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German Pages [217] Year 2018
Richard Schaeffler
Phänomenologie der Religion Grundzüge ihrer Fragestellungen
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495813287
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Richard Schaeffler Phänomenologie der Religion
VERLAG KARL ALBER
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Richard Schaeffler
Phänomenologie der Religion Grundzüge ihrer Fragestellungen
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Richard Schaeffler The Phenomenology of Religion Ways of Questioning After a critical review of methodological approaches applied to philosophy of religion, the author selected the method of religious phenomenology (Chapter 1). The way in which religion depicts itself can be interpreted with regard to the special structure of a religious act and its relation to the intended objects of these acts. The clearest expression of the characteristics of religious acts is religious language (Chapter 2). The structures that find expression here can also be found in religious actions, especially in that of the cult (Chapter 3). Particular forms of religious views, thinking, and action are not simply something innate but are learned and cultivated in religious communities (Chapter 4). In the realities to which religious acts refer and which are only found in originary form in these acts, God or Gods have a prominent significance. The way in which God or Gods become the subject of worship and also of philosophical reasoning reveals the peculiarity of the specific religious determination of relations between religious acts and religious subjects; also and especially in distinction to profane philosophical concepts (Chapter 5).
The author: Richard Schaffler, DPhil, Dr.h.c. of Theology and Philosophy, born in Munich in 1926, Professor of Philosophical-Theological Questions at Bochum University between 1968 and 1989. Numerous publications, the latest at Alber: Philosophische Einübung in die Theologie (3. Bde., 2004 Studienausgabe 2008) (English: Philosophical Practice in Theology (3rd vol., 2004, study edition 2008)), Philosophisch von Gott reden (2006) (English: Speaking about God philosophically), Ontologie im nachmetaphysischen Zeitalter (2008) (English: Ontology in the post-metaphysical era), Erkennen als antwortendes Gestalten (2014) (English: Recognizing as a shaping of answers).
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Richard Schaeffler Phänomenologie der Religion Grundzüge ihrer Fragestellungen Nach einer kritischen Sichtung der methodischen Ansätze, von denen aus Religionsphilosophie getrieben werden kann, entscheidet sich der Verfasser für die Methode der Religionsphänomenologie (1. Kapitel). Diese liest an der Weise, wie die Religion sich selbst darstellt, die besondere Struktur des religiösen Aktes und seine Beziehung auf die in diesen Akten intendierten Gegenstände ab. Deutlichster Ausdruck der besonderen Eigenart der religiösen Akte ist die religiöse Sprache (2. Kapitel). Doch lassen sich die dort zum Ausdruck kommenden Strukturen auch an religiösen Handlungen, vor allem an denen des Kultus, wiederfinden (3. Kapitel). Dabei sind die besonderen Formen religiösen Anschauens, Denkens und Handelns nicht einfach angeboren, sondern werden in religiösen Überlieferungsgemeinschaften erlernt und kultiviert (Kapitel 4). Unter denjenigen Wirklichkeiten, auf die religiöse Akte sich beziehen und die nur diesen Akten »originär gegeben« sind, haben Gott bzw. die Götter herausragende Bedeutung. An der Weise, wie Gott bzw. die Götter zum Gegenstand religiöser Verehrung, aber auch philosophischer Argumentation werden, lässt sich die Eigenart der spezifischen religiösen Verhältnisbestimmung von religiösen Akten und religiösen Gegenständen deutlich machen – auch und gerade im Unterschied zur profan-philosophischen Auffassung (5. Kapitel).
Der Autor: Richard Schaeffler, Dr. phil., Dr. theol. h. c., Dr. phil h. c., 1926 in München geboren, 1968–1989 Professor für Philosophisch-Theologische Grenzfragen an der Universität Bochum. Zahlreiche Buchpublikationen, zuletzt bei Alber: »Philosophische Einübung in die Theologie« (3 Bde., 2004, Studienausgabe 2008), »Philosophisch von Gott reden« (2006), »Ontologie im nachmetaphysischen Zeitalter« (2008), »Erkennen als antwortendes Gestalten« (2014).
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48900-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81328-7
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Inhalt
Vorwort
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Erstes Kapitel Methoden der Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . 1. Ein erster methodischer Ansatz: Die Besinnung der Philosophie auf ihre Herkunft aus der Religion . . . 2. Ein zweiter methodischer Ansatz: Die Betrachtung der Religion als Leitfaden zur Auffindung bisher vergessener philosophischer Probleme . . . . . . . 3. Ein dritter methodischer Ansatz: Religionsphilosophie auf der Basis philosophischer Theologie und der »reine Vernunftglaube« als Interpretament des »Religionsglaubens« . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ein vierter methodischer Ansatz: Religionsphilosophie auf der Basis transzendentaler Theologie . . 5. Ein fünfter methodischer Ansatz: Religionsphilosophie auf der Basis der Phänomenologie . . . . . . 6. Ein sechster methodischer Ansatz: Die Linguistische Wendung in der Religionsphilosophie . . . . . . . Zweites Kapitel Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung . . . . . . 1. Vorbemerkung zur Themenwahl . . . . . . . . . . 2. Leitende Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . A Sprachformen des Gebets . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die »Acclamatio Nominis« – Pragmatik, Grammatik, Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verwendung von Gottesnamen in Gebeten und Hymnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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Die religiöse Subjektivität – am Beispiel neutestamentlicher Hymnen . . . . . . . . . . . . 4. Das religiöse Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . Verbum externum und Verbum internum und die Funktion religiöser Aussagesätze . . . . . . . . . . . . 1. Regeln aus der allgemeinen Sprachphilosophie . . . 2. Speziell: Religiöse Aussagen, die »Gehör verlangen« 3. Religiöse Aussagen und ihr Wahrheitsanspruch . . 4. Das Problem: Das Unterscheidungsmerkmal »heilsrelevanter« Wahrheiten . . . . . . . . . . . Notwendigkeit und Möglichkeit der Entscheidung zwischen konkurrierenden Wahrheitsansprüchen . . . . 1. Ein religionshistorischer Befund . . . . . . . . . . 2. Kriterien zur Entscheidung über konkurrierende Wahrheitsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . Die Argumentationssprache der Theologie: »Was zählt als Argument?« . . . . . . . . . . . . . . . 1. Worauf beruft man sich? Beispiele für Argumentationsinstanzen . . . . . . . . . . . . . 2. Die Beweis-Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ein kritisches Selbstverständnis der Religion jenseits von Dogmatismus und Skeptizismus . . . . . . . . 4. Das Thema bezeichnet einen lehrreichen Grenzfall der Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . 5. Deskriptive und präskriptive Aufgaben . . . . . . . 6. Argumentationsfelder (= theologische Disziplinen) . Religionen im Widerstreit und ihre Möglichkeit, voneinander zu lernen: Die Sprache des Dialogs der Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eine innerreligiöse Voraussetzung interreligiösen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Texte und Riten aus fremden Religionen – Anlässe zur relecture der eigenen Überlieferung . . Fragestellungen und Ergebnisse – oder: War es das, was wir wissen wollten? . . . . . . . . . . . . . . . . . Textbeispiele religiöser Namensanrufungen und hymnischer Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Drittes Kapitel Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens . . . . . . 1. Schwierigkeiten des Verstehens . . . . . . . . . . . 2. Fragestellung und Methode . . . . . . . . . . . . . A Typen kultischen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung: Ritus und Ritual . . . . . . . . . . . . 1. Wege-Ritualien: Wallfahrten, Einholungsriten, theophorische Prozesssionen . . . . . . . . . . . . 2. Von Kleidern, Masken und Bildern . . . . . . . . . 3. Riten der »Erneuerung aus den Ursprüngen«: Neujahrsfeiern, Thronbesteigungsfeste, Stadtgründungsfeste . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ritualien der »Teilgewinnung am göttlichen Leben«: Tötungsritualien, Opfer, Mahlfeiern . . . . . . . . 5. Initiations- und Reinigungsriten . . . . . . . . . . B Der »Grundbauplan« der durch den Kultus gedeuteten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Idee der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Anschauungsformen von Raum und Zeit . . . . 3. Die Kategorien der Welt-Auslegung im Kultus . . . C Ein Ausblick: Der Kultus als Schule der religiösen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen – Aufgaben und Kriterien ihrer Beurteilung . . . . . . . . . . . A Die Sprache – wichtigstes Medium der Überlieferung und ihr Produkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B Spezielle Aufgaben und Legitimationskriterien religiöser Traditionen und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . 1. Verbale Formen der religiösen Überlieferung und institutionalisierte Weisen des Dienstes am Wort . . 2. Die Verbindung verbaler mit non-verbalen Formen der Überlieferung Das ausgezeichnete Beispiel: Der Kultus . . . . . . 3. Das religiöse Recht . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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Spezifika der jüdischen und christlichen Überlieferung und ihrer Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Überlieferung Israels . . . . . . . . . . . . 2. Das Judentum, oder: Israel in den Krisen seiner Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die christliche Überlieferung . . . . . . . . . .
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Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹ und der ›Gott der Bibel‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu Thema und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. »Gott«, ein Thema der Religionsphilosophie? . . . . 2. Drei Weisen, von Gott zu sprechen . . . . . . . . . Einleitung: Wie kommt Gott in die Religion? . . . . . . . . . 1. Das religiöse Sprechen und Handeln im Allgemeinen 2. Unter welcher Voraussetzung wird das »Numen« als »personaler Gott« verstanden? . . . . . . . . . . . Erster Teil: Die Götter der Religionen . . . . . . . . . . . . . A Die Götter der Religionen, ihre Differenz und der »hierophantische Akzent« . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Absolutheit jeder einzelnen religiösen Erfahrung als ein Grund für die Entstehung des Polytheismus . 2. Die Vielfalt der Religionen als eine Vielfalt von Wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Kriterium der Entscheidung: Auf welchem Erfahrungsbereich liegt der »hierophantische Akzent? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Verlagerung des hierophantrischen Akzents in der Religionsgeschichte und die Entstehung »religionskritischer Religionen« . . . . . . . . . . B »Religionskritische Religionen« . . . . . . . . . . . . . 1. Die Voraussetzung: Selbstkritik und Innovation als innere Momente der Religion . . . . . . . . . . . . 2. Krisen in der Religionsgeschichte des werdenden Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Zweiter Teil: Der Gott der Philosophen . . . . . . . . . . . . A »Gott« in der Philosophie der klassischen Antike . . . . 1. Die Entstehung der Philosophie fällt in eine kritische Phase der Religionsgeschichte . . . . . . . . . . . 2. Die Wendung von der mythischen »Archaiologia« zur logisch-ontologischen »Prinzipienlehre« . . . . 3. Die Bedeutung der entstehenden Philosophie für das Selbstverständnis der Religion . . . . . . . . . . . B Der »Gott der Philosophen« in der frühen Neuzeit . . . 1. Der Anlaß für die Entstehung der philosophischen Theologie der Neuzeit: Die »kopernikanische Wendung« der Astronomie . . . . . . . . . . . . . 2. Wie spricht Descartes von Gott? . . . . . . . . . . 3. Wie spricht Spinoza von Gott? . . . . . . . . . . . 4. Wie spricht Leibniz von Gott? . . . . . . . . . . . 5. Wie spricht Kant über Gott? . . . . . . . . . . . . 6. Sprechen von Gott »nach Kant« im doppelten Sinne: »nach Kants Meinung« und »in der Zeit nach Kant«
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Dritter Teil: Der Gott der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . A Der Gott der Bibel als Herr der Geschichte – ein Proprium biblicum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ein Anfang nicht »im Urbeginn«, sondern mitten in der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Gott der Bibel ist ein Gott, der seine Herrschaft über Himmel und Erde in freien Akten der Erwählung ausübt . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Anfang mitten in der Zeit verlangt eine Deutung durch den Bericht von einem Anfang vor aller Zeit . 4. Der Gott der Bibel: Ein Gott der Geschichte, der in ungeschuldeter Gnade den Sündern Wege der Umkehr offenhält . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ist das der Gott, von dem die Philosophen sprechen? Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . . . B Die »Fülle der Zeiten« inmitten der Zeit – das Proprium Christianum . . . . . . . . . . . . . . . . 1. »Fülle« – ein Leitwort christlicher Verkündigung . . 2. Die Erscheinungsgestalt dieser »Fülle« ist die »Entleerung« des Sohnes am Kreuz . . . . . . . . .
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Inhalt
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Wie spricht die christliche Gemeinde von Gott als dem Vater Jesu Christi? . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ist das der Gott, von dem auch die Philosophen sprechen können? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Botschaft von der Torheit des Kreuzes – Das Ende aller philosophischen Rede von Gott oder eine neue Herausforderung an die Philosophie? . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Botschaft von der »Torheit« und »Schwäche« Gottes – auch für den Philosophen aufschlußreich . 2. Die philosophisch angeeignete Botschaft von Gottes »Torheit« und »Schwäche« und eine neue Aufgabe der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Heilswirken Gottes und die Freiheit seiner Geschöpfe
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Ein Ausblick: Eine weiterentwickelte Postulatenlehre und eine neue Weise des Dialogs zwischen Religion und säkularer Vernunft – ein Programm in Thesenform . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Im Jahr 1983 ist im Verlag Karl Alber meine »Religionsphilosophie« erschien. Sie hat seither zwei weitere Auflagen erlebt und ist in sieben Fremdsprachen übersetzt worden. Wenn ich dennoch hier ein weiteres religionsphilosophisches Werk vorlege, dann ist das darin begründet, daß meine bisher erschienene »Religionsphilosophie« sich dem Programm des »Handbuchs Philosophie«, herausgegeben von Elisabeth Ströker und Wolfgang Wieland, einfügen mußte. Deshalb mußte dieses Werk, wie es einem Handbuch-Band entspricht, möglichst unparteiisch die verschiedenen Positionen darstellen, die zum Zeitpunkt des Erscheinens in der Religionsphilosophie vertreten wurden. Das verlangte von mir als Autor ein hohes Maß an Zurückhaltung hinsichtlich der Darstellung meiner eigenen Position. Daraus ergab sich schon bald mein Wunsch, neben dem Handbuch-Band in einer anderen Veröffentlichung »meine eigene« Religionsphilosophie darzustellen. Dafür habe ich den Titel »Phänomenologie der Religion« gewählt, weil ich unter den Methoden, die zur Behandlung religionsphilosophischer Probleme vorgeschlagen werden, einer weiterentwickelten Phänomenologie den Vorzug gebe. 1 Die Religionsphilosophie hat nach meiner Überzeugung nicht die Aufgabe, den Selbst-Aussagen der Religion ins Wort zu fallen und ihr mit apriorischen Argumenten vorzuschreiben, wie sie über Gott, die Welt und den Menschen zu reden habe. Es kommt vielmehr darauf an, zunächst zuzuhören und zur Kenntnis zu nehmen, wie die Religion sich selber ausspricht. An der Eigenart der religiösen Sprache läßt sich die besondere Struktur der religiösen Noesis ablesen und dann zeigen, wie nur dem religiösen Akt diejenige Wirklichkeit »originär erschlossen« ist, auf die dieser Akt sich bezieht. Und erst dann kann jene für die Religion spezi-
Im Ersten Kapitel »Methoden der Religionsphilosophie« werde ich diese Entscheidung begründen.
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Vorwort
fische Korrelation von Noesis und Noema beschrieben werden, die das Thema einer Phänomenologie der Religion ist. Ist diese Aufgabe erfüllt, dann läßt sich zeigen, daß diejenige Korrelation zwischen Noesis und Noema, die für die Religion spezifisch ist, sich auch an non-verbalen Äußerungen der Religion ablesen läßt, vor allem an der spezifisch religiösen Praxis des Kultus. So ergeben sich die Themen der ersten drei Kapitel des nun vorliegenden Buches: »Methoden der Religionsphilosophie«, »Die religiöse Sprache«, »Der Kultus als Ausdruck des religiösen Weltverstehens«. Dabei zeigt sich: Weder die Weise religiösen Sprechens noch die Art religiösen Handelns sind dem Menschen einfach angeboren. Sie werden in religiösen Überlieferungsgemeinschaften gelernt und kultiviert und innerhalb dieser Überlieferungsgemeinschaften institutionalisiert, d. h. so ausgestaltet, daß sie sich gegenüber den beteiligten Individuen verselbständigen und dadurch erst überlieferungsfähig werden. So ergibt sich das Thema eines vierten Kapitels: »Religiöse Traditionen und Institutionen«. Eine solche Betrachtung orientiert sich immer neu an der Weise, wie die Religion sich in verbalen und non-verbalen Äußerungen selber ausspricht. Aber das bedeutet nicht, daß der Philosoph nur nachsprechen kann, was die Religion ihm vorsagt. Die Philosophie ist auf diesem Themenfelde wie auf anderen immer hermeneutisch, aber gerade deswegen zugleich den Phänomenen gegenüber kritisch. Für die Religionsphänomenologie bedeutet dies: Sie ist hermeneutisch, indem sie die Bedingungen religiösen Sprechens und Handelns freilegt, die den religiösen Sprechern (z. B. den Betern) und den religiösen Akteuren (z. B. denen, die an Gottesdienstfeiern im Sinne der »actuosa participatio« teilnehmen) nicht immer bewußt sind. Beter und Feiernde reflektieren nicht immer auf die strukturelle Eigenart ihres Sprechens und Handelns und bemerken deswegen oft nicht, daß dieses Sprechen und Handeln der Gefahr ausgesetzt ist, gewisse Fehlgestaltungen (Pseudomorphosen) anzunehmen. Der Phänomenologe aber kann zeigen, daß eine fehlgestaltete Noesis die Beziehung zu ihrem Noema verlieren kann. Ein Gebet, das die Fehlgestalt einer versuchten Gottesbeschwörung annimmt, verfehlt seinen Adressaten und wendet sich, oft ohne es zu bemerken, an einen Götzen, den der Mensch sich selber ausgedacht hat. Ein gottesdienstlicher Ritus, der die Fehlgestalt der Magie annimmt (d. h. des Versuches, übermenschliche Kräfte für menschliche Zwecke zu gebrauchen), verfehlt ihr Ziel, dem Wirken Gottes erfahrbare Gestalten seiner je neuen Gegen14 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Vorwort
wart bereitzustellen. Ein so vollzogener Ritus vermittelt daher nicht religiöse Erfahrungen, sondern erzeugt Illusionen einer unter religiösem Vorwand angemaßten Macht über die Welt und die Menschen. Die Religionsphänomenologie ist eben deshalb kritisch, weil sie zeigen kann, daß solche Fehlgestaltungen des Religiösen die Sinnlogik des religiösen Aktes zerstören und ihm dadurch den Bezug zur religiösen Wirklichkeit rauben. Phänomenologische Kritik aber ist hermeneutisch; sie trägt die Kriterien, nach denen sie religiöse Phänomene beurteilt, nicht von außen an diese heran, mißt also die Religion nicht an außer-religiösen Maßstäben, sondern an den strukturellen Bedingungen ihres eigenen Bezugs von Noesis und Noema. Im Folgenden wird daher versucht werden, aus den spezifischen Strukturgesetzen religiösen Sprechens und Handelns, religiöser Traditionen und Institutionen zugleich Kriterien ihrer Beurteilung zu gewinnen. Ich danke dem Verlag Karl Alber und seinem Leiter, Herrn Lukas Trabert, dafür, daß er bereit ist, auch diese Veröffentlichung in sein Programm aufzunehmen. München, im Oktober 2017
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Erstes Kapitel Methoden der Religionsphilosophie
Vorbemerkung zum Thema Religionsphilosophie ist nicht philosophische Theologie. • Das Faktum der Religion ist unstrittig – nicht die Existenz Gottes. • Gesucht ist das »Wesen« der Religion. • Wissenschaften beschreiben, wie Religionen sind, die Religionsphilosophie fragt, was Religion ist. • Ihr Ziel: Die Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungsformen zu verstehen, Kriterien ihrer Beurteilung zu gewinnen, innerhalb der Religionen Pseudomorphosen des Religiösen von wesensgemäße Realisationsformen zu unterscheiden. 1.
Ein erster methodischer Ansatz der Religionsphilosophie beruht auf der Beobachtung, daß die Philosophie aus der Religion hervorgegangen ist.
Die meisten derjenigen Themen, die später zu Themen der Philosophie geworden sind, sind vorher jahrhundertelang Themen der religiösen Verkündigung gewesen 2. Das konnte zu der Meinung Anlaß geben, die Religion sei der Ausdruck eines »vorrationalen BewußtDie Fragen, die nach Aussage des 2. Vatikanischen Konzils von der Religion beantwortet werden, sind durchweg solche, die später von der Philosophie beantwortet worden sind: »Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antworten auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen der Menschen im Tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?« (Vaticanum II Nostra aetate, Nr. 1)
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Erstes Kapitel: Methoden der Religionsphilosophie
seins«, das der Überführung in wissenschaftlich-philosophische Rationalität lange widerstanden hat und auch nach der Entstehung von Philosophie und Wissenschaft erstaunlich lange fortdauerte. Die leitende Frage lautete dann: Warum ist die philosophisch-wissenschaftliche Rationalität so spät entstanden? Warum hat sich das vorrationale Bewußtsein so lange erhalten? Frühe Antworten auf die so verstandene Frage nach der Religion lauteten: 1. Religion ist aus der Furcht entstanden 3. Diese ihrerseits war eine Folge von Unwissenheit und hat die Entstehung eines kritischen Bewußtseins gehemmt und ihm, auch als es entstanden war, seine Wirkung in breiten Bevölkerungskreisen geraubt. Nur wenn es gelingt, diese Furcht als unbegründet zu erweisen, wird jenes Vertrauen in die Vernunft entstehen, das nötig ist, wenn die Fragen, die die Religion auf vor-rationale Weise beantwortet hat, rational gestellt und beantwortet werden sollen. 2. Religion ist Ausdruck einer Hoffnung, die ihrerseits aus der Erfahrung des Elends oder anderen traumatischen Erfahrungen entsteht 4. Diese Hoffnung richtete sich auf eine »andere Welt«, solange in »dieser Welt« keine Aussicht auf Überwindung des Elends besteht. Nur wenn es gelingt, auf illusionäre Hoffnungen zu verzichten und zugleich Wege zu zeigen, wie eine nicht-illusionäre Hoffnung ohne göttlichen Beistand erfüllt werden kann, entsteht jene illusionslose Bereitschaft zum weltgestaltenden Handeln, die nötig ist, um die Verheißungen, die die Religion ausgesprochen hat, in rationale Handlungsprogramme umzusetzen, die der religiösen Hoffnung nicht mehr bedürfen. Eine kritische Bilanz der Ergebnisse, die auf diesem Wege erreicht werden können, führt zu folgenden Ergebnissen:
Timor primus in orbe fecit Deos. Die Furcht ließ zuerst auf Erden die Götter entstehen. (Statius Thebais III, Vers 661). 4 »Die Religion ist zugleich die Spiegelung des realen Elends und die Protestation gegen das reale Elend. … Die Religionskritik pflückt die Blumen, die der Mensch um seine Ketten geschlungen hat, nicht damit er die nackte Kette trage, sondern damit er sie breche.« Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW I, Berlin 1976, 378. Vgl. dazu die kritische Rückfrage Blochs: Was ist gewonnen, wenn nichts überwunden ist als die Not? 3
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Erstes Kapitel: Methoden der Religionsphilosophie
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2.
Die Auffassung der Religion als einer »vorrationalen« Auslegung der Welt und des Lebens macht es möglich, in der Religion die Antwort auf Fragen zu finden, die auch unsere Fragen sind. Sie kann uns zugleich an diese Fragen erinnern, wenn Philosophie und Wissenschaft sie als unbeantwortbar zurückweisen. Sie erlaubt es, Religionen daran zu messen, was sie »heute«, im Zeitalter kritischer Rationalität, »noch« für das Leben der Menschen leisten können. Aber sie enthält die Gefahr, Religion voreilig als ein System von Aussagen zu deuten (zu theoretisieren) und dabei auf diejenigen Aussagen zu reduzieren, die einer Transformation in Philosophie zugänglich sind. Diejenigen Momente, die einer solchen Transformation widerstehen, erscheinen dann als bloß »retardierende Momente« in der Entwicklung des menschlichen Geistes, die ihrerseits mit außerreligiösen Begriffen aus Psychologie oder Soziologie gedeutet werden müssen. Ein zweiter methodischer Ansatz der Religionsphilosophie beruht auf der Beobachtung, daß die Religionen auch dort, wo sie die gleichen Fragen beantworten, die auch die Philosophie stellt, auf andere Weise sprechen, als das in der philosophischen Argumentation geschieht.
Ein früh bemerktes Beispiel dafür ist die Differenz zwischen dem philosophischen Logos (der argumentierenden Darlegung) und dem religiösen Mythos (der Erzählung, die die Fragen »Was ist das?« und »Warum ist das?« durch die Erinnerung an »Ursprünge vor aller Zeit« beantwortet). Die spezifisch religiöse Form der Weltdeutung ist die »Προτολογία«, die Rede von dem, was »im Anfang geschah«. Diese Beobachtung kann die Philosophie zu einer selbstkritischen Reflexion auf die Eigenart und die Grenzen ihrer eigenen Begriffsbildung veranlassen. Daran kann sich die Frage anschließen, ob die Philosophie diese Grenzen überwinden kann, wenn sie sich von der Religion zu einer Weiterentwicklung ihres Begreifens und Argumentierens anregen läßt. Ein bevorzugtes Themenfeld religiöser »Protologien« ist die Explikation von Gegensatz-Einheiten der Erfahrungswelt, die sich der 19 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Erstes Kapitel: Methoden der Religionsphilosophie
Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit des Begriffs entziehen 5, so vor allem das »todesträchtige Leben« (thanatóphoros bíos) 6. Dies ließ die Frage entstehen, ob nicht auch andere Gegensatz-Einheiten durch neue Protologien verständlich gemacht werden können, vor allem die freie Handlung, die aus der Notwendigkeit des Wählenmüssens hervorgeht und in die neue Notwendigkeit des selbstgewählten Schicksals mündet (Platons »Höhlenleichnis«). Allgemeiner gesprochen: Für die Philosophie ergab sich die Frage, ob sie neue Themenfelder für ihr eigenes Nachdenken aufschließen könne, indem sie spezifische Formen der »Zusammenschau« (Synopsis) von Gegensätzen entwikkelt und diese Zusammenschau in eine »Dialektik« entfaltet 7, um jene Ur-Einheit freizulegen, die dem Auseinandertreten des Gegensätzlichen vorausliegt und eine künftige Aufhebung dieser Gegensätze möglich macht 8.
»Wenn einer das eine verfolgt und erreicht, wird er genötigt, auch das Andere zu ergreifen, als seien die beiden einem Haupte entsprungen. Und ich denke, wenn Aisopos darauf aufmerksam geworden wäre, hätte er einen Mythos gefügt, wie ein Gott, der sie in ihrem Streit versöhnen wollte und es nicht vermochte, ihre Köpfe zusammengebunden hat.« (Platon, Phaidon 60 bc) »Ist unter den vielen schönen Dingen eines, das nicht zugleich häßlich erscheint? Unter den gerechten, das nicht zugleich ungerecht, unter den heiligen, das nicht zugleich frevelhaft wäre? […] und die großen und kleinen, die leichten und schweren Dinge? Jedes von ihnen hat beides an sich.« (Platon, Politeia 479 a/b) »So finden wir, wie es scheint, daß das Viele, das bei den Vielen in Ansehen steht, sowohl hinsichtlich des Schönen als auch in allen anderen Hinsichten sich irgendwo herumwälzt zwischen dem Nichtsein und dem reinen Sein.« (Platon, Politeia 479 d) 6 »So spricht Lachesis, die Tochter der Ananke … Hört, ihr Eintags-Seelen [die an diesem Tag zum leiblichen Leben geboren werden]: Beginn eines neuen Umlaufs des todesträchtigen Lebens.« (Politeia 617 d/e) 7 Gesucht ist das »helktikon pros ousian« (Politeia 523 a): »Es gibt Dinge, die rufen das Denken hervor, andere tun das nicht. Was nämlich zugleich mit dem, was ihm entgegengesetzt ist, in die Wahrnehmung fällt, das nenne ich das Aufrufende, was aber nicht solcher Art ist, bewirkt kein Denken.« (Politeia 524 d) – »Der Synoptiker ist es, der dialektisch begabt ist, wer dies aber nicht ist, ist auch jenes nicht.« (Politeia 537 c) 8 »Sie sehen nicht und verstehen nicht, wie es im Auseinanderstreben den gleichen Logos ausspricht, (diapherómenon homologei heauto) gegenwendige Harmonie wie bei Bogen und Leier« (Heraklit B 51). »Aus einer gewissen Einheit nimmt alles seinen Ausgang und zur Einheit sammelt es sich wieder durch eine Notwendigkeit seiner Natur, sodaß alles, was an Verschiedenheit erwächst und sich zur Gegensätzlichkeit entwickelt, durch den Ursprung aus der Einheit dennoch zu einer Gesamtordnung zusammengehalten wird.« (Plotin, Enneade III, 3, [περὶ προνοι]vας B] cap. 1) 5
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Aus solchen Ansätzen entwickelte sich ein religiöses Selbstverständnis der Philosophie, das es gestattete, von religiösen Begriffen einen philosophischen Gebrauch zu machen (z. B. von den Begriffspaaren »Urbild/Abbild« oder »Chorismós/Parousía«) und den »Erkenntnisaufstieg der Seele« als Ausdruck für die Wirksamkeit einer göttlichen Kraft in der Seele des Menschen zu begreifen (so nicht nur im Platonismus, der die Philosophie als Wirkung der Gegenwart des Göttlichen in der menschlichen Seele [Enthousiasmós] und eines dadurch bewirkten »göttlichen Außersichseins« des Menschen [Theia Manía] begreift, sondern auch in der Lehre der Aristoteliker vom »intellectus agens«). Stufen der Wirkungsgeschichte: – Die Allegorese des Mythos als Freilegung von Momenten seiner Maßgeblichkeit für das philosophische Denken. – Die Entwicklung einer philosophischen Lehre vom Einen »jenseits des Seins« und vom Nous als dem Prinzip seiner Entfaltung. – Die Begegnung dieser Philosophie mit der christlichen Lehre vom Geist als dem Prinzip des göttlichen Selbstbewußtseins und der göttlichen Selbstmitteilung 9. Eine solche Verbindung zwischen einem religiösen Selbstverständnis der Philosophie und einem philosophischen Verständnis der Religion macht zunächst die spezifische Gestalt der religiösen Rede, das Erzählen von vor-zeitigen Ursprüngen (die Protologia), als Vorbild einer philosophischen Dialektik begreiflich, die die Widersprüchlichkeit der Erfahrungswelt und der sie beschreibenden Begriffe als vorantreibendes Moment in der Geschichte der Welt und des philosophischen Denkens verstehen läßt. Sie erlaubt es, der Philosophie zu einem kritischen Selbstverständnis zu verhelfen, das die Gefahr der dogmatischen Selbst-Überschätzung ebenso vermeidet wie die der skeptischen Selbst-Verzweiflung: Philo-Sophia als Dienst an der »je größeren Wahrheit« und darum als Prozeß, der durch die »Prosthesis tou Theou« 10 ausgelöst und in Gang gehalten wird. Sie gestattet zugleich, von der Religion zu lernen, wie ein kritisches Verhältnis zur
»Die Natur Gottes, reiner Geist zu sein, wird dem Menschen in der christlichen Religion offenbar« (Hegel, Philosophie der Geschichte, Ausg. Glockner VII, 415). »Das Geistige allein ist das […] in seinem Außersichsein in sich selbst Bleibende« (Hegel, Phänomenologie des Geistes, Glockner II, 27 f.). 10 Platon, Charmides 164 c. 9
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Welt mit dem Zutrauen in die Wahrheit und der Hochschätzung ihrer Gegenwartsgestalten (»Abbilder«) zu vereinbaren sei, die eine zielgerichtete Tendenz (Orexis) erkennen lassen und zugleich deren Vollendung antizipieren. Sie läßt so den Hervorgang der Philosophie aus der Religion nicht als Überwindung religiöser Torheit, sondern als einen Teil der Bemühung erscheinen, die Intention der Religion auf begrifflich geklärte Weise zum Ausdruck zu bringen. Chancen und Gefahren dieses methodischen Ansatzes traten insbesondere in der Geschichte des jüdisch-christlichen Platonismus hervor. Zunächst schlug die Lehre vom Einen als dem Ursprung alles Seienden die Brücke zum biblischen Monotheismus, freilich auch zu der Umkehrung des biblischen Bekenntnisses »Der Herr, unser Gott, ist ein einziger« zu der philosophischen Aussage »Das Eine ist das wesenhaft Göttliche« 11. Sodann wurde die philosophische Lehre vom »Geist« (nous, intellectus) zum Interpretament der biblischen Lehre vom »Geist« (pneuma, spiritus). Und die Geschichte der Religionen ließ sich als Weg zu jener Einsicht begreifen, die man in der zentralen Aussage des Johannes-Evangeliums ausgesprochen fand: »Gott ist Geist. Und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten« (Joh 4,24). Aber eine solche Religionsphilosophie auf der Basis einer sich selbst religiös verstehenden Philosophie enthält die Gefahr, die Philosophie selbst als jene Vollendungsgestalt zu begreifen, in die die Religion sich »aufheben« soll, und alle Momente, die sich einer solchen Aufhebung widersetzen, als Folgen eines bloßen Selbst-Mißverständnisses der Religion zu bewerten. 3.
Ein dritter methodischer Ansatz: Religionsphilosophie auf der Basis philosophischer Theologie und der »reine Vernunftglaube« als Interpretament des »Religionsglaubens«
Der Versuch, jene Einheit zu begreifen, die als der Ursprung aller Gegensätze der Erfahrungswelt, aber auch ihres Zusammenhangs verstanden werden kann, (der Versuch einer »dialektischen Henologie«) kann sich als »philosophische Gotteslehre« verstehen. Dabei drückt der philosophische Gebrauch des Wortes »Gott«, das aus der Sprache der Religion entnommen ist, einen hermeneutischen Anspruch aus: Diejenige Wirklichkeit, von der in Religionen die Rede Vgl. Numenios aus Apamea: »Denn was ist Platon anders als ein attisch sprechender Moses?«
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ist (»quod omnes dicunt Deum«), soll durch philosophische Begriffe »auf den Begriff gebracht« werden. Dadurch soll zugleich diejenige Religion, die durch solche Begriffe ausgelegt werden kann, als übereinstimmend mit der »wahren Philosophie« erwiesen werden, z. B. das Christentum als die Erfüllung der Intentionen der Platoniker 12. Andererseits soll der philosophische Begriffsgebrauch das rechte Verständnis der »wahren Religion« gewährleisten (z. B. der Überwindung von »Anthropomorphismen« dienen). So wird schon bei den Kirchenvätern (und nicht erst bei Kant) die philosophische Gotteslehre zur Auslegerin aller Selbstzeugnisse der Religionen, auch der biblischen Offenbarungszeugnisse. Die mit Hilfe solcher philosophischer Begriffe entwickelte »philosophische Gotteslehre« (der Nachweis von Gottes Existenz und die Bestimmung seines Wesens) hat in der Zeit der Aufklärung den Rang einer Grundlegung der gesamten Philosophie gewonnen, – weil das Zutrauen in Gottes Vollkommenheit (und darin eingeschlossen in Gottes Wahrhaftigkeit) das Selbstvertrauen einer Vernunft legitimiert, die sich der Gefahr ihrer Selbstverstrikkung bewußt geworden ist (Descartes), 13 »Illi enim, si reviviscerent et invenirent refertas ecclesias templaque deserta, et a cupiditate bonorum temporalium et fluentium ad spem vitae aeternae et bona spiritualia et intelligibilia vocari et currere humanum genus, dicerent fortasse […]: ›Haec sunt, quae nos persuadere populis non ausisumus et eorum potius consuetudine cessimus, quam illos in nostram fiden voluntatemque traduximus.‹« – »Wenn jene [Sokrates und Platon] wieder zum Leben kämen und fänden, wie die Kirchen gefüllt und die Tempel verlassen sind und wie die Menschen vom Verlangen nach irdischen Gütern zur Hoffnung auf das ewige Leben und auf die geistlichen und geistigen Güter gerufen werden und wie sie diesem Rufe folgen, dann würden sie wohl sagen: ›Das ist es, was wir den Völkern nicht zu sagen gewagt haben, sodaß wir uns lieber ihren Gewohnheiten angepaßt haben, als sie zu dem zu führen, was wir selber geglaubt und gewollt haben.‹« (Augustinus, De vera religione, Cap. 4, Nr. 6) »Et paucis mutatis verbis atque sententiis christiani fierent, sicut plerique recentiorum nostorumque temporis platonici fecerunt.« – »Und sie müßten nur wenige Wörter und Sätze austauschen, und würden dann Christen werden, wie dies sehr viele Platoniker in jüngerer Zeit und in der Gegenwart getan haben.« (a. a. O. Nr. 7) 13 »Hoc tamen ipsum, quod Deus non est fallax, quodque idcirco fieri non possit, ut ulla falsitas in meis opinionibus reperiatur, nisi aliqua etiam sit in me facultas a Deo tributa ad illam emendandam, certam mihi spem ostendit veritatem etiam in iis assequendae.« – »Eben die Tatsache, daß Gott kein Betrüger ist, daß also in mir keine falschen Meinungen auftreten können, ohne daß Gott mir die Fähigkeit gegeben hätte, sie zu bereinigen, eröffnet mir die sichere Hoffnung, daß ich auch hinsichtlich dieser Dinge die Wahrheit auffinden könne.« (Med. VI,11) »Atque ita plane video omnis scientiae certitudinem et veritatem ab una veri Dei 12
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weil weiterhin nur das göttliche Selbstbewußtsein jene Wirklichkeit darstellt, die so im menschlichen Denken anwesend und wirksam sein kann, daß dieses menschliche Denken zur unmittelbaren Selbstdarstellung der göttlichen Substanz werden kann (höchste Erkenntnisart nach Spinoza) 14, – schließlich weil nur der göttliche Hinblick auf die Welt im Ganzen und auf jeden ihrer Teile eine »praestabilierte Harmonie« selbständiger und selbsttätiger Substanzen möglich macht (Leibniz) 15. Die so verstandene »philosophische Theologie« konnte zugleich als »natürliche Theologie« gelten, weil sie das Bewußtsein von Gottes Existenz und Wesen als die Explikation einer Gottesbeziehung erscheinen läßt, die mit der »Natur« des Menschen als eines Vernunftsubjekts mitgesetzt ist. Diese »natürliche Theologie« konnte ihrerseits als Grundlage einer »natürlichen Religion« verstanden werden, die in jener Gottesbeziehung, Gottesverehrung und Gottesliebe besteht, die mit der Menschennatur selber mitgesetzt ist. Diese »natürliche Religion« konnte weiterhin als jenes »Wesen« der Religion verstanden werden, das in allen »empirischen Religionen« seine Erscheinung findet. Mit dieser Deutung der empirischen Religionen als Erscheinungsformen der natürlichen Religion wurde zugleich ein Maßstab
cognitione pendere, adeo ut, priusquam illum nossem, nihil de ulla alia are perfecte scire potuerim.« – »Und so sehe ich ganz offen, daß die Gewißheit und Wahrheit aller Wissenschaft von der einen Erkenntnis des wahren Gottes abhängt, und dies so sehr, daß ich, ehe ich ihn kannte, von keiner anderen Sache irgendetwas auf vollkommene Weise wissen konnte.« (Med. V,16) 14 »Endlich sehen wir, daß der Vernunftschluß in uns nicht das Vollkommenste ist, sondern nur wie eine Stufe, auf der wir zum erwünschten Platz emporsteigen, oder wie ein guter Geist, der uns ohne alle Falschheit und allen Trug vom höchsten Gut Botschaft bringt, um uns dazu anzuspornen, daß wir es suchen und uns mit ihm vereinigen. Und diese Vereinigung ist unser höchstes Heil und Glück.« (Traktat 2. Teil, Cap. 26, Nr. 6) 15 »Dans les idées de Dieu une monade demande avec raison, que Dieu en règlanat les autres dès le commencement des choses ait regard à elle.« – »In den Vorstellungen Gottes erhebt jede Monade mit Recht den Anspruch, daß Gott auf sie Rücksicht nimmt, wenn er über alle anderen befinde.« (Mon. 51) »Cet accomodement de toutes les choses crée à chaqune et de chaqune à toutes les autres fait, que chaque substance simple […] est […] un miroir vivant perpétuel de l’univers.« – »Diese Anpassung aller geschaffenen Dinge an jedes einzelne und jedes einzelnen an alle anderen hat zur Folge, daß jede einfache Substanz ein lebendiger und beständiger Spiegel des Universums ist.« (Mon 56, vgl. 57)
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zu ihrer Beurteilung gefunden, der es gestattete, die Geschichte der Religionen als den Weg von der anfänglichen »natürlichen« Religion über die Mannigfaltigkeit der »empirischen Religionen« zu einer wiederhergestellten und zugleich auf höherer Ebene zum Selbstbewußtsein gelangten »natürlichen Religion« zu begreifen – sei es, daß diese Vollendungsgestalt der Religion in einem philosophisch ausgelegten Christentum besteht, sei es daß auch dieses nur als Annäherung an eine in naher Zukunft zu erreichende »reine Vernunftreligion« verstanden werden muß. Ein solches Verständnis der Religion und ihrer Geschichte – gestattet einen Vergleich der Religionen hinsichtlich ihres Gottesbegriffs, – ermöglicht es, innerhalb jeder Religion, zwischen »wesensgemäßen« und »wesenswidrigen« Erscheinungsformen des Religiösen zu unterscheiden (zwischen »religio« und »superstitio«), – gestattet ein Verständnis und eine kritische Prüfung des Absolutheitsanspruchs, den die biblische Religion erhebt, obgleich das Christentum nur eine unter vielen empirischen Religionen ist: Dieser Absolutheitsanspruch besagt, philosophisch verstanden, daß das Christentum den Wahrheitsgehalt aller anderen Religionen in sich vereinigt und von Verunreinigungen befreit (die praelapsarische Gottesbeziehung der Menschen, die in allen postlapsarischen Religionsformen nachwirkt, wiederherstellt und vollendet). So verstanden wird dieser Anspruch durch den Religionenvergleich kritisch überprüfbar – und ermöglicht zugleich eine selbstkritische Überprüfung der Philosophie, sofern diese die »natürliche Religion« als den wahren Kern aller »empirischen Religionen« auf den Begriff zu bringen beansprucht. Denn eine Philosophie, die sich so versteht, wird immer neu die Selbstzeugnisse der Religionen daraufhin zu sichten haben, was sich dort an bisher »ungehobenen Schätzen« findet, die durch erneute philosophische Anstrengung an den Tag zu bringen sind (z. B. in einer philosophischen Neu-Aneignung auch des Mythos). Aber eine solche Religionsphilosophie unterliegt der Gefahr, nur dasjenige als »genuin religiös« anzuerkennen, was sich in philosophische Einsicht überführen läßt. Was dabei gewöhnlich ungedeutet bleibt, sind typisch religiöse Akte wie das Gebet, das Opfer, die Sakramente, sofern diese Akte nicht in bloße Ausdruckshandlungen umgeformt werden. 25 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
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Die philosophische Gotteslehre sah sich seit dem Beginn der Neuzeit in wachsendem Maße einem Protest im Namen des Glaubens ausgesetzt (Beispiele: Luther 16, Pascal 17, Karl Barth 18). Glaubende erkannten in dem Gott, von dem die Philosophen sprechen, den »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs« nicht wieder. Seit dem 18. Jahrhundert wurden überdies die philosophischen Prämissen, auf denen bis dahin das philosophische Sprechen von Gott beruhte, in Zweifel gezogen. Selbstbewegung, Selbstgestaltung, ja Selbst-Realisation wurden als Kennzeichen des Lebendigen erkannt, ja schließlich sogar als Prinzipien der unbelebten Natur verstanden. (Wichtige Beiträge dazu: die Theorien von der Entstehung des Planetensystems aus Turbulenz über Rotation zur Gestirnsbildung, entworfen schon von Descartes, ausgeführt von Kant und Laplace.) Im gleichen Maße erschien die Frage nach einem vom Weltprozeß verschiedenen »ersten Beweger«, einer »ersten Ursache«, einer aller Potentialität vorausgehenden »reinen Wirklichkeit« (actus purus) oder einem intelligenten »Ordner« der Natur überflüssig. Begriffe vom sich selber gestaltenden Leben (natura naturans) und von der reinen Produktivität, innerhalb derer alle »Produkte« (die Seienden) nur Phasen oder »Hemmungspunkte« darstellen, traten an die Stelle des traditionellen Gottesbegriffs. Gleichzeitig verlagerte sich die philosophische Theologie von der Meta-Physik (der Rückfrage nach den trans-empirischen Gründen der Weltwirklichkeit) zur Meta-Theorie der Subjektivität (der Rückfrage in die Bedingungen, die die spezifische Tätigkeit des Subjekts möglich machen). Die Religion hatte unter dieser Voraussetzung eine dreifache Aufgabe zu erfüllen: einerseits die Anleitung zur Ehrfurcht vor dem großen Ganzen, dem das Individuum sich eingefügt weiß, und die »Man sagt: ohne Aristoteles wird man kein Theologe. Ich sage: Mit Aristoteles bleibt man kein Theologe« (Luther, Thesen gegen die scholastische Theologie, 1519). »Die Schlachtung der Vernunft ist das eine Gott wohlgefällige Opfer« (Vorlesung über den Galaterbrief). 17 »Montag, den 23. November im Jahr der Gnade 1654 […] Tag des hl. Clemens […] Vorabend des Tages des hl. Chrysogonus […] Seit ungefähr abends zehneinhalb bis ungefähr eine halbe Stunde vor Mitternacht. Feuer. Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs. Nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewißheit. Gewißheit. Empfinden. Freude. Friede. [Certitude, Certitude, Sentiment, Joie, Paix] Gott Jesu Christi. ›Deus meus et Deus vester‹. Vergessen von allem, außer Gott. Nur auf dem Wege, den das Evangelium lehrt, ist er zu finden […]« (Mémorial). 18 »Die philosophische Theologie ist wie die Schlange: Sie sehen heißt schon: zugeschlagen und totgeschlagen haben« (Karl Barth »Nein«). 16
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Anleitung zur Harmonie mit ihm, andererseits die Rehabilitierung des Individuums, das nicht in die Prozesse des sich selber realisierenden All-Lebens oder einer sich selbst realisierenden All-Vernunft aufgehoben werden sollte, schließlich die Beschreibung eines Verhältnisses zwischen dem Subjekt und jenem Grunde, der seine Tätigkeit vor Selbst-Auflösung bewahrt (daher die neue Betonung der beiden Fragen nach der »Glückseligkeit« und nach der Sündenvergebung im Pietismus – Vorbereitung des kantischen postulatorischen Gottesglaubens). 4.
Ein vierter methodischer Ansatz: Religionsphilosophie auf der Basis transzendentaler Theologie
Die entscheidende Wendung im Gottesverständnis und im Verständnis der Religion wurde durch Kant und seine Transzendentalphilosophie vollzogen. An die Stelle der Ontologie trat die »Analytik des reinen Verstandes«, durch die gezeigt werden sollte, durch welche Formen der Verstandestätigkeit die Konstitution der Gegenstandswelt möglich wird 19. In diesem Zusammenhang bedeutete die »Dialektik der reinen Vernunft« (die Beschreibung der Selbstwidersprüche, in die die Vernunft sich notwendigerweise verwickelt) einerseits das Ende aller Onto-Theologie, andererseits den Ursprung eines postulatorischen Gottesglaubens 20. Die Vernunft scheitert an den Aufgaben, die sie sich mit transzendentaler Notwendigkeit selber stellt, und bedarf einer Wiederherstellung, die nur auf Hoffnung hin gelingen kann. So beantwortet die Religion die Frage »Was darf ich hoffen?« 21. Alle Aussagen der Religionen, insbesondere des Christentums, werden als Weisen verstanden, die diese in transzendentaler Hinsicht notwendige Hoffnung zum Ausdruck bringen. Im Zentrum der so verstandenen Religion steht »die Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote« 22. In der Welt, wie sie ist, kann das Sittengesetz nur erfüllt werden, wenn wir hoffen dürfen, daß Sittengesetz und Naturgesetz auf einen gemeinsamen Gesetzgeber verweisen, der den Weltlauf so lenken wird, Der stolze Name der Ontologie […] muß dem bescheidenen einer bloßen Analytik des reinen Verstandes Platz machen (KdrV A 247). 20 Vgl. R. Schaeffler, Kritik und Neubegründung der Religion bei Kant, in: Th. Brose (Hrsg), Religionsphilosophie europäischer Denker, Würzburg 1989, 154–176. 21 Kant, KdrV 1781, 804 f. 22 A. a. O. 232, vgl. Logik 125. 19
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daß die sittlich gebotene Tat zugleich einen wirksamen Beitrag zum sittlich gebotenen Zweck leisten kann. Damit aber verbindet sich die Hoffnung auf einen »Urteilsspruch aus Gnade«, weil nur dieser den Menschen zum sittlichen »Sinneswandel« (Metánoia) fähig macht 23. Die so verstandene Religionsphilosophie wurde zu einer philosophischen Rechtfertigung des Christentums – und zugleich, mehr als Kant bemerkte, des Judentums (daher die große Zahl von Juden unter den Kantianern). Ein Blick in die Wirkungsgeschichte: Kants Religionsphilosophie hat unter allen Teilen seiner philosophischen Äußerungen die geringste Zustimmung gefunden. Die unmittelbare Wirkung seiner transzendentalen Kritik bestand daher nicht darin, daß die noch unentfalteten Ansätze seiner Religionsphilosophie weiterentwickelt worden wären, sondern in der »Psychologisierung« des Religionsverständnisses. Da, wie man Kant (miß-)verstand, eine rationale Rechtfertigung der Religion unmöglich geworden sei, kam es darauf an, die Religion als Ausdruck des »Gefühls« und seiner »Bedürfnisse« zu begreifen und diese auf ihre »Lebensbedeutung« hin zu befragen. Damit blieb freilich der »Wahrheitsanspruch« der Religionen ausgeblendet. Das hatte den methodischen Vorteil, daß der Betrachter auch solche Religionen unbefangen beschreiben und verständnisvoll auslegen konnte, deren Aussagen er sich nicht zu eigen machte. Freilich mußte unter dieser Voraussetzung der Verbindlichkeitsanspruch der Religionen als Ausdruck einer »Illusion« verstanden werden, die ihrerseits psychologisch gedeutet werden mußte 24. Theologiegeschichtlich wurde dieses Religionsverständnis zum Thema des »Modernismusstreits«. Die Kritiker des Modernismus machten die Philosophie Kants dafür verantwortlich, das dem Menschen »von seiten des Intellekts der Weg zu Gott versperrt« sei und deswegen der Glaube zu einer Sache subjektiver Gefühle werden mußte 25. Auf zwei Wegen wurde ein Ausweg aus dieser Lage gesucht: Einerseits konnte versucht werden, das Gefühl als einen intentionalen Akt eigener Art zu erweisen, der nicht nur die Befindlichkeit des Subjekts zum Ausdruck bringt, sondern seine eigene wirklichkeitserschließende Kraft besitzt (Vorstadien zu einer Phänomenologie der Religion). Andererseits konnte versucht werden, vom transzendenta23 24 25
Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, A 46, vgl. A 95. S. Freud, Die Zukunft einer Illusion, Werke XIV, 323–380. Enzyklika »Pascendi« Nr. 632.
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len Ansatz aus eine neue philosophische Gotteslehre zu entwickeln (Maréchal) 26 und diese theologisch fruchtbar zu machen (Rahner) 27. Dies geschah durch eine Analyse des Urteilsakts mit seiner Copula »Ist«, die als Ausdruck eines alle kategoriale Erkenntnis ermöglichenden Vorgriffs auf das absolute Sein interpretiert wurde, aber auch durch Analyse des Willensaktes, sofern in jeder Bejahung irgendeines Gegenstands die Selbstbejahung des Subjekts impliziert ist, die ihrerseits angesichts der Unvollkommenheit des Menschen nur als Nachvollzug des göttlichen Ja zu seiner Kreatur verstanden werden kann. Die Religion galt nun als die zumeist »unthematisch« bleibende Gottesbeziehung des menschlichen Geistes, die all seinen Akten zugrunde liegt und daher sogar in der »kategorialen« Gottesleugnung noch impliziert ist. Diese allgemein-menschliche, wenn auch zumeist »anonyme« Gottesbeziehung kommt in der christlichen Botschaft nicht nur zur kategorialen Ausdrücklichkeit, sondern zugleich zu ihrer Fülle, sofern erst die Incarnatio Verbi die »asymptotische Ferne« Gottes in seine »gnadenhafte Unmittelbarkeit und Nähe« verwandelt 28. Die nichtchristlichen Religionen bleiben, so verstanden, Gestalten des »Vorabends der Inkarnation« 29. 5.
Ein fünfter methodischer Ansatz: Religionsphilosophie auf der Basis der Phänomenologie
Die Phänomenologie Edmund Husserls, die nicht in speziellem Hinblick auf die Aufgabenstellung der Religionsphilosophie entwickelt wurde, ist in der Folgezeit für diese bedeutsam geworden. Husserl versteht seine Methode als eine spezielle Form der Transzendentalphilosophie, die er über Kant hinaus weiterentwickeln wollte 30. Im Anschluß an Franz Brentanos Lehre von der »Intentionalität« als dem Wesensmerkmal aller Bewußtseinsakte versucht Husserl, die Vielfalt von Formen intentionaler Akte und ihrer »Korrelate« zu beschreiben. Um jedoch die Einschränkung des Begriffs »Akt« auf die (kantischen) Anschauungs- und Denkformen und die entsprechende Einschränkung des Begriffs »intendierter Gegenstand« auf die spezi-
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J. Maréchal, Le point de départ de la metaphysique, 5 Bde. 1922 ff. K. Rahner, Hörer des Wortes, München 1941. K. Rahner, Grundkurs des Glaubens, Freiburg 1976, 135. K. Rahner, Grundkurs des Glaubens, 169. Husserl, Ideen I, Halle 1913, hier zitiert nach: Werke III, 216.
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fische Gegebenheitsweise der Gegenstände der (theoretischen und praktischen) Vernunfterkenntnis zu vermeiden, spricht er statt dessen von der »Noesis« als intentionalem Vollzug und dem »Noema« als dessen intentionalem Korrelat 31. Über Kant und Brentano hinausgehend, beschreibt er eine strukturelle Mannigfaltigkeit noetischer Vollzüge, deren Eigenart jeweils definiert, welche Art von noematischem Korrelat ihnen »originär gegeben« ist. Dabei wird die Frage »eingeklammert«, was das Subjekt »vor« dem Vollzug seiner Noesen, das intendierte Korrelat »außerhalb« der Beziehung auf die Noesis sei. Nur so kann vermieden werden, daß das »Phänomen« in seiner ursprünglichen Gegenbenheit vermeintlich auf etwas anderes »reduziert« wird (z. B. die Farben auf elektromagnetische Schwingungen und das Sehen auf physiologische Prozesse). Das Verfahren besteht darin, an der Eigenart des Gegebenen die spezifische Struktur des »gebenden« Aktes abzulesen. Dieser methodische Ansatz wurde von Nachfolgern Husserls auf speziell religionsphilosophische Fragen angewendet, um die besondere Eigenart der speziell religiösen Noesis und die spezifische Gegebenheitsart ihrer intentionalen Korrelate zu beschreiben. Auf solche Weise wurde es möglich, die Eigengesetzlichkeit der »religiösen Sphäre« zu wahren, statt die Religion auf außerreligiöse Sachverhalte oder Vorgänge zurückzuführen. Gegenüber allen psychologischen, soziologischen oder auch metaphysischen »Erklärungen« der Religion konnte so die Eigenart und Autonomie des Religiösen zur Geltung gebracht werden. Dabei wurde zur Kennzeichnung des intentionalen Korrelats, auf das der religiöse Akt sich bezieht, der Terminus »das Heilige« 32 bevorzugt. Dieses Adjektiv im grammatischen Genus Neutrum sollte zum Ausdruck bringen, daß die Eigenart des Religiösen nicht vom Inhalt abhängt, sondern von der Weise seiner Zuordnung zum religiösen Akt: Alles, was überhaupt erfahren werden kann, kann auch auf spezifisch religiöse Weise erfahren werden und ist dann dem religiösen Akt als »Manifestation des Heiligen« oder »Hierophanie« gegeben. Max Scheler hat den religiösen Akt als »Wertfühlen« beschrieben und dementsprechend das Heilige als »Höchstwert« bestimmt, der absolute Hingabe verlangt und ein absolutes Sich-Anvertrauen Husserl, Ideen I, 240. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917.
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möglich macht. Die Fähigkeit, einen solchen Höchstwert zu erfahren, wird selbst als Gabe erfahren, sodaß der Gegenstand des religiösen Akts zugleich als dessen Ursache verstanden wird. Scheler war der Ansicht, dieser Akt werde von jedem Menschen notwendig vollzogen, könne aber irregeleitet werden, sodaß Hingabe und Vertrauen sich auf einen unangemessenen Gegenstand beziehen (»Vergötzung« relativer Werte) 33. Friedrich Heiler hat demgegenüber das Unterscheidende des religiösen Aktes und seines Bezugs zum Heiligen an den Akten des Gebets abzulesen versucht 34. Rudolf Otto sah die spezifische Struktur des religiösen Aktes (das »religiöse Apriori«) darin, daß der, der diesen Akt vollzieht, an die Grenze alles rational Begreifbaren und ethisch Planbaren geführt wird und dort dem »ganz Anderen« begegnet, das sich allem Anschauen und Begreifen entzieht. Die Aufgabe besteht dann darin, angesichts solcher Erfahrungen nicht in einen »Irrationalismus schwärmender Willkürrede« zu verfallen, sondern das Erfahrene in »gefestigte gesunde Lehre« zu übersetzen. So ist der religiöse Akt nicht einfach »irrational«, sondern es kommt darauf an, »das Irrationale und sein Verhältnis zum Rationalen« als Bedingung der Beziehung auf das Heilige freizulegen 35. Nur kraft dieser Verknüpfung des Rationalen mit dem Irrationalen wird der religiöse Akt fähig, das Heilige zugleich als »Mysterium tremendum« und als »Mysterium fascinosum« zu ergreifen. Mircea Eliade hat den Akzent seiner Darstellung auf die Beobachtung gelegt, daß die gleichen Inhalte der Erfahrung bald auf ganz profane, bald auf religiöse Art erfahren werden können, jedoch so, daß die Entscheidung über die Gegebenheitsart des Gegenstandes nicht ins Belieben des Erfahrenden gestellt ist. Vielmehr wird die Hierophanie als Folge davon erfahren, daß das Heilige selbst einen beliebigen Gegenstand unserer Welterfahrung in seine Erscheinungsgestalt »transfiguriert« hat. Die Erinnerung an derartige Ereignisse der Transfiguration von bisher profanen Erfahrungsinhalten in Hierophanien führt dazu, Orte, Zeiten, Personen und Handlungen, die an dieser Transfiguration beteiligt waren, als »sakral« auszuzeichnen. Dadurch geht aus dem vom Menschen her nicht wiederholbaren ErMax Scheler, Vom Ewigen im Menschen, Leipzig 1920, hier zitiert nach: Werke Bd. V, 261 u.263. 34 Friedrich Heiler, Das Gebet, München 1918. 35 So der Untertitel seines Buches »Das Heilige«. 33
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Erstes Kapitel: Methoden der Religionsphilosophie
eignis der Hierophanie das tradierbare Symbol und, als Gefüge solcher Symbole, der »Symbolismus« konkreter Religionen hervor. Die »Dialektik der Hierophanie« beruht darauf, daß das Heilige von jeder Weltwirklichkeit, die es in seine Erscheinungsgestalt verwandeln konnte, dennoch verschieden bleibt; und diese Dialektik ihrerseits ermöglicht die »Verlagerung des hierophantischen Akzents« von einem Erfahrungsbereich auf den anderen und damit die historische Veränderung der Religion (z. B. die Akzentverlagerung von Fruchtbarkeitskulten, die den Erfahrungsbereich von Zeugung und Geburt, Saat und Ernte als bevorzugte Sphäre der Hierophanien erfahren, zu Kulten der Antizipation des Totengerichts, für die der Erfahrungsbereich des Ethischen zur bevorzugten Sphäre der Hierophanien geworden ist) 36. Eine kritische Bilanz der Ergebnisse, die die Religionsphilosophie mit Hilfe der phänomenologischen Methode erreichen konnte, führt zu folgenden Ergebnissen: Eine Religionsphilosophie, die mit phänomenologischer Methode verfährt, gestattet es – der Eigengesetzlichkeit der Religion Rechnung zu tragen und »reduktionistische« Auffassungen von ihr zu vermeiden, – die Eigenart religiöser Erfahrung des Wirklichen, aber auch die Vielfalt religiöser Sprach-Äußerungen, Handlungen und Sozialisationsformen (Gemeindebildungen) aus der besonderen Vollzugsform des religiösen Aktes begreiflich zu machen und – die Geschichte von Religionen aus der Dynamik des Verhältnisses zwischen dem religiösen Akt und der diesem Akt »originär gegebenen« Hierophanie zu deuten. In den bisher vorliegenden Formen der Religionsphänomenologie scheinen diese Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft zu sein, weil manche dieser Religionsphänomenologien – die von Husserl geforderte »Rückübersetzung« der Noemata (intentionalen Korrelate) in die Konstitutionsleistungen der religiösen Noesis (des religiösen Akts) nicht ausdrücklich vollziehen und so zu vergleichsweise äußerlichen Auflistungen religiöser Phänomene ihre Zuflucht nehmen (van der Leeuw), – die Differenz des religiösen Akts gegenüber anderen Akten, besonders der sittlichen Erfahrung, nicht deutlich herausarbeiten (Scheler), Mircea Eliade, Traité d’histoire des religions, Paris 1949, deutsch: Die Religionen und das Heilige, Salzburg 1954.
