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German Pages 658 [676] Year 1972
L E ONA R D N E L S ON
GE SA M M E LT E S C H R I F T E N
Recht und Staat
Meiner
L E ONA R D N E L S ON
Gesammelte Schriften in neun Bänden Herausgegeben von Paul Bernays, Willi Eichler, Arnold Gysin, Gustav Heckmann, Grete Henry-Hermann, Fritz von Hippel, Stephan Körner, Werner Kroebel, Gerhard Weisser
neunter Band
F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG
L E ONA R D N E L S ON
Recht und Staat Mit einem Vorwort von Arnold Gysin
F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG
Redaktion: Grete Henry-Hermann
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3839-9 ISBN eBook 978-3-7873-3848-1 Nachdruck 2020 © Felix Meiner Verlag Hamburg 1972. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck papier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in www.meiner.de Germany.
Inhaltsverzeichnis Vorwort (Arnold Gysin) Was istliberal? (1908) Die philosophischen Grundlagen des Liberalismus (1910) Vom Staatenbund (1914) Denkschrift betreffend die Einführung eines Staatenbundes und der damit zu verbindenden inneren Reformen (1914) Gefangenenpolitik (1917) Hochschule und Ausländer (1917) Die Rechtswissenschaft ohne Recht (1917) Das Völkerbundsideal (1922) Der Internationale Jugend-Bund (1922) Gotteslästerung (1922) Der Fall Gumbel (1925) Lebensnähe (192 6) Demokratie und Führerschaft (1927) Die bessere Sicherheit - Ketzereien eines revolutionären Revisionisten (1927) Franz Oppenheimer: der Arzt der Gesellschaft (1927) Zum Reichsschulgesetzentwurf (1927) Die Balkan-Föderation (1927) Namensverzeichnis Sachverzeichnis
VII 1 27 43 59 111 117 123 325 341 351 355 3 61 385 573 595 603 607 613 616
Vorwort Dem Mitherausgeber und Freund WILLI ErcHLER, der dieses Vorwort hätte schreiben sollen, hat am 17. Oktober 1971 der Tod die Feder aus der Hand genommen. EICHLER war politisch ein Nachfolger NELSONS. Er gehörte zur Führung des Internationalen Sozialistischen Kampfhundes, war Kämpfer gegen den emporsteigenden Nationalsozialismus, wirksam Mitbestimmender im Bunde aller Exilgruppen, die in klarer Abgrenzung zum Kommunismus des HITLER-STALIN-Pakts den Weg zur Demokratie und zum besseren neuen Deutschland zurückfanden; und schließlich war er ein klarer politischer Denker und maßgebend beteiligt an der Entdogmatisierung der deutschen Sozialdemokratie im Godesberger Programm. So wäre er für dieses Vorwort zuerst zuständig gewesen. Seine Verdienste darum, daß »viele Gräben zwischen den Kirchen und der Sozialdemokratie eingeebnet sind, ... der Unterschied klar geworden ist zwischen politischer Verantwortung und letzten Wahrheiten«, hat WILLY BRANDT an seinem Sarge gewürdigt. Dies wollte ich vorausschicken, um vor Augen zu führen, in welchem Licht die Herausgeber der Gesammelten Werke NELSONS auch dessen Leistungen im Bereich von Recht und Staat heute sehen.
I. Die Völkerrechtsidee »Wenn in der Geschichte ein für den Fortschritt der Entwicklung erhebliches Werk geschaffen wird, so manifestiert sich die Unabhängigkeit und Kraft des Geistes in dem kühnen Wagnis eines zum Bruch mit der trägen Gewohnheit entschlossenen Menschen.« Diese Worte habe ich 1924 an die Spitze meiner Besprechung von
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NELSONS »System der philosophischen Rechtslehre und Politik« gestellt, die in der Zeitschrift von KELSENS Wiener Schule erschien. Sie gelten uneingeschränkt auch heute für die Stücke dieses Bandes, welche der Völkerrechtsidee gewidmet sind und die, von Unzulänglichkeiten bereinigt, an einen hohen Ehrenplatz in der Rechtsphilosophie unseres Jahrhunderts gestellt zu werden verdienen. Diese Partien des Bandes sollen daher besonders hervorgehoben werden, zumal sie zugleich eine Schicksalsfrage der Menschheit betreffen. Es sind dies: »Vom Staatenbund«, Vorlesung gehalten am Vortag des Beginns des 1. Weltkriegs; »Denkschrift betreffend die Einführung eines Staatenbundes ... «, 1914; »Die Rechtswissenschaft ohne Recht«; »Das Völkerbundideal«. Beizuziehen ist zum genaueren Verständnis die »Staatenpolitik« aus dem »System der philosophischen Rechtslehre und Politik«, Band VI der Gesammelten Schriften. NELSON greift hier in selbstdenkender Weiterführung direkt auf KANT zurück; er beweist an diesem Exempel die Fruchtbarkeit des von ihm empfohlenen Prinzips der philosophischen Schulbildung. In verschiedenen Schriften vor allem 1795 und 1797 hat KANT seine Idee vom ewigen Frieden entwickelt und sie als »Endzweck der Rechtslehre innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft« bezeichnet. Die Vernunft gebiete: »Es soll kein Krieg sein; weder der zwischen Mir und Dir im Naturzustande, noch zwischen uns als Staaten, die zwar innerlich im gesetzlichen, doch äußerlich (im Verhältnis gegeneinander) im gesetzlosen Zustande sind.« Aus diesem Zustand des Krieges oder der doch immerwährenden Bedrohung mit ihm sollen die Staaten heraustreten und einen gesetzlichen Zustand stiften. Ein solcher kann kein Völkerstaat sein, weil »viele Völker in einem Staat nur ein Volk ausmachen würden, welches (da wir hier das Recht der Völker gegeneinander zu erwägen haben, so fern sie so viel verschiedene Staaten ausmachen, und nicht in einem Staat zusammenschmelzen sollen) der Voraussetzung widerspricht«. Daher ist der Rechtszustand des Völkerrechts »auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet«. Er ist ein »Völkerbund«, kein »Völkerstaat«, ein Friedensbund. Er sud1t im Gegensatz zum Friedensvertrag nicht einen Krieg, sondern »alle Kriege auf immer zu endigen«. »Ein mächtiges und aufgeklärtes Volk« - bei sich bietendem Glücks-
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fall -, das republikanisch verfaßt ist, d. h. in »Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden«, und das somit - das ist die optimistische Ansicht KANTS- »zum ewigen Frieden geneigt sein muß«, gibt »einen Mittelpunkt der föderativen Vereinigung für andere Staaten ab, um sich an sie anzuschließen und so den Freiheitszustand der Staaten, gemäß der Idee des Völkerrechts, zu sichern und sich durch mehrere Verbindungen dieser Art nach und nach immer weiter auszubreiten«. Eine » Weltrepublik« lehnt KANT ab. Diesen Ansatz, der wohl am meisten zur Weltberühmtheit KANTS beigetragen hat, hat NELSON durch entscheidende Modifikationen weiterentwickelt. In begrifflicher Hinsicht wies er zunächst nach, daß die als zwingend angesehene Alternative: Weltstaat mit rechtlicher Zwangsgewalt einerseits oder Weltföderation ohne Zwangsgewalt andererseits auf einer unvollständigen Disjunktion beruht. Weil nämlich historisch alle politischen Gemeinwesen Staaten seien (die Gemeinde bleibt bei NELSON unbeachtet), so müsse ein politisches Gemeinwesen, das über den Staaten stehe, ebenfalls Staat sein. Somit könne das politische Gemeinwesen, das die oberste Zuständigkeit sowohl über alle Gliedstaaten als auch über alle Weltbürger innehabe, nur der Weltstaat sein. Dies ist die unvollständige Disjunktion. In Wahrheit könne aber ein Weltstaatenbund, dessen Glieder nur Staaten sind und dessen Zuständigkeit und Zwangsgewalt sich nur auf das Verhältnis seiner Mitglieder bezieht, allen Staaten der Welt die Zuständigkeit zur Rechtsverwirklichung in ihrem Bereich abschließend belassen. Der Weltstaatenbund hebe daher weder das Völkerrecht auf noch die staatsrechtliche Souveränität der Staaten. Darin unterscheide er sich vom Bundesstaat, der nicht nur für das Verhältnis zwischen seinen - nichtsouveränen Gliedstaaten, sondern auch für seine Bürger unmittelbar zuständig ist. (Der Terminus »Weltbürgerrecht« bei KANT war insoweit also mißverständlich.) Aus der imperativischen Natur des Rechts und der Allgemeingültigkeit der Rechtsidee folgt nach NELSON, daß der äußere Zweck jedes Rechtsstaates darin besteht, hinzuwirken auf die Bildung einer solchen aus Rechtsstaaten bestehenden Zwangsorganisation des Völ-
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kerrechts. Sie umfaßt dessen Rechtssetzung, Rechtsanwendung und Rechtserzwingung und soll allmählich universal werden. Diese oberste Rechtsgemeinschafl soll nicht nur den formalen Frieden sichern, sondern durch geeignete Vorkehren auch die materiellen Ungerechtigkeiten zwischen den Völkern der Erde allmählich überwinden, womit im Prinzip der Gedanke der Entwicklungshilfe und ausdrücklich auch Maßnahmen in Hinsicht auf die Bevölkerungsdichte vorweg genommen waren. Die nähere Ausführung zeigt dann allerdings vielfach die in der philosophischen Rechtslehre und Politik NELSONS anzutreffende Überspannung apriorischer Ansprüche: so, wenn er auch hier wieder die durch Erfahrung weitgehend bewährte Gewaltentrennung verwirfl und das völkerrechtliche Prinzip der repräsentativen Gleichheit der Staaten als »nichtig« bezeichnet. Die Gefahr des Miß.1brauchs einer Weltzentralgewalt des universalen Völkerbundes wird zwar erwähnt. Es tritt aber nicht ins Bewußtsein die kaum zu ermessende geschichtliche Zäsur, der Abgrund, der beim irreversiblen Übergang der gesamten (heute in ideologische Lager und Atom- und Nichtatom-Mächte gespaltenen) Menschheit zur organisierten Rechtsgemeinschafl: zu überbrücken sein wird. Die seitherige Entwicklung ist in der Richtung der fast prophetisch anmutenden Gedankengänge KANTS und NELSONS verlaufen. Teilgemeinschaften sowie der Völkerbund und die Uno bezeichnen diesen Weg. Vielfach ist das von NELSON kritisierte Prinzip der Einstimmigkeit überwunden und sind ständige Gremien eingeführt worden. Dennoch ist nirgends der Grundsatz der Universalität und des unwiderrufl,ichen Beitritts auch nur entfernt verwirklicht. Und die Einmischung in Interna der Mitgliedstaaten der Uno zeigt, daß die theoretisch saubere Grenzziehung NELSONS zwischen Völkerund Staatsrecht in der Praxis nur allzuleicht zerfließt. über dies hinaus erweist die auf 1914 zurückgehende »Denkschrifl«, daß NELSON tief auch in Einzelheiten der Problematik der Völkerrechtsidee eingedrungen ist und daß er damals eine republikanische Verfassung des (zunächst europäischen) »Staatenbundes« ins Auge faßte mit einem Bundesrat und einem Bundesparlament. Daß er den Sieg Deutschlands als wahrscheinlich annahm und den
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preußischen Militarismus unterschätzte, Deutschland also die schon vonKANTerwähnteRolleeines »Mittelpunktes« der föderativen Vereinigung beimaß, wird ihm keiner zu sehr anlasten, der weiß, daß 1914 die erdrückende Mehrheit der demokratischen Deutschschweizer einem deutschen Sieg noch den Vorzug gab und daß NELSON für die Nachkriegszeit in der »Denkschrift« den Sturz des Zarismus und eine Koalition mit der Sozialdemokratie ins Auge faßte. Das Vertrauen im Ausland sollte durch eine auch die Erweiterung der Volksrechte umfassende innere Reform gefestigt werden. Ein utopisches Element bleibt dennoch in NELSONS Hoffnung, durcl-i rational ausgewiesene Argumente reaktionäre Tendenzen einzudämmen. Eine ähnliche Unterschätzung der Zwangsläufigkeiten von Macht und Dogma hat ihn dann 1927 auch zu Enttäuschungen geführt in Gesprächen mit führenden Persönlichkeiten Sowjetrußlands. »Die Rechtswissenschaft ohne Recht«, 1917, war ebenfalls überwiegend bereits 1914 abgeschlossen (Nachwort). In diesem Werk hat NELSON vor allem das Souveränitätsdogma und die damit zusammenhängenden Willens- und Machttheorien aufs Korn genommen. »Er hat einer durchaus unzulänglichen, beschränkten Auffassung gegenüber eine berechtigte Kritik geübt und eine idealistische Auffassung gegenübergestellt, die jener positivistischen weit überlegen ist« (WALTHER BuRCKHARDT). Er wollte mit seiner »Polemik« die Hindernisse wegräumen, die den Fortschritt des Völkerrechts zur organisierten Rechtsgemeinschaft versperrten durch einen mit der Souveränität getriebenen Wort- und Begriffsfetischismus. Mit scharfsinniger Dialektik hat er führende Rechtsgelehrte jener Epoche angegriffen. Das Stück ist heute noch lesenswert, wird aber mit Vorteil unter Zuhilfenahme der überall vorausgesetzten Rechtsphilosophie NELSONS studiert. Einige Zitate mögen die Notwendigkeit der Nelsonschen Kritik belegen. »Die Ansicht, welche dem Bunde korporativen Charakter und der Bundesgewalt Herrschaftsrechte über die ihm eingegliederten Staaten zuschreibt, führt mit zwingender Notwendigkeit zur Einordnung des Staatenbundes unter die Kategorie des Staates«, somit zur »civitas maxima« (G. JELLINEK). »Eine ... politische Entwicklung«, »daß der Gemeinwille nach
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einer solchen Gestaltung drängt, die ihn in den Stand setzt, sich gegenüber dem einzelnen zu behaupten«, »liegt gänzlich jenseits der Entwicklungsmöglichkeit der universellen Staatengemeinschaft« (MAX HUBER). »Alle Vorschläge, welche eine internationale Exekutivgewalt beabsichtigen, widerstreiten dem Begriff der Souveränität nicht nur, sondern auch dem Ideal des internationalen Friedens und des Völkerrechts« (L. OPPENHEIM). »Nicht die >Gemeinschaft freiwollender MenschenberechtigtSelbstverpflichtung< eingeht, so tut er dies nicht trotz seiner Souveränität, sondern kraft seiner Souveränität, d. h. eben seiner freien völkerrechtlichen Persönlichkeit. Die Souveränität steht dem also nicht etwa im Wege, sondern sie befähigt ihn dazu.« (47.) »Der Staat 22 ÜTFRIED NrPPOLD.
Die Fortbildung des Verfahrens in völkerrechtlichen Streitigkeiten. Leipzig 1907.
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braucht diese Verträge nicht abzuschließen. Aber, wenn er es will, dann kann er es, dann kann ihn niemand daran verhindern. Wo er handelt, da handelt er also kraft seiner freien Persönlichkeit. Das ist der wahre Sinn der staatlichen Souveränität im Völkerrecht.« (48.) Er meint, daß »das Völkerrecht im modernen Sinn selbst nur ein Ausfluß dieser Souveränität ist.« (49.) Wenn aber alles Völkerrecht erst aus dem souveränen Staatswillen hervorgehen soll, worauf beruht dann das Recht der Souveränität? Es müßte ja dann selbst erst eine Folge des darauf gerichteten Staatswillens sein, der ja aber seinerseits, um eine solche Folge herbeiführen zu können, schon als souverän vorausgesetzt werden müßte. Dieser Widerspruch läßt sich auf keine Weise aus der Welt schaffen. Aber auch die Möglichkeit einer Selbstbeschränkung des souveränen Staates zugestanden, so ist doch die Frage nicht zu umgehen, ob es im bloßen Belieben des einzelnen souveränen Staates steht, sich eine solche Selbstbeschränkung aufzuerlegen, oder ob er nicht vielmehr dazu verpflichtet ist. Gibt es nicht ein Recht der anderen Staaten, eine gewisse Selbstbeschränkung von ihm zu fordern? Oder sollen sie etwa ihrerseits verpflichtet sein, seinen Launen zu Willen zu sein, wenn es ihm nicht beliebt, in der rücksichtslosen Verfolgung seiner Interessen Maß zu halten? Daß die Souveränität nicht als Prinzip des Völkerrechts genügen kann, fühlt auch NIPPOLD, da er es für nötig hält, ihr ein Prinzip der »Solidarität« nicht etwa nur an die Seite zu setzen, sondern dieses geradezu als das »alleinige Prinzip des Völkerrechts« (59) aufzustellen. Er meint nämlich, das Charakteristische des modernen Völkerrechts in der Gemeinsamkeit der Interessen zu finden: »Die Eigenart des Völkerrechts beruht vor allem darin, daß mehrere Staaten gemeinsam ihre gemeinsamen Interessen schützen und ihre gegenseitigen Beziehungen regeln.« (35.) »Was die Eigenart, die Grundlage des Völkerrechts bildet, das ist die Gemeinsamkeit, die Solidarität.« (59.) Aber hierin findet sich eine verhängnisvolle Unklarheit. Allerdings haben die Staaten ein gemeinsames Interesse daran, »ihre gegenseitigen Beziehungen zu regeln«, aber dieses, das spezifisch recht-
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liehe Interesse cler Staaten darf man nicht verwechseln mit den Interessen, deren Beziehungen einer rechtlichen Regelung bedürfen, und ohne deren Voraussetzung das gemeinsame Interesse an einer rechtlichen Regelung solcher Beziehungen gar nicht erst auftreten würde. Diese Interessen verlangen aber gerade insofern eine rechtliche Regelung ihrer Beziehungen, als sie miteinander kollidieren. Wo diese Interessen harmonieren, ist keine Rechtsentscheidung erforderlich. Die Interessengemeinschaft der Staaten, die die fragliche Grundlage des Völkerrechts bildet, ist also gerade die Gemeinsamkeit des Interesses an der Regelung von Interessenkonflikten. Wo aber ein solcher Konflikt entsteht, gibt das Interesse an einer rechtlichen Regelung doch noch nicht die Regel selbst, die den Konflikt entscheidet. Die Grundlage für die Gewinnung dieser Regel muß also anderswoher genommen werden. Diese Regel kann man jedenfalls auch nicht, wie NIPPOLD im Anschluß an ULLMANN zu versuchen scheint, einem »primären allgemeinen Rechtsverhältnis« entnehmen, »in dem jedes Mitglied sich als verpflichtet anerkennt, die anderen nicht zu verletzen, in dem jedem einzelnen Mitgliede aber auch der Anspruch zuerkannt ist, von jedem anderen die Unterlassung jeder Verletzung zu fordern« (43). Denn die Norm, daß keiner den anderen verletzen darf, ist, wenn dabei an eine Interessenverletzung gedacht wird, auf den Konfliktsfall gerade nicht anwendbar. Der Konflikt besteht ja darin, daß die Verletzung wenigstens eines Interesses unvermeidlich ist, und wenn wir nach der Rechtsregel fragen, welches Interesse zu schonen sei, welches dagegen verletzt werden dürfe, so kann man darauf offenbar nicht mit der Regel antworten, daß kein Interesse verletzt werden dürfe. Soll aber jene Regel nur das Verbot einer Rechtsverletzung darstellen, so ist damit ebensowenig gewonnen, da wir ja gerade fragen, welches das Recht ist, das nicht verletzt werden darf.
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Zehntes Kapitel Der privatrechtliche Nihilismus bei Julius Binder
§ 1. Die Lehre vom fiktiven Charakter der Rechtspfiichten,
begründet durch die Lehre von ihrem Adressaten Daß die Ansichten, die auf dem Gebiete des Privatrechtes herrschen, den im Staatsrechte geltenden entsprechen, bedürfte eigentlich keiner besonderen Erwähnung. Seit man einmal, nach dem Verlassen des Naturrechtes, sich wenigstens darüber einig ist, daß überhaupt nur im Staate ein wirkliches Privatrecht bestehen kann, muß auch klar sein, daß die auf diesem Gebiet herrschenden grundsätzlichen Ansichten durchaus von der Stellungnahme abhängen, die man zu den Problemen des Staatsrechtes einnimmt. Die Verhältnisse liegen daher hier nicht grundsätzlich anders als beim Staatsrecht, sondern erfahren nur eine weitere Verwicklung dadurch, daß die Lösung der privatrechtlichen Probleme die der staatsrechtlichen schon voraussetzt. Um indessen auch ein Beispiel dafür zu geben, wie weit sich der rechtliche Nihilismus mit seinen verwüstenden Konsequenzen hervorwagt und wie wenig er davor zurückscheut, selbst den ehrwürdigen und scheinbar so festen Bau des Privatrechts aus seinen Fugen zu treiben, erwähne ich die Lehren, die neuerdings Juuus BINDER23 über das Wesen der das Privatrecht regelnden Normen entwickelt hat. BINDER geht davon aus, daß die Frage, worauf die »verpflichtende Kraft« der Rechtssätze beruhe, noch keine befriedigende Lösung gefunden habe. Um diese Tatsache zu erklären, stellt er seinerseits die Behauptung auf, das Problem sei darum unlösbar, weil die Annahme vom verpflichtenden Charakter der Rechtsnormen unbegründet sei. Sehr richtig bemerkt er, daß es vergeblich sei, die Frage nach dem 23
Juuus
BINDER,
Rechtsnorm und Rechtspflicht. Leipzig 1912.
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Grunde der verpflichtenden Kraft der rechtlichen Imperative »mit einem Hinweis auf den Zwangscharakter des Rechts oder die Anerkennung durch die Rechtsgenossen beantworten« zu wollen: »Beides ist unmöglich; die Anerkennung des Rechts durch die Rechtsgenossen erweist sich bei näherer Betrachtung als eine Fiktion, und der Umstand, daß ein rechtlicher Befehl zwangsweise durchgesetzt werden kann, reicht nicht aus, ihn zu einem verbindlichen Befehl zu machen.« (13 f.) Diese an sich richtige Feststellung ist aber für ihn schon Grund genug zu der Behauptung: »Die Schuld, die Obligation als Rechtspflicht ist mit anderen Worten juristisch überhaupt nicht zu begründen.« Er sagt: »Für die nüchterne juristische Betrachtung liegt vielmehr, wenn wir den Ausgangspunkt der herrschenden Lehre, die an die Rechtsgenossen gerichtete Rechtsnorm, festhalten, die Sache so: Der Umstand, daß eine Person dem an sie ergangenen rechtlichen Befehle nicht gehorcht, bildet für den staatlichen Zwangsapparat den zureichenden Grund, gegen den Ungehorsamen mit äußeren Zwangsmaßregeln vorzugehen, wozu ihm, wenn wir uns auf den Schuldner des Privatrechts beschränken, die Haftung in ihren verschiedenen Arten die nötigen Mittel und Wege gibt. Von einem Sollen in irgendeiner durch den Wortsinn noch gedeckten Bedeutung ist dabei also keine Rede. Schon aus diesem Gesichtspunkte kommen wir dazu, die Idee der Rechtspflicht des Schuldners abzulehnen und uns auf die Haftung zu beschränken.« (14 f.) Diese Argumentation ist offenbar so wenig schlüssig, daß sie vielmehr die ihr ausdrücklich zugrunde gelegte Voraussetzung aufhebt, »daß eine Person dem an sie ergangenen rechtlichen Befehle nicht gehorcht«. Denn in dieser Voraussetzung liegt die Annahme eines in der Rechtsnorm enthaltenen, an die Person gerichteten Imperativs. Wenn also BINDER sagt, die Leistung befreie »den Schuldner nicht von der Schuld, sondern von der Haftung« (12), so ist dies eine durchaus willkürliche Behauptung und läßt auch die Frage nach dem rechtlichen Grunde der Haftung völlig im dunkeln. Nun greift aber BINDER die Lehre, daß die Rechtsnorm überhaupt einen kategorischen Imperativ enthalte, vor allem dadurch an, daß er ihr die Meinung gegenüberstellt, »sie sei nur ein hypotheti-
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sches Urteil im logischen Sinne«. »Die Konsequenz« dieser Meinung ist nach ihm, »daß wir die Rechtspflichten im Sinne der herrschenden Lehre überhaupt zu streichen hätten« (15 f.). Er knüpft dabei an die im Strafrecht bereits von BrNDING und seinen Anhängern vertretene Lehre an, »daß der Rechtssatz in seiner hypothetischen Natur die Übertretung der kategorischen Norm voraussetze und die Folgen dieser Übertretung ausspreche« (16). Hierbei verwechselt er aber das seiner logischen Form nach hypothetische Urteil, »daß etwas unter gewissen Voraussetzungen, die wir den juristischen Tatbestand nennen, geschehen soll« (17), mit einem hypothetischen Imperativ. Daß ein Satz an die Voraussetzung eines bestimmten Tatbestandes eine rechtliche Folge knüpft, ist keineswegs, wie er meint, hinreichend, um diesem Satz den Charakter eines kategorischen Imperativs zu nehmen. Dazu wäre vielmehr erforderlich, daß der in dem Satze ausgedrückte Imperativ an die Voraussetzung eines seine Gültigkeit bedingenden Zweckes gebunden wäre. Der Tatbestand aber, unter dessen Voraussetzung der Imperativ Anwendung findet, schränkt die Verbindlichkeit des Imperativs nicht auf die Bedingung eines durch seine Befolgung zu erreichenden Zweckes ein, und dieser Imperativ ist daher, wie jedes Sollen, ein kategorischer. Ob man, wie es der naheliegenden und früher unbestrittenen Auffassung entspricht, den Adressaten der Rechtsnorm in dem Volke sucht oder, wie es BrNDER tut, in der staatlichen Behörde (dem Richter oder dem Vollstreckungsorgan), das macht für diese grundsätzliche Frage keinen Unterschied. Denn wenn z. B. das Strafgesetz den Sinn hat: »Du sollst, wenn ein bestimmter, im Gesetz genau bezeichneter Tatbestand vorliegt, eine Strafe verhängen« (23), so ist doch auch dies ein kategorischer Imperativ, und die Frage, wie er als solcher verpflichten könne, wird nicht durch die Behauptung gelöst, daß sein Adressat nicht das Volk, sondern der Richter sei. BrNDER hat also gar nicht bemerkt, daß er, statt die Rechtspflicht zu beseitigen, sie nur auf ein anderes Anwendungsgebiet verschiebt. Diese Verschiebung, wonach »nicht der Verbrecher das Strafgesetz übertreten kann, sondern nur der Richter oder das Vollstreckungsorgan« (23), und wonach zwar »die Behörde durch ihre staatsrechtliche Stellung der Pflicht unterliegt, diesem Befehl zu gehorchen«, »dagegen der
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Untertan durch das Gebot der Rechtsordnung zwar mittelbar sehr empfindlich getroffen werden kann«, »aber eine Rechtspflicht in irgendeinem Sinne für ihn nicht besteht« (27 f.), - diese Verschiebung stellt nicht nur alle Begriffe auf den Kopf, sondern ist auch an sich eine überflüssige Bemühung, insofern sie uns dem von BINDER gesteckten Ziele der Beseitigung der Rechtspflicht um nichts näher bringt. BINDER sagt zwar: »Wird das Gesetz verkündet, so geschieht dies natürlich, damit die Bevölkerung es kennenlernen könne; das bedeutet aber keineswegs: damit sie es befolgen könne« (36). Warum dann aber überhaupt die Bevölkerung das Gesetz kennenlernen soll, darüber gibt BINDER keine Aufklärung. Anscheinend findet er diesen Grund in der Lernbegierde der Bevölkerung. Zwar sagt er auch: »Das Volk soll sich danach richten, d. h. sich dem Gesetz entsprechend verhalten« (36); aber diese Konzession an die von ihm bekämpfte Auffassung steht im schroffsten Widerspruch zu dem ganzen Zusammenhang seiner Schrift.
