Hyazinthe die Gleichsetzung Elis’ mit einem Knaben des antiken Mythos. Aus dem Blut des an der Stirn tödlich getroffenen Hyakinthos läßt der ihn liebende Gott der Dichtkunst, Apoll, zur Erinnerung die nach ihm benannte Blume sprießen.406

Bibel und Antike, Paradies/Apokalypse und Arkadien treffen somit im LegendenArchiv des Elis aufeinander.407 Bei Trakl wird dieser griechische Mythos aber weiter fortgesponnen, indem Elis Legenden blutet (vgl. Vers 5/6): Der Auftakt der zweiten Strophe, der Imperativ »Laß« ist doppeldeutig, sofern er einerseits das Zulassen des beschriebenen Geschehens von Elis meinen könnte, also das Zulassen des Blutens von Legenden,408 andererseits aber auch das Ablassen im Sinne von Loslassen von den Legenden implizieren könnte: Die letztgenannte Lesart mahnt das Vergessen alter Legenden und magischer Praktiken an, sobald der Zustand des Stirn-Blutens eingetreten ist – für diese Lesart spricht jedoch wenig.409 Der ersten Lesart gemäß ist die

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die poetische Tradition des Abendlandes, insbesondere des Symbolismus, der Romantik und der Bibel« (Baßler, Wie Trakls Verwandlung des Bösen gemacht ist, S. 134). Obgleich diese prominenten abendländischen Motive nach Baßler dem Text keine Sinnstruktur unterlegen, sorgen sie doch für eine »konnotative Energie« (Baßler, Wie Trakls Verwandlung des Bösen gemacht ist, S. 136). Und weiterhin attestiert ihnen Baßler sogar die Macht, »die Aura von Stimmung und Bedeutung dieser Tradition bewahren und neu vermitteln« zu können (Baßler, Trakl, S. 219). Selbst Baßler beginnt im Blick auf die intertextuellen Bezüge zu straucheln, wenn er zwar »ganzheitlich-hermeneutische Sinndeutungen« als dem Verfahren des Textes unangemessen bezeichnet, andererseits dem assoziativen Gehalt »für die Lektüre des Textes seine Validität« nicht abspricht (Baßler, Wie Trakls Verwandlung des Bösen gemacht ist, S. 140). Vgl. zur Übernahme des freudianischen Ausdrucks »Erinnerungsspur« auf Kunstwerke: Wunberg, Jahrhundertwende, S. 11. Esselborn, Trakls Knabenmythos, S. 178. Vgl. Esselborn, Trakls Knabenmythos, S. 182. Das »Laß« ist nach einem Brief Trakls als »dulde« aufzufassen und das Bluten als schmerzliches, gedankliches Hervorbringen uralter Legenden (vgl. Trakl, Brief an den Kurt Wolff Verlag. Ende Mai/Juni 1913. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 518; vgl. Esselborn, Trakls Knabenmythos, S. 177; Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 96). Auch im »Nachtlied« heißt es im zweiten und dritten: »Sing’ ich meine traurigen Lieder, / Lieder, die wie Wunden bluten« (Trakl, Nachtlied I, S. 235). Kleefeld bemerkt schon, dass aus der blutenden Wunde das Gedicht erwächst (vgl. Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 191). Diese Lesart vertritt u.a. Rainer, Georg Trakls Elis-Gedichte, S.  407. Man könnte Elis’

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blutende Stirn Elis’ ein körperlicher Ausdruck der Legenden sowie der »Deutung[en] des Vogelflugs« (Vers 6), die als (temporale und konditionale) Auslöser des Blutens fungieren: Elis inkarniert seine Vorgänger-Legenden, und sein Leib erzählt im Bluten diese Legenden wie seine eigenen. Er mutiert zum Archiv von Legenden.410 Hierin zeigt sich die poetologische Dimension des Gedichts. Das Ertönen des Dornbuschs und eine breit ausgestaltete Körperpoetik (v.a. das Bluten von Elis’ Stirn) suggerieren einen authentischen, unmittelbaren Ausdruck der Elis-Klage.411 So erfährt das »Martyrium des Dichters«412 bzw. dasjenige des Elis eine produktive Wende: Denn sein Dulden der Legenden ermöglicht erst das zu lesende Gedicht.413 Aber nicht nur die Form der Legende ist mit der Elis-Figur eng verwoben, sondern auch das Motiv der Vogelschau,414 denn Elis ist ja bereits verstorben (vgl. Vers 13), kehrt als ein Revenant im Gedicht wieder: Ursprünglich ist der Vogel ein Symbol der körperlosen Seele; in archaischen Kulturen symbolisieren Vögel die zum Himmel aufsteigenden Seelen der Verstorbenen. In der Vogelschau (lat. augurium, auspicium) als magischer Praktik und Teilbereich der Mantik wird bekanntlich von einem Kollegium prophetisch begabter Priester, den so genannten Auguren (augures), eine Divination aus der Art des Vogelflugs abgeleitet, um die Zustimmung der Götter zu einer beabsichtigten Handlung einzuschätzen.415 Während die Legende also in die Vergangenheit weist, thematisiert die Vogelschau den Bereich des Künftigen. So werden Vorstellungen von der

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Trinken vom Felsenquell mit einem Trinken aus dem Fluss Lethe assoziieren (vgl. Rainer, Georg Trakls Elis-Gedichte, S. 407). Der Felsenquell könnte auch an Hyperions Diotima erinnern: »Sie war mein Lethe, diese Seele, mein heiliger Lethe, woraus ich die Vergessenheit des Daseins trank« (Hölderlin, Hyperion, S. 635f.). Vgl. auch ähnliche Verse in »Sebastian im Traum«: »Die blaue Gestalt des Menschen durch seine Legende ging, / Aus der Wunde unter dem Herzen purpurn das Blut rann. / O wie leise stand in dunkler Seele das Kreuz auf« (Trakl, Sebastian im Traum. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 88f., S. 89). Ähnlich liest man im Gedicht »An einen Frühverstorbenen«: »[…] Abend, da an dämmernder Mauer die Amsel sang, / Der Geist des Frühverstorbenen stille im Zimmer erschien. / O, das Blut, das aus der Kehle des Tönenden rinnt, / Blaue Blume; o die feurige Träne / Geweint in die Nacht« (Trakl, An einen Frühverstorbenen, S. 117). Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 191. Vgl. ähnlich Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 192f.. Ferner ist die Blut-Sprache seit Nietzsche zur nachdrücklichsten Mitteilungsform erhoben: »Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer mit seinem Blute schreibt. Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist. […] Wer in Blut und Sprüchen schreibt, der will nicht gelesen, sondern auswendig gelernt werden« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 48). Auch im Gedicht »Helian« sind es »runde Augen«, die dem »Flug der Vögel« folgen (Trakl, Helian, S. 69). Und in »Der Herbst der Einsamen« heißt es: »Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen« (Trakl, Der Herbst der Einsamen. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 109). In Platons Phaidros wird die Seherkunst als schätzenswerter als die Vogelschau eingestuft (vgl. Platon, Phaidros, 244d). Vgl. Werner Eisenhut, Augures. In: Der Kleine Pauly, Bd. 1, hg. von Konrat Ziegler u. Walther Sontheimer, Stuttgart 1964, Sp. 734–736.

prophetischen Figur als Legende und als divinatorische Magie zusammengeführt.416 Wie oben ausgeführt, trägt Elis prophetische Züge, und im Gedicht verweist die Dornbusch-Allusion auf Mose (vgl. Ex 3, 1–4, 17). Dieser große Prophet wird ferner selbst als Magier in der Bibel vorgeführt, was als ein Beleg für die Nähe von Magie und Prophetie gewertet werden kann, die auch bei Trakl zu finden ist.417 Als Bezug zum weißen Magier ist zuerst an das Widmungsgedicht an Karl Kraus zu denken:

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Der Flug der Vögel fungiert mithin als Movens für die Erinnerungsarbeit des Schauenden, wie in »Ruh und Schweigen« zu lesen: »Doch immer rührt der schwarze Flug der Vögel / Den Schauenden, das Heilige blauer Blumen, / Denkt die nahe Stille Vergessenes, erloschene Engel« (Trakl, Ruh und Schweigen. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 113). Durch die Gedächtnisarbeit des Schauenden ist ein zeichenhafter Rest einer schönen Welt als »letzte[r] Widerstand gegen die Zeichen des Verfalls« (Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 307f.) zu erkennen. Vgl. Rüdiger Schmitt, Magie im Alten Testament, Münster 2004. Die magischen Praktiken Moses bestehen übrigens u.a. darin, Wasser in Blut verwandeln zu können (neben der Verwandlung des Stocks in eine Schlange und derjenigen der gesunden Hand in eine aussätzige Hand) (vgl. Ex 4, 1–9), und dienen seinem Ausweis als Gesandter Gottes. Diese magische Fähigkeit besitzen auch die Propheten in der »Offenbarung des Johannes« (vgl. Offb 11, 6). In den Entwürfen zu »Ruh und Schweigen« findet sich ein Hinweis auf die magischen Fähigkeiten der Priester, die wiederum in einem Zuge mit kreisenden Vögeln genannt werden: »Geheimnis der Priester, / Blut, das auf verfallene Stufen tropft… Schwarze Vögel kreisen am Himmel / und wächsern tauchen die Finger ins Heilige blauer Blumen« (Trakl zitiert nach Kemper, »Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«, S. 25). Die skurrile Vorstellung, dass ein toter Mönch mit »wächsernen Fingern« den toten Hyazinthen-Leib Elis’ in »An den Knaben Elis« ›befingert‹, wird abermals aufgegriffen (vgl. Trakl, An den Knaben Elis, S. 84). Die beiden Schlussverse des »Psalm«: »In seinem Grab spielt der weiße Magier mit seinen Schlangen / Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen« (Trakl, Psalm (2. Fassung), S. 56) könnten ebenfalls auf den Magier Mose hindeuten, der seinen Erkennungsstab in eine Schlange zu verwandeln vermag und der eindeutig der weißen Magie zuzuordnen ist, der Form der Magie, deren Ziele Schutz und Heilung sind. Im Gegensatz zu »An den Knaben Elis« ist die Epiphanie Gottes in »Psalm« nicht ausgespart, sondern deutlich ins Bild gesetzt, wenn Gottes Augen aufgehen und so, vielleicht, nach mystischem Verständnis ein Zeichen senden, einen Zeigegestus implizieren (vgl. Trakl, Psalm (2. Fassung), S. 56). Natürlich ist mit der Schlange auch eine Anspielung auf den modernen Propheten Zarathustra mit seinen beiden Begleitern, Adler und Schlange, denkbar (vgl. Kemper, »Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«, S. 25). Im Zarathustra heißt es ferner: »Was ist dieser Mensch? Ein Knäuel wilder Schlangen, welche selten bei einander Ruhe haben« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 46; vgl. zum Adler und der Schlange als Begleiter Zarathustras: Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S.  27). Aber auch Aaron, Moses Gehilfe, verfügt über die ritualtechnische Fähigkeit, Chaosmächte zu evozieren und seinen Stab in die Chaosschlange Tannin zu verwandeln, um die ägyptischen Magier zu überbieten, deren Schlangen von den Schlangen Aarons verzehrt werden (Ex 7, 8–13). In der Bibel taucht die Schlange ferner als Symbol für den Teufel auf und natürlich als Symbol für die Versuchung des Menschen im Paradies (vgl. Gen 2–3), wie etwa in Trakls »Traum und Umnachtung« zur Umschreibung des Sündenfalls des Mörders verdeutlicht: »Also hebt er mit schmächtiger Hand die Schlange, und in feurigen Tränen schmolz ihm das Herz hin« (Trakl, Traum und Umnachtung, S. 149).

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Karl Kraus Weißer Hohepriester der Wahrheit, Kristallne Stimme, in der Gottes eisiger Odem wohnt, Zürnender Magier, Dem unter flammendem Mantel der blaue Panzer des Kriegers klirrt.418

Ein solch aktionistischer Radius des ›Priesters‹ Kraus ist Elis allerdings verwehrt; Elis figuriert den duldenden, vergleichsweise passiven, und nicht den kämpferischen Propheten. Seine blutende Stirn ist ein unmittelbares Zeichen seines Martyriums: Für gewöhnlich ist der Prophet Mund Gottes,419 hier leistet die blutende Stirn das leibhaftige Sagen uralter Legenden. Anklänge an eine derartige Unmittelbarkeitspoetik, in der die blutende Stirn als Zeichen für das Leiden Elis’ fungiert, transzendieren eine radikale Poetik des Schweigens.420 So liegt die Betonung in Vers 16 erstens auf »unser[em] Schweigen«, d.h., unser Modus des Sprechens wird oppositionell aufgeführt, und zweitens könnte daraus noch ein »sanftes Tier«, das die Lider senkt, treten (vgl. Vers 17 und 18): Das Senken der Lider könnte auf die mystische Grundfigur des myein anspielen, so dass eine innere Schau mystischer Provenienz aufgerufen wäre.421 Es mit einem Verstummen gleichzusetzen422 hieße allerdings, dieses Moment des inneren Sehens als Movens für prophetische Ausdrucksweisen zu übersehen. Allerdings bleibt es Spekulation, ob mit dem Heraustreten des Tiers eine Figur für das Gedicht ›herausspringt‹. Unterstrichen wird mit dem Hinweis auf das Tier die Naturhaftigkeit der androgynen Kunstfigur, aber auch deren Gefährdung durch Triebhaftigkeit. Auch der Schamane verlässt seinen Körper im Zustand der Ekstase (gekennzeichnet durch Bewegungsüberschuss) und kann dabei in den Körper eines Tieres eintreten.423

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Trakl, Karl Kraus. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 123. Vgl. Jer 1, 9; so ist es auch in »Traum und Umnachtung« hervorgehoben: »Nachts brach sein Mund gleich einer roten Frucht auf und die Sterne erglänzten über seiner sprachlosen Trauer« (Trakl, Traum und Umnachtung, S. 147). Ganz ähnlich wird im Malte Rilkes – das sei hier erinnert – darauf hingewiesen, dass Verse nicht nur Erfahrungen sind (vgl. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 21), sondern dass sie »Blut« in uns werden müssen (Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 22). Vgl. folgende Zeilen aus »Seele des Lebens«: »Ein Tier tritt leise aus den Baumarkaden, / Indes die Lider sich vor Gottheit weiten« (Trakl, Seele des Lebens, S.  36). Vgl. »Abendmuse«: »Von Lüften trunken sinken balde ein die Lider / Und öffnen leise sich zu fremden Sternenzeichen« (Trakl, Abendmuse. In: Trakl, Dichtungen und Schriften, Bd. 1, S. 28). Vgl. Laura Gerber-Wieland, Textur in Wort und Klang. Die Lyrik Georg Trakls und die Trakl-Lieder Anton Weberns im Spannungsfeld von Sprache und Musik, Freiburg 2002, S. 75. Mircea Eliade sieht im Schamanismus die Urreligion der Menschheit und die Schamanen sind charismatische Heldenfiguren: Vergleichbar mit Elis wird »in den Mythen der Indianer [...] nicht selten beschrieben, wie sich ihre Protagonisten in Himmelskörper verwandelt haben bzw. von Himmelskörpern dargestellt werden. Oft wird das Firmament von den Indianern wie ein mythischer Text gelesen« (M. Eliade, Geschichte der religiösen Ideen, Bd. 3/2:

Legt man dieses schamanistische Muster für diese Tier-Geburt zugrunde, wäre das Motiv des Tiers als eine Metamorphose des Elis zu begreifen, der sich durch diese Verwandlung vom Schweigen der Menschen zu lösen vermag (vgl. Vers 16). Lincoln geht sogar so weit, dieses sanfte Tier mit dem Lamm Gottes zu assoziieren.424 Neben dieser nebulösen Gestalt des Tiers bleibt auch diejenige des Mönchs mehrdeutig. Sieht man in der Figur des schweigenden Mönches eine »Identifi kationsfigur für den Dichter«425, könnte die taktile Kommunikation mit dem Leib Elis’ – vielleicht sogar unter nekrophilen oder auch homoerotischen Vorzeichen426 – als charismatisierendes Moment gelesen werden: Der Schöpfer bezeugt dann seine Kunstfigur. So wie der ungläubige Thomas427 sich durch körperliches Anfassen der Auferstehung und Wiederkehr des Herrn versichert (vgl. Joh 20, 24–29), so inspiziert der Mönch hier den Leib Elis’, was auch als Versuch einer Beglaubigung verstanden werden kann. Der Hinweis auf die wächsernen Finger des Mönches (vgl. Vers 15) lässt indes fragen, wer von beiden eigentlich ›toter‹ ist. Vermutet man hinter diesem taktilen Zugriff einen sexuellen Vorgang,428 eine Defloration (vgl. den Leib als Hyazinthe), vielleicht sogar einen Akt der Zeugung429 und einen Geburtsversuch (auch noch eines Tiers) und eben nicht nur eine charismatisierende Bezeugung, ist indirekt wieder die Trakl früh irritierende Wollust der Priesterschaft aufgerufen, die eine Neugeburt in Frage stellt und den Mönch als etablierten Heiligen in die Rolle des Gegenspielers des zu etablierenden Propheten und seiner wahrhaftigen Leiblichkeit verweist,430 aber auch die Gefährdung des Propheten durch die ungläubigen Kollegen ins Bild setzt. Diese im weitesten Sinne sexuelle Konnotation fügt sich jedenfalls nahtlos in die auch von Nietzsche beförderte ›Gebärdensprache‹ des Elis ein und konterkariert diese zugleich, wenn die Körper-Konnotationen Wahrhaftigkeit und Wollust kontrastiert werden. Während beim Mönch das ihm qua Amt zugedachte Charisma in ein Stigma

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Vom Zeitalter der Entdeckungen bis zur Gegenwart, hg. von Ioan P. Culianu, Freiburg im Breisgau; Basel; Wien 1991, S. 266). Eine besondere Nähe konstatiert Eliade zwischen dem Schamanen und der Vogelwelt, denn der Schamane strebt – unterstützt von Drogen – die Verwandlung in einen Vogel an (vgl. Eliade, S. 267). Vgl. Peter Lincoln, Religious dualism und aesthetic mediation in the work of Georg Trakl. In: Orbis Litterarum, 32, 1977, S. 229–246, S. 239. Esselborn, Trakls Knabenmythos, S. 179. Vgl. zur These einer homoerotischen Konnotation: Kemper, Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, S. 155; Esselborn, Trakls Knabenmythos, S. 179. Vgl. zum Motiv auch den Bezug zur Gestalt des ungläubigen Thomas: »Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal« (Trakl, Menschheit. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd.  1, S. 43; vgl. Esselborn, Trakls Knabenmythos, S. 179). Vgl. auch Marson, Whom the Gods Love, S. 377. Vgl. zum Hinweis auf eine geistige Zeugung ähnlich: Esselborn, Trakls Knabenmythos, S. 179. Die These, dass der Mönch als Asket eine Gegenfigur zum sündhaften Menschen vorstelle (vgl. Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 102), leuchtet dann nicht ein, wenn man die dionysische Komponente der Priester und Mönche bei Trakl erinnert, wie in Kapitel VI.3. dargelegt.

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umschlägt (»wächserne Finger«, Vers 15 und Gebärde der Wollust), er dadurch eine Entcharismatisierung erfährt, bleibt das Wechselverhältnis von Charisma und Stigma bei Elis in der Schwebe, wie es im letzten Vers durch einen körperlichen Ausdruck angedeutet ist: »Auf deine Schläfen tropft schwarzer Tau, / Das letzte Gold verfallener Sterne.«431 Der Gedichtschluss markiert den Trakl-typischen Schwebezustand zwischen »Erlösungshoffnung und ihrer Negierung«432. Die erlösende und sich gebärende Figur des Elis – durch das Sinnbild des Tiers433 unterstrichen – bleibt vakant, geradezu in der ›Gebärdensprache‹ stecken, so dass eine Neugeburt verhindert ist und Elis doch bedeutungsschwanger wirkt.434 Zugleich findet die innere Passion Elis’ ihre

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Trakl, An den Knaben Elis, S. 84. Im »Helian« wird das ursprünglich paradiesische Goldene Zeitalter ungebrochen anzitiert, zumindest für einen epiphanischen Augenblick: »In dieser Stunde füllen sich die Augen des Schauenden / Mit dem Gold seiner Sterne« (Trakl, Helian, S. 71). Dass das Sehen des Wahren einen Zustand des Wahnsinns voraussetzt, ist im Gedicht »Winkel am Wald« vermerkt: »Auch zeigt sich sanftem Wahnsinn oft das Goldne, Wahre« (Trakl, Winkel am Wald. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 38). Vgl. ferner Trakl, Zu Abend mein Herz. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 32: »Durch schwarzes Geäst tönen schmerzliche Glocken. / Auf das Gesicht tropft Tau.« Kemper, Gestörter Traum, S. 256. Vgl. ähnlich zur Geburtsthese des Tiers: Esselborn, Trakls Knabenmythos, S. 180. Trakls Metaphorik vom aufbrechenden Mund in »Traum und Umnachtung« (Trakl, Traum und Umnachtung, S. 147), die Betonung des hyazinthenen Elis-Leibs als Kontrast zur »Höhle unseren Schweigens« in »An den Knaben Elis« (Trakl, An den Knaben Elis, S. 84), die Metaphorik »[…] Kindheit / In blauer Höhle« (Trakl, Kindheit II, S. 79) oder sein Gedicht »Geburt« (Trakl, Geburt. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 115; vgl. dazu: Kemper, Gestörter Traum) rufen Gebär- und Geburtsphantasien auf: Man könnte hierin auch eine Belegstelle für Kranzens These sehen, dass das Phantasma männlicher Geburt im ausgehenden 19. Jahrhundert und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht nur im Zusammenhang mit einer Metaphorik von Kunstproduktion auszuloten sei, sondern dass – wie es auch bei Nietzsche zu beobachten ist – eine Häufung von Gebärmetaphern der Faszination von Materie, dem Stofflichen und dem Körper an sich geschuldet sei, dessen Verlust in der Moderne oftmals beklagt werde, und der nicht nur eine Körperfaszination, einen material turn, sondern auch beispielsweise Marinettis entwickelte Ästhetik der Taktilität befördere, um ersatzweise das Materielle zu privilegieren. Dass sich die Gebärphantasien prominenter Künstler wie auch diejenigen Rilkes (vgl. Christine Kranz, Maternale Moderne. Männliche Gebärphantasien zwischen Kultur und Wissenschaft (1890–1933), München 2009, S. 140f.) gerade besonders gut mit der Inspirationsthematik verbinden lassen, liegt nahe, sofern die Schöpfung des Künstlers auch der Schöpfung Gottes gleichkommt: So zeigt Kranz, dass unter anderem Jesus als mütterlich konfiguriert wird, denn er »gebäre aus seiner Herzwunde« (Kranz, Maternale Moderne, S. 28). Auch bei George ist die Gebärmetapher virulent, ist doch sein Gott Maximin das Produkt einer zeugenden Gebärde Georges (vgl. zur Gebärmetapher bei George u.a.: Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, S. 194f.). Vgl. zur Mutmaßung eines Geburtsmythos bei Trakl auch: Esselborn, Trakls Knabenmythos, S. 180; vgl. zur Gebärmetaphorik bei Nietzsche stellvertretend: »Dass der Schaffende selber das Kind sei, das neu geboren werde, dazu muss er auch die Gebärerin sein wollen und der Schmerz der Gebärerin« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 111). Vgl. zu Trakls maternalem Regressionszug: Jacques Le Rider, Zur Intermedialität von Text und Bild. In: Georg Trakl und die literarische Moderne, hg. von Károly Csúri, Tübingen 2009, S. 113–122, S. 116.

Kulmination in der Körperpoetik des Propheten, die einen gesteigerten Ausdruck und eine »Intensivierung der Bildaussage«435 befördert: Von der blutenden Stirn über die sich im Blau regenden Arme (vielleicht auch eine Tanzgebärde, angeregt von Nietzsche436) und die Identifizierung seines Leibs als Hyazinthe bis zum Mahnmal seiner von schwarzem Tau bedeckten Schläfen reicht sein Ausdruckspotential, das der Körpersemantik und naturhaft-bukolischen Ursprache eine eigene Darbietungsweise einräumt, speziell einen Ausdruck als Klage.437 Dadurch gewinnt Elis’ Morbidität an unverwechselbarer Vitalität. Elis ist als eine Grenzfigur zwischen Nähe und Ferne, Fragment und Ganzheit, Leben und Tod, Idylle und Passion, Sagen/Tönen und Schweigen, Legende und Zukunftsvision, Dichter und Prophet zu charakterisieren. Darüber hinaus veranschaulicht diese prophetische Figuration wesentliche Parameter der Lyrik der Moderne: »Hermetik strebt nach Aufschlüsselung und Decodierung, Änigmatik nach Enträtselung, Sprachlosigkeit nach Neukonstituierung von Sprache.«438 Insbesondere die Neuvermessung einer prophetisch konnotierten Passions-Sprache ist durch Elis angestoßen. Baßlers Schlussfolgerung, dass »Trakls lyrische Sprache nicht mehr über Referenzen Sinn herstellt, weil ihren Lexemen das außersprachliche Signifi kat, d.h. die konventionelle Bedeutung, der Inhalt fehlt«439, entgeht eine Trakl’sche Pointe, nämlich dass der Leib des Propheten als Offenbarungsgefäß den Sinn – die Klage und das Leid – inkarniert sowie gleichzeitig das Spiel der Lexeme in Gang setzt, um seine

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Vgl. zu den Intensivierungsbemühungen Trakls allgemein: Stephan Jaeger, Intensität statt Hermetik. Zur Theorie von Textbewegungen in Trakls Lyrik am Beispiel der Gedichte »Siebengesang des Todes« und »An die Verstummten«. In: Georg Trakl und die literarische Moderne, hg. von Károly Csúri, Tübingen 2009, S. 77–98; Kemper, Gestörter Traum, S. 245, vgl. S. 254 u. S. 251. Kemper bemerkt, dass dieses Intensivieren des Ausdrucks auch in »groteske Katachresen«, eine Form der unfreiwilligen Komik, umschlagen könne (vgl. Kemper, Gestörter Traum, S. 254; vgl. zur Komik des Lyrischen: Kemper, Komische Lyrik – Lyrische Komik. Über Verformungen einer formstrengen Gattung, Tübingen 2009). Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S.  34; vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 282. Wie das Schweigen geradezu als Katalysator des beredten Körpers fungiert, ist im Gedicht »De Profundis« ebenfalls angezeigt: »[…] / Ein Schatten bin ich ferne finsteren Dörfern. / Gottes Schweigen / Trank ich aus dem Brunnen des Hains. // Auf meine Stirne tritt kaltes Metall / Spinnen suchen mein Herz. / Es ist ein Licht, das in meinem Mund erlöscht« (Trakl, De Profundis II, S. 46). Wieder ist es das Trinken, hier sogar das des Schweigens, welches einen körperlichen Ausdruck initiiert. Während in dieser Psalm-Adaption eingangs der gewaltsame Tod einer sponsa, deren Leib Hirten im Dornbusch finden, im Zeilenstil mit Anaphern dargeboten wird, ist das lyrische Ich potentiell als Täter zu erkennen, dessen Körper und Herz eine Verhärtung aufweisen, ein typisches Schuldmotiv bei Trakl. Das Klingen der Engel im Haselbusch könnte durchaus – paradoxerweise – wieder vom lyrischen Ich initiiert sein. Lyrisches Ich (Stirn) und Waise (rund, goldig, Dornbusch) nehmen überdies beide Züge von Elis an, was auch als Ausdruck einer typologischen Umkehr von Mörder und Opfer verstanden werden kann (vgl. Kux, »De profundis«, S. 173). Wunberg, Jahrhundertwende, S. 54. Baßler, Trakl, S. 215.

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Herkunft zu multiplizieren. Das Gedicht »An den Knaben Elis« substituiert gerade das Verstummen der Klage um Elis, indem es seiner Aura und seiner Ursprache Raum gewährt und dadurch eine prophetische Stellvertretung für eine direkte Mitteilung etabliert. Es setzt ein Erinnerungsmahnmal an Elis’ Leiden und ist selbst aus einer Leidenspose heraus geschaffen. »Das letzte Gold verfallener Sterne« (wie es im letzten Vers heißt) ist auch für Rainer »das aus Leiden geschaffene Lied«440. Elis ist aber nicht nur Lichtgestalt und Untergangsbote zugleich, sondern auch ein stigmatisierter Charismatiker im Sinne eines ausgezeichnet Begnadeten: Der »schwarze Tau« (Vers 19) auf den Schläfen Elis’ verweist auf das Stigma dessen, der schaut und der ein Tönen in Gang setzt. Die wiederholten Anredeformen441 an Elis durch eine Sprechinstanz, die Anrufesätze, der fingierte Dialog im monologischen Rahmen können nicht nur als Momente einer Totenbeschwörung,442 sondern auch als eine Technik der Charismatisierung hervorgehoben werden. Elis wird als lyrisches Du angerufen und damit zur Erscheinung gebracht. Ebenso gewinnt natürlich der Prophet Trakl selbst ein ihn charismatisierendes Gegenüber, wenn sich hinter Elis auch Novalis verbirgt, mit welchem auch in diesem Gedicht indirekt ein Dialog über prophetische Rede geführt wird. Böschenstein hebt generell zu Recht hervor, »daß Hölderlin und Novalis für Trakl gelegentlich ineinander verschwimmen, da beide für ihn durch ihre hymnische Sprache, durch ihre dionysisch-strömende Rhythmik, ferner durch den Bereich der Nacht und auch durch ihr früh abgebrochenes Dichten zu brüderlichen Spiegelungen seiner selbst werden. Diese Spiegelungen bestimmen hier die Sprache Trakls selber, indem er hier der anrufenden, hymnisch erhöhenden, sakralisierten Wortwahl und Syntax zustrebt, die seinen Vorbildern eignen.«443 Dieser Hinweis untermauert wieder die Annahme des inspirativen Motors von Dichter-Seher-Vorgängern für neue Prophetie-Poetiken. Wie das Tönen an Hölderlins Poetik rückzubinden ist, wird in den folgenden Kapiteln noch dargelegt; der nietzscheanische Einfluss auf die Konzeption des Tönens und der Elis eigenen ›Gebärdensprache‹ zeigt wieder, wie in der Kunstfigur ›NovElis‹ ein Archiv an Dichter-Seher-Legenden mobilisiert ist, um eine neue prophetische Poetik in Szene zu setzen. Elis’ Klage wird gerade dadurch universell, dass mehrere prophetische Stimmen mitschwingen und so einen Resonanzboden für eine Übergangszeit, einen Transfer bieten. Aber für welche Zeit? Es ist evident, dass bei Trakl nicht länger ein triadisches Geschichtsmodell nach der romantischen Tradition vorliegt und dass die Aussparung des dritten Zeitalters die unauflösliche

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Rainer, Georg Trakls Elis-Gedichte, S. 409. Vgl. Bolli, Georg Trakls »dunkler Wohllaut«, S. 113. Nietzsche bezeichnet im 147. Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches die »Kunst als Todtenbeschwörerin« (Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 142). Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S.  16. Mengaldo korreliert im Anschluss an Böschenstein den dominanten Klagegestus der mittleren Schaffensphase (ungefähr zwischen »Helian« (Ende 1912) und »Abendland« (1914)) mit der erinnernd-klagenden, elegischen Funktion der Dichtung und der Rolle des »Schauenden« (Hölderlin und Novalis entlehnt) (Mengaldo, »Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn«, S. 77).

Gleichzeitigkeit des ersten und zweiten Zeitalters, »die ständige Gleichzeitigkeit von Gegensätzen, das Nebeneinander von Paradoxen«444 befördert.445 Und das verweist auf das Potential prophetischer Dichtung als paradoxes Sprechen.446 Auch im »Helian« dominieren Passion und Martyrium, eine mögliche Auferstehung des Elis sowie sein erneuter Untergang sind in der Neuauflegung prophetischer Figuren angedeutet.

VI.7. Helian als Verwandter des Elis: Schauen und Tönen Die »klangliche Nähe von Helian und Elis«447 zeigt bereits die Verwandtschaft beider Figuren an; die Elis-Gedichte sind mit dem vorausgehenden »Helian« (entstanden im Januar 1913, veröffentlicht im Februar 1913 im Brenner)448 zusammenzustellen.449 Ähnlich wie »An den Knaben Elis« (entstanden im April 1913) ein Archiv von Legenden vorstellt, rufen die berühmten Verse des »Helian«450 eine vergleichbare Dichter-Genealogie auf, wenn dort explizit von der Nachfolge vorgängiger DichterSeher – wahrscheinlich Novalis’ oder Hölderlins451 – die Rede ist:452 »Wo vordem der heilige Bruder gegangen, / Versunken in das sanfte Saitenspiel seines Wahnsinns.«453 Und hier wie dort wird der Toten, der prophetischen Wiedergänger wie Elis gedacht:

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Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 74. Vgl. auch Heselhaus, Die Elis-Gedichte, S. 409. Nach Joachim Fiore ist Elija der Prophet, der den Übergang vom zweiten zum dritten Zeitalter ankündigt, den Übergang vom Sohnes- zum Geistalter (vgl. Bergengruen, Untergang der »Mondnacht«, S.  267). So wie Elis bei Trakl betont knabenhaft ist, so bleiben seine Zeitalterdarstellungen im Übergangsstatus haften. Böschenstein, Helian. Arkadien und Golgatha. In: Gedichte von Georg Trakl, hg. von HansGeorg Kemper, Stuttgart 1999, S. 84–95, S. 84. Nach Methlagl ist dieses Gedicht der dritten Schaffensperiode Trakls (von Herbst 1912 an) von insgesamt vier Werkphasen zuzuordnen, in der die freien Rhythmen dominieren (vgl. Methlagl, Georg Trakl. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 11, hg. von Walther Killy, Gütersloh; München 1991, S. 390–393, S. 392). Thauerer beklagt im Hinblick auf »Helian« provokativ die von Killy angestoßene, dominante Grundthese von der Dunkelheit Trakl’scher Verse (vgl. Killy, Über Georg Trakl, S. 5), die sie mithin als Ausdruck eines Verlusts an motivgeschichtlichen Kenntnissen von Seiten der Trakl-Philologie anprangert (vgl. Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 220f.). Trakl, Helian, S. 69–73. Vgl. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 17. Das Motiv des Aussatzes (und des Kots) verweist ferner auf Rimbaud (vgl. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 17). Barbara Neymeyr macht auf den Topos des furor poeticus aufmerksam (vgl. B. Neymeyr, Trakls lyrische Quintessenz. Poetologische Décadence-Reflexion und Hermetik in seinem Gedicht »Helian«. In: ZfdPh, 121, 2002, S. 529–547, S. 540f.). Trakl, Helian, S. 70; vgl. Trakl, Passion (3. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S.  125: »Wachend und bewegt von nächtigem Wohllaut, / Sanftem Wahnsinn; / Oder es tönte dunkler Verzückung / Voll das Saitenspiel […].« Vgl. wieder Hölderlins Vers aus »Brod und Wein«: »Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten« (Hölderlin, Brod und Wein, S. 90). Nach Mengaldo ist die »Reihe Fremdling – wahnsinniger Dichter – Christus« auch

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Lasset das Lied auch des Knaben gedenken, Seines Wahnsinns, und weißer Brauen und seines Hingangs, Des Verwesten, der bläulich die Augen aufschlägt. O wie traurig ist dieses Wiedersehen.454

Im Gegensatz zu Elis ist Helian deutlich als Prophet des Überindividuellen, als Stellvertretung für den Untergang der Menschheit an sich konzipiert, wie es auch Rilke und Heinrich dem Schöpfer Helians, also dem Seher-Dichter Trakl, andichten:455 »Erschütternd ist der Untergang des Geschlechts. / In dieser Stunde füllen sich die Augen des Schauenden / Mit dem Gold seiner Sterne.«456 Trotz seiner Funktion als Unheil-Künder wird die Schau dieser Propheten-Figuration mit Verweis auf die sublimierte Essenz des Goldes, des edelsten und unsterblichsten Metalls, geadelt, möglicherweise als Allusion auf die alchimistische Transmutation des Unreinen in das Reine, wodurch auch eine innere Wandlung angezeigt wäre.457 Der Name Helian verweist außerdem auf das Helle und Tönende (vgl. das mittelhochdeutsche Adjektiv ›hel‹), auch auf die Sonnenblume (helianthus), die wiederum als Allegorie des christlich gesinnten Menschen in der Sinnbildkunst der Frühen Neuzeit bekannt ist, sowie natürlich auf den griechischen Sonnengott Helios.458 Die Helian-Figur scheint sich ferner in mehrere Perspektivfiguren aufzuspalten bzw. sich in ihnen zu spiegeln: Hirten459 und ein Landmann untermalen die eingangs evozierte bukolisch-friedliche Landschaft, der junge Novize, der Fremdling, Engel, Heilige, ein umnachteter Enkel u.a. sind religiös aufgeladene Figuren, die den Einbruch des drohenden Verfalls bezeugen. Kulminationspunkt von Helians Untergangsbotschaft ist seine von »Schnee und Aussatz« triefende Stirn, die er »im rosigen Spiegel beschaut«, sowie die »zerbrochenen Augen in schwarzen Mündern«, die dem »Enkel in sanfter Umnachtung« attestiert werden, über den der »stille Gott die blauen Lider« senkt.460 Ein »junge[r] Novize«, dessen Stirn »mit braunem Laub bekränzt« ist und dessen »Odem eisiges

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ein Hinweis auf den Zeugnischarakter des Helian (Mengaldo, »Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn«, S. 81). Trakl, Helian, S. 72. Vgl. Rilke in Briefen an den Herausgeber des »Brenner« vom Februar 1915, S. 10; Heinrich, Die Erscheinung Georg Trakls, S. 102f. Trakl, Helian, S. 71. Vgl. die Abschlussverse von »An den Knaben Elis«: »Auf deine Schläfen tropft schwarzer Tau, // das letzte Gold verfallener Sterne« (Trakl, An den Knaben Elis, S. 84). Vgl. Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 224f.; vgl. zur Nähe Helians zum Sonnengott Helios: Böschenstein, Helian, S.  84. Die These, dass Helian eine Präfiguration Christi darstelle (vgl. Nicolai Schuchhardt, Todesdarstellung und Jenseitsphantasien in der Lyrik Georg Trakls, Marburg 2006 [http://archivonub.uni-marburg.de/diss/z2006/0156/], S.  162), ist hinsichtlich der vielen Konnotationsmöglichkeiten zu relativieren. Vgl. auch zur biblischen Grundierung: Hes 34, 11–22. Trakl, Helian, S. 73; das Motiv des Aussatzes geht auf Hölderlin und Rimbaud zurück (vgl. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 17).

Gold trinkt«,461 der also als inspirierter Dichter eingeführt wird, lädt dazu ein, die Wege der vorgängigen Dichter-Seher (v.a. Rimbaud und Hölderlin) zu beschreiten.462 Wie Michelangelo in das »Jüngste Gericht« sein eigenes Gesicht einwebt, so porträtiert Trakl seine Dichter-Propheten-Vorbilder – etwa Rimbauds Selbstporträt – mit Hinweis auf dessen »Kot-« und »Engelssphäre«463 aus Une Saison en Enfer, um sein eigenes Seher-Gesicht einzurahmen. Der Ausgang von harmonisch-sonniger Idylle (»In den einsamen Stunden des Geistes / Ist es schön, in der Sonne zu gehn«464; »Schön ist die Stille der Nacht«465; »In reinen Händen trägt der Landmann Brot und Wein«466) – in der u.a. auch eine Elis analoge, ekstatische und möglicherweise von Nietzsche inspirierte Tanzgebärde ins Bild gesetzt467 und das ekstatisch-dionysische Moment des Augenrollens exponiert ist (»Schön ist der Mensch und erscheinend im Dunkel, / Wenn er staunend Arme und Beine bewegt, / Und in purpurnen Höhlen stille die Augen rollen«468) – und deren Überführung in eine von Dekadenz gezeichnete Untergangs-Prophetie (»Am Abend versinkt ein Glockenspiel, das nicht mehr tönt«469; »Ein erhabenes Schicksal sinnt den Kidron hinab«470; »An den Wänden sind die Sterne erloschen«471) sowie ein Nebeneinander von Arkadien und Golgatha472 kennzeichnen nicht nur die Struktur von »An den Knaben Elis« und »Helian«, sondern ebenfalls von »Elis« (entstanden im Mai 1913): Elis 3. Fassung  1 Vollkommen ist die Stille dieses goldenen Tags. Unter alten Eichen Erscheinst du, Elis, ein Ruhender mit runden Augen.   Ihre Blaue spiegelt den Schlummer der Liebenden. An deinem Mund Verstummten ihre rosigen Seufzer.

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Trakl, Helian, S. 70. Zwar vermerkt Böschenstein viele Zitate und inspirative Schübe für Trakls Spiegelbilder (vgl. allgemein: Böschenstein, Helian), doch ist Trakls breitgefächertes prophetisches Erbe gesondert herauszustellen, zumal seine favorisierten Autoren allesamt Dichter-Propheten sind. Böschenstein, Helian, S. 90. Trakl, Helian, S. 69. Trakl, Helian, S. 69. Trakl, Helian, S. 69. Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 34. Trakl, Helian, S. 70. Trakl, Helian, S. 71. Trakl, Helian, S. 72. Trakl, Helian, S. 73. Vgl. Böschenstein, Helian, S. 85.

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Am Abend zog der Fischer die schweren Netze ein. Ein guter Hirt Führt seine Herde am Waldsaum hin. O! wie gerecht sind, Elis, alle deine Tage.   Leise sinkt An kahlen Mauern des Ölbaums blaue Stille, Erstirbt eines Greisen dunkler Gesang.   Ein goldener Kahn Schaukelt, Elis, dein Herz am einsamen Himmel. 2   Ein sanftes Glockenspiel tönt in Elis’ Brust Am Abend, Da sein Haupt ins schwarze Kissen sinkt.   Ein blaues Wild Blutet leise im Dornengestrüpp.   Ein brauner Baum steht abgeschieden da; Seine blauen Früchte fielen von ihm.   Zeichen und Sterne Versinken leise im Abendweiher.   Hinter dem Hügel ist es Winter geworden.   Blaue Tauben Trinken nachts den eisigen Schweiß, Der von Elis’ kristallener Stirne rinnt.   Immer tönt An schwarzen Mauern Gottes einsamer Wind.473

Der erste Teil des Gedichts – mit Anrede- und Du-Form – ist von der Stille, Ruhe, Rundheit (als Androgynie-Reflex) und der Gerechtigkeit des Elis, auch von reinen Figuren wie dem Hirten und Fischer, also von einem arkadisch-bukolisch oder christlich konnotierten paradiesischen Seinszustand (auch der Liebenden, wie in der zweiten Strophe gezeigt) geprägt, wo Elis zuletzt als Sternbild474 eine besondere Würdigung erfährt, und zwar mittels einer subjektentgrenzenden Figur zur Wahrung von Elis’ dionysischer Persönlichkeit: »Ein goldener Kahn / Schaukelt, Elis, dein Herz

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Trakl, Elis (3. Fassung), S. 85f. Vgl. Nietzsche: »In die freie Höhe willst du, nach Sternen dürstet deine Seele« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 53).

am einsamen Himmel.«475 Das Bild vom Schaukel-Kahn ist Nietzsches Also sprach Zarathustra entlehnt: »– einen goldenen Kahn sah ich blinken auf nächtigen Gewässern, einen sinkenden, trinkenden, wieder winkenden goldenen Schaukel-Kahn!«476. Die Beheimatung des apollinischen Ich477 im dionysisch Grenzenlosen ist ins Bild gesetzt. Ferner mag das Bild vom Kahn an die Himmelfahrt des Propheten Elijas erinnern478 oder an die Himmelfahrt des Johannes von Patmos (auch in der Version Rilkes).479 Das bei Trakl immer wiederkehrende Sternbild Elis folgt auch der Vorstellung von Hölderlins Hyperion, wonach Hyperion sich wie ein Sternenhimmel still und bewegt zugleich fühlt,480 er als Sternbild des Dioskuren Kastor und Pollus als Sinnbild der Unsterblichkeit den in der Höhe Wandelnden vorstellt.481 Interessanterweise findet sich auch bei George das Kahn-Motiv im Maximin-Kult: »Indes die welle mit mir spielt im kahne!«482 Maximin ist schließlich eine Elis vergleichbare KnabenGestalt mit Heilsbringer-Funktion,483 die sowohl ein Christ- als auch ein »Dionysos-Kind«484 ist. Elis wie Maximin dienen als »Idealbild der neuen Jugend«485. Was Mattenklott für George festhält, gilt auch für Trakls Elis: Beide konservieren mit ihren prophetischen Kunstfiguren »Augenblicke schönen Lebens […] im Mausoleum des Gedächtnisses […], um ihre Frische zu konservieren«486. Beide inkarnieren zudem sprachliche Gebärden487 und erfahren eine Vergottung ihres Leibs.488 In der

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Trakl, Elis (3. Fassung), S. 85. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 282. Vgl. Klessinger, Krisis der Moderne, S. 33. Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 27ff. In Die Geburt der Tragödie wird auch die »weisheitsvolle Ruhe des Bildnergottes« Apollo, sein sonnenhaftes Auge und sein individualitätsgarantierender Sitz als Schiffer im Kahn auf hoher See hervorgehoben (Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 28). Vgl. zu Elijas Himmelfahrt, die von Elischa bezeugt wird: »Während sie miteinander gingen und redeten, erschien ein feuriger Wagen mit feurigen Pferden und trennte beide voneinander. Elija fuhr im Wirbelsturm zum Himmel empor. Elischa sah es und rief laut: Mein Vater, mein Vater! Wagen Israels und sein Lenker!« (2. Kön 2, 11–12). In Rilkes Malte findet sich ein Hinweis auf die prophetische Himmelfahrt des Johannes (vgl. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 188f.). Vgl. Hölderlin, Hyperion, S. 624. Vgl. Hölderlin, Hyperion, S. 650. Und am Sternenhimmel sollen sich Hyperion und Diotima erkennen (vgl. Hölderlin, Hyperion, S. 683). Vielleicht findet man nicht zufällig das Bild vom Kahn, welcher Elis beheimatet, auch in Hölderlins »Mnemosyne«: »Uns wiegen lassen, wie / Auf schwankem Kahne der See« (Hölderlin, Mnemosyne, dritte Fassung, StA, II, 1, S. 197). George, Gebete II. Ist uns dies nur amt: mit schauern. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 116. Vgl. zur Vorlage die berühmte Heilandsprophetie in Vergils 4. Ekloge: Karlauf, Stefan George, S. 551. Frank, Stefan Georges »neuer Gott«, S. 287. Mattenklott, Bilderdienst, S. 284. Mattenklott, Bilderdienst, S. 285. Vgl. zur sprachlichen Gebärde bei George: Mattenklott, Bilderdienst, S. 290. Vgl. George, Templer. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 52.

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kreisinternen Beschreibung Maximins wird ihm ein »zauber des tönenden«489 bescheinigt und der frühverstorbene, wiederauferstandene Heros wird – wie Elis – auf einem »andren stern«490 beheimatet. Die Gestirn-Apotheose ist typisch für Georges Verherrlichung Maximins. Im Gegensatz zu Maximin ist Elis aber introvertiert und still, da er nicht über einen direkten Belehrungsgestus verfügt, er kein »Herr der Wende« oder Erlöser aus der »qual der zweiheit« ist und er schon gar nicht direkte Ansprachen verlauten lässt.491 Verse wie »denn euch ist heil geschehen«492 oder »Und eines Gottes mund hat euch geküsst«493 wären für Trakl undenkbar; gefallen hätte ihm hingegen: »Und beinah einer schwester angesicht / Erwiderte dem schauenden ein spiegel«494. Insbesondere die Vorstellung vom Tönen des verleibten Gottes ist indes auch für die prophetische Elis-Gestalt zentral. Der zweite Teil von »Elis« – verdeutlicht durch den Wechsel zur Er- und Erzähl-Form – ist ganz dem Tönen gewidmet, auch ein dionysisches Moment,495 eingeläutet mit den Auftaktversen: »Ein sanftes Glockenspiel tönt in Elis’ Brust.«496 Das in Elis’ Brust tönende »Glockenspiel« (Vers 16) und der tönende Wind Gottes (Vers 29/30) des zweiten Teils kontrastieren die exponierte Stille (Vers 1, 3 und 12; vgl. das Verstummen in Vers 6) im ersten Teil. Damit sind die zwei Welten des Elis – zwischen stillem, ruhendem und gerechtem Schauen einerseits und klagendem Tönen andererseits – kontrastiv vorgeführt. Zudem wird wiederum ein breites Spektrum an Legenden aktiviert: An Novalis’ und Hölderlins Seher-Poetik gemahnt das tönende »Glockenspiel« (Vers 16) und das durative Tönen des Windes, die versinkenden Zeichen und Sterne sind der Symbolik der »Offenbarung des Johannes« entlehnt,497 der Dornbusch evoziert erneut die biblische Mose-Geschichte (vgl. Ex 3, 1–4, 17),498 und nicht zuletzt erscheint abermals Elis. Bei Cusanus fungiert die Mauer (murus absurdidatis) als Zeichen der Koinzidenz, des Ineinsfallens der Gegensätze, für das »nichtbegreifende Begreifen dessen, der Gott als den zugleich unsichtbar[en] und sichtbar[en], als ›alles und nichts von allem zugleich‹ erfährt«499. Es ist von daher eine Verkürzung des Trakl’schen Mauer-Motivs, wenn man dieses – wie Böschenstein

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Zitiert nach Frank, Stefan Georges »neuer Gott«, S. 294. Zitiert nach Frank, Stefan Georges »neuer Gott«, S. 295. George, Du stets noch anfang uns und end und mitte. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 8. George, Auf das Leben und den Tod Maximins. Das Erste, S. 105. George, Auf das Leben und den Tod Maximins. Das Erste, S. 105. George, So sprach ich nur in meinen schwersten tagen. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 107. Die »erschütternde Gewalt des Tones« zeichnet auch die dionysische Musik aus (Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 33). Trakl, Elis (3. Fassung), S. 85. Vgl. zu diesem Motiv in »Abendland«: Bergengruen, Untergang der »Mondnacht«, S. 268. Vgl. zu diesem Motiv in »An den Knaben Elis«: Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 98. Haas, Mystik als Aussage, S. 164.

– als Darstellung der Sprachlosigkeit interpretiert,500 denn die Mauer markiert wie die Elis-Figur eine Grenze, diejenige alles kategorial Aussagbaren.501 Dieses mystische Erbe ist auch auf die Struktur beider Elis-Gedichte zu beziehen, denn diese wirken ansatzweise tautologisch, da sie in sich eine paradoxe Grundstruktur von Schönheit und Verfall bergen; und Tautologie und Paradoxie sind die zwei wichtigsten Stilprinzipien mystischer Rede502, gehören aber auch zum Stilarsenal prophetischer Rede503. Beiden Gedichten eignet ein Zug zur Gegenbildlichkeit, zur »antithetischen Metapher«504. Die vorherrschende Paradoxie in den Elis-Gedichten ist darin zu sehen, dass Wiederkehr und Niedergang des eigentlich bereits Verstorbenen ›lebendig‹ beschworen werden und nicht einseitig eine imitatio Christi, kulminierend in Elis’ Auferstehung oder seinem radikalem Niedergang, vorgeführt wird.505 Auch das noch detaillierter zu besprechende Zeichen der Helian-Stirn, die von Schnee und Aussatz trieft,506 folgt dem Prinzip einer Gleichzeitigkeit von Tautologie und Paradoxie: Die Zusammenstellung von Schnee und Aussatz ist dann tautologisch, wenn man an die Mose-Geschichte von der aussätzig-weißen Hand (vgl. Ex 4, 6f.) oder an Elisas Strafrede (vgl. 2. Kön 5, 27) denkt, sie kann aber ebenso als paradoxe Zeichenkonstellation interpretiert werden, wenn man das auch biblisch verbürgte Motiv des Schnees als Reinheitssymbol und damit als Gegenpol zum Aussatz berücksichtigt.507 Im Gegensatz zu Trakls eingestandenem Mangel an Liebe, Gerechtigkeit und Erbarmen und zu seiner reinen Befähigung zum Verbrechertum508 vereint eine Propheten-Figuration wie Elis oder Helian Harmonie und Untergang zugleich. Interessanterweise charismatisiert Ficker seinen Freund Trakl im Antwortbrief geradezu, wenn er beschreibt, wie ihm ein Blick auf Trakls Stirn genüge, um zu erkennen, dass sein Wort aus einer besonderen Tiefe käme, die jedes persönliche Moment des Sprechenden aufhebe, wodurch er sich als revidierender Ko-Autor von Trakls Autorpoetik des Propheten erweist.509 Erinnert man sich an Mahrholdts oder Heinrichs Trakl-Dichterbildnisse, fällt ferner auf, wie sich das von ihnen betonte Wesen des Seher-Künstlers – nämlich einerseits ergeben zu schauen und andererseits tönend das Geschaute

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Vgl. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 24. Vgl. Haas, Mystik als Aussage, S. 165f. Vgl. Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 205. Vgl. Dietrich, Art. Prophetenrede, Sp. 299. Heselhaus, Die Elis-Gedichte, S. 397. Vgl. ähnlich Schuchhardt, Todesdarstellung und Jenseitsphantasien, S. 178: »Im Vergleich zur eindeutigen Todesüberwindung, die der auferstandene Christus in der christlichen Mythologie vermittelt, stellt die individualmythologische Figur des verstorbenen Knaben Elis die paradoxe Personifikation einer z.T. verklärten, den Tod überwindenden sowie zugleich dem Tod verfallenen, morbiden Transzendenz dar.« Vgl. Trakl, Helian, S. 73. Vgl. ähnlich Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 226. Dasselbe ist hinsichtlich des KnabenStigmas »weißer Brauen« (Trakl, Helian, S. 72) zu bemerken. Vgl. Trakl, Brief an Ludwig von Ficker, Salzburg, 26.06.1913, S. 519. Zitiert nach Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 120.

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wiederzugeben – direkt aus dem »Elis«-Gedicht ableiten lässt.510 Davon zeugt auch Trakls Briefstelle über seine Erfahrung einer doppelten Vision.511 Ist im ersten Teil die Schau mit einer selbstgenügsamen Stille assoziiert, wird im zweiten Teil das Leiden des Untergangsboten über das Formen des Geschauten in der Weise des (durativen) Tönens fokussiert, das der Logik nach wieder vom Propheten – wie das Tönen des Dornbuschs durch Elis’ Schau –512 ausgelöst sein könnte: Blaue Trauben Trinken nachts den eisigen Schweiß, Der von Elis’ kristallener Stirne rinnt. Immer tönt An schwarzen Mauern Gottes einsamer Wind.513

Der von Elis’ Stirn rinnende »eisige Schweiß« verdeutlicht – die Legenden blutende Stirn in »An den Knaben Elis« abwandelnd514 – die mühevolle Arbeit des prophetischen Sagens in der Weise des Tönens, verweist also auf »den poetischen Prozess«515, wie auch Rainer scharfsinnig betont: »Elis der Dichter verwandelt die Eindrücke und Bilder, die ihn bestürmen, durch höchst bewußtes Formen – seine Stirn ist ›kristallen‹ hart und klar – zum Gedicht. Er prägt mit Hilfe der alten Zeichen seine eigenen neuen. Sein Lied muß das göttliche Wort ersetzen.«516 Entgegen dem frühen prophetischen Dichtungskonzept von einer reinen Aufnahme und simultanen Wiedergabe der Bilder im Reihungsstil unterscheiden sich die Elis-Gedichte, die auf ein konzentriertes Bild – nämlich Elis als Mittelpunkt aller Bilder – fokussiert sind. Ferner gilt: »Erstirbt eines Greisen dunkler Gesang«517, ertönen neue prophetische Stimmen.518

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Vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 48–50; Heinrich, Die Erscheinung Georg Trakls, S. 95f. Schon Rainer folgert prägnant, allerdings ohne Bezugnahme auf das Seher-Motiv: »Die Gestalt des Elis hat daher drei verschiedene Bedeutungen. Sie steht für die verlorene Kindheit des Menschen, den Urzustand schuldlosen, unbewußten Seins. Sie ist aber auch der Dichter, der in der Klage um den Knaben ein Abbild jener Existenzstufe schafft. Und schließlich ist Elis das Geschaffene, das Werk selbst, das die ursprüngliche, vergängliche Schönheit noch einmal beschwört und ihr im Gedicht Dauer zu verleihen sucht« (Rainer, Georg Trakls Elis-Gedichte, S. 412). Vgl. Trakl, Brief an Hermine von Rauterberg, Wien, 05.10.1908, S. 472. Vgl. Trakl, An den Knaben Elis, S. 84. Trakl, Elis (3. Fassung), S. 86. Vgl. Trakl, An den Knaben Elis, S. 84. Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 196. Rainer, Georg Trakls Elis-Gedichte, S. 411f. Trakl, Elis (3. Fassung), S. 85. Mengaldo stellt bereits feinste kleine sprachliche Hölderlin-Anleihen Trakls in seiner mittleren Phase im Anschluss an Böschenstein zusammen: Aber-Konstruktionen, gnomische, apodiktische Sätze mit »ist«, der gelockerte (oftmals daktylische) Rhythmus im freien Vers, zuletzt harte Fügungen (Mengaldo, »Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn«, bes. S. 78).

Im Zentrum steht der ausdrucksvoll leidende Körper, der auch stellvertretend für das Leid der Welt fungiert, wie in »Abendland«:519 »O des Knaben Gestalt / Geformt aus kristallenen Tränen, / Nächtigen Schatten.«520 Dem ewigen Tönen als Klage über den Untergang geht aber auch ein »gerechtes Anschaun«521 voraus, das ein ungefi ltertes Anschauen meint, das allen Dingen gerecht wird, auch eine Offenheit gegenüber Vorbildern an Dichter-Sehern suggeriert, indem es alle Bilder gleichermaßen zulässt.522 Derart ist auch ein überraschender Einbruch einer ethischen Dimension zu beobachten, wie es das zeitlos-iterative Moment der Gerechtigkeit des Elis anzeigt: »O! wie gerecht sind, Elis, alle deine Tage.«523 In der Wiedergabe des Geschauten durch den Dichter-Propheten drohen erst die Ungerechtigkeiten des Wortes.524 Zugespitzt formuliert gleicht das Tönen, der Übergang zur Wortwerdung, einer Art Sündenfall, verglichen mit der unschuldigen Schau des Knaben in aller Stille. Korreliert man die Elis-Figur mit der Dichter-Seher-Vorlage, stellt Elis das reine Dichterdasein und das (drohende) Gebrechen an der Mitteilung dar; changiert die Figur zwischen Sehnsucht nach Stille525 und stellvertretendem Klagen-Müssen des prophetischen Dichters in der Weise des Tönens, verkörpert sie das Paradoxon einer tönenden Stille526. Hierin ist das Fundament von Trakls moderner Anverwandlung der prophetischen Sprache zu verankern: Gewinnt die Klage in »Elis« durch einen reihungsstilartig geprägten Rundblick Gewicht und ist dieses Gedicht durch eine klare Zweiteilung und einen elegischen Charakter gekennzeichnet, dominiert in »An den Knaben Elis« der körperliche Ausdruck als Klage in freien Rhythmen, einer reimlosen Strophenform mit dreizeiligen Strophen und odischem Charakter527. Im »Helian« entspricht »eine in einem Zwischenzustand zwischen Vers und Prosa sich

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Vgl. zur Allusion auf die christliche Vorstellung des stellvertretenden Leidens: »und es trat auf die purpurne Lippe des Odmenden das alte Gebet, sanken von den Lidern kristallne Tränen geweint um die bittere Welt« (Trakl, Offenbarung und Untergang, In: Trakl, Dichtungen und Schriften, Bd. 1, S. 168–170, S. 168). Trakl, Abendland (4. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 139f., S. 139. Vgl. Trakl: »Doch die Seele erfreut gerechtes Anschaun« (Trakl, Helian, S.  69); »Dem einsam Sinnenden löst weißer Mohn die Glieder, / Daß er Gerechtes schaut und Gottes tiefe Freude« (Trakl, Träumerei am Abend. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 290). Diese Form des gerechten Anschauens meint im Grunde nichts anderes als ein »interesseloses Anschaun«, wie es auch Nietzsche dem objektiven Dichter zuschreibt, »weil wir den subjektiven Künstler nur als schlechten Künstler kennen und in jeder Art und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des Subjectiven, Erlösung vom ›Ich‹ und Stillschwiegen jedes individuellen Willens und Gelüstens fordern, ja ohne Objectivität, ohne reines interesseloses Anschaun nie an die geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung glauben können« (Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 42f.). Trakl, Elis (3. Fassung), S. 85. Vgl. Rainer, Georg Trakls Elis-Gedichte, S. 410: »Erst im Aussprechen liegt die Möglichkeit zur Lüge und Perversion der Natur, der Dinge und des Menschen.« Vgl. Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 190. Vgl. ähnlich: Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 124. Vgl. Heselhaus, Die Elis-Gedichte, S. 303.

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artikulierende Syntax«528 einer Simultaneität von unterschiedlichen Grundmythen der Szenerie. Die Art des prophetischen Sprechens529 ist ferner wieder mit dem Tönen – einmal des Dornbuschs, einmal des Windes – korreliert, einer naturhaft-vorsprachlichen Seinsweise, die zwischen Sagen und Schweigen vermittelt.530 Das Tönen von Gottes Wind in »Elis«531 suggeriert eine abwesende Anwesenheit einer gottlosen und doch prophetenvollen Welt, die nun allerdings deutlich fragmentiert ist. Wer letztlich Subjekt und wer Objekt des Tönens ist – einmal die Natur, einmal das Tönen in der Propheten-Figur – bleibt ambivalent.532 Schauen und Tönen bleiben »paradoxe Kräfte«533, wie auch Elis zwischen Ruhe und Bewegung, Totsein und Lebendigsein, Passivität und Aktivität schwebt.534 Die Passion des Elis ist ferner Bedingung für das Dichten. So heißt es auch in »Nachtlied« programmatisch: Triff mich Schmerz! Die Wunde glüht. Dieser Qual hab’ ich nicht acht! Sieh aus meinen Wunden blüht Rätselvoll ein Stern zur Nacht! Triff mich Tod! Ich bin vollbracht.535

Schöner könnte man das Fortleben des Blumen-Sagens (in der Tradition des Novalis stehend)536 – die Himmelfahrt des Elis – nicht ins Bild setzen. Die Metapher des erblühenden Sterns verweist natürlich auf das Gedicht selbst.537 Der letzte Satz alludiert ferner eine christusnahe Verklärung (vgl. Joh 19, 30), die Böschenstein zu Recht für

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Böschenstein, Helian, S. 86. Thauerer vergleicht das »Helian«-Gedicht u.a. mit der »apokalyptischen Bildlichkeit bei Jesaja und Jeremia« (Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 238). Vgl. dazu auch Novalis: »Die Natur ist eine Äolsharfe – sie ist ein musikalisches Instrument – dessen Töne wieder Tasten höherer Saiten in uns sind« (Novalis zitiert nach Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 100). Das Tönen, auch eine musische Ausdrucksform, ist gemäß der Vorstellung der pythagoreischen Sphärenharmonie ursprünglich Ausdruck der Ganzheit des Kosmos. Es kann bei Trakl zum Organ der Stimme Gottes gereichen (»Ein Orgelchoral erfüllte ihn mit Gottes Schauern«, Trakl, Traum und Umnachtung, S. 147). Trakl, Elis (3. Fassung), S. 85. Eine Parallelstelle aus dem Prosagedicht »Traum und Umnachtung« verdeutlicht dies: »Ein umnachteter Seher sang jener an verfallenen Mauern und seine Stimme verschlang Gottes Wind« (Trakl, Traum und Umnachtung, S. 149). Grammatikalisch zweideutig ist, ob des Sehers Stimme Gottes Wind verschlingt oder ob umgekehrt seine Stimme von Gott verschlungen wird. Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 127, vgl. S. 77. Dass es auch ein personalisiertes Tönen gibt, in Erinnerung an den Naturmenschen und Seher Elis, verdeutlichen Verse aus »Hohenburg II«: »Kreuz und Abend; / Umfängt den Tönenden mit purpurnen Armen sein Stern, / Der zu unbewohnten Fenstern hinaufsteigt« (Trakl, Hohenburg (2. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 87). Trakl, Nachtlied (2. Fassung), S. 261. Vgl. Trakl, An Novalis (2. Fassung (a)), S. 325. Vgl. Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 191.

die Helian-Figur veranschlagt,538 ebenso die ecce homo-Gebärde eines Nietzsche. Die verklärende Adaption des Kreuzestods,539 dieses produktive Martyrium, dominiert auch die Fortschreibung der Elis-Figur. Denn diese erfährt, so oft sie fragmentiert, einer neuen Verwandlung unterzogen oder zu Grabe getragen wird, immer wieder eine Reanimierung. Im »Dramenfragment« von 1914 aus dem Nachlass findet sich ein weibliches Pendant zu Elis. Im Gespräch zwischen Pächter und Peter wird der gewaltsame Tod der Tochter, der vermutungsweise vom Bruder (inzestuös) ermordeten Schwester, mit der aus den Elis-Gedichten bekannten märtyrerhaften Körper-Schau beklagt: »Die Schwester singend im Dornenbusch und das Blut rann von ihren silbernen Fingern, Schweiß von der wächsernen Stirne. Wer trank ihr Blut?«540 Hier kehrt also das weibliche Spiegelbild541, die andere Hälfte des Elis, als Opfer eines (wohl auch sexuell konnotierten) Vampirismus wieder. So wie die Figur des Elis fragmentiert in den Elis-Gedichten vorgeführt wird, so erkennt man diese an verkürzten Verweischiffren542 wie einzelnen Adjektiven, Substantiven oder verkürzten Szenerien. Und während in den Elis-Gedichten Merkmale einer neuen »szenischen Sprache«543 erprobt werden, ist das weibliche Pendant des Elis im »Dramenfragment« direkt in ein dramatisches Gespräch eingebunden, das durch die wirren, unzusammenhängenden Gesprächsfetzen indes noch traumhaft umnachteter und dialogzerstörender wirkt. Auf das Gespräch mit einer klagenden Erscheinung hin wählt die Schwester Johanna den Dornbusch-Freitod mit folgenden Worten: »Glühende Schmach, die mich tötet; Elai! Schneeiges Feuer im Mond!«544 Zwar bleiben alle Hintergründe und Personen dieser Untergangsvision im Dunkeln, ebenso die (Sprach-)Figur »Elai«,545 doch

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Vgl. Böschenstein, Helian, S. 93. Vgl. zu Nietzsches Antichrist-Figur: Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte; vgl. Nietzsche: »Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 19). Trakl, Dramenfragment (1914) (1. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 455– 457, S. 455. Das Blut der Heiligen trinkt im Übrigen die Hure Babylon in der »Offenbarung des Johannes« (vgl. Offb 17, 6), auf deren Stirn der Name Babylon steht, Zeichen aller unreinen Geister, und die an den Wassern sitzt und mit welcher die Könige Unzucht getrieben haben (vgl. Offb 17, 1–18). In Döblins Berlin Alexanderplatz werden ebenfalls um den gezeichneten Franz Biberkopf Helfergestalten (z.B. Meck, Mieze) und Luzifergestalten (z.B. Reinhold, der Gegenspieler mit dem gelben Gesicht und den »schrecklichen Querfalten auf der Stirn« (vgl. Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 203)) im Reigen der apokalyptischen Sprüche der Hure Babylon gereiht, um des Protagonisten doppelte Auszeichnung als exemplarischen Menschen vorzuführen (vgl. Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 100, S. 167). Die geheimnisvolle Schrift auf der Stirn der Hure Babylon wird mehrfach deutlich exponiert (vgl. Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 211, S. 226, S. 262, S. 342 u.a.), ebenso die Zweiteilung der Welt in »Zucker« und »Dreck« (vgl. Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 392, S. 408). Vgl. Trakl, Nachtlied III, S. 68. Vgl. Esselborn, Trakls Knabenmythos, S. 181. Esselborn, Trakls Knabenmythos, S. 181. Trakl, Dramenfragment (1914) (1. Fassung), S. 457. Vgl. Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 83.

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könnte der Ausruf »Elai!«546 an die letzten Kreuzesworte Jesu gemahnen.547 Die Kontrafaktur der biblischen Kreuzes-Szene des Propheten Jesu bestünde dann darin, dass, wie es im »Nachtlied« zumindest schon anklingt, eine Auferstehung (der Liebenden) – wie noch im ersten Teil von »Elis« angedeutet – im Sinne einer erneuten Schau von Angesicht zu Angesicht verwehrt ist: […] Sanfter Dreiklang Verklingt in einem. Elai! dein Antlitz Beugt sich sprachlos über bläuliche Wasser. O! ihr stillen Spiegel der Wahrheit. An des einsamen elfenbeinerner Schläfe Erscheint der Abglanz gefallener Engel.548

Der Blick in die »Spiegel der Wahrheit«, initiiert durch eine narzisstische Geste der Selbstschau, könnte jedenfalls auf das »Hohelied der Liebe« (vgl. 1. Kor 13) anspielen,549 und während Gottes Angesicht hinsichtlich des narzisstischen Inzests bei Trakl verborgen bleibt, zeigt sich auf der reinen Stirn der Propheten-Figurationen das doppelte Zeichen von Reinheit und Unreinheit, Unschuld und Schuld, Verklärung und Deformation des Körpers. Spätestens hier ist die Wahrhaftigkeit der ProphetenFigur durch den Einbruch der schuldhaften (sexuellen) Entgrenzung bedrängt, wie es beim frühen Trakl noch auseinanderdividiert vorgestellt ist.550 Die Propheten-Figurationen werden durch die Vermengung von Wahrhaftigkeit und Wollust noch doppeldeutiger. Als sprachliches Pendant dominieren paradoxe Sprachgebilde die Szene, wie beispielsweise »schneeiges Feuer«551 als contradictio in adjecto.552 Das zu Trennende strebt scheinbar zusammen. Aber nicht nur Helians (ihn charismatisierendes)

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In »Fragment II« wird ebenfalls eine Christusanalogie evoziert: »Ein Kreuz ragt Elis / Dein Leib auf dämmernden Pfaden« (Trakl, Fragment 2: Ein Kreuz ragt Elis. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 429). Vgl. die letzte Worte des Gekreuzigten: »Um die neunte Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lema sabachtani?, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Einige von denen, die dabeistanden und es hörten, sagten: Er ruft nach Elija« (Mt 27, 46–47). Trakl, Nachtlied III, S. 68. Im »Hohelied der Liebe« wird ferner die Liebe als höchste Tugend über die prophetische Rede gestellt (»Die Liebe hört niemals auf. / Prophetisches Reden hat ein Ende« (1. Kor 13, 8)). Vgl. zur Spiegelmetaphorik: »Jetzt schauen wir in einen Spiegel / und sehen nur rätselhafte Umrisse, / dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. / Jetzt erkenne ich unvollkommen, / dann aber werde ich durch und durch erkennen, / so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin« (1. Kor 13, 12). Nach Nietzsche ist es übrigens der Mönch im Mond, der sich lüstern der Erde bemächtigt im Rahmen einer unbefleckten Empfängnis (vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 156. Vgl. zum Mond als Inzestmotiv bei Trakl: Kemper, Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, S. 159; Kleefeld, Ein Zeichen, deutungslos?, S. 161–196). Trakl, Dramenfragment (1914) (1. Fassung), S. 457. Vgl. etwa auch: »Ein Herz / Erstarrt in schneeiger Stille« (Trakl, Vorhölle. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 133).

Stigma seiner von Schnee und Aussatz gezeichneten Stirn wird der Doppelgängerin des Elis einverleibt,553 ferner der Einbruch des Dionysisch-Apokalyptischen erneut und mit aller Deutlichkeit vorgestellt, sondern auch die Propheten-Dichter-Vorgänger kommen wieder zu Wort. Die Systematik der doppelten Zeichen (auch von Wohllaut und Dissonanz), einer Mehrdeutigkeit als System, ist von Hölderlin, Nietzsche und der Symbolik der »Johannes-Offenbarung« herleitbar. Ferner sind für Nietzsche bekanntlich die Dichter nichts als Lügner,554 doch sind sie auch interessante Mittlerfiguren, wie der Kunst-Prophet Zarathustra, »Halb-und-Halbe und Unreinliche«555. Das Unreine bedrängt den Propheten-Dichter bei Nietzsche ebenfalls, sofern er wie Zarathustra nicht nur ein »Brecher« der alten Tafeln ist, sondern auch ein »Verbrecher«556. Der ganze Zarathustra sei schließlich als ein Dithyrambus auf die Reinheit zu lesen.557 Nietzsche berücksichtigt die Dichotomie zwischen der Weite des reinen Himmels und dem Gegenbild, der bedrohlichen, monastrischen Abgeschlossenheit der Mauern, wie bei Trakl: »Und erst wenn der reine Himmel wieder durch zerbrochne Decken blickt, und hinab auf Gras und rothen Mohn an zerbrochnen Mauern – will ich den Stätten dieses Gottes wieder mein Herz zuwenden.«558 Daran anschließend drängt sich die Frage nach der moralischen Qualität der Dichter-Seher auf: Ist er »ein Guter? Oder ein Böser?«559 Hölderlins, Rimbauds und Nietzsches Konzepte des unrein-reinen vates-Dichters, die Trakl aufgreift, sind diesbezüglich aufschlussreich.