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Erstes Kapitel: Methoden der Religionsphilosophie
–
die Bedeutung der religiösen Intersubjektivität (z. B. Gemeindebildung) zugunsten der religiösen Individualität unterbestimmt lassen (Heiler), – die Geschichte der Religionen zugunsten »ewiger« Strukturen des religiösen Akts und seines Gegenstandsbezugs vernachlässigen (Otto) oder – die Eigengesetzlichkeit der Religion so sehr betonen, daß eine Kritik an der Religion im allgemeinen und bestimmter Formen der Religiosität im besonderen unmöglich wird (Eliade). Es wird zu prüfen sein, inwieweit eine Verbindung phänomenologischer Methoden mit der Analyse der religiösen Sprache geeignet ist, diese Schwächen zu überwinden. 6.
Ein sechster methodischer Ansatz: Die Linguistische Wendung in der Religionsphilosophie
Zwei Schwächen der traditionellen Religionsphänomenologie können durch eine Analyse der religiösen Sprache vermieden werden: der Verlust der von Husserl geforderten transzendentalen Reflexion (»Bilderbuchphänomenologie«), aber auch die schon bei Husserl selbst bemerkbare individualisierende Tendenz: Der intentionale Akt wird von Husserl und seinen Schülern als rein individuelle Leistung des Subjekts verstanden, das allenfalls sekundär, durch »Einfühlung«, eine Beziehung zu anderen Subjekten aufnimmt. Ein ausgeprägt transzendentales Verständnis der Sprachphilosophie hat Wilhelm von Humboldt entwickelt: Die unterschiedlich »gebauten« Sprachen sind ebensoviele »Verfahren«, subjektive Eindrükke in die Konstitution einer Gegenstandswelt zu transformieren 37. Im zwanzigsten Jahrhundert hat Ernst Cassirer diesen Ansatz weiterentwickelt und gezeigt, wie sich in der Geschichte eine Mehrzahl von Formen des Anschauens und Denkens herausgebildet hat, deren jede zum Aufbau je besonderer Formen der Gegenstandswelt geeignet ist. 38 Diese Pluralität betrifft sowohl die Anschauungsformen von Raum und Zeit als auch die Kategorien der Substanz und der Kausalität und die Ideen der Welt und vor allem des Ich. Diese Geschichte
Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, Berlin 1836. 38 Ernst Cassirer, Philosophie der Symbolischen Formen, 3 Bde. Berlin 1923–1929. 37
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Erstes Kapitel: Methoden der Religionsphilosophie
der transzendentalen, d. h. zum Aufbau einer Gegenstandswelt geeigneten Sprachformen läßt sich als Folge des dialektischen Wechselverhältnisses von Sprache und Rede (langue et parole) deuten, das Ferdinand de Saussure beschrieben hat 39. Da dieses Verhältnis mitsamt seiner Geschichte stets eine konkrete Sprachgemeinschaft voraussetzt, kann die Verknüpfung transzendentaler und sprachtheoretischer Methoden zugleich jener individualisierenden Tendenz entgegenwirken, die für die Phänomenologie bisher charakteristisch war. Gegenüber diesen Formen einer transzendental verstandenen Sprachphilosophie ist, vor allem in England, dann auch in Österreich, eine zunächst positivistische Sprachtheorie entstanden, deren Primärziel darin bestand, die »Verführung des Denkens durch die Sprache« zu durchschauen und zu überwinden (Gilbert Ryle, aber auch, parallel dazu, Rudolf Carnap und der »Wiener Kreis«). Während die transzendentalen Sprachtheorien auch die religiöse Sprache als eigenständige »symbolische Form« beschreiben konnten, diente der »logische Positivismus« vorwiegend der Kritik an aller Metaphysik und Religion. Ein Ausweg konnte in der Annahme gesehen werden, die religiöse Sprache beschreibe nicht Sachverhalte, sondern drücke »Einstellungen« aus (so vor allem John Wisdom). Dies löste eine Diskussion darüber aus, ob »propositionale Gehalte« für die Sprache der Religion wesentlich seien oder nicht. Der positivistischen Sprachtheorie kann vorgeworfen werden, sie sei Ausdruck einer »vor-phänomenologischen Einstellung«, weil sie nicht auf die unterschiedlichen Formen der Noesen reflektiert und daher nur eine einzige Form von Noemata, die »Tatsachen« der empirischen Naturforschung, anerkennt und dadurch zu einem »vordialektischen Realismus« gelangt. Dagegen führen die Versuche, die religiösen Aussagen vor dem »Sinnlosigkeitsverdacht« zu rechtfertigen, indem man sie als »in Aussagesätze verkleidete Selbstaussagen« des religiösen Sprechers versteht, dazu, den Wahrheitsanspruch religiöser Aussagen als Folge eines Selbstmißverständnisses des religiösen Sprechers zu beurteilen. Doch besteht das Verdienst dieser Versuche darin, die für das religiöse Sprechen bezeichnende Weise deutlich zu machen, wie der religiöse Sprecher sich als engagiertes,
Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale, Lausanne/Paris 1916, deutsch: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 21967.
39
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Erstes Kapitel: Methoden der Religionsphilosophie
mit seiner Person für den Gehalt seiner Aussage eintretendes Subjekt verhält (»self-involvement«) 40. Eine folgenreiche Innovation der Sprachphilosophie bedeutete die Entdeckung, daß sprachliche Ausdrücke den Charakter von Handlungen haben. Einerseits weist jede sprachliche Äußerung Sprecher und Hörer in ein Verhältnis untereinander ein, dessen Eigenart an der Form der sprachlichen Äußerung abgelesen werden kann. Dadurch hat jeder sprachliche Ausdruck zugleich einen »pragmatischen« (handlungshaften) Aspekt 41. Andererseits haben bestimmte sprachliche Ausdrücke den Charakter von »Sprach-Handlungen«, indem sie nicht beschreiben, was unabhängig von ihnen schon ist, sondern stiften, was ohne sie nicht zustande käme. Die deutlichsten Beispiele dafür finden sich in der Sprache des Rechts und der Religion 42. Für derartige geprägte Formen intersubjektiven Sprachverhaltens hat Ludwig Wittgenstein den Ausdruck »Sprachspiele« geprägt. D. Z. Phillips hat das Gebet als ein derartiges »autonomes Sprachpiel« darzustellen versucht 43. Er hätte dabei zurückgreifen können auf Hermann Cohen, der das Gebet, lange vor Austin, als »Sprachhandlung« bezeichnet und seine beabsichtigte Wirkung darin gesehen hat, in eine »Korrelation« mit Gott einzutreten, die er vor allem als Wechselspiel von göttlichem Gebot, menschlichem Gebet und göttlicher Vergebungszusage beschrieben hat 44 (Ursprung der »Philosophie des Ich und Du«, weiterentwickelt von Franz Rosenzweig und Martin Buber). Weiterführende Fragen der Religionsphilosophie betreffen vor allem zwei Problemkomplexe: Das Verhältnis der religiösen Sprachhandlungen mit ihrem Anspruch auf Wirksamkeit zu religiösen Aussagen mit ihrem Anspruch auf Wahrheit, sowie das Wechselverhältnis zwischen eigengesetzlichen (»autonomen«), aber nicht selbstgenügsamen (»autarken«) Sprachspielen. Einen Zugang zum ersten Problemfeld eröffnet die allgemeine Beobachtung, daß in SprachVgl. Friedo Ricken, Sind Sätze über Gott sinnlos?, in: Stimmen der Zeit 193 (1973), und Ingolf U. Dalferth, Sprachlogik des Glaubens, München 1984. 41 C. W. Morris, Foundations of the theory of signs, 1938. 42 J. L. Austin, How to do things with words, Oxford 1962; J. R. Searle, Speach acts, Cambridge 1969. 43 D. Z. Philips, The concept of prayer, 1965; Religious beliefs and language-games, in: Ratio 12, 1960. 44 Hermann Cohen, Die Philosophie der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 1928, hier zitiert nach: Nachdruck Wiesbaden 1966, 463. 40
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Erstes Kapitel: Methoden der Religionsphilosophie
handlungen Aussagen impliziert sind, deren Unwahrheit die Unwirksamkeit der entsprechenden Handlung zur Folge hätte. Auf speziell religiösem Felde ist das ausgezeichnete Beispiel der Hymnus, der als Gotteslob Handlungscharakter hat, aber größtenteils aus Aussagesätzen besteht. Einen Zugang zum zweiten Problemfeld eröffnet die Beobachtung, daß innerhalb des religiösen Sprechens (z. B. bei der Weitergabe des sakramentalen Wortes) Auslegungsprobleme entstehen, wobei unter gewissen religionshistorischen Bedingungen zwischen Alternativen der Auslegung durch argumentierendes Sprechen entschieden werden muß 45. Diese Fragen leiten über von der Betrachtung religionsphilosophischer Methoden zu einem zweiten Kapitel: der Beschreibung der Eigenart und Funktion der religiösen Sprache.
Vgl. R. Schaeffler, Das Gebet und das Argument, 1989, sowie: ders., Kleine Sprachlehre des Gebets, 1988.
45
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Zweites Kapitel Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
1.
Vorbemerkung zur Themenwahl
Die Analyse der religiösen Sprache ist kein bloßes »Vorspiel«, dem die Erörterung religionsphilosophischer Sachprobleme nachfolgt, sondern eine Methode, um diese Probleme sachgerecht zu erörtern. Im vorigen Kapitel wurde gezeigt: Um sicher zu sein, daß man – philosophisch, aber auch theologisch – wirklich von Religion und nicht von etwas anderem spricht, muß man aufmerksam darauf hören, wie Religionen sich selber aussprechen. Über viele Inhalte der religiösen Rede kann man auch ganz säkular sprechen (z. B. über den Ursprung der Welt oder das Wesen des Menschen). Das unterscheidend Religiöse liegt in der Weise, wie über solche Themen gesprochen wird. Religionen bauen durch ihre besondere Form des Anschauens und Denkens spezifisch religiöse Erfahrungswelten auf. Nur in diesem Kontext haben die religiösen Ausdrücke (z. B. »Gott«, »Heil«, »Gnade«) ihren »Sitz im Leben«. Das religiöse Noema ist nur der religiösen Noesis originär gegeben. Die Form dieser Noesis aber kann an der religiösen Sprache abgelesen werden. Darum macht die Analyse der religiösen Sprache es möglich, diejenigen Fragen, die gerade heute eine religionsphilosophische Behandlung nötig machen, so zu erörtern, daß der Gegenstand religionsphilosophischer Erörterung getroffen und nicht schon durch die Weise der Fragestellung verfehlt wird. Beispiele für solche Fragen sind: a) Was sind spezifisch religiöse Phänomene? (Was sind die Themen, die von den Religionswissenschaften zu behandeln sind?) b) Wie lassen sich Religionen auf sachgerechte Weise vergleichen, statt nur an ihren Sekundärfolgen gemessen zu werden (z. B. an ihrer Bedeutung für die Moral oder das gesellschaftliche Leben)? c) Wie sind Kriterien zu gewinnen, um »genuin religiöse Phänomene« von Fehlgestaltungen des Religiösen zu unterscheiden
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Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
(z. B. hinsichtlich der »neuen Religionen«, aber auch im kritischen Vergleich »klassischer« Religionen)? Die Behandlung dieser und ähnlicher Fragen setzt voraus, daß zunächst Beispiele solcher religiöser Sprachformen analysiert werden, die sich innerhalb ihres Kulturkreises als relativ selbständige »Genera loquendi« herausgebildet haben und zugleich in signifikant vielen Religionen aus unterschiedlichen Kulturen auf vergleichbare Weise wiederkehren. Das wird die zentrale Aufgabe der folgenden Ausführungen sein.
2.
Leitende Gesichtspunkte
Die gewählten Beispiele werden unter folgenden Gesichtspunkten betrachtet werden: a) Die Struktur einer jeweils besonderen Sprache ist Gegenstand ihrer »grammatischen« Betrachtung. Diese Sprach-Struktur hat transzendentalen Charakter: Sie zeichnet die Bedingungen dafür vor, subjektive Erlebnisse in einen Kontext einzufügen, innerhalb dessen sie zu Inhalten objektiv gültiger Erfahrung umgestaltet werden können. Die religiöse Sprache leitet dazu an, an den Grenzen des Sagbaren zu sprechen (daher die Verwendung konkurrierender, oft in sich gebrochner Bilder). So werden Sprecher und Hörer fähig, gerade solche Erlebnisse in Erfahrungen zu transformieren, die sich an den Grenzen menschlicher Erfahrungsfähigkeit bewegen. »Weh mir, ich vergehe!« – »Ich habe den Herrn gesehen und lebe noch.« b) Die Funktion der Sprache beim Aufbau einer Kommunikationsgemeinschaft ist der Gegenstand ihrer »pragmatischen« Betrachtung. Je besondere Sprachen (z. B. die Argumentationssprache der Wissenschaft, aber auch die Sprache des gemeinschaftlichen Gebets) leiten dazu an, besondere Kommunikationsgemeinschaften aufzubauen und innerhalb ihrer den Sprechern und Hörern bestimmte »Rollen« zuzuweisen (z. B. die Rolle von Diskussionspartnern innerhalb der Gemeinschaft der Forschenden, aber auch die Rolle von Gliedern der Betergemeinschaft, die sich in der Wechselrede des Gotteslobs konstituiert). Die so entstehende Intersubjektivität ist zugleich der Prüfstein für die objektive Geltung des Gesagten. 38 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
A Sprachformen des Gebets
c)
Die »semantische« Frage nach der Bedeutung der verwendeten Ausdrücke ist nicht ohne Bestimmung ihres »Sitzes im Leben« der Kommunikationsgemeinschaft zu beantworten. Darum ist die Aufgabe der Semantik nicht ohne Grammatik und Pragmatik erfüllbar. Es ist immer der Kontext (Grammatik) und der Sitz im Leben (Pragmatik), der die Bedeutung des Gesagten bestimmt. Dieser Kontext aber ist historisch veränderlich. Darum ist die Frage nach der Bedeutung des Gesagten und Gedachten nur durch eine »formgeschichtliche« Sprachbetrachtung zu beantworten, die die Entwicklung der Sprachformen aus der Geschichte der Sprachgemeinschaft deutet, in der diese Ausdrücke ihren »Sitz im Leben« haben. d) Unter diesen Betrachtungsweisen hat die pragmatische einen methodischen Vorrang. Das wird beim spezifisch religiösen Sprechen besonders deutlich: Das Gebet ist »Sprachhandlung« und dient einem dreifachen Ziel: (a) dem »Eintritt in eine Korrelation« mit der angerufenen Gottheit, (b) der »doxologischen« Antwort, durch die der Mensch die »Doxa Theou« – die Weise, wie Gott »aufleuchtet« und sich dadurch zu vernehmen gibt – für sich und andere zur Sprache bringt, und (c) dem Aufbau einer dem religiösen Wort entsprechenden Sprachgemeinschaft, die sich selbst als Ort der aufscheinenden Gegenwart Gottes begreift, der »thront auf den Lobgesängen« seiner Gemeinde (Ps 22,4). Die Wichtigkeit der »pragmatischen« Betrachtung des Gebets wird auch dadurch deutlich, daß gerade hier die größten Verstehensschwierigkeiten zu überwinden sind. Sie beruhen gewöhnlich nicht darauf, daß den Mitgliedern die Kenntnis eines ausreichenden »Schatzes« von »passenden« Gebetsformulierungen fehlt, sondern daß sie »nicht wissen, was man tut, wenn man betet«. Erst von den Zielen der Sprachhandlung her wird auch die grammatische Form der Gebets-Sprache und die Bedeutung der dabei benutzten Ausdrücke verständlich.
A
Sprachformen des Gebets
1.
Die »Acclamatio Nominis« – Pragmatik, Grammatik, Semantik
Die Namensanrufung ist ein klassisches Beispiel einer »SprachHandlung«, die nicht mitteilt, was unabhängig von ihr schon der Fall 39 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
ist, sondern eine neue Situation schafft, die ohne sie nicht zustande käme: Sie ist der wirksame Vollzug des Eintretens in eine Korrelation 46. Ihr primärer Kontext ist nicht die Aussage, sondern der Gruß, der eine gegenwärtig erlebte Begegnung mit der Erinnerung an eine gemeinsame Vergangenheit verbindet. Indem der Grüßende den Gegrüßten wiedererkennt, trägt der Gruß auch zur eigenen Identitätsfindung des Grüßenden bei: Dieser eignet sich die gemeinsam erinnerte Vergangenheit als Teil seiner eigenen Lebensgeschichte an. Das Moment des wirksamen »Eintretens in eine Korrelation« wird besonders deutlich in der Namensanrufung, durch die der Betende in die Korrelation zum Heiligen eintritt, um durch sein Gedenken an die Taten und Leiden des Heiligen der Treue zu antworten, mit der dieses selbst keine seiner Worte und Taten vergißt. Kant hat die Einheit des Aktes »Ich denke« als die Möglichkeitsbedingung der Erfahrung beschrieben, zugleich aber als »Idee« (Zielvorstellung von der Erfüllung einer Aufgabe). Die Sprachphilosophie kann zeigen: Diese Aufgabe wird nicht durch abstrakte Begriffsbildung erfüllt, sondern durch das Eintreten in interpersonale Korrelationen, in denen Erinnerungen und erlebte Gegenwart sich zu einer erzählbaren Geschichte zusammenschließen. Zu den unterscheidenden Merkmalen der religiösen Namensanrufung gehört, daß das immer neue Wieder-Erkennen des gleichen Gottes nicht nur die individuellen Erinnerungen des Grüßenden mit der erlebten Gegenwart verknüpft, sondern das Ganze der »Weltzeit« (hebr. olam) im Wechsel der Generationen umfaßt. »Das ist mein Name auf Weltzeit, das mein Denkzeichen von Geschlecht zu Geschlecht« (Ex 3,15). Darum hat die erfahrene Zuwendung Gottes einen doppelten Aspekt: die Zusage immer neuer Präsenz beim Anrufenden und die verläßliche Dauer des Angerufenen, »dessen Jahre nicht altern« (Ps 102,7). Daher die Doppeldeutigkeit der Selbstbenennung Gottes im brennenden Dornbusch »Ich bin da« und »Ich bin«. Diese beiden Bedeutungen sind nicht als »hebräisches« bzw. »griechisches« Gottesverständnis gegeneinander auszuspielen, sondern als Hermann Cohen hat den Begriff der »Sprachhandlung« im Zusammenhang einer Analyse der jüdischen Gebets- Sprache geprägt, speziell im Blick auf die Namensanrufung Gottes in der Liturgie des Versöhnungstages. Alles Nachdenken über die Religion »bliebe Theorie, wenn nicht das Gebet die Sprachhandlung würde, in welcher der Wille lebendig wird an allen Mitteln des Denkens« (H. Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 1928, hier zitiert nach dem Nachdruck Wiesbaden 1966, 463).
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A Sprachformen des Gebets
Doppelaspekt der Gottesbeziehung zu begreifen: personale Gegenwart und verläßliche Dauer. Diese Erfahrung der göttlichen Präsenz und verläßlichen Dauer spricht sich in Bekenntnissen aus: »Unsere Hilfe ist im Namen des Herrn, dem Himmel und Erde Machenden« (der Himmel und Erde im Anfang gemacht hat und immer neu macht). »Der Name des Herrn [= seine anrufbare Gegenwart] sei gepriesen, von diesem Augenblick her und bis in alle Weltzeiten« (ex hoc nunc et usque in saecula). Der »Sitz im Leben« solcher Bekenntnisse ist die gottesdienstliche Sprachhandlung der Segens-Zusage (vgl. den bischöflichen Segen, der durch diese beiden Bekenntnisse eingeleitet wird). Für den Beter entsteht daraus die Möglichkeit, aber auch die Aufgabe, »den Namen zu einen«, d. h. in allen Wechselfällen des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens die immer neuen Formen der Gegenwart des gleichen Gottes zu erkennen. Der Versuch, diese Aufgabe zu erfüllen, füllt das ganze Leben des Individuums und der ganzen Menschheit aus. »Am Ende der Tage wird der Herr ein einziger sein und sein Name ein einziger« (Sach. 14,9). Mit der »Einung des Namens« aber gewinnt der Beter zugleich die »Einung des Herzens«. Indem er in allen Wechselfällen des Lebens und der Geschichte das Wirken des einen Gottes wiedererkennt, findet er zugleich zur eigenen Identität, die ihn zum selbstbestimmten Denken und Handeln befähigt. Darum wird die in der gottesdienstlichen Anrufung erfahrene Gegenwart Gottes für den Beter zur Quelle der Kraft: »Der Herr ist meine Kraft und mein Lied und ist mir zur Rettung geworden« (Ex 15,2 = Jes 12,2 = Ps 118,14). Der »Pragmatik« der Namensanrufung (ihrem Charakter als Sprachhandlung, der immer neu vollzogene Eintritt in eine »Korrelation« mit dem Angerufenen) und der in dieser Korrelation gewonnenen Fähigkeit, erlebte Gegenwart und erwartete Zukunft zur Einheit einer Geschichte zu verbinden, entspricht ihre grammatische Gestalt: die in vielen Religionen vorherrschenden Kausativ-Formen des Namens (»der machte, daß wir aus dem Sklavenhaus gehen konnten«, »der macht, daß wir sterben, und macht, daß wir leben«) und seine partizipiale Gestalt: »du uns Herausführender«, »du Himmel und Erde Machender« (in den Übersetzungen werden diese Partizipialformen zumeist durch Relativsätze wiedergegeben »O Gott, der du …«, »Deus qui …«). Die Bedeutung dieser partizipialen Sprachform: Die Korrelation, in die der Anrufende eintritt, ist von solcher Art, daß der 41 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
Beter das Wirken Gottes nicht abseits von seinem eigenen Wirken erfährt, sondern als dessen Möglichkeitsgrund. So wird die Erinnerung an das, was Gott getan hat, zum bleibenden Namen, weil am Betenden immer neu geschieht, was »an den Vätern« geschehen ist. Von der so verstandenen Grammatik aus fällt neues Licht auf die Pragmatik der Anrufung des Gottesnamens zurück. Der »ermächtigenden Macht« des göttlichen Wirkens, die in den Kausativ-Namen zum Ausdruck kommt, entspricht die »ermächtigte Macht« des Menschen, der Gott und seinem Namen zurückgibt, was er von ihm empfangen hat: in den spezifischen Handlungen der »Segnung« (»Sit nomen Domini benedictum«), der »Heiligung« (»geheiligt werde dein Name«) und der »Einung« (»Du hast uns deinen großen Namen nahegebracht in Treue, Dir zu danken und Dich zu einen in Liebe« – aus dem »Alejnu«-Gebet der jüdischen Gemeinden). Daraus bestimmt sich das religiöse Weltverständnis im Ganzen: die Anschauungsformen von Raum und Zeit (»Heute ist, wenn ihr meine Stimme hört«), die Begriffe des Bleibenden im Wandel (Substanz) und des Wirkens und der Wirksamkeit (Kausalität), die Kriterien zur Unterscheidung des Realen vom Fiktiven – Real und wirksam ist, was als je neue Erscheinungs- und Gegenwartsgestalt des göttlichen Wirkens verstanden werden kann: »Gott, dessen uralte Taten auch in unseren Zeiten blitzartig aufleuchten« (aus der Liturgie der Osternacht). Die Anrufung des Namens zeichnet den Kontext vor, in den die menschlichen Erlebnisse eingeordnet werden müssen, um als Inhalte der religiösen Erfahrung »gelesen« werden zu können. So bestimmt die Grammatik des Gebrauchs des göttlichen Namens zugleich seine Semantik: Von hier aus ergeben sich zugleich Kriterien zur Unterscheidung des legitimen Gebrauchs heiliger Namen von der Namensmagie. Namensmagie ist religiös illegitim, weil sie den Zweck dieser Sprachhandlung in sein Gegenteil verkehrt: aus der Erfüllung eines menschlichen Dienstes an Gottes Gegenwart in der Welt (»Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind …«) wird die versuchte Indienstnahme des Namens für menschliche Zwecke. Auch diese Perversion verweist noch auf ihren Ursprung im legitimen Namensgebrauch: Namensmagie ist möglich, weil die Anrufung des Namens auch in seinem legitimen Gebrauch als wirksame Sprachhandlung verstanden wird. »Der Magier ist der Affe des Priesters, nicht sein Ahnherr« (Karl Kerényi).
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A Sprachformen des Gebets
2.
Die Verwendung von Gottesnamen in Gebeten und Hymnen
Grammatisch zeigen Gebete und Hymnen die schon erwähnten Merkmale, vor allem den hymnischen Partizipialstil, näherhin die Partizipialformen eines Kausativs – »Der mit Erkenntnis Begabende« (ein jüdischer Gebetstext) – oft ersetzt durch Relativsätze (Deus, qui …). Gott ist der, der bewirkt, daß Menschen wirken können, indem er das, was er einmal getan hat, immer neu an den Menschen und durch sie tut. a)
Im Gebet
Aus dem Gedenken an das, was Gott in der Vergangenheit gewirkt hat, gewinnt der Beter die Hoffnung, mit diesem göttlichen Wirken auch in Zukunft beschenkt zu werden. Daher der klassische Aufbau römischer Orationen mit einem anamnetischen (rühmend erinnernden) Teil – »Der du die Herzen der Glaubenden mit dem Heiligen Geist erleuchtet hast (und weiter erleuchtest)« (aus der Oration des Pfingstfestes) – und einem deprekatorischen (bittenden) Teil – »Laß uns in demselben Geist erkennen, was recht ist«. Aus dieser Einheit von Erinnerung und Hoffnung gewinnt der Beter für die Gegenwart den »soliden« Boden und den freudespendenden »Trost«: »Et de eius semper consolatione gaudere«. Auf diesen Boden kann der Beter sich so stellen, daß er »Stand gewinnt im Erhofften«, und zwar auch in solchen Zeiten, in dem der Grund dieser Hoffnung sich seiner Erfahrung auf schmerzliche Weise verbirgt. Durch solches »Standgewinnen« wird der Beter zum Glaubenden. »Es ist aber der Glaube ein Feststehen im Erhofften und ein Überführtwerden von Tatsachen, die sich den Blicken entziehen« (Hebr 11,1). Die pragmatische Frage: Was tun Beter, wenn sie so zu Gott sprechen? Sie versammeln Erinnerung und Hoffnung in die gegenwärtige Stunde der gottesdienstlichen Feier. Diese aktiviert nicht nur im Bewußtsein Bilder von dem, was in der Realität nicht mehr ist, sondern bereitet für die reale Ankunft (Parusía) des göttlichen Wirkens die Orte und Stunden inmitten der Zeit (»Darum sind wir eingedenk«). Klassische Beispiele: – Der jüdische Sabbath als Gedenktag der Vollendung des göttlichen Schöpfungswerks am »siebten Tag« und zugleich als Tag der Hoffnung auf den »ewigen Sabbath«, als Tag der gegenwärtigen Ruhe, in der sich auch das menschliche Sechs-Tage-Werk 43 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
vollendet und die deshalb auch dieses Sechs-Tage-Werk der Arbeitstage heiligt (aus dem »Knechtsdienst« – abodah – in Sendung – melachah – verwandelt). – Die christliche Osternacht als Gedenkfeier der Auferweckung Jesu und zugleich als Feier der Hoffnung auf die Auferweckung der Glaubenden, schließlich als Feier der gegenwärtigen Einweihung in das Leben der kommenden Welt (Taufe). Zur Semantik der im Gebet verwendeten Ausdrücke: Aus dieser Versammlung von erinnerter Vergangenheit und erhoffter Zukunft in die Gegenwart der gottesdienstlichen Feier ergibt sich das religiöse Verständnis der Zeit und der Geschichte. Orationen benennen in ihren anamnetischen Teilen die »Denkwürdigkeiten« solchen Gedenkens, in ihren deprekatorischen Teilen die »Hoffnungswürdigkeiten«, auf die der Beter sich in der Kraft solchen Gedenkens beziehen kann. b)
Im Hymnus
Im Hymnus bleiben die grammatischen Merkmale der Gottesanrufungen erhalten (»hymnischer Partizipialstil« und »Kausativa«). Viele Gottesnamen werden aneinandergereiht (»Tu solus sanctus, Tu solus Dominus, Tu solus altissimus«), oft verbunden mit einer Reihe von Ausdrücken der Verehrung (»Laudamus te, benedicimus te, adoramus te, gratias agimus tibi«) oder mit einer Reihe von bittenden Anrufungen (»Miserere nobis, suscipe deprecationem nostram«). Die anamnetischen Teile der Orationen werden zu ausführlichen Erzähl-Sequenzen erweitert (z.B im »Schilfmeerlied« Ex 15). Die pragmatische Funktion: Der Gottheit wird ein Wort »zurückgeben«, das ihren Taten »entspricht« (homologei). Dem »Gedenken« Gottes soll das menschliche Gedenken entsprechen 47. Der aufleuchtenden Herrlichkeit (Doxa, Gloria) Gottes, der aus seiner Verborgenheit hervortritt, sollen die Menschen durch die »doxologische« Rede dienen (»Gloria in excelsis Deo – ad gloriam Dei patris«, nach der griechischen Urfassung des Gloria, entsprechend dem Hymnus in Phil. 2). Das Moment der »doxologischen Antwort« auf das vgl. dazu die beigefügten Textbeipiele am Ende dieses Kapitels, insbesondere den Hymnus an Bakchos mit der Anrede: »Du gedenkst deiner Mutterstadt Theben«, der Bitte »Zeige dich, Herr, und mit der Aufforderung der Menschen zum gottesdienstlichen Gedenken im »Reigentanz die ganze Nacht hindurch«.
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A Sprachformen des Gebets
Aufleuchten der »Doxa Theou« (Gloria Dei) wird besonders deutlich in der Entfaltung der Anrufungsnamen in den »Lobpreis« der Gottheit und ihrer Taten. Ziel dieser Sprachhandlungen ist es nicht, die Gottheit »durch Lobsprüche gnädig zu stimmen«, sondern darin, in der Gestalt des menschlichen Wortes, die gnädige Zuwendung der Gottheit gegenwärtig und erfahrbar werden zu lassen. Dieser Aufgabe des »Gotteslobs« entspricht die Sprachform: Das Wort des Gebets ist der ausgezeichnete Fall eines Wortes, das dem Menschen vom Heiligen selbst »in den Mund gelegt« ist (Ps 40,3) und nur in dessen Vollmacht ausgesprochen werden kann (Zurückweisung aller Versuche, über die Zuwendung des Heiligen magisch zu verfügen). Das Gotteslob soll zugleich die betende Gemeinde zum Ort der göttlichen Gegenwart in der Welt aufbauen, zu einem »Tempel (Oikos) aus lebendigen Steinen«. Dieses »oikodometische« Moment des Gebets wird besonders deutlich in liturgischen Wechselrufen, durch die die Versammelten sich zur feiernden Gemeinde aufbauen. (»Dominus vobiscum – et cum spiritu tuo«, wechselseitige Zusage der heilschaffenden Gegenwart Gottes, »divina institutione formati« – »durch Gott in den Stand versetzt und in die Form gebracht«) c)
Folgerung
Die Verwendung von Aussagen (z. B. Erzählmomenten) im Rahmen von Sprachhandlungen (Gruß, Bitte, Bekenntnis) ist nicht eine »Verkleidung« von Handlungen in nur scheinbare Aussagesätze, sondern die Benennung des Grundes, der Sprachhandlungen möglich macht, und der Aufgabe, die der Beter erfüllen will: Diese besteht darin, Organ der heilschaffenden göttlichen Gegenwart zu sein. Diese Aufgabe kann der Mensch nicht aus eigenem Entschluß übernehmen, sondern nur, sofern er von der Gottheit selbst dazu verpflichtet wurde und zugleich zur Erfüllung dieser Pflicht befähigt worden ist (vgl. die Gebetseinleitung: »Durch heilbringende Aufträge dazu aufgefordert und durch göttliche Belehrung dazu in den Stand und die dazu notwendige Form gebracht – praeceptis salutaribus moniti et divina institutione formati – wagen wir zu sprechen«). Im Anhang zu diesem Kapitel werden einige Beispiele von Namensanrufungen im Gebet geboten, nämlich die »achtzehn Versiegelungen«, durch die im jüdischen Gottesdienst achtzehn Bitten zusammengefaßt und zur Geltung gebracht, »versiegelt« werden. Zugleich werden Beispiele zur Sprachform hymnischer Texte geboten: zwei 45 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
ägyptische Hymnen (an den Schöpfergott Ptah und den Sonnengott Re), ein griechischer Hymnus an Bakchos (in der Fassung aus der Antigone des Sophokles) und ein frühchristlicher Osterhymnus (Aurora lucis rutilat). Die Textbeispiele zeigen: die Form der Hymnologie hat transzendentale Bedeutung. Ihre Sprachform ist der empirisch vorfindliche Ausdruck des Vorgangs, in dem eine Welt religiöser Erfahrung aufgebaut wird. – Die Zeit: Zentriert um »heilige Zeiten«, an denen die »prototypischen« Taten (und Leiden) der Gottheit »ektypisch« wiederkehren und deshalb in Worten (und Handlungen) des Kultus gefeiert werden können. – Der Raum: Ein Gefüge von Wegen und Bahnen zu den »heiligen Orten«, an denen diese »Parusie« der Ursprünge gefeiert werden kann. (Daher die besondere Bedeutung von Wallfahrtsliedern). – Die Substanz: Das von der Gottheit her bleibend Gewirkte, das in der Erfahrungswelt seine wechselnden Erscheinungs- und Gegenwartsgestalten findet. – Kausalität: Die wirksame »Parousia« der Ursprünge, vermittelt durch die wirksamen Worte und Handlungen des Kultus. – Die Welt: Das Gesamtgefüge von Gestalten, die einer »Transfiguration« in Hierophanien fähig sind (christlicher Begriff: die Weltwirklichkeit als »Materia Sacramenti«). – Das religiöse Subjekt: Das zur wirksamen Zeichensetzung ermächtigte Ich, dessen Sprechen und Tun zur Erscheinungsgestalt der ermächtigenden Macht der Gottheit wird. – Geltungskriterien: Was im religiösen Kontext als objektiv gültig anerkannt werden soll, muß in den Beziehungsgefüge von Anamnese, aktueller Begegnung und zukunftsoffener Hoffnung eine Stelle finden.
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A Sprachformen des Gebets
3.
Die religiöse Subjektivität – am Beispiel neutestamentlicher Hymnen
Auch dafür werden im Anhang zu diesem Kapitel zwei Beispiele gegeben; das »Magnificat« der Jungfrau Maria und das »Benedictus« des Simeon, beide im Lukas-Evangelium. a)
Sprachliche Selbstbezeichnungen des Beters und seines Verhältnisses zu Gott
Der Befund: Das Überwiegen der Possessivpronomina gegenüber den Personalpronomina für den Beter: »Meine Seele«, »mein Geist« (Magnificat, Luk 1,47–55), »meine Augen« (Lobgesang des Simeon, Luk 2,29–35); für sein Gottesverhältnis: »Seine Magd«, »meine Rettung« (Magnificat) »Dein Knecht«, »Dein Heil« (Lobgesang des Simeon). Darin manifestiert sich nicht, wie manche Kritiker meinten, ein »Infantilismus«, der bei frommen Leuten bis ins Erwachsenenalter nachwirkt. (Kinder lernen früh, »mein« und »dein« zu sagen; das Wort »ich« tritt in ihrem Sprachschatz spät auf und wird auch dann noch oft durch Possessiv-Ausdrücke ersetzt: nicht »Ich habe Kopfweh«, sondern »Mein Kopf tut weh«.) Vielmehr bezeichnen Possessiv-Ausdrücke im religiösen Kontext die konstitutive Bedeutung der Korrelation. Was der Beter »ist«, ist ihm aus Gottes Wirken »zugeeignet« wie der eingeatmete Atem (anima, Seele) und soll Gott zugeeignet werden, wie der ausgeatmete Atem (spiritus, Geist). Diese Momente von Aneignung und Zueignung kommen in PossessivAusdrücken zur Sprache. Erst in diesem Wechselspiel von Aneignung und Zueignung gewinnt der Mensch die Fähigkeit zum Gotteslob (Magnificat!) und zur Ansage der »Revelatio« in zweifacher Bedeutung: Stiftung der Seh-Fähigkeit (revelatio gentium) und Entlarvung (revelatio cogitationum – beides im Hymnus des Simeon). b)
Die Krisis der religiösen Subjektivität (Simeon)
Allgemein verbreitet: Die Dialektik von Erleuchtung und Verblendung (Ödipus!) Ausdrücke im Hymnus des Simeon: Σημαῖον ἀντιλεγόμενον – ein Zeichen, das widersprüchliche Reden hervorruft – Πτῶσις καὶ ἀνάστασις – sodaß viele fallen und wieder aufstehen. Davon ist auch der Fromme nicht ausgenommen. 47 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
Auch er macht die Erfahrung, daß angesichts der religiösen Erfahrung seine Gedanken »hin und herlaufen«, und daß diese oft geheimen inneren διαλογισμοι in der Weise, wie er sich in widersprüchlichen Reden zu dem σημαῖον verhält, »entschleiert werden«. Auch durch seine Seele »wird mitten hindurchgehen das Schwert« – Διεξελεύσεται ρομφαία. c)
Die Hoffnung des religiösen Subjekts in dieser Krisis
Die Treue des göttlichen Gedenkens – »Seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht wie er gesprochen hat zu unseren Vätern« – ist der Grund der Befähigung des Menschen, sich dem »revelatorischen« Wort anzuvertrauen und so »selig« zu werden: »Selig bist Du, weil du geglaubt hast« – »Alle Geschlechter werden mich selig preisen« (Magnificat). d)
Folgerung
Zum religiösen Urteil wird nur fähig, wer sich der Krisis und Verwandlung seiner Subjektivität aussetzt: »Lasset euch nicht mitprägen ins Schema dieser Weltzeit. Lasset euch vielmehr umgestalten zur Neuheit des Denkens, damit ihr urteilsfähig werdet« (Röm 12,2). Diese Bibelstelle ist zum locus classicus einer weiterentwickelten Transzendentalphilosophie und transzendentalen Theologie (!) geworden, die sich der Geschichtlichkeit und Kontingenz unserer Urteilsfähigkeit bewußt geworden ist. Dabei wird die Umgestaltung, für die der Hörer der Botschaft sich offenhalten soll, verstanden als Befreiung von den Denknotwendigkeiten, die sich aus dem »Schema dieser Weltzeit« ergeben. Derartige Denknotwendigkeiten werden durch Beispiele erläutert: durch das »Fordern« der Juden nach Zeichen und das »Suchen« der Griechen nach Weisheit (1 Kor 1,22–24). e)
Weiterführende Deutung
Die »Metamorphose« des Beters ist als ektypische Entsprechung der prototypischen Metamorphose der Gottheit zu verstehen, die sich selber »leer gemacht« hat. Der Hymnus aus dem Philipperbrief mit seinen beiden Strophen (Phil 2,6–11 und 3,10 f. und 21) beschreibt als Prototypus den Gottessohn: Er war da in Gottes Gestalt und hat die Gestalt des Knechts 48 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
A Sprachformen des Gebets
angenommen und ist gerade dadurch in seine Herrlichkeit eingegangen. Der Ektypus ist der Mensch – gleichgestaltet seinem Tode, gleichgestaltet dem Leib seiner Herrlichkeit. Auslegung in einer christlichen Oration: da nobis eius divinitatis esse consortes qui humanitatis nostrae dignatus est particeps. Laß uns Schicksalsgenossen der Gottheit dessen werden, der unsere Menschheit als seinen Teil erwählt hat.
Gottes Koinonia mit uns als Grund unseres Consortium mit ihm. Religionshistorische Parallele: Die Aussage Heraklits über die Götter: »Wir leben ihren Tod und sterben ihr Leben« (Heraklit B 62).
4.
Das religiöse Erzählen
Namen, mit denen das Heilige im Gebet bezeichnet wird, werden (wie alle Namen) in Sequenzen von Erzählungen expliziert, durch die die Geschichte des Angesprochenen und die des Sprechers in ihrer Differenz und Beziehung zur Sprache kommen. (Nicht jede Erzählung ist religiös, aber keine Religion kommt ohne Erzählungen aus. Nicht alle religiösen Erzählungen haben gottesdienstlichen Charakter, aber kein Gottesdienst kommt ohne spezifisch religiöse Erzählungen aus. Freilich gibt es auch nicht-verbale Formen des Gedenkens, z. B. gottesdienstliche Riten, aber diese gewinnen erst durch verbale Anamnesen ihre Eindeutigkeit.) a)
Allgemeine Aufgaben des Erzählens, die auch für das religiöse Erzählen gelten
Das Erzählen erschöpft sich nicht in der Aufreihung von Erinnerungen, sondern hat die Aufgabe, »Vergangenheit im Blick auf die Gegenwart, Gegenwart im Blick auf die Vergangenheit zu organisieren« 48. Daraus folgt: α) Was ein Name bedeutet, läßt sich nur durch Erzählungen erläutern.
Arthur Danto, Analytical philosophy of history, Cambridge 1965, dt.: Frankfurt a. Main 1974, 183.
48
49 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
β)
γ) δ)
ε)
Aus der Fülle des Erinnerten sind Denkwürdigkeiten hervorzuheben. Dazu gehören »Schlüsselerlebnisse«, deren Bedeutung dem Erlebenden – sei es dem Erzähler oder der Person, von der er erzählt – erst in Lauf seiner Erfahrungsreihen bewußt wird. Die einzelnen Erinnerungsinhalte sind so zu verknüpfen, daß dadurch ihre Bedeutung im Erzählkontext deutlich wird. Solches Erzählen ist Ausdruck der Erfahrungsfähigkeit des Erzählers und soll für den Hörer zur Schule der Erfahrungsfähigkeit werden. Im Erzählen und in Hören von Erzählungen lernt man, Erlebnisse so zu buchstabieren, daß sie als Erfahrung gelesen werden können. Darum gewinnen die Anschauungsformen (Raum und Zeit), die Kategorien (Substanz und Kausalität) und die Ideen (Welt und Ich) im Erzählkontext eine spezifische Bedeutung.
b)
Das Erzählen als Experiment
α)
Ein Experiment unter Menschen, die sich kennen Dem Anderen eine Geschichte erzählen, in der er (der Adressat) selber vorkommt. Und dem Anderen eine Geschichte erzählen, in der der Sprecher vorkommt: Erproben, ob Sprecher und Hörer eine gemeinsame Geschichte haben und ob sie sich ihre getrennten Geschichten zu Teilen ihrer gemeinsamen Geschichte aneignen können: Solches Erzählen ist ein Mittel kritischer Selbstfindung im Unterschied von rückwärts gewandter Fiktion, aber auch im Unterschied von der Flucht vor der eigenen Vergangenheit. Die Begegnung mit dem Fremden Hier geht es darum, Geschichten zu hören, die man nicht selber erzählen könnte, weil man nicht selber erlebt hat, wovon sie berichten, und weil man deshalb auch jene »Forma Mentis« nicht entwickelt hat, die der fremde Erzähler durch seine Erfahrungen ausgebildet hat. Solche Geschichten lehren: »Unsere Welt« ist nicht »die Welt«, weil »unsere Geschichte« nicht »die Geschichte« ist. Aber es gehört zu unserer Erfahrungswelt, daß uns in ihr Zeugnisse einer fremden (für uns befremdlichen) Welt und Geschichte begegnen. Geschichten, die wir uns nicht selber erzählen können, stellen uns die Frage, wie wir uns, über das bloße Befremden hinaus, zu dem darin bezeugten Anspruch des Wirk-
β)
50 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
A Sprachformen des Gebets
lichen verhalten und uns von ihm zu einer neuen Art der Antwort herausfordern lassen. c)
Spezifika des religiösen Erzählens
α)
Fast alle genera narrandi kommen auch in der religiösen Sprache vor. Was über das Erzählen im Allgemeinen gesagt wurde, gilt – mutatis mtandis – auch für das religiöse Erzählen. Auch hier wird die Namensanrufung in (hymnischen) Erzählungen expliziert. Auch hier werden die Hörer, vor denen (hymnisch oder auch prosaisch) von den Großtaten Gottes erzählt wird, unter jenen Anspruch des Heiligen gestellt, den sie nur dadurch beantworten können, daß sie im fremden Bericht zugleich eine Anrede vernehmen, die auch an sie gerichtet ist. Dann werden sie bekennen: Das Erzählte war nicht unsere Erfahrung. (Wir haben nicht, wie Stephanus, den Himmel offen gesehen, sind nicht, wie die Jünger, dem Auferstandenen leibhaft begegnet). Aber die darin bezeugte Zuwendung des Heiligen soll zu unserer Erfahrung werden. Die Weitergabe solcher Erzählungen ist »wirkendes Wort«, indem sie stets neue Hörer unter den Anspruch und die Zusage des Heiligen stellt, die die Erzählung bezeugt. Auch hier kann das Erzählen den Charakter eines Experiments haben. Es gilt, die eigene Geschichte und die Geschichten, in denen Gott vorkommt, so zu erzählen, daß sie »vor Gott getragen werden«, um zu erproben, ob menschlicher Sprecher und göttlicher Hörer eine gemeinsame Geschichte haben und ob diese sich so von rückwärts gewandten Fiktionen des Sprechers unterscheiden läßt: Zerbricht die religiöse Erinnerung an der religiösen Erfahrung von heute? Oder wird die Kontinuität der eigenen »vor Gott erzählten« Geschichte zum Anzeichen dafür, daß Gott »nicht vergißt«, was er am Menschen getan hat und so die Geschichte des Menschen zu seiner eigenen machen will (oft verbunden mit der bangen Frage: »Oder hast du es vergessen?«). Die Differenz ist also eher pragmatisch als grammatisch und semantisch, z. B. »Gott die Ehre geben« – der »doxologische« Charakter religiösen Erzählens oder »vor der Gemeinde erzählen« – die Erzählung als »erbauliche«, »oikodometische«, d. h. die Gemeinde zum »Tempel aus lebendigen Steinen« aufbauende Rede.
β) γ)
δ)
ε)
51 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
d)
Protologia
Eine spezifische, weit verbreitete Form religiösen Erzählens ist die »Protologia«, d. h. das Erzählen von dem »was im Anfang geschah«. Ihr Thema sind weder überzeitliche Prinzipien noch empirische Anfänge, sondern Ereignisse, die allen empirischen Erzählzusammenhängen ermöglichend vorausliegen. Ihre Aufgabe ist die Benennung der Bedingung, die alles empirische Erzählen notwendig und möglich macht. Es gilt, von den Anfängen so zu sprechen, daß der Hörer in dem, was er aus seiner Erfahrung kennt, die abbildhafte Präsenz der Ursprünge wiedererkennen kann. Grund für die Entstehung und Verbreitung solcher Protologien ist ein Proprium der religiösen Erfahrung: Wenn »das Heilige« sich zeigt, fällt immer neu die Entscheidung über Sein und Nichtsein des Erfahrenden und seiner ganzen Welt: »Himmel und Erde vergehen«. Wer dem Heiligen begegnet, weiß, wie es mit der Welt und dem eigenen Leben im Ganzen bestellt ist: Sie sind labil und in ihren Sein nicht durch eine Notwendigkeit ihres Wesens gesichert. Ihr Sein beruht auf einer »numinosen« Entscheidung. Und die Entscheidung, die das Numen »im Anfang« gefällt hat, kehrt in den unterschiedlichsten Inhalten unserer Erfahrung abbildhaft wieder. Die Stunde der religiösen Erfahrung ist zugleich die Stunde dieser abbildhaften Wiederkehr (Parousia) eines Anfangs, der von allen Ereignissen in der Zeit, die ihn »abbilden«, wesenhaft unterschieden (Coristón) ist, aber in jedem Ereignis in der Zeit seine neue Gegenwart (Parousia) finden kann. Solches Erzählen leitet dazu an, die Spuren dieser Ur- Entscheidung in allen Inhalten unserer Erfahrung wiederzuentdecken. Die Weise, wie Protologien von den Anfängen erzählen, das paradoxe »Zugleich« der empirischen Erscheinungen, z. B. die Verflechtung von Leben und Tod, von Notwendigkeit und Freiheit, wird in ein vorzeitiges »Nacheinander« ausgefaltet, das die Kontingenz des empirisch Erfahrenen aus einer »vor aller Zeit« gefallenen Entscheidung einer »numinosen« Willensmacht begreiflich macht, z. B. einer Entscheidung für das Leben der Welt oder für die Befähigung des Menschen zu freien Entscheidungen. Ihre Bewährungsprobe: Protologische Erzählungen bewähren sich in dem Maße, in dem sie die Paradoxien menschliche Erfahrung begreiflich machen und den Menschen dazu befähigen, sein Leben und seine Welt aus den göttlichen Ursprüngen zu erneuern. Die Aufgabe des Menschen ist eine Zeichendeutung durch Zeichenstiftung: 52 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
A Sprachformen des Gebets
Offenhaltung der Welt für ihre Erneuerung aus göttlicher Parousia. Protologien leiten den Menschen dazu an, die offene Entscheidung, die »im Anfang« geschah, in den Entscheidungen seiner Geschichte abbildhaft wiederzuentdecken. Folgerung für den sprachlichen Gebrauch religiöser »Bilder«: Hier wird nicht auf die Prota (Gott oder die Götter) »übertragen«, was für die Erfahrungswelt »sensu stricto« gilt, sondern auf die Erfahrungswelt abbildhaft »übertragen«, was nur von den Prota »urbildhaft« gesagt werden kann. Ein Beispiel: Aller Friede, den wir aus der Erfahrung kennen, ist nur das Abbild des Sieges über die ChaosMächte, den eine Gottheit »im Anfang« urbildhaft errungen hat. e)
Ein Sonderthema dieser Protologie: Sündenfallgeschichten
Sündenfallgeschichten erzählen vom Abschied der Götter aus der Welt der Menschen als Folge menschlicher Schuld. Diese Form, von den »Prota« zu reden, bewährt sich zum einen als Auslegung der paradoxen Einheit von Berufung und Versuchung und der Erfahrung: corruptio optimi pessima und zum anderen als Anleitung, diese Gefährdung des Menschen, die gerade in der Religion auftreten kann, durch Gehorsam gegenüber dem Willen der Gottheit zu überwinden. Die protologische Deutung: Das Gute ist »früher«, also grundlegender als die Verderbnis, aber die Gefährdung des göttlich gewirkten Guten durch menschlichen Ungehorsam ist omnipräsent. α) Die allgemeine Bedeutung dieses besonderen Themas: Sündenfallgeschichten benennen den Grund dafür, daß überhaupt Protologien notwendig sind (weil die Unmittelbarkeit zu den Göttern verloren ging und die Erinnerung an sie ausdrücklich festgehalten werden muß) und wodurch protologisches Erzählen möglich wird (dadurch, daß die »Bilder« dessen, was im Anfang geschah, überall in unserer Erfahrungswelt vorgefunden werden können und der Ausgestaltung zu wirksamen Gegenwartszeichen fähig sind: Klassischer Anwendungsfall: Die empirische Polis als »Abbild« eines verlorengegangenen unmittelbaren göttlichen Welt-Regiments) 49. Die Differenz zwischen dem protologischen »Damals« und dem empirischen »Gestern und Heute« ist Ausdruck einer verlorenen
49
Platon Politikos 23 d/e
53 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
β)
B
Gott-Unmittelbarkeit. Die Beziehung zwischen den protologischen »Damals« und dem empirischen »Gestern und Heute« weist die Wege zur theoretischen Deutung und praktischen Gestaltung der menschlichen Erfahrungswelt. Religionshistorische Sonderfälle: Die Erinnerung an göttliche Gründungstaten inmitten der Zeit (Herausführung aus Ägypten – Auferweckung Jesu) und ihre Deutung durch Gründungsereignisse vor aller Zeit (Der Ruhetag des Sabbath – Ziel des göttlichen Schöpfungswerks) als Urbild aller befreienden Handlungen Gottes in der Geschichte. Der Hervorgang des göttlichen Worts aus dem Vater vor aller Zeit als Urbild der Sendung des Sohnes in die Welt inmitten der Zeit).
Verbum externum und Verbum internum und die Funktion religiöser Aussagesätze
Bisher wurde der Mensch als Sprecher des religiösen Wortes vorausgesetzt: Er betet, er singt Hymnen, er erzählt. Jetzt soll gefragt werden: In welchem Sinne ist er »Hörer des Wortes«?
1.
Regeln aus der allgemeinen Sprachphilosophie
a)
Jede Sprache wird in drei Schritten erlernt: Hören – Nachsprechen – aktive Sprachkompetenz
Dann aber: Die Rückkehr zum neuen Hören Wer nicht hören will, kommt über das Lallen des Säuglings nicht hinaus. Wer nur nachspricht, kommt nicht zum Verstehen. Wer nicht vom eigenen Verstehen zum Hören auf andere Sprecher zurückkommt, bleibt in der Banalität durchschnittlichen Daherredens stecken. Erworbene aktive Sprachkompetenz macht hellhörig für die Unersetzlichkeit des gehörten Wortes (z. B. eines »klassischen Textes« der Dichtung oder Philosophie).
54 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
B Verbum externum und Verbum internum
b)
Es gibt, innerhalb jeder Sprache, Worte, die der Hörer sich nicht selber sagen könnte.
Aber auch solche Worte können nur gehört werden, indem der Hörer sie beantwortet – und sei es in der Form der ausdrücklichen Antwort: Verweigerung. α) häufigster Fall: Sprachhandlungen, die ein gemeinsam akzeptiertes Rollenspiel voraussetzen, in welchem Sprecher und Hörer dadurch »zusammenspielen«, daß nicht »alle das Gleiche« sagen, sondern »jeder das Seine«. β) der auslegungsbedürftige Fall: Aussagesätze, die »Gehör verlangen«, ohne »verkleidete Sprachhandlungen« zu sein. Zunächst profane Beispiele: Zeugnisse fremder Erfahrung, die der Hörer nicht selber machen konnte, die ihn aber anleiten kann, seinen eigenen Erfahrungshorizont zu erweitern, wie der Reisebericht (Empeiria!) oder eine fremde Lebensweisheit als Frucht einer Erfahrungsfülle, die dem Hörer noch fehlt, die ihm aber helfen kann, seine eigenen künftigen Erfahrungen zu deuten.
2.
Speziell: Religiöse Aussagen, die »Gehör verlangen«
a)
Die Erfahrungen der »vorher bereitgehaltenen (προκεχαιροτονημένοι) Zeugen« (Apg.10,41) und ihr Auftrag der Verkündigung (κήρυγμα)
Ihre Erfahrung ist nicht durch die Erfahrungen anderer ersetzbar und doch zugleich für Heil und Unheil der Vielen entscheidend. b)
Die Aussagen religiöser Weisheit
Es bedarf der eigens »geöffneten Augen«, um sie nicht für Torheit zu halten. Sie dienen dazu, auch den Hörern »die Augen zu öffnen« und sie vor den verderblichen Folgen der »Torheit der Weisen dieser Welt« zu bewahren. Dabei ist das religiöse Wort als Lebensweisung nicht »fromm verkleidete Moral«, sondern Anleitung dazu, das schon geschehen Wirken Gottes (das »Factum divinum«) als Quelle menschlichen Auftrags (als »Faciendum humanum«) zu begreifen.
55 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
c)
Ein lehrreicher Grenzfall
Die »Offenbarung« des »göttlichen Ratschlusses«, der gerade dadurch an sein Ziel gelangt, daß er »geheimgehalten« wurde und erst »am Ende der Tage« offenbargemacht werden kann. Darum wird das Zeugnis geschehenen Offenbarung für den Hörer zur »eschatologischen Zeit-Ansage« und zur Zusage der Hoffnung. d)
Das Problem: Die Bedingungen verantworteter Zustimmung
Äußere Bedingung: die Glaubwürdigkeit der Zeugen; innere Bedingung: die hermeneutische Bewährung durch die Befähigung der Hörer zu eigener religiösen Erfahrung und zu ihrem Verstehen, z. B. zum »Deuten der Zeichen der Zeit«. Erst so gewinnt auch der Hörer des religiösen Wortes »aktive Sprachkompetenz« und kann dann erneut zum gehörten Wort zurückkehren, um dessen Unersetzlichkeit zu erkennen.
3.
Religiöse Aussagen und ihr Wahrheitsanspruch
a)
Zur Diskussion mit dem »Logischen Positivismus«
Die religiösen Aussagen waren bevorzugter Gegenstand der Kritik durch den »Logischen Positivismus«. Empirisch weder verifizierbar noch falsifizierbar, galten sie als »gegenstandslos und ohne Aussagegehalt«. Eine oft gegebene Antwort bestand darin, solche Aussagen als »verkleidete Sprachhandlungen« zu interpretieren, um sie als »Sprachhandlungen« zu rechtfertigen, ihre »Verkleidung« aber zurückzuweisen. Diese Antwort entspricht nicht der Semantik religiöser Aussagesätze. Wohl aber kann darauf hingewiesen werden, daß die Wahrheit gewisser Aussagen die Bedingung für das Gelingen gewisser religiöser Sprachhandlungen ist. Beispiel: Wenn die Aussage »Christus ist auferweckt worden« nicht wahr ist, ist auch die »in persona Christi« zugesprochene Sündenvergebung unwirksam (1 Kor 15,17). b)
Die Funktion der religiösen Aussage
Die religiöse Aussage will nicht nur theoretische Kenntnisse vermitteln, sondern »Heilswahrheiten« anzeigen, nicht nur helfen, theo56 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
B Verbum externum und Verbum internum
retische Irrtümer zu vermeiden, sondern die Gefahr von »Frevelworten« aufdecken, die statt des Heils Unheil bewirken. Die Bedingung zu solcher im religiösen Sinne »wahrer« Rede ist die »Geistesgabe« der »Weisheit« (des Erfassens von dem, was in der Alternative von Heilswort und Frevelwort auf dem Spiele steht) und des »Verstandes« (der Unterscheidungskraft, die die Kriterien von Heilswort und Frevelwort erfaßt). »Sagen, was ist, und verneinen, was nicht ist« (= die klassische Definition für die Wahrheit der Aussage) bedeutet im Zusammenhang der speziell religiösen Rede: nicht von den eigenen Wünschen oder Ängsten sprechen, sondern von jenem Heilswirken Gottes, das allem menschlichen Sagen und Tun vorausliegt, und von jenem Gott sprechen, der so »ist«, daß er den Menschen zum Organ seines Heilswirkens machen kann: ein Gott der »ermächtigenden Macht«. c)
Schritte einer Explikation dieses Wahrheitsverständnisses
Zunächst weitere Beispiele für die schon erwähnte Regel: α) Das religiöse Wort, auch außerhalb der Sprachhandlungen, ist wirkendes Wort – und macht es nötig, seinen eigenen Möglichkeitsgrund zu benennen. Beispiele: – Die Ansage der »Stunde des Heils« (2 Kor 6,7) ist der Ursprung der religiösen Aussage, im Tode Christi sei jenes Heil schon gewirkt, das in der Stunde des Gottesdienstes wirksam gegenwärtig wird. – Der Zuspruch des Segens (»Es segne euch der allmächtige und gütige Gott«) impliziert die Aussage: »Gott ist allmächtig und barmherzig.« Folgerungen: Die Ansage wird zur frommen Fiktion, wenn die dabei vorausgesetzte Aussage nicht wahr ist. Umgekehrt wird die Aussage zur »Kenophonia«, wenn sie nicht zur Ansage übergeht. Die Aussage wird zur Anleitung, die angesagte Stunde zu erkennen und zu ergreifen: »Brüder, es ist Zeit, vom Schlafe aufzustehen« (Röm 13,12). Falsch-Aussagen sind Verführungen dazu, die angesagte Stunde des Heils zu verkennen und durch eine irregeleitete religiöse Praxis zu versäumen.
57 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
β) Das religiöse Wort, innerhalb und außerhalb des Gottesdienstes, ist hermeneutisches Wort. Dabei ist »Auslegung« nicht subjektive Zutat zu den »harten Tatsachen«, sondern die Freilegung »dessen, was ist« in der Erscheinungsgestalt der Weise, wie es für uns perzipierbar wird. Beispiele: – Die gottesdienstliche Hermeneutik als Mystagogie: Befähigung der Teilnehmer zur Mitfeier, zugleich aber Befähigung dazu, die außergottesdienstliche Erfahrung im Lichte der Gottesdienstfeier neu zu verstehen und zu gestalten, z. B. die Mystagogie der Todes-und Unsterblichkeitsweihen. – Die Predigt als Hermeneutik religiöser Überlieferungsinhalte: Befähigung der Hörer und Leser, ihre eigenen Erfahrungen im Licht der Überlieferung, die Überlieferung im Licht ihrer eigenen Erfahrung zu deuten. Solche Predigt bewährt sich als Hermeneutik der »Zeichen der Zeit«: Befähigung der Hörer, in den Widerfahrnissen des Lebens Gottes Wirken zu entschlüsseln (prophetische Geschichtsdeutung) und im Lauf des Lebens und der Welt den göttlichen Willen zu erkennen (Orakel – PriesterThorah). Folgerungen: Solche Auslegung bewährt sich darin, daß sie ihre Hörer dazu anleitet, spezifische Erfahrungen zu machen und sie zu verstehen, insbesondere aber dazu, spezifisch religiöse Handlungen und Worte und die Inhalte der profanen Erfahrung in ein Verhältnis zu bringen, in dem sie sich gegenseitig auslegen.
4.