§ 2. Die Reduktion der Obligation auf die Haftung »Von dieser Auffassung aus finden wir« nach BINDER »schließlich auch eine befriedigende Antwort auf die Frage, worin die verbindliche Kraft des Gesetzes beruhe« (36): »Fassen wir das Problem rein juristisch, verzichten wir darauf, eine metaphysische Rechtstheorie zu entwickeln, sehen wir auch von der ethischen Seite der Frage vollkommen ab, so können wir nur sagen: das Recht hat den Grund seiner Geltung in der realen Macht des Staates, die zu seiner Durchsetzung erforderlich ist.« (37.) Offenbar versteht hier BINDER unter der »Geltung« des Rechts nicht seine Eigenschaft, tatsächlich befolgt zu werden: denn dann würde er eine leere Tautologie aussprechen, sondern es ist allen Ernstes seine Meinung, daß die Verbindlichkeit des Rechts mit der zu seiner Durchsetzung verfügbaren Macht stehe und falle, woraus er denn, hierin ganz folgerichtig, auf die nur »relative Natur alles Rechtes« schließt (die ihn übrigens nicht hindert, an anderer Stelle seine »absolute Geltung« (47) zu behaupten), sowie darauf, »daß es
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Rechtspflichten der Untertanen im eigentlichen Sinne überhaupt nicht geben kann«: »Die Konsequenz der Rechtsordnung besteht nicht in dem Verpflichtetsein, sondern im Unterworfensein; das Recht ist reale Macht, die sich selbstherrlich durchzusetzen weiß und auf Verpflichtungen überhaupt nicht angewiesen ist.« (37 f.) Auch sagt er geradezu: »Der Anspruch ist die Möglichkeit, einen Leistungserfolg zwangsweise zu realisieren.« »Wir sagen, es sei einer berechtigt, vom anderen eine Leistung zu verlangen, wenn für die erwartete Leistung eine durch Prozeß und Vollstreckung realisierbare Haftung besteht.« »Daraus ergibt sich aber, daß die >Schuld, überhaupt kein rechtlich relevanter Begriff ist.« (40 f.) »Abzulehnen ist die allgemeine Kategorie der Untertanenpflichten; abzulehnen die kriminalistische Pflicht, Delikte zu unterlassen; abzulehnen die zivilrechtliche Pflicht, Verbindlichkeiten zu erfüllen« (45). Hier wird denn also unverhohlen aus dem Privatrecht ein bloßes Faustrecht gemacht. Alles kommt danach auf die Kraftprobe an, ob es dem Schuldner gelingt, sich der Haftung zu entziehen, um auch alle Obligation zu annullieren. Dem so naheliegenden und einleuchtenden Einwand, »daß diese Auffassung nur dem brutalsten Despotismus entsprechen würde« (38), sucht sich BINDER durch den Hinweis darauf zu entziehen, »daß mit der Staatsform dieses Problem gar nichts zu tun hat« (38). Aber dies ist wiederum eine jener Ausflüchte, die einem Advokatenkniff ähnlicher sehen als einer wissenschaftlichen Argumentation. In der Tat, die Frage, wer Träger der Staatsgewalt ist, »ob es ein einzelner Mensch ist oder ob sie unter verschiedene Faktoren geteilt ist« (38), wird durch die fragliche Rechtsauffassung nicht berührt; diese Auffassung läßt gewiß die Frage unentschieden, wer jenen »brutalsten Despotismus« ausüben soll. Aber was ändert dies daran, daß überhaupt der brutalste Despotismus die Konsequenz dieser Lehre ist? Ja viel mehr als der brutalste Despotismus, der ja, indem bei ihm Macht vor Recht geht, wenigstens noch den Unterschied dieser beiden Begriffe bestehen läßt, während hier dieser Unterschied überhaupt aufgehoben werden soll.
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Wenn BINDER am Schlusse seiner Ausführungen den Zynismus der von ihm entwickelten Lehre durch moralisierende Betrachtungen über die vom »sittlichen Bewußtsein des Menschen verlangte Unterwerfung unter die Rechtsordnung« übertüncht, so wird er dadurch nur sehr treuherzige Leser darüber hinwegtäuschen, daß, wollte man diese Erklärungen beim Worte nehmen, zu der durch die übermacht der Gewalt sonst nur erzwungenen Unterwerfung hier obendrein die Proklamation einer Pfiicht zur Unterwerfung unter die blinde Gewalt hinzukäme, wodurch der aller Moral Hohn sprechende Charakter dieser Lehre nur um so greller zutage treten würde. Und ebenso treuherzig muß man sein, um sich bei der Erklärung BINDERS, es sei »ein Gebot der Sittlichkeit, die Staats- und Rechtsordnung als eine in der Natur des Menschen begründete Einrichtung zu achten und ihren Geboten entsprechend zu handeln« (47), aus dem Bewußtsein rücken zu lassen, daß die Lehre BINDERS ja gerade darauf hinauslief, die nunmehr mit sittlicher Würde umkleideten Gebote der Rechtsordnung als Fiktionen zu erweisen.
Elftes Kapitel Die Restitution des Rechtsbegriffs bei Ludwig von Bar
und ihre Kritik bei P. Schoen
§ 1. Bars Lehre von den Grundlagen des Völkerrechts
Es wäre leicht, die Beispiele für die in der heutigen Jurisprudenz zur Herrschaft gelangte, das Recht in bloße Politik auflösende Tendenz beliebig zu vermehren. Besser aber als durch alle weiteren Beispiele, die uns zeigen könnten, wie typisch die geschilderten, das
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Recht angeblich auf eine feste faktische Basis stellenden, in Wahrheit aber alles Recht untergrabenden Bestrebungen sind, wird dies klar werden, wenn wir beobachten, welches Schicksal einer solchen Arbeit beschieden gewesen ist, die es sich zum Ziel setzt, auf das Bedenkliche dieser Entwicklung aufmerksam zu machen. Denn in der Tat ist jene Tendenz auch auf Widerspruch gestoßen. Und zwar ist es kein juristischer Laie, der seine Stimme gegen die hier dem Recht vonseiten seiner berufenen Sachwalter drohenden Gefahren erhoben hat, sondern kein Geringerer als LUDWIG VON BAR hat es sich angelegen sein lassen, noch in einer der letzten seiner Arbeiten mit dem Gewicht seines Namens für den ins Wanken geratenen Rechtsbegriff einzutreten. 24 Wie es auch sonst seine Art ist, durch keine dogmatisch aufgestellten abstrakten Prinzipien beengt, einzig an Hand seiner umfassenden und gründlichen Vertrautheit mit der Eigenart des jeweils vorliegenden Gegenstandes vorwärtszuschreiten und auf Grund einer vergleichenden Betrachtung der ihm zu Gebote stehenden lebendigen Fülle der Einzelfälle mit unübertroffener Sicherheit den Wert allgemeiner Theorien abzuwägen, so geht er auch hier bei der Kritik der von seinen Fachgenossen eingeschlagenen Richtung nicht von einem vorgefaßten allgemeinen Prinzip aus, sondern er orientiert sich dabei über die fraglichen Theorien an ihrer Bedeutung und Tragweite für die in ihrem Bereich liegenden Anwendungsfälle. Auf diesem Wege aber gelangt er dazu, die Lehre abzulehnen, »welche in dem durch Übung (Gewohnheit) und durch internationale Konventionen erklärten Willen der Staaten die eigentliche Quelle des Völkerrechts erblickt«, und für die über dem Willen der Staaten stehende »unmittelbar und immer geltende Gerechtigkeit als letzte Quelle des Völkerrechts« einzutreten. (145.) Er weist darauf hin, »daß der Wille der Staaten allein der bindenden Kraft für die Zukunft entbehre«, daß »der Wille«, da er »an sich veränderlich« sei, nicht ausreicht, um »die Verbindlichkeit des im Vertrage erklärten Willens« zu begründen (145 f.), und daß 24
Grundlage und Kodifikation des Völkerrechts. Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie. 6. Band. Oktober 1912. S. 145 ff.
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daher diese Verbindlichkeit nur »durch den Glauben an die Notwendigkeit des Worthaltens« Bedeutung erhält. Er zeigt, wie auch die Willenstheorie im Grunde auf eine »vernünftige Betrachtung der Dinge« zurück.greifen müsse, und wie sie in Widerspruch mit sich selbst gerät, wenn sie in der Voraussetzung, es handle sich um einen vernünftig bestimmten Willen, ihr Prinzip durchbricht, da auf diese Weise in Wahrlieit die letzte rechtliche Instanz nicht im Willen, sondern in der Vernunft gesucht wird. Er macht auf die Konsequenz aufmerksam, daß »jeder völkerrechtlichen Norm von jedem Staate, soweit sie gegen ihn gelten soll, durch eine einfache Willenserklärung der Boden entzogen werden kann, und daß nur Klugheitsmotive die allzu häufige Anwendung solchen Abschüttelns später als unvorteilhaft empfundner Verträge und Rechtsnormen hindern.« (147, 155.) Er zeigt, daß man sich den Widersprüchen der Willenstheorie auch nicht, wie es besonders TRIEPEL in seiner Lehre von dem in der völkerrechtlichen Vereinbarung entstehenden Gemeinwillen versucht, dadurch entziehen kann, »daß in den völkerrechtlichen Normen doch nicht nur der eigene Wille der einzelnen Staaten, vielmehr auch ein fremder Wille, der Wille anderer Staaten enthalten sei« (147); denn »der fremde Wille ist für den eigenen Willen nur Motiv, nicht aber ein Moment, welches den Staatswillen hier zu einem teilweis aus einem fremden Willen zusammengesetzten Gebilde erheben könnte« (148). Er hebt die weitere Konsequenz hervor, daß nach der Willenstheorie »nur diejenigen Rechtsnormen Völkerrecht sind, die einhellig von den Staaten als bindend angenommen oder stillschweigend durch Übung anerkannt sind«, daß »dann aber ein Staat sich der Geltendmachung einer ihm im einzelnen Falle unbequemen Norm dadurch entziehen kann, daß er den oft unmöglichen Nachweis verlangt, er habe die fragliche Rechtsnorm schon früher als ihn bindend ausdrücklich oder stillschweigend (durch Unterwerfung unter dieselbe) oder Geltendmachung gegen einen anderen Staat anerkannt«, woraus man dann sehe, »wie die Willenstheorie in ihrer Konsequenz das Völkerrecht unsicher zu machen geeignet ist«. »Fraglich erscheint«, fährt er fort, »ob bei einem solchen Zustande noch von
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einer wirklich wissenschaftlichen Behandlung des Völkerrechts die Rede sein könnte.« (149.) Auch gegen die Theorie, die das objektive Prinzip des Völkerrechts in dem Selbsterhaltungsrecht der Staaten sucht, wendet sich BAR. »Wäre nun die Frage, ob die fernerweite Beobachtung eines Vertrags mit dem Selbsterhaltungsrecht noch vereinbar ist, so leicht zu beantworten, wie die Frage, ob jemand, der sich in Gefahr von Leib und Leben und somit im Notstande befindet, sich Handlungen erlauben darf, die unter anderen Umständen rechtswidrig sein würden, so könnte in dem Selbsterhaltungsrechte zwar nicht die Basis für die notwendigen positiven Sätze des Völkerrechts, wohl aber immerhin eine brauchbare Grenze für die bindende Kraft der völkerrechtlichen Verträge gefunden werden. Aber die Frage entzieht sich wegen der unvergleichlich schwerer zu beurteilenden Lebensbedingungen eines Staates jeder sicheren Beantwortung.« (151.) BAR bleibt aber nicht bei einer bloßen Kritik falscher Doktrinen stehen, er weist vielmehr auch auf den wahren Grundsatz des Völkerrechts hin. Diesen Grundsatz schöpft er aus der Vernunft, und um ihn zu charakterisieren, scheut er sich nicht, den Ausdruck »Naturrecht« anzuwenden und sich damit den Anfeindungen auszusetzen, zu denen dieses Wort von jeher eine Handhabe geboten hat. Wer sich freilich die Mühe nimmt, sich, statt bloß an Worte, an den von BAR damit verbundenen klaren Gedanken zu halten, der kann nicht verkennen, daß BAR aus den Umständen, »der Natur der Sache«, wie er es nennt, nicht sowohl den Begriff des Rechts schöpft, als vielmehr die Bedingungen, um den Begriff des Rechts überhaupt anzuwenden. Das »Naturrecht« ist ihm als »Quelle des Völkerrechts im höchsten Grade fruchtbar« (155), insofern als die »vernünftige Erwägung der Natur der Sache« dazu führt, »eine höhere Idee«, »ein Recht, das in seinen Grundlagen der Willkür entrückt ist« (153), zum Prinzip des friedlichen Verkehrs zwischen Menschenvereininigungen, die keiner höheren sichtbaren Macht unterworfen sind, zu erheben. Weil BAR den Begriff des Rechts als etwas voraussetzt, das nicht auf den Willen oder andere faktische Grundlagen zurückgeführt zu werden braucht, sondern an sich objektive Geltung hat, darum fließt
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ihm letzten Endes das Jus divinum mit dem Jus naturae zusammen. Und wenn BAR zum Schluß von der »Idee der Menschheit« (158) sagt, sie müsse, »wenn das Völkerrecht wirklich Recht sein und sich fortentwickeln will, auch gegenwärtig und in Zukunft als letztlich maßgebendes Prinzip anerkannt bleiben«, so meint er damit die Idee der Menschheit, sofern die Menschheit als Gemeinschaft vernünftiger Wesen die Idee des Rechtes voraussetzt. Damit weist er aber alle heteronomen Begründungen des Völkerrechts ab und läßt als einziges Prinzip das nächstliegende, nämlich das allem Recht zugrunde liegende Prinzip der Gerechtigkeit zu.
§ 2. Schoens Apologie der Willenstheorie
Welche Aufnahme haben nun diese Darlegungen BARS bei seinen Fachgenossen gefunden? Daß man einer Stimme, die sich für die Restitution des Rechtsbegriffs erhebt, da, wo man sie nicht überhaupt ungehört verhallen läßt, nur abweisend entgegentritt und ihren Äußerungen gar noch zweideutige Motive unterzuschieben sucht, das beweist die Abhandlung P. ScHOENS25 , in der dieser die Arbeit seines verstorbenen Kollegen angreift. Der Umstand, daß sie, so viel mir bekannt ist, den einzigen Versuch darstellt, sich mit den Argumenten BARS auseinanderzusetzen, läßt es geboten erscheinen, die Abhandlung von ScHOEN in diesem Zusammenhang nicht zu übergehen. ScHOEN steht auf dem Boden der »Willenstheorie« und richtet daher seine Polemik gegen die Kritik, die BAR an dieser Theorie geübt hat. Dabei erhebt er gegen BAR den Vorwurf, dieser habe überhaupt nicht versucht, den juristischen Aufbau der Willenstheorie als unhaltbar nachzuweisen, >>sondern nur ihre unliebsamen Konsequenzen aufgezeigt«: »v. BAR lehnt die Willenstheorie nicht ab, weil sie ihm juristisch unhaltbar erscheint, sondern weil sie zu ihm unerwünschten Resultaten führt« (289). Diese schwere Beschuldigung 25
Zur Lehre von den Grundlagen des Völkerrechts. Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie. 8. Band, 3. Heft. April 1915. S. 287 ff.
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wird bereits hinreichend durch das von mir aus der Barschen Abhandlung Angeführte entkräftet. Es findet sich denn auch bei ScHOEN nichts, was auch nur einen Versuch ihrer Begründung darstellen könnte. In Ermangelung einer solchen fällt sie aber in ihrer ganzen Schwere auf den Angreifer zurück. Wenn ScHOEN freilich meint, daß BAR die Willenstheorie in ihren Konsequenzen angreift, so ist dem in der Tat so. Sollte es nicht auch genügen, um die Unhaltbarkeit einer Theorie nachzuweisen, die Unhaltbarkeit ihrer Konsequenzen aufzudecken? Daß aber einem wahrheitsliebenden Forscher die Falschheit einer Konsequenz unliebsam und unerwünscht erscheint, sollte ihm nicht zur Schande gereichen. Und wenn es richtig ist, daß BAR »die juristischen Ausführungen, in denen jELLINEK dieses Resultat« - daß der »Wille der Staaten die eigentliche Quelle des Völkerrechts« ist - »findet, nicht eingehender nachgeprüft hat« (was nach dem Gesagten zur Widerlegung JELLINEKS auch keineswegs erforderlich war), so werden hoffentlich die ersten Kapitel der vorliegenden Schrift dazu dienen, diese von ScHOEN empfundene Lücke auszufüllen und zu zeigen, was es mit der »feinen und eingehenden Entwicklung der Willenstheorie durch jELLINEK« für eine Bewandtnis hat. Die dort gegebenen Nachweisungen enthalten die von ScHOEN vermißte direkte Widerlegung der Willenstheorie, und solange sie nicht entkräftet sind, können wir in der Tat allen weiteren Streit um die Konsequenzen der Willenstheorie getrost auf sich beruhen lassen. Die folgenden Bemerkungen werden genügen, um zu zeigen, daß jene Nachweisungen bereits eine hinreichende Widerlegung der dem Gedankenkreis der Schoenschen Abhandlung angehörigen Argumente enthalten. Gegen die auch von ScHOEN vertretene Lehre, daß das Völkerrecht für den einzelnen Staat lediglich vermöge seines Willens gelte und in diesem Sinne auf Verpflichtung der Staaten durch sich selbst beruhe (301 ), erhebt sich »zunächst das rein rechtliche Bedenken, daß die Selbstverpflichtung des einzelnen Staates nicht Rechte zwischen ihm und anderen Staaten schaffen kann« (302). Dieses Bedenken ist nach ScHOEN »einfach im Hinblick auf das innere Staatsrecht unhaltbar« (304). Wenn er sagt, es sei nahezu unbestritten als Ergebnis der modernen Staatsrechtslehre anerkannt, daß der Staat den
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seiner Gewalt Unterworfenen gegenüber seinen Willen selbst binden kann, und wenn er argumentiert, es sei nicht einzusehen, warum, wenn dieses möglich sei, der Staat nicht auch »in derselben Weise ihm koordinierten Rechtssubjekten gegenüber seinen Willen sollte autonom binden können« (304), so ist dies ebenso richtig, wie es für die zur Diskussion stehende Frage unerheblich ist. Denn, wenn es nahezu unbestritten anerkannt ist, daß in staatsrechtlicher Hinsicht der Staatswille ein hinreichender Geltungsgrund des Rechtes sei, so ist dies ja erst eine Folge der allgemeinen Herrschaft der Willenstheorie in der Rechtslehre, und es ist eine sonderbare Rechtfertigung dieser Theorie, sich darauf zu berufen, daß sie tatsächlich für richtig gehalten werde. Und es ist auch in der Tat nicht einzusehen, warum, wenn man eine falsche Voraussetzung auf die Lehre vom Staatsrecht angewandt hat, man denselben Fehler nicht auch in der Lehre vom Völkerrecht begehen können soll. Auf den anderen Haupteinwand, daß die Willenstheorie »den Bestand des Völkerrechts dauernd in Frage stelle«, da der Staat aufhören kann, gebunden sein zu wollen, »indem die weitere Anerkennung einer Norm seinen Sonderinteressen entgegen ist, und er sich dann ohne Rechtsbruch von dieser Norm lossagen kann«, antwortet ScHOEN damit, daß »die angegebene Überlegung zweifellos richtig« sei, allein darum sei »die Rechtslage tatsächlich doch keine so unsichere, wie es auf den ersten Blick scheint« (302). Er bedient sich auch hier der Vergleichung mit dem Staatsrecht. Vertraue man hier auf die Konstanz des staatlichen Willens, so könne »noch mehr der auf Regelung des staatlichen Handelns nach außen hin gerichtete« Staatswille als ein konstanter gelten. Die Gefahr, das Ansehen und Vertrauen zu verlieren, dessen er notwendig im internationalen Verkehr bedarf, hindere den Staat, sich mit einer einmal anerkannten völkerrechtlichen Norm in Widerspruch zu setzen. Die von BAR angegebenen und übrigens auf der Hand liegenden Tatsachen, die das Gegenteil beweisen, werden von ScHOEN dabei keiner Beachtung gewürdigt. Im übrigen aber sind Erwägungen dieser Art offenbar nur politischer Natur und insofern für die rechtliche Frage, was bei der a priori doch nicht auszuschließenden Veränderlichkeit des Willens die Konstanz seiner rechtlichen Bindung garantiere, durchaus
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unerheblich. Durch das Zugeständnis, daß nach der Willenstheorie im Grunde nur opportunistische Rücksichten die Wahrung des Rechts bedingen können, wird vielmehr geradezu eingeräumt, daß diese Theorie nur ein politisches Surrogat an die Stelle des Rechts zu setzen vermag. Wenn aber ScHOEN auf dasselbe Bedenken weiterhin antwortet, »daß von einer Reihe völkerrechtlicher Normen«, nämlich von denjenigen, »die von allen Staaten als notwendig allgemein geltende angesehen werden«, »der einzelne Staat sich auch rechtlich gar nicht lossagen kann, solange er überhaupt Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft bleiben will« (303), denn ein Staat, der derartiges täte, »würde sich nicht nur um das Ansehen und Vertrauen bei den anderen Staaten bringen, er würde sich auch rechtlich außerhalb der Vökerrechtsgemeinschaft stellen, indem er sich zu den grundlegenden Normen, auf die diese gestellt ist, und deren Anerkennung Voraussetzung für die Aufnahme in die Gemeinschaft ist, nicht mehr bekennt«, so ist diese Argumentation allerdings von allen politischen Rücksichten unabhängig; für die Rechtsfrage aber ist auch sie offenbar unerheblich, da sie nur auf die Tautologie hinausläuft, daß Staaten, die sich von den Bedingungen der Mitgliedschaft der Völkerrechtsgemeinschaft lossagen, insofern nicht mehr als Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft gelten können. Das bloße Wort» Völkerrechtsgemeinschaft« besitzt nicht die Zauberkraft, Staaten zu binden. Der Ausdruck verschleiert nur das Nichtssagende dieser Argumentation. ScHOEN hätte sie kürzer so formulieren können, daß von einer Reihe völkerrechtlicher Normen der einzelne Staat sich auch rechtlich gar nicht lossagen kann, ohne sich von ihnen rechtlich loszusagen. Eine Wahrheit, deren Gehalt vermutlich nicht hinreichen wird, um einen Staat davon abzuschrecken, sich von einer Rechtsnorm loszusagen. Hätten sich die Willenstheoretiker übrigens nur einmal die Frage vorgelegt, wie es zugehen mag, daß überhaupt so etwas wie »Ansehen und Vertrauen« im politischen Leben eine Rolle spielen kann, so würde ihnen nicht entgangen sein, daß die Möglichkeit dieser Tatsache ein nach ihrer Theorie unbegreifliches Rätsel bleiben müßte. Sie hätten dann nämlich bemerkt, daß das Verhalten eines Willens
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einer solchen Beurteilung nur insofern unterworfen werden kann, als dabei schon das Bestehen gewisser, vom Willen unabhängiger rechtlicher Anforderungen vorausgesetzt wird. Das durch die Willenstheorie hinauseskamotierte Recht wird hier also nur unbemerkt durch eine Hintertür wieder hereingelassen. Vor dieser Selbsttäuschung hat BAR eigentlich schon die Anhänger der Willenstheorie gewarnt, wenn er darauf hinweist (155), daß das, was »am ehesten anderen Staaten als billig erscheinen wird«, es ist, dessen Berücksichtigung gerade einen in kluger Weise gemäßigten Eigennutz bestimmen wird. Aber einen solchen ebenso kurzen wie tiefgehenden Hinweis, wie er für die besonnene und reservierte Darstellungsweise BARS charakteristisch ist, zu durchdenken, ist freilich nicht jedermanns Sache. Wie sehr dies zutrifft, zeigt auch die Argumentation, mit der ScHOEN dem Einwand BARS zu begegnen sucht, daß, wenn das Völkerrecht auf den Willen der Staaten gegründet wird, »die Selbständigkeit des Völkerrechts gegenüber dem Staatsrecht der einzelnen Staaten nicht festzuhalten« sei, und daß »das Völkerrecht somit äußeres Recht der Staaten« werde. 26 Man könnte zwar zunächst geneigt sein, zu meinen, daß es sich bei dieser Unterscheidung zwischen Völkerrecht und äußerem Staatsrecht um einen bloßen Wortstreit handle. Denn, wenn man mit der Selbständigkeit des Völkerrechts dem Staatsrecht gegenüber nichts weiter behaupten will, als daß es nicht wie dieses auf nur »einseitiger Selbstbeschränkung in der Ausübung der Staatsgewalt« 27 beruhe, so ist diese Behauptung in der Tat ebenso unangreifbar wie trivial (wenn man wenigstens davon absieht, daß schon die einseitige Beschränkung in der Ausübung der Staatsgewalt nicht durch den bloßen Willen erzeugt werden kann). In diesem Sinne hat aber natürlich auch BAR nicht von der Selbständigkeit des Völkerrechts gesprochen, wenn er sie für unvereinbar mit der Willenstheorie erklärte. In der Tat kommt denn auch in ScHOENs Darstellung das in sachlicher Hinsicht für diese Streitfrage allein Wesentliche zum Vorschein, wenn er mit JELLI20 BAR, a.a.O. S. 147. 27 ScHOEN, a.a.O. S. 305.