VI.8. Von Hölderlin über Nietzsche und Rimbaud zu Trakl: Unreine Reinheitspoetik oder Mehrdeutigkeit als System Wendungen wie »Wenn es Herbst geworden ist / Zeigt sich nüchterne Klarheit im Hain«560 im »Helian«, »Da erbleicht von Küssen / Die trunkne Stirn ihm«561 in »Die Sonnenblumen« und »O sanfte Trunkenheit / Im gleitenden Kahn«562 in Trakls »Frühling der Seele« alludieren das von Hölderlin her bekannte Konzept der sobria ebrietas, der nüchternen Trunkenheit.563 Es spielt bei Trakls Hölderlin-Anleihen eine zentrale Rolle, und zwar nicht nur als Bildungs-Zitat oder als eindimensio-

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Vgl. Trakl, Helian, S. 73. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 163f. u. S. 371f. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 165. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 26, vgl. S. 266. Vgl. Nietzsche, Ecce homo, S. 276. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 118. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 179. Trakl, Helian, S. 69. Trakl, Die Sonnenblumen. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 353. Trakl, Frühling der Seele II. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 141f., S. 141. »Und von trunkener Stirn’ höher Besinnen entspringt«, heißt es im Fragment »Der Gang aufs Land« von Friedrich Hölderlin (Hölderlin zitiert nach Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 21).

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nale Reminiszenz an Hölderlin,564 sondern auch als leitende Denkfigur von Trakls Seher-Poetik in Form einer zugespitzten Variante: Trakls prophetische Seher-Figur changiert als Grenzfigur zwischen Heilsgestalt und Verbrecher. Es liegt ein unauflösbares Bedingungsverhältnis von Erhöhung und Erniedrigung der Seher-Gestalt vor, wovon schon einige Passagen in Trakls Briefen, wie oben aufgezeigt, beredtes Zeugnis ablegen.565 Hierin folgt Trakl keinen anderen als seinen großen Seher-Vorbildern Rimbaud und Hölderlin, aber auch Nietzsche mit ihren Seher-Porträts, ferner sind prophetische Motive aus der »Offenbarung des Johannes« dazugestellt. Insofern sind Trakls prophetische Figuren nicht nur Chiffren einer individuellen Welt Trakl’scher Geheimzeichen, sondern sie implizieren eine konsequente Fortführung und Tradierung des Dichter-Seher-Autorschaftsbildes von ihren Anfängen in der Bibel, bei Hölderlin und später bei Rimbaud und Nietzsche. Sie setzen – analog zur Rezeption des Propheten-Dichterbildes – poetologische Energien frei: Der kontrastiven und sich um das Dichter-Propheten-Bild rankenden Vermischung von Unreinem und Reinem sind sprachliche Äquivalente zuzuordnen. Im Folgenden soll deswegen in aller Kürze die Figur der sobria ebrietas samt ihrer Korrelation mit der Figur des Dichter-Propheten bei Hölderlin erinnert werden. So zeigt sich, dass diese Figur bei Trakl – im Umfeld der zentralen Kategorien ›Reinheit‹ und ›Unreinheit‹ – systematisch aufgegriffen und mit seinen Propheten-Figurationen korreliert wird. Wenn man die vates-Konzepte bei Hölderlin und Trakl vergleicht, wird ersichtlich, dass Trakl eine schon bei Hölderlin angelegte Komponente des Dichter-Sehers, das Unreine, vertieft. Die notwendige Verunreinigung des Dichter-Sehers betonen auch Nietzsche und Rimbaud. Zwar treten die Rimbaud entlehnten Standbilder zugunsten eines hymnisch erhöhenden, prosaferneren Tons in der Tradition Hölderlins zurück, doch bleibt Rimbauds Konzept des unrein-reinen Dichters präsent: »Ich, der ich mich Magier und Engel geheißen habe, jeder Moral überhoben […].«566 Nietzsche gewinnt beim späten Trakl sprachlich an Einfluss, ebenso seine Seher-Figur Zarathustra mit unreinen Zügen. Mittels einer vergleichenden Lektüre der hier zu verhandelnden Künstler-Propheten lässt sich nebenbei die »Geschichte der reinen Poesie«567 breiter auffächern.

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Böschenstein identifiziert bereits einige Hölderlin’sche Wort- und Bildfelder bei Trakl und liefert ferner Hinweise auf den elegisch-hymnischen Ton beim späten Trakl (vgl. dazu ausführlich: Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud). Vgl. auch zu Trakls ambivalenter Hölderlin-Rezeption in »An einen Frühverstorbenen«: Klessinger, Krisis der Moderne, S. 115ff. Vgl. das Kapitel VI.2. Rimbaud, Une saison en enfer. Ein Aufenthalt in der Hölle, S. 355; vgl. Böschenstein, Helian, S. 90. Vgl. Brokoff, Geschichte der reinen Poesie; vgl. meine Rezension: G. Wacker: Rezension zu Jürgen Brokoff, Geschichte der reinen Poesie. Die Geschichte der reinen Poesie, die an sich ein reizvolles Unternehmen darstellt, ist eine ›Geschichte des reinen Poeten‹ an die Seite zu stellen. Brokoff streift zwar die Vorstellung des reinen Poeten kurz, aber betont nur einseitig dessen Verballhornung bei Hebbel und Geibel (vgl. Brokoff, Geschichte der reinen Poesie,

VI.8.1. Exkurs: Hölderlins poeta vates: Reinheit als Bedingung prophetischer Poetik? Hölderlin ist längst als einer der klassischen Dichter-Propheten kanonisiert.568 Er misst sich am Paradigma der »Klopstockgröße«, was den inspirierten Dichter bereits im Spannungsfeld von imitatio, aemulatio und creatio situiert.569 Dass Hölderlin als paradigmatischer Dichter für eine Reflexion des prophetischen Dichtens anzusehen ist, hat zuletzt Malinowski eingehend ausbuchstabiert.570 Auch Lawrence Ryan hat sich schon früh der prophetischen Grundierung Hölderlin’scher Dichtungskonzeption zugewandt und betont, dass Hölderlin eine »spezifische Ausprägung eines Prophetentums, das im Verkünden des ›reines Worts‹ [sic], eben im Hervor-Sagen des Göttlichen besteht«571, fokussiert: »Die Verfahrungsweise des poetischen Geistes ist selber der Beweis für die Möglichkeit des Prophetischen: das Fühlbarwerden des Ganzen, die Äußerung des Göttlichen, ist das eigentlichste Wesen der dichterischen Sprache überhaupt.«572 Für Hölderlins poetologische Parameter sind bekanntlich sowohl die mystisch inspirierte Figur der sobria ebrietas als auch das Dichterbild des poeta vates zentral. Jochen Schmidt hat anschaulich in seiner Interpretation von »Hälfte des Lebens«, wo der Schwan als Sinnbild des Dichters fungiert, das Oxymoron »nüchterne Trunkenheit«, die Figur der sobria ebrietas, bei Hölderlin verortet.573 Die vollendete Form idealen Dichtertums wird demnach im ersten Teil von »Hälfte des Lebens« (verfasst 1803, veröffentlicht 1804) vorgeführt:

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S. 887f.). Was für einen Radius der reine Poet als Seher und als Garant einer reinen Poesie – insbesondere bei Trakl – entfaltet, soll im Folgenden diskutiert werden. Vgl. dazu im Überblick: Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 116–200; Muschg, Tragische Literaturgeschichte, S. 136ff. Vgl. zu Klopstock detailliert: Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 47–115. Kemper weist die »Usurpation charismatischen Sprechens« bei Klopstock im Spannungsfeld zwischen prätendiert inspirierter Rede und hochartifiziellem poetischen Konstrukt im Zeichen eines inszenierten Charismas nach (vgl. Kemper, »Ich wie Gott!«, bes. S. 91ff.). Vgl. zu Klopstocks heiliger Poesie ferner: Jacob, Heilige Poesie, bes. S. 135–150; Muschg, Tragische Literaturgeschichte, S. 125ff. Vgl. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 144f.: »Dichtung ist Prophetie, weil sie den höheren göttlichen Zusammenhang dem Menschen in seiner konkreten Lebenssituation vermittelt; Prophetie ist Dichtung, weil sie die individuelle Formung und Gestaltung dessen ist, was sich dem prophetischen Geist im Augenblick des Übergangs als ›unendliche Form‹ offenbart. Prophetische Dichtung ist gleichsam die individuell ›anverwandelte‹ Sprache des universalen Gottes. Sie bringt die Identität von Identität und Unterschiedenheit zum Ausdruck, indem sie jene Sphären von Mensch und Gott, Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit, Sinn und ›Über-Sinn‹ harmonisch vermittelt.« L. Ryan, Hölderlins prophetische Dichtung. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 6, 1962, S. 194–228, S. 196. Ryan, Hölderlins prophetische Dichtung, S. 218. Vgl. J. Schmidt, Sobria ebrietas. Hölderlins »Hälfte des Lebens«. In: Gedichte und Interpretationen, Bd. 3: Klassik und Romantik, hg. von Wulf Segebrecht, Stuttgart 1984, S. 257–267, S. 262f.

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Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser.574

Das simultane Zusammenwirken von Nüchternheit und Trunkenheit, Besonnenheit und Begeisterung, ars und ingenium kennzeichnet das vollendete Dichtertum, auch mit Blick auf Hölderlins Konzeption des Harmonischen, des ›Einigentgegengesetzten‹.575 Es dient nach Schmidt »zur Charakterisierung der mystischen Vollendung im rauschhaften (›trunkenen‹) und zugleich erkenntnishaften (›nüchternen‹) Innewerden des göttlichen Geistes«576, in der Provenienz der rhetorischen Tradition von Pseudo-Longinus’ Vom Erhabenen577 stehend. An die Flüchtigkeit des vollendeten Augenblicks wird im zweiten Teil des Gedichts gemahnt, wo die winterliche Erstarrung das Blumen-Sagen578 der Dichter – denn die Blume gilt in der Rhetorik als eine Metapher für das dichterische Wort –579 unterminiert. Im Zuge dieser anklingenden Sprachskepsis wandelt sich der hymnische Ton zur elegischen Klage des lyrischen Ich im Fortgang:580 Weh mir, wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen.581

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Hölderlin, Hälfte des Lebens. In: Hölderlin, StA, Bd. II/1, S. 117. Vgl. J. Schmidt, Sobria ebrietas, S. 260. J. Schmidt, Sobria ebrietas, S. 265. Longinus, Vom Erhabenen. Vgl. Hölderlin, Brod und Wein, S.  93: »Nun, nun müssen dafür Worte, wie Blumen, entstehn.« Vgl. Annette Hornbacher, Die Blume des Mundes. Zu Hölderlins poetologischpoetischem Sprachdenken, Würzburg 1995. Schon in der antiken Poetik finden sich zahlreiche Beispiele für die Blume als Metapher der Dichtkunst, etwa bei Pindar, Olympische Oden. Übersetzt von Franz Dornseiff. Einführung von William H. Race, Athen 2004, 6, 105. Oder bei Horaz, Carmina 1, 26, 6ff. Winfried Menninghaus macht in seiner Interpretation die »allegorische Metrik« stark, wonach durch Verwendung des metrischen Adoneus des letzten Satzes (als ritueller Klageruf ) der Dichterin Sappho auf sprachlose Art gehuldigt werde und weswegen gleichsam Pindars Einflüsse, vom George-Kreis überbetont, zu relativieren seien (vgl. W. Menninghaus, Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik, Frankfurt am Main 2005). Hölderlin, Hälfte des Lebens, S. 117.

Das Idealziel einer ästhetischen Einheit ist in der Hölderlin’schen Variante auf ekstatisch-nüchterne Momente beschränkt.582 Diese zwei Hälften des Lebens greift Trakl mehrfach auf, insbesondere das eindrucksvollste poetische Bild für die Sprachlosigkeit: die Mauern. Zwar bilanziert Böschenstein zu Recht, dass Hölderlin in »Trakls Dichtung zum winterlichen Dichter« stilisiert wird, indem »die ›Mauern‹ und ›sprachlos‹ als Chiffren vor allem der späten Gedichte Trakls«583 in den Vordergrund treten,584 doch ist diese drohende Sprachlosigkeit auch von einer Utopie des anderen Sprechens, des auch mystisch geprägten paradoxen Sprechens bei Trakl begleitet,585 wie es in den Elis-Gedichten und im »Helian« bereits anklingt.586 Das in »Hälfte des Lebens« aufgerufene Konzept der sobria ebrietas ist mit Hölderlins Vorstellung des enthusiasmierten Sängers zu verknüpfen. In seiner unvollendeten ›Feiertags-Hymne‹587 (1799/1800 entstanden) sind die Möglichkeiten und Grenzen des Dichters als vates, als gottbegeisterter Sänger, am eindrücklichsten reflektiert:588 Die spinozistisch geprägte, »göttlichschöne Natur« (Vers 13) (natura naturans) fungiert als Initialzündung der Begeisterung (vgl. Vers 26/27): Deren Transformation setzt den prophetischen Gesang frei: »Jetzt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen, / Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort« (Vers 19/20). Die usurpatorische Wortergreifung ist als Reaktion des inspirierten Sängers auf das

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Vgl. J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 416. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 24. In Hölderlins Hyperion wird im Übrigen schon die Metapher der Blumen mit der Winterzeit assoziiert: »Einen Sterbekranz hätt ich gern mir gewunden, aber ich hatte nur Winterblumen« (Hölderlin, Hyperion, S. 741). Vgl. zum mystischen Motiv der Mauer als Grenze: Haas, Mystik als Aussage, S. 165. Möglicherweise ist Elis nämlich nicht zufällig als Blume (Hyazinthe) (vgl. Trakl, An den Knaben Elis, S. 84) und Helian als Sonnenschein (»gelbe Mauern des Sommers« (Trakl, Helian, S.  69)) bzw. Sonnengott in einer winterlichen Zeit (»Schweigen des Winters« (Trakl, Helian, S.  71)) konzipiert. Und sicherlich nicht zufällig sind beide Figuren als Propheten-Figurationen entworfen. Und in »Elis« tönt »an schwarzen Mauern Gottes einsamer Wind« (Trakl, Elis (3.  Fassung), S.  86), wohingegen bei Hölderlin die Fahnen klirren. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage…, S. 118f. Vgl. dazu die kurze Ausführung im Kapitel III.3.2. Vgl. Ryan, Hölderlins prophetische Dichtung, S. 201f.; Vöhler, Exploration statt Inspiration, S. 75–91. Auch die bekannte HölderlinHymne »Patmos« (wohl entstanden 1802/1803) wird als prominente »Chiffre prophetischheiliger Rede, zur Gedächtnisformel religiös-mythischer Ereignisse und zum zeichenhaften Hoffnungsträger einer im Sinne dieser Mythen sich vollendenden Zukunft« (Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 151) gelesen: Hier wird eine Geburt des deutschen Gesangs aus dem Geist des Prophetischen initiiert (vgl. Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 149–200). Gerhard Kurz erläutert erhellend, dass der Gesang »den pindarisierenden, synkopischen, der gesprochenen Sprache angenäherten Stil, die Nähe von Sänger und Hörer« im Gegensatz zum geschriebenen Wort des Dichters akzentuiert (G. Kurz, Der deutsche Schriftsteller. Hölderlin. In: Metamorphosen des Dichters. Das Rollenverständnis deutscher Schriftsteller vom Barock bis zur Gegenwart, hg. von Gunter E. Grimm, Frankfurt am Main 1992, S. 120–134, S. 133).

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über ihn hereinbrechende Geschehen der Inspiration – hier im Bild des Gewitters und des Naturerwachens vorgestellt – zu erkennen. Wie der Übergang von der inspirativen Schau des Heiligen zu ihrer Fassung im dichterischen Wort des Sängers, d.h. von der Schau des Allgemeinen zur individuellen vates-Verkündung, vor sich geht, kann als eine der Leitfragen der Hölderlin’schen Dichtung angesehen werden. Insbesondere das Postulat des Maßhaltens im Zustand der Begeisterung wird durch Hölderlins Konzeption des graduell abgestuften Enthusiasmus untermauert. Die »Genealogie der Begeisterung, ihren schöpferischen Vollzug in der dichterischen Arbeit und schließlich die Dimension der Begeisterungsübertragung«589 sind in den drei Triaden der Hymne thematisiert. In der ›Feiertags-Hymne‹ ist der »Prozeß des Bewußtwerdens«590 der inspirativ wirkenden, objektiven Allnatur in der subjektiven Aneignung des lyrischen Ich dargestellt. Kulminationspunkt des ins Bild gesetzten Inspirationsgeschehens ist es, dass »der Götter und Menschen Werk / Der Gesang, damit er beiden zeuge, glükt« (Vers 48/49): also die Geburt des Gesangs aus dem Geist der Inspiration. An der Schnittstelle von Göttlichem und Menschlichem angesiedelt, eignet dem prophetischen Gesang demnach eine Vermittlungsfunktion, die wiederum die Vermittlerfigur des vates zu schultern hat: Der Dichter fungiert als poeta vates, als ein von Gott oder der göttlichen Natur enthusiasmierter Sänger, der als ›Blitzableiter‹, also in Form der kanalisierten Begeisterung, den Menschen die heilige Kunde im Lied/Gesang konsumierbar weiterleitet: […] Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, Des Vaters Stral, ihn selbst, mit eigner Hand Zu fassen und dem Volk ins Lied Gehüllt die himmlische Gaabe zu reichen. Denn sind nur reinen Herzens, Wie Kinder, wir, sind schuldlos unsere Hände, Des Vaters Stral, der reine, versengt es nicht Und tieferschüttert, die Leiden des Stärkeren Mitleidend, bleibt in den hochherstürzenden Stürmen Des Gottes, wenn er nahet, das Herz doch fest. […]591

Der Seher ist also einerseits auf die Gabe der Inspiration angewiesen, andererseits als Medium des göttlichen Gesangs aktiv, da er ihn dem Volk zu vermitteln hat. Der Inspirationstopos wird bei Hölderlin wie auch bei Trakl typischerweise im Bild der archaischen Naturgewalt (Gewitter, Blitz, Sturm u.a.) gefasst.592 Die Unverfügbarkeit

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Vöhler, Exploration statt Inspiration, S. 78. J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 423. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage…, S. 119f. Vöhler nennt berechtigterweise als Vorlage für die Gewittermetaphorik neben Klopstocks »Frühlingsfeyer« auch die biblische Tradition der Gewitteroffenbarung (vgl. Vöhler, Ex-

der Auszeichnung verweist auf das passive Ergriffensein des enthusiasmierten Dichters, dessen Begeisterung das »blitzartige Gelingen der Synthese«593 von Subjekt und Objekt, Individuellem und Allgemeinem, Erinnerung und Zukunftsschau, Kunst und Geschichte/Natur sowie deren Gesetze (vgl. Vers 24) im Kunstwerk fundiert. Im Konzept des vates ist ferner die Kategorie des Reinen von Bedeutung. Aufgrund ihres reinen Herzens (vgl. Vers 61) sind die Dichter-Künder auserwählt und vom göttlichen Feuer der Inspiration entbrannt. Neben die Bezugnahme auf ein griechisch fundiertes vates-Modell tritt das biblische Bild vom charismatisierten Menschen, wie dem Propheten, der nunmehr auf die göttliche Natur rückbezogen ist. Die christlichreligiös konnotierte Kategorie der Reinheit, denn »das ›entblößte Haupt‹, das ›reine Herz‹ und die ›schuldlosen Hände‹ verweisen auf biblische Kontexte, wie etwa auf den Psalm 24,3, der die Unschuld und Reinheit des Herzens zur Voraussetzung der Gottesbegegnung macht«594, erinnert an die notwendige Wahrung der Grenzen zwischen Göttern und Menschen:595 »Respektieren Gott und Mensch diese Grenzen, so bleiben sie trotz äußerster Nähe getrennt.«596 Diese nahe Ferne, die den Bezug des Dichter-Sehers zu einer übergeordneten Instanz kennzeichnet, ist ähnlich wie die Figur der sobria ebrietas konstruiert. Ist die Reinheit des Dichter-Sehers Bedingung für die Rezeption des reinen Gottes-Worts (»Des Vaters Stral, der reine« (Vers 63)),597 ist doch der graduelle Unterschied zwischen dem reinen Herzen des Menschen und der Reinheit der göttlichen Natur zu respektieren. Eine Überschreitung der Grenze zwischen den Göttern/der göttlichen Natur und der menschlichen Sphäre ist mit einer maßlosen, inspirativen Entgrenzung zu parallelisieren, die zur Wiederherstellung der Ordnung im Sinne eines Unterscheidens zwischen Reinheit und Unreinheit den Tod des hybriden Menschen, wie denjenigen der Semele, fordert:598 Martin Vöhler erkennt in der Geburt des Dionysos (vgl. Vers 50f.) als Frucht der hybriden, weil einem »Übermaß der Begeisterung« verfallenden Semele die »Gefahr der unverhüllten Offenbarung«.599 Auch Hölderlin thematisiert die oppositionelle Frontstellung der falschen Priester, falschen Propheten600 oder Schwärmer als Widerpart des reinen, prophetischen Dichters. Sie nähern sich im Gegensatz zu diesem unrein und eigen-

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ploration statt Inspiration, S. 85). Das Gewitter als Offenbarungsmedium Gottes (christlicher Gott, antiker Gott Zeus) ist antiken und biblischen Ursprungs (vgl. Homer, Ilias, I, 517; Hiob 38, 1, Mt 16, 3). J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 426. Vöhler, Exploration statt Inspiration, S. 83. Vgl. zum reinen Herz in der Bibel: Ps 24, 4: »Wer darf hinaufziehn zum Berg des Herrn, / wer darf stehn an seiner heiligen Stätte? / Der reine Hände hat und ein lauteres Herz, / der nicht betrügt und keinen Meineid schwört«; Ps 51, 12: »Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz, / und gib mir einen neuen beständigen Geist.« Vöhler, Exploration statt Inspiration, S. 83. Vgl. Ps 18, 27: »Gegen den Reinen zeigst du dich rein, / doch falsch gegen den Falschen.« Vgl. Vöhler, Exploration statt Inspiration, S. 83. Vöhler, Exploration statt Inspiration, S. 81. Vgl. etwa Jer 14, 15; Jer 23, 9–32; Hes 13, 1–23.

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mächtig dem Göttlichen, so auch die Klage des lyrischen Ich in den letzten Versen der Hymne.601 Doch weh mir! wenn von Weh mir! Und sag ich gleich, Ich sei genaht, die Himmlischen zu schauen, Sie selbst, sie werfen mich tief unter die Lebenden Den falschen Priester, ins Dunkel, daß ich Das warnende Lied den Gelehrigen singe. Dort602

Vöhler sieht in diesem hypothetischen Fall603 des Begeisterungsüberschwangs zu Recht eine Modifi kation des Enthusiasmoskonzepts in Hölderlins Frühwerk.604 Die christlichen Werte Demut, Reinheit, Unschuld sind nunmehr die Bedingung für eine gelingende Inspirationserfahrung, die einer Semele aufgrund ihrer »Umkehrung der Offenbarungsrichtung«605 ermangeln.606 Diesen tragischen Fall des veruntreuten Priesters und falschen Propheten vertieft Hölderlin anhand des Empedokles-Schicksals in Der Tod des Empedokles (wohl entstanden zwischen 1797 bis 1800).607 Empedokles’ eigenmächtige Erhöhung gegenüber der göttlichen Natur offenbart nämlich seine radikale Seinsvergessenheit als selbstherrlicher Volksführer. Indem er mit seinem Dichterwort lange nicht mehr die Götter erschafft und sich damit auch nicht mehr als deren Diener und dem der Menschen erweist, betreibt er eine »blasphemische Ver-

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Am Beispiel von Heideggers Interpretation der fragmentarischen Hymne »Wie wenn am Feiertage…« zeigt Muschg, dass dieser die achte Strophe unterschlagen muss, um seine zeitgemäße Phantasie von Hölderlin als Seher und auserwähltem Mittler zwischen Göttern und Menschen zu stützen. »Das ist«, kommentiert Muschg kompromisslos, »eine plumpe Fälschung. Die zerbrechende Schlussstrophe stellt für jeden, der lesen kann und will, den messianischen Glauben Hölderlins in Frage. Er stimmt in ihr das ›Weh mir!‹ über den ›falschen Priester‹ an, der sich unberufen den Himmlischen naht […]« (Muschg, Die Zerstörung der deutschen Literatur und andere Essays, hg. von Winfried Stephan u. Julian Schütt, Zürich 2009, S.  218). Das ist missverständlich, denn die Artikulation der Gefahren des falschen Priesters negiert ja nicht zwangsläufig die zuvor geschilderte Konzeption des wahren Dichter-Propheten. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage…, S. 120. Vgl. Momme Mommsen, Die Problematik des Priestertums bei Hölderlin. In: HölderlinJahrbuch, 15, 1967/68, S. 53–74, S. 60. Vgl. Vöhler, Exploration statt Inspiration, S. 84f. Gellhaus, Enthusiasmos und Kalkül, S. 294. Vgl. Vöhler, Exploration statt Inspiration, S. 83. Vgl. zur »prophetischen Schuld« des Empedokles Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S.  139–142. Vgl. auch Hölderlins »Die scheinheiligen Dichter«: Hölderlin, Die scheinheiligen Dichter. In: Hölderlin, StA, Bd. I/1, S. 257.

schmelzung von Individuellem und Göttlichem: Empedokles sieht sich nicht mehr als Diener und Prophet der göttlichen Natur, sondern als deren Beherrscher«608. Auch Hyperion blickt mit Wehmut auf diese radikale, selbstzerstörerische Entgrenzung des Empedokles.609 So avanciert Empedokles bei Hölderlin zum Mahnmal für eine anmaßende Selbstvergottung und hybride Schwärmerei. Ja mehr noch, er mutiert zum Zeugnis der zeitgenössischen Genie-Kritik.610 Die sich anbahnenden Differenzen zwischen Genie-Kult und vates-Dichtertum sind daran ablesbar: Zwar bedient sich Hölderlin auch der »Genie-Metapher des Stromes«611 (z.B. in seiner »Rheinhymne«) im Kampf gegen eine einseitige Regelpoetik und favorisiert eine schöpferische Naturanlage des Menschen,612 doch setzt sich der vates-Dichter nicht selbst absolut, sondern bleibt stets bezogen auf ein anderes: die göttliche Natur als Urgrund der Inspiration prophetischer Rede. Der Dichter-Prophet bei Hölderlin ist also nicht mit dem Genie gleichzusetzen, er ist vielmehr ein Produkt der kritischen Modifi kation des Genie-Begriffs: Während die Genie-Vorstellung von der absoluten Aktivität des sich absolut setzenden Ich geleitet ist, kennzeichnet den Dichter-Propheten ein »passive[s] Moment der Empfindsamkeit«613 (der Reinheit des Herzens, in pietistischer Tradition stehend). Und während das Genie alle Grenzen prometheisch sprengt, sieht sich der vates bei Hölderlin auf begrenzende Faktoren zurückgeworfen. Dem hehren Anspruch auf eine absolute Autonomie (Genie) wird das Konzept einer Vermittlung von Autonomie und Heteronomie (Prophet/Seher) entgegengesetzt.614 Empedokles’ durch Suizid initiierter Rückgang in die göttliche Natur impliziert schließlich seine freiwillige Loslösung vom Dichter-Amt, verdeutlicht durch den extremen Wandel vom Alles-Sager zum Schweigenden. Indem Hölderlin immer wieder seine These von einer graduellen Konzeption des Enthusiasmus verficht,615 die auf notwendige Grenzen des Enthusiasmus, der in-

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Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 140. Vgl. Hölderlin, Hyperion, S. 736. Nach Schmidt greift Hölderlin den antiken Stoff nur auf, »weil für ihn die mythische Sünde des griechischen Weisen Chiffre eines seit der Geniezeit aktuellen Themas ist. Nur, weil damit das Grundproblem des modernen Subjektivismus getroffen ist, die fragwürdige Absolutsetzung des schöpferischen Subjekts selbst, wie sie ihm aus Fichtes Philosophie am deutlichsten entgegentrat« ( J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 412). J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 410. Vgl. J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 405f. J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 426; siehe zur zentralen Rolle des reinen Herzens im Pietismus: Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd.  6.1: Empfindsamkeit, Tübingen 1997, bes. S. 19ff. Schmidt betont ebenfalls, »daß der Dichter als Inbegriff des Genialen bei Hölderlin nicht selbst schöpferischer Ursprung ist – dieser liegt im ›Göttlichen‹ der großen Natur. Aber er besitzt eine einzigartige Ursprungsnähe. Sie bedeutet zugleich eine Teilhabe am Ursprünglichen selbst« ( J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 429). Vgl. zur Gradation der Begeisterung bei Hölderlin: »Es gibt Grade der Begeisterung. Von der Lustigkeit an, der wohl die unterste ist, bis zur Begeisterung des Feldherrn der mitten in der Schlacht unter Besonnenheit den Genius mächtig hält, gibt es eine unendliche Stufenleiter.

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spirativen Erfahrung pocht, verabschiedet er ein Modell der absoluten Ekstase des Dichters, eines unkontrollierten Außer-sich-Seins, einer vollständigen dionysischen Entgrenzung (mit Nietzsches Worten), eines einseitigen Prozesses der Entselbstigung (mit Goethes Worten), so etwa in folgendem zentralen Aphorismus (datiert auf 1799) konzentriert dargelegt: Das ist das Maas Begeisterung, das jedem Einzelnen gegeben ist, daß der eine bei größerem, der andere nur bei schwächerem Feuer die Besinnung noch im nöthigen Grade behält. Da wo die Nüchternheit dich verläßt, da ist die Gränze deiner Begeisterung. Der große Dichter ist niemals von sich selbst verlassen, er mag sich so weit über sich selbst erheben als er will.616

Ein ›Schuss‹ Nüchternheit muss die Begeisterung (durch die Metaphorik des Feuers aufgerufen) im Zaun halten, d.h., sie auf ein verträgliches Maß hin regulieren; Hölderlins Theorie vom begrenzenden Maßhalten funktioniert ähnlich wie die aristotelische Mesotes-Lehre.617 Anhand der Kategorie des Reinen verdeutlicht Hölderlin weiterhin sein Programm der nüchternen Trunkenheit: Er kennt nicht nur die moralisch-ethische Dimension des Reinen, den vates-Dichter mit reinem Herzen, sondern auch eine erkenntnistheoretische, mittels derer der Blick auf das Ganze möglich ist:618

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Auf dieser auf- und abzusteigen ist Beruf und Wonne des Dichters« (Hölderlin, Reflexion. In: Hölderlin, Sämtliche Werke, 6 Bde., Bd. 4, Stuttgart 1962, S. 243–247, S. 243). Der Begriff der Stufenleiter erinnert dabei zum einen an das platonische Stufenmodell des Eros zum Schönen im platonischen Dialog Symposion (Platon, Symposion, 210aff.), zum anderen an die Vorstellung der Aurea Catena Homeri, der goldenen Kette der Wesen, wie sie im hermetischen Umfeld seit Homer kursiert und ähnlich von Schiller etwa in seiner »Theosophie des Julius« mehrfach aufgegriffen wird, wo es heißt: Liebe ist »die Leiter, worauf wir emporklimmen zu Gottähnlichkeit« (Schiller, Philosophische Briefe. In: Schiller, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Otto Dann u.a., Frankfurt am Main 1988ff., Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz u.a., Frankfurt am Main 1992, S. 208–233, S. 227), da die »Anziehung der Geister« (Schiller, Philosophische Briefe, S. 227) die Teilung der göttlichen Substanz aufhebt und somit wieder Gott hervorbringt. Die brüderliche Einheit – erworben durch eine Überwindung der Trennung der Individuen – reicht, der »Kette des Seins« aus »tausendfache[n] Stufen« (Schiller, Philosophische Briefe, S. 228) gemäß, »vom Barbaren bis zum griech’schen Seher, / der sich an den letzten Seraph reiht« (Schiller, Philosophische Briefe, S. 228), und schließt zuletzt auch den Schöpfer ein. Diese Verkettung von Barbarentum und Sehertum schwingt bei Hölderlins vates-Konzept mit, ebenso bei Rimbauds voyant: Denn »ganz oben auf dieser Himmelsleiter des gesunden Menschenverstands halte ich meinen Platz« (Rimbaud, Une saison en enfer. Ein Aufenthalt in der Hölle, S. 317). Hölderlin, Reflexion, S. 243. Aristoteles, Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes, hg. mit Einleitung, Anmerkungen, Register und Bibliographie von Günther Bien, Hamburg 19723, 1106aff. Hölderlin verwendet den Begriff des Reinen ähnlich wie etwa Kant, der die zur Debatte stehende Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung kritisch beleuchtet, denn diese ist die nichtsinnliche, von allem Empirischen gereinigte Anschauung, auch göttliche Anschauung genannt, die die diskursiven Kategorien des Verstandes übersteigt und deren Objekt ein Noumenon ist, der seiende Inbegriff des Wesentlichen. Mit der Anschauung des Reinen über-

Aus Freude must du das Reine überhaupt, die Menschen und andern Wesen verstehen, ›alles Wesentliche und Bezeichnende‹ derselben auffassen, und alle Verhältnisse nacheinander erkennen, und ihre Bestandtheile in ihrem Zusammenhange so lange dir wiederhohlen, bis wieder die lebendige Anschauung objektiver aus dem Gedanken hervorgeht, aus Freude, ehe die Not eintritt, der Verstand, der bloß aus Not kommt, ist immer einseitig schief.619

Die Besonderheit der Hölderlin’schen Dichtungsauffassung ist vorrangig in der Disposition des Dichters zur intellektualen Anschauung verankert, die wiederum die Voraussetzung für das Sagen des präreflexiven Seins, der Harmonie der Dissonanzen im Schönen, d.h. Poetischen, darstellt:620 »Der unausdeutbare Sinnreichtum des Schönen macht die Ungreifbarkeit des Absoluten für die Reflexion als solche sinnfällig – im Sinne des Novalis-Worts, die Kunst sei die ›Darstellung des Undarstellbaren‹.«621 Das Vermögen zur intuitiven Erfassung der Ganzheit (der göttlichen Natur) dient nach Schmidt erstens zur »Legitimation des schöpferischen Subjekts, das seine Kraft aus dem gefühlten und in ihm selbst sich repräsentierenden Allzusammenhang nimmt; zweitens [zur] Überwindung der Spannung von Subjekt und Objekt, da in der intellektualen Anschauung der Allzusammenhang […] durch eine universale Vermittlungsleistung«622 hergestellt ist.623 Das unmittelbare Sein, die Einheit von Sub-

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haupt ist also die Möglichkeit eines höchsten, nicht diskursiven Verstandes gemeint, der die Gegenstände in der intellektuellen Anschauung vollkommen erkennt (vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft). Hölderlin, Reflexion, S. 245. Vgl. zum präreflexiven Sein: Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik. 2., stark erweiterte und überarbeitete Auflage, München 1992, S. 103ff.; siehe ferner: Malinowski, »Das Heilige sei mein Wort«, S. 122f.; Marion Hiller, ›Harmonisch entgegengesetzt‹. Zur Darstellung und Darstellbarkeit in Hölderlins Poetik um 1800, Tübingen 2008. Frank, Hölderlins philosophische Grundlagen. In: Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, hg. von Gerhard Kurz, Valérie Lawitschka u. Jürgen Wertheimer, Tübingen 1995, S. 174–194, S. 192. J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 415. Im »Grund zum Empedokles« (1799) findet man ebenfalls den Hinweis auf die produktive »Vollständigkeit und durchgängige Bestimmtheit des Bewußtseins…, womit der Dichter auf ein Ganzes blickt« (Hölderlin, Der Grund zum Empedokles. In: Hölderlin, Werke und Briefe, hg. von Friedrich Beißner u. Jochen Schmidt, Bd. 2, Frankfurt am Main 1969, S. 570–583, S. 577); Hölderlins Konzept der intellektualen Anschauung rekurriert auf das, was Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft einerseits vehement bestreitet, nämlich eine Fähigkeit zur rein geistigen Anschauung ohne Bezugnahme auf das Sinnliche in Form von Rezeptivität, d.i. eine Objekte setzende Intuition, andererseits in seinen Aufführungen zum transzendentalen Ideal aufgreift (vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Originalausgabe neu hg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1956, S. 551ff.): Ähnlich wie die platonische Idee dient das transzendentale Ideal nämlich als »Urgrund aller Nachbilder in der Erscheinung« (Kant, B 596, S. 549), genauer formuliert als »Urbilde der durchgängigen Bestimmung des Nachbildes« (Kant, B 597, S. 550). Es handelt sich also um eine Art Musterbeispiel, ein vollkommenes Wesen, das als »unentbehrliches Richtmaß der Vernunft« (Kant, B 597, S. 550) dient, über dessen Existenz wir zwar im Ungewissen sind, welches indes das unentbehrliche Fundament für jedwede Seinsprädikation darstellt: Der »durchgängigen Bestimmung« liegt

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jekt und Objekt – wie in »Urteil und Sein« (1794/1795) beschrieben –624 ist nämlich nur als Schönheit vorhanden, wie dies vornehmlich im Hyperion625 und theoretisch

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»ein transzendentales Substratum« zu Grunde, das Kant präzisierend als »Idee von einem All der Realität (omnitudo realitatis)« (Kant, B 603/604, S. 555), also als Idee aller möglichen sachhaltigen Prädikate bezeichnet. Erst in Gegenüberstellung mit der Summe aller möglichen positiven einfachen Aussagen, die das Ens Realissimum besitzt, kann demzufolge eine begriffliche Bestimmung eines individuellen Gegenstandes als solchen erwogen werden. Da seine Realität nicht objektiv gegeben ist, erweist sich die »Realisierung« der Idee im Ideal als »bloße Erdichtung«, die die Dialektik schließlich als »Schein« entlarvt (Kant, B 608, S. 558). Gleichwohl gründet sich das Ideal in einer »natürlichen Idee« (Kant, B 609, S. 559). Der »Inbegriff aller empirischen Realität« ist deshalb als Grundlage unentbehrlich, weil ein Ding (Gegenstand der Sinne) mit allen (potentiellen) Prädikaten der Erscheinung transzendental zu vergleichen ist. Die »Materie zur Möglichkeit aller Gegenstände der Sinne« ist Voraussetzung für die »Möglichkeit empirischer Gegenstände« (Kant, B 610, S. 559). Die »natürliche Illusion« der Vernunft besteht nun darin, dieses Prinzip nicht nur in Bezug auf Erscheinungen, sondern auch – und das ist der Fehlschluss – als »transzendentales Prinzip der Möglichkeit der Dinge überhaupt« zu verstehen und damit auf den Bereich der Vernunft zu übertragen, was nicht gerechtfertigt ist, fehlt uns doch der direkte Zugang zum »Reich« der Dinge an sich (vgl. zum Unterschied von Phaenomena und Noumena: Kant, B 294ff., S. 287ff.): Führt die Realisierung der Idee zu seiner Objekt-Machung, indem die realia als res, die Sachbestimmungen als eine Sache gedacht werden, leitet die Hypostasierung zum Denken eines einzelnen Dinges, »was alle empirische Realität in sich enthält« (Kant, B 610, S. 560), und was letztlich in die Personifikation zum Gottesbegriff kulminiert. Schelling analogisiert Kants Inbegriff aller Möglichkeiten mit Aristoteles’ Begriff der Dynamis und fordert, dass diesem Vernunftbegriff ein Etwas als Ursache seines Seins vorangehen müsse, das selbst schlechthin wirklich sei. Zwar geht die Existenz dem Begriff, oder mit Sartre gesprochen der Essenz, stets voraus, doch kann dem »absoluten Daß in Gott« (quod sit) letztlich nur das »absolute Was« (quid sit) entsprechen, so Schellings innovativer Identitätsgedanke (vgl. Schelling, Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie [Zwölfte Vorlesung]. In: Schelling, Sämmtliche Werke, hg. von K.F.A. Schelling, Stuttgart 1856–1864, II. Abt., Bd. 1, S. 277–294, bes. S. 282–288; Schelling, Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten. In: Schelling, Sämmtliche Werke, hg. von K.F.A. Schelling, Stuttgart 1856–1864, II. Abt., Bd. 1: Einleitung in die Philosophie der Mythologie, S. 575–590, bes. S. 585f.). Schellings Interpretation ist insofern interessant, weil sie Kants Ringen um die Vollständigkeit seines erkenntnistheoretischen Systems aufzeigt, das an sich die Konstitution von individuellen Dingen nicht leisten kann (vgl. Frank, Auswege aus dem deutschen Idealismus, Frankfurt am Main 2007, S. 312ff.). Und Hölderlin verfährt ganz ähnlich, wenn er ebenfalls ein präreflexives Sein, einen unvordenklichen Grund postuliert. Die berühmte Stelle zur intellektualen Anschauung findet sich in »Urteil und Sein«, wo diese als ontologisches Prinzip exemplifiziert ist: »Sein – drückt die Verbindung des Subjekts und Objekts aus. Wo Subjekt und Objekt schlechthin, nicht nur zum Teil vereiniget ist, mithin so vereiniget, daß gar keine Teilung vorgenommen werden kann, ohne das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll, zu verletzen, da und sonst nirgends kann von einem Sein schlechthin die Rede sein, wie es bei der intellektualen Anschauung der Fall ist« (Hölderlin, Urteil und Sein. In: Hölderlin, Werke und Briefe, hg. von Friedrich Beißner u. Jochen Schmidt, Bd. 2, Frankfurt am Main 1969, S. 591f., S. 591). Hölderlin wendet dieses Prinzip letztlich auch ästhetisch an, denn die Schönheit repräsentiert dieses präreflexive Sein (vgl. Frank, Hölderlins philosophische Grundlagen, S. 192 u. S. 186ff.). Vgl. Hölderlin, Hyperion, S. 629 u. 657.

vergleichbar in Hegels/Schellings »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus«626 (1797), einem Dokument des geistigen Austauschs der Freunde Hölderlin, Schelling und Hegel im Tübinger Stift, verhandelt wird. Und dieses prophetische Dichtungsverständnis mit Blick auf die transzendentale Vollständigkeit des Bewusstseins, jener Antizipation der Ursprünglichkeit des Göttlichen, wirkt auch beim späten Hölderlin fort, worauf Ryan zu Recht insistiert: Die Entwicklung des hesperischen Menschen ist analog zu derjenigen des prophetischen Dichters gestaltet, bedenkt man »die Vollendung der Begeisterung, des Ergriffenseins vom göttlichen Ganzen, durch die Umkehr ins Eigene, durch die vermittelte, wissende, verkündende Ergreifung des Eigenen, worin nun das Ganze ›wirkt‹. Die Realisierung des göttlichen Augenblicks in der Umkehr in die Geschlossenheit des Gedichts entspricht der in der Begeisterung sich erhaltenden und sich neu gewinnenden Nüchternheit.«627 Göttliche Vorgabe und Bindung einerseits sowie Freiheit im Sinne eines schöpferischen Akts des Dichters andererseits schließen sich also nicht aus, sie stellen vielmehr zwei sich kreuzende Bewegungen – des Regresses (vom Sein zum Seienden) und des Progresses (vom Seienden zum Sein) – dar: Führt der Weg zunächst vom Göttlichen zum zeitlichen Subjekt via Inspiration, geht der »umkehrende Weg der dichterischen Realisierung des Göttlichen« zwar ebenfalls von Gott aus, »aber der aktive Teil ist nun das zeitliche Subjekt, so daß man eventuell sagen könnte, die Bewegung gehe vom Seienden aus«628. Ryan folgert zu Recht, dass ein spezifisches Merkmal prophetischer Dichtung nach Hölderlin in der Kreuzung von Mittlertum (genuin prophetisch) und Schöpfungskraft (genuin poetisch) des Dichters zu erkennen sei, denn die »Vollendung der dichterischen Welt« und die »Offenheit dem Göttlichen gegenüber« seien bei Hölderlin dialektisch vermittelt zu denken: »die Dichtung soll zwar ›eine eigene Welt der Form nach‹, jedoch nicht eine eigene Welt dem Gehalt nach sein«629. Hölderlins Dichter-Prophet ist also zwischen Offenbarung und Autopoiesis anzusiedeln. Dieser Doppelung entsprechen des Dichters Ahnen der unbewussten Ganzheitserfahrung als dargestelltes Sujet und die dichterische Realisierung dieser erfahrenen Ganzheit als Bewusstwerdung der gefühlten Begeisterung. Die Vorstellung vom Gedicht als unrein-reines Gebilde ergibt sich aus dieser vates-Konzeption. So liest man etwa in »Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes«, wie das »reine poetische Leben«630 zunächst in sich einig bleibt

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»Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist, und daß Wahrheit und Güte, nur in der Schönheit verschwistert sind – Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter« (Hegel, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. In: Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, hg. von Manfred Frank u. Gerhard Kurz, Frankfurt am Main 1975, S. 110–112, S. 111). Ryan, Hölderlins prophetische Dichtung, S. 227. Ryan, Hölderlins prophetische Dichtung, S. 213. Ryan, Hölderlins prophetische Dichtung, S. 221. Hölderlin, Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes. In: Hölderlin, Werke in zwei Bänden, hg. von Günter Mieth, Bd. 1, München; Wien 1978, S. 864–889, S. 871.

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und nur im Wechsel der Formen entgegengesetzt unrein erscheint – ein Ausdruck des »Widerstreit[s] von Individuellem (Materialem), Allgemeinem (Formalem) und Reinem«631. Das Element der Unreinheit ergibt sich demnach aus dem notwendigen Korrelat des Reinen, der Bewegung und des Wechsels. Die Verfahrensweise, welche dem Gedicht seine Bedeutung gibt, liegt im »Übergang vom Reinen zu diesem Aufzufindenden so wie rückwärts von diesem zum Reinen«632. Das heißt, dass letztlich das Reine, »das dem Organ an sich widerstritt, in eben diesem Organ sich selber gegenwärtig und so erst ein Lebendiges ist«633, dass sich im stärksten Gegensatz des Reinen und des Unreinen das ›Harmonisch-Entgegengesetzte‹ findet. Dieser erkenntnistheoretischen und ästhetischen Bestimmung des Reinen stellt Hölderlin – wie anhand der ›Feiertags-Hymne‹634 gezeigt – eine religiös entlehnte, moralisch-ethische Dimension an die Seite: Der prophetische Dichter muss ein reines Herz haben, wie oben dargelegt. Bei Hölderlin umfasst das Konzept der Reinheit also erstens erkenntnistheoretisch die Vorstellung einer Allübersicht, eines intuitiven Wissens aller Bestimmungen (des Urseins) aus quasigöttlicher Perspektive, und zweitens eine religiös-moralische Komponente, wonach das Reine eine Bedingung für die Annäherung an das Göttliche, das absolute Reine, ist: ›Reinheit‹ ist demzufolge ein Differenzbegriff, der Unterschiede und notwendige Grenzen zwischen Menschen und ihrer jeweiligen Nähe zu Gott markiert und durch diese Grenzziehung den alltäglichen Bereich vom kultisch-religiösen, dem Bereich des enthusiasmierten Sängers und seines Bezugs zum Transzendenten, scheidet. Neben der auf den Inspirationstopos konzentrierten Analyse prophetischer Rede aus produktionsästhetischer Sicht ist auch der Wirkungsanspruch prophetischer Rede zu ermessen: Denn nicht nur Hölderlins Begeisterung für die Französischen Revolution ist bekannt, sondern auch sein Verständnis der Poesie als ›Lehrerin‹ der Menschheit.635 Der Seher-Dichter wird bei ihm als Sänger tituliert, wie etwa in »Der blinde Sänger«, einer Hommage an Hölderlins Vorbilder Homer und Ossian: »Der Sänger ist ein Auserwählter, der sich an einen Kreis von Eingeweihten wendet. Sein Gesang verkündet nicht nur Religion, sondern handelt auch vom deutschen Vaterland.«636 Dieser sozialkritische Impetus wird dem prophetischen Dichter ebenfalls attestiert: »Der Sänger bringt das Volk hervor. Die transitive Verwendung von ›singen‹ verleiht ihm das Bedeutungsmerkmal des Erzeugens, Hervorbringens.«637 Als Gesetzgeber der Völker wird der Dichter explizit in der Ode »Dichterberuf« inthronisiert, und zwar in der Rolle einer religiösen Führungsfigur, wie auch Hyperion als

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Hölderlin, Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes, S. 871. Hölderlin, Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes, S. 872. Hölderlin, Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes, S. 873. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage...., S. 118f. Vgl. G. Kurz, Der deutsche Schriftsteller, S. 128f. G. Kurz, Der deutsche Schriftsteller, S. 131. G. Kurz, Der deutsche Schriftsteller, S. 132.

»Erzieher«638 des Volkes und als Priester der göttlichen Natur konzipiert ist,639 so dass dem Dichter »die Macht religiöser Verkündung und Offenbarung, die schon Klopstock für seine Dichtung beansprucht hatte«640, zuzuschreiben ist. Hyperions Auftrag lautet: »Dir ist dein Lorbeer nicht gereift und deine Myrten verblühten, denn Priester sollst Du sein der göttlichen Natur, und die dichterischen Tage keimen dir schon.«641 Hyperion äußert seine Kritik an den Deutschen mit Blick auf ihre Unreinheit, da es »nichts Heiliges [gebe], was nicht entheiligt, nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk, und was selbst unter Wilden göttlichrein sich meist erhält, das treiben diese allberechnenden Barbaren, wie man so ein Handwerk treibt, und können es nicht anders […]«642. Die den Deutschen ermangelnde Reinheit ist auf ihre Abkehr von der heiligen Natur zurückzuführen: »Wenn doch einmal diesen Gottverlaßnen einer sagte, daß bei ihnen nur so unvollkommen alles ist, weil sie nichts Reines unverdorben, nichts Heiliges unbetastet lassen mit den plumpen Händen, daß bei ihnen nichts gedeiht, weil sie die Wurzel des Gedeihns, die göttliche Natur nicht achten […].«643 Der der göttlichen Natur verbundene Künstler ist hingegen aufgerufen, sich rein zu halten: »Ich will mich rein erhalten, wie ein Künstler sich hält, dich will ich lieben, harmlos Leben, Leben des Hains und des Quells! dich will ich ehren, o Sonnenlicht!«644 Seine Sendung besteht darin, die Begeisterung zu entzünden, »daß sie fühlten die stille stete Begeisterung der Natur und ihrer reinen Kinder«645. Initiiert vom revolutionären Alabanda beginnt dieses Reinheitsprogramm mit unreinen Mitteln versehen zu werden, wenn dieser als »feurig strenger furchtbarer Kläger«646 die »Sünden des Jahrhunderts«647 anprangert: »Wie erwachte da in seinen Tiefen mein Geist, wie rollten mir die Donnerworte der unerbittlichen Gerechtigkeit über die Zunge! Wie Boten der Nemesis, durchwanderten unsre Gedanken die Erde, und reinigten sie, bis keine Spur von allem Fluche da war.«648 Unter diesem rezeptionsästhetischen Blickwinkel wird eine notwendige Differenz zwischen absolutem Reinen (dem Göttlichen), dem relativen Reinen (dem Dichter-Seher) und dem völlig Unreinen (dem falschen Priester) allerdings weiter aufgefächert, wenn die Erziehung zum Schönen durch den vates im Modus des ›Dazwischen‹ angesiedelt ist: Denn wie sollen die ausgezeichneten Vertreter des Schönen, die Dichter-Seher, kathartisch, also reinigend, ihre Botschaft den Unreinen, den nicht

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Hölderlin, Hyperion, S. 668. Vgl. Hölderlin: »wir sind wieder, wie die alten Priester der Natur, die heiligen und frohen, die schon fromm gewesen, eh ein Tempel stand« (Hölderlin, Hyperion, S. 716). G. Kurz, S. 129. Hölderlin, Hyperion, S. 733. Hölderlin, Hyperion, S. 738f. Hölderlin, Hyperion, S. 740. Hölderlin, Hyperion, S. 709. Hölderlin, Hyperion, S. 713. Hölderlin, Hyperion, S. 602. Hölderlin, Hyperion, S. 602. Hölderlin, Hyperion, S. 602.

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explizit Ausgezeichneten, übermitteln? Anders gesagt: Bleibt der relativ Reine, der (vates-)Dichter, bei sich, kann seine Reinheit nicht ausstrahlen. In einem Brief an seinen Freund Neuffer (November 1789) schreibt Hölderlin: »Das Reine kan [sic!] sich nur darstellen im Unreinen und versuchst Du das Edle zu geben ohne Gemeines, so wird es als das Allerunnatürlichste, Ungereimteste dastehn […].«649 Vermischt er sich – das Pathos der Distanz aufbrechend – zu sehr mit dem Unreinen, verliert er jedoch seine eigene Reinheit, die die Bedingung für die Kommunikation mit dem Göttlichen ist. Also muss der vortreffliche Dichter einen Mittelweg einschlagen und sich in seiner Sendung dem Unreinen, Barbarischen approximativ annähern, ohne sich darin aufzulösen: Es kommt alles darauf an, daß die Vortrefflichen das Inferieure, die Schönern das Barbarische nicht zu sehr von sich ausschließen, sich aber auch nicht zu sehr damit vermischen, daß sie die Distanz, die zwischen ihnen und den andern ist, bestimmt und leidenschaftlos erkennen, und aus dieser Erkenntnis wirken, und dulden. Isolieren sie sich zu sehr, so ist die Wirksamkeit verloren, und sie gehen in ihrer Einsamkeit unter. Vermischen sie sich zu sehr, so ist auch wieder keine rechte Wirksamkeit möglich, denn entweder sprechen und handeln sie gegen die andern, wie gegen ihresgleichen, und übersehen den Punkt, wo diesen es fehlt, und wo sie zunächst ergriffen werden müssen, oder sie richten sich zu sehr nach diesen, und wiederholen die Unart, die sie reinigen sollten, in beiden Fällen wirken sie nichts und müssen vergehen, weil sie entweder immer ohne Widerklang sich in den Tag hinein äußern, und einsam bleiben mit allem Ringen und Bitten oder auch, weil sie das Fremde, Gemeinere zu dienstbar in sich aufnehmen und sich damit ersticken.650

Hier wird deutlich, wie Hölderlin seine prophetische Poesie als Sendung651 auch anhand einer balanceartigen Kalkulation von Nähe und Distanz ausmisst: im Erziehungsprozess zum Schönen nähert sich der prophetische Dichter im Reinigungsprozess dem Unreinen an. Hölderlins poeta vates ist folglich ein ausgezeichneter Grenzgänger. Während bei Hölderlin die Problematik der Selbsterhebung, die am angemaßten Kontakt mit dem Göttlichen scheitert, also der Umschlag der Selbstermächtigung in Verdammnis als eine gerechte Strafe für die Hybris der dem Prophetischen tendentiell inhärenten Selbstvergottung im Vordergrund steht, stellen gerade Autoren wie Rimbaud, Nietzsche und Trakl die notwendige Annährung des poeta vates an das Unreine wieder ins Zentrum ihrer Seher-Porträts, und dies teilweise einhergehend mit zunehmend entpragmatisierten, prophetisch-hermetischen Versen. Provokativ formuliert betonen sie die Notwendigkeit des Verlusts der Reinheit des Dichters, auch seiner moralisch-ethischen Unschuld, indem seine zunehmende Unreinheit als Bedingung einer reinen Poesie sowie als Auszeichnung des modernen Dichter-Sehers fungiert. Das typische Doppelantlitz des prophetischen Dichters in

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Hölderlin zitiert nach Bothe, »Ein Zeichen sind wir deutungslos«, S. 136 (= Hölderlin, StA 6,1, S. 289f.). Hölderlin, Reflexion, S. 246. Vgl. stellvertretend: Walter Müller-Seidel, Hölderlins Ode »Dichterberuf«. Zum schriftstellerischen Selbstverständnis um 1800. In: Die Geschichtlichkeit der deutschen Klassik. Literatur und Denkformen um 1800, hg. von Walter Müller-Seidel, Stuttgart 1983, S. 191–208.

der Moderne vereint also die Kategorien ›Reinheit‹ und ›Unreinheit‹ gleichermaßen und, wie zu zeigen ist, auf ganz unterschiedlichen Ebenen, einer moralisch-ethischen und einer ästhetischen. So drängt sich die Frage auf, inwiefern der Sündenfall des Seher-Dichters – wie er bei Trakl häufig geschildert wird – dadurch produktiv gewendet eine Entlastung erfahren soll und ferner, wie sich das neue prophetische Sagen unter den Vorzeichen von Reinheit und Unreinheit gestaltet. Während bei Trakl das Enthusiasmuskonzept Hölderlins skizzenhaft aufscheint, steht die Reinheit des Dichters im Verbund mit dessen notwendigem Korrelat, dem Unreinen, im Zentrum und ist so als eigentlicher Kern modernen Sehertums profi liert. Wie gängigerweise in Genie-Vorstellungen und ihrer Rezeption eine Vermischung der Heiligkeit des Dichters und einer durch radikale Autonomie und Usurpationsgeste provozierten Hybris das Dichter-Sein kennzeichnet,652 so ist auch beim modernen Künstler-Propheten-Konzept ein Rückfall in das Genie-Denken zu beobachten, sofern wieder das notwendige Gefallensein des unrein-reinen vates-Dichters durchscheint, allerdings produktiv gewendet: als Bedingung einer reinen Poesie! VI.8.2. Trakls prophetische Poetik des Unreinen-Reinen Trakls Gedichte, die – wie einleitend behauptet – an exemplarischen Stellen das Konzept der sobria ebrietas aufrufen und die Sehnsucht des Dichter-Sehers nach dem Reinen und seine (notwendige) Annäherung an das Unreine vorführen, sind durch die vates-Poetik des ›Unreinen-Reinen‹ gekennzeichnet. Böschenstein hat als Erster einen einsichtigen Beleg für eine »Umfunktionierung«653 der Zweiteilung von »Hälfte des Lebens« anhand von Trakls »Landschaft« (1914) angeführt. Dort heißt es: »Und die gelben Blumen des Herbstes / Neigen sich sprachlos über das blaue Antlitz des Teichs.«654 Nicht nur die Konzentration auf den Herbst (als Übergangszeit zwischen Sommer und Winter), sondern auch die Verwandlung des Hölderlin’schen Sees und des »heilignüchterne[n]« Wassers in das anthropomorphe »Antlitz des Teichs« mahnen an die »narzißtische Spiegelung des Elis-Novalis-Bereiches«, auch an Rimbauds Ophelia und an eine drohende »Kommunikationslosigkeit«.655 »Frühling der Seele«656 (im Brenner am 15.3.1914 erschienen) ist ein exemplarisches Beispiel für den Verunreinigungsprozess der Reinheit im Verbund mit dem

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Vgl. die jeweiligen Anmerkungen zu verschiedenen Autoren bei J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 23. Trakl, Landschaft II. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 83. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 24. Im Gedicht-Zyklus »Sebastian im Traum« folgen auf dieses Gedicht unmittelbar die Elis-Gedichte. Trakl, Frühling der Seele II, S. 141. Gerald Stieg verweist auf die hymnischen Langverse dieses Gedichts, die an Hölderlin gemahnen (vgl. G. Stieg, Frühling der Seele. In: Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion, hg. von Rémy Colombat u. Gerald Stieg, Innsbruck 1995, S. 163–180, S. 163).

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reaktivierten vates-Dichterbild: Der Ausruf »O sanfte Trunkenheit« in diesem Gedicht variiert nicht nur Hölderlins nüchterne Trunkenheit durch Einsatz des Trakl’schen Lieblingswortes ›sanft‹ (»O sanfte Trunkenheit / Im gleitenden Kahn und die dunklen Rufe der Amsel / In kindlichen Gärten. Schon lichtet sich der rosige Flor«, Vers 5/6), sondern er erweist sich auch als stilbildende Folie für die Grenze der Reinheit. Dieses Paradoxon fungiert zugleich als Scharnier zwischen Hölderlin und Nietzsche, zumal das Bild vom »Schaukelkahn« (Vers 10) wohl auf Nietzsche zurückgeht.657 Während der Auftakt mit registrativen, expressionistisch getönten Eindrucksfetzen (»durch schwarze Gassen stürzt der Wind«, Vers 1) den Ausbruch des Frühlings einleitet, fungiert die »sanfte Trunkenheit« (Vers 5) als Bindeglied zwischen diesem eingangs gesetzten expressionistischen Paukenschlag mit dionysischen Zügen (»Trunkenheit«) und der darauf folgenden apollinisch-hymnischen Naturund Mensch-Feier (»sanft«). Die zweite Strophe lautet: Feierlich rauschen die Wasser. O die feuchten Schatten der Au, Das schreitende Tier; Grünendes, Blütengezweig Rührt die kristallene Stirne; schimmernder Schaukelkahn. Leise tönt die Sonne im Rosengewölk am Hügel. Groß ist die Stille des Tannenwalds, die ernsten Schatten am Fluß.658

Das sanfte Frühlingserwachen – vorgestellt durch das feierliche Rauschen der Wasser und das Ausschlagen der Zweige – tangiert subkutan wohl auch die erwachende Seele, wie es der Titel »Frühling der Seele« vorgibt. Aber wessen Seele eigentlich? Die eingangs auffällige Aussparung des lyrischen Ich – nur ein ominös »schreitende[s] Tier« (Vers 9) wird erwähnt – geht mit einer Alludierung der Elis-Figur und deren Aura durch Nennung einiger ihrer Fragmente einher. Das Bild vom »schimmernde[n] Schaukelkahn« (mit sch-Alliteration) (Vers 10) greift die Formulierung »O sanfte Trunkenheit / Im gleitenden Kahn« (Vers 5/6) der ersten Strophe auf: Dadurch klingt nicht nur erneut Hölderlins sobria ebrietas-Figur an; das Bild lässt sich beispielsweise auch wieder von Elijas Himmelfahrt herleiten und als Ausdruck eines prophetischen Erbes interpretieren, wie in »Elis«.659 Im Zusammenhang mit der erwachenden Seele und dem Bild des Kahns ist ferner an den Seelen-Mythos Platons im Phaidros zu denken: Dort wird die Seele als gefiederter Wagen geschildert, der an einem überhimmlischen Ort im Gefolge der Götter-Wagenfahrt die Ideen schaut, sofern das nach oben strebende Pferd im Zweier-Gespann die Oberhand behält.660 Darin liegt die Seher-

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Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 282. Trakl, Frühling der Seele II, S. 141. Vgl. wieder Trakl, Elis (3. Fassung), S. 85; vgl. zu Elijas Himmelfahrt: 2. Kön, 2, 11–12. Platon, Phaidros, 246a–248a. Als Auslöser für die göttliche Begeisterung (mania) dient bei Platon schließlich die Erinnerung (anamnesis) an die einst von der Seele geschaute Idee des Schönen; der für das Schöne Begeisterte ist wiederum ein Liebender (vgl. Platon, Phaidros, 249e–250), ein Erotiker, ein Mittlerwesen, wie es auch die Metaphorik vom Lenker eines besonnenen und eines triebgesteuerten Pferdes ausdrückt (vgl. Platon, Phaidros, 253c–255).

gabe der Seele begründet.661 Allgemein kann das Motiv des Kahns des Weiteren auf den vermittelnden, botenhaften Aspekt der Propheten-Figurationen zwischen zwei Welten hinweisen.662 Dementsprechend ist die Wendung »O sanfte Trunkenheit / Im gleitenden Kahn« (Vers 5/6) auch als Formulierung für die Zusammenschau von Dionysischem (Trunkenheit) und Apollinischem (Kahn) zu lesen.663 Bei Nietzsche dient das Bild vom Schiffer im Kahn – wie oben ausgeführt – dazu, Apollo als Götterbild des principii individuationis inmitten des dionysischen Meeres in Szene zu setzen.664 Neben diesen aufgezeigten Subtexten zur Kahn-Metaphorik bei Trakl, die eine Entgrenzung ins Bild setzt, scheint überdies Elis mit seinem Attribut der

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Ähnlich wie bei Platon findet man bei Trakl häufig die Spiegelmetapher, die die Erklärungen über den Eros bei Platon abrundet: »[…] so merkt der Geliebte nicht, daß er wie in einem Spiegel in dem Liebenden nur sich selber sieht« (Platon, Phaidros, 255d–e). Dies mag auch ein narzisstischer Grund für die Fremdheit der Seele auf Erden sein. In »Abendland« wird diese Fremdheitserfahrung auf die Liebenden ausgeweitet: »Auf schwarzem Kahn / Hinüberstarben Liebende« (Trakl, Abendland (3. Fassung), S. 409). Vgl. Platon, Phaidros, 242c. Einer der Hermes-Psychopompos-Figurationen in »Der Tod in Venedig«, der venezianische Gondel-Bote, ist solch eine Transferfigur (vgl. Th. Mann, Der Tod in Venedig, S. 369); Ebenso Franz Kafkas Jäger Gracchus in der gleichnamigen fragmentarischen Erzählung (erschienen 1917), wo dem Revenant als Charon-Figuration in seinem Todeskahn die Gnade des ewigen Schlafes verweigert ist, weswegen er dieses Übergangsstadium zwischen Tod und Leben qualvoll zu erleben gezwungen ist. Die Schilderung seiner unruhigen Fahrt mittels geschlossener Standbilder befördert den beklemmenden Eindruck des unauflöslich Transitorischen im Verbund mit einer Akausalität und Unbestimmtheit von Handlung, Ort, Raum und Zeit (vgl. F. Kafka, Der Jäger Gracchus. In: Kafka, Gesammelte Werke, Bd. 5: Beschreibung eines Kampfes, Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß, hg. von Max Brod, Frankfurt am Main 1983, S. 75–79). Kafka bemüht übrigens ebenfalls die Vorstellung des medial-prophetischen Autorschaftskonzepts, wenn er beispielsweise in einem Tagebucheintrag von seinen »hellseherischen Zuständen« berichtet (vgl. Kafka, Tagebucheintrag vom 28.03.1911 zitiert nach Pytlik, Okkultismus und Moderne, S.  97). Im Gespräch mit Gustav Janouch beteuert Kafka, das Dichten sei eine »prophetische Aufgabe« (G. Janouch, Gespräche mit Franz Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Frankfurt am Main 1968, S. 231). Und in einem Aphorismus beschreibt er die Zwischenstellung des Menschen »als Bürger der Erde« und als »Bürger des Himmels« (Kafka zitiert nach Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 81). In einem Brief an Milena Jesenská heißt es: »Wie hätte ich schlafen können, da ich […] entsetzt war über das, was mir in den Schoß gefallen war, so entsetzt im gleichen Sinn wie man von den Propheten erzählt, die schwache Kinder waren […] und hörten, wie die Stimme sie rief und sie waren entsetzt und wollten nicht und stemmten die Füße in den Boden […]« (Kafka, Brief an Milena Jesenská zitiert nach King, Pilger und Prophet, S. 303). Vgl. zum Motiv des Kahns im Meer bei Trakl auch: Trakl, Verwandlung des Bösen, S. 97; Trakl, Geistliche Dämmerung (2. Fassung), S. 118: »Befährst du trunken von Mohn / Den nächtigen Weiher, / Den Sternenhimmel«; Trakl, Offenbarung und Untergang, S. 170: »Da ich in den dämmernden Garten ging, und es war die schwarze Gestalt des Bösen von mir gewichen, umfing mich die hyazinthene Stille der Nacht; und ich fuhr auf gebogenem Kahn über den ruhenden Weiher und süßer Frieden rührte die versteinerte Stirne mir.« Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 28; Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 282.

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kristallenen Stirn665 durch, die hier von einem grünenden Blütenzweig berührt ist (vgl. Vers 9/10). Die Stirn ist ein bei Trakl oftmals exponiertes Körperteil, das als Pars pro Toto auch zur Charakterisierung des Dichter-Sehers dient;666 die Blütenzweige erinnern an einen Dichterkranz. Das Motiv des Kristalls – bei Trakl häufig verwendet – stellt wiederum eine visionäre Figur vor, die das Reine in aller Abgeschlossenheit konserviert.667 Hölderlins inspirativer Natur-Kraft in seiner ›Feiertags-Hymne‹ vergleichbar,668 fungiert bei Trakl der Ausbruch des Frühlings als Katalysator sich entgrenzender Kräfte. So ist der Zusammenhang zwischen erwachender Natur und Inspiration aufgerufen, zwischen Hölderlins poeta vates und der subkutan angedeuteten Wiederkehr des Sehers bei Trakl. Dieser Verbindung entsprechen auch die hymnischen Langverse mit oft verwendeten Hexameterklauseln, die die Entgrenzung formal unterstreichen.669 Das friedliche Bild der tönenden »Sonne im Rosengewölk« (Vers 11) evoziert eine harmonische Ursprünglichkeit670 und erinnert an das Bild der musica mundana, an die oftmals bei Hölderlin anklingende Vorstellung der pythagoreischen Sphärenharmonie.671 Die tönende Sprache der Poesie verweist bei Hölderlin auf »die Einigkeit des Unterschiedenen und so auch [auf] das tragische Wesen des

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Vgl. Trakl, Elis (3. Fassung), S. 86. Siehe stellvertretend Trakl, Ruh und Schweigen, S. 113: »Doch immer rührt der schwarze Flug der Vögel / Den Schauenden, das Heilige blauer Blumen, / Denkt die nahe Stille Vergessenes, erloschene Engel. // Wieder nachtet die Stirne in mondenem Gestein.« Kemper sieht in diesen Versen einen Hinweis auf »das nachfolgende, von Magiern und Propheten bestimmte Zeitalter« (Kemper, Gestörter Traum, S. 238), in dem Vergangenes gegenwärtig gehalten wird. Vgl. Trakl, In den Nachmittag geflüstert. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 54: »Stirne Gottes Farben träumt, / Spürt des Wahnsinns sanfte Flügel.« Vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S.  74; Doppler, Orphischer und apokalyptischer Gesang, S. 26. Dem Bild vom Mönch im Gehäuse vergleichbar signalisiert das Kristalline bei Trakl den hermetisch abgeriegelten Bereich des Künstlers, so z.B. auch in »Ruh und Schweigen«: »In blauem Kristall / Wohnt der bleiche Mensch« (Trakl, Ruh und Schweigen, S. 113). Vgl. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage, S. 118f. Vgl. Stieg, Frühling der Seele, S. 163f. Bei Trakl finden sich weitere ähnliche Stellen, die das Tönen der Sonne variieren, z.B.: »Der Sonne Lärm dröhnt ferne und verzückt« (Trakl, Unterwegs (2. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 295f., S. 295). Hans Joachim Kreutzer lotet Hölderlins Verhältnis zur Musik aus und bemerkt dabei, wie Hölderlin die Himmelsmusik, das Tönen als Ausdruck der gesetzhaften »Ordnung des Kosmos«, konzipiere und wie er »das verborgene Gesetz der Welt, als Ton, Melodie, Saitenspiel, Gesang in die Sprache seiner Lyrik« einfüge, wodurch er eine »produktive Teilhabe an dem Ideenkreis der Sphärenmusik« in pythagoreischer Tradition stehend aufweise (vgl. H. J. Kreutzer, Tönende Ordnung der Welt. Über die Musik in Hölderlins Lyrik. In: Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, hg. von Gerhard Kurz, Valérie Lawitschka u. Jürgen Wertheimer, Tübingen 1995, S.  240–279, S.  260): »Dichterische Rede, Gesang, die Kunst überhaupt ist Abbild kosmischer Ordnung« (Kreutzer, Tönende Ordnung der Welt, S. 265). Stieg macht auf den »Prolog im Himmel« des Faust als Quelle für die tönende Sonne bei Trakl aufmerksam (»Die Sonne tönt nach alter Weise«) (vgl. Stieg, Frühling der Seele, S. 166).

Schönen, die intellectuale Anschauung«672.673 Die Einigkeit des Unterschiedenen ist für Trakl erhellend, denn seine beschworene Reinheit führt in der Verunreinigung zu dieser harmonischen Entgegengesetztheit. Insbesondere der doppelte Ausruf »Reinheit! Reinheit!« (Vers 13) erweist sich als Schlüsselstelle des Gedichts.674 Er markiert eine Schnittstelle zwischen vorangehender Lobeshymne auf das harmonisch-idyllische und kraft volle Erwachen des Frühlings und der Seele und dem gleichzeitigen Verweis auf eine notwendige Trübung des Frühlingsbildes durch die Erinnerung an den Tod und an das Schweigen, verdeutlicht durch den temporalen Übergang vom Morgen zum Mittag. Das Oxymoron »Sonnenabgrund« (Vers 15) (tautologisch eingeleitet durch das Strahlen der Sonne) bringt beide Sphären, die der ersehnten Reinheit und die der Grenze der Reinheit, das sind existentiell gesehen das Fremdsein und der Tod, poetologisch gesehen das Sprechen und das Schweigen, auf den Begriff, wie in der dritten Strophe beschrieben: Reinheit! Reinheit! Wo sind die furchtbaren Pfade des Todes, Des grauen steinernen Schweigens, die Felsen der Nacht Und die friedlosen Schatten? Strahlender Sonnenabgrund.675

Oder ist (anders gewendet) die Reinheit nur im Tod erfahrbar und im Schweigen wiederzugewinnen? Es bleibt offen, ob die nachfolgende Trias Tod – Schweigen – Schatten als Opposition zum emphatisch beschworenen Reinheitsbegriff fungiert oder dessen Konkretisierung darstellt. Verknüpft man den Begriff der Reinheit mit der poetologischen Konsequenz des Schweigens, ist indirekt auch wieder das Sprechen mit dem Unreinen korreliert, wie es in »Elis«676 suggeriert wird. Wie es sich auch verhalte, wichtig ist zunächst, dass eine isolierte, ›reine Reinheit‹ offenbar in sich brüchig ist und einen Abgrund, eine Gefährdung, eben eine Grenze, nämlich die des Unreinen, impliziert. Folgt man dem aufgerufenen Konzept der sobria ebrietas und konkretisiert dieses von der nüchternen Trunkenheit auf die paradoxe Figur des Unrein-Reinen, ist es nicht verwunderlich, wenn Attribute prophetischer Figuren wie die des Elis dazugestellt sind. In »Am Abend« findet sich ein ähnlicher Ausruf wie in »Frühling der Seele«: »Ruh und Reinheit!«677 Dieser Wunsch wird bezeichnenderweise ausgesprochen, nachdem zuvor ein Knabe mit »ergrünendem Schritt« (Vers 2) in den Wald geht, wo

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Hornbacher, Die Blume des Mundes, S. 54. Vgl. zu Hölderlin speziell: Hiller, ›Harmonisch entgegengesetzt‹. Das religiös konnotierte Motiv der Reinigung wird auch von anderen expressionistischen Dichtern verhandelt, etwa von Ernst Stadler in seinem Gedicht »Reinigung«: »[…] schon schwemmt die starke Flut dich neu und rein, / Schon bist du selig in dir selbst allein / Und wie mit Auferstehungslicht umhangen […]« (Stadler, Reinigung. In: Stadler, Dichtungen, Schriften, Briefe, S. 131). Trakl, Frühling der Seele II, S. 141. Trakl, Elis (3. Fassung), S. 85f. Trakl, Am Abend (1. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 337.