Das Problem: Das Unterscheidungsmerkmal »heilsrelevanter« Wahrheiten
Die Aufgabe besteht darin, das Unterscheidungsmerkmal »heilsrelevanter« Wahrheiten zu bestimmen, die »um des Heiles willen« vor Fehl-Interpretationen geschützt werden müssen, aber auch davor, »mit unreinen Lippen und vor unreinen Ohren« ausgesprochen und so selber »verunreinigt« zu werden. Kriterium: Bleibt der wechselseitige Zusammenhang gewahrt, der zwischen der Wahrheit der Aussage und der wirksamen Erfüllung eines Auftrags im Dienste göttlicher Heilswirksamkeit besteht?
58 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
C Notwendigkeit und Möglichkeit der Entscheidung
C
Notwendigkeit und Möglichkeit der Entscheidung zwischen konkurrierenden Wahrheitsansprüchen
1.
Ein religionshistorischer Befund
a)
Logische Inkompossibilität besagt nicht immer religiöse Unverträglichkeit.
α)
Erzählungen: Es gibt »Varianten« von Protologien, aber auch von Auferstehungsberichten – zumeist ohne Notwendigkeit einer Entscheidung. Anleitungen zu gottesdienstlicher Praxis: »Orationes ad libitum«, lokale und gemeinschaftsspezifische Riten – »versöhnte Vielfalt«. Formen religiöser Lebensweisung – Frömmigkeitsstile und Formen der Askese: Differenz der Wege zum gleichen Ziel Normative Texte und unterschiedliche Schulen der Auslegung. Solche schulspezifischen Auslegungen sind Angebote, zwischen denen der Hörer sich nach eigenem Ermessen entscheiden, die er aber auch nebeneinander bestehen lassen kann.
β) γ) δ)
b)
Der Verdacht der Verderbtheit
Oft plötzlich und für den Betrachter unvermittelt entsteht, mitten in der Erfahrung »versöhnter Verschiedenheit«, der Verdacht der Verführung oder der Lästerung. Gewisse religiöse Erzählungen werden als »verderbt« beurteilt (z. B. das Urteil des Islam über die Bibel, die den »Ur-Koran« verfälscht habe; das christliche Urteil über die JesusErzählungen im Koran), Kultanweisungen als »pervers« (Menschenopfer), religiöse Lebensweisungen gelten als »unsittlich« (gnostisches Ehe-Verbot, aber auch: religiös begründete sexuelle Promiskuität), gewisse Auslegungen normativer Schriften gelten als »destruktiv« (das »Gott will es« als Motto von Kreuzzugspredigten).
2.
Kriterien zur Entscheidung über konkurrierende Wahrheitsansprüche
So entstehen zwei Fragen: Wann muß entschieden werden und wie kann entschieden werden? 59 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
a)
Wann muß entschieden werden?
α)
Wenn die Wirksamkeit heilsrelevanter religiöser Sprachhandlungen oder ihr legitimer Vollzug von der Wahrheit bestimmter Aussagen abhängt, dann ist eine Aussage als heilsbedrohend zu verwerfen wenn sie – die Bedingungen bestreitet, die die entsprechenden Sprachhandlungen möglich machen, – zu falschen Weisen des wirkenden Wortes verführt und wenn sie – eine ungerechtfertigte Anmaßung der Vollmacht zu wirksamen Sprachhandlungen enthält. Eine Aussage ist als heilsbedeutsame Wahrheit zu bekennen, wenn sie – die Stunde des wirkenden Wortes ansagt, – die Bedingungen seiner Wirksamkeit benennt und wenn sie – die Hörer zur angemessenen Antwort befähigt. Thema sprachphilosophischer Untersuchung ist dann der Zusammenhang zwischen der Wahrheit der Aussage und der Wirksamkeit der Sprachhandlung, der am Beispiel der religiösen Sprache besonders deutlich hervortritt, aber, wenn er dort einmal entdeckt ist, auch in profanen Sprach-Zusammenhängen wiedergefunden werden kann. β) Wenn die religiöse Aussage stets hermeneutisches Wort ist, das Überlieferung, Gottesdienst und alltägliche Lebenspraxis in ein Verhältnis gegenseitiger Auslegung bringt, dann ist eine Aussage als heilsbedrohend zu verwerfen, wenn sie – die drei Elemente dieses Wechselverhältnisses voneinander trennt, – Überlieferung und Gottesdienst zur Fehlorientierung der Lebenspraxis mißbraucht oder zum bloßen Mittel Rechtfertigung einer gewohnten Lebenspraxis erniedrigt, statt ihr Kriterien zur Selbstbeurteilung an die Hand zu geben. Sie ist als Heilswahrheit zu bekennen, wenn sie – die Hörer befähigt, in den Widerfahrnissen des eigenen Lebens Gottes Wirken zu entschlüsseln und im Lauf der Welt Gottes Willen zu erkennen. Thema sprachphilosophischer Untersuchung ist dann der Zusammenhang, der, in religiösen wie in profanen Kontexten, zwischen dem Hören des Wortes und der Lebenserfahrung des Hörers besteht. Dieser Zusammenhang läßt sich am Verhältnis zwischen dem Hören der Predigt und dem darauf antwortenden eigenverantwortlichen und 60 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
C Notwendigkeit und Möglichkeit der Entscheidung
mit eigener Lebenserfahrung gefüllten »Amen« exemplarisch studieren. In solchen und ähnlichen Fällen entsteht die Aufgabe, Kriterien zu finden und bekannt zu machen, an denen die Hörer des Wortes erkennen können, wie sie heilsbedeutsame Wahrheit von heilsbedrohenden Mißverständnissen unterscheiden können. Theologie entsteht immer dann, wenn in der Gemeinde der Glaubenden die Gefahr erfahren wurde, daß der Glaube sich selbst auf eine ruinöse Weise mißverstehen kann und daß deswegen die Anleitung zum kritischen Urteil zu einer Lebensbedingung der Glaubensgemeinschaft werden kann. Dann entsteht innerhalb der religiösen Überlieferungsgemeinschaft die Sondergruppe der Theologen, d. h. der »ArgumentationsSpezialisten in Sachen des Glaubens«, die eine besondere Argumentationssprache entwickeln. Eine solche Sondersprache ist unentbehrlich und muß sich doch daran bewähren, daß die erreichten Argumentationsergebnisse den »schlichten Gläubigen« verständlich gemacht werden können, um sie zu einer kritischen Selbstbeurteilung anzuleiten. Nur so werden die Glaubenden davor bewahrt, daß ihre Glaubensgewißheit angesichts der Erfahrung möglicher Mißverständnisse der Botschaft in Skepsis umschlägt. b)
Wie kann entschieden werden?
Der religionshistorische Normalfall: die ritualisierte Gottesbefragung (Orakel), der religionshistorische Ausnahmefall: die Entscheidung durch Argumentation in dazu bestimmten Gremien. Sprachphilosophisch bedeutsame Folge: Es entsteht innerhalb religiöser Gemeinschaften oder in Teilgruppen neben der Sprache religiösen Erzählens, Betens, Auslegens eine spezifische Sprache religiösen Argumentierens (einer Theologie). Dabei zeigt sich oft, daß der Streit um Sachfragen sich im Streit um Kriterien und Verfahren der Entscheidung reproduziert. Beispiel: Luthers Thesen gegen die Scholastik.
61 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
D
Die Argumentationssprache der Theologie: »Was zählt als Argument?«
1.
Worauf beruft man sich? Beispiele für Argumentationsinstanzen
a)
Die Berufung auf normative Texte: »Schriftbeweis« Zitate von Weisheitssprüchen, Berufungsworten, Bekenntnisformeln, diakritische Erzählungen (z. B. Isaaks verhinderte Opferung, der verworfene »Tanz um den Goldenen Jungstier«) Die Berufung auf »unvordenkliche Gewohnheit«: »Traditionsbeweis« (das Zeugnis der Generationen) Die Berufung auf bewährte Zeugen: »Autoritätsbeweis« (das Lebenszeugnis von »Heiligen«, das Wortzeugnis von »Weisen« – »So lehrten unsere Meister«) Die Berufung auf das Urteil von Inhabern religiöser Ämter (Tempelweisung, Priester-Reskripte, Beschlüsse der römischen Undecemviri pro sacris faciundis).
b) c)
d)
2.
Die Beweis-Absicht
a)
Der »Schriftbeweis« ist nicht nur Explikation logischer Implikate einer Textstelle, sondern der Nachweis, daß die Geschichte des theoretischen und praktischen Verstehens sich, innerhalb einer bestimmten Überlieferungsgemeinschaft, in einer Bahn bewegt, die durch den normativen Text definiert worden ist. Der »Traditionsbeweis« ist keine Option für Unveränderlichkeit, sondern für das Feststehen in einer überlieferten Hoffnung, die dem geschichtlichen Wandel den Beurteilungsmaßstab verleiht. Der »Autoritätsbeweis« ist keine Anweisung zur unverändeten Kopie, sondern ein Maßstab, an dem auch jede neue Konkretionsform der religiösen Theorie und Praxis sich messen lassen muß. Die »definitio« ist nicht das »Ende der Auslegungsgeschichte«, sondern eine Grenzziehung, jenseits derer bestimmte Theorien und Lebensformen als Verrat an der gemeinsamen Überlieferung beurteilt werden.
b)
c)
d)
62 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
D Die Argumentationssprache der Theologie: »Was zählt als Argument?«
Thema sprachphilosophischer Untersuchung ist deshalb nicht nur die Frage, was im jeweiligen Zusammenhang einer Argumentationssprache »als Argument zählt«, sondern auch die weitere Frage, auf welche Weise von solchen Argumenten Gebrauch gemacht werden kann und soll. Anmerkung: Aus der Suche nach »Instanzen«, auf die das Argumentieren sich stützt, und aus der Frage nach den Gründen, die diesen Instanzen Maßgeblichkeit verleihen, droht das »Münchhausen-Trilemma« zu entstehen, auf das Popper hingewiesen hat: entweder die Rückfrage nach Gründen willkürlich abzubrechen oder »oberste Prinzipien« anzunehmen, die einer solchen Rückfrage nicht bedürfen, oder zu tautologischen Begründungen seine Zuflucht zu nehmen. Dieses Trilemma ist nur zu vermeiden, wenn, abweichend von Poppers Meinung, jener »Anschein« der Dinge, der unsere subjektiven Meinungen erzeugt, als die zwar kritikbedürftige, aber zugleich unentbehrliche Erscheinungsgestalt ausgelegt werden kann, in welcher die »je größere Wahrheit« ihre Maßgeblichkeit für den Erkennenden geltend macht. Zu untersuchen ist, auf welche Weise die »Instanzen«, auf die die Argumentation sich stützt, als Gestalten der »antizipatorischen Präsenz« der »je größeren Wahrheit« argumentierend ins Spiel gebracht werden. Dieses Verständnis der Argumentationsinstanzen bricht Poppers Alternative von »Falsifizierbarkeit« und »Nicht-Falsifizierbarkeit« auf: Diese Alternative setzt einen statischen Begriff von »Falsifikation« voraus, der seinerseits die Voraussetzung enthält, die Bedeutung der Aussagen, die »falsifiziert« werden können oder nicht, stehe ohne kritische Hermeneutik ein für allemal fest. Das ist beim »Gotteswort im Menschenwort« auf exemplarische Weise nicht der Fall. Das »Gotteswort im Menschenwort« wird weder falsifiziert noch als nicht-falsifizierbar vorausgesetzt, sondern ruft, als Gegenwartsgestalt einer »je größeren Wahrheit«, Weisen eines kritischen Verstehens hervor, die ihrerseits je neu kritisch ausgelegt werden müssen. Dieses Wort ist uns nur als der Impuls zu solchem Verstehen und zu dessen kritischer Auslegung »gegeben«. Die Analyse der speziell theologischen Argumentationssprache erweist sich so als bedeutsam auch für eine allgemeine philosophische Theorie des Verstehens, sofern dieses kritisch, aber nicht skeptisch sein soll.
63 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
3.
Ein kritisches Selbstverständnis der Religion jenseits von Dogmatismus und Skeptizismus
a)
An Beispielen der religiösen Sprache kann abgelesen werden, daß diese dem Sprecher ein Sprechen an den Grenzen des Sagbaren abverlangt, ohne dadurch die Präzision des Ausdrucks und damit die Eindeutigkeit des Gesagten zu vermindern. Daran wird deutlich: Zur Eigenart des religiösen Aktes gehört eine spezifisch religiöse, und zwar radikale Selbstkritik. Wo sie fehlt, entstehen Fehlformen des Religiösen. Die Kritik an dieser »Torheit der Weisen«, die für kommende religiöse Erfahrungen blind macht, und die Kritik an einer »Selbstrechtfertigung«, die den göttlichen Auftrag als sakrale Legitimation menschlicher Selbstdurchsetzung mißdeutet und so zum Ursprung aller Ideologien wird, wird so zu einer zentralen Aufgabe theologischer Argumentation. b) Freilich darf Selbstkritik nicht in theoretischen oder praktischen Skeptizismus umschlagen. Alle Theorie und Praxis beruht darauf, daß wir dem Wahren und Guten, das »stets größer« ist als unsere theoretische und praktische Leistung, eine Gestalt ihrer »antizipatorischen Präsenz« verleihen, die transparent bleibt für das »je größere Ziel«, das wir dadurch intendieren. So darf auch die notwendige Selbstkritik der Religion nicht zum Vorwand für theoretischen Indifferentismus und für praktische Beliebigkeit werden. Kriterien zu finden, an denen beurteilt werden kann, ob in der Vorläufigkeit menschlichen Sprechens und Tuns die Eindeutigkeit des Zeugnisses gewahrt bleibt, wird so zu einer zentralen Aufgabe theologischer Argumentation.
4.
Das Thema bezeichnet einen lehrreichen Grenzfall der Religionsphilosophie
Alle Instanzen, auf die das theologische Argument sich beruft, müssen sich darin bewähren, eine Hermeneutik der Erscheinungen und der eigenen und fremden Meinungen möglich zu machen. Die Theologie bietet einen besonderen Ansatz, von dem aus sie ihre Argumentationsinstanzen verstehen kann: Schrift, Tradition, die Worte religiöser Autoritäten und die Entscheidungen kirchlicher Amtsträger gelten als Weisen des »Gottesworts im Menschenwort«. Sie schließen
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D Die Argumentationssprache der Theologie: »Was zählt als Argument?«
damit den kritisch-hermeneutischen Prozeß nicht ab, sondern geben ihm seinen Impuls und seine Richtung.
5.
Deskriptive und präskriptive Aufgaben
Hat diese sprachphilosophische Untersuchung deskriptive oder präskriptive Aufgaben? Beschreibt sie nur, wie theologische Argumente gewöhnlich aussehen, oder gibt sie an, wie sie geführt werden müssen, wenn sie ihr Argumentationsziel erreichen sollen? a)
Deskriptive Aufgaben
Grammatische Betrachtung: Wie sind theologische Argumente sprachlich aufgebaut? – Die Form, in der das theologische Argument von seinen »Argumentationsinstanzen« Gebrauch macht (von Schrift, Tradition, geistlichen Autoritäten, lehramtlichen Entscheidungen), gibt Auskunft darüber, wie sie theologisch verstanden werden. Pragmatische Betrachtung: Was tun Menschen, wenn sie so argumentieren? Zunächst: An wen wenden sie sich? Sodann: Welches Rollenspiel von Sprechern und Hörern begründen sie? Die gruppen-interne Diskussion der theologischen Fachleute, ihre gutachterliche Tätigkeit im Dienste der Inhaber von Lehrämtern, ihre Publikationen für »weitere Leserkreise« lassen erkennen, welche Rolle der Theologe innerhalb der religiösen Kommunikations- und Überlieferungsgemeinschaft spielen will. Semantische Betrachtung: Auf welche Weise gewinnen und bewahren theologische Begriffe ihren Sachbezug und Bedeutungsgehalt (vermeiden sie die Gefahr, zur »Kenophonía« zu werden)? Spezieller: Wie verwenden Theologen ihre Begriffe, um deutlich zu machen, daß sie von jenem Gott sprechen, der kein besonderer »Deus Theologorum« ist, sondern im Wechselspiel von Verkündigung und doxologischer Antwort »originär« zur Sprache kommt? b)
Präskriptive Aufgaben
Ausgangs-Feststellung: Aus der Deskription ergeben sich zugleich die Präskriptionen, die die Theologie an ihre spezifische Aufgabe erinnern. 65 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
Folgerung: Die Theologie verfehlt ihr pragmatisches Ziel (sie leistet nicht, was sie von ihrer Funktion in der religiösen Gemeinschaft her tun soll), wenn sie ihre Fragen, Argumente und Ergebnisse nicht so formuliert, daß sie zuletzt – im Durchgang durch alle unvermeidliche Fachimmanenz – die »schlichten Glaubenden« dazu befähigt, ihre Aufgabe zu erkennen und zu lösen: Die Aufgabe der Hörer besteht darin, auf die gehörte Botschaft die angemessene Antwort zu geben. Durch diese Antwort treten sie in eine wirksame Korrelation ein, die zwischen der vernommenen Heilsanrede und der von ihnen selbst zu findenden Weise des religiösen Lebensvollzuges besteht. Die Theologie verfehlt ihr semantisches Ziel (sie spricht nicht von dem, wovon sie sprechen will und soll), wenn sie ihre Sondersprache nicht als die angemessene Metasprache derjenigen Sprache ausweisen kann, die in Verkündigung und doxologischer Antwort gesprochen wird. An dieser »Originalsprache der Religion« hat sie sich immer neu als deren orientierungskräftige Metasprache auszuweisen. Die Theologie verfehlt ihr grammatisches Ziel (ihre Argumentation hat nicht diejenige Form, in der sie fähig wird, »glaubens-relevante« Fragen zu stellen und die Wahrheit der Aussagen, die sie durch ihre Argumente sichern will, als »Heilswahrheiten« auszuweisen), wenn sie nicht durch die Form ihrer Sprache deutlich machen kann, daß sie sich ihre Fragestellungen und Argumentationsziele immer neu durch das Wechselverhältnis von verkündetem Wort und doxologischer Antwort vorgeben läßt. Eine philosophische Analyse der theologischen Argumentationssprache muß sich an diesem Verhältnis von Beschreibung der Eigenart theologischen Argumentierens und präskriptiver Hilfe für seinen themengerechten Vollzug bewähren. Sie ist in diesem Sinne ein Teil einer versuchten »Philosophischen Einübung in die Theologie«.
6.
Argumentationsfelder (= theologische Disziplinen)
a)
Jedes theologische Argument wird der pragmatischen Funktion aller Glaubensaussagen gerecht werden müssen: Sprecher und Hörer zu eingenverantwortlichen Gliedern der Glaubensgemeinde zu machen. Alle Theologie ist insofern »praktische Theologie«.
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E Religionen im Widerstreit und ihre Möglichkeit
b)
Jedes theologische Argument wird der semantischen Funktion aller Glaubensaussagen gerecht werden müssen, die für den Glauben konstitutive und zugleich normative Erinnerung wachzuhalten, die die Glaubensüberlieferung möglich und zugleich kritisierbar macht. Alle Theologie ist insofern »biblisch-historische Theologie«. c) Jedes theologische Argument wird der grammatischen Funktion aller Glaubensaussagen gerecht werden müssen: den Inhalten der Überlieferung ebenso wie der je neuen Glaubenserfahrung einen Ort im hermeneutischen Wechselverhältnis zuzuweisen. Alle Theologie ist insofern »systematische Glaubenslehre«. d) Jedes theologische Argument wird den Nachweis führen müssen, daß es nicht ein Wissen »neben« dem Glauben erzeugt, sondern Dienst am Glauben ist. Alle Theologie ist insofern »theologische Erkenntnis- und Kriterienlehre«. Die unterschiedlichen theologischen Methoden und die ihnen entsprechenden Formen der Argumentationssprache sind daraufhin zu untersuchen, aber auch daran kritisch zu messen, auf welche Weise sie auf den verschiedenen Argumentationsfeldern den genannten Argumentationsaufgaben gerecht werden.
E
Religionen im Widerstreit und ihre Möglichkeit, voneinander zu lernen: Die Sprache des Dialogs der Religionen
Theologie, so wurde gesagt, entsteht, wenn innerhalb der religiösen Überlieferungsgemeinschaft die Erfahrung gemacht wird, daß der Inhalt der religiösen Botschaft auf solche Weise mißverstanden werden kann, daß dadurch das Verhältnis zum Heiligen, in das der Glaubende durch Namensanrufung des Heiligen eintreten soll und will, gestört wird und sich dann aus einer heilbringenden Begegnung in Unheil verwandelt. Die Erfahrung einer solchen Gefahr hat Wirkungen auf das Verhältnis des Glaubenden zu fremden religiösen Überlieferungsgemeinschaften. Denn es kommt vor, daß deren Weise, vom Heiligen zu sprechen oder sich gottesdienstlich zu ihm zu verhalten, von den Glaubenden als Verführung verstanden wird, auch die eigene Verkündigung falsch zu verstehen. So kann der Umgang mit Individuen oder Gruppen, die ihre gottesdienstlichen Handlungen magisch verstehen, die Gläubigen zu 67 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
einem ähnlichen magischen Verständnis der von ihnen selbst gefeierten Sakramente verführen. Das Beispiel von Menschen, die das Geschöpf mit dem Schöpfer verwechseln und das lebenspendende Licht der Sonne nicht als Abbild der »Herrlichkeit Gottes«, sondern selber als einen Gott begreifen, kann auch die Glaubenden dazu verleiten, zu vergessen, daß nichts Welthaftes göttliche Verehrung verdient. Dann wird die theologische Abgrenzung der heilschaffenden Wahrheit von der heilsgefährdenden Unwahrheit, die zunächst dazu bestimmt war, mögliche Verirrungen, die innerhalb der Glaubensgemeinschaft auftreten können, zu erkennen und zu vermeiden, zur Abgrenzung der »wahren Religion« von »falschen Religionen«. Und die Warnung vor heilsgefährdenden Mißverständnissen der eigenen Botschaft wird zur Aufforderung, den Umgang mit den Anhängern der falschen Religionen zu meiden. Nun können die Erfahrungen, die eine solche Abgrenzung von falschen Religionen als notwendig erscheinen lassen, nicht geleugnet werden. Wenn es dennoch als zweifelhaft erscheint, ob solche Abgrenzung »das letzte Wort« im Verhältnis der Religionen untereinander bleiben kann, dann entsteht die Frage, ob ein Dialog der Religionen auch dann möglich ist, wenn diese einander in zentralen Aussagen widersprechen. Oder kurz: Gibt es im interreligiösen Verhältnis ein »Lernen auch noch im Widerspruch«?
1.
Eine innerreligiöse Voraussetzung interreligiösen Lernens
Eine innerreligiöse Voraussetzung interreligiösen Lernens ist die »relecture« der eigenen Überlieferung, sofern sie in normativen Texten ihren Niederschlag gefunden hat. – »relecture« als Teil der Verkündigung, nicht bloß als deren Vorbereitung oder nachfolgende Erläuterung – Entstehung eines eigenen Genus literarium, das »kanonfähig« ist: die kommentierende Neu-Auslegung. Beispiele: a) Exodus-Exegese bei Jes 11,16: Wie für die Väter eine Straße durchs Meer war, so wird für die Söhne und Töchter eine Straße durch die Wüste sein. Was sich an den Vätern bei der Herausführung aus Ägypten ereignet hat, geschieht nun an den Söhnen und Töchtern bei der Heimführung aus Babel.
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E Religionen im Widerstreit und ihre Möglichkeit
b)
Die Allegorese der Hagar-Sarah-Geschichte bei Paulus Gal 4,22 ff.: Wie es schon bei den Söhnen Abrahams nicht auf die physische Sohnschaft ankam, sondern auf die Nachfolge im Glauben an die Verheißung, so auch jetzt bei der Berufung der Heiden zum Glauben. Was kann eine Beachtung der Sprachformen lehren? – grammatisch: Die Zitation, verbunden mit einer Neu-Interpretation wird zu einer eigenen literarische Gattung und kann dazu führen, daß alte Geschichten neu erzählt werden und dann einer neuen Generation »Neues und Anderes sagen«, άλλα ἀγορεύουσιν. Bei der hellenistischen Allegorese (z. B. des Homer) geht es darum, einen »Kern ewiger Wahrheiten« aus den wechselnden »Schalen bildhafter Erzählungen« freizulegen. Bei der innerbiblischen Allegorese geht es darum, daß der Hörer seinen Ort im Zusammenhang einer unverwechselbaren Geschichte findet. – pragmatisch: Die Berufung auf den Text als Ausdruck der Treue »Lasset ihr’s nicht bestehen, so habet ihr keinen Bestand« (Jes 7,9). Die Neuinterpretation als Ausdruck des Bewußtseins von veränderten Verstehensbedingungen: In veränderter Lage »sagt der Text Anderes«. Die »relecture« als neue Weise »oikodometischer Rede«. – semantisch: Die Bedeutung des Textes ergibt sich aus dem hermeneutischen Wechselverhältnis von normativer Erinnerung und neuen Erlebnissen. Nur was sich in diesen Kontext einordnen läßt, kann aus der Subjektivität des Erlebens in die objektive Geltung von religiöser Erfahrung transformiert werden. Daran bewähren sich Erinnerung, Auslegung und eigene Erfahrung.
2.
Texte und Riten aus fremden Religionen – Anlässe zur relecture der eigenen Überlieferung
Ein signifikantes Beispiel gelungener Aneignung: Die Aneignung des vor-israelitischen Jerusalemer Kults durch die Israeliten – iustitia et pax osculatae sunt (Ps 85,11) – ursprünglich eine Anspielung auf die eheliche Verbindung der Stadt-Gottheiten Zedek (Gerechtigkeit) und Salem (Friede), in deren Dienst der Priester-König Malki-Zedek stand, nun gedeutet als Bezeichnung zweier Eigenschaften des einen wahren Gottes, der allein auf dieser Erde Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen vermag – eingeleitet durch 69 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
die Bitte »nicht zurückzufallen in die alte Torheit« (Ps 85,9). Eine kritische Aneignung, gedeutet durch die Erzählung von der Segnung Abrahams durch den Priester der Jerusalemer Statt-Gottheiten Salem und Zedek. Ein warnendes Gegenbeispiel: Die Erzählung vom »Goldenen Kalb«: eine falsche Identifikation des »Gottes, der dich aus Ägypten geführt hat« mit der aus Ägypten bekannten göttlichen Königsmacht, deren Symbol der Jungstier ist. Texte dieser Art bezeugen ein hermeneutisches und zugleich kritisches Verhältnis zu den Zeugnissen fremder Religionen. Das Ziel ist nicht eine Religionen-Vermengung, sondern die Fähigkeit, die in der Geschichte tatsächlich stattfindenden Begegnungen mit fremden Religionen als Möglichkeit zur relecture der eigenen Überlieferung zu begreifen, ohne deren unverwechselbare Besonderheit preiszugeben.
F
Fragestellungen und Ergebnisse – oder: War es das, was wir wissen wollten?
Wir wollten wissen, woran man religiöse Phänomene erkennt, um sie von nicht-religiösen Phänomenen der gleichen Kultur zu unterscheiden und mit religiösen Phänomenen aus anderen Kulturen vergleichen zu können. Zugleich wollten wir Kriterien zur sachgerechten Beurteilungen religiöser Phänomene finden. Eine Analyse der spezifischen Form religiösen Sprechens hat erste Hinweise zur Beantwortung dieser Fragen erbracht. Der religiöse Akt ist Vollzug einer Korrelation mit dem Heiligen oder Göttlichen, in die der Mensch durch die Anrufung heiliger Namen eintritt. Der Vollzug dieser Korrelation entfaltet sich in in einem spezifischen Selbst- und Weltverständnis des religiösen Menschen, der die Welt als ein Gefüge von »Bildern« des Heiligen versteht, d. h. von Gestalten, in denen die wirksame Gegenwart des Heiligen erfahren werden kann, sich selbst aber dazu beauftragt weiß, durch seine Theorie und Praxis neue »Bilder« des Heiligen hervorzubringen und dadurch dessen wirksame Gegenwart auch für andere Menschen erfahrbar zu machen. Dieser Aufgabe entspricht die Weise, wie die Kategorien des Verstandes ihre spezifisch religiöse Ausprägung erfahren. Von hier aus sind nicht nur die religiösen Sprachhandlungen, sondern auch die religiösen Aussagen zu verstehen. An dieser Aufgabe, in allen Inhalten der Welterfahrung derartige Zeichen der wirk70 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
F Fragestellungen und Ergebnisse
samen Gegenwart des Heiligen zu entziffern und selbst zu einer solchen Gegenwartsgestalt des Heiligen zu werden, sind Religionen kritisch zu messen und zu vergleichen. Auch die Aussagen religiöser Überlieferungen, die gewöhnlich als der primäre Gegenstand des Religionenvergleichs und der kritischen Würdigung von Religionen gelten, sind daran zu messen, inwieweit sie die Bedingungen angemessen benennen, die die Erfüllung dieser Aufgabe möglich machen. Das wird noch deutlicher hervortreten, wenn im folgenden Abschnitt die Eigenart der religiösen Noesis und ihrer Beziehung auf das religiöse Noema nicht nur an der religiösen Sprache, sondern auch an den Handlungen des Kultus abgelesen werden wird. Die Aufgabe des Philosophen war in diesem Zusammenhang dreifach: a) Die religiöse Sprache in ihren Zeugnissen aufzusuchen und zu beschreiben und ihre grammatische, pragmatische und semantische Eigenart zu bestimmen, b) innerreligiöse Kriterien des rechten Gebrauchs dieser Sprache zu entwickeln, c) damit zugleich einen bescheidenen Beitrag zum Erlernen dieser Sprache zu leisten: der Sprachphilosoph ist immer auch Sprachlehrer und muß daran gemessen werden. Wie in jedem philosophischen Buch, so kam es auch hier darauf an, den Lesern Anstöße und Urteilskriterien zu vermitteln. Die Leser werden im aktiven Weiterdenken des Gelesenen selber entdecken, ob, wie und inwieweit die hier gegebene Darlegung auf jene »Veritas semper maior« verweist, von der sie hat sprechen wollen und die der Leser im kritischen Verarbeiten des Gelesenen immer neu selber entdecken muß.
71 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
Textbeispiele religiöser Namensanrufungen und hymnischer Texte a)
Die 18 Lobpreisungen der jüdischen Liturgie
(hier nur die abschließenden Gottesanreden – »Versiegelungen«) Gepriesen bist Du JHWH Du Schild Abrahams Der die Toten belebt Der heilige Gott Der mit Erkenntnis begnadet Der Gefallen hat an der Umkehr Der gnädig gewährt vielfaches Verzeichen Der Israel erlöst Der die Kranken seines Volkes Israel heilt Der die Jahre segnet Der die Verbannten seines Volkes Israel sammelt Der liebt Gerechtigkeit und Recht Der die Feinde zerbricht und die Anmaßenden demütigt Halt und Vertrauen für die Gerechten Der Jerusalem baut Der sprießen läßt das Horn des Heils Der das Beten erhört Der seine Schechina zurückkehren läßt nach Zion Dessen Name ist »der Gute«, geziemend ist es, Dir zu danken Der sein Volk Israel liebt. b)
Hymnen auf Ptah und Re (Aton)
Gegrüßt seist du, Ptah, angesichts deiner Urgötter die du gemacht hast, nachdem du entstanden warst als Gott Leib, der seinen Leib selbst gebaut hat bevor der Himmel entstand, bevor die Erde entstand, als die wachsende Flut noch nicht anstieg. Du hast die Erde geknotet Du hast dein Fleisch zusammengefügt Du hast Deine Glieder gezählt. Du hast dich als einziger gefunden, der seine Stätte geschaffen hat. Du Gott, der die beiden Länder geformt hat. Du hast keinen Vater, der dich erzeugt hat, als du entstanden, 72 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
F Fragestellungen und Ergebnisse
keine Mutter, die dich geboren hat. Du, Dein eigener Chnum [Töpfergott]. […] Du warst da in der Gestalt dessen, der die Erde hebt, Dein Wesen ist, der Zusammenfüger der beiden Länder zu sein. Was dein Mund gezeugt, deine Hände geschaffen, das hast du aus dem Urwasser herausgehoben. Das Werk deiner Hände ist deiner Schönheit angeglichen: Dein Sohn, der älteste an Gestalt [die Sonne]. Du hast vertrieben Dunkel und Finsternis durch die Strahlen deines Augenpaars. Papyrus 3O48 des Berliner Museums –Gruß Dir, Re, Du Meister der kosmischen Ordnung [Maat] der du befahlst, und die Götter wurden, Aton, du Schöpfer der Menschen, der du ihre Gestalt unterschiedest, der du ihr Leben erschufst, der du sie voneinander schiedest durch die Farbe der Haut […] Du bist der eine, der alles schuf, der einzige, der die Wesen erschuf, aus dessen Auge die Menschen hervorgingen, aus dessen Mund die Götter entstanden, der das Kraut schuf zur Nahrung für die Menschen, der schafft, wovon die Fische im Nil und die Vögel des Himmels leben, der dem Leben im Ei die Luft gibt und das Kind [im Mutterschoß] belebt, der schafft, wovon die Mücken leben und die Würmer und Flöhe, der den Mäusen in ihren Löchern Nahrung gibt […] Papyrus Boulaq 117
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Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
c)
Der Bakchos-Hymnos aus der Antigone des Sophokles (Vers 1115–1153)
Vielnamiger! Der Kadmostochter Wonne und des Zeus im tiefhallenden Donner erzeugtes Kind. Du umhegst das berühmte Italien. Und von Eleusis aus, am alles ernährenden Busen der Demeter denkst Du, o Bakchos, der bakchantischen Mutterstadt Theben, der Stadt der Schiffer am Ufer der wasserführenden Arme des Ismenos, wo des wilden Drachen Saat geschah. Dich aber, oben am zweigipfligen Fels [dem Parnaß] erspäht die leuchtende Fackel. Dort schreiten die bakchantischen Nymphen aus der Grotte, dort entspringt der Kastalische Quell. Dich aber sendet von den Nysäischen Bergen [auf Euboia], den epheu-umrankten Hügeln, das grünende, rebenreiche Vorgebirge, zu folgen den nie ersterbenden Gesängen, wenn Du einkehrst in den Gassen von Theben. Sie [die Stadt Theben] hast Du aus allen Städten als die allerhöchste geehrt mit der vom Blitz gezeichneten Mutter. Auch jetzt, da die Stadt in der Gewalt einer alles Volk erfassenden Krankheit ist, überschreite mit helfenden Fuß den berühmten Parnaß oder den engen Sund des Meeres. O Du Feuer des Lebens Chorführer der Sterne, der nächtlichen Stimmen Anführer, des Zeus edles Kind, zeige dich, Herr, (προφάνηθ ῶναξ) zugleich mit den Bakchantinnen, die dich umkreisen, und die ganze Nacht hindurch
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F Fragestellungen und Ergebnisse
den Reigentanz darbringen dem Anführer Jakchos. d)
Der Lobgesang Mariens (Luk 1,47–55)
Meine Seele macht groß (magnificat) den Herrn Und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Den Er hat herabgesehen auf die Niedrigkeit Seiner Magd. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn Großes hat an mir getan der Gewaltige. Sein Name ist: der Heilige. Sein Erbarmen währt von Geschlecht zu Geschlecht für die, die Ihn fürchten. Er hat Macht geübt mit Seinem Arm, hat zerstreut, die als die Übergroßen erscheinen in den Gedanken ihres Herzens. Er stürzt die Herrscher von Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden erfüllt er mit Gütern, und die Reichen schickt er leer davon. Er hat sich Israels, seines Knechtes, angenommen, seiner Barmherzigkeit zu gedenken, Wie Er gesprochen hat zu unseren Vätern, Zu Abraham und seiner Nachkommenschaft auf ewig. e) Der Lobgesang des Simeon (Luk 2,9–35) Nun bindest du los Deinen Knecht, o Herr, wie du gesagt hast, in Frieden. Denn meine Augen haben Dein Heilszeichen geschaut, Das Du bereitet hast, allen Völkern vor Augen: Ein Licht, das dazu bestimmt ist, die Verschleierung wegzunehmen von den Heidenvölkern und aufleuchten zu lassen die Herrlichkeit Deines Volkes Israel. […] Siehe, dieser ist gesetzt, damit Viele in Israel fallen und wieder aufstehen, Zu einem Zeichen, das widersprüchliche Reden hervorrufen wird – Sogar durch deine eigene Seele wird mitten hindurchgehen das Schwert –
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Zweites Kapitel: Die religiöse Sprache – Gestalt, Funktion, Bedeutung
Damit aus der Verschleierung hervorgehen, heraus aus den Herzen der Vielen, Ihre hin und her laufenden Gedanken. f)
Aurora lucis rutilat: Ein Osterhymnus aus dem 8. Jahrhundert
Flammend ein Vorglanz des Lichts Ein Ton vom Himmel her Stimmt das Loblied an Aufspringend bricht die Schöpfung in Jubel aus. Dumpf tönt der Hölle Wehgeschrei – Seht, der gewaltige König, Des Todes Macht und Gewalt zerbrach er ganz. Mit seinem Fuß zertritt er das Höllentor Löst aus der Schuld, die elend sind. Grabstein, mit Siegeln verschlossen, Davor als Wache Soldaten aufgestellt Nichts kann ihn hemmen, und im Triumphzug Steht aus dem Grab er siegreich auf.
Aurora lucis rutilat. Coelum laudibus intonat. Jubilat mundus exultans. Gemens infernus ululat. Cum rex ille fortissimus Mortis confractis viribus Pede concultat tartara, Solvit a poenis miseros Ille, qui clausus lapide Custoditur sub milite, Triumphans pompa nobili Victor surgit de funere.
Frei wird der Atem von Stöhnen Solutis jam gemitibus Und aller tödliche Schmerz fällt von uns ab. Et inferi doloribus »Christus, der Herr erstand vom Tode »Quia surrexit Dominus« und lebt.« Der Engel im Lichtglanz ruft’s uns zu Resplendens clamat angelus. Schöpfer der Welt, wir bitten dich, Quaesumus, auctor omnium, In dieses Ostertags Freude hülle uns ein, In hoc paschali gaudio Wenn uns bedroht der Tod Ab omni mortis impetu mit gewaltigem Ansturm Dein ist das Volk. Sei du ihm Schutz Tuum defende populum. Herr, dir allein sei die Ehre, Denn du allein bist erstanden vom Tod.
Gloria Tibi, Domine, Qui surrexit a mortuis
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F Fragestellungen und Ergebnisse
Vater und Geist, wir singen Euch gleichen Ruhm Ewig, durch aller Zeiten Gang.
Cum Patre et Sancto Spiritu In sempiterna saecula.
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Drittes Kapitel Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
1.
Schwierigkeiten des Verstehens
Der Kultus wird oft verstanden als das Nicht-Philosophische an der Religion, im Unterschied vom religiösen Wort, das leicht als das »Vor-Philosophische« an der Religion (miß)verstanden werden kann. Der für den Kultus zentrale Gedanke der »wirksamen Zeichenhandlungen« scheint ihn in die Nähe der Magie zu rücken. Versuche, ihn deutlicher von der Magie zu unterscheiden, scheinen ein Weltbild vorauszusetzen, das sich von der »normalen« Weltansicht (vor allem im »wissenschaftlichen Zeitalter«) unterscheidet. In der durch den Kult gedeuteten Welt beruht alles Wirken darauf, daß die Kreatur »Bild« des Schöpfers und seiner Wirksamkeit ist. Nur in der so gedeuteten Welt kann auch der Mensch Zeichen setzen, die etwas bewirken. In der wissenschaftlich gedeuteten Welt dagegen wird strikt zwischen »Bedeuten« und »Bewirken« unterschieden. So entsteht der Vorwurf, die Vorstellung eines Wirkens durch Zeichenhandlungen sei Ausdruck von »Anachronismus« und »Regression«. Wenn Zeichen wirken sollen, kommt es auf ihre Form an. So verschafft das (vermeintlich oder wirklich) »anachronistische« Weltbild, das dem Kultus zugrundeliegt, formalen Regelungen ein schwer verständliches Gewicht, das die »lebendige Frömmigkeit« zu behindern scheint. So entsteht der Vorwurf der »ritualistischen Äußerlichkeit«. Die Hochschätzung von Riten, deren Form Bedingung ihrer Wirksamkeit ist, erzeugt die Frage, wer gewisse gottesdienstliche Handlungen »gültig« (»rite«) vollziehen kann. So kommt es zur sakralen Auszeichnung von Personen, denen die Fähigkeit zu sakralen Handlungen durch eigene rituell vollzogene sakrale »Weihen« übertragen werden muß. Daraus entsteht der Vorwurf der religiösen »Mehr-Klassen-Gemeinde«.
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Drittes Kapitel: Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
2.
Fragestellung und Methode
Um eine sachgerechte Beurteilung des Kultus zu ermöglichen, ist es nötig, zunächst den Kontext zu klären, in dem kultische Handlungen ihre Bedeutung erlangen. Daher die Frage: Welches Weltverstehen ist im Kultus impliziert? Als Methode dient uns auch im folgenden die Phänomenologie und ihr »Grundgesetz«, die »strenge Korrelation von Noesis und Noema« abzulesen an der religiösen Sprache, aber auch an der Struktur religiöser Handlungen (vgl. Erstes Kapitel). Einige vorläufige Antworten (eine differenziertere Antwort wird unten, S. 93 ff., unter dem Titel »Der Grundbauplan der im Kultus gedeuteten Welt« gegeben werden): – Erste Antwort: Es handelt sich beim kultisch gedeuteten Weltverständnis um ein Verstehen durch Handeln (die religiöse Theorie als Implikat der religiösen Praxis). Anmerkung: »Theoria« bedeutet ursprünglich »Wallfahrt«, dorthin gehen, wo man seinen Blick auf die Gottheit richten und unter den Blick der Gottheit treten kann (vgl. Phaidon 58a). Dort wird die Erfahrung gemacht: Die Anrede des Gottes (»prosrhesis tou theou«) ist der Ursprung der Fähigkeit zum Fragen, auch zum philosophischen Fragen (Charmides 164d) – aber ihr stets uneingeholt bleibender Ursprung. – Zweite Antwort: Es handelt sich um ein bestimmtes Verstehen durch eine bestimmte Praxis, die der Differenz von Zweckhandlung und Ausdruckshandlung vorausliegt. Vorverweis: Die »Bild-Handlung« als wirksames Zeichen ist ein Grundbegriff des im Kultus vermittelten religiösen Weltverständnisses und die gesamte Erfahrungswelt als Bild-Gefüge. Daraus wird die Differenz und Zuordnung des Sakralen und Profanen (nicht: Säkularen) verständlich: Alles, was ist, ist Bild des Heiligen. Im sakralen Bild tritt dieser Charakter alles Seienden ausdrücklich hervor. Anmerkung: Das Verhältnis von Sein und Erscheinen, religiös gedeutet als Verhältnis von Eidos (Urbildgestalt) und Eidolon (Abbildgestalt), ist der Ursprung der philosophischen Aufgabe, Erscheinungen auf ihr Wesen hin auszulegen – aber ihr von der Philosophie uneingeholter Ursprung. Vorverweis: Die methodische Trennung von Sprachtheorie und Handlungstheorie ist künstlich, wenn auch für die Darstellung unvermeidlich. Die Frage nach der »Herleitung« von Riten aus Mythen 79 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Drittes Kapitel: Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
oder umgekehrt ist falsch gestellt. Es gibt keine wortlosen Ritualien (wohl einzelne schweigend vollzogene Riten innerhalb eines mit Sprachhandlungen verknüpften Rituals). Es gibt keine religiösen Worte ohne Handlungsbezug (wohl eine aus den Sprachhandlungen der Doxologie relativ verselbständigte Theologie). Dabei haben Sprachstrukturen und Handlungsstrukturen gleichermaßen transzendentale Bedeutung: Sie zeichnen den Kontext vor, innerhalb dessen alles seine Stelle finden muß, was als »objektiv gültig« anerkannt werden soll. Aber es muß jeweils untersucht werden, was »objektive Gültigkeit« bedeutet, abhängig von den Anschauungsformen, Kategorien und Ideen, die für je eine Weise der »Korrelation« von Noesis und Noema spezifisch sind. Daraus ergibt sich der Aufbau dieses Kapitels: Abschnitt A stellt Typen kultischen Handelns und ihre strukturellen Merkmale vor, Abschnitt B behandelt Anschauungsformen, Kategorien und Ideen der kultisch verstandenen Welt und Abschnitt C deutet den Kultus als Schule der religiösen Erfahrung.
A
Typen kultischen Handelns
Vorbemerkung: Ritus und Ritual Worterklärungen: Unter »Ritus« versteht man eine Art von Worten und Handlungen, die nur »gültig« und »wirksam« (»rite«) vollzogen werden können, wenn dabei gewisse geprägte Formen eingehalten werden, die der Entscheidung des einzelnen Sprechenden und Handelnden entzogen sind. Unter »Ritual« versteht man einen Komplex gottesdienstlicher Worte und Handlungen, innerhalb dessen Riten eine konstitutive Rolle spielen. Deutung: Die Bedeutung von Riten ergibt sich aus der Aufgabe der Feiernden, »in persona Dei« zu sprechen und zu handeln, d. h. dem Wort und Werk der Gottheit eine erfahrbare und von den Mitfeiernden identifizierbare Gegenwartsgestalt zu geben. Folgerungen: Die Tatsache, daß kultisches Sprechen und Handeln gewissen Formgesetzen unterliegt, von deren Einhaltung seine Gültigkeit 80 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
A Typen kultischen Handelns
und Wirksamkeit abhängt, ergibt sich daraus, daß die Feiernden nicht primär ihre eigenen Ansichten und Absichten zum Ausdruck bringen, sondern der Parousia der Gottheit in der Erscheinungsgestalt menschlichen Redens und Tuns dienen. Darum: keine willkürlichen Neu-Erfindungen. Die Weise, wie solches Sprechen und Handeln rituell geregelt wird, ergibt sich einerseits aus dem Inhalt des Sprechens und Handelns der Gottheit, das vergegenwärtigt werden soll, andererseits daraus, daß sich die feiernde Gemeinde in die Überlieferungsgemeinschaft derer einreiht, die das Gedächtnis dieses göttlichen Sprechens und Handelns weitergeben. Darum: Keine radikalen Traditionsbrüche, sondern traditionsgeschichtliche Weiterentwicklungen. Die Ortsbestimmung der Kultgemeinschaft innerhalb ihrer Traditionsgeschichte eröffnet einen Gestaltungsspielraum für das religiöse Ritualrecht: Nicht Freisetzung der subjektiven »Gestaltungsphantasie«, sondern Fortentwicklung der Regeln für ein gültiges und wirksames religiöses Sprechen und Handeln.
1.
Wege-Ritualien: Wallfahrten, Einholungsriten, theophorische Prozesssionen
Innerhalb von Kulten unterschiedlichen Inhalts treten formal vergleichbare Motive auf, die auf ein »Grundmuster« des Verhältnisses zur Gottheit verweisen. Die Gottheit ist »fern«, aber sie läßt sich suchen und finden (Wallfahrten). Die Gottheit »war da«, ist »ferngerückt«, aber kehrt wieder (Einholungsritualien). Die Gottheit hat ihren Ort unter den Menschen, aber sie muß ihn immer neu gewinnen (theophorische Prozessionen). Alle »Wege-Ritualien« heben ein Bedeutungsmoment hervor, das, wenn auch weniger ausdrücklich, zu jeder Kulthandlung gehört: die Vermittlung von »Ferne« und »Nähe« des Heiligen (auch wenn es nicht als personale Gottheit gedacht wird). Seine »Ferne« macht Wege nötig, auf denen Menschen zum Heiligen, das Heilige zu den Menschen unterwegs ist, oder auf denen es, gemeinsam mit der feiernden Gemeinde, seinen »Einzug in die Welt« erneuert. Seine »Nähe« macht Wege möglich, weil der Mensch das Heilige nur suchen und finden, seiner gedenken oder es einladen und begrüßen kann, sofern 81 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Drittes Kapitel: Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
in jedem dieser Akte das Heilige selbst sich als gegenwärtig und wirksam erweist. (Insofern ist jedes Wege-Ritual »theophorisch«.) Diese Gegensatz-Einheit von Nähe und Ferne und deren Vermittlung durch das Ereignis der »Ankunft« (Parousia) bestimmt auch andere Formen der gottesdienstlichen Feier, die dieses Verhältnis nicht durch räumliche Wege und Bahnen zeichenhaft darstellen. Auch dann sind gottesdienstliche Worte und Handlungen Erscheinungsgestalten einer solchen »Parousia«.
Beispiele a)
Die Wallfahrt nach Eleusis
Der Kultverlauf im Umriß: Vor den Toren Athens versammelt sich eine Gruppe von Menschen, um die Muttergottheit Demeter bei ihrer Suche nach ihrer geraubten Tochter zu begleiten. Am Vorabend sind Gegenwartszeichen der gesuchten Gottheit verborgen in einer »Kiste« nach Athen gebracht worden und werden auf dem Wege nach Eleusis mitgeführt. Kurz nach dem Aufbruch erkennen die Pilger, daß ein bildloser Wege-Gott unter ihnen gegenwärtig ist und begrüßen ihm mit NamensZuruf »Jakch’ o Jakche«. In Eleusis angekommen, begeben sie sich in eine fensterlose Säulenhalle und führen bei Fackelschein einen Reigentanz auf. Dort zeigt sich ihnen die gesuchte Gottheit in der Erscheinungsgestalt einer goldenen Ähre. Diese Schau (Epopsis) gilt als Augenblick einer Neugeburt, durch die die Pilger fähig werden, den Weg der Göttin in den Tod und zum neuen Leben nachzugehen. b)
Die Einholung des Dionysos
Der Kultverlauf im Umriß: Ein Chor singt einen Hymnus, in dem er von der Geburt und dem Leben der Gottheit erzählt. Dabei lobt er ihn für die Treue seines Gedenkens und bittet ihn um sein neues Erscheinen: »Prophainet’ onax«. Wächter auf den Bergen verkünden die Annäherung des Schiffes, mit dem er von fernen Inseln ankommt. Überall, wo das Schiff anlegt, finden sich tanzende Nymphen ein, die unter der Leitung des Gottes den Tanz der Sterne abbildhaft wiederholen. Daraufhin treiben Bäume und Reben ihre Frucht. Die wartende Gemeinde 82 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
A Typen kultischen Handelns
rüstet sich ebenfalls zum Reigentanz, den sie erst ausführen kann, wenn der Gott da ist. Das Schiff trifft im Hafen ein, wird auf ein Fahrgestell gehoben und als Schiffswagen (carrus navalis) in die Stadt gezogen. Bei Annäherung des Gottes verfallen die Menschen in »göttlichen Wahnsinn« (Theia Mania), der sie »göttliche Worte« aussprechen läßt. Dabei stellen sie symbolisch die Tötung des Gottes durch die »Mänaden« dar. Die Feier endet mit dem »Bacchanal«, einem ausufernden Trinkgelage, an dessen Ende der »Basileus« mit der »Basilissa« den heiligen Beischlaf vollzieht. c)
Die Tempelprozession in Jerusalem
Die Kultfeier im Umriß: Die ankommende Pilgergruppe begehrt Einlaß am Stadttor – »Wer darf hinauf zum Berge Gottes steigen …« (Ps 24,3–6) – und erhält als Antwort Bedingungen genannt: »Wer reine Hände hat …« (ausführlicher in Ps 15). Der Anführer der Pilgergruppe bestätigt die Erfüllung der Bedingungen: »Dies ist das Geschlecht, das nach ihm fragt, das dein Angesicht sucht, Gott Jaakobs« (zu unterstellen: vorausgehende Reinigungsriten). Darauf wird die Öffnung der Tore »für den Herrn der Herrlichkeit« erbeten, wobei die Tore »aeternales« sind – so alt wie die Welt! Daher der Anfang des Psalms: »Der Herrn ist die Erde und was sie erfüllt«, vgl. Ps 93: »Du hast, o Herr, im Anfang die Erde gegründet«, »parata sedes tua ex tunc«. Einschub: die erstaunliche Rückfrage, wer dieser König sei, und die Antwort: »Der Herr der Heerscharen«. Mögliche Erklärung: Niederschlag einer Kult-Übernahme, die kritische Aneignung verlangt.
2.
Von Kleidern, Masken und Bildern
In den speziellen Kultformen, in denen das Tragen von Kleidern und Masken eine Rolle spielt, wird ein Grundzug kultischen Handelns überhaupt deutlich: Im menschlichen Tun und Sprechen gewinnt ein Komplex von göttlichen Worten und Handlungen wirksame Gegenwart. Darin eingeschlossen: der Auftrag des Menschen, Gottes »persona« in der Welt zu sein: die Gestalt, durch die die Gottheit und ihre Anrede »hindurchtönt«. Aber was hier neue Gegenwart gewinnt, ist von der Gottheit her je schon geschehen und macht den Inhalt der Kult-Anamnese aus. Dies wiederum ist nur dadurch möglich, daß 83 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Drittes Kapitel: Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
alles, was ist (die gesamte profane Welt) durch die gleichen göttlichen Worte und Handlungen bestimmt ist, die im Kultus ihre ausdrückliche und anschauliche Gestalt gewinnen (z. B. durch Gigantomachie und Götterfrieden, durch Jupiters kosmisches und politisches Weltregiment) Das »Sakrale« und das »Profane« sind die beiden Bildhälften, in deren gegenseitiger Zuordnung ein göttlich gewirktes Urgeschehen neu und erneuernd wiederkehrt. Dabei spielen Bildhandlungen und Bildgestalten eine unentbehrliche Rolle als Gegenwartssymbole der Gottheit. Sie machen die Feiernden jener wirksamen Gegenwart der Gottheit gewiß, auf der ihre Fähigkeit beruht, das Wirken der Gottheit durch Bild-Worte und Bild-Handlungen abbildhaft gegenwärtig zu setzen. Aber das zentrale Gegenwartssymbol der Gottheit ist die feiernde Gemeinde selbst und innerhalb ihrer diejenigen Personen, die berufen sind, »in persona Dei« zu sprechen und zu handeln, auch wenn sie keine Masken tragen (Paulus und das Vergebungswort!). Von hier aus wird verständlich, daß in vielen »Archaiologien« die Erzählung von der Erschaffung der Welt mit der Berufung des Menschen zur Kultfeier endet (der Sabbath, zu dessen Feier der Mensch berufen wird, als der Tag des vollendeten Schöpfungswerks). Zwei Gefahren aller Bildhandlungen und Bildgestalten: a) Die Gefahr des Umschlags von Kult in Magie: Aus dem Dienst an der welterneuernden Parusie der göttlichen Ursprünge wird der Versuch, überweltliche Kräfte für menschliche Zwecke einzusetzen. b) Die Doppelgefahr von Idololatrie und Ikonoklasmus: Das Bild wird mit dem identifiziert, was es vergegenwärtigen soll, oder es wird zerstört, um vermeintlich eine Unmittelbarkeit zum Göttlichen zu erreichen, meist durch Aufwertung der »reinen Innerlichkeit«
Beispiele a)
Die Panathenäen-Prozession: Eine Zusammenlegung mehreren »Athenaien«?
Die Kultfeier im Umriß: Ausgewählte Mädchen weben (und sticken?) ein Kleid für Athene, darauf dargestellt: Die Taten der Göttin beim Sieg über die Giganten. Das Gewand wird im Meer gewaschen und als Segel auf einem Schiffskarren zur Akropolis gebracht. Die Statue der »Polias« (im 84 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
A Typen kultischen Handelns
gemeinsamen Tempel der Athene und des Poseidon) wird mit dem neuen Gewand bekleidet. b)
Der römische Triumphzug
Die Kultfeier im Umriß: Senat und Volksversammlung genehmigen dem siegreichen Feldherrn auf dessen Antrag den Triumphzug. Die Soldaten durchschreiten die »enge Pforte« der Reinigung. Der Imperator trägt den Lorbeerkranz, den Sternenmantel und den Adlerstab des Jupiter (später auch dessen Sphaira) und stellt so den Gott selber dar. Er handelt »in Jovis persona«, »en Dios prosopo« (daher die Mahnung: »Memento te esse mortalem« – »Sic transit gloria mundi«). Die Beutegaben werden als Weihegeschenke im Tempel des Jupiter aufgestellt (vgl. die Darstellung auf dem Titusbogen in Rom). Der Imperator gibt dem Gott seine Hoheitssymbole zurück. c)
Die »großen Dionysien« und die Maske
Der Kultverlauf im Umriß: Das Kultbild des Dionysos aus Eleutherai wird nach Athen gebracht und seine Maske an einem Pfosten in der Chora aufgehängt. Die »Choreutai« tanzen im Reigen, ursprünglich als Böcke (»Tragoi«) gekleidet oder in der erotisch aufreizenden Kleidung des DionysosUmzuges (»Komos«) und singen entsprechende Lieder (Trag-odai oder Kom-odai), nun aber nicht in ekstatisch-rauschhaften Formen wie die Mänaden, sondern in der gebundenen Form des Durchschreitens der Chora im Hin und Her (Strophe und Antistrophe). Aus ihren Reihen treten »Chorageten« hervor, die mit dem Chor in Wechselrede treten, schließlich auch »Protagonisten«, die von dem Gott die Maske entleihen und nun, im Wechsel mit Chor und Chorführer, die Taten, Leiden und Worte von Göttern und Heroen sichtbar und hörbar machen. d)
Die römische Säkularfeier
Einige Momente der kultischen Begehung: – Die Ausrufung des Festes »das niemand zweimal feiert«, zeitlich definiert durch den Tod des letzten Bürgers, der die vorige Säkularfeier erlebt hat: Für die Zeit zwischen den Säkularfeiern, in
85 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Drittes Kapitel: Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
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der keine Zeitzeugen zur Verfügung stehen, muß deren Zeugnis durch Weitergabe einer Überlieferung ersetzt werden. Das Ausgraben unterirdischer Altäre: Der sakrale Grund, der das profane Leben des Alltags möglich macht, muß ausdrücklich ans Licht gehoben werden. Die Ankunft der Dioskuren, die untereinander die Eigenschaften der Sterblichkeit und der Unsterblichkeit teilen und so das Fortleben der Civitas über den Tod der jeweils lebenden Generationen hinaus möglich machen. Das Pferderennen der Dioskuren als Gegenwartszeichen der »periodischen« Erneuerung der römischen Civitas im Wechsel der Generationen (das Zeichen dafür: das bei Vollendung jeder Runde aufgeschlagene Ei) Das »Carmen saeculare«, das die Stadtgötter nennt, die Geschichte der Civitas in Erinnerung ruft und die Stunde ihrer Erneuerung ansagt Die feierliche Verlesung des Stadtrechts und seine »Novellierung«
3.
Riten der »Erneuerung aus den Ursprüngen«: Neujahrsfeiern, Thronbesteigungsfeste, Stadtgründungsfeste
a)
Systematische Vorbemerkung:
Aufgabe des Kultus ist die Vermittlung von »Ferne« und »Nähe« der göttlichen Ursprünge im Dienst an ihrer ereignishaften Parousia. Diese Vermittlung von Ferne und Nähe des Heiligen hat eine räumliche Erscheinungsgestalt in Wegen des Suchens, Findens und »Einholens« und in Orten der Ankunft und der Begegnung eine qualitative Erscheinungsgestalt: Das Bild (Kleid, Maske, Bildwort und Bildhandlung) ist nicht das Heilige selbst; aber dieses gewinnt in ihm Gegenwart. Es hat aber auch eine zeitliche Erscheinungsgestalt: den Augenblick der sich ereignenden Parousia, der den profanen Ablauf der Ereignisse und damit der Zeit unterbricht und ihm zugleich den festen Bezugspunkt gibt. Daraus ergibt sich die kultische »Rhythmisierung der Zeit«, die zu unterscheiden ist von ihrer bloßen Periodizität. Die Stunde des Festes ist das »Jetzt« im Fluß der Zeit: Jede dieser Parusien macht die Feiernden »zeichenhaft gleichzeitig« mit den Ur86 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
A Typen kultischen Handelns
sprüngen und ist daher zugleich die Stunde, in der die Welt und das menschliche Leben »noch einmal am Anfang stehen« und daher mit der Chance radikaler Erneuerung aus dem Ursprung beschenkt werden. Dieser Aspekt jeder kultischen Handlung tritt in besonderen Kultformen ausdrücklich hervor, die die Erneuerung der Welt aus ihren Ursprüngen zum besonderen Thema haben. b)
Bedeutungsmomente:
Die gottesdienstliche Feier als ein Gefüge von Bildworten und Bildhandlungen unter Verwendung von Bildgestalten ist Deutung des selber schon kultisch verstandenen Jahres (Der Reigentanz der Sterne oder der Sieben Planeten als Zeichen der göttlichen Schöpfungstage – Der Siebenarmiger Leuchter als Zeichen der sieben Planeten und damit der Schöpfung, die sich mit dem Sabbath vollendet – dargestellt am Titus-Bogen in Rom als Teil der Siegesbeute, die Titus nach der Eroberung Jerusalems nach Rom gebracht hat) oder Deutung der selber schon kultisch verstandenen Abfolge der Generationen (Abbild der »sterblichen Unsterblichkeit« der Dioskuren), aber zugleich Vermittlung einer ereignishaften Parusie der Ursprünge, die dem naturhaften bzw. gesellschaftlichen Geschehen erst seine Fähigkeit verleiht, wirksam wiederkehren zu lassen, was im Anfang geschah. 50 Hier zeigt sich die Bedeutung der »Mimesis« als einer ontologischen und zugleich religiösen Grundkategorie: Die »profanen« zyklischen Abläufe sind Reihen von Abbildereignissen (Nachahmungen) dessen, was in den kultischen Abbildhandlungen (Nachahmungen) neu und erneuernd Gegenwart gewinnt. Daher: Der zur Unzeit gefeierte Kult ist Frevel, der unterlassene Kult ist verweigerter Dienst an der Welt. c)
Beispiele:
Neujahrsfeste, Feste des Ursprungs von Stamm und Stadt, Thronbesteigungsfeste – häufig miteinander verbunden Das jüdische Neujahrsfest Die römische Säkularfeier Daher: Die Versammlung des ganzen Zyklus der Zeit ins Jetzt der offenen Entscheidung: »Magnus ab integro renascitur orbis saeclorum« (Vergil, 4. Ekloge Vers 5); Heidegger: Das Fest ist der Ursprung der Geschichte (Höld. 191).
