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German Pages 112 [113] Year 1974
MANFRED KÖLSCH
Recht und Macht bei Montaigne
Beiträge zur Politischen Wissenschaft
Band 18
Recht und Macht bei Montaigne Ein Beitrag zur Erforschung der Grundlagen von Staat und Recht
Von
Dr. Manfred Kölsch
DUNCKER &
HUMBLOT / BERLIN
Alle Rechte vorbehalten @ 1974 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1974 bel Buchdruckerei Bruno Luck, Berlln 65 Prlnted In Germany ISBN 3 428 03040 0
Inhaltsverzeichnis Einleitung 1. Gegenstand und Aufgabe .......................................... II. Die Methode ...................................................... III. Der Aufbau
9 9 10 12
Erster Teil
Historischer Hintergrund und Problemstellung 1. Montaigne und die historisch-soziale Situation im 16. Jahrhundert
1. Res publica Christiana und Nationalstaat ...................... 2. Auf dem hindernisreichen Weg zum Nationalstaat. .. .. . .. . .. . ..
II. Macht und Recht .................................................. 1. Problemstellung ................................................ 2. Das Erscheinungsbild der Macht ................................ 3. Das Recht ......................................................
14 14 14 18 22 22 24 30
Zweiter Teil
Kritik der abstrakten und transzendenten Rechtstheorien 1. Kritik der theologisch fundierten Rechtstheorien ..................
1. Ablehnung des Gottesgnadentums ..............................
II. Kritik der Vernunftrechtstheorien ................................ 1. Menschlicher Verstand und Anthropomorphismus .............. 2. Kritik der aristotelischen Teleologie ............................ III. Das Beispiel der Straftheorien .................................... IV. Das Beispiel der Hexenverfolgungen ..............................
32 33 33 38 40 40 42 44
Schlußfolgerungen: Ablehnung des Abstrakt-Allgemeinen; Hinwendung zum Konkret-Positiven..... . .. ... ... .. .. ... ..... ... .. ... ... ... .... 47 Dritter Teil
Der Empirismus 1. Der Begriff der Erfahrung ........................................
1. Vieldeutigkeit des Erfahrungsbegriffs .......................... 2. Die sinnliche Erfahrung. ... .. ... .... ... . .. . . . . .. . . .. . . . . . . ... .. 3. Fehlen der Selektivfunktion des Verstandes ....................
49 50 50 51 53
6
Inhaltsverzeichnis
11. Die Triebnatur ....................................................
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Schlußfolgerungen: Atomisierung als Ergebnis des auf Sinne und Triebnatur aufbauenden Empirismus.................................... 58 Vierter Teil
Ordnungsversuche 1. Die Ähnlichkeit I!. Das Natürliche .................................................... 1. Das Wahrscheinliche, Häufige und Mögliche als Kennzeichen des Natürlichen .................................................... 2. "Natürlich" ist nicht in einem Gesellschaftszustand zu finden. ... a) Kein Gesellschaftszustand als "logischer Mythos" ............ b) Fehlen einer geschichtlichen Gesetzmäßigkeit................ IH. Szientistische Ausschaltung der Wertungsproblematik durch Kausalitätsdenken ........................................................ 1. Montaigne und die neuen Naturwissenschaften...... . .. ... .. . ... 2. Keine Mathematisierung des Seins ............................ 3. Die gemeinschaftsstörende Natur des Menschen als Wirkursache der Macht .................................................... 4. L'homme dissociable et sociable ................................ 5. Rechtssicherheit als Ziel der Rechtsordnung-Bindung der Rechtsunterworfenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Freiheit der Rechtsunterworfenen und Einzelfallgerechtigkeit als Ziel der Rechtsordnung ........................................ IV. "La Coutume" .................................................... 1. Das Bewußtsein des Einzelnen in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit ...................................................... 2. Öffentliche Meinung als Ursache der Rechtsunsicherheit ........ 3. Zwischen Beharren und Revolution ............................ 4. Der "gedoppelte" Mensch ...................................... a) Die autonome Person ........................................ b) Die gesellschaftliche Stellung als "Rolle" .................... c) Die "arriere boutique" ......................................
60 60 61 61 62 62 64 67 67 69 73 76 76 78 83 84 86 88 91 91 92 94
Fünfter Teil
Die Entscheidung des Einzelfalles 1. Fehlen einer allgemeingültigen Lösung ............................ 1. Drang zur Allmacht und begrenzte Erkenntnisfähigkeit .......... 2. Macht und Freiheit oder Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit ............................................................ 3. Blindheit der eindimensionalen Rechtsauffassung .............. 4. Gemischttypisches Verhältnis von Macht und Recht .............. H. Der Einzelfall und das überpositiv-Allgemeine
Literaturverzeichnis
98 98 98 99 100 101 102 107
Zeittafel 1533 1535 1539-46 1549 1554 1558 1559-61 1565 1568 1569 1570 1571 1572 1573 1573-74 1577 1577-78 1580 158IJ.-.-Sl 1582 1582 1584 1587 1588 1588 1588-92 1592
Den 28. Februar, Michel Eyquem de Montaigne auf Schloß Montaigne bei Bordeaux geboren. Der Knabe wird der Erziehung eines deutschen Lehrers anvertraut, der ihm als erste Sprache Latein beibringt. Schüler des College de Guyenne. Beginn des Rechtsstudiums an der Universität von Toulouse. An Stelle seines Vaters Richter am Steuergerichtshof von perigueux. Nach Auflösung dieses Gerichtshofes wird Montaigne 1557 Mitglied des Parlaments von Bordeaux. Beginn der Freundschaft mit Etienne de la Boetie. Mehrere Reisen von Amts wegen an den Hof des Königs nach Paris. Heirat Montaignes mit Fran90ise de la Chassagne. Sein Vater stirbt. Michel de Montaigne erbt das väterliche Schloß und nennt sich von diesem Zeitpunkt an Michel, Seigneur de Montaigne. Herausgabe der übersetzung der "Theologia naturalis" des Raymondus Sebundus. Montaigne gibt sein Amt in Bordeaux auf und zieht sich auf sein Schloß zurück. Dort bereitet er die Veröffentlichung einiger literarischer Arbeiten des La Boetie vor, die 1571 erscheinen. Charles IX ernennt ihn zum Chevalier de l'ordre de Saint-Michel. Zeitraum, in dem seine politische Vermittlerrolle zwischen Heinrich von Navarra und dem Herzog von Guise stattfindet. Arbeit am ersten Buch der Essais. Fortsetzung der politischen Vermittlertätigkeit in den Wirren des Bürgerkrieges. Henri Irr ernennt ihn zum Gentilhomme ordinaire de la Chambre du Roi. Hauptsächlich arbeitet Montaigne am zweiten Buch der Essais. Veröffentlichung des ersten und zweiten Buches der Essais. Reise durch die Schweiz, Süddeutschland und Österreich nach Rom. Dort wird ihm 1581 die Ehrenbürgerschaft der Stadt verliehen. Wahl zum Bürgermeister der Stadt Bordeaux. Zweite Auflage des ersten und zweiten Buches der Essais. Nach der ersten Amtsperiode von zwei Jahren Wiederwahl zum Bürgermeister von Bordeaux. Dritte Auflage des ersten und zweiten Buches der Essais. Montaigne hält sich für längere Zeit in Paris auf. Politische Tätigkeit und Aufenthalt am Hofe Henri IH. Von Paris reist er zu den Generalständen nach Blois. Vierte Auflage der Essais, jetzt mit dem dritten Buch. In dieser Periode entstehen die handschriftlichen Eintragungen in Montaignes Handexemplar, das zur Grundlage aller späteren kritischen Ausgaben wird. Den 13. September. Tod Montaignes auf seinem Schloß.
Zur Zitierweise und übersetzung 1. Die Zitate aus den Essais sind ins Deutsche übertragen. Hinter den über-
setzten Zitaten befindet sich jeweils ein Hinweis auf Buch, Kapitel und Seitenzahl der Originalausgabe der Essais. Z. B. (1,13,1045) bedeutet: Buch I, Kapitel 13, Seite 1045. Der Hinweis auf die Originalausgabe der Essais bezieht sich auf die von Albert Thibaudet und Maurice Rat besorgte und in der "Bibliotheque de la Pleade", Paris 1962, erschienenen Gesamtausgabe der Werke Montaignes.
2. Bei der übersetzung wurde unterstützend herangezogen: Michel de Montaignes Gesammelte Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Einleitungen und Anmerkungen unter Zugrundelegung der übersetzung von J. J. Bode. Hrsgg. von O. Flake und W. Weigand, 8 Bände, 2. Auf!. 1915. (Wie die übersetzung von Bode beruht auch diese übersetzung auf einem unzulänglichen Originaltext und ist sprachlich veraltet.) Michel de Montaigne, Essais. Auswahl und übertragung von Herbert Lüthy, Zürich 1953. Diese übersetzung ist leider nur unvollständig.
Einleitung I. Gegenstand und Aufgabe
Gegenstand der Untersuchung ist das Werk Montaignes. Im Rahmen einer heute im Vordringen befindlichen systemergänzenden juristischen Topik! boten sich uns die "Essais" dieses Autors als beispielhafte Durchführung des neuerweckten "Problemdenkens" an. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts hat sich eine geradezu unübersehliche Literatur über Montaigne angehäuft. Nur die bekanntesten Aspekte, unter denen er gesehen wurde, sollen hier genannt sein: Montaigne als Theologe oder Ketzer, als Mystiker und Deist, als Moralist und Begründer der modernen Skepsis, als Schriftsteller und Entdecker einer neuen Literaturgattung. Trotz des überaus reichen Schrifttums fehlt es jedoch bis heute an einer Monographie, die umfassend über das Rechts- und Sozialdenken Montaignes Auskunft gibt. Sicherlich haben nicht alle, wie Montesquieu z. B. in ihm einen Poeten gesehen. Die Aufklärer wurden nicht müde, seine Verurteilung des Hexenkults und der Folter wiederzugeben, um ihm andererseits die Herabsetzung des natürlichen Verstandes anzukreiden. Die Konservativen nannten ihn als Beweis dafür, daß das Althergebrachte wegen seines Alters gegen Neuerungen zu verteidigen sei. Pragmatiker und "Positivisten" wiesen auf seine Ablehnung des "Naturrechts" hin. Mit seinem "guten Wilden" soll er die Grundlage für Rousseaus politische Philosophie gelegt haben. Man entdeckte bei ihm demokratische und liberale Gedanken, dann jedoch wurde er mit Machiavelli gleichgesetzt oder, da er ein Machttheoretiker sei, in die Nähe von Thomas Hobbes gerückt. In der Fülle der Assoziationen scheint uns das Denken und Wollen Montaignes auf dem Gebiet von Recht und Macht, Individuum und Gesellschaft verloren gegangen zu sein. Deshalb besteht das Anliegen dieser Arbeit darin, sein Denken auf dem genannten Gebiet möglichst ! Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Auflage 1969, S. 89 f., 98; Chaim Perelman, Justice et Raison, 1963; derselbe, über die Gerechtigkeit, 1967, Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 3. Aufl. 1965; Joset Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 2. Aufl. 1964, S. 44 ff., 218 ff.; derselbe, Vorverständnis und Methodenwahl in
der Rechtsfindung, 1970, S. 151 ff.
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Einleitung
erschöpfend darzustellen und als Einheit zu zeigen. Eine Aufgabe, die nicht nur historischen Wert hat, sondern die Zeitlosigkeit von Montaignes Gedanken, deren Gültigkeit auch für die heutige Zeit, zu Tage fördern soll. Diese Aufgabe ist bis jetzt noch nicht in Angriff genommen worden. 11. Die Methode
Ehe auf die von der Arbeit aufgeworfenen eigentlichen methodologischen Probleme eingegangen wird, scheint es wegen des gegenwärtigen Standes der Differenzierung und Spezialisierung, sowie der Abneigung bzw. Unfähigkeit, historische Perspektiven wahrzunehmen, angezeigt, darauf hinzuweisen, daß im 16. Jahrhundert "Recht und Macht" in jenem breiten Feld angesiedelt waren, von dem die traditionelle Politik sich bei ihren Betrachtungen leiten ließ. Um die historische Perspektive zu wahren, war deshalb die Problematik von "Recht und Macht" unter theologischen und ideengeschichtlichen, sozialen und soziologischen, politischen wie rechtlichen Aspekten zu behandeln. Methodologisch werden wir uns an einer "objektiven" Hermeneutik orientieren. Dabei verstehen wir "objektiv" in dreifachem Bezug: 1. Objektive Hermeneutik bedeutet einmal Konzentration auf das Werk als solches, das Bemühen, sich auf dessen Eigenart einzustellen, seine Autonomie in den Vordergrund zu rücken. Dabei ist sich der Verfasser bewußt, daß dieser Aspekt der Objektivität zwar Schwerpunkt einer Arbeit sein kann, jedoch der Ergänzung durch eine genetische Blickrichtung bedarf. Der historische Konstitutionszusammenhang kann nicht gänzlich außerhalb der Betrachtung bleiben, weil das zu interpretierende Werk auch aus den generativen Leistungen anderer sprachund handlungsfähiger Menschen geworden ist.
Soweit diese genetischen Gesichtspunkte berücksichtigt werden, wird der kulturgeschichtliche Zusammenhang nur gelegentlich gestreift. Den antiken und mittelalterlichen Quellen nachzugehen würde nicht nur den Rahmen der Arbeit sprengen, sondern nur Wiederholungen bringen können2 • Demgegenüber wird ausführlicher von der historischsozialen Situation zu sprechen sein, um die Zeitbedingtheit der "Essais" darzulegen. Wenn trotz dieser Bezugnahme grundsätzlich und hauptsächlich von dem autonomen Werk ausgegangen wird, so werden überlegungen zur 2 Zu den antiken Quellen vgl.: Pierre Villey, Les Sources et l'Evolution des Essais de Montaigne, 2. Auf!. Paris 1933, Bd. I ·und II; Hugo Friedrich, Montaigne, 2. Auf!. 1967, S. 36 ff.
11. Die Methode
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Originalität einzelner Gedanken Montaignes zwangsläufig untergeordnete Bedeutung haben müssen, was jedoch nicht hindert, die Sonderstellung des Werkes insgesamt, seine Eigenart, durch Vergleiche mit anderen Werken derselben Zeit hin und wieder zu unterstreichen. 2. Objektive Hermeneutik bedeutet im gegebenen Zusammenhang zum anderen Konzentration auf das Werk als Einheit und damit Abwehr der Versuchung, einzelne Aussagen zu isolieren und ihnen überproportionale Bedeutung zuzumessen. Gerade diese Forderung der Objektivität stellt uns bei Montaigne vor außerordentliche Probleme. Montaigne bedient sich einer Darstellungsweise, die zum Anblättern einlädt und nach einigen Seiten Lesen ein Aufhören an dieser Stelle nicht verbietet, um an einer beliebigen anderen Stelle ebenso vorzugehen. Die "Essais" insbesondere erwekken den Eindruck des Zufälligen, Unfertigen und Widersprüchlichen. Vordergründig scheint die empirische Mannigfaltigkeit nicht gebändigt durch ein System, das seinerseits seine Kraft aus einer Kernidee schöpft. Montaigne warnt jedoch selbst vor dem Mißverständnis, in seinen "Essais" nur unzusammenhängende Striche zu sehen, unverbindliche Aussagen einer Laune des Augenblicks. "Ich schweife ab, doch mehr aus Mutwillen denn aus Versehen. Meine Einfälle hängen zusammen, aber mitunter sehr locker, und verlieren sich nicht aus den Augen, selbst wenn sie einander krumm ansehen" (IH, 9, 973). Wenn die "Essais" auch nicht Ausdruck eines starren, auf verstandesmäßigen Erwägungen beruhenden Systems sind, so verbindet sie doch ein einheitliches Interesse. Sie wollen zeigen, daß allem Handeln, daß den dauernden Neuansätzen zur Erkenntnis der den Einzelfall regierenden Sachproblematik von einer einheitlichen autonomen Antriebsethik3. geleitet ist, oder doch sein sollte. Was diese Ethik mit ihren Forderungen nach Wahrheitsliebe, Toleranz und Bescheidenheit inhaltlich verlangt, ist nicht deduktiv ableitbar, steht nicht ein für alle mal fest. Ihr materialer Inhalt ergibt sich, wenn überhaupt, immer erst aus der Arbeit an jedem Einzelfall, ist aus der Einsicht in die partikulare, stets "gemischt-typische" Problemlage immer neu zu gewinnen. Die "Essais" sind Ausdruck dieses Bemühens um eine vernunftgemäße Sacheinsicht durch "Problematisierung". Alles Bemühen um den Einzelfall, um den Einzelaspekt des Einzelfalles, wird in seiner dauernden Intensität aus dem durchgehenden Interesse nach Bildung der Person - "um weiser zu werden" - durchgeführt, da das Gesetz keine fertigen Lösungen bereithält und damit 3 Sie ist Tugend- und Wertethik, im Gegensatz zur Gesetzesethik. Vgl. zu diesem Unterschied, Coing, 99 ff.
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Einleitung
die Person mit in die zu treffende Entscheidung einfließt. Eine aus evidenter Sacheinsicht gewonnene Sachgerechtigkeit kann sich nicht auf eine systemgerechte oder in Übereinstimmung mit einer traditionellen Ordnung befindliche Lösung ausschließlich berufen. Für die Richtigkeit der vorgetragenen Argumente oder der getroffenen Entscheidung, beruft er sich in erster Linie auf die Integrität der Person4 • Deshalb sein alles Einzelbemühen umgreifendes und dieses zusammenhaltendes Streben "maistre de soi" zu werden. 3. Objektiv bedeutet schließlich Auseinandersetzung mit den subjektiven Interessen des Hermeneuten, die den Blick auf das "Objekt" verstellen können. Wie eingangs angedeutet, spielte schon bei der Wahl des Interpretationsgegenstandes ein erkenntnisleitendes Interesse eine mitentscheidende Rolle und wer will abstreiten, daß gerade ein subjektives Angerührtsein notwendige Voraussetzung für das Gelingen einer Interpretation ist? Bemühen um Objektivität will demnach in diesem Bezug nicht sagen, daß von der Eigenart des Interpreten abgesehen werden kann, seine Anonymität (Austauschbarkeit) und damit Reproduktion seiner Ergebnisse erreicht werden sollte oder könnte. Man muß sinnverstehende Auslegung zulassen. Unter dieser Voraussetzung ist aber eine partizipierende Beziehung des verstehenden Subjektes mit einem Gegenüber notwendig. Wir müssen das, "was wir selbst sind, an dem, was wir nicht sind, am Gegenstand, oder umgekehrt den Gegenstand an uns messen "5. Objektivität kann hier neben einer Disziplinierung nur bedeuten, sich ständig der Gefahr bewußt zu sein, daß das, was Montaigne ist zerfließen oder zugedeckt werden kann, durch dem Interpreten eigene Bewußtseinsinhalte.
III. Der Aufbau Leitfaden und inneres Ordnungsprinzip der Interpretation bildet die Aussage, welche Auskunft über das Rechtsbewußtsein Montaignes zu geben vermag. 4 Diese Richtigkeitskontrolle steht nicht in Gegensatz zu der von der von der "neuen" Topik angebotenen Richtigkeitsgewähr. Montaigne setzt nur früher an. Wenn die "neue" Topik sich auf den Konsens eines auf Vernunftargumente eingestellten Auditoriums (eines auditoire universeI) (vgl. Esser, S. 152; Coing, S. 90) beruft, so bedarf es auch bei ihr als Vorstufe des in sich schon meinungsbildend wirkenden Vorbringens der aus unmittelbarer Sacheinsicht gewonnenen rechtfertigenden Argumente. Diese Meinungsbildung beruht z. T. auf der Person. Vernunft und die Bereitschaft diese zu gebrauchen werden vorausgesetzt. 6 Pet er Schneider, Ausnahmezustand und Norm. Eine Studie zur Rechtslehre von earl Schmitt, Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. I, Stuttgart 1957, S. 24.
III. Der Aufbau
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Dabei geht es zunächst darum, zu zeigen, wie sich Montaigne von tradierten Vorstellungen löste und ihm in einer Zeit des Umbruchs Recht und Macht zu einem Problem werden. Zeigte sich seinem Problembewußtsein Macht als unbestreitbare Größe, so war das Recht fragwürdig und umstritten. Die Fragwürdigkeit des Rechts führt zur Darstellung aller Bemühungen, das Recht aus scheinbar vorgegebenen Bindungen zu befreien. In seiner Zeit bedeutete dies Kritik am Transzendentalismus in Gestalt des theologischen sowie des idealistisch-griechischen Rechtsdenkens. Die Kritik an den abstrakt-transzendenten Rechtstheorien soll die Grundlage schaffen, daß Problem von Recht und Macht aus einer vordogmatischen Einsichtigkeit behandeln zu können. Sie ist nach Montaignes Rechtsbewußtsein unabdingbare Voraussetzung um eine konkrete Sacheinsicht erreichen zu können. Die Problematisierung geschieht dabei zum Teil ideologiekritisch in der Weise, als hinter die Fassade des eingespielten Konsens gegriffen wird, um die unauffälligen getarnten Machtverhältnisse freizulegen. Hierdurch werden wir zu der dritten Frage geführt: Ist Montaigne als Rechtsempirist zu qualifizieren? Diese Frage erzwingt die Klärung der Vorfrage, was Montaigne unter Empirismus versteht, wie die realen Beziehungen des Einzelnen zu seiner Innen-, Mit- und Umwelt hergestellt werden. Wenn sich unter diesem Gesichtspunkt eine Betrachtungsweise zeigt, welche den Menschen als besitz- und machtgieriges Wesen auffaßt, so zeigt sich doch zugleich, daß diese Betrachtungsweise sich nicht bei einer eindimensionalen Machttheorie "beruhigt". Der " wirkliche " Mensch strebt nicht nur nach Selbstübersteigerung, sondern auch nach Sicherung im Ganzen einer autoritativ oder gewohnheitsmäßig festgelegten Rechtsordnung. Zugleich bleibt er aber durch die Frage nach der Gerechtigkeit im einzelnen Fall beunruhigt. Diese Unruhe verhindert die Versteinerung des Systems, lenkt das Augenmerk auf die Tatsache der Unvollkommenheit und Ergänzungsbedürftigkeit jeder generellen Ordnung. Da allgemein Recht nicht ohne Macht und Macht nicht ohne Recht auskommen kann, wird zum Schluß zu untersuchen sein, wie Montaigne beide Größen einer Synthese näherbringen will.