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er eine rasende Liebe »zu Weiblichem« (Vers 9) erfährt. Genauer tönt es im »grünen Versteck« (Vers 6), da die trunkenen Beine des Knaben (Helian vergleichbar) ein Tönen auslösen (Elis vergleichbar) (»[…] also tönt es, / Wenn du trunken die Beine bewegst«, Vers 6/7) – als Ausdruck eines dionysisch Begeisterten, der sich dem Liebestaumel hingibt. Und dieses Gedicht schließt mit den folgenden Versen: Knospe viel bewahrt, Grünes! Die schon sehr dunkel Entsühne die Stirn mit dem feuchten Abendgezweig, Schritt und Schwermut tönt einträchtig in purpurner Sonne.678

Die verfinsterte Stirn, die durch den feuchten Abendzweig zu entsühnen sei, kann als Pars pro Toto für den sündigen, sich reinigenden Dichter-Seher gelesen werden. Angestoßen wird dieser Entsühnungsprozess von der Sehnsucht nach Reinheit und in der Hoffnung, dass diese trotz oder gerade aufgrund der dionysischen Erfahrung des Abgrunds in der »purpurne[n] Sonne« (Vers 13) – Ausdruck der Reinheit und Gegenbild zum Dunkel der Liebesschuld – zu tönen vermag. In diesem Zusammenhang ist freilich wieder Nietzsches Vorstellung des dionysisch-tönenden Lyrikers aufgerufen.679 Neben dem oben aufgezeigten Subtext von Hölderlins Inspirationstheorie ist mit Blick auf den Trakl’schen »Sonnenabgrund« (Vers 15) Nietzsches Zarathustra aufschlussreich, wo der Abschnitt vor »Sonnen-Aufgang« mit einem Anruf des Himmels beginnt, der als rein, tief und als – von Trakl offensichtlich nur leicht variiert – »Licht-Abgrund«680 bezeichnet wird: Oh Himmel über mir, du Reiner! Tiefer! Du Licht-Abgrund! Dich schauend schaudere ich vor göttlichen Begierden. In deine Höhe mich zu werfen – das ist meine Tiefe! In deine Reinheit mich zu bergen – das ist meine Unschuld! Den Gott verhüllt seine Schönheit: so verbirgst du deine Sterne. Du redest nicht: so kündest du mir deine Weisheit. Stumm über brausendem Meere bist du heut mir aufgegangen, deine Liebe und deine Scham redet Offenbarung zu meiner brausenden Seele. Dass du schön zu mir kamst, verhüllt in deine Schönheit, dass du stumm zu mir sprichst, offenbar in deiner Weisheit.681

Bei Nietzsche sind nicht nur das Reine und das Unschuldige mit dem Bild des Himmels korreliert, sondern diese Himmelsanbetung des Propheten Zarathustra mündet im Oxymoron »Licht-Abgrund« (ein typisch mystisches Bild, das den Tauler’schen Abgrund anzitiert682), einer ›tiefen Höhe‹, einer Mischung der Sphären von Himm-

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Trakl, Am Abend, S. 337. Vgl. wieder Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 44. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 207. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 207. Die Abgrund-Spekulation Johannes Taulers thematisiert das mystische Aufeinanderzugehen von Gott und Mensch (gemäß Ps 41, 8: »Der Abgrund ruft den Abgrund«): Denn der Abgrund (abgrunt) im Menschen strebt nach Vereinigung mit dem Abgrund Gottes: Die Einkehr des ekstatisch entrückten Menschen in die Tiefe seiner eigenen Abgründigkeit (gemäß dem mystischen Prinzip der Gelassenheit) führt ihn in die Höhe von Gottes Abgrund, einen ›Lichtkrater‹ – der räumlichen Vorstellung Taulers entsprechend. Die Seinsfülle Gottes und

lischem und Menschlichem.683 Die paradoxe Bildlichkeit eröffnet einen poetologischen Reflexionshorizont, wenn Gottes Offenbarung und Mitteilung nur im Modus der verhüllten Schönheit, einer stummen Sprache möglich ist. Und ein derartiges mystisches Sprechen zielt nicht auf eine Kommunikationslosigkeit ab, sondern auf ein Mitteilen mittels paradoxer Sprachfiguren im Zustand der Entrückung (»brausende Seele«). Der Abgrund beginnt dabei selbst zu reden: »Mein Abgrund redet, meine letzte Tiefe habe ich an’s Licht gestülpt.«684 Im »Versuch einer Selbstkritik« zur Geburt der Tragödie heißt es: »Sie hätte singen sollen, diese ›neue Seele‹ – und nicht reden!«685 Im Zarathustra wird dementsprechend das Singen der Seele beschworen.686 In »Frühling der Seele« ist die »singende Flamme im Herzen« (Vers 19) exponiert. Die Konzeption des Reinen wird bei Nietzsche ferner mit den Werten des Guten und Bösen korreliert, in eine ethische Fassung eingebettet: Ich aber bin ein Segnender und ein Ja-sager, wenn du nur um mich bist, du Reiner! Lichter! Du Licht-Abgrund! – in alle Abgründe trage ich da noch mein segnendes Ja-sagen. Zum Segnenden bin ich worden und zum Ja-sagenden: und dazu rang ich lange und war ein Ringer, dass ich einst die Hände frei bekäme zum Segnen. Das aber ist mein Segnen: über jedwedem Ding als sein eigener Himmel stehn, als sein rundes Dach, seine azurne Glocke und ewige Sicherheit: und selig ist, wer also segnet! Denn alle Dinge sind getauft am Borne der Ewigkeit und jenseits von Gut und Böse; Gut und Böse selber aber sind nur Zwischenschatten und feuchte Trübsale und Zieh-Wolken.687

In Zarathustras Höhen gilt freilich nur noch der Wert der absoluten Freiheit, die Himmelsanbetung, der Verkehr mit dem Reinen dient dem Himmelsstürmer Zarathustra zur Entlastung von jedweden Grenzen, wie denen der Moral. Der Abgrund, in ethischer Perspektive die Schuld, scheint – vor dem Horizont einer Umwertung der Werte – mit dem reinen Himmel zu verschmelzen. Bei Trakl wird das Reine nicht nur beschworen, sondern ebenfalls mit dem Unreinen verzahnt. Auf die ›Sonnen‹-Zeit folgt in »Frühling der Seele« der »grosse Mittag«688 (Nietzsche) und der Abgrund,

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die Nichtigkeit des Menschen ziehen sich gegenseitig bis zur unio an und stellen einen Prozess der Reinigung vor (vgl. J. Tauler, Predigten. In: Deutsche Mystik, Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Louise Gnädinger, Zürich 1989, S. 237–270, S. 237ff.; zu Tauler siehe: Haas, Mystik als Aussage, S. 471ff.). Vgl. hingegen die Feier des Lichts zu Beginn des Johannes-Evangeliums: Joh 1, 1–5; Joh 8, 12. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 271. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 15. Im »Versuch einer Selbstkritik« zur Geburt der Tragödie schreibt Nietzsche, dass in diesem »Buch für Eingeweihte […] eine fremde Stimme, der Jünger eines noch ›unbekannten Gottes‹« rede (Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 14 [Versuch einer Selbstkritik]), eine »mystische und beinahe mänadische Seele, die mit Mühsal und willkürlich, fast unschlüssig darüber, ob sie sich mittheilen oder verbergen wolle, gleichsam in einer fremden Zunge stammelt« (Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 15 [Versuch einer Selbstkritik]). Vgl. zur Zitation der singenden Seele bei George wieder: George, Nietzsche). Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 280f. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 208f. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 217.

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besser gesagt weist das Oxymoron »Sonnenabgrund« auf das inhärente Moment der Gefährdung der Reinheit ausdrücklich hin: Ein Ich und seine traurige Geschichte, die Schwester und der Dorn (ein Phallus-Symbol) werden im Fortlauf genannt, ferner: »Gewaltiges Sterben und die singende Flamme im Herzen« (Vers 19), also Hinweise auf den Ausbruch der dionysisch-sexuellen Mächte, die nach einem sühnenden Ausdruck streben. Um zunächst das Reine und das Unreine und ihre begriffliche Reichweite bei Trakl angemessen fassen zu können, sind nicht nur deren Bedeutungen für den Dichter-Seher bei Hölderlin und Nietzsche in Erinnerung zu behalten, sondern es sind ferner Vergleichsstellen bei Trakl beizuziehen, und zuletzt können Versuche einer reinen Poesie im Umkreis der französischen Symbolisten als weiterer Subtext beigestellt werden. Zunächst ist das Umfeld des Reinen und seinen Konnotationsebenen bei Trakl zu sichten.689 Im »Kaspar Hauser Lied« (erschienen am 15.11.1913 im Brenner) ist angedeutet, dass die Reinheit des Menschen als Kommunikationsbedingung zwischen dem exzeptionellen Menschen und Gott fungiert, wenn Gott sich nicht im brennenden Dornbusch, sondern mit »sanfte[r] Flamme«690 offenbart:691 Ernsthaft war sein Wohnen im Schatten des Baums Und rein sein Antlitz. Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen: O Mensch!692

Das reine Antlitz Kaspar Hausers verweist auf die religiöse Konzeption des Reinen,693 wonach die Reinheit des Menschen »channels of communication with the divinity«694

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Wie bei Nietzsche ist bei Trakl der Himmel mit dem Reinen assoziiert, wie in »Das Morgenlied«: »Und die himmlischen Fernen sich auftun in leuchtender Reinheit« (Trakl, Das Morgenlied. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 175). Vgl. die biblische Parallele: »Die Stimme des Herrn sprüht flammendes Feuer« (Ps 29, 7); Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 272. Im Forschungsüberblick Thauerers zu dieser Szene kristallisiert sich hingegen eine Forschungstendenz heraus, wonach die Ansprache Gottes den Naturzustand des Kaspar Hauser aufhebe (vgl. Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 273f.), und hierbei wird zu Unrecht der Reinheitszustand als Dialogbedingung übersehen, auch wenn die Ansprache unerwidert bleibt. Hilfreich ist hingegen Dusinis Hinweis auf die Entlehnung »O Mensch!« aus Zarathustras »Nachtwandler-Lied« (vgl. Dusini, Variante, Invariante, S. 205), weil demnach durch Hausers Gott schon der Prophet Zarathustra spricht. Trakl, Kaspar Hauser Lied. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 95. Vgl. ansatzweise ähnlich de Vos, »Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen: O Mensch!«, S. 134; Blass, Die Dichtung Georg Trakls, S. 225. James J. Preston, Purification. In: Encyclopedia of Religion, Bd. 11, hg. von Lindsay Jones, Detroit u.a. 2005, S. 7510–7512, S. 7510.

ermöglicht.695 Bei Hölderlin dient das reine Herz696 – wie oben dargelegt – vergleichbar als Kennzeichen des poeta vates: »Denn sind nur reinen Herzens, / Wie Kinder, wir, sind schuldlos unsere Hände.«697 Nimmt man die Hölderlin-Variante des prophetischen Dichters in den Blick, kann Kaspar Hauser so als prophetisch Klagender (auch hinsichtlich der dekadenten Stadt als Sinnbild der superbia698) erkannt werden: »Stille fand sein Schritt die Stadt am Abend; / Die dunkle Klage seines Munds« (Vers 9/10). Sein Gefolge von Busch, Tier, weißen Menschen und – ein verunreinigendes Moment nennend – sein Mörder begleiten den Weg des »Gerechten« (Vers 16), der an die »gerechten Tage« Elis’ anknüpft.699 Indes sieht er erst in der Einsamkeit den wohl durch den Mörder (möglicherweise sein Alter Ego) initiierten Untergang im Winter: »Silbern sank des Ungeborenen Haupt hin« (Vers 21). Kategorisiert man Kaspar Hauser als ursprüngliche Figuration der Reinheit, als Urbild für den reinen Menschen, ist im Mörder sein unreiner Gegenspieler zu erkennen. Der genannte »Schnee« (Vers 19) als Bild für die Reinheit und der »Schatten des Mörders« (Vers 20) als Bild für die eindringende Unreinheit vereinen sich in der Schau Kaspar Hausers.700 Mit der Figur des Reinen, die an Elis erinnert,701 ist freilich auch ein ethischer Gesichtspunkt verknüpft. Der Reine und von Gott Angesprochene wird nicht umsonst als Gerechter tituliert,702 konträr zum Mörder.

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Vgl. Preston, Purification, S.  7510: »Defi lement represents human failure to attain perfection, to realize a godlike nature, while purification is the human expression of divine aspirations.« Vgl. insgesamt zur Vorgeschichte der Vorstellung des reinen Herzens: Gerhard Härle, Reinheit der Sprache, des Herzens und des Leibes. Zur Wirkungsgeschichte des rhetorischen Begriffs puritas in Deutschland von der Reformation bis zur Aufklärung, Tübingen 1996. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage…, S. 120. Dass prinzipiell das Schöne und das Reine eins sind, die Seele rein sein muss, und die Grenzen zwischen Gott und Mensch zu wahren sind, ist der Tenor in Hölderlins »In lieblicher Bläue…« (Hölderlin, In lieblicher Bläue... In: Hölderlin, StA, Bd. II/1, S. 372–374). Trakl kennt neben diesem reinen Herzen auch andere Variationen, er »nennt das Herz ein armes, dunkles, trunkenes, metallenes, totes Herz« (Doppler, Elemente der Bibelsprache, S. 113). Vgl. Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S.  276. Vgl. Nietzsches Stadt-Kritik: Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 69. Die Vision einer gerechten Seinsweise, eines gerechten Lebens findet sich in mehreren Gedichten Trakls: »Da in seiner Kammer der Mensch Gerechtes sann, / In stummem Gebet um Gottes lebendiges Haupt rang« (Trakl, Abendländisches Lied. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 119); »Oh! wie gerecht sind, Elis, alle deine Tage« (Trakl, Elis (3. Fassung), S. 85); »Doch die Seele erfreut gerechtes Anschaun« (Trakl, Helian, S. 69). Nimmt man nun allerdings die Vorgeschichte Kaspar Hausers hinzu, ist offensichtlich, dass in der Stilisierung des – der Legende nach mehr als scharlatanhaften – Lügners Hauser zur Reinheitsfigur selbst schon eine verunreinigende Rezeption am Werk ist. Vgl. zum »innocent eye« (Imdahl) und zum »Kaspar-Hauser-Blick« (Benjamin) allgemein: Kimmich u. Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 144. Vgl. Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 277. Vgl. Weish 4, 7, Ps 146, 9; Apg 3, 14; vgl. zu weiteren biblischen Subtexten: Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 283.

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Eric Williams macht ferner anschaulich auf die eigenwillige Umdeutung dieser historisch interessanten Figur bei Trakl aufmerksam: Die »kerker-dunklen Anfänge des Findlings«, gemeint ist Hausers Außenseiterdasein als verschollener Mensch, finden bei Trakl gar keine Erwähnung,703 wohingegen »Hausers Existenz in einer geborgenen, hellen, arkadischen Welt der Unschuld« anzusiedeln sei und er aufgrund seiner legendenhaften Stummheit mit Lacan gesprochen einen »vorsprachlichen Zustand des sich bespiegelnden Ich« bei Trakl verkörpere:704 »Die Hauser-Figur kann mit anderen Worten eine Phantasie vorsprachlicher narzißtischer Harmonie und Selbstsicherheit hervorrufen, eine Phantasie, in der die Identität von Ich und Spiegelbild eine idealisierte vorsoziale Einheit von Subjekt und Welt repräsentiert.«705 Dieser sehnsüchtige Wunsch nach einer Heimkehr zu »einer imaginären Welt der kindlichen Unschuld, zu einer vorgesellschaft lichen und unaussprechlichen Welt des ursprünglichen ›Schweigens‹«706 ist in das Umfeld des Sehertums eingebettet, wo die Klage des Munds als prophetisches Sprechen profi liert ist. Und diese Form prophetischer Klage verdeutlicht und überhöht gleichsam die »pathologische Aphasie«707, die dem ›Hauser-Gedicht‹ gerne attestiert wird. Auch im Heinrich gewidmeten Gedicht »Gesang des Abgeschiedenen«708 verweisen Verse auf die von Hölderlin bekannte Konzeption des vates mit reinem Herzen: Schon dämmert die Stirne dem sinnenden Menschen.   Und es leuchtet ein Lämpchen, das Gute, in seinem Herzen Und der Frieden des Mahls; denn geheiligt ist Brot und Wein Von Gottes Händen, und es schaut aus nächtigen Augen Stille dich der Bruder an, daß er ruhe von dorniger Wanderschaft . O das Wohnen in der beseelten Bläue der Nacht.709

Entscheidend ist auch in diesem Seher-Gedicht, dass der reine Mensch nicht nur der Duldende, sondern auch der Wahnsinnige ist und seine drohende Entgrenzung einer Mäßigung (»Maß und Gesetz«) bedarf, damit die stellvertretende Klage überhaupt zu Wort kommen kann: Denn strahlender immer erwacht aus schwarzen Minuten des Wahnsinns Der Duldende an versteinerter Schwelle Und es umfängt ihn gewaltig die kühle Bläue und die leuchtende Neige des Herbstes,

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Vgl. zu den Quellen: Ulrich Struve (Hg.), Der Findling. Kaspar Hauser in der Literatur, Stuttgart 1992; Jochen Hörisch (Hg.), Ich möchte ein solcher werden wie … Materialien zur Sprachlosigkeit des Kaspar Hauser, Frankfurt am Main 1979. Williams, Schweigendes Tönen, S. 151. Williams, Schweigendes Tönen, S. 151. Williams, Schweigendes Tönen, S. 152. Dusini, Variante, Invariante, S. 202. Trakl, Gesang des Abgeschiedenen. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 144. Trakl, Gesang des Abgeschiedenen, S. 144.

Das stille Haus und die Sagen des Waldes, Maß und Gesetz und die mondenen Pfade der Abgeschiedenen.710

Die häufig hervorgehobene, mystisch anmutende Figur des Schweigens711 bei derartigen Seher-Szenarien ist ferner im Blick auf die Elis-Gedichte durch einen Hinweis auf ihren Klagegestus und ihren beredten Körper im Sinne einer visionären Unmittelbarkeitspoetik zu präzisieren. Materialisiert sich Reinheit per se vornehmlich in den Körpern von Menschen, so fallen Trakls verunreinigte Seher-Figuren mit ihren stigmatisierten Körpern besonders ins Auge.712 Dass Figuren des Schweigens und vorsprachlicher Identität eine große Faszinationskraft auf Trakl ausüben, sei unbestritten, zumal er gegenüber seinem Freund Buschbeck seine Wahlverwandtschaft mit Kaspar Hauser unmissverständlich betont: »Wozu die Plage. Ich werde endlich doch immer ein armer Kaspar Hauser bleiben.«713 Dessen Weg aus einem Naturzustand in die »verfluchte Welt«714 ist mit einem Prozess der Sprachfindung zu verknüpfen. Dementsprechend sind Trakls Seher wie Elis und Hauser in einem Zwischenreich von Schweigen und Sagen, einem prophetischen Ausdruck als Klage anzusiedeln. Eine vergleichbare Vision der »kristallne[n] Kindheit«715 im Gedicht »Die Heimkehr« als Bild eines hermetisch abgeschlossenen Bereichs der Reinheit transzendiert immer schon die Stummheit Hausers, auch wenn sie noch nicht den Status des Sagens (clare et distincte) erreicht: Die Tropfen »von feurigen Lidern« – also Tränen – sind als emotionale Aussagegeste zu verstehen: als Leidenssprache und Klage über den Verlust der dritten, hier provokativ ausgesparten göttlichen Tugend Glaube nach Paulus (vgl. 1. Kor 13, 13): Die Heimkehr […] Reinheit! Anschaut aus blauen Augen Kristallne Kindheit; Unter dunklen Fichten Liebe, Hoffnung, Daß von feurigen Lidern Tau ins starre Gras tropft – Unaufhaltsam!716

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Trakl, Gesang des Abgeschiedenen, S. 144. Kemper konstatiert – wie gesagt – eine mystische Dimension bei Trakl, wonach das »Schweigen […] sein Ziel und seine Grenze« ist (vgl. Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 194). Auch der Ausruf »O Mensch!« (Vers 8) im »Kaspar Hauser Lied« lenkt den Blick (im Sinne eines ecce homo) auf den drohenden Verlust der Reinheit und Unschuld des Menschen. Trakl, Brief an Erhard Buschbeck, Innsbruck vor dem 21.04.1912, S. 487. Trakl, Brief an Erhard Buschbeck, Innsbruck vor dem 21.04.1912, S. 487. Trakl, Die Heimkehr (2. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 162. Trakl, Die Heimkehr (2. Fassung), S. 162.

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Immer wieder finden sich bei Trakl mittels des Unreinen Hinweise auf den Einbruch des Wahnsinns, des Verbrechertums, des Täters, der Schuld auf sich lädt, indem die Opfer und Gerechten in ihrer Reinheit und Unschuld aufgezählt werden und anhand einer oppositionellen Gegenüberstellung ein Verunreinigungsprozess vorgeführt wird: Im Prosagedicht »Traum und Umnachtung« stehen dem Knaben, auf welchem der »Fluch des entarteten Geschlechts«717 lastet und der als »flammender Wolf«718 zum Mörder »der Schwester«719 wird, als Mahnmal für seine ungerechten Taten das »weiße Antlitz der Mutter«720 und die »weiße Gestalt eines Engels«721 gegenüber. Eine Taube (assoziativ weiß) mit zerschnittener Kehle,722 die »weiße Gestalt des Kindes«723 im Dornbusch sind Bilder für seine Opfer.724 Blickt man nun zurück auf Hölderlins Seher-Figur mit dem reinen Herzen, verwundert es nicht, dass der schuldbeladene Mensch nunmehr mit unreinem Herzen auch konsequent als Seher und prophetische Figur konzipiert ist, so in einigen (verstreuten) Versen: »Wenn der Herbst kam, ging er, ein Hellseher, in brauner Au«725 oder »Ein Orgelchoral erfüllt ihn mit Gottes Schauern«726 oder »Ein umnachteter Seher sang jener an verfallenen Mauern und seine Stimme verschlang Gottes Wind«727. Das reine Herz des poeta vates erscheint zunehmend korrumpiert, dessen Wahrhaftigkeit verwandelt in Wollust: »Haß verbrannte sein Herz, Wollust, da er im grünenden Sommergarten dem schweigenden Kind Gewalt tat, in dem strahlenden sein umnachtetes Antlitz erkannte.«728 Und im biblischen Tonfall wird das ›böse Herz‹ des Wahnsinnigen beschrieben: »Da es Nacht ward, zerbrach kristallen sein Herz und die Finsternis schlug seine Stirne.«729 Auch eine zeitweise aufscheinende idyllische Vision in »Traum und Umnachtung« kulminiert in einer Sehnsucht nach Reinheit, freigesetzt durch eine grüne Kapsel mit Mohn als dezenter Hinweis auf die entgrenzende Wirkung von Drogen:730

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Trakl, Traum und Umnachtung, S. 147. Trakl, Traum und Umnachtung, S. 147. Trakl, Traum und Umnachtung, S. 149. Trakl, Traum und Umnachtung, S. 147. Trakl, Traum und Umnachtung, S. 148. Vgl. Trakl, Traum und Umnachtung, S. 148. Trakl, Traum und Umnachtung, S. 149. Im Übrigen hat Trakl als Titelvariante für dieses Prosagedicht auch »Der Untergang des Kaspar Münch« erwogen, was wiederum an die Kaspar Hauser-Figur erinnert (vgl. PfistererBurger, Zeichen und Sterne, S. 24). Trakl, Traum und Umnachtung, S. 147. Trakl, Traum und Umnachtung, S. 147. Trakl, Traum und Umnachtung, S. 149; vgl. zu dieser Umschreibung Hölderlins: Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 20. Trakl, Traum und Umnachtung, S. 148. Trakl, Traum und Umnachtung, S. 148. Vielleicht ist es nicht zu weit gedacht, den Engel als Boten der Reinheit mit Mariä Empfängnis – dem Fest der reinen Empfängnis – zu assoziieren. Dies führt zu einer Art Verklärung: »Ein sanfter Mönch / Faltet die erstorbenen Hände. / Ein weißer Engel sucht Marien heim«

Aber leise sang jener im grünen Schatten des Hollunders, da er aus bösen Träumen erwachte; süßer Gespiele nahte ihm ein rosiger Engel, daß er, ein sanftes Wild, zur Nacht hinschlummerte; und er sah das Sternenantlitz der Reinheit. Golden sanken die Sonnenblumen über den Zaun des Gartens, da es Sommer ward. O, der Fleiß der Bienen und das grüne Laub des Nußbaums; die vorüberziehenden Gewitter. Silbern blühte der Mohn auch, trug in grüner Kapsel unsere nächtigen Sternenträume.731

Von Interesse sind diese Parallelstellen und dieser kleine Nebenblick auf die Hauser-Figur aber v.a. deswegen, weil insbesondere Elis und Helian als Figurationen der verunreinigten Reinheit zu erkennen sind, genauer als Propheten einer noch dürftigeren Zeit als bei Hölderlin. Näherhin sind sie als Grenzgänger und als Figuren der Grenzüberschreitung zu charakterisieren: Ihre Präfigurationen, Schattenbilder, Wiedergänger samt anhängigen Attributen und Motivgeflechten, also insgesamt Verweise auf ihre prophetische Signatur, treten immer wieder in Erscheinung: Ante mortem und post mortem könnte man sagen, denn beispielsweise Elis ist ja explizit als lebendiger Toter, als Revenant konzipiert.732 Dass Trakls morbide »Jenseitsphantasien«733 antichristlich sind, ist evident, genauer gesagt steht auch nicht ein Jenseits, sondern ein doppeltes Diesseits zur Disposition. Dahinter mag sich vielleicht auch eine tiefere okkultistisch-spiritistische Schicht bei Trakl verbergen.734 Interessanterweise ist Elis geradezu mit Rilkes Orpheus-Figur vergleichbar, die prominente Figuration eines

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(Trakl, Verklärung, S. 120). Es scheint geradezu, als folge Trakl hier Nietzsches Programm einer Umwertung der Werte: »Am Ende wurden alle deine Leidenschaften zu Tugenden und alle deine Teufel zu Engeln« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 43). Oder umgekehrt, könnte man hinzufügen. Vgl. Trakls »Psalm II«: »Aus grauen Zimmern treten Engel mit kotgefleckten Flügeln. / Würmer tropfen von ihren vergilbten Lidern« (Trakl, Psalm (2. Fassung), S. 56). Trakl, Traum und Umnachtung, S. 150. Die von Gudrun Grapow getroffene Unterscheidung zwischen einem jüngeren und einem älteren Elis berücksichtigt dieses Wiedergängermotiv bei Trakl nicht (vgl. G. Grapow, Die Elis-Gedichte Georg Trakls, Bern; Frankfurt am Main; Las Vegas 1982, S. 78). Schuchhardt macht dementsprechend den antiken Gedanken der Katabasis stark (vgl. Schuchhardt, Todesdarstellung und Jenseitsphantasien, S. 163). Trakls Interesse an spiritistischen Erscheinungen ist bisher nicht belegt. Beachtet man die vielen Geistererscheinungen in Trakls Lyrik, würde es nicht verwundern, wenn er ähnlich wie Rilke mit spiritistischen Denkmustern in Berührung gekommen ist. Denn ganz ähnlich wie bei Rilke (v.a. im Malte, wo Maltes Großvater Brahe die Ansicht vertritt, dass ein Absterben an der Existenz erinnerter Personen gar nichts ändere (vgl. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 32)) spukt es bei Trakl zuweilen und die Toten erscheinen zu Gast bei den Lebenden, so etwa in »An einen Frühverstorbenen«: »Der Geist des Frühverstorbenen stille im Zimmer erschien« (Trakl, An einen Frühverstorbenen, S. 117). In »Verwandlung des Bösen« heißt es wie selbstverständlich: »Ein Toter besucht dich« (Trakl, Verwandlung des Bösen (2. Fassung), S. 98). Und in »Psalm«: »Auf silbernen Sohlen gleiten frühere Leben vorbei« (Trakl, Psalm (2. Fassung), S. 56). Doppler macht diesbezüglich die von Hofmannsthal her bekannte Vorstellung der Präexistenz, auch im Bezug auf den Knaben Elis, stark (vgl. Doppler, Die Stufe der Präexistenz in den Dichtungen Georg Trakls. In: ZfdPh, 87, 1968, S. 273–284).

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spiritistischen Denkmusters in der Moderne,735 denn für beide gilt: »Ist er ein Hiesiger? Nein, aus beiden / Reichen erwuchs seine weite Natur.«736 Und in »An den Knaben Elis« heißt es mitten im Prozess der Auratisierung des Elis: »O, wie lange bist, Elis, du verstorben.«737 Untote fungieren oftmals als Chiffre für die Erinnerung an das, was nicht tot zu bekommen ist, also an das, was immer wiederkehrt. Ähnlich wie Orpheus ist Elis als eine Mittlerfigur zwischen zwei Reichen,738 dem des Todes und dem des Lebens, angesiedelt, gilt als eine Figuration inspirierten Wahrsagens, ist überdies gezeichnet vom selbstinitiierten Verlust einer bedingungslosen, ganzheitlichen Liebeserfahrung (durch Orpheus’ Rückblick auf die tote Geliebte im Gang aus dem Hades) und nicht zuletzt das Reflexionsmedium für ein (auch modernes) Künstlerverständnis, das in der Klage als Ausdruck zur höchsten Form lyrischen Sagens kulminiert, gerade dann, wenn der (materiell) Tote durch das Forttönen seiner Leier weiterlebt.739 Und bei Hölderlin heißt es dazu prägnant: »Leben ist Tod, und Tod ist auch ein Leben«740, zumindest im Medium der Poesie. Der Verunreinigungsprozess dieser ›tot-lebenden‹ vates-Figuren zu unrein-reinen, unschuldig-schuldigen Boten deutet sich im Wandel vom Seher zum Barbaren, aber auch zum Sänger an. Gerecht ist nämlich allein das Schauen, ungerecht (im Sinne von verunreinigend) das Sagen, wie es oben betont wurde, und daraus erwächst die Vorstellung einer Körperpoetik, die über die Darstellung des verunreinigten Körpers einen Zugang zur reinen Poesie bahnt, die wiederum auf dem Dichterbild des verunreinigten-reinen Dichter-Propheten fußt. Und dieses ist auch an die Reinigungsvor-

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Vgl. dazu das Kapitel V.3.6. Rilke, Sonette an Orpheus, I/6, S. 243. Trakl, An den Knaben Elis, S. 84. In Trakls Orpheus-Gedicht namens »Passion« wird – keine große Überraschung – Eurydike als Schwester im Rahmen einer dunklen Liebe (also der Verbindung von Bruder und Schwester) anzitiert und der Sänger Orpheus mit Zügen Hölderlins versehen (sanfter Wahnsinn, tönendes Saitenspiel), so besonders in den letzten Versen: »Denn immer folgt, ein blaues Wild, / Ein Äugendes unter dämmernden Bäumen, / Dieser dunkleren Pfaden / Wachend und bewegt von nächtigem Wohllaut, / Sanftem Wahnsinn; / Oder es tönte dunkler Verzückung / Voll das Saitenspiel / Zu den kühlen Füßen der Büßerin / In der steinernen Stadt« (Trakl, Passion (3. Fassung), S. 125); vgl. zur Hölderlin-Evokation: Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 18. Vgl. zum Künstlermythos Orpheus als Stammvater aller Dichter stellvertretend: Wolfgang Storch (Hg.), Mythos Orpheus. Texte von Vergil bis Ingeborg Bachmann, Leipzig 1997; Selbmann, Dichterberuf, S. 7f. In Anlehnung an den Orpheus-Mythos, gemäß welchem Orpheus durch die zornigen Weiber des Dionysos enthauptet wird, heißt es in »Passion«, wobei der Titel das mythologische Fundament schon durch diese Anspielung auf den christlichen Leidensweg überlagert: »Daß endlich zerbräche das kühle Haupt« (Trakl, Passion (3. Fassung), S.  125). Besonders deutlich kehrt das Orpheus-Motiv in Trakls spätem Gedicht »Klage« wieder: »An schaurigen Riffen / Zerschellt der purpurne Leib / Und es klagt die dunkle Stimme / Über dem Meer« (Trakl, Klage II. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 166). Dieses Untergangsgedicht weist so indirekt ebenfalls auf das Fortleben des Lieds hin, wie es im Fortgang noch genauer dargelegt wird. Hölderlin, In lieblicher Bläue…, S. 374.

stellungen mit Blick auf die biblischen Propheten rückzubinden. Bei der biblischen Berufung des Propheten wird diesem zunächst sein unreiner Mund gereinigt, wie beispielsweise bei Jesaja erwähnt: Weh mir, ich bin verloren. Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und lebe mitten in einem Volk mit unreinen Lippen, und meine Augen haben den König, den Herrn der Heere, gesehen. Da flog einer der Serafi m zu mir; er trug in seiner Hand eine glühende Kohle, die er mit einer Zange vom Altar genommen hatte. Er berührte damit meinen Mund und sagte: Das hier hat deine Lippen berührt: / Deine Schuld ist getilgt, / deine Sünde gesühnt. (Jes 6, 5–7).

Das Reine ist bei Trakl indes nicht so einfach vom Unreinen zu säubern, wie es die gerne zitierten Worte Trakls nahelegen: »Alle Menschen sind der Liebe wert. Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne.«741 Die daraus ableitbare Poetik der unvollkommenen Sühne muss nicht biographisch unterlegt werden,742 sondern das Adjektiv ›unvollkommen‹ verweist wieder auf die unauflösbare Konnexion von Schuld und Sühne, Verunreinigung und Purifi kation, wie sie dem modernen vates und Propheten-Dichter anhaftet.743 VI.8.2.1. Exkurs: Rimbauds schmutziger, reinheitssüchtiger voyant Rimbauds Anklänge an eine Körperpoetik arbeiten einer Veredelung des unreinen vates zum Träger einer poésie pure ebenfalls zu. Zur Verherrlichung des Verbrechertums des voyant scheut sich Rimbaud nicht, sich selbst als Aussätzigen zu bezeichnen.744 In seinen »Délires« ist der Wunsch nach einem extremen Körperausdruck geäußert: »Ich werde in meinen Körper Wunden schneiden, er soll aufk laffen, über und über. Ich werde mich tätowieren. Wie ein Mongole will ich aussehen.«745 Ein solches Tattoo kann als moderne Variante einer Selbststigmatisierung zur Kennzeichnung des voyant verstanden werden. Nach Goffmann offenbaren Stigmata »Schlechtes über den moralischen Zustand des Zeichenträgers«, sie sind Erkennungszeichen

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Trakl, Aphorismus 2. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 463. Vgl. etwa Kleefeld, Das Gedicht als Sühne. Besonders Trakls »An Luzifer« verweist auf die Molltöne im Glockenspiel des einstigen ersten Engels (vgl. Trakl, An Luzifer (3. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 335). Im Gedicht »Bitte. An Luzifer (2. Fassung)« wird deutlich, wie eine Heimsuchung mit einer Reinigung einhergehen kann, die ein stellvertretendes Leiden befördert: »Gemordet Lamm, des Blut die Welt entschuldet« (Trakl, Bitte. An Luzifer (2. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 334). Vgl. Rimbaud: »Aussätzig sitze ich auf zerbrochenen Töpfen und Brennesseln am Fuß einer sonnenzernagten Mauer« (Rimbaud zitiert nach Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 25). Vgl. zu Rimbaud und Trakl auch Doppler, Orphischer und apokalyptischer Gesang, S. 22. Rimbaud, Une saison en enfer. Ein Aufenthalt in der Hölle, S. 327.

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für eine als »unrein erklärte Person, die gemieden werden sollte.«746 Ähnlich wie Trakl beschreibt Rimbaud die massive Verunreinigung des Körpers mit viel Pathos: »Da sehe ich mich wieder – die Haut zerfressen von Pest und Schmutz – die Haare voller Würmer, die Achselhöhlen, und den schlimmsten Fraß im Herzen […]«747 oder »das trocknende Blut dampft auf meinem Gesicht, und hinter mir ist nichts, nur dieser schreckliche brennende Dornbusch«748. Bei Trakl blutet Elis’ Stirn zur Vergegenwärtigung uralter Legenden und die prophetische Figur initiiert das Tönen des brennenden Dornbuschs als Hinweise auf den fehlenden Dialog mit Gott.749 In Rimbauds Äußerungen zum Genius heißt es (Trakls Vorstellung vom zerschellenden Leib in »Klage«750 vergleichbar): »Sein Leib! ein Traum der Gelöstheit, ein Zerschellen der Gnade am Kreuzweg neuer Gewalt!«751 Mit dieser Profi lierung des märtyrerhaften Sehers geht ebenfalls der Wunsch nach einer neuen Sprache einher: Trakl vergleichbar sehnt sich der Höllen-Besucher Rimbauds nach einer ursprünglich-harmonischen, reinen Schmerz-Sprache: »Aber dahin wird keine Uhr gelangen, nur noch die Stunde des reinen Schmerzes zu schlagen! Wie werde ich aufgehoben sein als ein Kind, im Paradies des Vergessens zu spielen, wo kein Elend mehr ist!«752 Beklagt wird bei Rimbaud nicht nur der Verlust des heiligen Künstlers: »Wenn Gott mir die Stille des Himmels und der Luft gäbe, das Gebet – wie die alten Heiligen. – Die Heiligen! – Die Starken! Die Anachoreten – Künstler, wie man sie nicht mehr braucht!«753, verbunden mit einem Überbietungsgestus: »Poeten und Propheten könnten neidisch werden«754, sondern die Konzeption des modernen voyant ist in ein Sprachexperiment eingebettet: »Ich habe versucht, neue Blumen zu finden, neue Sterne, neue Leiber, neue Sprachen!«755 Die Suche nach neuen Blumen, Sternen, Leibern und Sprachen erklärt auch – wie bei Trakl – die Fokussierung unreiner Körper, denn ein typischer Reinheits-Diskurs ist immer an unmittelbaren Zusammenhängen mit dem menschlichen Körper interessiert: Was rein und was unrein ist, lernt der Mensch zunächst über körperliche Grenzüberschreitungen kennen.756 Da das Un746 747 748 749 750 751

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Goffman, Stigma, S. 9. Rimbaud, Une saison en enfer. Ein Aufenthalt in der Hölle, S. 353. Vgl. Trakl, Brief an Ludwig von Ficker, Salzburg, 26.06.1913, S. 518f. Rimbaud, Une saison en enfer. Ein Aufenthalt in der Hölle, S.  355. Vgl. zur DornbuschAllusion bei Trakl: Trakl, An den Knaben Elis, S. 84. Vgl. Trakl, An den Knaben Elis, S. 84. Trakl, Klage II, S. 166. Rimbaud, Genius. In: Rimbaud, Sämtliche Werke. Französisch-Deutsch. Mit Erläuterungen zum Werk und einer Chronologie zum Leben Arthur Rimbauds, neu durchgesehen von Thomas Keck, Frankfurt am Main; Leipzig 1976, S. 293–295, S. 295. Rimbaud, Une saison en enfer. Ein Aufenthalt in der Hölle, S. 315. Rimbaud, Une saison en enfer. Ein Aufenthalt in der Hölle, S. 317f. Rimbaud, Une saison en enfer. Ein Aufenthalt in der Hölle, S. 321. Rimbaud, Une saison en enfer. Ein Aufenthalt in der Hölle, S. 353f. Vgl. Michael Stausberg u.a., Art. Rein und unrein. [I. »Religionswissenschaftlich«.]. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, hg. von Hans Dieter Betz, Bd. 7, Tübingen 2004, Sp. 239f.

reine immer den Bezugspunkt des Reinen benötigt, typischerweise in der biblischen Regelung und Repräsentation des Reinen durch Figuren wie den Propheten verankert,757 schimmert bei Rimbaud – ähnlich wie in Trakls »Frühling der Seele« – die Sehnsucht nach einem Gegenpol zum tätowierten Körper, dem der Reinheit, durch: »O Reinheit! Reinheit! Es ist dieser Augenblick des Erwachens, der mir die Vision der Reinheit schenkt! – Durch den Verstand gelangt man zu Gott! Herzzerreißende Kalamität!«758 Rimbaud und Trakl zufolge wird der (auch biblisch fundierte) Reinheitsbegriff mittels einer Umwertung allerdings modifiziert, liegt dessen Funktion doch ursprünglich darin begründet, »Abgrenzungen vorzunehmen und bestimmten Grundsätzen die Aura der ›Wahrheit‹ zu verleihen, gegen die das Unreine als unwahr gilt«759. Das Machtpotential des Reinen ist unterminiert, wenn die Träger des Unreinen trotz sozialer Deklassierung (demonstriert auch an ihrer Höllenfahrt) die Macht über das prophetische Dichtungspotential, die reine Poesie reklamieren. Ihr Tabubruch ist natürlich darin zu sehen, dass sie die notwendige Bedingung des Unreinen für das Reine herausstellen und dabei massiv Prozesse der Verunreinigung im Seher-Diskurs nobilitieren. So werden Grenzen gesprengt, die üblicherweise Reinheitsvorstellungen biblischer Art zugrunde liegen, denn für diese gilt: »In differenzierten religiösen Systemen bzw. Kulturen stellen die Kategorien rein und unrein eine klassifi katorisch-kommunikative Leitdifferenz dar. Diese regelt Grenzen nach Innen [...] sowie nach Außen.«760 Dem drohenden Ausschluss Unreiner aufgrund ihrer radikalen Entgrenzung761 aus der Sozietät kann mit einem Akt der Selbststigmatisierung762 begegnet werden, was ein selbstinitiiertes ›Ja‹ zum Ausschluss heiliger Dichter befördert, die ohnehin nur für Eingeweihte schreiben wollen oder können und sich als Medien im Dienste einer reinen Poesie positionieren. VI.8.2.2. Stirnzeichen: Charismatisches Stigma oder Einheit der Differenz Besonders deutlich wird der Fall des Propheten bei Trakl, wenn man eine berühmte Stelle aus der »Offenbarung des Johannes« hinzuzieht, das Buch des ›Bruders‹ der alttestamentlichen Propheten (vgl. Offb 22, 9).763 Der Erlöser ist dort als Figuration

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Vgl. etwa Hes 36, 16–38. Rimbaud, Une saison en enfer. Ein Aufenthalt in der Hölle, S. 349. Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Berlin 1985, S. 60. Stausberg u.a., Art. Rein und unrein, S. 239. Vgl. Christina von Braun, Zum Begriff der Reinheit. In: Metis. Zeitschrift für historische Frauenforschung und feministische Praxis, 11, 1997, S. 7–25, S. 9. Vgl. Lipp, Selbststigmatisierung. Der Verfasser Johannes gilt als frühchristlicher Prophet, der auf die alttestamentliche Prophetie (vor allem die Propheten Jesaja und Ezechiel sowie das Buch Daniel) und ihre Bildersprache sowie die der frühjüdischen Apokalyptik zurückgreift (vgl. dazu im Überblick: Akira Satake, Die Offenbarung des Johannes. Kritisch-exegetischer Kommentar, Göttingen 2008).

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der Reinheit konzipiert: »Sein Haupt und seine Haare waren weiß wie weiße Wolle, leuchtend weiß wie Schnee, und seine Augen wie Feuerflammen; seine Beine glänzten wie Golderz, das im Schmelzofen glüht, und seine Stimme war wie das Rauschen von Wassermassen.« (Offb 1, 14–15).764 Neben den untergehenden Sternen (vgl. Offb 1, 20; 6, 13; 12, 4), dem Bild des Kristalls (vgl. Offb 4, 6; 22, 1)765 und des Goldes (vgl. Offb 3, 18; 21, 18) wird noch eine für Trakl ebenfalls wichtige Scheidung zwischen zwei Stirnzeichen getroffen:766 die mit dem Siegel des Lamms und des Vaters (vgl. Offb 7, 3; 14, 1; 20, 4; 22, 4) und die mit dem Namen des Tieres (des falschen Propheten) gezeichnete Stirn (vgl. Offb 13, 16–17; 14, 9; 14, 11; 16, 2; 19, 20) oder die Nichtgezeichneten (vgl. Offb 7, 4).767 Während die Stirnsiegel in der »Offenbarung des Johannes« als Zeichen der Differenz, als Unterscheidungsmerkmal betont werden, denn nur die Gerechten mit dem Stirnzeichen des Vaters werden das Angesicht des Erlösers schauen (vgl. Offb 22, 4), verschmelzen sie bei Trakl zu einem (gemischten) Zeichen des Dichter-Sehers, zu einer paradoxen Bezeichnung, mit Hölderlin gesprochen zu einem Zeichen der Einigkeit des Unterschiedenen, am prominentesten im »Helian«-Gedicht, wie schon mehrfach zitiert:768 »Da Helians Seele sich im rosigen Spiegel beschaut / Und Schnee und Aussatz von seiner Stirne sinken.«769 Die hergestellte Einheit des

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Vgl. Dan 7, 9. Vgl. Doppler, Orphischer und apokalyptischer Gesang, S. 26. Die Stirn fungiert in der Bibel oftmals als Symbol für den Charakter des Menschen. Die Propheten diagnostizieren mit Blick auf die Stirnzeichen die verunreinigten Sünder. So wird über das gottabgewandte Israel, über das der Prophet Jeremia klagt, berichtet, dass es die Stirn eines Hurenweibes habe (vgl. Jer 3, 3) und dass seine Schuld ein unreiner »Schmutzfleck« ( Jer 2, 22; vgl. Jer (Die Klagelieder), 1, 9) sei. Auf Ezechiels (wie ein Diamant) verhärteter Stirn spiegelt sich das verhärtete, also von Gott verlassene Israel (vgl. Hes 3, 7–9). Ferner wird im Prophetenbuch des Ezechiel – wie in der »Offenbarung des Johannes« (vgl. Offb 7, 3; 9, 4; 13, 16–17; 14, 9; 17, 5; 20, 4) – ausgeführt, dass zur Scheidung der Geister Stirnzeichen zur Markierung eingesetzt werden: Diejenigen, die das Unglück Jerusalems aufrichtig bedauern, erhalten dementsprechend ein schützendes Stirnzeichen, die zeichenlosen Ungläubigen hingegen werden getötet (vgl. Hes 9, 4–6). Nebenbei wird immer wieder hervorgehoben, wie die maßlose Unreinheit als Ausdruck der Gottverlassenheit durch den Propheten zu reinigen sei (vgl. Hes 24, 11–14; Hes 36, 17). Aaron trägt als stellvertretendes Zeichen für die Verfehlungen an den Weihegaben ein Blech aus reinem Gold auf seiner Stirn (mit der Gravur »Heiligkeit dem Herrn«) (vgl. Ex 28, 36–38). Die Hure Babylon trägt ferner auf ihrer Stirn den Namen Babylon (vgl. Offb 17, 5); sie hat das Blut von Propheten getrunken (vgl. Offb 18, 24). Karl Röcks Behauptung vom 18. Januar 1913, dass Trakl »magisch mystisch die unzusammengehörigsten scheinbar heterogensten Elemente« (zitiert nach Eberhard Sauermann, Zyklische Strukturen in Trakls »Helian«. In: Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Szegeder Symposion, hg. von Károly Csúri, Tübingen 1996, S. 169–187, S. 186) zusammenhalte, kann so weiter präzisiert werden. Auch in Hölderlins »Brod und Wein« wird die Frage nach dem Stirnzeichen gestellt: »Warum zeichnet, wie sonst, die Stirne des Mannes ein Gott nicht, / Drückt den Stempel, wie sonst, nicht dem Getroffenen auf ?« (Hölderlin, Brod und Wein, S. 93). Trakl, Helian, S. 73.

Differenten, die Verbindung der Zeichen von Reinheit und Unreinheit, das sind hier »Schnee« und »Aussatz«, konzentriert sich auf den Bereich der Stirn, die wie in der »Offenbarung des Johannes« den Sitz der Zugehörigkeit des Gezeichneten symbolisiert.770 Die biblische Eindeutigkeit der Zuordnung der Zeichen wird bei Trakl indes verweigert, wenn er mittels der paradox angelegten Figur des Propheten eine Zweideutigkeit, Ambivalenz, vielleicht sogar schon ansatzweise eine Ambiguität herstellt, wenn der »Schnee« sowohl ein Kälte- und Erstarrungs-Zeichen771 als auch ein Reinheits-Zeichen772 vorstellt.773 Bei ihm stehen widersprüchliche Zeichen im Stirnzeichen nebeneinander. Erinnert man sich an Trakls sprachskeptische Überlegungen mit Blick auf die schlichte Rede der Bergpredigt774 und daran, dass Jesus nach seiner Bergpredigt-Rede, wo u.a. das reine Herz selig gepriesen wird (vgl. Mt 5, 8), als Erstes einen Aussätzigen ›reinigt‹ (vgl. Mt 8, 1–4), wird deutlich, wie die Helian-Figur mit ihrer doppelten Stirnzeichnung eine grundlegende Reinigung in Frage stellt, dagegen ein Nebeneinander von Reinheit und Unreinheit profi liert. Dient die klare biblische Scheidung zwischen ›rein‹ und ›unrein‹ primär einer Homogenisierung von Parteien, einer effektiven Reduzierung von Komplexität, werden diese Scheidungsmerkmale bei Trakl zurückgenommen. Dies führt zu einer Mehrdeutigkeit prophetischer Zeichen: Das Bluten der Elis-Stirn etwa kann ein stellvertretendes Sühne-Bluten anzeigen oder/und zugleich Elis’ Gefallensein symbolisieren. Seine gerechten Tage scheiden ihn von den Unreinen (vgl. Offb 22, 11) gemäß dem Zeugnis des Sehers in der »Apokalypse« und sein Trinken von der Felsenquelle mag an das Wasser des Lebens erinnern (vgl. Offb 22, 17),775 während der Schlussvers in »An den Knaben Elis« ein verunreinigtes Reinheitssymbol vorstellt: »Auf deine Schläfen tropft schwarzer Tau, // Das letzte Gold verfallener Sterne.«776 Schweiß und Kristall charakterisieren die Stirn Elis’ in »Elis«: »Blaue Tauben / Trinken nachts den eisigen Schweiß, / Der von Elis’ kristallener Stirne rinnt.«777 Versteht man überdies diese Stirnzeichen als typische Stigmata, bleibt offen, ob diese paradoxen Zeichen bei Trakl eine Charismatisierung durch Stigmatisierung oder eine Entcharismatisierung der Propheten befördern oder beides zugleich. Dieses ungelöste Wechselspiel zwischen Stigma und Charisma, die Figur des charismatisierenden und entcharismatisierenden Stigmas

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Dort verweisen zudem die weißen Gewänder auf die reinigende Wirkung der Waschung im Blut des Sühnelamms (vgl. Offb 7, 14). Vgl. Kemper, Gestörter Traum, S. 241. Im biblischen Kontext sind die Sünden rot wie Scharlach und sie sollen »weiß werden wie Schnee« ( Jes 1, 18). In Trakls »Geburt« heißt es: »[…] Mit schwarzem Flügel / Rührt die Knabenschläfe die Nacht, / Schnee, der leise aus purpurner Wolke sinkt« (Trakl, Geburt, S. 115). Auch dieses Gedicht mündet in der »dissonanten Wahrnehmung von Schnee und Purpur« (Kemper, Gestörter Traum, S. 236). Vgl. Szklenar, Beiträge zur Chronologie und Anordnung von Georg Trakls Gedichten, S. 227. Vgl. Trakl, An den Knaben Elis, S. 84; vgl. Trakl, Elis (3. Fassung), S. 85f. Trakl, An den Knaben Elis, S. 84. Trakl, Elis (3. Fassung), S. 86.

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verleihen den Propheten-Figurationen Trakls wiederum ihre besondere prophetische Aura. Damit scheint auch das grundlegende Prinzip der Apokalypse, die Vernichtung der alten Welt und der Wunsch nach Erlösung durch Schaffung einer neuen, vollkommenen Welt, abgewandelt:778 Die »Spannung zwischen Defizienz und Fülle«779 bleibt bei Trakl gerade erhalten, indem ihre Auflösung verweigert wird.780 Ob nun der Aussatz den Verunreinigungsprozess des Dichter-Sehers anzeigt oder auf das stellvertretende Leidensmodell der Propheten hinweist, bleibt bei Trakl ebenfalls offen. Der biblische Aussatz wird gemeinhin als Strafmittel Gottes, als Zeichen der Schuld oder einer Verfehlung des Aussätzigen gedeutet: Man denke nur an die Reinheitsvorschriften des Alten Testaments, die Sexualität, den Tabubruch als Akte der Verunreinigung.781

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Klaus Vondung analysiert anschaulich die Rezeption der »Offenbarung des Johannes« als literarische Apokalyptik in der Zeit des Expressionismus und betont die mitschwingenden mystischen Elemente anhand zahlreicher Beispiele, die auch die Lust an der Zerstörung und die Sehnsucht nach einer neuen Einheit (unio mystica) anzeigen (vgl. Vondung, Mystik und Moderne; Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988). Ihre Auflösung wäre nach Vondung gerade das Merkmal der Apokalypse und das der Gnosis (vgl. Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, S. 446, S. 449, S. 451 u. S. 456). Dass die Opferbereitschaft der Apokalyptiker oft die Kehrseite einer Machtgier darstellt, hebt Vondung als wichtiges Charakteristikum hervor: »Die Synthese von Täter und Opfer im Selbstopfer ist seit zweihundert Jahren ein besonderes Charakteristikum der Apokalypse in Deutschland« (Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, S. 469). Die Opferbereitschaft, die Bereitschaft, das eigene Ich aufzugeben, hilft zumindest, das »Gefühl« (Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, S.  474) der Erlösung zu vermitteln. Das vertauschende Maskenspiel von Täter und Opfer findet sich auch bei Trakl häufig, etwa in »Die Sonne«: »Der Mensch; Jäger oder Hirt« (Trakl, Die Sonne, S. 134). Oder auch in »Verwandlung des Bösen«: »Du, ein blaues Tier, das leise zittert; du, der bleiche Priester, der es hinschlachtet am schwarzen Altar« (Trakl, Verwandlung des Bösen (2. Fassung), S. 97). Die Reinheitsvorschriften im Alten Testament (Lev 11, 1–15, 33) erlangen erst im Neuen Testament eine verinnerlichende Komponente: Reinheit ist demnach nicht nur als körperliche Reinheit, sondern auch als seelische Reinheit zu erstreben: »Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein« (Mk 7, 15–16). Nicht nur das Tauf-Ritual, sondern auch das Purgatorium des Gerichts Gottes sind probate Mittel, die Unreinheit im biblischen Sinne zu überwinden. Gary Schneider-Ludorff bezeichnet Reinheit im Christentum allgemein als »Hinwendung vom Unreinen zum Reinen« (G. Schneider-Ludorff u.a., Art. Rein und unrein. [4. Christentum]. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, hg. von Hans Dieter Betz, Bd. 7, Tübingen 2004, Sp. 242–243, S. 242). Vgl. zu weiteren Hinweisen auf Forderungen nach Reinheit in der Bibel: »Und ein jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist« (1. Joh 3, 2–3); »Fliehe die Begierden der Jugend! Jage aber nach der Gerechtigkeit, dem Glauben, der Liebe, dem Frieden mit allen, die den Herrn anrufen aus reinem Herzen« (2. Tim 2, 22); »Den Reinen ist alles rein; den Unreinen aber und Ungläubigen ist nichts rein, sondern unrein ist beides, ihr Sinn und ihr Gewissen« (Tit 1, 15); »Wer darf auf des Herrn Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reines Herzens ist« (Ps 24, 3–4); »Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen« (Mt 5, 8); »Weiter, liebe Brüder: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es ein Lob darauf seid bedacht!« (Phil 4, 8). Vgl. zum Begriffsfeld des Reinen

Das Zeichen des Aussatzes kann aber auch ein charismatisches Moment bergen und heißen, dass der Gezeichnete von Gott ausgezeichnet, weil zur besonderen Prüfung und Sendung auserwählt ist. Neben Hiob und dem armen Lazarus verkörpert dieses stellvertretende Leidensprinzip der Prophet Jesaja: »Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt […] Doch der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen« (vgl. Jes 53, 5–6; 52, 13–53, 12). Indem Jesus die Aussätzigen und Besessenen heilt, erfüllt er die prophetischen Worte Jesajas: »Er hat unser Leiden auf sich genommen und unsere Krankheiten getragen« (Mt 8, 16–17). Dieselbe Funktion wird freilich dem Erlöser in der »Offenbarung des Johannes« zugeschrieben (vgl. Offb 1, 5). In Trakls »De profundis« findet sich ein isoliertes Stirnzeichen: »Auf meine Stirne tritt kaltes Metall«782,783 das allerdings auch auf die verhärtete Stirn des Propheten Ezechiel hinweisen könnte, dessen diamantene Stirn gerade die Verhärtung des ungläubigen Volks spiegelt (vgl. Hes 3, 7–9). Und Ezechiel ist der Prophet, der einerseits selbst Verunreinigungsprozesse erleidet, wenn er Brot auf Rindermist essen muss (vgl. Hes 4, 15) oder die bitteren Gottes-Worte (vgl. Hes 2, 8–3, 3), das Essen der Buchrollen mit ihren Klagen und Seufzern, zu verdauen hat (vgl. Hes 2, 8–3, 3; Offb 10, 9), andererseits der Künder der Reinheit und des reinen Herzens ist: Ich gieße reines Wasser über euch aus, dann werdet ihr rein. Ich reinige euch von aller Unreinheit und von allen euren Götzen. Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. Ich nehme das Herz aus Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch. (Hes 36, 25–27).784

In »Verwandlung des Bösen« ist von der »Stirne des Aussätzigen«785 die Rede und v.a. in diesem Prosastück mehren sich Hinweise auf den Aussatz als alleinige Auszeichnung des sündigen Dichters, so dass es ein einziges Schuldmanifest darstellt, in welchem nur selten Lichtmomente aufscheinen: Du, ein blaues Tier, das leise zittert; du, der bleiche Priester, der es hinschlachtet am schwarzen Altar. O dein Lächeln im Dunkel, traurig und böse, daß ein Kind im Schlaf erbleicht. Eine rote Flamme sprang aus deiner Hand und ein Nachtfalter verbrannte daran.

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im Christentum als Überblick: Michael Müller, Der Begriff der Reinheit im Christentum. [Online-Publikation: http://www.oddblog.de/reinheit/; einige Zitationen und Namen sind allerdings fehlerhaft: z.B. Schneider-Ludoff statt Schneider-Ludorff ]. Trakl, De profundis II, S. 46. Der Zusammenhang von Prophetie und Aussatz, das charismatisierende Stigma erscheint bei Trakl auch in »Traum des Bösen«: »Des Vogelfluges wirre Zeichen lesen / Aussätzige, die zur Nacht vielleicht verwesen« (Trakl, Traum des Bösen (1. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 29). Wie der Aussatz »silbern« auf der Stirn wächst, wird in »Traum und Umnachtung« beschrieben (Trakl, Traum und Umnachtung, S.  149). Und in einem Gedicht aus dem Nachlass ist zu lesen: »Schnee rinnt durch das starrende Hemd / purpurn über das schwarze Gesicht« (Trakl, Rosiger Spiegel. Ein häßliches Bild, S. 302). Vgl. den Psalm 51, 12: »Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz / und gib mir einen neuen, beständigen Geist!« Trakl, Verwandlung des Bösen (2. Fassung), S. 98.

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O die Flöte des Lichts; o die Flöte des Tods. […] Oder es neigt sich verblichen über die kalte Stirne des Mörders im Dunkel des Hausflurs; Anbetung, purpurne Flamme der Wollust; hinsterbend stürzte über schwarze Stufen der Schläfer ins Dunkel. […] Purpurn leuchtet die Frucht im schwarzen Geäst und im Gras häutet sich die Schlange. O! das Dunkel; der Schweiß, der auf die eisige Stirne tritt und die traurigen Träume im Wein, in der Dorfschenke unter schwarzverrauchtem Gebälk. […] Du, ein grünes Metall und innen ein feuriges Gesicht, das hingehen will und singen vom Beinerhügel finstere Zeiten und den flammenden Sturz des Engels. O! Verzweiflung, die mit stummem Schrei ins Knie bricht.786

Die doppelte Kommentierung des Hinschlachtens »O die Flöte des Lichts; o die Flöte des Tods« könnte auf die Gleichwertigkeit von Licht und Tod, Gutem und Bösem, Priester und Opfertier, roter Flamme und Nachtfalter hinweisen. Der Schweiß auf der eisigen Stirn, das Blut, das nun nicht von der Stirn, sondern aus dem Herzen rinnt, entstammen dem Bildbereich der Heilsfigur Elis, die hier korrumpiert wiederkehrt.787 Während die »purpurne Flamme der Wollust« wieder an die dionysische Entgrenzungssucht der Priester beim frühen Trakl erinnert,788 markiert der Gesang finsterer Zeiten den Einbruch eines prophetisch-apokalyptischen Gerichts. Ein »feuriges Gesicht« ist ein typischer Inspirationsausdruck. Ficker zitiert den Ausruf »O! Verzweiflung, die mit stummem Schrei ins Knie bricht«789 zur Charakterisierung von Trakls Sehergabe.790 Ein »stumme[r] Schrei« ist wieder eine typisch paradoxe Sprachfigur, die ein körperliches Ausdruckspotential und eine Personifizierung der Verzweiflung beinhaltet. So wirr die Zeichen in »Verwandlung des Bösen« sind, so unverkennbar verdichten sich die paradoxen Sprachfiguren,791 die auch auf Trakls prophetisches Erbe zurückzuführen sind. Hin und wieder ist zudem die mögliche Rettung des brechenden Herzens angezeigt, das eine sakrale Nobilitierung erfährt, wie in dem von Ficker gewidmeten Gedicht »Gesang einer gefangenen Amsel« von 1914:

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Trakl, Verwandlung des Bösen (2. Fassung), S. 97f. Vgl. Trakl, An den Knaben Elis, S. 84. Vgl. das Kapitel VI.3. Allerdings ist es interessant zu sehen, dass Trakl z.B. eine Zeile wie »O Verzweiflung, die schweigend in die Knie bricht« umändert in »O Verzweiflung, die schreiend ins Knie bricht«, so dass »schweigend« und »schreiend« nicht nur nach Kemper gehaltlich offenbar bei Trakl dasselbe bedeuten können (vgl. Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 200), sondern auch gemäß einem mystischen Prinzip zwei Begriffe zugleich eine paradoxe und eine tautologische Struktur in ihrer Austauschbarkeit bergen. Ficker, Der Abschied, S. 204. Und Dallago schreibt: »Ich denke, es mag für jeden Menschen die Stunde kommen, wo er ins Knie bricht und es wird eine selige Stunde sein. Und der Kontrast wird hier bei dem aufsteigenden Menschen größer sein, die Wirkung also stärker, ja eine andere.« Die angedeutete Fallhöhe präzisiert er »als ein Niedersinkendes einem andern gegenüber, das sich erheben will« (Dallago zitiert nach Methlagl, Nietzsche und Trakl, S. 100). Dazu zählt u.a. auch die Wendung: »Purpurn leuchtet die Frucht im schwarzen Geäst […]« (Trakl, Verwandlung des Bösen (2. Fassung), S. 98; Hervorhebung GW).

Gesang einer gefangenen Amsel Für Ludwig von Ficker   Dunkler Odem im grünen Gezweig. Blaue Blümchen umschweben das Antlitz Des Einsamen, den goldnen Schritt Ersterbend unter dem Ölbaum. Aufflattert mit trunknem Flügel die Nacht. So leise blutet Demut, Tau, der langsam tropft vom blühenden Dorn. Strahlender Arme Erbarmen Umfängt ein brechendes Herz.792

Nicht von ungefähr wird wieder die leise blutende Demut als Hinweis auf das Martyrium des prophetischen Dichters (beseelt vom dunklem Odem) und als seine Bedingung für die Gnade genannt, wobei die sexuelle Konnotation des Dorns als phallisches Instrument793 mitschwingt. Zudem verschmelzen »die Züge des Dichters mit denen Christi in der Figur des Einsamen«794. Ist der Einsame und Aussätzige demnach der Auserwählte, der Charismatisierte? Wird dadurch – gemäß Lipps Theorie von Stigma und Charisma795 – das Stigma in Charisma umgepolt, indem das Stigma des Propheten immer zwei widersprüchliche Zeichen und damit auch eine ambivalente Bedeutungsebene anzeigt? Und welches Publikum bezeugt den Charismatisierten? Um Elis und Helian, die das Changieren des modernen Dichter-Propheten zwischen Stigma und Charisma körperlich inkarnieren und die eine semantische Umpolung von Stigma in Charisma anzeigen, zu bezeugen, bedarf es bei Trakl auf den ersten Blick keiner charismatischen Interaktion mit dem Publikum mehr, wie es in den soziologischen Theorien ein ›Muss‹ ist. Oder wird dieses Publikum doch noch wenigstens imaginiert? In den Briefäußerungen Trakls, wo auch von stigmatisierten Zeichen, einer Deformation des Körpers die Rede ist, allemal.796 Aber auch die spärlich eingestreuten dialogisierenden Elemente in den Elis-Gedichten weisen auf die charismatisierende Reaktion eines imaginären Publikums hin. Diese Dialogisierung der Elis-Szenerie – dank elegisch-hymnischer Ausrufe wie »O, wie lange bist, Elis, du verstorben«797 oder »O! wie gerecht sind, Elis, alle deine Tage«798 – kann auch als Charismatisierung gewertet werden.799 Fehlt eine konkrete Zuhörerschaft im hermetischen Raum,

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Trakl, Gesang einer gefangenen Amsel, S. 135. Vgl. Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 197. Mengaldo, »Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn«, S. 82. Vgl. Lipp, Stigma und Charisma. Vgl. Trakl, Brief an Hermine von Rauterberg, Wien, 05.10.1908, S. 472. Trakl, An den Knaben Elis, S. 84. Trakl, Elis (3. Fassung), S. 85. Im Blick auf »Psalm« verweist Gerhard Kaiser nur auf das fehlende Gegenüber (vgl. G. Kaiser, Georg Trakl, »Psalm«, S.  129), ohne die charismatisierende Funktion dieser Dialogisierung in der Selbstaussprache zu erkennen.

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ist zumindest ein charismatisierendes Alter Ego zur Apotheose und zur Beglaubigung des prophetischen Elis zu bemerken. Dem ethischen Grenzfeld der Dichter-Propheten, das auch eine Rückkehr des Genies und seiner Zentralstellung des »heilig glühend[en] Herz[ens]«800 impliziert, entspricht des Weiteren das damit korrelierende Feld einer prophetischen GrenzSprache. Auch erscheinen die Trakl’schen Propheten-Figurationen als isolierte Einzelgänger (gesellschaft lich ausgegrenzt) ob ihrer Auszeichnung als partiell Unreine, die in modernen vates-Spielarten erneut eine besondere Nähe zur prophetischen Sprache im Sinne einer besonderen Wahrhaftigkeit entwickeln. Und diese leitet sich wiederum auch von Nietzsche her. Vietta hat anschaulich auf die Zweideutigkeit von Nietzsches Theologiekritik und seiner religiös-verwandten Sprachweise hingewiesen: In seiner Zertrümmerung des alten christlichen Gottes übernehme er nicht nur »Sprechformen, die der christlichen Frömmigkeit zutiefst verbunden bleiben, sondern geradezu die Leidenshaltung des christlichen Gottes selbst. In dem Maße, wie er jenen zertrümmert, verwächst Nietzsche immer mehr mit der christlichen Erlösungshaltung«801. Diese Ambivalenz mit Blick auf eine heilige Autorschaft ist bei Trakl vergleichbar vorhanden und gelangt auch durch seine Vorliebe für paradoxe Sprachfiguren zum Ausdruck. VI.8.2.3. Exkurs: »Zweideutigkeit als System« oder der stigmatisierte KünstlerProphet bei Thomas Mann In später entstandenen Künstlerpoetiken boomt die »Zweideutigkeit als System«802 oder eine doppelte Optik im Sinne Nietzsches erst recht. Thomas Manns prophetische Künstler sind stigmatisiert: Von Aschenbach803 und Tonio Kröger tragen ein

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Goethe, Prometheus. In: Goethe, Werke. Jubiläumsausgabe, S. 61. Vietta, Zweideutigkeit der Moderne, S. 12. In Nietzsches Programmatik »Dionysos gegen den Gekreuzigten« kommt die doppelte Figur des »Erlöser des Erlösers« zum Zuge: Erlösung heißt demnach Leiden. Eine weitere Ambivalenz konstatiert Vietta mit Blick auf Nietzsches Subjektbegriff : »Nietzsche radikalisiert einerseits den Subjektbegriff, erklärt ihn zur einzigen Realität im Sinne der Realitätssetzung, das Objekt wird zur ›Hypothese‹ des Subjekts. Gleichzeitig aber löst er diese einzige Realität selbst als eine ›Fiktion‹, als eine ›Hypothese‹ auf. Der Universalisierung des Subjekts korrespondiert so ein Verschwinden in Nietzsches Texten« (Vietta, Zweideutigkeit der Moderne, S. 14). Th. Mann: Doktor Faustus, S. 50. Aschenbachs Stirn legt ein beredtes Zeugnis von der zerrütteten Grunddisposition des Dichters ab: »Sein rückwärts gebürstetes Haar, am Scheitel gelichtet, an den Schläfen sehr voll und stark ergraut, umrahmte eine hohe, zerklüftete und gleichsam narbige Stirn« (Th. Mann, Der Tod in Venedig, S. 363). Vgl. ferner sein gezeichnetes Künstlerporträt: »Auch persönlich genommen ist ja die Kunst ein erhöhtes Leben. Sie beglückt tiefer, sie verzehrt rascher. Sie gräbt in das Antlitz ihres Dieners die Spuren imaginärer und geistiger Abenteuer, und sie erzeugt, selbst bei klösterlicher Stille des äußeren Daseins, auf die Dauer eine Verwöhntheit, Überfeinerung, Müdigkeit und Neugier der Nerven, wie ein Leben voll ausschweifender Leidenschaften und Genüsse sie kaum hervorzubringen vermag« (Th. Mann, Der Tod in

Mal auf der Stirn,804 das bei Tonio ein »Lechzen nach Reinheit« und eine »Zeugungswonne« zwischen »eisiger Geistigkeit und verzehrender Sinnenglut« auslöst,805 verbunden mit der Erkenntnis, »daß gute Werke nur unter dem Druck eines schlimmen Lebens entstehen, daß, wer lebt, nicht arbeitet, und daß man gestorben sein muß, um ganz ein Schaffender zu sein«806: »Literatur ist überhaupt kein Beruf, sondern ein Fluch.«807 Die Trennung des Künstlers von den Menschen sowie seine Einsamkeit sind eine Folge davon.808 Seine Stigmatisierung ist die Kehrseite eines besonderen Charismas: Im Kunstgespräch zwischen Tonio und Lisaweta Iwanowna betont Lisaweta die »reinigende, heiligende Wirkung der Literatur, die Zerstörung der Leidenschaften durch die Erkenntnis und das Wort, […] die erlösende Macht der Sprache« und bezeichnet den Künstler als »Heilige[n]«.809 Indem der Künstler indes »trotz aller Erlösung durch die Literatur unentwegt darauf los [sündigt]«810, schafft er als »verirrter Bürger«811 zweier Welten etwas »tief Zweideutiges«812. Die Bestimmung des Künstlers als Heiliger und Prophet wird auch bei Thomas Mann über einen Reinheits-Diskurs entwickelt, der das Unreine als Ingredienz des Reinen zu nobilitieren sucht. Das zweideutige Werk ist das Produkt des unrein-reinen prophetischen Künstlers. Schon der Prior von San Marco in »Fiorenza« spielt als Un-

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Venedig, S. 363). Ähnlich wie für Aschenbach im »Tod in Venedig« (1912) ist der Heilige Sebastian und seine Märtyrerlegende für Trakl eine wichtige Identifikationsfigur (vgl. Trakls Gedichtbandtitel Sebastian im Traum; Schünemann, Georg Trakl, S. 54). Aschenbach gilt eingangs als Prototyp des poeta faber, als Leistungsethiker, Zuchtfanatiker, Heros der Schwäche, Ruhmbegieriger und damit ironisch als Folie für Manns eigenes Künstlerleiden; ebenso spiegelt die Sebastian-Figur das Martyrium des duldenden Künstlers: »Denn Haltung im Schicksal, Anmut in der Qual bedeutet nicht nur ein Dulden; sie ist eine aktive Leistung, ein positiver Triumph, und die Sebastian-Gestalt ist das schönste Sinnbild, wenn nicht der Kunst überhaupt, so doch gewiß der in Rede stehenden Kunst« (Th. Mann, Der Tod in Venedig, S. 360). Zur Sebastian-Figur als Ikone der Homosexuellen siehe die Hinweise bei: Kemper, Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, S.  155. Heselhaus unterstreicht die Wichtigkeit der Sebastian-Gestalt für den Expressionismus: »Der Dichter als Leidender in der erneuerten Sebastian-Gestalt – der Dichter als Visionär und Verzückter: das sind die beiden wichtigsten Gestalten, die die expressionistische Dichtung hervorgebracht hat. In Zusammenhang damit wird die hymnische Verklärung oder die pathetische Schmerzensklage ein bevorzugtes Thema« (Heselhaus, Deutsche Lyrik der Moderne, S. 149). Bei Trakl wiederum kreuzen sich die Leidensthematik und der visionäre Gestus des Märtyrers. Vgl. Th. Mann, Tonio Kröger, S. 228 u. S. 233. Th. Mann, Tonio Kröger, S. 228. Th. Mann, Tonio Kröger, S. 229. Th. Mann, Tonio Kröger, S. 233. Vgl. zu Tonio Krögers Kunstverständnis ausführlich u.a.: Yasushi Sakurai, »Tonio Kröger«. Ein Beispiel der »imitatio Goethe’s« bei Thomas Mann. In: Thomas Mann. Romane und Erzählungen, hg. von Volkmar Hansen, Stuttgart 1993, S. 68–88. Vgl. Th. Mann, Tonio Kröger, S. 233. Th. Mann, Tonio Kröger, S. 235. Th. Mann, Tonio Kröger, S. 237. Th. Mann, Tonio Kröger, S. 240, vgl. S. 264. Th. Mann, Tonio Kröger, S. 265.