50
87 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Drittes Kapitel: Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
4.
Ritualien der »Teilgewinnung am göttlichen Leben«: Tötungsritualien, Opfer, Mahlfeiern
Systematische Vorbemerkung: Kultische Handlungen sind weder reine Zweckhandlungen noch reine Ausdruckshandlungen, sondern Bildhandlungen. Ihre Aufgabe: Re-Präsentatio = Bereitung einer »Gegenwärtigwerdung« Speziell: Rituelle Tötungen gelten als Abbilder eines »Todes vor aller Zeit«, zugleich aber als Ursprung des »todesträchtigen Lebens« in dieser Welt. a)
Tötungsritualien ohne erkennbaren Darbringungs-Charakter oder solche, für die der Darbringungs-Charakter sekundär ist
Beispiele: Kopfjägerei und Kannbalismus Die »Menschenopfer« der Azteken (Darbringungscharakter sekundär) Bauopfer, d. h. Ritualtötungen beim Bau von Stadtmauer und Haus Die dazu gehörige »protologische« Deutung der Erfahrungswelt: Die in Acker und Atemluft hinterlegte Lebenskraft, aber auch die Todesträchtigkeit allen Lebens (Explanandum) stammen aus dem lebenspendenden Tode einer Gottheit (Explanans). Folgerung: Alles Leben stammt aus dem Tode einer Gottheit (Adonis, Osiris), vielleicht sogar aus deren freiwilliger Selbsthingabe (nicht nur im Christentum!) und vollendet sich in der Selbsthingabe des Menschen in der Todesgemeinschaft mit ihm als Dienst an der Gottheit und zugleich an der Welt. b)
Die allgemeine Bedeutung dieser Ritualien für die Phänomenologie der Religion
Der Mensch selbst in seinem todesträchtigen Leben ist das ausgezeichnete Bild einer Gottheit, die sich für das Leben der Welt hingegeben hat (»Wir leben ihren Tod und sterben ihr Leben«, Heraklit B 62). Alle Lebenskraft der Weltelemente, die dem Menschen zugutekommen kann, ist Gegenwartsgestalt des lebenspendenden Todes einer Gottheit. Und die besondere Wirkkraft des Menschen gründet 88 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
A Typen kultischen Handelns
in der Berufung, Abbild dieses lebenspendenden Todes zu sein und deshalb spezielle, neue Abbilder zu setzen, die die allgemeine Abbildlichkeit der Weltelemente aus ihren Ursprüngen erneuern. All diese Bilder sind insofern Stellvertreter des Menschen. Dabei sind neben blutigen auch unblutige Formen dieses Ritus möglich. Die schlichteste: Der lebenspendende Atem, der in der Flöte zum Ton wird, der die Saat zum Keimen bringt und den toten Ahnen zurückgegeben wird: Abbild des göttlichen Lebensatems, den ein sterbender Gott verschenkt hat (das Flötenspiel als Teil des Begräbnis-Rituals der Azteken; in Mexiko bis heute fortwirkend). c)
Tötungsritualien mit konstitutivem Darbringungscharakter: Die Opfer
α) –
Zwei Beispiele: Die Einsetzung der Opferfeiern nach dem »Enuma Elis« der Babylonier: Unmittelbarer Anlaß für das Opfer ist die Speisung der Götter zu ihrer Entlastung von der Feldarbeit. Damit wird aber das Problem nur verschoben: Warum müssen Götter arbeiten und essen? Und warum kann der Acker auch für sie Leben hervorbringen? Den weiteren Zusammenhang bildet der Urkrieg der Götter, die Tötung der Thiamat und die Erschaffung der Welt aus ihren Leichenteilen, insbesondere des Menschen aus ihrem Blut. Daher wird im Hebräischen Dam (Blut), Adam (Mensch) und Adamah (Ackerboden) aus dem gleichen Wortstamm gebildet. Das überwundene Chaos als bleibendes Lebens-Element: In Syrien (Ugarith) gilt der Regen als Tribut des Meer-Drachens an den siegreichen Ba’al. Der Mensch ist eingesetzt zur beständigen Erneuerung des Siegs über das Chaos. Diese Erneuerung geschieht durch die Blut-Gabe an die Götter. Zeichen seiner Berufung: der Babylonische Turm als »Pforte des Himmels« (»Bab ili« – daher der Name der Stadt) und die an das Opfer anschließende Mahlfeier der Götter und Menschen.
–
β) Bedeutungsmomente: Explanandum: Das Chaos ist »älter« als der Kosmos. Unordnung entsteht von selbst, Ordnung muß man machen; Streit entsteht von selbst, Frieden muß man stiften. Jede Ordnung ist »chaosträchtig«, 89 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Drittes Kapitel: Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
jeder Friede »konfliktträchtig«. »Unter der Oberfläche« von Ordnung und Frieden bestehen Chaos und Streit weiter. Explanatio: Alle Ordnung ist aus dem besiegten Chaos entstanden und bedarf der Erneuerung dieses Sieges, um nicht ins Chaos zurückzufallen. d)
Versuch einer Verallgemeinerung
Nicht bei allen Opferkulten spielt die Erinnerung an den Sieg über die Chaosmächte eine entscheidende Rolle. Dann: Verschiebung des Akzents von der »Schlachtung« auf die »Speisung«. Die Schlachtung ist dann nur noch Zubereitung des Mahls. Die Notwendigkeit, die Welt aus ihren Ursprüngen zu erneuern, wird abgelesen an der Atmung, der Ernährung und dem Generationenwechsel, und aus der geschwächten Beziehung zu diesen Ursprüngen gedeutet: Was »an sich« ein für allemal geschah, muß »für uns« je neu geschehen. Diese Erneuerungsbedürftigkeit kann als Schwächung der Ursprünge selbst verstanden werden. Die Notwendigkeit einer Speisung der Gottheiten entsteht, sobald von der Erneuerungsbedürftigkeit der Welt auf die Erneuerungsbedürftigkeit ihrer Ursprünge geschlossen wird. (Die Götter müssen durch »Ernährung« neu gekräftigt werden.) Gegenprobe: Wo »Ferne« nicht als »Schwäche« gedeutet wird, ist »Ankunft« ohne »Speisung« möglich. Keine Opfer an die Hochgötter. Entsprechend bedarf der Gott der Bibel keiner Speisung: »Hungerte mich, dir sagte ich’s nicht, alles Wild des Waldes ist mein« (Ps 50,9 f.). Bei den Propheten: Die Störung des Gottesverhältnisses durch Untreue und das Opfer als Versöhnungsmahl. Der Mensch muß durch Vergebung in das ursprüngliche, aber verlorene Verhältnis zum lebenspenden Gott wieder aufgenommen werden. Die Gabe wird zum stellvertretenden Ausdruck für die Selbsthingabe des Opfernden und so zur »Materie« des Versöhnungsmals. Dabei besonders häufige Gaben: Nahrungsmittel, also: die Gabe als Beitrag zur Ernährung der Gottheit. Von dorther wird auch ihre Verbindung mit Schlachtungen verständlich (auch die Pflanzen-Ernte ist eine »Schlachtung«).
90 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
A Typen kultischen Handelns
5.
Initiations- und Reinigungsriten
a)
Merkmale:
Gemeinsam: Kultische Handlungen, durch die ein Individuum zur aktiven Teilnahme am Leben einer Kultgemeinschaft oder zur Übernahme besonderer Funktionen in ihr befähigt wird. Differenz: Initiationsriten werden nur (je) einmal im Leben eines Individuums vollzogen, gegebenenfalls je einmal bei Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt, Reinigungsriten werden wiederholt. Gemeinsame Voraussetzung: Der Mensch ist, auch wenn er »von Urzeit her« zum Kult berufen ist, nicht eo ipso kultfähig. Die Kultfähigkeit wird ihm in einem eigenen kultischen Akt zugeteilt. b)
Bedeutungsmomente, die auch zum Verständnis anderer Kultformen beitragen
α)
Die Spannung zweier Momente: – Die Kultfähigkeit des Menschen »von Anfang an« (oft: Berufung des Urvaters) und – die Kult-Unfähigkeit des Menschen »in concreto« (ontische oder erworbene Unreinheit). daher oft: Der Abschluß der Urgeschichte durch Sündenfallgeschichten, die den Verlust der ursprünglichen »Reinheit« (Kultfähigkeit) deuten. Aber auch die Lebenswelt enthält Momente, die »unrein machen« (mit oder ohne menschliches Verschulden). Unreinheit macht die Mitwirkung am Kult zum Frevel: Wie der Kult nicht nur Gottesdienst ist, sondern auch Weltdienst, so ist Unreinheit nicht nur Störung des individuellen Gottesverhältnisses, sondern auch Störung der Weltordnung – und zugleich deren Folge. daher oft: Das Sakrale wird geschützt durch Tabus, deren Verletzung der »Zorn der Gottheit« erregt und zum Gericht nicht nur über die Frevler führt, sondern auch zum Gericht über die Welt. Folge: der Zorn der Menschen über die Frevler als Selbstschutz, aber auch »Mitvollzug des Zornes der Gottheit« Gefahr: die Freisetzung von Aggression
→
β)
→
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Drittes Kapitel: Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
Bemerkungen zum Begriff des »Zornes Gottes«: nicht »Rachsucht« der Gottheit, sondern Folge der vom Menschen bewirkten Verkehrung der göttlichen Heilsabsichten c)
Besonders verbreitete Vollzugsformen
Gemeinsam für Initiation und wiederholbare Reinigungsriten: – Vorbereitung durch Fasten, Trennung von der »profanen« Mitwelt, Enthaltung von Verrichtungen des »profanen« Alltags, – dann das Bad in seiner Doppelbedeutung als Reinigungsbad und als Eintauchen in den Tod und Erwecktwerden zu neuem Leben, – das Gehen durch die enge Pforte in seiner Doppelbedeutung als »Abstreifen des alten Menschen« und als Todessymbol und – das neue Kleid (Investitura). Speziell bei der Initiation: – Vorbereitung durch Übergabe der heiligen Worte und Geräte, – das Bad verbunden mit anderen Todessymbolen (rituelle Verletzung des Körpers, symbolische Bestattung) – das neue Kleid, zuweilen nicht »textil«, sondern in die Haut gebrannt (Zeichen der Inhaesio ontologica), – der neue Name, oft mit »theophorischem Element«, – die erstmalige Ausübung der Sakralfunktion als eigener Teil des Ritus: Adoption durch die Gottheit, Übergabe des Initiandus an die Gottheit und »Auslösung«, zuweilen auch »hieros gamos«. Auffällig: Die Dominanz von Riten des Todes und der neuen Geburt. Der Mensch muß »sich selber absterben«, um ganz zur Gegenwartsgestalt der Gottheit zu werden. Die kultische Handlung, die dies möglich macht, nicht selten gedeutet als Nachvollzug des Todes einer Gottheit für das Leben der Welt. Dann wird der Initiandus selbst, aber auch der Reconciliandus, zum »Erstlingsopfer«, das dem Tode des Gottes »nachgebildet« ist. Oder: Nachvollzug der uranfänglichen Überwindung des Chaos. Dann wird die Initiation oder Reinigung zur »Abtötung der Chaosmächte« im Menschen selbst. Oder: Antizipation der Gerichts über »diese Welt« und Übergang in eine andere Welt (rite de passage).
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B Der »Grundbauplan« der durch den Kultus gedeuteten Welt
B
Der »Grundbauplan« der durch den Kultus gedeuteten Welt
1.
Die Idee der Welt
a)
Grundbestimmungen der gottesdienstlich gedeuteten Erfahrungswelt
Grundbestimmungen der gottesdienstlich gedeuteten Erfahrungswelt in ihrem Verhältnis zu ihren Ursprüngen sind: »Ferne«, »Nähe« und »geschehende Ankunft« in Gegenwart stiftenden »Bildern«. Weil die »Archai« nicht als zeitlose Ur-Gestalten gedacht sind, sondern als vor-zeitige Ur-Ereignisse, wird auch die Welt als ein Gesamtgefüge von abbildhaften Ereignissen gedacht. Die kultisch verstandene Welt ist »energetisch« gedacht. Das »Sein« der Numina wie der Weltelemente ist ihr »Am-Werke-Sein«, griechisch »ἐν έργεια«. Der zentrale Ausdruck dieses Weltverständnisses ist die Verbindung von verbal ausgedrückter Anamnese und non-verbalen Handlungen, durch die der Inhalt des Gedenkens »vergegenwärtigt« werden soll. Der Grund für diese Verbindung wird darin gesehen, daß das, was die Gottheit »in illo tempore« (in der Vor-Zeit archaiologisch erzählter Ereignisse oder zum Zeitpunkt eines inmitten der Zeit gewirkten Neubeginns) getan hat, immer neu inmitten der menschlichen Erfahrungszeit »wiederkehren« kann. Von hier aus wird der Zusammenhang zwischen der archaiologischen Anamnese und der kultischen Handlung deutlich: Das archaiologische Wort deutet die Elemente der menschlichen Erfahrungswelt als re-präsentative (Gegenwart vermittelnde) Abbildgestalten der numinosen Anfänge. Die kultische Zeichenhandlung ist möglich, weil die Welt-Elemente immer schon solche Gegenwartsgestalten der Anfänge sind; sie ist nötig, weil sie immer neu zu solchen Abbildgestalten der numinosen Anfänge werden müssen. Der Kultus feiert die »Wiedergeburt« der Erfahrungswelt aus ihren Ursprüngen, sei es als »neue Kosmogonie«, sei es als Wiedergeburt der Kultgemeinde, in deren Stiftung sich die Kosmogonie vollendet hat. Auch wenn Ereignisse innerhalb der Zeit zu Inhalten der kultischen Feier werden, finden sie alsbald ihre kosmogonische Deutung. Beispiele: – Die Herausführung aus Ägypten wird als Abbild des Schöpfungs-Sabbath gedeutet, in welchem Gott »zur Ruhe kam«, in93 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Drittes Kapitel: Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
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b)
dem er die Welt in ihren Eigenstand freisetzte, Israel aber abbildhaft »zur Ruhe kommt«, um dieses »Aufatmen« weiterzugeben an Knecht und Magd und sogar an die Tiere. Der auferweckte Jesus als »Erstgeborener der Toten« und zugleich als »Erstgeborener der ganzen Schöpfung« – Urbild der neuen, aber auch schon der alten Schöpfung. Der Kultus als Handlung und die Welt als Ereigniszusammenhang
allgemein: Der Kultus ist Handlung (τὰ δρώμενα). Wie jeder Handelnde versteht auch der Kultfeiernde, was er tut, indem er die Welt als einen Geschehnis-Zusammenhang begreift, der ihm offene Alternativen zur Entscheidung stellt. – speziell: Der Kultus ist Handlung in einem besonderen Sinne, nämlich Handeln Gottes in der Erscheinungsgestalt menschlichen Handelns. Auch solches Handeln impliziert, daß die Welt als Welt-Geschehen begriffen wird und das »Heute« an den Punkt einer offenen Entscheidung gelangt ist: in diesem besonderen Falle dorthin, wo die Parusie der Gottheit über Heil oder Unheil der Welt und des Menschen entscheidet.
–
c)
Folgen für das Weltverstehen
Voraussetzung solchen Verstehens ist der geschärfte Blick für die »Complexio oppositorum« als Grundzug aller Erfahrungswirklichkeit, aus der sich die Kontingenz ihres Daseins und ihrer Seinsweise ergibt, die die offene Entscheidung des Ur-Anfangs immer neu wiederkehren läßt. Der Weg solchen Verstehens ist deshalb nicht die Freilegung einer Ur-Gestalt allen Seins, sondern eines Ur-Geschehens und der in ihm wirksamen numinosen Freiheit. d)
Ein Leitbegriff des religiösen Weltverstehens: das »Bild«
Die religiös verstandene Welt ist eine Welt der Bilder: haltlos in sich selbst, Halt findend an einem Urbild. Hier zeigt sich die religiöse Herkunft der platonischen Grundbegriffe von Eidos und Eidolon, Koinonia und Met-Hexis, Chorismos und Parousia. Die Bild-Handlungen des Kults sind der Erfahrungswelt auf zweifache Weise zu94 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
B Der »Grundbauplan« der durch den Kultus gedeuteten Welt
geordnet: indem sie auch das Weltgeschehen als ein Gefüge von Abbild-Ereignissen deuten und die Weltwirklichkeit aus ihren Ursprüngen erneuern. Darin ist ein ebenso weltkritisches wie selbstkritisches Verstehen impliziert: Der Kultus ist weltkritisch, weil er die Ereignisse des Weltgeschehens als ein Gefüge von Abbildern begreifen läßt, die nicht mit dem verwechselt werden dürfen, was sie abbilden. Er ist selbstkritisch, weil er auch sich selbst als ein Gefüge solcher Abbildhandlungen begreift. Ritueller Ausdruck dafür ist die Unterbrechung des Alltags durch das Fest, aber auch die selber kultische Kult-Unterbrechung (Fällen des Totem-Pfahls, »destructio altarium« im präkonziliaren Karfreitags-Ritus), vor allem aber das Bewußtsein von der Notwendigkeit der Initiationen und Reinigungen. Denn das ausgezeichnete Bild für die Gründungshandlungen der Gottheit ist der feiernde Mensch selbst, als Individuum und vor allem als Gemeinde. Beide bedürfen eigener Riten der Kult-Befähigung (Initiation). Beide können die Kultfähigkeit verlieren, sodaß sie der Reinigung bedürfen.
2.
Die Anschauungsformen von Raum und Zeit
Der Kultus als Dienst an der Parusie der Ursprünge legt die Welt als Gefüge von Orten und Stunden ihrer Wiederkehr aus. Folge: Weder Raum und Zeit sind homogen (indifferent gegen den Wechsel der Inhalte). Weder Raum noch Zeit sind reine Maßgrößen (die »gezählte Zahl« der Bewegung bzw. Erstreckung). Raum und Zeit werden von ausgezeichneten Inhalten her gedacht. Dieses Verständnis scheint wesentliche Eigenschaften des Raumes und der Zeit zu »verkennen«, wie sie in der Philosophie vor allem seit Aristoteles beschrieben worden sind. In Wahrheit handelt es sich um eine Alternative zum säkularen Raum- und Zeitverständnis. a)
Das kultische Zeitverständnis
Das kultische »Heute«, das die Inhalts-Indifferenz der Zeitform »verkennt«, ist die Zeitstelle der Begegnung und der Selbstfindung zugleich, religiös verstanden: die »heilige Zeit«, in der über das Leben als ganzes entschieden wird. »Heute, wenn ihr meine Stimme hört, verhärtet nicht eure Herzen« (Ps 95[94],7 f.). Die kultische »Epoché«, die die Kontinuität der Zeitreihe »ver95 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Drittes Kapitel: Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
kennt«, ist – als Unterbrechung der flüchtigen Zeit – die Bedingung der freien Entscheidung, religiös verstanden: die Bedingung dafür, in die Umittelbarkeit mit den Ursprüngen einzutreten. Von solcher Epoché her gedacht ist die Kontinuität der Zeitreihe nicht Folge einer Gesetzmäßigkeit formaler Verlaufsgestalten, sondern Ausdruck der Zusage treuen Gedenkens (im Hymnus an Bakchos: »Du gedenkst deiner Vaterstadt Theben«, in Israel: Das Neujahrsfest als Tag des göttlichen Gedenkens: Yom ha-sikkaron). Dieses treue Gedenken der Gottheit geht dem Gebot menschlichen Gedenkens voraus und eröffnet dem Menschen die Möglichkeit, in allen Wechselfällen des Lebens »das Antlitz zu suchen« und so in allem, was geschieht, den einen Gott wiederzuerkennen. Die kultische »Wiederkehr«, die die Unumkehrbarkeit der Zeitordnung »verkennt«, stiftet den Rhythmus der Zeit, der im Wechsel der Zustände und Umstände Identitätsfindung möglich macht. Religiös verstanden: Die kosmische Periodizität, die alles Zählen der ZeitEinheiten ermöglicht, ist das »Bild« der »Conversio Dei ad hominem«, die die Welt erneuert. »Deus tu conversus vivificabis nos et plebs tua laetabitur in te« (Ps 85[84],7 f.). »Convertere, Deus, et eripe animam meam, salvum me fac propter misericordiam tuam« (Ps 6,5). Erst diese »conversio Dei ad hominem« ermöglicht die »conversio hominis ad Deum«. »Deus converte nos (hashivejnu), ostende faciem tuam et salvi erimus« (Ps 80[79],4.8.20). Die kultische Rückführung der empirischen Ereignisse auf vorzeitige Ereignisse, die die Zeiten »verdoppelt« und den Unterschied zwischen dem πρότερον χρόνω und dem πρότερον λόγω »verkennt«, enthält eine eigene Deutung der umfassenden »Ordnung der Zeit«. Die erfahrene Kontingenz der Ereignisse wird nicht auf eine nur »für uns« vorläufig verborgene Notwendigkeit zurückgeführt, sondern auf numinose Freiheit. Aber deren Entscheidungen sind »unwiderruflich« und »nicht vermehrbar« und bestimmen deshalb den Weltlauf im Ganzen. b)
Das kultische Raumverständnis
Das kultische »Hier«, das die Inhalts-Indifferenz der Raumform »verkennt«, ist in Wahrheit der Ort einer »bleibend denkwürdigen« Begegnung, die »Wiederkehr« möglich macht, religiös verstanden: der »heilige Ort« einer Theophanie. Die Wallfahrt, die solche Orte auf96 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
B Der »Grundbauplan« der durch den Kultus gedeuteten Welt
sucht, macht das Gedenken aus einem rein intramentalen Vorgang zu einer Zeichenhandlung. Die kultische »Orientierung«, die die Gleichartigkeit aller Richtungen im Raume »verkennt«, ist die wahrnehmbare Gestalt aller »Ausrichtung des Lebens« und der »Überprüfung des eigenen Standorts«, religiös verstanden: die »Expectatio«, die dem Blick Gottes zu begegnen hofft. »Expectans expectavi Deum et intendit mihi« (Ps 49 [39],2). Ergebnis: Das kultische Verständnis der Zeit und des Raumes sind nicht unvollkommene Vorstufen des rein formalen Zeit- und Raumverständnisses der (klassischen) Naturwissenschaft, sondern eine Alternative zu ihm. Sie stehen in größerer Nähe zu den Erfahrungen der Lebenspraxis und zu deren Problemen: der Bestimmung des »kostbaren Augenblicks« im Flusse der Zeit und der Gewinnung von »Ort« und »Richtung« der Lebensführung.
3.
Die Kategorien der Welt-Auslegung im Kultus 51
a)
Der Kultus als wirksame Handlung impliziert ein Verständnis der Welt als eines Gefüges von Kontingenzen, die nach Entscheidung verlangen, und ein entsprechendes Verständnis der Kausalität.
Dem Kultus liegt ein geschärfter Blick für Kontingenzen zugrunde und »Wirken« ist eine dem Kultus wohlvertraute Kategorie, aber er versteht sein Wirken als Setzung wirksamer Zeichen für die Entscheidung einer numinosen Macht, durch die die Kontingenzen der Welt immer schon entschieden sind. Aber so, daß diese Entscheidung immer neu vergegenwärtigt werden muß. Kausalität ist die »ermächtigende Macht« der Ursprünge, die die Welt und den Menschen befähigt, wirksame Gegenwartsgestalten ihres Wirkens zu setzen und damit auch selbst weltgestaltend und welterneuernd tätig zu sein.
Vgl. zum Folgenden R. Schaeffler: Erkennen als antwortendes Gestalten, Freiburg/ München 2014, 71–138, insbesondere 87–97.
51
97 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Drittes Kapitel: Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
b)
Der Kultus als Erneuerung der Wirklichkeit deutet das Bleibenden im Wandel und den Eigenstand endlicher Wesen (ihre Substantialität) auf spezifische Weise.
Gerade die geschärfte Sensibilität für Kontingenzen macht die Frage dringlich, was Bestand hat und Bestand gewährt. Aber der Bestand der endlichen Wirklichkeit wird nicht in einem »Wesenskern« gesucht, der von der Unbeständigkeit alles Zeitlichen unbetroffen bliebe, sondern in einem Wechselverhältnis von göttlicher und menschlicher Treue. »Er vergißt keines seiner Geschöpfe«, »Lasset ihr’s nicht bestehen, so habet ihr keinen Bestand« (Jes 7,9) Folge für die irdische Wirklichkeit: Das Beständige in der Welt ist nicht ihr unveränderlicher Bestand, sondern die Verläßlichkeit einer zukunftsoffenen Erneuerung (s. o. Neujahrsfeste). Daraus ergibt sich die Eigenart des kultischen Verständnisses von Beständigkeit und Eigenstand. – Das sich erhaltende »Am-Werke-Sein« (ἐν ἔργεια) der numinosen Ursprünge. Was »im Anfang geschah«, ist nicht einfach vergangen und dahin, sondern bleibt wirksam gegenwärtig und erneuert seine Wirkung mit jedem neuen Abschnitt der Zeit. Darauf beruht es, daß diese Anfänge im Kultus gefeiert werden können und daß die Glaubenden von dieser Feier eine welterneuernde Wirksamkeit erwarten. – Was den zeitlichen Seienden Bestand gewährt, ist dieses Fortwirken der göttlichen Ursprünge. Solches Fortwirken ist nicht das Produzieren immer entfernterer Wirkungen, sondern beruht mit der Gleichzeitigkeit der Ursprünge mit allen Augenblicken der empirischen Zeit. Die »Ewigkeit« dieser Ursprünge ist das ursprüngliche »a priori«, das immer neu »aus dem je Früheren her« ankommt und dem Zeitlichen Neu-Anfänge inmitten der Zeit möglich macht. Nur kraft dieser beständigen Erneuerung hat das Zeitliche Bestand. Diese »Ewigkeit« der im Kultus gefeierten Ursprünge steht nicht außerhalb aller Beziehung zur Zeit, sondern ermöglicht das kultische »Jetzt«, d.h. die Stunde, die die Dinge und Menschen zu Zeitgenossen der Ursprünge macht und sie dadurch immer neu vor die offene Entscheidung zwischen Sein und Nichtsein stellt. – Dinge und Menschen, die in der Stunde des Festes »noch einmal am Anfang stehen«, werden dadurch fähig, auch ihrerseits Neu98 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
B Der »Grundbauplan« der durch den Kultus gedeuteten Welt
Anfänge zu setzen und so der Welt und dem eigenen Leben eine neue Gestalt zu geben. Darauf beruht alle innerweltliche Freiheit. Ein klassisches Beispiel dafür ist die römische Säkularfeier: Sie ist die Stunde der Wiederbegegnung mit den Dioskuren, die zur Gründung der Stadt Rom herbeieilen, und gerade deswegen die Stunde einer radikalen Erneuerung der Civitas und ihrer Rechtsordnung (vgl. die Rechts-Reform des Augustus, die im Rahmen einer Säkularfeier verkündet wurde). Ein für den Kultus spezifisches Verständnis der Substanz: Das »Beständige im Wandel« eines Seienden wird seine »Substanz« genannt, griechisch »hypo-stasis«, der »tragende Grund, auf dem das Seiende seinen festen Stand gewinnt«. Ist nun dieses »Beständige« eines Seienden sein kontinuierliches Erneuertwerden, dann findet es diesen Stand in der Zukunft, nach der es durch die Art, wie es ist, immer neu ausgreift. Handelt es sich um ein mit Selbstbewußtsein begabtes Seiendes, dann hat dieser Ausgriff den Charakter einer Hoffnung. Die »Substanz« eines solchen Seienden ist sein »Standgewinnen in dem, worauf es hofft« – »ἐλπιζομένων υπόστασις« (vgl. Hebr 11,1), verbunden mit einem Blick in die verborgene Tiefe der Wirklichkeit, in der das Erhoffte schon heute antizipativ »am Werke ist«, »ἐν ἔργω ἐστίν«. Dieses Am-Werke-Sein der Ursprünge ist kein empirisches Faktum und entzieht sich insofern unseren Blicken. Aber die Erfahrung unseres beständigen Erneuert-Werdens ist der lebendige Tatbeweis für die Wirksamkeit dieses Am-Werke-Seins. Die Weise, wie wir unser Dasein erfahren, impliziert insofern »ein Überführtwerden von Tatsachen, die sich unserem Blicken entziehen«, ἔλεγξις πραγμάτων οὐ βλεπομένων (vgl. nochmals Hebr. 11,1). Was der Hebräerbrief im speziell theologischen Zusammenhang über den festen Stand sagt, den der Mensch im Glauben gewinnt, erweist sich so auch dann als hilfreich, wenn im allgemein ontologischen Zusammenhang nach dem gefragt wird, was endliche, innerweltliche Wesen zu »Substanzen« macht: Und die Antwort lautet: Es ist das fortwirkende Am-Werke-Sein der Ursprünge und die antizipatorische Präsenz des Zieles, an dem dieses Am-Werke-Sein zu seiner Fülle gelangen wird. Diese doppelte Präsenz der Ursprünge und des Zieles verleiht auch dem zeitlichen Seienden bei aller Flüchtigkeit der Zeit jenes Gegenwärtigsein, auf dem sein Eigenstand und seine Eigentätigkeit beruhen. 99 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Drittes Kapitel: Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
c)
Das im Kultus implizierte Verständnis der Kausalität
Die Kategorien der Substanz und der Kausalität sind, bei aller Verschiedenheit, nicht unabhängig voneinander. Der Eigenstand im Sein ist die Voraussetzung für die Eigentätigkeit im Verhalten. Sofern das Sein eines Seienden sich darin erschöpft, abhängiges Glied in einem Zusammenhang von Funktionen zu sein, ist auch sein Verhalten zu anderen Seienden bloßer Ausdruck dieser Funktionen. Entsprechend ist umgekehrt Eigentätigkeit im Verhalten die Bewährungsprobe für den Eigenstand im Sein. Die Substanz ist ein Seiendes, dem sein Verhalten als ein Gefüge solcher Eigentätigkeiten zugerechnet werden kann. Alle Wirksamkeit einer Ursache aber bewährt sich darin, daß sie nach ihrem Effekt in den Eigenstand seines Seinsvollzuges freisetzt. Der Effekt »entspringt« der Ursache, wie der Fluß seiner Quelle »entspringt«: ihr in die Eigengesetzlichkeit seines Laufes gleichsam »davonspringt«. Kausalität, wirksame Verursachung, bewährt sich in der Substanzialität des Objekts, auf das sie wirkt, freilich in einer Substantialität, die sich der Interdependenz aller innerweltlich Seienden nicht entzieht, sondern sich diese auf charakteristische Weise aneignet. Nun hat sich gezeigt: Die spezifische Wirksamkeit, die von kultischen Handlungen (auch Sprach-Handlungen) erwartet wird, besteht darin, daß diese Zeichen setzen, in denen die Wirksamkeit der Ursprünge je neue Gegenwart gewinnt und zugleich das Ziel, auf das alle Weisen der Erneuerung ausgerichtet sind, abbildhaft vorweggenommen wird. Innerhalb des christlichen Gottesdienstes ist das herausragende Beispiel dafür das eucharistische Mahl: abbildhafte Vergegenwärtigung des Abendmahls Jesu und Antizipation des himmlischen Gastmahls, an dem die Glaubenden am Ende der Tage teilzunehmen hoffen. An diesem Beispiel läßt sich exemplarisch ablesen, auf welche Weise der Kultus sein eigenes Handeln und seine Wirksamkeit versteht und wie er von dort her auch das Wirken und die Wirksamkeit ganz profaner Ursachen deutet. Die kultische Handlung ist »wirksames Zeichen« (signum efficax). Und dieses Zeichen wirkt, indem es auch seinen Adressaten, z.B. den Empfänger des Sakraments, zum Bild der Gottheit werden läßt, die im »Anfang« gehandelt hat. Aber auch im profanen Zusammenhang, sofern dieser durch den Kultus ausgelegt wird, gilt: Alles Wirken, das Neues hervorbringt, beruht 100 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
B Der »Grundbauplan« der durch den Kultus gedeuteten Welt
darauf, daß innerweltliche Ursachen die Wirksamkeit dessen, was »im Anfang geschah«, neu gegenwärtig setzen (»re-präsentieren«). Die innerweltliche Ursache wirkt, indem sie zum »Bild« (zur erfahrbaren Gegenwartsgestalt) des Ursprungs wird. Und ihr Wirken wird wirksam, sofern sie auch das Objekt ihres Wirkens zu jenem Eigenstand und zu jener Eigentätigkeit ermächtigt, durch die dieses Objekt zum »Bild« des anfänglichen Neubeginns wird. Wirken und Wirksamkeit der innerweltlichen Ursache beruhen darauf, daß sie in diesem Sinne zum »Bild« wird und neue »Bilder« hervorbringt. d)
Ein vor-rationales Verständnis der Kausalität?
Damit ist nun freilich ein Aspekt des kultischen Handelns und der in ihm implizerten Weltauslegung deutlich geworden, der immer wieder die Kritik der Philosophen, vor allem der Erkenntnistheoretiker, hervorgerufen hat. Das Selbst- und Weltverständnis des Kultus scheint auf einer Vermengung wesensverschiedener Betrachtungsweisen zu beruhen. Betrachten wir einen Inhalt unserer Erfahrung als Bild und Zeichen, dann ist die adäquate Frage die nach dem, was solche Bilder und Zeichen bedeuten; betrachten wir den gleichen Erfahrungsinhalt als Glied eines Kausalzusammenhangs, denn ist die adäquate Frage die nach seinen Bedingungen und Wirkungen. Der Kultus, der den Bildworten und Bild-Handlungen, die er vollzieht, nicht nur eine Bedeutung, sondern zugleich eine Wirkung zuschreibt, scheint beide Betrachtungsarten auf unzulässige Weise zu vermischen. Die Weise, wie der Kultus sich selbst und die Welt versteht, scheint insofern Ausdruck eines »vorrationalen Bewußtseins« zu sein, das den Unterschied von »Bedeuten« und »Bewirken« noch nicht entdeckt hat. Das schließt nicht aus, daß das rationale Bewußtsein der Philosophie und der empirischen Wissenschaft in diesem vorrationalen Bewußtsein gewisse Momente entdeckt, die bei kritischer Auslegung auch der Philosophie und der Wissenschaft hilfreiche Hinweise geben können. Gerade um diesen Implikaten des kultischen Weltverstehens ihre Bedeutung für Philosophie und Wissenschaft zu sichern, scheint es freilich notwendig, andere Momente nicht nur als vor-rational kritisch auszulegen, sondern als irrational entschieden zurückzuweisen.
101 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Drittes Kapitel: Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
e)
Das kultische Selbst- und Weltverständnis: vor-rational, irrational oder eine Alternative zur spezifischen Rationalität von Philosophie und Wissenschaft?
α)
Vor-rationale Momente des kultischen Selbst- und Weltverstehens Die Religion ist um viele Jahrhunderte älter als die Philosophie. Und viele der Fragen, die später zu Themen philosophischer Reflexion geworden sind, sind zuvor von der Religion auf ihre Weise gestellt und beantwortet worden (vgl. dazu die Konzils-Erklärung »Nostra aetate« nr. 1). Das gilt auch für die Fragen, die soeben behandelt worden sind: die Frage nach dem Bleibenden im Wandel, nach den Bedingungen des Wirkens und seiner Wirksamkeit und nach den »apriorischen« Bedingungen des Erkennens. Indem Philosophen und Vertreter der empirischen Wissenschaften in solchen Aussagen der Religion Antworten auf Fragen erkennen, die auch die ihren sind, ergibt sich für sie die Chance, aus den Antworten, die die Religion gibt, Hinweise zur Lösung ihrer eigenen Probleme zu gewinnen. Dabei kann es sich nicht darum handeln, religiöse Antworten einfach zu übernehmen, sondern stets nur darum, sie kritisch zu prüfen und sie gegebenenfalls so umzugestalten, daß sie der spezifischen Eigenart philosophischer bzw. empirischer Fragestellungen angemessen sind. Nun zeigt eine nähere Betrachtung: Die Religion ist nicht nur älter als die Philosophie, sondern hat auf die entstehende Philosophie eingewirkt und deren Sprache geprägt. Dann ergibt sich die Aufgabe, zu prüfen, ob die Philosophie bei ihrem Versuch, religiöse Aussagen auf spezifisch philosophische Weise zu reformulieren, nicht auch ihre eigene Sprache kritisch prüfen und gegebenenfalls so umgestalten muß, daß sie von ihrer eigenen Herkunft aus der Religion Distanz gewinnt. Das läßt sich am Beispiel der Frage nach den apriorischen Bedingungen des Erkennens besonders deutlich zeigen. Das Nachwirken religiöser Sprachformen in den philosophischen Aussagen über die Bedingungen des Erkennens steht im Gegensatz zur Neuheit der Aussage-Intention. Der Sprache nach ist von »früher« und »später« die Rede, von »Wiederkehr« und »Noch einmal am Anfang sehen«. Der Aussage-Intention nach sind alle raum-zeitlichen Konnotationen abgestreift. Aus »Anfängen vor aller Zeit« sind zeitlose Prinzipien geworden. Aus einer raum-zeitlich gedachten »Wiederkehr« wurde 102 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
B Der »Grundbauplan« der durch den Kultus gedeuteten Welt
die Möglichkeit, die Identität derartiger Prinzipien in einer Fülle von Erscheinungen der Erfahrungswelt wiederzuerkennen, aus einem »Standgewinnen im Erhofften« die Freilegung eines Überschusses an Potentialität, der sich aus dem Sein jedes Seienden als seinem »actus primus« ergibt und den Übergang zu einer Vielfalt von »actus secundi« möglich macht. Die genannten Beispiele lehren: Die philosophische Aussage entspricht nur dann ihrer eigenen Intention, wenn alle raum-zeitlichen Momente des sprachlichen Ausdrucks als bloße Metaphern für zeitlose logisch-ontologische Sachverhalte verstanden werden. Erst wenn sie so gedolmetscht werden, entfalten die der Religion entnommenen Sprachformen ihre spezifische Rationalität. Solange dieser Redeweise solche philosophischen Dolmetscher fehlen, scheint sie Ausdruck eines vor-rationalen Bewußtseins zu sein. Sofern Religionen meinen, sie müßten dieser Weise, ihre Aussagen philosophisch zu dolmetschen, Widerstand entgegensetzen, scheint ihr Selbst- und Weltverständnis nicht nur vor-rational, sondern irrational zu sein. β)
Das philosophische Interesse an solchen Momenten des kultischen Selbst- und Weltverständnisses, die bei ihrer Aneignung durch die Philosophie verlorengegangen sind oder als irrational ausgeschieden werden mußten Bei der Transformation der kultischen Weltauslegung in ein philosophisches und schließlich in ein empirisch-wissenschaftliches Weltverständnis pflegen gewisse Bedeutungsmomente verlorenzugehen. Dieser »Verlust« scheint nicht schwer zu wiegen, weil er gerade diejenigen Momente betrifft, die sich für eine philosophisch Aneignung nicht eignen und deshalb nicht als »vor-rational«, sondern als »irrational« bezeichnet werden müssen. Doch kann sich in der Rückschau herausstellen, daß gerade diese Momente ein besonderes philosophisches Interesse verdienen. Dazu gehört vor allem das im Kultus implizierte Verständnis der Kontingenz der Welt. Damit ist nicht nur die Denkbarkeit ihrer Nicht-Existenz gemeint, die es nötig macht, nach ihrer Ursache zu fragen und zur Beantwortung dieser Frage einen »kosmologischen Gottesbeweis« zu führen. Innerhalb der kultisch ausgelegten Welt ist deren »mögliche Nicht-Existenz« nicht nur ein Gedanke, sondern der Inhalt einer Erfahrung: Die Welt ist einer realen Selbst-Gefährdung ausgesetzt und zeigt dadurch an, daß die Alternative zwischen ihrem Sein und ihrem Nichtsein, die »im Anfang« zugunsten ihres 103 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Drittes Kapitel: Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
Seins entschieden worden ist, in immer neuen Augenblicken als offene Alternative wiederkehrt. Dann steht die Welt noch einmal an jenem Anfang, in dem »alles noch offen ist«, und verlangt nach einer neuen Präsenz der ur-anfänglichen Entscheidung für ihr Sein und gegen ihr Nichtsein. Dabei ist es die Stunde des gottesdienstlich begangenen Festes, in der diese neue Präsenz der uranfänglichen Entscheidung geschieht und die kontingente, d h. sich in ihrer Existenz selber gefährdende, Welt aus ihren Ursprüngen erneuert wird. Eine solche Rede von der Erneuerung der Welt angesichts ihrer Selbst-Gefährdung ist gewiß von allen philosophischen »Prinzipienlehren« radikal verschieden. Und doch gibt es Problem-Situationen, in denen gerade das Moment der Selbst-Gefährdung und Kontingenz, das für die kultische Welt-Auslegung charakteristisch ist, für die Philosophie an Interesse gewinnt. Die Philosophie beschreibt die zeitlosen Prinzipien (nicht vorzeitigen Anfänge), nach denen wir selbst eine Welt aufbauen, in der uns Gegenstände mit dem Anspruch begegnen können, Maßstäbe zu sein, an denen wir unsere Ansichten und Ansichten kritisch messen müssen. Und sie findet diese Prinzipien in den Ideen der Vernunft und den Kategorien des Verstandes .Aber in der jüngeren Diskussion um die Transzendentalphilosophie ist deutlich geworden: Dieser Aufbau einer Gegenstandswelt kann mißlingen – und zwar nicht dadurch, daß wir von Ideen und Begriffen einen nachlässigen Gebrauch machen, sondern dadurch, daß gerade der konsequente Gebrauch solcher Ideen und Begriffe uns in unsere eigenen Konstrukte einschließt und uns den Blick auf die Gegenstände versperrt. Wir glauben dann, alles, was für die Dinge und Sachverhalte wesentlich ist, schon a priori zu wissen, und sehen keine Notwendigkeit, ja nicht einmal eine Möglichkeit, unser Verständnis der Ideen und Begriffe durch die Weise, wie die Dinge sich uns zeigen, korrigieren zu lassen. Ideen und Kategorien, die dazu bestimmt sind, Erfahrung möglich zu machen, sind dann zu Hindernissen geworden, die uns gegen Erfahrungen immunisieren. Diese Gefahr geht gerade von den Bedingungen aus, ohne die kein Bezug zu Gegenständen möglich ist, von unsren Ideen und Begriffen. Die Vernunft, die diesen Gegenstandsbezug möglich machen soll, wird insofern nicht durch äußere Mächte bedroht, sondern unterliegt einer radikalen Selbstgefährdung.
104 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
B Der »Grundbauplan« der durch den Kultus gedeuteten Welt
γ)
Die Selbstgefährdung der Vernunft – Diagnose und Therapie Angesichts dieser Erfahrung kann es für die Philosophie von Interesse sein, zu sehen, wie die Religion mit entsprechenden Erfahrungen ihrer Selbstgefährdung und also mit Erfahrungen ihrer Kontingenz umgeht. Nun hat sich gezeigt: Die Religion und vor allen die im Kultus implizierte Auslegung der Weltwirklichkeit kennt ihre Selbstgefährdung in der Gestalt der Versuchung zur Magie. Diese läßt den Dienst an Gott und an der Erneuerung der Welt in den Versuch umschlagen, mit Hilfe wirksamer Zeichen über göttliche Kräfte im Dienst an menschlichen Zwecken zu verfügen und so eine Herrschaft über Dinge und Menschen auszuüben. Aber die Religion kennt zugleich den Weg zur Überwindung dieser Gefahr: Er besteht in dem konsequenten Verzicht auf alle Versuche, der Welt die eigenen Absichten des Handelnden aufzunötigen, und in dem Verständnis des gottesdienstlichen Handelns als Re-Präsentation jener vorzeitigen Ursprünge, die auch die Objekte unseres Wirkens zur Erneuerung ihres Seins und Wirkens fähig machen. Daraus ergibt sich die Frage: Kann die Philosophie auch in dieser Hinsicht etwas von der Religion lernen, wenn sie sich vor die Aufgabe gestellt sieht, ihre eigene Selbst-Gefährdung zu erkennen und nach Wegen zu ihrer Überwindung zu suchen? Was die Diagnose betrifft, so kann die Philosophie sich durch das Weltverständnis des Kultus daran erinnern lassen, daß auch im philosophischen Kontext der Versuch einer zunächst theoretischen und alsbald auch praktischen Weltbeherrschung zur Blindheit gegenüber der Erfahrung führt. In der klassischen Transzendentalphilosophie seit Kant ist es üblich geworden, Ideen und Kategorien als Mittel einer einseitigen Gesetzgebung der Vernunft und des Verstandes über die Erfahrungswelt zu verstehen. Und der Erfolg der technischen Weltbeherrschung, die durch diese Art von Erkenntnis möglich geworden ist, scheint dieses Selbstverständnis der Vernunft zu bestätigen. In der seit Kants Leben und Wirken verstrichenen Zeit sind begründete Zweifel an dieser Weise entstanden, die Vernunft und ihr Verhältnis zur Gegenstandswelt zu begreifen. Der Verzicht auf Herrschaftswissen und Herrschaftspraxis scheint auch in ganz profanen Zusammenhängen notwendig, wenn die Vernunft sich aus ihrer Selbstgefährdung befreien soll. Die offene Frage ist jedoch, wie eine Alternative zu diesem 105 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Drittes Kapitel: Der Kultus als Ausdruck religiösen Weltverstehens
Selbstverständnis der Vernunft aussehen könnte. Es geht insofern nicht nur um die Diagnose der Selbstgefährdung, sondern um ihre Therapie. Kann auch in dieser Hinsicht das Weltverständnis des Kultus eine Orientierungshilfe für die Philosophie bieten? Gefordert ist offensichtlich der Aufbau einer Erfahrungswelt solcher Art, daß sie es den Gegenständen unserer Erfahrung gestattet, uns als Ob-jekte (wörtlich »Gegen-Würfe«) gegenüberzutreten, sozusagen als lebendige Ob-jektionen gegen unsere Ansichten und Absichten. Es müßte erst noch geklärt werden, welcher Gebrauch von Vernunft-Ideen und Verstandes-Begriffen es möglich macht, eine so strukturierte Erfahrungswelt aufzubauen. Aber schon jetzt ist deutlich: Die Weise, wie dies dem kultischen Weltverständnis gelingt, kann nicht zum orientierenden Vorbild für die Philosophie werden. Denn sie beruht gerade auf dem Gedanken, daß der vorzeitige Ursprung durch wirksame Zeichen neue Gegenwart gewinnen kann, also auf jenem Moment der kultischen Weltauslegung, das an früherer Stelle nicht nur als vor-rational, sondern als irrational bezeichnet worden ist. Die Frage ist freilich, ob dieses Urteil nicht modifiziert werden muß. δ)
Das kultische Weltverständnis – weder vor-rational noch irrational, sondern eine Alternative zur Rationalität von Philosophie und Wissenschaft Die Bedeutung des kultischen Welt- und Selbstverständnisses für die säkulare Vernunft läßt sich insbesondere an den Aporien des sittlichen Pflichtbewußtseins deutlich machen. Betrachten wir nämlich die stets sehr bescheidenen Resultate unserer sittlichen Bemühung, dann entsteht leicht der Eindruck, wir hätten uns dem Ziel nicht angenähert, auf das der Wille aller sittlichen Gebote und Verbote ausgerichtet ist. Diese »Voluntas legis« besteht darin, eine humane Gesellschaft heraufzuführen, die der Vielfalt solcher Vorschriften nicht mehr bedarf, weil jeder das Gute »leicht und mit Freuden tut« (so die klassische Definition der Tugend). Auch unsere redlichste sittliche Anstrengung hat uns, so scheint es, diesem Ziel nicht näher gebracht. Das Sittengesetz scheint »auf leere, eingebildete Zwecke gestellt« zu sein. Die kultische Auffassung vom menschlichen Handeln, wonach dieses das Heil nicht selber schafft, aber wirksame Zeichen setzt, in denen ein göttliches Heilshandeln gegenwärtig erfahrbar wird, benennt so die Voraussetzung, unter der allein das sittliche Pflicht106 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
B Der »Grundbauplan« der durch den Kultus gedeuteten Welt
bewußtsein vor skeptischer Selbstauflösung bewahrt werden kann. Diese Auffassung ist nicht »rational« im Sinne säkularer Rationalität. Aber sofern sie auch die säkulare praktische Vernunft vor Skepsis bewahrt, kann sie auch nicht als »irrational« bezeichnet werden. Sie ist deren Alternative, die sich paradoxerweise auch für die säkulare Vernunft als unentbehrlich erweist.
107 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen – Aufgaben und Kriterien ihrer Beurteilung
Zum Thema Traditionen sind, inhaltlich gesehen, Weisen, wie Kenntnisse und Fähigkeiten innerhalb einer Gesellschaft weitergegeben werden, damit nicht jede Generation das längst Bekannte neu entdecken, das längst Gekonnte neu erfinden muß. In diesem Sinne beruht aller Fortschritt auf Tradition. Traditionen sind, formal gesehen, Schulen der »Formatio Mentis«, d. h. der Ausformung der Fähigkeit, Kontexte aufzubauen, innerhalb derer Inhalte der Wahrnehmung oder Erinnerung einen »Stellenwert« gewinnen (d. h. für die Entscheidung theoretischer und praktischer Fragen »relevant« werden können). Zugleich aber wird in der Schule von Traditionen gelernt, diese Kontexte flexibel zu halten, damit das Wirkliche, das uns begegnet, seinen Anspruch auch gegen unsere Ansichten und Absichten zur Geltung bringen kann. In diesem Sinne sind Traditionen Schulen der Fähigkeit zur Erfahrung. Institutionen sind Formen des Zusammenlebens und Zusammenwirkens, die im gesellschaftlichen Rollenspiel Funktionsnachfolge möglich machen. Nur dadurch können Traditionen die Lebenszeit je einer Generation überdauern. Zugleich wird nur so die Weitergabe der Inhalte und Formen einer Tradition von der individuellen Eigenart ihrer Träger relativ unabhängig. Und die Mitglieder einer Überlieferungsgemeinschaft werden durch ein solches geregeltes Rollenspiel gegen die Übermacht »charismatischer Führer« geschützt.
Zur Methode Die geeignete Methode zur Beschreibung, Deutung und Kritik von Traditionen und Institutionen ist eine weiterentwickelte Transzendentalphilosophie. Diese versteht die Erfahrung als einen Dialog mit der Wirklichkeit und sucht die Bedingungen, die diesen Dialog mög108 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
lich machen, in den Formen des Anschauens und Denkens, beschreibt diese Formen aber zugleich als variabel: Die Formen des Anschauens und Denkens bringen den Anspruch des begegnenden Wirklichen zur Sprache; der zur Sprache gebrachte Anspruch des Wirklichen aber erzwingt immer wieder eine Weiterentwicklung dieser Formen. Überlieferungen bewähren sich, indem sie die Individuen zu diesem Dialog mit dem Wirklichen fähig machen; Institutionen legitimieren sich durch ihren Dienst an solchen Traditionen, die die EigenErfahrung und damit die eigene Kompetenz der Individuen nicht ersetzen, sondern ermöglichen. Das gilt, auf spezifische Weise, auch von religiösen Traditionen und Institutionen, die den Gegenstand dieser Überlegungen bilden.
Kritischer Rückblick auf die Themenstellung a)
Sind Traditionen und Institutionen vorwiegend »Bildungseinrichtungen«? Sie sind nie nur das, aber stets auch das: Denn die Inhalte der institutionell gesicherten Überlieferung erschließen sich gewöhnlich nicht dem »ungeschulten Blick«, sondern nur dem »informierten« (in die geeignete Form gebrachten) Anschauen und Denken. Und nur wenn sie auf solche Weise »informiert« sind, können die Rezipienten der Überlieferung zu eigenverantwortlichen Mitgliedern der Überlieferungsgemeinschaft werden. Indem sie sich durch die überlieferten Inhalte zur »Umgestaltung zur Neuheit des Denkens« herausfordern lassen, gewinnen sie die Fähigkeit zu eigenen Erfahrungen und damit die Kompetenz zum eigenen Urteil auf dem Sachgebiet der jeweiligen Überlieferung (vgl. Röm 12,2: »Lasset euch umgestalten zur Neuheit des Denkens, damit ihr urteilsfähig werdet«). b)
Ist die Transzendentalphilosophie vorwiegend eine »Bildungstheorie«? Das Thema der Transzendentalphilosophie sind die Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung. Diese liegen in der Struktur eines Kontextes, innerhalb dessen das Wirkliche dem Subjekt so begegnen kann, daß es zum Maßstab seiner wahren und falschen Urteile wird. Dem Aufbau solcher Kontexte dienen Anschauungsformen, Begriffe und Ideen (Zielvorstellungen von der Erfüllung unabweislicher Aufgaben der Vernunft). 109 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
Um die Funktion dieser Anschauungsformen, Begriffe und Ideen angemessen zu beschreiben, kann es hilfreich sein, sich im Kontrast dazu an Typen mißlingender Erfahrung zu orientieren. Erfahrung mißlingt, wenn das Subjekt durch seine Erlebnisse überwältigt und so an der Selbsttätigkeit seines Anschauens und Denkens gehindert wird. Sie mißlingt aber auch, wenn der Kontext, der durch die Anschauungsformen, Begriffe und Ideen aufgebaut wird, zum geschlossenen System wird und vermeintliche Erfahrung zum Selbstgespräch des Subjekts entartet, das durch alles, was ihm begegnet, nur in seinen Ansichten und Absichten bestätigt werden kann. Der »dritte Weg« zwischen Überwältigung und Selbstgespräch ist ein dialogisches Verhältnis zur Wirklichkeit, in welchem unser Anschauen und Denken auf einen Anspruch des Wirklichen antwortet und ihn so erst vernehmbar macht, dieser Anspruch aber über die jeweils erreichte Form des Anschauens und Denkens hinausdrängt. Erfahrung erweist sich so als »Dialog mit der Wirklichkeit« – eine Metapher, die den Grund dafür benennt, daß Dialoge im wörtlichen Sinne möglich sind: Wir können mit unseren Mitmenschen nur deswegen Dialoge führen, weil wir in unserem Sprechen (im »Verbum Oris«) einen Anspruch des Wirklichen an sie weitergeben, den wir zuvor in unserem Anschauen und Denken (im »Verbum Mentis«) beantwortet haben. Der »Dialog mit dem Wirklichen« macht den Dialog unter Menschen möglich und bewährt sich dadurch, daß er ihn möglich macht. Dieser Gebrauch von Anschauungsformen, Begriffen und Ideen ist nicht angeboren, sondern wird erlernt. Insofern zeichnet die Transzendentalphilosophie, wenn sie die Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung beschreibt, auch der Pädagogik Ziele vor: Sie soll Heranwachsenden, aber auch Erwachsenen, jene Fähigkeiten vermitteln, die notwendig sind, wenn Erfahrung möglich sein soll. c)
Die Pluralität der Erfahrungsarten als Impuls für die Weiterentwicklung der Transzendentalphilosophie Der Zusammenhang zwischen Transzendentalphilosophie und Bildungstheorie ist noch enger. Es gibt nicht nur eine einzige Art von Erfahrung, sondern deren mehrere; jede von ihnen setzt den Aufbau eines Kontextes von besonderer Struktur voraus; dabei gewinnen Anschauungsformen, Begriffe und Ideen eine je besondere Gestalt und Bedeutung. Hat die »Allgemeine Transzendentalphilosophie« abstrakt die Möglichkeitsbedingungen jeder Erfahrung zu bestimmen, so die »Spezielle Transzendentalphilosophie« die Möglichkeitsbedin110 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
gungen konkreter Erfahrungsarten (z. B. der wissenschaftlichen Empirie, der ästhetischen, ethischen oder religiösen Erfahrung). Die Fähigkeit, Anschauungsformen, Begriffen und Ideen die je spezifische Gestalt und Bedeutung zu geben, auf der die Möglichkeit je besonderer Erfahrungsarten beruht, wird in einem Dialog mit dem Wirklichen erlernt, der die Lebensdauer der Individuen übergreift und deshalb konkrete Überlieferungsgemeinschaften voraussetzt. Deshalb haben auch diese Überlieferungsgemeinschaften transzendentale Bedeutung, d. h. sie gehören zu den Bedingungen, die Erfahrung möglich machen. Und in dieser Hinsicht sind auch die Überlieferungsgemeinschaften Gegenstände transzendentalphilosophischer Untersuchung. Dabei zeichnet die Spezielle Transzendentalphilosophie (im Unterschied von der Allgemeinen) diesen Überlieferungsgemeinschaften nicht nur Aufgaben vor, die sie apriori (aus dem Begriff von »Erfahrung überhaupt«) entwickelt; vielmehr lernt sie erst durch den Blick auf konkrete Überlieferungsgemeinschaften die Eigenart je konkreter Erfahrungsarten kennen und kann nur so auch deren spezielle Bedingungen bestimmen. Ohne den Blick auf konkrete Überlieferungsgemeinschaften und deren Geschichte bleibt die Transzendentalphilosophie »leer«; umgekehrt bleiben Überlieferungsgemeinschaften »blind«, wenn sie die transzendentale Bedeutung der »Formatio Mentis« nicht erfassen, die sie ihren Mitgliedern vermitteln. d)
Erste Kriterien zur Beurteilung von Traditionen und Institutionen Traditionsgemeinschaften können Inhalte der für sie typischen Art nur weitergeben, wenn den Hörern zugleich die Fähigkeit vermittelt wird, Erfahrungskontexte aufzubauen, in denen diese Inhalte ihre Stelle finden. Wer nur Inhalte weitergibt, ohne zur entsprechenden Formung des Anschauens und Denkens beizutragen, macht auch die Inhalte bedeutungslos. Wer die Hörer zu der Meinung anleitet, die erforderliche Formatio Mentis ein für allemal gewonnen zu haben, verwandelt den Dialog mit dem Wirklichen unmerklich in ein traditionell verfestigtes, institutionell gesichertes Selbstgespräch. Wer stattdessen den Hörern stets nur »überwältigende Erlebnis-
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Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
se« vermitteln will, raubt ihnen die Fähigkeit, auf den Anspruch des Wirklichen eine verantwortete Antwort zu geben.
A
Die Sprache – wichtigstes Medium der Überlieferung und ihr Produkt
Die Sprache ist das wichtigste Medium der Überlieferung. Bei aller Bedeutung non-verbaler Überlieferungsformen muß doch gesagt werden: Ohne Sprache wäre Überlieferung unmöglich (vgl. oben 2. Kapitel »Die religiöse Sprache«, S. 37–77). Zugleich ist die Sprache Produkt der Überlieferung; »die Sprache« gibt es nicht, sondern stets nur konkrete Sprachen, die in ihrer vorfindlichen Gestalt innerhalb einer Überlieferungsgemeinschaft entwickelt worden sind. Deshalb ist jeder »Diener an der Überlieferung« auch Sprachlehrer, weil die Teilhabe am Leben einer Überlieferungsgemeinschaft aktive Sprachkompetenz voraussetzt, die nicht angeboren ist, sondern gelehrt und gelernt werden muß.
1.
Sprachliche Universalien
Die Sprache ist das wichtigste Mittel der Selbstfindung: Die eigene Identität wird im Erzählen von Geschichten aufgebaut. Sie ist zugleich das wichtigste Mittel zum Aufbau einer Erfahrungswelt: Das Verständnis der Substanzkategorie wird durch den Gebrauch von Namen eingeübt, das Verständnis der Kausalkategorie durch die Erfahrung von der Interaktion zwischen Sprechern und Hörern. Die Verwendung des Possessivpronomens (das dem Erlernen des Personalpronomens vorauszugehen pflegt) vermittelt erste Erfahrungen von der Intersubjektivität in einer gemeinsamen Welt. Deshalb hat die Sprache transzendentale Bedeutung. Und der Sprachlehrer, der seine Schüler zu aktiver Teilhabe am Leben der Sprachgemeinschaft qualifiziert, ist zugleich ein Lehrmeister der Transformation von Erlebnissen in Erfahrung. Aber »die Sprache« ist stets die bestimmte Sprache einer konkreten Überlieferungsgemeinschaft. Ihre jeweils vorfindliche Gestalt spiegelt deren je besondere Geschichte.
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A Die Sprache – wichtigstes Medium der Überlieferung und ihr Produkt
2.
Die »Unterschiedlichkeiten des menschlichen Sprachbaues« 52
Die Einübung in Sprach-Konventionen (z. B. Gruß, Bitte, Dank) ist zugleich Einübung in ein soziales Rollenspiel. Die Einübung in einen differenzierenden Gebrauch des vorgefundenen Vokabulars und der vorgefundenen grammatischen Möglichkeiten ist zugleich eine Schule für den Aufbau einer differenzierten Erfahrungswelt. Die Erfahrung, daß nicht alle Sprachen bedeutungsgleiche Vokabeln und eine formgleiche Grammatik haben, ist ein erster Hinweis auf die Frage, wie sich die eine Wirklichkeit, von der wir jeweils sprechen, zur Vielheit der Erfahrungsweisen verhält. Grenzen der Übersetzbarkeit treten nicht nur im Verhältnis zwischen Nationalsprachen auf, sondern auch im Verhältnis zwischen unterschiedlichen Sachgebietssprachen. Man kann ein Gedicht, aber auch ein Gebet, nicht bedeutungsgleich in die Sprache der Wissenschaft übersetzen. Die Fähigkeit, mehrere Sprachen zu sprechen, wird dann zu einer Schule, Grenzen der Erfahrungsfähigkeit, die durch je eine Sprache gezogen sind, zu überschreiten und von dorther sich innovativ an der Entwicklung der eigenen Sprache zu beteiligen. Das »Sprechen an den Grenzen der (jeweiligen) Sprache« wird zum vorantreibenden Moment der Sprachgeschichte und damit der Geschichte der jeweiligen Sprachgemeinschaft.