Erster Teil
Historischer Hintergrund und Problemstellung I. Montaigne und die historisch-soziale Situation im 16. Jahrhundert 1. Res publica Christiana und Nationalstaat
Zweifel an den Gesetzen, an deren Legitimation durch bisherige Vorstellungen, an deren Einklang mit den Forderungen der Gerechtigkeit und Billigkeit; Zweifel, die sich auf die Person des Rechtsanwenders beziehen, werden hörbar, beleuchten kritisch deren Fähigkeit, im Einzelfall ohne oder bei fehlender eindeutiger Gesetzesanweisung Recht zu verwirklichen. Diese Zweifel sind stets vorhanden. Sie werden aber besonders in Zeiten des Um- und Zusammenbruchs vernehmbar, werden hörbar, wenn sich ein neues Bewußtsein über politische, religiöse und gesellschaftliche Zielsetzungen formt. Zu diesen Zeiten des Umbruchs zählen wir die Zeit des Hellenismus, der mit der herausfordernden Kritik der Sophisten an den Gesetzen der griechischen Stadtstaaten, die bis jetzt nicht mehr verstummte Frage nach dem Recht erstmals für unseren Kulturkreis aufwarfen. Zu diesen "Geschichtsknicken" zählen wir auch das 19. Jahrhundert, wie das unsere, und gewiß müssen wir dazu das 16. Jahrhundert rechnen. Nicht nur seine eigenen Reisen durch Deutschland, Österreich, der Schweiz und nach Rom l , sondern besonders die Reisen zur neuen Welt, die überaus große Zahl von Berichten in verschiedenen Sprachen über Entdeckung, Kolonisation und Mission Amerikas, trafen auf eine bei Montaigne vorhandene Disposition, dem Andersartigen Beachtung zu schenken und Berechtigung zuzuerkennen. Schon hier zeigt sich ein Grundzug der Person Montaignes: Der Zeitströmung nachgebend, den vielfältigen Einzelerscheinungen wie dem Besonderen des Einzeldinges starke Bedeutung beizumessen. Durch Kolumbus, Vasco da Gama und die Erdumsegelung Magalhaes waren Zweifel an der Einheit von Ökumene und Christianitas aufgekommen. Hatten die Apostel Christi Befehl, in alle Welt zu ziehen um allen Völkern seine Lehre zu verkünden nicht befolgt? Oder hatten sie 1 Vgl. dazu Montaignes "Le Journal des Voyages", in: Quevres completes, a.a.O., S. 1115 - 1342.
I.
Montaigne und die historisch-soziale Situation im 16. Jh.
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sich an Christi Befehl gehalten und lag es nur an der mangelnden Überzeugungskraft des Bibelwortes, daß nicht die ganze Menschheit unter einer, der römischen Kirche, vereint worden war? Unbeantwortete Fragen angesichts der offensichtlichen Verschiedenheit der Religionen auf dem Erdball! Neben die Verschiedenartigkeit der Religionen trat das Bewußtsein von der Vielfalt der Kulturen in Erscheinung. Erfreut stellt Montaigne die Andersartigkeit der Kulturen Amerikas fest. Zugleich wird jedoch dem schon geschwächten Bewußtsein von der Überlegenheit der europäischen Kultur ein Schlag versetzt. Im Spiegel des Anderartigen zeichnet sich für Montaigne ein negatives Bild der eigenen sozialen Wirklichkeit ab. Er stellt nicht nur objektiv fest, daß " ... ein ungeheuerlicher Abstand zwischen ihrem und unserem Wesen liegt", sondern er wertet (I, 31, 211). Die Menschen, die für Montaigne zum Teil wenigstens ein Produkt dieser Kultur sind, stellt er gegenüber. Dabei stellt er fest, daß wir, die Europäer, die angeblichen Wilden " ... in jeder Art von Barbarei übertreffen" (I, 31, 208). Die europäische Kultur ist für Montaigne nicht mehr die bessere, wohl aber die mächtigere Kraft, deren Überlegenheit den Niedergang der außereuropäischen Kulturen beschleunigt. "Ich fürchte, daß wir den Niedergang und den Ruin der neuen Welt stark durch unseren Einfluß beschleunigt haben und daß ihr unsere Ideen und Fertigkeiten teuer zu stehen kommen" (111, 6, 887). Diese Völker wurden, wie es Montaigne sieht, von den spanischen und portugiesischen Eroberern unter dem Deckmantel der Freundschaft und der Redlichkeit hintergangen. Um den Handel auszudehnen und das Gewinnstreben zu befriedigen wurden herrliche Städte und ganze Völker vernichtet, andere ihren gewachsenen sozialen Formen entfremdet. Die Sucht nach Perlen und Gold ließ die europäischen Eroberer unvorstellbare Grausamkeiten ausführen 2 • Für Montaigne hat die europäische Kultur eine Bewährungsprobe gegenüber der Neuen Welt nicht bestanden. Die aus ihr hervorgegangenen sozial-ethischen Forderungen und Maximen sind gegenüber dem in jedem Menschen angelegten Willen zur Macht nur Theorie geblieben. Hatte das Vorgehen der Europäer gegenüber außereuropäischen Völkern bei Montaigne Skepsis und Kritik an der europäischen Kultur wachgerufen, so kam eine andere Quelle des Infragestellens aus dem Innern Europas selbsts. In Europa hatte die Zersetzung des überkommenen Bewußtseins von der Einheit zwischen Papst und Kaiser, Imperium und seinen Teilen Vgl. zu diesem Problemkreis besonders: 1,31 und IH, 6 der Essais. Montaigne war zwar nicht der einzige, der so urteilte, (vgl. G. Atkinson, Les nouveaux horizons de la Renaissance frant;aise, 1935, S. 167 f.) jedoch 2
3
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1. Teil: Historischer Hintergrund und Problemstellung
seit der Gefangenschaft des Papstes in Avignon große Fortschritte gemacht. In der Wirklichkeit spiegelte sich dieses Bewußtsein in dem Aufbau, der Stärkung und Konsolidierung des Nationalstaates. Es fand seinen Ausdruck im Kampf gegen das römische Recht, als Repräsentant des Imperium Romanum, das sich in gegenwärtige Zeiten fortgesetzt haben sollte4 • Die Ausstrahlungskraft des römischen Rechts hatte im 11. Jahrhundert begonnen. Oft wird zur Erklärung dieses Phänomens auf die damalige wirtschaftliche Blüte der oberitalienischen Städte hingewiesen 5 • Diese Blüte soll die zu dieser Zeit vorgenommene kritische Rezension der justinianischen Digesten, die unter dem Namen littera Bononiensis (Digestenvulgata) Keimzelle aller kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen wurde, begünstigt haben. Aber weder allein aus der wirtschaftlichen Blüte, noch daraus, daß den Glossatoren nachgesagt wurde, sie erarbeiteten mit einer neuen Methodik die justinianischen Gesetze, ist das Interesse der Rechtsstudenten aus Italien, Frankreich und Deutschland hinreichend zu erklären. Was diese Studenten interessierte, war nicht die Methode, sondern das Objekt der Arbeit der Glossatoren: Das römische Recht. "Daß alle Parteien im römischen Recht nun das Recht der menschlichen Rechtsgemeinschaft schlechthin erblickten"6, lag daran, daß die von Kaisertum und Kurie geförderte allgemeine überzeugung vorherrschte, wonach das römische Recht sichtbarer Ausdruck der "Res publica Christiana" war7 • Aber gerade weil es das Recht des abendländischen Imperiums war und damit Kaiserrecht, erhob es Anspruch auf Geltung auch in den westeuropäischen Ländern8 • Mit dem Verblassen der Romidee und dem Aufkommen des Bewußtseins von der Sonderstellung der Nationalstaaten in Europa, mußte sich auch die Kritik am römischen Recht verstärken9 • Da in Frankreich war die Mehrzahl der Autoren geneigt, die neuentdeckten Völker mit dem Attribut "Wilde" zu belegen, was sie gegenüber Europa als minderwertig klassifizieren sollte. 4 Wenn es real auch stets in Frage gestellt war, so war diese Vorstellung bei der Empfänglichkeit der Menschen dieser Zeit für das Ideelle, doch höchst wirksam. (Vgl. Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters, 10. Aufl. Stuttgart 1969, S. 304 ff.) 5 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, S. 47 Anmerkung 7. 6 Franz Wieacker, 51. 7 Franz Wieacker, I, 51; H. Krause, Kaiserrecht und Rezeption, Heidelberg 1952, in: Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Kl. 1, S. 26 ff. S Chenon, Histoire generale du droit franc;;ais, Bd. I S. 507; Declareuil, Histoire generale du droit franc;;ais, S. 427 f. 9 In England z. B. empfiehlt Wyclif im 15. Jh. in "de officio regis", das Studium des römischen Rechts an den Universitäten Oxford und Cambridge
I. Montaigne und die historisch-soziale Situation im 16. Jh.
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das römische Recht durch frühzeitige Kritik nie so umfassend rezipiert und akzeptiert wurde wie in Deutschland, ist Montaignes Kritik daran nur als Teil einer schon zur Tradition gewordenen Abwehrreaktion zu verstehen10• Die frühzeitige Abwehrreaktion in Frankreich erklärt sich vor allem aus dem schon deutlich ausgeprägten Bewußtsein von der neuen staatlichen Einheit. Erstaunlich ist dabei, wie die französischen Legisten es verstanden, das römische Recht zu einem Instrument umzufunktionieren, mit dessen Hilfe sich die Macht der französischen Könige und damit zugleich der neuen Rechtspersönlichkeit Nationalstaat stärken ließ. Die Legisten bedienten sich dazu der gekünstelten Unterscheidung von "factum" und "ius": Nicht faktisch, sondern nur de iure gehöre Frankreich zum Imperium. H. Mitteisl l zitiert ein am Ende des 13. Jahrhunderts in Orleans entstandenes Rechtsbuch, "le livre de jostice et de plet". Er hebt hervor, daß alle Beziehungen zum Kaiserreich abgebrochen worden seien, alle staatsrechtlich verwertbaren Hinweise gestrichen und an die Stelle der Namen der römischen Kaiser habe man diejenigen der französischen Könige gesetzt. Die Regel "rex Franciae est imperator in regno SUO"12, die unbekannten Ursprungs ist, verhalf den Königen dazu, ihr Verlangen nach Souveränität mit juristischen Mitteln zu untermauern. Mit dieser Regel war es den Legisten ein Einfaches, alle, die absolute Macht der römischen Kaiser ausdrückenden Vorschriften des Corpus Iuris, auf die französischen Könige zu übertragen13 • Lange vor dem 16. Jahrhundert sind folglich die juristischen Grundlagen für die Souveränität der französischen Könige und die Weichen für die Entwicklung zum Nationalstaat gestellt. Die Abwehr gegen die Kritik am römischen Recht hatte bis zum 16. Jahrhundert ein soziales Klima mitgeschaffen, in dem die Franzosen begannen, sich als Staatsbürger Frankreichs und nicht als Untertanen des Kaisers zu fühlen. Heinrich der VIII. von England, Louis XI. von Frankreich und Ferdinand von Spanien stehen stellvertretend für das Heranwachsen der neuen Ordnung souveräner Staaten. Betrachtet man Montaigne auch als Produkt dieser historisch-sozialen Entwicklung, so kann es nicht verwundern, daß er die Staaten als Individuen auffaßt. Die Staaten werden geboren, blühen auf und verweldurch das der "statutes" der englischen Könige zu ersetzen. "Leges regni Angliae excellunt leges imperiales", zitiert nach Koschaker, 70. 10 Vgl. I, 23, 116 der Essais. 11 In: Zeitschrift der Savigni-Stiftung, Germanische Abt!., 63, 1943, S. 162 f. 12 Chenon, 816 f; DeclareuU, 432 f., 445 f. 13 "Immerhin" so meint Koschaker, 78, "ist es ein Zeichen für die Autorität der Kaiseridee und des römischen Rechts, daß man keinen anderen Weg gefunden hat, die Unabhängigkeit des französischen Königs vom Kaiser zu begründen, als jenen zu einem partikularen Imperator zu machen". 2 Kölsch
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1. Teil: Historischer Hintergrund und Problemstellung
ken in der Art, wie wir es an dem Körper jedes Einzelnen beobachten können. "Die Krankheiten und Verfassung unserer Körper zeigen sich auch bei den Staaten und den Regierungen. Die Königreiche, die Republiken entstehen, blühen auf und verwelken mit zunehmendem Alter wie wir ... " (U, 23, 662 f.). Die Staaten haben nützliche, schädliche, gute und schlechte Launen in so vielfältiger Mischung, wie wir sie bei Individuen wahrnehmen können. "Besonders die oft kranken Staaten leiden an einem übermaß an Launen, ... " (U, 23, 663). An anderer Stelle (lU, 8, 938) vergleicht er den Staat mit einem Haus oder einem Schiff, Objekte, denen schon von alters her eine Persönlichkeit zugeschrieben worden ist. Nicht eine Politik, wie die des überkommenen Imperium Romanums, die für alle Staaten in gleicher Weise galt, ist die beste. Unter der besten Politik versteht er diejenige, die der Besonderheit jedes Staatswesens Rechnung trägt. "Nicht nach Meinung der Gelehrten, sondern in Wahrheit ist die vortrefflichste und beste Verfassung für jede Nation die, unter der sie sich erhalten hat" (lU, 9, 934). 2. Auf dem hindernisreichen Weg zum Nationalstaat
Die Souveränität der französischen Könige war deutlich herausgestellt worden. Das Staatsgebiet war vergrößert und abgerundet14 • Trotzdem war der Nationalstaat als neue integrierende Einheit noch lange nicht verwirklicht. Starke partikulare Interessen schwächten die ersten Ansätze zu einem Nationalbewußtsein. Das Königtum war geschwächt durch den den ganzen Staat erschütternden Religionskrieg zwischen Katholiken und Protestanten. Die Einheit der Rechtsordnung stand in den Anfängen. Das römische Recht, das, wie wir gesehen haben, zum Vehikel des souveränen Königtums umfunktioniert worden war und daher die Schaffung des Nationalstaates hätte fördern können, wurde zugunsten der Partikularrechte in seiner Geltung durch die Argumente der Legisten auch beschränkt. Die Ablehnung des einzigen einheitlichen Rechtssystems behinderte demzufolge die Bildung des Nationalstaates16, 16. Die Legisten setzten durch, daß das römische Recht auch in Zentral- und Südfrankreich nur kraft Gewohnheit gelten durfte. 14 Die Feudalherren hatten ihren Widerstand gegen die Krone aufgegeben. Die Normandie und La Guyenne verloren schon 1443 ihre Selbständigkeit. 1477 wurde die Bretagne und 1480 Maine dem Staatsgebiet einverleibt. Im Jahre 1552 gelang es Heinrich II. gegen Karl V., die Bistümer Metz, Toul und Verdun einzunehmen. Aus Calais wurden 1558 die Engländer vertrieben und durch den Vertrag von Troyes (11. 4. 1564) endgültig dem französischen Staatsgebiet zugeschlagen. 15 Zur Rezeption der Statuten theorie in Deutschland, vgl. Wieacker, I, 83, 138 ff. 16 Soziale Umwälzungen waren in vollem Gang. z. B. kann ein enormer Zustrom der Landbevölkerung in die Städte beobachtet werden. Meist war
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Daraus folgte, daß auch im Gebiet des "droit ecrit" das römische Recht widersprechender Gewohnheit zu weichen hatte und nur dann Anwendung fand, wenn dies vernünftigem Gebrauch diente 17 • Noch zur Zeit, als Montaigne Mitglied des Parlaments von Bordeaux l8 war, entwickelten diese, auch in anderen Regionen Frankreichs bestehenden Staatsorgane, einen ausgeprägten Partikularismus. Sie waren "cours souveraines", d. h. bezüglich ihrer Urteile unterlagen sie keiner weiteren Berufung l9 • Häufig hielten die Parlamente das römische Recht nicht für anwendbar, da es vernünftigem Gebrauch widerspräche 20 • Versuche des Königshauses, die Staatsführung im zentralistischen Sinne zu straffen, schlugen vor Heinrich IV. weitgehend fehl. Als z. B. Catherine de Medicis mit ihrem Sohn Charles IX am 11. 4. 1566 auf einer Inspektionsreise nach Bordeaux kam, beklagte der Kanzler, zu dieser Zeit Michel de l'Hopital, in seiner Ansprache an das Parlament, daß die königlichen Ordonnancen nicht beachtet und deren Registriesie nicht in der Lage, sich den veränderten Lebensbedingungen anzupassen. Deshalb wurde durch sie das Elend, in jeder Hinsicht noch vergrößert. Neue soziale Klassen bildeten sich heraus. An Stelle des alten "tiers etat" treten Geld- und Amtsbourgoisie. Vgl. I, 23, 116 f. der Essais. 17
Paul Koschaker, 221.
Montaigne war bis zum Jahre 1570 Mitglied des Parlaments von Bordeaux. Heinrich H. schaffte immer neue Amter, die er verkaufte, um daß durch die Kriege in Italien verursachte Defizit auszugleichen. So schuf er 1554 einen "Cour des aides" in perigueux. Dieser Gerichtshof hatte die administrative und rechts sprechende Gewalt auf fiskalischem Gebiet über die Regionen in Zentralfrankreich. Der Vater Montaignes kaufte sich eine Stelle und trat diese 1554, als er zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt worden war, an seinen Sohn Michel de Montaigne ab. 1557 wurde der "Cour des aides" von Perigueux aufgelöst und die Mitglieder zu Mitgliedern des Parlaments von Bordeaux ernannt. Dieses Parlament, daß 1462 geschaffen worden war, war der souveräne Gerichtshof für La Guyenne, La Gascogne, Le Perigord, Le Limousin und La Saintoge. Es war in 5 Kammern aufgeteilt: La grande Chambre, la Chambre des enquetes, la Chambre de la Tournelle, (sie war mit Strafsachen befaßt), sowie zwei Chambres de requetes. Montaigne versah seinen Dienst in einer der beiden letztgenannten Kammern. Zu Montaignes Beziehungen zum Parlament von Bordeaux vgl.: Boscheron des Portes, Histoire du Parlement de Bordeaux, Bordeaux 1877, Bd. I, S. 99 ff.; M. Georges Hubrecht, Montaigne Juriste, in: IV. Centenaire de la naissance de Montaigne, 1533 - 1933, Bordeaux, 1933, 239 ff.; Fortunat Strowski, Montaigne. Sa vie publique et privee, Paris, 1938, S. 49 ff.; Louis Cons, Montaigne et l'idee de justice, in: Melanges a l'honneur de Paul Laumonier, 1935, Paris, S. 347 ff.; Alphonse Grün, La vie publique de Michel Montaigne. Etude Biograpique, Genf 1970. Neudruck der Ausgabe von 1855. 19 Declareuil, Bd. I, S. 626 f.; P. Schaeffner, Geschichte der Rechtsverfassung Frankreichs, Bd. H, 1859, S. 402 ff. 20 Sie wandten mit Vorliebe die regionalen Gewohnheitsrechte an, worin sie einen Ausdruck ihrer Unabhängigkeit und Autonomie sahen. J. Caillemer, Des Resistances que les Parlements exposerent a la fin du VXI. siecle a quelque essais d'unification du droit civil, in: Livre du Centenaire du Code civil, Bd. H, 1904, S. 1079 f. 16
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1. Teil: Historischer Hintergrund und Problemstellung
rung verzögert würde. Ohne Registrierung waren sie nicht anwendbar. Einwände wurden vorgebracht oder Registrierungen beschleunigt, wenn die Parlamente sich davon eine Stärkung ihrer Unabhängigkeit versprachen. Zum Beispiel hatte Francois 1. 1539 schon angeordnet, daß die Entscheidungen der Gerichte von nun an in französischer Sprache abgefaßt werden sollten21 • Montaigne aber kann sich noch nach 1570 darüber beklagen, daß dieser Anweisung immer noch nicht Folge geleistet wird (I, 23, 116). Zwar war die Rechtseinheit durch die Ordonnanz Charles VII. von Montils-Ies-Tours (1454), die die amtliche Aufzeichnung der lokalen und regionalen Gewohnheitsrechte anordnete22 , vorbereitet worden, doch die Bildung der Einheit brauchte noch einen großen Zeitraum. Zwar war das Pariser Parlament, das in seiner Bedeutung alle anderen überragte, mit seiner planmäßigen Rechtsprechung 23 seit dem 14. Jahrhundert, mit der von ihm aufgezeichneten Pariser coutumes (1510 und 1580 neu gefaßt), ein wichtiger Faktor auf dem Weg zur Rechtseinheit, doch zur Zeit Montaignes war diese nationale Einheit noch nicht erreicht. Das Königtum war noch nicht in der Lage, ein einheitliches Staatsbewußtsein so zu fördern, wie schließlich dies Heinrich IV. gelang. Ein geordnetes Staatsleben war nicht ;möglich. Der Absolutismus hatte sich zwar formiert, war aber zur Zeit der Religionskriege nicht stark genug, sein Prinzip durchzusetzen, wonach die Interessen des Staates vor denen der Kirche Vorrang haben. Die Kirchen unter sich und Staat und römische Kirche hatten sich zwar auseinandergelebt 24 , jedoch besonders unter der Regentschaft der Königinmutter Catherine de Medicis, hatte sich herausgestellt, daß die königliche Gewalt ein Spielball der gerade stärksten religiösen Gruppe war. Es sah nur so aus, als spiele sie die Guise gegen die Bourbonen aus; als sei sie es, die die Wahl habe zwi21 Vgl. Guillaume Guizot, Opinions de Montaigne sur les lois de son temps, in: Revue des Cours Litteraires de la Franee et de L'Etranger, 18651866, S. 139 - 145. 22 Declareuil, S. 875 f.; P. VioHet, Histoire du droit civil franc;ais, 1893, S. 142 f., 145, 147. 23 Aubert, Histoire du Parlement de Paris, Bd. II, 1894, S. 384 ff.; Paul Koschaker, S. 77 f.; 142 f., 221 f.; Lefevbre, Juges et Savants en Europe du 13. au 16. siecle, in: Ephemerides Juris Canonici (21), 1965, S. 78 ff.; G. Wesenberg, Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte im Rahmen der europäischen Rechtsentwieklung, Lahr, 1954, S. 57 ff. 24 Die Parlamente begrenzen das Asylrecht. Im Jahre 1539 verbietet das Edikt von Villers-Cotterets die Aburteilung von Laien in weltlichen Angelegenheiten durch kirchliche Gerichte. Bei Ansprüchen aus kirchlichen Privilegien, so ordnete es das Edikt von Melun aus dem Jahre 1580 an, hat eine gemeinsame Untersuchung durch einen kirchlichen und königlichen Richter zu erfolgen. Vgl. dazu "Les Ordonnanees des rois de Franee, 1902, (die letzten 4 Bände, Franeois ler); Catalogues de Actes de Franeois ler, 10 Bände, 18871908, vervollständigt durch 5 Bände Texte, 1515 - 1529, Paris 1916 -1938; Le reeueil d'lsambert, Aneiennes lois du royaume de Franee.