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reiner mit dem Feuer, um die Welt zu reinigen, und erhält deswegen die Warnung von Fiore, dass das »Feuer, das du entfachst, dich verzehren [wird], dich selbst, um dich zu reinigen und die Welt von dir«813. Bei Thomas Mann ist der Gezeichnete auch der geniale Künstler in der Nachfolge Nietzsches: Insbesondere die faszinierende Gestalt des Musikers Adrian Leverkühn ist ein prominentes Beispiel für eine Nietzsche-Figuration,814 die die Sehnsucht nach dem autonomen Genie in seiner Abhängigkeit vom Bösen ins Bild setzt.815 Das Liebesverbot, der Verlust des reinen Herzens, die Aufopferung des kleinen Nepomuk (auch eine knabenhafte Heilsgestalt), der exponierte Hochmut (superbia) und damit einhergehend die sterile Kälte des Künstlers sind Bedingungen für eine neue Kreativität und für genialische Werke (im Geiste Schönbergs und Adornos), die jenseits von Gut und Böse anzusiedeln sind und denen – neben Nietzsches Perspektivismus – ein federführendes Kunstprinzip, die »Zweideutigkeit als System«816, eine grundlegende Ambivalenz zugrunde liegt:817 »Aber wie, wenn der künstlerischen Paradoxie, daß aus der totalen Konstruktion sich der Ausdruck – der Ausdruck als Klage – gebiert, das religiöse Paradoxon entspräche, daß aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung keimte?«818 Interessant ist Zeitbloms Frage insofern, als sie den Kern der Engführung von der Existenz des inspirierten und sündigen Künstlers mit einer Kunst, die seine Künstlerexistenz reflektiert und zu entsühnen scheint (etwa Leverkühns Werk »Dr. Fausti Weheklag«), beleuchtet: Die Übertragung der künstlerischen Paradoxie auf das religiöse Paradoxon bleibt im Hinblick auf Leverkühns Hoffen auf Gnade in der Schwebe, wie auch bei Trakls Seher-Szenarien, die nicht zuletzt an Hyperions Schicksal gemahnen.819 Das Prinzip der Doppeldeutigkeit prägt Thomas Manns Kunstauffassung entscheidend,

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Th. Mann, Fiorenza, S. 812. Vgl. Th. Mann, Nietzsche’s Philosophie; Böschenstein, Ernst Bertrams Nietzsche. Eine Quelle für Thomas Manns »Doktor Faustus«. In: Euphorion, 72, 1978, S. 68–83; Peter Pütz, Thomas Mann und Nietzsche. In: Nietzsche. Werk und Wirkungen, hg. von Hans Steffen, Göttingen 1974, S. 91–114; Liisa Saariluoma, Nietzsche als Roman. Über die Sinnkonstituierung in Thomas Manns »Doktor Faustus«, Tübingen 1996. Vgl. Th. Mann, Doktor Faustus. Th. Mann, Doktor Faustus, S. 50. Und dieses Prinzip ist auch in der Trakl-Philologie ein immer wiederkehrendes Thema: »Die Wiederholung und Variation der Satzformen und Wortgruppen, das Setzen und Versetzen von wiederkehrenden Worten und Ineinanderschieben von Themen führt zu semantischer Mehrdeutigkeit. Sprachliche Konstellationen, die aufeinander verweisen und sich wechselweise Bedeutungen zuspielen, zielen darauf ab, Ungesagtes und Sprachloses zur Sprache zu bringen« (Doppler, Von der Inhaltsseite zur Ausdrucksseite der Sprache. (Annäherungsversuche an die Lyrik Georg Trakls und Interpretation des Gedichtes »Abendland«). In: Deutungsmuster, hg. von Hans Weichselbaum, Salzburg 1996, S. 9–19, S. 13). Th. Mann, Doktor Faustus, S. 490. Vgl. Hyperions Worte an Bellarmin: »Ich hatt es nie so ganz erfahren, jenes alte feste Schicksalswort, daß eine neue Seligkeit dem Herzen aufgeht, wenn es aushält und die Mitternacht des Grams durchduldet, und daß, wie Nachtigallgesang im Dunkeln, göttlich erst in tiefem Leid das Lebenslied der Welt uns tönt« (Hölderlin, Hyperion, S. 741).

wie er selbst in einem Tagebucheintrag vom 13. Oktober 1953 im Blick auf Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull festhält: »Heitere Ambiguität [ist] im Grunde mein Element.«820 Bei Trakl ist freilich das ausgleichende Prinzip der Heiterkeit und das der Ironie nicht zu finden, das Thomas Mann zuletzt ein Sowohl-als-auch, eine doppelte Perspektive ermöglicht. Dieses Prinzip greift allerdings noch nicht beim Doktor Faustus. Charismatisiert wird der teuflische, vom Teufelspakt stigmatisierte Künstler von seinem humanistischen Freund Zeitblom. Und beiden ist das »Geheimnis ihrer Identität«821 zu unterstellen. Die im Doktor Faustus virulente Genie-Problematik,822 die Verunreinigung des prometheischen Genies (im Übrigen durch einen sexuellen, stigmatisierenden Akt mit der unreinen Esmeralda, deren Berührung »runenhaft« als »Klang-Chiffre«823 fortan sein Werk prägt), ist vergleichsweise auf die Propheten-Dichter-Sphäre eines Trakl rückzubeziehen. Auch mag beider Selbstentwurf als Künstler die Vorstellung von Reinigung zugrunde liegen, wie dies bei Thomas Mann leitmotivisch seine Mose-Figur in »Das Gesetz« vorlebt:824 Denn selten ist wohl die Hervorbringung eines Lebens – auch wenn sie spielerisch, skeptisch, artistisch und humoristisch schien – […] diesem bangen Bedürfnis nach Gutmachung, Reinigung und Rechtfertigung entsprungen, wie mein persönlicher und so wenig vorbildlicher Versuch, die Kunst zu üben.825

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Th. Mann, Tagebucheintrag vom 13. Oktober 1953. In: Tagebücher 1953–1955, hg. von Inge Jens, Frankfurt am Main 1995, S. 127. Th. Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans, Amsterdam 1949, S. 81f. Der Teufel nimmt sich im »Doktor Faustus« des Künstlers an, »der Bruder des Verbrechers und des Verrückten« sei (Th. Mann, Doktor Faustus, S. 237). Sein Angebot besteht darin, das »Rechte und Wahre«, das »Archaische, das Urfrühe, das längst nicht mehr Erprobte« zu entbinden (Th. Mann, Doktor Faustus, S. 237). Gemäß seiner Definition als »de[r] wahre Herr des Enthusiasmus« ist sein Mittel die »Inspiration [...], echte, alte, urtümliche Begeisterung, [...] [eine] von Kritik, lahmer Besonnenheit, tötender Verstandskontrolle ganz unangekränkelte Begeisterung, die heilige Verzückung« (Th. Mann, Doktor Faustus, S. 238). Die »Inspiration« enthebe den Künstler als zeitweiligen »Gott« (Th. Mann, Doktor Faustus, S. 231) des »Bessern[s] und Basteln[s]«, da »alles als seliges Diktat empfangen wird« (Th. Mann, Doktor Faustus, S. 238). Krankheit als Zermalmung des Verstandes, »Schmerzen« (Th. Mann, Doktor Faustus, S. 231, S. 236, S. 244), das Gebot der »Kälte« (Th. Mann, Doktor Faustus, S. 249f.) prägen das moderne Genie. Vgl. zum Künstlermythos im »Doktor Faustus« zuletzt: Gabriele Feulner, Mythos Künstler. Konstruktionen und Destruktionen in der deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010, S. 86f. Th. Mann, Doktor Faustus, S. 155. Vgl. Moses ironisch gebrochenes Ringen um die Reinheitsvorschriften des Alten Testaments in »Das Gesetz« (vgl. Th. Mann, Das Gesetz, S. 671ff.). Der unordentliche und unreine Prophet Mose strebt bei Thomas Mann nach dem »Geistigen, Reinen, und Heiligen« (Th. Mann, Das Gesetz, S. 641) und scheut sich dabei auch nicht, unreine Säuberungsmaßnahmen wie eine »blutige Reinigung« (Th. Mann, Das Gesetz, S. 691) zu verordnen. Th. Mann, Meine Zeit. Vortrag gehalten in der Universität Chicago Mai 1950, Amsterdam 1950, S. 8.

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Leverkühns »Apocalipsis cum figuris« ist im Übrigen ein Archiv aller visionären Endzeitvisionen, darunter die »Johannes-Apokalypse«, Fragmente aus Jeremias »Klageliedern«, Hesekiels Lamentationen, Dantes »Inferno« und Dürers »Die Apokalypse«.826 Wie für Nietzsche und für Thomas Manns Leverkühn gilt auch für Trakl: »Der Schmerz, der Widerspruch ist das wahrhafte Sein.«827 VI.8.2.4. Reinigung der Sprache – Auflösung des Propheten in Töne Gemäß dem Programm einer »Zweideutigkeit als System«828, das bei Thomas Mann mit Blick auf die enharmonische Verwechslung, den Doppelsinn des Tons entwickelt wird, stellen die Propheten-Figurationen bei Trakl immer wieder den Versuch einer vermittelnden Position zwischen Sagen und Schweigen, zwischen Hymne und Elegie in der Programmatik des Tönens vor, wie mehrfach hervorgehoben: Die Schau des Elis initiiert das Tönen.829 In »Ein altes Stammbuch« heißt es: »Demutsvoll beugt sich dem Schmerz der Geduldige / Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn. / Siehe es dämmert schon.«830 Die sanfte w-Alliteration unterstreicht die Dignität einer »Poetik der Demut«831. Und in »Hohenburg« liest man, dass »den Tönenden mit purpurnen Armen sein Stern«832 umfängt. Das Finale von »Frühling der Seele« erhellt die Verbindung zwischen der Figur der Reinheit und der von Hölderlin bekannten Weise des Tönens: Den Umkreis von Musik und Harmonie ähnlich wie der späte Hölderlin sprengend,833 kippt in Trakls »Frühling der Seele« das Bild der tönenden Sonne, indem eine tiefe Bedrohung des lyrischen Ich ausgemalt wird. Das Auffinden der »Schwester« leitet zur »Stunde der Trauer« über, die in ein Gefühl der Fremdheit mündet: »Stunde der Trauer, schweigender Anblick der Sonne; / Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden.«834 Dieser Ausspruch der Fremdheitserfahrung ist auch in der Dichtung Hölderlins ein Leitmotiv835 und wird in Heideggers bekannter Trakl-Interpretation ins Zentrum gestellt:836 Nach Heidegger ist der Dichter »einer,

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Vgl. Th. Mann, Doktor Faustus, S. 357f. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1869–1874. In: Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 7, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, S. 202. Th. Mann, Doktor Faustus, S. 50. Vgl. Trakl, An den Knaben Elis, S. 84; oder umgekehrt beglaubigt das Tönen die Elis-Gestalt (vgl. »Zu Abend mein Herz«: »Durch schwarzes Geäst tönen schmerzliche Glocken. / Auf das Gesicht tropft Tau« (Trakl, Zu Abend mein Herz, S. 32)). Trakl, In ein altes Stammbuch, S. 40. Mengaldo, »Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn«, S. 81. Trakl, Hohenburg (2. Fassung), S. 87. Vgl. Kreutzer, Tönende Ordnung der Welt, S. 268. Trakl, Frühling der Seele II, S. 141. Vgl. Hyperion als Heimatloser, Unbehauster, Ruheloser (vgl. Hölderlin, Hyperion, S. 702 u. S. 727) und Diotima als ›Fremdlingin‹ (vgl. Hölderlin, Hyperion, S. 729). Vgl. Heidegger, Die Sprache im Gedicht, S. 39ff.

durch den die SPRACHE selbst spricht«837. Der »Einbruch des ICH und des Präteritums«838 in der vierten Strophe des Gedichts, die panische Mittagsstunde (möglicherweise ein Inzestmotiv) verdeutlichen die zentrale Stellung der Zeit: Gerald Stieg hat deren Wende von der realen Zeit über die historische und psychologische über die religiöse zur ästhetischen Zeit dargelegt.839 Die geistliche Dämmerung verdeutlicht den Schwebezustand zwischen Aufgang und Untergang. »Frühling der Seele« endet zudem gerade nicht mit einem Verweis auf das Schweigen, sondern auf das Tönen der Wasser und auf den »Gesang des Bruders« und setzt damit als Schlussakkord eine akustische Epiphanie: Leise tönen die Wasser im sinkenden Nachmittag Und es grünet dunkler die Wildnis am Ufer, Freude im rosigen Wind; Der sanfte Gesang des Bruders am Abendhügel.840

Der letzte Vers ist auch als eine »Selbstapotheose des Dichters« zu lesen und »gemahnt an Christus, an Hölderlin/Novalis und an den Bruder Georg Trakl selbst«841; insbesondere aber an Hölderlin,842 da dieser die Vorstellung des Tönens843 sowie das »Saitenspiel«844, das u.a. Orpheus und seine siebensaitige Leier evoziert, häufig einsetzt. Das Zusammentönen der Seelen ist bei Hölderlin die bezeichnende Kommunikationssituation der Liebenden, wenn die Worte nicht mehr taugen, so schreibt es Hyperion an Bellarmin: »Wir sprachen sehr wenig zusammen. Man schämt sich seiner Sprache. Zum Tone möchte man werden und sich vereinen in Einen Himmelsgesang.«845 Bei Trakl heißt es in »Anif«: »Wenn es Abend geworden, / Tönende Lie-

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Stieg, Frühling der Seele, S. 164. Stieg, Frühling der Seele, S. 165. Vgl. Stieg, Frühling der Seele, S. 166. Trakl, Frühling der Seele II, S. 142. Methlagl, Nietzsche und Trakl, S. 106. Vgl. Mahrholdt, Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 67. Vgl. Hölderlin, Brod und Wein, S. 90: »Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten«; Hölderlin, Brod und Wein, S. 90: »Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Glocken«; Hölderlin, Brod und Wein, S. 92: »wo tönet das große Geschick?«; Hölderlin, Brod und Wein, S. 94: »Darum singen sie auch mit Ernst, die Sänger, den Weingott / Und nicht eitel erdacht tönet dem Alten das Lob.« Hölderlin, Männerjubel. In: Hölderlin, StA, Bd. I/1, S. 67f., S. 68: »Drum tönet, tönet, tönet den Jubel nach«; Hölderlin, Der gefesselte Strom. In: Hölderlin, StA, Bd. II/1, S. 67: »Schon tönt, schon tönt es ihm in der Brust«; vgl. zur Verwendungsweise des Tönens bei Hölderlin allgemein wieder: Kreutzer, Tönende Ordnung der Welt, S. 258. Hölderlin, Hyperion, S. 623: »[…] und meine Vergangenheit lautet mir oft, wie ein Saitenspiel, wo der Meister alle Töne durchläuft, und Streit und Einklang mit verborgener Ordnung untereinanderwirft«; Hölderlin, Hyperion, S. 628: »wie war denn ich? war ich nicht wie ein zerrissen Saitenspiel? Ein wenig tönt ich noch, aber es waren Todestöne«; Hölderlin, Hyperion, S. 665: »Wie das Saitenspiel der himmlischen Muse über den uneinigen Elementen, herrschten Diotimas stille Gedanken über den Trümmern.« Hölderlin, Hyperion, S. 630.

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be.«846 Der Vers »Stille blüht die Myrthe«847 in »Frühling der Seele« kann auch als Bild für eine unio mystica gelesen werden, den »Traum einer geschlechtslosen Hochzeit mit der toten Schwester«848 besingend, die an Hyperions Verlust Diotimas anknüpft: Als seine »Myrthen verblühten«849 – er Diotima verliert –, reift sein Lorbeer. Hyperions Geliebte Diotima ist – wie Elis – eine besondere Figur der singenden Stille: »Nur, wenn sie sang, erkannte man die liebende Schweigende, die so ungern sich zur Sprache verstand.«850 Ähnlich wie Elis sagt sie indes stillschweigend – im Gesang und im Ton – viel: »Sie schien immer so wenig zu sagen, und sagte so viel.«851 Von einer grundlegenden Paradoxie ist auch Diotimas Todesverständnis geprägt: »Stille war mein Leben; mein Tod ist beredt.«852 Als »Priesterin« und Bewahrerin der heiligen Flamme bewahrt Diotima »im Stillen das Schöne«853 und ein »reiner Mund«854 vermag allein Hyperions und Diotimas Liebe zu bezeugen, durch welche »alle Töne in uns erwachten zu des Lebens vollen Akkorden, göttliche Natur!«855 Hyperions und Diotimas Seelen »und alle Wesen schwebten selig vereint, wie ein Chor von tausend unzertrennlichen Tönen, durch den unendlichen Äther«856. Interessanterweise konzentriert sich Hyperion auf ein fragmentarisches Sprechen über Diotima – wie bei Trakl Elis nur als Fragment zur Evokation von dessen Ganzheit geschildert wird –, wenn er der Erinnerung an die sich ätherisch aufgelöst habende Diotima Raum gewähren will: »Ich muß vergessen, was sie ganz ist, wenn ich von ihr sprechen soll.«857 Die fragmentarische Erinnerung ist für den Künstler ein Leichtes, denn »der Künstler ergänzt den Torso sich leicht«858. Ebenso ist in der räumlich-physischen Trennung von Diotima und Hyperion ihre Einheit angelegt: »Auch wir, auch wir sind nicht geschieden, Diotima, und die Tränen um dich verstehen es nicht. Lebendige Töne sind wir, stimmen zusammen in deinem Wohllaut, Natur! wer reißt den? wer mag die Liebenden scheiden?«859

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Trakl, Anif. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 114. Trakl, Frühling der Seele II, S. 141. Stieg, Frühling der Seele, S. 168. Hölderlin, Hyperion, S. 733. Hölderlin, Hyperion, S.  632. Hyperion partizipiert teilweise an Diotimas seliger Stille: »Wohnt doch die Stille im Lande der Seligen, und über den Sternen vergißt das Herz seine Not und seine Sprache« (Hölderlin, Hyperion, S. 627). Hölderlin, Hyperion, S. 634. Hölderlin, Hyperion, S. 731. Hölderlin, Hyperion, S. 680. Hölderlin, Hyperion, S. 681. Hölderlin, Hyperion, S. 681. Hölderlin, Hyperion, S. 652. Hölderlin, Hyperion, S. 636. Hölderlin, Hyperion, S. 664. Hölderlin, Hyperion, S. 744.

Das Motiv des Tönens kehrt bei Trakl auch im Umfeld von Totenbeschwörungen wieder, verbunden mit dem Motiv des Reinen und dem inspirierten Gesang, beides weiterhin mit dem romantischen Kunstideal der blauen Blume korreliert: Zu deinen Füßen Öffnen sich die Gräber der Toten, Wenn du die Stirne in die silbernen Hände legst. Stille wohnt An deinem Mund der herbstliche Mond, Trunken von Mohnsaft dunkler Gesang; Blaue Blume, Die leise tönt in vergilbtem Gestein.860

In »An einen Frühverstorbenen« wird das Tönen personal gebunden (so wie auch sonst die Schwester bisweilen tönt861) und mit der Blutsprache des Propheten Elis in Verbindung gebracht: »O, das Blut, das aus der Kehle des Tönenden rinnt, / Blaue Blume […].«862 Diese andere Weise des Sagens, die an den Propheten Elis erinnert, der es vermag, durch seine Schau den Dornbusch zum Tönen zu bringen,863 ist auch Hölderlin entlehnt und en gros als eine Figur der Fast-Sprachlosigkeit zu verstehen,864 die ein Erbe prophetischer, vorlogischer, magischer Sprachmacht ist. So sind bei Trakl die Mauern eben nicht nur schweigend, sondern sie klingen oder tönen mitunter,865 und so kontrastiert das Tönen die bei Trakl oftmals evozierte Stille und das Schweigen. Die evozierte Auflösung des Ich in Tönen entspricht auch einer Reinigung der Sprache vom vates, der als reines Sprachrohr der heiligen Stimme instrumentalisiert ist, allerdings ohne gänzlich zu verstummen, wie es auch bei Hölderlin und George bemerkbar ist.866

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Trakl, Verklärung, S. 120. Vgl. Trakl, Geistliche Dämmerung (2. Fassung), S. 118. Trakl, An einen Frühverstorbenen, S. 117. Vgl. Trakl, An den Knaben Elis, S. 84. Ebenso wie z.B. ein »stumme[r] Schrei« (vgl. Trakl, Verwandlung des Bösen (2. Fassung), S. 98). Vgl. etwa Trakl, Untergang (2. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 387. Auch George bemüht den Topos von der Auflösung des Inspirierten durch das Tönen, besonders deutlich in seinem berühmten Gedicht »Entrückung«, wie im Kapitel IV.2.3. dargelegt (vgl. George, Entrückung). Diese Auflösung des Priesters der Natur ist auch im Hyperion alludiert: »Du frägst nach Menschen, Natur? Du klagst, wie ein Saitenspiel, worauf des Zufalls Bruder, der Wind, nur spielt, weil der Künstler, der es ordnete, gestorben ist?« (Hölderlin, Hyperion, S. 669). Im Hyperion scheint immer wieder Hölderlins Naturkonzeption durch, wonach der Mensch ursprünglich »Mittelpunkt der Natur« (Hölderlin, Hyperion, S. 663) ist, gemäß einer pantheistischen Vorstellung ist die Natur Priesterin und »der Mensch ihr Gott« (Hölderlin, Hyperion, S. 663).

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Wie das Tönen, insbesondere die Figur des unrein-reinen Dichter-Sehers, als Bedingung eines (unrein-)reinen Sagens fungiert, erhellt auch ein Seitenblick auf die französischen Symbolisten: Trakls Poetik des Unreinen-Reinen ist kein Einzelfall, erstreckt sich doch die Verwandtschaft zwischen den lyrischen Symbolisten und Trakl neben der Vorstellung vom alchemistischen Sprachexperiment867 und dem Text als »Konstellation von Wort-Sternen«868 auf das Autorschaftsbild vom Dichter-Seher.869 Gerade dann, wenn eine reine Sprache emphatisch postuliert wird, wird das Autorschaftsbild des Propheten virulent. Charles Baudelaires gnostisches Weltbild etwa, welches Hässliches, Grauen, Dreck und Satanismus als Auswüchse des Unreinen einerseits und Schönheit, Reinheit, Idealität und Heiligkeit andererseits immer wieder kontrastiert, färbt auch auf das Autorschaftsbild des magischen Sehers ab, des eine poésie pure ermöglichenden voyant.870 Moog-Grünewald beschreibt anschaulich, 867 868 869

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Vgl. Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 131ff. Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 135. Demzufolge ist zunächst der »Metapher vom Dichter als einem Verseschmied« (Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S.  136), die Kleefeld v.a. mit Verweis auf Gottfried Benns Vorstellung vom »Laboratorium für Worte« (Kleefeld, Mysterien der Verwandlung, S. 135) und der grundsätzlichen Annahme von der Gemachtheit des Gedichts für Trakl in Anschlag bringt, die Metapher und das geschichtsträchtige Autorschaftsbild des poeta vates oder des Dichter-Propheten, das Trakl massiv einsetzt, beizustellen. Pauen streift auch das Autorschaftsbild Baudelaires in seiner Studie zur Gnosis: »Auch bei Baudelaire lässt sich so die gnostische Selbstermächtigung des Subjekts beobachten: Der Autor tritt auf als ein ›Magus‹, der dem verfehlten Werk des Demiurgen seine eigene Schöpfung – die ›künstlichen Paradiese‹ entgegenhält« (Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 96f.). Pauen beschreibt ferner prägnant die für Baudelaire typischen Pole von »Inszenierung des Grauens« und »Evokation des ›Ideals‹« (Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 98) und folgt in seinen Ausführungen ferner Hugo Friedrichs Thesen zur Struktur der modernen Lyrik, der die »leere Idealität, das unbestimmte ›Andere‹« (Friedrich, Struktur der modernen Lyrik, S. 49) als Zentrum dieser Poesie hervorhebt. Besonders in Baudelaires Gedicht »Élévation« (Erhebung) am Beginn der Fleurs du Mal wird das ekstatische Moment vor Augen gestellt: »[…] Glückselig der, der mit kräftigen Schwingen / Zu strahlenden, heitren Gefilden entflieht, // Dessen Geist, wann die Lichter des Morgens erglühten, / Wie die Lerche aufsteigend den Himmel durchschweift, / Der das Sein überfliegend mühlos begreift / Die Sprache der stummen Welt und der Blüten« (Baudelaire, Erhebung. In: Baudelaire, Die Blumen des Bösen, Leipzig 1907, S. 3f.). Das intuitive Erfassen des Seins im Sinne des Absoluten, die Sprache der Blumen erinnern freilich an die Grundfeste Hölderlin’scher prophetischer Dichtungsparameter. Weiterhin beschreibt auch Baudelaire öfters ekstatische Momente: »Bald hatte ich das Gefühl einer zunehmenden Helle, einer mit solcher Schnelligkeit wachsenden Lichtintensität, dass kein Wörterbuch genügen würde, dieses beständige aus Glanz und Weisse Sichneugebären zu schildern. Nun empfing ich völlig die Vorstellung einer Seele, die sich inmitten des Lichtes bewegt, einer Ekstase, gemischt aus Lust und Erkenntnis, die mich weit über die irdische Welt emporführte« (Baudelaire zitiert nach Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 98). Während Trakl sein semantisches Material zur Konstruktion des inspirierten Autor-Mediums aus alttestamentlichen Quellen sowie zentralen Topoi der vatesTradition speist, bezieht Baudelaire für die Autorrolle des inspirierten Dandys zeitgenössische medizinisch-psychologische Wissensbestände ein. Rimbaud schreibt sodann Baudelaire als den ersten Seher seiner Zeit fest (vgl. Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871,

wie bei Baudelaires eigenwilliger Inspirationstheorie unter subversivem Rückgriff auf die »platonische Unterscheidung nach Mantis und Prophetes«871 die Inspiration als »Ausdruck der Arbeit des Intellekts«872 gefasst ist: »Die ›poésie pure‹, die reine, die absolute Poesie, ist Folge und Ausdruck eines Enthousiasmos, der ›methodisch‹ erarbeitet ist […].«873 Dieses Streben nach dem Ideal und seinem Ausdruck in der reinen Kunst scheitert indes an der Materie. So wie bei Trakl das Unreine als notweniges Korrelat zum Reinen (auch im Dichterbild des gezeichneten Propheten) vorgestellt ist, so ermöglicht der Spleen bei Baudelaire erst das Streben nach dem Ideal und zwar derart, dass Spleen und Ideal gar nicht voneinander zu trennen sind. Und gerade Mallarmé, dessen Poetik das Nichts im Sinne des Absoluten, »das schweigende Gedicht aus lauter Weiß«874, als Ideal fokussiert, hat bekanntlich den vates-Dichter Stefan George mit seinen reinen und heiligen Worten, seinen musikalischen Klängen und seinem Selbstverständnis als Meister inspiriert.875 Seine Konzeption der poésie pure erhebt die Reinheit der Sprache zum obersten Prinzip, indem diese direkt auf einen Reinigungsprozess der Sprache von allem Materiellen, sinnlich Erfahrbaren, von allen verkrustet und erstarrt wirkenden, konventionell festgezurrten Kommunikationsschemata abzielt.876 Der »Zugang zum ›Anderen‹«, den Mallarmé anvisiert, setzt »jene Tendenz in Richtung auf einen ästhetischen Gegenentwurf zur Wirklichkeit fort«877, der sich schon bei Baudelaire abzeichnet. Wichtig ist es indes festzuhalten, dass die dominant werdende optische und klangliche Qualität der Worte, ihr in ihr liegender ästhetischer Zweck nicht als ein »bloßes Spiel mit Gestalten, Klängen und Bedeutungen«878 gleichzusetzen sind:879 »Mallarmés Poetik zielt vielmehr

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S. 399). Die zentrale Stellung des Geistes und der Seele bei Baudelaire ist kontrastiv zur niederen Materialität des Körpers konstruiert, dem Kerker der Seele (gemäß dem bekannten platonischen Topos). In vielen Gedichten Trakls ist diese Faszination für den verfallenden Körper virulent, die mitunter auch nekrophile Züge anzeigt, wobei bei ihm gerade keine Leib-Abwertung zu beobachten ist. Iehl hat nachgewiesen, dass beim jungen Trakl viele Baudelaire’sche Motive zu orten sind (Gift, Verführung, Blumen des Bösen, Wollust u.a.), ferner das Bewusstsein des Bösen (Spleen und Verfall) prägend ist und dass bei beiden Dichtern Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit vorherrschen (vgl. Iehl, Trakl et Baudelaire). Auch die leitende Vorstellung einer Reinigung der Seele (vgl. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 9) teilen beide. Moog-Grünewald, EIDOS/IDEA/ENTHOUSIASMOS, S. 96. Moog-Grünewald, EIDOS/IDEA/ENTHOUSIASMOS, S. 94. Moog-Grünewald, EIDOS/IDEA/ENTHOUSIASMOS, S. 101. Friedrich, Struktur der modernen Lyrik, S. 118. Vgl. zur Verbindung zwischen religiösem Ritual und Poesie bei Mallarmé: W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus, S. 23ff. Muschg verweist ferner auf Henri Bremonds Prière et poésie [1926], das als ein Lehrbuch der hermetischen poésie angesehen werden kann (vgl. Muschg, Tragische Literaturgeschichte, S. 153). Vgl. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 101. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 103. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 102. Berger schreibt ähnlich zu Mallarmé: »Genau auf diese Form der sprachlichen Ekstase bezieht sich dann schließlich die poetische Sehnsucht Mallarmés, denn es scheint so, als könne

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auf eine Sphäre absoluter Wahrheit jenseits der Erscheinungswirklichkeit. Die Dichtung sucht eine ›andere‹ Wirklichkeit, das ›Nichts‹ oder das ›Absolute‹ zu evozieren.«880 Der Künstler wird damit zum »Gegenspieler des Schöpfers«881. Dabei mag »das Kunstwerk […] kohärente Bedeutung verweigern, aber darum nicht auch schon die Erfahrung von Bedeutsamkeit«882. Auch Paul Claudels Auffassung des Dichters ist mystisch-prophetisch: »Der Dichter ist Lautwerdung der göttlichen Stimme, ist Sprachorgan des Geistes.«883 Ähnlich wie in Baudelaires mystischer Sprachkonzeption sind bei Trakl paradoxe Sprachgebilde vorherrschend, ein Sprechen also, das zwischen Schweigen884 und Sagen anzusiedeln ist. Bei Trakl kann zuletzt nicht von einer gänzlichen Reinigung der Poesie vom Dichter-Propheten die Rede sein, zumindest nicht mit Blick auf seine Elis-Gedichte. Eine Reinigung im Sinne einer Tilgung des Dichters mag allenfalls für die Reihungsstil-Gedichte zutreffen. Trakl ließe sich demnach nur partiell in die Geschichte einer reinen Poesie einordnen.885 Anders gesagt dominiert bei ihm das Bedingungsverhältnis von Reinem und Unreinem, das einer Umwertung der Werte zuarbeitet. Er ist demnach in eine Reihe mit Arthur Rimbaud

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man dieses Nichts wenigstens in Symbole einfassen, indem man dem transzendenten Sprachzwang eine sprachliche Immanenz, ein System von Andeutungen, verschafft. Und zwar, wenn nötig, in Gestalt einer nihilistischen Mythologie« (Chr. P. Berger, S. 29). Die Ähnlichkeiten zwischen Mallarmé und Trakl betont Berger anhand einer Dialektik von Vergegenständlichung und Auflösung; für die Prinzipien der dichterischen Arbeit seien die Prinzipien Epiphanie und Evokation grundlegend (vgl. Chr. P. Berger, Die Setzung und die Kritik des poetischen Nihilismus, S. 36), der »Hintergrund in den Poesien beruht auf der Macht des dialektischen Bildes, das Vertrauen auf Offenbarung und Rettung gegen die Macht des Nichts stellt« (Chr. P. Berger, Die Setzung und die Kritik des poetischen Nihilismus, S. 38). Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 102. Pauen macht die gnostische Grundierung dieser ästhetischen Konzeption stark: »Das gnostische Denken liefert mit der Vorstellung, genuine Wahrheit sei erst jenseits der Erscheinungswirklichkeit zu finden, die Begründung für die Emanzipation der Künste vom Mimesisprinzip und es vermag gleichzeitig den Künstler jenes gottgleichen Rangs zu versichern, der die Rebellion gegen das Bestehende legitimiert« (Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 105). Pauen, Dithyrambiker des Untergangs, S. 102. W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus, S. 30. So Ernst Curtius’ Sichtweise in Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich zitiert nach W. Braungart, Ästhetischer Katholizismus, S. 33. Obwohl Kemper auf die kühne Metapher ›leise Stille‹ aufmerksam macht, profiliert er Elis zunächst als »Personifizierung des Schweigens« (Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 192). Im Blick auf das »Elis«-Gedicht nennt er als Kontrast zum Schweigen aber auch das Tönen (vgl. Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 193). Der Schauende ist indes nicht nur der Schweigende: Nicht-Sehen kann auch ein mystisch inspiriertes anderes Sehen meinen und muss nicht ein Nicht-Sprechen implizieren, sondern kann auch als Katalysator für ein AndersSprechen im Sinne einer paradoxen Sprachfigur fungieren. Als Kulminationspunkt der reinen Poesie ist die dadaistische Konzeption Balls zu erinnern: Dessen Reinigungsprozesse betreffen letztlich nicht nur eine Reinigung der Sprache, sondern den Versuch einer poetischen Reinigung von der Sprache (vgl. Brokoff, Geschichte der reinen Poesie, S. 507ff.; G. Wacker: Rezension zu Jürgen Brokoff, Geschichte der reinen Poesie).

zu stellen,886 dessen berühmte »Lettres du voyant« (vom Mai 1871) – wie partiell gezeigt – großteils mit Trakls Selbstverständnis als Seher übereinstimmen.887 Gemäß Rimbauds Postulat »J´écrivais des silences, des nuits, je notais l’ inexprimable«888 gibt er gerade nicht nur ein mystisches Sprechen vor, das in sich durch eine Paradoxie geprägt ist, sondern betont ähnlich wie Nietzsche die Geburt neuen Schreibens aus dem Geist des Sehertums. Diese Wahlverwandtschaft bezüglich der Metaphorik des inspirierten Sehens und Schreibens lässt sich bei Trakl gut nachweisen; zudem erkannt man bei ihm – neben dem poeta vates – ebenfalls den poète maudit, wodurch der genuine Eigenbeitrag Trakls zum Sehertum in der Moderne verdeutlicht ist.889 Wenn Grimm hingegen die Gemachtheit der Trakl’schen Gedichte in der Nachfolge Rimbauds unterstreicht und das Dichterbild vom willenlosen Visionär zurückweist,890 entgeht ihm dieser auch von Rimbaud angestoßene Blick auf das Dichter-Seher-Erbe, 886

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Mit einer Fülle an Belegstellen untermauert Reinhold Grimm erstmals den entscheidenden Einfluss Rimbauds auf Trakl (über die Übersetzungen Klammers), den er auf die Jahre 1911 und 1912 datiert und welcher sich nicht ausschließlich durch wörtliche Entlehnungen, v.a. aus dem Bereich des Hässlichen und Ekelhaften, äußert, sondern der hineinreicht in syntaktische Eigentümlichkeiten, Namensgebungen bis hin zu Intonation, Satzbau, sprachlicher Struktur, metrischen Anlehnungen, kühnen und absoluten Metaphern und Motiven (R. Grimm, Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud, bes. S. 304 u. S. 309). Vgl. Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871 und Rimbaud, Brief an Georges Izambard vom 13. Mai 1871. Vgl. das Kapitel II.3.2. Rimbaud, Une saison en enfer. Ein Aufenthalt in der Hölle, S. 332f. Auch im Umfeld expressionistischer Lyriker erfreuen sich Darstellungen von Inspirationstopoi großer Beliebtheit. Ernst Stadlers Gedicht »Der junge Mönch« ist dafür ein Beispiel, denn in ihm konzentrieren sich prominente Bildlichkeiten, die bei Inspirationsberichten üblicherweise eingesetzt werden, auch wenn sie in ein sexuelles Entsagungsszenario eingebettet sind: Genannt sind mittels Parallelismen die wichtigsten Metaphern einer inspirierten (Fremd-)Identität (»Ich bin …«): »Ich bin ein Halm, den meines Gottes Odem regt, / Ich bin ein Saitenspiel, das meines Gottes Finger rühren. // Ich bin ein durstig aufgerissen Ackerland. / In meiner nackten Scholle kreist die Frucht. Der Regen / Geht drüber hin, Schauer des Frühlings, Sturm und Sonnenbrand, / Und unaufhaltsam reift ihr Schoß dem Licht entgegen« (Stadler, Der junge Mönch. In: Stadler, Dichtungen, Schriften, Briefe, S. 161). Erstens bewegt und inspiriert der Atem Gottes den Mönch (unter inspiratio ist das Wirken des Geistes (spiritus) zu verstehen und der Prozess seiner Einhauchung (Ein-Atmung)). Zweitens verweist der Begriff »Saitenspiel« explizit auf die gewichtige Vorstellung des inspirierten Sängers, der – wie bei Hölderlin – als Lyriker (in einer passiven Rolle befindlich) von Gott aktiv – wie ein Instrument, z.B. die Leier, Lyra – bespielt wird. Der Vergleich mit dem Ackerland suggeriert drittens mittels Wettermetaphorik zudem noch die befruchtende Wirkung der Inspiration (und erinnert z.B. an die Eingangszeilen der Hölderlin’schen ›FeiertagsHymne‹). Vgl. R. Grimm, Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud, S. 312. Dass Grimm Rimbauds SeherKonzept nebenbei erwähnt, ohne diesbezüglich seine These der Gemachtheit der Gedichte zu reflektieren, ist erklärungsbedürftig (vgl. R. Grimm, S. 314). Auch die Parallele zwischen Trakls Hauser und Dostojewskis Myschkin, dem Protagonisten in Der Idiot (vgl. R. Grimm, Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud, S.  313), ist insbesondere auf Myschkins ›heilige Krankheit‹ Epilepsie auszuweiten, eine besondere Form, durch die (dem Mythos nach) eine heilig-inspirative Schau freigesetzt wird.

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das sich nicht nur in der Inszenierung des Dichters zum Propheten seiner Zeit, sondern auch in Trakls spezifisch lyrischen Ausdrucksformen, die sich einer visionären Poetik annähern, äußert.

VI.9. Deutungsvoll-deutungslose Zeichen: Zur Semiotik des Dichter-Propheten Früh hat Wolfgang Preisendanz im Anschluss an Walther Killy die Ungegenständlichkeit der Trakl’schen Sprachfiguren betont: »Art und Ordnung der Bilder haben ihren ›Seinsgrund‹ nur mehr als Sprachfiguren, deren Sinn nicht mehr die Natur oder eine persönliche Situation, sondern nur ihre Funktion auf der Ebene des Gedichts erläutern kann.«891 Mit dem häufig auf Trakls Sprachfiguren applizierten Terminus ›Chiffre‹ versucht u.a. Edgar Marsch das Bezugssystem zwischen äußeren Zeichenbeziehungen zu fokussieren und den Verlust jeglicher Repräsentation anzuzeigen.892 Mit Blick auf Trakls »Thesaurus« kommt Baßler zu dem Schluss, dass Trakls Gedichte – vereinfacht gesagt – nichts (mehr) bedeuten.893 Kleefeld hingegen macht die Suche der Chiffren »nach ihrem verlorenen Signifi kat«894 stark, dem Unbewussten, das sich mittels einer psychoanalytischen Tiefenhermeneutik erhellen lasse.895 Anhand der personifizierten, prophetischen Sprachfigur Elis lässt sich eine Sinnreduktion, eine Entleerung des klassischen Propheten-Dichter-Modells in der Nachfolge des Novalis beobachten: Die Elis-Figur birgt ein Archiv von Signifi kanten, die das Signifi kat Dichter-Prophet (entlang einer exzentrischen Bahn) umkreisen. Das von Trakl aufgegriffene Dichter-Propheten-Modell ist dementsprechend bis zur Überstrapazierung beansprucht, wodurch neue prophetische Poetiken generiert werden. Die Novität der prophetischen Autorpoetik Trakls, die Elis inkarniert, ist darin zu sehen, dass der Dichter-Prophet als absolutes Zeichen ohne klaren, verabsolutierbaren Verweis stehen bleibt: Die klassischen Bezugspunkte des Dichter-Propheten, Gott und Gemeinde, sind eliminiert bzw. substituiert durch den ›neuen Gott‹ der Sprache. Und dennoch ist dieser Entleerungsprozess nicht in radikaler Form durchgeführt, denn das Zeichen Elis selbst inkarniert eine Verweisstruktur, die das Dich-

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W. Preisendanz, Auflösung und Verdinglichung in den Gedichten Georg Trakls. In: Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, hg. von Wolfgang Iser, München 1966, S. 227–261, S. 241. E. Marsch, Die lyrische Chiffre. Ein Beitrag zur Poetik des modernen Gedichts. In: Sprachkunst, 1, 1970, S. 207–240, S. 212f. Baßler, Wie Trakls Verwandlung des Bösen gemacht ist, S. 130ff.; Baßler, Trakl, bes. S. 211 u. S. 219f. Kleefeld, Ein Zeichen, deutungslos?, S. 166, vgl. S. 195f. Vgl. Kleefeld, Ein Zeichen, deutungslos?, S. 170. Demnach liegen Trakls Chiffren »unbewusste Signifikate« zugrunde, die wiederum wechseln können (Kleefeld, Ein Zeichen, deutungslos?, S. 183).

ter-Propheten-Modell implizit aufruft , und der moderne Dichter-Prophet steht im Dienst einer neuen göttlichen Sprache. Trakls Propheten-Figurationen verweisen auf das Besondere am prophetischen Zeichencharakter und zwar gemäß einer prophetischen Semiotik: Demnach sind sie Zeichen, die einerseits durchaus eine (sinnstiftende) Verweisstruktur anzeigen (Ausdruck als Klage) und reklamieren, diese Verweisstruktur andererseits gleichzeitig durch ihren Deutungsüberschuss demontieren. Und ein biblischer Prophet ist ja selbst als Figur der Vermittlung konzipiert, als ein medialauthentisches Zeichen (ursprünglich göttlicher Worte), das allerdings – so die hausgemachte Tragik des Propheten, der im eigenen Land nichts gilt – (teilweise gegen seine Intention) zur Unverständlichkeit tendiert, da seine Gegenwartsdiagnose und sein Zukunftsblick nur für Gläubige entzifferbar scheinen. Hier schließt sich die Rezeption Trakls als Prophet seiner Zeit an. Ähnliches gilt – wie gesagt – für Trakls ästhetisierte Propheten-Figurationen. Hölderlins Verse »Ein Zeichen sind wir, deutungslos, / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren«896 aus der zweiten Fassung von »Mnemosyne« bringen dieses auch bei Trakl prominente, prophetische Erbe gut auf den Begriff.897 Zu betonen ist bei Hölderlin das »fast« angesichts eines drohenden Sprachverlusts im Sinne einer relativen und keiner radikal-absoluten Mitteilungskritik.898 Die deutungslosen Zeichen sind grundsätzlich reanimierbar. Ähnlich verweisen die Zeichen bei Trakl lediglich auf eine Dimension der Deutbarkeit, die so unbestimmt und vielfältig ist, was sich auch anhand der Zirkulation von Fragmenten des Elis zeigt, dass sie sich ständig verschiebt, ohne sich indes gänzlich aufzulösen. Geheimer Bezugspunkt bleibt immerhin noch die Vorstellung des ›ganzen‹ Elis, des Dichter-Propheten, der Zeichen und Bedeutung in eins setzt: Bei dieser Trakl’schen Sprachfigur ist der Schwebezustand, genauer die vage Aussicht, auf ein »bald« zu fokussieren: »O Lied voll Schmerz und Ewigkeit! / Gestirn und Schatten grau erbleichen / Und sind bald nur verlorne Zeichen.«899 Diesem angezeigten Grenzfeld der Zeichen zwischen Deutungsüberschuss (Polyvalenz) und einer gleichzeitigen Verweigerung eines radikalen Nicht-Bedeutens (Nullvalenz) lassen sich Trakls prophetische Figuren zuordnen.900 Sie sind Figuren,

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Hölderlin, Mnemosyne (2. Fassung), S.  195. Zum Mnemosyne-Komplex äußert sich auch Derrida, Mnemosyne. In: Derrida, Mémoires. Für Paul de Man, hg. von Peter Engelmann. Aus dem Französischen übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Wien 1988, S. 17–65. Vgl. unter anderer psychoanalytischer Perspektive auch: Kleefeld, Ein Zeichen, deutungslos?. Im Fortgang des »Mnemosyne«-Gedichts heißt es entgegen der einleitend genannten deutungslosen Zeichen: »Zweifellos / ist aber Einer. Der / kann es täglich ändern. Kaum bedarf er / Gesetz. Und es tönet das Blatt und Eichbäume wehn dann neben / Den Firnen.« Jochen Schmidt weist in seinem Kommentar erhellend darauf hin, dass die Eichen prophetische Bäume seien und zusammen mit dem Tönen des Blatts wiederum eine »Deutungsfülle des irdischen Lebens in erfüllter Zeit« ( J. Schmidt, Kommentar. In: Hölderlin, Werke und Briefe, Bd.  1, S.  130) dem drohenden Sprachverlust entgegenstellen würden. Vgl. auch die tönenden Eichen im Hyperion: Hölderlin, Hyperion, S. 685. Trakl, In Milch und Öde; – dunkle Plage. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 289. Mit Blick auf Trakls spätes Prosagedicht »Traum und Umnachtung« folgert Pfisterer-Bur-

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die immerhin noch etwas zeigen:901 Die ästhetisierte Propheten-Figuration zeigt – genauer gesagt – emphatisch auf sich selbst, setzt einen Erinnerungsprozess an ihre Herkunft in Gang und führt dabei gleichzeitig den Prozess ihrer Fragmentierung vor Augen, die illusionär die Kenntnis des ›ganzen‹ Dichter-Propheten zugrunde legt. Während bei Hölderlin etwa die Gebrochenheit des vates in Form seiner fragmentarischen Hymnen angezeigt ist, verlagert Trakl das fragmentarische, prophetische Erbe in seine Figuren selbst, die das Ruinöse des modernen Dichter-Sehers und seine fragmentarische Energie zugleich anzeigen. Wittgensteins Interesse an Trakls Dichtung und an seiner finanziellen Förderung mag auch darin begründet sein, dass er eine ganz ähnliche Sprachauffassung vertritt, wonach es Dinge gebe, die sich zeigen, obwohl sie sich nicht sagen ließen: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.«902 Dieser mystischen Zeige-Poetik entspricht Trakls Exploration einer prophetischen Leib-Poetik. Die scheinbare Apathie und Aphasie von Trakls Propheten-Figurationen weicht einem Pathos des Schmerzes und einem Ausdruck als Klage. Die registrierenden Momente in der prophetischen Schau werden von einer spezifischen Schmerzsprache in der Verlautbarung des Geschauten begleitet. Letztlich sind sie Schwellenfiguren, die, gekennzeichnet durch unauflösbare Gegensätze, mithin Paradoxa, gerade das (nur logisch widersprüchliche) ›Zugleich‹ der verschiedenen Ebenen, u.a. derjenigen der Erlösung und des Verfalls, der Reinheit und der Unreinheit, des Sprechens und des Schweigens, des Lebens und des Todes – insbesondere der durch Hölderlin festgeschriebenen Figur der sobria ebrietas systematisch folgend und diese verschärfend –, als Bedingung für eine prophetische Autorpoetik vorführen. Propheten-Figurationen sind ihrer Natur nach Mittler und dies nicht nur im Sinne einer Vermittlungsfunktion, die teilweise bei Trakl einer Störung ausgesetzt ist, sondern auch dadurch, dass sie eine Mitte darstellen können: Das Paradoxon bzw. in rhetorisch-stilistischer Hinsicht das Oxymoron und die contradictio in adjecto wiederum – als typische Stilmittel der prophetischen Rede –903 können als Figuren der Mitte zweier gegensätzlicher Positionen, die sich eigentlich widersprechen, definiert werden. Obwohl sich die Gegensätze logisch ausschließen, sind sie im Paradoxon indes doch beide ›da‹, zumindest in der Bezeichnung. So können Tote lebendig erschei-

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ger einleuchtend: »Die Polaritäten der hellseherischen Offenbarung, des visionären Traums einerseits und andrerseits des dämonischen Untergangs, Verfall[es] und der Umnachtung schaffen ein Grenzfeld, in welchem wir die Traklschen Gestalten vermuten, im ungewissen allerdings, ob sie Frühverstorbene oder noch Ungeborene sind, ob die Grenze das Ende einer Zeit oder den Anfang einer neuen bedeutet« (Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 26). Diese Differenzierung zwischen ›Sagen‹ und ›Zeigen‹ überholt Wittgensteins Diktum »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen« und präzisiert auch seine Annäherung der Sprache an Musik (vgl. Doppler, Die Musikalisierung der Sprache in der Lyrik Georg Trakls. In: Doppler, Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte, Wien; Köln; Weimar 1992, S. 68–83, S. 81). Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt am Main 1963, S. 115; vgl. Doppler, Elemente der Bibelsprache, S. 111. Vgl. Dietrich, Prophetenrede, Sp. 299.

nen und Verunreinigte rein sein. Zarathustra ist als Propheten-Figuration auch ein Vorbild für diese Figur der Mitte.904 Diese immer auch (auf den ersten Blick) dialektisch wirkenden Setzungen und Gegensetzungen, Vermittlungsversuche und Auflösungen, die nicht mehr in einer höheren Synthesis aufgehoben werden bzw. immer schon den Verlust der Einheit vorwegnehmen, schaffen im Sinne Hegels Bewegung, provozieren aber auch teilweise ein ›Erstarren‹905 der Bilder. Übernimmt man ferner das Rilke’sche ›Gesetz der Komplementarität‹ zur Charakterisierung des prophetischen Phänomens bei Trakl, das sich darin manifestiert, dass einzelne Bilder gerade Bildzeichen entgegengesetzten Sinns nach sich ziehen, muss man dieses dialektische Modell eines dauernden Umschlags des einen in das andere modifizieren und die komplementäre Ordnung bei Trakl so verstehen, dass das eine stets im anderen gegenwärtig ist: der Tod im Leben, die Vergangenheit in der Gegenwart und Zukunft , das Schweigen im Sprechen, die Reinheit in der Unreinheit, der Untergang in der utopischen Hoffnungsvision u.a. und jeweils umgekehrt.906 Und dies erinnert wiederum an Hölderlins Programmatik des Hyperion, wonach die Dissonanzen im idyllisch»elegischen Charakter«907 Hyperions, sein »Gemüt voll wilder Widersprüche«908 auf dem Feld der Schönheit, Liebe und Kunst – als Wiederholungsmodi des göttlichen Mensch[en]909 –, harmonisch aufgelöst sind. Hyperion attribuiert sich als bewegte Stille910 (wie ein Sternenhimmel) und verkörpert die Vorstellung vom »paradox[en] Menschen«911 auf dem Weg zum Künstlerdasein, gemäß welchem das herakleische Prinzip des »Eine[n] in sich selber unterschiedne[n]«912 seine Darstellung findet, wenn auch nur »in Stunden der Begeisterung alles innigst übereinstimmt«913. Das

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Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S.  23: »Eine Mitte bin ich noch den Menschen zwischen einem Narren und einem Leichnam.« Vgl. Pfisterer-Burger, Zeichen und Sterne, S. 57, S. 70 u.a. Im Sinne einer ordre complémentaire, einem seit Rilke namhaften ›Gesetz der Komplementarität‹, ist Elis nämlich auch eine Reflexionsfläche für das Konstrukt einer wenn auch teilweise gestörten Sphärenharmonie, wo »das eine nicht ohne das andere ist: das Leben nicht ohne den Tod, das Sein nicht ohne das Nicht-Sein, die Bewegung nicht ohne die Ruhe, das Steigen nicht ohne das Fallen und umgekehrt«, was – neben Teilen von Rilkes Lyrik – auch für die lyrische Art der Strukturbildung in Rilkes Malte-Roman gilt und eben auch ein erhellendes Licht auf Trakls Elis-Gestalt werfen kann (vgl. zu Rilkes Malte und dessen lyrische Art der Strukturbildung: Fülleborn, Form und Sinn der »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. Rilkes Prosabuch und der moderne Roman. In: Rilkes »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«, hg. von Hartmut Engelhardt, Frankfurt am Main 1984, S. 175–198, S. 184f.; vgl. Baßlers Anmerkungen zum Malte-Roman: Baßler, Maltes Gespenster, S. 246). Hölderlin, Hyperion, S. 579. Hölderlin, Hyperion, S. 635. Vgl. Hölderlin, Hyperion, S. 657. Vgl. Hölderlin, Hyperion, S. 624. Hölderlin, Hyperion, S. 659. Hölderlin, Hyperion, S. 660, vgl. S. 662. Hölderlin, Hyperion, S. 659.

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Leben führt dementsprechend zu seiner Verherrlichung den Tod mit sich,914 in der Trennung liegt die innige Einigkeit, »wir stellen im Wechsel das Vollendete dar« und »wir sterben, um zu leben«915, denn »ohne Tod ist kein Leben«916. Anhand des Hölderlin’schen Liebesbegriffs im Hyperion ist also die Einheit der Dissonanzen entwickelt: »Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.«917 Aber auch platonische Grundfesten des inspirativen Mittler-Wesens sind mit Blick auf Trakls Propheten-Figurationen anzuführen: In Platons Symposion wird das Mittler-Wesen des Eros genauer aus seiner Herkunft begründet, wie der erotisch-philosophische Dämon Sokrates der Seherin Diotimas Weisheiten wiedergibt: Er stammt von der Mutter penia (Armut, Mangel) und dem Vater poros (Reichtum, Überfluss) ab und befindet sich daher als philosophischer Dämon in einem Zwischenzustand zwischen Hässlichem und Schönem, Schlechtem und Gutem, Unwissenheit und Weisheit, Sterblichem und Unsterblichem, weswegen er angestachelt ist, dem Schönen und Guten – gemäß der Vorstellung der Kalokagathie – nachzustellen.918 Seine Aufgabe besteht darin, wie Hermes den Menschen die Kunde der Götter zu verdolmetschen.919 Und gemäß der Eryximachos-Arzt-Rede im Symposion heilt gerade die Seherkunst die kranken Erotiker und stiftet Freundschaft zwischen Göttern und Menschen.920 Und Sokrates wird im Symposion als einer, der in der Trunkenheit stets nüchtern bleibt, geschildert.921 Wie Eros ist auch Elis ein Mittler-Wesen, dessen Sternbild in Opposition zu unserem Schweigen steht, das mittels der Höhlenmetaphorik unterstrichen ist922 – möglicherweise ein Verweis auf das Höhlengleichnis Platons –923, und welcher mit seiner prophetischen Sprachmacht die unheilvolle Kunde der Götter, das Gericht der Worte zumindest noch anzeigt. Daran anschließend ist die Differenz zwischen wahrhaftigem und reinem (Propheten)-Wort und fehlbar-verunreinigtem (Menschen)-Ausdruck anzusiedeln, zwischen biblischer Klarheit und poetischer Unreinheit, als deren Differenz zweiter Potenz die Propheten-Instanz als stigmatisiertes und charismatisiertes Zeichen in den Fokus gerät. Im Ringen um die Überwindung der naturgemäßen Differenz zwischen Wahrheit und trügerischem Ausdruck scheinen zwar kurzzeitig Einheitsmomente auf, etwa das Bluten der Stirn des Elis als leibhafter Ausdruck der Klage, die die Differenz aber nur approximativ überwinden: Das Prinzip des Tönens, das oftmals als ›Endakkord‹ Trakl’scher Gedichte gesetzt ist, ist dem Versuch einer va-

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Vgl. Hölderlin, Hyperion, S. 732. Hölderlin, Hyperion, S. 732. Hölderlin, Hyperion, S. 734. Hölderlin, Hyperion, S. 744. Vgl. Platon, Symposion, 202a–205a. Vgl. Platon, Symposion, 202e. Vgl. Platon, Symposion, 188d. Vgl. Platon, Symposion, 220a. Vgl. Trakl, An den Knaben Elis, S. 84. Vgl. Platon, Politeia, 514a–521b u. 539d–541b.

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gen Zwischenstellung zwischen wahrhaftigem Ausdruck und dessen Verflüchtigung, teilweise angezeigt durch die Verschiebung des tönenden Subjekts vom Ich zur Natur, und daraus resultierend einem leisen Sagen geschuldet. Anders gesagt stellt der Dichter-Prophet selbst ein semiotisches Zeichenmodell in Aussicht, da durch seine (figurale) persona zeitweise eine Einheit von göttlich-naturhafter Bedeutung und menschlich-prophetischem Zeichen verbürgt zu sein scheint, er andererseits eine notwendige Arbeit um die Klärung undeutlicher Zeichen in Gang setzt, er mithin in einen unendlichen Prozess der Zeichendeutung eingeflochten zu sein scheint. Seine vorgestellte fragmentarische Gestalt verdankt sich suggestiven Detailautonomien (auch von vorgängigen Dichter-Propheten), die eine Kenntnis des Ganzen suggerieren und zugleich eine Festschreibung verweigern. Elis inkarniert schließlich nicht nur die Fülle eines großangelegten Dichter-Propheten-Archivs, sondern verweist auch auf dessen Entleerung im Prozess einer Fragmentierung dieser ästhetisierten Wissensbestände. Und diese doppelte Signatur des Dichter-Propheten verleiht ihm selbst die paradoxe Aura eines undeutlich-bedeutungsschwangeren Zeichens. Die medial konzipierte Figur des Dichter-Propheten ist ferner – wie schon angedeutet – mit der Frage nach der Authentizität seines Wortes, verbürgt durch seine Wahrhaftigkeit und Reinheit, zu verknüpfen. Immer dann, wenn der Prophet medialisiert auftritt, d.h., als Objekt (göttlicher) Worte fungiert, als unmittelbares Zeichen (des Wohllauts oder des Untergangs), scheint die Unverfälschtheit seines Ausdrucks am größten zu sein; sobald sich seine subjektive Natur, sein Gefallensein einschaltet, drohen Authentizitätsverluste seine Sendung und den Wahrheitsgehalt seiner Botschaft , seine reine Wahrnehmungsweise des registrativen Sehens zu trüben. Angezeigt ist diese Gefahr des unreinen Ausdrucks durch Stigmatisierungen. Anders gesagt ist Trakls Propheten-Gestalt ebenfalls ein Schauplatz des agonalen Wechsels zwischen menschlicher Autonomie (Sprachmacht) und Autonomie der (göttlichen) Worte (Macht der Sprache). Diese auch bei Trakl zu verzeichnende Prophetisierung seiner Autorpoetik und die daraus resultierende Arbeit am prophetischen Dichterporträt stehen im Dienste einer prophetisch fundierten Sprachfindung. Trakls prophetische Autorpoetik, die sich konzentriert in seinen Propheten-Figurationen findet, zeigt somit nicht nur an, wie der Dichter-Prophet erstens als Medium autonomer oder sakraler Poesie auftritt (wie besonders im Reihungsstil-Gedicht suggeriert), sondern wie er zweitens auch als Verheißungsmedium einer neuen Identitätsstiftung im Zuge einer prophetischen Autorpoetik mittels Herleitung aus einer genealogischen Vorbildkette fungiert (figuriert durch das Dichter-Seher-Archiv Elis), dabei drittens als Legitimationsgarant für den nobilitierten Status des Künstlers zitierfähig bleibt (mit Blick auf Trakls prophetisches Autorschaftsbild) und schließlich viertens ansatzweise als visionärer Gerechter seiner Zeit Soll-Zustände appellativ auszumalen oder ex negativo im Horizont des Apokalyptischen zu hinterfragen vermag. Trakls Propheten-Figurationen verweisen also ebenfalls auf eine Ästhetisierung der Prophetie, die mit einer Prophetisierung der Ästhetik einhergeht. Die Ambivalenz des Verlusts genuiner Prophetie-Poetiken und des Gewinns prophetisch inspirierter Ausdrucksformen ausschöpfend und gleichzeitig eine schöpferische Bejahung dieses Verlusts – wenn auch im Modus der Entstel401

lung oder Negation – anmahnend, wird die Überschneidung der Diskurse Literatur und Prophetie erneut vor Augen geführt und überdies mit dritten Diskursen (Gewalt, Schuld, Unreinheit u.a.) amalgamiert. So wenig ein ›reines‹ Sprechen gemäß einem modernen vates-Konzept durchzuhalten ist, so wenig ist der modernisierte DichterProphet selbst als eine Figuration absoluter Reinheit festzusetzen. Das Purgatorium, die vorgeführte Hygiene des Sehers, basiert auf Verunreinigungsprozessen, so wie der Verlust der Reinheit nicht ohne Kenntnis des Unreinen zu beklagen ist. Dass Trakls Poetik des Prophetischen auch mystische Züge trägt, sei unbestritten.924 Doch ähnlich wie bei Nietzsche und Rilke wird selbst die mystisch-prophetische Rede (das paradoxe Sprechen der Stille, die Reinheit als Bezugspunkt, die Vorliebe für Oxymora u.a.) unter Rekurs auf die biblische Prophetie und die um die Jahrhundertwende virulente poeta vates-Tradition entwickelt. So wie Hölderlin, Rimbaud, Nietzsche und Novalis bei Trakl kontrastiv und analog zusammenkommen, Trakls simultane Rezeption eine »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«925 erlaubt, so ermöglicht ihre kühne Synopse eine Basis für die Entwicklung prophetischen Dichtens bei Trakl sowie eine Wiederbelebung paradoxer Sprachgebilde im Verbund mit einem charismatisch stigmatisierten Dichter-Propheten-Bildnis. In der Dichter-Propheten-Figur Elis konzentriert sich die Macht Trakl’scher Sprachfiguren und ihre drohende Ohnmacht gleichermaßen. Als Transferfigur steht Elis zwischen einer hermeneutischen Auslegepraxis und einer poststrukturalistischen Sinnauflösung. Elis spiegelt prophetisch und avant la lettre immer schon die Forschungsbemühungen der Trakl-Philologie.

VI.10. Einflusslust: Zur Genealogie des Dichter-Propheten Trakls oben besprochenes Gedicht »Frühling der Seele«926 ist – neben den Elis-Gedichten und dem »Helian« – ein gutes Beispiel für die vielfältigen intrapoetischen Beziehungen bei Trakl, da auch in diesem Fall ein zugrunde liegendes InspirationsArchiv aktiviert ist, ein Geflecht an Sehertopoi und typischen Merkmalen von Propheten-Poetiken, die sich Trakl transformierend, modifizierend und revidierend einverleibt: Nicht nur biblische Zitate aus der »Offenbarung des Johannes«927 (»es erlöschen rings die Sterne«, Vers 4), sondern auch prophetische Mythen schwingen bei Trakls Gedicht mit, etwa Hölderlins Figur der sobria ebrietas (»O sanfte Trunkenheit / Im gleitenden Kahn«, Vers 5/6), die Figur des Unreinen-Reinen (»Sonnenabgrund«, Vers 15) und die von Hölderlin bekannte Weise des Tönens (»Leise tönt die Sonne«, Vers 11; »Leise tönen die Wasser«, Vers 26). Neben Anklängen an Novalis’ und Hölderlins Seher-Modell (»Der sanfte Gesang des Bruders am Abendhügel«,

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Vgl. zum mystischen Aspekt stellvertretend wieder: Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 204f. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 27. Trakl, Frühling der Seele II, S. 141f. Vgl. dazu auch: Doppler, Orphischer und apokalyptischer Gesang.

Vers 28), sind auch Einflüsse Nietzsches bemerkbar, v.a. seine mystischen Sprachfiguren wie die des Paradoxons (»Licht-Abgrund«928), bekannt und verkörpert durch die Propheten-Figuration Zarathustra, und nicht zuletzt dienen zeitgenössische Vorstellungen einer poésie pure und Rimbauds Seher-Entgrenzungsmodell der systematischen Verunreinigung auch in diesem Gedicht einer impliziten Vorstellung des prophetischen Figuren- und Poetik-Konzepts bei Trakl, das sich vornehmlich durch Grenzfiguren auszeichnet: Seine Propheten-Figurationen markieren – wie beschrieben – Grenzbereiche zwischen Reinheit und Unreinheit, ihre Sprache scheint ferner auf diesen prophetischen Horizont ausgerichtet zu sein und ist dementsprechend durch Oxymora (»Sonnenabgrund«, Vers 15), Motive des Reinen (»Reinheit! Reinheit!«, Vers 13) wie des Unreinen (»Dorn«, Vers 18), des Lebens (»Blau des Frühlings«, Vers 2) und des Todes (»Pfade des Todes«, Vers 13), des Wohllauts (»leise tönt die Sonne«, Vers 11) und der Klage (»Stunde der Trauer«, Vers 21) u.a. gekennzeichnet. Trakls Dichter-Seher-Genealogie, seine Multiplikation der Vorbilder (Novalis, Hölderlin, Nietzsche, Rimbaud) dienen zunächst einem Verehrungszeugnis und einer Nobilitierungsgeste gleichermaßen durch Einreihung in diese altehrwürdige Ahnengalerie. Das eigene ingenium erfährt mittels dieser Kombinatorik ausgewählter Vorbilder einen Zuspruch, welcher von den Trakl-Biographen bestätigt, bezeugt und fortgeschrieben wird. Beim Trakl’schen Dichter-Erbe ist das Prinzip der Kontinuität im Sinne einer Weiterentwicklung und nicht das der Diskontinuität im Sinne eines radikalen Bruchs zu betonen. Letzteres ist indes mit Blick auf die Negation eines dritten Zeitalters (der Versöhnung) auszumachen.929 Eine Vorbildvernichtung via Überhöhungsgeste klingt nur dezent an, da bei Trakl eine lineare Fortschreibung des vatesModells, seine ›Einflusslust‹, überwiegt. Seine Propheten-Figurationen und die damit zusammenhängende prophetische Sprache sind deswegen aber nicht nur sklavisch-epigonale Kopien der Vorlagen, sondern auch als schöpferische, kritisch-transformierende Aneignungen zu würdigen. Die Vielzahl an herbeizitierten Seher-Größen setzt palimpsestartige Überschreibungen des vates-Urbilds in Gang. Die Hinweise auf das Erbe der Seher-Dichter sind noch entschlüsselbar. Die Beziehung und Transformation mehrerer Seher-Dichter-Vorlagen implizieren – im Gegensatz zu George – nur diskret einen Gestus der Überbietung im Sinne einer Figuraldeutung: Die Wiederbelebung alttestamentlicher Figuren ruft das Verhältnis von Verheißung (praefiguratio) und Erfüllung auf den Plan: Elis wäre demnach einerseits eine Präfiguration, andererseits ansatzweise die gesteigerte Wiederholung der Vorgänger, da seine Verheißung auf die prophetische Gebärde konzentriert ist.930 Betont man Trakls pro-

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Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 207. Kemper konstatiert ein »Schwanken zwischen Zukunftshoffnung und Geschichtspessimismus« (Kemper, Gestörter Traum, S. 239, vgl. S. 241). Vgl. zur Begrifflichkeit: Franz Link, Möglichkeiten einer literarischen Typologie des Alten Testaments. In: Paradeigmata. Literarische Typologie des Alten Testaments, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 1989, S.  11–31; Link, Erträge einer literarischen Typologie des Alten Testaments. In: Paradeigmata. Literarische Typologie des Alten Testa-

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duktive Aneignungen prophetischer Rede unter dem Aspekt der Überhöhung seiner Vorgänger, mögen die folgenden »Helian«-Verse zur Verdeutlichung dienen, die mittels des Hinweises auf Holunder angesichts des leeren Grabs (vgl. Luk 24, 12) schon ›Holder‹931 Hölderlin ersetzen: »Die kindlichen Früchte des Hollunders / Sich staunend neigen über ein leeres Grab.«932 Elis blutet Legenden, das Grab Christi respektive das des Propheten ist indes leer.933 Sind die Seher-Dichter also auferstanden oder bis zur Verflüchtigung verfallen? Unbestreitbar ist bei Trakl die Relativierung eines Seher-Vorbilds vollzogen. Ja mehr noch, die einzelnen anzitierten Seher-Größen und ihre implizierten Seher-Poetiken scheinen insofern austauschbar, da unabhängig davon, an welche Vorlage man sich hält, die Eigenheit Trakl’scher Ambivalenz im SeherModell im Vordergrund steht. Diese Austauschbarkeit und Gleichwertigkeit der Seher-Poetiken mag ebenfalls einer gerechten prophetischen, eben gelassenen, einer alles zulassenden Wahrnehmungsweise (wie im Reihungsstil beobachtet) geschuldet sein, oder dem deutlichen Fokus auf die unreinen Elemente des Dichter-Propheten, auch wenn sich Entwicklungsstufen von den frühen Reihungsstil-Gedichten (v.a. unter Rimbauds und Nietzsches Einfluss934) über die Elis-Gedichte (v.a. unter Novalis’, Hölderlins und Nietzsches Einfluss) zu den späten, apokalyptischen Gedichten (v.a. unter Hölderlins und Nietzsches Einfluss) verzeichnen lassen. Einige Beispiele für typische Seher-Variationen von Seiten Trakls mögen Trakls ›Einflusslust‹ resümierend verdeutlichen. Bei Trakl sind die Mauern als Metaphern der Sprachlosigkeit935 mit der ebenfalls Hölderlin entlehnten Programmatik des – allerdings teilweise verwaisten – Tönens kombiniert, wodurch eine ›Fast-Sprachlosigkeit‹ deutungsloser Zeichen gewonnen wird; gleichzeitig ist das sich abzeichnende Hölderlin’sche Erbe einer Verunreinigung des reinen Dichter-Sehers durch Trakls Rezeption der sobria ebrietasFigur vertieft. Zwar dominiert ferner zunächst Rimbauds Einfluss auf dem Gebiet der Motivübernahmen936 und der Psalm-Technik,937 doch lässt sich auch von Rimbaud her die Thematik des unreinen Propheten-Körpers, der ›Tätowierungslust‹ eruieren, die Trakls Körperpoetik des Propheten prägt.938 Dabei findet eine Umwertung der Werte insofern statt, als das übliche Machtpotential des Reinen – als typisches bibli-

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ments, Bd. 2: 20. Jahrhundert, hg. von Franz Link, Berlin 1989, S. 853–944; Erich Auerbach, Figura. In: Archivum Romanicum, 22, 1938, S. 436–489. Vgl. zu Hollunder und seiner Anspielung auf Hölderlin: Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 20. Trakl, Helian, S. 71. Vgl. Trakl, Helian, S. 71. Vgl. dazu wieder R. Grimm, Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud, bes. S. 313f.; Böschenstein, Arkadien und Golgatha, S. 84–95. Vgl. Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud, S. 24. Vgl. dazu R. Grimm, Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud. Vgl. Havryliv, Trakl. Zwischen Baudelaire und Rimbaud; Böschenstein, Hölderlin und Rimbaud. Vgl. die in Kapitel VI.8.2.1. zitierten Quellen, v.a. Rimbaud, Une saison en enfer. Ein Aufenthalt in der Hölle.