3.
Folgerungen für das Verständnis von Traditionen und Institutionen
Traditionen leben aus bezeugter Erfahrung und geben, zugleich mit den Inhalten dieser Erfahrung, die Formatio Mentis weiter, die allein solche Erfahrungen möglich gemacht hat. Das vorzüglichste Mittel dieser Weitergabe ist die je spezifische Sprache einer solchen Überlieferungsgemeinschaft. Traditionen sind daher immer zugleich Sprachgemeinschaften, die die Generationen überdauern. Institutionen haben die Aufgabe, zugleich mit der Weitergabe spezifischer Inhalte die Form des Anschauens und Denkens weiterzugeben, die es gestattet, bezeugte Erfahrung früherer Generationen
Mit dieser Formulierung hat Wilhelm von Humboldt sein sprachphilosophisches Hauptwerk überschrieben.
52
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Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
für die eigene Erfahrung der späteren fruchtbar zu machen und sie untereinander in ein hermeneutisches Wechselverhältnis zu bringen. Weil die Sprache das wichtigste Medium der Überlieferung ist, gehören zu den wichtigsten Organen der Überlieferung die Sprachlehrer – zunächst die Eltern als Lehrer der »Muttersprache« (in Entsprechung zur »Vätersitte«), sodann besondere Organe der institutionalisierten Sprachüberlieferung. Um ihre Aufgabe zu erfüllen, müssen sie Klarheit über drei Fragen gewinnen: Was muß man können, um in eine Sprachüberlieferung einzutreten (bei einem überlieferten »Sprachspiel mitzuspielen«)? Warum soll jemand das wollen? Und was muß man verstehen, um sich mit Verantwortung dafür oder dagegen zu entscheiden? Das »Können«, das der Sprachlehrer seinen Schülern vermitteln soll, heißt »aktive Sprachkompetenz«, d. h. die Fähigkeit der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft, in der erlernten Sprache auch das zu sagen, was niemand ihnen vorgesagt hat. Dazu gehört nicht nur die Kenntnis des Wortschatzes einer Sprache, sondern ebenso die praktische Aneignung ihrer Grammatik, die es gestattet, nach den Regeln einer Sprache (und deshalb verständlich für die Mitglieder der Sprachgemeinschaft) auch neue Wörter und Redewendungen zu prägen. Vor allem aber hängt der Erwerb aktiver Sprachkompetenz davon ab, daß die Sprechenden (neben der Semantik und Grammatik) die Pragmatik der jeweils gesprochenen Sprache erfassen, d. h. sich dessen bewußt werden, was sie tun (πράττουσιν), wenn sie gewisse sprachliche Ausdrücke und Ausdruckssequenzen benutzen, d. h. in welche Beziehungen zu anderen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft sie dadurch eintreten und welche »Rollen« sie ihren Hörern und Dialogpartnern durch die Form ihres Sprechens zuweisen. Die Frage »Warum soll jemand diese Sprachkompetenz erwerben wollen?« lenkt den Blick vor allem auf den pragmatischen Aspekt der Sprache: Wortschatz und Grammatik einer Sprache werden gelehrt und erlernt, weil ohne sie bestimmte Arten von Kommunikationsgemeinschaften nicht aufgebaut werden können, und weil bestimmte Weisen objektiven Geltens nur in entsprechenden Kommunikationsgemeinschaften erprobt und gesichert werden können (Beispiel: Nur in der community of investigators kann die spezifische Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnisse erprobt und gesichert werden). Das Verständnis, das der Sprachlehrer seinen Schülern vermitteln soll, betrifft vor allem diesen Zusammenhang zwischen Gel-
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B Spezielle Aufgaben und Legitimationskriterien
tungsmodus, Kommunikationsgemeinschaft und dem Wortschatz und der Grammatik einer Sprache. Die Differenziertheit des Wortschatzes, die Funktion der grammatischen Formen und vor allem die Einsicht in den Zusammenhang von Sprachgebrauch und »sozialem Rollenspiel« werden von den Mitgliedern der Sprachgemeinschaft an »klassischen Texten« ihrer Überlieferungsgemeinschaft überprüft, an denen sie selbstkritisch messen, ob sie hinter die semantischen, grammatischen und pragmatischen Möglichkeiten zurückgefallen sind, die in der Überlieferungsgemeinschaft schon einmal erreicht waren. In dieser Funktion – und nicht um bloßer Nachahmung willen – sind »klassische Texte« einer Überlieferungsgemeinschaft unerläßliche Mittel zum Erwerb aktiver Sprachkompetenz. Darum erfüllt die institutionalisierte Weitergabe normativer Texte eine zugleich traditionsbegründende und traditionskritische Funktion. Derartige Texte bedürfen, um ihre traditionsbegründende und zugleich traditionskritische Funktion zu erfüllen, eines weiteren Organs institutionalisierter Weitergabe: der »LeseMeister«, die die Mitglieder der Sprachgemeinschaft in diesen Gebrauch solcher Texte einführen.
B
Spezielle Aufgaben und Legitimationskriterien religiöser Traditionen und Institutionen
1.
Verbale Formen der religiösen Überlieferung und institutionalisierte Weisen des Dienstes am Wort
a)
Gebete und Gebetstraditionen
Das Gebet ist diejenige Sprachform, an der die Eigenart der religiösen Sprache besonders deutlich hervortritt. Auch diese Sprachform wird in Überlieferungsgemeinschaften gelernt, bedarf dazu der Sprachlehrer und des Gebrauchs normativer Texte der Gebetstradition, in deren Verständnis religiöse »Lesemeister« einführen. Auch für diese Sprachlehrer und Lesemeister gilt: Ihre Aufgabe ist es, aktive Sprachkompetenz zu vermitteln. Auch sie haben die dreifache Frage zu beantworten: Was muß man »können«, um in die Gebetstradition einzutreten? Warum soll jemand das wollen? Und was muß er verstehen, um sich verantwortlich dafür oder dagegen zu entscheiden? Voraussetzung für die Bereitschaft, betend in eine »Korrelation 115 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
mit Gott« einzutreten, sind Erfahrungen, die sich im Lichte einer bestimmten religiösen Tradition als Erfahrungen der »Gottferne« und »Gottnähe« verstehen lassen: Erfahrungen von der Kontingenz unserer Vernunft (vom »Aufgehen eines Lichtes über einem Abgrund von Finsternis«) und der ebenso deutlichen Kontingenz unserer Freiheit (von dem Freiheitsverlust, den wir durch Selbstverstrickung erleiden, und der Wiedergewinnung der Freiheit, die wir nicht herbeizwingen können und die sich so als »befreite Freiheit« erweist). Tradierte Gottesnamen werden dann als Angebote verständlich, in eine Korrelation einzutreten, die alle derartigen Erfahrungen als Stadien einer einzigen Geschichte umgreift. Und im Licht dieses Angebots schärft sich zugleich der Sinn für diejenigen Erfahrungen, die die Elemente dieser Geschichte bilden. Ausdruck für diesen »responsorischen« Charakter des religiösen Wortes, das nur als ermächtigte Antwort auf die Zuwendung des Heiligen gesprochen werden kann, ist seine ritualisierte Form und seine Weitergabe durch ermächtigte Diener. Daher wird der Vorbeter zum besonders deutlichen Beispiel für den Inhaber einer institutionalisierten Rolle beim Aufbau der religiösen Sprachgemeinschaft. Die Bereitschaft, betend Sprachhandlungen zu vollziehen, die sich als antwortender Dienst an der aufleuchtenden »Herrlichkeit« Gottes begreifen, setzt andere Erfahrungen voraus: Allgemeine Erfahrungen davon, daß jedes Wort, das wir innerlich oder äußerlich sprechen, eine Zuwendung und einen Anspruch der Dinge für uns und andere vernehmbar macht, und spezielle Erfahrungen davon, daß jedes Ding und jeder Mensch etwas von einem »offenbaren Geheimnis« an sich hat, und daß die Weise, wie das Wirkliche uns dabei in Anspruch nimmt und aus unserer Selbstverfangenheit befreit, als die Spur eines größeren »offenbaren Geheimnisses« verstanden werden muß, das auf allen Dingen und Menschen seinen Widerschein findet. Überlieferte hymnologische Erzählungen sind exemplarische Weisen, in allen Dingen und Ereignissen die Erscheinungsgestalten dieser göttlichen »Herrlichkeit« zu entziffern. So machen derartige Texte der Überlieferung den Beter fähig, auch sein eigenes Sprechen und Tun als Dienst am neuen Aufleuchten dieser »Doxa« Gottes zu begreifen (d. h. an der Weise, wie Gott sich für uns und andere vernehmbar macht). 53
53
Die Vokabel »Δόξα« ist von dem Verbum »Δέχεσθαι«, »empfangen« gebildet.
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B Spezielle Aufgaben und Legitimationskriterien
Die Bereitschaft, durch Sprachhandlungen des Gebets am Aufbau der religiösen Sprachgemeinschaft mitzuwirken, setzt Erfahrungen davon voraus, daß kein Wort (weder inneres noch äußeres) der Wirklichkeit entspricht, wenn es sich der Weitergabe an andere grundsätzlich entzieht, und daß nicht jede Art von Sprachgemeinschaft sich zur Weitergabe des doxologischen Wortes eignet, sondern nur die, die Gott selbst sich zum Ort seiner Gegenwart (Tempel) aufbaut, um dann »zu thronen aus Israels Lobgesängen« (Ps 22,4). Religiöse Traditionen stellen für diese Sprachhandlungen die geeigneten sprachlichen Formen bereit (Anrufungsnamen, hymnologische Erzählungen, liturgische Zurufe, durch die die Feiernden sich zur religiösen Sprachgemeinschaft versammeln) und halten zugleich Erinnerungen an Erfahrungen wach, die im Lichte solcher Sprachhandlungen angemessen verstanden werden. Daraus ergibt sich ein Grundbestand an Sprachformen des Gebets und des Bekenntnisses zur »Größe« Gottes, der sehr unterschiedlichen religiösen Überlieferungen gemeinsam ist und daher auch zwischen ihnen ausgetauscht werden kann. Selbst sehr erhebliche Differenzen im Inhalt der Gebets- und Bekenntnisaussagen machen ein Lernen über die Grenzen solcher Gemeinschaften hinweg möglich. (Anders steht es, wie sogleich zu zeigen sein wird, mit religiösen Erzählungen, die in solchen Überlieferungsgemeinschaften weitergegeben werden und oft Unterscheidungsmerkmale der einzelnen Gemeinschaft bilden.) Institutionen sichern die Weitergabe der Gebetstradition auch über Zeiten individueller oder gemeinschaftlicher geistlicher »Dürre« hinweg, vermitteln Kriterien, an denen Formen und Inhalte des Betens gemessen werden können, und garantieren, daß das »Haus Gottes in der Welt« für die, die es suchen, auffindbar bleibt. Ein besonders hervorgehobener Ort dieser Unterweisung ist die Initiationsvorbereitung, bei der die Initianden mit Gebeten und Erzählungen vertraut gemacht werden, die in einer religiösen Überlieferungsgemeinschaft normativen Charakter haben, und zugleich lernen sollen, durch selbständigen Gebrauch dieser sprachlichen Mittel zu aktiven Mitgliedern der Überlieferungsgemeinschaft zu werden. b)
Religiöse Erzählungen und Erzähltraditionen
Die institutionalisierte (auf Nachfolge angelegte) Weitergabe von Geschichten, die »vor Gott erzählt werden«, ist zugleich eine Anleitung, die Widerfahrnisse des eigenen Lebens so zu »buchstabieren«, daß ihr 117 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
Zusammenhang als Ausdruck einer gemeinsamen Geschichte Gottes und des Menschen gelesen werden kann. In funktionsteiligen Gesellschaften wird diese Aufgabe von eigenen »Dienern am Wort« erfüllt: den »Geschichten-Erzählern«, die auch ihre Hörer zum Nach- und Weitererzählen befähigen. Die religiöse Gemeinschaft ist immer auch Erzählgemeinschaft, in der die Weitergabe solcher Erzählungen sich institutionalisiert. Unter allen Arten von Erzählungen haben im religiösen Kontext »Archaiologien«, Erzählungen von dem, was »im Anfang« geschah, besondere Bedeutung. Für das religiöse Weltverständnis hängt Wesentliches davon ab, daß solche Archaiologien erzählt werden und ihr Inhalt kultisch begangen wird, aber auch davon, welche Archaiologien erzählt, welche ihrer Inhalte kultisch gefeiert werden. Sie zeichnen der religiösen Erfahrung das Grundmuster vor. Sie werden institutionalisiert (überlieferungsfähig gemacht), damit die Möglichkeit des Aufbaus solcher Erfahrungskontexte nicht verlorengeht. Und sie bewähren sich dadurch, daß sie den Aufbau solcher Erfahrungskontexte möglich machen. So entsteht die Frage: Was muß man »können«, um ein aktives Glied der religiösen Erzählgemeinschaft zu werden? Man muß den Schatz von Erzählungen kennen, in deren Weitergabe sich eine solche Gemeinschaft immer neu konstituiert, und man muß vor allem lernen, in ihrem Licht immer neue Erfahrungen zu deuten. Warum soll man das wollen? Um aus der Erinnerung Hoffnung zu gewinnen, die alle Möglichkeit eigener Leistung übersteigt. Was muß man verstehen, um die Entscheidung für solches Lernen verantwortlich zu treffen? Man muß begreifen, daß nur in der Kraft solcher Hoffnung sich die Wechselfälle des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens zur Einheit einer Geschichte zusammenschließen, und daß nur die Kontinuität dieser Geschichte jene Identität der Individuen und der Gemeinschaft begründet, die uns die Frage beantworten läßt: Wer bin ich? Wer sind wir? Die religiöse Erzählgemeinschaft mit all ihren Institutionen bewährt sich in dem Maße, in dem sie ihre Mitglieder dazu befähigt, ihre eigenen Erfahrungen im Lichte jener Hoffnung zu deuten, die sie aus der überlieferten Erinnerung gewonnen haben.
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B Spezielle Aufgaben und Legitimationskriterien
2.
Die Verbindung verbaler mit non-verbalen Formen der Überlieferung Das ausgezeichnete Beispiel: Der Kultus
Es gibt im Kultus zwar wortlose Riten, aber keine wortlosen GesamtRitualien. Dabei kann jede Form religiösen Sprechens auch zum Bestandteil des Kultus werden. Der spezifisch religiöse Charakter religiöser Sprachformen tritt in dieser möglichen Beziehung zum Kultus besonders deutlich zutage. a)
Das »kultische Weltbild«
Die »Welt« ist der energetische Zusammenhang aller Abbildgestalten, die sich gegenseitig zum Wirken ermächtigen. Das »Ich« oder »Wir« ist das ausgezeichnete »Bild« der numinosen Ursprünge (die Erscheinungsgestalt ihrer wirksamen Gegenwart), das fähig ist, seinerseits wirksame »Bilder« zu setzen. Der Kultus setzt so nicht nur ein bestimmtes Weltbild voraus, sondern übt die Feiernden in einen bestimmten Gebrauch von Anschauungsformen, Begriffen und Ideen ein und qualifiziert sie so zum Aufbau einer spezifischen Erfahrungswelt, innerhalb derer sie ihre Erlebnisse in Inhalte religiöser Erfahrung transformieren. In all diesen Hinsichten ist die kultisch ausgelegte Welt die Vorläuferin der philosophisch und später wissenschaftlich ausgelegten Welt, zugleich aber und vor allem ihre fortdauernde Alternative: geeignet, gegenüber den »Reduktionismen« des wissenschaftlichen Selbst- und Weltverständnisses eine Möglichkeit zur Erfahrung offenzuhalten, die unseren »lebensweltlichen« Fragen nähersteht als diese. b)
Voraussetzungen der aktiven Teilnahme am Leben der Gottesdienstgemeinschaft
Was muß jemand können, um zur aktiven Teilnahme am Leben der Gottesdienstgemeinschaft fähig zu werden? Zunächst: Er muß das Ritual kennen und seine eigene Rolle darin erfassen. Aber darüber hinaus: Er muß die Eigenart der Erfahrungswelt erfassen, in der die gottesdienstliche Praxis ihre Stelle hat, die aber auch die »profane« Alltagswelt umgreift. Dazu aber bedarf es der »mystagogischen Lehrer«, die innerhalb der religiösen Überlieferungsgemeinschaft eine 119 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
durch Institutionalisierung überlieferungsfähig gewordene Rolle spielen. Warum soll jemand das lernen wollen? Weil er die Erfahrung gemacht hat, daß die Zweideutigkeit allen menschlichen Erkennens und Wirkens sich nur auflösen läßt, wenn er lernt, sie nach dem Modell gottesdienstlichen Sprechens und Handelns zu begreifen: als Entziffern von Abbildgestalten und als Setzung neuer Abbildgestalten. Was muß jemand verstehen, um diese Entscheidung verantwortungsvoll zu treffen? Daß die Unbedingtheit, mit der das, was uns begegnet, uns in Anspruch nimmt, das »Bild«, d. h. die erfahrbare Erscheinungsgestalt eines Auftrags ist, für den ein göttlicher Auftraggeber uns unter seinen Anspruch stellt. Nur wenn sie so verstanden wird, kann die Doppelgefahr von Dogmatismus und Skeptizismus vermieden werden. c)
Bewährungsproben gottesdienstlicher Traditionen und Institutionen
Wenn es dem institutionalisierten Kultus nicht gelingt, die Mitglieder der Überlieferungsgemeinschaft zum Aufbau einer Erfahrungswelt zu qualifizieren, innerhalb derer sie lernen »ihre eigenen Erlebnisse zu buchstabieren, um sie als religiöse Erfahrung zu lesen«, dann ergibt sich der Eindruck, die Einhaltung formaler Regeln sei Selbstzweck. Dann entsteht in der Tat ein »inhalt-entleerter Ritualismus«. Aus dem gleichen Mangel an eigener Erfahrungsfähigkeit ergibt sich der Eindruck, die durch gottesdienstliche Handlungen (»Weihen«) zum Vollzug gottesdienstlicher Handlungen befähigten »Kultdiener« vollzögen eine gruppen-immanente Sondertätigkeit, während die »Laien« nur an deren »Früchten« partizipierten. Dann entsteht in der Tat eine »religiöse Mehrklassen-Gesellschaft« und zugleich ein regressiver Anachronismus, in den man sich, oft aus Überdruß an der Alltagswelt, bei besonderen Anlässen zurückzieht. Das aber ist eine Folge mangelhaften Verstehens dessen, was im Kultus geschieht. Es bedarf der »mystagogischen Lehrer«, wenn die Mitglieder der Gottesdienstgemeinde zu deren aktiven und eigenverantwortlichen Mitgliedern werden sollen. Und es sind religiöse Institutionen, die diese Aufgabe tradierbar machen.
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B Spezielle Aufgaben und Legitimationskriterien
3.
Das religiöse Recht
Seine Eigenart ist nur aus seiner Herkunft aus dem Kultrecht zu verstehen. a)
Wichtigste Rechtsgebiete
(1) Das Kultrecht im engeren Sinne: Es bestimmt die Riten des Gottesdienstes, auch die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Änderung. Es bestimmt Orte und Zeiten des Gottesdienstes und »kanonisiert« die Texte, die zur Verwendung im Gottesdienst zugelassen werden. (2) Das sakrale Personenrecht: Es bestimmt den Personenkreis, der zur Teilnahme am Gottesdienst oder zur Ausübung bestimmter gottesdienstlicher Funktionen zugelassen ist, und die Weise, wie diese Vollmacht übertragen wird. (3) Ein wichtiger Teil des Personenrechts: das Familienrecht Es beschreibt das »Haus« als älteste und wichtigste Kultgemeinschaft. (4) Das Reinheitsrecht: Es regelt die Bedingungen der Kultfähigkeit, ihren Verlust durch Fehlverhalten (auch im »profanen« Alltag) und die Weisen, wie sie wiedergewonnen werden kann (Versöhnungs- und Lustrationsriten) (5) Das sakrale Strafrecht: Es dient der »Reinigung« der Gemeinde von der »Verunreinigung«, die ihr durch das Fehlverhalten ihrer Glieder zugefügt werden kann. b)
Organe
(1) Die Eltern als »Urorgan« der religiösen Gemeinschaft: Für die Söhne und Töchter sind sie die Erfahrungsgestalt der »Unvordenklichkeit«, mit der das Heilige und seine heilschaffende Gegenwart allem Tun und Lassen der Kinder vorausgeht, und damit des Vorrangs, mit dem das Leben immer zuerst Gabe ist, ehe es zur Aufgabe werden kann.
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Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
(2) Der »Rat der Väter« und die »Altesten«: Erfahrungsgestalt der sozialen Identität im Wechsel der Generationen (die Individuen wechseln, die »juristische Person« bleibt), deshalb ist jede religiöse Amtsnachfolge zugleich Ausdruck für die »bleibende« Lebenskraft der heiligen Ursprünge der Gesellschaft. (3) Das sakrale Königtum: Repräsentant des Ur-Vaters, der ein »Zeitgenosse der Kosmogonie« gewesen ist. Daher in vielen Religionen die Identität von Thronbesteigungsfest und Neujahrsfest. (4) Priester und Hermeneuten, Lesemeister (Exegeten und Prediger) und Rechtsgelehrte: Hüter der Anamnese an die heiligen Ursprünge, die in wirksamen Worten und Riten vollzogen wird, Lehrer der aktualisierenden Anwendung, vor allem durch die »Tempel-Thorah«, die die Bedingungen der Kultfähigkeit definiert (»Wer darf hinauf zum Berge Gottes steigen?«). (5) Charismatiker und religiöse Sondergemeinschaften: Ihre Notwendigkeit: Die Kontinuität des Kults und seiner Ämter ist für die Gemeinde unentbehrlich, aber sie kann zum Vergessen bringen, daß im Kult ein Akt numinoser Freiheit gegenwärtig gesetzt wird. Der Charismatiker wird zur Erscheinungsgestalt dieser unverfügbaren Freiheit der Gottheit. Häufig beobachtbare Formen der Wirksamkeit von Charismatikern: Sie »gelten nichts in ihrer Vaterstadt«, wandern aus und werden so zu Missionaren in Ländern, die ihrer Überlieferung bisher ferne standen (z. B. Buddha). Oder sie sammeln um sich, innerhalb der Überlieferungsgemeinschaft, Sondergemeinschaften mit eigenen Regeln des Lebens und der Amtsnachfolge (z. B. Elia, die »Prophetenjünger« und die Weitergabe des »Prophetenmantels« an Elischa). So werden sie, innerhalb ihrer Überlieferungsgemeinschaft zu Reformatoren. Ihre Sprüche oder Schriften gewinnen »kanonischen Rang«. Oder sie werden vertrieben, kehren zurück, vertreiben ihre Vertreiber und werden zu »Religionsstiftern« (z. B. Muhammad). Für die Gemeinschaft, aus der sie stammen und von deren Überlieferung sie oft mehr, als sie wissen, geprägt sind, werden sie zu Kontrastzeichen, die in wichtigen Hinsichten nicht imitierbar sind und sich insoweit der Institutionalisierung entziehen, aber
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B Spezielle Aufgaben und Legitimationskriterien
das Bewußtsein von der beständigen Reformbedürftigkeit der Überlieferung wachhalten. c)
Legitimationsgründe und Beurteilungskriterien des religiösen Rechts
Das Recht steht, wie alle Institutionen, im Dienst der Sicherung von Traditionen. Seine besondere Aufgabe besteht darin, das Rollenspiel in einer Gruppe auch für den Konfliktfall vorhersehbar zu machen und dabei die Mitglieder der Gruppe von der Willkür angemaßter Autoritäten (»NN weiß, was recht ist«), aber auch von der Individualität allzu »einfallsreicher« Konfliktschlichter unabhängig zu machen (der unvorhersehbare Schiedsspruch des »weisen Kadi«). Darum führt die Entwicklung vom »Schlichterrecht« eines von den Parteien selbst gewählten Schlichters über das »Richterrecht« des institutionell »bestellten« Richters zum »gesetzen Recht« gesetzgeberischer Instanzen. Das gilt auch für die Vorhersehbarkeit des intersubjektiven Rollenspiels in der religiösen Gemeinde (gottesdienstliches Beispiel: Wozu soll und muß ich »Ja und Amen« sagen?) und für die Schlichtung von Konflikten, die sich aus der Frage ergeben können, welches gottesdienstliche und außergottesdienstliche Verhalten dem Auftrag der »Re-praesentatio« des göttlichen Heilswirkens angemessen oder unangemessen ist (Woran erkenne ich, ob eigenes oder fremdes Verhalten der »Auferbauung der Gemeinde« dient?). Wenn das Recht dazu da ist, Traditionen zu sichern, dann ist es an dieser Aufgabe zu messen. Traditionen erreichen ihr Ziel nicht, wenn sie Innovationen unmöglich machen, sondern nur, wenn sie im Traditionsgut (der »Überlieferung der Väter«) das darin enthaltene Innovationspotential freilegen. Innovationen erreichen ihr Ziel nicht, wenn sie die Tradition preisgeben; dann entstehen nur Anpassungen an flüchtige Gegenwartsbedürfnisse. Sie erreichen ihr Ziel nur, wenn sie der Tradition das Zeugnis für jene »veritas semper maior« abgewinnen, die immer wieder Innovationen erfordert und möglich macht. Entsprechend erreicht das Recht sein Ziel, die Traditionssicherung, nicht, wenn es ein bestimmtes Rollenspiel in der Gesellschaft unveränderlich festschreibt, sondern nur dann, wenn es in der Rechtstradition einer Gesellschaft das darin enthaltene Innovationspotential freilegt. Rechts-Innovationen erreichen ihr Ziel nicht, indem sie die Tradition preisgeben, sondern indem sie überlieferte 123 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
Formen des Rollenspiels in der Gesellschaft aus der Bemühung verstehen, einem Anspruch an das Verhalten der Rechtsgenossen Geltung zu verschaffen, der den Impuls zur Reform schon in sich enthält. Das gilt auch für das religiöse Recht. Es erreicht sein Ziel nur, wenn es die Überlieferung als die Antwort versteht, die frühere Generationen auf den Anspruch des Heiligen gegeben haben, und dieser Antwort das Zeugnis für den je größeren Anspruch des Heiligen entnimmt, der diese Antwort möglich gemacht hat und zugleich über sie hinausdrängt. So verlangt die Tradition selbst die »Reformatio perpetua« der religiösen Gemeinschaft und gibt ihr zugleich die Kriterien vor. Deshalb hat im religiösen Kontext die Rechtsfindung den Vorrang vor der Rechtssetzung. Aber die Rechtsfindung hat aktiven Anteil an der Weiterentwicklung des Rechts. Sie ist in wichtigen Hinsichten die Entdeckung des Innovationspotentials in der Rechtsüberlieferung. Beispiel: Ein Konzil ist keine »assemblée constituante«, die die religiöse Gemeinschaft »neu erfindet«, sondern ein Organ ihrer Erneuerung aus der Treue des Gedenkens. Nur deshalb kann es für seine Innovationen den religiösen Gehorsam der Gemeindemitglieder verlangen. Ausdrückliche Rechtssetzung dagegen ist im religiösen Zusammenhang ein Krisensymptom. In solchen Situationen wird ein neues Verständnis der Überlieferung nötig, das auch eine Neugestaltung des religiösen Rechts zur Folge hat, im Extremfall eine eschatologische Neu-Interpretation der Überlieferung, die auch das »gesetzte Sakralrecht« zu einer Anweisung macht, inmitten »dieser Welt« als Bürger der »kommenden Welt« zu leben.
C
Spezifika der jüdischen und christlichen Überlieferung und ihrer Institutionen
1.
Die Überlieferung Israels
a)
Die entscheidende »Ursprungsgeschichte« (»Archaiologia«)
Die entscheidende »Ursprungsgeschichte« (»Archaiologia«), in deren Licht die »Ekklesia Israel« alle ihre Erfahrungen deutet, erzählt nicht von einem Ereignis »vor aller Zeit«, sondern von einem Ereignis mitten in der Zeit: von der Herausführung aus Ägypten und, als deren 124 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
C Spezifika der jüdischen und christlichen Überlieferung und ihrer Institutionen
Voraussetzung, vom »Vorübergang« (Pessach) des Gottes an den »Häusern der Hebräer«, als er »alle Götter Ägyptens richtete«. Vorausgesetzt dabei ist die Erfahrung, in einer Welt zu leben, die Götter verehrt, die »dem wahren Gott ein Greuel« sind, exemplarisch dafür die Götter des Todes und der Fruchtbarkeit. Ihr GegenwartsSymbol ist der Stier (Ser-Apis, Ba’al). Diese Götter – und sekundär deren Verehrer – stehen unter Gottes Gericht. Der Rückfall in ihre Verehrung ist auch für die eigene Überlieferungsgemeinschaft die bleibende Versuchung (vgl. die Verehrung des »Goldenen Jungstiers« in der Wüste). Die Verschonung vor diesem Gericht und die Bewahrung vor Rückfall ist ungeschuldete Erhaltungsgnade, »damit immer ein Rest übrig sei für ein großes Entrinnen« (Gen 45,7). Diese Erhaltungsgnade ist Zeichen der Erwählung aus allen Völkern, verbunden mit dem Auftrag, zum Segen für alle Völker zu werden. Folgen dieses Bewußtseins von Erwählung und Auftrag, aber auch von der eigenen bleibenden Gefährdung, sind Grundhaltungen, zu denen die Angehörigen dieser Überlieferungsgemeinschaft sich verpflichtet wissen: – der Gehorsam gegenüber der göttlichen Weisung (Thorah), – der Eifer für den göttlichen Auftrag (Mizwah), – die Bereitschaft zu immer neuer Umkehr (Tschubah) und – das Vertrauen, allein im Verhältnis göttlicher und menschlicher Bundestreue (Chesed) den festen Stand (Emunah) zu gewinnen. »Lasset ihr’s nicht bestehen, dann habet ihr keinen Bestand« (Jes 7,9). b)
Angemessene Formen der Überlieferung
Das Problem: Läßt sich der freie Akt der göttlichen Erwählung »weitergeben«, um so zum Inhalt einer Tradition zu werden? Die erste Antwort: Der dem Stammvater gegebene »Eid« Gottes schließt ausdrücklich die Söhne und Töchter in die Erwählung ein. Schon die physische Existenz dieser Nachkommen ist Zeichen einer ungeschuldeten göttlichen Treue. Den Prototyp dafür bildet Isaaks wunderbare Geburt aus dem »erstorbenen Leib« der Stammeltern. Und die Fortexistenz der Söhne und Töchter in der Geschichte hängt von der beständigen Erneuerung ihrer Bundestreue ab. Darum die zweite Antwort: Entscheidende Form dieser Überlieferung ist die Feier der Feste, in der sich an den Söhnen und Töchtern neu ereignet, was den Vätern geschah. Ihrer Form nach sind es die 125 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
Feste des Jahreskreises (Frühlingsfest, Erntefest, Ende der sommerlichen Dürrezeit, Weinlesefest); aber diese erhalten einen unverwechselbar historischen Inhalt (Herausführung aus Ägypten, Bundesschluß am Sinai, das »Fest des göttlichen Gedenkens« – Yom-haSikkaron als Neujahrsfest, das Fest der Freude, unter Gottes Weisung auf dem Wege zu sein – Laubhüttenfest und als Abschluß den Tag »Gesetzes Freude«). Daß es die Jahresfeste waren, die auf solche Weise historisiert wurden, ist Ausdruck der universalen Bedeutung der historischen Inhalte des Gedenkens. Daß sie mit Entschiedenheit historisiert wurden, ist Ausdruck von Israels partikulärer Erwählung und Berufung, vor allem aber Ausdruck der geschichtsmächtigen Freiheit Gottes, in deren Licht auch sein Wirken in den »Ur-Anfängen« neu gelesen werden muß (Beispiel: die Siebenzahl der Schöpfungstage, sich erfüllend im Tag der göttlichen Ruhe, als Urgestalt für das »Aufatmen« der Sklaven bei der Befreiung aus dem Sklavenhaus). c)
Die Bedeutung dieser Art von Überlieferung für die »Formatio Mentis«: eine neue Sensibilität für die Geschichte
Eine Folge der »Historisierung« der Feste des Jahreskreises ist eine geschärfte Aufmerksamkeit darauf, jene Freiheit Gottes, die bei der Herausführung aus Ägypten inmitten der Zeit neue Anfänge zu schaffen vermochte, auch im Leben des Einzelnen und des Volkes in immer neuen Ereignissen am Werke zu sehen. So entsteht eine neue Sensibilität für die Einmaligkeit des Historischen und damit für die Neuheit des jeweils Neuen. Daß dennoch das Vergangene denkwürdig blieb, war eine Folge des Monotheismus, der es gestattete, »Nova et Vetera« als gleichermaßen kostbare Zeugnisse für das Wirken des einen Gottes zu verstehen, der »der Erste und der Letzte« ist. Dabei ist der Übergang von der Monolatrie (der ausschließlichen Verehrung eines einzigen Gottes) zum Monotheismus (zur Überzeugung von der Nicht-Existenz aller anderen Götter) die Frucht einer in der Bedrängnis bewährten Hoffnung gewesen. Nicht zufällig ist dieser Übergang vor allem während der Gefangenschaft Israels in Assur und Babel vollzogen worden. Dieses Bewußtsein von der eigenen Geschichte wirkte auf das Verständnis der göttlichen Gründungstat zurück und veranlaßte, jeweils nach kritischen Wendungen dieser Geschichte, eine »relecture« der Überlieferung und damit auch der Feste, in denen der von Gott 126 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
C Spezifika der jüdischen und christlichen Überlieferung und ihrer Institutionen
gesetzte Anfang gefeiert und damit gegenwärtig gesetzt wird (vgl. Neu-Redaktion der normativen Schriften und die Neu-Interpretation des Pessach-Festes nach der Zerstörung des Ersten Tempels, und dann wieder in den Krisen, die in der Zerstörung des Zweiten Tempels kulminierten). d)
Die Überlieferung Israels als Schule der (religiösen) Erfahrung
An dieser Stelle wird ein etwas ungewöhnlicher methodischer Ansatz gewählt: Die lange Zeit verachtete, in jüngerer Zeit wiederentdeckte Lehre vom »vierfachen Schriftsinn« benennt, meist ohne es zu wissen, vier Bedeutungsmomente alles Gesprochenen: Aussage, Selbstmitteilung, Aufforderung, Zusage. Diesen liegen vier Bedeutungsmomente alles Erfahrenen zugrunde: Jede Erfahrung hat ihre historische Einmaligkeit, enthält eine Selbstmitteilung des Wirklichen, die über das hinausgeht, was wir gegenwärtig an ihr erfassen, »sagt also noch Anderes – Alle agoreuei«, verlangt von uns ein »Umdenken« (Tropos) und eröffnet uns weitere »nach oben führende – an-agogische« Wege des Erkennens. (1) Im Zentrum der Überlieferung Israels steht das »anagogische« Bedeutungsmoment, d. h. das Moment einer freien, darum stets überraschenden Zuwendung Gottes, die dem Erfahrenden den Mut gibt, sogar dem drohenden göttlichen Gericht den Vorzug zu geben gegenüber der Gottesferne (vgl. die Bitte des Mose um das »Mitgehen des göttlichen Angesichts« – trotz der Warnung Gottes, Mose werde den Anblick dieses Angesichts nicht ertragen, Gen 33). So wird jede einzelne Erfahrung zugleich zur Zusage bleibenden Wege-Geleits, auch in Phasen des schmerzlich »verborgenen göttlichen Angesichts«. (2) Folgen für das Verständnis des »tropologischen« Bedeutungsmoments: Die (nur jüdische?) Freude an Gottes Weisung und Auftrag ist darin begründet, daß die religiöse Erfahrung selber bewirkt, was sie fordert: die Umwendung, die auch denen, die sich schuldig wissen, den Blick für Möglichkeiten der »Doxopraxie« öffnet, d. h. für Möglichkeiten einer Praxis, die dem »Aufleuchten der göttlichen Herrlichkeit« dient. (3) Folgen für das »historische« Bedeutungsmoment: Das zentrale Bekenntniswort Israels, das »Sch’ma«, benennt die Korrelation zwischen der Einzigkeit Gottes und der Ganzheit des 127 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
Herzens, die nur in der Gottesliebe gewonnen wird. Die Fähigkeit zu solcher »Einung des Herzens durch Einung des (göttlichen) Namens« erweist sich als nicht herbeizuzwingende Gabe, die in ihrer Kontingenz auf einen freien Geber verweist. Die so empfangene Gabe schärft den Blick für eine Geschichte des erfahrenden Subjekts – eine Geschichte, in der es sich verlieren, sich wiederfinden und vor allem sich neu geschenkt werden kann. (4) Das »allegorische« Bedeutungsmoment jeder Erfahrung, d. h. ihr Bedeutungsüberschuß gegenüber dem, was wir in der gegenwärtigen Weise unseres Anschauens und Denkens erfassen, beruht nach dem Verständnis Israels darauf, daß in jeder einzelnen religiösen Erfahrung das spannungsreiche Verhältnis von göttlicher Treue und unbeschränkter Innovationskraft mit-erfahren wird. Dieses Verhältnis kann in geprägten Bekenntnisformulierungen ausgesprochen werden, die zugleich Kennzeichen der Zugehörigkeit zu einer Traditionsgemeinschaft sind. Doch werden damit Erinnerungen und neue Erfahrungen nicht zu »Beispielen unter einer Regel« (wie in der hellenistischen MythenAllegorese) oder zu »Variationen des immer Gleichen« (wie bei den »Erzählmeistern« der Mythen selbst), sondern zu unvorhersehbar neuen und zugleich bleibend denkwürdigen Gegenwartsgestalten der göttlichen Freiheit wie der göttlichen Treue. Darum verweist das so verstandene »allegorische« Bedeutungsmoment den, der die Erfahrung macht, nicht aus der Geschichte hinaus, sondern in sie hinein. Deshalb kann auch die Kunst der »allegorischen Auslegung« die historische Erforschung der Zeugnisse nicht ersetzen, sondern bringt gerade ihren »sensus historicus« erst zutage: ihren »Sitz im historischen Leben« der Überlieferungsgemeinschaft. 54 Folgen, auch für die Fähigkeit zur »profanen« Erfahrung: Indem die Überlieferung Israels sich auf solche Weise als Schule der spezifisch religiösen Erfahrung bewährt, stiftet sie auch in profanen Zusammenhängen eine gesteigerte Sensibilität für die vier genannten Bedeutungsmomente. (1) Sie steigert die Fähigkeit, auch überraschende Wendungen der eigenen Geschichte in der Rückschau Vgl. die »historisch-kritischen Einleitungen« bei Richard Simon, dem Begründer der »historisch-kritischen Methode«, vgl. Histoire critique du texte du Nouveau Testament, Rotterdam 1689.
54
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C Spezifika der jüdischen und christlichen Überlieferung und ihrer Institutionen
als Phasen eines »nach oben führenden Weges« zu erzählen, (2) sie weckt die »sittliche Phantasie«, die auch in aussichtslos erscheinenden Situationen Möglichkeiten einer neuartigen Theorie und Praxis entdeckt, (3) sie schult ein historisches Selbstverständnis des Subjekts und der Überlieferungsgemeinschaft, die sich der Kontingenz ihrer Fähigkeit zum Selbst- und Weltverstehen bewußt bleiben, und (4) sie öffnet den Blick für die Denkwürdigkeit des einmal Erfahrenen und die Möglichkeit, ihm in veränderten Situationen eine neue Bedeutung abzugewinnen und eben damit die Kontinuität der eigenen Geschichte zu wahren. Es ist daher kein Zufall, daß die Überlieferung Israels auch in profanen Zusammenhängen immer wieder »Meister des Erzählens« hervorgebracht hat. e)
Die Institutionalisierung der Überlieferung Israels und ihre Organe
Eine Überlieferung, die ihrem Inhalt nach ganz auf das Verhältnis zwischen göttlicher und menschlicher Freiheit gestellt ist, bereitet der Institutionalisierung spezifische Schwierigkeiten. Sie macht es nötig, den traditionellen Organen der religiösen Überlieferung eine neue Gestalt zu geben. a) Die Väter und Mütter: Ihr »Ur-Typus« Abraham und Sara empfangen die physische Elternschaft »aus erstorbenem Leibe« als besonderes Zeichen von Gottes freier Zuwendung. So wird auch die Weitergabe des physischen Lebens im Wechsel der Generationen nicht als Folge naturhafter Lebens- und Überlebenskraft, sondern als Folge von Gottes freier Treue gedeutet. Für alle Söhne und Töchter ist die »Bedrängnis«, die den Fortbestand des Volkes bedroht, »der Normalfall«, die Erhaltung immer neuer Generationen »das Wunder«. b) Das erbliche Priestertum ist nach dem Verständnis Israels nicht so alt wie die Welt, sondern geht auf den Bruder des »Herausführers« (Mose) zurück. Entsprechend bleibt seine Hauptaufgabe die konsequente »Historisierung« der Feste, seine Hauptversuchung die Re-Naturalisierung des Kults (die Verwechselung des göttlichen »Herausführers« mit einem Fruchtbarkeitsgott, dessen Symbol der »Goldene Jungstier« ist). Um dieser Versuchung zu wehren, wird die »Tempel-Thorah« (Definition der Bedingungen, von denen die Kultfähigkeit abhängt) moralisch 129 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
akzentuiert (»Wer darf hinauf zum Berge Gottes steigen? Wer reine Hände hat und ein unschuldiges Herz«). Kultfähigkeit ist an die freie Treue zu Gottes Auftrag und Weisung gebunden. c) Das sakrale Königtum ist nach dem biblischen Zeugnis keine UrStiftung Gottes, sondern zunächst Ausdruck eines Willens zu Anpassung und Abfall (»Wir wollen sein wie die anderen Völker«), wird durch einen besonderen Akt göttlicher Freiheit sekundär zum Träger göttlicher Zusage (»Sein Königtum hat auf ewig Bestand«) und so zum Zeichen göttlicher Treue auch über ein ungetreues Volk. Doch bleibt es der herausragende Gegenstand prophetischer Kritik und steht unter dem Vorbehalt, jener unmittelbaren Gottesherrschaft wieder zu weichen, die seiner Entstehung vorausgegangen war (»Ich will meine Schafe selber weiden«, Ez 34,15). d) Die charismatischen Diener der Überlieferung (Propheten) werden zu Boten der Aufdeckung von Schuld (Nathan vor David), des Gerichts- und Bußrufes, zugleich aber eines Gottesworts, das sich inmitten des Gerichts zugleich als rettend erweist. Alle diese Institutionen bewähren sich als Schulen der Erfahrung, die die Vielfalt des Erlebten zur Einheit einer erzählbaren Geschichte verknüpft. Deren wichtigste Inhalte sind: göttliche Erwählung, menschliche Schuld und ungeschuldete göttliche Gnade.
2.
Das Judentum, oder: Israel in den Krisen seiner Überlieferung
Unter »Judentum« versteht man jene neue Gestalt der »Ekklesia Israel«, die aus dem Untergang der Königreiche Israel und Juda hervorgegangen ist. a)
Der Untergang der Königreiche Israel und Juda: Erfahrung und Deutung
Der Untergang von Königtum, Stadt und Tempel verlieh der Frage des »murrenden Volkes« an Mose und Aaron neue Aktualität: »Habt ihr uns aus dem Sklavenhaus geführt, damit wir in der Wüste zugrundegehen?« Propheten im Exil von Assur und Babel deuteten diese Katastrophe als Gericht Gottes über ein ungetreues Volk. Unwissende Werkzeuge dieses Gerichts waren die Könige der Völker; ebenso unwissendes Werkzeug der göttlichen Gnade war der Perser130 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
C Spezifika der jüdischen und christlichen Überlieferung und ihrer Institutionen
könig Kyros, der einem Rest die Heimkehr ins Land der Väter möglich machte. Damit erwies sich der Gott, der seinen Bund mit Abraham geschlossen hatte, als der Herr auch über die Völker, die ihn nicht kennen, während die Götter, in deren Dienst die Völker zu stehen meinten, sich als »Gott-Nichtse« erwiesen (Übergang von der Monolatrie – Weigerung, fremden Göttern zu dienen – zum Monotheismus – Bestreitung der Existenz fremder Götter). Diese Art von prophetischer Verkündigung implizierte den Gedanken eines göttlichen Planes, der, um zum Ziele zu führen, seinen Werkzeugen zunächst geheim gehalten werden muß, um erst »am Ende der Tage« offenbar zu werden. Damit wurde der Übergang von der Prophetie zur Apokalyptik vorbereitet. b)
Die Rückkehr ins Land, das Neue Jerusalem und der Neue Tempel
Das Überleben der Zerstreuten im Exil erschien nun als Ausdruck einer besonderen Erhaltungsgnade. Und die Rückkehr ins Land, der Wiederaufbau Jerusalems und des Tempels wurde als Zeichen eines »Neuen Bundes« gedeutet, an den sich die Hoffnung knüpfte, der werde, im Gegensatz zum »Alten Bund«, nie mehr gebrochen werden (Jer 31), ein neues Gericht über Stadt und Volk sei nun ebenso ausgeschlossen, wie aufgrund des Noah-Bundes eine neue Sintflut ausgeschlossen worden war (Jes 54,9–14). Denn Israel habe jenes göttliche Gericht schon hinter sich, das die Völker noch vor sich haben. Der »Alte Bund«, das »Erste Jerusalem« und der »Erste Tempel« wurden nun als die Real-Antizipation des Neuen verstanden, und den überlieferten Zeugnissen war die Verheißung zu entnehmen, die im »Neuen Bund«, im »Zweiten Jerusalem« und dem »Zweiten Tempel« ihre Erfüllung fanden. Der Nachweis, daß die Erfahrungen der Gegenwart die Verheißungen der Vergangenheit einlösten, wurde zum entscheidenden Argument dafür, daß der gesamte Gang der Geschichte – auch der Geschichte der Völker – der Realisierung des göttlichen Planes diene und daß dadurch der Gott Israels sich als »der Erste und der Letzte«, der Herr der ganzen Welt und ihrer Geschichte, erweise (Jes 41,4; 44,6).
131 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
c)
Institutionen im Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels
Auch nach dem Wiederaufbau Jerusalems kam es nicht zu einer Restitution der davidischen Dynastie. Vielmehr wurde im Lande (vorübergehend) das Amt des Hohenpriesters mit dem des Königs in einer Hand vereinigt. Unter den Juden, die in der Zerstreuung verblieben, verlor auch das Priesteramt seine bisherige, auf den Opferkult bezogene Bedeutung und wurde auf die Funktion eingeschränkt, den Segen über die Gemeinde zu sprechen. Desto wichtiger wurde der charismatische Dienst der Propheten und, als neue Institution, der Schriftgelehrte. Die Propheten verstanden sich nun als Apokalyptiker (als Offenbarer des verborgenen göttlichen Heilsplans). Zu ihnen trat, als neuer institutioneller Träger der Überlieferung, der Schriftgelehrte, der in den Zeugnissen der Überlieferung den Verheißungsgehalt freilegte und so fähig wurde, in den Ereignissen der Gegenwart die »Zeichen der Zeit«, nämlich der nahekommenden Erfüllung aller Verheißungen, zu entdecken 55. Dieses neue Amt wurde nicht auf dem Erbwege übertragen, sondern durch Ausbildung und eine rituelle Amtseinführung unter Gebet und Handauflegung. Für das Judentum in der Diaspora wurde der Schriftgelehrte zum entscheidenden Organ der Überlieferung; für das Judentum im Lande trat er, teils kooperierend, teils konkurrierend, neben die Priesterschaft. Ein Versuch, ihr Zusammenwirken zu institutionalisieren, war der »Hohe Rat« (in Neuen Testament »die Hohenpriester und Schriftgelehrten«). Ein weiteres Organ war der »Sendbote« (hebräisch: Meschullach – Ἀπόστολος), der, vom Hohen Rat zu den Gemeinden in der Diaspora gesandt, allzu divergierenden Sonderentwicklungen entgegentreten sollte (Saulus/Paulus ist vor und nach seiner Bekehrung ein solcher Apóstolos gewesen). d)
Neue Erfahrungen der Bedrängnis und eine neue Deutung
Die Erfahrungen neuer Bedrängnis durch Alexander, die Seleukiden und zuletzt die Römer führten zu der Überzeugung, daß auch das wiedererrichtete Jerusalem mit seinem wiedererrichteten Tempel noch nicht das verheißene »Neue« seien und daß folglich auch der Vgl. dazu die Befragung der Schriftgelehrten durch Herodes nach dem MatthäusEvangelium.
55
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C Spezifika der jüdischen und christlichen Überlieferung und ihrer Institutionen
Neue, nie mehr gebrochene Bund erst bevorstehe. Das führte zur Entstehung von Sondergruppen (Abgesonderte – Pharisäer), die sich durch besonders radikale Gesetzeserfüllung auf das Kommen des »Wiederherstellers« vorbereiteten. In dem Maße, in welchem absehbar wurde, daß auch dadurch eine neue Katastrophe (die Zerstörung des Zweiten Jerusalem durch die Römer) nicht abgewendet werden konnte, gewann eine andere Deutung an Zustimmung: Die Bedrängnis selbst wurde als neue, paradoxe Form der Erwählung verstanden, kraft derer das Volk als »leidender Gottesknecht« die Schuld der Völker stellvertretend zu tragen habe, bis auch die »Könige der Völker« erkennen werden, daß die so erwählten Leidenden auch für sie die »Heilung von ihren Wunden« bewirkt haben (Jes 53,13–54,5). e)
Bedingungen aktiver Teilhabe an der jüdischen Überlieferung
Was muß man können, um an der Überlieferung des Judentums aktiv teilzunehmen? Die »actuosa participatio« an der Gebets- und Gottesdienstgemeinschaft erfordert eine spezifische Fähigkeit, sich die normativen Erinnerungen der Überlieferung als Teile der eigenen Geschichte anzueignen und diese als die Geschichte göttlicher und menschlicher Freiheit zu begreifen. Warum soll man das wollen? Weil man bemerkt, daß man im gleichen Maße, in welchem der Aufbau eines solchen Erfahrungskontextes gelingt, sensibel wird für die Kontingenz der eigenen Identität, die durch keine Wesensnotwendigkeit gesichert ist, sondern verloren gehen und nur auf Hoffnung hin wiedergewonnen werden kann. Was muß man verstehen, um diese Entscheidung verantwortlich zu treffen? Man muß sich in eine spezifisch geschichtliche Weise des Anschauens und Denkens einüben, wenn man die Eigenart menschlichen Lebens angemessen begreifen will. In diesem Kontext gewinnen die Anschauungsformen von Raum und Zeit und die Kategorien der Substanz und der Kausalität eine spezifische Bedeutung, die sich von ihrem naturhaften Verstehen unterscheidet. Die Institutionen der jüdischen Überlieferung haben sich dadurch bewährt, daß sie die Mitglieder der jüdischen Überlieferungsgemeinschaft auf exemplarische Weise zum Aufbau einer solchen Erfahrungswelt befähigt haben. Der Erfolg dieser »Formatio Mentis« läßt sich daran ablesen, daß der Rabbi, der »im Gesetz des Herrn forscht bei Tag und bei Nacht«, zunächst innerhalb der jüdischen Überlieferungsgemeinschaft zum Vorbild geworden ist: Kaum ir133 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
gendwo hat sich, über den rein religiösen Kontext hinaus, eine solche Leidenschaft des Lernens entwickelt wie im Judentum. Sodann aber ist dieser »Forscher in den Schriften« auch für andere Überlieferungsgemeinschaften zum Typos des Gelehrten geworden, der »klassischen Texten« in wechselnden historischen Situationen einen immer neuen Bedeutungsgehalt abgewinnt.
3.
Die christliche Überlieferung
Sie ist innerhalb der Ekklesia Israel entstanden und hat die bleibende Aufgabe, ihr Verhältnis zur israelitisch-jüdischen Überlieferung zu bestimmen, näherhin zu jener Krise dieser Überlieferung, die dazu nötigte, auf die Frage: »Wozu sind wir aus Ägypten geführt?« mit dem Hinweis auf den »Leidenden Gottesknecht« zu antworten, von dem die Könige der Völker bekennen werden: »Durch seine Wunden haben wir Heilung«. a)
Jesus als der Christus
Ausgangspunkt dieser Bemühungen ist das Bekenntnis »Jesus ist der Christus«. Dieses Bekenntnis ist nur verständlich, sofern es zwei Fragen beantwortet: (1) eine für das Judentum der Zeit des Zweiten Tempels typische Frage: »Welcher ist der Christus?« Oder: »Bist du es, der da kommen soll?«. Die Antwort der Jünger Jesu: »Jesus und kein anderer«. (2) Die an die Jünger Jesu gerichtete Frage: »Für wen haltet ihr mich?« Antwort: »Du bist kein anderer als der Christus« Als Kennzeichen des Christus gelten Wunder (»Blinde sehen, Lahme gehen«) und die Zuwendung zu den Armen (»Bettlern wird die Frohe Botschaft verkündet«). Stehen diese Selbstaussagen Jesu in Übereinstimmung mit der Tradition Israels, so entzündet sich der Konflikt an der Zuwendung zu »Zöllnern und Sündern«, durch die Jesus gegen die Forderung der »Reinheit« verstößt und so, nach jüdischem Urteil, die gesamte Gemeinde der Gefahr eines neuen göttlichen Gerichts aussetzt. Jesus selbst begründet diese Zuwendung zu den Sündern mit dem Anspruch auf die Vollmacht, Sündern zu vergeben, womit 134 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
C Spezifika der jüdischen und christlichen Überlieferung und ihrer Institutionen
der den Vorwurf der »Gotteslästerung« auf sich zieht (Mt 9,6). Er antwortet auf diesen Vorwurf durch den weiteren Anspruch, in einer unvergleichlichen Beziehung zum Vater zu stehen (»Niemand kennt den Vater als der Sohn«), und rückt damit die Juden, die an ihm Anstoß nehmen, auf eine Stufe mit den »Heiden, die Gott nicht kennen« (Jer 10,25). Seine besondere Beziehung zum Vater macht ihn fähig, die Schuld und Krankheit der Vielen nicht nur stellvertretend auf sich zu nehmen, sondern dadurch zugleich zu heilen: Heilungswunder und Sündenvergebung erweisen ihn als die Vollendungsgestalt des »leidenden Gottesknechts« (Mt 8,17). Als der Konflikt mit dem Judentum sich zu tödlicher Schärfe zu steigern begann, wurde, schon in den »Leidensweissagungen«, auch Jesu bevorstehender Kreuzestod durch die Lieder vom leidenden Gottesknecht gedeutet. Einen besonderen Konfliktpunkt (und Anklagepunkt im Prozeß) bildet das Wort Jesu vom Tempel, den er nach seiner Zerstörung in drei Tagen wieder aufbauen werde (Mk 14,58). Das Johannesevangelium deutet dieses etwas rätselhafte Logion als Vorhersage von Jesu Tod und seiner Auferweckung am Dritten Tage: »Er aber sprach vom Tempel seines Leibes« (Joh 10,21). Das stellvertretende Leiden des Gottesknechts schloß ein, daß dieser auch die sich abzeichnende Katastrophe des Zweiten Tempels am eigenen Leibe vorwegnehmend durchlitt und zugleich überwand: Ausdruck der Solidarität mit dem Judentum auch in der Situation seiner Krisis, aber auch des radikalsten Konflikts zwischen ihm und Jesus. Von diesem Konflikt her gedeutet, verlangt das Bekenntnis »Jesus ist der Christus« seine Entfaltung zu einer Kreuzes-Theologie: »Mußte nicht der Christus solches leiden, um so in seine Herrlichkeit einzugehen?« (Luk 24,26). b)
Drei Zeugnisse der beginnenden christlichen Überlieferung
a)
Der »Lobgesang des Simeon« (Luk 2,29–35) – »Kristallisationskern« einer vor-lukanischen Jesus-Überlieferung, zugleich ein »Motto« über dem von Lukas beschriebenen Leben Jesu – enthält entscheidende Aussagen über Jesus: (1) Unter allen »Zeichen der Zeit« ist er das Entscheidende, aber zugleich das Vieldeutigste. »Ein Zeichen, das widersprüchliche Reden hervorruft«, (2) das gilt sogar für die Glaubenden selbst, »durch deren Seele mitten hindurchgehen wird das Schwert«. 135 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
b)
c)
(3) Aber recht gedeutet ist dieses Leben und Sterben Jesu ein Zeichen dafür, daß Israels Geschichte in ihre Fülle gelangt ist: »Ein Licht, das den Schleier hinwegnimmt, der über den Völkern liegt, und für sein Volk Israel die Herrlichkeit aufleuchten läßt«. Der liturgische Ruf: »Pascha nostrum immolatus est Christus« (von Paulus moralisch angewandt: »Feget aus den alten Sauerteig«) Das Herrenmahl ist das ausgezeichnete Zeichen der Anknüpfung an die Überlieferung Israels und zugleich – als Antizipation des Herrentodes – der Abgrenzung von ihr. Der leidende Gottesknecht ist – im Gegensatz zu den Vätern in Ägypten – durch das Essen des Osterlamms nicht vor dem Tode bewahrt worden. In jüdischen Augen liegt darin ein Widerruf der Feier des »Vorübergangs« des richtenden Gottes und mit ihr aller »Archai« der Tradition Israels (bis zurück zur »Auslösung« des Isaak: Isaak blieb am Leben, als der von Gott gesandte Widder geschlachtet wurde. Jesus konnte auch durch das Taubenopfer seiner Eltern nicht »ausgelöst« werden). Im christlichem Verständnis wurde er gerade durch seinen Tod zur »Auslösung für die Vielen« (Mk 10,45) und zum Mittler des »Neuen Bundes« (1 Kor 11,25), der den »Alten Bund« nicht aufhebt, sondern zu seiner Fülle bringt, gemäß dem »Eid, den er unseren Vätern geschworen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig« (Magnificat, Luk 1,55). Die Folge: Eine »relecture« der gesamten Geschichte Israels von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Denn das Vertrauen in Gottes Treue bleibt auch für die Christen an die Gewißheit gebunden, daß Gott diesen »Eid« niemals aufhebt. »Gottes Gnadengaben und seine Berufung kennen keine Reue« (Rom 11,29). Die Taufe Ist das Herrenmahl das »Pessach des Neuen Bundes«, so ist die Taufe eine christliche Neuprägung, vorbereitet durch die Bußtaufe des Johannes, die ihrerseits zwar an das reinigende Tauchbad (Mikwäh) des jüdischen Rituals anknüpfte, dieses aber umgestaltete. Während das Tauchbad ohne Spender vom Lustranden selbst vollzogen wird (und so auch von Jesus und seinen Jüngern jeweils vor den Festen des Jahres vollzogen wurde), ist die Johannestaufe ein passives Untergetaucht-Werden und in
136 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
C Spezifika der jüdischen und christlichen Überlieferung und ihrer Institutionen
d)
c)
dieser Form eine Todes-Antizipation im Blick auf das kommende Gericht. Jesus hat die Taufe vermutlich niemals gespendet, wohl aber die Johannestaufe empfangen, jedoch verbunden mit der SohnesProklamation, und sie als Bild für den eigenen Tod (»Mit einer Taufe muß ich getauft werden«) und für die Todesgemeinschaft der Jünger verstanden (»Könnt ihr die Taufe empfangen, mit der ich getauft werde?«). Von hier aus wurde der Tauf-Befehl (Mt 28,19) als Auftrag zum Vollzug eines Ritus verstanden, der (nach einem Verständnis, das Paulus schon als bekannt voraussetzt – »Wißt ihr nicht … ?«) ein »Zusammenwachsen« (Συμφύεσθαι) mit Jesu Tod und Auferweckung zum Inhalt hat. Nach Form und Inhalt ohne direkte Entsprechung im Judentum, beantwortet die so verstandene Taufe doch eine Frage, die nur in der jüdischen Tradition entstehen konnte: Auf welche Weise kann das Leiden des Gottesknechts zum lebenspendenden Leiden für die Vielen werden? Die christliche Antwort lautete: Durch »Zusammenwachsen« und »Gestaltgemeinschaft« mit dem sterbenden und auferstehenden Christus, deren wirksames Zeichen die Taufe ist. Aus diesem Verständnis von Herrenmahl und Taufe ergab sich die Frage: Wie muß die »Physis« des Christus gedacht werden, wenn verständlich werden soll, wie ein »Συμφύεσται τῶ Χριστω« möglich ist. Weitere frühchristliche Hymnen, die in neutestamentlichen Texten schon als bekannt vorausgesetzt werden, explizieren, ebenfalls im liturgischen Kontext, die Aussagen der Tauf- und Herrenmahl-Verkündigung und enthalten die später entwickelte Christologie schon in nuce in sich. Die christliche Überlieferung, ihre Institutionen und deren Organe
α) Die zentrale Aufgabe: »Agere in persona Christi« Nach christlicher Überzeugung ist das Tun und Leiden des Christus auf solche Weise einzigartig und abschließend, daß eine Funktionsnachfolge ausgeschlossen ist. Das Christentum kennt keinen »Kalifen« (= Nachfolger). Christus bleibt der einzige Priester, König, Prophet, Offenbarer des göttlichen Ratschlusses (»Apokalyptiker«) und Rabbi. Kein anderer darf sich so nennen (Mt 23,8–12). Andererseits muß während der Zeit zwischen Christi Himmelfahrt und seiner 137 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
Wiederkunft sein wirkendes Wort und sein heilschaffendes Wirken (»die Kraft seiner Auferweckung«) an immer neue Generationen weitergegeben werden. Das erfordert Institutionen, die diese Weitergabe sichern. Und so kehren faktisch alle institutionalisierten Dienste, ohne die keine religiöse Überlieferungsgemeinschaft bestehen kann, auch in der Kirche wieder. Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs wird darin gefunden, daß einerseits alle Ämter der Überlieferung Israels in der Person des Christus vereinigt sind, andererseits aber Menschen dazu berufen werden, »in persona Christi« zu sprechen und zu handeln (1 Kor 2,10). Als »ihm persönlich zugeordnete Diener« (υπερέται) werden sie zu »Verwaltern« (Οἰκόνομοι) des göttlichen Ratschlusses und der göttlichen Heilstaten (Μυστήρια) (1 Kor 4,1), denen der »Dienst der Versöhnung«, die der Christus gewirkt hat, »gegeben« ist (2 Kor 5,18). Das gilt nicht nur für den liturgischen Dienst und seine Organe, sondern auch für die übrigen Weisen des Dienstes an der Überlieferung: die Vorbeter, Sprachlehrer, Ausleger und Lehrer der Auslegungskunst, aber auch für ein Amt, das für die christliche Überlieferungsgemeinschaft charakteristisch ist: das Amt, »falscher Lehre zu wehren«. Dieses Amt ist schon von Paulus und dem Verfasser der Johannesbriefe auch in der Weise der »Kirchenzucht« ausgeübt worden, bis hin zur Exkommunikation von »Unreinen« und »Irrlehrern«. β) Kriterien der Beurteilung Daraus ergeben sich die Kriterien, an denen alle Dienste an der christlichen Überlieferung zu messen sind. Zunächst gelten für die Organe der christlichen Überlieferung die allgemeinen Kriterien, an der sich alle Traditionen und Institutionen, und besonders die religiösen, bewähren müssen. Traditionen und Institutionen bewähren sich, indem sie eine »Formatio Mentis« vermitteln, durch die die Überlieferungsgenossen zu spezifischen Formen der Erfahrung fähig werden. Indem diese die Erfahrungen, zu denen sie fähig geworden sind, im Lichte der Überlieferung verstehen und die Überlieferung im Lichte ihrer Erfahrungen auslegen, werden sie zu aktiven Mitgliedern der Überlieferungsgemeinschaft. Daraus ergibt sich die Frage: Wie qualifiziert die christliche Überlieferungsgemeinschaft ihre Mitglieder dazu, zu ihren aktiven Mitgliedern zu werden? Und spezieller: Zu welcher Art von Erfah138 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
C Spezifika der jüdischen und christlichen Überlieferung und ihrer Institutionen
rung werden die Glaubenden durch die »Formatio Mentis« befähigt, die ihnen durch die christliche Überlieferung vermittelt wird? Im Zentrum dieser Aufgabe steht die Qualifikation zu einer spezifischen sittlichen Erfahrung (ohne sie ist weder die jüdische »Freude am Gesetz« noch das dialektische Verhältnis von »Gesetz und Evangelium« begreiflich). Dazu aber ist das illusionslose und zugleich resignationsfreie Erfassen des Zustands der Welt und des eigenen Ich nötig. Die Welt ist nicht so, daß »gute Bäume immer gute Früchte bringen« (illusionslos), teils weil sie überhaupt am »Früchtetragen« verhindert werden, teils weil aus den besten Absichten oft die schlimmsten Folgen hervorgehen (die Erfahrung des Paulus in der Zeit, in der er meinte, er sei es Gott und seinem erwählten Volke schuldig, die Anhänger des »neuen Weges« zu verfolgen). Aber die Welt ist voll von Gestalten, in denen uns der befreiende und verpflichtende Anspruch Gottes begegnet (resignationsfrei). Daraus folgt: Es gibt keine Situation der Welt, in der es nicht möglich wäre, die wirksame Güte Gottes wirksam zu bezeugen. Es ist nicht wahr, daß die Welt erst »besser« sein müßte, ehe sie uns in Pflicht nehmen könnte. Ich selbst bin nicht der »Gerechte«, der die »böse Welt« ins Gericht rufen könnte (illusionslos). Das christliche Ethos ist keine »sakrale Revolutionstheorie«, die dazu anleitet, durch Zerschlagung »dieser Welt« die Heraufkunft des »Reiches Gottes« zu bewirken. Dieser Versuch hat immer zum Umschlag der Moralität in den Terror geführt. Aber es gibt keinen Zustand des eigenen Ich, in welchem ich nicht berufen und befähigt würde, in Wort und Tat zum Zeugen des Heils zu werden, das nur Gott wirken kann. Daraus folgt: Es ist nicht wahr, daß ich für eine solche Berufung »nicht gut genug« bin (daher: resignationsfrei). Die spezifisch christliche Form der sittlichen Erfahrung ist die Gewißheit, auch als »Sünder in einer sündigen Welt« in je neuen Situationen des eigenen Lebens und der Welt zum tätigen Zeugnis für Gottes Heilswirken gerufen zu werden. Dieser Gewißheit liegt eine Hoffnung zugrunde. Der Grund dieser praxis-anleitenden Hoffnung aber liegt in der Botschaft von Gottes gnädiger Zuwendung, die Sünder in einer sündhaften Welt zur »Gestaltgemeinschaft« mit seinem Sohn berufen hat. Dieser hat als das »novum Pascha novae legis« die Sünde und das Leid aller Unschuldigen auf sich genommen und die so übernommene »Niedrigkeit« zum Zeichen seines »Sieges über den Fürsten dieser Welt« gemacht. Im Lichte einer Selbst- und Welterfahrung, die die Christen in 139 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Viertes Kapitel: Religiöse Traditionen und Institutionen
dieser Hoffnung machen, werden sie fähig, zu eigenverantwortlichen Zeugen für die Wahrheit der Botschaft zu werden. In der Qualifikation der »Hörer des Wortes« zu dieser Erfahrung und zu einer ihr entsprechenden Theorie und Praxis liegt die Legitimationsprobe aller kirchlichen Dienste und Ämter. γ) Kritische Anfragen an die Organe der Überlieferung Aus den besonderen Gründen, die den Maßgeblichkeitsanspruch der christlichen Tradition und ihrer Institutionen legitimieren, ergeben sich zugleich kritische Anfragen an die Organe dieser Überlieferung: Wird deutlich, daß ihr Anspruch, »in persona Christi« zu sprechen und zu handeln, die Selbstlosigkeit eines Dienstes zum Ausdruck bringt und nicht in eine Eigenmacht umschlägt, die sich, um sich durchzusetzen, auf einen Auftrag Christi beruft? Eine Frage, die nicht nur an die Inhaber kirchlicher Leitungsämter zu richten ist, sondern an jeden, der betend, verkündend, auslegend oder lehrend das wirkende Gnadenwort Gottes an die Glaubenden weitergibt. Wenn die Aufgabe der christlichen Überlieferung und ihrer Institutionalisierung in der Kirche darin besteht, ihre Mitglieder zu aktiver Mitgliedschaft zu qualifizieren, und wenn dies nur durch eine »Formatio Mentis« möglich ist, durch die sie, aufgrund eigener Erfahrung, zu einer »Rechenschaft von ihrer Hoffnung« fähig werden, dann richten alle kritischen Anfragen an die Kirche als Institution sich zugleich an jedes ihrer Mitglieder: Sind sie zu einem Glaubenszeugnis fähig geworden, das sie nicht dazu verführt, nach innen und außen ihre »eigene Gerechtigkeit aufzurichten«, sondern sie dazu befähigt, in der selbstlosen Weise der »Υπερέται καί οἰκόνομοι« das Zeugnis Christi selbst, der allein der »treue Zeuge« ist (Apok. 1,5), an immer neue Hörer weiterzugeben? Wenn die Kirche als Institution sich in der Qualifikation ihrer Mitglieder zu solcher Zeugenschaft bewährt, bewährt sich auch jede Ekklesiologie darin, die Glaubenden zu einem mutigen und zugleich selbstkritischen Bewußtsein von der Aufgabe zu führen, die ihnen als Mitgliedern dieser Institution übertragen ist. Der kritische Leser dieses Deutungsvorschlages möge prüfen, ob das hier Vorgetragene ein Beitrag zu einer so verstandenen Ekklesiologie gewesen ist.