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schen einem Bündnis mit der katholischen Kirche und der Spanien zuneigenden Aristokratie oder ein solches mit den Anhängern der Reformation und England. Die Schaukelpolitik wurde von dem letzten Valois Heinrich !Ir. fortgesetzt 2.5. Immer dann, wenn sich der König den Protestanten geneigt zeigte, wandte sich der katholische Klerus und Adel dem Volk zu. Vor allem verstand es der Klerus vorzüglich, das Volk für seine Interessen zu mobilisieren. Michelet meint feststellen zu können, " ... que du jour Oll Paris proposa (1561) la vente generale des biens du clerge du jour ou l'Eglise vit le Roi incertain et tente de cette proie, elle se tourna vivement violemment vers le peuple, employant tous les moyens de predictions, d'aumöne, d'influence divers, son immense clientele, ses couvents ses marchands, ses mendiants, a organiser le meurtre"26. Ohne Partei zu ergreifen im Streit der Konfessionen, wie Michelet, bestätigt Montaigne den Mißbrauch des Volkes zur Durchsetzung von Machtansprüchen. "Ich habe in meinen Tagen Wunder an blinder und grenzenloser Willfährigkeit des Volkes gesehen, sein Glauben und Hoffen von seinen Anführern gängeln und um den Finger wickeln zu lassen, wie es ihnen gefiel und dienlich war, über hundert Enttäuschungen eine nach der andern hinweg, über Geisterspuk und Wahngebilde" (Il!, 10, 991). Die Bartholomäusnacht27 vom 24.8.1572 stellt nur das bekannteste Blutbad dar, welches Frankreich von diesem Ziel der Einheit abbrachte und in rivalisierende Parteien und Fraktionen zerriß. Von dieser Zerrissenheit Frankreichs ist in den Essais immer dann etwas zu spüren, wenn Montaigne von den politischen Verhältnissen und insbesondere über den Religionskrieg schreibt. Dann kehren immer wieder die Worte: party, membres, division, confusion, chacun, deschirer, desmembrer zurück28 . Montaigne bietet sich der Anblick eines Sterbens der erst schwach ausgeprägten staatlichen Einheit. Das alte Selbstverständnis, das von der Einheit päpstlicher, kaiserlicher, religiöser und weltlicher Macht ausging, ist dahin. Göttliche und antike Legitimationen des Rechts zerfielen. Alles ist Bewegung, Veränderung, Zersplitterung. 25 Einmal behandelte er Heinrich von Navarra (den späteren Heinrich IV.) wie seinen legitimen Nachfolger, dann wie seinen Thronrivalen. Am 20. 10. 1587 sandte er eine Armee gegen ihn, die entscheidend geschlagen wurde. Am 23. 12. 1588 wurde der Duc de Guise, der Führer der gegen Heinrich von Navarra gerichteten Liga, auf Geheiß Heinrichs 111. auf den Generalständen von Blois ermordet. 26 J. Michelet, Histoire de la revolution francaise, Bd. I, Paris, 1879, S. 36; Ebenso Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, in: Kritische Theorie, Frankfurt 1968, Bd. 11, S. 203 f. 27 Elizabeth von England trägt Trauer, Phillip II. von Spanien übersendet seine Glückwünsche und Papst Gregor XIII. ließ ein Te Deum singen. Vgl. Andre Maurois, Histoire de la France, 1958, Bd. I, S. 205. 28 Vgl. dazu besonders 111, 12, 1018 ff.
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"Woran sind wir?" (IH, 12, 1018), fragt Montaigne in dieses Fließen hinein. Diese Frage nach dem Standort, dem leitenden Prinzip, dem Kriterium, das ein Maßnehmen erlaubt, gilt für alle Lebensbereiche, also auch für das Recht. Diese Frage ist zeitlos und gilt deshalb auch heute. 11. Macht und Recht 1. Die Problemstellung
Macht ist allgemein gesprochen, das Vermögen etwas geschehen zu machen, zu bewirken, zu verursachen. In diesem weiten, wertfreien Sinne kommt Macht auch den Naturelementen zu, die die Materie verändern und indirekt auch Einfluß auf die sozialen Verhältnisse haben können. Aber auch die sogenannte Macht des Schicksals fällt hierunter, die menschliches Tun in bestimmten Bahnen hält oder nach verbreiteter Vorstellung in andere Bahnen lenkt. In dem genannten weiten Sinne kommt auch dem Menschen Macht zu. Er wird sich seiner Einflußmöglichkeiten bewußt, richtet sie auf ein Ziel und versucht, dieses Ziel unter A..'lspannung der Kräfte des Willens zu erreichen. Sprechen wir von Macht und Recht, dann ist der Machtbegriff einzuengen auf die Macht als sozialer Ordnungsfaktor, der durch das Medium des Rechts29 die Sozialbezüge der Menschen steuert. Aber Recht ist nicht nur das Medium der Macht, sondern zugleich fällt ihm die Aufgabe zu, die Macht zu begrenzen. Andererseits wird man jedoch dem Verhältnis von Recht und Macht nicht Genüge tun, wenn man das Wesen des Rechts ausschließlich in der Machtbegrenzung sieht. Zugleich erhält derjenige, der Recht bekommt, auch einen Machtzuwachs. Der Gesamthaushalt der Macht bleibt erhalten, nur erfolgt mit der Zuerkennung von Recht auch eine Umverteilung von Macht. Recht und Macht sind also immer zugleich, oder wie es Pascal ausdrückt: "Die Gerechtigkeit ohne Macht ist hilflos; die Macht ohne Gerechtigkeit ist tyrannisch30. " Grund und Art dieser engen Verbindung sind jedoch von jeher umstritten gewesen. Entweder wurde, wie durch den bekannten Satz Hobbes' "Auctoritas non veritas facit legem"31, nur noch die Macht ge29 Unter Recht wird hier sowohl Brauch, Sitte, Gewohnheitsrecht, positives Gesetz oder königliche Dekrete verstanden. 30 "La justice sans la force est impuissante: la force sans la justice est tyrannique." Pascal, Pensees, Edition Brunschvicg, Pensee Nr. 298; zum gleichen Gedanken J. Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § E. "Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten einerlei." Ebenso neuestens Peter Schneider, Recht und Macht, Mainz, 1970, S. 17. 31 Thomas Hobbes, Leviathan oder von der Materie, Form und Gewalt des kirchlichen und bürgerlichen Staates, in der berichtigten übersetzung von 1794/95, hrsgg. von J. P. Mayer, 1936, Kap. 26, S. 292.
II. Macht und Recht
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sehen oder über die Lehre vom Gotteskönigtum oder der "volonte generale"32 das Element der Macht vernachlässigt 33 . Aufgabe dieser Arbeit soll es sein, das Verhältnis von Macht und Recht zu bestimmen, so wie es Montaigne sieht. Die "Natur der Sache"34 die er auf jedem Gebiet der Erkenntnis suchte, (so spricht er von "sa (de Sache) veritable essence que nous cherchons" II, 12, 581; "essence des choses" II, 12, 582; "leur veritable essence" II, 12, 584; "cherchant une reelle subsistance" II, 12, 586; "le corps de la matiere" II, 10, 397 oder "la loy de leur essence" II, 12, 572) wollen wir auf dem speziellen Gebiet von Recht und Macht untersuchen. Dabei soll schon hier deutlich gemacht werden, daß Montaigne nie nach einer endgültigen Lösung des Problems gestrebt hat. Macht und Recht sind für ihn weder identisch, noch besteht zwischen ihnen ein nur antinomisches Verhältnis. Was er auf alles Sein bezieht gilt auch hier: "Man muß leiden lernen, was man nicht vermeiden kann. Unses Leben besteht, wie der aus Gegensätzen aufgebaute Zusammenklang der Welt ... Unser Dasein kann ohne diese Mischung nicht bestehen, und eine Seite ist ihm ebenso notwendig wie die andere" (111, 12, 1068). Von einem naturwissenschaftlich-technisch gefärbten Optimismus kann bei Montaigne keine Rede sein, wo es doch darum geht, leiden zu lernen, was man nicht vermeiden kann. Der Mensch ist nur in begrenztem Umfang der Macher. Mit einem Teil ist er derjenige, der sich in die "armonie du monde" einzuüben hat. Für Montaigne gibt es nicht die Methode, durch die sich alle Einzelfälle mit ihren Implikationen von Macht und Recht lösen ließen. Die "armonie du monde de choses contraires" ist fließend. Recht geht in Macht über und Macht in Recht, Einzelfallgerechtigkeit und Rechtssicherheit, wie Freiheit und Zwang sind nicht starr gegeneinander abgegrenzt. Die Mischung stellt sich in jedem Einzelfall verschieden dar und kann deshalb nur durch eine dem Einzelfall angepaßte Methode gefunden werden. Ist die Mischung des, rein begrifflich gesehen, Gegensätzlichen nicht stets aktuelles Bewußtseinsgut, so verkennen wir unentrinnbar das 32 "Il s'ensuit de ce qui precede que la volonte generale est toujours droite et tend toujours a l'utilite publique", J. J. Rousseau, Du Contrat Social. Ed. 10118 Paris, S. 73; oder ebendort S. 64: "Le souverain, par cela seul qu'il est, est toujour ce qu'il doit etre." 33 Neuerdings hat H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S. 289, zit. nach Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, S. 106 versucht, die Macht aus dem Recht wegzudiskutieren, wobei jedoch leicht zu erkennen ist, daß es nicht ohne die Macht geht, die bestimmt, was Recht ist. Vgl. auch Schneider, II, S. 37 ff. 34 "Sache" im Begriff der "Natur der Sache", wird hier dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechend, jedem Erkenntnisgegenstand oder Aussageobjekt gleichgesetzt. Vgl. Ralf Dreier, in: Zum Begriff der "Natur der Sache", Münsterische Beiträge zur Rechts- und Staatswissenschaft, Heft 9, 1965,
S.4.
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1. Teil: Historischer Hintergrund und Problemstellung
"Sein" in seinem Kern. Auf das Gebiet des Rechts übertragen bedeutet eine solche Verkennung des "Seins", daß Macht sich zur grenzenlosen Kraft ausdehnt. Diese zwar Ordnung und Rechtssicherheit realisieren kann, dafür jedoch Freiheit und individuelle Gerechtigkeit gefährden, mißachten, unterdrücken oder gar aufheben muß. Dieser, aus der Verkennung des "gemischttypischen" "Seins" folgenden Einseitigkeit, kann durch eine kritische Wissenschaft vorgebeugt werden. Sie hat die unverzichtbare Aufgabe, die Daten für die Entscheidung bereitzustellen, eine dogmatische Erstarrung zu verhindern und mögliche Konsequenzen aufzuzeigen. Wissenschaft soll den Blick schulen und offenhalten für die stets andersgelagerte Problematik des Einzelfalles. Die in ihr zum Ausdruck kommende Kritik ist ein notwendiger erster Schritt, die Entscheidung an sich liegt jenseits ihrer Grenzen; sie hat eine erhellende, keine zersetzende Funktion. Montaignes Auffassung vom Fließen des "Seins" macht von Anfang an jede Hoffnung, die Lösung des Verhältnisses von Macht und Recht aufdecken zu können, zunichte. Nicht verbaut die Auffassung vom "gemischttypischen" allen "Seins" jedoch die Lösung des Einzelfalles. Die Harmonie der Gegensätze im Fadenkreuz des Einzelfalles, "la moyenne mesure", die Montaigne nach seinen eigenen Worten "so überaus und durchgehend verehrt hat" (IH, 13, 1081), ist keine bequeme Mitte im Sinne von Mittelmäßigkeit. Sie ist das Ausfallprodukt, mit Montaignes Worten das Geschenk der wirkenden "Natur", in deren Obhut er sich dankbar eingeschlossen weiß. Sie tritt nach strengem Bemühen, den Einzelfall in all seinen Widersprüchen und Beziehungsverhältnissen auszuloten, mit dem sich Bemühenden in Kontakt zur Festlegung der "moyenne mesure". 2. Das Erscheinungsbild der Macht
Welche Assoziationen hat Montaigne, wenn er von Macht spricht? Die Unzufriedenheit mit der eigenen Stellung wird geschürt durch die dem Menschen gegebene Veranlagung zum Vergleichen. "In allen unseren Lebenssituationen vergleichen wir unseren Zustand mit demjenigen, der über uns ist und blicken zu denen hinüber, die besser dran sind" (IH, 9, 937). Diejenigen, mit denen wir geneigt sind, uns zu vergleichen, sind die, "die besser dran sind". Sie sind vollkommen, unabhängig gedacht von den Schwierigkeiten des täglichen Lebens und von der Macht und deren Herrlichkeit umgeben. An der Macht blendet besonders der sie umgebende Pomp. "Die Kleidung Cäsars bewegte die Gemüter ganz Roms, was durch seinen Tod
11. Macht und Recht
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nicht geschah" (IH, 4, 814). Nicht ohne Selbstgefälligkeit erwähnt Montaigne, daß "la mayeste Royalle" mehr als einmal "en sa pompe" (IH, 9, 965) bei ihm zu Gast war3.5,36. Pomp, Zeremoniell und Herrlichkeit verleitet den Betrachter jedoch auch dazu, dahinter mehr Macht zu denken, als in Wirklichkeit vorhanden ist. So beruht auf dieser Verkennung der Fakten der Brauch so vieler Völker, "den König, den sie auf den Thron erhoben haben, heilig (zu) sprechen. Diesen ist es nicht genug, ihn zu verehren, wenn sie ihn nicht auch anbeten" (HI, 8, 914). Die Herrlichkeit, die Anlaß zur Vergottung eines Menschen gibt, setzt sich häufig aus "geringfügigen und oberflächlichen Umständen und Erscheinungen, die sich uns einprägen" zusammen. Durch eine solchermaßen "hohle Schale" (III, 4, 814) geschieht es, daß die Macht der Argumente verkannt wird. Durchschaut man diesen Zusammenhang nicht, erhalten durch "die Salbung, das Amtskleid und die Stellung dessen, der spricht, oftmals hohle und seichte Reden Ansehen" (IH, 8, 909). Wir vergleichen uns, sagt Montaigne, mit denen, die "besser dran" sind. Besser daran im Ansehen der Gesellschaft stehen diejenigen, die sich auf eine weithin verehrte, gefürchtete oder bloß respektierte Ahnenreihe stützen können, die Titel, Orden und Reichtum als Aushängeschild zur Verfügung haben 37 • Aber beim bloßen Vergleichen kann es nicht bleiben, da "die überlegenheit und Minderwertigkeit, die Herrschaft und die Knechtschaft zu natürlichem Neid und Streit gezwungen sind" (III, 7, 896). Das natürliche Verlangen nach der Machtstellung des anderen ist wie ein Naturgesetz "Und was noch schlimmer ist: Jeder horche in sich hinein. Er wird finden, daß unsere inneren Wünsche zum überwiegenden Teil auf Kosten anderer entstehen und sich wachhalten" (I, 22, 106)38. Wegen dieses in der Natur des Menschen angelegten Willens zur Macht, kann der Machtinhaber nie sich ruhig seiner Macht erfreuen. Den ständigen Kampf zwischen denen, die schon die Mittel der Macht besitzen und denjenigen, die diese erst erstreben, kann nicht ganz ausgeschaltet, jedoch durch den Abbau der sozialen Gegensätze gemildert werden. Will er aus diesem Grunde die sozialen Gegensätze abbauen, 35 Der spätere Heinrich IV. war als König von Navarra am 18. und 19. Dezember 1584 und am 2. Oktober 1587 auf Schloß Montaigne. 36 Vgl. auch I, 26, 157. 37 Vgl. 111, 7, 896; I, 46, 268 f. 38 Bertrand de Jouvenel, Du Pouvoir, Histoire naturelle de sa croissance, Geneve, 1947, S. 126 und 153 schreibt, daß Macht auszuüben und zu besitzen einem dem Menschen eigenen "Trieb andere zu unterjochen; andere seinem Willen gefügig zu machen, entspringe". Dies rufe ein "unvergleichliches LustgeruhI" hervor.
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1. Teil: Historischer Hintergrund und Problemstellung
so läßt er sich nicht von der utopischen Hoffnung leiten, alle sozialen Unterschiede ausräumen zu können, ja man kann wohl mit einiger Berechtigung sagen, daß ihm eine solche Nivellierung gar nicht gelegen käme. Nur um die sozialen Unterschiede in Grenzen zu halten findet er es "unmenschlich und ungerecht, sich so viel auf diesen Vorrang, der weiter nichts als ein Vorrang des Glücks ist, zugute zu tun; und die Gemeinwesen, in denen weniger Ungleichheit zwischen Herren und Knechten herrscht, dünken mich die billigsten" (11, 6, 799). Ein Abbau der Ursachen des Machtkampfes fordert nach Montaigne nicht nur die Gerechtigkeit, sondern auch der Rechtsfrieden. Bestehen weniger krasse soziale Unterschiede, so erscheint der Ruhm blasser und die Herrlichkeit wird weniger begehrenswert. Man wird nicht mehr sagen können, daß für "diesen Ruhm und dieses Ansehen die Welt zum Wanken gebracht wird" (I, 46,269). Ist der Ruhm einerseits eine Quelle der Unruhe, so sieht Montaigne darin aber zugleich die Ursache für ein der gegebenen Ordnung konformes Verhalten. Sicherlich ist es eine "fauce opinion"39 dem sozialen Stellenwert die ausschließliche oder nur die überragende Bedeutung zuzumessen. Doch "wenn indessen diese falsche Meinung der Öffentlichkeit dient, um die Menschen in ihrer Pflicht anzuhalten; wenn das Volk dadurch zur Tugend erweckt wird; wenn sich die Fürsten betroffen fühlen, zu sehen, wie die Welt das Andenken Trajans segnet und das Neros ausspeit, ... dann möge sie dreist überhandnehmen, und möge man sie unter uns großzüchten, so sehr man kann" (11, 16, 612 f.)40. Der Stellenwert, den der Einzelne in der Gesellschaft einnimmt, darf auch deshalb nicht ganz außer Acht gelassen oder abgebaut werden, weil dieses das einzige funktionierende - wenn auch unvollkommene - Auswahlkriterium für den König darstellt, wonach er die Ersten seines Landes auswählen kann. "Denn die Natur hat ihnen (den Königen) keine Augen gegeben, die so viel Volks zu überblicken vermöchten, um darin die Vortrefflichsten ausfindig zu machen, und in unsere Herzen zu blicken, wo das Bewußtsein unserer Gesinnungen und unserer besten Kräfte wohnt" (111, 8, 911). Dieses Auswahlkriterium ist unvollkommen, weil der Ruhm "eine von anderen abhängige Eigenschaft ist, zeitbedingt und vom Glück bestimmt und die einer verdorbenen und nichtigen Person zufallen kann" (111, 5, 828). Indem Montaigne ausdrücklich betont, daß er den tugendhaften dem nur sozial angesehenen Bewerber vorziehen würde, wird das soziale Ansehen wieder in Miß39 Montesquieu, De L'Esprit des Lois, (Ed. Garnier), Buch III, Kap. 7, S. 30 spricht von "honneur faux". 40 Ganz verständlich wird diese Stellungnahme nur aus dem Chaos der Religionskriege.
11. Macht und Recht
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kredit gezogen. Doch wenn das soziale Ansehen auch eine Ursache der Machtkämpfe ist und nur ein unvollkommenes Auswahlkriterium darstellt, kann darauf nicht verzichtet werden, da zur Zeit kein besseres vorhanden ist. Würde jedoch jemand ein Auswahlkriterium finden, womit man in "unsere Herzen sehen könnte, wo das Bewußtsein unserer Gesinnungen und unserer besten Kräfte wohnt", der würde "mit diesem einen Schlag eine vollkommene Staatsform errichten" (IH, 8, 911). Macht und List sind für Montaigne untrennbar. Gerade auf dem Gebiet des sozialen Zusammenlebens öffnet sich ein besonders fruchtbares Feld für Verrat, Lüge und überlistung. Montaigne kennt aus seiner Praxis als Richter, Bürgermeister und Verhandlungsführer zwischen den rivalisierenden Parteien im Religionskrieg alle die im öffentlichen Leben angewandten Schliche. Er will auch gar nicht "der Betrügerei ihren Rang bestreiten, das hieße, sich schlecht auf die Welt verstehen. (IH, 1, 773). Damit ist nicht gesagt, daß er sich nun selbst des Betrugs bedienen will, oder dessen Anwendung wie Machiavelli41 , dessen Schriften Montaigne kannte, empfiehlt. Er hält es schlicht für möglich, im politischen Geschäft, einem an sich "trüben Wasser zu schwimmen, ohne darin fischen zu wollen" (IH, 1, 771). Versteht man sich aber richtig auf die Welt, meint Montaigne, so müsse man anerkennen, "daß die List die Heuchelei und der politische Betrug oft nützliche Dienste geleistet haben" (IH, 1, 773)42. Machiavelli will nicht nur den Nutzen der List für die Macht feststellen, sondern Wege aufzeigen, diesen Nutzen zu erreichen. Er macht die List und den Betrug zum Pflichtfach für den Politiker. Für die Peitsche der Macht des Stärkeren, die die Gesellschaft zusammenhält43 , sind ihm alle Mittel genehm. Montaigne ist dagegen für Offenheit, gegen den Gedanken der überlistung und Verrat, denn listiges und verräterisches Verhalten "macht einen Umgang unter den Menschen unmöglich und zerreißt alle Bande unserer Gesellschaft" (H, 18, 650). Montaigne wird nicht müde, die gemeinschaftsfördernde Kraft der Wahrheitsliebe zu betonen. So sagt er einmal, daß "eine offene Rede eine ebensolche Gegenrede zeugt und die Zunge löst wie der Wein und die Liebe" (IH, 1, 771). 41
Niccolo Machiavelli,
72 f., 75 f.