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NEK erklärt, daß es für die Selbständigkeit des Völkerrechts nicht hinreichen würde, daß das durch den Willen des einen und anderen Staates geschaffene Recht, »vom rechtlichen Standpunkte beurteilt, nur zufällig übereinstimmt« (305). Genügt aber, um in diesem Sinne die Selbständigkeit des Völkerrechts nachzuweisen, die Feststellung, daß die Völkerrechtsnormen für jeden Staat doch immer nur unter der Voraussetzung gelten, »daß andere Staaten sie auch für sich wollen« (306)? Wenn man ein durch diese Voraussetzung charakterisiertes Recht »gemeinsames Recht« (306) und ein gemeinsames Recht der Staaten, eben um dieser Gemeinsamkeit willen, »Völkerrecht« nennen will, so steht dem weiter nichts im Wege. Aber offenbar genügt ein solches terminologisches Manöver nicht, um in der Aufweisung eines derartigen gemeinsamen Rechts der Staaten einen Existenzbeweis für das hier allein in Frage stehende Völkerrecht zu erbringen. Denn es ist klar, daß die bloß faktische Übereinstimmung des Willens des einen und anderen Staates, wenn sie auch, politisch betrachtet, denselben Erfolg hat, wie ihn rechtlicherweise eine gegenseitige Verpflichtung hätte, nicht genügt, um auf das Bestehen einer gegenseitigen Verpflichtung und damit auf die rechtliche Notwendigkeit der Willenseinigung zu schließen. Diesen Trugschluß begeht aber offenbar ScHOEN, wenn er sagt: »So entsteht notwendig gemeinsames Recht, denn für keinen Staat wird die Norm Rechtsnorm, solange sie nicht auch von anderen Staaten als solche anerkannt ist. Kußeres Staatsrecht in dem Sinne, als ob sie von den einzelnen Staaten ganz unabhängig voneinander als die freie Handhabung ihrer Staatsgewalt nach außen beschränkende Normen angenommen werden, deren inhaltliche Übereinstimmung nur eine zufällige und keine rechtlich festgelegte und gesicherte ist - sind die Sätze, welche wir als Völkerrechtssätze aussprechen, also nicht.« (306.) Und er wiederholt diesen Trugschluß, wenn er behauptet, das erklärte gemeinsame Recht der Staaten sei »etwas anderes als das äußere Staatsrecht«: »Es erscheint diesem wie allem einseitig von den einzelnen Staaten geschaffenen Recht gegenüber als ein Recht höherer Ordnung, ... insoferne als es, auf den Willen mehrerer Staaten beruhend, eine
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mehrere Staaten wechselseitig verpflichtende Ordnung ist, während alles aus dem Willen des einzelnen Staates entsprungene Recht nur eine Lebensordnung für ihn und die seiner Gewalt Unterworfenen sein, nicht aber andere Staaten ihm gegenüber verpflichten kann.« (307.) Diese Beweisführung ist eine offensichtliche Erschleichung und erklärt sich nur durch eine erneute Verwechslung eines politischen Verhältnisses der Staaten mit einem rechtlichen. Wenn man das Völkerrecht als gemeinsames Recht der Staaten definiert, so versteht sich freilich, daß die einzelnen Staaten in seiner Annahme nicht »unabhängig voneinander« sind. Das besagt aber weiter nichts, als daß die Staaten in der Annahme einer nur auf Grund übereinstimmenden Willens der Staaten anzunehmenden Norm darin voneinander abhängen, daß sie nur im Falle übereinstimmenden Willens zur Annahme einer solchen Norm gelangen können. Diese gegenseitige Abhängigkeit ist aber keineswegs eine gegenseitige rechtliche Abhängigkeit in dem Sinne, daß sich aus ihr auf eine wechselseitige Verpflichtung schließen ließe. Das Sophistische dieser Schluß weise beruht, wie man hieraus ersieht, darauf, daß auch hier wieder eine inhaltlose und insofern unbestreitbare Tautologie dazu mißbraucht wird, daß man ihr die zu beweisende Behauptung unterschiebt, um auf diese, in Wahrheit völlig unbegründete Behauptung den Schein der jener Tautologie in der Tat innewohnenden Selbstverständlichkeit zu übertragen. Es verrät offenbar ein gewisses Gefühl für die Fadenscheinigkeit dieser Argumentation, wenn ScHOEN es für nötig hält, zur Ergänzung von JELLINEKS nur politischer Begründung des Völkerrechts ein »alle internationalen Rechtsbeziehungen beherrschendes Prinzip der Gegenseitigkeit« einzuführen, »das eine gleichheitliche Selbstbeschränkung der Staaten in ihrem Verkehr zueinander veranlaßt und auch rechtlich sicherstellt« (306). Aber dies ist eine vergebliche Ausflucht. Denn entweder stellt dieses »Prinzip« nur eine Umschreibung jener Tautologie dar, wie man dies in der Tat annehmen muß, wenn ScHOEN ausdrücklich die »Voraussetzung der Gegenseitigkeit« identifiziert mit der »Voraussetzung, daß andere Staaten sie (die Norm) auch für sich wollen« (306); dann kann es die fehlende
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Begründung nicht ersetzen. Oder es soll damit wirklich ein rechtliches Prinzip eingeführt werden, d. h. ein solches der gegenseitigen Verpflichtung zur Annahme der fraglichen Norm; dann bedeutet es in Wahrheit die Preisgabe der Willenstheorie, da es die Unterwerfung unter die Völkerrechtsnorm dem Belieben der Staaten entziehen würde; denn, wie er wiederum selbst sagt, die Willen anderer Staaten »sind dem eigenen Willen koordiniert, und koordinierte Willen können einander nicht binden«. (309.) ScHOENs Entgegnung auf BARS klare Argumentation ist also eitel Spiegelfechterei. Mit wie untauglichen Mitteln der Versuch einer Apologie der Willenstheorie von ScHOEN unternommen wird, das geht auch allein schon aus der Art hervor, wie er das »Wesen und die Bedeutung der Anerkennung« zu erklären sucht. Der Darlegung BARS, »daß die Existenz eines bestimmten Staates eine Tatsache sei, also von der Anerkennung seitens anderer Staaten nicht abhänge« (311 ), weicht ScHOEN durch die Antwort aus, daß allerdings das Bestehen eines Staates eine Tatsache sei und daher nicht von der Anerkennung anderer Staaten abhänge, daß aber die Willenstheorie auch nur das Recht auf den Willen der Staaten zurückführe: »Die Frage, ob ein neues Staatswesen entstanden ist, fällt daher überhaupt aus dem Bereich dieser Theorie heraus. Erst die weitere Frage, wie rechtliche Beziehungen zwischen dem Neustaat und den Altstaaten entstehen, muß sich nach der Theorie beantworten lassen.« (311.) Mit dieser Unterscheidung ist aber offenbar für die Rettung der Willenstheorie nicht das mindeste gewonnen. Denn wenn ScHOEN sagt, daß erst die Anerkennung den neuen Staat »zur völkerrechtlichen Persönlichkeit macht«, daß erst sie »die Existenz rechtlicher Beziehungen zwischen dem Neustaat und den Altstaaten erwirkt« (312 f.), und daß daher für diese rechtlichen Beziehungen die Anerkennung als »Vereinbarung« konstitutiv sei, so springt der Zirkel dieser Behauptung in die Augen. Was könnte auch einleuchtender sein, als daß, wenn durch eine Vereinbarung rechtliche Beziehungen hergestellt werden sollen, die die Vereinbarung miteinander treffenden Staaten schon als völkerrechtliche Subjekte auftreten müssen. Ohne ein schon vorausgesetztes Recht, einander durch ihren Willen zu verpflichten, könnten ja an den Willen, den die Staaten in der Vereinbarung einander kund-
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tun, keine rechtlichen Folgen geknüpft sein. Nach der Willenstheorie müßte man, um ein solches Recht zu begründen, die Vereinbarung, durch die allein es entstanden gedacht werden könnte, als bereits abgeschlossen voraussetzen. Jede rechtskräftige Vereinbarung würde also eine andere, schon zugrunde liegende erfordern, und so fort in unendlicher Reihe, so daß niemals ein wirkliches Recht entstehen könnte. Indessen, man muß darauf gefaßt sein, daß diese einfache Überlegung nicht ausreicht, um die Anhänger der Willenstheorie von der Unhaltbarkeit ihrer Lehre zu überzeugen. ScHOEN wird sich auf seine Sätze berufen: »Äußerlich- und das ist gleichbedeutend mit rechtlich- gebunden sein kann man nur an etwas, was in der Außenwelt existiert, nicht also an eine bloß gedachte, sondern nur an eine ausgesprochene Norm. Erst mit der Erklärung des der Überzeugung entsprechenden Rechtsgedankens ist der bindende Rechtssatz existent. Diese Erklärung setzt aber den auf sie gerichteten Willen voraus, der wieder als seine Voraussetzung den weiteren Willen umschließt, daß das als Recht Erkannte auch Recht, d. h. bindend sein soll für die Erklärenden wie die Genossen. So ist das, was den Rechtssatz schafft, die Erklärung, und diese beruht auf dem rechtlich freien Willen der Rechtsgenossen.« (293.) In der Tat, wenn man davon ausgeht, »rechtlich« sei gleichbedeutend mit »äußerlich«, so muß gefolgert werden, daß nur die »Erklärung« und also die Anerkennung das Recht schafft. Und in diesem Sinne ist die Willenstheorie wirklich unwiderleglich. So verstanden ist sie aber auch noch von keinem denkenden Menschen bezweifelt worden. Denn wie sollte ein solcher sich in den Sinn kommen lassen, die Wahrheit der Tautologie in Frage zu ziehen, daß die Anerkennung nur durch die Anerkennung entstehen könne. Mehr besagen aber jene von ScHOEN angeführten Sätze nicht. Sie sind wieder ein bloßes Spiel mit dem Worte »Recht«, ein Spiel, das als harmlos gelten könnte, wenn ScHOEN selbst vorsichtig genug gewesen wäre, nicht schon innerhalb weniger Zeilen seine willkürliche Umdeutung dieses Wortes zu vergessen und nicht alsbald die von ihm dem Worte gegebene Bedeutung mit der ihm im üblichen Sprachgebrauch zu-
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kommenden zu verwechseln. Denn dies tut er in den Worten: »daß das als Recht Erkannte auch Recht, d. h. bindend sein soll für die Genossen«. Einzig durch diese gröbliche quaternio terminorum kann er zu der Selbsttäuschung gelangen, durch seine Argumentation etwas zur Begründung der Lehre geleistet zu haben, daß das Völkerrecht auf einer Verpflichtung der einzelnen Staaten durch ihren eigenen Willen beruhe (301). Daß er aber einer so folgenschweren Selbsttäuschung zum Opfer fallen konnte, erklärt sich wenigstens zum Teil durch einen falschen Schluß aus der an sich durchaus richtigen Voraussetzung, daß das bloße »innere überzeugtsein von der Richtigkeit eines bestimmten Verhaltens« nur erklärt, daß »der einzelne sich innerlich gebunden halten mag« (293), aber noch nicht dazu hinreicht, daß er auch objektiv rechtlich gebunden sei. So richtig nämlich diese Voraussetzung ist, so verfehlt ist der von ScHOEN daraus gezogene Scliluß, daß, da das innere überzeugtsein hier nicht ausreiche, man nur an etwas in der Außenwelt Existierendes rechtlich gebunden sein könne und also »nicht an eine bloß gedachte, sondern nur an eine ausgesprochene Norm«. Denn die hierbei stillschweigend gemachte Voraussetzung, daß, wenn das Recht nichts Innerliches sei, es etwas Äußerliches sein müsse, ist offenbar falsch. Sie beruht auf einer unvollständigen Disjunktion, und diese entsteht nur durch die Verwechslung des Gegensatzes von Subjektivem und Objektivem mit dem des Psychischen und Physischen. Eine rechtlich bindende Norm ist freilich etwas anderes als das bloße »innere überzeugtsein« von der rechtlichen Bindung an die Norm. Aber daraus folgt nicht, daß diese Norm irgendwo in der Außenwelt existieren müsse. Andererseits ist es richtig, daß das Aussprechen der Norm und also die »Erklärung« nur in der Außenwelt vor sich gehen kann. Aber daraus folgt wiederum nicht, daß die ausgesprochene Norm selbst sich in der Außenwelt vorfindet. Sie bleibt vielmehr, auch nachdem sie ausgesprochen ist, als Norm etwas »bloß Gedachtes«, wenn auch darum nicht weniger Objektives. Mag man die unausgesprochenen Normen nicht rechtliche, sondern »nur moralische Imperative« nennen, so wäre es doch ein Trugschluß, um der Verschiedenheit dieser beiden Begriffe willen zu meinen, es könne nicht dieselbe Norm sein, die als ausgesprochene ein
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rechtlicher, als unausgesprochene ein moralischer Imperativ heißt; und so wenig die rechtliche Norm etwas Äußerliches ist, so wenig ist die moralische etwas Innerliches. Hat man sich einmal von dieser Verwechslung der ausgesprochenen Norm mit der Aussprache der Norm freigemacht, so wird man auch nicht mehr auf den Mißgriff verfallen, aus der Willkürlichkeit jener Aussprache (der Erklärung oder Anerkennung) darauf zu schließen, daß die Rechtsnorm selbst ein Produkt des Willens sei. Der Einsicht in die Unhaltbarkeit dieser Behauptung kann sich übrigens ScHOEN selbst nicht völlig verschließen, wie er durch das Zugeständnis verrät, daß sich die einzelnen an die Rechtsnormen »gebunden halten, auch wenn sie im Einzelfalle ihrem individuellen Interesse nicht entsprechen, weil sie die Überzeugung haben, daß solche Regeln notwendig und die von ihnen anerkannten nicht das Produkt von Willkür, sondern eine gerechte Ordnung ihres Zusammenlebens sind« (296). Was unter solchen Umständen die Willenstheorie noch zu bedeuten hat, darüber hat sich ScHOEN nicht ausgesprochen. Gerade dies, was er hier ausdrücklich zugesteht, war ja die Lehre BARS gewesen, gegen die er zu Felde zieht. ScHOEN nennt es einen unbestrittenen Gedanken, »daß es für den Juristen nur einen Rechtsbegriff geben kann, und daß das Völkerrecht daher, wenn es überhaupt Recht im allgemein verstandenen Sinne sein soll, wesensgleich sein muß mit dem Privatrechte, dem Strafrechte und anderen Rechtsdisziplinen, über deren Wesen man eine sichere Auffassung gewonnen hat, daß daher auch die letzten juristischen Grundlagen des Völkerrechts keine anderen sein können als die anderer Rechtsteile« (292). Wenn er dennoch das für das Verhältnis der einzelnen Menschen zugestandene Prinzip für das Verhältnis der Staaten nicht gelten lassen will, so wird er diese Inkonsequenz vermutlich durch das Prinzip der Souveränität rechtfertigen wollen. Und in der Tat dient ihm dieses Prinzip dazu, die Verpflichtung durch ein über ihrem Willen stehendes Recht von den Staaten abzuwälzen: »Wer soll«, fragt er, »in für die souveränen Staaten bindender Weise diese Feststellung« (des objektiven Rechts nämlich) »treffen?« (290.)
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Man möchte geneigt sein, zu antworten, daß diese Feststellung denen zukommt, die auch sonst berufen sind, die Wahrheit festzustellen, und also in diesem Falle den Rechtslehrern. ScHOEN findet es anders: » Weder die Ansicht einzelner, noch die jeweils herrschende Meinung der Wissenschaft kann hier formal maßgebend sein für die Staaten. Die Staaten selbst sind berufen, die einzelne Norm auf ihren Wert zu prüfen, und selbst ihre Überzeugung, daß eine bestimmte Norm der Natur der Sache entspricht, kann sie formal an diese nicht binden. Denn der souveräne Staat kann begrifflich an keinen Satz gebunden sein, an den er nicht gebunden sein will; selbst eine Norm, die er bei objektiver Prüfung als eine der Natur der Sache entsprechende anerkennen muß, kann er formal zu Recht als eine für ihn bindende ablehnen, wenn er aus einem Grunde nicht an sie gebunden sein will.« (290.) Damit wird uns denn das zum Überdruß gehörte Wortspiel nochmals vorgeführt. Gewiß, es bleibt immer gleich wahr, daß, wenn Souveränität Unabhängigkeit des Staates von allen über seinem Willen stehenden Normen bedeutet, der souveräne Staat an solche Normen nicht gebunden sein kann. Und es bleibt immer gleich falsch, daß diese nichtssagende Tautologie irgendeinen auf die wirklichen Staaten anwendbaren Schluß erlauben könnte, da die rechtliche Möglichkeit eines im definierten Sinne souveränen Staates sich selbst widerspricht. Dies also sind die Gründe, aus denen ScttOEN sich nicht entschließen kann, »von der juristisch als richtig erfundenen Lehre abzugehen« (313).
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Schi ußbetrach tung § 1. Die Rechtswissenschaft und der Krieg
Es war der Zweck dieser kritischen Betrachtungen, den Betrug aufzudecken, dessen sich juristische Lehren schuldig machen, wenn sie an Stelle des preisgegebenen Rechtsbegriffs politische Surrogate irgendwelcher Art zur Grundlage einer den Namen der Rechtswissenschaft usurpierenden Dialektik machen. Wenn wir dabei vorzugsweise auf das Völkerrecht eingegangen sind, so geschah dies aus dem Grunde, daß auf diesem Gebiet, wo die Praxis noch nicht durch die übermächtige Einwirkung erstarrender Traditionen für den gestaltenden Einfluß einer vernünftigen Theorie unzugänglich geworden ist, die Wissenschaft eine um so schwerere Verantwortung trägt, je größer die Tragweite des Nutzens richtiger wie des Schadens verkehrter Untersuchungen hier noch sein kann. Auf diesem Gebiete tritt denn auch, wie die ausgeführten Darlegungen zeigen, am klarsten zutage, daß die sogenannte Rechtswissenschaft, weit entfernt, der wissenschaftlichen Sicherstellung des Rechts zu dienen, sich in eine frivole Advokatenkunst verwandelt hat, die sich, unter Vorschützung angeblicher Rechtsprinzipien, der Herbeiführung rechtlicher Zustände mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln widersetzt, indem sie die höchste Autorität, die nur von der Heiligkeit des Rechtes ausgehen kann, gegen das Recht selber ausspielt. Die vorangehende Polemik enthielt sich aller Argumente, die einem Hinweis auf die bereits wirklich eingetretenen Folgen der wissenschaftlich als unhaltbar erwiesenen Lehren entnommen werden könnten. Nun aber fasse man einmal die Folgen ins Auge, die jene schulgerecht geübte Verdrehung der einfachsten Rechtsbegriffe gezeitigt hat und deren furchtbare Wirklichkeit die lauteste, durch keine tönende Rhetorik zu überschreiende Anklage gegen die feile Priesterin des Rechts erhebt. Der Krieg tobt zwischen den Staaten, die das Haager Abkommen unterzeichnet haben. Die internationale Anarchie, das Faustrecht der Staaten ist auf den Schild erhoben,
Schlußbetrachtung
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nachdem es jahrzehntelang unter dem Schutze von Verträgen sein Dasein fristete und als schleichendes Gift das Vertrauen zwischen den Völkern zerstörte. Wo bleibt nun die Wirksamkeit jener Verträge? Wo bleibt nun der vorgebliche gute Wille der Staaten, auf den jene Verträge sich aufbauten und aufbauen mußten, solange man nicht im Ernst daran denken wollte, sie auf die allein sichere Grundlage zu stellen, auf ein verfassungsmäßig geschütztes Völkerrecht? Die, welche das über den Staaten stehende Recht leugneten, um nur den Erfolg roher Gewalt anzubeten, die erleben nun das, womit sie in Gedanken spielten. Ob sie nun zufrieden sind, daß die Wirklichkeit ihre kühnsten Träume erfüllt hat? Und jene gottseligen Optimisten, die der Sicherung des Rechts entraten zu können glaubten und das Schicksal der Menschheit einem Fetzen Papier anvertrauten, muß ihnen angesichts der rechtlos wütenden, alle wahren Kulturwerte mit der Vernichtung bedrohenden Gewalt nicht bewußt werden, ein wie großer Anteil der Schuld auf sie entfällt, weil sie nicht fragten, ob die Wirklichkeit auch die phantastische Welt ist, die sich in ihren Büchern spiegelte? Man wende nicht ein, dieser Krieg sei als ein unabwendbares Verhängnis über die Menschheit hereingebrochen, und es liege kein Grund vor, die harmlos ihrer Wissenschaft lebenden Rechtsgelehrten dafür verantwortlich zu machen. Denn solange diejenigen, deren höchster Beruf es wäre, auf die Sicherung des Rechtes hinzuwirken, und denen die hohe Aufgabe anvertraut ist, das Rechtsbewußtsein im öffentlichen Leben zu festigen und zum Siege über alle Machtvergötterung zu führen, sich den Pflichten ihres Berufes so weit entfremden, daß sie, im Schwindel des Tanzes um das goldene Kalb der Souveränität, selber vor diesem Götzen in den Staub sinken, hat man keinen Grund, nach einem im Verborgenen waltenden bösen Geist zu suchen, um auf ihn die Verantwortung dafür abzuwälzen, daß eingetreten ist, was nur ein hinreichend entwickeltes öffentliches Rechtsbewußtsein abzuwenden vermocht hätte.