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sches Scheidungsmerkmal, im Übrigen oftmals von prophetischen Figuren verbürgt – durch eine neuartige Aufwertung des Unreinen (als notwendiges Pendant zum Reinen) gebrochen ist, wenn gerade das Unreine als Bedingung einer (unrein-)reinen Poesie fungieren soll.939 Trakls Changieren zwischen Dionysischem und Apollinischem im Sinne Nietzsches ist nicht das ganze Erbe Nietzsches,940 vielmehr variiert Trakl auch Nietzsches gemischte Reinheitskonzeption, was sich mitunter auch in seiner minimalistischen Fortschreibung von dessen »Licht-Abgrund«941 zum »Sonnenabgrund«942 manifestiert, ein exemplarischer Ausdruck seiner Vorliebe für Oxymora. Die von der »Offenbarung des Johannes« her vertrauten Stirnzeichen943 sind bei Trakl als klare Differenzbegriffe aufgehoben, um dem Doppelantlitz des modernen Dichter-Propheten Ausdruck zu verleihen. Trotz aller Verschiebungen bezüglich Trakls dominanter Rezeptionsphasen unterschiedlicher Dichter-Seher ist die »Gleichzeitigkeit«944 zu betonen, die sich in der durchziehenden prophetischen Poetik des Unreinen-Reinen verankern lässt. Neben nachweisbaren Intertextualitäten (Übernahmen von Schlüsselwörtern, Motiven, Bildern), die auf Trakls Dichter-Seher-Rezeption fußen, lassen sich auch »poetische Korrespondenz[en], die auf der Verwandtschaft der poetischen Seelen grundier[en]«945, ausmachen. Und als deren roter Faden ist Trakls Prophetie-Poetik des Unreinen-Reinen zu würdigen: Denn trotz der Verselbständigung von prophetischen Motivgeflechten bleibt die Figur des DichterSehers als Grenzfigur stets präsent. Diese prophetischen Grenzfiguren sind Reflexionsfiguren einer Dichtung zwischen Bedeutung und Vieldeutigkeit, zwischen Intensität946 und Hermetik. Die intensivierende Fortschreibung des prophetischen Dichter-Erbes gelangt bei Trakl an einen Punkt, der das Paradoxale des Dichter-Prophetentums feiert und dieses gerade nicht mehr aufzulösen sucht.

VI.11. Das Ende: Apokalypse der Prophetie als Kunst-Vision In Trakls Veröffentlichungen im Brenner überwiegt zuletzt der Tenor eines apokalyptischen Prophetentums,947 das sogar den Propheten-Dichter selbst zu verabschieden scheint, wenngleich auch hier seine Wiederkehr angezeigt ist. Der damit einherge-

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Bei George erfährt der Reinigungsprozess durch den Seher hingegen eine biologistische Radikalisierung, wenn bei ihm Züge einer »materialistischen Eugenik« (vgl. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte, S. 200) zu verzeichnen sind. Vgl. Kemper, Nachwort. In: Georg Trakl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 207. Trakl, Frühling der Seele II, S. 141. Vgl. Offb 7, 3; 9, 4; 13, 16; 14, 9; 17, 5 u. 20, 4. Böschenstein, Arkadien und Golgatha, S. 86. Havryliv, Trakl. Zwischen Baudelaire und Rimbaud, S. 172. Vgl. Jaeger, Intensität statt Hermetik, S. 97f. Muschg schreibt weihevoll, im prophetischen Ton: »Seine Gedichte haben in ihrem zitternden Leid das Merkmal der echten Prophetie: daß ihre Verheißung sich erfüllte. Sie sind der

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hende Wandel von der introvertiert-klagenden, selbstreflexiven Seher-Figur Elis zum anklagend verkündenden Propheten des Untergangs mag auch biographisch begründet sein: »Bei Trakl verbindet sich der ästhetische Auftrag des ›Sehers‹ mit einem im Laufe der Jahre immer stärker werdenden Schuld- und Sündenbewußtsein, wie es nach der Meinung Kierkegaards der eminent religiösen Dichterexistenz eigen ist«948, und »die Gedichte enthalten keinen Gedankengang, sondern ein Muster von Bildern und Zeichen«949. Kemper resümiert, dass »das Thema der Selbstermächtigung des Subjekts im Sinne eines trotzigen Empörertums angeschlagen werde«950 und dass Trakls »Wille zur zeitkritischen Wahrheit und gegen das Verharren in der apollinischen Illusion«951 durchbreche. Und dies geschieht gerade auch im Zeichen des aktionistisch-prophetisch predigenden Zarathustra Nietzsches.952 Dementsprechend wandeln sich wieder die prophetischen Ausdrucksweisen hin zu einem entfesselten Stil953: Eine zugespitzte, prophetische Anklage ist zu verzeichnen, die sich sowohl stilistisch als auch optisch manifestiert: Der apokalyptische Ton ist oftmals gekennzeichnet durch eine »Verkürzung vieler Verse und – damit zusammenhängend – die Wendung der Gedichtachse in die Vertikale, als optische Entsprechung einer nach innen stürzenden Finalität«954. Aufgegriffen wird erneut die Gewittermetaphorik, um die inspirativen Momente des Sehers und seiner apokalyptischen Gesichte ins Bild zu setzen: Begleitet die Gewitter- und Sturmmetaphorik im prophetischen Dichtungsverständnis die Gesichte, entspricht die verarbeitende Formung der apokalyptischen Bildstrukturen einem Standhalten im Sturm.955 In »Abendland«956 kehrt dementsprechend Elis ›stürmisch‹ wieder: Dort läuten Elis’ Schritte »durch den Hain /

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genaue Ausdruck der Lage, in der sich Europa, insbesondere Deutschland und Österreich vor dem Ersten Weltkrieg befanden. Was dieser Mund kaum hörbar sprach, war die furchtbare Wahrheit, und was die Heilswahrsager in Nietzsches Gefolge predigten, erwies sich als tönendes Erz und klingende Schelle. In Deutschland gab es seit dem ersten Zusammenbruch mehr bücherschreibende Seher und Propheten, als Israel einst besessen hatte […]« (Muschg, Tragische Literaturgeschichte, S. 155). Doppler, Orphischer und apokalyptischer Gesang, S. 32. Doppler, Orphischer und apokalyptischer Gesang, S. 32. Kemper, Nachwort. In: Georg Trakl, S. 318f. Kemper, Nachwort. In: Georg Trakl, S. 319. Vgl. zur Zarathustra-Rezeption beim späten Trakl mit Blick auf sein Gedicht »Untergang« auch: Klessinger, Krisis der Moderne, S. 23ff. Vgl. zum entfesselten Stil bei Nietzsche wieder: Schlaffer, Das entfesselte Wort. Albert Berger, Lyrisches Ich und Sprachform in Trakls Gedichten. In: Die andere Welt. Aspekte der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Helmut Himmel zum 60. Geburtstag, hg. von Kurt Bartsch u.a., Bern; München 1979, S. 231–247, S. 244. In Hölderlins ›Feiertags-Hymne‹ weisen Verse wie »Mitleidend, bleibt in den hochherstürzenden Stürmen / Des Gottes, wenn er nahet, das Herz doch fest« (Hölderlin, Wie wenn am Feiertage…, S. 120) überdies auf die christlich-moralische Disposition des Dichter-Sehers hin, an der Trakls Seher – wie gesehen – teilweise zerbrechen. Vgl. zu Trakls apokalyptischem Ton auch Doppler, Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte, Wien; Köln; Weimar 1992, S. 11–33. Trakl, Abendland (4. Fassung), S. 139.

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Den hyazinthenen / Wieder verhallend unter Eichen« (Vers 13–15), den magischen Bäumen; seine aus »kristallenen Tränen« (Vers 17) geformte Gestalt inkarniert wie gewohnt eine stellvertretende Leidenssprache, und so wie Blitze seine »immerkühle« Schläfe (vgl. Vers 19/20) erhellen, ein klassisches Bild für die Inspiration und die Figur der sobria ebrietas, so ertönt das Frühlingsgewitter um ihn her: Zackige Blitze erhellen die Schläfe Die immerkühle, Wenn am grünenden Hügel Frühlingsgewitter ertönt.957

Schon der Hinweis auf das Frühlingsgewitter, das Tönen der archaischen Naturkräfte, die »heilignüchterne«958 Stirn beraumen den von Hölderlin und seiner ›FeiertagsHymne‹ her bekannten vates an:959 Während bei Hölderlin das Gewitter das heilige Wort des Inspirierten freisetzt, verweist die im Waffenklang erwachende Natur der ›Feiertags-Hymne‹ bei Trakl auf die »sterbenden Völker« (Vers 50). Elis blickt nunmehr auf ein Gegenüber, die vom Untergang bedrohte Menschheit. Die Form der »private[n] Eschatologie« (wie in »Gesang des Abgeschiedenen«960) weicht zusehends einer »kollektiven Eschatologie« (wie in »Abendland«).961 Das Untergangsgedicht »Abendland« ist von einem unverkennbaren Prozess der Entpersönlichung geprägt, so dass der »›Heimatlose‹, dieser Fremdling auf Erden, tatsächlich von der Bildfläche«962 verschwindet, der Dichter-Prophet im Schwinden begriffen ist. Während sterbende Völker in »Abendland« beschworen werden, ein Heimatloser sprachlos dem Wind folgt, kommt die Sage der Propheten-Dichter bei Trakl erneut großflächig zum Einsatz. Der in diesem Untergangsgedicht einsehbare prophetische Sprachhorizont der wilden (An-)Klage, angelehnt an eine »hymnische, hölderlinnahe Strophenform«963, ist das Resultat einer Steigerung der vorangehenden Erprobung des leisen Sagens der selbstgenügsamen Elis-Figurationen. Für das leise Sagen, das unaufgeregte Bluten steht der ›junge Elis‹ ein, der einleitend in »Abendland« wiederkehrt: Während Elis im ersten Teil des Gedichts das stellvertretende Leiden einer individuellen Figur und ihrer Körpersprache vorführt, folgt im zweiten Teil die Ausweitung der Elis-Erfahrung auf eine Wir-Gemeinschaft (»Singende im Abendsommer / In heiliger Ruh«, Vers 31/32), deren Mahnmalen noch eine Hoff ungsheilung zugedacht ist (»So leise schließt ein mondener Strahl / Die purpurnen Male der Schwermut«, Vers

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Trakl, Abendland (4. Fassung), S. 139. Heselhaus, Die Elis-Gedichte, S. 409. Vgl. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage…, S. 118f. Trakl, Gesang des Abgeschiedenen, S. 144. De Vos, Die letzten Tage der Menschheit. Georg Trakls Endzeit-Denken. In: Deutungsmuster. Salzburger Treffen der Trakl-Forscher 1995, hg. von Hans Weichselbaum u. Walter Methlagl, Salzburg 1996, S. 103–134. De Vos, Die letzten Tage der Menschheit, S. 123. Heselhaus, Die Elis-Gedichte, S. 405.

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36/37). Erst im dritten Teil erfolgt eine Radikalisierung, wenn der sprachlos Heimatlose die »sterbenden Völker« (Vers 50) beklagt und verkürzte, emphatische Aussagen den Niedergang protokollieren. Der Endvers »fallende Sterne« (Vers 53) markiert wieder einen Schwebezustand: Die Sterne sind im Fallen begriffen, aber noch nicht gefallen. Ebenso wirken die Einflüsse des Dichter-Sehers Hölderlin und der Propheten-Figuration Elis nach, so dass das prophetische Erbe des Dichtertums ebenfalls final auf dessen drohenden Untergang ausgerichtet ist. »Abendland« ist überdies Else Lasker-Schüler gewidmet,964 die sich wiederum – wie Trakl – in ihrem Selbstentwurf als Dichter-Prophetin profi liert und als Erbin Hölderlins sieht.965 Von Vertrauten

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In ihrem dem »Ritter aus Gold« gewidmeten Gedicht »Georg Trakl« von 1914 (»Georg Trakl erlag im Krieg / Von eigener Hand gefällt / So einsam war es in der Welt. / Ich hatt ihn lieb«) artikuliert Lasker-Schüler ihren Schmerz über den Tod des Einsamen, der – eine Überdosis an Kokain einnehmend – aus dem Leben schied (E. Lasker-Schüler, Georg Trakl. In: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Norbert Oellers u.a., Bd. I.1: Gedichte, bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki unter Mitarbeit von Norbert Oellers, Frankfurt am Main 1996, S. 266). Als weibliches Pendant zu den sich als Propheten inszenierenden Autoren lässt sich Else Lasker-Schüler als Dichter-Prophetin hervorheben. Nach Lasker-Schüler erfahre der Dichter »Blütezeit und Herbst, geplündert von den launigen Stürmen der Welt«, wenn ihn »ein wetternder Vers, ein feuriger oder sanftschmeichelnder« streife (Lasker-Schüler, Ein Brief. In: Lasker-Schüler, Ich und Ich. Verse und Prosa aus dem Nachlass, hg. von Werner Kraft, Frankfurt am Main 1996, S. 44–49, S. 46; vgl. Overlack, Was geschieht im Brief ?, S. 188). Lasker-Schüler bemüht ebenfalls ein prophetisch-mediales Dichterverständnis und stilisiert den Dichter-Seher im Prosatext »Ein Brief« (1937) zum »Gefäß der Eingebung« (Overlack, Was geschieht im Brief ?, S.  186; vgl. Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 132). Es heißt dort ferner: »Ich bin nur eine Dichterin, vielmehr – es wird in mir gedichtet, es dichtet in mir. Der Dichter beabsichtigt beim Dichten seiner Dichtungen überhaupt nie etwas. Er muß eben dichten … Je andächtiger lauschend er seinem Engel und hingebender angehört, desto wertvoller und tiefer seine Dichtung. Die Menschen nennen diesen Zustand: Inspiration« (Lasker-Schüler, Ein Brief, S. 45). Und: »Der Dichter lebt nur, wenn es dichtet in ihm« (Lasker-Schüler, Ein Brief, S. 47). Neben der These, dass im Dichter »gedichtet und gelichtet [wird]; seine unumschränkte Hingebung und sein tiefes Vertrauen […] den Wert seiner dichterischen Gabe« (Lasker-Schüler, Ein Brief, S. 48) erhöhen, beschließt Lasker-Schüler diesen Brief mit einem klassischen Propheten-Topos: »[…] und sagte zu Gott: ›Nimm die Bürde der Dichtung von mir‹« (Lasker-Schüler, Ein Brief, S.  49). »Auf der Galiläa« ist ein kurioses Dokument, in welchem in einem Gespräch zwischen einer von Gesichten heimgesuchten Dichterin und einem Doktor der Dichterin die Vision vom Psalmendichter David analysiert wird. Dabei erklärt die Dichterin, das Gesicht sei ein »normaler Zustand« (Lasker-Schüler, Auf der Galiläa. Aus dem unvollendeten Buch »Die heilige Stadt«. In: Lasker-Schüler, Ich und Ich, S. 51–67, S. 57), zu unterscheiden von Halluzinationen und spiritistischen Sitzungsvisionen (vgl. Lasker-Schüler, Auf der Galiläa, S. 60–67), auch wenn das Gehirn verkleinert zu sein scheine (vgl. Lasker-Schüler, Auf der Galiläa, S.  57f.). Lasker-Schüler spielt mehrere Künstlerrollen durch: Sie tritt als Räuber und Vagabund auf, als Prinzessin Tino von Bagdad, später als Jussuf, Prinz von Theben, und eben auch als Prophetin – ihre extravagante Erscheinung (kurze Haare, weite Hosen orientalischen Zuschnitts, Ketten, Armreife und Fußglocken) unterstreicht ihre Exklusivität. Vgl. zu Lasker-Schülers Rollenspiel zwischen Clown und Prophetin: Susanne Mittag, Else Lasker-Schüler. Der Entwurf

wurde sie übrigens ›Els‹ genannt, auch eine Verkürzungsform von Elis. Die Trakl freundschaftlich verbundene, extravagante Lyrikerin Lasker-Schüler kehrt in ihrem zweiten Widmungsgedicht an Trakl seine lutherisch-revolutionäre Komponente hervor, die sich in dessen späten Gedichten niederschlägt.966 So etwa im Gedicht »Das Gewitter«967, für das Doppler eine Anlehnung an die späten Hymnen Hölderlins nachweist.968 Das Schweigen wird dort vom Gewitter und der Anklage substituiert. Es gewinnt ferner ein triadisches Schema von Gewitter, Zorn Gottes und Erbarmen Kontur – wie es auch den biblischen Propheten-Gerichten969 eignet –, besonders im letzten Drittel des Gedichts: O Schmerz, du flammendes Anschaun Der großen Seele! Schon zuckt im schwarzen Gewühl Der Rosse und Wagen Ein rosenschauriger Blitz In die tönende Fichte. Magnetische Kühle Umschwebt dies stolze Haupt, Glühende Schwermut Eines zürnenden Gottes.   Angst, du giftige Schlange, Schwarze, stirb im Gestein! Da stürzen der Tränen Wilde Ströme herab, Sturm-Erbarmen, Hallen in drohenden Donnern Die schneeigen Gipfel rings.

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einer rücksichtslos poetischen Existenz. In: Die Rolle des Autors. Analysen und Gespräche, hg. von Irmela Schneider, Stuttgart 1981, S. 64–71. Vgl. zur heiligen Autorschaft in Das Peter Hille-Buch (1906): Marx, Heilige Autorschaft ?, S. 117ff. Vgl. Lasker-Schüler, Georg Trakl, S. 180f.: » […] Seine Gedichte: Singende Thesen. / Er war wohl Martin Luther. // Seine dreifaltige Seele trug er in der Hand, / Als er in den heiligen Krieg zog. // – Dann wußte ich, er war gestorben – // Sein Schatten weilte unbegreiflich / Auf dem Abend meines Zimmers.« Indem Lasker-Schüler Trakls ›elishafte‹ Erscheinung (vgl. Vers 2), seine himmlische Natursprache (vgl. Vers  3/4) und seine provokative Modifikation religiöser Grundfesten (»singende Thesen«, Vers 10) hervorkehrt, sakralisiert und stilisiert sie offensichtlich sein Zerbrechen als Krieger im »heiligen Krieg« (im Ersten Weltkrieg) zum Martyrium, das dem des Stifters einer neuen Kirche (Luther) gleiche. Abgesehen von der befremdlichen Beschönigung des Ersten Weltkriegs wird deutlich, dass LaskerSchüler ihre gefühlte Wahlverwandtschaft zu Trakl auf die gemeinsame Grundierung ihres Dichterdaseins im Horizont des privat anverwandelten Religiösen zurückführt, beide ein Verständnis vom Dichter als prophetischem Erneuerer der Kirche und damit einhergehend eine Vorstellung prophetischen Dichtens (vgl. Vers 3/4) teilen. Trakl, Das Gewitter. In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 157f. Vgl. Doppler, Orphischer und apokalyptischer Gesang, S. 28f. Vgl. etwa Jer 25, 30–38 u. Jer 30, 12–30, 24.

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Feuer Läutert zerrissene Nacht.970

Ob die Tränen, die das »Sturm-Erbarmen« (Vers 39) (ein Trakl eigener Neologismus) auslösen oder begleiten, dem zuvor zürnenden Gewitter-Gott (eventuell Zeus oder dem alttestamentlichen Jahwe) und seiner Melancholie zuzuschreiben sind,971 oder ob sie als emotionale Reaktion auf Gottes Zorn zu fließen beginnen, bleibt offen. Das »Da« in »Da stürzen der Tränen / Wilde Ströme herab« (Vers 37/38) kann temporal oder kausal verstanden werden. Der abschließende Hinweis auf eine mögliche Läuterung (»Feuer / Läutert zerrissene Nacht«, Vers 42/43) beinhaltet jedenfalls den Gedanken, dass die Zerstörung möglicherweise eine kathartische Wirkung entfaltet, eine Reinigung, wie Trakl es ja auch brieflich äußert.972 Seinen Briefzeugnissen entlehnt ist auch die Wendung »Finsternis, / Die über die Schluchten hereinbricht!« (Vers 15/16): »O Gott, durch welche Schuld und Finsterniß müssen wir doch gehen. Möchten wir am Ende nicht unterliegen.«973 Jedenfalls dominiert in diesem Gedicht eine Verkettung archaischer Elemente (Blitz, Ströme, Sturm) und gegensätzlicher Grundelemente (Schnee, Feuer), die zusammenstehen974 und die die »erhabene Trauer« (Vers 3) mit erhabenen Bilderwelten darstellen. Dieses apokalyptische Inferno975 ist deutlich nietzscheanisch inspiriert. Denn die Überwindung der Angst in Gestalt der Schlange gelingt Zarathustra, der nicht nur als der Seher-Prototyp der Moderne gilt, sondern auch als der neue Mose, als der Umwerter aller Werte, als der Prophet, der die Götterwelt entthront.976 Auf ihn und sein Umfeld weisen auch schon die Eingangszeilen des Gedichts hin (»Ihr wilden Gebirge, der Adler / Erhabene Trauer«, Vers 2/3), denn Zarathustra ist der Seher auf dem Berg, in dessen Begleitung sich ein Adler findet.977 Das Erhabene ist auch bei Nietzsche mit der Gewitterlandschaft verschwistert.978 Und Zarathustras prophetisch inspirierte Rede gleicht ebenfalls einem gewitterartigen Sturm:

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Trakl, Das Gewitter, S. 157f. Tränenströme vergießen freilich auch die Propheten: siehe: Jer (Klagelieder) 3, 48. Vgl. Trakl, Brief an Karl Borromaeus Heinrich. Innsbruck, Anfang (?) Januar 1914. Trakl, Brief an Karl Borromaeus Heinrich. Innsbruck, Anfang (?) Januar 1914, S. 532. Vgl. zur Zusammenstellung von Schnee und Feuer wieder: »Glühende Schmach, die mich tötet; Elai! Schneeiges Feuer im Mond!« (Trakl, Dramenfragment (1914) (1.  Fassung), S. 457). Vgl. Doppler, Orphischer und apokalyptischer Gesang, S. 29. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 201f. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 126: »Auf dem Baume Zukunft bauen wir unser Nest; Adler sollen uns Einsamen Speise bringen in ihren Schnäbeln! […] Wahrlich ein starker Wind ist Zarathustra […].« Doppler siedelt die erhabene Trauer der Adler im Umfeld der Symbolik der Apokalypse an, wo der Adler als Bote Gottes genannt ist (vgl. Doppler, Orphischer und apokalyptischer Gesang, S. 29; vgl. Offb 4, 7; 8, 13). In Nietzsches Zarathustra wird den Herzlosen und Hässlichen geraten, sich mit dem Mantel des Hässlichen, dem Erhabenen, zu bekleiden (vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 59).

Mit diesen Worten sprang Zarathustra auf, aber nicht wie ein Geängstigter, der nach Luft sucht, sondern eher wie ein Seher und Sänger, welchen der Geist anfällt. Verwundert sahen sein Adler und seine Schlange auf ihn hin: denn gleich dem Morgenrothe lag ein kommendes Glück auf seinem Antlitze. Was geschah mir doch, meine Thiere? – sagte Zarathustra. Bin ich nicht verwandelt! Kam mir nicht die Seligkeit wie ein Sturmwind? […] Meine ungeduldige Liebe fl iesst über in Strömen, abwärts, nach Aufgang und Niedergang. Aus schweigsamem Gebirge und Gewittern des Schmerzes rauscht meine Seele in die Thäler. Zu lange sehnte ich mich und schaute in die Ferne. Zu lange gehörte ich der Einsamkeit: so verlernte ich das Schweigen. Mund bin ich worden ganz und gar, und Brausen eines Bachs aus hohen Felsen: hinab will ich meine Rede stürzen in die Thäler. Und mag mein Strom der Liebe in Unwegsames stürzen! Wie sollte ein Strom nicht endlich den Weg zum Meere finden! Wohl ist ein See in mir, ein einsiedlerischer, selbstgenugsamer; aber mein Strom der Liebe reisst ihn mit sich hinab – zum Meere! Neue Wege gehe ich, eine neue Rede kommt mir; müde wurde ich, gleich allen Schaffenden, der alten Zungen. Nicht will mein Geist mehr auf abgelaufnen Sohlen wandeln. Zu langsam läuft mir alles Reden: – in deinen Wagen springe ich, Sturm! Und auch dich will ich noch peitschen mit meiner Bosheit! […] Zu gross war die Spannung meiner Wolke: zwischen Gelächtern der Blitze will ich Hagelschauer in die Tiefe werfen. Gewaltig wird sich da meine Brust heben, gewaltig wird sie ihren Sturm über die Berge hinblasen: so kommt ihr Erleichterung. Wahrlich, einem Sturme gleich kommt mein Glück und meine Freiheit! Aber meine Feinde sollen glauben, der Böse rase über ihren Häuptern.979

Der Strom des Erbarmens (das Kompositum »Sturm-Erbarmen« (Vers 39)) in Trakls »Das Gewitter« erinnert freilich an Zarathustras »Strom« der Liebe, der ihn von der Einsiedelei zu den Menschen zur Verkündung seines Evangeliums treibt. Die Vorstellung Zarathustras als Mundstück ist ein Propheten-Topos.980 Einzelne Details dieser Zarathustra-Rede kehren bei Trakl wieder: Zarathustras Adler (Vers 2), der Schmerz und die große Seele (Vers 25/26), Sturm/Gewitter (Vers 39), überfließende Emotionen (Vers 37/38), Wagen (Vers 28), Blitz (Vers 29), Haupt (Vers 32) u.a. Diese ausgemalte Sturmrede981 Zarathustras mit aktionistischer Schärfe scheint Trakl als Vorlage für seine prophetisch-apokalyptischen Szenarien zu dienen.982 Wie Zarathustras ›Wortregen‹ ist zudem die prophetische Rede der Apokalypse mit dem Nieder-

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Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 106f. Vgl. etwa die Berufung Jeremias zum Propheten: »Dann streckte der Herr seine Hand aus, berührte meinen Mund und sagte zu mir: Hiermit lege ich meine Worte in deinen Mund« ( Jer 1, 9; Jer 15, 19). Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 126f.: »Wahrlich ein starker Wind ist Zarathustra allen Niederungen.« Die prophetische Rede Zarathustras ist aber nicht davor gefeit, ihre Wirkung zu verfehlen (vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 18). Dieselbe Wirkungsineffizienz gilt freilich für die breite Palette an prophetisch-biblischen Sprechmustern, wie auch die von der Pfingstoffenbarung her bekannte Zungenrede (Glossolalie) (vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 217). Und auch Zarathustra kennt seine Konkurrenz, die biblischen Propheten, die mitunter stammeln wie Mose. Eine kleine Variation des leitmotivischen Satzes »Wer Ohren hat, der höre« aus der »Offenbarung des Johannes« klingt ebenfalls an (vgl. Offb 2, 7 u. 2, 11 u.a.; Jer 5, 21). Immerhin erwägt Zarathustra auch, seine Jünger »mit Hirtenflöten zurück zu locken« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 107). Und auch diese Flötenmusik stellt ein

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gang von Wasser assoziiert, so etwa auch in der Beschreibung der Stimme des Auferstandenen, die »wie das Rauschen von Wassermassen« (Offb 1, 15) sei. Während in Trakls Gewitter-Gedicht noch Zerstörung und Läuterung probeweise in Aussicht gestellt sind,983 annoncieren die darauffolgenden Gedichte im Grunde nur noch den Untergang des Menschengeschlechts. Dionysische Auflösung und christlich-apokalyptische Endzeit wandeln sich bei Trakl zu einer »apokopierte[n] Apokalypse. Die erlösende Vision war hier der Untergang selbst«984. Der prophetische Mund wird dementsprechend zur Klage: Jüngling aus kristallnem Munde Sank dein goldner Blick ins Tal; Waldes Woge rot und fahl In der schwarzen Abendstunde. Abend schlägt so tiefe Wunde!985

Hier ist ein Besteigen des Sturmwagens ausgespart. Das Motiv des versinkenden Kahns weist auf den endgültigen Untergang des principium individuationis in der dionysischen Flut hin,986 die Zerstörung des (einst sinnstiftenden) Leibes, wie sie Trakl kurz vor seinem Tod in dem im September 1914 verfassten Gedicht »Klage« zum Ausdruck bringt; einem Gedicht mit freirhythmischen Versen ohne Reim und mit vielen Enjambements, die das rauschende Voraneilen des unwetterartigen Niedergangs unterstreichen: Klage Schlaf und Tod, die düstern Adler Umrauschen nachtlang dieses Haupt: Des Menschen goldnes Bildnis Verschlänge die eisige Woge Der Ewigkeit. An schaurigen Riffen Zerschellt der purpurne Leib Und es klagt die dunkle Stimme Über dem Meer.

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häufiges Motiv in Trakls Lyrik dar (vgl. zum Flötenmotiv bei Trakl, allerdings ohne Verweis auf Nietzsche: Williams, Schweigendes Tönen). Vgl. ähnlich zur Offenheit des Gedichts hinsichtlich der apokalyptischen Bedrohung: Hans Weichselbaum, Georg Trakls Weg in die literarische Moderne. In: Georg Trakl und die literarische Moderne, hg. von Károly Csúri, Tübingen 2009, S. 220–234, S. 233. Kemper, Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, S. 163. Trakl, Klage I, S. 163. Damit wird der rettende Ort des Kahns als Wiege des Individuums (vgl. zum Bild wieder: Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 282) in Frage gestellt, der sonst nicht nur den Propheten beherbergt, sondern wohl auch seine Geliebte, wie in den beiden letzten Strophen des Heinrich gewidmeten Gedichts »Untergang« (5. Fassung) dargestellt: »[…] Über unsere Gräber / Beugt sich die zerbrochene Stirne der Nacht. / Unter Eichen schaukeln wir auf einem silbernen Kahn. // Immer klingen die weißen Mauern der Stadt. / Unter Dornenbogen / O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht« (Trakl, Untergang (5. Fassung), S. 116).

Schwester stürmischer Schwermut Sieh ein ängstlicher Kahn versinkt Unter Sternen, Dem schweigenden Antlitz der Nacht.987

In »Grodek«988 wird bereits die Klage des Propheten präzisiert und übertragen auf »Sterbende Krieger, die wilde Klage / Ihrer zerbrochenen Münder«989: Die fragmentierten Münder fungieren als stellvertretende Fragmente für die Welt- und Menschenzerstückelung, ein Bild, das wiederum paradox anmutet, denn zerbrochene Münder können nicht mehr direkt kommunizieren und dienen desto mehr einem Ausdruck als Klage.990 Und verweist des »Menschen goldenes Bildnis« in »Klage« auf eine apolli-

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Trakl, Klage II, S. 166. Von Ficker bemerkt in einem Brief an Hirt vom 20.11.1914, dass Trakl dieses Kriegsgedicht als »tieferhellter Seher, der er war, zu einer Zeit erlebt und gestaltet, als von kriegerischen Ereignissen noch gar keine Rede war« (von Ficker zitiert nach Johann Holzner, Lyrik im Umfeld von Trakls »Grodek«. In: Georg Trakl und die literarische Moderne, hg. von Károly Csúri, Tübingen 2009, S. 235–248, S. 236). Trakl, Grodek (2. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 167. Vgl. ähnlich Thauerer im Anschluss an Gerhard Kaiser, der die Anstrengung betont, die notwendig sei, die wilde Klage zum Klang im Gedicht zu verwandeln: Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 331; Kaiser, Das Gedicht als Sühne. In: Kaiser, Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegenwart, Bd. 2: Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart. Ein Grundriß in Interpretationen, Frankfurt am Main 1996, S. 574–634, S. 624. Vgl. zur Verknüpfung von Dichter-Prophet und der Programmatik des poetischen Mund-Blutens und Tönens wieder Rilkes Gedicht »Jeremia« (1907) und das Kapitel V.3.5. Die auffällige klangliche Reihung und Verbindung von Tönen-Nöten-Töten (unterstrichen durch die Vokalassonanz) und der klagende Mund (des Propheten) sind auch für Trakls apokalyptisches und letztes Gedicht »Grodek« charakteristisch, so heißt es dort in den Eingangsversen: »Am Abend tönen die herbstlichen Wälder / Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen / Und blauen Seen, darüber die Sonne / Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht / Sterbende Krieger, die wilde Klage / Ihrer zerbrochenen Münder« (Trakl, Grodek (2. Fassung), S. 167). Die rollende Sonne kann als Metapher für den grollenden Zorn Gottes angesichts seiner der Zerstörung ausgesetzten Schöpfung fungieren (vgl. Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 329). Das Tönen der tödlichen Waffen wird näherhin in ein Tönen der »dunkeln Flöten des Herbstes« (Trakl, Grodek (2. Fassung), S.  167) verwandelt, mit Anklängen an die apollinische Kunst-Macht (vgl. Thauerer, Ästhetik des Verlusts, S. 335), eine Form der »stolzere[n] Trauer« (Trakl, Grodek (2. Fassung), S. 167). Dadurch, dass der Dichter sich als Stoff verzehre, nehme er geradezu eine »›schmerzgeborene‹ Gestalt« an (Gustav-Adolf Pogatschnigg, Der gerettete Schmerz. Zum Bild des Dichters bei Georg Trakl. In: AION T, 32, 1989/90, S. 145–171, S. 168). Vgl. auch Hölderlins »Der blinde Sänger«: Im Zwischenbereich der Dämmerung und in Erinnerungen versunken wird das Kommen des Retters so beschrieben: »[…] Den Retter hör ich dann in der Nacht, ich hör / Ihn tötend, den Befreier, belebend ihn, / Den Donnerer vom Untergang zum / Orient eilen und ihm nach tönt ihr, // Ihm nach, ihr meine Saiten! es lebt mit ihm / Mein Lied und wie die Quelle dem Strome folgt, / Wohin er denkt, so muß ich fort und / Folge dem Sicheren auf der Irrbahn« (Hölderlin, Der blinde Sänger. In: Hölderlin, StA, Bd. II/2, S. 55). Auch in Hölderlins Hyperion wird die Nähe von Tönen und Töten betont: »Ein wenig tönt ich noch, aber es waren Todes-Töne« (Hölderlin, Hyperion, S. 628).

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nische Figur, eine Heilsfigur wie Elis, scheint deren Untergang nunmehr Bedingung für die Macht des Dionysischen.991 Ein Motiv in der Zerstörung des principium individuationis überlebt allerdings auch in diesem Gedicht992 – wie in »An Novalis«993 –, ein Verweis, eine Stellvertretung, ein prophetisches Derivat: die dunkle, vom Körper abgetrennte Stimme des Klagenden – hier wohl des Orpheus. Obwohl Orpheus von thrakischen Frauen zerrissen wird, tönen seine Leier, seine Stimme weiter.994 Und damit bleibt es in der Schwebe, inwiefern die letzten dichterischen Worte ihre »erlösende Funktion«995 verlieren. Die Auflösung des Körpers, seine Fragmentierung, in übertragener Form die partielle Auslöschung des Dichters setzen immerhin eine klagende Stimme frei, oder anderswo ein (nunmehr subjektloses) Tönen996 oder ein süßes Lied,997 das vielleicht eine stellvertretende Rettung alludiert:998 Das fragmentarische Fortbestehen des Dichter-Propheten überlebt die Apokalypse der Prophetie als Ruine und ausgehöhlte Verweisfigur. Prophetischer Ausdruck als Klage bei Trakl ist zwar nicht mit einer christlich-apokalyptischen Vision einer neuen Welt oder einer nietzscheanischen Vision vom Übermenschen zu vereinbaren, aber mit einer KunstVision, der des Fortlebens des prophetisch fundierten Lieds.999

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Die Welt der Qual ist nach Nietzsche eine notwendige Bedingung, »damit durch sie der einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde« (Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 39). Theo Buck verzeichnet im »Grodek« eine Form der negativen Utopie wegen der dort genannten »ungeborenen Enkel« (vgl. T. Buck, Negative Utopie. Zu Georg Trakls Gedicht »Grodek«. In: Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion, hg. von Rémy Colombat u. Gerald Stieg, Innsbruck 1995, S. 171–180, S. 177). Vgl. Trakl, An Novalis (2. Fassung (a)), S. 325. Eine weitere Verschiebung des Bildes besteht darin, in der Klage die Schwester aufgerufen zu sehen (vgl. Kemper, Dionysos gegen den Gekreuzigten, S. 165). Vgl. zu Orpheus bei Trakl auch: Doppler, Orphischer und apokalyptischer Gesang, S. 23. Von einer Rücknahme dieser (durch Übernahme christlicher Motive) erlösenden Funktion geht auch Mengaldo aus: Mengaldo, »Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn«, S. 86f. Vgl. Trakls »Die drei Teiche in Hellbrunn« (2. Fassung). In: Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, S. 178: »Hinwandelnd an den schwarzen Mauern / Des Abends, silbern tönt die Leier / Des Orpheus fort im dunklen Weiher […].« Vgl. auch Trakls Verse in »Abendland«: »Und steinern erblinden / Dem die schauenden Augen, / Daß von der Lippe / Süßer fließe das Lied […] Und schön die Bläue, / Schreitend ein Bleiches, Odmendes, / Ein Saitenspiel« (Trakl, Abendland (2. Fassung), S. 403 u. S. 406). Betont man den Schwebezustand, muss man nicht so weit wie Pogatschnigg gehen und dezidiert die »Rettung der Menschen durch den Schmerz« in der poetischen Lösung festschreiben (Pogatschnigg, S. 153). Die Medialisierung des Subjekts ist nicht nur als eine Zurücknahme von dessen Autonomisierung im Sturm und Drang zu verstehen, sondern auch als Bedingung für die fortwirkende Macht des Worts. Insofern endet Trakls Poesie gerade nicht im Schweigen, wie dies u.a. Kemper annimmt (vgl. Kemper, Dionysos gegen den Gekreuzigten, S. 168). Wieder ist es – wie in den Elis-Gedichten – die fragmentierte Stimme als Gegenpol zum reinen Wort, die die letzte Kraft der Sprache verbürgt, und wieder klingt Novalis’ Erbe an: »Fortlebt sein Lied im nächtlichen Haus der Schmerzen« (Trakl, An Novalis (2. Fassung (a)), S. 325; vgl. auch Novalis, Orpheus [1789]. In: Novalis, Werke in einem Band, S. 67–72).

VII. Franz Werfel: Prophetisches Dichten zwischen Sprachmacht und Macht der Sprache

VII.1. Der Dichter als ›Griffel‹ Gottes: Prophetie und der messianische Expressionismus zwischen Regression und Innovation Der zu seiner Zeit populäre, expressionistische Lyriker und historisch-biblisch ausgerichtete Romancier Franz Werfel veröffentlicht 1937 seinen Roman Höret die Stimme, in welchem er dem Leben des alttestamentlichen Propheten Jeremia ein fulminantes literarisches Denkmal setzt.1 Am Vorabend des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs erschallt mit seinem Propheten-Roman die mahnende Stimme eines der prominentesten Propheten des Alten Testaments, der die Sinnlosigkeit blinden und verbohrten Kriegführens unerbittlich anprangert, wenn auch in historischem Abstand zur eigenen Zeit in den Kontext um den bevorstehenden Untergang Jerusalems eingebettet. Über die biblischen Stationen von Jeremias Leben hinausgehend wird sein künstlerisches Potential profi liert. So gerät der zeitgenössische Anlass teilweise in den Hintergrund und die Selbstreflexivität prophetischen Künstlertums dominiert.2 Neben dem gewaltverurteilenden und normenanprangernden Gestus der Propheten verhandeln Thomas Mann in »Das Gesetz« wie Franz Werfel in Höret die Stimme ausdrücklich

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Jeremia avanciert um die Jahrhundertwende allgemein zum meistdiskutierten Propheten (vgl. zur Jeremia-Renaissance stellvertretend: Friedrich Nötscher, Das Buch Jeremias übersetzt und erläutert, Bonn 1934; Bernhard Duhm, Das Buch Jeremia, Tübingen; Leipzig 1901; Elias Auerbach, Die Prophetie, Berlin 1920). In Thomas Manns später Erzählung »Das Gesetz« (1942) wird – wie in Kapitel IV.1.3. gezeigt – ebenfalls eine führende Propheten-Figur (nämlich Mose) bemüht, um den durch Hitler torpedierten Zehn Geboten (den Dekalog) wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Im Mittelpunkt der Mann’schen Mose-Studie steht primär die Umdeutung der Propheten-Gestalt zur Künstler-Figur; im Zuge dessen wird eine Selbstreflexion der Kunst angestoßen: Unordentlichkeit, Sinnlichkeit, menschliche Ausschweifung, Kreativität auf der einen und Ordnung, Geistigkeit, Moral, göttliches Diktat auf der anderen Seite sind die Pfeiler des prophetischen Künstlers, die Thomas Mann in ihrer produktiven Interaktion und Ambivalenz auslotet. Jeremia in Höret die Stimme und andere Propheten-Figurationen im Umkreis krisenumwobener Zeiten basieren auf der Zusammenführung der Diskurse von Prophetie und Literatur und binden zudem oftmals einen dritten Diskurs ein, hier den der politischen Gewalt bzw. den der politischen Theologie. Ohne eindimensionale Bezugnahme auf die jeweils konkreten Zeitumstände (faschistische Verhältnisse mit all ihren Implikationen) fungiert die literarisierte Propheten-Figur trotz ihrer historisch-biblischen Verortung als zeitlose Figur des Querulanten mit Blick auf bestehende Missstände und ideologisch gespeiste Welteroberungsambitionen von Seiten der ›Volks‹-Führer sowie als Leitfigur normativer Werte.

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die künstlerische Signatur des begnadeten Künders, d.h., sie betreiben eine Ästhetisierung der Prophetie, die teilweise mit einer Prophetisierung der Ästhetik einhergeht:3 So werden prophetische Geschichten nicht nur literarisch aufgegriffen und im Modus des Neuerzählens als politisches Mahnmahl verarbeitet, sondern den dabei entstehenden Kunstwerken eignen mithin reflexive Züge einer von prophetischer Rede inspirierten Ästhetik. Die Auserwähltheit des prophetischen Künstlers, sein Außenseitertum, sein Leiden am Schaffensprozess, sein Angewiesensein auf inspirative Gnade, die Modellierung des Gottes-Worts und die Hindernisse des prophetischen Dolmetschens göttlicher Eingebungen sind dabei leitende Pfeiler einer Propheten-Künstlerschaft. Werfels Interesse an Neugestaltungen alttestamentlicher Themen und Figuren, besonders denen der Propheten, ist früh ausgeprägt und durchzieht sein lyrisches und prosaisches Schaffen. Titel wie »Stunde der Inspiration«4 (1915), »Das Gebet Mosis«5 (1919), »Die Gnade«6 (1919), »Exodus 34/29«7 (1928), »Die Ekstase der Wolke«8 (1928), »Die Himmelfahrt des Propheten Elia«9 (1928), »Die Erweckung des Propheten Jesaja«10 (1928), »Ezechiels Gesicht von der Auferstehung«11 (1928), »Gebet um Sprache«12 (1935), »Gebet in der Dämmerung«13 (1935), »Wahrheit und Wort«14 (1938), die kleine Erzählung »Der Tod des Mose«15 (1920) und zuletzt der monumentale Jeremia-Roman Höret die Stimme16 (1937) annoncieren die Revitalisierung der biblischen Propheten.17 Mit seiner Vorliebe für Propheten-Figuren erweist sich Werfel ganz als Kind seiner Zeit, so dass er in eine Reihe mit anderen zeitgenössischen Dichtern und deren Propheten-Verarbeitungen – die quer durch die Gattungen

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Besondere Aufmerksamkeit schenkt Thomas Mann der Genese eines »poetische[n] Evangelium[s]« (Hartwich, Die Sendung Moses, S.  225), die die Nachzeichnung einer Genese der Moral im Geiste Nietzsches überhöht, wie im Kapitel IV.1.3. aufgezeigt (vgl. Hartwich, Prediger und Erzähler; Marx, Künstler, Propheten, Heilige). F. Werfel, Stunde der Inspiration. In: Das lyrische Werk, hg. von Adolf D. Klarmann, Frankfurt am Main 1967, S. 165f. [Im Folgenden werden alle lyrische Zeugnisse Werfels nach dieser Ausgabe zitiert.]. Werfel, Das Gebet Mosis. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 219–221. Werfel, Gnade. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 319. Werfel, Exodus 34/29. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 386. Werfel, Die Ekstase der Wolke. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 386. Werfel, Die Himmelfahrt des Propheten Elia. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 460f. Werfel, Die Erweckung des Propheten Jesaja. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 458–460. Werfel, Ezechiels Gesicht von der Auferstehung. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 423–425. Werfel, Gebet um Sprache. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 448. Werfel, Gebet in der Dämmerung. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 448f. Werfel, Wahrheit und Wort. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 475. Werfel, Der Tod des Mose. In: Werfel, Die schwarze Messe. Erzählungen, Frankfurt am Main 1992, S. 50–54. Werfel, Höret die Stimme. In: Werfel, Gesammelte Werke in Einzelbänden, Bd. 7: Höret die Stimme, hg. von Knut Beck, Frankfurt am Main 1994. Insbesondere Werfels 1933 erschienener Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh und sein 1935 erschienenes Bibelspiel Der Weg der Verheißung sind Wegbereiter für diesen Jeremia-Propheten-Roman.

wandern – gestellt werden kann: Verwiesen sei nur auf die Vielzahl von Propheten-Figurationen anhand prominenter Zeugnisse – neben den in dieser Studie verhandelten Werken – wie Stefan Zweigs Jeremias-Drama (1917), Rudolf Kaysers Legende Moses Tod (1921), Else Lasker-Schülers Gedicht »Moses und Josua« (1913), Hedwig Casparis »Elohim«-Gedichte (1919) »Propheten«, »Jerubaal« und ihre Mose-Gedicht-Trilogie »Die Landplagen«, »Wüstenwanderung« und »Der Berg Nebo«, Carl Hauptmanns Mose-Drama (1906), Arno Nadels Jona-Szene (1926), Sorges Guntwar: Die Schule eines Propheten (1914), Friedrich Wolfs Drama Der Löwe Gottes (Mohammed) (1917) und Martin Bubers Mysterienspiel Elija (1955) u.a. Hinter den mannigfaltigen Zusammenführungen von Prophetie und Poesie von Seiten der modernen Dichter sind jeweils ganz unterschiedliche formale und thematische Annäherungen an das klassische ›Urbild‹ des Propheten zu verzeichnen. Als kleinster gemeinsamer Nenner zwischen Prophet und Künstler fungiert zumeist das inspirative Moment des begnadeten Sprechers und sein Gebrechen an der Verkündung angesichts der Widerspenstigkeit göttlich-prophetischer Rede und ihres unbequemen Aufrufs zur Umkehr und zu radikaler Erneuerung. Als restaurativ wirkende Anstrengung von typischen Propheten-Dichtern, die deren Bemühungen aufzeigt, dem modernen Orientierungsverlust angesichts der ›transzendentalen Obdachlosigkeit‹ (Lukács) schreibend entgegenzutreten, verfallen literarische Zeugnisse, die auf Rudimente der alttestamentlichen Prophetie rekurrieren und teilweise als Reflex auf eine prophetische Autorpoetik zu verstehen sind, bisweilen einem Kitsch-Verdikt, da sie scheinbar einer nicht ernstzunehmenden Sentimentalität alter Zeiten nachhängen oder mit starken Typen wie denen des gewaltigen Propheten die eigene Zeit unreflektiert eskamotieren. Werfel ist ein Beispiel dafür, wie ein Autor aufgrund seiner biblisch-prophetischen Ausrichtung polemischen Angriffen ausgesetzt ist und dadurch teilweise an Popularität verliert. Er wird für gewöhnlich zum messianischen Expressionismus gezählt, dem oftmals cum grano salis eine regressive Tendenz ob seiner konventionellen Dichtungsweise und seinem hohlen Pathos attestiert wird.18 Vietta und Kemper verdeutlichen in ihrer wegweisenden

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Frank Krause referiert die »Indienstnahme ästhetischer Formen für eine metaphysische Ethik« im messianischen Expressionismus, die der »Emanzipation des Ästhetischen von der Autorität sakraler Traditionen« im Weg stehe (F. Krause, Literarischer Expressionismus, Paderborn 2008, S. 137). Er stellt aber auch die religiöse Grundierung des skeptischen Expressionismus heraus: In seiner Studie Sakralisierung unerlöster Subjektivität zeigt Krause, dass auch im zivilisations- und kulturkritischen Expressionismus eine »Form der Sakralisierung unerlöster Subjektivität« zu verzeichnen sei (F. Krause, Sakralisierung unerlöster Subjektivität. Zur Problemgeschichte des zivilisations- und kulturkritischen Expressionismus, Frankfurt am Main; Berlin 2000, S. 520). Ernst Toller etwa verstehe sich als »Gefäß, in dem schöpferische Lebenskräfte wirken« (Toller, An Tessa zitiert nach Krause, Sakralisierung unerlöster Subjektivität, S. 526) und sein »Produktionsprozeß erweist sich als Selbstbehauptung einer demiurgischen Macht am widerständigen Element und wird von Toller mithilfe säkularisierter religiöser Motive aus 1 Mos. 1 geheiligt« (Krause, Sakralisierung unerlöster Subjektivität, S. 526).

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und immer noch lesenswerten Studie zum literarischen Expressionismus die »›Dialektik‹ von Ichdissoziation und Icherneuerung«19 als Signatur der Epoche, dergestalt, dass die viel beschworene ›O-Mensch-Pathetik‹ der messianischen Richtung des Expressionismus ebenfalls auf der intensiven Erfahrung des Ich-Zerfalls fußt, ja sich als Gegenreaktion oder Pendant dazu begreifen lässt.20 Sie bemerken nebenbei, dass »viele Expressionisten im Ton heilbringender Propheten«21 den Aufruf zur Welt-Erneuerung in der Nachfolge Nietzsches vorbringen:22 Der Autor des messianischen Expressionismus sieht sich gerne in der Rolle des prophetischen Führers, der ›sein Volk‹ anredet. Das Hohle und Verblasene des religiösen Pathos entspringt auch der irrealen Einschätzung des eigenen Ich. Der Dichter als Führer eines ›ins Licht‹ aufbrechenden Volkes: da überplustert eitles Wunschdenken die eigene Bedeutungslosigkeit.23

Viele messianisch grundierten Kunstwerke und Autorschaftsinszenierungen, die den Typus des prophetischen Führers beerben, würden dementsprechend von einem Ausdruck »eitler Selbstvergottung«24 zeugen. »Der Dichter in der Pose des Propheten«25 scheint ob seiner anachronistischen Anlage als Kronzeuge für missliche und scheiternde (auch poetologische) Aufbrüche einzustehen. Das teilweise wonnevoll ausgekostete Erlebnis des Religiösen, die Zelebration der sakralen Propheten-Pose führt in der Tat oftmals nicht zum wahren Aufbruch etwa einer realen Menschenverbrüderung, sondern bleibt im betörenden Erlebnis des Religiösen stecken. Gefühlsduselei, klischeehafte Metaphorik, Festhalten an und Zitation von unzeitgemäß metaphysischen Fundamenten kursieren als beredte Zeugnisse eines Rückfalls hinter mystische und gnostische Vorbilder-Zeugnisse, und dies sowohl in thematischer als auch in formaler Hinsicht:26 Ähnliche Vorbehalte artikuliert die Forschung – wie

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Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 186. Vgl. Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 188. Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 187. Ähnlich äußert sich Eva Kolinsky: »Selbstherrlichkeit und Opfermut überlagern sich und lassen den als ausgezeichnetes Subjekt gesehenen Künstler im Zwielicht von Übermensch und Messias erscheinen. Die Rolle des Künstlers und die Rolle des heilbringenden Menschen fallen zusammen. Beide fungieren als Sachverwalter einer ›Wesen‹ genannten Innerlichkeit, die gegen die industrielle Massengesellschaft und ihre Lebensformen ›Geist und Seele‹ bewahren und verteidigen will. Das zum Träger von Identität, von ›Wesen‹ gefestigte Subjekt scheint den sozialen Mechanismen enthoben, die in der Gegenwart der expressionistischen Generation die Möglichkeit individueller Autonomie nachhaltiger als je erschüttern« (E. Kolinsky, Engagierter Expressionismus. Politik und Literatur zwischen Weltkrieg und Weimarer Republik. Eine Analyse expressionistischer Zeitschriften, Stuttgart 1970, S. 79). Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 190. Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 190. Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 190. Vgl. Vietta: »Das Moment der Regression unterscheidet die ekstatische Empor- und InsLicht-Metaphorik des Expressionismus aufs deutlichste von entsprechenden Vorbildern in der Gnosis und Mystik« (Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 194).

gesagt – auch gegenüber Werfels Grundtenor. Dass bei Werfel eben »die religiöse Reimmaschine munter laufe«27 merkt Wolfgang Rothe süffisant an. Walter Sokel degradiert Werfel unmissverständlich, wenn er ihn einzig zur »ekstatische[n] Raserei in grundsätzlich konservative[n] Formen«28 fähig hält und mit folgendem Populär-Verdikt bedenkt: »Werfels geistiger Ankergrund wurde eine glückliche Mischung aus Kommerzialismus und judäo-christlichen Gefühlen.«29 Auch Kemper und Vietta beäugen – wie aufgezeigt – die messianische Richtung des Expressionismus en gros kritisch. Autoren wie Theodor Däubler und Franz Werfel würden dem »extremen Subjektivismus, wie er in der Auffassung des Künstlers als Führer und Prophet seinen Niederschlag findet – Nietzsches Zarathustra ist hier das Vorbild – [,] […] ein[en] Überdruß am Ich«30 als Gegengewicht an die Seite stellen und sich damit selbst demontieren: »So ist, was sie für utopische Zukunftsmusik halten, selbst regressiv. Nicht das autonome Subjekt, sondern dessen verkümmerte Emotionalität und Religiosität bringen sie – wider ihren Willen – objektiv zur Darstellung.«31 Vorbehalte gegenüber derartigen religiösen Subjektivitätskonstruktionen bzw. -demontagen speisen sich offensichtlich aus den Kenntnissen und Erwartungen aufk lärerischer und nietzscheanischer Subjekt-Vorstellungen, gemäß denen Autonomie und (religiöse) Bezüglichkeit auf einen Urgrund hin sich kontradiktorisch ausschließen. Doch muss aus der Negation eines Autonomieanspruches nicht zwangsläufig auf einen Verlust authentischer Subjektivität geschlossen werden, noch weniger auf mangelhaftes poetisches Vermögen. Gerade das Aufbrechen des autonomen Subjekts, der Gang durch die Negation in Bezug auf das andere, erlaubt neue Personalisierungsprozesse, die mit einer prophetischen Ermächtigung des Künstlers einherzugehen vermögen. Für das Oszillieren zwischen Subjektermächtigung und Subjekterniedrigung, IchSteigerung und Ich-Dissoziation dient die Propheten-Figuration indes gleichermaßen als Reflexionsfolie, ist ihr doch eine ambivalente, da inhärente Umschlagsfigur wesensmäßig eingeschrieben, wie oben beschrieben. Das mag die Prominenz der Propheten-Figur auch in der Klassischen Moderne, wo die Infragestellung des selbstgewissen Ich respektive seine Erhöhung virulent ist, zunächst erklären und v.a. die Trennung zwischen kritisch-reflexivem und naiv-messianischem Expressionismus entschärfen. Das Bild vom prophetischen Künstler als Führer ist dem messianischen Aktivismus zuzuordnen, dasjenige vom prophetischen Künstler als Hörer des göttlichen Wortes impliziert die Kehrseite des autonomen Subjekts, also die Objektivierung und Instru-

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W. Rothe, Der Mensch vor Gott. Expressionismus und Theologie. In: Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien, hg. von Wolfgang Rothe, Bern; München 1969, S. 37–66, S. 40. W. H. Sokel, Der literarische Expressionismus. Der Expressionismus in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, München 1960, S. 9. Sokel, Der literarische Expressionismus, S. 276ff. Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 193. Vietta u. Kemper, Expressionismus, S.  193; vgl. Kemper, Zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, S. 143f.

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mentalisierung des Subjekts zum Diener einer fremden Macht, wie der der Sprache. Es wäre allerdings vorschnell gefolgert, beide Seiten der Propheten-Medaille isoliert betrachten zu wollen, mithin den expressionistischen Messianismus in einen subjektübersteigernden und einen subjektauslöschenden, in einen blind aktivistischen und regressiv religiösen aufzuspalten. In der demütig anmutenden, prophetisch inspirierten und stilisierten Auslöschung des Individualsubjekts darf nicht die religiöse Nobilitierung der Personalität des Propheten übersehen werden, so dass trotz Ich-Auslöschung über die Hintertür zumindest eine »impersonale, ersatzmetaphysische Prophetenund Heilsbringergestalt«32, ein göttliches Subjekt, ins Recht gesetzt wird, welches nicht per se als leeres oder überdeterminiertes Ich einer Regressionsmaschinerie zu degradieren ist. Diese doppelt kodierte Ich-Konzeption geht genau genommen auf Nietzsche zurück.33 Ich-Dissoziation kann in derselben Figur zur Ich-Ermächtigung umschlagen und umgekehrt. Dieser Doppelgestalt des Propheten tragen auch Werfels Propheten-Dichtungen Rechnung. Hinter seiner prophetischen Dichtung steckt dann mehr als ein religiöses Abendgeläut, wenn der Ersatz des autonomen Subjekts ein prophetisch inspiriertes Medium ist, welches sich in den Dienst der Lautwerdung autonomer Worte stellt. Auf originelle Weise offenbart sich dann erneut der mediale Prophet als Garant für eine moderne Kunstauffassung: diejenige der Autonomie der Kunst (poésie pure), genauer prophetisch-autopoetischer Konstruktionen.34 Werfels Bemühungen um die Reaktivierung der metaphysischen Beziehung des Menschen zu Gott und seine theozentrische Haltung beziehen sich zudem schwerpunktmäßig auf eine Neufindung der Innerlichkeit des Menschen anstatt auf ideologisch gefärbte, revolutionäre Programme. Der prophetische Dichter in Form des genuin revolutionären Führers – wie ihn andere messianische Dichter zeichnen – ist ihm fremd bzw.

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Vietta u. Kemper, Expressionismus, S. 196. Als zentrale Gestalt des Expressionismus stellt Eckart von Sydow den Erzengel heraus. Zur Beschreibung von Wesen und Symbolik des Engels nennt er seinen Werkzeug-Charakter, sein rastloses Botentum zwischen Jenseits und Welt und sein Mittlertum zwischen Mensch und Gott. Er sei schlussendlich der »wahrhafte Übermensch und Untergott«: »So schwebt er inmitten der ungeheuren und doch stetig von ihm durchflogenen Kluft, die Gott vom Menschen trennt, – aber dem Schöpfer doch irgendwie näher als dem Menschen« (E. von Sydow, Das religiöse Bewußtsein des Expressionismus (1919). In: Theorie des Expressionismus, hg. von Otto F. Best, Stuttgart 1982, S. 98–104, S. 99f.). Als Kennzeichen des religiösen Bewusstseins im Expressionismus sei gerade eine doppelte Bewusstseinsrichtung erkennbar: »auf das Absolute und auf das Weltliche hin und zweitens aus der einfacheren Blickrichtung auf das Absolute allein« (von Sydow, Das religiöse Bewußtsein des Expressionismus, S. 103). Abstrakter und ekstatischer Expressionismus seien die zwei Grundrichtungen, die aus dieser Konstellation entsprängen. Nietzsche sei der »Leitstern« des religiösen Bewusstseins, habe er doch nur die eine Hälfte des alten Gottes getötet und die andere Hälfte, die mythologische Gestaltung des Lebens anhand seiner Zarathustra-Figur ins Bild gesetzt (vgl. von Sydow, Das religiöse Bewußtsein des Expressionismus, S. 100f.). Dass sich die Engel-Figur mit der Propheten-Figur vergleichen lässt, ist evident, v.a. kann die Zarathustra-Leitfigur als ProphetenVorbild erkannt werden, wie oben beschrieben. Vgl. das Kapitel VI.5.

allenfalls zu einer ironischen Replik tauglich.35 Vielmehr tangiert die Propheten-Figur einerseits als Außenseiter und andererseits in ihrer strukturellen Beziehung auf ein Anderes hin – sei es Gott oder die Hörerschaft – soziale Beziehungsgeflechte, und ihr eignet ein spezieller, Gott entlehnter Personalitäts-Status. Dem verobjektivierten Subjekt göttlicher Provenienz, welches der Prophet bei Werfel vorstellt, ist der Verlust genuiner Subjektivität im Sinne von Autonomie provokant eingeschrieben, aber auch der Gewinn erhöhter Subjektivität mittels eines theologischen persona-Konzepts, wie es Werfel vorschwebt. Gerade im Wissen um die verkümmerten Züge der Propheten-Figur auf literarischem Feld kann so angesichts der Vielzahl prophetischer Studien weiterhin nach der Ambivalenz des Verlusts genuiner Prophetie und einer literarisch ausgerichteten Prophetie sowie nach der schöpferischen Bejahung dieses Verlusts gefragt werden. Überschneiden sich die Diskurse Literatur und Prophetie erneut und werden diese mitunter von dritten Diskursen (Musik, Gewalt, Politik u.a.) überlagert, ist das poetische Fortleben der Propheten – auch im Modus der Entstellung oder Negation – zu sichten. Dieser Fokus erlaubt sowohl einen kurzen Blick auf Werfels Propheten-Autorschaftsbild als auch eine poetologische Lektüre seiner literarischen Propheten-Gestaltungen. So lässt sich eruieren, inwiefern der Rekurs auf die Welt der Propheten auch für Werfel nicht nur als schlichte Rückkehr zu biblischen Archetypen und Stoffen, sondern auch als Basis für künstlerische Überlegungen anhand der sich anzeigenden Kreuzung von Prophetie und Poesie dient. Im Mittelpunkt von Werfels poetologischen Reflexionen ist die Differenz zwischen Gottes-Wort und Menschen-Wort anzusiedeln. Die Frage nach der Personalität des Propheten ist bei Werfel besonders zentral positioniert und ist mit der Frage nach der Authentizität des prophetischen Wortes zu verknüpfen. Wie bei Trakl fungiert die Propheten-Gestalt als Schauplatz des ständigen agonalen Wechsels zwischen menschlicher Autonomie (Sprachmacht) und Autonomie der (göttlichen) Worte (Macht der Sprache). VII.2.1. »Wolle schreiben mich mit schöner Schrift!«: Erschreiben und Geschrieben-Werden in Werfels Lyrik und Kurzprosa Rilke und George sowie Trakl vergleichbar reaktiviert und pflegt Werfel neben der literarischen Kultivierung der Propheten das Autorschaftsbild des Dichter-Propheten, wenn er seine Dichtung prägnant als Sendung ausgibt. Adolf D. Klarmann, dem das Verdienst der ersten Werfel-Edition zukommt, schreibt: »Werfel war sich seit je be-

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Mitunter entkam Werfel so dem scharfen Visier des von Georg Lukács angestoßenen Ideologie-Verdachts in der marxistischen Expressionismus-Debatte (vgl. G. Lukács, »Größe und Verfall« des Expressionismus. In: Lukács, Probleme des Realismus I. Essays über Realismus, Neuwied; Berlin 1971, S. 109–149; Hans-Jürgen Schmitt (Hg.), Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption, Frankfurt am Main 1973; Fritz J. Raddatz (Hg.), Marxismus und Literatur. Eine Dokumentation, Reinbek bei Hamburg 1969).

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wußt, daß er unter einer Berufung stand. Noch 1941 bekennt er: ›Ich bin mir bewußt, daß alle meine Bücher, so realistisch sie sind, eine verborgene Sendung enthalten.‹«36 Der im Zeichen einer Sendung agierende Dichter nimmt bei Werfel Züge eines Gottesboten an. Er entwickelt »sein dichterisches Sendungsbewusstsein auf der Basis eines neuen, poetischen Christentums«37 und zielt auf eine innere Verwandlung der Menschen ab. Einer seiner Lieblingsdichter ist Walt Whitman, dessen prophetische Lyrik er rühmt: »Sie [die ›rhythmische Poesie‹ Whitmans] ist unumstößlich, wenn sie ihrer Aufgabe treu bleibt: Der Prophetie.«38 In vielen biographischen Zeugnissen finden sich ferner immer wieder Belege für Werfels inspirative Vortragsweise, etwa wie folgt: »Schon im Dezember 1911 tritt er als Rezitator in Erscheinung, dem das klangtrunkene Modulieren des gesprochenen Wortes Freude macht und der mit aller Inspiration und Verzückung eines Magiers seine Gedichte, darunter viele nie veröffentlicht, vorträgt.«39 Seine wirkungsvolle Rezitation aus dem Weltfreund bescheinigt ihm mitunter sein Freund und Dichterkollege Franz Kafk a: »Durch Werfels Gedichte hatte ich den ganzen gestrigen Vormittag den Kopf wie von Dampf erfüllt. Einen Augenblick fürchtete ich, die Begeisterung werde mich ohne Aufenthalt bis in den Unsinn mitfortreißen.«40 Max Brods Erinnerung an seine erste Begegnung mit Werfel hebt ebenfalls dessen Lust am prophetischen Vortrag hervor: Sein Habitus aber änderte sich sofort, als er zu deklamieren anfi ng. […] Er sagte sie [die Verse], ohne zu stocken, fehlerlos aus dem Kopf, feurig, mit dröhnender oder, je nachdem, innig oder aber auch jauchzender Stimme her, bald in lauten, bald in stillen, stets aber in sehr reichen vielfältigen Modulationen. […] So etwas hatte ich noch nie gehört. Ich war einfach erobert.41

Wie Gustav Landauer vertraut Werfel auf die »gemeinschaftsbildende Wirkung der mündlichen Sprache«42, denn der mündliche Vortrag ist für ihn das beste Medium, um eine gemeinschaftsbildende Wirkung seiner prophetischen Stimme zu garantieren. Im Gegensatz zu Stefan Georges »Präsenzcharisma« eignet ihm – wie Martin Buber – ein spezifisches »Kontaktcharisma«43. Reflexe auf eine derartige Exponierung des göttlichen Reporters sind zudem in der Werfel’schen Lyrik zahlreich erkennbar. Insbesondere seine Annäherung an einen mündlichen Sprachstil scheint immer wieder durch; seine Gedichte wollen geradezu laut gelesen werden.44

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A. D. Klarmann, Franz Werfel. In: Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien, hg. von Wolfgang Rothe, Bern; München 1969, S. 410–425, S. 422. Nishioka, Dichtung als Prophetie, S. 114. Werfel zitiert nach Nishioka, Dichtung als Prophetie, S. 122. Norbert Abels, Franz Werfel. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 25. Kafka zitiert nach Abels, Franz Werfel, S. 25. Max Brod zitiert nach Nishioka, Dichtung als Prophetie, S. 117. Nishioka, Dichtung als Prophetie, S. 116. Auerochs, Drei Stilisierungsweisen, S. 284. Vgl. Nishioka, Dichtung als Prophetie, S. 116f.

Werfels Gedicht »Gebet in der Dämmerung«, das 1935 in der Sammlung Schlaf und Erwachen erstmals erschien, ist ein besonders eindringliches Beispiel für Werfels prophetisches Dichtungsverständnis, setzt es doch mit dem Wunsch des lyrischen Ich ein, als Gottes Schreibwerkzeug zu dienen: Gebet in der Dämmerung Wenn ich schreibe, Herr, sei ich Dein Stift , Tauch mich in mein Blut als Deine Feder, Wolle schreiben mich mit schöner Schrift! Denn mein eigner Sinn ist voll Entweder Und voll Oder, voll Sowohl-Alsauch, Stören und verstören kann mich Jeder. Aber wenn ich in den Winterrauch Durch das Fenster starre ins Vertagen So wie jetzt, belebt mich fremder Hauch. Überm Blatt vernehm ich Dein Weissagen Flüsternd zu Dir selbst. Leicht wird mein Leib, Denn er ist durchdrungen und getragen … Herr, hier bin ich! Faß mich an und schreib!45

Die emphatisch herbeigesehnte Fremddiktion, das selige Diktat Gottes, dessen Flüstern das lyrische Ich bereits zu hören vermeint (vgl. Vers 11), ist Bestandteil des modern initiierten Inspirationstopos, der hier in Form eines Gebets – der Museninvocatio ähnelnd – aufgerufen wird und das lyrische Ich konzeptionell zum Offenbarungsgefäß, christologisch gesprochen zum (ätherischen) Leib von Gottes Stimme zu qualifizieren sucht. Die Inspiration als Einatmung oder Einhauchung verstanden (inspiratio heißt Einhauchen) wird über den Weg der Naturbetrachtung eingeleitet, wie es in Vers neun – nach dem Blick aus dem Fenster als Bild für die Ausweitung des lyrischen Ich – heißt: »So wie jetzt, belebt mich fremder Hauch« (Vers 9). Der Einbruch der Nacht, der Zustand der Abenddämmerung – dem programmatischen Titel von Schlaf und Erwachen folgend – evoziert die Auflösung klarer Konturen in Entsprechung zum potentiellen Aufbruch aus einem abgeschlossenen Bewusstsein hin zur ›Verleibung‹ der Gottes-Weissagung. Bedingung für die mediale Vermittlung ist zudem das Hören der Stimme. Dem akustischen Phänomen (»Überm Blatt vernehm ich Dein Weissagen«, Vers 10) ist ein korporaler Effekt beigeschaltet (»Leicht wird mein Leib«, Vers 11). Das Beschreiben des Blattes mit Hilfe des lyrischen Ich soll außerdem »mit schöner Schrift« (Vers 3) vonstattengehen, also vermutlich unter Vorgabe einer poetischen Ordnung oder zumindest im Rahmen der schönen Kunst, der Poesie, geschehen. Dementsprechend ist ferner eine höhere Ordnung des Ich an-

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Werfel, Gebet in der Dämmerung, S. 448f.

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visiert, dessen in der zweiten Strophe beschriebener Zustand der Wankelmütigkeit, des Sowohl-als-auch, der Verstörbarkeit eine stabilisierende Überformung begehrt. Ebenso schön – also der angedeuteten poetischen Programmatik folgend – ist überdies das Gedicht selbst zu Papier gebracht, wenn man die geordnete Gedichtform als Korrelat zur gewünschten Ich-Ordnung und beide als einen Ausdruck von Schönheit interpretiert. Angezeigt ist damit eine anzustrebende Kongruenz zwischen medialisiertem Ich, das in der Fremdsteuerung eine stabilisierende Ordnung ersehnt, und einer wohlstrukturierten Versform als Garant für Schönheit im klassischen Sinn:46 Der Ausweitung des lyrischen Ich wird eine Schönheitskonzeption, eine harmonische Wohlproportioniertheit an die Seite gestellt. In formaler Hinsicht ist das Gedicht konventionell aufgebaut: Es besteht aus jeweils einem Satz pro dreizeilige Strophe. Die letzte Zeile hebt sich von den vorhergehenden geringfügig ab und schließt mit zwei Imperativen. Die vielen Imperative im Werfel’schen Gedicht stimulieren den Gestus des fordernden Gebets. Der scheinbar untertänige Beter, der sich als Schreibwerkzeug anbietet, ist zugleich ein fordernder und befehlender Beter: Der Wunsch nach einem göttlichen Fremddiktat wird geradezu vom lyrischen Ich diktiert, so wie das Geschrieben-Werden in Form des Gedichts aktiv erschrieben wird. Eine ganz ähnliche Verzahnung von Gottesbeschwörung und Sprachbemächtigung findet sich im Gedicht »Gebet um Sprache« – ebenfalls aus Schlaf und Erwachen und unter der Rubrik »Hymnarium« veröffentlicht: Gebet um Sprache Gib mir nicht Macht über die Sprache, Gib mir der Sprache Macht über mich! Ich mag nicht mit flinkem Fingerspiel Silben fädeln wie geglättete Kugeln. Laß mich an überraschender Biegung Dir begegnen im Dornbusch des Wortes, Im stotternd zerrissenen Strauch, Der mit der bläulichen Flamme Deines Gleichnisses brennt.47

Auch hier ist an exponierter Stelle, als Auftakt des Gedichts, der Wunsch nach einer typologischen Umkehr von der Macht des lyrischen Ich über die Sprache zur Macht

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Angesichts der Schönheit stellt sich das lyrische Ich in »Schönheit« die Frage nach dem Vergehen, August von Platens berühmten Anfangsversen aus dem Gedicht »Tristan«: »Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / Ist dem Tode schon anheimgegeben« (A. v. Platen, Tristan. In: Platen, Werke in zwei Bänden, Bd. 1: Lyrik, hg. von Kurt Wölfel u. Jürgen Link. Nach der Ausgabe letzter Hand und der historisch-kritischen Ausgabe, München 1982, S. 69) vergleichbar: »Und bist du da, soll ich mich gut ergeben / In müdes Fließen, das dich nicht mehr spürt? / Soll ich im Wagnis eines Blickes leben / und sterben, wenn mein Schatten dich berührt?!« (Werfel, Schönheit. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 259). Werfel, Gebet um Sprache, S. 448.

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der Sprache über das lyrische Ich im parallel angelegten Duktus des zweimaligen Imperativs »Gib mir« (Vers 1 und 2) zu verzeichnen. Wendet man wiederum den Blick auf das Gebet-Gedicht an sich, das Werfel in eine Reihe von Hymnen einordnet, gelangt man erneut zu einer doppelbödigen Struktur, die darin besteht, mit Sprachmacht die Macht der Sprache zu erbeten, genauer zu erschreiben. Der Titel des Gedichts lautet »Gebet um Sprache« und kann daher wohl nicht bereits als gewünschtes Ergebnis des Gebets – die Autonomie der Sprache, dessen Diener das lyrische Ich ist – verstanden werden. Der Bogen vom Beherrschtwerden von der Sprache zur prophetischen Dichtungskonzeption wird über den Verweis auf den »Dornbusch des Wortes« (Vers 6) geschlagen, der an die Gottes-Epiphanie Moses erinnert (vgl. Ex 3, 1–4, 17). Zwar klingt das Verlangen nach Sprach-Authentizität in der mosaischen Gottesbegegnung an – in Absetzung zur technizistischen Fäden-Spindelei, wie im dritten und vierten Vers alludiert –, doch wird der Gleichnis-Charakter der Naturerscheinung für die Gottesbegegnung nicht verschwiegen. Die Wendung »im stotternd zerrissenen Strauch« (Vers 7) evoziert geradezu ironisch Sprachgebärden, die am ehesten der Glossolalie ähneln, der ekstatischen Zungenrede. Die ersehnte erhabene SprachÜbermacht wird also im prophetischen Umfeld angesiedelt: Wie ein Prophet wird das lyrische Ich als Medium göttlicher Worte positioniert. Die anvisierte mediale Konzeption des lyrischen Ich vollzieht sich allerdings im aktiven Schreibprozess imperativischer Prägung. Und diese Konzeption der Autonomisierung der Sprache und der Medialisierung des lyrischen Ich, wie es den prophetischen Berufungstopoi entlehnt ist, ist auch für Werfels prophetische Lyrik charakteristisch.48 Insbesondere die Dornbusch-Allusion und die Mose-Figur bemüht Werfel häufig als Reflexionsfläche für das lyrische Ich. An der Sonderstellung Moses unter den Propheten besteht nach »Exodus 34/29« aus dem Gedichtband Neue Gedichte von 1928 kein Zweifel:49 […] Heilande, Propheten, heilge Lehrer Kamen nach ihm, Gottes Wiederkehrer. Licht auf ihrem Haupt ist rückgeblieben, Doch allein von Mose steht geschrieben: ›Er warf Strahlen, aber wußt’ es nicht.‹50

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Eine Spezifizierung des Dichters als durchlässiges Medium wird im Gedicht »Der Dichter« bereits im frühen Gedichtband Der Weltfreund von 1911 angedeutet: »Ich, nur ich bin wie Glas, / Durch mich schleudert die Welt ihr schäumendes Übermaß« (Werfel, Der Dichter. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 53). Als Paradebeispiel für ein durchstrahlbares Medium als Signum des Propheten fungiert besonders Mose. Insofern erinnert das Medium des durchstrahlbaren Glases auch an die Programmatik einer prophetischen Medialität, wie sie Werfel fortschreibend entwickelt. In der Bibel heißt es: »Als Mose vom Sinai herunterstieg, hatte er die beiden Tafeln der Bundesurkunde in der Hand. Während Mose vom Berg herunterstieg, wußte er nicht, daß die Haut seines Gesichtes Licht ausstrahlte, weil er mit dem Herrn geredet hatte« (Ex 34, 29). Werfel, Exodus 34/29, S. 386.