Der Fürst, (Ed. Kröner) 3. Auflage, 1963, S. 64,
42 Machiavellis Kommentar zu List: "Wer am besten Fuchs zu sein verstanden hat, ist am besten gefahren! Doch muß man sich darauf verstehen, die Fuchsnatur gut zu verbergen und Meister in der Heuchelei und Verstellung zu sein (S. 72)." 43 Bei Machiavelli stellt sich das Problem, wie man mit allen Mitteln die Macht erlangt oder bewahrt, deshalb dringender, weil er im Gegensatz zu Montaigne von einer ausschließlich bösen Natur des Menschen ausgeht, d. h. er ist undankbar, wankelmütig, verlogen, heuchlerisch, ängstlich und raffgierig (S. 63, 69, 71 f., 74).
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1. Teil: Historischer Hintergrund und Problemstellung
Wenn man Montaigne vorwirft, keine anderen Ansichten als Machiavelli zu vertreten, so zieht man vor allem folgende Textstelle als Beleg heran: "Das öffentliche Wohl verlangt, daß man verrate, daß man lüge, daß man niedermetzle" (IH, 1, 768). Diese Gleichstellung erfolgt zu Unrecht, da Montaigne nicht seine eigene Meinung wiedergibt, sondern eine weit verbreitete Auffassung festhält. Er empfiehlt gegenüber Machiavelli zu prüfen, ob nicht das öffentliche Interesse nur ein wohlfeiler Vorwand für egoistische Interessen darstellt. Bei eingehender Selbstprüfung, so meint er, werde man feststellen, daß die Fälle, in denen "das öffentliche Wohl" verlangt, jemanden zu betrügen oder niederzumetzeln, "seltene und ungesunde Ausnahmen von unseren natürlichen Regeln darstellen. Man muß ihnen weichen, aber mit großer Mäßigung und Umsicht: kein persönlicher Vorteil ist es wert, daß wir um seinetwillen unserem Gewissen solche Gewalt antun; der öffentliche wohl, vorausgesetzt, daß er sehr offenkundig und sehr gewichtig ist" (IH, 1, 778). Der Mächtige fürchtet die Macht, weil er weiß, daß sein Streben, das ihn zur Macht brachte, in jedem angelegt ist und der andere keine Ruhe geben wird, bis er ihn verdrängt hat. "So sehr er sich auch mit fremden Söldnern als Bewachung umgibt und mag er auch immer von einer Reihe Bewaffneter umgeben sein, derjenige, der sein Leben verachtet, ist stets in der Lage, dasjenige anderer auszulöschen. Und dann der ständige Argwohn, der den König mit Mißtrauen gegenüber jedem erfüllt, wird ihm sicherlich zu einer schrecklichen Qual werden" (I, 24, 128). Entscheidend ist jedoch, daß gerade die "Furcht und das Mißtrauen den Angriff herausfordern und diesen als gerechtfertigt erscheinen lassen" (I, 24, 129). So ist der Mächtige durch den Machthunger aller anderen gezwungen, sich noch mehr Macht zu verschaffen, als er schon hat, um jedes Aufbegehren im Keim ersticken zu können und seine Furcht zu beruhigen. Daraus folgt, daß in jeder Macht der Keim steckt, sich zur totalen Macht auszuweiten. Totalitäre Macht üben diejenigen aus "die sich nicht mit dem halben Menschen zufrieden geben und die erwarten, daß ihre Befehle blind ausgeführt werden" (IH, 1, 772). Sie verlangen Unterwerfung nicht nur in den äußeren Handlungen, sondern bis in die Gesinnung der Staatsbürger hinein. Macht hat nach Montaigne nicht nur das Bestreben, sich zur totalen auszudehnen, Macht macht blind für das Gefühl des richtigen Maßes. Sie verleitet den Mächtigen zu sinnleeren Demonstrationen. Sie verführt ihn dazu, seine Macht zu nackter Gewalt ausarten zu lassen, denn "es ist schwierig Maß zu halten bei maßloser Machtfülle" (IH, 7, 896). Wie könnte Alexander sonst, der alle Macht auf Erden besaß, einem
II. Macht und Recht
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schon besiegten Gegner seine Macht spüren lassen, wie es Montaigne berichtet (vgl. I, 1, 13 f.). Der gefangene Befehlshaber der Verteidiger von Gaza trat stolz erhobenen Hauptes, ohne ein Knie zu beugen oder um Gnade zu flehen vor Alexander. Der grausame Tod, den ihm Alexander bereiten ließ, hatte keinen einsichtigen Zweck, war Ausfluß einer entarteten Entscheidung der Macht. Der Hang zur Unterwürfigkeit, der bereitwillige Gehorsam, der in dem Ruf nach dem starken Mann gipfelt, ist jedoch ebenso im Menschen angelegt, wie der Machtwille. Nicht nur mit Konkurrenz braucht der Mächtige zu rechnen, ihm wird nicht nur gefolgt aus Furcht vor der Anwendung der bereitstehenden Machtmittel. Die Unterwerfung schillert nach Montaigne wieder in vielen Farben und Nuancen. Alexanders (IH, 8, 898) Gefolgsleute und Berater trugen den Kopf zur Seite geneigt wie ihr Herr, schmeichelten ihm und ahmten ihn nach. In diesem Stadium ist es Zeit für den Mächtigen, auf der Hut zu sein. Die äußerliche Unterwerfung ist nicht nur mehr Machtteilnahme, sondern kann zur Machtübernahme durch die formal sich Unterwerfenden werden. Das Schmeicheln beinhaltet verfälschte Informationen und führt zu falschen Entscheidungen. Die Gefahr, daß das eigentliche Machtzentrum sich vom König auf die "Berater" verlagert ist groß. Deshalb gibt es "keine soziale Stellung, die so sehr wie diese aufrichtige und freie Beratung nötig hat" (IH, 13, 1056). Andererseits ist das Verlangen nach Machtteilnahme eine Gefahr für die Integrität des Einzelnen, wenn sie aus egoistischen Motiven, wie Vermehrung des eigenen Vermögens oder Beförderung in der Karriere ausgeübt wird. Deshalb wünscht sich Montaigne als Berater des Königs "eine Person, die mit ihrem Reichtum zufrieden ist"; der keine Furcht hat, durch offenherzige Darlegung seiner Gedanken "in seiner Beförderung gebremst zu werden". Jedes Ansinnen des Königs, soll vor seiner Ausführung der Prüfung desjenigen unterliegen, der es auszuführen hat, denn "nicht alle Handlungen sind für einen ehrenwerten Mann, selbst im Dienste des Königs, erlaubt" (IH, 1, 780). Jedes Jota Verlust an kritischem Verhalten, auch gegenüber dem Mächtigsten, "dem man trotzdem ein loyaler Diener sein kann" (I, 26, 154) stellt "ein Verrat am Gewissen" (IH, 1, 777) dar. Montaigne will keine unrealistischen Forderungen aufstellen. Er weiß um die Zwangslage, in der diejenigen sind, die einerseits Ehre und Güter vom Mächtigen annehmen und andererseits seine Befehle unausgeführt lassen sollen, falls sie nicht ihrem Gewissen vereinbar sind. Geschenke können deshalb unbekümmerter von denen angenommen werden, "die Gott von der Sorge um die natürlichen und dringlichsten
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1. Teil: Historischer Hintergrund und Problemstellung
Dinge zum Leben befreit hat" (IH, 9, 946) und, daß man sich freier geschenkter Güter erfreuen kann, "wenn es nicht ein durch die Notwendigkeit verpflichtender und gezwungener Genuß ist, was nur der Fall ist, wenn man in seinem Willen und seinem Vermögen die Kraft und die Mittel hat, darauf zu verzichten" (IH, 9, 946). Wenn Montaigne das Gewissen zur entscheidenden Instanz macht, so geschieht dies in dem Bewußtsein, daß diese Forderung in einem Abhängigkeitsverhältnis schwierig ist. Wie sonst könnte er sagen, daß "das Geben eine ehrgeizige und bevorzugende Geste ist, wie das Annehmen ein Verhalten der Unterwerfung darstellt" (IH, 9, 946). Macht ist für Montaigne nicht nur Herrlichkeit, sondern zugleich auch Einsamkeit. Die soziale Sonderstellung hebt den Mächtigen heraus aus der Gemeinschaft der Gesellschaftsmitglieder in die Isolation. Montaigne sagt es deutlich in seiner Eigenschaft als Herr von Schloß Montaigne: "Meine soziale Stellung hat mich über die Menschen hinausgehoben. Die Ungleichheit und das Mißverhältnis sind zu groß. Sie folgen nur in ihrem äußeren Benehmen und aus Gewohnheit, oder, eher als mir, meinem Vermögen, um das ihrige zu vermehren. Alles was sie mir sagen und für mich tun ist nichts als Heuchelei. Um mich herum sehe ich nichts als Schein und Falschspiel (Maskerade)" (1,43,258). 3. Das Recht
Wir waren davon ausgegangen, daß dem Recht die Aufgabe zufällt, die Macht zu begrenzen. Deshalb muß man dem Menschen als Machtträger "den Bewegungsspielraum umgrenzen und die Machtbefugnis abstecken. Man muß ihm Scheuklappen verpassen, um seinen Blick nach unten und vor seine Füße zu halten, damit er nicht in Versuchung gerät, die Spuren zu verlassen, die ihm das Gewohnheitsrecht und die Gesetze vorzeichnen" (H, 12, 541 f.). Rechtsregeln machen Macht also verfügbar, berechenbar. Wie schon dargelegt, kann auch des Königs Macht in nackte Gewalt umschlagen. Ohne konkrete Maßnahmen vorzuschlagen, muß ein Weg gefunden werden, der dies verhindert. "Man stelle sich den Menschen vor, ausgestattet mit Allmacht, er entartet; er muß gleichsam als Almosen um Begrenzung und Widerstand gegen seine Macht bitten" (IH, 7, 897 f.)44. Aber sind die Normen, die wir Recht nennen, nicht auch nur Macht, die die bereits vorhandene Macht begrenzt? Was macht ihre Qualität 44 Sollten hier die Wurzeln der Gewaltenteilungslehre Montesquieus liegen, der die Essais kannte? "Tout serait perdu si le meme homme ou le meme corps des principaux, ou des nobles ou du peuple exerc;aient ces trois pouvoirs", in: De L'Esprit des Lois" (Ed. Garnier), Bd. I, 1956, S. 164.
11. Macht und Recht
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als Recht aus? Sind sie, wie die Antike annahm, Ausfluß eines unumstößlichen Gesetzes des Kosmos oder wie die christliche Tradition annimmt, begründet in Gottes Vernunft oder Willen? Sind sie Recht, weil sie einem Naturgesetz gleich immanenten Sachzwang auf die Macht ausüben oder drückt sich in ihnen ein historisch aufzufassendes Entwicklungsgesetz aus? Diese Fragen nach der Legitimation der sozialen Normen als sozialer Ordnungs- und Gerechtigkeitsmaßstab, werden in einer zweieinhalbtausenjährigen Geschichte gestellt, schienen gewissen Epochen beantwortet um dann aber wieder in Frage gestellt zu werden. Obwohl Montaigne die Essais weder als Jurist noch für Juristen geschrieben hat, er wohl bewußt Anspielungen auf seine lange Praxis als Jurist vermeidet, durchzieht diese Frage die ganzen Kapitel des Werkes. Hat nun Epikur Recht, den Montaigne zitiert, "auch die schlechtesten Gesetze seien uns so unentbehrlich, daß ohne sie die Menschen sich gegenseitig auffressen würden" (H, 12, 541). Vertritt also der Positivismus die gültige Auffassung, indem er sagt: "Gesetz ist Gesetz!"45 und damit auch Gesetze mit willkürlichem und verbrecherischem Inhalt als Ordnungsrnaßstab anerkennen muß? Oder ist denjenigen zu folgen, die vorgeben", es gäbe einige bestimmte, überzeitliche und unveränderliche (,Gesetze'), die man natürlich nennt, die dem Menschen eingeprägt seien durch ihr eigenes Wesen?" (H, 12, 563 f.). Wie sich aus dem letzten Zitat ersehen läßt, ist die Frage, ob die sozialen Ordnungsnormen mehr als nur Macht sind, für Montaigne auch die "Naturrechtsfrage"46, die stets auf der Suche nach der "ursprünglichen Richtigkeit und Einheit des Seins"47 war.
Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Aufl., Stuttgart 1956, S. 352. Vgl. Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre. Versuch einer Orientierung, 3. Auf!. 1964, S. 3. 41 Pet er Schneider, I, S. 37. 45
4G
Zweite?" Teil
Kritik der abstrakten und transzendenten Rechtstheorien Das abstrakte Naturrecht war für Montaigne eine Mischung griechischen Rechtsdenkens mit christlichem Glaubensgut, wie es für die Spätscholastik im Übergang zur Neuzeit maßgebend wart. Zur Einführung in die die Naturrechtsdiskussion beherrschenden Strömungen während der Spätscholastik dient Montaigne die Übersetzungsarbeit an der "Theologia naturalis sive liber creaturarum" des Raymundus Sebundus2 • In seinem Buch tritt Sebundus gegen die Abrückung der Glaubensinhalte ins Irrationale ein. Dieser Prozeß war so weit fortgeschritten, daß ein logischer Zugang zu ihnen von vielen nicht mehr für möglich gehalten wurde. Unmittelbare Folge war ein Gegensatz zwischen Mysterien und Vernunftobjekten und die Lehre von der "doppelten Wahrheit": Glauben und Wissen befanden sich dergestalt auf zwei verschiedenen Ebenen, daß die religiöse Wahrheit unangetastet bleiben sollte, obgleich sie für das logisch-diskursive Denken falsch sein kann. Hauptanliegen der "Theologia naturalis" war nun, nachzuweisen, daß das logisch-diskursive Denken gleichwohl für die geoffenbarten mystischen Glaubenswahrheiten Beweisgründe vorzulegen im Stande war. Ihm sollte es gelingen, sie für alle vernünftigen Menschen einsichtig zu machen. Dies erkennt Montaigne klar: " ... denn es (das Buch) nimmt sich vor, mit menschlichen und natürlichen Beweisgründen alle Glaubenssätze der christlichen Religion gegen die Atheisten darzutun und zu beweisen; ... " (II, 12, 417). Im 15. und 16. Jahrhundert war die Verbindung von Religion und Recht, Monarch und Gott, göttlichem und staatlichem Gesetz noch so eng, daß über Religion nicht ohne die in ihrem Beziehungsfeld liegenden Gegenstände des Rechts und des Staates geschrieben werden konnte. Nach dieser Klarstellung kann es nicht verwundern, daß Montaigne in der "Apologie de Raimond Sebond" alle genannten Gegenstände zur Sprache bringt. Vgl. etwa Hans Wetzet, S. 89 ff. Das Buch wurde 1434/36 abgefaßt, zuerst 1484 in Lyon gedruckt und bis zur Mitte des 17. Jhs. mehrfach aufgelegt. Zur Literatur über Sebundus vgl. H. Friedrich, S. 94 Anmerk. 58. 1
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I. Kritik der theologisch fundierten Rechtstheorien
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Dieser "Essai" läßt auch erkennen, daß ihm die spätscholastischen Naturrechtslehren nicht unbekannt waren. Ähnlich wie auf dem Gebiet der Religon wurde hier diskutiert, ob die ewigen überzeitlichen Naturrechtssätze von der Vernunft des Menschen erkannt werden konnten oder ob der Mensch sie lediglich durch die Offenbarung Gottes erfuhr 3,. Zunächst hatte sich im Anschluß an Duns Scotus und Ockham der Nominalismus durchgesetzt. Peter d'Ailly und sein Schüler Johannes Gerson in Frankreich und z. B. der Tübinger Theologe Gabriel Biel stimmen darin überein, daß das Gute und Gerechte eine Funktion des göttlichen Willens sei. Es gibt nichts an sich selbst, aus der "Natur der Sache" heraus Gutes. Dieses Prädikat kann einer Sache nur beigelegt werden, weil Gott es liebt, d. h. billigt. Gottes Wille, der selbst an keine Regel gebunden ist, ist die Regel jeder Gerechtigkeit. Dieser Wille Gottes, mit dessen Änderung sich auch das, was Gerecht ist, ändert, kann nur durch die Offenbarung dem Menschen mitgeteilt werden. Die spanischen Spätscholastiker4 (vorbereitet schon durch Gregor von Rimini) wenden sich vom Voluntarismus wieder ab und erklimmen den Gipfel des aus der griechischen Philosophie überkommenen "Wertobjektivismus" (z. B. Franz von Vitoria; Ludwig Molina; Gabriel Vasquez und Franz Suarez). Im Gegensatz zum Voluntarismus ist für sie die Verpflichtung aus der "Natur der Sache" des Kriterium des Naturrechts. Alle "Wertobjektivisten" sind sich darin einig, daß nicht Gottes, an keine Regel gebundener Wille, über Recht und Unrecht entscheidet. Uneinigkeit bestand, weil die einen das Gerechte und Gute mit Gottes Vernunft zusammenfallen ließen, wogegen die anderen (z. B. Gabriel Vasquez) Gott die schöpferische Vernunft absprachen. Das Gerechte ergab sich aus objektiven Gesetzen, die selbst Gottes Vernunft vorgelagert waren. Gott blieb nur noch die Funktion des weisesten Auslegers und Ratgebers dessen, was dem Naturrecht entsprach. I. Kritik der theologisch fundierten Rechtstheorien 1. Ablehnung des Gottesgnadentums
Der Voluntarismus lehrte, wie wir sahen, daß alles was Gott will Recht und nichts Unrecht ist als das, was Gott verhindern will. Der Monarch war von Gottes Gnaden, worin sich ausdrückte, daß ihn eine besonders nahe Verbindung zu Gott auszeichnete, ihm der Wille Vgl. im einzelnen die Darstellung, die Hans Welzel, S. 89 ff., gibt. Daraus erklärt sich wohl der Versuch des Katalanen Sebundus in geistesgeschichtlicher Hinsicht, den Verstand wieder zum maßgebenden Kriterium für die Erkenntnis der Glaubenswahrheiten zu machen. 3
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3 Kölsch
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2. Teil: Kritik der abstrakten und transzendenten Rechtstheorien
Gottes bei jeder Entscheidung, klarer als anderen Menschen, geoffenbart war. Diese Ideologie des aufkommenden Absolutismus, konnte man leicht für objektiv richtig halten, betrachtet man die Bedeutung und die Konsequenzen einer Entscheidung des Monarchen. Die Unruhe über die Machtfülle eines einzelnen Menschen legt sich nur allzu bereitwillig bei dem Gedanken, "daß diese von einer so gewichtigen und bedeutenden Ursache (Gottes Wille) hervorgerufen und geleitet ist" (Il, 12, 454). Doch "wir irren uns" (Il, 12, 454). Der Monarch ist nicht prädestinierter als andere Menschen; ihm wird der Wille Gottes nicht anders geoffenbart als den übrigen Menschen. Was man auch lehren möge, sagt Montaigne, "wir müssen immer eingedenk sein, daß es der Mensch ist, der gibt und der Mensch ist, der empfängt und darlegt; ... " eine irrende, schwache Kreatur, deren Abstand zu Gott unermeßlich ist (Il, 12, 546). Hinter der Fassade von Pomp und Herrlichkeit wird der gebrechliche irrende Mensch hervorgezogen. "Betrachtet ihn hinter dem Vorhang; er ist nichts als ein gemeiner Mensch, und zuweilen verworfener als der letzte seiner Untertanen. Die Feigheit, die Unentschlossenheit, die Ehrsucht, der Unmut und der Neid suchen ihn heim wie einen andern und Sorge und Furcht halten ihn inmitten seiner Kriegsheere an der Gurgel gefaßt" (I, 42, 253). Alles was über die rein menschliche, seiner sozialen Stellung entsprechenden Respektierung hinausgeht, lehnt Montaigne ab (IIl, 8, 914). Die Könige haben keinen anderen Schlaf als alle Menschen und die Krone schützt sie weder vor der Sonne noch vor dem Regen (I, 43, 258). In Blickrichtung auf Gott reiht er den Herrscher auf drastische Art ein und macht ihn zu einem unter vielen. Auch auf dem höchsten Thron der Welt "sitzen wir auf nichts anderem als auf unserem Hintern" (IIl, 13, 1096). Mit dieser Ansicht steht Montaigne in Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Calvin, dessen Wirken in Genf und Einwirken auf die Hugenotten in Frankreich ihm bekannt war. Für Calvin waren die Könige gleichsam zu neuen Menschen geschaffen. Die zur Herrschaft Bestimmten sind nach ihm mit einer heroischen Natur ausgestattet. Zwischen der Obrigkeit und Gottes Willen besteht ein solch enger innerer Zusammenhang, daß die "königliche Autorität direkt zur göttlichen wird5 • Gott hat die Könige über die anderen Menschen hinausgehoben; sie sind gleich Gott. Montaigne lehnt nicht nur das Gottesgnadentum ab, sondern ist gegen jede Prädestination, die als Waffe in der sozialen Auseinander5
Josef Bohatec,
Calvin und das Recht, Feudingen, 1934, S. 25 ff., 85. -
I. Kritik der theologisch fundierten Rechtstheorien
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setzung benutzt wird. Für Calvin war der Gedanke der Prädestination, falls nicht ein Mittel zur politischen Machtausübung, so doch ein willkommenes Mittel, eine allgemeine Gesinnungsethik anzuerziehen. Der Auserwählung lag eine unerforschliche Willensentscheidung Gottes zugrunde. Die Prädestination gewährte eine Heilsgewißheit für den Auserwählten. Dies jedoch nur dann, wenn er ganz gewiß sein konnte, zu den Bevorzugten zu gehören. Da aber Gottes Entscheidung nicht zu beeinflussen war, noch wir in der Lage, sie zu erkennen, mußte es - da die gänzliche Ungewißheit nicht erträglich war - Symtome geben, an denen man den Willen Gottes ablesen konnte. Es kam so nur darauf an, bestimmte, für die sozial wünschenswerte Ordnung, notwendige Gebote als von Gott geoffenbart auszugeben. Der Auserwählte zeigte sich dann darin, daß er an der Aufrechterhaltung und Ausbreitung dieser Gebote mitwirkte. Ständig und eifrig mußte man sich in dieser Aufgabe bewähren, denn man hat nun einmal die Gnade. Und wer wollte nicht zu den Begnadeten gehören und somit mit allen seinen Kräften die Gebote zu erfüllen sich bemühen? So barg die Lehre von der Prädestination die Gefahr der "Zwangsevangelisierung" in sich. Gut und Böse, Wahrheit und Irrtum lassen sich an den Geboten der Obrigkeit messen. Um nie zu irren, muß der Einzelne das für schwarz halten, was er weiß sieht. Gleichgültigkeit oder Lippenbekenntnisse genügen nicht. Da die Gleichgültigen jedoch nicht alle werden, die Obrigkeit jedoch nicht dulden kann, daß ihre Gebote nicht oder nur halbherzig befolgt werden, muß sie von der Lehre zum Gebot und von diesem zum Terror fortschreiten. Zu dem Geschäft, die sozialen Normen als von Gott geoffenbart auszugeben, sagt Montaigne: "Die Bösen und die Unwissenden werden dabei nur schlimmer" (I, 56, 306). Da wir alle nach Montaigne eine Disposition zum Bösen haben, da wir alle mehr oder weniger unwissend sind, sagt er an anderer Stelle: "Sie wollen sich außer sich versetzen und ihrer Menschlichkeit entrinnen. Das ist Torheit: statt sich in Engel zu verwandeln, verwandeln sie sich in Tiere" (lU, 13, 1096)6. Angeblich von Gottes Willen abgeleitete soziale Regeln sind nach Montaigne so gefährlich, weil sie unserem "discours ordinaire" nicht unterliegen und uns deshalb "der Mittel, sie zu bekämpfen, nehmen". Aber auch deshalb, weil der Glaube an das "übernatürliche" den Menschen in seiner Meinungsbildung motiviert wie der Wille zur Macht. "Daher kommt es, daß nichts mit größerer überzeugung geglaubt wird als das, was man am wenigsten kennt, und daß niemand selbstsicherer auftritt als diejenigen, die uns Märchen erzählen" (I, 32, 213 f.). Die Prä8 Pascal wiederholt: (Pensee Nr. 358) "L'homme n'est ni ange ni bete, et le malheur veut que qui veut faire l'ange fait la bete"!