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Rechtswissenschaft ohne Recht § 2. Rechtswissenschaft und Metaphysik
Fragt man schließlich, wie es sich erklärt, daß solche, den Rechtsbegriff ignorierenden Lehren in der Rechtswissenschaft Fuß fassen konnten, so geht die Antwort deutlich genug aus unseren kritischen Betrachtungen hervor: Es erklärt sich durch nichts anderes als durch den Einfluß einer Philosophie, deren eigenste Natur es mit sich bringt, daß sie sich, wo sie überhaupt Eingang finden konnte, durch eine fortschreitende Zersetzung aller Rechtsbegriffe geltend machen mußte, und in deren Natur es zugleich liegt, daß man ihrem zersetzenden Einfluß um so widerstandsloser anheimfallen mußte, je unmerklicher er sich vollzog und je mehr man sich in dem dünkelhaften Wahne sonnte, sich von allen metaphysischen Spekulationen befreit zu haben. Geht man den historischen Quellen des Einflusses nach, der die Rechtswissenschaft in diese verhängnisvolle Bahn gedrängt hat, so entdeckt man in ihm vor allem eine Nachwirkung der despotischen Herrschaft, mit der die Hegelsche Philosophie alle Regungen kritischen Denkens so lange niedergehalten hat. Diese Philosophie, die einem alle liberale Denkungsart erstickenden Staatsabsolutismus huldigte, mußte allen denen willkommen sein, die sich gern einer Scheinwissenschaft bedienten, um als Anwälte der durch die bestehenden Machtverhältnisse geheiligten Institutionen aufzutreten, und die kein geeigneteres Mittel finden konnten, um die Bestrebungen echter Wissenschaft niederzuhalten, deren Erfolg für sie nur eine Gefährdung des Fortbestandes dieser Institutionen bedeutet hätte. Und so wurde diese Philosophie zum fruchtbaren Nährboden, auf dem die Giftpflanze jener Advokatenkunst wuchern konnte, unter deren Pesthauch alle Kraft des Rechtsbewußtseins dahinschwinden mußte, jener Advokatenkunst, die es verschuldet hat, daß die Rechtswissenschaft sich mehr und mehr zur Magd der Politik erniedrigen lassen mußte, und deren letzte Früchte wir in diesem Kriege ernten. Wenn die Rechtswissenschaft den Verführungen einer servilen Denkungsart so völlig unterlegen ist, so verdient diese Schwäche um so härtere Verurteilung, als es nicht an vernehmlichen Warnungen vor dem intellektuellen und moralischen Abgrund gefehlt hat, dem
Schlußbetrachtung
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sie sich entgegentreiben ließ. Und zwar nicht etwa nur von seiten philosophischer Autoren, die von dem durch KANT gelegten festen Grunde der Kritik der Vernunft aus den Rückfall der Philosophie in die dogmatische Willkür bekämpften, sondern auch aus dem Lager klardenkender und den Ernst ihrer Wissenschaft hochhaltender Juristen haben sich schon längst gewichtige Stimmen erhoben, um auf die der Wissenschaft und dem Recht selbst gleich verderblichen Konsequenzen aufmerksam zu machen. Will man ein Beispiel, so weise ich auf die noch heute, und heute mehr als je, der ernstesten Beachtung würdigen Abhandlungen hin, in denen FRICKER28 bereits vor vier Jahrzehnten die Schleichwege auf gedeckt hat, auf denen seine den Spuren HEGELS folgenden Fachgenossen den Bau ihrer eigenen Wissenschaft unterwühlten, und von denen namentlich die letzte29 , die diese Polemik an Hand einer Kritik der Bergbohmschen Lehre vom Willen der Staaten als Quelle des Völkerrechts nochmals aufnimmt, durch die Hingabe, mit der sie die Sache des mißachteten Rechtsbegriffs führt, ein Ehrfurcht gebietendes Beispiel für einen in der Wissenschaft unserer Tage schwerlich zu findenden Ernst darstellt. Ich weise auch auf die freimütigen Worte hin, mit denen später ScHLIEF30 die Völkerrechtslehrer ermahnt hat, eingedenk zu bleiben, daß es nicht ihre Aufgabe sei, dem Politiker Handlangerdienste zu leisten und unter allen Umständen eine sophistische Beschönigung des einmal Bestehenden zu liefern, sondern daß es im Gegenteil ihr hehrer Beruf sei, der Vervollkommnung der bestehenden Zustände die Wege zu ebnen und der politischen Entwicklung die Richtlinien vorzuzeichnen. Ich weise schließlich auf die wahrhafte Prophetie LunwrG VON BARs31 hin, in der dieser tiefdenkende Rechtslehrer und warmherFRICKER, Das Problem des Völkerrechts, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 28. Jahrgang, 1. Heft, S. 90 ff. 2. u. 3. Heft, S. 347 ff. Tübingen 1872. 29 FRICKER, Noch einmal das Problem des Völkerrechts. Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 34. Jahrgang, 1. u. 2. Heft, S. 368 ff. Tübingen 1878. 30 SCHLIEF, Der Friede in Europa, eine völkerrechtliche Studie. 1892. (S. 161 f.) 31 Vergleiche hauptsächlich die kleine Schrift von BAR: Der Burenkrieg, die Russifizierung Finnlands, die Haager Friedensconferenz und die Errichtung einer 28
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Rechtswissenschafl: ohne Recht
zige Menschenfreund vor den Folgen gewarnt hat, die die fortschreitende Untergrabung des Rechtsbewußtseins heraufbeschwören mußte, eine Prophetie, deren Ignorierung seitens der zu ihrer Beherzigung am meisten berufenen Fachmänner um so sträflicher erscheinen muß, als man hier über eine bloß gelehrte Kritik hinaus zugleich den vollständigen Plan für die einzig wirksame Einrichtung gefunden hätte, durch die man der über die gemeinsamen Güter der Menschheit hereinbrechenden Katastrophe hätte begegnen können. Aber diese und ähnliche Stimmen sind im Winde verhallt. Wozu hätte man sich auch freiwillig des Vorteils berauben lassen sollen, den ein Fortschreiten auf dem nun einmal so erfolgreich betretenen Wege bot, wenn nicht um der Wahrheit und also um eines Wertes willen, der auf der allein noch geltenden Waage des politischen Vorteils nichts mehr wog. Eine ehrliche Rückkehr zum Rechtsbegriff hätte allen jenen dialektischen Spitzfindigkeiten und sophistischen Deutungskünsten den Boden entzogen, die man doch nicht fahren lassen konnte, ohne grundsätzlich darauf zu verzichten, sich zum Advokaten des politischen Erfolges zu machen. Dafür hätten sich aber hohe praktische Anforderungen geltend gemacht, denen sich zu entziehen man ein zweifaches Interesse hatte. Einmal ist es verlockender, durch Zusammentragung und Wiederausbreitung historischen Wissensstoffes oder durch ein eitles Spiel mit Begriffen vor der dem Selbstdenken abgeneigten und daher jederzeit zur Bewunderung bloßer Gelehrsamkeit bereiten Menge zu glänzen, als sich für eine vielleicht sehr unpopuläre und die höchsten Anforderungen an die Wahrheitsliebe und die persönliche Unabhängigkeit des einzelnen stellende Idee einzusetzen, eine Idee, die, wenn mit ihr Ernst gemacht werden soll, die mühsamste und entsagungsvollste Organisationsarbeit verlangt, ohne dafür auch nur durch die Verheißung künftigen Nachruhmes zu entschädigen. Denn wenn der durch diese Arbeit herbeizuführende Rechtszustand einmal verwirklicht ist, so wird man es unbegreiflich finden, daß Wesen, die den Anspruch auf Vernünftigkeit erhoben und die überhaupt so etwas wie internationalen Acadernie zur Ausgleichung von Streitigkeiten der Staaten. Hannover 1900.
Schlußbetrachtung
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ein Schamgefühl besaßen, es ertragen konnten, in einem anderen als dem Rechtszustand zu leben. Andererseits muß, wer sich in den Dienst der Rechtsidee begibt, sich auf Kämpfe gefaßt machen, in denen die übermacht auf seiten seiner Gegner steht. Denn da in der Natur notwendig die stärkere Gewalt über die schwächere triumphiert, so ist es eine nur durch eigene Arbeit der Menschen zu lösende Aufgabe, die Macht in den Dienst des Rechtes zu ziehen. Nur im Kampf mit dem Unrecht kann darum das Recht zum Siege gelangen. Soll es aber gelingen, die Rechtslehre, um sie auf eine gesunde Basis zu stellen, von dem Einfluß einer unwissenschaftlichen Philosophie zu befreien, so ist das erste, was not tut, den Irrwahn ein für allemal aufzugeben, als ließe sich dies Ziel dadurch erreichen, daß man sich von aller Metaphysik überhaupt emanzipiert. Hat man einmal eingesehen, daß die vollständigste Kenntnis der Tatsachen, sowie die subtilste Zergliederung von Begriffen niemals zur Begründung auch nur des einfachsten Rechtssatzes genügen kann, daß also Erfahrung und Logik zum Aufbau der Rechtslehre unzureichend sind, so ist eben damit der metaphysische Ursprung des Rechtsbegriffes festgestellt. Dann muß aber auch einleuchten, daß einem Rechtslehrer, der metaphysische Voraussetzungen entbehren zu können meint, in Wirklichkeit nur die Klarheit des Bewußtseins um die metaphysischen Voraussetzungen fehlt, von denen er selbst Gebrauch macht, und daß er daher durch den Verzicht auf die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Kritik seiner Voraussetzungen die einzige Waffe aus der Hand gibt, sich einer trügerischen dogmatischen Metaphysik zu erwehren. Denn allerdings besteht in Folge der Evidenzlosigkeit der metaphysischen Erkenntnis für die Rechtslehre dauernd die Gefahr, daß sie ohne den Schutz einer den höchsten Anforderungen an wissenschaftliche Strenge genügenden Kritik der Vernunft das Opfer sich unbemerkt einschleichender Vorurteile und damit einer immer zügelloser ins Phantastische schweifenden Metaphysik wird. Nur durch eine aufrichtige Rückkehr zum Rechtsbegriff und damit zu einer ehrlichen Metaphysik des Rechts, und das heißt zu einer auf eine erneute Kritik der praktischen Vernunft gegründeten
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Rechtswissenschaft ohne Recht
Rechtslehre, wird man hoffen können, die unsauberen Geister, die sich der Jurisprudenz unserer Tage bemächtigt haben, wieder aus der Wissenschaft zu bannen und damit die Rechtslehre in wissenschaftlich gesunde und zugleich für die höchsten praktischen Zwecke des Lebens fruchtbare Bahnen zurückzulenken.
Nachwort Das Manuskript dieses Buches lag zum größten Teil im Herbst 1914 abgeschlossen vor, und die Drucklegung hat sich nur infolge der in den Zeitumständen begründeten technischen Hindernisse bis jetzt hinausgeschoben. Außer der Abhandlung von ScHOEN, die mich zur nachträglichen Einfügung des 11. Kapitels veranlaßt hat, konnte die seit dem Jahre 1915 erschienene Literatur nicht mehr berücksichtigt werden. Göttingen, 23. Mai 1917 Der Verfasser
Das Völkerbundsideal
Erschienen im Handbuch der Politik, Band V: Der Weg in die Zukunft. Herausgeber: GERH. ANSCHÜTZ - Heidelberg; MAX LENZ - Hamburg; A. MENDELSSOHN BARTHOLDY - Hamburg (Schriftleiter); G. v. SCHANZ Würzburg; EuGEN SCHIFFER - Berlin; ADOLF WACH - Leipzig. Verlag: Dr. WALTHER ROTHSCHILD, Berlin-Grunewald, 1922. S. 1-8 NELSON stellt seinem Text das folgende Literaturverzeichnis voran: IMMANUEL KANT, Zum ewigen Frieden. 1797, Reclam. - JAKOB FRIEDRICH FRIES, Philosophische Rechtslehre. 1803. Neu herausgegeben bei F. Meiner, Leipzig 1913. - LUDWIG VON BAR, Der Burenkrieg, die Russifizierung Finnlands und die Haager Konferenzen. Hannover 1901. - UMANO, Essai de Constitution Internationale. Paris 1907. -F. VON WRANGEL, Internationale Anarchie oder Verfassung. Zürich 1915. - NoRMAN ANGELL, The great Illusion. London 1910. - ÜTTO UMFRID, Europa den Europäern. Esslingen 1913. - RuDOLF GoLDSCHEID, Friedensbewegung und Menschenökonomie. Berlin 1912. - Derselbe, Das Verhältnis der äußeren Politik zur inneren. Wien 1914. - FRANZ ÜPPENHEIMER, Die soziale Frage und der Sozialismus. Jena 1912. - Derselbe, Theorie der reinen und politischen Ökonomie. Berlin 1910. - WALTHER ScHÜCKING, Die Organisation der Welt. Leipzig 1909. - HANS MüHLESTEIN, Europäische Reformation. Leipzig 1918. Ku HUNG-MING, Vox Clamantis. Leipzig 1920. - LEONARD NELSON, Die Rechtswissenschaft ohne Recht. Leipzig 1917. - Derselbe, Vom Staatenbund. Leipzig 1918.
I Das Prinzip der Staatenpolitik Zwar ist das Ideal des Völkerbundes heute in Deutschland von vielen Kreisen aufgegriffen worden; leider läßt sich aber nicht behaupten, daß man sich über die Bedeutung dieses Ideals, geschweige denn über seine Forderungen an uns, klar wäre. Vielfach stellt man sich den Inhalt dieses Ideals nur einseitig als einen Zustand vor, in dem alle Kriege beseitigt sind, und übersieht dabei, daß uns dieses Ideal in Wahrheit eine weit umfassendere, positive Aufgabe stellt: die Verwirklichung des Rechtszustandes. In diesem politischen Zustand werden die Interessenkonflikte in der Tat nicht nach dem Rechte des Stärkeren, sondern friedlich, durch Richterspruch nach dem Verhältnis der Würdigkeit der widerstreitenden Interessen, entschieden; aber diese Beseitigung des Krieges ist nur eine Folge des durchgeführten Rechtszustandes, ist nur eine Forderung des Rechts. Nur auf Grund des Rechtsideals läßt sich der Völkerbund als ein Ideal für die Politik darstellen; denn jeder ideale Zustand unterliegt zuerst den Anforderungen des Rechts. Wird dagegen der Völkerbund um einer bloß zufälligen Interessengemeinschaft der Teilhaber willen verwirklicht - und mag diese selbst die Gemeinschaft des Friedensbedürfnisses sein-, so wird dadurch nur ein neues Machtverhältnis geschaffen, in dem wiederum die ausschlaggebende Gewalt lediglich durch ihr physisches Übergewicht ausgezeichnet ist. Ein dadurch geschaffener Friedenszustand verdient, selbst wenn und gerade wenn er Dauer verspricht, in der Tat mit dem der Kirchhofsruhe verglichen zu werden. Von der äußerlichen Waffenruhe abgesehen, hat er mit dem vom Ideal geforderten Friedenszustand nichts gemein; denn ein solcher unterliegt zuerst den Anforderungen des Rechts; das Recht aber bleibt hier ungesichert. 1 1
Die vom Recht geforderte Regelung der gesellschafl:Iichen Beziehungen hat unbedingte Verbindlichkeit, weshalb wir von der praktischen Notwendigkeit der rechtlichen Forderungen sprechen. Die Unbedingtheit dieser Verbindlichkeit folgt schon aus dem Begriff des Rechts, noch ohne alle Rücksicht auf dessen Inhalt; denn ein Recht, das Recht zu verletzen, widerspricht sich selbst. Allerdings, daß es ein objektives, d. h. von der Rechtsüberzeugung des einzelnen oder der Mehrheit unabhängiges Recht gibt, das wird heute vielfach geleugnet.
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Das Völkerbundsideal
Nur um des Rechtsideals willen ist der Völkerbund seinerseits ein Ideal. Er ist nur ein Mittel zur Verwirklichung des Rechtszustandes, und zwar ein hierzu notwendiges Mittel. Denn in der Natur überwindet jeweils die stärkere Kraft die schwächere; damit daher die Entscheidung möglicher Interessenkonflikte der rechtlich zufälligen Verteilung der Macht entzogen und dem Wahrspruch des Richters, gemäß dem objektiven Gesetz der Vorzugswürdigkeit, anheimgegeben werde, muß sich eine Macht für die Durchführung dieses Richterspruches einsetzen, und diese Macht muß die stärkste in der Gesellschaft sein. Wie man deshalb längst den Zusammenschluß der einzelnen zum Staat als rechtlich notwendig erkannt hat, so ist auch der Zusammenschluß der Staaten zu einer entsprechend organisierten Gemeinschaft notwendig. 2 Und wie die Organisation, die das
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In seiner Voraussetzung wird derjenige, dessen Gefühl hier versagt, ein bloßes Postulat sehen, und er muß auf das Studium der »Kritik der praktischen Vernunft« verwiesen werden als derjenigen Wissenschaft, die die Begründung für den Satz liefert, daß es ein von der Anerkennung unabhängiges Recht gibt. Hinsichtlich der weiteren Bedeutung dieser Streitfrage verweise ich auf meine Schriften: »Die Rechtswissenschaft ohne Recht« und »System der philosophischen Rechtslehre« (Leipzig 1920). Deshalb richtet sich diese Forderung - zwar auch an jeden einzelnen - vor allem aber an die Staatslenker als die zur politischen Verantwortlichkeit Berufenen. Schon aus diesem Grunde ist es besser, von einem Staatenbund und einem Staatenrecht als von einem Völkerbund und einem Völkerrecht zu sprechen. Als Subjekte dieses Staatenrechts können nur Staaten auftreten, während Subjekte des internationalen Privatrechts die Angehörigen der verschiedenen Staaten sind, die über ihr innerstaatliches Privatrecht entsprechende Vereinbarungen getroffen haben. - Könnte man in einem politischen Zustand nicht zwischen Völkerrecht und internationalem Privatrecht unterscheiden, richtete sich also tatsächlich jedes Gesetz unmittelbar an die einzelnen Menschen, so wäre die Menschheit faktisch nicht in einem Staatenbund, sondern in einem Bundesstaat oder gar in einem Welteinheitsstaat organisiert. - Die reine Rechtsidee nimmt allerdings an und für sich auf die Vielheit der einzelnen Staaten keine Rücksicht. Aus der Allgemeingültigkeit der Rechtsidee folgt unmittelbar die Notwendigkeit einer Rechtsgemeinschaft, die sich über das Ganze der Gesellschaft erstreckt. Das Bestehen einer Vielheit von Staaten ist rechtlich weder gefordert, noch ist es rechtlich zu verwerfen. Nur macht das Recht da, wo solche gesonderten Rechtsorganisationen bestehen, unmittelbar Anspruch an ihr gegenseitiges Verhältnis und fordert die Einführung einer übergeordneten, umfassenden Rechtsorganisation. Es ist also rechtlich gleichgültig, ob die menschliche Gesellschaft in einem Welteinheits- oder -bundesstaat, in einem Weltstaatenbund oder in einem Bund von Staatenbünden organisiert ist. Daraus ergibt
II. Staatenbund und Staat
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Recht im Verkehr der einzelnen untereinander sichert, der Staat heißt, so heißt die Organisation, die das Recht im Verkehr der Staaten untereinander sichert, der Staatenbund. Nur in der Form des Staatenbundes also kann die Gemeinschaft der Staaten zur Rechtsgemeinschaft werden. Und sie wird erst zur Rechtsgemeinschaft werden, wenn diese Form als das angesehen und benutzt wird, was sie sein soll: als ein Mittel zur Sicherung des Rechts. - In diesem Staatenbund sind dann die einzelnen Staaten gerade so als Mitglieder beteiligt wie im Staat die einzelnen Personen.
II Staatenbund und Staat Indem wir sagten, daß die Staaten sich zu einem Bund vereinigen sollen, um so die Rechtlichkeit in ihrem Verkehr zu sichern, haben wir die Staaten ohne weiteres wie Personen behandelt, die Interessen besitzen und einen Willen, durch den sie zu handeln vermögen. In der Tat muß eine solche Betrachtungsart möglich sein, wenn sich die Gesetze der Politik vom Verhältnis der Individuen auf das der Staaten übertragen lassen. Man muß sich hier jedoch vor Mißverständnissen hüten. Interesse und Wille sind Kußerungen psychischer Fähigkeiten, die als solche in der Tat nur Individuen zukommen. Der Staat aber ist kein Individuum, sondern die bloße Organisationsform einer Gesellschaft von solchen. Der Grund jener Betrachtungsart kann also nur darin bestehen, daß in ihren gegenseitigen Beziehungen die Staaten sich analog verhalten wie die Individuen, nämlich so, als ob sie wie diese Interesse und Willen hätten. Wo hier mit Fug und Recht von wirklichen Interessen die Rede sein soll, da müssen sich diese allemal auf Interessen einzelner zurückführen lassich auch andererseits, daß dem Rechte genügt ist, wenn die Staaten - die ihrerseits die Rechtlichkeit im Verkehr ihrer Angehörigen sichern - durch Zusammenschluß zu einem Staatenbund die Rechtlichkeit in ihrem, der Staaten, Verkehr sichern. - Das in diesem Bund geltende Staatenrecht richtet sich unmittelbar nur an die in ihm vereinigten Staaten. Nur Staaten können Subjekte des Staatenrechts sein. Und dieses erst sichert ein etwa vereinbartes internationales Privatrecht, dessen Subjekte die Individuen sind.
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Das Völkerbundsideal
sen. Das heißt indessen keineswegs, daß sie in den Privatinteressen der den Staat Regierenden zu suchen wären; vielmehr sind es die Interessen, die die Regierenden als solche nur vertreten, indem sie ihrerseits durch ihren Willen handelnd für diese Interessen einzutreten vermögen. Staatsinteressen, als solche, die den Gegenstand des Völkerrechts bestimmen, können also nur diejenigen heißen, die den im Staat vereinigten Personen als Gliedern eines Staates zukommen und die nicht deren gegenseitiges Verhältnis betreffen, sondern das Verhältnis, in das sie durch ihre Verbindung im Staat zu anderen Staaten kommen. - Andererseits dürfen wir aber auch nicht voraussetzen, daß die Staatsinteressen faktisch gemeinsame Interessen der zur Einheit eines Staates verbundenen Personen sind. Denn ob die faktischen Zwecke eines Staatsangehörigen mit denen des Staates zusammenfallen, das hängt von der Einsicht und Bildung des einzelnen ab. Wie viele Volksgenossen z.B. ein faktisches Interesse an der Kultur ihres Volkes haben und ob überhaupt einige von ihnen faktisch ein solches Interesse haben, das ist für die Existenz des darauf gerichteten Staatsinteresses gleichgültig. Höchstens könnte davon der Wert dieses Interesses insofern abhängen, als die Kultur eines Volkes um so höher zu werten ist, je gebildeter seine Glieder sind, je mehr sie also an dieser Kultur persönlich Anteil nehmen. Das Interesse des Staates ist als solches ein öffentliches Interesse, womit gerade gesagt wird, daß es unabhängig davon besteht, ob es den Gesellschaftsmitgliedern tatsächlich gemeinsam ist.3 Eben deshalb kann aber auch ein Staat seinem wahren Interesse entgegen handeln, wenn z. B. seine Vertreter dieses Interesse nicht kennen. Die Interessen eines Staates sind überhaupt auf die Erfüllung der Aufgaben gerichtet, die ihm als einer Organisation interessierter Wesen zufallen. Sofern nun einem jeden Staate objektiv bestimmte Aufgaben zufallen, sind auch seine Interessen objektiv bestimmt und von der Meinung und dem Belieben der Staatsmänner unabhängig. Ein Staat hat somit ein Interesse an einer Handlung, wenn diese zur Erfüllung seiner Aufgaben beiträgt. Da aber eine und dieselbe 3
Eine nähere Erörterung des Begriffs des öffentlichen Interesses findet man in meiner Schrift: »Dffentliches Leben«. (2. Auflage, Leipzig 1921. Gesammelte Schriften, Band VIII, S. 247 ff.)
II. Staatenbund und Staat
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Handlung die eine Aufgabe fördern, die andere hemmen kann, so können die Interessen eines Staates, ebenso wie die eines Individuums, untereinander in Konflikt geraten. Das überwiegende Interesse eines Staates aber kann mit dem überwiegenden Interesse eines anderen Staates in Konflikt kommen, und dieser Umstand ist es, der die Einführung eines Völkerrechts notwendig macht. Man erkennt daraus das Verfehlte aller der Versuche, die das Völkerrecht auf das gemeinsame Interesse der Staaten zu gründen unternehmen. Man mag zwar sagen, daß die Staaten ein gemeinsames Interesse daran haben, daß ihre gegenseitigen Beziehungen eine Regelung erfahren, die der Form des Völkerrechts entspricht. Aber dieses Interesse der Staaten, nämlich das spezifisch rechtliche Interesse, darf man nicht verwechseln mit den Interessen des einen und anderen Staates, deren Beziehungen einer rechtlichen Regelung bedürfen und ohne die das gemeinsame Interesse an einer rechtlichen Regelung solcher Beziehungen gar nicht erst auftreten Könnte. Diese Interessen nun verlangen aber gerade insofern eine rechtliche Regelung ihrer Beziehungen, als sie miteinander kollidieren; denn soweit sie schon an sich harmonieren, bedarf es keiner Rechtsordnung. Die Interessengemeinschaft der Staaten, die die vermeintliche Grundlage des Völkerrechts bildet, ist also geraae die Gemeinsamkeit des Interesses an der Regelung von Interessen-Konflikten. Woabereinsolcher Konflikt entsteht, da gibt das Interesse an einer rechtlichen Regelung doch noch nicht die Regel selbst, die den Konflikt entscheidet. Diese Regel muß also anderswoher genommen werden. - Auch würde das Vorhandensein des Interesses an einer völkerrechtlichen Regelung nicht deren Verbindlichkeit erklären können. Denn es liegt im Begriff des Rechts, daß seine Verbindlichkeit nicht von dem Vorhandensein eines mit seinen Anforderungen übereinstimmenden Interesses abhängen kann. Ein solches Interesse kann und muß allerdings als ein wahres lnteresse 4 jedes Staates angenommen werden. Aber 4
Die Berechtigung dieser Begriffsbildung kann hier nicht näher begründet werden. Ich verweise auch dafür auf meine »Kritik der praktischen Vernunft« (Leipzig 1917), sowie auf »Die Theorie des wahren Interesses« (abgedruckt in der »Reformation der Philosophie durch die Kritik der Vernunft«, Leipzig 1918; Gesammelte Schriften, Band VIII S. 3 ff.)