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Das Motiv des unbewussten Brennens, Bestrahltseins und Strahlens des Propheten Mose kann als Hinweis auf sein Entgegennehmen des Dekalogs und die DornbuschVision (Ex 2, 23–4, 17) im Rahmen seiner Erleuchtung und seiner Korrespondenz mit Gott leicht entschlüsselt werden, zumal der Titel die Belegstelle angibt. Die herausragende Stellung Moses als auserwählte Leitfigur der Propheten hat ihre Wurzeln im den Pentateuch abschließenden Epitaph, wo es heißt: »Niemals wieder ist in Israel ein Prophet wie Mose aufgetreten. Ihn hat der Herr Auge in Auge berufen« (Dtn 34, 10). Eine kleine Variation des Strahlenmotivs bietet das darauffolgende Gedicht »Die Ekstase der Wolke« aus den Neuen Gedichten, v.a. die Schlussverse, wo der untergehende Gott seinen Propheten auslöscht: […] Gott! Du bist untergegangen! Nichts war ich, doch ich brannte Von unsichtbarer Strahlung, Unwissend, daß ich brenne. Es war ein Augenblick nur. In Schwermut lösch ich aus.51

Im Sonnenuntergang verwandelt sich eine Wolke in ein »zackiges Flammenherz«52 und gemahnt – in der Metaphorik des Brennens und Strahlens – daran, wie der untergehende Gott den Propheten mit seinem Licht bestrahlt, d.h., ihn in Ekstase versetzt und erleuchtet. Der Untergang Gottes korrespondiert mit der Auslöschung des Propheten und verweist auf die Abhängigkeit des Propheten von seiner lebensspendenden (Licht-)Quelle. Die im Titel genannte Ekstase verweist auf einen mystisch verstanden plötzlichen Augenblick der illuminatio. »Als heiliges Strahlen-Wundmal«53 – so die kühne Wortkomposition – wirkt auch die Erweckung Jesajas via Mund-Initiation schmerzlich. Die Auserwähltheit des Propheten schlägt sich in seinem Dulden von Schmerzen nieder. Während der Vision der Engelscharen um Gottes Thron berührt ein Seraph den Mund des Propheten mit einer glühenden Kohle im 1935 veröffentlichten Gedicht »Die Erweckung des Propheten Jesaja«, um den Gotterwählten für Gott zu entbrennen:54 Theatralisch aufgeladen ist Jesajas Berufung zum Sprachrohr Gottes mit seiner körperlichen Deformation verbunden, die einem Martyrium gleicht: […] Der Seherjüngling brach in sich zusammen Und bohrte seinen Kopf in das Gewand. Die Lippen platzten ihm, zwei wunde Schrammen, Die Zunge schwoll, das Blut floß zäh wie Sand.

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Werfel, Die Ekstase der Wolke, S. 386. Werfel, Die Ekstase der Wolke, S. 386. Werfel, Die Ekstase der Wolke, S. 386. Vgl. zur biblischen Vorlage: Die Berufung des Propheten: Jes 6, 1–13.

Er wußte nicht, wem die Herabkunft gelte, Er ahnte nicht, wer Würdigung erfuhr, Noch auch für wen der Herr im Tempel zelte. Unrein bin ich! Dies einzig faßt’ er nur. Ein Seraph aber griff mit goldner Zange Die glühe [sic!] Kohle von des Altars Grund Und schwebt über seinem Scheitel lange Und sank herab und rührte ihm den Mund. Da stürzte Schmerz, den kein Geschaff ner kannte, All Schmerzes Blitzschlag, – doch was ist das: Schmerz? – Ins Leben ihm und fraß es leer und brannte Die Lunge aus und Leber, Hirn und Herz. Nun stand er wie ein Opfer ausgeweidet, Doch voll Gelassenheit. Die Furcht war fort, Und nichts in ihm, woran ein Mensch noch leidet. Kühn sah er auf … Und es erging das Wort.55

Im Bild des ausgeweideten Opfers wird der alte Mensch verabschiedet, aus dem der mittels Initiation gestählte und gereinigte Prophet aufsteht. Wie Trakl greift Werfel die Thematik der Reinigung des unreinen Menschen auf: Das Ergebnis der Reinigung durch die glühende Kohle – als Bild für eine Affektreinigung – ist die »Gelassenheit« des Propheten, der alle Affekte (v.a. seine Furcht) loslässt. Im Mittelpunkt der Propheten-Gestaltungen Werfels steht – vielen Dichter-Propheten-Darstellungen vergleichbar – das Initialmoment der Berufung, wohingegen die Botschaft der Gottes-Worte gänzlich ausgespart bleibt. In Anlehnung an die Propheten des Alten Testaments wird betont, wie sie unter dem Diktat und dem Befehl Gottes stehen und wie sie körperlich zur Sendung präpariert werden. Gott zwingt Ezechiel zur Prophezeiung und zur Schau des gärendes »Totenteig[s]«56 der verstorbenen Menschen. Der entsetzlichen Auferstehung, einem bizarren, grotesken Szenario ins Gesicht sehen müssend versinkt der Prophet als unstimmiges Instrument in eine »brüllende Erflehung«57. Als Kulmination der Erschreibung autonomer Poesie im Zusammenhang mit einer Medialisierung des lyrischen Ich liest sich »Das Gedicht« im Band Beschwörungen, der 1923 veröffentlicht wurde:

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Werfel, Die Erweckung des Propheten Jesaja, S. 458–460. Werfel, Ezechiels Gesicht von der Auferstehung, S. 424. Werfel, Ezechiels Gesicht von der Auferstehung, S. 425. Der »Wirbelwind des Herrn« reißt Ezechiel zunächst in höhere Sphären, wo Gott den Propheten für sich instrumentalisiert: »[…] Er aber zwang mir Wort um Wort hervor  / Und preßte mich, daß ich dem Tod weissage« (Werfel, Ezechiels Gesicht von der Auferstehung, S. 423).

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Das Gedicht Was mir gelingt, Darf nicht mir gelingen. Ein andres Wesen will aus mir dringen, Während mein Wachsein sinkt. Das Fremde ist wohlgelaunt. Es hat mich erwählt, daß es werde. Nun grüßt es scheidend mit kalter Gebärde. Ich starre ihm nach, müd und erstaunt.58

Es handelt sich ganz offensichtlich um ein poetologisches Gedicht, wie der Titel »Das Gedicht« schon erwarten lässt. Ähnlich wie in »Gebet in der Dämmerung« – wobei die Heimsuchung hier von Seiten des fremden Wesens initiiert ist – sieht sich das lyrische Ich gezwungen, seinen autonomen Schaffensprozess angesichts einer Fremdeinwirkung – wohl das Gedicht, die Worte selbst – zu leugnen. Das lyrische Ich wird wiederum dann, wenn das Bewusstsein schwindet, zum Mittel des Werdens der Worte, d.h. auch zum Medium der Niederschrift des Gedichts erwählt. Dass eine Trennung zwischen Kunstwerk und Medium nach dem Werdeprozess des Fremden abschließend ansteht, zeigt die (ironische) Wendung »scheidend mit kalter Gebärde« (Vers 7) an.59 In eine Reihe mit dem Schwund des aktiven Parts des lyrischen Ichs und der Trennung von Gedicht und medialem Urheber lässt sich ferner bereits die »Elegie des poetischen Ichs« im frühen, zwanzig Jahre zuvor publizierten Gedichtband Einander von 1915 stellen. Die Aufhebung des lyrischen Ichs in die reine Sphäre des Unaussprechlichen verhindert seine Aussprache: Elegie des poetischen Ichs Glaubt nicht, daß ihr mich erkennt, und aus dem Gedichte entdecket, Bin ich erst da und gebannt, heb ich mich auf und davon. Süße Sphäre, wo ich im Unaussprechlichen walle, Glühend Erkenntnis bin, weil nicht Gestalt mich verschließt. Doch auch mich reißt hinab der alte Drang nach der Sünde, Und eine plumpere Hand hascht nach dem leichten Geschöpf. Reine Empfängnis! Weh mir! Der heilige Geist wird geboren, Doch ihn bringt eine Hur, euere Sprache zur Welt.60

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Werfel, Das Gedicht. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 371. Die doppelte Widerständigkeit des Kunstwerks, erstens nicht werden zu wollen und zweitens zu entgleiten, ist Thema des 1935 erschienenen Gedichts »Flucht des Werkes«: »Es ist ein großer Widerstand / In allem Werk. / Ihr wißt es ja: Kein Werk will werden. // So weigerte der Gotteshand / Sich auch die Welt. / Ungern standen Stern und Erden. // Die Schöpfung schlief in warmen Decken / Und wehrte sich, das müde Kind, / Als Gott hereinkam, es zu wecken. // Auch was wir bilden und ersinnen, / Will durch die Finger unserer Hand, / Der formenden, geschwind entrinnen« (Werfel, Flucht des Werkes. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 449). Analog zu Gottes missratener, seinen Händen entgleitender Schöpfung sieht sich der Künstler ohnmächtig vor seinem Werk stehen. Werfel, Elegie des poetischen Ichs. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 168.

Die Dimension der Rezipienten einbeziehend reflektiert das lyrische Ich seine Unkenntlichkeit bzw. sein Unbeheimatetsein im Gedicht, wenn es der Gestalt, der Gedicht-Form in höhere Sphären strebend entflieht. Denn – mit theologischen Termini artikuliert –lebendige Erkenntnis ist nur im Unaussprechlichen möglich; der Sündenfall der Wortwerdung, der Inkarnation des heiligen Geistes, das Eingebundenwerden des lyrischen Ich als Gedichtbestandteil gleicht einer Prostitution, zumal Vermittlung durch weltliche Sprache einen Bruch mit reiner Erkenntnis, wohl in Ermangelung der Reinheit der Sprache, bedeutet. Die thematische Bandbreite vom Wunsch des lyrischen Ich nach Fremddiktion über die prophetische Figur als Sinnbild medialen Gedichtet-Werdens reicht schlussendlich bis zur Sprachkritik. Die Differenz von Erkenntnis respektive Wahrheit und Sprache aufgreifend beschreibt Werfel im 1938 erschienenen Sonett »Wahrheit und Wort« die agonale Interaktion zwischen Sprache und inspiriertem Geist. Den Dualismus von Himmel- und Erdensphäre topologisch aufnehmend, werden der altbekannte Dualismus und seine Aporien wiederholt, wonach der Geist zwar in der Verlautbarung auf das Wort angewiesen ist – wie sollte sonst Verkündigung möglich sein? –, das Wort wiederum um die Fassung des Geistes dergestalt ringt, dass nur eine approximative Annäherung möglich zu sein scheint: Wahrheit und Wort Die Wahrheit ist ein Strahl aus Überwelten, Der plötzlich einbricht in die Selbstversenkung. Wir schaudern vor der himmlischen Beschenkung, Wenn sie uns trifft , unangesagt und selten. Im Geiste ringt, dem unbewußt erhellten, Der reine Strahl nach wörtlicher Erdenkung. Doch leiden muß er Beugung, Brechung, Schwenkung, Wie jedes Licht, entsandt von Sternenzelten. Die Sprache gleicht der Erden-Atmosphäre, Kein Wesen lebte hier, wenn sie nicht wäre; So kann der Geist auch nie dem Wort entrinnen. Ihn trifft der Strahl. Der Sternhimmel schickt ihn. Der Dunst der Sprache aber bricht und knickt ihn Und was er kündet, läßt sich kaum gewinnen.61

Sprache ist eine anthropologische Konstante, der sich auch der mystisch versenkte Inspirierte, der mittels Charis und der »himmlischen Beschenkung« (Vers 3) Geisterhellte, nicht ganz zu entziehen vermag, wenn er nicht absolut schweigt, sondern um Kundgebung bemüht ist. Für den der Erde zugewandten Geist gibt es keine andere

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Werfel, Wahrheit und Wort, S. 475.

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Möglichkeit, als im Wort beheimatet zu sein. Die einfache Metaphorik von Licht und Dunst benennt die Vermischung von Himmel und Erde, Erkenntnis und Sprache, Reinheit und Brechung des Worts augenfällig.62 Die Metaphorik des reinen Strahls für das Moment der Inspiration ist wahrscheinlich Hölderlins ›Feiertags-Hymne‹ entlehnt, wo es der poeta vates vermag, diesen zu fassen.63 Die mediale Seite des Dichters betonend sinniert auch der Dichter in Werfels kleinem Drama Die Versuchung von 1912, also deutlich früher als die eben genannten Gedichte, über seine Stellung, indem er eine doppelte Zwiesprache, zunächst mit Luzifer und dann mit dem Erzengel, hält: »Gott, Gott, bin ich das Medium, das dich ahnungslos in dir Beruhende mit der Welt verbindet, bin ich jener leitende bewußte Stoff zwischen dir und der Unendlichkeit!«64 Auch hier mag der Dichter als Medium im Sinne eines leitenden Stoffes – wie im »Gebet in der Dämmerung« als körperhaftes Schreibwerkzeug –65 dienen, d.h. in einer Reduktion auf seine materielle Ausstattung, die seinem Geist diametral gegenübersteht. Im Anschluss an den an einen zwischen Faust und Mephisto erinnernden Dialog zwischen Dichter und Satan, in welchem die typischen Umgarnungs- und Versuchungsangebote (wie Macht, leidloses Leben, Genius u.a.) des Satans vom Dichter zurückgewiesen werden, bestätigt der Erzengel des Dichters Sendung: »Und in dieser Welt der Gesandte, der Mittler, der Verschmähte zu sein, ist dein Schicksal. Kein Gesetz, keine Moral gilt für dich, denn du bist der unsrigen, der unendlichen Geister einer.«66 Bei Werfel ist es häufig ein Engel – wie bei George –, der den prophetischen Dichter charismatisiert. Dass der prophetische Dichter über den Werten steht, erinnert an Zarathustras Prophetie von der Umwertung der Werte. Die letzten Worte des Dichters, die das Drama beschließen und den prophetischen Gestus inaugurieren, lauten überdies: »Denn siehe, ich bin die Verkündigung!«67 Die besondere Qualität des prophetischen Dichters ist darin zu sehen, dass er die Verkündigung nicht nur bringt, sondern unmittelbar ist, indem er sie inkorporiert. Anklänge an eine Poetik der Unmittelbarkeit sind typisch

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Als Gegenpol zur begnadeten Dichtungsweise zeigt sich bei Werfel im (1938 veröffentlichten) Gedicht »Die dichterische Mühe« aber auch die Vorstellung vom Wort als konservierendes Gefäß der Welt, die entgegen einer Einsicht in die Defizienz der Sprache den Dichter als Arbeiter (homo faber) antreibt, so die letzte Strophe: »[…] Geschaffen ist die Welt, daß sie vergeh! / Doch ich, wenn ich ihr Bild in Sprache treibe, / Ich schaffe sie, verstört von ihrem Weh,  / Damit im Wort sie bleibe, bleibe, bleibe…« (Werfel, Die dichterische Mühe. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 481). Vgl. Hölderlin: »Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, / Ihr Dichter! Mit entblößtem Haupte zu stehen, / Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand / Zu fassen und dem Volk ins Lied / Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen« (Hölderlin, Wie wenn am Feiertage…, S. 119f.). Werfel, Die Versuchung. In: Schrei und Bekenntnis. Expressionistisches Theater, hg. und eingeleitet von Karl Otten, Darmstadt u.a. 1959, S. 622–636, S. 624. Vgl. wieder Werfel, Gebet in der Dämmerung. Werfel, Die Versuchung, S. 634. Werfel, Die Versuchung, S. 635.

für eine Poetik des Prophetischen, folgt diese doch der Prämisse, dass die prophetische Materie den göttlichen Geist unmittelbar und zugleich medial verkünden muss, wie es auch bei Rilke und Trakl zu beobachten war. Werfels poetologische Überlegungen – und das dürfte anhand der vorgestellten Beispiele deutlich geworden sein – verbinden den Rückzug des lyrischen Ich aus dem Gedicht mit einer Sehnsucht nach der befreienden Fremddiktion und Macht der Sprache unter Rückgriff auf den dem Alten Testament entlehnten Inspirationstopos und die Heimsuchung des Propheten, um nicht zuletzt die Differenz zwischen Wahrheit und Wort herauszustellen und schreibend doch Überwindungen zu postulieren, indem die Sprachmacht des lyrischen Ich die Sprachnot in der aktiven Artikulation bereits wieder – teilweise ironisch – zu konterkarieren scheint. Der Verbleib bei traditionellen Formen der Lyrik erklärt sich aus der Konzeption einer ›schönen‹ Poetik als Ordnungsgarant, wie in »Gebet in der Dämmerung« angedeutet.68 VII.2.2. Sprachnot – Sprachrebellion – Sprachwitz Im Gegensatz zum hohen Ton der Lyrik von Seiten anderer Propheten-Dichter wie Stefan George kombiniert Werfel Prophetie und Sprachwitz in Form einer komischen Lyrik69 und macht dadurch das Pathos der Propheten auf ironischem Wege konsumierbar. Er verfasst vielerlei ironische Repliken auf die Inspirationsabhängigkeit des prophetischen Mediums und auf die gebrechliche Einrichtung der menschlichen Sprache, so beispielsweise im Gedicht »Sprachnot«, das aus dem Nachlass und aus dem Kreis der Neuen Gedichte von 1928 stammt: Sprachnot Alles was ich mühsam sage Hält der Wahrheit nicht die Waage, Denn das Wissen, das ich trage Bleibt unsagbar, wenn ich’s sage Wie ich auch die Sprache schlage Sie zu schweißen nicht verzage Wendet sich zum Hohn die Plage. Jede Antwort wird zur Frage, Jeder Laut zur Niederlage. Manchmal nur mit einem Schlage Tritt der Gott im Wort zu Tage Doch er achtet nicht der Klage Harrt erst, daß es ihm behage Läßt es blitzen jäh und vage. Will ich’s halten ist es Blague.

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Vgl. wieder Werfel, Gebet in der Dämmerung. Vgl. zur Reim-Sucht, die auch Werfel in seiner komischen Lyrik einsetzt: Kemper, Komische Lyrik – Lyrische Komik, S. 25ff.

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Brandgeruch wird zum Ertrage… Gott im Wort ist nicht erjagbar. Was unsagbar, bleibt unsagbar.70

Hier läuft das Reimschema wie am Schnürchen:71 Die scheinbar aporetische Klage um die Sprachnot angesichts der Unaussprechlichkeit der Wahrheit ist durch die mechanische Litanei und den durchgängigen Paarreim komisch verzerrt, so dass das Gedicht selbst als blague – also als Witz – anmutet; das Wortspiel von »Plage« und (französisch) »Blague« scheint die Not als Witz – wenn auch etwas plump – zu konterkarieren oder zumindest auszubalancieren. Das Schlagen und Schweißen der Sprache wird dadurch bis zum Schmerzpunkt, in extremo betrieben, so dass die drohende Sprach-Niederlage eine bittere Heiterkeit freisetzt. Angesichts dieser heiteren Not verblassen die eingestreuten mystischen Überlegungen hinsichtlich der Sprachnot, wonach sich Gott punktuell, unerwartet, plötzlich und zumindest zeitweise zu Wort melden könne, wenn auch nur »vage« (Vers 14), d.h., ohne als Wahrheitsgarant für die menschliche Sprache konservierbar zu sein. Das Gedicht sucht also in ironischer Form der Plage über die Defizienz der Sprache als Wahrheitsorgan mittels Witz Herr zu werden und sich eines performativen Widerspruchs zwischen Sprachnot und Sprachmacht durch Sprachwitz zu entledigen. Werfels Sprachwitz ist ein Beleg dafür, dass die »Spannung zwischen Sendungsbewusstsein und Sprachskepsis« bei ihm gerade nicht »ungelöst«72 bleibt, wie es Nishioka voreilig festhält. Eine kritische und ironische Replik auf die Selbstermächtigung des Inspirierten beinhaltet ferner das Sonett »Stunde der Inspiration« aus dem Gedichtband Einander von 1915: Stunde der Inspiration Der Himmel stumpf wie eine Zimmerdecke, Daran die Vögel ihre Flügel streichen, Das Nord-Gebirge kann mein Arm erreichen, Und wo ich atme, weicht die Welt vom Flecke. An alles rühre ich, wie ich mich strecke. Mein Auge löscht den Mond in Abend-Teichen, Von Stolz und Zorn und Freiheit ohne Gleichen Erstrahlt die Brust mir, daß ich auferwecke! In meinen Beinen zittert ein Galopp! Der letzte Horizont ist bald durchsprungen, Verratene Unendlichkeit ruft Stopp!

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Werfel, Sprachnot. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 600. Dass der Reim heilig sei, mahnt Werfel zwar selbst an anderer Stelle an, meint indes doch den gehobenen reinen Reim, denn es gilt: »Wo nur sich deckt die Endung, / Droht leeres Spiel […]« (Werfel, Der Reim. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 499). Nishioka, Dichtung als Prophetie, S. 119.

Aus mir ist solcher Macht ein Sturm gedrungen, Daß er mich umwirft und erwürgt am Boden, Und ringsum spaltet alte Wald-Wojwoden.73

Schon das Atmen, die Inspiration (vgl. Vers 4), und das Auge, Organ der Schau des Inspirierten (vgl. Vers 6), vermögen die Welt (kurzzeitig) aus den Angeln zu heben. Mit Siebenmeilenstiefeln den Horizont erstürmend türmt sich ironisch sodann das ›Stoppschild‹ der Unendlichkeit vor dem inspirierten lyrischen Ich auf, das von den Emotionen (und biblischen Todsünden) Stolz und Zorn und einem unbändigen Freiheitsgefühl geleitet ist (vgl. Vers 7). Die vorgeführte Selbstdemontage des ungelenken Zauberlehrlings ergibt sich aus der Verselbständigung seiner Kräfte, da der selbst geschaffene Sturm letztlich zur Gegenkraft des ihn Schaffenden mutiert. Das Geschöpf bemächtigt sich seines Schöpfers bis zu seiner eigenen Vernichtung. Den Verrat an der Unendlichkeit büßt das sich autonom gebärende, alle Grenzen missachtende lyrische Ich zuletzt, wie es das letzte Terzett dieses Sonetts beschreibt. Im Gegensatz zu diesem sich geradezu selbstherrlich entgrenzenden Genie entgeht der sich unterwerfende Prophet Elia hingegen dem zerstörerischen Gewitter und Sturm im Gedicht »Die Himmelfahrt des Propheten Elia« aus den Neuen Gedichten von 1928, indem er sich beherzt auf den Himmelswagen zur Auffahrt schwingt.74 Die oppositionellen Figuren von Genie und Prophet projiziert Werfel weiterhin auf Mose. Dessen hadernde, befehlende und exklamatorisch exaltierte Zwiesprache mit Gott in »Das Gebet Mosis« aus dem Gedichtband Der Gerichtstag von 1919 basiert auf einer einerseits anmaßenden Selbsterhöhung wie in »Stunde der Inspiration« und andererseits auf einer an »Gebet in der Dämmerung« und »Gebet um Sprache« erinnernden ambivalenten Konstruktion, nämlich darauf, gerade im gläubigen Gebet Gott instrumentalisieren und imperativisch bezwingen zu wollen, d.h., im Schreibakt einen den Propheten charismatisierenden Akt Gottes zu stimulieren. Werfels Mose ist ein Rebell, der an die häretisch-emanzipatorischen Züge der Stürmer und Dränger und deren Urvater Prometheus erinnert. Das Gedicht ist geradezu eine Anti-Hymne: Das Gebet Mosis Nicht vierzig Tage, vierzig Nächte, Nicht vierzig Jahre und aber vierzig! Nein vierzig Leben, vierzigmal vierzig Leben! Dies noch zu wenig. Ich will mich rühren nicht! O Söhne, Knechte, stützt mir die Arme auf, Die Arme mir empor, hört ihr, Knechte, Söhne! Die Arme stemmt mir empor, stürmt mich hinauf! Hörst du, ich bin kein Bittender, ich bin der Alte Furchtbare, dein alter Kampfhahn bin ich, Dein Türeinschläger, dein Gläubiger-Ungetüm!

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Werfel, Stunde der Inspiration. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 165f. Werfel, Die Himmelfahrt des Propheten Elia. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 460f.

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Ich lasse nicht ab, ich rüttle an dir, ich renne dich ein! Ich bin der alte Festungsstürmer, du zitterst, du kennst mich! Verrammle dich, versammle nur um dein Haupt die Diener der oberen Feste und der unteren Feste, Die Engel der Lehre, die Engel der Vollstreckung, sie taugen dir nicht! Ich lasse nicht ab, ich zerschmeiße deine Wälle, ich saufe deine Gräben aus, ich schleife dich. Ich fahre in deine Ordnung, ich werfe mich kopfüber in dein Walten, du widerstehst mir nicht. Ich beiße mich in deine Brust, ich flechte mich in dein Feuer, ich hämmere mit Fäusten an deinen Mund! Ihr Söhne, Knechte, werft mich empor! Fühlt ihr den brüderlichen Orkan! Auf, auf! Du wirst mich nicht los, wie du dich auch windest. Ich halte dich, du mein Feind, du mein Vater, an deinem Saum, unwiderstehlich! Ich befehde die Rotte um deinetwillen, du mein Feind! Ich befehde dich um der Rotte willen, du mein Vater! Ich habe keinen, nicht dich und nicht die Rotte! Ich kämpfe nach oben und nach unten, Ich tobe auf einem Berg zwischen dir und ihnen. Ich bin nicht wohlgeneigt. Lache nie. Ich bin Trompetenschrei, Unversöhnlichkeit, Feind allen Ausgleichs! Ich führe keinen Frieden herbei, denn mein Schwert schlägt Himmel und Erde! Ich lasse dich nicht, du wendetest denn an allen Enden! Ich bin die Wahrheit, die nicht vertrieben wird, die Gerechtigkeit, die man nicht zur Seite nimmt. Ich will mich an deine Majestät hängen mit meinem Außentum! Auf, auf, ihr Knechte, Söhne, stützt meine kriegerischen Fäuste gut! Du entgehst mir nicht in deiner Unendlichkeit! Du mußt mir Rede stehen mit zitternden Lippen! Ich fordere dich vor dein Gericht, Richter! Da ist keine Flucht mehr, kein Ausweg. Du erscheinst – ich kniee [sic!] deine Welt ins Nichts – Ich schlage Dich mit deinem Namen, Du erscheinst, du rechtfertigst dich, du wendest es denn!75

Moses Mutation vom Gottesdiener, vom Wegeleiter des israelitischen Volkes in das gelobte Land zum revolutionären Ankläger mit »kriegerischen Fäuste[n]«76 ist von einer im Geiste dialoghaft ausgeführten soliloqui-Gebet-Situation im Anklage-Ton unterlegt, in der das unzählig oft vorangestellte »Ich« in Form von Imperativen und Ausrufen seinen Tribut von Gott fordert und gleichzeitig seine häretische Selbstermächtigung vorführt. Wie in einer Litanei werden die imperativisch markierten Forderungen zur Rechtfertigung Gottes wiederholend eingehämmert. Der Auftakt der Rechnung um die Zahl Vierzig leitet eine Abrechnung ein: Vierzig Tage und Nächte verbringt Mose vor dem Berg Sinai, vierzig Jahre begleitet Mose das Volk während der Wüstenwanderung ins verheißene Land, mindestens »vierzigmal vierzig

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Werfel, Das Gebet Mosis. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 219f. Werfel, Das Gebet Mosis. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 220.

Leben«77 stünden ihm daher als Lohn zu, so die komische Züge tragende Eingangsspekulation. Das Gedicht besteht aus vierundvierzig Versen. Mose wurde immerhin gemäß der biblischen Urkunde stolze hundertzwanzig Jahre alt (vgl. 5. Mose 34, 7). Der Himmelstürmer Werfels ist ähnlich beharrlich widerstrebend und zornig wirkend, wie man Mose allenfalls im Hadern mit seinem widerspenstigen Volk aus den biblischen Berichten kennt. Explosive Züge erhält er v.a. dadurch, dass er in einer Zwischenzone angesiedelt ist, die seinem prophetischen Mittlertum zwischen Menschen bzw. »Rotte« und Gott, seinem »Feind« und »Vater«, Erde und Himmel, Unten und Oben entspricht.78 Die deiktische Selbstsituierung des Sprechers entspricht also seiner Sonderfunktion als Prophet. Es handelt sich bei dieser Propheten-Revolution nicht ausschließlich um eine Hiob-Szene, die Thematik der Theodizee präludierend, den hadernden Gläubigen ins Bild setzend, sondern indirekt auch um die Paradoxien eines Vater-Sohn-Konflikts, d.h. eines Konflikts, der die Grundwurzeln naturwüchsiger Intentionalität, der Beziehung zwischen Ich und Du tangiert. Der Wunsch nach einer kommunikativen Zuwendung Gottes impliziert den Glauben an dessen Wandlungspotential. Während die Knechte, das ihm anvertraute Volk Gottes den Propheten emporheben sollen, damit Gott sich zu ihm herabbeuge, definiert er sich gleichzeitig über gottverliehene Prädikate wie Wahrheit79 und Gerechtigkeit in seiner Funktion als »Trompetenschrei«80, die er nun anti-hymnisch gegen den Urheber einsetzt, ihn in dessen eigenem Namen torpediert. Den Richter vor dem eigenen Gericht anzuklagen evoziert eine paradoxe Gerichtsszene, zumal eine Umkehr des angeklagten Richters angemahnt wird. Aus Sicht der ›familiären‹ Intentionalität ist indes der aufbegehrende Sohn per se dem Vater verbunden, seine Feindschaft immer schon auf den Grund des Du, der Vaterschaft bezogen. Darin ähnelt er und unterscheidet sich zugleich von Goethes Prometheus, der sich völlig auf die ›Erdenseite‹ schlägt und auf sein mächtiges Herz als Zentrum seiner Gefühls-Autonomie vertraut und dessen Anklage bezeichnenderweise mit den Worten schließt: »Und dein nicht zu achten, / Wie ich.«81 Selbst wenn Prometheus sich sein eigenes Ich erschreibt, dann doch in Bezug auf das Du, das es als Bedingung sine qua non zu setzen gilt und welches bei Werfels Mose noch deutlicher zur Verantwortung gezogen wird.82 Beide Anti-Hym-

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Werfel, Das Gebet Mosis. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 219. Werfel, Das Gebet Mosis. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 220. Vgl. Jesu Worte: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!« ( Joh 14, 6). Werfel, Das Gebet Mosis. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 220. Johann Wolfgang von Goethe, Prometheus. In: Gedichte, S. 62. Vgl. zur Debatte um den Konflikt zwischen kommunikativem Gestus (Gott als Adressat der Rede) und propositionalem Gehalt (Leugnung der Existenz Gottes) der Goethe’schen Prometheus-Hymne die Positionen Ulrich Gaiers, der das Gedicht als »Selbstvernichtung der Sprecherfigur« (U. Gaier, Vom Mythos zum Simulacrum. Goethes »Prometheus«-Ode. In: Lenz-Jahrbuch, 1, 1991, S. 147–167) liest, und David E. Wellbery, der die parodistischen Züge der apostrophischen Form betont (vgl. D. E. Wellbery, The Specular Moment. Goethe’s Early Lyric and the Beginnings of Romanticism, Stanford 1996, S. 287–345), sowie Inka Mülder-Bach, die darauf hinweist, dass Apostrophe doch nichts anderes als Abwendung heiße

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nen weisen ferner die Gemeinsamkeit auf, im Medium der Schrift lichkeit eine mündliche Rede zu simulieren, etwa mittels imperativischer Apostrophen und rhetorischer Fragen. Das Oxymoron »Gläubiger-Ungetüm«83 – Ungetüm im Namen Gottes, für, aber auch gegen diesen – veranschaulicht die paradoxale Struktur des im Glauben Aufbegehrenden, der zwischen Gott und Volk schwebt. Der ernsthaften Wut des sich verraten fühlenden Meuterers, der sich in seiner Zwischenstellung einmal nach unten, einmal nach oben wirft, eignen des Weiteren schon komische Züge, derart dass die Hymne schon parodistische Momente aufweist. Sprachnot, Inspiration und Propheten-Porträt sind bei Werfel also auch – in zugespitzter Radikalität vorgeführt – Felder für Sprachwitz und komische Lyrik84. VII.2.3. Exkurs: Moses Körper als Zwischen-Ort (Rudolf Kaysers Moses Tod) In Werfels kleiner Erzählung »Der Tod des Mose« setzt sich Mose im Ringen um sein Fortleben, genauer das seiner Seele, über die mit ihm konkurrierenden (Todes-)Boten Gottes, die Engel, und erzwingt ein persönliches Begräbnis durch Gottes Hand. Wie in »Das Gebet Mosis« wird er als Figuration des rebellischen Propheten in Szene gesetzt. Im Dialog zwischen Seele und Gott überlistet allerdings zuletzt Gott seinen Knecht elegant, wenn er ihm seine Seele vom Mund küsst.85 Die in »Das Gebet Mosis«86 ausgestaltete Zwischenzone des prophetischen Mittlers als ›Ort‹ Moses ist ein gängiger Topos der Mose-Figurationen zur Zeit Werfels. Mose figuriert nicht nur als eine »Balance des Augenblicks«87 oder eine typologische Umkehr zwischen Herrn

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(vgl. I. Mülder-Bach, Prometheus. In: Goethe-Handbuch, Bd. 1: Gedichte, hg. von Regine Ott u. Bernd Witte, Stuttgart; Weimar 1996, S. 107–115, S. 114). Werfel, Das Gebet Mosis. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 220. Vgl. zur Gattung komische Lyrik: Kemper, Komische Lyrik – Lyrische Komik. Werfel, Der Tod des Mose, S. 54. Werfel knüpft hier an die haggadische Tradition vom Tod Moses an, wonach sich die Erzengel weigern, Moses Seele auf Geheiß Gottes heimzuholen, und sich nur der gefallene Engel Sammael dazu bereit erklärt, dieser aber an der Übermacht Moses scheitert, so dass Gott zuletzt selbst Mose mit dem himmlischen Kuss heimholt (vgl. E. Otto, Mose, S. 100). In seinem vor dem Ersten Weltkrieg verfassten Gedicht »Der Tod Moses« beerbt Rilke vergleichbar den haggadischen Subtext (vgl. E. Otto, Mose, S. 116f., Rilke, Der Tod Moses. In: Rilke, Werke, Bd. 2, S. 134f.). Werfel, Das Gebet Mosis, S. 219–221. Eine »Balance des Augenblicks« (A. Bodenheimer, Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne, Göttingen 2002, S. 111) weist Alfred Bodenheimer in seiner Interpretation von Lasker-Schülers Gedicht »Moses und Josua« nach, das 1913 in ihren Hebräischen Balladen veröffentlicht wurde. Zunächst wird von der Berufung Josuas als Nachfolger Mosis und dessen Akzeptanz durch das Volk berichtet, dann wird in den Schlussversen die Kreuzung zweier Blicke verdichtet: »Sein [ Josuas] Lächeln grüßte den ersehnten Heimatstern, // Den Mosis altes Sterbeauge aufgehn sah, / Als seine müde Löwenseele schrie zum Herrn« (Lasker-Schüler, Moses und Josua. In: Lasker-Schüler, Werke und Briefe, Bd. I.1, S. 167). Die Kombination von Mosaischem und Ahasverischem, »de[n] ethische[n] Anspruch mit dem bewußten Verzicht auf die Behaglichkeit der Scholle« weist Bodenheimer anhand Hedwig Casparis Gedicht »Propheten« nach (Bodenheimer, Wan-

und Knecht, sondern inkarniert auch eine topographische Zwischenstellung, die einen exklusiven Zwischenraum für seine ethische Sendung der Reinigung eröffnet. Während Moses Mittlertum bei Werfel zwischen oben und unten, zwischen Gott und Menschen angesiedelt ist, dient er einem Autor wie Rudolf Kayser (1889–1964) als transitus-Figuration. Als literarische Verarbeitung und stellvertretende Lobeshymne auf die Diaspora-Situation der Juden lässt sich seine Legende Moses Tod von 1921 lesen. Moses Tod ist in die entscheidende transitus-Passage zwischen Exodus, Diaspora und Zionismus eingebettet.88 Der topographischen Gegenüberstellung von Wüste und verheißenem Land89 entsprechen unterschiedliche (ethische) Lebensweisen und Gottesbezüge des Gottes-Volkes.90 Die in der Wüste erlernte Demut wandelt sich im Land der Fülle in Hybris: Zank, Habgier, Neid, Misstrauen brechen im Lager bereits angesichts der imaginierten Fülle des neuen Lebens im verheißenen Land aus. Die Entdeckung des kanaanitischen Paradieses durch Jobab schürt deswegen nicht nur einen anfänglichen Freudenjubel, sondern entfacht gleichzeitig eine Reflexion über die »Schönheit der Weite, Reinigung und Einsamkeit«91 in der Wüste, über »den Körper der Geliebten«92, denn: Sie ahnten, daß das Wandern, das Fehlen jedes Genusses, das Hinziehen der Tage in unendlicher Gleichmäßigkeit sie veredelt hatte; so standen sie fremd jener gegenüber, die

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dernde Schatten, S. 119). Caspari (1882–1922) thematisiert des Weiteren das Auf-Gott-Angewiesen-Sein des prophetischen Künders einerseits und die ihn überwältigende Macht andererseits in ihrem Elohim-Gedichtband, in dem sie ferner die Charismatisierung des lyrischen Ich (»Der Schrei«), den rebellischen Grundtenor des Propheten (»Propheten«) und die prophetische Selbstermächtigung samt typologischer Umkehr von Knabe und Meister (»Jerubbaal«) verdichtet (vgl. H. Caspari, Elohim, Berlin 1919). Als Aufhänger für die Legende, die fokussiert den Lebensabend Moses gestaltet, dient ein vorangestelltes Zitat aus 5. Mose 34, 4–5, wonach der Herr seinem Knecht Mose das verheißene Land Kanaan noch an seinem Lebensabend vor Augen stellt und damit das Ende der Wüstenwanderung sowie der Diaspora anzeigt, da dieses von Mose selbst nicht mehr betreten werden darf: Dieser stirbt der biblischen Vorlage getreu noch im Lande der Moabiter, auf dem Berg Nebo, kurz vor dem Einzug des israelitischen Volkes nach Kanaan. Thematisch wird also der Übergang vom alten Zustand der vierzigjährigen Wüstenwanderung zum neuen Zustand des Sesshaftwerdens des israelitischen Volkes in Kanaan ins Zentrum der Kayser’schen biblischen Nachdichtung gerückt. Gegenübergestellt werden in dieser Legende das verheißene Land des Überflusses einerseits und die Wüste mit all den dort erlittenen Entbehrungen andererseits, die indes durch ihre »schmerzliche Schönheit« (Rudolf Kayser, Moses Tod. Legende, München 1921. In: Der jüngste Tag. Die Bücherei einer Epoche, neu hg. und mit einem dokumentarischen Anhang versehen von Heinz Schöffler, Frankfurt am Main 1970, S. 9–31 [1521–1549], S. 13 [1531]) besticht. Als ›Orte‹ der Gottesnähe werden die Wüste, das Leben in Wanderschaft und die daraus resultierende Brüderlichkeit der wandernden Juden gepriesen und im Angesicht des Neuen, in der ambivalenten Aussicht zwischen materieller Sicherheit und Sündenpfuhl geradezu verklärt. Kayser, Moses Tod, S. 13 [1531]. Kayser, Moses Tod, S. 15 [1533].

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Mizrajims Reichtümer gekannt hatten und in Kanaan sie wiederzufi nden hofft en. Sie hatten ihr Leben nur Gott geweiht. Heiligkeit brannte in ihrem Blut. Erkenntnis lenkte ihren Willen, der weit über irdische Güter sich sehnte. Glauben verband sie einander zu einer Gemeinschaft, die, gefühlt nur und nie genannt, kein anderes Ziel als dieses eine hatte: Gott.93

Dem Abfall von Gott Einhalt zu gebieten vermag nur Moses Auftritt, dessen Körper wiederum – den schönen Körper der Geliebten Wüste übersteigend – als einigendes Band zwischen Volk und Gott beschrieben wird: »Plötzlich erschien mitten in ihrem Kreis, steinern und groß, den breiten Körper wie eine Brücke zwischen Himmel und Erde gespannt, den Blick in jede Seele gewandt, Mose, ihr Führer.«94 Der Unbehaustheit des wandernden Volkes wird also Moses Körper als Zwischenraum an die Seite gestellt, der auf vertikaler Ebene Himmelreich und Erdenreich verbindet, mithin ein Zeichen materieller Inkorporierung einer geistigen Seelenlandschaft als Heimat vorstellt. Die Erfüllung seiner Zeit verkündend, denn Gott gräbt ihm bereits eigenhändig sein Grab in den Bergen, weist er nochmals auf die Auserwähltheit seines ihm anvertrauten Volkes hin und bestimmt Josua zu seinem Nachfolger. Als »schwer, gereckt, einsam, tausende Blicke tragend, Turm über der Wüste, Mensch über dem Volk«95 empfindet das israelitische Volk seinen Führer, dessen Tod es erschüttert. Der Mittler zwischen Gott und Mensch Mose ist des Weiteren noch einem dritten Ort zuzuordnen, dem Berg Nebo als Grenzpartie zwischen Wüste und verheißenem Land. Er stellt eine Figur des Verweigerns dar, da er weder Anhänger der Idee einer ewigen Wanderschaft ist, wenn er sich vom unbelehrbaren Wüsten-Volk distanziert, noch Vertreter des neuen Lebens in Kanaan, wenn er letztlich, resigniert anmutend, bereitwillig in die Felsenspalte eintritt. Die anhaltende Fremdheit und religiöse Unreinheit seines Volkes Jahwe gegenüber beklagend willigt Mose in seinen Tod ein; Jobab preist angesichts des resignierten Moses verzweifelt das Leben in der Wüste, denn dort wurden die Israeliten ein Volk, erfuhren Wunder, vernahmen am Sinai das Gesetz, das sie über alle Tiere und Menschen adelte, und Jobab schlussfolgert dementsprechend: »Ich glaube, wir verlassen das Paradies, da wir es betreten.«96 So zeigt sich, wie der jüdischuniversalistisch, antizionistisch gestimmte Kayser die »Mission der Juden« schon in seinem Aufsatz von 1918/1919 »Der neue Bund« dahingehend präzisiert, »selbst staatenlos die Erde zur Menschenheimat zu machen, durch Ethos die Menschenbrüder zu erlösen«97, denn es sei »keine staatsfernere Gemeinschaft denkbar als die religiösethische der Juden«98: »Es gilt, die Welt des Nutzens und Hasses zu ethisieren zum

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Kayser, Moses Tod, S. 15 [1533]. Kayser, Moses Tod, S. 18 [1536]. Kayser, Moses Tod, S. 21 [1539]. Kayser, Moses Tod, S. 28 [1546]. Kayser, Der neue Bund. In: Der Jude, 3, 1918/1919, Nr. 11, S. 523–529, S. 526. Vgl. dazu auch Horch, Expressionismus und Judentum, S. 129f. Kayser, Der neue Bund, S. 524.

Reich messianischer Liebe.«99 Dieses utopische Reich verkörpert wiederum Mose.100 Der von Kayser anvisierte Aktionismus im Sinne eines tätigen Lebens, der darin münden soll, »die Welt [zu] zwingen, den Messias zu gebären«101, zwar nicht im Alleingang, doch aufgrund des defizitären Christentums, das in regloser Institutionalisierung und Ummünzung der Passion Christi zur »oratorischen Legende« und zu einer »bürgerlich-verbitterten Moral«102 erstarrt ist, in einer anführenden Position, findet indes nicht gänzlich Eingang in seine Legende, die eigentümlich in der starren Wüstenlandschaft fern jedweder europäischen Öffnung verhaftet ist. Auch ist die Form der Erzählung, die Legende, ebenso bezeichnend für den dort verweigerten Übergang vom Wort zur Tat. Abgesehen von Kaysers rein westeuropäischer ›Lösung‹ wird auch die Koinzidenz von Universalismus und Individualismus problematisiert. Weder Mose noch der neue Führer Jobab – der designierte Josua kommt schon gar nicht zum Zuge – vermögen es, die Veredelung des wandernden Volks zu vollenden, geschweige denn weltpolitisch gemäß einer europäischen Politik zu agieren. Steht der neue Bund zwischen Gott und Volk noch in den Sternen, zeichnet sich am Himmel auch nicht die daran anschließende geistige Gemeinschaft zwischen Judentum und europäischer Realität ab. So kann man sich tatsächlich fragen, ob Kaysers praktischer Idealismus einem praktischen Realismus gewichen ist. Zwar verspürt Jobab eine »Heimkehrfreude«, als er vom Berg Nebo zum Volk zurückkehrt, doch endet die Legende – bibelkonform – mit der Inbesitznahme des kanaanitischen Landes.103 Die Originalität der Kayser’schen Legende ist indes in der Fokussierung von Moses Körper als Ersatzheimat geistiger Natur zu sehen, obgleich sie sich durch seinen Tod geradezu auflöst. VII.2.4. Chaos und Form – Entseelung und Verkörperung – Entdichtung und Verdichtung Die von Werfel vielfach durchgespielte prophetische Vorstellung, Diener des Wortes oder Medium höherer Mächte zu sein, ist ein typischer Propheten-Topos, der sich ebenfalls – wie oben aufgezeigt – bei Rilke, z.B. in der Wunschphantasie Maltes, eines Tages geschrieben zu werden104, findet oder bei George, wo der Dichter den »griffel der sich sträubt«105, zu führen hat. Aber auch Alfred Döblin reflektiert wie Trakl Modi eines passiven Geschrieben-Werdens.106 Über die schematischen Epochenbezeich99 100 101 102 103 104 105

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Kayser, Der neue Bund, S. 525. Scharfe Kritik erfährt er dafür vom Zionismus-Verteidiger Arnold Zweig (vgl. A. Zweig, Entgegnung. In: Der Jude, 3, 1918/1919, Nr. 11, S. 529–535). Kayser, Der neue Bund, S. 527. Kayser, Der neue Bund, S. 526. Kayser, Moses Tod, S. 31 [1549]. Vgl. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 52. Vgl. George: »Der dichter auch der töne lockung lauscht. / Doch heut darf ihre weise nicht ihn rühren / Weil er mit seinen geistern rede tauscht: / Er hat den griffel der sich sträubt zu führen« (George, Im Park. In: George, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 14). Döblin umschreibt das Phänomen ähnlich: »Man glaubt zu sprechen und man wird ge-

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nungen Symbolismus und Expressionismus hinweg sind die Topoi heiliger Autorschaft und das Bild vom Dichter als Propheten respektive poeta vates nahezu identisch ausgestaltet. Indes nähern sich weder bei Rilke noch bei Werfel die herbeigesehnten Auflösungsprozesse des autonomen Schreibers einer sprengenden, sich zersetzenden Strophik eines explosiven, heiligen Diktats an. Einzig der Rhythmus der Gedichte wird flexibler und lässt das Leichter-Werden des sich auflösenden lyrischen Ich erahnen.107 Werfels Visionen vom prophetischen Künstler scheinen – gemessen an der Innovationslust anderer Expressionisten – bisweilen die eigenen sprachlichen Mittel zu

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sprochen oder man glaubt zu schreiben und man wird geschrieben« (Döblin, Der Bau des epischen Werks. In: Döblin, Ausgewählte Werke in Einzelbänden. In Verbindung mit den Söhnen des Dichters hg. von Walter Muschg, Bd. 5: Aufsätze zur Literatur, Olten; Freiburg im Breisgau 1963, S. 103–132, S. 131). Während Pytlik bei Döblin v.a. das Eigenleben der Dinge als okkultes Spiel um die Entmachtung des Autors, genauer den Protest des Stückes gegen seinen Autor, in Lydia und Mäxchen und in Die Segelfahrt in den Vordergrund stellt (vgl. Pytlik, Okkultismus und Moderne, S.  141–165), scheint zudem Döblins frühe Erzählung »Jagende Rosse« geeignet zu sein, um die mediale Seite des Dichters herauszustellen: In »Jagende Rosse« mit dem Untertitel »Den Manen Hölderlins in Liebe und Verehrung gewidmet« (vgl. Döblin, Jagende Rosse. In: Döblin, Jagende Rosse, Der schwarze Vorhang und andere frühe Erzählwerke, Olten 1981, S. 26–83), wodurch der poeta vates-Prototyp anzitiert ist, wird, dem Hölderlin’schen Motto vom Menschen unter den Gewittern Gottes stehend vergleichbar, in Form des inneren Monologs das Seelenleben eines von fremden Stimmen heimgesuchten Menschen präsentiert. Programmatisch heißt es dort: »Mir ist, als wäre meine Erdenkindschaft nur ein Traum, ein toller Spuk« (Döblin, Jagende Rosse, S. 47). Wie sehr Döblin sein Selbstverständnis als Medium in seinen autobiographischen Zeugnissen festschreibt, hebt Kiesel hervor (vgl. Kiesel, Literarische Trauerarbeit. Das Exil- und Spätwerk Alfred Döblins, Tübingen 1986, S. 51–54). Dass sich hinter der Signatur der Dienerschaft für eine fremde Macht kein Genie-Begriff einschleicht, betont Thomas Isermann: »Döblin schreibt […] im Dienst einer für ihn transzendenten, ›autonomen Macht‹. Er ist Diener einer sich selbst organisierenden Texterstellung« (vgl. Th. Isermann, Der Text und das Unsagbare. Studien zur Religionssuche und Werkpoetik bei Alfred Döblin, Idstein 1989, S. 56). Dass sich auch Döblin nicht nur mit okkulten Phänomenen beschäftigt, die sein Interesse an Fremddiktionen mit angestoßen haben mögen, erhellt bei ihm – wie bei Rilke auch – neben seiner Begeisterung für Geister, Dämonen und Gespenster und lebendige Dinge ebenfalls die Belebung des originären Propheten und prophetischer Stimmen, die bekanntlich v.a. in seinem Großstadt-Roman Berlin Alexanderplatz in Form von eingestreuten Zitaten in Erscheinung treten (vgl. dazu die Anmerkungen im Kapitel VI.2.). Anders gesagt ist auch Döblin die Figur des Propheten als Folie für dichtungstheoretische Konzeptionen durchaus vertraut. Pytlik weist zu Recht darauf hin, dass Döblin aber auch das Moment der »Selbstkontrolle« (Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 165; vgl. Döblin, Erster Rückblick. In: Döblin, Im Buch – Zu Haus – Auf der Straße. Vorgestellt von Alfred Döblin u. Oskar Loerke, Marbach am Neckar 1998, S. 5–126, S. 56) für den gelungenen Schreibakt fordere. Bei George finden sich selten aneinandergereihte Wortketten, die eine substantielle Auflösung des lyrischen Ich evozieren, so in seinem berühmtem Gedicht »Entrückung«: »Ich löse mich in tönen · kreisend · webend ·« (George, Entrückung, In: George, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 122). Während bei George allerdings die »in Form verwandelte Welt« dominiert, profiliert Kayser Werfel als »Gefäß« der »Universalität des Seins« (Kayser, Franz Werfel. In: Neue jüdische Monatshefte, 2, 1917, Nr. 1, S. 17–20, S. 18).

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übersteigen oder gar in (erstarrte) Leerläufe ›alter‹ Formen wie des Sonetts zu münden. Anders gesagt werden Konsequenzen prophetisch-inspirierter Rede häufig nicht formal innovativ-experimentell ausgelotet, wie etwa im Lautgedicht eines Hugo Ball. Das ekstatische Moment wird auch bei Werfel vorwiegend in traditioneller Form gebändigt präsentiert, mit Rilkes Worten in Form von »Gegengewichten«108. Dieser Umstand muss Werfel allerdings nicht als Inkonsistenz ausgelegt werden. Vielmehr tragen seine Gedichte konsequent den Stempel der »schönen Schrift«109, wie es programmatisch in »Gebet in der Dämmerung« formuliert ist. Der Wunsch nach einer Fremddiktion und einer schönen Form schließen sich bei Werfel nicht aus. Der Entgrenzung des lyrischen Ich folgt vielmehr eine Begrenzung durch die Form, der eine Konzentration des Ich entspricht. Im Gedicht »Chaos und Form« aus der Sammlung Beschwörungen von 1923 droht das Chaos, eine Flussüberschwemmung, das lyrische Ich zu gefährden. Doch dieses, schon blind, reagiert auf den lebensbedrohlichen Ansturm mit einem göttlichen Lächeln, denn: »Aber ich lächle nur: / Ein saugender Stern brennt fern in meiner Natur. / Ich lasse ein feines, kalt göttliches Wissen spielen –.«110 Im Wissen darum, im göttlichen Licht zu sein, vollzieht das Ich den Umschlag in die bändigende Formung der Naturgewalt: »[…] Und wie die schnaufenden Mächte mein Leben umzielen, / Spring ich im letzten rettenden Nu empor: / Sanft steht das Wasser, das ich beschwor.«111 Über die Macht, das Wasser zu bändigen, verfügt Mose, der seine Hand über das Meer ausstreckt und es teilt, damit sein Volk beim Auszug aus Ägypten hindurchwandern kann (vgl. Ex 14, 16). Als Symbol für die begnadete Natur des lyrischen Ich fungiert ferner das Bild des Kristalls, in welchem sich Strahlen brechen und die Gnade der Erleuchtung aufscheint. Es stellt wie bei Trakl ein Bild für die Reinheit vor. Der ›kristallene‹ Mensch ist ein Gegentypus zum hybriden Zauberlehrling in »Stunde der Inspiration«112. Die Kristall-Materialität ist letztlich Ausdruck für die Kraft des lyrischen Ich, Dinge im Licht der Gnade modellieren zu können, so in der letzten Strophe in »Die Gnade« aus der Sammlung Der Gerichtstag (1919) ausgeführt: »[…] Andächtig weißt du: Ich kann nichts erzwingen, / Denn wir sind nur geschliffener Kristall, / Damit sich Gnade farbig in uns bricht.«113 Die Kursivstellung des Ich betont die substantielle Ausrichtung des lyrischen Ich auf eine Füllung und Untermauerung seiner Identität – wie bei Rimbauds »je« –114, die es eben erst als Material, als Kristall und damit als Gefäß für die Lichtstrahlung als Zeichen der Gnade erfahren kann. Ohne diese Füllung wäre es substantiell vakant. Form-Grenzen auflösend, das Einbrechen der Gnade nachahmend ist die Gestalt des

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Vgl. das Kapitel V.3.6. Werfel, Gebet in der Dämmerung. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 448. Werfel, Chaos und Form. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 370f., S. 371. Werfel, Chaos und Form, In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 371. Werfel, Stunde der Inspiration. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 165f. Werfel, Gnade. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 319. Vgl. Rimbaud, Brief an Georges Izambard vom 13.05.1871.

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Gedichts mit demselben Titel »Gnade«, welches im Nachlass von Der Gerichtstag (1919) zu finden ist: Gnade Eisgang des Herzens! Greifender Sturm in Zweigen. Einsturz des Himmels. Gold aus Rissen her. In mich geschleudert klirrt endloses Schweigen Fiebernd der mystische Speer. Nun bin ich höher. Mein Knie ist Knie von Harfen. Rasende Hand durch meine Saiten reißt In mir geht Uhrwerk rollendes mit scharfem Tobenden Stoß. O Metronom vom fremden Geist. Entschleierung und immer mehr entwoben! Verwogter Kopf. O Mund entwortet, nur zu kurz gebaut. Unendlich frei schweb ich auf und von oben In meine Hände taucht der Dinge Kinderlaut. O meine Schwester, nicht mehr geteilt, entrissen und geschieden, Von Rede zwischen uns und Urteil arm und schief! Nun wehst du wieder klein im meiner Botschaft warmen Frieden Mit einem frohen Lachen und das Auge tief.115

Die Prägnanz der Formulierungen, die verkürzten, protokollarisch anmutenden Aussagen im eingangs praktizierten Reihungs- und Simultanstil fungieren als Ausdruck des Einbruchs einer göttlichen Macht, der Gnade. Kühne Metaphern in Kombination mit dunkler o-Melodie (»entwoben«, »verwogter Kopf«, »Mund entwortet«) unterstreichen die Umgestaltung des lyrischen Ich zum »Knie von Harfen« (Vers 5) und »Metronom« (Vers 8). Die Funktionalisierung des Körpers als Musikinstrument, als Klangkörper, auf welchem gespielt wird, ersetzt bzw. überhöht das »Schweigen« des »mystische[n] Speer[s]« (Vers 3 und 4) einerseits – denn das Schweigen klingt paradoxerweise wie bei Trakl – sowie die rein menschliche Kommunikationsbasis andererseits, die nur arme Urteile hervorzubringen vermag, da sie für gewöhnlich auf einer Verstandesleistung oder einer Konvention beruht. Anvisiert ist mit der paradoxalen Programmatik des »entwortet[en]« »Mund[s]« (Vers 10) eine Öffnung hin zu einer reinen Kommunikation und Menschlichkeit – insbesondere unter Verweis auf die Verlautbarung des »Kinderlaut[s]« (Vers 12), Ausdruck der unverdorbenen Sprache des Kindes, wie sie Trakl im »Kaspar Hauser Lied«116 ähnlich entwickelt. Martin Buber hält in seiner Schrift »Ekstase und Bekenntnis« das grundlegende Dilemma des Paradoxons mystischen Sprechens fest: Sobald die Ekstatiker sprächen, würde die Einheit des Ich in der unaussprechlichen Ekstase zugunsten der »zeichenzeugenden

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Werfel, Gnade. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 527. Trakl, Kaspar Hauser Lied, S. 95.

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Vielheit des Ich«117 immer schon überschritten. Interessanterweise kennt auch Buber trotz des Diktums der Sprachlosigkeit der Mystiker eine Art klingendes Schweigen, wie es Werfel alludiert: »Es gibt freilich ein allerstillstes Sprechen, das nur Dasein mitteilen, nicht beschreiben will. Es ist hoch und still, als sei es gar nicht in der Sprache, sondern wie ein Heben der Lider im Schweigen. Es übt keine Untreue, denn es sagt nur aus, daß etwas ist.«118 Auch bei Trakl fungiert das Motiv der sich hebenden oder senkenden Lider als Hinweis auf ein ›stilles‹ Sprechen, z.B. in »Seele des Lebens«: »Indes die Lider sich vor Gottheit weiten.«119 Diese Art des paradox anmutenden stillen Sprechens, das die Veruntreuung der Sprache zu umgehen sucht, lebt von der Beschränkung auf die Existenzaussage (quod sit: dass etwas ist), die jede Form von Wesensaussage (quid sit: was etwas ist) ausschließt. In Werfels »Gnade« konzentriert sich die Darstellung des Einbruchs der Gnade auf die existentielle Umwandlung des lyrischen Ich zum »entwortet[en]« Mund (Vers 10), wodurch zwar sein Wesen als »Metronom« (Vers 8) umschrieben wird, indes keine wesensmäßigen Auskünfte über die neue Art der Schwesterlichkeit getroffen werden. Es stellt eine visionäre Utopie eines reanimierten goldenen Zeitalters dar. Weitere Aufschlüsse über die Harmonie bzw. zunächst auch gegensätzlich anmutende Spannung von strenger Form – Werfel bevorzugt wie Rilke mitunter das Sonett – und inspirativem Hauch bzw. »Entdichtung« erhält man im Gedicht »Die befreite Seele« aus Schlaf und Erwachen von 1935. Wir haben schon gesehen, dass der Prophet respektive das mediale lyrische Ich auch bei Werfel als materielles Instrumentarium konzipiert ist und von außen den Geist eingeflößt bekommen soll. In »Die befreite Seele« wird der Geist-Körper-Dualismus erneut verhandelt und zudem mit poetologischen Reflexionen verknüpft. In den ersten beiden Quartetten des Sonetts wird das Eingekerkertsein der Seele im absterbenden Körper, dem »verdickte[n] Ichgeruch« (Vers 4) beschrieben. Das Prinzip der Ich-Verdichtung wird also dem toten Körper zugeordnet; Ich-»Entdichtung«, Aufstieg, Hingabe, Hauch und Auflösung entsprechen hingegen dem dazu gegenläufigen Streben der Seele: Die befreite Seele Noch einmal! Auf! Ein wilder Fluchtversuch! Doch haften bleibt sie an der Sterbestelle. Weh! Unter ihr das Wachs, das Corporelle Bedrängt sie mit verdicktem Ichgeruch.

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Buber, Ekstase und Bekenntnis [Auszug]. In: Theorie des Expressionismus, hg. von Otto F. Best, Stuttgart 1976, S. 94–96, S. 95. Buber, Ekstase und Bekenntnis, S. 96. Trakl, Seele des Lebens, S.  36. Vgl. Trakls Verse in »Abendmuse«: »Von Lüften trunken sinken balde ein die Lider  / Und öffnen leise sich zu fremden Sternenzeichen« (Trakl, Abendmuse, S. 28).

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Des Körpers Nachgefühl drückt wie ein Fluch In ihr Befreitsein sich mit grober Delle, Bis dies auch stirbt und langsam Zell und Zelle In ihr sich ausfeint, Hauch wird, Schleiertuch. […]120

Die Auflösung des erstarrten Körpers – seine Zersetzung zum »Schleiertuch« (Vers 8) – ist Bedingung für den Ausbruch der Seele, deren Weiterleben nach dem Tode anvisiert ist. Komisch gebrochen widmet sich das erste Terzett sodann der Orientierungslosigkeit der Seele im verstorbenen Körper: Nun ist es leer um sie. Wohin? Empor! Doch was ist: oben, was bedeutet: Richtung, In diesen Zwischenräumen unbeirrt?121

Das abschließende Terzett gibt nach angedeuteter Odyssee der Seele im Labyrinth des Körpers Aufschluss über die Diskrepanz von Körper und Seele, materieller Verdichtung und »Entdichtung«: Da erst gibt sie sich hin. Wie Rauch und Flor Saugt sie ein Zug in Schichten der Entdichtung, Wo alles lockrer, leichter, heiter wird.122

»Entdichtung« ist ein im Anschluss an die Hingabe der Seele in Gang gesetzter Prozess; das Ergebnis ist eine heitre Leichtigkeit. Diesem thematischen Sujet der »Entdichtung« der Seele entspricht die formale Verdichtung: Anders gesagt fungiert das Sonett als Ersatzform für den leiblichen Körper. Dem Lockerungsprozess der sich dem Körper entwindenden Seele steht das Sonett nun einerseits formgebend gegenüber, andererseits bietet es auch einen Freiraum zur lockeren Rhythmik im letzten, schwebenden Vers. Die Entkörperung der Seele vollzieht sich also im ›Körper‹ des Gedichts. So gesehen lassen sich die komischen Repliken auf die Fluchtversuche der Seele einsehen, bleibt diese doch im Körper des Gedichts eingeschlossen. Dieser Spannung von Entdichtung und Verdichtung entspricht das Passiv-GeschriebenWerden-Wollen als Telos im Modus des Aktiv-Erschreibenden im oben interpretierten Gedicht »Gebet in der Dämmerung«123: So wie sich die Befreiung der Seele vom Körper im körperähnlichen Korsett der Sonettform vollzieht, wird die Sehnsucht nach dem Geschrieben-Werden – wie oben erläutert – im Gebet zunächst aktiv und formbewusst, eben schön erschrieben. Werfels Veröffentlichungen zur Thematik der Inspiration und Prophetie konzentrieren sich einmal um 1928 und einmal um 1935, wenngleich, wie querschnittartig vorgeführt, Vordichtungen vorliegen, so dass die ly-

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Werfel, Die befreite Seele. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 422f., S. 422. Werfel, Die befreite Seele, S. 423. Werfel, Die befreite Seele, S. 423. Werfel, Gebet in der Dämmerung, S. 448f.

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rischen Zeugnisse auch als Vorstufen zu Werfels Propheten-Roman Höret die Stimme angesehen werden können.

VII.3. Inspiration als Tor zur Weltchronik und zum Individuationsprozess (Höret die Stimme) Lyrischen Zeugnissen und den Verkündungsdramen des Expressionismus wird fortlaufend mehr Aufmerksamkeit geschenkt im Gegensatz zu den geringer produzierten prosaischen Arbeiten. Mit Blick auf Werfel beispielsweise können seine Romane von der Forschung als notorisch vernachlässigt gelten.124 Wegen ihrer mangelnden innovativen Form werden ihnen paradigmatische Vorreiter expressionistischer Roman-Theorien vorgezogen. Gut bekannt ist hingegen der Lyriker Werfel.125 Das mag unterschiedliche Gründe haben, die hier nur angedeutet werden können. Werfels Hinwendung zur Abfassung von historischen Romanen geht mit einer Distanz zum genuin expressionistischen Dichten einher, wenn man sich etwa an Döblins oder Einsteins romantheoretischen Abhandlungen orientiert oder schlicht an der zeitlichen Spanne des expressionistischen Jahrzehnts zwischen 1910 und 1920.126 Dass Werfel zu seiner Zeit als breit rezipierter und anerkannter Dichter gilt, in der Forschung hingegen bis heute ein teilweise nur marginales Interesse erfährt,127 mag mit der Vielzahl seiner anfangs populären, doch in der Folgezeit wenig goutierten, umfangreichen Ro-

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Vgl. zur Prosa als »Stiefkind« der Expressionismus-Forschung zusammenfassend: Wilhelm Krull, Prosa des Expressionismus, Stuttgart 1984. Werfels ›Aufbruch-Gedichte‹ gelten als erstes Dokument expressionistischer Lyrik. Zu Recht wird die Expressionismus-Forschung nicht müde darauf hinzuweisen, dass der sogenannte Expressionismus aufgrund der Disparatheit der lyrischen Zeugnisse »weder als Stilkanon noch als einheitliche Anschauung der Welt und Gestimmtheit ihres Erlebens betrachtet werden kann« (Rothe, Der Expressionismus, S. 15). Rothe verweist deswegen auf die Verwendung ähnlicher Topoi als gemeinsame Basis und auf zwei leitende Grundtendenzen: »Kritik einer Welt der absoluten Negativität oder aber Vision einer Utopie der absoluten Positivität« (Rothe, Der Expressionismus, S. 17). Die Propheten-Figur ist sowohl als Defizienzgestalt als auch als Heilsbringer modellierbar und oftmals kreuzen sich bei ihr beide Anlagen. Bereits Sokel hat zwei Grundhaltungen der expressionistischen Prosa herausgestellt: Während Carl Einstein die autonome Erzählweise von der Ideellen-Abstraktion her angeht und ein parabolisch-aphoristisches Erzählen favorisiert, setzt Döblin auf eine naturalistisch-objektivierende Beschreibung der Wirklichkeit unter Ausschaltung eines kommentierenden Erzählers und tendiert zu einer szenisch-darstellenden Erzählweise. Beide lehnen die Psychologie und Kausalität in der Erzählkunst ab und tendieren zu einer Verknappung der Sprache (vgl. C. Einstein, Anmerkungen über den Roman. In: Die Aktion, 2, 1912, Sp. 264–269; Döblin, An Romanautoren und ihre Kritiker, S. 17f.; Sokel, Die Prosa des Expressionismus. In: Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien, hg. von Wolfgang Rothe, Bern; München 1969, S. 153–170; Best, Einleitung. In: Die Theorie des Expressionismus, hg. von Otto F. Best, Stuttgart 1976, S. 5–25, S. 18). Vgl. zum Forschungstand: Volker Hartmann, Religiosität als Intertextualität. Studien zum Problem der literarischen Typologie im Werk Franz Werfels, Tübingen 1998, S. 27ff.

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mane zusammenhängen. Heute sind diese großteils dem Vergessen anheimgefallen. Nähert man sich dem Werfel’schen Œuvre mit Blick auf seine Verhandlung der Propheten-Thematik, ist es jedoch reizvoll und unumgänglich, seinen Jeremia-Roman in die Überlegungen einzubinden. Wie die oben zitierten lyrischen Zeugnisse klassische Themen der Propheten-Figur – wie die mediale Bestimmung des lyrischen Ich, damit einhergehend inspiriertes Schreiben u.a. – umkreisen, so widmet sich der Roman ganz dem Leben eines der prominentesten Propheten: Jeremia. Die prophetischen Aspekte der Sendung und die prophetischen Wahrnehmungsweisen der göttlichen Stimme werden erneut vorgeführt. VII.3.1.

Der Schriftsteller als Prophet

»Die Korrespondenzen zwischen moderner Schriftstellerexistenz und der Figur des alttestamentlichen Propheten«128 durchziehen den Jeremia-Roman augenfällig: So sind die Jeremia-Geschichte und die Geschichte des Schriftstellers Jeeves sowie formal die Rahmen- und die Binnenerzählung anhand der Fluchtpunkte von Inspiration, Zeitlosigkeit bzw. Zeitentrücktheit des Erleuchteten und seiner Sendung spiegelbildlich arrangiert. Dabei nimmt die literarische Darstellung der biblischen Jeremia-Geschichte als Binnenhandlung den umfassenderen Raum ein. Doch schon in der Rahmenerzählung, in der wir den Schriftsteller, den mutmaßlich an der heiligen Krankheit Epilepsie Leidenden und den Seher der Jeremia-Vita Clayton Jeeves in einer Gruppe von englischen Forschern und Israel-Liebhabern (das sind der Archäologe Burton, der Sanskrit-Professor Cartwright, der Hochkommissär Major Shepston und die Journalistin Dorothee Cowell) kennenlernen und an das Tote Meer sowie nach Jerusalem geführt werden, spielen die dominanten Themen der biblischen Jeremia-Geschichte subkutan eine Rolle:129 Leiden und Ohnmacht des von Gott berufenen Propheten als Grundelemente jeder Propheten-Geschichte spiegeln sich zum einen in Jeeves’ Ohnmacht aus Angst vor einem erneuten Krankheitsausbruch bei seiner Besichtigung des Tempels in Jerusalem, die als Anlass zur Geschichte des Propheten fungiert. Zum anderen umkreist seine durch die Ohnmacht freigesetzte ›Schau‹ das Zentrum prophetischer Berufungserlebnisse und die Inspirations-Thematik, die wiederum auf die notwendige, blitzartige Erleuchtung des Dichters rekurriert und 128

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V. Hartmann, Religiosität als Intertextualität, S. 303. Hartmanns Konklusion, dass die »Differenz zwischen einem Künder mit einem festen Platz im überlieferten Modell von Heilsgeschichte und einem Autor, der den Grund seines Schreibens in einer mystischen Erfahrung sucht […], so gewaltig [sei], daß die entfalteten Analogien oberflächlich bleiben müssen« (V. Hartmann, Religiosität als Intertextualität, S. 303), mag man nicht zustimmen, wenn man die Prominenz der zahlreichen Propheten-Figurationen als künstlerische Reflexionsmodelle herausstellt. Auf die wechselseitige Erhellung von Binnen- und Rahmenerzählung weist auch Hartmann hin und diskutiert kritisch, warum Alma Mahler nach dem Tode ihres Gatten die Rahmenhandlung für weitere Auflagen streichen lässt (vgl. V. Hartmann, Religiosität als Intertextualität, S. 278f.).