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2. Teil: Kritik der abstrakten und transzendenten Rechtstheorien
destination gehört zu diesen "Märchen" und zählt deshalb zu dem "Gebiet und dem Gegenstand der Betrügerei" (I, 32, 213). Gott ist ein bequemes Alibi. Die Berufung auf ihn hilft, daß "das, was ungerecht ist für Recht gehalten wird" (111, 12, 1020). Unter diesem Deckmantel können Geiz, Ehrgeiz, Egoismus, Grausamkeit und Rachsucht, - nach Montaigne die anthropologischen Wurzeln der entarteten Macht - ungestört gedeihen. "Die Bosheit beginnt legitim zu werden" (111, 12 1020). Von Gott abgeleitete Gesetze sind nicht Recht. Um seine Ansicht zu bekräftigen, zitiert er Titus Livius: "Nihil in speciem fallacius quam prava relligio, ubi deorum numen praetenditur sceleribus7 ." Für Montaigne war die zu seiner Zeit geführte Diskussion des Widerstandsrechts der Beweis dafür, daß soziale Verhaltensregeln nicht aus Gottes Wort (der Bibel) oder Willen abgeleitet werden können. Während der Regierungszeit Charles IX. erschien z. B. die Schrift: "Du droit des magistrats sur les sujets". In dieser kam der Gedanke der Volkssouveränität unzweideutig zum Ausdrucks. Besonders nach der Bartholomäusnacht 1572 lieferte die Bibel den Protestanten willkommene Hilfe, den Aufstand des Volkes gegen einen ungerechten Herrscher zu propagierenD, 10. Besonders die sog. Vindiciae contra tyrrannos von Du Plessis-Mornay ll werfen die Frage auf, ob ein Untertan auch dann noch zum Gehorsam gegenüber dem Fürsten verpflichtet sei, wenn der Befehl gegen die Religion verstoße. Die Frage wird verneint, da der König nur Vasall Gottes und somit der göttlichen Autorität unterworfen sei. Das Volk könne den Vertrag mit dem König lösen, sobald dieser den heiligsten Vertrag, der zwischen Gott und allen Menschen bestehe, breche. Hinter dieser mitschwingenden Berufung auf Gottes Willen steht für Montaigne protestantisches Machtstreben. Wie richtig Montaigne vermutete, zeigt sich daran, daß die Protestanten nur bis zum Tode Henri 111. für ein Widerstandsrecht waren. Dann, als der König von Navarra als Protestant König von Frankreich (Henri IV.) wurde, leiteten sie aus Gottes Willen das Gegenteil ab 12.,13. "Seht 7 "Nichts ist betrügerischer als der Aberglaube, der seine Verbrechen mit dem Interesse der Götter rechtfertigt!" 8 George Weilt, Les theories sur le Pouvoir Royal en France pendant les guerres de Religion, Paris, 1891, S. 98. D George Weilt, S. 81. 10 Für das Widerstandsrecht des Volkes auch die "Franco-Gallia" des Franz Hotmann, (1573) der zur Begründung jedoch nicht Gottes Willen oder die Bibel heranzieht. 11 George Weilt, S. 113. 12 Als Henri IV. als König von Frankreich zum Katholizismus übertrat, wechselten die Fronten erneut. 13 Montaigne wendet sich ebensosehr gegen die Katholiken, die in umgekehrter Richtung ebenso oft ihre Meinung änderten.
1. Kritik der theologisch fundierten Rechtstheorien
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die greuliche Schamlosigkeit, mit der wir uns die göttlichen Wahrheiten wie Fangbälle zuspielen, und wie frevelhaft wir sie verworfen und wieder aufgelesen haben, je nach der Stellung, in die uns das Glück in diesen allgemeinen Stürmen verschlägt. Diese so feierliche Gewissensfrage, ob es dem Untertan erlaubt ist, sich zur Verteidigung seines Glaubens gegen seinen Fürsten mit bewaffneter Hand aufzulehnen, erinnert euch noch, in welchen Mäulern im vergangenen Jahr ihre Bejahung den Eckpfeiler ihrer Partei bildete, und für welche Partei ihre Verneinung der Eckpfeiler war; und hört nun, von welcher Seite jetzt der Lärm und die Behauptung des einen und des andern kommen; und ob die Waffen weniger für diese eine als für jene andere Sache erklirren" (Il, 12,420). Da das ständige Berufen auf Gott nicht nur verbrecherische Gesetze mit dem Mantel des Rechts bedeckt und eine Hauptursache für die Störung des sozialen Friedens darstellt, ist es verständlich, wenn Montaigne Gott aus den sozial-politischen Händeln der Menschen ganz heraushalten will. Weder sollen die Katholiken einen Sieg im Religionskrieg als Bestätigung ihrer Sache durch Gott ansehen, noch soll eine Niederlage als Züchtigung Gottes ausgelegt werden. Es ist verwerflich - und deshalb die von ihm eingeleitete "metaphysische Revolte" - "wie es so üblich ist, unsere Religion durch das Glück und Gedeihen unserer Unternehmungen bekräftigen und stützen zu wollen" (I, 32, 214). Gott ist nicht sein Angriffsobjekt, Gott ist nicht tot. Gott hat sich jedoch so weit von der Welt entfernt, daß sein Wille keinen Einfluß mehr auf die Welt nimmt, nachdem er die Welt einmal geschaffen hat. Montaigne sieht die von Duns Scotus!4, Ockhham!6 und deren nominalistischen Nachfolgern!6 noch als gangbar bezeichnete "Brücke" zu Gott, die Offenbarung, nicht mehr. Er spricht zwar davon, daß unser Ver14 WeZzeZ, S. 66 f .. ; Günther Strathenwerth, Die Naturrechtslehre des Johannes Duns Scotus, Göttingen 1952, passim. 15 WeZzeZ, S. 81 ff. 16 Der moderne Voluntarismus zeigt sich z. B. im Urteil des Bundesgerichtshofs vom 30.6.1966 (abgedruckt in der "Neuen Juristischen Wochenschrift, 1967, S. 343 ff.). Nach dem BGH ist eine Gesetzesvorschrift nach dem in ihr zum Ausdruck gekommenen objektivierten Willen des Gesetzgebers auszulegen. Das Gericht meint nun nidlt einen konkreten Willen (z. B. den des Parlaments, des Volkes oder eines einzelnen Interessenvertreters). Er meint den Willen als "Idee", (vielleicht sogar Gottes Willen) der allen Diktatoren, dem Unterhaus in London oder dem Obersten Sowjet gemeinsam zugrunde liegt. Dieser Wille läßt sich nicht danach befragen, was getan werden muß, um Recht zu verwirklichen, denn dann müßte man ihn mit realen Ursachen konfrontieren und auf reale Ziele beziehen. Dadurch würde er aber seine Abstraktheit als "Idee" wieder verlieren, die er ja nach dem BGH besitzen soll. So läßt sich im Einklang mit dem Voluntaristen Duns Scotus nur sagen: "Warum der Wille gerade dieses will, dafür gibt es keinen anderen Grund als den, daß der Wille eben Wille ist." (Zitiert nach WeZzeZ, S. 69.)
2. Teil: Kritik der abstrakten und transzendenten Rechtstheorien
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stand mit der leblosen Materie zu vergleichen sei und die Gnade Gottes ihm Form verleihe (II, 12, 424 f.). Erst dann, wenn Gott dem Menschen die Hand reiche, wenn Gott ihn mit seiner Offenbarung erhebe und trage, werde dessen Wille für uns deutlich und könne in unserem Wollen Ausdruck finden. Jedoch reicht Gott dem Menschen nur "außerordentlicherweise die Hand" (II, 12, 588). Für die tägliche Praxis ist Gott abzuschreiben. Für die uns hier interessierende Frage, ob die Regeln des sozialen Zusammenlebens ihre Legitimation als Recht in Gottes Willen finden können, wie dies eine Variante des christlichen Naturrechts - der Voluntarismus - annimmt, vertritt Montaigne einen konsequenten Agnostizismus 17 • Er kommt zu dem Ergebnis, daß Pythagoras der Wahrheit nahe ist, mit seiner Ansicht, "die Kenntnis dieser ersten Ursache und Wesen der Wesen sollte undefiniert, ohne Beschreibung und Verkündung bleiben; daß es nichts anderes sei, als die äußerste Anstrengung unserer Einbildungskraft zur Vollendung hin und jeder die Idee davon gemäß seinen Fähigkeiten mit Inhalt anfüllt" (II, 12, 517)18. 11. Kritik der VernunftreclJ.tstheorien
Das Ergebnis neuplatonisch-plotinischen Denkens ist der Gedanke vom Stufenbau des Kosmos. Der Mensch nimmt in dieser Stufenordnung die Spitzenstellung ein, da ihm Sprache und Vernunft eigen sind. Für einen Teil der christlichen Naturrechtslehre im 16. Jahrhundert1' steht der Mensch durch seine Vernunft in ständiger Verbindung zu den ewigen "Ideen" des Guten, Gerechten und Wahren. Gleichgültig ob sie mit Gottes Vernunft zusammenfallen gelassen, oder dieser vorgeordnet gedacht wurden. Rückgrat dieser, wie jeder anderen ideellen Naturrechtlehre, bildet Platos Ideenlehre als Lehre von den apriorischen Wesensgehalten der wechselnden Erscheinungswelt, die nur insoweit real ist 20 , als sie an den Ideen teilhat. Montaigne lehnt sowohl einen in Stufen gedachten Kosmos ab, wie auch die platonische Ideenlehre. Nur Eigendünkel, so meint er, könne den Menschen dazu verleiten, sich selbst die Sonderstellung eines krönenden Abschlusses der Schöp17 Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Montaigne ist nicht gegen die Existenz Gottes, sondern seinen (notwendigerweise) Mißbrauch in Philosophie und Recht. Pascal, in: "Entretien de Pascal avec M. de Saci (Pensees, Ed. Brunschwicg), S. 42, ist zuzustimmen, daß Montaigne versuchte, eine Moral zu begründen, "sans les lumieres de la foi", aber auch, "qu'il foudroie plus vigoureusement l'impiete horrible de ceux qui assurent que Dieu n'est point." 18 In dieser Haltung Montaignes ist vielleicht die Ursache zu suchen, weshalb die Essais 1676 auf den Index gesetzt wurden. Vgl. P. Bonnefon, Montaigne et ses amis, Bd. 11, Paris, 1898, S. 38. Welzel, S. 89 ff. 20 Welzel, S. 22.
I'
H. Kritik der Vernunftrechtstheorien
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fung zu verleihen 21 • Zunächst zeigt er, wie der Mensch, wegen seines irrenden zur überheblichkeit verführenden Verstandes, das elendste, schwächlichste und insgesamt miserabelste Geschöpf ist. Die Herabwürdigung darf aber nur als Gegenreaktion zu der Anmaßung gesehen werden, sich an die erste Stelle eines in Stufen gedachten Kosmos zu setzen, nicht aber als Ausdruck einer Menschenverachtung. Er baut keine neue Stufenordnung mit umgekehrter Reihenfolge auf, er stellt den Menschen nicht auf eine Stufe mit bösartig und listig gedachten Tieren. (Es sei nur auf Machiavelli verwiesen, der dem Fürsten riet, Fuchs und Löwen nachzuahmen oder Hobbes, der das menschliche Verhalten demjenigen eines Wolfes gleichsetzte.) Er läßt jedem Geschöpf seine Eigenständigkeit ohne über- und Unterordnung. Gegenüber der "Natur" als Ganzem gibt es für Montaigne nur Gleichordnung. "Wir stehen weder über noch unter den übrigen Geschöpfen: alles, was unter dem Himmel ist, hat einerlei Gesetz und einerlei Los" (Il, 12, 436). Besonders in den letzten Jahren seines Lebens läßt sich eine intensivere Beschäftigung mit Plato feststellen. Die "Politeia" und die "Nomoi", die Montaigne in lateinischer Übersetzung kannte, verwendet er hin und wieder. An Plato interessierte ihn aber fast ausschließlich die Darstellung des Sokrates. Von den hier interessierenden idealistischen Lehren Platos hat Montaigne sich nicht angezogen gefühlt. Er hat keine Beziehung zu diesem vom Gegenständlichen losgelösten Denken. Er steht ihm weniger ablehnend gegenüber als verständnislos. Für eine begründete Ablehnung ist seine Beschäftigung mit Plato zu oberflächlich. Montaigne, der fasziniert ist vom Konkret-Realen, dem an Sokrates besonders auffällt, daß er den Verstand vom Himmel, wo er seine Zeit verlor, auf die Erde zurückholte, glaubt nicht, daß Plato seine Ideenlehre ernst gemeint hat. "Ich kann mir nicht leicht denken, daß Epikur, Plato und Pythagoras uns ihre Atome, ihre Ideen und ihre Zahlen für bare Münze gegeben haben. Sie waren zu weise, um ihre Glaubenssätze über so ungewissen und strittigen Dingen aufzurichten" (Il, 12, 491 f). Montaigne zieht, motiviert durch die Schwäche der Verstandeserkenntis, einen eindeutigen Trennungsstrich zwischen "all dem, was unter dem Himmel ist", und der metaphysischen Idee, damit auch zwischen dem abstrakt gedachten Naturrecht platonischer Herkunft und dem positiven Gesetz. Der Verstand "des Menschen kann nichts anderes, 21 Craig B. Brush, Montaigne and Bayle, variations on the Theme of Skepticism, The Hague, 1966, S. 80: "Montaigne reminds man, that he is lodged in the lowest and basest portion of the uni vers, its center. Far from being a position of privilege, the center of the universe was regarded by the cosmology of the 16° century as its refuse heap and Hell was serurely located in the depths of the earth, the point fathest distant from the empurean."
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2. Teil: Kritik der abstrakten und transzendenten Rechtstheorien
als sich überall zu verirren, besonders dann, wenn er sich mit himmlischen Dingen befaßt" (I!, 12,500). Er verführt den Menschen zu überheblichkeit, weil seine mit Irrtum belasteten Erkenntnisse den Menschen dazu verführen, sie als göttliche Idee auszugeben. 1. Menschlicher Verstand und Anthropomorphismus
Der Mensch wird überheblich, weil er in Gefahr steht, sein subjektives Meinen und Wollen an den Himmel zu projezieren und als göttliche Vernunft herunterzuholen 22 • "Wir müssen bemerken, daß jedem Geschöpf nichts lieber und werter ist als sein Wesen (der Löwe, der Adler, der Delphin schätzen nichts höher als ihre Gattung), und daß ein jedes die Eigenschaften aller andern Dinge nach seinen eigenen mißt: ... über diese Beziehung und diesen Begriff kann unsere Vorstellungskraft nicht hinaus, sie kann sich nichts anderes ausdenken, und es ist ihr unmöglich, über diese Grenze zu schreiten und diese Schranke zu überspringen. Daher rühren die alten Schlußfolgerungen: Von allen Formen die schönste ist die des Menschen; Gott ist folglich von dieser Form" (I!, 12, 513 f.). Um den Anthropomorphismus noch deutlicher zu geißeln, fährt er mit beißender Ironie fort: "Weshalb aus uns Götter machen wie das Altertum; das übertrifft die äußerste Schwäche unseres Verstandes; das muß das Ergebnis einer außerordentlichen Trunkenheit unserer Erkenntnisfähigkeit sein" (I!, 12, 497). Gott wird von Montaigne immer weiter aus der Philosophie wie aus den Problemen des Staates und des Rechts verdrängt. Das zeigt sich letztlich deutlich daran, wie Montaigne dem von Aristoteles geprägten Gedanken der Teleologie begegnet. 2. Kritik der aristotelischen Teleologie
Bei Aristoteles setzte die tätige Vernunft 23 den Menschen in die Lage, aus den von der leidenden Vernunft empfangenen Sinnbildern und den von der Einbildungskraft produzierten Phantasie bilder, deren Substanz oder Wesen herauszudestillieren24 • Von Aristoteles, dessen Einfluß auf Montaigne nur schwach war, sagt er: "Ich erkenne bei Aristoteles die meisten meiner alltäglichen Regungen nicht wieder" (lI!, 5, 852). Montaigne, der dem Menschen in der Apologie nur Verstand zuerkennt, 22 Zum Anthropomorphismus Montaignes vgl.: Pierre Villey, Les Sources et I'evolution des Essais de Montaigne, 2. Aufl. Paris 1933, Bd. I, S. 193. 23 Aristoteles, über die Seele, 2. Aufl. Paderborn 1953, H, 3 - 5, 427 a ff., S. 104 ff., hrsg. und übersetzt von Paul Gohlke. 24 So Josef Geyser, über Begriff und Wesensschau, in: Phil. Jahrbuch, Bd. 39, Fulda, 1926, S. 28 ff.
11. Kritik der Vernunftrechtstheorien
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hält es für ausgeschlossen, daß dieser allein das Wesen einer Sache erkennen kann. Aber hier, wo es um Montaignes Abkehr von der Transzendenz geht, ist noch von größerem Interesse sein Unverständnis dessen, was Aristoteles unter dem Wesen der Sache versteht. Bei diesem ist das Wesen der Sache eng mit dem Begriff der Teleologie verschmolzen2.';. Alle Dinge, sowohl die künstlichen wie die natürlichen 26 erreichen am Abschluß ihres Werdeprozesses die Vollform 27 • Dieser Gedanke von der Formursache wird ergänzt durch den der Zweckursache. Danach sind alle Sachen ihrer Natur nach von Anfang an auf ihr Ziel, die Formursache angelegt 28 • Jede Bewegung wird auf Grund dieses Naturbegriffs von der blinden Unruhe zur vorausbestimmten Zielstrebigkeit. Der Grund allen Werdens aber erblickt Aristoteles in Gott, dem vernünftigen, ewigen, unbewegten, alles bewegenden Prinzip 29. Diese von Aristoteles über den dargestellten Gedanken der Entelechie hergestellte Bestimmung aller Immanenz durch eine transzendente Instanz, zieht Montaigne in Zweifel. "Vergessen wir nicht Aristoteles, was auf natürliche Weise den Körper vorantreibt, nennt er Entelechie; eine ebenso willkürliche Erdichtung wie jede andere" (Ir, 12, 524). Oder an anderer Stelle: "Seine Doktrin dient uns als herrisches Gesetz, die auf gut Glück ebenso falsch ist wie jede andere" (Ir, 12, 521). Es erfolgt von Montaigne aus keine eigentliche Auseinandersetzung mehr mit dem Gedanken der Teleologie. Der Verstand ist sowieso nicht in der Lage, ihn zu falsifizieren oder seine Richtigkeit nachzuweisen. Denn er ist "ein Werkzeug aus Blei und Wachs, dehnbar, biegsam und gefügig nach jedem Belieben und nach jedem Maßstab; es fehlt nichts als die Befähigung, richtig damit umzugehen 30 (Ir, 12, 548). Mit der Teleologie wird aber auch der Blick für deren Wertcharakter verbaut, den Aristoteles folgendermaßen ausdrückt: " ... der Zweck will das Beste und das Ziel für alles andere sein"31. Die Frage, ob die sozialen Regeln Ausdruck des Besten, der unbewegten alles bewegenden 25 Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 15. Aufl., hrsg. von Heinz Heimsoeth, Tübingen 1957, S. 119 ff. 28 Aristoteles, Metaphysik, 2. Aufl. Paderborn, 1961, IV, 4, 1014 b, S. 149, hrsg. von Paul Gohlke. 27 Aristoteles, Politik, (Ed. Philosophische Bibliothek), Hamburg, 1958, Nachdruck der 3. Aufl., 1252 b, S. 4. 28 Aristoteles, Physikalische Vorlesungen, Paderborn, 1956, 11, 8, 198 b, S. 78 ff. 29 ATistoteles, Metaphysik, XII, 7 und 8, 1072 a ff., S. 366 ff. 30 Ein andermal nennt er den Verstand "einen Topf mit zwei Henkeln, den man links und rechts ergreifen kann" (11, 12,566). 31 Aristoteles, Physikalische Vorlesungen, 11,3, 195 a, S. 67.