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Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹ und der ›Gott der Bibel‹
Vorbemerkung: Ein Wechsel im Sprachstil Beim Übergang vom 4. zum 5. Kapitel wird der Leser einen Wechsel im Sprachstil bemerken, den er vielleicht sogar als lästigen Stilbruch empfindet. Das erste Kapitel sowie das dritte und vierte sind in stichwortartiger Kürze gehalten, schon das zweite »gönnt« sich eine gewisse Ausführlichkeit, das fünfte aber ist so lang wie das dritte und vierte zusammen. Diese Differenz hat jedoch inhaltliche Gründe: Die Überlegungen des ersten Kapitels zu den Methoden der Religionsphilosophie haben zu einer Option für die phänomenologische Methode geführt, darüber hinaus aber zu der Einsicht: Die Frage der Religionsphänomenologie nach der Eigenart des religiösen Akts und seines Bezuges zu der gerade ihm erschlossenen Sphäre von Gegenständen läßt sich nur durch eine Analyse der religiösen Sprache beantworten. Daher mußte die Eigenart dieser Sprache wenigstens an einigen charakteristischen Beispielen deutlich gemacht werden. Unter allen Weisen aber, wie die religiöse Noesis sich auf das ihr zugeordnete Noema bezieht, ist die Gottesbeziehung der ausgezeichnete Fall. An ihm läßt sich nicht nur die Eigenart des religiösen Wirklichkeitsbezuges besonders deutlich ablesen; hier treten auch die Gefahren seiner Fehlgestaltung und die Möglichkeit ihrer Überwindung besonders deutlich hervor: die Gefahr einer Verehrung fiktiver Götter und die Möglichkeit eines kritischen Selbstverständnisses der Religion, das diese und ähnliche Gefahren vermeidet. Eine Phänomenologie der Religion muß sich darin bewähren, daß sie die Religion nicht einem fremden »von außen« an sie herangetragenen Beurteilungskriterium unterwirft, sondern ihr, durch Klärung ihrer spezifischen Eigen-Gesetzlichkeit, zu einem kritischen Selbstverständnis verhilft.
141 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
Zu Thema und Methode 1.
»Gott«, ein Thema der Religionsphilosophie?
Zu Beginn dieser Untersuchung wurde hervorgehoben: »Religionsphilosophie ist nicht Philosophische Theologie«. Die Philosophische Theologie versichert sich ihres Gegenstandes mit ihren eigenen Mitteln, vor allem durch »Gottesbeweise«, entwickelt ihren eigenen Gottesbegriff und mißt an ihm alles, was Religionen über Gott oder die Götter zu sagen haben. Die Religionsphilosophie dagegen spricht über Gott nur dann, wenn dieser in den Selbstaussagen der Religion vorkommt, und gewinnt einen Begriff von diesem Gott nur dadurch, daß sie ihn als diejenige Wirklichkeit bestimmt, die durch gewisse religiöse Akte intendiert wird. Sie »kennt« Gott nur als das Korrelat, auf das dieser Akt sich nach dem Selbstzeugnis der Religion – oder wenigstens einiger Religionen – bezieht. Der Frage: Was kann die Religionsphilosophie über Gott sagen?« geht also die Frage voraus: »Aus welchen Gründen und unter welchen Bedingungen spricht die Religion von Gott?« oder kurz: »Wie kommt Gott in die Religion?« (Erster Teil der folgenden Ausführungen).
2.
Drei Weisen, von Gott zu sprechen
Der traditionellen Unterscheidung zwischen dem »Gott der Philosophen« und dem »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs« (bekannt vor allem aus dem »Mémorial« Pascals) wird hier ein drittes Glied vorangestellt: »Die Götter der Religionen«. Das hat methodische und inhaltliche Gründe. a)
Die traditionelle Unterscheidung »der Gott der Philosophen« und der »Gott der Bibel«
Den Gott der Bibel nicht nur vom Gott der Philosophen zu unterscheiden, sondern ihm entgegenzusetzen, galt lange als Unterscheidungsmerkmal der evangelischen Theologie. Von Luthers »Thesen gegen die scholastische Theologie« (1519) bis zu Karl Barths »Nein« (1934) finden sich dafür Beispiele. Doch hat es immer auch evangelische Theologen gegeben, die ein philosophisches Sprechen von Gott für möglich, vielleicht sogar für notwendig gehalten haben. Und auch 142 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zu Thema und Methode
katholische Theologen haben die Schwierigkeit gesehen, den Gott der Bibel mit dem »Gott der Philosophen« zu identifizieren. 56 So ergibt sich die Frage: Ist es möglich von dem Gott, zu dem Religionen sich verhalten, auch philosophisch zu sprechen? Oder verfehlt die Philosophie, wenn sie von Gott zu reden versucht, notwendig ihren Gegenstand? Ist der »Gott der Philosophen« der »wahre Gott«, an dem auch die religiöse Erfahrung zu messen ist? Oder ist der »Gott des Glaubens« der »wirkliche Gott«, an dem alle »Gedankenkonstrukte der Philosophie« gemessen werden müssen? Was hängt von der Antwort auf diese Frage ab? – für den Glauben: Kann er »Rechenschaft geben von seiner Hoffnung« – vor den Nicht-Glaubenden, aber auch vor sich selbst, um »echten Glauben« von bloßer frommer Illusion zu unterscheiden? – für die Philosophie: Ist ihr »Gott« ein bloßes Konstrukt, weit entfernt von jeder Realität? Kann der Bezug zur religiösen Erfahrung ihm die Sicherheit des Realitätsbezuges verschaffen? b)
Die Erweiterung der traditionellen Unterscheidung durch ein drittes Glied: »Die Götter der Religionen«
α) Eine historische und eine semantische Beobachtung Historisch: Es hat schon Religionen gegeben, ehe Philosophie und biblischer Glaube entstanden. Semantisch: Weder die Philosophen noch die Boten des biblischen Glaubens müssen die Vokabel »Gott« neu einführen und erläutern. Was diese Vokabel bedeutet, ist den Hörern aus der Sprache der Religion bekannt. → Philosophie und Glaube führen nicht »Gott« in die Geschichte der Menschheit ein, wohl aber sprechen sie über ihn anders und sagen Anderes als die »Religionen der Völker«. β) Eine historische Präzisierung Sowohl der biblische Glaube als auch die Philosophie sind in einer kritischen Phase der Religionsgeschichte entstanden, als überlieferte Formen der Verehrung von Göttern ihre Glaubwürdigkeit verloren hatten. Von Beispielen aus Ägypten, Griechenland, Persien und Indien wird an späterer Stelle die Rede sein (s. u. S. 159 ff.). Wenn in Vgl. den Sammelband von Josef Möller (Hrsg.), Der Streit um den Gott der Philosophen, Düsseldorf 1985.
56
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Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
dieser Lage nicht »die Religion« insgesamt als Illusion erscheinen sollte, mußte aus inner-religiösen Gründen zwischen »wahrer Religion« und »irregeleiteten Religionsformen« unterschieden werden, vielleicht sogar zwischen »wahren« und »falschen« Göttern. Aus der Aufgabe solchen Unterscheidens ist ein neuer Typus von Religionen entstanden, die man »religionskritische Religionen« nennen kann. Dieser Vorgang ist kein »Proprium hellenicum«, scheint aber ein »Proprium europaeum« zu sein, wenn man unter »Europa« den gesamten ost-mittelmeerischen Raum mit angrenzenden Räumen versteht. Das entspricht dem griechischen Mythos, der »Europa« als »Tochter des Phoinix«, als »geraubte Braut des Zeus« und »Mutter des Minos« bezeichnet und so Phönizien, Griechenland und Kreta als Glieder eines Kulturraums erkennen läßt. Sowohl der biblische Glaube als auch die Philosophie übernehmen diese Aufgabe kritischen Unterscheidens, auch wenn sie diese Aufgabe anders lösen als diejenigen Religionsformen, die zugleich mit ihnen in jener kritischen Phase der Religionsgeschichte entstanden sind. Deshalb haben biblischer Glaube und Philosophie ein gemeinsames Thema und können ein Gespräch miteinander führen, auch wenn dieses zuweilen den Charakter eines Streitgesprächs annehmen kann. Die Aufgabe des kritischen Unterscheidens schließt die Aufgabe der Selbstkritik ein. Die Aufgabe, falsche Religionsformen zu überwinden bzw. sich aus der Herrschaft falscher Götter zu befreien, ist nie zu Ende getan und darin zur Vollendung gelangt. Auch die »religionskritischen Religionen« sind nur Anweisungen dazu, diese Vollendung zu antizipieren, nicht die Vollendung selbst. Entsprechend ist »Philo-Sophia« nicht die erstrebte »Weisheit«, die in jedem Akt des Erkennens abbildhaft vorweggenommen wird; und auch der biblische Glaube ist zeichenhafte Antizipation der »seligmachenden Schau«, nicht diese selbst. Wenn Kritik und Selbstkritik nicht in Skeptizismus umschlagen sollen, müssen sie hermeneutisch bleiben: Auch wer auf ein »Leben in der kommenden Welt« hofft, muß in den Erscheinungen »dieser Welt« die Zeichen der »kommenden Welt« entziffern können. Aber diese Hermeneutik muß kritisch bleiben. Zeichen dürfen nicht mit dem identifiziert werden, was sie bedeuten. Auch diese Aufgabe einer kritischen Hermeneutik unserer alltäglichen Welterfahrung ist ein Erbe, das der Glaube und die Philosophie aus ihrer Entstehungszeit übernommen haben und weitertragen. Insofern gehört die »kritische 144 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Einleitung: Wie kommt Gott in die Religion?
Phase in der Geschichte der Religionen« nicht nur zu den Entstehungsbedingungen von Glaube und Philosophie, sondern wirkt als ihr bleibendes gemeinsames Erbe in ihrer Geschichte fort.
Einleitung: Wie kommt Gott in die Religion? 57 Die Frage ist nicht historisch gemeint: Gab es »vor-theistische Phasen« der Religionsgeschichte (van der Leeuw: »Gott ist ein Spätling in der Religionsgeschichte«) oder geht den a-personalen Vorstellungen vom Heiligen ein »Ur-Monotheismus« voraus (so Wilhelm Schmidt und Nathan Söderblom)? Sie ist systematisch gemeint. Dann ergeben sich zwei Fragen: Unter welchen Voraussetzungen kommt überhaupt ein spezifisch religiöses Sprechen und Handeln zustande? Und unter welchen Voraussetzungen ist religiöses Sprechen ein »Sprechen zu Gott und von Gott«, religiöses Handeln eine »auf Gott oder die Götter bezogene Praxis« (z. B. ein »Dienst« an Gott oder den Göttern)?
1.
Das religiöse Sprechen und Handeln im Allgemeinen
a)
Der religiöse Grund-Akt: die Verehrung
α) Man kann, mit Max Scheler, den grundlegenden Akt der Religion als einen Akt der »Verehrung« bezeichnen. Diese muß sich nicht notwendig auf einen personalen Gott beziehen, sondern kann auch anonyme »Numina« zu ihrem noematischen Korrelat haben. In jedem Falle aber ist »Verehrung« mehr als »Hochschätzung«. Zu ihr gehört das Bewußtsein, in der Begegnung mit dem »Venerandum« an die Grenze des eigenen Lebens und zugleich an seinen Neubeginn gelangt zu sein. Als Grenze der Lebensfähigkeit des Verehrenden ist das Venerandum zugleich das »Tremendum«. Als Grund des neuen Lebensbeginns ist es das »Fascinosum« 58. Die Erfahrung, daß wir dort, wo wir dem Grund unseres Lebens begegnen, zugleich an unsere Grenze stoßen, läßt uns nicht nur die Kontingenz (Nicht-Notwendigkeit und innere Bedrohtheit) erkenVgl. R. Schaeffler, Wie kommt Gott in die Religion?, in: M. Enders (Hrsg.), Phänomenologie der Religion, Freiburg 2004. 58 Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige, Marburg 1917, sowie ders., Das Gefühl des Überweltlichen – Sensus Numinis, München 1932. 57
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Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
nen, sondern läßt uns zugleich darüber staunen, daß wir in dieser Bedrohtheit nicht schön längst untergegangen sind. Die Alternative von Leben und Untergang erscheint in jedem Augenblick unseres Lebens offen und ist doch vom Anfang unseres Lebens an und die gesamte Zeit unseres Lebens hindurch immer schon zugunsten des Lebens entschieden, längst bevor wir irgend etwas dazutun konnten. Was aber eine offene Alternative zu entscheiden vermag, erweist sich dadurch als eine frei handelnde Willensmacht. Diese hat mühelos, wie durch ein bloßes Nicken mit dem Kopf (nuere), die Entscheidung für das Leben gefällt. Jene Einheit von Lebensgrund und Lebensgrenze, deren Größe wir verehrend anerkennen, kann deswegen ein »Numen« genannt werden. An das Numen denken, bedeutet deswegen; sich ihm, andenkend an seine Entscheidung, verdanken. (Dies die erste Antwort Heideggers auf seine eigene Frage: »Welchen Charakter hat das Denken, mit dem der Glaube denkt?«) β) Wer die religiöse Erfahrung gemacht hat, entdeckt die gleiche Kontingenz (Nicht-Notwendigkeit und innere Bedrohtheit) in allem Seienden wieder. Die offene Alternative von Sein und Nichtsein, aber auch die Entscheidung für das Sein durch eine »numinose« Willensmacht, ist allem, was ist, »von Anfang an« eingestiftet. Von diesem Anfang aller Dinge, der zugleich in jedem Augenblick neue Gegenwart gewinnt, spricht die »Rede von dem, was im Anfang geschah«, die »Archaiologia« (ein Ausdruck, den Platon in seinem »Timaios« benutzt). Das religiöse »dankende Andenken« spricht sich in »archaiologischen Erzählungen« aus. 59 Darauf beruht die Berechtigung der Religionsdefinition des Lactantius: »Religio est religatio« – »Rückbindung an die Ursprünge«. γ) Solche Erzählungen sprechen von einem Ereignis, das an keinem Zeitpunkt unserer Erfahrungszeit stattgefunden hat, sondern außerhalb aller Zeit (»niemals«), aber zu jedem Zeitpunkt dieser Erfahrungszeit (»immer«) gegenwärtig wird. Daher der Ausdruck von Seneca: Die hier erzählten Ereignisse »fuerunt numquam, sunt autem semper« – »waren niemals, sind aber immer«. Sie bilden das religiös Beispiele dafür bietet die Textsammlung von Mircea Eliade »La naissance du monde«, deutsch: »Quellen des Alten Orients, Bd. 1, Die Schöpfungsmythen«, Einsiedeln 1964 – Anmerkung: Das Wort »Schöpfungsmythen« gibt den Originaltitel »La naissance du monde«, »Die Geburt der Welt«, nicht korrekt wieder
59
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Einleitung: Wie kommt Gott in die Religion?
verstandene »Apriori«, die »aus dem je Früheren her« immer neu ankommende Bedingung all dessen, was in der Zeit geschieht. Wie jedes Apriori (auch das weit später von den Philosophen beschriebene, das die »Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung und ihrer Gegenstände« benennt) bewährt sich auch das religiöse Apriori dadurch, daß es unsere alltäglichen Erfahrungen verständlich macht und seinerseits rückschauend, im Lichte der so verstandenen Erfahrungen, neu begriffen wird. δ) Die kontingente Wirklichkeit des Welthaften, verstanden als Erscheinungsgestalt der »von den Anfängen her« »a priori« wirkenden Willensmacht, ist die Weise, wie das Numen von uns erfaßt werden kann, griechisch »dechetai«. In ihr erfahren wir so das Aufleuchten seiner »Doxa«. Das Numen religiös »verehren« bedeutet deswegen: in aller Wirklichkeit der Welt das Aufleuchten seiner Doxa wiedererkennen. 60 b)
Das religiöse Apriori: Begriffe und Anschauungsformen
Befragt man die religiöse Erfahrung nach ihrem Inhalt, dann zeigt sich: Das Erfahrene ist die sich ereignende Gegenwart des Numen »von den Ur-Anfängen her«, also im wörtlichen Sinne »a priori«. Befragt man die religiöse Erfahrung nach ihrer Vollzugsweise, dann zeigt sich: Sie kann nur in spezifischen Formen des Anschauens und Denkens vollzogen werden. Diese bilden von der Subjekt-Seite her das »Apriori« der religiösen Erfahrung (d. h. ihre Möglichkeitsbedingung). Nur sie gestatten es, von der Überwältigung durch bloße religiöse Erlebnisse zur religiösen Erfahrung überzugehen. Zu den dazu nötigen Begriffen gehören auch solche, die später, in verwandelter Gestalt, in die Philosophie Eingang gefunden haben, vor allem die beiden folgenden Begriffspaare, die zu Leitbegriffen der platonischen, sekundär auch der aristotelischen Philosophie geworden sind:
Dieses allgemein religiöse Verständnis dessen, was »Verehrung« heißt, kehrt auch im speziellen Kontext des biblischen Glaubens wieder, exemplarisch im Bekenntnis der Seraphim: »Pleni sunt coeli et terra gloria eius« – »Himmel und Erde sind seiner Herrlichkeit voll«.
60
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Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
α)
Chorismós (wesenhaftes Abgetrenntsein) und Parousía (ereignishaftes Gegenwärtigwerden) Die Anfänge sind von allem verschieden, was für uns erfahrbar und erkennbar ist. Darum enden die »Archaiologien« vieler Religionen mit dem Bericht, daß jene »Zeit vor aller Zeit«, in der die Menschen in unmittelbarer Nähe zu den numinosen Mächten lebten, zu Ende ging. Das archaiologische »Damals« ist von jedem erfahrbaren »Heute« verschieden. (Platon hält dies für das gemeinsame Merkmal aller »Archaiologien«.) Aber wenn und wo der Mensch religiöse Erfahrungen macht, ereignet sich für ihn neue Gegenwart der Ursprünge, ihre »Parousia«. Das ist der Grund dafür, daß der Mensch »noch einmal« die offene Alternative von Sein und Nichtsein erfährt und aus dieser Alternative »neu geboren« hervorgeht. β) Urbild-Ereignis und Abbild-Ereignis Daß der Mensch und mit ihm seine gesamte Erfahrungswelt in der Begegnung mit dem Numen nicht endgültig untergeht, sondern aus ihr zu neuem Leben hervorgeht, macht die sich ereignende Gegenwart der Ursprünge zum »Abbild« dessen, was »im Anfang geschah«. Dabei bedeutet »Abbild«, als religiöse Kategorie verstanden, nicht »Ähnlichkeit« (partielle Merkmalsgleichheit), sondern »Gestalt der Gegenwärtig-Werdung«. Ein in der Religionsgeschichte häufiges Beispiel: Die leben-spendende Atemluft ist, religiös erfahren, das »Abbild«, d. h. die erfahrbare Gegenwartsgestalt, des ausgeatmeten Atems einer numinosen Macht, die sterbend (aus-atmend) ihre Lebenskraft der Welt mitgeteilt hat, sodaß sie in der uns umgebenden Luft von uns »eingeatmet« werden kann. Die Folge dieses Gebrauchs religiöser Kategorien ist ein kritisches und zugleich hermeneutisches Verhältnis zu allen Inhalten unserer Erfahrung: Alles Welthafte ist bloßes Abbild und muß als solches kritisch durchschaut werden. Andernfalls entsteht »BilderVergötzung«, »Idololatria«. Aber alles Welthafte ist wirkliches und für uns unentbehrliches Abbild und muß als solches verstanden werden. Andernfalls entsteht der stets vergebliche Versuch, durch »Bilder-Zerstörung«, »Ikonoklasmus«, eine Unmittelbarkeit zu den numinosen Ursprüngen zu gewinnen. Dieser Versuch muß vergeblich bleiben, weil die Archaí von allem, was uns in der Erfahrung gegeben ist, wesensverschieden sind und bleiben und weil sie für uns nur in ihren Abbildern ereignishaft gegenwärtig werden. 148 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Einleitung: Wie kommt Gott in die Religion?
Der kritische und zugleich hermeneutische Gebrauch religiöser Begriffe (darunter der soeben genannten Begriffspaare »Chorismós und Parousía«, »Urbild und Abbild«) macht die spezifische Rationalität der Religion aus. Die Philosophie, die weit jünger ist als die Religion, hat nicht ein »irrationales« durch ein »rationales« Weltverständnis ersetzt, sondern allenfalls eine neue, spezielle Form von Rationalität hervorgebracht. Aber auch diese neue, philosophische Rationalität mußte sich dadurch bewähren, daß sie durch den Gebrauch ihrer Begriffe ein kritisches und zugleich hermeneutisches Verhältnis zu den Inhalten unserer Erfahrung möglich machte: Auch sie muß es vermeiden, Erscheinungen mit dem zu verwechseln, was in ihnen erscheint (die philosophische Form von »Idololatrie«), oder eine Unmittelbarkeit zur Wahrheit vorzutäuschen, die es vermeintlich nicht mehr nötig hat, Erscheinungen wahrzunehmen und auszulegen (die philosophische Form von »Ikonoklasmus«). Hier und in anderen Hinsichten ist die besondere Rationalität der Religion auch für die frühe Philosophie (vor allem bei Heraklit und Platon) zur Fundstelle geworden, um sich über ihre eigene hermeneutisch-kritische Aufgabe klar zu werden.
2.
Unter welcher Voraussetzung wird das »Numen« als »personaler Gott« verstanden?
Auch a-personale Numina können im Wechsel ihrer Erscheinungsgestalten wiedererkannt und benannt werden. Beispiel: das »heilige Wort« der Buddhisten »Om mani padme um« – »O Geheimnis des Edelsteins in der Lotosblume«. Der personal verstandene Gott wird bei einem Namen genannt, der nicht nur ausgerufen, sondern angerufen werden kann. Mit solchen Anrufungen beginnen die Hymnen vieler Religionen (vgl. o. das Kapitel zur religiösen Sprache). Die Frage: »Wie kommt Gott in die Religion?« ist also präziser so zu stellen: Woraus ergibt sich innerhalb der Religion die Alternative, das »Numen« a-personal zu verstehen oder durch Anrufung des Namens in eine personale Beziehung zu ihm einzutreten? a)
Eine strittige Frage: Die Deutung der sakralen Zeit
Manche Religionswissenschaftler sehen in der Hervorhebung »sakraler« Zeiten den Versuch, die zwischen den religiösen Festen ver149 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
laufende »profane« Zeit »zu vernichten«. Da bei jeder gottesdienstlichen Feier die gleichen »Ereignisse im Urbeginn« abbildhaft, aber wirksam wiederkehren, geschieht, nach der Meinung vieler Interpreten, im religiös verstandenen Weltlauf nichts Neues und alle Ereignisse in der profanen Zeit werden belanglos zugunsten der »Wiederkehr des Gleichen«. Dann kann auch der Mensch in seinem Leben nichts wirklich Neues beginnen. Nun ist es das Kennzeichen der Freiheit, daß sie Neu-Anfänge setzt. Darum bleibt nach dieser Auffassung in der religiös »rhythmisierten« Zeit für die menschliche Freiheit kein Raum. 61 Andere halten gerade die »Wiederkehr der Ursprünge« für den Grund der Möglichkeit, daß auch der Mensch »noch einmal am Anfang steht«, wo »alles noch offen ist«. So verstanden ist gerade das Fest die Stunde der Freiheit – nicht nur der Freiheit Gottes, sondern auch der Menschen. Und weil die Geschichte sich dadurch vom Naturprozeß unterscheidet, daß sie in wesentlichen Hinsichten aus freien Handlungen des Menschen besteht, ist das Fest der Ursprung der Geschichte. 62 Je deutlicher der zweite Aspekt im Verständnis der sakralen Zeit hervortritt – die neue Gegenwart der Ursprünge als Stunde der Freiheit – desto deutlicher wird die numinose Willensmacht, die »im Anfang« gewirkt hat, als personaler Gott verstanden.
b)
Der entscheidende Schritt von der Verehrung a-peronaler Willensmächte zum Glauben a einen personalen Gott: Der Begriff der »befreienden Freiheit«
Wann wird die numinose Freiheit, die »im Anfang« gewirkt hat und deren Wirksamkeit sich jedesmal in der Stunde des Festes erneuert, als göttliche »Person« verstanden? Eine erste Antwort lautet: Es ist das Kennzeichen personaler Freiheit, daß sie auch das Objekt ihres Wirkens zur Freiheit befähigt und so zu einer personalen Antwort ermächtigt. »Befreiende Freiheit« ist das Kennzeichen der Person. Das gilt für Eltern und Lehrer, in ausgezeichnetem Maße aber für
Vgl. Eliade, »Le Mythe de l’éternel Retour«, Paris 1949. Vgl. Heidegger: »Das vom Heiligen geschickte Fest bleibt der Ursprung der Geschichte«, in seiner Erläuterung zu Hölderlins Hymne »Andenken«, in: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a. M. 1951.
61 62
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Einleitung: Wie kommt Gott in die Religion?
die Gottheit, deren Wirken auf religiöse Weise erfahren wird. Gottes Freiheit wird als »befreiende Freiheit« begriffen, die die menschliche Fähigkeit, Neu-Anfänge zu setzen, nicht aufhebt, sondern erst begründet. Dann aber kann es auch religiös bedeutsam werden, nicht nur von dem zu erzählen, was die Gottheit »im Anfang« gewirkt hat, sondern auch von dem, was Menschen, in der Kraft der befreienden Freiheit und ermächtigenden Macht des Gottes, in der Zeit gewirkt haben. Beispiele dafür bietet die religiös verstandene »Annalistik« babylonischer und assyrischer Könige, die davon berichtet, was von einem Neujahrsfest zum anderen vom König bewirkt worden ist. Zweck dieses menschlichen Wirkens war es, der welt-begründenden Macht Marduks bzw. Assurs, die an Neujahr gefeiert wird, neue, bisher nicht dagewesene Gegenwartsgestalten ihres Wirkens zu geben (z. B. durch Neugestaltung der Rechtsordnung wie im babylonischen »Codex Hamurapi« oder durch Unterwerfung fremder Königreiche und deren Einbeziehung in ein neues »Weltreich« wie in den »Annalen des Assurbanipal«). Der Gedanke, solche »Gesta Dei per reges« aufzuzeichnen, hat, durch römische Vermittlung, bis in die Zeit nach der Völkerwanderung nachgewirkt, z. B. in Sammlungen der »Gesta Dei per Francos«. Einen Gott »verehren« bedeutet dann: sich seiner befreienden Freiheit anvertrauen. Und wenn menschliche Freiheit darin besteht, wirklich das zu bewirken, was man will, dann wird jedes erfolgreiche Handeln des Menschen als die Erscheinungsgestalt des befreienden Wirkens des Gottes verstanden. Das gilt nicht nur von den großen »Staatsaktionen« der Könige, sondern auch für das alltägliche Wirken des »kleinen Mannes«. So haben die Bauern in altrömischer Zeit überall dort, wo ihnen wirksames Handeln gelang, eine Gottheit am Werke gesehen. 63 Die Fähigkeit, gerade Furchen zu ziehen oder den Großteil der Saat nicht »auf den Weg oder unter die Dornen«, sondern in diese Furchen zu streuen, sogar die Fähigkeit, beim Jäten das Unkraut unter der Wurzel zu fassen, wurde jeweils besonderen Göttern zugeschrieben: Dem »Arator« (Pflüger), »Sator« (Säer) oder dem »Subruncinator« (benannt nach dem Jäte-Haken, runx, mit dem der Bauer versucht, unter die Wurzel des Unkrauts zu greifen). Der Grundgedanke dabei war »Alles Gelingen ist Gabe« oder, mit einer
63
Vgl. Hermann Usener, Götternamen, Bonn 1896.
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Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
biblischen Formulierung ausgedrückt: »Das Wollen liegt bei mir, aber nicht das Vollbringen« 64. Daß Menschen den Gott beim Namen rufen können, läßt sie gewiß sein, daß das göttliche Wirken sich an ihnen neu erweisen wird, auch in allen Grenz- und Gefahrensituationen ihres Lebens. Der biblische Ausdruck dafür lautet: »Meine Hilfe ist im Namen des Herrn, des Himmel und Erde Machenden« (Ps 124,8). Weil der Beter den Namen des Herrn anrufen kann, ist er gewiß, daß dieser sich an ihm immer neu als der erweisen wird, der alles neu zu schaffen vermag. Alle Elemente dessen, was man den »Gottesbegriff« des Beters nennen kann, ergeben sich aus diesem Vertrauen in die je gegenwärtig wirksame (deshalb in Partizipialform auszusprechende) Macht dieses Gottes, die sich am Menschen als ermächtigender Macht erweisen wird (deshalb wird die Gottheit in Verbformen des Kausativs angerufen).
Erster Teil: Die Götter der Religionen A
Die Götter der Religionen, ihre Differenz und der »hierophantische Akzent«
Die Fähigkeit zur religiösen Erfahrung ist nicht angeboren, sondern wird in der Schule einer religiösen Überlieferung gelernt. Nun sind Überlieferungen immer historisch-konkret und darum partikulär. Das gilt auch dann, wenn sie für die Inhalte ihrer Überlieferung universale Geltung beanspruchen. So entsteht aus der Historizität und Partikularität religiöser Überlieferungen eine Konkurrenz von Wahrheitsansprüchen, die sich, wenigstens teilweise, ausschließen. Institutionalisierte religiöse Überlieferungen heißen »Religionen«. So entsteht das Problem, daß »die Religion« faktisch nur als Vielfalt von »Religionen« vorfindlich ist, in denen, wenigstens teilweise, verschiedene »Götter« verehrt werden.
Rom 7,18 – Freilich wird dort die allgemein religiöse Einsicht auf eine spezifisch biblische Aufgabe angewandt: die Aufgabe, »Gottes Gesetz zu erfüllen«.
64
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Erster Teil: Die Götter der Religionen
1.
Die Absolutheit jeder einzelnen religiösen Erfahrung als ein Grund für die Entstehung des Polytheismus
Die religiöse Erfahrung führt den Menschen und seine Erfahrungswelt an eine Grenze, an der zwischen Untergang und neuer Geburt entschieden wird. Deshalb trägt jeder Inhalt, der auf speziell religiöse Weise erfahren wird, ein Moment der Absolutheit an sich. Als Begegnung mit dem Absoluten (mit jener numinosen Willensmacht, die »im Anfang« über Sein oder Nichtsein des Menschen entschieden hat und in jeder neuen Begegnung mit ihr diese Entscheidung abbildhaft wiederkehren läßt) scheint jede einzelne religiöse Erfahrung sich selber genug. Hier wird eine Gegenwart erfahren, die zunächst für Erinnerung und Erwartung keinen Raum läßt. Darin liegt eine erste Quelle des möglichen Polytheismus: In jeder neuen originären religiösen Erfahrung begegnet ein neuer Gott, bis schließlich die Aussage möglich wird: »Alles ist voll von Göttern«. Objektiv gültige Erfahrung wird hier wie auf allen anderen Gebieten nur dann gewonnen, wenn der Mensch nicht sogleich vergißt, was er erlebt hat, sondern aus seinen Erlebnissen einen geordneten Zusammenhang aufbaut und dem Einzelnen seine Stelle in diesem Zusammenhang zuweisen kann. Die Zielvorstellungen, die uns bei der Bemühung um den Aufbau eines solchen Zusammenhangs leiten, heißen in der Sprache der Philosophie »Ideen«, vor allem die Idee der »Welt« (des allumfassenden Zusammenhangs aller Inhalte, die wir erfahren) und die Idee des »Ich« (der Einheit der Akte, durch die wir solche Erfahrungen machen). Gerade für das religiöse Bewußtsein ist die Gefahr besonders groß, daß die Überwältigung durch das einzelne religiöse Erlebnis die Bemühung um den Aufbau eines solchen Zusammenhangs gar nicht aufkommen läßt. Dann geht, im unverbundenen Nacheinander der einzelnen religiösen Erfahrungen, sowohl die Einheit der Welt als auch die Einheit des erfahrenden Ich verloren. Da aber das einzelne Erlebnis stets flüchtig ist, entsteht dann ein »Hunger« nach immer neuen, immer intensiveren Erlebnissen, die man, wenn sie sich nicht von selber einstellen, willentlich herbeizuführen versucht, z. B. durch Verwendung berauschender Drogen. Damit aber verwischt sich zugleich die Grenze zwischen der Überwältigung durch bloß subjektive religiöse Erlebnisse und objektiv gültigen, d. h. bleibend maßgeblichen religiösen Erfahrungen, deren Maßgeblichkeitsanspruch man auch Anderen bezeugen kann. Ein in der Religionsgeschichte häufiger Versuch, diese Gefahr abzuwenden, 153 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
besteht darin, die einzelnen religiösen Erfahrungen als Phasen auf einem Wege zu verstehen – freilich auf einem Wege besonderer Art. Keine einmal gemachte religiöse Erfahrung wird durch kommende Erfahrungen ihrer Gültigkeit beraubt. Hier gilt mit besonderer Deutlichkeit die Regel: »Semel verum semper verum«. Was einmal als wahr erfahren wurde, behält für immer seinen Anspruch auf Maßgeblichkeit. Aber keine Erfahrung, auch und gerade die des Absoluten, ist von solcher Art, daß sie kommende Erfahrungen überflüssig macht. Erfahrungen bleiben Stadien auf einem Wege, indem sie sich gegenseitig auslegen, aber auch für künftige Auslegungen offen bleiben. Die weiterführende Frage lautet dann: Wie wird aus solchen Erlebnissen ein Weg? Was verleiht den einzelnen Stadien dieses Weges trotz ihrer Flüchtigkeit ihre bleibende Bedeutung? Zur Beantwortung dieser Fragen werden in der Sprache der Religion Begriffe verwendet wie »Verheißung«, »Erfüllung« und »Bewährung«. Mit Hilfe dieser Begriffe wird ein Kontext aufgebaut, in dem alles seine Stelle finden muß, was als Inhalt einer objektiv gültigen religiösen Erfahrung gelten soll. Dann erweisen sich frühere Erlebnisse als »vorausweisende Zeichen«, die erst im Lichte der neuen Erlebnisse gedeutet werden können. »In figuris praesignatur« – »In der Gestalt (figura) des früher Erfahrenen liegt ein vorausweisendes Zeichen (praesignatio) des Kommenden«. Dann werden »Verheißung« und »Erfüllung« zu Leitbegriffen, um den Zusammenhang religiöser Erfahrungen zu beschreiben.
2.
Die Vielfalt der Religionen als eine Vielfalt von Wegen
Religiöse Überlieferungen leiten die Individuen dazu an, die großen, aber auch die kleinen Augenblicke ihres geistlichen Lebens auf solche Weise zu einem Weg zu verknüpfen. Meister des geistlichen Lebens in vielen Religionen verstehen sich als solche Helfer, auf einen Weg zu finden und auf ihm zu bleiben. Manche Religionen bezeichnen sich deshalb ausdrücklich als »Weg«. So lautet eine der möglichen Übersetzungen des chinesischen »Tao« »der Weg« – und zwar ausdrücklich ein Weg, den man schon verloren hat, wenn man meint, ihn vorweg definieren zu können, als sei man schon am Ziele und könne ihn im Ganzen überblicken. Und eine der frühesten Bezeichnungen des Christentums lautete »Der neue Weg« (Apg. 9,2). Auch hier gehört es zum Weg, sich dessen bewußt zu bleiben, daß man noch nicht 154 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Erster Teil: Die Götter der Religionen
am Ziel ist: Alle Glaubensgewißheit ist »Wissen unterwegs« – »Scientia in via«, nicht »seligmachende Schau«, die wir erst erreichen werden, wenn wir »ins Vaterhaus zurückgekehrt« sein werden – »scientia in patria«. Aber unterschiedliche religiöse Überlieferungsgemeinschaften erfüllen diese ihre Aufgabe auf unterschiedliche Weise. Sie leiten die Angehörigen der Überlieferungsgemeinschaft auf unterschiedliche Weise dazu an, ihre Erlebnisse zu einem Weg zu verknüpfen und dadurch erst zu objektiv gültigen Erfahrungen werden zu lassen. Darum sind die Erfahrungen, zu denen religiöse Überlieferungsgemeinschaften und ihre »Meister« die Individuen fähig machen, von den Angehörigen anderer religiöser Überlieferungsgemeinschaften oft nicht unmittelbar nachzuvollziehen. Man kann auch in religiöser Hinsicht nicht auf verschiedenen Wegen gleichzeitig gehen 65. Eine solche Notwendigkeit, sich an »Wegegabeln« zu entscheiden, gehört nicht nur zur religiösen »Weg-Weisung« in Judentum, Christentum und Islam, sondern ist auch anderen Religionen bekannt. (Vgl. die Warnung des Horaz vor Vermischung der römischen und ägyptischen Religion, wie Kleopatra, die Gattin Cäsars, sie versucht hat. Horaz sieht darin eine »Kontamination des Kapitols mit dem Gift aus unterägyptischen Tümpeln«. Man kann die Ehe nicht römisch, als Rechtsverhältnis zwischen freien Personen, verstehen und sie zugleich ägyptisch, als Abbild der geschlechtlichen Vereinigung zweier Gottheiten, durch Akte der »Tempel-Prostitution« zu heiligen versuchen. Deshalb will Horaz den Tod der Kleopatra als das Ende dieser »Befleckung des Kapitols« mit Gesang und Tanz feiern 66.)
3.
Das Kriterium der Entscheidung: Auf welchem Erfahrungsbereich liegt der »hierophantische Akzent?
Der besondere Bereich unserer alltäglichen Erfahrung, innerhalb dessen einzelne Erfahrungsinhalte in Inhalte speziell religiöser Erfahrung »transfiguriert« worden sind, wird dadurch als religiös bedeutsam ausgezeichnet. In diesem besonderen Teil der Erfahrungswelt Vgl. die Mahnung des Propheten Elia: »Wie lange wollt ihr (könnt ihr) auf beiden Schenkeln der Wegegabel tanzen?« (1 Kön 18,22). 66 »Nunc est bibendum, nunc pede libero pulsanda tellus« – »Jetzt heißt es trinken, jetzt mit befreitem Fuß tanzend die Erde stampfen« (Carmina I,37). 65
155 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
(z. B. in den Erscheinungen von Tod und Leben oder in Situationen der sittlichen Entscheidung oder der ästhetischen Begeisterung oder auch der theoretischen Einsicht, in der dem Erfahrenden »ein neues Licht aufging«) werden dann weitere religiöse Erfahrungen gesucht und oft auch gefunden, in denen das einmal erfahrene Numen »wiedererkannt« werden kann. Das gilt für Individuen, aber auch für religiöse Gemeinschaften, in denen Zeugnisse von einer geschehenen »Erleuchtung« oder »Berufung« oder »Erwählung« weitergegeben werden. Die weitergegebenen Zeugnisse exemplarischer religiöser Erfahrung bilden dann die wichtigsten Inhalte gemeinsamen Gedenkens, vor allem in gottesdienstlichen Feiern. Diese Erfahrungsbereiche tragen fortan den »hierophantischen Akzent« (ein Ausdruck von Mircea Eliade). In denjenigen Erfahrungsbereich, der den »hierophantischen Akzent« trägt, fällt die Unterscheidung des Sakralen und des Profanen. Sakral sind Orte, Zeiten und Handlungen, in denen »das Heilige«, das »im Anfang« gewirkt hat, im wirksamen »Abbild« wiederkehrt. Sekundär sind auch diejenigen Personen »sakral«, die derartige Handlungen vollziehen. Fanum, wörtlich »der heilige Bezirk«, ist der Gesamtzusammenhang aller sakralen Orte, Zeiten und Handlungen. Pro-fan ist das, was nicht selber sakral ist, aber dem »Fanum« als dessen »Vorhof« zugeordnet ist: Es kommt darauf an, sich »in profano« so zu verhalten, daß man das »Fanum«, wenn man es betritt, nicht »entweiht«. Reinheitsvorschriften, die in vielen Religionen gelten, dienen dazu, die Zuordnung des Pro-Fanen zum »Fanum« zu wahren. Ein bekanntes Beispiel: Wenn »in fano« der Sabbath gefeiert wird als der Tag, an dem der Schöpfer nach seinem Werk »zur Ruhe kam«, um den Menschen, der »im Sklavenhaus« zu ruheloser Tätigkeit gezwungen wird, »zur Ruhe zu bringen«, wird derjenige, der »in pro-fano« seinen Knechten unmenschliche Arbeitslast auferlegt, »in fano« den Tag der befreienden Gottesruhe nicht feiern können, ohne diese Feier zum Hohn für den Knecht – und sekundär auch für den befreienden Gott – zu machen. Er wird »unrein«, d. h. unfähig, den Sabbath-Gottesdienst mitzufeiern. Vom Profanen ist zu unterscheiden das Säkulare. Das Profane, das dem »Fanum« vorgelagert ist, gewinnt von ihm her seine Bedeutung. Säkular dagegen ist das, »wovon für Heil oder Unheil nichts abhängt«. Darum hängt auch umgekehrt für die Entscheidungen, die im säkularen Bereich zu treffen sind, nichts davon ab, ob sie aus religiösen Motiven oder aus anderen gefällt werden. (Für die Entschei156 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Erster Teil: Die Götter der Religionen
dung über ein Therapieverfahren hängt im Allgemeinen nichts davon ab, ob der Arzt Christ oder Atheist ist). Der Sache nach gibt es diese Unterscheidung zwischen dem Profanen und dem Säkularen in vielen Religionen. Der Bezeichnung nach entstammt sie jüdisch-christlichem Sprachgebrauch. »Säkular« ist, was nur für das Leben »in dieser Welt« (in hoc saeculo) bedeutsam ist, wovon aber für das »Leben in der kommenden Welt« (in saeculo venturo) nichts abhängt. Das dafür Bedeutsame heißt »geistlich« (spirituale), weil nur das, was der Geist wirkt, zum Leben in der kommenden Welt fähig macht. Ein Beispiel: Das physische Leben und Überleben kann auf religiöse Weise erfahren werden: als die Erscheinungsgestalt jener »Entscheidung für das Leben«, die das Numen bzw. die Gottheit »im Anfang« gesetzt hat. Wo eine andere Art der religiösen Erfahrung die Existenz des Menschen bestimmt und sein Verständnis seiner Erfahrungswelt leitet, kann der Erfahrungsbereich des physischen Lebens diesen »hierophantischen Akzent« verlieren: Wer die Sittlichkeit als primären Ort der Begegnung mit dem Heiligen entdeckt hat, gewinnt einen »Todesmut«, dem die Frage des physischen Überlebens als religiös gleichgültig gilt. »Das Leben ist der Güter höchstes nicht«. Weiterzuleben ist nur »wichtig«, wenn die Aussicht besteht, neue sittliche Aufgaben zu entdecken. Gelingt das nicht, dann ist das physische Leben und Überleben für einen solchen Menschen »säkular« geworden. Das Beispiel lehrt: Diejenige religiöse Erfahrung, die für ein Individuum oder eine religiöse Gemeinschaft dominant geworden ist, definiert nicht nur die Unterscheidung und Zuordnung des Sakralen und Profanen, sondern auch die Grenze, an der das Säkulare beginnt. Darin liegt ein Grund für die Entstehung unterschiedlicher Religionen. Neue religiöse Erfahrungen können dazu führen, daß der hierophantische Akzent »sich verlagert«. So wurde in der frühen römischen Republik, nach der Vertreibung der Könige und den nachfolgenden Aufständen der Plebejer, die friedenstiftende Kraft des Rechts zur zentralen Hierophanie – Abbild der Brudertreue der Dioskuren oder des »Consensus der Götter«. Die »Dii consentes« (bei hohen Festen gemeinsam anwesenden Götter) werden nun als »Dii consentientes« verstanden, denen ein eigener Tempel an der »Via sacra« errichtet wird. Dann wird der Rechtsfriede der Civitas als das entscheidende Pro-Fanum, Rechtsbruch als entscheidende »Unreinheit« bewertet. Ältere Formen sakralen Handelns 157 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
werden dann umgedeutet: Opfermahlzeiten, ursprünglich als Feiern der Gabe physischen Lebens verstanden, werden als »Lectisternien« der Götter und Menschen begangen, Abbilder des Friedensmahles der Dii consentientes, in deren besonderem Tempel auf dem Kapitol gefeiert. In anderen aus der Religionsgeschichte bekannten Fällen verlieren ältere Formen sakralen Handelns ihre religiöse Bedeutung ganz. Ein Beispiel: die prophetische Opferkritik »Gehorsam will ich, nicht Opfer«. Und eine mögliche Folge ist: Die entsprechenden Reinheitsvorschriften verlieren ihre Verbindlichkeit. Ein neutestamentliches Beispiel: Jesu Kritik an den Reinheitsvorschriften, die das Essen und Trinken betreffen. Hygienische Regeln, die der Sicherung des körperlichen Lebens vor Ansteckungsgefahr dienen, z. B. die Regel, sich bei der Heimkehr vom Markt die Hände zu waschen oder Kochgeschirre vor Gebrauch zu reinigen, sind dann nur noch Klugheitsregeln, aber ohne religiösen Belang. »Nicht was zum Munde eingeht, macht unrein (gottesdienst-unfähig), sondern was vom Munde ausgeht: die bösen Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerworte« (Mt 15,11 ff.). Die alltägliche Zubereitung der Speisen wird dann nicht nur profaniert, sondern säkularisiert. Beispiele dieser Art zeigen: Religiöse Erfahrungen unterschiedlicher Art definieren nicht nur die Zuordnung des Sakralen und Profanen auf je bestimmte Weise, sondern können auch die Grenze zwischen dem Profanen und dem Säkularen »verlagern«. Darin liegt ein besonderer Grund für die Schwierigkeit interreligiösen Verstehens. Es ist für die Angehörigen jeweils einer Religion kaum verständlich, daß Erfahrungen, die sie für religiös belanglos halten, für die Mitglieder anderer Überlieferungsgemeinschaften gerade den hierophantischen Akzent tragen, und daß den Anderen religiös belanglos und in diesem Sinne rein säkular erscheint, was in der jeweils eigenen religiösen Gemeinschaft sakral ausgezeichnet ist.
4.
Die Verlagerung des hierophantrischen Akzents in der Religionsgeschichte und die Entstehung »religionskritischer Religionen«
Die Verlagerung des hierophantischen Akzents kann frühere Zuordnungen gewisser profaner Erfahrungsbereiche zum Sakralen unmöglich machen, weil dieser Versuch diejenigen Erfahrungsbereiche, die 158 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Erster Teil: Die Götter der Religionen
nun den »hierophantischen Akzent« tragen, »beflecken« würde. Ein Beispiel aus der römischen Religionsgeschichte: Wenn einmal die friedenstiftende Wirkung des Rechts als primäre Manifestation des Wirkens der Götter entdeckt ist (den »hierophantischen Akzent« trägt), wird auch die Beziehung der Geschlechter primär als ein Rechtsverhältnis zwischen freien Vertragspartnern gedeutet, nicht mehr als Abbild eines »heiligen Geschlechtsaktes«, den gewisse Götter »im Anfang« vollzogen haben und der in Fruchtbarkeitskulten seine abbildhafte Vergegenwärtigung findet. Man kann die Ehe nicht bald als Teil des »heiligen Rechts« im Lichte des »Consensus Deorum« deuten und sie bei anderer Gelegenheit wieder als »pro-fanes« Abbild eines »heiligen Geschlechtsaktes der Götter« verstehen und damit der »Tempelprostitution« als ihrem Fanum zuordnen. Daher der schon erwähnte Protest des Horaz gegen die »Befleckung« des Kapitols durch das »Gift aus unterägyptischen Tümpeln«. »Fremde Götter«, z. B. ägyptische, erscheinen dann den Anhängern der eigenen Religion, z. B. der römischen, als »falsche Götter« und Quellen der Verführung oder Vergiftung. Daher der Vergleich mit den Dünsten, die aus »unterägyptischen Tümpeln« aufsteigen.
B
»Religionskritische Religionen«
Es gibt Religionen, bei denen die Kritik an »falschen Göttern« nicht nur gelegentlich vorkommt, sondern zu einem wesentlichen Inhalt der religiösen Verkündigung wird, weil man den »wahren Gott« nur verehren kann, wenn man sich entschieden von den »falschen Göttern« abwendet. In anderen Fällen werden zwar die »alten Götter« weiterhin verehrt, aber die wahre Form ihrer Verehrung wird von falschen (oft: älteren) Formen dieser Verehrung mit großer Entschiedenheit abgegrenzt. In beiden Fällen wird aus religiösen Gründen »Religionskritik« geübt. Man kann diese Religionen »religionskritische Religionen« nennen. Sie sind vor allem in der Zeit zwischen 1500 und 500 vor unserer Zeitrechnung in den Küstenländern des östlichen Mittelmeers (Ägypten, Griechenland, Palästina) und einigen östlich angrenzenden Ländern (Persien, Indien) entstanden. Sie bildeten die Bedingungen für das Entstehen sowohl des biblischen Glaubens als auch der griechischen Philosophie.
159 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
1.
Die Voraussetzung: Selbstkritik und Innovation als innere Momente der Religion
»Religionskritische Religionen« dieser Art konnten nur entstehen, weil zu jeder Religion die Fähigkeit zu Selbstkritik und Innovation gehört 67. Die kritische Unterscheidung zwischen Spur (deutbare Nachwirkung) bzw. Bild (Gegenwartsgestalt) und dem, was in diesen Spuren »nachwirkt« bzw. in diesen Bildern gegenwärtig wird, gehört wesentlich zur Religion und wird dadurch zur Quelle einer spezifisch religiösen Welt- und Selbstkritik 68. Daraus resultiert die Aufgabe, das Verhältnis des Sakralen und des Profanen immer wieder neu zu gestalten. Es gilt z. B., profane soziale Konflikte so beizulegen, daß die Feier des »Götterfriedens im Anbeginn« nicht zum Frevel wird, aber auch Archaiologien und Kulte so zu reformieren, daß sie sich an neuen Gestalten der profanen Welt hermeneutisch bewähren. Eine Folge: Weder die sozialen Verhältnisse in archaischen Gesellschaften noch ihre Mythen und Kulte sind so ungeschichtlich, wie sie selber den Anschein erwecken. Sie unterliegen aus religions-immanenten Gründen einem geschichtlichen Wandel, freilich oft ohne ihn zum Thema ihrer Verkündigung zu machen. (Vorverweis: Es ist ein Unterscheidungsmerkmal der biblischen Verkündigung, daß sie das Bewußtsein von ihrer Geschichtlichkeit zum ausdrücklichen Inhalt ihrer Verkündigung macht.) Krisen in dieser Geschichte treten auf, wenn zwischen der archaiologischen Erinnerung und der jeweils gegenwärtigen Erfahrung ein unvermittelter Gegensatz erfahren wird, der es nicht mehr gestattet, neue Erfahrungen im Lichte der Erinnerung, die Erinnerung im Lichte gegenwärtiger Erfahrung auszulegen. Solche Krisen verschärfen sich, wenn durch Neu-Redaktionen von »heiligen Erzählungen« und durch Reformen der »heiligen Handlungen«, aber auch durch planmäßige Umgestaltung der Erfahrungswelt die Erwartung geweckt wird, nun sei das rechte Verhältnis zwischen beiden endgültig wiederhergestellt, und wenn diese Erwartung durch neue Erfahrungen enttäuscht wird 69.
Vgl. R. Schaeffler, Selbstkritik und Innovation als innere Momente der Religion, in: W. Kluxen (Hrsg.), Tradition und Innovation, Hamburg 1988. 68 Vgl. R. Schaeffler, Religion und kritisches Bewußtsein, Freiburg 1973. 69 Vgl. R. Schaeffler, Religions-immanente Gründe religionshistorischer Krisen, in: H. Zinser (Hrsg.), Der Untergang von Religionen, Berlin 1986. 67
160 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Erster Teil: Die Götter der Religionen
2.