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Das Völkerbundsideal
dies doch nur als Folge der schon vorausgesetzten Verbindlichkeit des Rechts, die jeden Staat verpflichtet, sich eine solche Regelung zum Zweck zu machen und sich die dadurch bedingte Einschränkung seiner Interessen gefallen zu lassen. Daher ist ferner auch klar, daß das Recht, als der unbedingt gebotene, alle anderen Staatsinteressen einschränkende Zweck jedes Staates, nicht ohne Widerspruch seinerseits als durch irgendein Staatsinteresse beschränkbar gedacht werden kann. Denn ein Recht, das Recht zu verletzen, widerspräche sich selbst. Folglich kann auch kein Interesse so stark oder heilig sein, daß es zu einer Verletzung des Völkerrechts berechtigen könnte. 5 5
Hiergegen darf auch nicht der (von den Völkerrechtslehrern mit gutem Grund aus dem Privatrecht übernommene) Begriff des Notrechts angeführt werden. Denn dieses hat nur die Bedeutung einer Modifikation der Materie des Rechts, die darauf beruht, daß besondere Umstände das Ergebnis der - die rechtliche Entscheidung bedingenden - Interessenabwägung so verschieben, daß eine Handlung, die unter anderen Umständen widerrechtlich wäre, ihren widerrechtlichen Charakter verliert. Gerade hier aber zeigen sich die verderblichen Folgen jener mystischen Personifikation des Staates, die auf dem irreführenden Spiel mit dem Worte »Staatsinteresse« beruht, und die dazu verleitet, Rechtsverhältnisse, die für das Individuum gelten, ohne weiteres auch als für den Staat gültig anzunehmen, ein Verfahren, das bei Schriftstellern und Staatsmännern, die sich einer realistischen Denkart rühmen und eine auf unverbrüchlichen Rechtsprinzipien gegründete Politik als den unausführbaren Traum wirklichkeitsfremder Idealisten verlachen, am wenigsten verzeihlich ist. In der Tat, nur ein solcher Wortfetischismus ist es, wenn man das sogenannte Lebensinteresse der Staaten über alle kollidierenden Interessen und sogar Rechte stellt. Unter den Interessen des einzelnen Menschen nimmt freilich das an der Erhaltung des Lebens eine ausgezeichnete Stellung ein, insofern diese die Bedingung der Möglichkeit der Befriedigung seiner sonstigen Interessen ist. Und doch reicht selbst diese Auszeichnung nicht hin, um den einzelnen zu berechtigen, sich über alle seiner Selbsterhaltung im Wege stehenden Rechtsnormen hinwegzusetzen. Ein von den Einzelinteressen seiner Glieder unabhängiges Interesse des Staates gibt es aber nicht. Es könnte daher selbst dann, wenn wir auch die Erhaltung des Staates als im höchsten Interesse seiner Glieder gelegen annehmen müßten, nicht auf die Berechtigung geschlossen werden, die mit diesem Interesse kollidierenden Normen des Völkerrechts zu verletzen. Aber diese Annahme trifft nicht einmal zu; es ist vielmehr eine in ihrer Allgemeinheit durch nichts begründete und nachweislich falsche Voraussetzung, daß das Fortbestehen eines Staates für seine Glieder eine notwendige Bedingung der Befriedigung ihrer Interessen wäre. Das Aufhören der selbständigen Existenz eines Staates bedeutet für seine Glieder an und für sich nichts anderes als einen Wechsel der Verwaltung. Sehen wir daher vom Privatinteresse derer ab, die vermöge ihrer Herrscherstellung im Staate an dessen Fortbestand interessiert
II. Staatenbund und Staat
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Auf der anderen Seite aber fordert auch in materieller Hinsicht das Recht einen Ausbau des Völkerrechts weit über die bestehenden internationalen Abmachungen hinaus - die im Grunde nur auf eine Regelung ohnehin gemeinsamer Interessen hinauslaufen oder, was Interessenkonflikte anlangt, nur gewisse grobe Ausschreitungen für unerlaubt erklären. Denn ebensowenig, wie zwischen den einzelnen sind, so ist es zwar möglich, aber nicht notwendig, daß mit einem solchen Wechsel der Verwaltung Verletzungen wichtiger Interessen verbunden sind. Aber auch wo solche Verletzungen wirklich eintreten, bedarf es allemal erst einer Abwägung der kollidierenden Interessen, um auf die Berechtigung des Interesses an der Erhaltung des Staates zu schließen. Demgegenüber ist es nichts als ein rohes Vorurteil und ein Ausfluß atavistischer Instinkte, daß, nachdem für die innere Politik die Forderung der Rechtlichkeit wenigstens in der Theorie mehr und mehr erkannt wird, in der äußeren Politik nationale Macht als das höchste Ziel festgehalten werden soll. Wenn nach wie vor die Idee einer internationalen Rechtsgemeinschaft als Utopie verschrieen, ja dem durch diese Idee geleiteten Streben der Schein der Staatsfeindschaft angeheftet wird, so hat dies seinen wahren Grund darin daß mit jener als höchstes Ziel gepriesenen nationalen Macht die Privatinteressen einflußreicher Kreise aufs engste verknüpft sind. Und wenn der schamlose Mißbrauch, der mit dem an sich ehrwürdigen Ausdruck der nationalen Ehre getrieben wird, immer noch nicht durchschaut wird, so kommt dies insbesondere daher, daß angesehene Gelehrte selbst sich dazu hergegeben haben, mit den Mitteln der Wissenschaft den Bestrebungen jener Kreise einen Schein der Berechtigung zu verleihen. Das pseudo-wissenschaftliche Gewand, in das die Maxime mächtiger Interessenten gekleidet wurde, ist die Lehre, daß Staatenbund und Staatssouveränität miteinander unvereinbar seien. Man bezeichnet als souverän einen Staat, der keiner höheren Gesetzgebung unterworfen ist. Nennt man nun nur den souveränen Staat einen »wahren« Staat, so ist allerdings eine Verbindung von Staaten der Art, daß dadurch ihr gegenseitiges Verhalten rechtlichen Schranken unterworfen wird, kurzum ein Staatenbund, ein in sich widerspruchsvoller Begriff. Aber es zeigt sich auch das Umgekehrte, daß nämlich die Lehre, alle Staaten sollten souveräne Staaten sein, sich selbst widerspricht. Denn die Souveränität des einen Staates würde unmittelbar die der anderen ausschließen, so daß schon aus diesem Grunde Souveränität als allgemeines Rechtsprinzip sich selbst vernichtet. Will der eine Staat sich dem anderen gegenüber keine Schranken auferlegen (z. B. dessen Selbständigkeit nicht achten), so hätte dieser ihm gegenüber auch keinerlei Rechte, denn diese würden den ersten verpflichten, seiner Willkür also Schranken auferlegen. - Man behauptet zwar, daß sich die Staaten gerade vermöge ihrer Souveränität in Form von Verträgen binden und einander Rechte einräumen könnten. Aber wer an kein höheres Gesetz gebunden ist, ist auch an die Ausführung seines einmal bekundeten Willens nur so lange gebunden, als sein Wille fortbesteht. Er ist also rechtlich in Wahrheit überhaupt nicht gebunden, und es gibt für ihn keine Pflicht der Vertragstreue.
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Das Völkerbundsideal
eine Rechtsgemeinschaft besteht, wenn bestimmte gemeinsame Interessen geregelt oder auch ausnahmsweise einzelne Handlungen unmittelbar verboten sind, ebensowenig wird durch entsprechende inIn der Tat, jene Staatssouveränität ist mit dem Staatenbund unvereinbar, aber nur deshalb, weil sie dem Recht überhaupt widerspricht, wie überhaupt Willkür und Recht einander gerade ausschließen. Staaten, die in jenem Sinne souverän, d. h. keiner höheren Gesetzgebung unterworfen sind, solche Staaten werden allerdings durch die Einführung des Staatenbundes vernichtet. Dieser Vorgang wird aber den wirklichen Staaten keinen Abbruch tun, spielt er sich doch lediglich in der Welt der von einer sophistischen Dialektik willkürlich gebildeten Begriffe ab. Die wirklichen Staaten werden auch ohne jene Eigenschaft bestehen, die nicht so sehr Souveränität als vielmehr Rechtsverhöhnung genannt zu werden verdient. Daß die Staaten im Rechtszustand jene Eigenschaft nicht mehr besitzen werden, wird nur der bedauern, dessen Herz an der Aufrechterhaltung des internationalen Faustrechts und Raubrittertums hängt. Es gibt freilich eine Souveränität - der Staaten wie der Personen -, die mit dem Recht vereinbar ist und die auf deren Würde beruht. Diese Würde und die darauf beruhende Souveränität des Staates wird im Staatenbund ebensowenig vernichtet wie die Souveränität und Würde der Person im Staate; ja gerade der Staatenbund und nur der Staatenbund bietet die Gewähr für ihren Bestand und für die Achtung, die jeder Staat der Souveränität des anderen erweisen soll. Ohne den Staatenbund wären die einzelnen Staaten niemals gegen die Bedrohung ihrer Selbständigkeit von seiten ihrer Rivalen gesichert. Kein ungereimteres Argument also kann es geben als die Behauptung, daß der Gründung des Staatenbundes die Selbständigkeit der Staaten zum Opfer fallen müßte. Geben wir jene Souveränität, die im Grunde nur Anarchie bedeutet, vergleichbar der - durch keinen Staat beschränkten - Selbstherrlichkeit des einzelnen, als völkerrechtliche Unabhängigkeit preis, so können wir sagen, daß Souveränität als eine rechtlich mögliche Eigenschaft eines Staates nur staatsrechtliche Unabhängigkeit bedeuten kann, vergleichbar der - durch den Staat zu schützenden - Freiheit der Person. Mit dieser Souveränität ist der Staatenbund so wenig unvereinbar, daß er sie sogar zu seiner eigenen Möglichkeit voraussetzt. Denn Staatenbund und Bundesstaat unterscheiden sich darin, daß den im Staatenbund vereinigten Staaten, nicht aber den Gliedstaaten eines Bundesstaates Souveränität zukommt, und das bedeutet insbesondere, daß die Gesetze des Staatenbundes sich unmittelbar nur an die in ihm vereinigten Staaten wenden, nicht aber an die diesen angehörigen Individuen; die Gesetze des Bundesstaates dagegen können sich unmittelbar an die Angehörigen der Gliedstaaten wenden, wie deren Gesetzgebung überhaupt durch die Regierung des Bundesstaates beschränkt werden kann. Der Staatenbund seinerseits ist also kein Staat; denn »Staat« nennen wir ein politisches Gemeinwesen, dessen Gesetzgebung sich unmittelbar auf die in ihm vereinigten Individuen bezieht. Wie also der Staatenbund die Selbständigkeit der Staaten erst sichert, so setzt er sie auch umgekehrt zu seiner eigenen Möglichkeit voraus. (Vgl. hierzu Anm. 2. Eine eingehende Kritik des Souveränitätsdogmas und verwandter Doktrinen findet man in meiner Schrift: »Die Rechtswissenschaft ohne Recht«.)
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ternationale Abmachungen eine Rechtsgemeinschaft zwischen den Staaten geschaffen. Wie der Staat gegenüber den einzelnen, so hat der Staatenbund gegenüber den Staaten vornehmlich die Aufgabe, Interessenkonflikte zu regeln (und nicht oder nicht in erster Linie gemeinsame Interessen zu befriedigen), solche Konflikte zu regeln (und nicht lediglich gewisse Ausschreitungen zu verbieten). Diese in ihrer Tragweite immer noch nicht erkannte Aufgabe fordert nicht nur die Einsetzung von obligatorischen Schiedsgerichten zur Entscheidung entstandener Konflikte, sondern auch unmittelbar eine Regelung der Güterverteilung, und zwar - da heutzutage Staaten nicht in erster Linie um geistiger Güter willen in Streit geraten - vor allem eine gerechte Verteilung der wirtschaftlichen Güter. Erst durch eine internationale Übereinkunft kann ein Eigentumsrecht eines Staates begründet werden, gerade so wie erst durch eine Übereinkunft im Staate ein Eigentumsrecht eines einzelnen möglich wird. Und analog dem Verteilungsprinzip, das für das Verhältnis der einzelnen gilt, ist auch hier das rechtliche Prinzip der Verteilung das der Gleichheit. Es fordert, daß jedem Volke die Möglichkeit gesichert werden soll, durch Arbeit zu dem gleichen Maße der Befriedigung seiner Bedürfnisse zu gelangen wie jedes andere. Hierzu gehört, daß den einzelnen Staaten einerseits die notwendigen Absatzgebiete für ihre einheimischen Produkte gesichert werden, und andererseits die Möglidikeit der Einführung der für ihre Arbeit notwendigen Rohprodukte. Das eine wie das andere geschieht zum Teil schon durch eine zweckmäßige Regulierung der Landesgrenzen. Unter Umständen wird dazu aber auch die Nötigung eines Volkes gehören, einen Teil der Naturgüter seines Landes an andere zur Verwertung abzugeben, oder auch, wenn es zu unzivilisiert ist, um die Naturgüter seines Landes in der erforderlichen Weise zu verarbeiten, die Nötigung, sich als ein unmündiges Glied im Staatenbunde einer fremden Regierung zu unterwerfen, die es zur Arbeit zwingt. Es darf aber einem Volke andererseits auch nur so viel entzogen werden, als für die Gleichheit aller, zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu gelangen, notwendig ist. Der Zwang darf nur darauf beruhen, daß den Bewohnern eines Landes ihr Überfluß entzogen wird, durch den sie anderen Völkern gegenüber im Vorteil sind und
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Das Völkerhundsideal
durch dessen Entziehung sie mittelbar zur Arbeit genötigt werden. Der Zwang darf aber nicht dazu mißbraucht werden, sie als Sklaven für andere arbeiten zu lassen. Auch muß die Bevormundung eines solchen Volkes, wenn sie hiernach rechtlich geboten ist, doch immer der Einschränkung unterliegen, daß man nach Möglichkeit darauf hinwirkt, sie überflüssig zu machen, und also die Entwicklung des Volkes zu größerer Selbständigkeit begünstigt. 6
III Staatenbund und Wirklichkeit
Das größte Hindernis für die Entwicklung der Staatengemeinschaft zu einem echten Staatenbunde bietet der dazu erforderliche Verzicht der Staaten auf das Mittel der kriegerischen Selbsthilfe, und also auch auf eine selbständige Militärmacht. Es leuchtet zwar ein, daß die Kriegsgefahr für den einzelnen Staat eine stete Bedrohung seiner Sicherheit bedeutet, daß sie ferner seine Kräfte bis aufs äußerste für Rüstungsausgaben in Anspruch nimmt und daß so mehr und mehr für ihn die Möglichkeit beschränkt wird, den wachsenden sozialen und kulturpolitischen Anforderungen zu genügen, und daß schließlich eine rechtliche Verwaltung des Staates dadurch auch im Inneren unmöglich gemacht wird. Aber gerade diese letzte Erwägung lehrt uns den tieferen Grund des Widerstandes erkennen, der der Abrüstung von seiten der Einzelstaaten im Wege steht. Was nämlich überhaupt den möglichen Nutzen des Krieges betrifft, so wird, soweit es sich nicht nur um Gegenmaßregeln gegen einen kriegerischen Angriff handelt, das Urteil darüber ganz verschieden ausfallen, je nachdem, ob man dabei vom Standpunkt einer Despotie oder von dem eines Rechtsstaates ausgeht. Durch die Bekriegung anderer Nationen benutzt der Despot das Volk als ein Instrument zu seiner eigenen Bereicherung. Auch ist er auf den äußeren Feind angewiesen, um, vermittelst der von ihm 6
Ich beschränke mich im 2. Teil dieses Absatzes auf eine Wiederholung aus meiner Vorlesung vom 31. Juli 1914: »Vom Staatenbund« S. 15. (In diesem Band s. 54)
III. Staatenbund und Wirklichkeit
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ausgehenden Bedrohung, dem inneren Feind den Burgfrieden abzupressen, der den Aufruhr hintanhält. Ganz anders im Rechtsstaat. Hier müßte der Krieg einem Zweck des Volkes selber dienen. Es wird aber die Mehrzahl des Volkes, und um so mehr, je gebildeter es ist, durch einen Krieg weit mehr wagen, als sie dadurch zu gewinnen hoffen kann. Man müßte denn meinen, daß das Volk für die Opfer eines Krieges durch die Bereicherung entschädigt würde, die eine Eroberung mit sich bringt. Die Vorstellung aber, als ob die Größe des Staatsgebietes den Reichtum eines Volkes bedingt, findet auf den Rechtsstaat keine Anwendung. Allerdings, solange es die Sitte erlaubt, die Bewohner eines unterworfenen Landes auszuplündern undzuSklavenoderzuLeibeigenen zu machen, die von den neuen Herren beliebig ausgebeutet werden können, so lange bedeutet eine Gebietseroberung eine Bereicherung, wenigstens für die herrschende Klasse im Staat. Ji..hnliches gilt auch da, wo der Staatshaushalt noch zusammenfällt mit dem Haushalt des Fürsten. Da bedeuten neue Untertanen für den Fürsten neue Steuerzahler und insofern eine Vermehrung seiner Einkünfte. Im Rechtsstaat aber ist das Hoheitsrecht des Staates streng geschieden nicht nur vom Privateigentum des Regenten, sondern auch vom Staatseigentum. Und auch dieses wird vom Staate nur im Interesse aller Staatsbürger verwaltet; etwaige Überschüsse, die es abwirft, müssen wieder zum gemeinen Wohl verwendet werden. Die Erwerbung eines neuen Gebietes hat daher hier nur die Wirkung, daß die Einwohner dieses Gebietes unter andere Gesetze und unter eine andere Verwaltung kommen. Es wird aber kein einziger der bisherigen Staatsbürger dadurch reicher. Allerdings kann durch eine Steigerung des Verkehrs zwischen dem eroberten Gebiete und den alten Landesteilen eine Bereicherung einzelner eintreten; aber zu diesem Erfolg bedarf es nicht der Eroberung, sondern nur einer hinreichenden Freiheit des Handelsverkehrs. Man meint auch, daß Eroberungen notwendig seien, um für die Ansiedlung des einheimischen Bevölkerungsüberschusses Raumzugewinnen. Dieser Raum dürfte dann freilich nur in hinreichend dünn bevölkerten Landstrichen gesucht werden, es sei denn, man wolle die bisherigen Einwohner von ihrer Scholle vertreiben. Auch wäre erst
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zu fragen, ob die Übervölkerung, soweit eine solche wirklich vorhanden ist, darauf beruht, daß das Staatsgebiet zu klein ist, und nicht vielmehr nur auf der ungleichen Verteilung des Bodens, bei der eine kleine Klasse viel mehr erhält, als ihrem Bedarf entspricht, während der Rest sich mit zu wenig begnügen muß. Daß aber überhaupt der Bevölkerungsüberschuß eines Landes, der daheim keinen Platz findet, auf einem Gebiete angesiedelt werden müsse, das unter der Oberhoheit des Heimatstaates steht, und daß daher ein Staat im Interesse seines Bevölkerungsüberschusses Eroberungen zu machen genötigt sei, ist ein durch nichts zu begründendes Dogma, da auch ohne Eroberung derselbe Zweck erreicht werden kann, wofern nur die hinreichende Freizügigkeit gesichert ist. 7 7
Wir finden überhaupt zwei einander gerade widerstreitende Tendenzen der Entwicklung des wirtschaftspolitischen Verhältnisses der Staaten: eine natürliche und gesunde einerseits, eine künstliche und krankhafte andererseits. Die eine entsteht durch die unter dem Einfluß des Handelsinteresses und der Bevölkerungsvermehrung in Ermangelung künstlicher Gegenmaßregeln von selbst eintretende Steigerung und Ausbreitung des Verkehrs. Sie drängt auf Freiheit des Verkehrs, ohne Rücksicht auf die zufälligen Staatsgrenzen, und auf Erhaltung des die Verkehrssicherheit bedingenden Friedens. Die andere, aus dem politischen Interesse an der wirtschaftlichen Unabhängigkeit des einzelnen Staates entspringende Tendenz wirkt dem gerade entgegen. Sie drängt auf wirtschaftliche Isolierung und auf die dazu erforderlichen kolonialen Eroberungen. Hat man sich aber erst einmal von der Wahnvorstellung befreit, die in den Staaten nicht verwaltungstechnische Gebilde, sondern eigene Lebewesen sieht, die, als wirtschaftliche Interessenten, auf dem Weltmarkt einander als Konkurrenten gegenübertreten, so muß schließlich auch der imaginäre Charakter des aus dieser Vorstellung entspringenden Interesses der wirtschaftlichen Isolierung und der dadurch bedingten Eroberungspolitik zutage treten. Wenn sich dieses Interesse auch nach der Zerstörung jener Fiktion noch behauptet, so hat dies seine Ursache nur in der Rücksicht auf die Möglichkeit des Krieges. Die Gefahr, im Kriegsfall vom Weltmarkt abgeschnitten zu werden, nötigt den einzelnen Staat zum Streben nach dem politischen Besitz der seine wirtschaftliche Autarkie sichernden Gebiete, wie sie ihn auch nötigt, die für die Sicherung seiner militärischen Macht notwendigen Gebiete in seinen Besitz zu bringen, mag es sich um solche von unmittelbar strategischer Bedeutung handeln oder um Siedlungsland für Auswanderer, die sonst dem Mutterland als Soldaten verlorengehen, oder um die Erlangung sonstigen Zuwachses an wehrfähiger Mannschaft. Kurz, die Eroberungspolitik ist ein notwendiger Bestandteil der für die Kriegsbereitschaft erforderlichen Maßnahmen überhaupt, d. h. der Rüstungspolitik. Es liegt aber schon im Begriff der Rüstungspolitik, daß sie als Grund ihrer Maßnahmen die Rücksicht auf anderweit bestehende oder wenigstens zu befürchtende Kriegsursachen voraussetzt. Entfallen diese, so tritt
III. Staatenbund und Wirklichkeit
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Daß aber eine Sicherung der hinreichenden Freiheit des Handels sowohl wie der Siedlung nicht durch bloße Verträge zwischen souveränen Staaten gewährt wird, ist freilich zuzugeben. Sie erfordert vielmehr, daß das Rechtsverhältnis aus einem solchen auf Treu und Glauben in ein politisch geschütztes verwandelt wird. Das aber kann nur geschehen durch eine den Staaten übergeordnete Zentralgewalt, d. h. nur durch den Staatenbund. Aus dem Bisherigen wird klar, daß nicht nur eine rechtliche Politik im Inneren des einzelnen Staates für die Lösung ihrer Aufgaben auf die Einführung eines rechtlichen Verhältnisses im äußeren Verkehr der Staaten untereinander angewiesen ist, sondern auch umgekehrt eine rechtliche Organisation der Staatengemeinschaft nur zwischen solchen Staaten von Bestand sein wird, die in ihrem eigenen Innern rechtliche Zustände aufweisen. Dieses Verhältnis macht zunächst volle Publizität auch in bezug auf die auswärtige Politik der Regierungen notwendig, womit denn die Beseitigung der die Völker betrügenden geheimen Diplomatie von selbst gefordert ist. Keineswegs aber folgt daraus, daß wir uns von der sogenannten demokratischen Kontrolle die Sicherung des Friedens versprechen dürfen, wie dies die Meinung jener pazifistischen Ideologen ist, die sie selbst an deren Stelle; denn dann bleibt als einzige wirkliche Kriegsgefahr der durch den Rüstungswettstreit erzeugte Konfliktstoff übrig. Da dieser aber nur in der Sorge um die Kriegsbereitschaft seinen Grund hat, so entsteht das paradoxe Verhältnis, daß gerade diese Sorge es ist, was den Krieg heraufbeschwört. Die Rüstungspolitik, die als eine Folge der Kriegsgefahr erscheint, wird so in Wahrheit selbst deren einziger Grund. In diesen verhängnisvollen Zirkel werden die Völker durch eine politische Wahnvorstellung verstrickt und so durch diese auch beim besten Willen wirklich in das Unheil des Krieges hineingerissen. Die Erkenntnis aber, daß allein jene abergläubische Furcht es ist, was unter friedliebenden Völkern das befürchtete übel wirklich hervorruft, kann und soll den Völkern die Kraft verleihen, die Fessel jenes unseligen Zirkels zu durchbrechen. Denn mit dem Verzicht auf die Rüstungspolitik würde zugleich der Grund ihrer eigenen Notwendigkeit entfallen. Die Trennung der Staaten würde dann zu bloß verwaltungstechnischer Bedeutung herabsinken, aber eben dadurch eine Form annehmen, durch die sie aufhört, einen Anlaß zu kriegerischen Verwicklungen zu bieten. Denn es würde sich dann erübrigen, Angriffen auf das Lebensinteresse und die Ehre des Staates dadurch zuvorzukommen, daß man das Lebensinteresse und die Ehre seiner Bürger opfert.