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die vorab von der Gesellschaft geschichtsphilosophisch erörtert und in zeitgenössische theosophische Überlegungen eingebunden wird: Als dominantes Leitmotiv und als Folie für das Inspirationserlebnis des Schriftstellers fungiert das Prinzip Akâsha. Einem Déjà-vu-Erlebnis, in dem für einen Augenblick die Zeit aufgehoben ist, vergleichbar bezeichnet der von den Theosophen aus den Veden aufgegriffene Ausdruck Akâsha eine übersinnliche Materie, »eine feinstoffliche Substanz«130, auch Urlicht, Bilder-Äther oder Erscheinungs-Äther genannt, die unmittelbar – gemäß dem Emanationsmodell – der schaffenden Gottheit entströmt. Die Vorstellung, dass auf einen Schlag alles da ist, d.h., sämtliche Erscheinungen und Geschehnisse des Kosmos miteinander verwoben sind – wie etwa bei einer intellektualen Anschauung –, rückt das Prinzip Akâsha modern gesprochen in die Nähe »eine[s] geheimnisvollen Filmarchiv[s], einer lückenlosen Photomontage, der allumfassenden Chronik, dem kosmischen Protokoll, der ewig vergegenwärtigenden Erinnerung des Weltengeistes«131, worin Gleichzeitigkeit und Allräumlichkeit, auch persönliche und kulturelle Gedächtnisleistungen inkludiert sind. Es ist bekannt, dass Werfel in theosophischen und okkulten Theorien seiner Zeit bewandert ist und den Begriff Akâsha wohl dem Okkultisten-Umfeld Helena Blavatskys und Annie Besants entlehnt.132 Zumindest spricht die ihrer Zeit führende Theosophin Blavatsky (1831–1891) im ersten Band ihres 1877 erschienenen Werks Isis Unveiled von »Tafeln«, in die Schriftstücke von allem, was war, ist oder je sein wird, eingeprägt und die für den Propheten einsehbar seien.133

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Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik, S. 299. Werfel, Höret die Stimme, S. 20. Vgl. V. Hartmann, Religiosität als Intertextualität, S. 281f.; vgl. Werfel, Zwischen Oben und Unten. Prosa, Tagebücher und Aphorismen. Literarische Nachträge. Aus dem Nachlass, hg. von Adolf D. Klarmann, München; Wien 1975, S. 678. Helena P. Blavatsky: »It [the Book of Life] keeps an unmutilated record of all that was, that is, or ever will be. The minutest acts of our lives are imprinted on it, and even our thoughts rest photographed on its eternal tablets. It is the book which we see opened by the [?] angel in the Revelation, ›which is the Book of Life, and out of which the dead are judged according to their works.‹ It is, in short, the MEMORY of GOD! […] It is on the indestructible tablets of the astral light that is stamped the impression of every thought we think, and every act we perform; and that future events – effects of long forgotten causes – are already delineated as a vivid picture for the eye of the seer and prophet to follow« (H. P. Blavatsky, Isis Unveiled. A master-key to the mysteries of ancient and modern science and theology, Vol. 1: Science, California 1960, S. 178). Der Gedanke eines Weltgedächtnisses klingt bereits in den Vorstellungen einer anima mundi bei Platon im Timaios an. Es ist mit dem Astral-Licht von Eliphas Levi (1810–1875), dem Liber Mundi der Rosenkreuzer (1614), dem »kosmischen Reservoir« von William James (1842–1910) und dem »Telefonanschluss« mit dem Absoluten von Eduard von Hartmann (1842–1906) in Beziehung zu setzen. Im Anschluss an Blavatskys theosophische Überlegungen übernimmt Rudolf Steiner (1861–1925) den Begriff Akâsha-Chronik (vgl. Steiner, Aus der Akasha-Chronik, Dornach 1995). Später benennt er seine aus abendländischen Quellen gespeiste Theosophie in Anthroposophie um, um sich von Blavatskys Nachfolgerin Annie Besant (1847–1933), die seit 1907 das Amt der internationalen Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft innehat, zu distanzieren (vgl. Zander, Theosophie und Anthroposophie, S. 433–436). Als kollektives Unbewusstes beschreibt auch C. G. Jung dieses

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Wie sich okkulte und prophetische Vorstellungen amalgamieren, lässt sich anhand der Beschwörung des Propheten und Dichters als eine Art Medium einer anderen Stimme plausibilisieren.134 Überdies wird am »Mittelpunkt der Welt« Geschichtlichkeit, v.a. Vergangenes und Totes, wie in einer Gespenstergeschichte (so das Beispiel Dorothees) präsentisch greifbar, wie es die Erörterungen der Gruppe am Toten Meer herausstellen und wie es Professor Cartwright zusammenfasst: Es gibt nämlich Örtlichkeiten, die mit Geschichte gesättigt sind, Mittelpunkte der Welt. Dort sammelt sich Akâsha, der geheime Bilder-Äther der Chronik. Dort durchdringt das Gewesene das Seiende und wird eins mit ihm, in lauernder Bereitschaft zur Auferstehung. Vielleicht erklären sich auch unsere Gespräche heute am Toten Meere damit. Denn nirgends durchdringt das Gewesene das Seiende so tief wie hier…135

Dass Inspiration »Absence mit Akâsha«136 sei, also Abwesenheit mit WeltchronikEinsicht, bemerkt der um sein Schaffen ringende Schriftsteller Clayton im Gespräch mit der rein an Fakten orientierten Journalistin Dorothee und preist den inspirativen Augenblick wie folgt: In jenem Augenblick aber, wie immer man ihn nennt, ist alles auf einmal enthalten, ob es auch hundert Gestalten, Geschehnisse, Gedanken sind, – in einem Blitz zusammengefaltet, treten sie hervor… keine Phantasie, keine Kombination, kein Scharfsinn, kein Fleiß, keine Arbeit kann das erreichen…137

In der reflexiven Sichtung des Inspirations-Phänomens sind indirekt Überlegungen über Autorschaftsbilder eingebettet: Die Absage an das Autorschaftsbild des poeta fa-

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Phänomen des Weltarchivs: Das kollektive Unbewusste stellt ein Archiv für das sich evolutionär entwickelnde psychische Erbe der Menschheitsgeschichte vor. Vgl. stellvertretend zur Akâsha-Chronik: Andreas Neider, Die Evolution von Gedächtnis und Erinnerung. Lesen in der Akasha-Chronik, Stuttgart 2008; Mengiarda Darms, Die Akasha-Chronik. Liebe lässt die Seele klingen, Norderstedt 2004; Magnússon, Dichung als Erfahrungsmetaphysik, S. 298. Vgl. zum Verhältnis von Okkultismus und Literatur im Allgemeinen wieder die Studie von Pytlik. Sie hebt – wie oben mehrfach erwähnt – besonders die mediale Situiertheit des Dichters als Resultat der Kreuzung von Literatur und Okkultismus hervor: »Die poetologisch relevante Idee, das künstlerische Subjekt als eine Art Medium zu verstehen, wird von zahlreichen Autoren immer wieder und auf unterschiedliche Weise aufgegriffen und häufig im Umfeld einer Auseinandersetzung mit Okkultismus, Spiritismus und Theosophie behandelt« (Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 97). Auch die Zeitentrücktheit korreliert mit einem okkulten Weltbild: »Zum Spektrum medialer Eigenschaften gehört nicht nur die Gabe, mit den Seelen längst Verstorbener in Kontakt zu treten, sondern auch die Kompetenz zur Antizipation des Zukünftigen. Dieses Gefühl der Verbundenheit mit Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem findet ebenso seinen Ausdruck bei Autoren der Jahrhundertwende« (Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 99). Werfel ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sich die Diskurse des Okkultismus und der originären Prophetie kreuzen. Werfel, Höret die Stimme, S. 21f. Werfel, Höret die Stimme, S. 21f. Werfel, Höret die Stimme, S. 43.

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ber (ausgezeichnet durch Arbeit u.a.) geht mit einer Aufwertung des poeta vates und seiner Erfahrung der göttlichen Inspiration einher. Eben die durch den imaginierten epileptischen Anfall Claytons auf dem Tempelplatz erlittene absence fungiert nun als Tor in die Vergangenheit (der Propheten-Historie), das wiederum auf Zukünftiges verweist und auf dem zu lesen und zu erleben ist: Incipit vita Hieremiae prophetae.138 Der ohnmächtige Schriftsteller sieht also im Zustand der Entrücktheit den gleichermaßen inspirierten Propheten und dessen Geschichte wie in einem Filmarchiv. Als dominante Entsprechungen zwischen Propheten-Amt und Berufung des Schriftstellers in Höret die Stimme zählt Volker Hartmann in seiner Werfel-Studie bereits folgende thematische Anknüpfungspunkte auf: »[d]ie Isolation des Propheten«139, »der soziale Auftrag«140, »der Widerspruch zur Macht und der Gegenfigur des falschen Propheten«141, »die Gegenfigur des Rationalisten«142, »Kündigung als Objektivation«143, »das Weiterleben des Wortes in der Schrift«144. Besonderes Augenmerk ist im Folgenden erneut den beiden letztgenannten Komplexen »Kündigung als Objektivation« und damit einhergehend »das Weiterleben des Wortes in der Schrift«, genauer der Differenz von Stimme, Wort und Schrift zu schenken, suggeriert doch die Vorstellung vom objektiven Kunstwerk eine Dezentrierung des subjektiv schaffenden Künstlers im Schnittpunkt der Erleuchtung und der Weltchronik, so dass das Feld des Künstler-Propheten aufgerufen wird, und rankt sich die Minorität der Schrift im Vergleich zum Wort, besser zur Stimme, um die suggestive Kraft authentischer Rede. Leitend ist – wie gesagt – die Vorstellung vom dezentrierten Dichter auch im okkultspiritistischen Umfeld, in welchem besonders die Figur des Mediums fasziniert.145 Die Zusammenschau der schriftstellerischen und prophetischen Inspiration fungiert als Achse für die Themenfelder Dichtung und Prophetie, Ästhetik und Inspiration. Das eigentümliche Signum des Propheten, ein reines Gefäß der göttlichen Stimme zu sein, das uns schon in den lyrischen Zeugnissen zahlreich begegnet ist, wird in Höret die Stimme immer wieder problematisiert, wenn die sich einschleichende menschliche Zutat zur Verdolmetschung des Raunenden und des Hörers der Stimme als Gefahr für eine objektive Kunde benannt wird.

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Werfel, Höret die Stimme, S. 47. Vgl. V. Hartmann, Religiosität als Intertextualität, S. 288f. Vgl. V. Hartmann, Religiosität als Intertextualität, S. 290f. Vgl. V. Hartmann, Religiosität als Intertextualität, S. 292f. Vgl. V. Hartmann, Religiosität als Intertextualität, S. 293f. Vgl. V. Hartmann, Religiosität als Intertextualität, S. 294f. Vgl. V. Hartmann, Religiosität als Intertextualität, S. 295f. Vgl. erneut: Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 97.

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VII.3.2. Die Personalität des Propheten: Autonomes Subjekt versus theologische Personalität In trinitarischer Sichtweise betont Werfel in seinen Theologumena, einer Sammlung von zwischen 1942 und 1944 entstandenen, das Verhältnis von Judentum und Christentum reflektierenden Aphorismen, die Sonderstellung des (göttlichen) Worts im Verbund mit derjenigen der (heiligen) Poesie: 1 Warum ist das Wort Gottes (der Sohn) mehr als die Werke Gottes (die Geschöpfe)? Weil von allem Wirken und Tun (›poiein‹) die Wortwirkung, die Poiesis, die Poesie, die innerlichste und eigentlichste Tat ist. 2 Das Wort, das vom Hauche des Mundes ausgeht, ist näher der Existenz des Schaffenden als alles Werk der Hände. Dies ist der Vorrang des Sohnes und der Vorrang der Poesie.146

Gegenüber dem Handwerk erfährt das ›Wort-Werk‹ göttlicher Provenienz bei Werfel eine herausragende Stellung. Das Wort Gottes als Pneuma ist wiederum dem Feld der Inspiration zuzuordnen, beseelt es doch den inspirierten Propheten wie den Poeten. Wie in seinen lyrischen Zeugnissen wird das inspirative Moment als Fundament eines poetischen Akts beschworen. Unter Bezugnahme auf Moses Berufung (vgl. Ex 3) zeigt sich genauer das Verlangen nach einer Ich-Zerstreuung im Martyrium des stellvertretenden Leidens für die Menschen-Gemeinschaft bereits im Gedicht »Ich bin ja noch ein Kind« aus dem Gedichtband Wir sind von 1913 –147 das den Topos vom Heil bringenden Kind aufgreift – mit folgenden Schlussversen: […] Und wenn ich erst zerstreut bin in den Wind, In jedem Ding bestehend, ja im Rauche, Dann lodre auf, Gott, aus dem Dornenstrauche! (Ich bin dein Kind.) Du auch, Wort, praßle auf, das ich in Ahnung brauche, Gieß unverzehrbar dich durchs All: Wir sind!!148

Ich-Zerstreuung als Basis für die Gottesbegegnung bildet auch das Fundament für das Sein in der Gemeinschaft des »Wir sind« – als conclusio des Gedichts – und wirkt zugleich als existenz- und persönlichkeitsstabilisierendes Moment. Gerade diese Selbstkonstitution als Resultat der Fremdbestimmung durch den Einbruch des Göttlichen ist zu betonen, wenn die Frage nach der Personalität oder Ich-Konstitution des Inspirierten zur Debatte steht. So fungieren die mental erlebte Propheten-Geschichte,

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Werfel, Von dem Geheimnis der Inkarnation. In: Theologumena. In: Werfel, Gesammelte Werke in Einzelbänden, Bd. 6: »Leben heißt, sich mitteilen«. Betrachtungen, Reden, Aphorismen, hg. von Knut Beck, Frankfurt am Main 1992, S. 185–291, S. 187. Vgl. ähnlich Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 126. Werfel, Ich bin ja noch ein Kind. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 117.

die Animation des Gedächtnisraums, der Erinnerungs- und Vergegenwärtigungsprozess der Jeremia-Vita als Bausteine der geschauten Weltchronik, während Jeeves’ Ohnmacht in Höret die Stimme als therapeutisches Heilmittel dient, so dass der Ohnmächtige seine Personalität als produktiver Schriftsteller neu zu gewinnen und, gleichsam wie den Tod seiner Frau Leonora, zu verkraften vermag.149 Unmittelbar im Anschluss an die erzählte Geschichte der Binnenhandlung, das Leben Jeremias, heißt es in der Rahmenhandlung, im Anschluss an die epiphanieartige Schau, die erhellende Ohnmacht Jeeves’: Die Absence, die er vor wenigen Minuten erlebt hat, ist nicht jenes entsetzliche Um-seinIch-gekommensein, das er kennt, sondern etwas Neues, Großes, Wunderbares. Er ahnt: Durch dieses Neue ist die Krankheit überwunden, die Unordnung in ihm zur Ordnung gekommen auf einem unbekannten Heilungsweg. […] Was er seit undenklichen Zeiten nicht mehr zu hoffen wagte, ist ihm wieder geschenkt worden: Das Glücksgefühl der Überfülle im Geist! Die Lust unbegreiflich gespannter Nerven! In einem Blitz zusammengefaltet hundert Gestalten, Geschehnisse, Gedanken. Was keine Kombination, kein Fleiß, kein Scharfsinn erreichen können, das weiß er jetzt unverlierbar in sich. Schon beginnt er fieberhaft die Fülle auszusinnen…150

Bedeutsam in der inspirativen Erfahrung scheint also die neu gewonnene Ich-Souveränität zu sein, d.h., dass das zeitweilige Eintauchen in den Weltfilm keine substantielle Ich-Auflösung impliziert, sondern letztlich eine Subjektkonsolidierung anstößt.151 Wir

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Das Einzelgängertum des Propheten spiegelt sich bei Jeremia wie bei Jeeves im Tod der geliebten Frau: Zenua, die Jeremia im Asyl bei den Ägyptern kennenlernt und welche er heiraten möchte, fällt tatsächlich, wie es ihr Vormund Cher-Hep weissagt, wegen ihrer Konversion zum einigen Gott Jahwe und wegen ihrer Liebe zu Jeremia aus der Welt und wird »ausgemeindet«, d.h., seine Braut wird zur »starren Säule« und stirbt am Vorabend der geplanten Hochzeit (vgl. Werfel, Höret die Stimme, S. 253ff.). In der größten Notlage Jeremias, seinem gefängnisartigen Sitzen in der Kotgrube, erscheint ihm die verstorbene Braut in Form einer Schwalbe. Er verwandelt sich ebenfalls in einen Vogel und sieht im Traumgesicht Mardukhs und seiner Vogelscharen den Sieg über Jerusalem voraus (vgl. Werfel, Höret die Stimme, S. 563f.). Auch in der okkultistisch-mystischen Konzeption Blavatskys greifen die Motive von Selbstaufgabe und Selbstgewinn im Bild der Vogel-Mutation ineinander: »Das Große Gesetz sagt: Wenn du die Erkenntnis des ALL-SELBSTES erlangen willst, musst du zuerst dein wahres Selbst kennenlernen. Um die Erkenntnis dieses SELBSTES zu erlangen, musst du dein Ich dem Nicht-Ich, dein Sein dem Nicht-Sein opfern. Dann kannst du zwischen den Schwingen des GROSSEN VOGELS ruhen« (Blavatsky, Die Stimme der Stille. Und andere ausgewählte Bruchstücke aus dem »Buch der goldenen Lehren«. Neu übersetzt und mit zusätzlichen Anmerkungen versehen von Norbert Lauppert u. Fritz Kutschera, Graz 1953, S. 19). Werfel, Höret die Stimme, S. 632. Dass die Selbsterkenntnis Ziel des Hörens der Stimme sei, so dass letztlich aus dem Mystiker und Propheten ein eigener göttlicher Meister entspringe, betont auch Blavatsky: »Jetzt magst du ruhen unter dem Baum der Erleuchtung, in der Vollendung aller Erkenntnis, denn wisse, du bist Meister der GÖTTLICHEN EINHEIT, des Zustandes der makellosen Schau. Siehe! Du bist das Licht geworden und der Ton, du bist dein Meister und dein Gott. Du SELBST bist das Ziel deines Suchens: die immertönende STIMME, die da klingt von Ewig-

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haben oben schon im »Gebet in der Dämmerung«152 gesehen, wie der Wunsch nach Fremddiktion und Ich-Auflösung mit einer Suche nach Ich-Ordnung und SelbstKonstitution einhergeht. Dieser Selbstgewinn korrespondiert mit der Aussinnung, d.h. poetischen Darlegung der geschauten Fülle. Schau und Überwältigung lassen sich im poetischen Akt als Arbeitsprozess kanalisieren. Inspiration und vorbereitendes Stoff-Sichten – in diesem Falle des Bibelstoffs – sind unabdingbare Voraussetzungen dafür, »an dem Werk zu bauen, das innerlich in ihm schon errichtet ist«153. Umrahmt ist die Verarbeitung der Selbsterkenntnis von einer konzeptionellen Annäherung an eine Mystik der Nerven, die auf einen fieberhaften Arbeitsprozess verweist. Das Erlebnis der Propheten-Chronik setzt somit einen Individuationsprozess und einen poetischen Verarbeitungsprozess gleichermaßen in Gang: Aber nicht nur das Werk, das er schaffen will, empfi ndet er in sich schon wie vollendet, sondern auch sein eigenes Selbst ist fest und mutig geworden wie noch nie, denn er hat zum erstenmal seiner ganzen Wahrheit ohne Ausrede in die Augen geschaut und von ihr eine Gewißheit empfangen, die ihn mit unbekannten Kräften erfüllt.154

Stellvertretend fungiert demnach die Schau der Propheten-Chronik als therapeutische Selbstanalyse, heißt es doch, er habe seiner ganzen Wahrheit in die Augen geschaut. Ferner ist die Niederschrift des Geschauten an diese seine Selbstschau gekoppelt. Ein ähnliches Diktum hinsichtlich der notwendigen Selbsterkenntnis ist bereits in »Die christliche Sendung«, Werfels offenem Brief an Kurt Hiller von 1917, formuliert, wo es pointiert heißt: »Vollende dich, damit notwendig das Werk als Frucht deiner Vollendung dir werde.«155 Selbstvollendung ist die Bedingung für die Werkvollendung. Das Werkschaffen wird als Produkt einer Selbstfindung, eines gnoti seauton im Verbund mit einer visio vitae novae klassifiziert. An anderer Stelle in den Theologumena beschreibt Werfel das erhöhte Gefühl des Schauenden unter psychologischer Perspektive genauer:156 27 Inspiration, psychologisch gedeutet, ist eine plötzliche Gleichzeitigkeit des gewöhnlicherweise Aufeinanderfolgenden. Die beschleunigten Assoziationen schieben sich untereinan-

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keit zu Ewigkeit, frei allen Wandelns, aller Sünde frei, die sieben Töne in einem, DIE STIMME DER STILLE« (Blavatsky, Die Stimme der Stille, S. 36). Werfel, Gebet in der Dämmerung. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 448f. Werfel, Höret die Stimme, S. 633. Werfel, Höret die Stimme, S. 633. Werfel, Die christliche Sendung. Ein offener Brief an Kurt Hiller. In: Die Neue Rundschau, 28, 1917, S. 92–105, S. 104. Ferner äußert sich Werfel zum »Leichtsinn« als Moment der Inspiration: Leichtsinn – wohl auch im Sinne leichten, lichten Sinns und von Leicht-Werden – kann ferner insofern göttlich sein, als er »eine allgemein zugängliche Erlebnisform von Zeitlosigkeit ist: Leichtsinn ist eine ganz schwache, profane Abart der Ekstase, in welcher die Heiligen, die Mystiker und die inspirierten Künstler den Zeitsinn verlieren vor purer Konzentration« (Werfel, Theologumena, S. 195).

der, das Horizontale wird vertikal, die Tätigkeit der Seele genießt sich selbst kontrapunktisch. Auf dieser Überwindung des homophonen, des ›bürgerlichen‹ Zeitablaufs beruht das fast göttliche Selbstgefühl des Inspirierten.157

Der begeisterte Verdi-Fan Werfel greift gerne auf musikalische Termini zurück, so auch hier, wenn er die Homophonie mit der beengenden Verschlossenheit des Selbst im wohltemperierten bürgerlich-gewöhnlichen Zeitablauf parallelisiert und dagegen indirekt für eine Polyphonie, d.h. eine Selbstständigkeit zusammenklingender Stimmen, plädiert. Entscheidend ist also, dass im Augenblick der Inspiration die einzelnen, auftönenden Stimmen gleichwertig sind, was musikalisch dadurch erreicht wird, dass der Komponist ihren Verlauf nach den Regeln des Kontrapunkts führt. Das Moment der Auflösung des Inspirierten ist freilich eine Eigenart höchster Punktung oder Konzentration. Eben auf dieselbe Weise – gemäß dem Prinzip der Polyphonie – klingen die Lebensgeschichte Jeremias und die Geschichte Jeeves’ gleichberechtigt zusammen, obwohl ihnen eine kategoriale Unterschiedlichkeit nicht abgesprochen werden kann. Der inspirativen Entgrenzung als ›Entselbstigung‹ ist somit ein Individuationsprozess, d.h. ein Akt der ›Verselbstung‹, beizuordnen, dieser wiederum führt zur Personalisierung des Mediums unter Bezugnahme auf die personale Komponente des raunenden Gottes: »[…] Da der Inbegriff Gottes aber Persönlichkeit ist, so muß folgerichtig Persönlichkeit auch der Inbegriff des Ebenbildes sein.«158 Steht Gott dem Menschen als Bezugspunkt, mit Martin Buber gesprochen als »Du« gegenüber,159 in besonderer Weise natürlich dem Propheten, ist Personalität als ein intentionaler Begriff zu verstehen: Das Ich rekurriert auf einen Anderen, der Person ist, so dass das Ich daher Person durch den Anderen ist. Im kleinen Fragment »Theologie« heißt es bei Werfel: »Gott erschuf die Welt, damit er ein Du fände für sein Ich. […] Ich will aus dir mir zurücktönen! Ich will in dir mich fühlen, wie sehr ich vollkommen bin! Liebe mich, liebe mich!«160 Personare heißt ursprünglich ›hindurchtönen‹ und der inspirierte Prophet ist der Prototyp für den ›Töner‹ (wie es auch bei George und Trakl ersichtlich ist) und damit für eine vorbildhafte Personalität. Die mit der Inspiration einhergehende Subjektsprengung koppelt Werfel an eine theologisch fundierte Persönlichkeitskonzeption, wodurch er eine reine Verobjektivierung des Mediums Prophet zurückweist. Die sprachtheologische Wendung des Personalismuskonzepts verankert die Ich-Du-Beziehung ferner im Wort: Hinter dem du-bezogenen, menschlichen Wort scheint die Stimme des ganz Anderen durch, der Verkörperung des Du: Das ist Gott. Und doch ist das Wort auf dem Feld des Du, des Mittlers der Stimme anzusiedeln. Die Theoreme der dialektischen Theologie treffen sich hier im Personalitätskonzept mit der theologisch orientierten Dichtungskonzeption eines Werfels.161

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Werfel, Theologumena, S. 196. Werfel, Theologumena, S. 205. Vgl. Buber, Ich und Du. Werfel, Theologie, S. 112–114. Vgl. Rothe, Der Mensch vor Gott, S. 49.

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Anklänge an Selbstverlust-Erfahrungen, wie sie besonders in ekstatischen Augenblicken aufscheinen, denkt Werfel als Transzendierungsprozess zu einer neuen Größe des Ich, zum transzendenten und unverfügbaren »Ego«: […] Dieses Ich aber, diese Person, in bezug auf welche Körper und Geist transzendent sind, diese Persönlichkeit, dieses Ego ist wiederum keineswegs unser eigenes Eigentum. Wir schaffen es ebensowenig wie wir es beherrschen. In Augenblicken der Erleuchtung tritt es uns sogar als ein plastisch fremdes, ja oft hostiles Wesen entgegen, über welches uns keine Macht gegeben ist. Das Ich des Menschen transzendiert demnach sich selbst. Es ist das geheimnisvolle Abbild der Gottheit innerhalb unseres persönlichen Mikrokosmos. Es ist sozusagen der nächstgelegene und dürftigste Gott, dessen wir innewerden.162

Die Übernahme des traditionellen, hier in die Immanenz verlegten MikrokosmosMakrokosmos-Analogie-Modells verdeutlicht die Korrespondenz zwischen menschlichem Ich und transzendentem Ich.163 Werfel spricht in seinen Theologumena auch vom »Individuum ineffabile«164, d.h. von der unaussprechlichen Persönlichkeit.165 Wie sehr sich Ich-Ohnmacht und Ich-Erfahrung in der inspirativen Situation kreuzen, betont Werfel unermüdlich: 3 Gott wird für die Seele, die ihn schauen darf, nicht ein geistiges Bild sein, sondern ein Schauspiel. […] 4 Vor dem Schauspiel ist der zusehende Mensch ganz Ich und ganz Nicht-Ich. Das ist das große Geheimnis der Identifi kation. 5 Die Anschauung Gottes ist der höchstmögliche Akt der Identifi kation, das heißt ein übernatürlicher Modus, ganz Ich und ganz Du zu sein, aus welchem Ewigkeiten von Wonne strömen.166

Des Propheten Gott- oder Du-Bezogenheit inkludieren demnach einen höheren IchBezug, sofern das Nicht-Ich als integraler Bestandteil des Ich zu werten ist. Übertragen auf das hier zu verhandelnde prophetische Künstlerbild impliziert dieses also nicht eine Individualitätsschmälerung, wenn man Werfels Personalitäts-Verständnis hinzuzieht, genauso wenig wie einer mit dem Subjektverlust einhergehenden, deterministischen Weltsicht die Bahn geebnet wird: Trotz seiner medialen Seite, nur Transporteur der göttlichen Stimme zu sein, ist der Prophet als Person und zudem als

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Werfel, Theologumena, S. 191f. Auch in seinem Gedicht »Gottes Name im Menschen« ist der Hinweis auf die Signaturenlehre zu finden: »Er, der sich ewig birgt, / Schrieb in Sein Ebenbild / Doch eine schwache Spur. / Im Winkel, der kaum gilt, / Dort, wo nichts prahlt und wirkt, / Steht seine Signatur […]« (Werfel, Gottes Name im Menschen. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 455f., S. 455). Werfel, Theologumena, S. 218. Das traditionelle Diktum ingenium est ineffabile klingt hier an (vgl. zur Begriffsgeschichte: Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen). Werfel, Theologumena, S. 232.

Künder der Eigenverantwortung zu beschreiben. Dass ein radikal deterministisches Konzept dem prophetischen Personalitätskonzept widerstrebt, betont Martin Buber in seiner Abhandlung Das Sehertum ebenfalls deutlich.167 Der dort aufgegriffenen Debatte über Freiheit und Determination stellt er die beiden alttestamentlichen, kontrastiven Typologien des Propheten und des Apokalyptikers an die Seite. Des Propheten Aufgabe sei es von jeher, (Wesens-)Umkehr-Möglichkeiten anzuzeigen und nicht – gemäß der landläufigen Meinung – die Zukunft vorherzusagen. Nach Analyse wesentlicher Stationen der Jeremia- und der Jona-Figur bestimmt Buber das dialogische Prinzip als wesentliches Merkmal jeder Prophetie und bilanziert: Was für eine Anschauung vom Walten des Waltenden liegt alledem zugrunde? Offenbar eine, die das Geheimnis des dialogischen Umgangs zwischen Gott und Mensch vor allem Verlangen nach dogmatischer Verkapselung behüten will. Das Geheimnis ist das der Erschaff ung des Menschen als eines Wesens, das mächtig ist, zwischen den Wegen faktisch zu wählen und das immer wieder und immer noch zwischen ihnen zu wählen mächtig ist; denn nur ein solches Wesen taugt zum Gesprächspartner Gottes in der Geschichte. Die Zukunft ist nicht festgelegt, denn Gott will den Menschen als einen, der in aller Freiheit zu ihm kommen, ja auch noch aus der äußersten Verlorenheit zu ihm umkehren kann und dann wirklich bei ihm ist. Das ist das prophetische Theologem, das als solches nie geäußert wird, aber in die Grundfesten des Prophetentums eingemauert ist.168

Die Wandlung zum freiwilligen Einverständnis in Gottes Willen spielt auch bei der Propheten-Berufung eine zentrale Rolle, wo das anfängliche Sich-Verweigern des Propheten zur Zeremonie gehört. In Bubers Mysterienspiel Elija ist ersichtlich, dass die Entscheidung zum Gehorsam im Innern des Propheten aus freien Stücken reift: DIE STMME: Elija! Geh! ELIJA: Ich widerstehe dir. Du kannst mich nicht zwingen. DIE STMME: Ich kann dich nicht zwingen. Schweigen. Elija senkt den Kopf, ohne seine Haltung zu ändern. ELIJA: Grausamer Treiber, laß ab! (Schweigen.) Mein Herr, wohin soll ich gehen?169

An anderer Stelle in Höret die Stimme bekundet Jeremia gegenüber Michaja, der den Kriegsgegner Achabs aus dem Verkehr ziehen soll: »ER will, daß, was geschehen soll, durch den Willen und die Tat von Menschen geschehe.«170 Bubers dialogisch-persönliches Verhältnis des Propheten zu Gott kommt auch in Jeremias Konfrontation mit dem babylonischen Sternen-Kult Nebukadnezars in der Werfel’schen Komposition zum Ausdruck. Das Diktum Mardukhs »Im Schicksalsgesetz der Gestirne [ist] kein

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Vgl. Buber, Sehertum. Prophetie und Apokalyptik. In: Das Sehertum. Anfang und Ausgang, Köln; Olten 1955, S. 49–74. Buber, Sehertum, S. 58f. Buber, Elija. Ein Mysterienspiel, Heidelberg 1963, S. 9. Buber, Elija, S. 49.

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andres Erbarmen als das vorbestimmte Erbarmen«171 schließt – unterstrichen durch die tautologische Wendung – jedwede Freiheit des Erbarmens, d.h. der Gnade, aus, freilich ebenso den Sündenfall. Weder die Schau der Sterne bei den Babyloniern noch die Schau der Toten bei den Ägyptern können deswegen Jeremia ob ihrer ScheinFreiheit als wahres Gesicht gelten,172 denn sein Gott lässt hingegen einen (Entscheidungs-)Freiraum zu: »Er läßt dir Raum, zu tun oder nicht zu tun…«173: Folgerichtig setzt Jeremia »Einheit gegen Zahl«174, Vertrauen in den Einen gegen sternkundige Berechnung des Weltenlaufs. Ein festgelegter Weltlauf und eine deterministische Persönlichkeitskonzeption spielen weder im Prophetieverständnis eines Buber noch bei Werfel eine Rolle, ja beide widerlegen diese deterministisch gefärbte Abhängigkeitsstruktur explizit: Ihre Betonung liegt prinzipiell auf der Mitarbeit des Propheten am Werk der Gnade, denn die Übersetzung des göttlichen Worts und seine Umsetzung in poetische Zeichen bedürfen der hermeneutischen Anstrengung, der poetischen Gestaltung. So wandelt sich der Prophet zum Poet. VII.3.3. Zur Differenz von Stimme und Wort Schon der Titel des fulminanten Romans Höret die Stimme zeigt wesentliche Elemente eines klassischen Prophetie-Verständnisses an: Der Imperativ fordert ein aufmerksames Vernehmen der Stimme Gottes, denn des Propheten Stimme ist Verlautbarung des göttlichen Willens, also Medium einer ihm eingegebenen Botschaft. So fokussiert der Imperativ explizit die Stimme als Pars pro Toto für den Propheten, stellt diese in den Vordergrund und der Titel lautet nicht etwa ›Höret den Propheten‹. Der Prophet steht ganz im Dienst der Stimme, ja er ist mit der Stimme (nahezu) identisch. Dass es nicht ›Höret das Wort‹ heißt, kann ferner als erster Hinweis auf die feine Differenz von Stimme und Wort gedeutet werden. Entgegen der Dominanz des Sehens, das die Rede von der Schau des Propheten aufzurufen mag, wird bei Werfel auch das Umfeld akustischer Epiphanien alludiert. Assoziiert man die Stimme mit dem Bereich der Oralität und Unmittelbarkeit, ist das Wort hingegen eine zunächst zu fi xierende Größe, die auf dem Feld der Schriftlichkeit anzusiedeln ist oder im mündlichen Bereich bereits die Fassung der Stimme impliziert. Die Verlautbarung der Stimme hingegen suggeriert ein unmittelbares, authentisches Zeugnis, das dem auf Fixierung abzielenden Zeichencharakter des Worts vorgängig ist. Die orale Komponente ist deswegen so entscheidend, da sie dem mortifizierenden und potentiell verfälschenden Gedächtnisraum der Schrift einen mitunter dem Okkultismus entlehnten lebendigen Gedächtnisraum des Allgegenwärtigseins in der direkten Stimmen-Wahrnehmung zuordnet.175 Weitere Zeugnisse für die Dominanz der Stimme im Umfeld 171 172 173 174 175

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Werfel, Höret die Stimme, S. 462. Vgl. Werfel, Höret die Stimme, S. 460. Werfel, Höret die Stimme, S. 399. Werfel, Höret die Stimme, S. 509. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Werfel die zentrale Kategorie der Stimme dem okkulten

von prophetischen Dichtungen sind beispielsweise auch Karl Wolfskehls (1869–1948) Gedichtsammlung mit dem Titel Die Stimme spricht176 (1934/36) oder Nietzsches »Die stillste Stunde«177, ein Gespräch zwischen Zarathustra und der stimmlosen Stimme. Aber auch aus Gustav Landauers Sprachkritik, die vor einer Erstarrung des Geistes durch Buchstaben warnt, geht eine Aufwertung der Stimme als spontanster Ausdruck des Geistes hervor:178 »Aus den Herzen der einzelnen bricht diese Stimme und dieses unbändige Verlangen in gleicher, in geeinter Weise heraus; und so wird die Wirklichkeit des Neuen geschaffen.«179 Seine an Fritz Mauthner geschulten sprachkritischen Beobachtungen münden in eine Aufwertung der Laute, Klänge und der Musik als beste Sprache: Dieses Ineinanderschwingen der Unsagbarkeiten, die von den entgegengesetzten Enden herströmen – der Rhythmus aus der Zeit, das Sinnenbild aus dem Raum, – dieses Auflösen alles Realen im Elemente des Traumes: […] das eben scheint mir die Stimmung zu sein, in der man einzig und allein von der Sprachkritik zur Wortkunst zurückkehren kann.180

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Begriffsfeld entnimmt. In Blavatskys Schrift Die Stimme der Stille – die allerdings erst 1953 publiziert wird, deren Inhalt aber schon zuvor kursiert –, einem Konglomerat aus mystischem, buddhistischem und hinduistischem Gedankengut, bestehend aus Bruchstücken aus dem Buch der goldenen Lehren, wird das Hören der Stimme als Resultat einer habituell angeeigneten Versenkung und eines mit der Seele Sehens gepriesen. Ich-Vergessenheit und SelbstGewinn (vgl. Blavatsky, Die Stimme der Stille, S. 34f.), Wissen und Botentum (vgl. Blavatsky, Die Stimme der Stille, S. 41), Einsiedelei und Selbsterkenntnis im tatkräftigen Wirken (vgl. Blavatsky, Die Stimme der Stille, S. 45) sind die Antinomien auf dem Weg mystischer Selbstvervollkommnung, die mit prophetischen Überlegungen Werfels vergleichbar sind. Insbesondere Blavatskys Ausführungen zum Klang und zum Klangkörper in »Die Sieben Pforten« weisen Parallelen zum Jeremias-Roman Werfels auf: »Jünger sind mit den Saiten einer Laute zu vergleichen, welche die Töne der Seele widerklingen lässt; die Menschheit ist der Resonanzboden; die Hand, die sie spielt, der klangvolle Atem der GROSSEN WELTSEELE« (Blavatsky, Die Sieben Pforten. In: Blavatsky, Die Stimme der Stille, S.  60–89, S. 66). Die Stimme des »höheren Selbstes« analog zur Stimme des »inneren Gottes« lasse sich durch unterschiedliche Arten mystischer Töne vernehmen (Blavatsky, Die Sieben Pforten, S. 24). Vgl. Karl Wolfskehl, Die Stimme spricht. In: Wolfskehl, Gesammelte Werke, Bd. 1: Dichtungen, Dramatische Dichtungen, hg. von Margot Ruben u. Claus V. Bock, Claassen 1960, S. 129ff. Das lyrische Ich ist in »Die Stimme spricht« als Prophet der Stimme konzipiert, die im fingierten Dialog des Propheten Sendung reflektiert, indem sie beispielsweise (wie bei George) das Dröhnen der Stimme durch den Propheten beschwört: »Wie wer Harfenstränge strich, / Dumpf Heerpauken schlägt, / Liess Ich dröhnen, Menschen, dich, / Der Mein Siegel trägt. // […] Denn dein Dröhnen überwand, / Denn dein Dröhnen zwingt: / Bist die Orgel Meiner Hand, / Graun, das Aufgang singt. // Licht losch / Todes Stille spricht / Tauber Wüstenei: / Dröhne bis das Dunkel bricht / Du Mein Hahnenschrei!« (Wolfskehl, Die Stimme zum Menschen: Deinem Herzen. In: Wolfskehl, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 130f.). Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 187–190. Vgl. Nishioka, Dichtung als Prophetie, S. 116. Landauer zitiert nach: Nishioka, Dichtung als Prophetie, S. 116. Landauer zitiert nach Kemper, Vom Expressionismus zum Dadaismus, S. 193.

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Dass der Prophet zunächst die Stimme vernimmt und diese dann wiederum an eine Hörerschaft weitervermittelt, zeigt die doppelte Rezeptionskette der Stimme an: Ist die Stimme Gottes für den Propheten unmittelbar vernehmbar, gelangt sie mittelbar über die Stimme des Propheten zu den Menschen. Dem Bilderverbot des Dekalogs (vgl. Ex 20, 4) entsprechend dominiert ferner die akustische Zuwendung das Verhältnis zwischen Gott und dem auserwählten Hörer der Stimme.181 Diese besondere Konstellation von Stimme und Wort wirkt in Werfels musiktheoretisches Verständnis der göttlichen Stimme hinein. Denn die Stimme ist für das Gott-Propheten-Verhältnis bestimmend, da sie nicht nur die Ereignishaftigkeit oder Authentizität der GottesZuwendung signalisiert, sondern – wie der Prophet selbst – eine verbindende Schnittstelle zwischen Geist/Seele und Körper, Ich und Anderem darstellt.182 Während Gott eine körperlose, akusmatische Stimme eignet, inkorporiert und kanalisiert der Prophet die göttliche Stimme. Das Feld der Stimme ist so gesehen als ein Grenzbereich zu definieren, da die Stimme mehr als nur ein Medium für Texte sein kann: Ist sie als Laut immer selbst Text, kann sie sich auch als Klang von ihm lösen. Wie eingangs erwähnt sind Stimmen erstens zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit anzusiedeln und zweitens vermögen sie die Präsenz der oralen Rede im Gegensatz zur Repräsentation durch Schrift zu profi lieren. Auch bei Werfel stellt sich die Frage, wie die Stimme zu fassen ist, d.h., wie sie (verständlich und authentisch) ins (schriftliche) Wort gebannt werden kann. Anders gesagt erweist sich der Schnittpunkt von Oralität und Schrift lichkeit aufgrund der temporalen und medialen Differenz als symptomatisch für den Wahrheitsanspruch prophetischer Dichtung. Bei Werfel klingt auch eine pro-

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Vgl. zum Topos der Erweckung des Ohrs den Jesaja-Bericht: »Gott, der Herr, gab mir die Zunge eines Jüngers, / damit ich verstehe, die Müden zu stärken / durch ein aufmunterndes Wort. Jeden Morgen weckt er mein Ohr, / damit ich auf ihn höre wie ein Jünger. Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet. / Ich aber wehrte mich nicht / und wich nicht zurück.« ( Jes 50, 4–5). Vgl. zur Verlautbarung der Stimme z.B. die Theophanie bzw. Dornbuschoffenbarung Moses (Ex 3, 4–4, 17), wo es zuletzt heißt, Gott werde sowohl Moses als auch dessen Redner Aarons Mund sein. Mose gilt ferner als der einzige Prophet, mit dem Gott in der Stiftshütte von Angesicht zu Angesicht spricht (vgl. Ex 33, 11). Die Schau des Angesicht Gottes in seiner Herrlichkeit wird oftmals im Alten Testament als todbringend dargestellt, so dass entweder Gott oder der Hörer seiner Stimme wie Elia sein Angesicht verhüllt (vgl. zu den verschiedenen Angesichtern Gottes und dessen (Nicht-)Sehbarkeit: Jürgen Moltmann, Von Angesicht zu Angesicht. Eine Meditation über die Gottesschau zu Ehren des Tübinger »Mystikers mit offenen Augen«. In: Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre. Festschrift für Eberhard Jüngel zum 70. Geburtstag, hg. von Ingolf U. Dalferth u.a., Tübingen 2006, S. 375–387, S. 381f.). Paulus betont schließlich wieder den Primat des Hörens vor einer theologia viatorum (vgl. Röm 10, 17). Ein direktes Erkennen Gottes von Angesicht zu Angesicht läutet das Programm der incipit vita nova als Vollendung im Rahmen einer visio beatifica ein, wie das reine Schauen von Angesicht zu Angesicht etwa im »Ersten Korintherbrief« als Überwindung des stückwerkhaften Sehens in Aussicht gestellt wird (vgl. 1. Kor 13, 12). Vgl. zur neueren Forschung Doris Kolesch u. Sybille Krämer (Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt am Main 2006; Mladen Dolar, His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme, Frankfurt am Main 2007.

phetische Stimmen-Konzeption an. Der Imperativ »Höret die Stimme« provoziert überdies die Frage, inwiefern der Person des Propheten als Akteur, als Erinnerungsfigur183 und als konservierender Protokollant der vernommenen Botschaft mehr als ein Schallraum fremder Stimmen zuzugestehen ist. Genauer gesagt provoziert der Fokus auf die Stimme auch die Frage nach ihrer Herkunft, der (ursprünglichen) Autorschaft. VII.3.4. Poetik des Prophetischen: Undeutliche Zeichen – akustische Epiphanien – der musische Mensch als Klangkörper und »Trompetenschrei« Das den Roman durchziehende Paradox des Propheten, eine Deutungshoheit über göttliche Zeichen zugesprochen zu bekommen und gleichzeitig an der Undeutlichkeit der Zeichen zu leiden, verdient besondere Aufmerksamkeit, schließt sich hier doch eine Problematisierung des Zeichentransfers vom göttlichen Wort zur menschlichen Stimme an, die sich in der Spannung zwischen der Abhängigkeitsstruktur des Propheten Jeremia von Gott einerseits und seinem Volk andererseits niederschlägt. Im Zentrum des Romans steht die akustische Wahrnehmung der Stimme. Die Verschriftlichung akustischer Phänomene stellt einen besonderen Reiz dar, denn sie stellt zur Disposition, ob Literatur ein Potential zur Phono-Graphie besitzt. Der Prophet müsste Ton und Laut Gottes sein (wie es der Titel suggeriert). Dann wäre eine authentische Poetizität des Auditiven prophetischer Prägung gewährleistet. Der Werfel’sche Prophet ist tatsächlich zunächst als Schallraum konzipiert, der übersubjektive Geräusche – das Raunen Gottes – auffängt und als Schallkörper weitergibt. Die Dominanz seines Hörsinns prägt dezidiert das Spannungsfeld zwischen Immanenz und Transzendenz, seine Wahrnehmung ist zwischen Geist und Materie situiert. Ausgewiesen wird das Hören der Kunde als Grenzüberschreitung, anhand welcher Umrisse einer phonographischen Poetik des Prophetischen ansatzweise erkennbar werden: Die Stimme Gottes ist bei Werfel als akustische Epiphanie klassifizierbar. Im Gleichnis der Trompete erklärt sich zunächst, weshalb Gott überhaupt ein Mundstück für seine Worte benötigt: Er [Gott] hat eine Stimme, diese Stimme ist sein Ruach, sein Hauch, den er in den Raum um und in Jirmijah stößt wie eine Trompete. Der Hauch Zebaoths erregt den Schall. Das Erz der Trompete aber wirkt mit, ihn hervorzubringen. Ohne diesen Trichter hätte der Hauch keinen Schall. Die Stimme des Herrn braucht den Innenraum des Menschen. Hauch ist Geist.184

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Für Jan Assmann ist insbesondere Mose, mithin der Prophet an sich als eine Erinnerungsfigur par excellence zu kategorisieren (vgl. zur Erinnerungsfigur: Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 37f.; Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998). Ferner versteht Assmann den Exodus nicht primär als historisches Ereignis, sondern vor allem als im Gedächtnis überlebende »Erinnerungsfigur« (Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2007, S. 200f.). Werfel, Höret die Stimme, S. 86.

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Die Abhängigkeit Gottes besteht also darin, auf die Mitwirkung des Menschen, d.h. zunächst auf seine materielle und mediale Komponente, angewiesen zu sein, wenn er sein Wort kundgeben möchte. Die dem Musischen und Instrumentalen entlehnte Metaphorik des Instruments Jeremia, auf dem Gott spielt, ist eine zentrale Denkfigur Werfels.185 Wenn Gott in die Tasten fällt, werden wir »Psalm«186, heißt es in »Bekenntnis VII«, einem Gedicht aus Der Gerichtstag von 1919. Der revolutionäre Mose Werfels klassifiziert sich mitunter selbst als »Trompetenschrei«187. Programmatisch bittet das lyrische Ich im Gedicht »Anrufung« (aus dem frühen Gedichtband Einander von 1915) – einer Musen-invocatio vergleichbar – unter Bezugnahme auf die Blasinstrument-Metapher um die Niederkunft des (Heiligen) Geistes: Anrufung Komm, reiner, klarer, winterlicher Geist, Mit deinen eisigen Feuern niederfahrend! So wenig Zeit noch! – Immer weiter jahrend Vor unserem Ausgang sind wir eingekreist. Wie eitel doch das Wort sich in uns fügt! Weh Lächeln, das in Hinterhälten lauert! Du harte Stimme tückisch zugemauert! O Schritt bei Tag und Nacht, der lügt! Komm, Geist, und überrenne diesen Fluch, Daß wir uns spülen über alle Dämme! Aus allen Schleusen stürze uns dein Spruch, Daß Eins das Andre selig überschwemme! Wähl uns zum Horn aus, Herr, in das du stößt! – Schon Beben wie Gebärende die Erden – Gib, in dein letztes Antlitz aufgelöst, Daß alle wir einander Mütter werden!188

Bilder von Überschwemmung und dem Hornstoß (auch als Gebär-Instrument) als Inspirationstopoi beschwören (wieder in Form von Imperativen) das Wirken des Heiligen Geistes und pointieren das Erlebnis einer ungefi lterten Stimmen-Zuwendung, die das trügerische Wort übersteigen könnte.189 Ins Bild gesetzt wird eine Inspira-

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Das Duo-Bild von Stimme und Blechinstrument, hier das Horn, findet sich auch in Bubers Mysterienspiel Elija: Die Stimme erschallt »(im Hornstoß): Elija!« (Buber, Elija, S. 9). Vgl. Werfel: »Gott fiel in unsre Tasten und wir waren Psalm« (Werfel, Bekenntnis VII. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 300–305). Werfel, Das Gebet Mosis. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 220. Werfel, Anrufung. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 153. Ähnlich heißt es in der ersten Strophe des Gedichts »Veni Creator Spiritus«: »Komm heiliger Geist du, schöpferisch!  / Den Marmor unsrer Form zerbrich!  / Daß nicht mehr Mauer krank und hart  / Den Brunnen dieser Welt umstarrt,  / Daß wir gemeinsam und

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tions-Poetik der Präsenz, die allerdings selbst wiederum ins Wort gebannt bleibt. Als Endpunkt der inspirativen Zuneigung Gottes entfaltet der Duktus der Bitte visionär zudem eine allumfassende Mutterschaft, wie sie aus Bachofen-Kreisen bekannt ist.190 Vom Hauch Gottes durchblasene Trompeten und Posaunen verweisen überdies von jeher auf das Jüngste Gericht und erinnern speziell an das Einläuten apokalyptischer Szenarien.191 Von der Vision des Klangkörpers Prophet lassen sich zudem Verbindungslinien zu Werfels Konzeption des musischen Menschen ziehen. Bereits in dem Gedichtband Einander von 1915 führt Werfel im Gedicht »Die Menschheit Gottes Musikantin« eine musikalisierte Menschheit vor Augen, die ganz dem Takt des Dirigenten Gott folgt: Die Menschheit Gottes Musikantin Die Menschheit Gottes Musikantin ist. Doch Gottes Musik ist die Barmherzigkeit! Hört es, ihr Herzen, stürzt und seid bereit: Musik ist Gang der Sphäre, Himmels-Ordnung, Erkenntnis, Maß des Maßes, das uns mißt. […] Die Menschheit Gottes Musikantin ist. O fühlt den Meister,

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nach oben / Wie Flammen in einander toben!« (Werfel, Veni creator spiritus. In: Werfel, Das lyrische Werk, S.  153f., S.  153). Die Metaphorik der brennenden Herzen beschreibt zweierlei Visionen: Die Animation der »ausgebrannten Herzruinen« soll zum einen ein neues Gemeinschaftsgefühl erwecken und zum anderen eine neue Kommunikationsform ermöglichen: Die einer neuen, unmittelbaren Sprache, welche an das Pfingsterlebnis erinnert, wonach die vom Heiligen Geist inspirierten Jünger in allen Sprachen sprechen und wie brennende Flammen alte Formen, resultierend aus der Festlegung auf eine Sprache und einengenden Sprachkonventionen, und letztlich die Sperren der Babylonischen Sprachverwirrung übersteigen (vgl. zur Feier der Niederkunft des Heiligen Geistes an Pfingsten in der »Apostelgeschichte« des Neuen Testaments: Apg 2, 1–41: »Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle am gleichen Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab« (Apg 2, 1–4)). Der Prophet Joel gilt als Ankündiger dieses Ereignisses (vgl. Joel 3, 1–5). In seinem 1861 entstandenen Werk Das Mutterrecht entdeckt der Jurist und Altertumsforscher Johann Jakob Bachofen (1815–1887) im Zuge seiner Studien der römischen, griechischen und ägyptischen Mythologie bekanntlich das Matriarchat als Urgesellschaft, das dem Patriarchat vorgängig sei ( J. J. Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, Stuttgart 1861). Vgl. etwa den Vergleich der Himmelsstimme mit einer Posaune in der »Offenbarung des Johannes« (vgl. Offb  4,  1) oder die sieben Engel, die die sieben Posaunen blasen (vgl. Offb  8, 6ff.).

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Und seinen Stab, der in euch schlägt und schwebt! Sein Takt ist die Gerechtigkeit, Sein Ton ist die Barmherzigkeit. Ach, wenn der Stoff nur als Bewegung lebt, So lebt der Geist als Liebe nur, geliebte Geister!192

Die kosmologische Konzeption der Sphärenharmonie der Pythagoreer im Auftakt des Gedichts alludierend (Vers 4/5), wonach die Himmelskörper durch ihre Bewegung Töne aussenden und die Gesamtheit dieser Töne den kosmischen Klang, die Sphärenmusik, einen harmonischen Zusammenklang erzeugt,193 entfaltet das vorgestellte Programm von der Musik als Ausdruck der Barmherzigkeit und Liebe Gottes hier eine musiktherapeutische Wirkung, so wie in der pythagoreischen Lehre Musik unerwünschte Affekte zu modifizieren und Heilungszwecke anzustoßen vermag.194 In seiner sozialkritischen Mahnrede »Realismus und Innerlichkeit« von 1931 beschwört Werfel ebenfalls die religiös-musikalische Gestimmtheit des Menschen. Das radikal-realistische Lebensgefühl an den Pranger stellend, das für die Ent-Seelung des Lebens verantwortlich sei und wofür er als Bürgen sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Vereinigte Sowjetunion anprangert,195 zielt er auf die Überwindung des Arbeiter-Aktivismus-Ideals, das sich der zuvor etablierten Idealkategorien des heroischen Ritters und des asketisch-religiösen Priesters entledigt habe.196 Sein Anliegen besteht darin, den schöpferischen Geist des Menschen gemäß seinem Axiom »Ohne Innerlichkeit gibt es keine äußere Welt«197 wieder in sein Recht zu setzen. Die Krönung seines wenn auch nur vage ausgeführten Programms einer neuen Innerlichkeit ist der musische und charismatische Mensch: Nur der musische Mensch vermag die durch den Sachglauben zerstörte Innerlichkeit wieder aufzubauen. Wohlgemerkt! Ich meine nicht die Kunst, nicht Kunstwerke und auch nicht den Künstler, nein, ich meine den seelisch-geistig bewegten, den erschütterlichen, den rauschfähigen, den phantasievollen, den weltoffenen, den symphatiedurchströmten, den charismatischen, den im weitesten Sinne musikalischen Menschen. […] Der musische Mensch hingegen ist der Erfüllte, der Schlüsselbewahrer jenes Himmelreichs, das in uns liegt.198

Gemäß seiner anthropologisch-ontologischen Konzeption ist jeder Mensch a priori musikalisch, nicht nur der Künstler, diese natürliche Anlage müsse sich nur entfal-

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Werfel, Die Menschheit Gottes Musikantin. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 154f. Vgl. Walter Burkert, Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, Nürnberg 1962, S. 293ff. Vgl. Bartel Leendert van der Waerden, Die Pythagoreer, Zürich; München 1979, S.  364f.; Burkert, Weisheit und Wissenschaft, S. 355; Leonid Zhmud, Wissenschaft, Philosophie und Religion im frühen Pythagoreismus, Berlin 1997, S. 181–183 u. S. 233. Werfel, Realismus und Innerlichkeit. In: Werfel, Zwischen Oben und Unten, S. 16–40, S. 16f. Vgl. Werfel, Realismus und Innerlichkeit, S. 21–24. Werfel, Realismus und Innerlichkeit, S. 26. Werfel, Realismus und Innerlichkeit, S. 32.

ten können.199 Deshalb sei auch »auf die Gefahr hin, als reaktionär verschrien zu werden, die Welt mit Geistesgesinnung zu durchdringen«200. Die Fokussierung von Innerlichkeit, Musikalität, Neuentdeckung der Seele und des charismatischen Menschen implizieren Werfels frühe, 1917 in seiner Schrift »Die christliche Sendung«201 artikulierte Absage an Hillers Aktivismus, den er mit einer »Politisierung der Literatur«202 gleichsetzt. Am Beispiel von Dostojewskis Großinquisitor illustriert er die nur »technische Welterlösung« durch »Organisation, Volkswirtschaft , Politik«203 u.a. und kontrastiert diese mit seinem Entwurf einer »christlichen Sendung«, die eine absolute Ich-Bejahung204 auszeichne und die entgegen jedweden Abstraktionsprozessen – der Poesie vergleichbar – einen Realitätssinn bewahre: »Die Erlösung, die für sie tätig, der Christ erhofft , ist eine Erlösung des Bewußtseins und der Erkenntnis. Die Erlösung von der Gesellschaftlichkeit zur Weltlichkeit. Diese Weltlichkeit ist aber identisch mit Geistigkeit.«205 Die Werfel’sche Sendung »vollzieht ihr Werk im Ich« und das »Bewußtsein des Menschen«206 steht im Mittelpunkt. Eine aufoktroyierte Wandlung von außen, die dem Individuum zugunsten des Kollektivs übergezogen würde, lehnt er hingegen ab, gemäß seiner »Abneigung gegen die institutionalisierte Organisation«207. Im Zuge der Vorstellung der inneren Wandlung bekennt sich Werfel schließlich zum (christlichen) Anarchismus.208 Werfels Innerlichkeits-Plädoyer und Preis des musischen Menschen endet mit einem Loblied auf die wiederverzauberte Welt: »Wir erschrecken vor dem Wunder in uns selbst, vor der Muse erschrecken wir, die in jedem Menschen schläft, vor Gottes Botin, die das Schöpfungswerk allsekündlich neu wiederholt. Denn die Welt kann nur leben im Namen des Wunders.«209 Dem Künstler an sich scheint zwar in der Konzeption des charismatischen Menschen keine Sonderstellung zugedacht zu werden, doch ist der musische, von der Muse beseelte Mensch nicht nur dem Propheten – gemäß der Maxime »Wer Ohren hat zu hören, der höre« (Mt 11, 15) – verwandt, der als Trompete Gottes fungiert, sondern letztlich dem inspirationsfähigen Künstler, der sich der Stimme der Weltenchronik – wie in Höret die Stimme entfaltet – zu öffnen vermag. Obwohl Werfel in seiner Konzeption des musischen Menschen nicht primär Stellung zur Kunst und zum Künstler bezieht, weisen doch seine Termini zur Schattierung des musischen Menschen – wie »phantasievoll«, »sympathiedurchströmt«, »charis-

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Vgl. Werfel, Realismus und Innerlichkeit, S. 32. Werfel, Realismus und Innerlichkeit, S. 39. Vgl. Werfel, Die christliche Sendung, S. 92–105. Werfel, Die christliche Sendung, S. 95. Werfel, Die christliche Sendung, S. 98. Vgl. Werfel, Die christliche Sendung, S. 99. Werfel, Die christliche Sendung, S. 101. Werfel, Die christliche Sendung, S. 104. Nishioka, Dichtung als Prophetie, S. 115. Vgl. Werfel, Die christliche Sendung, S. 101. Werfel, Realismus und Innerlichkeit, S. 40.

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matisch« u.a. – auf Prämissen der Kunstfigur des Propheten. Die emphatisch, wenn auch nur heuristisch ausgestaltete Rede vom musischen Menschen mag den explikativen Rekurs auf den Gottes-Hörer Jeremia in Höret die Stimme erklären. Abgeleitet aus diesen Überlegungen ergeben sich folgende Prämissen bzw. Parallelen für Werfels Verständnis der Sendung der Poesie: erstens eine Realitätsnähe und zweitens ein Fokus auf die Seelen-Wandlung, vorführbar an exemplarischen Menschen, an Leitfiguren. Die Epik betreffend formuliert Werfel in seinen Theologumena dementsprechend: Höchstmögliche Form moderner Epik: Die mystischen Grundtatsachen des Geisterreiches (Weltschöpfung, Sündenfall, Inkarnation, Auferstehung, und so weiter) dargestellt mittels des verschlagen-bescheidensten Realismus in unauff älligen Geschehnissen und Figuren des gegenwärtigen Alltags. Nur ganz wenige höhere Intellekte unter den Lesern erkennen die Symbolik, dürfen aber niemals das beglückende Gefühl verlieren, der Autor habe keine Ahnung von den Geheimnissen, die seine einfache Erzählung verbirgt.210

Der Prophet Jeremia in realistischer Manier vorgeführt entspricht exakt diesem Programm einer neuen Innerlichkeit. Werfels Theaterprojekt Der Weg der Verheißung dagegen scheint daran zu scheitern, einer ungebrochenen Überprophetisierung zu erliegen.211 Werfels Kritik am politischen Aktivismus brandmarkt indes nicht nur den politischen Aktivismus Kurt Hillers, sondern auch zionistische Denkmuster eines Max Brod, der daraufhin den erwachenden neuchristlichen und neugnostischen Individualismus jüdischer Intellektueller verpönt und dies zugunsten einer Erlösung der Gemeinschaft, die auf wahrem jüdischen Fundament und einem entsprechenden Aktionismus basiere.212 Werfels Annäherungen an die christliche Religion, obgleich er nie konvertiert,213 erscheinen Brod als Auswüchse einer verblendeten »Egozentrizität«214. Als unermüdlicher Arbeiter für die »reale Einheit des Menschengeschlechts« beruft sich Brod auf den Propheten Jesaja als Vorbild, um die »abstrakte Antizipation« der Zukunft des Christentums zu kontrastieren und um Werfels Paradoxien zu entlarven: Der innere Widerspruch in Werfels Aufstellungen ist es gerade: daß er die Abstraktion, die Zerteilung der Welt in Leib und Seele, die Auseinanderschneidung der Realitäten mit angespanntester Energie bekämpft […] – daß er aber gleichzeitig die äußerste Abstraktion,

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Werfel, Zwischen Oben und Unten, S. 191. Vgl. ähnlich Nishioka, Dichtung als Prophetie, S. 121. Vgl. Max Brod, Franz Werfels »Christliche Sendung«. In: Der Jude, 1, 1917, S.  717–724, S. 717. Vgl. zur Zionismus-Debatte zwischen Max Brod und Werfel: Lappin, Der Jude 1916– 1928, S. 227–229. Seiner irenischen Position verleiht er in seinem Epigramm »Delphisches Orakel« Ausdruck: »Wie lang noch herrscht die Hölle hier auf Erden / Mit blindem Haß in Süd, West, Ost und Norden? / Solange bis die Juden Christen werden. / Und bis Christen Juden sind geworden« (Werfel, Delphisches Orakel. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 527). Brod, Franz Werfels »Christliche Sendung«, S. 721.

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nämlich die Loslösung des Ich aus der Gemeinschaft lebender Menschen, die Loslösung des Künstlers aus dem tätigen Leben, die Egozentrizität feiert.215

Eine »christliche Ich-Erlösung« und eine »fi ktive spirituale Gemeinschaft« solle der Zionismus und Aktivismus nämlich gerade übertreffen.216 Wie sehr Künstlertum und Gestaltung des gesellschaft lichen Lebens zusammenhängen, thematisiert Werfel indes gerade unter Rückgriff auf die Propheten-Figur, die Einzelgängertum und kollektives Wirken zusammenstellt. Als kontrastives Negativbeispiel, als falscher Prophet und eigennütziger Aktivist und als ein prototypisch unmusikalischer Mensch kann die Propheten-Karikatur in »Weißenstein, der Weltverbesserer«217 (1939) einstehen. Der verwachsene, sich zunächst durch unangenehm entlarvende Wahrhaftigkeit auszeichnende Gnom mutiert zum diktatorischen »Menschenschinder«218. Seine äußerliche Deformation weist auf seine Korrumpierbarkeit voraus. Dass sich der wahre Künstler hingegen nicht als autonomer Diktator verstehen lässt, hängt mit Werfels Sprachreflexionen zusammen, die immer wieder die heilige Sprache als Basis für gelingendes Dichten mobilisieren. Im Gedicht »Legende von der Sprache« etwa wird die Vorgängigkeit der Sprache reflektiert, die in ihrer reinen Sinnhaftigkeit nur im göttlichen Sanktus-Gesang der Engel durchklingt.219 Vom himmlischen Gesang gibt der Herr den Abgesandten der Menschen »aus der Lava des Gesanges« über die Erzengel Raphael, Michael und Gabriel flammende Stücke: […] Und die glühen [sic!] Sanktus-Stücke Reichten sie mit Klang und Reim Den Entsandten aus der Lücke, Daß sie’s trügen würdig heim. Längst ist diese Glut erloschen Und des Wortes Haut liegt nackt, Ton und Reim sind abgedroschen Und die Lava ist verschlackt. Dennoch schwebt in späten Nächten, Wenn nichts schnattert mehr und schreit, Wort an Wort mit Engelmächten Durch mein Zimmer, unentweiht.

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Brod, Franz Werfels »Christliche Sendung«, S. 721. Brod, Franz Werfels »Christliche Sendung«, S. 722. Werfel, Weißenstein, der Weltverbesserer. In: Werfel, Gesammelte Werke in Einzelbänden, Bd. 1: Erzählungen, hg. von Knut Beck, Frankfurt am Main 1990, S. 87–94. Werfel, Weißenstein, der Weltverbesserer, S. 94. Werfel, Legende von der Sprache. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 461f.

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Und ich werde, hingekauert, Jenes ersten Sanktus inn’, Während mich die Scham durchschauert, Ob ich seiner heilig bin.220

Den Engeln eignen insofern künstlerische Züge, als sie die Stücke bzw. Worte aus dem Engelgesang bereits »mit Klang und Reim« versehen den Menschen reichen. Aufgabe des menschlichen Poeten muss es daher sein, das Sanktus zu hören und die nackten Worte musikalisch zu bekleiden, d.h., den toten Buchstaben zum Erklingen eines Sinnes zu animieren. Denn noch edler als das Wort ist dessen Vorgänger, der Gesang, wie es besonders im Gedicht »Die Wandlung« aus dem Kreis der Neuen Gedichte von 1928 herausgestellt wird: Die Wandlung besteht darin, dass das Wort Fleisch geworden ist – wie es der Beginn des Johannes-Evangeliums als Herzstück der Inkarnationslehre221 vorschreibt – und die Natur das Flüstern der Stimme wiedergibt: Die Wandlung Das Wort ist Fleisch geworden. Fleisch allein? o mehr! In jedem Halm und Blatt ist’s Fleisch geworden ringsumher Der Felsen ist sein steingewordenes Raunen, Des Wassers starres Bild die stummen Silben schwätzt, O dies Geflüster! Wer es hört und übersetzt, Erringt sich’s nur durch ungeheures Erstaunen. Doch plötzlich trifft ein Schlag, ein Überschwang Des Hörers Geist, ihn selig hinzumorden. Er ahnt: Das Wort ist tausendfältig Fleisch geworden, Doch eh es Wort geworden, war’s Gesang.222

An romantische Konzeptionen von der pantheistisch sprechenden Natur erinnernd führt die Wandlung den Hörer vom approximativen Hören und Übersetzen der klingenden Natur zur Ahnung, dass das Raunen der Natur ein Abglanz des ursprünglich heiligen Gesangs ist. Die zentrale Denkfigur von der Vorgängigkeit des himmlischen Lobgesangs offenbart die Differenz von göttlichem Lied und menschlich modelliertem Wort, wie es vielfach in Gedichten Werfels ausgestaltet ist, so auch in nachgelassenen Zeilen223 wie diesen, wo die Magier als Konkurrenten der Engel das göttliche Wort stehlen: […] Am Anfang der Welt Brachen mächtige Zauberer Das Wort, Wort für Wort,

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Werfel, Skizze. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 613f., S. 614. Vgl. den Prolog des Johannes-Evangeliums: Joh 1, 1–18, bes. 1, 14. Werfel, Die Wandlung. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 611f., S. 612. Werfel, Ohne Titel. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 613.

Aus dem marmornen Lobgesang Der Himmlischen Und holten nieder den Raub. Drum glüht noch immer Im Innern des Worts Das Magma der Göttlichkeit Noch immer liegt Auf der Kruste des Worts Ein leiser Reif aus dem Sternenraum. […]224

Den Magiern bleibt durch ihre ›Verwortung‹ des himmlischen Gesangs nur ein Rest an Göttlichkeit. Die Verortung der Ursprünglichkeit des heiligen Gesanges geschieht u.a. wieder im Umkreis der Propheten und Seher und zudem dem der Sibyllen: In »An die Sibylle Mara« aus dem Gedichtband Der Gerichtstag von 1919 wird dezidiert der heilige Gesang als Gemeinschafts-Sprache der Inspirierten gefeiert: An die Sibylle Mara Einsam sind wir auf dem Erdenstern. Eitle Peitsche treibt uns wie Kreisel. Zu Spiegel werden alle Geschwister. Süß tänzeln wir im Spiegel-Labyrinth. Doch Nächte sind. – Es zerbricht das Spiegelnde. Zwischen blitzenden Splittern strömt unser Urfluß. Die Leere ersäuft und geschwollenes Nichts, Wenn der heilige Wind des Gesanges sich hebt. Da sprechen wir unsere Sprache, die Sprache des Sirius, Aller Wesen Sprache auf allen Sternen. Wir schreiten in tiefumschlungener Heerschar. Das Herzklopfen Gottes sind wir da. Nichts andres. 225

Der Narzissmus der Einsamen – verdeutlicht durch die Spiegelmetapher – wird durch den mystisch initiierten Durchbruch von der Vereinzelung zur kommunikativ im heiligen Gesang erlebten Gemeinschaft gebrochen, und zwar im Zeichen der ›Sternen-Sprache‹. Der Sirius ist der hellste Stern am Nachthimmel und verkörpert so die Lichtzentrale als Metapher für die Vitalität der illuminierten Wesen. In der ägyptischen Mythologie gilt Sirius als Zeichen der Nilflut, worauf der »Urfluß« anspielen mag.226

224 225 226

Werfel, Ohne Titel, In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 613. Werfel, An die Sibylle Mara. In: Werfel, Das lyrische Werk, S. 271. Vgl. Rolf Krauss, Sothis- und Monddaten, Gerstenburg; Hildesheim 1985, S. 14, S. 37 u. S. 41; Erich Sams, Sirius – Der Wächter am Tor. Glanz und Elend des Fixsterns Sirius in den alten

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Dass das verglühte Gottes-Wort einer Wiederbelebung bedarf, ist auch Jeremias zentrale Einsicht in Höret die Stimme. Wie eine fremde Stimme schallen die MahnWorte im Tempel Jerusalems aus Jeremias Mund, so dass er als »Feueropfer des Worts«227 fungiert. Unter der Undeutlichkeit Gottes leidend empfindet Jeremia indes immer wieder Kommunikationsbarrieren, die letztlich in der Wesensverschiedenheit der Kommunikationspartner Gott und Prophet mit ihren je unterschiedlichen Zeichensystemen gründen: Nicht Gott war undeutlich, sondern der Mensch. Er selbst hatte ein schweres Gehör, ein schwaches Auge, einen undurchlässigen Leib. Der Herr und er waren ganz und gar zweierlei. Sie standen, ein jeder allein, wie auf zwei weit entfernten Gipfeln und riefen einander Rufe zu und gaben einander gegenseitig Zeichen, die der Mensch freilich meist ohnmächtig war zu verstehen. Zwischen ihnen lag eine unüberwindbare Ferne, die ganze Welt der Wesen, ein wildes Gestrüpp. Zwischen ihnen lag das Wort der Menschensprache, verbindend und trennend, eine schwanke geländerlose Brücke, deren Bohlen in der Mitte geborsten sind. Wer könnte sich auf dieser Brücke weit vorwagen? Jirmijah, der nichts heißer als Klarheit liebte, empfing dämmervolle Worte und Zeichen. Er empfing sie überraschend, wenn er nicht fragte. Fragte er aber, wie jetzt, dann empfing er nichts als Adonais große Undeutlichkeit, die immer da war.228

Die naturwüchsige Ambivalenz der Menschensprache besteht darin, zugleich verbindendes und trennendes Glied zwischen Gott und Mensch zu sein. Anders gesagt erinnert die Vorstellung vom »undurchlässigen Leib« an die materielle Medialität des Propheten, die sich teilweise sperrt, die geistigen Worte ungefi ltert zu transportieren. Ein direkter Ausweg aus dem kommunikativen Dilemma ist verwehrt. Der mit Gott nach Josijahs Niederlage hadernde Jeremia wirkt aufgrund seiner naiven Fluchtpläne vor Gott geradezu kindisch: »Seit den Tagen des großen Rechtens und königlichen Sterbens aber hatte Jirmijah den Herrn nicht lieb, sondern zürnte ihm grimmig und vermeinte, ihn herzlich zu hassen. Er beschloß ohne Aufschub, die Berufung zum Künder aufzukündigen und Urlaub zu nehmen für immer.«229 Dass der Urlaub nicht für lange Zeit genehmigt wird, versteht sich von selbst. Noch schwieriger als die Aufgabe, mündlicher Bote der Stimme zu sein, gestaltet sich die Niederschrift des erfahrenen Gottes-Worts in seiner reinen und wahren Form als »Raunungen für jedermann«230, wenn doch hierbei Verstand, Wille, persönliche Wünsche und affektive Zutaten des Propheten sich nicht einschleichen dürfen, d.h., ein Objektivierungspro-

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Religionen, Mering 2007. Ischtar Ilu Mara Sin gilt als Hauptgöttin der Babylonier und Sumerer. Sie ist die Göttin der Lebenskraft, da sie alle männlichen und weiblichen Ilu-Kräfte vereint und das Zeitalter des Lichts symbolisiert: Damit fungiert sie auch als Bürgin für das neue Zeitalter Babels. Insofern könnte die neue ›Sternen-Sprache‹ auch auf die Überwindung der babylonischen Sprachverwirrung anspielen. Werfel, Höret die Stimme, S. 140. Werfel, Höret die Stimme, S. 159. Werfel, Höret die Stimme, S. 212. Werfel, Höret die Stimme, S. 363.

zess des Dolmetschers anzustreben ist.231 Göttlichem und menschlichem Wort ist per naturam eine scheidende Differenz eingeschrieben, die sich in zusammenführenden Bemühungen immer wieder bemerkbar macht: Auch Adonais Wort im Geiste der Künder braucht die menschliche Sprache, um gehört zu werden. Es muß niedersteigen in die verwesliche Unreinheit dessen, was auf Erden mehr zur Verhüllung als zur Enthüllung der Wahrheit taugt. Darum sehnt sich das dem Menschen geliehene Wort Gottes mit schmerzlichster Kraft , sich dem Menschen wieder zu entziehen.232

In der Konstruktion einer medialen, durch die Figur des Propheten getätigten und verbürgten Authentizität und Makellosigkeit göttlicher Sprache verbergen sich per se Fallstricke: Allen voran droht in der Verschriftlichung eine Verunreinigung oder Verfälschung der göttlichen Stimme. Anzustreben ist schließlich eine Kongruenz von Schrift-Text und der ihn tragenden Stimme, von Repräsentation der Stimme durch Schrift lichkeit und Präsenz der Rede, wie sie mündlich einholbar ist, um die Differenzen zwischen Klang, Laut und Buchstabe zu überbrücken. Jeremias Stimme steht unter dem Druck, immer ganz Ohr zu sein, seine Produktion des Gottes-Worts eng mit der Wiedergabe zu verzahnen. Der an Hermes erinnernden, über den Eros getriebenen Transferleistung ordnet Werfel (wie übrigens auch Rilke) die Leitfigur Franziskus zu, wenn er das Heiligenwesen analysiert: Es ist die Liebe, die ganz besondere (natürlich-übernatürliche) irdisch-überirdische Liebe, die unermüdlich zwischen Kreator und Kreatur mittelt, geschäftig hin und her eilt zwischen diesen beiden unvereinbaren Existenzen, nach oben und nach unten bittet, fehlt, beschwört und mit wilder Energie das Unmögliche möglich macht. Es gibt kein echtes Heiligenleben, das nicht einen Funken der Franziscus-Liebe besäße, einen Anhauch dieser stürmischen Zwischenträgerin.233

Und mit Blick auf den messianischen Heilsbringer heißt es bei Werfel: Derselbe Blick in die Wirrnis der kreatürlichen Formen beweist aber auch die Notwendigkeit des inkarnierten Gottmenschen, dieses gewaltigen Dolmetschers zwischen uns und dem Undurchdringbaren. Ohne den Messias wäre, nein ist der empfindende und spekulierende Mensch dieser Zeit in Verzweiflung.234

Am Ende der Jeremia-Geschichte wird der Prophet erneut nach Ägypten ziehen, das Dolmetscher-Amt als Stigma nicht loswerdend: Seine Existenz bleibt Leiden an der Brüchigkeit zwischen Gottes Willen und seinem nicht hörenden, widerspenstigen Volk. Bei einem letzten Besuch im zerstörten Tempel in Jerusalem findet Jeremia jedoch ein Zeichen besonderer Art: Gerade im zerstörten Tempel waltet die absolute Präsenz des Herrn, wenn auch bruchstückhaft. Jeremias Auffinden eines Splitters der

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Vgl. Werfel, Höret die Stimme, S. 430. Werfel, Höret die Stimme, S. 353f. Werfel, Legenden. In: Werfel, Weißenstein, der Weltverbesserer, S. 9–41, S. 17. Werfel, Theologumena, S. 203.