2. Teil: Kritik der abstrakten und transzendenten Rechtstheorien
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Gerechtigkeit - letztlich Gott teles keine Beantwortung mehr.
sind, findet für Montaigne in Aristo-
Gott steht so weit abseits, daß Montaigne sich nicht mehr mit den von Augustin bis Ockham geäußerten Ansichten über das Verhältnis von Gottes Willen zu den ewigen Ideen auseinandersetzt, oder sich darüber äußert, ob das Gerechte eine Funktion des beständigen Willens ist, ob sich die Richtigkeit des Gewollten daraus ergibt, daß es immerfort gewollt wird, oder ob die Ideen Platos als ewig unveränderliche Formen der Dinge in Gottes Geist gedacht werden. Alle diese im abstrakten (christlichen) Naturrecht geäußerten Gedanken32 sind für Montaigne ein "scholastisches Geplapper" (Il, 10, 399), nichts als "Geräusche so vieler Gehirne" (Il, 12, 496). Er preist Sokrates, "der die menschliche Weisheit vom Himmel herabholte, wo sie nur ihre Zeit vertat, um sie auf den Menschen zurückzulenken, wo ihr eigentlichster und schwerster und ihr nützlichster Beruf liegt" (lU, 12, 1015). Ehe wir uns der Aufforderung Montaignes zuwenden: "Sehen wir zu, ob wir ein wenig mehr Klarheit in der Erkenntnis der menschlichen und natürlichen Dinge haben" (U, 12, 517), wollen wir an den Themen der Strafzwecke und der Hexenverfolgung zeigen, daß Montaigne sieB. der Immanenz (dem positiven Sein) zugewandt hat. III. Das Beispiel der Straftheorien
Vom Sinn der Strafe sagt Kant38 : "Richterliche Strafe kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gutes zu befördern, für den Verbrecher selbst oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; ... " Die so von Kant ausgedrückte und wesentlich von ihm und HegeP4 mitbeeinflußte, heute vorherrschende absolute Straftheorie35 rechtfertigt Strafe nicht aus immanenten Zwecksetzungen, wie die relativen Straftheorien, sondern ist "nur unter Rückgriff auf ihre Idee (zu) bestimmen, ... "38. Beide Straftheorien unterscheiden sich, was in vorliegendem Zusammenhang interessiert, dahingehend, daß die Begründung auf verschieWelzel, S. 48 -107. E. Kant, Metaphysik §§ 43 - 49.
32
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zu
der Sitten, Rechtslehre, Allgemeine Anmerkung E
3' Zur absoluten Theorie auch: Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, (Phil. Bibl.) §§ 97, 99, 100, 101, 218. 35 Karl Engisch, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. 1962, Bd. VI Sp. 398; Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 1961, S. 207, mit weiteren Nachweisen. 38 Eberhard Schmidthäuser, Vom Sinn der Strafe, Göttingen 1963, S. 33.
111. Das Beispiel der Straftheorien
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denen Ebenen liegen. Wird bei den relativen Straftheorien der immanente Zweck verfolgt - sei es mit generalpräventiven oder spezialpräventiven überlegungen - Straftaten zu verhüten, so wird nach der absoluten Theorie reagiert auf übel durch ein anderes übel um die transzendente Idee der Gerechtigkeit in der jeweiligen konkreten Gesellschaftsordnung zu verwirklichen. Bei Montaigne finden sich beide Varianten der relativen Auffassung vom Strafen: "Es ist eine übung unserer Justiz, einige zur Abschrekkung anderer zu verurteilen 37 • Sie zu verurteilen, weil sie gefehlt haben, wäre Dummheit." Ganz losgelöst vom immanenten Erfolg zu strafen, wie dies die absolute Theorie will, wäre "Dummheit". Nach diesem Zitat will Montaigne also bestrafen, damit andere in Zukunft nicht Unrechtes tun, also generalpräventiv. Er berührt aber auch die Gedanken der Spezialprävention: Besserung, Absckreckung und Unschädlichmachung38• Diese einzelnen Zwecke der Spezialprävention leitet er nicht aus einer metaphysisch begreifbaren "Natur" des Menschen ab, sondern aus empirischen Fakten. Bei dem Täter, der nur aus Gelegenheit eine Straftat begangen hat, der anders hätte handeln können, wenn er gewollt hätte, bei diesem kann aus dem Gedanken der Besserung und Warnung bestraft werden: "Deshalb, damit er nicht in gleicher Weise fehltritt." Bei dem Tätertyp, bei dem "die Sünde auf ihrem hohen Throne sitzt und in uns wie in ihrem Hause wohnt ... die sich durch lange Gewohnheit in einem starken und festen Willen eingewurzelt hat, (und deshalb) keine Widerrede duldet" (!II, 2, 785), bei diesem könnte nur aus dem Gedanken der Unschädlichmachung gestraft werden. Montaigne kommt aber auf die Generalprävention zurück, und zwar an der Stelle, an der er empfiehlt, die zu seiner Zeit übliche öffentliche Folter vor der Vollstreckung der Todesstrafe, erst nach dem Tode an dem leblosen Körper zu vollziehen. Diese "Folter", so meint er", wird das Volk ebenso schrecken, wie die Folterungen (Kochen, Vierteilen, Rädern usw.) welche man den Lebendigen erleiden läßt" (!I, 11, 411) und das "Volk zur Ordnung anhalten" (II, 11,411). Wenn auch Montaignes Neigungen zur Theorie der Generalprävention gehen, so entscheidet er sich doch nicht entgültig für eine der relativen Straftheorien. Er ist nur entschieden gegen die, aus der "Idee der Gerechtigkeit" Kraft ziehende absolute Theorie. "Das Töten ist gut zur 37 Der gleiche Gedanke: "Das Töten ist gut zur Vermeidung eines zukünftigen Verstoßes, nicht um den begangenen zu rächen" (11, 27, 673). 38 Es ist wahrscheinlich, daß Montaigne die relativen Straftheorien im Anschluß an Seneca, De Ira vertritt: "Nam, ut Plato ait, nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur, revocari enim praeterita non possunt futura prohibentur" (zitiert nach R. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. I,
1925, S. 461).
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2. Teil: Kritik der abstrakten und transzendenten Rechtstheorien
Vermeidung eines zukünftigen Verstoßes, nicht um den begangenen zu rächen" (II, 27, 673). Rache ist das Stichwort. Vergeltung, wie es die Vertreter der absoluten Straftheorien ausdrücken, soll ein ObjektivGeistig-Allgemeiness9 verwirklichen, also die "Idee der Gerechtigkeit". Montaigne hat aber selbst empirisch festgestellt, daß Vergeltung die animalische Natur des Menschen herausfordert. Rache, Freude an der Gewaltanwendung und dem Leiden anderer ist ihr materialer Inhalt. "Ich hätte es kaum geglaubt, ehe ich es gesehen hatte, daß es so scheusälige Seelen geben könne, die um reiner Mordlust willen Mord begehen: andere Menschen zerhacken und ihnen die Glieder abhauen; ihren Geist anspannen, um unbekannte Foltern und neue Todesarten zu erfinden, ohne Feindschaft, ohne Vorteil, ohne anderes Ziel, als sich am ergötzlichen Schauspiel der erbärmlichen Gebärden und Zuckungen, des kläglichen Ächzens und Wimmerns eines qualvoll mit dem Tode ringenden Menschen zu weiden" (II, 11,411). IV. Das Beispiel der Hexenverfolgungen Am Ende des 15. Jahrhunderts waren die Hexenprozesse in Frankreich fast ganz verschwunden. Die Unterbrechung der im Mittelalter so häufigen Erscheinung war aber nur von kurzer Dauer. Zur Zeit von Franz I. tritt sie wieder auf, und in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts führt die Hexenverfolgung zu einer allgemeinen Massenhysterie4o • Kirchliche Unterstützung hatte diese Bewegung durch die Hexenbulle "Summis desiderantes" Innozenz' VIII. von 1484 erhalten. Der von den päpstlichen Inquisitoren Heinrich Institoris und Jakob Sprenger herausgegebene sogenannte "Hexenhammer" (Malleus maleficarum, gedruckt 1487), brachte ein ganzes Lehrbuch über den Hexenwahn und detaillierte Angaben über die Hexenerkennung und -bekämpfung. 1564 werden z. B. in Poitiers 4 Hexen, im gleichen Jahr in Savoie 80 Hexen 41 verbrannt. Danach steigert sich die Hysterie. 1577 werden allein in Toulouse 400 angebliche Hexen 4! und in der Lorraine etwa 900 in dem Zeitraum zwischen 1577 und 1592 umgebracht4s • Montaigne deutet an, wie die Literatur anschwillt, die über die Hexen aufklären will, die aufzeigt, woran die Dämonen zu erkennen sind. "Die Hexen in meiSchmidthäuser, S. 32. über zeitgenössische Literatur bezgl. Wunderglauben, Hexen und sog. Monstren: Pierre Villey, I, Bd. S. 149 f. 41 Bessac, Les grands jours de la sorcellerie, Paris, 1890, Kap. 13. 42 Pierre Villey, I, Bd. II, S. 342 ff.; H. Busson, Sources et developpement du rationalisme dans la litterature fran!;aise de la Renaissance, Paris, 1922, S. 43 ff., 181 ff.; A. M. Boase, Montaigne et la Sorcellerie, in: Bibliotheque d'Humanisme et de Renaissance, 1935, S. 402 ff. 43 s. Anmerkung 42. 38
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IV. Das Beispiel der Hexenverfolgungen
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ner Nachbarschaft geraten in Lebensgefahr, wenn ein neuer Schriftsteller sich darauf verlegt, ihre Entrückungen auf strenge Begriffe zu bringen" (IlI, 11,1008). Der Mangel an kritischem Unterscheidungsvermögen, die ungewöhnliche Leichtfertigkeit im Urteilen über Unfaßbares und sogenannte Wunder, die Leichtgläubigkeit und die Primitivität in der Motivation ist bei einer Geisteshaltung nicht verwunderlich, die jedem Gedanken (Ideen), allen abstrakten Dingen Wesen und Substanz zuerkennt. Reale Differenzierungen sind ja nur Nebensächlichkeit, hinter denen es die allgemeine, damals allein für real gehaltene Idee zu suchen gilt. Alles wurde mit der Transzendenz in Verbindung gebracht. Der im Kopf des Anklägers aufgetauchte Gedanke wurde leichthin als ein Fingerzeig Gottes gedeutet. So vertrat z. B. einer der Inquisitoren die Auffassung, daß jeder, der der Zaubrei bezichtigt würde, dieser auch schuldig sein müsse. Gott ließe ja nicht zu, daß jemand, der kein Zauberer sei, derart beschuldigt würde44 • Montaigne fordert demgegenüber, man solle bei den Menschen selber suchen, die, wie er vermutet, Hexen in ihrer Phantasie erzeugen; Vorurteile auf bestimmte Sündenböcke abladen. "Suchen wir doch nicht nach außer uns liegenden und unbekannten Wahngebilden, die wir beständig von eigenen und in uns wohnenden Wahngebilden umhergeworfen werden" (IIl, 11, 1009). Sein Verlangen, die realen Ursachen zu suchen oder die versteckten machtpolitischen Ziele freizulegen, die hinter dem Verfolgungswahn der Inquisitoren gegenüber Einzelnen oder Minderheiten wirklich stehen, kommt für seine Zeit viel zu früh. Die Sache selbst, die der Hexerei angeschuldigte Person, wird nicht untersucht. Auf einen wirklichen Kausalzusammenhang wird nicht geachtet. Der Angeschuldigte wurde schon durch die Anschuldigung alleine zum Schuldigen. Mit ihr wurde also nicht nur eine Vermutung für die Schuld, ein Verdacht vorgebracht, sondern der Angeschuldigte war in einer Art vorweggenommener Beweiswürdigung zum Schuldigen geworden. Da Montaigne der Ansicht ist, "daß die wichtigste Stärke des Glaubens an Wunder, an Gesichter, an Hexerei und dergleichen übersinnliche Erscheinungen aus der Macht der Einbildung entspringt" (I, 21, 97), unterläßt er es, auf die "Idee" zu schielen oder auf Gottes Fingerzeig zu warten. Er untersucht die empirischen Daten, indem er sich z. B. mehrere der Personen ansieht und mit ihnen spricht, die der Hexerei beschuldigt sind. Er beobachtet ihr Verhalten und stellt ihnen Fragen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß alle eher geisteskrank seien, als U
Johan Huizinga, S. 351.
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2. Teil: Kritik der abstrakten und transzendenten Rechtstheorien
mit dem Teufel im Bunde: "Am Ende und auf mein Gewissen hätte ich ihnen eher Nieswurz als den Giftbecher verordnet"4~ (IH, 11, 1010). Abgesehen von diesen konkreten Untersuchungen, hält sich Montaigne generell an die Maxime "in dubio pro reo", die im gegenwärtigen Strafprozeß so selbstverständlich deklamiert wird. Solange nicht nachgewiesen ist, daß die der Hexerei beschuldigte Person tatsächlich eine Hexe ist, will er vom Gegenteil ausgehen. Der Nachweis der Hexerei aber muß, damit die Berufung auf die Idee bzw. Gottes Fingerzeig ausgeschlossen sei, "auf nicht übernatürlichem Wege" (IH, 11, 1009) erbracht werden. Er hält es eher für möglich, daß die Zeugen lügen, als daß Menschen sich auf Besenstilen durch die Luft bewegen. Er nimmt eher eine Sinnestäuschung des Beobachters an oder hält diesen für geisteskrank ("wieviel natürlicher, daß unser Verstand durch das Irrlichtern unseres verdrehten Geistes aus seiner Stelle verrückt war"; HI, 11, 1009), als daß er jemanden einer von metyphysischen Impulsen geleiteten Strafjustiz überantworten würde. Schließlich hält er den ganzen Hexenkult für eine zweifelhafte Sache: "Bei schwer zu beweisenden und gefährlich zu glaubenden Dingen ist es besser, zum Zweifel als zur Gewißheit zu neigen" (IH, 11, 1009)46. Da die der Hexerei beschuldigten Personen unweigerlich der Todesstrafe verfielen, lehnt er mit der von ihm vertretenen Auffassung, man könne niemand durch immanente, an den Fakten orientierte Beweisführung der Hexerei überführen, konsequent die Todesstrafe für die "Hexen" ab. "Um Menschen dem Tod zu überantworten, bedarf es einer hellen und eindeutigen Klarheit; und unser Leben ist zu wirklich und wesentlich, um damit für diese übernatürlichen und fabelhaften Begebenheiten zu haften" (IH, 11, 1009)47.
45 Nieswurz galt als Heilmittel gegen die Geisteskrankheit; der Giftbecher war das Hexenmahl. 46 Auch Montesquieu war in der Beurteilung der Magie und Hexerei nicht weiter. Er rät, bei Bestrafung solcher Fälle zurückhaltend zu sein. Vgl. . "Esprit des Lois, Bd. I, S. 201. 47 Montaigne weiß, wie gefährlich für seine eigene Person seine Zweifel sind. "Ich sehe wohl, daß man in Zorn gerät und mir unter Androhung entsetzlicher Flüche verbietet, daran zu zweifeln ... Gott sei Dank, mein Glaube läßt sich nicht mit Fastschlägen belehren" (111, 11, 1008). z. B. Jean Bodin verlangt in seiner "demonomanie des sorciers" für diejenigen, die an der Existenz von Hexen zweifelten, die gleiche Strafe wie für die Hexen. Der Zweifler begehe ein ebenso schweres Delikt wie derjenige, der an der Existenz Gottes zweifle (vgl. PierTe Villey, I, Bd. 11, S. 347).
Schlußfolgerungen: Von der Idee zur Wirklichkeit
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Schlußfolgerungen: Ablehnung des Abstrakt-Allgemeinen; Hinwendung zum Konkret-Positiven Montaignes Skepsis ist "blkköffnende Weisheit"48. Sie öffnet den Blick dafür, daß Macht nicht durch Recht begrenzt wird, wenn die zur Machtbegrenzung aufgestellte Regel allein an einem abstrakt gedachten, metaphysisch verankerten Prinzip ausgerichtet worden ist. Solche Regeln können nicht verhindern, daß die an sich notwendige Macht (für Ordnung und Rechtssicherheit) sich zur totalen Gewalt pervertiert. Seine Skepsis ist "erschließend"49, indem sie "transparent" macht, wie metaphysische "Grenzen" reale Macht nicht einengen, sondern machterweckend und machtsteigernd wirken können. Erst die Berufung auf diese Gedanken macht die Verfolgung von Minderheiten, seien es "Hexen" oder politisch Oppositionelle, erträglich, "plausibel" und ohne Gefahr für den Verfolgenden durchführbar. Die vitale Seite des Menschen kann sich erst dadurch ungeahndet in Rache, Haß und Quälerei - Antriebe für die pervertierte Macht - ergehen. Wenn Montaigne die Gefahren der Orientierung der konkreten Ordnung an der abstrakt gedachten Gerechtigkeit mit seiner Skepsis erhellt, so maßt er sich jedoch nicht an, zu verwerfen, was ihm nicht verstandesmäßig erfaßbar erscheint. Dafür weiß er zu genau, daß der Verstand nicht das ganze "Sein" erfassen kann. Er steht der Transzendenz nicht mit Abscheu, sondern mit Scheu gegenüber, gerade weil der Verstand deren Einwirkung auf die Realität nicht erklären kann, aber eine solche Einwirkung nicht für ausgeschlossen gehalten wird. Deshalb sagt er: "Es ist glaubhaft, daß es Naturgesetze gibt, wie es bei den andern Geschöpfen zu ersehen ist; doch bei uns haben sie sich verloren, da sich dieser erhabene menschliche Verstand überall eindrängt, um zu herrschen und zu befehlen, und das Antlitz der Dinge nach seiner Eitelkeit und Unbeständigkeit verdunkelt und verwirrt" (H, 12,477). Nur die Anschauung des "Seins", die die Welt der Idee, wie das abstrakte Naturrecht, von der konkreten Vielfalt trennt und letztere zugleich nur als Schatten ersterer bezeichnet, ihr die Realität und Wesentlichkeit abspricht, lehnt er als einseitig ab. Wenn er "la raison", "lesprit" oder "le quider" angreift, dann geschieht dies nur, um dem in der Jurisprudenz seiner Zeit üblichen abstrakt-begrifflichen Mißbrauch der intellektuellen Fähigkeiten des Menschen zu begegnen. Nur wenn man diese einschränkenden Bemerkungen zu Montaignes Ablehnung der abstrakt-transzendenten Rechtstheorien berücksichtigt, kann man dem Fehlschluß entgehen, er lehne jedes Naturrecht ab. Er weist zwar 48
U
Hugo Friedrich, S. 123. Hugo Friedrich, S. 118, 129.
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2. Teil: Kritik der abstrakten und transzendenten Rechtstheorien
auf "diese besondere und örtliche Gerechtigkeit hin, die nach dem Nutzen unseres Staatswesens zurechtgerückt ist" (!II, 1, 773) hin, jedoch nur, um das Extrem der abstrakten Rechtstheorien durch ein anderes Extrem, den relativistischen Rechtspositivismus, deutlicher mit einer Antithese konfrontieren zu können. Nur die Vertreter der abstrakten Rechtstheorien "sont plaisans"5o (!I, 12 563), weil sie davon ausgehen, daß die ewigen unveränderlichen Rechtsgrundsätze "dem Menschen eingeprägt sind, auf Grund des Menschen eigenen Wesens" (!I, 12, 563 f). Der Beweis für eine solch leichtfertige Behauptung könnte nach Montaigne durch "die allgemeine Anerkennung" eines oder mehrerer Rechtsgrundsätze erbracht werden, da dem, was uns gemeinsam von Natur eingesprägt wäre, wir alle zustimmen würden. Statt dieser übereinstimmung kann er innerhalb eines Gemeinwesens nur "dieses schwankende Meer von Meinungen eines Volkes oder eines Fürsten (feststellen), die mir die Gerechtigkeit in ebenso vielen Farben darstellen und nach ebenso vielen Mustern umgestalten werden, wie in ihnen Veränderungen der Leidenschaft vorgehen"51, 52. Zur Beantwortung der Frage, ob die Normen, denen wir allzu eilfertig Rechtsqualität beimessen, nicht doch nur eine andere Form der Macht darstellen, bedarf es eines ganz neuen Ansatzes! Von der konkreten Vielfalt, von der positiven Mannigfaltigkeit muß der Zugang gesucht werden.
Pascal, Pensee Nr. 294 wiederholt hier Montaignes Gedanken. Den gleichen Gedanken äußert Montaigne mehrmals: "Welche Sittlichkeit ist das, die ich gestern hochpreisen sah und morgen nicht mehr, und die jenseits eines Flußlaufs Verbrechen heißt? (Il, 12, 563). (Vgl. Pascal, Pensee Nr. 294, der dort Montaigne wie so häufig wiederholt.) (Vgl. auch noch H, 12, 504.) 52 Aus der Ablehnung des abstrakten Naturrechts folgert Hugo Friedrich, S. 180 nach unserer Auffassung voreilig, Montaigne sei "reiner Rechtspositivist i. S. Hobbes'''. 50
5!