Krisen in der Religionsgeschichte des werdenden Europa
Vorbemerkung: Die Religionen des ost- mittelmeerischen Kulturkreises haben in der Zeit zwischen 1500 und 500 vor unserer Zeitrechnung eine gemeinsame Krise durchlebt. Diese Krise betraf vor allem die Mythen und Kulte der Fruchtbarkeit. Durch diese Mythen und Kulte wurde die Fortpflanzungsfähigkeit von Pflanzen, Tieren und Menschen auf eine göttliche Zeugungskraft zurückgeführt, die »im Anfang« durch einen sterbenden Gott dem Wasser der Flüsse und durch sie dem lebenspendenden Acker mitgeteilt worden sei. Die neue Erfahrung jedoch, daß mit dem Wechsel der Generationen auch Lüge und Gewalt und mit ihnen die Macht des Bösen in immer neuer Gestalt wiederkehren, ließ es als »frevelhaft« erscheinen, darin die »Abbilder« (wirksamen Gegenwartsgestalten) göttlicher Taten und Leiden sehen zu wollen. a)
Krise und Neugestaltung des Osiris-Kultes in Ägypten
Ein exemplarischer Text: Das »Gespräch eines Lebensmüden mit seinem Schutzgeist (Ba)«. Der Verfasser weigert sich, an Kulten teilzunehmen, in denen der Tod des Osiris als Grund für die Fähigkeit des Nils gefeiert wurde, durch seine Überschwemmungen das Land fruchtbar zu machen. In diesem fruchtbringenden Nil hat die Göttin Isis gebadet, wurde dadurch schwanger und hat den Königsgott Horus geboren. Der Verfasser des Papyrus will nicht durch Mitfeier an solchen Kulten zur Reproduktion der bestehenden Welt beitragen, sondern sehnt sich nach einem Weg, der aus dieser Welt hinausführt. Er lernt von seinem »Ba«, daß Osiris nicht nur der »Erste unter allen Sterbenden« gewesen ist, sondern vor allem derjenige, der als erster nach seinem Tode das Totengericht bestand und nun zum Totenrichter über alle weiterhin sterbenden Menschen eingesetzt worden ist. Der gesuchte Weg in eine andere Welt besteht darin, vor dem Tode wie Osiris zu leben, im Tode mit ihm zu sterben und nach dem Tode durch ihn in ein neues Leben einzugehen. Die Einweihung in das Totengericht wird zum Inhalt der neugestalteten »Osiris-Mysterien«. Der »hierophantische Akzent« verlagert sich auf die sittliche Erfahrung, verstanden als Eröffnung einer Möglichkeit, das kommende Totengericht schon jetzt durch Akte der Selbsthingabe zu antizipieren und sich schon in diesem Leben die Fragen zu stellen, die 161 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
man nach dem Tode als Fragen der Totenrichter wird beantworten müssen: Prototyp der später auch in anderen Religionen verbreiteten »Gewissens-Spiegel«. Hier wird kein »neuer Gott« eingeführt, aber die wahre Verehrung des »alten« Gottes von den kritikbedürftigen alten Formen seiner Verehrung unterschieden, auch wenn diese als populäre »Vorstufen« erhalten bleiben können. Vorausweisende Bemerkung: In diesem religionsgeschichtlichen Umfeld ist auch der biblische Glaube entstanden. Als Zeugnis dafür läßt sich die »Kindheitsgeschichte« des Mose lesen (Ex 2,5–10). Diese Erzählung berichtet davon, wie Mose der vom Pharao angeordneten Tötung aller neugeborenen Hebräer-Knaben entgangen sei. Die Tochter des Pharao hat im Nil gebadet – nach Vorbild des Bades der Isis im fruchtbarkeitsspendenden Nil. Sie hat das Knäblein in einem Binsenkorb gefunden – nach Vorbild der Körbchen, mit denen man nach einem ägyptischen Volksbrauch kleine Bilder des Osiris oder des Horus im Nil aussetzte, damit sie dorthin Segen bringen, wohin der Nil sie anschwemmen würde. Sie nannte ihn »Mose«, »Sohn des …«, was als Vorsilbe einen Götternamen erwarten läßt, wie Ra-Moses – Sohn des Ra. Hebräische Ohren hörten dieses Wort als »Herauszieher«: der »Herauszieher« Israels aus der ägyptischen Knechtschaft mußte zuerst aus dem Nil »herausgezogen« werden. An den Königshof gebracht, wurde er zum königlichen Hofbeamten erzogen, »unterwiesen in aller Weisheit Ägyptens« (so beschrieben in der Stephanusrede der Apostelgeschichte Apg. 7,22), wozu vor allem die Anleitung gehörte, so nach dem göttlichen Willen zu leben, daß man dereinst im göttlichen Gericht bestehen kann. Es wird zu zeigen sein, auf welche Weise Mose sich diese »Unterweisung« so aneignete, daß daraus etwas Neues werden konnte: Die sittliche Anweisung zu einem Leben, das Gott wohlgefällt, wurde in den neuen Rahmen einer historischen Botschaft vom »Bund« Gottes mit dem aus Ägypten herausgeführten Volke gestellt, der in den göttlichen »Weisungen« (Geboten) konkrete Gestalt gewinnt. b)
In Griechenland: Eine Neu-Interpretation der Mysterien von Eleusis
Der ursprüngliche Gehalt: Die Tochter der Erdmutter (Demeter) ist von Hades geraubt und als Persephone zur Königin der Unterwelt eingesetzt worden. Wallfahrer aus Athen begleiten die trauernde Mutter auf ihrer Suche nach der Tochter und pilgern nach Eleusis, 162 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Erster Teil: Die Götter der Religionen
wo man in den Erdspalten, aus denen Schwefeldämpfe aufsteigen, die Pforten der Unterwelt zu finden meint. Dort erleben sie in nächtlicher Feier, wie die göttliche Tochter aus dem Hades die fruchtbringende Ähre (dargestellt in einem goldenen Abbild) hervorsendet: Symbol der aus ihrem Tode hervorgegangenen Fruchtbarkeit des Ackers. Die neue Interpretation: Nicht das Essen der Nahrung, die aus dem Acker sproßt, sondern die »Schau« (épopsis) dieses Zeichens göttlicher Gegenwart ist es, die dem Menschen Anteil am ewigen Leben der Götter gewährt. Der »Epóptes« ist in dieses ewige Leben eingeweiht und hat damit alle Todesfurcht hinter sich gelassen. Der »hierophantische Akzent« verlagert sich auf Erfahrungen der »Theoria«, jetzt nicht mehr verstanden als ein »Treten unter den Blick des Gottheit«, sondern als Befähigung des Menschen zu einem neuen Blick auf die Welt, in deren wechselnden Gestalten »Abbilder« (wirksame Gegenwartsgestalten) der ewigen Wahrheit entdeckt werden. Diese »Theoria« der ewigen Wahrheit ist es, die dem Menschen selber Unsterblichkeit gewährt. Vorausweisende Bemerkung: In diesem religionsgeschichtlichen Umfeld ist auch die griechische Philosophie entstanden. Die philosophische »Theoria« als Schau ewiger Wahrheiten ist die »wahre Unsterblichkeitsweihe«. c)
Ein radikaler Neubeginn: Die persische Religion des Zarathustra
Die Totengötter, die oft zugleich Fruchtbarkeitsgötter sind, werden in der Verkündigung des Zarathustra zu »Lügengeistern«, die durch den »Herrscher Weisheit« überwunden werden. An die Stelle der Reproduktion »dieser Welt«, die in einem großen Weltbrand vergehen wird, tritt der Dienst an der »kommenden Welt« – nicht nur für das Individuum, sondern vor allem für die Gesellschaft und ihre kulturschaffende Tätigkeit. Die wahren »guten Werke« sind dann: eine Steppe berieseln, einen Fruchtgarten pflanzen, eine Straße in unwegsamem Gelände bauen, eine Stätte des Totenkultes vernichten. Wer diese Werke tut, »wird im kommenden Gericht nicht nach seinen Sünden befragt«. Der »hierophantische Akzent« verlagert sich auf die weltverändernde Praxis. Kulturschaffende Arbeit als wahrer Gottesdienst, der etwas von der kommenden Welt schon in dieser Welt erfahrbar macht, politische Umgestaltung der Welt als Vorwegnahme des neu163 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
en Himmels und der neuen Erde: Der Sieg über die Völker als Sieg über die Götter, die sie verehren, und damit als Vorwegnahme des »Weltbrands«, in dem »diese Welt« einer »kommenden Welt« Platz macht. Und die »Seele« des Menschen ist nicht mehr der »Lebensatem«, sondern derjenige »Wesensteil« des Menschen, der nicht wie der Leib im Brand »dieser Welt« untergeht, sondern über die »schmale Brücke« in die »kommende Welt« eingehen kann. Jetzt erst wird ein »neuer Gott« (Ahura Mazda) verehrt, und es entsteht eine »neue Religion« (die Religion der »Liebhaber der Weisheit«), deren »Stifter« (Zarathustra) einer besonderen Beauftragung bedarf und diese durch besondere Erfahrungen der »Offenbarung« erhält. Vorausweisender Hinweis: In diesem religionsgeschichtlichem Umfeld hat auch die griechische Philosophie ihre besondere Gestalt gewonnen. Die frühesten Philosophen lebten im Herrschaftsbereich der Perser (in Milet, Ephesos, im benachbarten Kolophon, von wo aus einige nach Unteritalien auswanderten und die Schule von Elea gründeten). Sie nannten sich wie die Anhänger der neuen persischen Religion »Liebhaber der Weisheit«. Erst sie, nicht schon die Griechen homerischer Zeit, verstanden die »Seele« als das »Unsterbliche im Menschen«, bekämpften Toten- und Fruchtbarkeitskulte und wollten sich »von allem Verweslichen reinigen«, um Anteil am kommenden Leben zu gewinnen. Und auch sie hielten »Weisheit« für das entscheidende Gottesprädikat (»das Eine und allein Weise« bei Heraklit von Ephesos). Auch der biblische Glaube hat, gegen Ende des babylonischen Exils, von den Persern gelernt, sprach nun vom Gegensatz zwischen »dieser« und der »kommenden Welt« und lehrte seine Anhänger, in »dieser Welt« so zu leben, daß dadurch »Anteil an der kommenden Welt« gewonnen wird. Dennoch haben sowohl die Philosophen als auch die Glaubenden aus dem, was sie so gelernt haben, je auf ihre Art etwas ganz Neues gemacht. d)
Eine in der Praxis »sanftere«, in der Theorie radikalere Neugestaltung der Religion: der Buddhismus – eine Religion ohne Götter
Grundwahrheiten in der Verkündigung Buddhas: Leben ist Leiden. Grund allen Leidens ist der »Ich-Hunger«, der nicht nur im Lebenskampf in dieser Welt wirksam ist, sondern auch in der Hoffnung auf Wiederverkörperung nach dem Tode (Hinduismus), aber auch in der 164 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Erster Teil: Die Götter der Religionen
Hoffnung auf Unsterblichkeit in einer kommenden Welt (wie bei Zarathustra, aber auch im nach-exilischen Judentum). Bedingung für die Überwindung des Leidens ist die Überwindung des Ich-Hungers – und damit auch die Überwindung des Glaubens an Götter überhaupt: Wo das menschliche Ich wesenlos wird, verschwindet auch das göttliche Du. Der hierophantische Akzent verlagert sich auf Erfahrungen einer »Erleuchtung«, die nicht mehr bestimmte Inhalte des Erkennens verstehbar macht, sondern ein völliges Leerwerden ermöglicht, in dem das Ich ebenso versinkt wie seine Welt. Die Fülle, die mit der absoluten Leere zusammenfällt, ist dann das Ziel einer Askese der Selbstlosigkeit. Das Ich, die Welt und die Götter gehören gemeinsam zu jener Sphäre der »Bilder«, die in dieser Erleuchtung wesenlos werden. Der religionsgeschichtliche Anspruch: Der Buddhismus versteht sich als Vollendung der Religionsgeschichte, in deren Verlauf nicht nur »Gott in die Religion« gekommen ist, sondern Gott die Religion im Ganzen zuletzt wieder verlassen hat, oder genauer: in deren letzter Phase die Religion die Sphäre des Göttlichen hinter sich gelassen hat, freilich um den Preis, daß sie nicht nur gott-los geworden ist (keine Gebete, nur Meditationen), sondern zugleich subjektlos und weltlos. Dennoch kennt auch der Buddhismus den religiösen GrundAkt: Das andenkende Sich-Verdanken, weil der Mensch sich zwar auf das Ereignis der Erleuchtung vorbereiten muß, es aber nicht herbeizwingen kann und als dankbar empfangenes Geschenk erfährt. Diese Erleuchtung ist zugleich das Ereignis, in dem ein Mensch zum »Buddha«, d. h. zum Erleuchteten wird, exemplarisch Gautamo Buddha, aber in dessen Nachfolge viele andere Menschen. Dies bildet den primären Inhalt dieses »Sich-verdankenden Andenkens«. Stellt man die Frage, ob nach erreichter »Leere« eine neue Zuwendung zur Welt möglich sei, dann ist auf eine sehr verbreitete Sonderform des Buddhismus zu verweisen: Eine zeitweilige Rückkehr in diese Bilderwelt kann selbst ein Akt der Selbstlosigkeit sein, wenn sie dem Entschluß entspringt, anderen Menschen zur Erleuchtung zu verhelfen (Boddhisatwa-Gestalten). e)
Eine Zwischenbilanz
Es ist die überlieferte Religion selbst, die die Krisen des werdenden Europa möglich gemacht hat: Nur die schon religiös gedeutete Erfah165 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
rung konnte zum Skandal werden. Aber es ist ein Proprium des werdenden Europa, diese Krise wirklich erfahren zu haben. Manche dieser religionskritischen Religionen (nicht der Buddhismus) gehören, als Entstehungsbedingungen, in die Vorgeschichte der Philosophie und des christlichen Glaubens oder, als Auslegungshilfen, in die Geschichte ihres Selbstverständnisses hinein.
Zweiter Teil: Der Gott der Philosophen A
»Gott« in der Philosophie der klassischen Antike
1.
Die Entstehung der Philosophie fällt in eine kritische Phase der Religionsgeschichte
Entscheidend für die Eigenart der entstehenden Philosophie ist ihre Zeitgenossenschaft mit der Gründungsphase des Perserreichs. Milet (Heimat des Thales von Milet) geht früh zu den Persern über, Ephesos (Heimat des Heraklit von Ephesos) bleibt ihnen auch 499, während des Aufstandes der Ionier gegen die drückend werdende persische Herrschaft, treu. Persische Einflüsse haben in der griechischen Philosophie bleibende Spuren hinterlassen. Dazu gehört schon der Name »Philosophia« (die Anhänger des Zarathustra nannten sich »Liebhaber der Weisheit«): – Sophia als das unterscheidend Göttliche (»Das Eine und allein Weise«, Heraklit B 327) – Ablehnung der Totenkulte und der mit ihnen verbundenen Fruchtbarkeitskulte – Die persische Lehre vom Weltbrand und die Frage nach dem »Teil« des Menschen, der ihn überlebt, wird »griechisch« angeeignet: Der Weg dieser Aneignung führte vom persischen Dualismus der Weltalter zum griechischen Dualismus der »Seinsarten« (αἰσθετά und νοούμενα) und zum Dualismus von Geist und Leib, eingeschränkt durch die »Mittelstellung« der Seele zwischen Ideen und Körperwelt. All diese Momente sind dem Griechentum im homerischen Zeitalter fremd. Sie sind nicht ursprünglich »griechisch« (etwa im Sinne des oft behaupteten Gegensatzes zwischen »griechischem« und »hebräi166 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweiter Teil: Der Gott der Philosophen
schem« Denken), sondern Anzeichen einer kritischen Phase in der griechischen Geschichte, für die die Begegnung mit den Persern wichtig wurde.
2.
Die Wendung von der mythischen »Archaiologia« zur logisch-ontologischen »Prinzipienlehre«
Das Wort »Arché« gewinnt bei den Philosophen eine neue Bedeutung: Nicht mehr »Geschehen im Urbeginn«, sondern »zeitlos-ewiges Prinzip«, aus dem sich das ableiten läßt, was uns in der Erfahrung begegnet. Damit verbindet sich die These: Was die Alten mit ihren Mythen vom »Ur-Beginn« haben sagen wollen, kommt erst in der philosophischen Prinzipienlehre zum klaren Ausdruck. Aber auch das Umgekehrte gilt: Was die philosophische Prinzipienlehre wirklich sagen will, kommt erst in neuen, philosophisch ersonnenen Mythen zum Abschluß. Denn der Mythos vermag, was der Logos nicht kann: die Verflechtung von Gegensätzen auszusagen, indem er sie ins Nacheinander auseinanderlegt. Aus dieser These ergab sich schon bei Platon (und verstärkt bei Neuplatonikern) die Aufgabe, philosophische Dialoge oder Abhandlungen mit einem Mythos abzuschließen. Dem Weg »vom Mythos zum Logos« hat dann eine Rückwendung »vom Logos zum Mythos« entsprochen 70.
3.
Die Bedeutung der entstehenden Philosophie für das Selbstverständnis der Religion
Für das Selbstverständnis der Religionen sind nicht so sehr die Aussagen der Philosophen über Gott bzw. die Götter maßgeblich geworden, als vielmehr ihre Aussagen über die oberste »Arché«. So konnten z. B. jüdische und christliche Theologen unbeeindruckt darüber hinwegsehen, daß nach Platon der Gott »unter den Ideen seht«, um zwischen Ideenhimmel und stofflicher Welt zu vermitteln, oder daß nach Aristoteles der Erste Unbewegte Beweger die Fixstern-Sphäre bewege, während sieben weitere unbewegte Beweger die sieben PlaGegen diese philosophischen Mythen richtet sich die Selbstabgrenzung des Petrus, er teile nicht »klug ersonnene Mythen« mit, sondern sei Augenzeuge der berichteten Ereignisse gewesen (2 Petr 1,16).
70
167 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
netensphären in Umlauf halten. Dagegen nahmen sie es bereitwillig auf, wenn Philosophen sagten, das höchste Prinzip sei Eines, es sei transzendent und sittlich vollkommen und die Quelle aller Erkennbarkeit und Erkenntniskraft. Leser, die aus ihrer religiösen Tradition schon wußten, was sie meinen, wenn sie »Gott« sagen, konnten in solchen Aussagen der Philosophen Prädikate des Gottes erkennen, den sie verehrten. Das ist der ursprüngliche, später oft vergessene Sinn der Aussage, mit der sehr häufig die »philosophischen Gottesbeweise« abgeschlossen werden: »Und das [nämlich das, wovon die Philosophen sprechen und dessen Realität sie beweisen] ist es, was alle [nämlich alle, die die Bedeutung der Vokabel »Gott« aus ihrer eigenen jüdisch-christlichen Tradition kennen] ›Gott‹ nennen.« Dieser Schlußsatz vieler Gottesbeweise fügt dem philosophischen Argument kein neues Glied hinzu, sondern spricht ein Wiedererkennen aus, kraft dessen diejenigen, die ohnedies schon von Gott sprechen, diesen Gott in den Prinzipien, von denen die Philosophen sprechen, angemessen ausgedrückt finden. Dieses Wiedererkennen bietet beiden Teilen erhebliche methodische Vorteile. Die philosophische Prinzipienlehre kann vor dem Vorwurf bewahrt werden, sie habe es mit realitätsfremden Gedankenkonstruktionen zu tun. Sie entgeht diesem Vorwurf, wenn ihr der Nachweis gelingt, daß sie zugleich Inhalte der religiösen Erfahrung auslegen kann, und zwar so, daß diejenigen, die solche Erfahrungen machen, in dieser Auslegung den wahren Bedeutungsgehalt dessen wiedererkennen, was sie erfahren haben. Andererseits bleiben die Zeugnisse religiöser Erfahrungen, die in religiösen Überlieferungsgemeinschaften weitergegeben werden, vor dem Vorwurf bewahrt, sie sprächen von einer Wirklichkeit, die nur in einer »religiösen Binnensphäre« bedeutsam sind: Die Zeugen der religiösen Überlieferung können diesem Vorwurf entgegentreten, wenn ihnen der Nachweis gelingt, daß der Gott, von dem sie sprechen, mit demjenigen »Prinzip« identisch ist, das auch die Inhalte ganz profanen Wissens erst verständlich macht. Gottesbeweise und insbesondere deren traditioneller Schlußsatz, »Und das ist es, was alle ›Gott‹ nennen«, gestatten es der Philosophie ebenso wie der religiösen Überlieferung, sich in ihrer Begegnung untereinander einer Bewährungsprobe zu unterziehen. Als Maßstab einer solchen Bewährung ist der »Gott der Philosophen« auch für die Religion selbst und deshalb für die Religionsphilosophie relevant geworden. 168 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweiter Teil: Der Gott der Philosophen
B
Der »Gott der Philosophen« in der frühen Neuzeit
1.
Der Anlaß für die Entstehung der philosophischen Theologie der Neuzeit: Die »kopernikanische Wendung« der Astronomie 71
Am Anfang der neuzeitlichen Philosophie steht die Erfahrung, daß das vermeintlich Evidenteste, der tägliche Umschwung der FixsternKuppel, sich als eine optische Täuschung erwiesen hat. Wenn wir wissen wollen, wie die Bahnen der Sterne wirklich verlaufen, müssen wir die Beobachtungen, die wir machen, in einen Zusammenhang einordnen, den wir nicht einfach sehen können, sondern nach mathematischen Gesetzen konstruieren müssen. Wir konstruieren zunächst in Gedanken Modelle, die man sodann auch technisch nachbauen kann. Solche Modelle zu bauen, war der Stolz der Astronomen der frühen Neuzeit. Das konstruierte Modell gestattete es ihnen, das Planetensystem »von außen zu betrachten« und in das Modell auch den eigenen terrestrischen Standort einzuordnen. Dadurch konnten sie begreiflich machen, warum der Himmel und die Sternbilder und Sternbahnen »für uns« so aussehen, wie sie »an sich« gar nicht sind. Das Modell bewährte sich, sofern sich auch die subjektive Perspektive, unter der wir die Dinge sehen, aus ihm ableiten ließ. Das Modell gestattet es, auf diese Weise den sinnenhaften Eindruck, den wir empfangen, als subjektiv zu durchschauen. Die subjektiven »Sinnesdaten« aber gestatten es, das Modell zu kritisieren und gegebenenfalls zu verändern. In diesem Wechselspiel von Sinnesdaten und konstruierten Modellen baut sich unser Bild davon auf, »wie die Welt wirklich ist«. Eine philosophische Reflexion auf diese Verfahren und Ergebnisse der neuzeitlichen Wissenschaft führt nun zu dem Ergebnis: Die Welt, wie wir sie mit den Augen anschauen, erhält ihre perspektivische Struktur durch die Weise unsers Anschauens. Die Welt, wie wir sie in mathematisch konstruierten Modellen begreifen, erhält ihre Struktur durch die mathematischen und logischen Gesetze unseres Denkens. Insofern haben wir es in beiden Weisen, die Welt zu sehen, immer mit einer durch uns konstituierten Welt zu tun. Daraus aber scheint zu folgen, daß diese Welt auch nur für uns so ist, wie sie sich unserem Erkennen zeigt. Daraus entsteht die Frage: Wie können Vgl. dazu R. Schaeffler, Die Kopernikanische Wendung der Wissenschaft und die philosophische Frage nach der Subjektivität, in: Paul Gilbert, L’uomo moderno e la chiesa, Gregorian Press Roma 2012, 363–385.
71
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Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
wir wissen, daß die so erkannte Welt der Weise entspricht, wie diese Welt »wirklich« und »an sich« ist? Versucht man auf diese Frage mit dem Hinweis zu antworten, daß wir weder unsere optische noch unsere intellektuelle Perspektive willkürlich gewählt haben, daß vielmehr beide Arten der Perspektivität für alle endlichen, auf Sinneswahrnehmungen angewiesenen Vernunftsubjekte unausweichlich seien, dann lautet die weiterführende Frage: Wie können wir sicher sein, daß diese Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der Verfahren und Ergebnisse unseres Erkennens etwas anderes sind als der Ausdruck einer unüberwindlichen und alle Menschen beherrschenden Befangenheit, die uns in eine Welt, die in dieser Gestalt nur »für uns« ist, einschließt und uns jeden Weg zur Wahrheit, d. h. zur Erkenntnis der Welt, wie sie an sich ist, endgültig versperrt? Sind die Bedingungen unseres Erkennens zugleich die Gründe einer unüberwindlichen Befangenheit? Es ist diese Frage nach der Überwindung einer auf den Bedingungen des Erkennens selbst beruhenden Befangenheit, die die Philosophie der frühen Neuzeit beherrschte (von Descartes bis zum jungen Kant). Die »philosophische Theologie« sollte bei Descartes, Leibniz und Spinoza dazu dienen, diese Frage zu beantworten. Schon jetzt aber kann gesagt werden: Wer diese früh-neuzeitliche philosophische Theologie kritisieren will (wie z. B. der Kant der »drei Kritiken«), wird zusehen müssen, auf welche Weise er diese Frage besser beantworten kann.
2.
Wie spricht Descartes von Gott?
a)
Die Irrtums-Erfahrung als »Nervus« des Gottesbeweises
Das erste Wort der »Meditationes« lautet nicht »Ich weiß nicht«, sondern »Ich habe die Erfahrung gemacht (Animadverti)«, nämlich die Erfahrung häufiger Irrtümer, nicht nur in der Astronomie. Und die erste Reaktion auf diese Erfahrung ist der willentliche Entschluß zum universalen Zweifel: »Voluntate plane in contrarium versa me ipsum fallam, illasque (opiniones) aliquamdiu omnino falsas imaginariasque esse fingam« – »Ich werfe meinen Willen auf die geradewegs entgegengesetzte Seite und gehe für einige Zeit von der Fiktion aus, alle meine Meinungen seien ganz und gar falsch und eingebildet« (Meditatio I, 11). 170 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweiter Teil: Der Gott der Philosophen
Der Gegenstand dieses Zweifels ist nicht nur die Sinneserkenntnis, sondern auch und vor allem die geistige Erkenntnis und die sie leitende Denknotwendigkeit. Die logischen Gesetze sind Konstruktionsanweisungen für Modelle, die wir selber hervorbringen. Wir können diese Gesetze nicht ändern. Dennoch braucht das, was für uns denknotwendig ist, nicht wahr zu sein. Alles Denken und Argumentieren setzt mich voraus, so wie ich wirklich bin, »talis qualis sum«. Wäre ich anders, würde ich Anderes für denknotwendig halten. Diese Kontingenz unsere Denkform legt den Gedanken an eine Ursache nahe, die mich »so wie ich bin« hervorgebracht hat, aber auch anders hätte hervorbringen können. Dann entsteht die Frage: Von welcher Art ist diese Ursache? Erste Argumentationsschritte auf dem Weg zu Descartes’ Gottesbeweis: Die erst noch zu suchende Ursache dafür, daß ich so bin, wie ich bin, hat mich als ein denkendes Wesen gewollt. Deshalb kann sie mich darüber, daß ich ein denkendes Wesen bin, nicht täuschen, selbst wenn sie es wollte: Selbst wenn der Schöpfer mich täuschen wollte, müßte er wollen, daß ich denke, weil auch das Sich-Täuschen ein Akt des Denkens ist. »Cogitatio est, haec sola a me divelli nequit« – »Das Denken allein ist es, das mir nicht geraubt werden kann« (Med. II, 6). Zum Denken aber gehört die Fähigkeit zu radikaler Selbstkritik, die sich im Entschluß zum Zweifel äußert. Diese Fähigkeit zur Selbstkritik schließt, als Kontrast, den Gedanken des vollkommenen denkenden Wesens ein, mit dem ich mich vergleiche, um meine Unvollkommenheit festzustellen. Der entscheidende Argumentationsschritt jedoch wird durch die Aussage getan: Der reale Vollzug dieses Gedankens erfordert die Realität seiner Ursache. Denn das endliche Wesen ist nicht der zureichende Grund für den Gedanken an das Unendliche. Also erfordert dieser Gedanke, als seine allein zureichende Ursache, die reale Existenz des unendlich vollkommenen Wesens. Denn was ich denke, ist Ausdruck dessen, was ich bin. Darum ist die Notwendigkeit, Gott zu denken, der Ausdruck einer notwendigen Gottesbeziehung, die ebenso real ist wie das Cogito selbst. Diese reale Gottesbeziehung erfordert einen realen Grund, der nur in der Wirklichkeit Gottes selber liegen kann. Ist aber der reale Grund meiner Fähigkeit zum Denken ein unendlich vollkommenes Wesen, dann kann dieses mich nicht so gewollt haben, daß ich in unüberwindliche Irrtümer verstrickt bin. Denn unendliche Vollkommenheit schließt Wahrhaftigkeit ein. Folgerung: Gerade meine Fähigkeit zum Zweifel 171 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
beweist, daß ich diese Fähigkeit einem unendlich vollkommenen und daher wahrhaftigen Wesen verdanke. Und nur diese Einsicht rechtfertigt es, daß ich, trotz all meiner Irrtümer, meiner Vernunft vertrauen kann. b)
Die Wiederkehr des Théodizée-Problems auf dem Felde der theoretischen Philosophie
Wenn Gott mich »talis qualis sum«, nämlich als denkendes Wesen, geschaffen hat, scheint er für meine Irrtümer verantwortlich zu sein. Dann aber ist er nicht das unendlich vollkommene Wesen. So scheint die Irrtumserfahrung den Gottesbeweis zu widerlegen. »Si hoc eius bonitati repugnaret, talem me creasse ut semper fallam, ab eadem etiam videtur alienum, permittere ut interdum fallar« – »Wenn es seiner Güte widerspräche, mich so zu schaffen, daß ich mich immer täusche, dann scheint es mit der gleichen Güte unvereinbar, zuzulassen, daß ich mich manchmal täusche« (Med. I, 9). Den Ansatz einer Lösung bietet der klassische Satz der platonischen Théodizée: »Der Gott ist schuldlos, die Schuld liegt beim Wählenden« (Politeia X, 617 e). Die cartesische Aneignung: Der Irrtum entsteht aus einem »sündhaften« Gebrauch der Willensfreiheit und ist Gottes Strafe für diese »Sünde« (Med. IV, 9). Gott hat mir die Möglichkeit gegeben, diese »Sünde« zu vermeiden, indem ich mein Urteil auf das beschränke, was ich als Ergebnis der gottgegebenen Denkgesetze einsehe. Eine Folgerung: Erst die Gotteserkenntnis läßt uns alle anderen Erkenntnisse adäquat verstehen: »Ita plane video omnis scientiae certitudinem et veritatem ab una veri Dei cognitione pendere, adeo ut, priusquam illum nossem, nihil de ulla alia re perfecte scire potuerim« – »So sehe ich ganz deutlich, daß die Gewißheit und Wahrheit jeden Wissens von der einen Erkenntnis des wahren Gottes abhängt. Und das gilt so sehr, daß ich von keiner anderen Sache irgendetwas auf vollkommene Weise wissen konnte, ehe ich ihn erkannte« (Med. V, 16, vgl. V, 13). Daraus wird verständlich, daß die Gottesbeweise, aber auch ihre Kritik, in keiner andern Epoche der Philosophiegeschichte eine so zentrale Bedeutung gewonnen haben wie in der frühen Aufklärungszeit.
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Zweiter Teil: Der Gott der Philosophen
3.
Wie spricht Spinoza von Gott?
Spinoza stellt die Gottesfrage im Zusammenhang mit der Frage nach dem wahren Glück des Menschen 72. Wahres Glück kann nicht in äußeren Glücksumständen gesucht werden, um deren Verlust wir in ständiger Sorge sein müssen, sondern nur in freier Selbsttätigkeit. Daraus ergibt sich die Frage: Wie werden endliche Wesen zu solcher Freiheit und damit zum Glück fähig? Und die Antwort: Nur in Akten der selbstlos-liebenden Hingabe. Denn diese Liebe ist Quelle einer Freude, die im Liebenden ganz neue, bisher ungekannte Kräfte weckt. Diese Liebe ist keine Leidenschaft, die den Menschen wieder unfrei und traurig machen würde, sondern beruht auf der wahren Erkenntnis der Dinge, ist »Amor intellectualis« 73. Von hier aus wird verständlich, daß die Gottesliebe in allen Phasen der Entwicklung Spinozas das zentrale Thema seines Philosophierens gewesen ist. Denn die Gottesliebe ist es, die allein froh und frei machen kann. Daran schließen sich zwei weitere Fragen an, die erkenntnistheoretische Frage: Welche Art des Erkennens führt dazu, das Erkannte als Quelle der eigenen Selbsttätigkeit und damit des eigenen Glücks zu erfahren?, und die ontologische Frage: Welche Art von Wirklichkeit ist fähig, uns auf solche Weise zur selbstbestimmten Selbstlosigkeit der Liebe und damit zu Freiheit und Glück zu befähigen? Diese beiden Fragen zeichnen den Kontext vor, in dem Spinoza von Gott spricht. Auf die erkenntnistheoretische Frage antwortet Spinoza durch Vgl. dazu, neben der »Ethica mire geometrico demonstrata«, den »Kurzen Traktat über Gott, den Menschen und sein Glück«. 73 Stanislaus v. Dunin-Borkowski SJ (1864–1934) weist in seinem Spinoza-Kommentar auf die bleibende Bedeutung einer Jugendlektüre Spinozas hin, der »Dialoghi d’amore« (Dialoge über die Liebe) des »Leone Ebreo« (wahrer Name: Levi Isaak aus der portugiesisch-jüdischen Familie Abrabanel). Der Inhalt dieser Dialoge: Die Klage eines jüdischen Vaters, der bei der Flucht vor einem Judenpogrom in Portugal seinen unmündigen Sohn verloren hat und dann erfährt, daß das Kind als Waisenkind von Christen aufgenommen und im christlichen Glauben erzogen worden ist. Zum physischen Verlust des Kindes, das der Vater nie wieder sehen wird, ist so der religiöse Verlust eines Sohnes gekommen, der »dem jüdischen Glauben geraubt« worden ist. Der mit ergreifenden Worten klagende Vater findet seinen Seelenfrieden wieder durch das »Große Gebot im Gesetz«: »Du sollst den Herrn, Deinen Gott lieben mit der Ganzheit Deines Herzens, mit der Ganzheit Deiner Person, mit der Ganzheit deiner Kräfte.« Die Liebe zu Gott erfüllt den Liebenden mit einer selbstlosen Freude an Gottes Größe, und diese Freude ist größer als alles Leid, das ihm widerfahren kann. 72
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Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
seine Lehre vom vierstufigen Aufstieg des Erkennens: Die Erkenntnis vom Hörensagen ist irrtumsfähig und motivationsschwach. Die Erkenntnis durch die Sinne ist motivationsstark, weil die Sache in uns selbst eine seelische Bewegung hervorruft, aber irrtumsfähig. Die Erkenntnis durch rationale Argumente ist irrtumsfrei, aber motivationsschwach, weil die Sache als bloßes Objekt uns äußerlich bleibt. Gibt es eine oberste Erkenntnisart, die ebenso motivationsstark ist wie die Erkenntnis durch die Sinne, weil die Sache selbst unser Denken bewegt, und doch zugleich so irrtumsfrei wie die Vernunftargumente? Das würde voraussetzen, daß die Sache selbst unser Denken hervorruft und selber »etwas von sich in uns bejaht oder verneint«, also eine »Causa immanens« unseres Denkens ist. Entsprechend lautet seine Antwort auf die ontologische Frage: Nur Gott als das unendlich vollkommene Wesen ist von solcher Art, daß er vorbehaltlose Hingabe rechtfertigt und dann in jener Selbsttätigkeit, zu der die Liebe den Menschen fähig macht, »immanent« wirksam ist. Alle endlichen Dinge können diese befreiende Kraft nur ausüben, sofern sie »Modi« der Weise sind, wie Gott durch alle Dinge seine befreiende Kraft am menschlichen Geist wirksam werden läßt. Und das menschliche Wissen auf seiner höchsten Stufe kommt dadurch zustande, daß Gott in unserem Erkennen so zu Worte kommt, daß er »etwas von sich selber bejaht oder verneint«. Darum ist das menschliche Wissen auf dieser obersten Stufe ein endlicher »Modus« der Weise, wie Gott sich selber weiß. Von hier aus werden zwei Aussagen Spinozas verständlich: (1) »Im gleichen Maße, in dem wir bemerken, daß alles, was uns traurig macht, seine Ursache in Gott hat, im selbem Maße werden wir froh«. Denn auch darin wird Gottes Größe erfahrbar, die für den Liebenden die Ursache seiner Freude ist (vgl. die Erfahrung des leidenden Vaters in den »Dialoghi d’amore«). (2) »Wer Gott liebt, kann nicht wollen, daß er ihn wiederliebt«: Wer Gott selbstlos liebt, kann nicht wollen, daß Gott sich durch seine Liebe verletzlich macht, dann aus verletzter Liebe zürnt und sich schließlich, weil er auch im Zorn nicht aufhört zu lieben, sich seines Zornes gereuen läßt«, also in Affekte fällt und seine Freiheit verliert 74. Anmerkung: Der Gott der Bibel liebt, zürnt und läßt sich seines Zornes gereuen. Weil nun Spinoza dies alles um der Größe Gottes willen »nicht wollen kann«, ist die jüdische Gemeinde von Amsterdam zu dem Urteil gekommen, Spinoza spreche nicht mehr von dem Gott, von dem der jüdische Glaube spricht, und hat ihn deshalb ex-
74
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Zweiter Teil: Der Gott der Philosophen
4.
Wie spricht Leibniz von Gott?
Leibniz will bewußt eine Gegenposition zu Spinoza einnehmen. Die Dinge sind nicht nur »Modi«, wie Gott sein inneres Leben (Natura naturans) in der äußerlich erfahrbaren Welt und ihrer lebendigen Prozeßhaftigkeit (Natura naturata) zur Erscheinung bringt. Sie sind in sich bestehende Wesen, »Substanzen«. Die denkende Seele ist kein bloßer »Modus«, wie Gottes unendliches Selbstwissen im endlichen Denken des Menschen erscheint, sondern ihrer selbst bewußt werdende Substanz. Das Kennzeichen der Eigenständigkeit im Sein (Substanzialität) ist die »vollkommene Selbsttätigkeit« im Tun (parfaite spontanéité, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, Satz 1). Eine Substanz ist ein Wesen, daß zu eigenen Tätigkeiten fähig ist (capable d’action, Nouveau système, Satz 1). Das Kennzeichen der Seele ist bewußter Vollzug dieser Selbsttätigkeit, also Freiheit des Willens (De libertate). Daraus ergibt sich die Frage: Wie werden Substanzen zu Gliedern einer »Welt«, eines Gefüges energetischer Korrelationen? So fragt Leibniz als philosophierender Jurist: Wie werden souveräne Staaten zu Gliedern einer Staatengemeinschaft? Und er fragt als philosophierender Physiker: Wie können »vollkommen selbsttägige« Substanzen in ein Verhältnis des Wirkens und Leidens zu anderen Substanzen treten? Diese Frage nach dem Verhältnis zwischen der »vollkommenen Selbsttätigkeit« der Substanz und ihrer Einfügung in den energetischen Zusammenhang einer Welt bestimmt den Kontext, in dem Leibniz von Gott redet. Seine Antwort aber lautet: Ein solcher energetischer Zusammenhang von Substanzen ist nur unter zwei Voraussetzungen denkbar:
kommuniziert. Aber auch noch als eine im Sinne des Judentums nicht bibelgemäße (»häretische«) Theorie bleibt diese Philosophie eine Aneignung des jüdischen Grundbekenntnisses: »Der Herr unser Gott ist ein einziger Herr. Und du sollst lieben, den Herrn, deinen Gott, mit der Ganzheit deines Herzens, der Ganzheit deiner Kräfte, der Ganzheit deiner Person« und der rabbinischen Auslegung: Die Ganzheit der Person wird nur in der ungeteilten Liebe zu Gott gewonnen, in einer Liebe, die keinen Lohn sucht, sondern an Gottes Aufträgen ihre selbstlose Freude hat. In den »Sprüchen der Väter« heißt dies: »Der Lohn für einen erfüllten Auftrag ist ein neuer Auftrag«. Bei Spinoza: »Das Glück ist nicht der Lohn der Tugend (der Gottesliebe), sondern die Tugend selbst.«
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Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
1.
Die Selbständigkeit der Substanzen im Sein und ihre Selbsttätigkeit im Verhalten ist die Folge davon, daß Gott jede Substanz in ihrer Individualität (nicht nur als Teil der Welt) geschaffen hat. 2. Aber der gleiche Gott hat auch alle anderen Substanzen geschaffen und bei jedem einzelnen Akt des Erschaffens zugleich an alle anderen gedacht. Darum ist dieser Gedanke Gottes an alle anderen Substanzen jeder einzelnen Substanz eingeschaffen. Jede Substanz ist »ein beständiger und lebendiger Spiegel des Universums« (Monadologie Nr. 56). Unter dieser zweifachen Voraussetzung wird verständlich: Die Selbsttätigkeit, in der jede einzelne Substanz ihr eigenes Leben vollzieht, realisiert zugleich die ihr eingeschaffene Beziehung zu allen anderen Substanzen. Was uns als ein Verhältnis des äußeren Wirkens und Leidens erscheint, ist in Wahrheit ein Verhältnis innerer Momente im Leben jeder einzelnen Substanz. So entsteht eine »prästabilierte Harmonie« zwischen Monaden, die aufeinender zu wirken scheinen, während sie in Wahrheit »keine Fenster« haben. Die Explikation dieser Antwort durch den philosophierenden Juristen: Die Weise, wie Gott jeder einzelnen Substanz seinen Gedanken an alle anderen eingeschaffen hat, entspricht einer »jurisprudence divine«, die im Ursprung aller Dinge ausgeübt worden ist (vgl. De rerum originatione radicali – Über die Hervorbringung der Dinge in ihrer Wurzel). Als Gott sich entschloß, eine bestimmte Welt zu schaffen, mußte er sich zugleich dazu entschließen, aus der unendlichen Weite des Möglichen zur unvermeidlichen Enge des Wirklichen überzugehen, innerhalb derer Konflikte unvermeidlich sein würden. Darum konkurrierten die Substanzen, die Gott schaffen wollte, schon in seinen Gedanken darum, möglichst viel von dem realisieren zu können, was als Möglichkeit in ihnen steckte. Das aber ist, die Enge des Wirklichen im Unterschied von der Weite des Möglichen vorausgesetzt, nur dadurch möglich, daß Gott schon in seinen Gedanken die konkurrierenden Ansprüche der erst zu schaffender Substanzen einschränkte. In dieser Lage verhielt sich Gott wie ein weiser Richter, der streitende Parteien zu einem Vergleich bringt, dem beide zustimmen können, sodaß kein Urteil mehr nötig ist. Ein solcher Vergleich kommt nur zustande, wenn die Konflikte minimiert werden und der gemeinsam erreichte Effekt maximiert wird. In diesem Sinne ist die von Gott geschaffene Welt »die beste aller denkbaren Welten« – nicht die beste, von der man träumen könnte, sondern die beste unter denen, die 176 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweiter Teil: Der Gott der Philosophen
unter den Bedingungen der Endlichkeit und der daraus resultierenden Konflikte geschaffen werden konnten. Die These ist nun: An den Gesetzen der Natur ist diese Absicht des göttlichen Schlichters ablesbar. Die Aufgabe des philosophierenden Physikers besteht deswegen darin, diese These an den Befunden der Naturforschung zu überprüfen. Das gelingt, wenn sich zeigen läßt: Die Kausalgesetze der Natur lassen sich auch als teleologische Gesetze formulieren, an denen die Absichten des göttlichen Friedensstifters ablesbar sind. Ein Beispiel aus der Optik: Die Gesetze der Lichtbrechung lassen sich kausal erklären aus dem größeren Widerstand, den das dichtere Medium dem Lichtstrahl entgegensetzt. Sie lassen sich auch final formulieren: Der Lichtstrahl nimmt, gerade durch die ihm widerfahrende Brechung, immer den Weg, auf dem er sein Ziel in kürzester Zeit erreicht. Der Lichtstrahl, der die Brechung zunächst als Durchkreuzung seiner »Absicht« erfährt, geradlinig weiterzulaufen, kann diesem »Vergleich« zustimmen, weil so sein »Zweck«, möglichst wenig Zeit zu verbrauchen, am besten erreicht wird. Ein Beispiel aus der Mechanik: Das »Parallelogramm der Kräfte«, das beschreibt, auf welche Weise zwei aufeinanderstoßende bewegte Körper sich weiterbewegen, läßt sich kausal erklären aus dem Verhältnis von trägen Massen und dem Widerstand, den sie einander entgegensetzen. Es läßt sich aber auch final beschreiben. Der Konflikt wird minimiert: Beim Zusammenprall der Körper gehen nur diejenigen Teile ihrer Impuls-Anteile verloren, die einander diametral entgegengesetzt sind (wie bei einem frontalen Zusammenstoß). Der gemeinsame Effekt wird maximiert: Diejenigen Impuls-Anteile, die einander nicht diametral entgegensetzt sind, summieren sich zu einem größeren Impuls: In der gemeinsamen Richtung, die sie nun einschlagen, kommen beide Körper schneller voran. Die Diagonale im Parallelogramm ist größer als jede ihrer Seiten – auch dies ein »zustimmungsfähiger Vergleich«. Darum kommt in dieser Art von Naturgesetzen nicht nur Gottes Weisheit zum Ausdruck, sondern auch seine Gerechtigkeit.
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5.
Wie spricht Kant über Gott?
a)
Vorbemerkung: »Alte« und »neue« Transzendentalphilosophie
Kant spricht wirklich von Gott (entgegen der verbreiteten Meinung, er habe »dem Menschen von seiten der Vernunft jeden Zugang zu Gott verschlossen«). Und dieses philosophische Sprechen von Gott ist ihm so wichtig, daß er von seiner besonderen Weise des Philosophierens, die er »Transzendentalphilosophie« nennt, abschließend sagen kann: »Die transzendentale Theologie ist der höchste Punkt der Transzendentalphilosophie« (opus postumum, 7. Konvolut, Blatt 5). Aber die philosophische Rede von Gott hat bei ihm einen anderen systematischen Ort als in der Überlieferung. Die Philosophen des Mittelalters fanden einen Zugang zum Thema »Gott« im Rahmen ihrer »Transzendentalienlehre«, d. h. der Lehre von Prädikaten, die von jedem Seienden ausgesagt werden können und insofern alle Differenz zwischen den Arten des Seienden »transzendieren«. Dabei zeigte sich: Diese Prädikate treffen auf endliche Seiende nur in mehr oder weniger hohem Grade zu. Uneingeschränkt gelten sie nur vom »Ens absolutum«, also von Gott. Kant, der diese Transzendentalienlehre die »Transzendentalphilosophie der Alten« nennt, setzt ihr eine neue Weise der Transzendentalphilosophie gegenüber. Ihr Thema sind die Bedingungen, die es uns möglich machen, subjektive Eindrücke, die wir empfangen, so umzugestalten, daß daraus Inhalte einer objektiv gültigen Erfahrung werden. Gelingt dies, dann können wir diese Erfahrungen als Kriterien gebrauchen, an denen wir alle Versuche der Theoriebildung kritisch überprüfen. Kant findet diese Bedingungen in unseren Anschauungsformen und Kategorien, vor allem aber in den Ideen, die unserem Anschauen und Denken die Zielperspektive geben. So entsteht die Frage: Kann die Frage nach Gott in der so verstandenen Transzendentalphilosophie eine Stelle finden? b)
Kants Transzendentalphilosophie als neuer Kontext einer Philosophischen Theologie?
Zunächst entsteht der Anschein, die kantische Auffassung von Transzendentalphilosophie schließe jedes philosophische Reden von Gott von vornherein aus. Denn alle versuchten Gottesbeweise beruhen nach Kants Überzeugung auf einer Verwechselung zwischen der logi178 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweiter Teil: Der Gott der Philosophen
schen Unentbehrlichkeit einer regulativen Idee und der vermeintlichen ontologischen Notwendigkeit der Existenz des mit dieser Idee Gedachten. Der Gottesbegriff ist eine Idee, d. h. er bezeichnet das Ziel, an dem wir uns orientieren müssen, um unserer Verstandestätigkeit die Richtung zu weisen und daraus die notwendigen Begriffe zur Annäherung an dieses Ziel zu gewinnen. Aber ein solcher Zielbegriff ist »ein focus imaginarius, in den alle Linien unserer Verstandestätigkeit zusammenlaufen« (KdrV A 644 f.). Die Notwendigkeit, uns an einem solchen perspektivischen Fluchtpunkt zu orientieren, beweist nicht, daß wir dort ein notwendig existierendes Wesen antreffen. Kant verabschiedet also zuerst die Ontologie. Die Philosophie »muß den stolzen Namen einer Ontologie ablegen und den bescheidenen einer Analytik des reinen Verstandes annehmen« (KdrV A 247). Und folgerichtig verabschiedet er die bisherige philosophische Theologie als Lehre vom »höchsten, vollkommensten Seienden«. Eine weiterführende Frage jedoch ergibt sich, wenn wir bemerken: Wir machen von unserer Vernunft auf verschiedene Weisen Gebrauch: auf theoretische und auf praktische Weise. Und jede dieser Weisen des Vernunftgebrauchs gibt den Ideen der Vernunft eine je besondere Gestalt. Die »Welt« ist im theoretischen Vernunftgebrauch »Natur«, d. h. der Gesamtzusammenhang kausal verknüpfter Phänomene. Ihr ist das »Ich« als universal vertretbares Forschersubjekt zugeordnet. Die »Welt« ist im praktischen Vernunftgebrauch »Welt der Zwecke«, d. h. der Gesamtzusammenhang verpflichtender Handlungsziele. Ihr entspricht das »Ich« als unvertretbarer Adressat des Imperativs »Du sollst«. (Anmerkung: Es handelt sich nach Kants Überzeugung nicht um zwei verschiedene »Vermögen« der »Seele«, etwa um eine Vernunft und einen von dieser verschiedenen Willen, sondern um die eine Vernunft in zwei verschiedenen Weisen ihres Gebrauchs.) Diese Differenz der Weisen des Vernunftgebrauchs wird zum Problem, sobald wir bemerken: Die beiden »Welten«, die wir durch unseren Vernunftgebrauch aufbauen, folgen einerseits verschiedenen Gesetzen. Die Kausalität, nach der aus Naturphänomenen neue Naturphänomene hervorgehen, ist eine andere als die, nach der erfüllte Pflichten neue Pflichten erzeugen. Andererseits durchdringen diese Welten sich auf unvermeidliche Weise. Denn das Sittengesetz schreibt uns zweierlei zugleich vor: Das Gute aus reiner Gesinnung zu wollen, aber auch es in wirksamen Handlungen zu tun. Das scheint unmöglich, weil die Wirksamkeit der Handlung von ganz anderen Bedingungen abhängt als die Reinheit der Gesinnung. 179 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
Unabhängig von Kant, aber in seinem Sinne, kann man das Problem in folgender Weise beschreiben: In der Welt, wie sie ist, haben es die Gewissenlosen leichter, wirksam zu handeln als die Gewissenhaften; und wenn der gute Zweck gegen den Widerstand der Gewissenlosen durchgesetzt werden muß, werden die Gewissenhaften immer unterliegen. Der Widerstreit verschärft sich, wenn man das Ganze der sittlich verpflichtenden Handlungsziele, die »Welt der Zwecke«, in Betracht zieht. Die sittliche Tat soll einen Beitrag zur Aufrichtung einer »moralischen Weltordnung« leisten, in der nicht länger Unschuldige leiden, sondern jeder in dem Maße glücklich sein wird, das dem Maß seiner Sittlichkeit »proportioniert« ist. Aber wie soll eine Welt aussehen, in der diese »Proportioniertheit« von Sittlichkeit und Glück sich nicht nur gelegentlich und zufällig ergibt, sondern ein »notwendiger Zusammenhang« zwischen beiden »Bestandstücken« des sittlichen »Endzwecks« besteht? Der Widerspruch verschärft sich ein weiteres Mal, wenn wir nicht nur den Übergang von der Gesinnung zur Tat betrachten, sondern schon die Forderung reiner sittlicher Gesinnung selbst. Denn schon daß wir diese Forderung als ein »Gesetz« erfahren, das uns auferlegt wird, statt das Gute »leicht und mit Freuden zu tun« (eine alte Definition der Tugend), beweist, daß wir die Tugend nicht schon haben, sondern durch einen Akt der Umkehr (des »Sinneswandels«) erst erwerben müssen. Aber um diesen Akt der Umkehr frei zu wollen, müßten wir die gute Gesinnung schon haben – und dann bräuchten wir nicht mehr umzukehren. Haben wir sie aber nicht, dann können wir nicht umkehren, weil der freie Wille zur Umkehr jene gute Gesinnung, aus der er hervorgehen soll, schon voraussetzen würde. Die Beschreibung dieser Widersprüche ist das Thema der »Kritik der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch«. Aus all diesen Widersprüchen aber folgt: Das Sittengesetz scheint »phantastisch und auf leere, eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich selber falsch« zu sein (KdpV A 205). Auf solchen »Vernünfteleien [Raisonnements] der Schulen« beruht der unter Gebildeten verbreitete moralische Skeptizismus. Und die Frage ist: Wie kann gegenüber diesen Raisonnements die moralische Einsicht des einfachen Mannes ins Recht gesetzt werden, der genau weiß, was Gut und Böse ist? Wie entgeht das in der sittlichen Erfahrung zur Gewißheit werdende »Faktum der Pflicht« dem Anschein des bloßen Scheins? Diese Frage zeichnet den Kontext vor, innerhalb dessen Kant von der Existenz und dem Wesen Gottes spricht. 180 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweiter Teil: Der Gott der Philosophen
c)
Kant spricht von Gott, indem er die einzig mögliche Bedingung für die Auflösung der Vernunftdialektik benennt
α)
Kants Grundpostulat: Die »Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote« (KdpV A 233 = Rel B 229) Daß wir unsere Pflichten als göttliche Gebote verstehen dürfen, läßt sich nicht theoretisch beweisen, wohl aber »postulieren«, d.h in praktischer Hinsicht voraussetzen, weil nur diese Voraussetzung uns davor bewahrt, das Sittengesetz für »phantastisch« und daher »an sich falsch« zu halten. Dazu eine über den kantischen Text hinausgehende Erläuterung: Kant hört aus dem deutschen Wort »Gebot« noch das lateinische »Mandatum« = »anvertrauter Auftrag« heraus. Wenn wir unsere sittlichen Pflichten als solche göttlichen Aufträge verstehen, dann entspricht dem göttlichen Vertrauen, mit dem Gott dem Menschen seinen Auftrag anvertraut und ihm die Erfüllung dieses Auftrags zutraut, das menschliche Vertrauen, daß ihm nichts Unerfüllbares aufgetragen wird. Der Mensch kann des »unerforschlichen Beistands« gewiß sein, wenn er sich nur für ihn »empfänglich« macht. Darin liegt der Sinn der kantischen Formulierung: »Er [der Mensch] urteilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll« (KdpV A 54), zumeist wiedergegeben in der von Schiller geprägten Kurzformel »Du kannst, denn du sollst«. β) Entfaltung in weitere Postulate Nur wenn wir annehmen, daß unsere Pflichten von einem göttlichen Auftraggeber stammen, der nicht nur das Sittengesetz, sondern auch das Naturgesetz gegeben hat, können wir hoffen, daß Gott auf einem uns ganz unbekannten Wege aus den Taten, die wir aus guter Gesinnung tun, zuletzt auch gute Wirkungen hervorgehen läßt, die zur Verwirklichung der göttlichen Absichten einen wirksamen Beitrag leisten (Auflösung der Antinomie von reiner Gesinnung und wirksamer Tat). Nur unter der gleichen Voraussetzung können wir auf einen »Urteilsspruch aus Gnade« hoffen, auf den wir als sündige Menschen »keinen Rechtsanspruch haben«, der uns aber zu der von Gott geforderten Umkehr erst fähig macht (Auflösung der Antinomie im Begriff der Umkehr).
181 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
γ) Allgemeine Charakteristik der Postulate Sie benennen nicht Inhalte eines Wissens, aber auch nicht eines bloß subjektiven Meinens, sondern eines Glaubens 75. Dieser Glaube ist, ganz im Sinne des Neuen Testaments, »ein Feststehen in der Hoffnung«, deren Grund »eine Tatsache ist, die sich unseren Blicken entzieht«, und doch eine »Tatsache«, die uns »überführt« (Hebr. 1,11). Kants Interpretation: Was uns von der Wirklichkeit dieses Grundes »überführt«, ist das »Faktum der Pflicht«. Dieser Glaube ist vernünftig, weil wir nur so sicher sein dürfen, daß die Aufträge, die Gott uns anvertraut, nicht vergeblich gegeben sind. Dieser »postulatorische Vernunftglaube« tritt bei Kant an die Stelle der traditionellen Gottesbeweise. δ)
Die Bedeutung der kantischen Postulatenlehre für die Religionsphilosophie An früherer Stelle (S. 145 ff.) wurde gefragt: Wie kommt Gott in die Religion? Und die Antwort lautete: Die numinose Willensmacht, die »im Anfang« gewirkt hat, wird als personaler Gott verstanden, wenn ihr Wirken als Äußerung »befreiender Freiheit« erfahren wird. Denn diese Art des Wirkens ist das Unterscheidungsmerkmal der Personalität. (s. o. S. 150 ff.). Nun aber kann hinzugefügt werden: Diese Erfahrung setzt voraus, daß der Mensch seine Freiheit als kontingent und bedroht erfahren hat und Gott als denjenigen versteht, von dem die Neubegründung bzw. Wiederherstellung der menschlichen Freiheit erhofft werden kann. Für das Zeugnis einer solchen Kontingenzerfahrung und die ihr korrespondierende gläubige Hoffnung aber ist Kants Lehre von der Vernunftdialektik und von deren Auflösung durch das Gottespostulat das ausgezeichnete Beispiel. Daraus aber folgt, was manche Kant-Leser überraschen mag: Kants postulatorischer Glaube an Gott als den Rechtfertigungsgrund einer für die sittliche Praxis unentbehrlichen Hoffnung steht dem Gott, der in Religionen als Person verstanden und verehrt wird, näher als der Gottesgedanke der klassischen Metaphysik und der Philosophie der Aufklärungszeit. Und wenn speziell die christliche Botschaft den Glauben als ein »Feststehen in dem, worauf man hofft« versteht – ἐλπιζομένων υπόστασις –, dann kann die Religionsphilosophie, die nach der Eigenart des religiösen Aktes fragt, sofern dieser einen vgl. das Kapitel »Vom Meinen, Wissen und Glauben« in der Kritik der reinen Vernunft A 820 ff.
75
182 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Zweiter Teil: Der Gott der Philosophen
personalen Gott intendiert, von Kants Glaubensverständnis eine Verstehenshilfe erwarten, die ihr weder die klassische Metaphysik noch die philosophische Theologie der Aufklärungszeit hat geben können. ε) Eine über Kant hinaus weiterführende Auslegung Sowohl das Naturgesetz als auch das Sittengesetz sind Ausdruck der Selbstgesetzgebung unserer Vernunft. Zugleich aber sollen sie gemeinsam als der eine Gesamtzusammenhang einer göttlichen Gesetzgebung verstanden werden. Darum müssen die beiden Formen dieser Selbstgesetzgebung der Vernunft (in ihrem theoretischen und praktischen Gebrauch) als Erscheinungsgestalten der einen göttlichen Gesetzgebung gelten. Daß diese Formen unserer Selbstgesetzgebung in Widersprüche zueinander geraten, ist eine Folge davon, daß sie bloße Erscheinungen sind. Daß sie uns dennoch verpflichten, ist eine Folge davon, daß sie wirkliche Erscheinungen sind, in denen der verpflichtende Anspruch Gottes uns erreicht. Dann aber sind auch die Taten, die aus dem Gehorsam gegen das Sittengesetz hervorgehen, Erscheinungsgestalten eines göttlichen Heilswirkens, analog den Sakramenten: »Signa rememorativa, demonstrativa et prognostica« des göttlichen Wirkens. Wird dieser Charakter der Zeichenhaftigkeit vergessen, und werden unsere Taten für die Ursachen der »moralischen Weltordnung« gehalten, dann entsteht der Umschlag von Moralität in Terror, exemplarisch in der Französischen Revolution 76.
6.
Sprechen von Gott »nach Kant« im doppelten Sinne: »nach Kants Meinung« und »in der Zeit nach Kant«
Kant selbst benennt eine offen gebliebene Frage: Eines der letzten Kapitel der »Kritik der reinen Vernunft« trägt die Überschrift »Die Geschichte der reinen Vernunft«, jedoch mit dem Zusatz: »Dieser Titel steht nur hier, um eine Stelle zu bezeichnen, die im System übrig bleibt und künftig ausgefüllt werden muß« (KdrV A 852). Warum gelang es Kant nicht, die »übrig gebliebene Stelle« auszufüllen? Aus Sorge, alle Akte der Freiheit müßten dem »Gesetz der Kausalität« unterworfen werden, wenn sie als Ereignisse in der Zeit 76
Vgl. Streit der Fakultäten, Akad. Ausg. VII, 84.
183 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
gedacht werden, versuchte er, alles, was aus Freiheit geschieht, »außerhalb aller Zeitbestimmung« zu denken: auch die Erfahrung vom »Faktum der Pflicht«, die Sünde, die Umkehr und den »Urteilsspruch aus Gnade«. Dann aber kann eine Geschichte der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch nicht gedacht werden. Daraus ergaben sich die Programme der Philosophie im nachkantischen Zeitalter: Die Idealisten versuchten, dreierlei nachzuweisen, – daß die Dialektik nicht nur eine Anweisung ist, den »transzendentalen Schein« aufzulösen, sondern daß sie zum Wesen der Vernunft gehört, – daß aus dieser Dialektik sich die Geschichte der Vernunft deduzieren läßt und schließlich – daß Gott als das Prinzip dieser Geschichte begriffen werden muß. Dagegen versuchte Marx nachzuweisen, – daß die Dialektik zwar wirklich zum Wesen der Vernunft gehöre, aber – daß sich darin nur die Dialektik von Produktivkräften, Produktionsmitteln und Produktionsverhältnissen spiegle, – daß deshalb das Prinzip dieser Dialektik und mit ihr das Prinzip der Geschichte nicht in Gott liege, sondern in den vorantreibenden Kräften des sozio-ökonomischen Prozesses und schließlich – daß die Meinung, das Prinzip der Geschichte liege in Gott, selber sozio-ökönomisch erklärt werden müsse: aus dem Interesse der Ausbeuter, die dadurch die Ausgebeuteten dazu bewegen wollen, ihr Schicksal als »gottgewollt« hinzunehmen – und aus dem irregeleiteten Interesse der Ausgebeuteten, die die Erfahrung machen, daß sie ihr Schicksal relativ verbessern können (z. B. eher einen Arbeitsplatz finden), wenn sie den »Ideen der Herrschenden« nicht öffentlich widersprechen. Aber auch in dieser Phase der Philosophiegeschichte bleibt die Frage, ob es einen Gott gebe oder nicht, eine Grundfrage der Philosophie überhaupt, keine bloße »Spezialfrage der Religionsphilosophie«. Das änderte sich erst, als nach dem »Zusammenbruch der dialektischen Systeme« (der materialistischen ebensosehr wie der idealistischen) der Positivismus zur herrschenden philosophischen Position wurde. Die weiterführende Frage lautet also: Muß man Positivist werden, wenn man den »Systemzwang« der Idealisten wie der dialektischen Materialisten als Fiktion durchschaut hat? An dieser Frage ent184 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Dritter Teil: Der Gott der Bibel
scheidet es sich, ob heute noch (oder wieder) ein philosophisches Sprechen von Gott möglich ist. Vorausweisender Hinweis: Die Weise, wie die Bibel von Gott spricht, bringt ein radikal geschichtliches Denken zum Ausdruck. Der »Gott der Bibel« ist in erster Linie ein »Gott der Geschichte«. Darum kann die Philosophie nur dann, wenn sie die bei Kant offengebliebene Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Geschichte angemessen beantwortet, diejenigen Begriffe und Argumentationsweisen entwickeln, die auch dem Glaubenden als Hilfen für sein Selbstverständnis angeboten werden können. Erst dann kann die Philosophie denjenigen Anspruch einlösen, der jeweils am Ende der klassischen Gottesbeweise formuliert worden ist: »Und dies«, nämlich das, wovon die Philosophie spricht, »ist es, was alle Gott nennen«, nämlich »alle«, die aus eigener religiösen Erfahrung wissen, was es bedeutet, von Gott und nicht von etwas anderem zu sprechen.