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zerstörten Bundestafel beim erstmaligen Nennen des Gottesnamens Jahwe gleicht einer neuen Heils-Schau, wie die Lichtmetaphorik unterstreicht: Seine Augen überströmen vom Heil. In keiner der Verzückungen seines Lebens war er der Freude Gottes wirklich nahe. Das ahnt er jetzt, da er das erste- und einzige Mal ihr nahe ist in Wahrheit. Noch einmal flutet die Sonne blendend auf. Jirmijah hält seine Hand vor die Augen, um sich vor dem Übermaß des Lichtes zu schützen, das alles ertränkt.235

Dieses »Rufende« in unmittelbar materialisierter Form als Steinsplitter, die Gottesantwort an Jeremia als Einheit von Zeichen und Bedeutung ist mehr »als Raunung und Gesicht, klar und deutlich: ›Damit du lebest.‹«236 Als Zeichen inmitten des Grauens der Zerstörung Jerusalems verdeutlicht diese Botschaft den Prozess des Lebendiger- und Reiner-Werdens des Gottsuchenden, der Tod und Gericht überdauern wird: Damit du mein seist, damit ich dein sei, hast du gelitten. Euer Sieg wächst von Niederlage zu Niederlage. Damit ihr lebet! Du schöpfst die Verheißung nicht aus…Nicht in Stimme und Wort gefaßt ist diese Erleuchtung von der göttlichen Kriegslist, die von Ewigkeit zu Ewigkeit reicht. Sie ist ein jähes Innewerden, ein unaussprechliches Durchdrungensein vom endgültigen Sieg, das die Besinnung des Mannes an der Säule jauchzend verwirrt.237

Zur absoluten Konsolidierung der Evidenz des personalen Verhältnisses zwischen Gott und Mensch reicht zuletzt weder Stimme noch Wort, sondern die ekstatische und unaussprechliche Erfahrung der Gewissheit verbürgt das Ziel der Vollendung in den Niederlagen. Diese Heilsbotschaft ist indes durch den Roman Höret die Stimme wiederum ins Wort gefasst, die Unmittelbarkeit der göttlichen Stimme bleibt ein visionärer Zielpunkt prophetischen Dichtens.

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Werfel, Höret die Stimme, S. 629. Werfel, Höret die Stimme, S. 629. Werfel, Höret die Stimme, S. 629.

VIII. Summe: Poetik des Prophetischen – das Ende prophetischer Dichtung und ein Blick in die Zukunft

Schenkt man der facettenreichen Rezeption der Vorstellung vom Dichter-Propheten in der Moderne gebührend Beachtung, erkennt man, wie der Prophet in unterschiedlichen Formen wieder salonfähig wird: Erstens erscheint er als Medium autonomer oder sakraler Poesie und als Garant für autopoetische Konstruktionen; zweitens kann er als Verheißungsmedium neuer Sinn- und Identitätsstiftung mittels Vorgabe normativer Werte fungieren; drittens vermag er als visionärer Richter seiner Zeit Soll-Zustände appellativ auszumalen, und schließlich – viertens – bleibt er als Legitimationsgarant für den nobilitierten Status des Künstlers zitierfähig. Dass dabei die alttestamentliche Figur des Propheten aufgrund ihrer ästhetischen Anverwandlung einige Beschneidungen, wenn nicht gar eine massive Aushöhlung erfährt, steht außer Frage. Mitunter ist sogar eine Tendenz zu verzeichnen, wonach sich eine überstrapazierte Propheten-Kunst, das hohe Pathos des Dichters als prophetischer Gestalt, das Parodien und ironische Repliken provoziert, zuletzt selbst demontiert. Ausgehend von Nietzsches janusköpfigem Zarathustra, einer prophetisch inspirierten Figur, die zwischen heiligem Einsiedler und prophetisch-aktionistischem Marktprediger changiert und sowohl einen ›entfesselten‹ Stil1 (›Sturmrede‹ und ›Wortblitz‹ im Verbund mit einer Rhetorik des Erhabenen) als auch ein mystisch geprägtes ›stilles‹ und paradoxales Sprechen freisetzt und die als das durchschlagskräftige Vorbild moderner vates- und prophētēs-Spielarten unter dem Vorzeichen eines prophetischen ›Gesamtkunstwerks‹ gelten kann, ferner ausgehend von Rimbauds schmutzigem, entgrenzungssüchtigem und tätowierungslustigem voyant lassen sich die innovativen Energien prophetischer Poetiken der hier verhandelten Dichter (Th. Mann, George, Rilke, Trakl und Werfel) unter Rekurs auf das um die Jahrhundertwende virulente poeta vates- und Propheten-Autorschaftsbild ausbuchstabieren. Nietzsche und Rimbaud sind prominente Beispiele dafür, wie die Zusammenführung von Prophetie/Sehertum und Dichtung/Autorschaft in einer ›entgötterten‹ Zeit erneut profi liert wird:2 Das Künstlerbild des Propheten, das zugleich an prophetische Poetiken oder prophetische Ausdrucksweisen im weitesten Sinn rückgebunden ist, erfährt durch sie eine großangelegte Neuauflage, nicht zuletzt, weil die KünstlerPropheten-Figur agitatorisch eine neue Kunst und/oder neue Werte zu verkünden vorgibt.

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Vgl. dazu wieder Schlaffer, Das entfesselte Wort, bes. S. 131ff. Vgl. zu Nietzsche das Kapitel II.3.1. und zu Rimbaud das Kapitel II.3.2.

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Neben um Kongruenz bemühten Modellen, die das prophetische Autorschaftsbild und auf sie ausgerichtete prophetische Dichtungsweisen amalgamieren, zeigen sich dabei indes immer wieder (inszenierte oder aus der Logik der jeweiligen Prophetisierungsbestrebungen resultierende) Brüche, die eine Grenzüberschreitung zwischen der Instanz des Künstler-Propheten und prophetischer Darstellungsweise konterkarieren, sofern sich die Textur dem aus dem prophetischen Autorschaftsbild oder der anzitierten prophetischen Figur ergebenden prophetischen Paradigma entzieht oder sich das prophetische Autorschaftsbild von prophetischen Texturen emanzipiert. So werden aus den scheinbar anachronistisch-prophetischen Autorpoetiken oder Künstlerprofi len einerseits modernste Schreibstrategien abgeleitet – wie Körperpoetiken, automatisches Schreiben, unreine Reinheits-Poetiken, Bilderfluten im Reihungsstil, das Lautgedicht u.a. –, andererseits lassen sich prophetische Gegengewichte verzeichnen, die Vorstellungen prophetischer Unmittelbarkeitstopoi kanalisieren und in altbekannte Formen wie etwa das Sonett einbetten. Thomas Manns scharfzüngige (Dichter-)Propheten-Porträts offenbaren die Anfälligkeit der sich als Propheten verstehenden Künstler um die Jahrhundertwende für parodistische Repliken.3 Ex negativo geben sie aber auch Impulse für die produktive Modifi kation einer ›verkünstelten‹ Prophetie, die eine ironisch-prophetische Kunstauffassung freisetzt. Seine parodistischen Propheten-Modelle – am deutlichsten in »Beim Propheten«4 festgehalten – werfen ein erhellendes Licht auf die Rolle von sakralisierten »Gegenorte[n]«5 und aus seriellen Photographien/Abbildern bestehenden Ahnengalerien, die mit dem Ziel eingesetzt sind, den Propheten als neuen Heilsbringer zu charismatisieren und ihm eine außeralltägliche Aura zu verleihen: Denn neben ihrer terroristenähnlichen Radikalität6 und ihren kompromisslos übersteigerten Untergangsvisionen zeichnen sich diese sonderbaren und komischen Propheten u.a. durch die Vermarktung reproduzierter Kopien von vorgängigen, scheinbar vorbildhaften Heroen mit prophetischem Machtanspruch – weltlicher, ästhetischer und geistlicher Natur – aus. Dadurch wird die Opposition zwischen einer prophetisch aufgeladenen, ästhetisierten Brandmarkung einer ›verunreinigten‹ Kunst oder des vergnüglichen Lebens einerseits und einer erotisch aufgeladenen Sinnen- oder Lebens-Kunst andererseits – vornehmlich in »Gladius Dei«7 und »Fiorenza«8 – ad

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Vgl. zu Thomas Mann das Kapitel IV.–IV.1.3. Vgl. Th. Mann, Beim Propheten. Vgl. das Kapitel IV.1.1. Vgl. wieder Foucault, Von anderen Räumen, S. 935f. Vgl. zum Komplex religiös motivierter Terrorismus: Hermann Lübbe, Heilserwartung und Terror. Politische Religionen des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1995. In diesem Band erörtert u.a. Helmuth Kiesel mit Blick auf Hermann Broch, Alfred Döblin und Günter Kunert, wie Literatur in die Gefahr gerät, »als Versuch einer fragwürdigen Religionsstiftung zu erscheinen« (H. Kiesel, Politische Religionen in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, S. 59–74, S. 67). Th. Mann, Gladius Dei. Vgl. das Kapitel IV.1.2. Th. Mann, Fiorenza. Vgl. das Kapitel IV.1.2.

absurdum geführt: Die scheinbar vergeistigen Propheten-Künstler (wie Hieronymus/ Savonarola) erweisen sich zuletzt als ›verhunzte‹ Kopien und billige Ware, und diese ist nurmehr ironisch goutierbar. Thomas Manns Erzählinstanzen avancieren über die parodistische Desavouierung der parodierten Künstler-Propheten selbst zu ironischen Propheten, die über das Ausmaß einer erzwungenen Zusammenführung von Kunst und Prophetie von Seiten ihrer Vorgänger, die letztlich den ästhetischen Mehrwert des Prophetischen zu verdrängen droht, richten. Wie sehr Parodien auf politisch aufgeladene Prophetien im uneindeutigen Medium der Literatur zu Zeiten von Hitlers Machtergreifung die Rezipienten mitunter irritieren, lässt sich am späten Thomas Mann studieren. Die Rezeptionsgeschichte der Mose-Figuration in »Das Gesetz«9 zeigt, dass das Porträt vom Künstler-Propheten als politischem Führertypus – auch in parodierter Form vorgestellt – teilweise nicht nur nicht gerne gesehen ist, sondern scharf verurteilt wird: Der parodierte, stigmatisierte und zugleich charismatisch ausgerichtete Mose als Hüter der Gebote will manch einem nicht zum bitteren Ernst der geschichtlichen Situation passen; die ironisch richtende Propheten-Instanz wird im Zuge dessen trotz Künstlerstatus zum Angeklagten, da sie als unfreiwillige Parodie ihrer eigenen Propheten-Parodie angesehen wird. Propheten-Figurationen mit mehrdeutigem politischem Sendungsbewusstsein und unübersehbarem Gewaltpotential sowie unbedingtem Herrschaftsanspruch wären demnach zeitbedingt sogar auf dem Feld der Kunst nicht einmal mehr ironisch salonfähig. Thomas Manns Kritik an den Künstler-Propheten seiner Zeit – wie Ludwig Derleth – und an ihren dekadenten Inszenierungstechniken einer heiligen Autorschaft ist indirekt auf Stefan George applizierbar, zumal dieser einen ähnlichen Heroenkult wie der Schwabinger ›Prophetenschreck‹ betreibt, wenn auch im Rahmen einer stärker unter einer ästhetischen Blickrichtung forcierten Prophetie-Rezeption. Georges Rollenspiel als Prophet, das ihm uneingeschränkt in Form von hetero-imagines attestiert wird, prägt nicht nur durchgängig – mit unterschiedlichen Akzentsetzungen – sein Autorschaftsbild, sondern korreliert auch mit seinen jeweiligen prophetischen Poetiken.10 Seine überbordende Ahnengalerie, sein Archiv an Dichter-Seher-Vorbildern (biblische Propheten, antike Seher, Nietzsche, Hölderlin u.a.) als Grundlage seiner hypertrophen Selbststilisierung zum Künstler-Propheten, die von einer facettenreichen »Einfluss-Angst«11 (Bloom) und einer typologischen Überbietungsgeste markiert ist und die mit Gundolf und Scheler ein teilweise affektives und wertsetzendes Vorbildverständnis einsetzt, befördert sowohl ein mediales Dichter-Propheten-Verständnis, wonach sich der Prophet als Diener der Sprache respektive der (autonomen) Worte entwirft, als auch eine spezifische Form der prophetischen Gerichtsrede mit rhetorischer Durchschlagskraft, die mit einer sperrigen Vorbilderwucherung und Sprachverklausulierung (v.a. in den späten Kriegsgedichten) einhergeht, bis das Ver-

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Th. Mann, Das Gesetz. Vgl. das Kapitel IV.1.3. Vgl. zu George die Kapitel IV.2.–IV.2.3. Bloom, Einfluss-Angst. Vgl. die Kapitel III.3.1. und IV.2.

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heißungsgeschehen derart ausgehöhlt ist, dass Georges Prophetie in einen klassischen Leerlauf zu münden scheint: Die Propheten-Instanz avanciert zur prophetischen ›Ruine‹, die scheinbar gleichermaßen skandalös dasteht – außer für die Eingeweihten. Die überzogene Propheten-Stilisierung mit Überbietungsanspruch gegenüber den prophetischen Vorgängern auf dem Feld der Ästhetik führt zur vorzeitigen Entleibung und Demontage des Propheten. Dabei löst sich die prophetische Instanz zuletzt selbst auf, was als spezifische Logik von Georges Prophetie-Poetik – von einer christusähnlichen Verleiblichung bis zur notwendigen Entleiblichung – hervorzuheben ist. Das Ästhetische und damit auch die Vorstellung vom medialen Propheten holen spätestens in Form des prophetischen Lieds beim späten George das rhetorisch aufgeladene Missionarisch-Prophetische wieder ein, wodurch eine Gegenbewegung zur bei George zuvor zu beobachtenden Prophetisierung der Ästhetik zu verzeichnen ist, die man ihm oftmals als zweifelhafte Politisierung und als ›Ende‹ seines Künstlertums zum Vorwurf macht. Indem seine Propheten-Instanzen zuletzt entpersonalisiert und formalisiert werden, ist indes der Versuch angezeigt, die prophetische Vision als Kunst charismatisch zu retten oder zumindest die Form zu wahren. Neben George scheint Rilke ein weniger polarisierendes, weil rein unpolitisches Dichter-Prophetentum zu kultivieren. Der gemeinhin als ausgewiesener poeta vates und Prophet etikettierte Rilke beruft sich nicht nur in seinen Selbstinszenierungen – vornehmlich im Medium Brief betrieben – auf typische Vorstellungen vom prophetischen Dichter, um sich selbst als ›heiligen‹ Autor zu profi lieren und seine ›Gemeinde‹ für sich zu gewinnen,12 sondern verhandelt auch in seinem Werk durchgängig die Nähe zwischen Künstlertum und Prophetie mit je unterschiedlichen Akzentuierungen.13 Hierbei lassen sich vielfache Transformationen des prophetischen Künstlertums ablesen, da auch seine Propheten-Figurationen an Poetiken des Prophetischen geknüpft und diese teilweise wiederum auf seinen Selbstentwurf als Prophet beziehbar sind. Es ist allerdings festzuhalten, dass die Darstellungen seiner Propheten-Figurationen in seiner aufwendigen Selbstinszenierung als mediales Element nicht durchgängig reibungslos aufgehen. Vielmehr ist erneut und entschieden herauszustellen, dass Rilke sich durch seine poetischen Texturen und strengen Formen gerade von einer unmittelbaren Umsetzung seiner Inspirationspoetik absetzt. Sein Rodin und Cézanne entlehntes Verständnis vom prophetischen Künstler inkludiert neben dem zentralen Aspekt des Propheten als Medium der Kunst auch ein Leistungsdenken, das den Propheten-Künstler als aktiven Former, Hand-Werker und Arbeiter auszeichnet. Die sich dabei herauskristallisierende Zusammenführung von ingenium und ars, die an das alte Konzept der sobria ebrietas erinnert, löst den scheinbaren Widerspruch zwischen prophetischen Unmittelbarkeitspoetiken einerseits und mittelbaren pro-

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Vgl. wieder zur soziologischen Perspektive auf Rilkes heilige Autorschaft: King, Pilger und Prophet, S. 115ff., vgl. meine Rezension: G. Wacker: Zum Mythos des heiligen Autors; vgl. die Ausführungen in Kapitel V.1. Vgl. zu Rilke insgesamt das V. Kapitel.

phetischen Formen andererseits dahingehend auf, dass der Künstler-Prophet auch einen Datentransfer zur Verkündung betreiben muss. Insofern sind Rilkes prophetische Figuren oftmals als prophetische ›Zufrühkommer‹ gekennzeichnet, deren visionäre Poetiken gerade einem Scheiterungs-, besser Begrenzungsprozess ausgesetzt sind. Sowohl Rilkes früher Apostel mit seiner aggressiven Kriegspoetik und seinem ›Evangelium‹ der Macht des Stärkeren in »Der Apostel«14 sowie dessen Gegenfigur, der Totengräber mit seiner schönen Naturpoetik in »Der Totengräber«15, sind Außenseiter, deren Ethiken und Poetiken als zu früh gekommene bezeichnet werden. Auch die von Rodin übernommene Idee einer unmittelbaren, prophetischen ›Gebärdensprache‹, die dem – deutlich von Cézanne inspirierten – medialen Propheten der mittleren Gedichte eignet, wird von einer prophetischen Handwerkermentalität überformt; der prophetische ›Übermensch‹ Josua – der nach dem Vorbild von Nietzsches Zarathustra die Gegenfigur zum medialen Propheten darstellt – wird auf ironische Weise wie der Apostel konterkariert. Gerade diese ironisch-parodistischen Einlagen und Einwände gegen die Radikalität der inspirativen Entgrenzung und gegen die Beschwörung der Erhabenheit der prophetischen Figur (als Redner wie als Richter), die leicht ins Komische zu kippen drohen, sind nicht zu marginalisieren. Bei Rilke ist vielmehr eine Domestizierung des Erhabenen im Schönen festzuhalten, die Figur des »Erhabenschönen«16 zu entdecken. Insbesondere Rilkes Malte, seine ›Jubelbriefe‹ und seine Sonette an Orpheus, die oftmals als Beleg für ein dezentriertes Autorschaftsbild oder eine mystische oder spiritistische Medialitätsvorstellung vom Künstler herangezogen werden,17 enthalten zudem Hinweise auf einen begrenzenden Zug mit Blick auf die zu früh kommenden Kunstvisionen, vornehmlich durch die teilweise deutlich artikulierte Notwendigkeit der »Gegengewichte im Bewußtsein«18 untermauert. Insofern kann man Rilkes Inspirationsrhetorik durchaus Glauben schenken; nur ist sie an die Seite seines erweiterten, prophetischen Kunstverständnisses zu stellen, welches eben auch die formale Verarbeitung der Inspiration als Teilmoment einer prophetischen Dichtung inkludiert. Rilke vergleichbar wird Trakls epistolare Dichter-Seher-Inszenierung, die zeitweise ein Changieren zwischen Entmachtung des Ichs und seiner Selbstvergewisserung im Medium der Kunst vorstellt sowie einen Zug zur Selbststigmatisierung und Charismatisierung enthält, von Freunden und Kollegen als charismatisch beglaubigt.19 Ebenso

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Rilke, Der Apostel. Vgl. das Kapitel V.3.1. Rilke, Der Totengräber. Vgl. das Kapitel V.3.2. Vgl. zu Herders Begriff des »Erhabenschönen«: R. Simon, Die Bildlichkeit des lyrischen Textes, S. 254. Vgl. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge; Rilke, Die Sonette an Orpheus; das Kapitel V.3.6.; die Besprechungen der Studien von Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik, Pytlik, Okkultismus und Moderne und Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne im Kapitel V.1. Vgl. Rilke, Brief an Nora Purtscher-Wydenbruck vom 11.08.1924. Vgl. zu Trakl das VI. Kapitel.

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produktiv wendet er seine prophetische Künstlerpoetik: Das Oppositionsmodell von Priester und Prophet aufgreifend, adaptiert Trakl früh Nietzsches Priester-Kritik, indem er die Priester aufgrund ihres dionysischen Ausmaßes als Amtsträger desavouiert und gleichzeitig den Propheten als Gegenspieler etabliert. Aus der prophetischen Wahrnehmungsweise von Bilderfluten und Gesichten lässt sich zunächst sein Reihungsstil herleiten; beim mittleren Trakl ist eine unreine Poetik des Reinen zu verzeichnen, wonach seine Propheten-Figurationen nicht nur das Konzept eines Ausdrucks als Klage und eine fragmentarische Leib-Poetik vorstellen, sondern ferner, gemäß einer von Novalis, Hölderlin, Nietzsche und Rimbaud inspirierten prophetischen Poetik deutungslos-deutungsvoller Zeichen, die unreine Reinheit der Sprache mit dem unrein-reinen Propheten korreliert ist. Hinter der zentralen ProphetenFiguration Elis verbirgt sich ein Grenzgänger par excellence, eine Figur der Grenze, die ein Verständnis vom Dichter als Vermittler zwischen zwei Welten, dem Sagbaren und dem Unsagbaren, reflexiv befördert. Genauer gesagt verkörpert Elis die Grundstruktur eines mystischen Textes, der »einerseits paradox-antithetisch, andererseits analogisch«20 angelegt ist, und überhöht diesen Idealfall mystisch paradoxen Bilddenkens zugleich durch die ihm eigene prophetische Komponente, fundiert durch die unrein-reine Struktur des Künstler-Propheten und seinen Status als deutungslos-bedeutungsschwangeres Zeichen. Ganz ähnlich wie bei Rilke ist Trakls ›Erbgut‹ durch eine Kreuzung von okkulten, mystischen und prophetischen Anleihen gekennzeichnet: Zwar ranken sich um die prophetische Denkfigur, ähnlich wie bei den anderen Künstler-Propheten, durchaus okkult-hermetische und mystische Anleihen, indes ist die Propheten-Figur eine übergreifende Vermittlungsfigur, auf die mystische oder okkulte Vorstellungen problemlos applizierbar sind und der dadurch eine Zentralstellung zu bescheinigen ist, da sie mehrere Stadien eines Prophetie-Dichtungsverständnisses vorzustellen vermag: Diese umfassen Momente von Realpräsenz und ›Depersonation‹, Reinheit und Unreinheit, Schönheit und Verfall, Ruhe und Bewegung, utopische Heilsvisionen und Klage, Klang(-alchemie) und Schweigen, die – mit Rilkes Worten – im »Auftönen und Hinklingen«21 zur Sprache gebracht werden. Eingebettet in eine von Nietzsche inspirierte Apokalypse der Prophetie, ist zuletzt eine Kunstvision des fragmentierten Dichter-Propheten und seines Fortlebens im Lied zu verzeichnen: Der schwindende Prophet verwandelt sich wie Orpheus geradezu in eine prophetische Stimme, die – obgleich abgelöst vom Körper – als unbestimmte Verweisstelle weiter besteht. Trakls prophetisches Archiv speist sich etwa im Gegensatz zu demjenigen Georges aus ebenso vielen Rekursen auf die Dichter-SeherTradition, ist indes nicht von einer ›Einflussangst‹ (Bloom), sondern einer spürbaren ›Einflusslust‹ geprägt, die mosaikartig die Derivate der Propheten-Seher-Tradition zusammenflickt und unter der Vorstellung einer notwendig fortschreitenden Verun-

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G.-A. Pogatschnigg, Sprache und Erfahrung. Versuch über Georg Trakl, Turin 1996, S. 98. Rilke in Briefen an den Herausgeber des »Brenner« vom Februar 1915, S. 11.

reinigung und der damit korrelierenden Sehnsucht nach der Reinheit des Propheten und seiner reinen und unverfälschten Sprache subsumiert. Ähnlich wie Rilke ergeht sich auch Franz Werfel in Beschwörungen von FremdDiktionen und verknüpft poetologische Überlegungen die Inspiration betreffend mit diversen literarisch ausgestalteten prophetischen Figuren, d.h., er betreibt ebenfalls eine Ästhetisierung der Prophetie, die bei ihm allerdings teilweise deutlich mit einer Prophetisierung der Ästhetik einhergeht.22 Der Wunsch nach einer Eigenregie der Worte wird bei ihm emphatisch erschrieben und wie bei Rilke in schöner, d.h. geordneter Form präsentiert. Die sich bei allen behandelten Autoren niederschlagende Ambivalenz des modernen Propheten-Dichters zwischen Medium und aktivem Subjekt, zwischen Macht der Sprache und Sprachmacht, entschärft Werfel dabei zuletzt durch einen prophetisch inspirierten Sprachwitz, der eine mystisch konnotierte Sprachkritik übersteigt. Eine Besonderheit der Werfel’schen Zusammenführung von Dichtung und Prophetie ist darin zu sehen, dass er explizit das persona-Konzept des Propheten stark macht und dadurch die teilweise therapeutische, teilweise allgemein persönlichkeitsstabilisierende Komponente der Entrückung sowie einer prophetischen Dichtung vorführt. Der Bezug des Propheten auf seinen Gott entledigt das ›Mundstück‹ nicht seiner Eigenständigkeit, führt nicht zur seiner Entmündigung, sondern begründet und stützt nachhaltig seine Autonomie und Willensfreiheit. Besonders Werfels Konzeption des »musische[n] Menschen«23 lenkt den Blick auf das Phänomen akustischer Epiphanien und akzentuiert das auditive Wahrnehmungsgefälle bezüglich der Vorgängigkeit der Stimme im Vergleich zum Wort, die allerdings in seinem Jeremia-Roman »Höret die Stimme«24 nur reflexiv ausgebreitet ist, ohne unmittelbar umgesetzt zu sein: Die Gottesbegegnung ist nur über den Weg der Vermittlung darstellbar. Dabei gilt ihm der »musische Mensch« als Gegenfigur zum politischen Aktionismus, dem er die Innerlichkeit und das Konzept einer spiritualen Gemeinschaft entgegenhält. So positioniert er sich auch auf dem Feld der zeitgenössischen Propheten-Rezeption, die u.a. in Zeitschriften wie Der Jude von Spezialisten geführt wird,25 als Vertreter des christlichen Anarchismus. Blickt man schließlich auf die nachfolgenden Autoren, wird man dieses prophetische Künstlerbild in der um die Jahrhundertwende virulenten Vielfalt so nicht mehr finden. Allerletzte Derivate des Inspirationsdiskurses finden sich noch im DrogenTrip-Diskurs, der u.a. von Baudelaire und Rimbaud angestoßen und bei Gottfried Benn fortgeführt wird, u.a. in seinem Gedicht »Cocain« (1917), das während des Ersten Weltkriegs entstand und den Entgrenzungsdiskurs an ein drogenstimuliertes

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Vgl. zu Werfel das Kapitel VII. Werfel, Realismus und Innerlichkeit, S. 32. Werfel, Höret die Stimme. Vgl. die Kapitel VII.3.–VII.3.4. Vgl. hierzu das Kapitel II.2.

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neues Sehen und Erleben rückbindet. In der letzten Strophe ist die Engrenzung des Ich eindringlich beschrieben:26 […] Zersprengtes Ich – o aufgetrunkene Schwäre – Verwehte Fieber – süß zerborstene Wehr –: Verströme, o verströme Du – gebäre Blutbäuchig das Entformte her.27

Des Weiteren ist der prophetische Ton in den literarischen Zeugnissen postmoderner Autoren auf den ersten Blick neuen Schreibweisen gewichen. Als markante Reaktion auf ein besonders in der messianischen Richtung des Expressionismus virulentes ›OMensch-Pathos‹ leitet insbesondere bereits das Gebot einer neuen Sachlichkeit einen Bruch mit der Interrelation von Dichtung und Prophetie ein. Indifferenz, Apathie und Reserviertheit statt prophetischem Pathos, sachliches Sagen statt hermetischer Prophezeiungen, Schriftsteller statt auratisch aufgedunsener Propheten-KünstlerPorträts sind im weitesten Sinne die Folgen eines ausufernden Propheten-Autorschafts-Booms um die Jahrhundertwende. Diesen Bruch beschreiben Autoren wie Erich Kästner, wenn sie sich der einmaligen Propheten-Dichter erinnern und zugleich erkennen, dass es keinen Weg zurück zu diesen geben kann.28 Gleichwohl sind auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vereinzelt Zeugnisse und kleinere Renaissancen des prophetischen Dichtungskonzepts oder heiligen Autorschaftsbilds zu beobachten. Ein Künstler, der noch die mediale Komponente, die Passivität und Objektivität des Erzählers herauskehrt und einen »poetische[n] Schöpfungsmythos«29 mit sprachmagischen Anklängen beschwört, den er von Cézannes Prinzip der réalisation herleitet,30 ist Peter Handke, der indes Cézannes prophetische Aura nicht mehr explizit adaptiert: Nicht der mediale Prophet – wie bei Novalis –31 oder eine inspirative Einwirkung,32 sondern eine profane Müdigkeit fundiert bei ihm die Eigenregie der sich selbst erzählenden Vorgänge: Jene Müdigkeit machte, daß die tausend unzusammenhängenden Abläufe kreuz und quer vor mir sich ordneten über die Form hinaus zu einer Folge; jeder ging in mich ein als der genau da hinpassende Teil einer – wunderbar feingliedrigen, leichtgefügten – Erzählung;

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Vgl. dazu Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 120f. G. Benn, Cocain. In: Benn, Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Vier  Bde. Textkritisch durchgesehen von Bruno Hillebrand, Bd. 1: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung, hg. von Bruno Hillebrand, Frankfurt am Main 1988, S. 108. Vgl. Kästner, Rainer Maria Rilke, S. 52f. Vgl. das Kapitel V.1. und die Nachrufe auf Rilke. Vgl. Egyptien, Peter Handke und das Heilige. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Bd. 3: Um 2000, hg. von Wolfgang Braungart u. Manfred Koch, Paderborn; München u.a. 2000, S. 145–158, S. 152. Vgl. zu Cézannes Einfluss auf Rilke und Handke ausführlich: M. Kurz, Bild-Verdichtungen. Vgl. nochmals: Novalis, Monolog, S. 522. Vgl. nochmals: Rilke, Briefe über Cézanne (Paris 21. Oktober 1907), S. 37.

und zwar erzählten die Vorgänge sich selbst, ohne Vermittlung über die Wörter. Dank meiner Müdigkeit wurde die Welt ihre Namen los und groß.33

Diese Gelassenheit den Dingen gegenüber impliziert ein unparteiisches »GeltenLassen der Dinge«34, welches sich allerdings einem religiös konnotierten Bild vom Schriftsteller als »Niemand«35 verdankt. Handke beschreibt in Am Felsfenster morgens36 genauer »den Prozeß des Objektivwerdens des Erzählens als das Hervortreten des ›Gott[es] des Erzählens‹«37. Den ambivalenten Demuts- und Hybrisbekundungen der Propheten-Dichter vergleichbar changiert Handke zwischen dem Postulat eines objektiven, verschwindenden Autors und der »Rolle des Gesetzgebers« mit der »Hybris gottgleicher Schöpfungsmacht«.38 Des Weiteren stellen Wolfgang Koeppen (Die Mauer schwankt (1935), Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus (1953)) und Günter Grass (Die Rättin (1986)) die Figur des Unheilsboten, die Warner-Figur (poeta monens) unter Rekurs auf antike Inspirationstopoi und Motive der Apokalypse heraus.39 Beide Autoren setzen zudem die vergebliche Warnerin als Identifi kationsfigur ein, indem sie v.a. in Interviews, Gesprächen und Reden Unheilsbotschaften verkünden, die in ihren Werken von Unheilsvisionen begleitet werden und die vom »kassandrahafte[n] Moment der Vergeblichkeit des Warnens«40 geprägt sind.41 Bezeichnend ist für sie »eine Wende vom Utopie-Denken zum – kupierten – Apokalypse-Denken«42. Bemerkenswert ist, dass sich das Prophetische nicht mehr nur vornehmlich auf dem Feld der erhabenen Ausdrucksform, der Lyrik, artikulieren zu lassen scheint, sondern auch zunehmend in Prosaform. Während der göttliche Ursprung im Zuge der Säkularisierung entfällt, bleibt dennoch der Bezug zur Gesellschaft, der »Kommunikationscharakter prophetischer Rede«43 prinzipiell bestehen, auch wenn das Verständnis für die Worte der Propheten und der Seherin fehlt. Darüber hinaus wird insbesondere der Prophet Jona in der modernen Literatur gerne ausgestaltet, z.B. bei Elias Canetti (»Jonas«), Günter Eich (»Jonas«), Günter Kunert (»Jonah«), Peter Hacks ( Jona) oder Albert Camus (»Jonas oder Der Künstler bei der Arbeit«).44 Exemplarisch erwähnenswert ist Uwe Johnsons 1957 entstandene

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Handke, Versuch über die Müdigkeit, zitiert nach Egyptien, Peter Handke und das Heilige, S. 153. Egyptien, Peter Handke und das Heilige, S. 152. Egyptien, Peter Handke und das Heilige, S. 154. Peter Handke: Am Felsenfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987), Salzburg 1998. Egyptien, Peter Handke und das Heilige, S. 154. Egyptien, Peter Handke und das Heilige, S. 157. Vgl. dazu: Anastasia Manola, Der Dichter-Seher als Dichter-Warner. Wandel eines mythischen Modells bei Koeppen, Wolf und Grass, Würzburg 2010. Manola, Der Dichter-Seher als Dichter-Warner, S. 119, vgl. S. 515. Vgl. Manola, Der Dichter-Seher als Dichter-Warner, S. 97 u. S. 515. Manola, Der Dichter-Seher als Dichter-Warner, S. 119. Manola, Der Dichter-Seher als Dichter-Warner, S. 117. Viele Texte finden sich in der Anthologie von Simone Frieling (Hg.), Der rebellische Pro-

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Erzählung »Jonas zum Beispiel«45, die den kleinen Propheten Jonas als gesellschaftskritischen Marxisten inmitten des modernen Kapitalismus in Ninive ins Zentrum stellt, der auch als Spiegelfigur für den linken Intellektuellen dient.46 Dass Jona als fliehender Prophet und als starrsinniger Richter bereits in der Bibel als Karikatur eines Propheten angelegt sei, was von Johnson durch die Ironisierung von Gott und Jonas noch verstärkt werde, betont Bertram Salzmann.47 Hervorzuheben ist darüber hinaus, dass Jonas Prophetenstatus angesichts der Barmherzigkeit Gottes gegenüber Ninive obsolet wird. Die daraus entstehende »Leere in Jonas Leben« wiederholt der Erzähler, indem er zum Schluss nur mehr rhetorische Fragen stellt, nachdem er den Horizont der Gnade aus der biblischen Jonas-Geschichte unerwähnt lässt.48 Die Leere des Propheten hinterlässt so seine Leerstellen in der Erzählung und umgekehrt. Nach Salzmann ist die Geschichte zudem eine Folie für die Selbstbezüglichkeit Johnsons, wonach dieser die Stelle des biblischen Jehovas einnimmt, so dass die Offenheit des Textes letztlich mit der Undeutbarkeit des Willens bzw. der Botschaft Gottes alias des Autors korrespondiert.49 Das moderne Autorschaftsverständnis definiert sich so erneut über die Auseinandersetzung mit prophetischen Gestalten. Besondere Aufmerksamkeit verdient ferner Christa Wolfs Erzählung Kassandra (1983), da die feministische Züge tragende weibliche Seher-Figur und Unglücks-Prophetin Kassandra nicht nur erkennen lässt, wie sehr das Sehertum als Spiegel von innergesellschaftlichen Prozessen und deren Kritik fungiert, zugleich als »Entwurf einer weiblichen Geschichte«50, sondern auch als exemplarischer Beleg dafür dienen

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phet: Jona in der modernen Literatur, Göttingen 1999. Vgl. die Aufsatzsammlung: Johann Anselm Steiger, Wilhelm Kühlmann (Hg.), Der problematische Prophet. Die biblische Jona-Figur in Exegese, Theologie, Literatur und Bildender Kunst, Berlin; Boston 2011. Vgl. E. Drewermann, Und der Fisch spie Jona an Land. Das Buch Jona tiefenpsychologisch gedeutet, Düsseldorf; Zürich 20032. Uwe Johnson, Jonas zum Beispiel. In: Johnson: Karsch und andere Prosa, Frankfurt am Main 1964, S. 82–84. Vgl. Norbert Mecklenburg, Vorschläge für Johnson-Leser der neunziger Jahre. In: Raimund Fellinger (Hg.): Über Uwe Johnson, Frankfurt am Main 1992, S. 141–152, S. 148. Als Parabel des Glaubensverlusts interpretiert Klaus-Peter Philippi die Erzählung (K.-P. Philippi, Parabolisches Erzählen, Anmerkungen zu Form und möglicher Geschichte. In: DVjs, 43 (1969), S. 297–332, S. 328f.). B. Salzmann, Jonas, Johnson und Jehova. Uwe Johnsons produktive Bibelrezeption in »Jonas zum Beispiel«. In: Johnson-Jahrbuch, hg. von Michael Hofmann, 13. Jg., 2006, S. 139–150 zitiert nach http://www.theologie-und-literatur.de/fileadmin/user_upload/Theologie_und_ Literatur/Salzmann_JohnsonJonas.pdf., S. 7f. Miriam Reinhard, Uwe Johnsons »Jonas zum Beispiel«. Ein Beispiel für das Verhältnis von Beispiel, Lektüre und Sinn. In: Der problematische Prophet. Die biblische Jona-Figur in Exegese, Theologie, Literatur und Bildender Kunst, hg. von Johann Anselm Steiger u. Wilhelm Kühlmann, Berlin; Boston 2011, S. 335–345, S. 343. Vgl. ähnlich B. Salzmann, Jonas, Johnson und Jehova (zitiert nach http://www.theologie-undliteratur.de/fileadmin/user_upload/Theologie_und_Literatur/Salzmann_JohnsonJonas.pdf.), S. 12. S.  Liermann, Dichter als Propheten. Religiöse Topoi in Christa Wolfs »Kassandra« und

kann, wie Wolf wiederum »ihre Literatur durch den historischen Bezug zum Mythos auf[wertet]«51.52 Die Verknüpfung von Autobiographik und Prophetentum ist gemäß Susanne Liermann das Novum dieser prophetischen und mit visionärer Perspektive versehenen DDR-Literatur, die eine »Reduktion des Religiösen«53 durch eine Aufwertung des Autors ausgleiche. So werden letztlich erneut Autoren durch Rückgriffe auf Seher- und Propheten-Figuren kompensatorisch nobilitiert und zwar mit dem Ziel, einem »offiziellen Bedeutungsverlust«54 entgegenzutreten und die Verschmelzung von Literatur und Gesellschaft zu legitimieren.55 Paradoxerweise kann die prophetische Kritik an totalitären Systemen als »Legitimationsstrategie«56 dabei in Darstellungen neuer absoluter Instanzen münden, die letztlich wieder einen sich selbst demontierenden Charakter der Politisierung von Prophetie vorführen. Erneut ist eine Verknüpfung von »Hypertrophie und Tragik«57 erkennbar, geradezu eine sich selbst reproduzierende Tragik. In Franz Fühmanns Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht (1982) wird Georg Trakl als Prophet erinnert58 und ähnlich wie bei Wolfs Kassandra wird auch hier die Dichtung »aufs engste mit der Biographie des Autors verknüpft«: »So wie der prophetisch verstandene Trakl als ein gesellschaftlich Geächteter verstanden wird, gerät nun jede Dichtung zur Opposition.«59 Dass im Zuge einer »Aufwertung des Abgewerteten«, um »Verfemte« zu »heroische[n] Subjekten« umdeuten zu können,60 Leidensgeschichten (Kriegsteilnahme, Inzest u.a.) widersprüchlich positiviert werden, kommt dabei – den Dichter-Propheten-Stilisierungen der Jahrhundertwende mit ihren charismatischen Stigmata vergleichbar – noch einmal zum Vorschein. Ein möglicher Grund für ein Auslaufen des prophetischen Kunstverständnisses – teilweise durch die Dichter-Propheten selbst initiiert – könnte demnach tatsächlich in der Gefahr einer ideologischen Politisierung der Propheten-Figur liegen. Neben den bereits angeführten DDR-Autoren weist auch Bertolt Brecht einen spezifisch politisierenden Weg aus der Dichter-Propheten-Rezeption, indem er die Propheten einerseits

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Franz Fühmanns »Vor Feuerschlünden«. In: Kirchliche Zeitgeschichte, 20, 2007, S. 336– 354, S. 342. S. Liermann, Dichter als Propheten, S. 344. Kassandra ist zudem als Frau eher dem Bereich der Mantik zuzuordnen und im ekstatischen Zustand wird eine spezifisch mantische Rede durch sie laut (vgl. Manola, Der Dichter-Seher als Dichter-Warner, S. 91, S. 93). Vgl. speziell zum Themenfeld Mantik und Dichtung: Philipp Theisohn, Die kommende Dichtung. Geschichte des literarischen Orakels 1450–2050, München 2012. S. Liermann, Dichter als Propheten, S. 346. S. Liermann, Dichter als Propheten, S. 347. Vgl. S. Liermann, Dichter als Propheten, S. 348. S. Liermann, Dichter als Propheten, S. 352. S. Liermann, Dichter als Propheten, S. 352. Vgl. Fühmann, Vor Feuerschlünden: Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht, Rostock 1982. S. Liermann, Dichter als Propheten, S. 339. S. Liermann, Dichter als Propheten, S. 340.

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entmythologisiert, andererseits unter marxistisch politisierenden Vorzeichen pragmatisiert. In seinem im Exil verfassten Gedicht »An die Nachgeborenen« (1939), seinem ›Testament‹, wird entgegen den vorherrschend »finsteren Zeiten«61 eine prophetische Vision einer besseren Zukunft mit neuen ethischen Maßstäben entworfen: III Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut In der wir untergegangen sind Gedenkt Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht Auch der fi nsteren Zeit Der ihr entronnen seid. […] Ihr aber, wenn es so weit sein wird  Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist  Gedenkt unsrer  Mit Nachsicht.62 

Einen transzendenten Bezug des prophetischen Sprechers gibt es in dieser marxistischen Elegie nicht mehr; der Wirkungsradius des Propheten ist eingeschränkt (»Die Sprache verriet mich dem Schlächter. / Ich vermochte nur wenig«63) und radikal bezogen auf den Endzweck der politischen Aktion; die Figur changiert zwischen Heteronomie (im Dienst der Klassengesellschaft bzw. unter dem Zwang politischer Verhältnisse stehend) und Autonomie (»Selbstberufung zum Instrument des politischen Kampfes«64). Wie bei Mose wird anhand der Propheten-Instanz das »Dilemma von objektiver eschatologischer Zielgewißheit und subjektivem Ausschluß von diesem lieto fine der Geschichte«65 ausgestaltet. Typischerweise ist die Vision vom helfenden Menschen wiederum Produkt einer Reinigung der Menschheit, wie es die Metaphorik von der »Flut«66, gemeint ist die Sintflut,67 als – für Brecht ungewöhnlich – Ausdruck des Erhabenen anzeigt. Das Beispiel Thomas Mann zeigt bereits, dass in Zeiten politischer Wirren eine Überprophetisierung der Kunst, sei sie auch als Parodie gedacht, dazu führen kann, als unfreiwillige Parodie auf die parodierte Propheten-Figur wahrgenommen zu werden. Der von Thomas Mann ins Zentrum seiner Erzählung »Das Gesetz« gestellte

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B. Brecht, An die Nachgeborenen. In: Brecht, Gesammelte Werke, hg. von Elisabeth Hauptmann, Bd. 9: Gedichte 2, Frankfurt am Main 1967, S. 722–725, S. 722. Brecht, An die Nachgeborenen, S. 724f. Brecht, An die Nachgeborenen, S. 724. Frick, Poeta vates, S. 149. Frick, Poeta vates, S. 150. Brecht, An die Nachgeborenen, S. 724. Vgl. Frick, Poeta vates, S. 150.

Prophet Mose wird auch heute kritisch diskutiert: Der Religions- und Kulturwissenschaft ler Jan Assmann entfacht provokativ eine anhaltende Diskussion hinsichtlich des Zusammenhangs von monotheistischer Religion und ihrem Gewaltpotential, indem er die »mosaische Unterscheidung« als Katalysator für die Gewalt in der Geschichte der Religionen analysiert, womit er die prophetische Mose-Gestalt wieder ins Zentrum neueren Forschungsinteresses stellt.68 Fidus (d.i. Hugo Höppener), der bekannteste Maler der Lebensreform, ist ein unzweifelhaftes Beispiel für einen Künstler, der der Politisierung der Seher-Figur deutlich zugearbeitet hat: Sein »Lichtgebet« (1910) war nicht nur »im Besitz des Führers, der ihm 1943 den Titel eines Prof. h.c. verlieh«69, sondern dieser wurde von Fidus selbst porträtiert: Dieses Hitlerporträt (1941) »präsentiert den ›Führer‹ als prophetischen Seher« und stellt geradezu eine »unfreiwillige Karikatur« dar.70 Wie Hitler sich wiederum als falscher Prophet der Ausdrucksformen prophetischer Rede bedient71 und sich Charisma aneignet, beschreibt Christian Soboth detailliert.72 Verlässt man das Feld der Kunst, ist die Wiederkehr des politisch aufgeladenen Propheten mit all seinen janusköpfigen Strategien im Einsatz für die Welterneuerung und Weltzerstörung, Kulturstabilisierungs- und Destabilisierungsressourcen auch heute wieder aktuell: ›Falsche Propheten‹ ziehen aus, um Andersgläubige zur Konservierung der Vormachtstellung ihres Identitätsverständnisses und ihrer jeweiligen Kultur im weitesten Sinne zu richten und zu vernichten – und dies angespornt vom Glauben an eine Belohnung im Jenseits.73 ›Falsche Propheten‹, die dem Eigennutz frönen und bemüht sind, ihre eigene (politische) Ideologie mittels Rekurs auf die außer Frage stehende moralische Integrität der Prophetie zu bemänteln, zeigen

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Assmann, Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 2006. Vgl. zur Kontroverse: Peter Walter (Hg.), Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieine Gott, Freiburg im Breisgau 2005. Vgl. zum aktuellen Interesse an der Gestalt des Propheten Mose: Barbara Leicht (Hg.), Welt und Umwelt der Bibel (WUB): Mose, H. 3, Nr. 41, 2006. Vgl. E. Otto (Hg.), Mose. Ägypten und das Alte Testament, Stuttgart 2000; Assmann, Moses der Ägypter. W. Braungart, »die schönheit die schönheit die schönheit«, S. 48. W. Braungart, »die schönheit die schönheit die schönheit«, S. 49. Vgl. zu Hitlers Rückgriff auf prophetische Redeformen: Dietrich, Art. Prophetenrede, Sp. 304. Vgl. C. Soboth, Hitler. Inszenierung eines Charismas. In: Inszeniertes Charisma. Medien und Persönlichkeit, hg. von Jürg Häusermann, Tübingen 2001, S. 129–153. In Mein Kampf stellt Hitler sein Leben als schicksalhaft dar; er betrachtet sich als Stigmatisierter, aber auch als Charismatiker, der im »Auftrag der Vorsehung« wirkt und sich dabei von einer »innere[n] Stimme« leiten lässt (Soboth, Hitler, S. 133), um sein Vaterland zu retten und vom Feindbild der Juden zu reinigen (vgl. Soboth, Hitler, S. 134). Seine Rhetorik ist von der Sprache der Bibel geprägt (vgl. Soboth, Hitler, S. 137). Auch seine ›Bilderpolitik‹ lebt von seiner charismatischen Erscheinung als ›Lichtquelle‹ (vgl. Soboth, Hitler, S. 145). Vgl. zur Rezeption: E. Horn: Arbeit am Charisma – Macht und Affekt in Joachim Fests und Ian Kershaws HitlerBiographien. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Zeitgeschichte 2010, S. 47–62. Vgl. Matthias Schreiber, Was vom Menschen bleibt. Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele. In: Der Spiegel, Nr. 15, 2007, S. 120–135.

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auf, wie sich die Form des prophetischen Musters für andere, oftmals allzu menschliche Zwecke instrumentalisieren lässt. Mit Blick auf die aktuelle Debatte über die persistence of religion ist eine warnende Haltung gegenüber den eine neue Konjunktur erlebenden bewaffneten ›falschen Propheten‹ zu verzeichnen. Walter Kardinal Kasper etwa wehrt sich im Gespräch mit Peter Sloterdijk gegen eine von Seiten des Philosophen beschworene Kultur-Fortentwicklungsstrategie unter Bezugnahme auf das thymotische Potential auserwählter Leitfiguren nichtwestlicher Kulturen und mahnt dazu, »Deformationen von Religiosität« selbst einer »prophetischen Kritik« zu unterziehen,74 d.h., letztlich ›falsche Propheten‹ auszumustern – was allerdings bereits Hindernisse hinsichtlich der Fassbarkeit des Chamäleons Prophet anzeigt: Die Schwierigkeit der ›Unterscheidung der Geister‹ bleibt virulent.75 Schneiders Studie Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft beschreibt den Attentäter jedenfalls als Grenzgänger, der von einem wahnhaften Irrglauben getrieben ist,76 und kommt zu dem naheliegenden Schluss, dass die Deutungen von Propheten generell so zu goutieren seien, als habe man es mit »hochexplosiven Stoffen«77 zu tun. Das Beispiel Bin Ladens zeigte unlängst, wie im Umfeld des Terrorismus der agitatorische ›Führer‹ sich selbst prophetische Züge zuschreibt und diese nicht nur von seinen Anhängern attestiert bekommt. Er gilt als Initiator des sogenannten ›Heiligen Kriegs‹, welcher mit militanten Gotteskriegern geführt wird. Bei seiner ProphetenInszenierung bedient er sich eines gut kalkulierten demagogischen Schemas. Er geht nämlich nicht im Bild des »archaischen Finsterling[s]« oder des »Wiedergänger[s] des Mittelalters« auf, sondern nutzt die »Spielregeln der modernen Gesellschaft und ihrer Medienindustrie«:78 So schmückt er sich in seinen Videobotschaften mit »allen Insignien der Gegenmoderne«, tritt auf als »Prophet und Inhaber der Weltweisheit«, zelebriert »in seiner locker sitzenden Tunika Sanftmut und Güte« mit sonorer Stimme und vornehmem Hocharabisch, wodurch er »Demut und Bescheidenheit« prätendiert und mit seiner »kalkulierte[n] Anmut« ein Gegenbild zum »waffenstarrenden Westen« errichtet.79 Mittels religiösen Vokabulars betreibt er eine Umwertung der Werte: Der Wert der »liberale[n] Freiheit« wird zur »gottlose[n] Dekadenz« und die Demokratie zur Tyrannei erklärt.80 Das Wechselspiel von Demut und Selbstermächtigung, die Umwertung der Werte, das Errichten von Gegenbildern, der absolute Wahrheitsanspruch, sein Heilsversprechen in einer desorientierten Zeit sind typische

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Jan Ross, »Religion ist nie cool«. Der Papstvertraute Walter Kardinal Kasper und der Philosoph Peter Sloterdijk im Streitgespräch. In: Die Zeit, Nr. 7, 08.02.2007. [http://www. zeit.de/2007/07/Glaube-Interview]. Vgl. hierzu 1. Kor 12, 10; 2. Kor 11, 13; Mt 7, 15. Vgl. Manfred Schneider, Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft, Berlin 2010, S. 7. M. Schneider, Das Attentat, S. 675. Thomas Assheuer, Al-Qaida-Terror. Einer von uns. In: Die Zeit, Nr. 19, 05.05.2011, [http:// www.zeit.de/2011/19/Osama-bin-Laden/komplettansicht], S. 1. Assheuer, Al-Qaida-Terror, S. 1. Assheuer, Al-Qaida-Terror, S. 1.

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Charakteristika von Propheten-Inszenierungen, die durchaus einen modernen Antimodernismus verraten: »Bin Laden inszenierte sich als Gegenfigur zur Moderne und spielte doch mit diabolischem Geschick auf der Klaviatur ihrer Wünsche und Selbstzweifel. Seine Verheißung hieß Ordnung statt Chaos, er versprach Heil statt Unsicherheit und Wahrheit statt Relativismus.«81 Seine ideologische Prägung, vermittelt von Muhammad Qutb, ist nicht nur durch den Koran fundiert, sondern seine Lehrer lasen auch die »schwarzen Schriftsteller und Philosophen des europäischen Bürgertums«: »Nietzsches Vernunftkritik« und Heideggers »Grabgesang auf die Moderne«.82 Nach seinem Ableben ist das Internet voll von Rückblicken, die Titel tragen wie »Nach dem Tod Osama Bin Ladens. Der Prophet des Hasses«83 oder »Der Prophet des Terrors – Geschichte einer mörderischen Karriere«, wie Spiegel-Online eine Spezial-Dokumentation überschreibt.84 Während Bin Laden als Prophet des Terrors rezipiert wird, avanciert hingegen sein Antipode, der charismatisch auftretende Barack Obama, in der Presse zum »gute[n] Prophet[en]«85. Auch in diesem Falle werden Propheten-Fehden über Wertsetzungen reguliert und Werte brauchen ein Gesicht, das sie verkörpert. Mit Blick auf die sozial- und gesellschaftskritische Komponente eines modernen Prophetentums ist nicht zuletzt der Einsatz prophetischer Formeln bei verschiedenen Friedensbewegungen zu erwähnen, nachweisbar etwa in den Friedensreden eines Martin Luther King.86 Berühmtheit unter den letzten Zeugnissen prophetischer Literatur allgemein erlangte zuletzt Khalil Gibrans Der Prophet, eine anmutige Sammlung von Lebensweisheiten zu Themen wie Liebe, Schmerz, Schönheit und Religion.87 Wie die allen Dichter-Propheten-Inszenierungen zugrunde liegende Problematik einer Differenzierung von ›wahren‹ und ›falschen‹ Propheten zu lösen ist, bleibt letztlich ein Geheimnis. Vermutlich erkennen sich die Propheten untereinander am besten.

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86 87

Assheuer, Al-Qaida-Terror, S. 1. Assheuer, Al-Qaida-Terror, S. 2. Markus Günther, Nach dem Tod Osama Bin Ladens. Der Prophet des Hasses. In: Augsburger Allgemeine, 02.05.2011. [http://www.augsburger-allgemeine.de/meinung/Kommentare/Der-Prophet-des-Hasses-id14937281.html]. Auch in diesem Artikel wird betont, dass Bin Laden das »Image des Revolutionärs und Volkstribuns mit dem weisen Lächeln eines alten Propheten verband« und ihm die Amerikaner möglicherweise zum »Märtyrerstatus« verholfen hätten (Günther, Nach dem Tod Osama Bin Ladens). http://www.spiegel.de/sptv/special/0,1518,287402,00.html.; vgl. zu diesem Themenkreis auch Udo Ulfkotte, Propheten des Terrors. Das geheime Netzwerk der Islamisten, München 2001. Bruce Darnell im Interview. »Barack Obama ist wie ein guter Prophet«. In: stern.de, 29.04.2009. [http://www.stern.de/lifestyle/leute/bruce-darnell-im-interview-barack-obamaist-wie-ein-guter-prophet-662330.html]. Vgl. Dietrich, Art. Prophetenrede, Sp. 304. Vgl. Khalil Gibran, Der Prophet. Aus dem Amerikanischen von Barbara Röhl, München; Zürich 2005.

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Personenregister

Verzeichnet sind die Namen der Verfasser von Quellentexten und die wichtigsten Namen von im Text behandelten Künstlern Adorno, Theodor W. 32, 110, 145, 146, 152, 166, 167, 386, 487, 495 Altenberg, Peter 205 Andreas-Salomé, Lou 51, 188, 195, 196, 204, 218, 237, 238, 239, 248, 495 Aristoteles 33, 354, 356, 487 Auerbach, Elias 40, 44, 45, 415, 496 Bachofen, Johann Jakob 461, 487 Ball, Hugo 1–22, 53, 301, 394, 441, 487 Balzac, Honoré de 219, 225 Barthes, Roland 77, 496 Baudelaire, Charles 7, 17, 74, 141, 147, 234, 257, 258, 293, 296, 321, 392, 393, 394, 404, 405, 477, 487 Becher, Johannes R. 270 Beer-Hofmann, Richard 174, 180, 487 Benjamin, Walter 73, 116, 127, 152, 268f., 369, 496 Benn, Gottfried 2, 20, 37, 142, 144, 172, 174, 255, 260, 321, 392, 477, 478, 487 Bernard, Émile 224 Besant, Annie 447 Beyer, Martin 487 Blake, William 27 Blavatsky, Helena P. 447, 451f., 457, 497 Bloch, Ernst 7, 48 Bloom, Harold 20, 53, 89ff., 108, 160, 315, 473, 476, 497 Blumenberg, Hans 17, 497, 499 Blumenthal-Weiss, Ilse 196 Boehringer, Robert 142, 488, 497 Bonaventura 239 Bonnard, Pierre 11 Borchardt, Rudolf 144f., 152, 489 Bourdieu, Pierre 79, 80, 190, 271, 296, 498, 506

Brecht, Bertold 18, 481f., 487 Bremont, Henri 393 Breysig, Kurt 151, 499 Broch, Hermann 472 Brod, Max 39, 422, 464, 465, 487 Buber, Martin 9, 39, 44, 46, 123, 180, 185, 201, 414, 422, 442, 443, 453, 455, 456, 460, 487 Bultmann, Rudolf 231 Camus, Albert 479 Canetti, Elias 479 Caspari, Hedwig 417, 436f., 487 Cézanne, Paul 13, 14, 192, 218, 223ff., 226, 234, 235, 236, 474, 475, 478 Chassé, Charles 13 Claudel, Paul 74, 394, 500 Cohen, Hermann 40, 41, 500 Curtius, Ernst Robert 394, 500 Dante, Alighieri 91, 98, 104, 147, 155, 156, 161, 169, 170, 172, 219, 258, 388, 488 Däubler, Theodor 9f., 106, 256, 294, 419, 488 Dehmel, Richard 9, 106 Demeny, Paul 12, 67ff., 293, 392, 395 Denis, Maurice 11, 13 Derleth, Ludwig 137, 138, 141, 142, 154, 156, 157, 158, 159, 161, 173, 204, 473, 488 Derrida, Jacques 397, 500 Diefenbach, Karl Wilhelm 203 Döblin, Alfred 37, 274, 275, 279, 301, 343, 439f., 445, 472, 488 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 293, 395, 463 Drewermann, Eugen 30, 46, 480, 501 Du Prel, Carl 185, 242, 243, 279 Duhm, Bernhard 40, 97, 450, 415

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Echnaton 49 Eich, Günter 479 Einstein, Carl 445, 488 Eliade, Mircea 328f., 501 Eliot, Thomas Stearns 300, 488 Ficker, Ludwig von 256, 262, 271, 282, 283, 284, 289, 290, 291, 292, 339, 376, 382, 283, 413, 502 Fidus 22, 483 [Hugo Höppener] Fontane, Theodor 112 Foucault, Michel 36f., 77, 114, 119, 472, 502 Freud, Sigmund 22, 136, 266, 319, 502 Friedell, Egon 205, 503 Frisch, Efraim 40 Fühmann, Franz 481, 488 Gadamer, Hans-Georg 28, 163 Gauguin, Paul 7, 12 Geibel, Emanuel 27, 346 George, Stefan 9, 10, 11, 18, 19, 20, 21, 27, 28, 35, 38, 45, 49, 53, 56, 58, 64, 75, 76, 78, 83, 88, 89, 90, 91, 92, 97, 99, 100, 101, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 114, 116, 119, 120, 124, 137, 139–177, 178, 179, 180, 183, 189, 197, 218, 258, 270f., 286, 292, 319, 330, 337, 338, 367, 391, 393, 403, 405, 421, 422, 430, 431, 439, 440, 453, 457, 471, 473, 474, 476, 488 Gibran, Khalil 485, 488 Gide, André 74 Goethe, Johann Wolfgang von 17, 24f., 91, 98, 99, 100, 106, 155, 156, 163, 178, 198, 241, 250, 262, 354, 384, 385, 435f., 488 Goll, Yvan 73, 488 Grass, Günter 479 Greiffenberg, Catharina von 27 Gundolf, Friedrich 58, 96, 97–105, 118, 122, 143, 144, 145, 146, 147, 161, 162, 178, 179, 183, 230, 473, 504 Gunkel, Hermann 40, 504 Guyon du Chesnoy, Marie Jeanne 245 Hacks, Peter 479 Hamann, Johann Georg 154 Handke, Peter 478f., 488 Hartmann, Eduard von 447 Hasenclever, Walter 270 Hauptmann, Carl 417, 488 Hauptmann, Gerhart 53, 202f., 488

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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 27, 36, 357, 399, 488 Heidegger, Martin 7, 64, 176, 183, 184, 265, 311, 313, 315, 316, 318, 352, 388, 485, 504 Heinrich, Karl Borromaeus 271, 282, 289ff., 292ff., 334, 339, 340, 370, 412, 504 Hesiod 28, 49 Heym, Georg 56, 73, 125, 274, 321, 489 Hiller, Kurt 39f., 452, 463, 464 Hobbes, Thomas 5, 129, 204, 489 Hofmann, Ludwig von Hofmannsthal, Hugo von 49, 53, 64f., 106, 114f., 148, 149, 150ff., 210, 313, 314, 321, 373, 489 Hölderlin, Friedrich 18, 27, 28, 32, 89, 91, 94, 95f., 104, 155, 157, 161, 162, 163, 164, 170, 172, 181, 182, 183, 213, 250, 258, 262, 263, 267, 269, 271, 278, 281, 284, 287, 292, 293f., 304, 305, 306, 307, 309, 314, 315, 316, 318, 326, 332, 333, 334, 335, 337, 338, 340, 345–375, 378, 386, 388, 389 Hölscher, Gustav 40, 505 Holz, Arno 106f., 489 Homer 25, 27, 28, 351, 354, 358, 489 Horatius Flaccus, Quintus 28, 348 489 Horneffer, August 15, 489 Hugo, Victor 219 Izambard, Georges 12, 67ff., 293, 395, 441 Jacobsen, Jens Peter 193 James, William 447 Johnson, Uwe 479ff., 490 Jung, Carl Gustav 447 Kafka, Franz 291, 363, 422, 490 Kandinsky, Wassily, 2ff., 14f., 251, 317, 490 Kant, Immanuel 2, 5, 34, 36, 142, 352, 354ff., 490 Kassner, Rudolf 185 Kästner, Erich 179ff., 192, 478, 506 Kayser, Rudolf 40, 417, 436–439, 440, 490 Kellermann, Benzion 40ff., 507 Klages, Ludwig 7, 18, 99, 100, 110, 112, 113, 116, 127, 141, 258, Kleist, Heinrich von 240, 490 Klopstock, Friedrich Gottlob 27, 172, 302, 347, 350, 359, 490 Koeppen, Wolfgang 479 Kommerell, Max 143, 147, 508 Kracauer, Siegfried 47

Kraus, Karl 281, 327f. Kunert, Günter 472, 479 La Mettrie, Julien Offray de 2, 490 Lacombe, Georges 11 Landau, Ludwig 43, 509 Landauer, Gustav 48, 422, 457 Landmann, Edith 108, 146, 509 Langbehn, Julius 113, 114, 490 Lasker-Schüler, Else 37, 38, 78, 273, 291, 408, 409, 417, 436, 490 Lechter, Melchior 145 Lepsius, Rainer 170 Lepsius, Sabine 144 Lessing, Gotthold Ephraim 135 Lessing, Theodor 111 Levi, Eliphas 447 Levy, Emil 40, 509 Lichtenstein, Alfred 73, 301 Lipp, Wolfgang 76, 84f., 87, 88, 377, 383, 510 Longinus 33f., 208, 348, 490 Lukács, Georg 417, 421, 510 Mach, Ernst 2, 248, 301, 510 Maeterlinck, Maurice 185 Mahrholdt, Erwin 264f., 268ff., 286ff., 289, 292ff., 300, 306, 307, 339, 340, 364, 389, 510 Mallarmé, Stéphane 7, 12, 13, 90, 91, 141, 151, 218, 257, 258, 278, 315, 393f. Mann, Thomas 20, 21, 51f., 53, 74, 80, 106–138, 139, 142, 155, 157, 160, 170, 171, 204, 206, 208, 276, 281, 363, 384–388, 415, 416, 471, 472f., 482, 490f. Marinetti, Filippo Tommaso 73, 330 Maupassant, Guy de 284, 491 Michelangelo, Buonarroti 134, 216f., 225, 233, 237, 335 Miller, Henry 236 Mombert, Alfred 9, 106, 491 Montaigne, Michel de 27 Musil, Robert 113f., 180f., 491 Musset, Alfred de 72 Nadel, Arno 417, 491 Nadler, Josef 155 Natanson, Alexandre 12 Natanson, Alfred 12 Natanson, Thadée 12 Nietzsche, Friedrich 2, 4, 5, 7, 10, 16, 33, 36, 45, 49–67, 71, 72, 74, 87, 89, 93, 100, 112, 113,

115, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 137, 138f., 146, 151, 154, 155, 156, 157, 158f., 160, 161, 170, 173, 185, 188, 193, 194, 196, 198, 200, 201, 203, 204, 205, 207, 208, 210, 215, 227, 229, 262, 263, 264, 269, 271, 272, 276, 277, 278, 278, 279, 280, 281, 284, 285, 286, 289, 290, 293, 295, 296, 297, 298, 299, 302, 305, 306, 307, 316, 319, 321, 322, 323, 324, 326, 327, 329, 330, 331, 332, 335, 336, 337, 338, 341, 343, 344, 345, 346, 354, 360, 362, 363, 366, 367, 368, 369, 373, 384, 386, 388, 395, 399, 402, 403, 404, 405, 406, 410, 411f., 414, 416, 418, 419, 420, 457, 471, 473, 475, 476, 485, 491 Novalis [= Friedrich von Hardenberg] 180, 183, 224, 262, 271, 295, 300, 304, 305, 306ff., 316ff., 332, 333, 338, 342, 355, 361, 389, 396, 402, 403, 404, 414, 476, 478, 491 Otto, Rudolf 32, 34ff., 166, 513 Ovidius Naso, Publius 308, 491 Pannwitz, Rudolf 9, 10, 50, 51, 154, 491, 513 Paul, Jean 36, 155, 156 Pindar 161, 163, 172, 348, 349, 491 Platen, August von 112, 424 Platon 7, 9, 12, 24ff., 34, 36, 40, 41, 91, 93, 124, 128, 139, 144, 146, 154, 155, 157, 170, 221, 243, 284, 326, 354, 355, 357, 362, 363, 393, 400, 447, 491f. Pyra, Immanuel Jakob 27 Racine, Jean 72 Rad, Gerhard von 30, 46, 47, 514 Rahner, Karl 514 Ranson, Paul-Elie 11, 13 Reventlow, Franziska von 110, 111 Rilke, Rainer Maria 14, 19, 20, 21, 32, 35, 37f., 49, 53, 56, 66, 69, 76, 78, 106, 167, 178–255, 256ff., 261, 268, 270, 271, 272, 273, 274, 276, 278, 280, 281, 282, 286, 289, 291, 294, 301, 302, 328, 330, 334, 337, 373, 374, 399, 402, 413, 421, 431, 436, 439, 440, 441, 443, 469, 471, 474ff., 477, 478, 492f. Rimbaud, Arthur 12, 13, 49, 67–75, 89, 175, 257, 262, 269, 271, 292, 293, 294, 295, 300, 304, 305, 306, 307, 333, 334, 335, 345, 346, 349, 354, 360, 361, 375–377, 392, 394, 395, 402, 403, 404, 441, 471, 476, 477, 493

525

Röck, Karl 262, 263, 291, 292, 378, 514 Rodin, Auguste 14, 192, 216, 217, 218ff., 225, 226, 229, 233, 234, 235, 236, 239, 240, 474, 475 Rosenzweig, Franz 47 Roussel, Ker-Xavier 11 Rubiner, Ludwig 40, 270 Saint-Simon, Henri de 72f. Salin, Edgar 107, 108, 144, 515 Scheler, Max 11, 97–105, 109, 473, 515 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 311, 356, 357, 493 Schiller, Friedrich von 27, 116, 132, 250, 283, 354, 493 Schlegel, Friedrich 106, 320, 493 Scholem, Gerschom 45, 46, 516 Schuler, Alfred 9, 10, 18, 110, 122, 127, 141 Schuré, Edouard 12, 516 Seligmann, Rafael 41ff., 46, 517 Sérusier, Paul 11f. Shakespeare, William 98, 155, 156, 283 Shelley, Percy Bysshe 27 Simmel, Georg 3, 144, 151, 156, 222, 233, 276, 277, 301, 517 Simmel, Gertrud 151 Sokrates 25f., 101, 103, 220, 400 Sorge, Reinhard Johannes 417, 493 Spengler, Oswald 168 Stadler, Ernst 251, 365, 395, 493 Steiner, Rudolf 6, 12, 257, 447, 518 Szklenar, Hans 263, 379, 518 Tolstoi, Leo N. 293 Trakl, Georg 20, 32, 45, 53, 74, 76, 89, 104, 167, 171, 175, 182, 183, 232, 234, 250, 256–414, 421, 427, 431, 439, 441, 442, 443, 453, 471, 475f., 481, 493f. Toller, Ernst 270, 417

526

Troeltsch, Ernst 41, 42, 518 Vallentin, Berthold 96, 519 Vallotton, Félix 11 Van Gogh, Vincent 223, 224 Van Hoddis, Jakob 73, 301, 303 Verhaeren, Emile 194 Verkade, Jan 13f. Verlaine, Paul 74, 141, 293, 314 Verwey, Albert 137 Vischer, Friedrich Theodor 36 Vuillard, Édouard 11f. Wagner, Richard 50, 78, 132, 194, 324, 520 Weber, Marianne 120, 139, 140, 142, 152, 159, 520 Weber, Max 17, 81f., 88, 120, 121, 139, 140, 141, 142, 144, 155, 159, 170, 185, 296, 520 Weininger, Otto 288 Werfel, Franz 20, 21, 166, 167, 180, 181ff., 192, 415–470, 471, 477, 494 Whitman, Walt 27, 422 Wieland, Christoph Martin 27, 106 Wiener, Meïr 43f., 494, 520 Wildberg, Bodo 205 Wilde, Oscar 283f., 494 Wittgenstein, Ludwig 256, 398, 494 Wolf, Christa 480f. Wolf, Friedrich 417, 494 Wolfenstein, Alfred 40 Wolfskehl, Karl 10, 110, 112, 141, 159, 457, 494 Worringer, Wilhelm 7 Young, Edward 36 Zinsendorf, Nikolaus Ludwig von 154 Zweig, Arnold 439, 521 Zweig, Stefan 180ff., 192, 417, 494