Dritter Teil
Der Empirismus Wenn Montaigne sagt: "Betrachten wir nun den Menschen allein, ohne fremde Hilfe, allein mit seinen Waffen ... " (H, 12,427), so will er sich mit dieser Aufforderung abwenden von einer transzendenten Welt der Ideen oder dem Willen Gottes. Sein Interesse gilt jetzt der wahrnehmbaren, erfahrbaren Wirklichkeit, um ihr mehr Gewicht gegenüber der bis jetzt allein als real angesehenen Welt der Ideen zu verschaffen. Ebensosehr richtet sich Montaignes Aufforderung auch gegen die Denkweise, die deduktiv, aus wenigen, der "realen" Ideenwelt entliehenen Prinzipien, die Lösung realer Einzelprobleme ableiten wilP. Indem Montaigne den Gedanken der Teleologie in Zweifel zieht, bereitet er den Boden mit vor für die neuzeitliche Welt auffassung, die durch eine Verbindung mathematischer und naturwissenschaftlichexperimenteller Denkweisen bestimmt wird 2 • Die aristotelische Lehre von den Zweckursachen findet man so wenig bei Empiristen wie Hobbes, Locke und Hume, wie bei den Rationalisten Descartes und Spinoza. Sagt z. B. Spinoza3 , "daß alle Zweckursachen nichts weiter sind als menschliche Einbildungen", so erfaßt Hobbes nur noch die Wirkursachen, indem er Machttrieb und gegenseitige Furcht als die Kräfte ansieht, die den Staat fordern. Die Abkehr von der Transzendenz bedeutet für Montaigne keineswegs die Aufgabe der Suche nach dem "juste gouvernement" (1,24, 131), nach der "essence" oder der "reelle subsistance" des Verhältnisses von Recht und Macht, denn "das Verlangen nach Erkenntnis" ist beständig und das zu Recht, da "die Wahrheit eine so große Sache ist, daß wir kein Mittel mißachten dürfen, welches uns zu ihr verhelfen kann" (IH, 13, 1041). Nur verlagert sich jetzt das Augenmerk von den Versuchen der allgemein-überzeitlichen Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Macht zu deren Anteil im konkreten Einzelfall. 1 Lange vor Descartes beginnt in Frankreich der Abschied von der scholastischen Denkweise und macht dem Denken durch sich selbst Platz. 2 WilheZm WindeZband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 15. Aufl., hrsg. von Heinz Heinsoeth, Tübingen 1957, S. 328 ff. 3 Benedict de Spinoza, Ethik, übersetzt von otto Baensch, Leipzig, 1949, unveränderter Abdruck der 2. Auf!. von 1910, Phil. Bib!., Bd. 92, Teil 1 Anhang, S. 42.
4 Kölsch
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3. Teil: Der Empirismus I. Der Begriff der Erfahrung
An dem was man erfährt, wahrnimmt, erkennt, nimmt das ganze Subjekt teil. Ob sich in den Erkenntnisvorgang die Sinne, der Verstand oder die Triebnatur einschaltet, keinem kommt Priorität zu, da "jeder Teil zu einem bestimmten Augenblick sein Spiel treibt" (H, 1, 321; ebenso I, 50, 291; IH, 13, 1068) Sinne, Verstand und Triebnatur sind sich zwar zum Teil bei der Erkenntn.is des Objektes hinderlich, trotzdem sind sie wie der Schmerz und die Wollust "vereinigt in einer notwendigen Verbindung" (IH, 13, 1072). Es ist nicht richtig, die Sinne beim Erkenntnisvorgang ausschalten zu wollen, weil sie nur von der raumzeitlichen Stellung des Subjektes abhängige Daten liefern. Ohne die Sinne mag die ausschließlich vom Verstand geleitete Erkenntnis zwar an "Reinheit" gewinnen, verliert jedoch dann an unverzichtbarem realem Gehalt. Die "Blindheit" der Triebnatur behindert zwar das vorurteilslose Abwägen des Für und Wider einerseits. Andererseits kann sie nicht entbehrt werden, weil sie die intellektuelle Tendenz begrenzt, im Objekt nur "den Fall" zu sehen, die Wissenschaft nur durch die Brille des keimfreien Reagenzglases zu betreiben. Aus der Triebnatur kommt das Angerührtsein, das Mitleiden als unverzichtbare Antriebsenergie der Erkenntnis. Das erkennende Subjekt muß sich seiner Sinne, seines Verstandes und der Triebnatur bedienen, weil "unser Dasein ohne diese Mischung nicht bestehen kann, und eine Seite ihm ebenso notwendig wie die andere ist" (III, 13, 1068). Um dem Gemischttypischen gerecht werden zu können, bedarf es als erstem Schritt der kritischen Erhellung unserer Erkenntnismittel. 1. Die Vieldeutigkeit des Erfahrungsbegrüfs
Um die Wahrheit zu ergründen, dürfen wir keinen Weg außer acht lassen, "der uns zu ihr führen kann. Wenn der Verstand uns im Stich läßt, so wenden wir uns an die Erfahrung" (IH, 13, 1041). Der Monarch, der mit den Mitteln des Gesetzgebers eine Sachproblematik lösen will, der Richter, der den Einzelfall entscheidet, jeder hat seine Erfahrung in die Waagschale zu werfen. Montaignes Meinung "bildet sich durch die Erfahrung" (H, 37, 742). Was aber versteht er unter "experience"?4 4 Pierre Villey, Les Essais de Montaigne, Paris, 1931, Alcan III, S. 361, nennt die Essais "un plaidoyer en faveur de l'experience". Derselbe, in: Les Sources ... , Bd. II, S. 322: "Ein substance il dit ceci: Nous ne pouvons pas nous baser sur la seule raison pour acquerir la connaissance ... il faut nous en remettre a l'experience ... L'experience de l'un peut n'etre pas inutile aux autres." W. G. Moore, Montaignes Notion of Experience, in: The French Mind, Studies in Honour of Gustave Rudler, Oxford, 1952, S. 34 ff.
1. Der Begriff der Erfahrung
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Sicherlich war Montaigne als Bürgermeister von Bordeaux, als Parlamentsmitglied, als Teilnehmer der "Etats G{meraux" zu Blois, als Gesandter des Königs und des Parlaments nicht erfahrungsfremd im Sinne eines Weltunerfahrenen. Er war Weltmann. Erfahrung ist für Montaigne aber auch ein "Lernprozeß", dem jeder unterliegt, indem er sich Bräuche, Gewohnheiten und vorherrschende Meinungen aneignet. Im Gegensatz zu dieser extrovertierten Erfahrung sind die Essais zu einem guten Teil mitgeteilte Erfahrung eines introvertierten Menschen. In "Au Lecteur" sagt Montaigne, diese Erfahrung ansprechend: "Ich bin es, den ich darstelle; ... so bin ich, Leser, der einzige Inhalt meines Buches". Erfahrung ist also auch ein Bestand von Daten, der unabhängig und trotz gegenteiliger äußerer Tendenzen sich erhält und in eine Entscheidung einfließt. Montaigne will aber keine scharfe Trennung von "Innen" und "Außen". Individualpsychologische Erfahrung kann Allgemeingut werden, sowie innere Erfahrung ihren Ursprung in der Gesellschaft haben kann. Zwischen der Erfahrung des Einzelnen und dem Erfahrungsschatz der Allgemeinheit besteht eine unablässige Kommunikation. 2. Die sinnliche Erfahrung
Das Bestreben des Einzelnen, in Erfahrung zu bringen, wie und was die Umwelt, das Objekt, ist, die Beeinflussungen der Gesellschaft und der Objekte auf den Einzelnen, geschieht für Montaigne durch die Sinne5• Wenn die Sinne "nos maistres" (II, 12, 572) sind, wenn alles, was wir wissen, durch sie vermittelt wird ("unser 6 Wissen beginnt mit ihnen und löst sich in ihnen auf" II, 12, 572), ist dann die Hoffnung, eine Substanz aus der Summe der wahrgenommenen Fakten ableiten zu können, erfüllbar? Montaigne macht wenig Hoffnung. In den Sinnen "liegt die sinnfälligste Begründung und Beweis für unsere Unwissenheit" (II, 12, 571). Die erste überlegung, die sich Montaigne macht, geht von der Frage aus, ob wir alle natürlichen Sinne haben. Fehlt uns nämlich einer, so seien wir nicht in der Lage, alle natürlichen, den Objekten zukommenden Eigenschaften wahrzunehmen. "Wir erfassen den Apfel gleichsam mit all unseren Sinnen; wir bemerken an ihm die Röte, die Glätte, den Geruch und die Süße" (II, 12, 574). Ziehen wir aber die anderen in der 6 Pascal, Entretien avec M. de Saci, in: Pensees, S. 47, sagt: "il suit le rapport des sens" ohne zu wissen, ob er dadurch etwas gewinnen werde. 8 Auch für Christian Thomasius stand am Anfang der Erkenntnis die sinnliche Erfahrung. "Nihil est in intellectu, quod prius non fuerit in sensibus, zitiert nach Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 3. Aufl. Tübingen, 1951, S. 396 .
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3. Teil: Der Empirismus
Natur vorhandenen "facultez sensitives" in Erwägung, so muß fast angenommen werden, daß der Apfel noch andere Eigenschaften hat, die wir nicht erfahren. Handelt es nicht um einen Sinn, "der dem Hahn den Tag ankündigt"? "Wer lehrt die Hühner vor aller Anwendung und Erfahrung, den Sperber und nicht die Eule zu fürchten?" (II, 12, 574). Jeder Sinn trägt uns eine Vielzahl von Informationen zu. Wir brauchten uns nur vorzustellen, daß uns das Seh- oder Hörvermögen fehlte, dann würden wir sofort erkennen, welche Verwirrung und Verarmung unserer Fähigkeiten eintreten würde. Abschließend stellt Montaigne fest, daß die "verite en son essence" möglicherweise erst durch acht oder zehn Sinne entdeckt werden könne, deshalb sei die Wahrheit, die auf unseren fünf Sinnen aufbaut, sehr zweifelhaft. Nachdem er die ersten Zweifel auf die Erkenntniskraft der Sinne geworfen hat, weil sie eventuell unvollständig sind, betrachtet er jetzt ihr Funktionieren. Was können wir aus den Sinnesinformationen schließen, wenn "unsere Sinne sich gegenseitig behindern"? (II, 12, 583). Die gegenseitige Behinderung schließt er aus der Beobachtung, daß ein Bild für das Auge Tiefe zu haben scheint, befühle man es, dann sei es jedoch flach. Welcher Informationswert hat die Tatsache, daß "der Honig dem Geschmack wohlgefällig ist, abstoßend jedoch für den Blick wirkt"? (II, 12, 583). Die Sinne lehren uns, daß das Erkenntnissubjekt in die Bedingtheit des Raumes gestellt ist. Darin sieht Montaigne einen weiteren Grund weshalb die Sinne "bei allen Gelegenheiten ungewiß und verfälschbar sind" (II, 12, 576). Je nach der Entfernung vom Objekt sieht dieses für das Subjekt größer oder kleiner aus. Je nachdem, wie man die Augen zukneift, sehen wir die Flamme einer Kerze doppelt, länglich oder oval. Schon nach diesen ersten Betrachtungen hält Montaigne die Ansicht der Epikuräer für "die von allen Absurditäten die absurdeste", wonach wir uns der sinnlichen Erfahrung allein anvertrauen könnten. Hatte Montaigne das Verhältnis Subjekt - Objekt bis jetzt vom Subjekt aus betrachtet - dessen Geschicklichkeit, seine Stellung im Raum, seine sich widersprechenden und eventuell unvollständigen Sinne so betrachtet er es auch unter der Blickrichtung des Objektes. Enthält das Objekt überhaupt alle vom Subjekt aus wahrnehmbaren Eigenschaften? Unsere Sinne, die "den Objekten oftmals verschiedene Eigenschaften beilegen, wogegen das Objekt nur eine einzige hat", werfen die Frage auf, "ob die Objekte die festgestellten Eigenschaften überhaupt besitzen, oder ob unsere Sinne sie mit diesen ausstatten?" (II, 12, 584). Aus der Art, wie diese Frage beantwortet wird, so meint er, seien
I.
Der Begriff der Erfahrung
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die größten Schwierigkeiten erkenntnistheoretischer Art entstanden. Das Wirrwarr der Meinungen alleine spreche schon für die nur relative Erkenntniskraft der Sinne. Die Spannweite der Meinungen geht vom naiven Realismus aus, der annimmt, "daß jedes Objekt die Eigenschaften besitzt, die wir dort feststellen" (II, 12, 575). Demokrit, der nach Montaignes Ansicht bestritt, daß den Objekten überhaupt etwas Objektives zugrunde liegt, hat ebenfalls Unrecht. Auf diese Ansicht bezogen sagt er: "Es gibt keine größere Absurdität als zu behaupten, daß das Feuer überhaupt nicht erwärme, daß das Licht erhelle, daß das Eisen nicht Festigkeit und Schwere besitze. Alles das sind feststehende Erkenntnisse, die uns die Sinne vermitteln" (II, 12, 572). Montaigne folgt auch nicht dem naiven Realismus. Wenn er auch annimmt, daß die Meinung unwiderlegt und erwägenswerter ist, die vorgibt, "alle Objekte hätten die Ursachen der Erscheinungen in sich", (II, 12, 569) so hat er doch schon vor Descartes und Locke erkannt, daß es für die Art, wie erkannt wird, entscheidend auf die Person des Erkennenden, dessen raum-zeitliche Stellung, ankommt. 3. Fehlen der Selektivfunktion des Verstandes
Nachdem sich Montaigne ausschließlich mit der Erkenntniskraft der Sinne beschäftigt hat, ist er keinen Schritt näher an die "Substanz" oder "Natur" der Sache herangerückt. Die Feststellung einer Menge von tatsächlich im Objekt gegebenen Eigenschaften kann zwar amüsant sein und ein buntes Mosaik von der tatsächlichen Vielfalt zeichnen, doch halten gerade die zum Teil gegenläufigen Fakten denjenigen, der entscheiden muß, im Netz der überinformation gefangen, wenn kein System zur Einordnung bereit steht. Montaigne weiß auch von dieser Schwierigkeit. "Wer darauf aus ist, alle Aspekte und Folgen eines Problems zu berücksichtigen, verhindert seine Entscheidung." Oder: "Man verliert sich bei der Abwägung so vieler (sich widersprechender) Gesichter" (II, 20, 657). Für Descartes war das Problem der Ordnung der Vielfalt deshalb zu lösen, weil er die Selektivfunktion des Verstandes behauptete. "Die ersten Dinge", von denen aus eine Systematisierung vorangetrieben werden konnte, war der Verstand zu erfassen in der Lage. Das Wachs kann, sagt Descartes, fest, flüssig wie gasförmig nach der Verdampfung sein: Diese Aggregatzustände sind jedoch nur Erscheinungsbilder eines wesentlichen Kerns. Dieser ist durch den Verstand zu erkennen. "Es bleibt mir also nichts übrig als zuzugeben, daß ich, was das Wachs ist, gar nicht in der Einbildung haben, sondern nur im Denken erfassen kann7 ." 7
Zitiert nach: Karl Jaspers, Descartes und die Philosophie, Berlin, 1966,
4. Aufl., S. 41.
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3. Teil: Der Empirismus
Das Sein des Erkennens ist, im Gegensatz zu Descartes, für Montaigne nicht der Verstand allein, nachdem er die Sinne zur Erkenntnis allein für unfähig erklärt hat. Erkennen geschieht durch das von Sinne, Verstand und Triebnatur konstituierte Bewußtsein. Bei Montaigne verflüchtigt sich also, aus der Sicht des verallgemeinernden Verstandes (Begriffs) die Erkenntnis zu einem Nichtgreifbaren. Dem Verstand kommt bei Montaigne nicht die qualitativ höherwertigere Stellung zu, wie bei Descartes8 • Es fehlt ihm die Selektivfunktion. Sie fehlt ihm einmal deshalb, weil die Wirklichkeit nicht den Gesetzen der Logik allein gehorcht, auf denen der Verstand aufbaut. Montaigne war der Gedanke der Entwicklung des Staates, der Gesellschaft und der Geschichte nach bestimmten Gesetzen gänzlich fremd. Dies ist für ihn ein Beispiel dafür, daß der Verstand, wird er allein auf die Wirklichkeitserkenntnis angesetzt, versagen muß. Anstatt nach bestimmten für den Verstand erkennbaren Gesetzen sich zu entwickeln, treten laufend überraschungen, Nichtvorhersehbares, Aus-dem-Rahmen-Fallendes auf, das außerhalb der Reichweite des Verstandes liegt. Zum anderen fehlt dem Verstand die qualitativ höherwertige Stellung, weil er nicht autonom ist. Wie schon erwähnt, ist für Montaigne Erkennen identisch mit Bewußtsein der ganzen Person. Zum Bewußtsein gehören auch die Sinnesdaten und die Triebnatur. Auf eine von Montaigne nicht näher dargelegte Art und Weise wird der Verstand als von den Sinnesdaten abhängig und von den Wirkungen der Triebnatur beeinflußt gedacht. Die Sinne bewirken eine "Distanz" zwischen Subjekt und Objekt, denn sie verursachen daß "uns nichts erreicht, was nicht durch unsere Sinne verändert ist" (n, 12, 584). Die Sinne erfassen die Dinge nur mit ihren zufälligen Eigenschaften und geben dem Bewußtsein einen schwankenden Inhalt. Notwendigerweise wird der Verstand durch seine Koppelung an den gesamten Bewußtseinsinhalt relativiert. Wenn auch der Verstand durch die Sinnesdaten bedingt ist, so ist er nicht nur deren AnhängseL Wiewohl durch sie beeinflußt, bleibt ihm und dies gilt auch gegenüber der Triebnatur - im Erkenntnisvorgang die nur ihm eigene Fähigkeit zur Analyse und Kritik. Dort, "wo der Verstand den Sinnen völlig weicht, wären diese eigentlich auf ihrem Misthaufen angelangt" (In, 13, 1056).
8 Daß Descartes ein aufmerksamer Leser der "Essais" von Montaigne gewesen ist, wird von vielen Autoren betont. Vgl.: Karl Jaspers, S. 93; Leon Brunschwicq, Descartes et Pascal, Lecteurs de Montaigne, Neuchätel, 1945, S. 73; Dr. Cancalon, L'esprit positif et scientifique dans Montaigne, Paris.
1911, S. 13; Max
Hor~heimer,
S. 218.
11.
Die Triebnatur
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11. Die Triebnatur
Da die Sinne eine Fülle unverbundener und immerfort wechselnder Sinnesdaten liefern, wird die Verstandeserkenntnis von dieser Seite aus relativiert. Trotz dieser dadurch verursachten Unsicherheit lassen wir uns nicht von einer Entscheidung abhalten. Wir verteilen die Gewichte, werten die Umstände und Beziehungen, bestimmen Voraussetzungen und Ziele, die in einer Problemsituation enthalten sind. Wenn nun den Sinnen und dem Verstand die Selektivfunktion nicht zukommen, wir jedoch trotzdem entscheiden, liegt es nahe, die Entscheidung auf die Triebnatur zurückzuführen. Für Montaigne steht fest, daß die Triebnatur jedes Einzelnen Einfluß auf die zu treffende Entscheidung nimmt. "Sie ist einzige und höchste Herrin unseres Ergehens und Verhaltens. Gegen ihre Neigung und ihre Wahl können weder Verstand noch Vorschriften, noch Gewalt etwas ausrichten" (I, 14,57). Das voranstehende Zitat ist eines der vielen Beispiele, in denen Montaigne von einer absoluten Aussage ("sie ist die einzige und höchste Herrin") ausgeht, um diese alsdann zu widerlegen. In Wirklichkeit ist sie nämlich nicht "souveraine". Sie hängt eng mit den Sinnen zusammen. Daß die Sinne oft nur fehlerhaft ihre Aufgabe als Informationsträger erfüllen können, liegt zum Teil an der Triebnatur. Was man z. B. Wunder oder Hexerei nennt, kommt hauptsächlich durch die zur Triebnatur zählende Phantasie zustande. Einfach denkenden Menschen könne man nämlich "in ihrer Gläubigkeit beeinflussen, daß sie zu sehen glauben, was sie nicht sehen" (I, 21, 97; ebenso Ir, 12, 580). Eine enge Verbindung besteht auch zum Körper. Zwischen beiden besteht eine Vielzahl von Möglichkeiten der gegenseitigen Beeinflussung. "Wir schwitzen, wir beben, wir erblassen und erröten unter den Erschütterungen unserer Wahnvorstellungen, und, in den Federn ausgestreckt, fühlen wir unsern Körper von ihren Regungen geschüttelt, zuweilen bis zum Verröcheln" (I, 21, 95 f.). Die Triebnatur wird in ihrer Fähigkeit zur Entscheidung aber auch vom Körper beeinflußt. Das zeigt sich daran, "daß dann, wenn die Gesundheit mir hold ist und die Heiterkeit eines schönen Tages, ich ein ehrenwerter Mann bin" (Ir, 12, 548 f). Die Angeklagten können glücklich sein, wenn sie den Richter "bei guter Laune antreffen", denn dann ist er "leichter bereit und geneigt zur Nachsicht" (Ir, 12,547). Dafür, daß die durch die Triebnatur wesentlich beeinflußte Entscheidung oft nur der Ausdruck von Willkür ist, sprechen nach Montaigne die Affekte, die in der Triebnatur ihren Ursprung haben. Verwandtschaft, alte Bekanntschaft oder Freundschaft können zu Entscheidungsmotiven werden. Auf natürliche Weise werde der Richter
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3. Teil: Der Empirismus
geneigt sein, gemäß dieser engen persönlichen Beziehung zu urteilen, anstatt den unterbreiteten Fall. "Welch guten Vorsatz auch ein Richter haben mag, wenn er sich nicht genau erforscht, was nicht vieler Leute Sache ist, so kann der Einfluß der Freundschaft, der Verwandtschaft, der Schönheit oder der Rachsucht, und nicht allein so schwerwiegende Dinge, sondern jener Anstoß von ungefähr, der uns mehr für die eine als für die andere Sache einnimmt und der uns ohne Einwilligung des Verstandes 9 eine Wahl zwischen zwei gleichartigen Gegenständen treffen läßt, oder irgendein Schattenspiel von ähnlicher Nichtigkeit unvermerkt die Begünstigung oder Benachteiligung einer Sache in sein Urteil einschleichen lassen und die Waage zum Ausschlag bringen" (H, 12, 548). Zu meinen, man sei gegen die Macht von Antipathie und Sympathie, Rache oder Begünstigung gefeit, stellt gerade die größte Gefahr dar, denn "deren Erscheinung ist so flüchtig, daß sie uns entschlüpft" (I, 38, 231) wir sie nicht in den Griff bekommen, sollten wir ihren Anteil bei der Entscheidung gering erachten. Der Hinweis auf die mögliche Verfälschung der Entscheidung durch die Triebnatur hat pädagogischen Sinn. Es liegt Montaigne fern, dogmatisch zu behaupten, die Entscheidung sei immer eine willkürliche. Bei der isolierten Erörterung der Triebnatur will er, wie bei Verstand und den Sinnen, ihre einseitige überbewertung oder Unterbewertung durch Kritik verhindern. Der Richter z. B. kann bei genügender Selbstbeobachtung den versteckten und oft unbewußten Impulsen der Triebnatur, die zu einer Verfälschung der Entscheidung geeignet sind, begegnen. Diesem Optimismus entspringt der Rat, sich nicht in Zorn bringen zu lassen. "Keine Leidenschaft trübt die Unvoreingenommenheit des Urteils mehr als der Zorn. Niemand würde daran zweifeln, daß der Richter das Leben verwirkt habe, der aus Zorn seinen Angeklagten zum Tode verurteilt" (H, 31, 692). Die von Leidenschaften freie Entscheidung gibt es. Montaigne ist nicht im Sinne des Determinismus der Auffassung, daß wir hilflos unseren Affekten ausgeliefert sind. Wenn dennoch "gemeinhin die Urteile vom Abscheu über die Missetat zur Rachgier gesteigert werden" (IH, 13, 1041), dann liegt das daran, daß nur wenige bereit sind, sich der schwierigen Aufgabe der Selbstbeobachtung zu unterziehen. Bei intensiver Selbstbeobachtung, würde man auch feststellen, daß das Phänomen der Projektion durch die Aktivitäten der Triebnatur hervorgerufen wird. Oft ist das, was den Richter in Zorn geraten läßt 9 Hier zeigt sich wieder, daß zwar oft die Entscheidung auf der Triebnatur beruhen mag, doch richtigerweise nicht nur darauf beruhen soll. Montaigne ist durchgehend der Auffassung, daß die Entscheidung gemischttypisch ist.