Dritter Teil: Der Gott der Bibel A
Der Gott der Bibel als Herr der Geschichte – ein Proprium biblicum
1.
Ein Anfang nicht »im Urbeginn«, sondern mitten in der Zeit
Die für die biblische Verkündigung entscheidende »Archaiología« ist der Bericht von der Herausführung Israels aus Ägypten. Dieses »Ursprungsereignis« ist (in Umrissen) datierbar: Es beginnt mit einem Dynastiewechsel in Ägypten: »Da stand ein anderer König auf, der von Joseph nichts wußte« (Exodus 1,8), vermutlich das Ende der Fremdherrschaft der Hyksos (ca. 1580 v. Chr.). Das Ende markiert die Herrschaft der »Ramses-Könige« (seit ca. 1250 v. Chr.). In diese Zeit fällt die oben besprochene Umgestaltung des Osiris-Kultes von einem Fruchtbarkeitskult zur Einweihung in das Totengericht, und damit die Verlagerung des »hierophantischen Akzents« vom physischen Leben auf die sittliche Entscheidung. In dieser »Weisheit Ägyptens« ist Mose unterwiesen (Apg. 7,22).
185 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
Israel weiß von diesem Anfang mitten in der Zeit und versteht dies als sein Unterscheidungsmerkmal, auch gegenüber den Religionen des werdenden Europa: »Wann ist es je gesehen oder gehört worden, daß ein Gott versucht habe, hineinzugehen in ein fremdes Volk, um sich sein Volk herauszuholen, … wie das der Herr für euch getan hat vor euer aller Augen?« (Dtn 4,34). Dieses Ursprungsereignis enthält einen Überschuß an Verheißung, der in je neuen Phasen der Geschichte Israels auf je neuer Weise eingelöst wird – endgültig erst mit der Erweckung Jesu von den Toten. Erst damit ist die Herrschaft der Sünde und des Todes endgültig gebrochen und die Befreiung des Volkes Gottes vollendet.
2.
Der Gott der Bibel ist ein Gott, der seine Herrschaft über Himmel und Erde in freien Akten der Erwählung ausübt.
a)
Eine solche Erwählung war heilsnotwendig,
–
weil in der Welt, wie sie ist, der Dienst an falschen Göttern die Regel ist, die nur durch einen von Gott selbst gesetzten neuen Anfang durchbrochen werden konnte, – und weil auch die menschlichen Organe dieses göttlichen Neubeginns sündige Menschen sind, die nur dadurch zum Dienst am wahren Gott fähig wurden, daß der richtende Gott an ihren Zelten schonend »vorüberging«. (Daher das Fest der Befreiung als »Passah« = »Vorübergang des Herrn«). Von hier aus ergab sich die für Israel charakteristische Deutung der Geschichte: Es war die Sünde der Brüder, die Joseph als Sklave verkauft haben, durch die Israel ins Sklavenhaus kam. Und es war die ungeschuldete Gnade Gottes, die daraus ein Mittel zur Rettung vor der Hungersnot machte, »damit ein Rest da sei, für ein großes Entrinnen« (Ende der Josephs-Geschichte, Gen 45,5–7). Die Rede Josephs an seine Brüder ist wie eine vorweggenommene Kurzfassung der Geschichte Israels.
b)
Wie wird Gottes Erwählung heilswirksam?
–
Dadurch, daß auch der sündig gewordene Mensch nicht aus der Treue Gottes herausfällt,
186 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Dritter Teil: Der Gott der Bibel
–
dadurch, daß auch der »Zorn« Gottes als Ausdruck seiner verletzten Liebe verstanden werden darf, – dadurch, daß die in Gottes Zorn noch wirksame Liebe zum Grund der Hoffnung wird. Folge: Es gilt, diese Hoffnung auch den Völkern zuzusagen – eine Aufgabe, die in der Geschichte Israels erst spät bewußt geworden ist (vgl. die Weissagung von der »Völkerwallfahrt« zum Tempel, Mich 4,2). c)
Die geforderte menschliche Antwort auf Gottes Erwählung
Gottes Wahl eines Volkes aus den Völkern verlangt als menschliche Antwort die Wahl dieses Gottes aus allen Göttern (»Ihr müßt wählen, welchen Göttern ihr dienen wollt – Ich aber und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen«, Jos 24,15). Die Alternative zum Gott der Befreiung sind die Götter der Sippe und des Fruchtlands (des »Blutes und Bodens« oder, modern gesprochen, der Gesellschaft, deren Urzelle die Sippe ist, und der Wirtschaft, deren Urform die Landwirtschaft ist). Die Entschiedenheit dieser Wahl ist die Voraussetzung dafür, diesen Gott zu lieben »mit ganzem Herzen, mit der Ganzheit der Person, mit der Ganzheit der Kräfte«. Dabei wird diese »Ganzheit« nur durch die ungeteilte Hingabe an den »Einen« erreicht (das »große Gebot im Gesetz«, Dtn 6,5). Die göttliche Erwählung wird konkret in den Aufträgen (Geboten), die Gott dem Menschen anvertraut: »So hat er keinem anderen Volk getan« (Ps 147,20). Zu diesen Aufträgen gehört vor allem das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18). Die menschliche Liebe zu Gott wird konkret in der Freude, solche Aufträge erhalten zu haben (»Der Lohn für einen erfüllten Auftrag ist ein neuer Auftrag«, Sprüche der Väter) und darum in der »Freude am Gesetz« (Inhalt eines eigenen Festes im jüdischen Jahreskreis, vgl. auch bei Paulus Röm 7,22).
3.
Der Anfang mitten in der Zeit verlangt eine Deutung durch den Bericht von einem Anfang vor aller Zeit
a)
Der Zusammenhang:
Das »Herausholen« hat den Charakter einer freien Erwählung. Diese freie Wahl setzt voraus, daß dem Erwählenden alle Völker der Erde zur Auswahl stehen, weil er der »Herr der ganzen Erde ist« (Exodus 187 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
19,5), und hat zur Folge, daß vom Erwählten eine antwortende freie Entscheidung verlangt wird. Wird dies vergessen, dann wird der Bundesgott doch wieder ungeschichtlich als ein Gott der Fruchtbarkeit und der Königsmacht mißverstanden, dessen im Alten Orient übliches Symbol der »goldene Jungstier« ist. Von diesem Rückfall von der Geschichte in die Mythologie spricht die Erzählung vom »Goldenen Kalb«. b)
Die Deutung:
Der Gott der Erwählung ist »Herr der ganzen Erde«, weil er ihr Schöpfer ist. Darum hat er die Spur seiner kommenden Befreiungstat der ganzen Schöpfung eingeschaffen: Der »kosmische Sabbath«, angezeigt durch den Umlauf der Planeten, enthält die Vorzeichnung des Zusammenhangs, in dem der »geschichtliche Sabbath« – die Herausführung aus Ägypten – und der gottesdienstlich gefeierte Sabbath ihre Stelle finden. Zugleich aber wird durch diese »kosmogonische Aitiologie« die Berufung Israels deutlich, die empfangene Befreiung weiterzugeben »an Knecht und Magd« und sogar »an Ochs und Esel«. So wird der Schöpfungsbericht zum »archaiologischen« Kommentar des Befreiungsberichts und des Befreiungsauftrags an die von Gott Befreiten. Daraus ergibt sich die zentrale Stelle des Sabbath-Gebots als Ausdruck der »Bundestreue« und die »Option für die Unterdrückten« als deren Bewährung.
4.
Der Gott der Bibel: Ein Gott der Geschichte, der in ungeschuldeter Gnade den Sündern Wege der Umkehr offenhält
a)
Biblische Aussagen über den Gott der Geschichte
Der erwählende Gott ist liebender Gott, der sich durch einen Bund an die Erwählten bindet. »Ich will euer Gott sein – Ihr sollt mein Volk sein« (Ex 6,7; Jer 7,23) Der liebende Gott ist ein durch seine Liebe verletztlicher Gott, der zürnt (wie nur ein Liebender zürnen kann) und in verletzter Liebe richtet. Der zürnende Gott ist einer, der auch in verletzter Liebe ein Liebender bleibt und deshalb »umkehrt von seinem Zorn« (Joel 3,9; Jona 2,12). 188 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Dritter Teil: Der Gott der Bibel
b)
Die Geschichte dieses Gottes mit den Menschen
Die stets wiederkehrenden Phasen der Geschichte, deren Herr der Gott der Bibel ist, sind: Erwählung und Auftrag, Sünde und Gericht, von Gott geschenkte Gabe der Umkehr und diese als Folge der »Umkehr Gottes von seinem Zorn«. c)
Die »archaiologische Deutung« dieser Geschichte
Die Erzählung von der Sintflut, die begann, weil es Gott »gereute den Menschen geschaffen zu haben«, die sich aber nie mehr wiederholen soll, weil Gott sich dieser seiner Reue gereuen ließ. Der Regenbogen als Zeichen, das Gott selbst daran erinnern soll, daß er das Gericht der Sintflut nie wiederholen will (Gen 9,14 f.). Dieser Bund »mit allem Fleisch« ist die Voraussetzung, die den besonderen Bund mit Abraham und seinen Nachkommen möglich macht. d)
Die entscheidende Krise dieser Geschichte
Der Untergang von Tempel und Königtum und die Frage: Sind die Königsgötter von Assur und Babel mächtiger als der Gott Israels? Die Antwort der Exilspropheten von »Deuterojesaja« an: Die Könige der Völker sind Werkzeuge des Gerichts in Gottes Hand und verdanken ihren Sieg nicht ihren Göttern, sondern dem Gott Israels (»Ich pfeife der Imme vom Lande Assur«, Jes 7,18). Weil sie aber ihren Sieg sich selbst oder ihren Göttern zuschreiben, verfallen sie selber dem kommenden Gericht: »Erhebt sich denn die Axt gegenüber dem, der mit ihr schlägt?« (Jes 10,15) Folgerung: Die Götter der Völker sind gar keine wirklichen Götter. Sie vermögen nichts, es sei denn Gott bediene sich ihrer für seine Pläne. Sie haben keine Macht über die Menschen, es sei denn der Mensch habe sie selbst zu seinen Göttern gemacht, wie die »Götter« des Blutes und der Scholle. Sie sind »Gemächte von Menschenhand«. Zuletzt aber werden die Könige der Völker erkennen, daß Gottes Gericht über Israel, das sie vollstreckt haben, auch ihnen und ihren Völkern zum Heile dient, weil der »Geschlagene« auch »ihre Sünden getragen hat« (Lied vom Leidenden Gottesknecht, Jes 53–54).
189 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
e)
Eine neue Deutung von Gottes Herrschaft über die Geschichte
Gott ist der Herr der Geschichte – nicht nur Israels, sondern aller »Weltreiche« – durch einen »geheimen Ratschluß«, dem die Mächtigen dieser Welt dienen, ohne es zu wollen oder auch nur zu wissen. Er macht diesen Ratschluß seinen Dienern offenbar, während er den Weisen dieser Welt verborgen bleibt: »Das Verborgene, das der König zu wissen begehrt von seinen Weisen, Gelehrten, Sterndeutern und Wahrsagern, steht nicht in ihrer Kraft, es dem König zu sagen. Aber es ist ein Gott im Himmel, der kann verborgene Dinge offenbaren und läßt dem König anzeigen, was am Ende der Tage geschehen soll« (Dan 2,27 f.). Dabei ist das Auftreten solcher Diener der Offenbarung (apokálypsis) selber ein Zeichen dafür, daß das Ende nahe ist. Mit dieser Auffassung von der Geschichte ist der Übergang von der Prophetie zur Apokalyptik vollzogen, und die Leitworte »Verheißung« und »Erfüllung« erhalten eine neue Bedeutung (vgl. o. S. 132). Nur der Herr der Geschichte konnte deren ganz unvorhersehbaren Verlauf seinen Knechten offenbar machen. Die »Probe darauf« ist ein »Wettbewerb« Gottes mit den Sehern der Völker: »Verkündigt uns, was hernach kommen wird, so wollen wir glauben, daß ihr Götter seid« (Jes 41,23). »Siehe, was ich zuvor verkündigt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch jetzt Neues; ehe es gekommen ist, bringe ich es zu Gehör« (Jes 42,9).
5.
Ist das der Gott, von dem die Philosophen sprechen? Gemeinsamkeiten und Unterschiede
a)
Erstes Beispiel: Philosophische und biblische Weisen, von der Einzigkeit Gottes zu sprechen
Der philosophische Monotheismus schließt von der als bekannt vorausgesetzen Einheit einer allumfassenden Ordnung der Welt auf die Einheit ihrer ersten Ursache. Klassischer Fall: Aristoteles schließt von der alles bestimmenden Ordnung des Gestirne-Umlaufs auf einen »ersten« unter den acht »unbewegten Bewegern«. Oder er schließt von der – als einsichtig vorausgesetzten – Teleologie des Weltgeschehens auf einen allwissenden und allmächtigen Urheber. Wo Philosophen meinen, die Einheit und Zielordnung der Welt voraussetzen zu können, verschließt der Glaube sich nicht der Erfahrung, daß die Einheit und Zielordnung der Welt uns in der Erfahrung 190 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Dritter Teil: Der Gott der Bibel
gerade nicht gegeben ist. Dieser Glaube gewinnt das Zutrauen in die kausale und finale Einheit der Welt aus einer Hoffnung, die angesichts unserer Welterfahrung immer wieder als »töricht« erscheint. Die biblische »Monolatrie« (Weigerung, fremden Göttern zu dienen) ist ein freier Entschluß, der auf die freie Tat der göttlichen Erwählung antwortet und in der Freiheit dieser Erwählung ein Anzeichen dafür sieht, daß dieser Gott der Herr der ganzen Welt ist, weil er »Himnmel und Erde gemacht hat«. Dieses Vertrauen muß sich immer wieder gegen die Erfahrung durchsetzen, daß die Welt, wie wir sie vorfinden, so aussieht, als seien es ganz andere Götter, die den Weltlauf bestimmen. Erst in der Kraft dieses Vertrauens ist der Glaubende sich der Einheit der Welt gewiß. Der biblische »Monotheismus« (die Überzeugung, die fremden »Götter« seien gar keine wahren Götter) ist Ausdruck der in Bedrängnis bewährten Hoffnung, daß der Weltlauf, in dem ganz andere Götter zu herrschen scheinen, einem »Ratschluß« folgt, durch den Gott seine Heilsabsicht zur Vollendung bringt. Erst in diesem Zutrauen ist der Glaubende der Teleologie des Weltlaufs gewiß. b)
Zweites Beispiel: Philosophische und biblische Weisen, von Gott als »Gesetzgeber« zu sprechen
(Manche) Philosophen meinen, in der als erwiesen vorausgesetzten kausalen und finalen Ordnung der Welt die Spur einer göttlichen Gesetzgebung zu entdecken. (Darin besteht der ursprünglich religionsphilosophische Sinn der Rede vom »Naturgesetz«.) Unter dieser Voraussetzung ist es die Aufgabe des Menschen, sich so zu verhalten, wie es seiner spezifischen Stellung in der von Gott geordneten Natur entspricht. (Darin besteht der ursprüngliche, ebenfalls religionsphilosophische Sinn der Rede vom »natürlichen Sittengesetz«, etwa in der Philosophie der Stoa.) Die biblische »Freude am Gesetz« entzieht sich nicht der Erfahrung, daß »die Welt im Argen liegt«, d. h. daß in ihr das Böse mächtiger erscheint als das Gute. Angesichts dieser Erfahrung ist das Gesetz Ausdruck einer Erwählung (»So hat er nicht allen Völkern getan«) und konkretisiert sich in Aufträgen (»Geboten«), durch die die Erwählten für einen göttlichen Neubeginn in Dienst genommen werden: Dieser Neubeginn hat im »Gericht über alle Götter Ägyptens« seine erste Erscheinungsgestalt gewonnen und wird sich im »eschatologischen Sabbath« vollenden. 191 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
Ebenso entzieht die biblische »Freude am Gesetz« sich nicht der Erfahrung, daß die Beauftragten selber »unrein« sind und unter dem Gericht Gottes stehen. (vgl. den Ruf des Propheten Jesaja bei seiner Berufung »Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und wohne in einem Volk von unreinen Lippen«, Jes 6,5, oder den Ruf des Apostels Petrus »Herr, geh weg von mir. Ich bin ein sündiger Mensch«, Luk 5,9). Angesichts dieser Erfahrung ist das Gesetz immer zuerst Ruf zur Umkehr an die Erwählten selbst, erst sekundär Mahnung an die Adressaten ihrer Predigt. Und dieser Ruf zur Umkehr setzt voraus, daß der richtende Gott schonend »an den Zelten der Hebräer vorüberging« und immer neu, in vergebender Gnade, den Erwählten Wege der Umkehr öffnet. (Von hier aus versteht sich die zentrale Bedeutung des Versöhnungstages im jüdischen Festkalender, aber auch die Einheit von Bußruf und Frohbotschaft in der Verkündigung Jesu: »Kehret um und glaubet der Frohen Botschaft«, Mk 1,15). Die Philosophie hat nur spät und auch dann nur zögernd in diesem Sinne zu einem »Verständnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote« gefunden, d. h. als einer Fülle von Aufträgen, die Gott dem sündigen Menschen in einer sündigen Welt anvertraut und deren Erfüllung er ihm trotz allem »zutraut«.
B
Die »Fülle der Zeiten« inmitten der Zeit – das Proprium Christianum
1.
»Fülle« – ein Leitwort christlicher Verkündigung
a)
Beispiele
–
»Erfüllt ist die Zeit, das Königtum Gottes ist nahe« – Anfang der Predigt Jesu nach Markus (Mk 1,15), vgl. »als die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn« (Gal 4,4). Dieses Programmwort neutestamentlicher Predigt enthält eine »eschatologische Zeitansage«, die nicht, wie manche Ausleger meinen, eine bloße »Anpassung an jüdisches Denken« bedeutet, sondern im Gegenteil in jüdischen Ohren »töricht« klingt, weil die Zeit und Geschichte auch nach Jesu Tod offensichtlich weiterging – und keine sichtbaren Spuren davon zeigte, daß sie schon in ihre Fülle gelangt sei.
–
192 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Dritter Teil: Der Gott der Bibel
–
– –
–
b)
Daß die Zeit erfüllt ist, zeigt sich daran, daß die Schrift in ihre Fülle gelangt ist: »Heute ist diese Schrift in euren Ohren zur Fülle gelangt« – »Antrittspredigt« Jesu nach Lukas (Luk 4,21), »Damit zur Fülle komme, was durch den Propheten Jesaja gesagt worden ist« (Mt 4,14). Die Erfüllung der Schrift schließt die »Erfüllung des Gesetzes ein, nicht seine Außer-Kraft-Setzung« (Mt 5,17). All diese Formen der »Erfüllung« sind nur möglich, weil »in ihm [Christus] die ganze Fülle der Gottheit wohnt in leibhafter Gestalt« (Kol. 2,9). Und soteriologisch folgt daraus: »In ihm seid auch ihr zur Fülle gelangt« (ibid). Anmerkung zum Verhältnis von Verheißung und Erfüllung
Die Rede von einer »Fülle« der Zeit oder der Schriften setzt voraus, daß die Ereignisse in der Zeit bzw. die vorliegenden Zeugnisse des göttlichen Wirkens einen Überschuß an Verheißung enthalten, der die Hoffnung auf kommende Erfüllung begründet. Die so verstandene Verheißung ist kein versiegelter Brief für einen künftigen Adressaten, den der Bote nicht zu verstehen braucht, sondern gegenwärtige Anrede an einen gegenwärtigen Hörer, der zum Zeugen der Hoffnung werden soll. Verheißung ist auch keine bloß verbale Vorhersage dessen, was noch nicht ist, sondern ein gegenwärtiges Heilswirken, sofern dieses zum Grund einer zukunftsoffenen Hoffnung wird. Aber das real gewirkte Heil ist nur wirkliches Heil, wenn es einen Überschuß an Hoffnung enthält. Andernfalls wäre das »murrende Volk« im Recht: »Habt ihr uns dazu aus Ägypten geführt, daß wir in der Wüste umkommen?« oder analog: Habt ihr uns dazu ins Land der Verheißung geführt, daß die Assyrer und Babylonier – oder die Römer – uns in neue Sklavenhäuser führen? Nur der Überschuß an Hoffnung macht die je gegenwärtige Erfahrung zur Heilserfahrung, in der Gottes Wirken entziffert werden kann. Der göttliche »Ratschluß«, der alles, was geschieht, zugleich zu einer Verheißung macht, deren Erfüllung noch aussteht, definiert nicht einen »Endzweck«, dem alle Ereignisse innerhalb der Zeit als Mittel dienen, sondern macht alle Phasen der Geschichte zu Antizipationsgestalten, in denen die so antizipierten »Fülle« eine zwar vorläufige, aber reale Gegenwart gewinnt. Darum enthält das gewirkte Heil zugleich den Zuspruch einer Aufgabe, die vom Empfänger je 193 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
gegenwärtig erfüllt werden muß und doch »nie zu Ende getan werden kann«. Das Bewußtsein von der Größe dieses Auftrages kann Anlaß zur Resignation werden: »Es ist genug; ich bin nicht besser als meine Väter« (Elia unter dem Ginsterstrauch). Das Trostwort aber lautet: »Dein Weg ist größer als du« (2 Kön 19,7). Der Weg, auf den Gottes Auftrag den Menschen sendet, ist Gottes eigener Weg, der stets größer ist als das, was Menschen aus eigener Kraft wirken können.
2.
Die Erscheinungsgestalt dieser »Fülle« ist die »Entleerung« des Sohnes am Kreuz
a)
Gesetz und Propheten »erfüllen« sich im Kreuze Jesu. Mose und Elia auf dem Berg der Verklärung sprechen mit Jesus über das, »was in Jerusalem zur Fülle gebracht werden soll« (Luk 9,31) Das eschatologische »Jetzt« wird »sub contrario« Gegenwart: in einer Gestalt, die dem, was sich darin ereignet, entgegengesetzt erscheint: »Jetzt geschieht das Gericht, jetzt wird der Fürst dieser Welt hinausgeworfen.« (Joh 12,31) – Aber das Gericht über die Welt und ihren »Fürsten« geschieht im Todesurteil, das die »Welt« über Jesus gesprochen hat. »Die Stunde ist da, verherrliche Deinen Namen« (Joh 12,28) – Aber der »Name«, d. h. die von Gott gewährte Möglichkeit, mit ihm in eine personale Beziehung zu treten, wird dort »verherrlicht«, wo Jesus sich am Kreuz vom Vater »verlassen« fühlt. Die Folge: Die »Fülle«, die in der »Leere« (Kenose) zur Erscheinung kommt, ist ihrerseits voll von Verheißung. Daher Differenz und Zusammenhang zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen des Christus: Die Botschaft der Engel bei der Himmelfahrt Jesu: »Er wird so wiederkommen, wie ihr ihn habt auffahren sehen« (Apg. 1,11). Die soteriologische Bedeutung dieser paradoxen Gestalt der »Fülle« ist die verheißungsreiche »Gestaltgemeinschaft« (Συμμορφία) mit Christus 77
b)
–
–
–
c)
77
vgl. den Hymnus im 2. Kapitel des Briefs an die Philipper
194 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Dritter Teil: Der Gott der Bibel
Die Gleichgestaltung des Sohnes mit dem Knecht, »der in Gottes Wesensgestalt (Morphé) da war« und nun »in der Wesensgestalt (Morphé) des Knechtes antreffbar geworden ist« (Phil 2,6) ist der Weg zur Gleichgestaltung des Knechts mit dem Sohn: »Er wird umgestalten den Leib unserer Niedrigkeit, gleichgestaltet dem Leib seiner Herrlichkeit, gemäß seinem Wirken, das Kraft hat, sich zu unterwerfen das All« (Phil 3,10 f. und 21). Deshalb ist die »Hoffnung, die nicht zuschanden werden läßt«, das letzte Glied in der Reihe »Bedrängnis, Durchhaltekraft, Bewährung, Hoffnung« (Rom 5,3–5). Anmerkung: Die Soteriologie ist Quelle und Maßstab der Christologie – und, durch sie vermittelt, der Trinitätslehre. Die Lehre von den zwei Naturen (Morphai) in Christus benennt die Bedingung der doppelten »Symmorphía« mit ihm in seiner Niedrigkeit und in seiner Herrlichkeit. Diese Lehre von der göttlichen und menschlichen Natur in der Person Christi ist ihrerseits theologiegeschichtlich die Quelle der Lehre von den Mehrheit der Personen in der einen Natur Gottes. Die Lehre von der Geburt des Sohnes »vor aller Zeit« benennt die »archaiologische Bedingung« seiner »Geburt in der Zeit« (Sarx egéneto). Die »Soteriologie« (Lehre vom Heil) ist der Kontext, der nicht verlorengehen darf, wenn die »metaphysischen« Aussagen über Substanz, Natur und Person des Christus theologisch nicht zum »Gebrauch leerer Worte« (kenophonía) werden sollen 78.
3.
Wie spricht die christliche Gemeinde von Gott als dem Vater Jesu Christi?
An dieser Stelle nur ein einziges Beispiel: Der Hymnus im Brief an die Epheser, Eph 1,1–14) Die folgende Auslegung beschränkt sich auf die Haupt-Verben: »Segnen«, »Erwählen«, »Lieben«, »zu Erben einsetzen« und die beiden Substantive »Gnade« und »Fülle«. »Gesegnet sei der Gott (und Vater) unseres Herrn Jesus Christus« (vgl. »Benedictus Dominus Deus Israel« im Lobgesang des Zacharias, Luk
78
Vgl. R. Schaeffler, Philosophische Einübung in die Theologie Band 3
195 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
1,68 ff.), »der uns im Überhimmel (ἐν τοις ἐπουραν]ίοις) gesegnet hat in Christus mit allem geistlichen Segen« 79, »so wie er uns auch erwählt hat vor Erschaffung der Welt« (vgl. die Erwählung Israels inmitten der Zeit als Erscheinung der Erwählung vor aller Zeit) »zum Lob der Herrlichkeit seiner Gnade«. »Mit ihr hat er uns in dem, den er liebte, begnadet, um uns den Ratschluß seines Willens kundzutun, den er zuvor in ihm gefaßt hatte, um die Fülle der Zeiten so zu ordnen wie ein Hausvater (οἰκόνομος) sein Haus (εἰς οἰκονομί]αν τοῦ πληρώόματος τῶν καιρῶν), um allem, was im Himmel ist und auf Erden, in Christus den Schlußstein zu geben. In ihm sind wir auch zu Erben eingesetzt, damit wir zum Lob seiner Herrlichkeit da sind. Unter diesen seid auch ihr, die ihr das Siegel des Heiligen Geistes tragt, der das Angeld unserer Einsetzung zu Erben ist.«
Die erste Gruppe von Leitworten dieses Textes schließt an die alttestamentliche Gottesverkündigung an: »Segen« und Rückgabe des Segens an seinen Ursprung (vgl. den liturgischen Ruf »Geseget sei, der voll des Segens ist«), »Erwählung« vor aller Zeit, die in der Erwählung inmitten der Zeit offenbar wird, »Gnade«, in der Gottes »Liebe« in Erscheinung tritt. Das Leitwort »Fülle«, in der eine »Oikonomia der Zeiten« an ihr Ziel kommt, schlägt die Brücke von der alttestamentlichen Apokalyptik zur »eschatologischen Zeitansage« des Neuen Testaments. Das Leitwort »in ihm« (in Christus) enthält das Proprium der christlichen Botschaft und deutet zugleich die Leitworte der alttestamentlichen Verkündigung: Der Gott, von dem aller Segen stammt und dem er zurückgegeben werden soll, ist der »Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus«. Die Erwählung, mit der dieser Gottes Menschen erwählt, ist deren Einbeziehung in die Liebe, mit der der Vater den Sohn geliebt hat und nun auch die Menschen begnadet. Darum besteht die Fülle, auf die die »Oikonomia der Zeiten« ausgerichtet ist, darin, daß vgl. die übliche Gebets-Aufforderung des Vorsängers in der Synagoge: »Baruch hameborach«: »Gesegnet sei, der voll des Segens ist« das Gebet als Rückgabe des Segens an die göttliche Segens-Quelle und den Schluß der Liturgie am Vorabend des Sabbath: »Der Frieden schafft in seinen Höhen, der schafft Friede auch über uns und über ganz Israel,« in reformjüdischen Gemeinden ergänzt durch den Zusatz: »und über allen Adamskindern« »Da Gebet und das Argument« habe ich andere Beispiele gewählt: ntl. Hymnen von den Hymnen der Kindheitsgeschichte Jesu nach Lukas bis zu denen der Apokalypse auch über uns, über ganz Israel und über allen Adams-Kindern«
79
196 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Dritter Teil: Der Gott der Bibel
die Erwählten durch das »Siegel des Geistes« das »Angeld« ihrer Einsetzung zu Mit-Erben des Sohnes erhalten haben. Das macht es möglich, Segen, Erwählung und Gnade auch an die bisher Fremden weiterzugeben: sprachlicher Ausdruck dafür ist der Übergang vom »Wir« der Verkünder zum »Auch Ihr« der Hörer im letzten Vers des zitierten Textes.
4.
Ist das der Gott, von dem auch die Philosophen sprechen können?
a)
Eine Philosophie, die über diesen Gott sprechen will, muß Geschichtsphilosophie sein
Grundfragen einer Philosophie der Geschichte lauten: – Auf welche Weise treten im Leben der Individuen und Gruppen Situationen der Krise auf, in denen eine Entscheidung notwendig, aber auch möglich ist? (Wie kommt das »Jetzt« in die Zeit?) – Wie entsteht aus der Vielfalt individueller Entscheidungen der überindividuelle Zusammenhang, der als kohärente Geschichte erzählt werden kann? – Wie muß das Wirkliche im Ganzen gedacht werden, wenn verständlich werden soll, daß der Weltlauf für Freiheit Raum läßt, ohne seine Kohärenz zu verlieren? (Nicht nur Raum für »Zwischenfälle« – τύχαι, die »unter dem Mond« vorkommen wie bei Aristoteles, sondern in einer Weise, die für das Ganze des Wirklichen wesentlich ist.) – Welches ist die Rolle des Bösen in der Geschichte? Sind diese Fragen gestellt und in ihrer Bedeutung geklärt, dann kann die weitere Frage gestellt werden: Gibt es philosophische Gründe, die dafür sprechen, daß von Gott gesprochen werden muß, wenn man diese Fragen beantworten will?
b)
Eine Geschichtsphilosophie, die vom Gott der Bibel sprechen will, muß eine Philosophie der Hoffnung sein
Eine solche Philosophie der Hoffnung läßt sich durch Weiterentwicklung der kantischen Postulatenlehre gewinnen.
197 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
a)
b)
C
Die Postulatenlehre führt zu der Gewißheit, daß es auch dem Sünder in einer sündigen Welt möglich bleibt, Gottes Aufträge zu erfahren und zu erfüllen. Damit gewinnen auch die sittlichen Taten, trotz aller Zweideutigkeit unserer Gesinnung und aller Dürftigkeit ihrer Wirkungen, ihre Eigenwürde zurück. Denn die sittliche Aufgabe besteht nicht darin, durch die Wahl geeigneter Mittel den Weltlauf einem göttlichen Zweck anzunähern, sondern darin, das Wirken Gottes durch signa rememorativa, demonsrativa et prognostica wirksam zu bezeugen – ein göttliches Wirken, von dem eine »moralische Weltordnung« als das wahre »Reich Gottes« erwartet werden darf (Vgl. Kant, Der Streit der Fakultäten, Akad.Ausg Bd. VII,84) Eine Postulatenlehre, die sich zur Geschichtsphilosophie erweitert, hat die Aufgabe, – zu zeigen, daß der Weltlauf immer wieder Situationen heraufführt, in denen die sittliche Aufgabe sich stellt, derartige »signa demonstrativa« zu setzen, die das Heil nicht »machen«, sondern wirksam bezeugen. – aus der Erfahrung solcher Beispiele sittlicher Praxis zu lernen, in den menschlichen Taten der Vergangenheit die »signa rememorativa« zu entziffern, an denen gegenwärtiges sittliches Handeln sich orientieren kann, – solche Zeichen auf sie zurückschauend so zu deuten, daß sie zugleich als »signa prognostica« die Verheißung (reale Antizipation!) einer kommenden Vollendung in sich enthalten.
Die Botschaft von der Torheit des Kreuzes – Das Ende aller philosophischen Rede von Gott oder eine neue Herausforderung an die Philosophie?
Der Gott der christlichen Verkündigung ist der Herr der Geschichte in der Torheit, die seine Weisheit ist, und in der Schwäche, die seine Kraft ist. »Das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen« (1 Kor 1,25). In der Torheit der Liebe, die auch vom sündigen Menschen »nicht loskommt«, und in der Schwäche, in der diese Liebe sich der Bosheit der Menschen ausliefert, leuchtet die »Herrlichkeit seines Namens« 198 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Dritter Teil: Der Gott der Bibel
auf. Darum kann Jesus am Vorabend seines Leidens zum Vater sagen: »Vater, verherrliche Deinen Namen«; und er hört die Antwort des Vaters: »Ich habe ihn verherrlicht und werde ihn wieder verherrlichen« (Joh 12,28). Erst so wird deutlich, von welcher Art die Beziehung ist, in die Menschen eintreten, wenn sie diesen Gott beim Namen rufen. Sie werden zu Zeugen jenes »Aufleuchtens« der Herrlichkeit Gottes, das die Herrlichkeit der kommenden Welt »sub contrario« vorwegnimmt. Darin kommt zur Fülle, was der Beter im Alten Bund bei jeder Anrufung des göttlichen Namens bekennt: »Gepriesen sei der Name, in dem aufleuchtet Dein Königtum von dieser Weltzeit an und in die kommende hinein« (besser als die geläufige Übersetzung »von Ewigkeit zu Ewigkeit«). Daraus ergibt sich die Frage: Kann man von diesem Gott auf philosophische Weise sprechen, ohne in die »Torheit der Weisen dieser Welt« zu verfallen? Oder gibt es genuin philosophische Gründe, gerade von diesem Gott zu sprechen, um die moralische Aufgabe des Menschen und seine geschichtliche Verantwortung angemessen zu begreifen? Und kann der Philosoph, wenn er dies versucht, damit auch dem Christen eine Hilfe geben, seinen Glauben so zu verstehen, daß er darüber auch »mit Juden und Griechen« verständlich sprechen kann?
1.
Die Botschaft von der »Torheit« und »Schwäche« Gottes – auch für den Philosophen aufschlußreich
Ehe auf die Frage geantwortet werden kann, in welcher Weise der Philosoph auf die Botschaft von Gottes »Torheit« und »Schwäche« zu antworten hat, ist zu klären, was er, gerade als Philosoph, von dieser Botschaft zu hören bekommt. Darauf ist zu antworten: Er bekommt etwas zu hören über die »Weisheit dieser Welt« und kann sich dadurch einen Spiegel vorhalten lassen, in dem er sieht, von welcher Art seine eigene Weisheit ist. Die Weisheit dieser Welt, der Gottes Kraft als »Schwäche« und Gottes Weisheit als »Torheit« erscheint, versteht sich selbst als Fähigkeit zum klugen Kalkül der Zwecke und Mittel. Eine solche Klugheit vermag mit einem Minimum an aufgewendeten Mitteln ein Maximum an erstrebter Wirkung zu erreichen. An diesem Maßstab gemessen muß die Entscheidung Gottes, auch dem Sünder die eigene Zuwendung nicht zu entziehen, als in höchstem Maße töricht erscheinen. Denn es ist vorhersehbar, daß 199 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
der Sünder immer wieder alle »Mühe«, die Gott seinetwegen aufwendet, mit einem Verhalten beantwortet, das Gottes Absichten widerspricht. Die gleiche »Weisheit dieser Welt« versteht unter »Macht« die Fähigkeit, die eigenen Absichten durch Brechung jeden Widerstandes durchzusetzen. An diesem Maßstab gemessen muß die Entscheidung Gottes, den Sünder auch dann nicht an seinem Wirken zu hindern, wenn dieser den Absichten Gottes zuwiderhandelt, als Ausdruck von Schwäche erscheinen. Die Weisheit dieser Welt kann gar nicht anders, als in solcher Weise über Gottes »Torheit« und »Schwäche« zu urteilen. Der Philosoph, der in diesen »Spiegel« schaut, wird sich fragen müssen, ob auch er genötigt ist, so zu urteilen, oder ob er eine Alternative sieht, ein anderes Verständnis von Macht und Weisheit zu entwickeln. Dabei kann es sein, daß die Verkündigung des Glaubens ihn an eine solche Alternative erinnert, die zu entdecken und zu entwikkeln zwar zu den genuin philosophischen Aufgaben gehört, die aber von der Philosophie im Laufe ihrer Entwicklung zu ihrem eigenen Schaden vergessen worden ist. Die Verkündigung spricht von einem Gott, der seine Macht als ermächtigende Macht ausübt, die die Objekte ihres Wirkens in den Eigenstand des Selbstseins entläßt, und der seine Freiheit als befreiende Freiheit realisiert, die die Kreatur zu freier Selbstbestimmung befähigt. Eine Gottes-Verkündigung dieser Art kann die Philosophie an die Aufgabe erinnern, den Begriffen der Kausalität und der Substanz eine neue Bedeutung zu geben. Das geforderte neue Verständnis von »Kausalität« und »Substanz« läßt sich in folgernder Weise beschreiben. Das Wirken einer Ursache kommt nur dann zur Wirkung, wenn das Bewirkte seiner Ursache »ent-springt«, gleichsam »davonspringt«, wie der Bach seiner Quelle. Dann aber wird das Bewirkte seiner Ursache in »widerständigem Eigentand« gegenübertreten. Das deutlichste Beispiel dafür ist die Hervorbringung einer neuen, endlichen Substanz. Die Substantialität eines endlichen Wesens aber muß als Fähigkeit zu »antwortender Selbstgestaltung« verstanden werden. Der Eigenstand im Sein zeigt sich darin, daß die endliche Substanz sich jede fremde Einwirkung, der sie unterliegt, als ein Moment ihres eigenen Lebensvollzuges aneignet. Die Macht einer Ursache, die zu solchem Wirken fähig ist, ist ermächtigende Macht. Und es läßt sich zeigen: Eine Macht, der dieses Moment der Ermächtigung fehlt, betrügt sich selbst in wichtigen Hinsichten um die Wirksamkeit ihres Wirkens. Sie zer200 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Dritter Teil: Der Gott der Bibel
stört ihr Objekt, statt es zu neuer Weise des selbstvollzogenen Daseins hervorzurufen. Der Übergang vom Wirken zur Wirkung setzt deswegen voraus, daß die Ursache ihre eigene Durchsetzungsmacht begrenzt, um dem Eigenstand der Wirkung Raum zu geben. Das erweckt den Eindruck der »Schwäche« und ist doch die Bedingung der Wirksamkeit. Die Verkündigung von der »Schwäche« Gottes, die doch mächtiger ist als alle irdische Macht, benennt für den »bibellesenden Philosophen« die von ihm oft vergessene Bedingung aller kausalen »Effektivität« 80. Weil aber der Eigenstand im Sein die Eigengesetzlichkeit im Verhalten zur Folge hat, wird die ermächtigende Macht der Ursache immer wieder auch als »befreiende Freiheit« wirksam werden. Das schließt unvermeidlich das Risiko ein, daß die »befreite Freiheit« sich den Absichten ihres Befreiers widersetzt. Eltern und Lehrer, die ihre Kinder und Schüler zur Freiheit des Urteils und der praktischen Entscheidung befähigen wollen, haben diese schmerzliche Erfahrung immer wieder gemacht. Aber eine Belehrung bzw. Erziehung, der das Moment der befreienden Freiheit fehlen würde, würde ihr Ziel notwendig verfehlen. Und die biblische Verkündigung von der »Torheit« eines Gottes, die weiser ist als die Weisheit der Menschen, kann den »bibellesenden Philosophen« daran erinnern, welche Art von »Weisheit« notwendig ist, um angesichts solcher Erfahrungen nicht in sittliche Resignation zu verfallen. Gefordert ist nicht die »Weisheit dieser Welt«, die fähig ist, die aufgewendeten Mittel zu minimieren und die dadurch erreichte Realisierung der eigenen Zwecke zu maximieren. Ein solches Zweck-Mittel-Kalkül würde die Objekte des Handelns zu bloßen Mitteln herabsetzen, die dem Handelnden zur Erreichung seiner Zwecke dienen. Diese Gefahr läßt sich an dem schon erwähnten Beispiel von Eltern oder Lehrern deutlich machen. Auch wenn diese ihre Zwecke in der besten Absicht gesetzt gaben, um dem Wohl der Kinder bzw. Schüler zu dienen, würde eine Erziehung bzw. Belehrung, die der bloßen Zweck-Rationalität folgt, nicht erreichen, was sie wollte. Gefordert ist vielmehr eine Weisheit, die die Selbstbestimmung der Kinder bzw. Schüler nicht mindert, aber im Falle des Freiheitsmißbrauchs Vgl dazu R. Schaeffler, Erkennen als antwortendes Gestalten – Oder: Wie baut sich vor unseren Augen die Welt der Gegenstände auf?, Freiburg 2014, besonders den Abschnitt über Kausalität und Substanz.
80
201 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
immer neu Wege der Kurs-Korrektur entdeckt – biblisch gesprochen: Wege der Rückkehr zum göttlichen Auftrag – und die Kinder bzw. Schüler ermächtigt, solche Wege zu gehen. Angesichts immer wieder auftretender Enttäuschungen, wie Eltern und Lehrer sie erfahren, kann es als »töricht« erscheinen, an der löblichen Absicht einer Befreiung zur Selbstbestimmung festzuhalten, Fehlentscheidungen der Kinder bzw. Schüler hinzunehmen und ihnen Wege der Umkehr offenzuhalten. Die Verkündigung von einem Gott, dessen »Torheit« weiser ist als die Weisheit dieser Welt, kann den »bibellesenden Philosophen« davor bewahren, die Aufgabe, »Verirrten« Wege der Umkehr zu zeigen, von vornherein als illusionär zu beurteilen. Freilich enthält die Tatsache, daß es Aufgaben gibt, denen wir uns nicht entziehen können, noch keine Garantie dafür, daß unsere Fähigkeiten ausreichen, diese Aufgaben zu erfüllen. Es ist eine offene Frage, ob wir durch jene Selbstbeschränkung unseres Einflusses (unsere freiwillige »Ohnmacht«), durch die wir einer Sache oder Person einen Eigenraum offenhalten, wirklich erreichen, daß die Dinge und Menschen diesen Raum durch ihren Eigenstand und ihre Eigentätigkeit »ausfüllen«. Es kann auch geschehen, daß wir sie durch unsere Zurückhaltung nur der Zufälligkeit unvorhersehbarer Fremdeinflüsse ausliefern. Und es ist eine offene Frage; ob wir durch die »Torheit« unserer Treue zum verirrten Mitmenschen diesem wirklich Wege der Umkehr eröffnen; es kann auch geschehen, daß wir ihm nur eine falsche Sicherheit suggerieren, weil ja, solange wir zu ihm stehen, »alles nicht so schlimm sein kann«. Demgegenüber zeigt die christliche Verkündigung dem Philosophen einen Weg, das Zutrauen in die Erfüllbarkeit dieser Aufgaben zu gewinnen. Denn die Aussage der Glaubensboten, daß Gottes »Ohnmacht« mächtiger sei als alle Mächte dieser Welt, und daß seine »Torheit« weiser sei als alle Menschenweisheit, kann das angefochtene sittliche Selbstvertrauen des Menschen neu begründen. Das gelingt freilich nur, wenn wir annehmen, daß wir unsere unabweislichen Aufgaben als »Gebote« Gottes begreifen dürfen, d. h. als Aufträge (Mandata), deren Erfüllung er uns anvertraut und deshalb auch »zutraut«. Das Vertrauen in dieses göttliche Zutrauen rechtfertigt die Hoffnung, daß wir »können, was wir sollen«. Das bedeutet nicht, daß das Gottvertrauen uns unsere Grenzen vergessen läßt, wohl aber, daß wir unser Wirken auf neue Weise verstehen dürfen: Wie unser Bewußtsein von unserer Pflicht die Erscheinungsgestalt 202 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Dritter Teil: Der Gott der Bibel
eines göttlichen Auftrags ist, so ist die Tat, durch die wir diesen Auftrag erfüllen, die Erscheinungsgestalt eines göttlichen Wirkens, das in der Weise ermächtigender Macht und befreiender Freiheit seine Objekte zum Eigenstand im Sein und zur Selbstbestimmung im Handeln befähigt. Das bedeutet: Der »bibellesende Philosoph« kann sich die Botschaft von Gottes mächtiger Ohnmacht und weiser Torheit im Sinne eines Postulats zu eigen machen und daraus die Zuversicht gewinnen, in aller Bruchstückhaftigkeit seines Erkennens und Wirkens die Weisheit und Macht Gottes abbildhaft und gerade deshalb wirksam erfahrbar zu machen. In der Torheit und Ohnmacht menschlicher Zuwendung zum Irrenden und Verirrten kommt die mächtige Ohnmacht und weise Torheit des liebenden Gottes zu wirksamer Gegenwart.
2.
Die philosophisch angeeignete Botschaft von Gottes »Torheit« und »Schwäche« und eine neue Aufgabe der Philosophie
Die auf solche Weise angeeignete Botschaft kann den Philosophen dazu befähigen, seinerseits ein Wort zu sagen, das auch für den Glaubensboten und seine Hörer belangvoll ist. Die Antwort, die der Philosoph auf die Botschaft von Gottes mächtiger »Ohnmacht« und weiser »Torheit« zu geben hat, besteht zunächst darin, daß er dieser Botschaft den profanen Kontext zurückgibt, den sie gelegentlich zu verlieren droht. Aber gerade durch diese Einbeziehung in einen umfassenden profanen Kontext kann zugleich die Unverwechselbarkeit dieser Botschaft deutlich gemacht werden. a)
Der Glaubensbotschaft den »profanen« Kontext geben
Die biblische Verkündigung spricht von Gottes als töricht erscheinender Weisheit und von seiner als ohnmächtig erscheinenden Macht im Blick auf ein einmaliges und unverwechselbares Ereignis: den Tod des Gottessohnes am Kreuz. Hier zeigte sich die Ohnmacht, die Gott auf sich nahm, um dem über seinen Sohn verhängten Todesurteil seinen Lauf zu lassen, und die Torheit, lieber den sündigen Menschen als seinen eigenen Sohn vom Tode zu erretten. Eine neu gefaßte Postulatenlehre kann zeigen: Auch das menschliche Wirken kommt ohne eine solche Torheit und Schwäche nicht an ihr Ziel. Aber das Zu203 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
trauen, daß auch diese menschliche Torheit und Schwäche die wahre sittliche Weisheit und Wirkfähigkeit impliziert, läßt sich nur rechtfertigen, wenn wir nicht nur das Gewissensurteil als die Erscheinungsgestalt göttlicher Aufträge, sondern auch die sittliche Tat als die Erscheinungsgestalt göttlichen Heilswirkens begreifen dürfen. Was die Glaubensbotschaft über Gott sagt, gewinnt durch das so verstandene Gottespostulat einen allgemeinen Bezug, der das gesamte moralische Handeln des Menschen umgreift. b)
Die Unverwechselbarkeit der Glaubensbotschaft deutlich machen
Jene »Torheit« und »Ohnmacht« Gottes, von der die Glaubensbotschaft spricht, ist gerade dadurch unverwechselbar, daß die Torheit und Ohnmacht der menschlichen Liebe nur dann vor Resignation bewahrt bleibt, wenn sie sich als Abbild der mächtigen Ohnmacht und der weisen Torheit Gottes verstehen darf. Darum sind wir immer in Gefahr, die von uns hervorgebrachten Gegenwarts- und Erscheinungsgestalten mit der urbildhaften Weisheit und Macht Gottes selbst zu verwechseln und für uns selbst in Anspruch zu nehmen, wir könnten garantieren, daß unser guter Wille unsere Ohnmacht mächtig und unsere Torheit weise machen wird. Dann werden wir bei den Menschen, denen wir unsere Hilfe anbieten, neue Abhängigkeit erzeugen, wo wir ihre Ermächtigung zur Freiheit beabsichtigt haben, und sie auf neue Irrwege führen, wo wir ihnen Wege der Umkehr aufzeigen wollten. Darum gehört zu unseren Angeboten des Rates und der Hilfe stets die Aufforderung an unsere Mitmenschen, kritisch zu prüfen, was wir ihnen empfehlen. Was wir in Worten und Taten anbieten können, ist eine Gegenwarts- und Erscheinungsgestalt der Weise, wie Gottes »Torheit« und »Ohnmacht« heilschaffend wirksam wird. Wo von unserem Sprechen und Tun die Versuchung ausgeht, diese heilschaffende Wirksamkeit uns selber zuzuschreiben, wird die Hilfe, die wir anbieten, zur Ursache weiteren Unheils. Es ist ein Kennzeichen menschlicher Weisheit und Wirkmacht, daß sie den, dem sie ihre Hilfe anbietet, zum kritischen Urteil über dieses Angebot fähig macht.
204 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Dritter Teil: Der Gott der Bibel
D
Das Heilswirken Gottes und die Freiheit seiner Geschöpfe
Was an anderer Stelle über das Verhältnis von Subjekt und Objekt gesagt worden ist, insbesondere was dort über die Ideen und Begriffe gesagt wurde, gilt auch mit charakteristischen Abwandlungen für das Verhältnis des erkennenden Subjekts zu dem göttlichen Schöpfungsund Heilswillen. Alles, was darüber gesagt werden kann, muß eine Stelle im geordneten Kontext finden, sonst würde sich Erfahrung nicht von einer bloßen subjektiven Meinung unterscheiden. Diesen Kontext bauen wir selber durch unsere Anschauungsformen, Ideen und Begriffe auf. Insofern schreibt die Subjektivität den Objekten die Bedingungen ihrer Möglichkeit vor, genauer gesehen haben wir die Bedingungen ihrer Möglichkeiten, nicht das Zustandekommen ihrer Wirklichkeit. Daß Erfahrung zustandekommt, bleibt eine kontingente Tatsache, die weder durch die Natur des Subjekts noch durch die Natur des Objekts erzwungen ist. In dieser ihrer Kontingenz verweist sie auf eine göttliche Freiheit, als ihrer allein zulänglichen Bedingung. Die Erfahrung erfordert eine Veränderung unseres Anschauens und Denkens. Diese wird uns nicht auferlegt, sondern wird von uns selbst in einem Akt antwortenden Gestaltens hervorgebracht. Von neuer Bedeutung, gerade im speziellen Zusammenhang von menschlicher Erkenntnis und göttlicher Heilsabsicht, ist ein Moment, das sonst leicht vergessen wird, nämlich, auch die Weise, wie die Heilsabsicht sich uns zeigt, ist jeweils das Ergebnis einer antwortenden Selbstgestaltung. Antwortendes Gestalten heißt hier eine besondere Art des Dialogs zwischen der Kreatur und ihrem Schöpfer, und man kann hinzufügen: Jede andere Form des Dialogs zwischen dem Menschen und seiner Erfahrungswelt ist nur das Bild, die erfahrbare Gegenwartsgestalt, des Dialogs zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen. Die Kreatur ist aus dem göttlichen Wort hervorgegangen, bleibt aber kein inneres Moment des göttlichen Bewußtseins, sondern tritt diesem auf eine eigentümliche Art, aus einer Eigenart heraus, gegenüber. Dafür gibt es einen in der Bibel geläufigen Ausdruck. Aus der Namensanrufung Gottes antwortet der Mensch »Hineni«, lateinisch am besten mit »Ecce Ego« übersetzt. Die übliche Übersetzung trifft nicht genau das Gesagte: Der Christ, die Kreatur, in diesem Fall die vernunftbegabte, die dem göttlichen Schöpfer gegenübertritt, sagt »ich«, also ein Wort, das nur sie von sich gebrauchen kann, von nie205 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Fünftes Kapitel Die ›Götter der Religionen‹, der ›Gott der Philosophen‹
mand anderem als von sich und niemand anderes als sie selbst von sich. Diese Selbstbezüglichkeit, das Merkmal der Subjektivität, ist nicht mehr ein inneres Moment im Bewußtsein Gottes, und diese überraschende Tatsache, daß aus dem Wort Gottes hervorgeht, was kein Moment im Bewußtsein Gottes ist, diese erstaunliche Tatsache wird mit der Vokabel »Ecce« benannt. Aus diesem Eigenstand der vernunftbegabten Kreatur geht eine Freiheit hervor, die freilich einem endlichen Wesen zugehört, fehlerhafte, fehlerfähige Freiheit ist. Und jetzt entsteht etwas, was man die Objektion gegen den göttlichen Heilswillen nennen könnte: Die Kreatur ist nicht so, wie sie gedacht war, als Gott ihr seinen Heilsauftrag anvertraute. Das ist wie eine Objektion, wie ein Einwand, und nötigt Gott selbst zu einer Korrektur der Weise seines Heilswirkens. Dieses erfolgt in drei Schritten. Der erste Schritt: »Da reute es den Herrn, auf der Erde den Menschen gemacht zu haben« (Genesis 6,6). Der zweite Schritt: Er läßt sich seiner Reue reuen, und dies so sehr, daß er sich selbst durch den Regenbogen in den Wolken daran erinnern läßt, daß er keine zweite Sintflut wird kommen lassen, nicht ein zweites Mal sich seiner Schöpfung gereuen läßt. Man könnte sagen: er läßt sich seiner Reue gereuen. »Nie wieder sollen alle Wesen aus Fleisch vom Wasser der Flut ausgerottet werden; nie wieder soll eine Flut kommen und die Erde verderben. Und Gott sprach: Dies ist das Zeichen des Bundes, den ich stifte zwischen mir und euch und den lebendigen Wesen bei euch für alle kommenden Generationen. Meinen Bogen setze ich in die Wolken; er soll das Bundeszeichen sein zwischen mir und der Erde. Steht der Bogen in den Wolken, so werde ich auf ihn sehen und des ewigen Bundes gedenken zwischen Gott und allen lebenden Wesen, allen Wesen aus Fleisch auf der Erde« (Genesis 9, 14–16). Im dritten Schritt nun gewinnt die Heilsabsicht Gottes den Charakter einer Erwählung sündiger Menschen aus einer sündigen Welt: »Du aber sollst vor dem Herrn, deinem Gott, folgendes Bekenntnis ablegen: Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten« (Deuteronomium 26,7). Gemeint ist Abraham. Dieser war ein Sünder in einer sündigen Welt und wird doch berufen und erwählt, um für die Völker ein Segen zu sein. Heilsabsicht Gottes heißt sein Wille, einen neuen Angang zu setzen, sich dafür ein Werkzeug unter den Menschen zu wählen und damit die Menschen zu befähigen, ihrer206 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Dritter Teil: Der Gott der Bibel
seits neue Angänge zu setzen. Auch dieses Heilswirken Gottes kann man ein antwortendes Gestalten nennen. Es antwortet auf die Erfahrung der Sünde und es gestaltet die Welt neu durch den erwählten Knecht.
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Ein Ausblick: Eine weiterentwickelte Postulatenlehre und eine neue Weise des Dialogs zwischen Religion und säkularer Vernunft – ein Programm in Thesenform 1. These: Die Vielfalt von Erfahrungsweisen und Erfahrungswelten setzt die säkulare Vernunft gegenüber dem Absolutheitsanspruch der Religion ins Recht. Es ist unsachgemäß, alle Alternativen der Theorie und Praxis mit religiösen Argumenten entscheiden zu wollen. Eine Religion, die »alles zu Religion machen will«, kann nicht auf vernünftige Zustimmung rechnen. (In diesem Sinne hat das Konzil von der »Autonomie der Kulturbereiche gesprochen.) 2. These: Die Tatsache, daß unterschiedliche Erfahrungsweisen und Erfahrungswelten weder in ein umfassendes System gebracht noch voneinander getrennt werden können, hat eine Dialektik zur Folge, in der jede Art des Vernunftgebrauchs sich selber aufzulösen droht. Folge: Die säkulare Vernunft führt entweder zu einem Dogmatismus der Wissenschaft, der keiner anderen Erfahrung objektive Geltung zuschreibt als der wissenschaftlichen Empirie, oder in einen Skeptizismus, der jede Art von Geltungsanspruch auf die willkürliche Wahl einer unter mehreren möglichen Perspektiven erklärt. 3. These: Diese Dialektik ist nur durch Vernunftpostulate aufzuheben, die in der objektiven Geltung jeder einzelnen Erfahrung die Erscheinungsgestalt des einen Anspruchs entdeckt, mit dem Gott uns seine Aufträge (»Gebote«) anvertraut (exemplarischer Fall: Kants »Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote«). Folge: Ohne Postulate hebt die säkulare Vernunft sich selber auf, mit Postulaten verwandelt sie sich wieder in profane Vernunft, die auf allen Feldern der Erfahrung den Gott wiedererkennt, von dem Religionen sprechen. Insofern setzt die Postulatenlehre die Religion, die »in allem Gott erkennen will«, gegenüber der säkularen Vernunft 209 https://doi.org/10.5771/9783495813287 .
Ein Ausblick
ins Recht, die den Gottesglauben für eine folgenlose »subjektive Zutat« zu allen Formen säkularen Welterkennens hält. 4. These: Die Postulate bringen weder ein Wissen zum Ausdruck noch ein bloß subjektives Meinen, sondern eine in transzendentaler Hinsicht notwendige Hoffnung: die Hoffnung, daß die Vernunft im Durchgang durch ihre Dialektik in verwandelter Gestalt wiederhergestellt werde, ohne daß die Art dieser Wiederherstellung aus Prinzipien a priori deduziert werden könnte. Folge: Auch diejenige Religion, die durch die Postulatenlehre ins Recht gesetzt wird, ist nicht ein Wissen, das allen anderen Formen des Wissens überlegen wäre, aber auch kein bloß subjektives Meinen, sondern, ganz im Sinne des Neuen Testaments, »ein Feststehen in dem, worauf man hofft, und ein Überführtwerden von Tatsachen, die sich den Blicken entziehen« (Hebr. 11,1). Postulate ohne religiöse Erfahrung sind leer (bloße GedankenKonstruktionen). Die religiöse Erfahrung befreit das Postulat von dem Verdacht, Ausdruck eines bloßen Wunschdenkens zu sein, das dem Selbstbehauptungswillen der Vernunft entspringt, die ihr Scheitern nicht hinnehmen will. Religiöse Erfahrung ohne Postulate ist blind (ohne Bewußtsein von ihrer universalen Bedeutung und damit ohne Bewährungsprobe). Das Vernunftpostulat sichert der religiösen Erfahrung ihre universale Bedeutung und sichert sie gegen den Verdacht, dem Aufbau einer »religiösen Sonderwelt« einer »Sondergruppe in der Gesellschaft« zu dienen. Eine Religion, die »nichts wäre als Religion«, wäre auch als Religion defizitär. Folgerung: Mögliche Dialogpartner sind nur eine selbstkritisch (nicht skeptisch) gewordene Vernunft und eine selbstkritisch (nicht relativistisch) gewordene Religion. Aufgabe der Philosophie ist es, beide zu dieser Art von Selbstkritik zu ermutigen und dadurch den Dialog zwischen ihnen zu vermitteln.
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Phil 2,6 zit. S. 195 Phil 3,10 f. und 21, zit. S. 195 Kol 2,9, zit. S. 193 Hebr 11,1, zit. S. 43, 99, 210 2 Petr 1,16, zit. S. 167 Apok 1,5, zit. S. 140
Außerbiblische Textbeispiele der religiösen Sprache Die 18 Lobpreisungen der jüdischen Liturgie (Siddur Sfat Emet), wiedergegeben S. 72 Hymnus auf den ägyptischen Schöpfergott Ptah (Papyrus 3048 des Britischen Museums), wiedergegeben S. 72/73 Hymnus auf den ägyptischen Gott Re (Papyrus Boulaq 117), wiedergegeben S. 73 Hymnus auf Bakchos (Sophokles, Antigone Vers 1115–1153,) wiedergegeben S. 74 f. Der Osterhymnus Aurora lucis rutilat, wiedergegeben S. 76 f.
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