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längst das Axiom proklamiert haben, die Demokratie sei die Gewähr des Friedens, denn die Völker wollten den Krieg nicht. Hierin liegt eine gefährliche Täuschung. Daß ein Despot mit dem Leben seiner Untertanen spielt, ist allerdings unmittelbar widerrechtlich. Aber dieses widerrechtliche Verhältnis verschwindet nicht durch die Demokratisierung der Staatsform, sondern wechselt hier nur seinen Namen, zumal unter einer Einrichtung wie der allgemeinen Wehrpflicht, diesem fatalen Geschenk der Demokratie an die Völker einer Einrichtung, die im wirklichen Rechtsstaat, wo die Regierung ihre Macht über das Volk nur zur Abwehr widerrechtlicher Angriffe gebrauchen würde, nicht verwerflich wäre, in der Demokratie aber um so mehr dem Mißbrauch ausgesetzt ist, als dieser durch die Meinung, eine Maßnahme werde durch die demokratischen Formen, in denen sie sich vollzieht, rechtlich sanktioniert, geradezu begünstigt wird, und als hier in der Tat keine bestimmte Person als sichtbarer Träger der Verantwortung für einen solchen Mißbrauch hervortritt. Sind die Völker auch im Interesse am Frieden solidarisch, so ist dies doch nur ihr wohlverstandenes Interesse, das sich als solches nicht von selbst durchsetzt, sondern durch eine irregeleitete öffentliche Meinung verdunkelt und durch die demagogische Dialektik widerstreitender Privatinteressen unwirksam gemacht werden kann. Daß das wahre Interesse der Völker zur Geltung gelangt, kann daher nicht durch die Gleichheit der Beteiligung aller Volksgenossen an der Regierung verbürgt werden, sondern nur dadurch, daß diejenigen zur Regierung gelangen, die die hinreichende Einsicht und Tatkraft besitzen, jenes Interesse zur Geltung zu bringen. 8 Wenn diese es versäumen, die Macht in ihre Hände zu bringen, so wird die Tyrannei der für den Krieg Interessierten und Fanatisierten den Ausschlag geben, und keine Staatsform wird den Frieden erhalten können. Denn, wird wohl der Tyrann, weil er, durch keinen Regententhron dem Volke kenntlich, nur auf den Schleichwegen der Erpressung (vermöge seiner Kapitalmacht) und des Betruges (durch eine käufliche Presse) - unter der Maske der politischen Gleichberechtigung also - seine Tyrannei ausübt und das Volk in den Krieg treibt, wird er durch solche Maskierung ungefährlicher? 8
Vgl. hierzu meine Schrift »Demokratie und Führerschaft« (Leipzig 1920).
Der Internationale Jugend-Bund
Erschienen im Handbuch der Politik, Band V: Der Weg in die Zukunft. Herausgeber: GERH. ANSCHÜTZ - Heidelberg; MAX LENZ - Hamburg; A. MENDELSSOHN - BARTHOLDY - Hamburg (Schriftleiter); G. v. ScHANZ Würzburg; EuGEN SCHIFFER - Berlin; ADOLF WACH - Leipzig. Verlag: Dr. Walther Rothschild, Berlin-Grunewald 1922, S. 495-499 Als Literaturangabe stellt NELSON seinem Text voran: Ober die Bestrebungen des I. J. B. unterrichtet im einzelnen die Schriftenreihe »tHfentliches Leben« sowie die andere: »Die Neue Reformation«, beide im Verlag »Der Neue Geist«, Leipzig.
Der Internationale Jugend-Bund (I. J. B.) unterscheidet sich von anderen Gruppen der heutigen Jugendbewegung dadurch, daß er weder einer in sich selbst beschlossenen Jugendkultur huldigt, noch als eine jüngere Altersklasse nur den Nachwuchs liefert für ein Werk der älteren Generation. Die hier vereinigte Jugend verwirft die Lehre vom Selbstzweck der Jugend, jene Lehre, die nur der Selbstsucht oder der Schmeichelei entstammt. Sie erkennt nur einen Selbstzweck des Menschen an: den, ein würdiges Leben zu führen, und sie weiß, daß es gilt, von früh auf die Kräfte auf dieses dem ganzen Leben vorschwebende Ziel zu lenken. Sie lehnt es andererseits ab, dieses Ziel von außen zu empfangen. Sie unterwirft sich keiner Autorität, sondern nur dem Gesetze der eigenen Vernunft. Freilich ist sie sich bewußt, daß dieses Gesetz an und für sich nur dunkel in ihr ruht, daß Bildung und Reife des Geistes nötig sind, um die Anforderungen dieses Gesetzes zu enthüllen. Darum stellt sie sich bewußt unter die Führerschaft solcher Menschen, bei denen sie Überlegenheit an Bildung und Reife des Geistes findet, eine Überlegenheit, die sich gerade darin kundgibt, daß die Führer ihr auf dem Weg zu jenem Ziel voranschreiten. Zu dieser freiwilligen Gefolgschaft bestimmt sie also nicht nur das Bedürfnis, sich den durch Arbeit und Erfahrung gereiften Menschen anzuschließen - dadurch würde unter Umständen eine Jüngerschaft, aber kein Bund zustande kommen -, sondern vor allem die Gemeinsamkeit des Ziels, dem sie, wie ihre Führer, ihr Leben unterordnet. Dieses Ziel drängt den Anhängern des I. J. B. die wachsende Not unserer Zeit auf. Sie erkennen kein Schicksal an, das die Zustände beherrscht, unter denen die Menschen leben und vor dessen Gewalt sie die eigene Freiheit nur durch die Flucht in des Herzens heiligstille Räume bewahren könnten. Sie glauben an die Macht des menschlichen Willens und ziehen den Menschen zur Verantwortung für das Übel, das durch ihn geschieht und geduldet wird. Sie scheuen nicht den Vorwurf seitens der Evangelisten des Nichthandelns, daß sie das eigene Seelenheil vernachlässigen, sondern beantworten ihn mit dem Spruch des KoNFUZrus: »Wer nur darauf bedacht ist, sein eigenes Leben rein zu halten, der bringt die großen
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menschlichen Beziehungen in Unordnung. Damit, daß der Edle ein Amt übernimmt, tut er seine Pflicht.« Sie teilen auch nicht die weichmütige Sehnsucht derer, die die Menschheit vom Leid zu erlösen streben. Denn nicht die bloße Empfindung der eigenen Not oder das Mitgefühl mit dem Unglück anderer schließt sie zu einem Bund der Brüder zusammen. Der Feind, dem ihr Kampf gilt, ist allein das Unrecht, das durch Menschenschuld in der Gesellschaft herrscht, aber das Unrecht in allen seinen Gestalten, nicht nur, wo es gerade sinnfällig in Erscheinung tritt, sondern auch überall da, wo das Opfer seinen Angreifer nicht sieht. Sie lassen sich auch nicht beirren durch die Einrede, daß ihnen der Sinn verschlossen sei für die Pflege der höheren Kulturideale, da die bloße rechtliche Ordnung noch keinen positiven Wert darstelle. Über dies letzte besteht auch unter den Anhängern des I. J. B. Einmütigkeit. Aber es erscheint ihnen folgerichtiger, sich des Kampfes um das Recht nur um so mehr anzunehmen.» Wenn die Gerechtigkeit untergeht«, sagt KANT, »hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben.« In der Tat, wenn dem Recht kein eigener positiver Wert zukommt, so nur darum, weil es die notwendige Vorbedingung des Wertes eines Gesellschaftszustandes überhaupt ist. Wo nicht einmal diese Vorbedingung erfüllt ist, da ist aller Anspruch einer vermeintlichen Kultur nur erlogene Anmaßung und eitler Selbstbetrug, die Aufrechterhaltung dieses Anspruchs also nur der Ausdruck einer um so ärgeren Barbarei. Aber was hat dieser Kampf um das Recht mit einem Bund der Jugend zu tun? Den Kampf um das Recht wird nur der führen, der an das Recht glaubt. Dieser Glaube findet sich nicht bei der heute lebenden älteren Generation, die im Bann einer fatalistischen Geschichtsauffassung oder einer relativistischen Rechtslehre ihre sittliche Glaubenskraft eingebüßt hat. Die ungebrochene Jugend hat noch diese sittliche Glaubenskraft und, was bedeutsamer ist, sie schreckt nicht davor zurück, die Forderungen auf sich zu nehmen, die sie mit ihrer Überzeugung bejaht. Auch bedarf es zur Erfüllung dieser Forderungen einer ernsten und gründlichen Schulung der Kräfte, wie sie nur bei der noch bildungsfähigen Jugend gelingt.
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Daß aber dieser Bund der Jugend international sein muß, versteht sich bei der Natur seines Zieles von selbst. Denn die Sache, um die es hier geht, ist nicht die eines besonderen Volkes. Vernunft und Recht machen in ihren Forderungen vor keinen Landesgrenzen Halt. Man würde indessen die Erziehungsarbeit, die der I. J. B. unternimmt, sehr mißverstehen, wollte man sie den zahlreichen Bestrebungen zurechnen, die die Herbeiführung rechtlicher Zustände von einer immer weitere Kreise durchdringenden Erziehung zur Rechtlichkeit erwarten. Gewiß, täten alle Menschen aus freien Stücken das Rechte, so würde das Recht herrschen; und könnte Erziehung die Menschheit auf diese Höhe heben, dann wäre solche Erziehungsarbeit der gegebene Weg für die Anhänger des Rechtsideals. Der Zeitgeist, der sich der Raserei des Unrechts bewußt wird und alle Gewalten in den Händen des Unrechts sieht, ist solchem Erziehungswerk zugeneigt. Noch ist die sittliche Mission des Christentums nicht erfüllt, die, auf Beispiel und Belehrung fußend, die moralische Reinigung der Welt erstrebt. Ihre Erfüllung mag schwer sein. Dennoch scheint keine Zeit geeigneter zu sein, auf das Mittel solcher moralischen Reinigung zurückzugreifen, als die unsere, die die zerrüttende Wirkung des Mißbrauchs äußerer Machtmittel in Kriegen und Revolutionen bis auf die Neige auskosten muß. In solchen Zeiten der Zerrüttung pflegt sich bei denen, die überhaupt noch an Wiederaufrichtung und Gesundung glauben, eine Abwehr einzustellen gegen die Anwendung äußerer Machtmittel. Denn was verbürgt den Gebrauch dieser Machtmittel zu reineren Zwekken? So gelangt man dahin, jede Einrichtung, jede Organisation, die Macht ansammelt, abzulehnen und für die Auflösung aller Machtinstitutionen zu plädieren. Nun bleiben aber diese Verächter der Gewalt nicht bei der Verneinung stehen. Sie beschreiten ja gerade den Weg der Erziehung, und sie setzen ihre Hoffnung auf die Erweckung religiöser Kräfte. Aber welchen Erfolg verspricht man sich im Ernst von diesem Weg der Reformation der Gesinnung der einzelnen? Kann auf diesem Weg der bloßen Belehrung und Erziehung das Ziel erreicht, ja die Anbahnung gerechterer Zustände auch nur merklich gefördert werden?
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Sehen wir davon ab, daß weder das Beispiel noch die Lehre der großen Religionsstifter, deren Gemeinden das Erdenrund umspannen, das Werk vollbracht haben, an das man heute glauben möchte. Vergegenwärtigen wir uns zwei simple Tatsachen, die es bereits hinreichend erklären, warum alle bloß pädagogischen Bemühungen um die Herbeiführung rechtlicher Zustände in der Gesellschaft zur Aussichtslosigkeit verurteilt sind. Die eine dieser Tatsachen besteht darin, daß die Menschen sterben; die andere darin, daß den Feinden des Guten ihre Zwecke zu sehr am Herzen liegen, als daß sie den Erfolg ihrer Bemühungen der bloßen Ausbreitung durch das Wort und der Macht des Beispiels anvertrauen. - Wenn der Mensch stirbt, so vergeht mit ihm, was an rechtschaffener Gesinnung in ihm lebte. Sein Andenken mag in Ehren gehalten werden, die Erinnerung an seine Taten die Nachlebenden anfeuern, aber dies alles doch nur, sofern empfängliche Gemüter da sind, die das Vorbild eines edlen Menschen auf sich wirken lassen. Entwickelt die Erziehung im Menschen die Kraft zum Guten, so zerstört der Tod des Menschen auch das Werk, das die Erziehung in ihm vollbracht hat. Jeder Nachgeborene bedarf von neuem der gleichen pädagogischen Anstrengungen. Erhält er diese Erziehung nicht, oder treibt die Erziehung in falschen Bahnen, so sinkt die nächste Generation von dem Niveau herab, das die vorangegangene, die ihre Höhe nur sich selbst und ihren Erziehern verdankte, bereits erreicht hatte. Es ist nicht einzusehen, wie bei dem Verzicht auf Organisationen, die das Lebenswerk des Erziehers überdauern, sein pädagogischer Erfolg gestützt und festgehalten und ein stetiger Aufstieg der Menschheit angebahnt werden soll. Eine Überschätzung des unmittelbaren Einflusses der bedeutenden erzieherischen Persönlichkeit führt also zur Vergeudung dessen, was solche Persönlichkeiten während ihrer Lebenszeit in pädagogischer Hinsicht geleistet haben. Wie aber gar, wenn auch nur einige Menschen sich den Einwirkungen der Erziehung entziehen und die physische Macht, deren Anwendung die Gutgesinnten verschmähen, für ihre rechtswidrigen Pläne verwenden? Lehrt nicht jeder Tag, wie einige wenige dank ihrer organisatorischen Überlegenheit ganze Klassen von Menschen ihren selbstsüchtigen Zwecken opfern? Die Tyrannei solcher Gewalt-
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menschen brechen zu wollen durch Reden von den Kanzeln, den Tribünen, von allen Straßenecken ist der einfältige Traum von Schwärmern oder das törichte Beginnen von Schwätzern. Der I. J. B. ist keine Gemeinschaft, die solchen pädagogischen Utopien nachjagt. Seine Erziehungsarbeit lebt nicht von der Hoffnung auf einen, bestenfalls doch nur zufälligen, moralischen Erfolg im öffentlichen Leben. Er beugt sich der Tatsache, daß überall im Leben die stärkere Macht den Ausschlag gibt, gemäß einem Naturgesetz, dessen Unentrinnbarkeit man bedauern mag, das man aber nicht durch Ignorieren vernichten kann. Folgerichtig stellt sich daher der I. J. B. die Aufgabe, das politische Leben, das auf Einrichtungen fußt und durch diese Einrichtungen die Gesellschaft lenkt, dem Rechtsgesetz zu unterwerfen dadurch, daß diese Einrichtungen in den Dienst des Rechts gestellt werden. Die Macht im Staat wird von Menschen gehandhabt. Alles hängt demnach davon ab, daß zum Recht entschlossene Menschen die Macht des Staates in die Hände bekommen. Nur eine geeignete Erziehung aber sichert uns das Dasein solcher Menschen, deren Wille unbeugsam auf das Recht gerichtet ist. Mit dieser Erziehungsaufgabe hat der I. J. B. eine pädagogische Arbeit in den Dienst eines politischen Ziels gestellt. Seine pädagogische Aufgabe ist eingeengt auf die Erziehung von Politikern. Nicht die harmonische Entfaltung aller guten Anlagen in allen Menschen ist das Ziel dieser Erziehung, sondern die moralische Festigung und Ausbildung weniger, geistig und körperlich gesunder Menschen zu politischen Führern. Nicht Machtentfaltung zur Verwirklichung beliebiger Zwecke ist die Aufgabe der dem I. J. B. vorschwebenden Politik, sondern eine Organisation der Gesellschaft, in der das Recht durch äußere Machtmittel gesichert ist. Wir wissen, was das Recht von uns fordert. Wir können es wenigstens wissen, wenn wir die Philosophie befragen. Aber die philosophische Erkenntnis wird so lange Schulweisheit bleiben, bis hinreichend gebildete Menschen ihren Willen mit ihrer philosophischen Einsicht in Einklang gebracht haben werden. Das Ziel des I. J. B. ist, wie man sieht, im Grunde kein anderes als das alte platonische Ideal der Herrschaft der Weisen - ein Ziel, das nur darum noch immer
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ein bloßes Ideal geblieben ist, weil man seine realistische Bedeutung verkannt und es vor allem Versuch als eine vermeintliche Utopie beiseite geschoben hat zugunsten anderer, in Wahrheit weit utopischerer Bestrebungen. Es sind vornehmlich drei Vorurteile, die dieser Aufgabe den Schein des Utopischen zugezogen haben. Die Meinung liegt nahe, es sei hier darauf abgesehen, das politische Genie zu züchten, oder auch, man verfalle in den Mißgriff, Menschen von früh auf in der Vorstellung ihres späteren Führerberufs großzuziehen, oder endlich, man erwarte von dem bloßen Auftreten solcher Führer, wenn ihre Erziehung wirklich einmal gelungen ist, die Vollbringung des politischen Enderfolgs. Der I. J. B. bezweckt so wenig, das politische Genie zu züchten, daß der Sinn seiner Arbeit vielmehr darin besteht, uns von dem zufälligen Dasein des Genies unabhängig zu machen, damit wenigstens die besten verfügbaren Kräfte den Weg zur politischen Führung nicht verfehlen. Wenn uns aber der Zufall eine überragende Begabung beschert, so bleibt es auch dann noch eine Erziehungsaufgabe, dem Zufall die Entscheidung zu entzielien, in den Dienst welcher Zwecke das Genie seine Kräfte stellt. Der I. J. B. hat ferner keine Kronprinzenerziehung im Sinn. Die Erziehungsgemeinschaft umfaßt alle, die kraftvoll genug sind, um gewisse Mindestforderungen der harten Willensschulung, die hier geübt wird, zu bestehen. Nach und nach werden sich aus dieser Schar von selbst diejenigen herausheben, die dank ihren geistigen und sittlichen Anlagen das, was die Erziehung bietet, besser zu nutzen verstehen als die anderen. Sie werden von selbst zu Führern ihrer Kameraden werden. Erziehungsgemeinschaft wird sein zwischen denen, die führen, und denen, die folgen, und damit klärt sich bereits das letzte Mißverständnis auf, als ob der Bund allein durch die Heranbildung der Führer sein Ziel zu erreichen gedächte. Die weitere Aufgabe des Bundes liegt gerade darin, den künftigen Führern eine Gefolgschaft heranzubilden, die verständnisvoll und zuverlässig mit ihnen geht, und ohne deren Bereitstehen das Wirken der Führer zu jenem verzweifelten Ringen gegen den Widerstand einer feindlichen über-
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macht verurteilt wäre, von dem die Geschichte der gescheiterten Reformationen so viele tragische Beispiele liefert. Der Aufstieg innerhalb der engeren Erziehungsgemeinschaft des Bundes ist die Vorstufe zum Aufstieg im öffentlichen Leben. Dieser Aufstieg wird ermöglicht durch die Gefolgschaft der Bundeskameraden, die ihrerseits, wenn die Stunde gekommen sein wird, zu einer Partei des Rechts zusammentreten sollen. Mag dieses Ziel noch in der Ferne liegen, es rückt näher nur durch planmäßige Arbeit in der Richtung auf dieses Ziel. Die Planmäßigkeit solcher Arbeit wird in aller Strenge nur gesichert sein in einer freien internationalen Akademie und einer ihr angegliederten Schule. Der I.J.B. strebt mit aller Kraft dahin, eine solche philosophisch-politische Akademie ins Leben zu rufen. Um die finanziellen Mittel herbeizuschaffen, ohne die in dieser Welt kein ideales Gebilde Halt gewinnen kann und ohne deren Hinzukommen alle persönlichen Opfer, die für die Idee gebracht werden, ins Ungewisse gestreut sind, hat sich dem I. J. B. die »Gesellschaft der Freunde der philosophisch-politischen Akademie (Leonard Nelson) E. V.« zur Seite gestellt, die Freunde und Gönner für dieses Hilfswerk zu werben sich bemüht. Ob dieses Hilfswerk in hinreichendem Maß zustande kommt, davon hängt es allein noch ab, ob der im I. J. B. empordrängende starke Zukunftswille sein Ziel erreichen wird. Doch auch mit der Errichtung der Akademie wird die Tätigkeit des I. J. B. keineswegs überflüssig werden. Wie er jetzt in verschiedenen Ortsgruppen Pionierarbeit leistet, so wird er nach Errichtung der Akademie das Schöpfbecken darstellen, aus dem das Zentralinstitut die geeigneten Lehrer und Schüler herauszieht. Er wird f erner die Arbeit für den Aufbau der Partei des Rechts weiterführen und den in der Akademie Geschulten das erste Tätigkeitsfeld in der Öffentlichkeit darbieten. Der I. J. B., der die Vorbereitung dieser beiden Aufgaben mitten im Krieg und unter dem Druck der nationalistischen Flut in Angriff genommen hat, arbeitet zurzeit in verschiedenen Städten Deutschlands und der Schweiz unter strenger Auslese in geschlossenen, fest organisierten Gemeinschaften, die junge Menschen aus allen Volks-
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klassen umschließen. Die körperliche, geistige und organisatorische Ausbildung schreitet nach methodischem Stufengang fort. Die ehrliche Erfüllung der hier gestellten Aufgaben bietet die Grundlage der eigentlichen Charaktererziehung. Jedes Jahr findet unter der Führung des Bundesleiters ein zehntägiger Kurs statt, der die Tüchtigsten aus den verschiedenen Ortsgruppen vereinigt und sie zugleich in eine enge Arbeitsgemeinschaft bringt mit den älteren Freunden des Bundes. Ein Freundesrat, der seine Anhänger unter den international gesinnten und geachteten Männern und Frauen der verschiedenen Länder hat, steht dem I. J. B. zur Seite. Es kann in der Welt nicht besser werden durch bloße Vorschläge und Programme. Es kann auch nichts dadurch besser werden, daß junge Menschen in einem sorgfältig ausgewählten pädagogischen Milieu zur Entfaltung ihrer guten Anlagen gelangen, in der Hoffnung, daß sie sich schon behaupten und andere in den Bannkreis ihrer Persönlichkeit ziehen werden. Es kann nur dadurch besser werden, daß sich den despotischen Organisationen, wie sie im Dienst des Imperialismus, des Kapitalismus, des Klerikalismus wirken, eine Organisation freier Menschen entgegenstellt, die, indem sie den Kampf um die Macht aufnimmt, überhaupt erst die Aussicht eröffnet, daß alle auf die Befreiung der Menschheit gerichteten Bestrebungen ihrerseits einen Erfolg erzielen.