H. Die Triebnatur
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nur ein ihm eigener subjektiver Vorgang, den er ins Objekt verlegt. Denn die Erfahrung zeigt, daß wir "bei anderen die Fehler (vornehmlich) verachten, die bei uns selbst viel deutlicher ausgeprägt sind" (IH, 8, 908). Wir sind zur Verhängung einer exemplarischen Strafe bereit, gerade weil wir uns mit der Tat identifizieren können. Auch hier weist Montaigne wieder darauf hin, daß es auf die Bewußtmachung ankommt. "Hätten wir eine gute Nase, unser Unrat müßte uns um so übler riechen, da es ja der unsrige ist" (IH, 8, 908). Aber auch hier muß er feststellen, daß in der Praxis die Fehler lieber bei anderen gesucht werden, was daher rührt, "daß man anderen Eigenschaften zuschreibt, die man selbst besitzt, so wie bei der Pest, ein Körper sein Übel auf seinen Nachbarn wirft" (I, 21, 104)1°. Die Bewußtmachung der durch die Triebnatur mitverursachten Erkenntnisschwierigkeiten, wie sie Montaigne versucht, wird nicht dadurch überflüssig, weil man die Affekte anders, nämlich durch eine Willens anstrengung von der Beeinflussung der Entscheidung fernhaiten kann. Unser Wille kann in bezug auf Verdrängung und Ablenkung der Triebnatur etwas ausrichten (H, 11, 409). Aber wir dürfen uns keiner Illusionen hingeben. Die Macht des Willens über die Triebnatur ist nicht absolut. Immer muß damit gerechnet werden, daß der Trieb durch den Willen nur verdrängt worden ist "und das Wild jäh an einer Stelle aufspringt, wo wir es vielleicht am wenigsten vermuteten" (H, 11, 409). Der Wille kann also die in der Unstetigkeit der Triebnatur liegende Gefährlichkeit noch steigern. Im übrigen könnte der Wille allein die Entscheidung nicht leiten, da er blind ist. Er kann von sich aus kein Ziel angeben. "Wir schaukeln zwischen verschiedenen Entschlüssen: nichts wollen wir aus freien Stücken, nichts unbedingt, nichts beharrlich" (H, 1, 317). Der Wille kann frei selbst nichts wollen, da er letztlich von der Triebnatur regiert wird und nicht er die Triebnatur kontrolliert. "Unsere gewöhnliche Art ist es, den Regungen unserer Begierde zu folgen, nach links, nach rechts, bergauf, bergrunter, wie der Wind der Gelegenheiten uns treibt. Wir 10 Wir haben hier einen ersten konkreten Hinweis für die Vorwegnahme der Idolenlehre Bacons. Montaignes Feststellung, daß der Verstand bei jedem andere Bilder der Objekte empfängt (über die Sinne) und daß der Einzelne aktiv die Objekte entstellt und ihnen z. B. durch Projektion Eigenschaften beilegt, die ihm nicht zukommen, entspricht Bacons "Götzenbild des Stammes". Vgl. Neues Organon, Nr. 41, in: Kurt Lenk, (Herausgeber) Ideologie, 2. Aufl. Neuwied, 1964, S. 63. Zu den Götzenbildern des Theaters, des Marktes und der Höhle vgl. weiter unten. Die Verwandtschaft von Bacon und Montaigne ist schon oft vermutet worden, ohne daß jedoch bisher ein Nachweis an Hand konkreter Beispiele erfolgte. Herrig, Montaigne und Bacon, in: Archiv, XXXI, 1862, S. 259 ff.; Pierre Villey, Montaigne et Francois Bacon, Paris, 1913, S. 77; Gustave Lanson, Les Essais de Montaigne: Etude et Analyse, Paris, 1948, S. 280.
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3. Teil: Der Empirismus
bedenken, was wir wollen, nur eben in dem Augenblick, in dem wir es wollen" (II, 1, 317 und I, 21, 101). Schlußfolgerungen: Atomisierung als Ergebnis des auf Sinne und Triebnatur aufbauenden Empirismus Der Stoff, den die Sinne liefern, besteht in einer Unmenge zusammenhangloser und wechselnder Informationen. Die Selektivfunktion des Verstandes, der Triebnatur und des Willens werden, betrachtet man sie je für sich, in Zweifel gezogen und so gezeichnet, daß sie selbst im Strudel der Veränderung stehen. Bei dieser Haltung kann der Mächtige nicht erkennen, was wesentlich ist, die "Natur der Sache" freilegen. Selbst wenn er über die Macht hinaus wollte, könnte er nicht mehr als mächtig sein. Nach dem Empirismus wird die "Natur" einer z. B. durch Gesetze zu lösenden Sachproblematik, vom einzelnen empirischen Subjekt bestimmt, nachdem, was "für mich" wichtig ist. Da jeder so denkt, wird sich schließlich der Mächtigste mit seiner subjektiven Meinung durchsetzen. Man wird geradezu dazu verführt, Montaigne in die gleiche Entwicklungslinie einzuordnen, die von den Sophistenl l zu den modernen Empiristen Bacon, Hobbes, Locke, Hume und Berkeley reicht1 2 • Denn, wenn der Verstand nichts als subjektivistische Erkenntnis liefert, dann läuft seine schöpferische Kraft auf nichts Anderes hinaus, als auf die Fähigkeit der relativen Verbindung, Umstellung, Vermehrung oder Verminderung des Materials, den die Erfahrung liefert1 3 • Von hier bis zur Auflösung des Substanzbegriffes überhaupt war es nicht weit 14 • "The idea, sagt Hume 15, of a substance as weIl as that of a mode, is nothing but a collection of simple ideas, that are uni ted by the imagination, and 11 Alfred Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, Wien 1958, S. 18, 21 f.; Friedrich U eberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, 1. Teil, Die Philosophie des Altertums, Basel und Stuttgart, hrsg. von Kar! Prachter, 1960, unveränderter Abdruck der 12. Aufl. von 1924, S. 111 ff.; Wilhelm Windelband, S. 96 ff. 12 Erik Wolf, Rechtswirklichkeit und Justizkritik bei Montaigne, in: Festschrift für Fr. von Hippel, 1967, S. 646, will diese Einschränkung offensichtlich machen, da er ihn einen "empirischen Positivisten" nennt. 13 David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übersetzt von Raoul Richter, Hamburg, 1961, Phil. BibI. Bd. 35, II, S. 19. 14 G. Berkeley, Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, nach der übersetzung von Friedrich Ueberweg, neu hrsg. von Alfred Klemmt, Hamburg, 1957, PhiI. BibI. Bd. 20, S. 44 f., löste den Begriff der körperlichen Substanz auf und Hume den der geistigen Substanz. 15 David Hume, A Treatis of human nature, introducted by A. D. Lindsay, vol. 1 - 2, London and New York, 1959/60, Everyman's Library, I, 1, sect. 6 vol, 1, S. 24.
Schlußfolgerungen: Atomisierung als Ergebnis des Empirismus
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have a particular name assigned them, by which we are able to recall, either to ourselves or others, that collection." Wenn Montaigne zeigt, wie die Affekte bei manchen Entscheidungen den Verstand überspielen, wie üblicherweise die Sinne der Triebnatur und dem Verstand eine relativierte Ausgangsbasis liefern, so geht es ihm nicht um die Auflösung des Substanzbegriffes. Er verfolgt ein pädagogisches Ziel: Die Bewußtmachung der Schwäche der Sinne, der Gefahren der Triebnatur sowie die Abhängigkeit des Verstandes je in ihrer Ausschließlichkeit zu zeigen. Es geht ihm um das Aufzeigen von Grenzen. Für den wahren Skeptiker gilt: "Die Frucht und das Ziel ihrer Verfolgung ist die Verfolgung" (lI!, 13, 1093). Montaigne dagegen legt die Betonung auf die "große Behutsamkeit (Vorsicht)", der es bedarf, "um Fehlentscheidungen zu vermeiden" (lI!, 2, 796). Um Fehlentscheidungen zu vermeiden, so sagt er, untersucht er "alles: was zu vermeiden und was zu befolgen ist" (lI!, 13, 1053). Das Ziel seiner Kritik ist nicht die Zerstörung und Auflösung an sich, sondern: "Der Gewinn dieses Bemühens liegt darin, daß man besser und weiser geworden ist" (I, 26, 151). Die von Hume vertretene extrem skeptische (nominalistische) Haltung war nie die Montaignes. Eine Substanz an sich existiert, nur erkennen wir sie weder allein durch den Verstand, die Sinne, die Triebnatur oder den Willen. "Wir sprechen von Macht, Wahrheit, Gerechtigkeit: das sind Worte, die etwas Großes bezeichnen, aber diese Sache wird von uns weder gesehen noch begriffen" (I!, 12, 479). Damit hält sich Montaigne selbst in der Apologie, die üblicherweise als der Hauptort seiner Skepsis angesehen wird16 , in der Ebene Lockes. Nach dessen Ansicht ist das Wesen der Dinge "The real internal, but generally (in substances) unknown, constitution of things, wheron their discoverable qualities depend"17.
18 Vgl. z. B. Donald M. Frame, Montaigne's Discovery of Man. The Humanization of a Humanist, New York, 1955, S. 57, 62, 76. 17 John Locke, An essay concerning human understanding, ed. by John W. Yolton, vol. 1 - 2, London and New York, 1961, Everyman's Library, Bd. 332, 984, IH, vol. 2, S. 22.
Vierter Teil
Ordnungsversuche Im gegenwärtigen Stadium seiner Entwicklung sind für Montaigne Substanzen zwar vorhanden, deren Erkennbarkeit jedoch stark in Zweifel gezogen. Die bestehende Unterschiedlichkeit, die Vielfalt der Erscheinungen, ihr dauernder Wechsel, sind so stark in den Vordergrund gerückt, daß ein diese Einzelerscheinungen verbindendes Allgemeine ganz aus der Reichweite des Menschen geraten scheint. Hier, wo es um die Kritik der Sinne, des natürlichen Verstandes und der Triebnatur geht, hier, wo Montaigne gegenüber der verworfenen Scholastik zum ersten Male im Konkret-Positiven die Erkenntnis gründen will, scheint er, obgleich das pädagogische Moment seines Bemühens nie aufgegeben wird, doch manchmal hilflos dem Strudel der Bewegung ausgesetzt. "Und wir und unser Urteil und alle sterblichen Dinge fließen und wogen unaufhörlich dahin. So läßt sich nichts Gewisses vom einen zum andern ermitteln und der Urteilende und das Beurteilte sind in fortwährender Wandlung und Schwankung begriffen" (Il, 12, 586)1. Je stärker diese Unsicherheit ins Bewußtsein vordringt, um so eindringlicher stellt sich die Frage der Ordnung. Es wurde stets versucht, stabilisierende Faktoren einzuführen, die die unkontrollierte Veränderung in geordnete Bahnen leiteten. Zu diesen Stabilisierungsfaktoren rechnet der Empiriker par excellence, David Hume, die Ähnlichkeit, die Verknüpfung von Ursache und Wirkung 2 und das Merkmal "natürlich"3. Für Montaigne kommt noch die "Coutume" hinzu. Wie Montaigne sich zu diesen Ordnungsversuchen stellt, soll im Folgenden untersucht werden. I. Die Ähnlichkeit Die Möglichkeit, den Begriff der Ähnlichkeit zum Angelpunkt der Bewegung werden zu lassen, tut Montaigne kurz ab. Ob zwei Fälle sich ähnlich sind, könnte nur bejaht werden, falls sie sich in ihrer "Nature" 1 Der Gedanke des Fließens allen Seins wird auch bei Pascal, Pensees, a.a.O., Pensee Nr. 72 entwickelt. 2 David Hume, I, III, S. 25: Hier nennt er auch noch die Berührung in Raum und Zeit. 3 David Hume, II, III, 1, sect. 2, vol, 2, S. 181 f.
II. Das Natürliche
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oder "Wesen" gleichen. Zur Natur der Sache haben wir aber schwerlich Zugang. "Wie sollen deshalb die Seele und der Verstand diese Ähnlichkeit erfassen, da sie doch aus sich selbst heraus keinen Zugang zum Wesen des Objekts haben" (Il, 12, 585)? Strikt empirisch vorgegangen, gibt es keinen Vergleichsmaßstab. Trotzdem wird stets verglichen, da "alle Dinge sich irgendwie ähnlich sind" (IIl, 13, 1047). Ob es sich um das an Präjudizien ausgerichtete angloamerikanische Rechtssystem handelt oder ob auf dem Kontinent die Gerichte der unteren Instanzen sich nach den "gleichgelagerten" höchstrichterlichen Entscheidungen richten, immer gilt, daß "alle Beispiele hinken" (IIl, 13, 1047) und daß "das Beispiel ein verschwommenes, unendliches und in jedem Sinne deutbares Spiegelbild ist" (I1I, 13, 1067).
11. Das Natürliche Es gibt viele Beispiele aus den Essais, in denen er das Natürliche preist und in Gegensatz zum Künstlichen stellt. "Alle Dinge, sagt Plato, sind durch die Natur, das Glück oder die Kunst erzeugt; die größten und schönsten durch eines der beiden ersten; die geringeren und unvollkommneren durch die letztere" (I, 31, 204)4. Die scholastische Philosophie ist für ihn unnatürlich. Deshalb will er eine natürlichere Philosophie einführen. "Ich würde die Kunst so naturalisieren, wie sie (die Scholastiker) die Natur verkünsteln" (IIl, 5, 582). Jedoch hat ihn die Abkehr von der Transzendenz zum Positiv-Konkreten nicht das "Natürliche" auf eine neue Weise erfassen lassen. Es ist leichter zu sagen, "wenn ich Führer einer Partei gewesen wäre, hätte ich eine andere, eine natürlichere Richtung eingeschlagen" (I, 30, 198), als dem Wort "natürlich" einen konstanten Inhalt zu geben. 1. Das Wahrscheinliche, Häufige und Mögliche als Kennzeichen des Natürlichen
Montaigne stellt fest, daß man unter natürlich dasjenige versteht, was nicht ungewöhnlich ist. Natürlich ist also, was wahrscheinlich 5 , was möglich 6 oder häufig 7 ist. über diese Abgrenzungskriterien wird ständig Streit bestehen. Denn es ist eine "freche Anmaßung, sich die Befugnis herauszunehmen, die Grenzen des Möglichen abzustecken" (I, 27, 179). Es wird außer acht 4
über die scholastische Philosophie als unnatürliche Entartung: I, 36, 3, 800; I, 30, 198; I, 31, 203.
222; III, 6 VgI. e VgI. 7 VgI.
I, 27, 178. I, 27,179. I, 54, 298.
4. Teil: Ordnungsversuche
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gelassen, daß die "unendliche Macht der Natur" sich nicht über unseren Leisten schlagen läßt. Vor allem müßte einmal der Unterschied zwischen "dem Unmöglichen und dem Ungewöhnlichen" (I, 27, 179) festgestellt werden. Alles, was wir voreilig mit unmöglich bezeichnen, ist tatsächlich nur das Ungewohnte, das von Individuum zu Individuum schwankt. 2. "Natürlich" ist nicht in einem Gesellschaftszustand zu finden
Liest man die Bemerkungen Montaignes über die neu entdeckten Völker Amerikas, so ist man versucht, ihn den Verkünder eines natürlichen Urzustandes des Menschengeschlechts zu nennen. Nicht nur betonen viele Autoren deshalb, daß Rousseau ein aufmerksamer Leser der Essais gewesen sei, sondern darüber hinaus wird versichert, die Grundlagen der Rousseauschen Staatstheorie fänden sich vorgeformt in den Essais8 • Im Gegensatz zu Rousseau macht Montaigne jedoch keinen ursprünglichen, allen Völkern gemeinsamen Naturzustand zum Ziel der StaatsordnungD und damit zur Leitidee für die Gesetzgebung als Medium der Staatsgestaltung. Dafür sind vor allem zwei Gesichtspunkte ausschlaggebend. Erstens wird der Naturzustand Montaignes nicht zum "logischen Mythos"lO und zweitens kennt Montaigne keine geschichtliche Gesetzmäßigkeit, die die Menschheit gradlinig von der Natur zur Kultur führt. a) Kein GeselZschajtszustand als "logischer Mythos"
Der Naturzustand als "logischer Mythos" ist zum greifen nahe. Montaigne vergleicht den Zustand der französischen Gesellschaft seiner Zeit mit dem der "Wilden" der neuen Welt, die "Wilde sind, so wie wir die Früchte wild nennen, welche die Natur von selbst und nach ihrem gewohnten Gang hervorgebracht hat" (I, 31, 203). Der Vergleich geht M. Dreano, La renommee de Montaigne en France au XVIII. siecle, s. 335: "Voltaire ne connait pas Montaigne autant qu'il semble le dire. Rousseau au contraire, lui emprunte beaucoup plus qu'il ne l'avoue" (ebenso S. 336, 341, 344); Pierre Villey, L'influence de Montaigne sur les idees pedagogiques de Locke et de Rousseau, Paris, 1911, passim; Paul Schwabe, Michel de Montaigne als philosophischer Charakter, Leipzig, 1899, S. 187 Anmerk. 1; Mario Rouston, Le centenaire de Montaigne et sa le~on politique, in: La Grande Revue, CXLI, 1933, S. 353 ff. (359); Jean Chateau, Montaigne psychologue et pectagogue, Paris, 1964, S. 134; Yves Delegue, Du Paradoxe chez Montaigne, in: Cahiers de l'Association Internationale des Etudes Francaises, Nr. 14 (1962), S. 241 ff.; Hugo Friedrich, S. 199 Anmerk. 167; Donald M. Frame, S. 57. 9 Pet er C. Mayer-Tasch, Autonomie und Autorität. Rousseau in den Spuren von Hobbes, Neuwied 1968, S. 19. 10 Peter C. Mayer-Tasch, S. 12. 8
1677 -1802, Angers 1952,
11. Das Natürliche
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zugunsten der Wilden ausl l • Bei den Völkern der neuen Welt gilt eine vollkommene Staatsordnung, da "in jenen die wahren, tauglicheren und ursprünglicheren Kräfte und Eigenschaften lebendig und mächtig sind" (I, 31, 203). Anders als in der Gesellschaft, in der Montaigne selbst lebt, in der Lüge, Verrat, Verstellung, Grausamkeit und Neid an der Tagesordnung sind, sind die Wilden von einer "reinen und einfachen Unbefangenheit", die "alle Schilderungen übertrifft, mit der die Dichtkunst das "Goldene Zeitalter" ausgezeichnet hat (I, 31, 204)12. "Sie leben noch nach den Naturgesetzen" (I, 31, 204; ebenso H, 12, 523), die in der Gesellschaft seiner Zeit verschüttet sind, so daß jeder seinen egoistischen Machtinteressen nachgeht. Trotz der unverkennbaren Tendenzen zur Idealisierung sieht Montaigne in dem Zusammenleben der neuen Völker nur eine unter vielen möglichen Formen menschlicher Gemeinschaft. Für Montaigne sind die Wilden nicht so perfekt, wie es an Hand der obigen Zitate zuerst scheinen mag. Sie sind nur weniger korrupt. Sie haben zwar nicht die eigenen Staatsbürger zum Feind und führen nicht untereinander Krieg, was nach Montaigne verständlicherweise eines der übelsten menschlichen Verirrungen ist, aber sie haben andere Völker als Feinde und führen mit diesen Krieg (I, 31, 206). Ihre Kriegsführung ist zwar "edel und großherzig" (I, 31, 208), nichtsdestoweniger ist auch ihr Krieg "eine Seuche der Menschheit"13. Montaigne beläßt es bei einer empirischen Beschreibung. Jedes Volk soll seiner eigenen Entwicklung gemäß leben können. Ein Sendungsbewußtsein, basierend auf einer als für alle Nationen verbindlich erklärten Gesellschaftsform, lehnt Montaigne scharf ab. Mit Bitterkeit stellt er fest, daß die Mächtigen sich stets von neuem aufmachen, unter dem Deckmantel einer universalen Aufgabe (z. B. der Verbreitung des Christentums) ganze Völker aus ihren Bahnen zu reißen und deren Kultur zu zerstören (IH, 6, 886 ff.). Die eigene Kultur und politische Ordnung an einem logisch überhöhten Naturzustand zu orientieren, hat eine große Anziehungskraft, da 11 Was durchaus zur Zeit Montaignes keine Selbstverständlichkeit war. G. Atkinson, Les nouveaux horizons de la Renaissance fran