Gotteslästerung
Erschienen in: »Ausnahmezustand«, eine Anthologie aus »Weltbühne« und »Tagebuch«, herausgegeben von WOLFGANG WEYRAUCH, Verlag Kurt Desch, München 1966. S. 192-193
Zur Zeit der Drucklegung dieses Heftes ist das richterliche Urteil im Gotteslästerungsprozeß gegen CARL EINSTEIN und seinen Verleger ERNST RowoHLT noch nicht gefällt. Ich halte es nicht für notwendig, daß das Strafgesetzbuch der deutschen Republik eine Schutzbestimmung für den Gotteslästerungsbegriff enthält; denn 1. Gott bedarf keines Schutzes. Ihn gegen Urteile von Menschen schützen zu wollen, ist - wenn überhaupt etwas - selbst eine Gotteslästerung. 2. ist eine damit zusammenhängende gesonderte Schutzbestimmung der Kirche oder religiöser Gemeinschaften überflüssig, da diese nach der allgemeinen Schutzbestimmung über Beleidigung bereits dem staatlichen Schutz unterstehen. Eine gesonderte Schutzbestimmung der Kirche sollte um so mehr entfallen, als nach der neuen Verfassung Staat und Kirche als getrennt zu gelten haben. Das Werk CARL EINSTEINS »Die schlimme Botschaft« ist offensichtlich der Ausdruck einer ernsten ethischen Gesinnung. Ich möchte das um so mehr betonen, als in Hinsicht des Stils und der Gedankenverbindungen mein Verständnis vielfach versagt. Ich finde in dem Werk CARL EINSTEINS, dessen Tendenz sich, wie mir scheint, geradezu mit dem christlich asketischen Ideal nah berührt, nicht so sehr eine Interpretation von JEsus' Persönlichkeit als vielmehr eine solche ihrer Wirkung auf bestimmte Arten von Menschen. Der wirklich religiöse Mensch kann durch die Einsteinsehen Szenen gar nicht gekränkt oder auch nur angegriffen werden, und ich möchte annehmen, daß ich damit auch des Verfassers Absicht treffe. Wenn jemand sich durch EINSTEINS Sprache in seiner Religiosität verletzt fühlt, so wirft das ein merkwürdiges Licht auf die eigene Gläubigkeit dessen, der solche Klage erhebt. Tagebuch, 1922
Der Fall Gumbel
Erschienen in: ISK, Mitteilungsblatt des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes, Jahrgang 1, Heft 44 vom April 1926, S. 69-71 Die Herausgeber der Zeitschrift stellen dem Abdruck die folgende Vorbemerkung voran: Wir drucken hier das bisher unveröffentlichte Gutachten ab, das LEoNARD NELSON auf Wunsch der deutschen Liga für Menschenrechte im August 1925 erstattet hat zu dem Beschluß der philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg (vom 16. Mai 1925) über den Privatdozenten Dr. GuMBEL. Dem Beschluß der Fakultät war, wie man sich erinnern wird, eine Rede GuMBELS in einer pazifistischen Versammlung vorangegangen, in der GuMBEL sich gegen die Bezeichnung des Schlachtfeldes als des »Feldes der Ehre« gewandt hatte. Da nach Pressemeldungen ein neuer Vorstoß der Universität gegen GuMBEL droht, erscheint es tunlich, der Offentlichkeit nicht länger das Gutachten vorzuenthalten, das ohnehin dadurch interessant ist, daß es ein grelles Licht auf die Zustände an unseren Hochschulen wirft.
Das Auffallendste an dem Beschluß der philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg ist die darin enthaltene Unklarheit. Man sucht vergeblich nach einem greifbaren Vorwurf, der GUMBEL gemacht wird. In dem zweiten der beiden Gutachten, auf die sich der Beschluß der Fakultät stützt, heißt es ausdrücklich:» Wo dieser Idealismus in Frage kommt, hat er Mut, nicht nur die Zivilcourage, zu sagen, was er denkt, sondern den Mut zum Wagnis seines Lebens.« Und die Fakultät selbst kommt, indem sie das Ergebnis der Gutachten und ihre eigene Meinung zusammenfaßt, zu dem Urteil, daß GuMBEL sich keines Vergehens schuldig gemacht habe, das ein Einschreiten gegen ihn rechtfertige. Aber unmittelbar danach findet sich die Behauptung: »Dr. GuMBEL hat durch sein Verhalten das Vertrauen, das seine Stellung erfordert, aufs Schwerste erschüttert.« Diese Unklarheit in der Beurteilung des Gumbelschen Verhaltens wird freilich begreiflich, wenn man in dem Gutachten liest, daß »es durchaus unbestimmt ist, was der Würde und dem Niveau der Universitätentspricht.«1 Die hiermit klar eingestandene Unfähigkeit.für die Beurteilung der Angelegenheit einen Maßstab zu finden, müßte die Fakultät folgerichtig dazu nötigen, sich jedes Urteils über die Persönlichkeit des Hochschullehrers GuMBEL zu enthalten. Im Grunde tut sie dies auch; denn das in mannigfachen Wendungen wiederkehrende Urteil, »daß ihr die Zugehörigkeit Dr. GuMBELs zu ihr als durchaus unerfreulich erscheint«, ist überhaupt kein Urteil über GuMBEL, sondern stellt nur die Gefühle persönlicher Abneigung der Fakultätsmitglieder fest. Alles, was die Fakultät über solche Äußerungen der Abneigung hinaus gegen GuMBEL vorbringt, beschränkt sich darauf, daß er einen »geradezu elementaren Mangel an Takt« aufweise, einen Mangel, der darin zutage getreten sei, daß GuMBEL »in keiner Weise das Bedürfnis empfand, durch Zurückhaltung der gegen ihn angehäuften Mißstimmung Rechnung zu tragen«, daß er nicht imstande ist, »auch nur diejenigen Gefühle zu achten, die den weitaus über1
Man möchte nicht glauben, es mit der Kundgebung einer philosophischen Fakultät zu tun zu haben, wenn man in dem auf dieses Eingeständnis unmittelbar folgenden Satz liest, daß es »doch wohl als charakteristisch für GuMBEL« anzusehen sei, »daß er Interessen der Universität eigentlich für sich nicht kennt.«
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wiegenden Teil der Mitglieder der akademischen Korporation beseelen,« und daß »auf den Frieden der Universität Rüci{sicht zu nehmen, sich still zu verhalten angesichts eines verbreiteten Unwillens, Provokationen zu vermeiden, seinen Gedanken selbst als Problem fernliegt«. Das Verschulden GuMBELS besteht also darin, sich nicht um die in seiner Umgebung bestehenden Machtverhältnisse gekümmert zu haben. Ihn deshalb taktlos zu nennen, sollten gerade die vermeiden, die den bloßen Machtstandpunkt auch nicht immer gutheißen, z. B. dann nicht, wenn er von den Siegern im Weltkrieg eingenommen wird. Und es ist sicher nicht im Interesse der »nationalen Würde«, diesen Machtstandpunkt in den akademischen Kreisen zu begünstigen, einen Standpunkt, der auf der einen Seite zum Faustrecht, auf der anderen Seite zum Duci{mäusertum und zur Kriecherei führt. Nun ist allerdings nicht jeder, der sich gegen die bestehenden Verhältnisse wendet, allein deswegen schon als ein Vertreter des Fortschritts zu begrüßten; es gibt Menschen, die eine gewisse Freude am bloßen Krakeelen haben. Daß indessen GuMBEL zu diesen Menschen gehört, dafür bietet die Denkschrift der Fakultät keinen Anhalt. Vielmehr ist anzunehmen, daß er als bloßer Krakeeler keine Ursache hätte, den »Mut zum Wagnis seines Lebens« aufzubringen. Was GuMBEL leitete bei seinen Handlungen, das war offensichtlich der Wunsch, die Wahrheit zur Geltung zu bringen. Und zu Zeiten, als es noch durchaus bestimmt war, »was der Würde und dem Niveau der Universität entsprach«, galt dieses Ziel, die Erforschung und Verkündung der Wahrheit, als der vornehmste Zweci{ der Universität. Aber mit der Veröffentlichung seiner beiden Schriften »Vier Jahre Mord« und »Verschwörer« hat GuMBEL nicht nur der Wahrheit gedient. Und es ist auch nicht der dabei bewiesene Mut allein, was ihm an dieser Tat besonders hoch anzurechnen ist. Es lag auch im Interesse der »nationalen Würde« - deren Idee zu vertreten nach dem Urteil der Fakultät eine Aufgabe der Universität ist-, und es war eine große wahrhaft patriotische Tat, den Schändern der Nation, den Aposteln des Meuchelmords und der Klassenjustiz, rüci{sichtslos mit der Wahrheit entgegenzutreten.
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Vergleicht man unbefangen die Kundgebung der Fakultät mit den Schriften GuMBELs, so wird man es keineswegs für ausgemacht halten, daß, wie im Gutachten gesagt wird, GuMBEL der Universität eine Position verdankt, »die ihm eine im Vergleich zu bloß privatem Dasein erhöhte Stellung gibt«. Moralisch verleiht vielmehr GuMBEL der Universität eine erhöhte Position, und ich will hoffen, daß das eintritt, wovor die Fakultät sich fürchtet, daß nämlich nicht die Universität GuMBEL, sondern daß GuMBEL der Universität ein Relief gibt.
Lebensnähe
Erschienen in: ISK, Mitteilungsblatt des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes, Jahrgang 1, Hefl: 3 und 5 vom März und Mai 1926, dort mit dem Untertitel: »Aus einer Rede vor der Kasseler Arbeiterschafl:«. In der Rede legt NELSON dar, was ihn und seine Mitarbeiter zur Gründung des ISK veranlaßt hat. Die Mitglieder des IJB (vgl. den Aufsatz: »Der Internationale Jugend-Bund«, S. 341 ff. ds. Bds.), der selber keine politische Partei war, hatten nach dem ersten Weltkrieg zunächst in verschiedenen sozialistischen Parteien, seit 1923 jedoch geschlossen innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) gearbeitet. Im November 1925 beschloß deren Parteivorstand den Ausschluß der IJB-Mitglieder aus der SPD. Die IJB-Führung antwortete darauf mit der Gründung einer eigenen Partei, des ISK. Eine mit Quellennachweis versehene Darstellung der Vorgänge findet sich bei WERNER LINK: »Die Geschichte des Internationalen Sozialistischen Jugend-Bundes (IJB) und des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes (ISK)«, Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschafl:, herausgegeben von \'v'OLFGANG ABENDROTH, Band 1, Meisenheim 1964. Wie NELSON im Vorwort zur 2. Auflage seiner Schrifl: »Demokratie und Führerschaft« (S. 390 ds. Bds.) bemerkt, plante er, die Rede unter dem Titel: »Das zerschnittene Tischtuch. Sozialismus oder Demokratie?« in der Schrifl:enreihe »öffentliches Leben« neu herauszugeben. Das ist jedoch nicht geschehen.
Das Programm der SPD ist nicht so schlecht; es war wenigstens nicht so schlecht bis zu seiner Abänderung in Heidelberg im letzten September. Man kann da einen gewissen Vorbehalt machen. Aber was uns trennt von der SP, das sind nicht die geringen Vorbehalte am Programm. Es ist etwas ganz anderes, und etwas so überaus Einfaches, daß man sich fast scheut, es auszusprechen. ANNA S1EMSEN hat es im Grunde ausgesprochen - eine alte SPD-Genossin, die alles andere ist als ein Freund des IJB, die ihn vielmehr jederzeit bekämpft hat. Sie schreibt in den» Jungsozialistischen Blättern«, nachdem man ihr anderswo die Aufnahme des Artikels in der Parteipresse verweigert hat: »Es geht hier nicht um NELSON und seine Schule. Es geht um die Ehrlichkeit, Sachlichkeit, Anständigkeit und Kameradschaftlichkeit ... Diese sind die Grundlagen jeder demokratischen Organisation wie jeder proletarischen Bewegung.« Und die »Sozialistischen Monatshefte«, die von jeher den rechten Flügel der SPD vertreten, schreiben, nach einer Abweisung der »Luftschlösser« und »Phantasien« des IJB, die einer »Bankrotterklärung« gleichkommen: Es sei »trotzdem« nicht einzusehen, »warum man gegen den Bund mit einer Ausschlußerklärung vorgegangen ist«. Denn: »Aufklärungs- und Bildungsarbeit, die sich eine Erhöhung des individuellen Verantwortungsbewußtseins im Handeln und Denken des einzelnen zum Ziel setzt, ist eins der wesentlichen Momente, die eine wirkliche Demokratie verlangt.« In der Tat: »Erhöhung des individuellen Verantwortungsbewußtseins«, dieses »wesentliche Moment einer wirklichen Demokratie«, war das Ziel der Wirksamkeit des IJB innerhalb der Sozialdemokratischen Partei - jenes »besondere Ziel«, durch dessen Verfolgung innerhalb dieser Partei der Bund - laut Beschluß des Parteivorstands - organisationsschädigend wirken mußte. In meiner Sprache ausgedrückt: Was uns trennt von der SP ist unsere Auffassung von sozialistischer Arbeit. Hier gibt es wirklich einen tiefgehenden Unterschied. Worauf beruht nun dieser Unterschied? Er beruht zunächst darauf, daß wir festhalten an der Auffassung,
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wonach der Sozialismus eine Sache der Wissenschaft ist, wonach es so etwas gibt, wie einen wissenschaftlichen Sozialismus. Das ist eine Behauptung, die die Führer der Partei zwar auch noch im Munde führen, die aber für sie eine leere Redensart geworden ist. Wir halten fest an der Wissenschaft des Sozialismus. Und wir halten diese Wissenschaft nicht für abgeschlossen, sondern wir halten sie einer Erweiterung, einer Vertiefung für fähig. Und an der arbeiten wir. Und zwar arbeiten wir am Ausbau der Wissenschaft des Sozialismus nicht, um uns theoretisch zu amüsieren, weil wir so viel Zeit haben, die wir uns nicht anders vertreiben können, sondern wir arbeiten daran, weil das die sozialistische Praxis bitter nötig hat. Die sozialistische Praxis bedarf fester Grundsätze und klarer Richtlinien, die weder von oben her durch Diktate, noch von unten her durch Abstimmungen festgesetzt werden können - die nur gefunden werden können durch sachliche, unvoreingenommene, wissenschaftliche Untersuchung. Eine Untersuchung, deren Ergebnis dann jedermann zugänglich gemacht werden kann. An der so verstandenen Wissenschaft des Sozialismus fehlt es heute, fehlt es auch gerade bei denen, die den sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus immer im Munde führen. Hier liegt recht eigentlich der innerste Kern der Tragödie des Sozialismus und der ganzen Entwicklung der SP. Und das wird auch die Tragödie der KP sein, wenn sie nicht lernt aus den Erfahrungen der SP, wenn sie nicht lernt aus ihren eigenen Erfahrungen. Jedes Blatt in der Geschichte der SP führt uns diese Tragödie vor Augen. Der Sozialismus hat in der durch MARX angeblich auf die Füße gestellten Hegelschen Dialektik eine Theorie gefunden, die nicht haltbar ist gegenüber strenger, vorurteilsloser, wissenschaftlicher Prüfung. Diejenigen, die treu zu den Zielen des sozialistischen Befreiungskampfes standen, haben sich gegenüber ihren opportunistischen Gegnern stets zu klammern gesucht an diese überlieferte Theorie, um dort einen Halt zu finden für eine feste grundsätzliche Politik. Aber dieser Halt zerrinnt ihnen in den Händen, und die Dogmen zerbrechen angesichts der Gewalt der ihnen widerstreitenden Tatsachen. Und das führt unfehlbar zu einem Triumph der opportunistischen Gegner. Es ist nicht zufällig, daß von Jahrzehnt zu Jahrzehnt der opportunistische Flügel in der Partei immer mehr an
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Boden gewonnen hat. Es ist nicht zufällig, daß er schließlich auf der ganzen Linie gesiegt hat. Es ist nicht zufällig, daß die Partei gestrandet ist auf dem Sande des Opportunismus. Daraus ergeben sich für uns praktisch sehr einschneidende Folgen. Wenn nämlich eine Sache wissenschaftlich feststellbar ist, dann soll man sie wissenschaftlich feststellen. Wenn sie aber wissenschaftlich festgestellt ist, dann entzieht sie sich aller Abstimmung, wie überhaupt aller willkürlichen Beschlußfassung. Dann gibt es darüber Mehrheitsbeschlüsse von unten so wenig wie diktatorische Beschlüsse von oben. In diesem Zusammenhang erlangt auch die Philosophie ihre praktische Bedeutung. Der Opportunismus braucht keine Philosophie. Denn er will ja keine Grundsätze. Oder, wenn er eine Philosophie braucht, dann braucht er sie zur Maskierung seiner Grundsatzlosigkeit. So erklärt es sich, daß mit der zunehmenden Herrschaft des Opportunismus in der SP diese Partei mehr und mehr zurückgekehrt ist zu einem offenen Bekenntnis zur Philosophie des bürgerlichen Philosophen HEGEL, zu jenem berüchtigten Satz: »Das Wirkliche ist das Vernünftige, und das Vernünftige ist das Wirkliche.« Da kennt man nicht das, was man uns vorwirft als unsere »metaphysische Zerreißung« von Sein und Sollen, von Wirklichkeit und Vernunft. Was heißt das, wenn man die tiefsinnig klingenden Worte beiseite läßt? Was heißt das, einfacher gesprochen? Es heißt: Untertänigkeit gegenüber den bestehenden Machtverhältnissen! Verbot jeder Kritik an den bestehenden Tatsachen! Zur Beschönigung solcher Untertanenpolitik braucht man diese Philosophie, so wie auch HEGEL selber diesen Philosophenmantel brauchte, um seine opportunistische Willfährigkeit gegenüber der damaligen brutalen reaktionären Machtpolitik in Preußen und Österreich zu bemänteln. Diese »Identitätsphilosophie«, wie man sie treffend nennt, lehnen wir ab. Wir orientieren uns in bezug auf unser Ziel-nicht an dem, was wir als wirklich vorfinden, sondern wir erlauben uns Kritik an der Wirklichkeit, an jeder Wirklichkeit, selbst an der Wirklichkeit in der Partei. Statt unser Ziel der Wirklichkeit anzupassen, versuchen wir, die Wirklichkeit dahin zu bringen, daß sie wird, wie sie
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dem Ziel nach sein soll, nämlich zum Sozialismus. In der Sozialdemokratischen Partei wird es heute umgekehrt verlangt. Da macht man nicht Kompromisse mit der Wirklichkeit, um dem Ziel näher zu kommen, sondern man kompromittiert das Ziel, um sich nicht mit der Wirklichkeit zu entzweien. Und weil man nicht zu trennen versteht und nicht trennen will zwischen dem, was wirklich ist, und dem, was werden soll durch unsere Arbeit, darum treibt man Schönfärberei mit der Wirklichkeit, kurz: man spekuliert und schwärmt, statt sich an die Erfahrung zu halten und aus ihr zu lernen. Man beschließt am grünen Tisch, wie die Wirklichkeit sein muß und wie sie nicht sein kann, statt sie unvoreingenommen zu betrachten und daraus seine Schlüsse zu ziehen. Die Achtung der Tatsachen, auf die man sich soviel zugute tut, die »Fühlung mit den geschichtlichen und wirtschaftlichen Wirklichkeiten«, wie man sie bei uns vermißt, nimmt dabei ein merkwürdiges Gesicht an. Wir haben in letzter Zeit erlebt, wie WILHELM MARX als Reichskanzler (und zugleich Justizminister) durch Beschluß bewirkt hat, daß die Widersprüche zwischen dem bayerischen Konkordat und der Reichsverfassung verschwanden. Diese - bei dem geschulten Katholiken allerdings nicht überraschende - Kunst, mit widerspenstigen Tatsachen durch willkürliche Machtsprüche fertig zu werden, hat sich die SP offenbar zum Vorbild genommen. Tatsachen, die ihr nicht passen, schafft sie durch Beschlüsse aus der Welt, und Tatsachen, die ihr erwünscht sind, zaubert sie durch Beschlüsse herbei. - Ein Beispiel! Auf dem Parteitag in Heidelberg spielte eine große Rolle der berühmte Sachsenkonflikt, der nun schon lange genug währte und endlich eine Beilegung verlangte. Die Stimmung schien unversöhnlich zu sein, und es war nicht abzusehen, wie dieser Konflikt geschlichtet werden sollte. Aber nichts Einfacheres für den Parteivorstand! Es wurde durch Abstimmung beschlossen: Der Konflikt besteht nicht. Da mußte die Opposition sich fügen. Ein Gegenbeispiel bietet der Fall des IJB, wo ein Konflikt im Ernst noch gar nicht bestanden hatte, sondern nur durch bösartige Verleumdungen und Gerüchte vorgetäuscht war. Hier galt es, um der Aufrechterhaltung dieser Täuschung willen, das Bestehen des Konfliktes zu beschließen. Daher der Beschluß des Parteivorstands:
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Der IJB muß parteischädigend wirken! Und: Die Kritik an der Demokratie muß den Widerspruch der gesamten Partei hervorrufen! Und so wie in diesen kleinen Dingen, so geht es mit den großen, den großen Dingen, zu denen man im Programm Stellung nimmt. Auch die programmatischen Erklärungen kommen durch Mehrheitsbeschlüsse zustande. Man beschließt, wie die Entwicklung der Gesellschaft vor sich gehen muß, damit sie so verläuft, wie man wünscht, daß sie verlaufe. In den »Jungsozialistischen Blättern« schreibt der bekannte Parteitheoretiker RADBRUCH über die Demokratie, die er über alles verherrlicht. Und er sagt, um sie so verherrlichen zu können: »In der formalen Demokratie waltet eine immer unwiderstehlichere Schwerkraft, die sie zur wirklichen sozialen Demokratie unabwendbar hinbewegt.« Genossen, das kann nur einer sagen, der das unbekümmert um alle Lehren der Erfahrung aus dem Kopf erfindet. Einer der Jungsozialisten, mit denen wir in Frankfurt über denselben Gegenstand diskutiert haben, sagte schließlich: »Ich gebe zu, die Demokratie hat in der Praxis ihre schweren Mängel: aber die Idee ist glänzend.« Das sagt ein Materialist! Und LÖWENSTEIN, der Fachmann der SPD für Schulfragen, erklärt angesichts des Reichsschulgesetzentwurfes und der drohenden Verkirchlichung der ganzen deutschen Schule: Nur keine Sorge, die weltliche Schule muß kommen! Denn das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewußtsein, und im gesellschaftlichen Sein »ist die weltliche Schule ganz Gegenwart«; sie ist es nur noch nicht ganz im Bewußtsein. Man beobachtet, daß sich in der Industrie der Großbetrieb ausbreitet und der Kleinbetrieb niederkonkurriert wird. Diese Beobachtung paßt zu der Theorie, die die Verwirklichung des Sozialismus von der allmählichen Sozialisierung der Produktionsmittel erwartet. Man beschließt daher, es finde eine naturnotwendige Entwicklung statt, wonach in der kapitalistischen Gesellschaft der Kleinbetrieb untergehen muß. Die Folge davon ist, daß auch die kleinen ländlichen bäuerlichen Betriebe untergehen müssen: verschluckt werden müssen vom Großgrundbesitz. - Kein Wunder, daß die kleinen
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Bauern, die nicht untergehen wollen, wenig erbaut sind von dieser Politik der SP und daß sie ihr nicht in Scharen zuströmen, sondern sich von der Reaktion einfangen lassen, und daß die SP mit ihren sonst großen Mitgliederzahlen in eine heillose politische Lage gerät. Dies ist eine Philosophie, die gut zum Opportunismus paßt. Aber es ist eine Philosophie, der man mit einem zweifelhaften Recht »Lebensnähe« nachrühmt. Wenn dies Lebensnähe ist, so ist es die Lebensnähe jenes Genossen PALMSTRÖM, der, als er durch ein vorbeisausendes Automobil einen Unfall erleidet, beschließt, der Unfall könne nicht stattgefunden haben, »weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf«. Dem IJB mit seiner Zerreißung von Wirklichkeit und Sollen geht in der Tat diese Lebensnähe ab. Dafür beherrscht diese Lebensnähe heute die Köpfe der Sozialdemokratie so vollständig, daß die ganze Partei mit ihrem Tun und Lassen in ihren Bann gezogen wird und daß in ihr das, was wir Arbeit für den Sozialismus nennen, immer mehr zur Unmöglichkeit geworden ist. Die »Leipziger Volkszeitung« spricht das unentwegt wieder einmal aus: »Das Proletariat« - wir kennen die alten Worte, wir kennen sie auswendig, und wir glauben deshalb schließlich, sie seien wahr- »das Proletariat ist Träger der sich im Schoße der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung vorbereitenden Revolution und deren Vollstrecker. Der Kampf wird geführt nicht um die Realisierung irgendwelcher absoluter Ideen, sondern um die Beschleunigung einer gesetzmäßig sich vollziehenden gesellschaftlichen Umwälzung.« Die Entwicklung zum Sozialismus muß sich also vollziehen, mögen wir dafür oder dagegen tun, was wir wollen. Andere aber sind am Werk und arbeiten; denn sie haben diesen Notwendigkeitsaberglauben nicht. Sie sind am Werk und arbeiten, um das Kommen des Sozialismus zu verhindern. Auf sozialistischer Seite nur immer die Mahnung an die Parteigenossen: zu bauen auf die im Schoße derbestehenden Gesellschaft sich gesetzmäßig vorbereitende Umwälzung, kurz: zu beten, während die Gegner wenigstens beten und arbeiten. Ja: Beten! Eine merkwürdige Auffassung von Gesetzmäßigkeit hat in der Tat der philosophische Verfasser dieses Artikels der »Leipziger Volkszeitung«. Nach ihm ist gerade das nicht wahr, daß
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- wie ich mir erlaubt habe, zu behaupten - die Gesellschaft unter Naturgesetzen steht. Er bestreitet das: »Die Gesellschaft steht nach NELSONS Philosophie restlos unter dem Naturgesetz. Das mag die Auffassung des 18. Jahrhunderts sein. Heute hat uns die Gesellschaftswissenschaft auf Schritt und Tritt bewiesen, daß die menschliche Gesellschaft einer besonderen Gesetzlichkeit, die sogar auf jeder Entwicklungsstufe eine andere ist, unterliegt.« Wohlgemerkt, die Gesetzlichkeit, unter der die Gesellschaft steht, ist zu jeder Zeit eine andere! Der Wechsel der Gesetze, der hiernach behauptet wird, vollzieht sich also seinerseits nicht gesetzmäßig. Er ist buchstäblich ein Wunder. Kein Kirchengläubiger, kein Fetischist kann diese Wundergläubigkeit überbieten. Heute herrschen diese Gesetze, morgen andere, und der Übergang von heute auf morgen ist ein Wunder. An dieses Wunder muß man glauben, zu diesem Wunder muß man beten; dieses Wunder zaubert den Sozialismus hervor; aller Anlaß und alle Möglichkeit zu eigenem Arbeiten entfällt. Es ist wahrhaftig angebracht, hier die schönen Worte anzuführen, die ERICH MÜHSAM den Sozialdemokraten gewidmet hat in seinem Gedicht »Das Volk der Denker«: 0 armes Volk, von aller Welt betrogen, im Kampf besiegt, im Sehnen selbst besiegt, sinnst du, das Hirn mit Wissen vollgesogen, der Frage nach, woran dein Unglück liegt. Und schon gelingt dir trefflich zu erklären, warum bei so beschaffner Produktion des einen Teil der Schweiß ist und die Schwären, des andern Teil Theater, Sport und Spohn. Materialistisch weißt du zu begründen der Wirtschaftsform Naturnotwendigkeit, und widerlegst den Wahn von Schuld und Sünden als Narrenglauben der Vergangenheit. Wie scheint der Mahner dir naiv und komisch, der an die Seele pocht: Wach auf! Hab Kraft! Du rechnest, wann historisch-ökonomisch die Stunde reift auf Grund der Wissenschaft. Du lachst des Spruchs: Tat wachse nur aus Wollen, der manchmal noch in wirren Köpfen spukt. Du siehst am Faden die Entwicklung rollen, erkennst dich selbst als deiner Zeit Produkt.
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Du lerntest längst in Phasen zu begreifen den Aufstieg der Geschichte und Kultur, und lehntest ab, in Träumerei zu schweifen: Kleinbürger-Utopien hemmen nur. Du kennst die Welt, durchdenkst sie dialektisch; empirisch ist dein Tun, dein Sinn real! Sind deine Kinder skrofulös und hektisch - du weißt Bescheid: so wirkt das Kapital. Und stehn sie hungrig vor des Reichen Türen, der dich- Rebell! vertrieb aus der Fabrik, du senkst den Kopf in Bücher und Broschüren zum Studium der sozialen Republik. Und liest: die Erde gäbe allen reichlich, gehörte sie nur allen; und du liest: der schnöden Gegenwart folgt unausweichlich die Zukunft, die ein freies Volk genießt. Die Zukunft kommt! Von selbst und ungerufen! In stolzem Trost schwelgt deine Phantasie. Nur eine Serie von Entwicklungsstufen steht noch bevor. - So lehrt's die Theorie. Du liest und lernst, den Rücken krumm gebogen durchwühlst du Heft um Heft und Band um Band. 0 armes Volk! Von aller Welt betrogen, betrügst du selbst dich um dein Sehnsuchtsland. Diese »Lebensnähe«, wie man es - man spottet seiner selbst und weiß nicht wie - nennt, Genossen, die nimmt den Kopf gefangen, der bei anderen frei ist für die Aufnahme von Tatsachen. Der Aberglaube an diesen Zauber, durch Beschlüsse und Abstimmungen Tatsachen zu schaffen oder zu vernichten, reicht hinein bis in die Wissenschaft, oder besser: bis in das Gebiet, das man in diesen Kreisen »Wissenschaft« nennt. Was soll man von der Stellung der Sozialdemokratie zur Wissenschaft sagen, wenn man sich dort mit einer philosophisch-politischen Lehre durch das Urteil abfindet, es werde wenig »Neigung« vorhanden sein, sich mit ihr einzulassen. Das Urteil hängt also davon ab, ob eine Mehrheit da ist, die geneigt ist, sich mit der Sache einzulassen. Und dieses Urteil, das von dem offiziellen Parteiphilosophen MARCK stammt, erklärt der noch offiziellere Parteitheoretiker HILFERDING für »objektiv und erschöpfend«. So wird in der SPD alles abgedrosselt, was mit ehrlicher Forschung, ehrlicher Arbeit zu tun hat.
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Freilich, mit Wissenschaft, mit Forschen allein ist es nicht getan. Man kann nicht- auch mit der Nelsonschen Philosophie nicht-, wie neulich ein Jünger der Wissenschaft sagte, »debattierend jeden Feind erledigen«. Das ist eine kindliche Auffassung, die wir denen überlassen wollen, die die Deutsche Linke im Kaffeehaus aktionsfähig machen möchten. Zum Wissen muß etwas anderes hinzukommen. Wissen ist noch nicht immer Macht. Und wenn es Macht ist, so kann diese Macht wie jede andere mißbraucht werden. Auch die Macht der Wissenschaft wird mißbraucht zu den Zwecken der Menschenschlächterei und der wirtschaftlichen Ausbeutung der Massen. Zum Wissen muß für den Sozialisten hinzukommen, daß man in den Stand gesetzt wird, für seine Sache zu kämpfen. Denn die Welt wird sich nie nach dem richten, was in den Büchern steht, und wenn es tausendmal wissenschaftlich begründet ist. Nicht die Theorie bestimmt die Praxis, sondern die Macht der für oder gegen eine Sache sich einsetzenden Interessen. In diesem Sinne wird die materialistische Geschichtsauffassung immer recht behalten. Die Gegner des Sozialismus wenigstens - und das ist hier ausschlaggebend - handeln nach dieser Auffassung, wenn sie sich auch nur selten mit der dankenswerten Offenheit zu ihr bekennen, wie dies soeben die demokratische »Göttinger Zeitung« (vom 7. Februar) tut, die mit dürren Worten erklärt: »Selbst wenn man wie NELSON die sozialistische Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung als die gerechteste auf Erden ansehen sollte, wer sagt dann, daß man die Herbeiführung eines solchen Zustandes auch wirklich will? Muß man denn unbedingt wollen, was man erkannt hat?« Was hinzukommen muß zum Wissen um den Sozialismus, das ist der Kampf um seine Verwirklichung, der Kampf mit den Nutznießern der herrschenden Unterdrückung; das ist, da uns solche Kämpfer nicht in den Schoß fallen, Erziehung zu sozialistischer Arbeit. Da beruft man sich aber lieber auf den Satz von MARX: »Der Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses schult, vereinigt und organisiert die Arbeiterklasse.« Und so überläßt man es dem Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses, die Arbeiter zu schulen, zu vereinigen und zu organisieren. Wie sieht
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nun aber diese Schulung, diese Vereinigung, diese Organisierung der Arbeiterschaft aus? An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! Auch die Schulmeister! Die wachsende Zerrissenheit innerhalb der Arbeiterschaft, der Bruderkampf zwischen den verschiedenen sozialistischen Parteien, 1¾ Millionen Arbeiter in den christlichen Gewerkschaften - das sind solche Früchte, wie sie uns unter dem Wirken des Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses zufallen. Wenn die Arbeiterklasse trotzdem heute noch so etwas hat wie Ansätze zu wirklicher Schulung und Organisation, so verdankt sie das, wie ich glaube, anderen Schulmeistern. Sie verdankt das, wie ich glaube,ihren großen Führern: MARX, ENGELS, BEBEL,JAURES, LENIN, und nicht dem Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses. Diese Männer haben unermüdlich ihr Leben lang gearbeitet an der Schulung und Organisierung der Arbeiterklasse. Und deshalb haben sie etwas erreicht im Kampf für den Sozialismus. Aber diese großen Lehrmeister sind heute tot. Was tut man, um ihr Werk fortzuführen? Hören wir, was dazu heute der wissenschaftliche Fachmann der Sozialdemokratischen Partei, HrLFERDING, sagt: »Um die Erfüllung mit sozialistischem Geist brauchen sich die Organisationen nicht zu streiten, dafür sorgt die ökonomische Situation und die geschichtliche Entwicklung selbst.« »Sehr richtig!« verzeichnet dazu als Zuruf das Protokoll des Heidelberger Parteitages. Die Schulung, der man die Arbeiterklasse unter solchen Umständen überläßt, geht in der demokratischen Republik mehr und mehr über in die Hände von Volkshochschulen, Aufbauschulen, Arbeiterakademien, Abiturientenkursen und ähnlichen Bildungseinrichtungen, die die bürgerliche Gesellschaft den Arbeitern schafft mit Hilfe einiger Helfershelfer aus der Sozialdemokratischen Partei, Einrichtungen, deren Wirkung auf die Arbeiter freilich alles andere ist als »sozialistischer Geist«, wenn man unter sozialistischem Geist Weckung des Klassenbewußtseins und der Kampfesfreude versteht. Einrichtungen, deren gewollte oder ungewollte Wirkung alles in allem keine andere ist als das schleichende Gift bürgerlicher Klassenbildung, bürgerlicher Verbildung, Entfremdung der Arbeiter gegenüber der Klasse, aus der sie stammen, durch Eröffnung des lockenden
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Aufstiegs in eine höhere gesellschaftliche Schicht. Zur Arbeit im Dienst des Sozialismus, zu ernster politischer Arbeit überhaupt, kann man nicht erziehen, indem man den Genossen Referate oder Vorlesungen hält, bei denen sie bestenfalls zuhören, oder indem man mit ihnen darüber diskutiert, was gut wäre, wenn es geschähe, oder indem man ihnen die Übernahme von Arbeiten anbietet, die sie entweder gleich ausschlagen oder übermorgen im Stich lassen, oder indem man ihnen den Kopf mit Literatur vollstopft, oder gar indem man sie in eine bürgerliche Laufbahn schickt. Wer im Ernst zu sozialistischer Arbeit erziehen will, der muß den Mut haben, Forderungen zu stellen an die Genossen, insbesondere an die jungen Genossen, die noch entwicklungsfähig sind. Wenn das aber stimmt, so kann man über solche Forderungen nicht durch Abstimmung beschließen. Entweder es ist richtig, eine Forderung zu stellen, oder es ist verkehrt. Die Entscheidung darüber entzieht sich willkürlicher Beschlußfassung. Welches sind solche Forderungen? Wer gegen die Ausbeutung mit Erfolg kämpfen will, der darf nicht seine eigenen Ausbeuter unterstützen. Und der darf erst recht nicht selbst an der Ausbeutung teilnehmen. Wenn das wahr ist, so entzieht sich diese Wahrheit jeder Abstimmung. Dann soll man an die Genossen die Forderungen stellen, die sich daraus unzweideutig ergeben. Ein Arbeiter unterstützt z. B. seine Ausbeuter, wenn er in irgendeiner Form das Alkoholkapital unterstützt. » Trinkende Arbeiter denken nicht, und denkende Arbeiter trinken nicht.« Die Vertreter des Alkoholkapitals sind sich über die Sachlage besser im klaren, und sie sind freimütig genug, sich darüber offen auszusprechen. Der Syndikus des Brauerei-Verbandes, KuHLO, hat es in einer Versammlung dieses Verbandes ausgesprochen: »Die Brauindustrie hat in Deutschland auch stets eine politische Mission erfüllt; sie hat zur Beruhigung der Bevölkerung beigetragen. Wenn wir 1918 140/oiges Bier gehabt hätten, dann wäre die Revolution nicht gekommen. Die Eisnersche Drachensaat war auf dem Boden des 30/oigen Bieres gewachsen.« Die Feinde der Arbeiterschaft wissen es also, daß der Alkohol den
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Arbeitern den Kopf umnebelt, und daß nur ein nüchterner Arbeiter ein zuverlässiger Klassenkämpfer sein wird. Aber wie macht es die Sozialdemokratische Partei? In Heidelberg lag ein Antrag vor, der von der Partei forderte, sie möge sich zu einem energischen Kampf gegen das Alkoholkapital und gegen den Alkoholismus aufraffen. Dieser Antrag ist nicht angenommen worden. Und so geht es nicht nur in der deutschen Sozialdemokratischen Partei. Vor mir liegt ein Kalender, den die schweizerische Sozialdemokratische Partei für das neue Jahr herausgegeben hat. Auf der ersten Seite eine Mahnung an die junge Generation, kräftig zu rauchen, auf der zweiten Seite eine solche, kräftig zu trinken. Beide unterstützt durch entsprechende Bilder. »Es verrät eine gewisse Männlichkeit und Reife.« Eine andere Forderung: Ein Arbeiter, der nicht seinen eigenen Ausbeutern Helferdienste leisten will, der gibt seinen ehrlichen Namen und sein Geld nicht zur Unterstützung einer Organisation, die alles tut, die Arbeiterklasse geistig zu unterdrücken; der gehört also keiner Kirche an. Wer einer Kirche angehört, gibt seinen ehrlichen Namen und sein Geld dazu her, daß die kommende Generation der Arbeiter geistig versklavt wird, daß ihr moralisches Rückgrat gebrochen wird, so daß sie keinen Kampfesmut für die Sache des Sozialismus mehr aufbringt. Und vollends gilt dies innerhalb der Demokratie. Denn in der Demokratie hängt, was geschieht, von einem einfachen Zahlenverhältnis ab. Solange die Mehrheit des Volkes der Kirche angehört, haben die politischen Vertreter der Kirche immer das demokratische Recht auf ihrer Seite. Niemand kann es als eine Beleidigung ansehen, wenn man ihn für einen ehrlichen Menschen hält, wenn man also auch sein kirchliches Bekenntnis ernst nimmt, als den Ausdruck des Wunsches, die Kirche möge blühen und gedeihen, die Kirche möge insbesondere in der Erziehung und also in der Schule an Einfluß gewinnen. In der Begründung zu dem Reichsschulgesetzentwurf, der für kurze Zeit die Gemüter in leidenschaftliche Erregung versetzt hat - für allzu kurze Zeit; denn er wird in verbesserter Gestalt bald wieder erscheinen -, in dieser Begründung heißt es an einer wenig beachteten, aber um so bedeutsameren Stelle: Für die weltliche Schule sei in Deutschland bisher kein
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Bedürfnis vorhanden gewesen, und ein solches werde auch künftig voraussichtlich nur in geringfügigem Maße hervortreten. Das ist folgerichtig demokratisch gedacht. Und daraus sollten auch andere, die sich Demokraten nennen, ihre Folgerungen ziehen. Ich kam neulich mit einem Kollegen von der Universität in ein Gespräch über die mit dem Reichsschulgesetzentwurf im Zusammenhang stehende Verkirchlichung der Lehrerbildung, wie sie durch die neuen »Pädagogischen Akademien« herbeigeführt wird. Er fragte mich mit besorgtem Ausdruck: »Was sagen Sie zu alledem?« Ich antwortete ihm: »Das ist die natürliche Folge der allgemeinen politischen Entwicklung in Deutschland. Wenn man die Folge nicht will, dann muß man die Ursache ändern. Wir leben in einer Demokratie. Es kommt also auf den Willen der Staatsbürger an. Bekunden Sie Ihren Willen, indem Sie aus der Kirche austreten!« Da verdüsterte sich sein Gesicht noch mehr, und indem er drei Schritt zurücktrat, rief er mir zu: »Das ist mir zu einfach gedacht.« Ich habe ihm nachgerufen: »Wenn nur die Gegner nicht so einfach dächten!« Das ist es, Genossen, weshalb man diese Forderungen nicht mag: Sie sind zu einfach! Jeder kann sie einsehen, und - was noch unangenehmer ist - jeder kann sie erfüllen. Forderungen, an denen sich deuteln läßt, Forderungen vor allem, die unerfüllbar sind, solche Forderungen läßt man sich gern gefallen, denn sie bilden einen interessanten Diskussionsstoff, und man hat die angenehme Sicherheit, durch sie nie in Ungelegenheiten zu kommen wie durch die von mir aufgestellten Forderungen, die Konsequenzen verlangen, denen man nicht ausweichen kann, - Konsequenzen, die den Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft bedeuten oder die, mit anderen Worten, den Genuß der »Lebensnähe« vereiteln. »Vielleicht«, so fährt die »Göttinger Zeitung« an der vorhin von mir angeführten Stelle fort, »würde in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung ... das Ideal der Gerechtigkeit besser verwirklicht sein als heute, würde damit nicht aber auch ein großer Teil der Fülle des Lebens ... verlorengehen?« Ein Arbeiter, der gegen die Ausbeutung kämpfen will, darf aber erst recht nicht selbst an der Ausbeutung teilnehmen. Auch ein Arbeiter kann, und zwar in verschiedenen Formen, an der Ausbeutung
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teilnehmen. Er kann das als Streikbrecher, er kann das durch Propaganda für Kolonialpolitik, er kann das auch, indem er seine Frau und seine Kinder prügelt. Ja er kann das in einer noch viel schlimmeren Weise. Er kann das, indem er dasselbe, was der Kapitalist mit ihm macht, mit denen tut, die sich gegen ihn noch viel weniger wehren können als er gegen den Kapitalisten - die die allerwehrlosesten sind, die sich nie durch Koalition zusammentun können, um allmählich ihre Rechte in einem Klassenkampf zu erobern. Ein Arbeiter, der nicht nur ein »verhinderter Kapitalist« sein will und dem es also Ernst ist mit dem Kampf gegen jede Ausbeutung, der beugt sich nicht der verächtlichen Gewohnheit, harmlose Tiere auszubeuten, der beteiligt sich nicht an dem täglichen millionenfachen Tiermord, der an Grausamkeit, Roheit und Feigheit alle Schrecknisse des Weltkrieges in den Schatten stellt. Das sind Angelegenheiten, Genossen, die entziehen sich der Abstimmung. Entweder soll man diese Forderungen stellen, oder man soll es unterlassen. Entweder man will gegen die Ausbeutung kämpfen, oder man läßt es bleiben. Aber wer als Sozialist über diese Forderungen lacht, der weiß nicht, was er tut. Der beweist, daß er nie im Ernst bedacht hat, was das Wort »Sozialismus« bedeutet. Das Schlimmste ist aber nicht, daß man über diejenigen lacht, die so denken und handeln. Wenn man sie nur nicht störte, ihren ehrlichen Willen zu betätigen und der guten Sache der Partei auf diese Weise zu helfen. Man läßt sie aber nicht gewähren, man verbietet ihnen das Nach denken über den Sozialismus, man legt ihnen das Handwerk, und man verleumdet sie noch hinterdrein. Der Grund ist durchsichtig genug. Eine solche Erziehungsarbeit stört die Biergemütlichkeit und den ganzen Schlendrian des üblichen Parteibetriebs. Sie gefährdet auch die Höhe der Mitgliederzahl und damit die wichtigste Einnahmequelle, auf die die Finanzierung und damit überhaupt die Aufrechterhaltung des Beamtenapparats der Partei heute angewiesen ist. Sie gefährdet, kurz gesagt, die dort angestrebte »Lebensnähe«. Wir verstehen daher recht gut, warum die heutigen Parteiführer den Mut nicht aufbringen, von dem ich sagte, daß man ihn braucht, um sozialistische Forderungen an die Genossen zu stellen, und warum sie nicht einmal den Mut aufbringen,
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Menschen in der Partei zu dulden, die an sich selbst die Forderung stellen, als Sozialisten zu leben. Als Ostern 1925 in Hamburg auf einer Funktionärkonferenz der Geheimbeschluß gefaßt wurde, innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiter-Jugend die Verfolgung des IJB im ganzen Reiche aufzunehmen, da wurden in dem Steckbrief, den man zum Zweck dieser Sozialistenverfolgung erließ, als Kennzeichen für die Angehörigen der gefährlichen Sekte nicht nur Abstinenz und Vegetarismus, sondern vor allem auch Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit in der Arbeit angegeben. Eine in der Tatdeutliche Kennzeichnung des »Feindes im eigenen Lager« - um den alsbald nachfolgenden Alarmruf der Magdeburger »Volksstimme« anzuführen. Eine so deutliche, daß man, als man ein halbes Jahr später (in Tännich) am Ziel stand, es vorzog, in dem öffentlichen Beschluß der Ausweisung aus der »Arbeiter-Jugend« - in milder Schonung für den nunmehr unschädlich gemachten Feind - lieber nur von dessen »dem Sozialismus wesensfremden Zielen« zu sprechen. Man verschanzt sich auch hier hinter der »Demokratie«, indem man sich bei jeder Gelegenheit darauf beruft, die Masse sei noch nicht reif für das Verständnis und die Aufnahme solcher Forderungen. Merkwürdig, daß nahezu überall, wo wir es mit der Erziehung zur Durchführung der fraglichen Forderungen versucht haben, dieser Versuch bei den einfachen Parteigenossen - nicht etwa nur bei der Jugend - Verständnis und willige Aufnahme gefunden hat und nur gescheitert ist an dem entschlossenen Widerstand der Führer. Kein Wunder, daß bei diesem entschlossenen Widerstand der Führer, die alle ihre Machtmittel spielen lassen, um der weiteren Ausbreitung jedes solchen Versuchs zuvorzukommen, die Masse der Parteigenossen von ihm nicht erreicht wird und somit in ihrer künstlich aufrechterhaltenen Unreife verharrt. Kein Wunder daher auch, daß die Erfahrung schließlich der Menschenverachtung dieser weltklugen Führer recht gibt, die, nach ihren sonstigen Reden zu urteilen, von der Masse gar nicht hoch genug denken können, hier aber, wo es im Ernst darauf ankäme, zu führen und also der Masse das Vertrauen entgegenzubringen, daß sie Forderungen, die man um des Zieles willen an sie stellt, verstehen und befolgen wird, selbst alles tun, um
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durch ihr Mißtrauen und ihre Verachtung die Masse zu erniedrigen. Oder ist es zu verwundern, wenn die Masse Forderungen, die man gar nicht an sie stellt, ja von denen man geradezu erklärt, es habe keinen Zweck, sie zu stellen, weil sie doch nicht erfüllt würden, wenn die Masse solche Forderungen nicht erfüllt? Ist es zu verwundern, wenn eine so »geführte« Masse die Reife vermissen läßt, ja sich von dieser Reife nur immer mehr entfernt? Aber man soll dann nicht der unreifen Masse die Schuld geben, sondern sie bei denen suchen, die, während ihre Worte von Achtung vor der Masse triefen, nicht den Mut zu dem einzigen aufbringen, wodurch sie diese Achtung in die Tat umsetzen könnten. Die mangelnde Reife der Masse: das ist von jeher der bequeme Vorwand für die gewesen, die, statt die Masse zu führen, es vorzogen, sie zu gängeln und ihr Vertrauen auszubeuten zur Befriedigung persönlicher Interessen. Ein Vorwand, der in der Demokratie geradezu zu einem Rechtstitel wird: denn der »Führer« ist hier aller Verantwortung ledig, wenn er für das, was er tut und läßt, nur einen Auftrag oder eine Vollmacht seitens der Masse beibringen kann, wie ihm dies um so leichter gelingen wird, je weniger ihm an der Reife der Masse gelegen ist. Er ist immer gerechtfertigt, solange er auf sich das freche Wort anwenden kann, das einem französischen Politiker zugeschrieben wird: »Ich bin ein Führer; darum folge ich.« Wenn wir aber nur den als einen wahren Führer anerkennen, dem die Masse mehr ist als ein willkommenes Ausbeutungsobjekt - gut genug, die Verantwortung auf sie abzuwälzen -, der vielmehr durch Taten beweist, daß ihm an der Reife der Masse gelegen ist, und also nur den, der den Mut hat, Forderungen an seine Genossen zu stellen, so werden wir verlangen, daß er diese Forderungen auch und zu allererst an sich selber stellt. Ja wir werden an die Funktionäre unserer Organisation mit Rücksicht auf die erhöhte Verantwortung, die wir in ihre Hände legen, erhöhte Forderungen stellen. Forderungen, die, soweit es möglich ist, allen Reiz, den die Bekleidung eines solchen Postens durch irgendwelche mit ihr verbundenen persönlichen Vorteile haben könnte, zerstören. Das heißt vor allem: Niemand, der in einen Posten aufrückt, soll durch das Aufrücken in diesen Posten irgend etwas verdienen können. Wer an einem Posten etwas ver-
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dient, der wird abhängig von diesem Posten; der wird, wo es sich um politische Posten handelt, in seiner politischen Gesinnung abhängig. Diese Abhängigkeit des politischen Angestellten ist nicht nur ebenso schlimm wie die Abhängigkeit des Lohnarbeiters vom Kapitalisten, sondern sie ist noch viel schlimmer. Denn während der Lohnarbeiter dem Kapitalisten nur seine Arbeitskraft verkauft, verkauft der politische Angestellte zugleich seine politische Gesinnung. Er gerät in eine Fessel, die für ihn unmittelbar zu einer Fessel seines freien Denkens wird; denn jede Abweichung von der vorgeschriebenen politischen Gesinnung bedroht ihn mit dem Verlust seines Verdienstes. Wirkennen alle diese Fessel: Wer sich im Parteileben umgesehen hat, weiß, in welch grauenhaftem Umfang unter ihrer Wirksamkeit Strebertum und Heuchelei, diese Begleiterscheinungen alles »Bonzentums«, in der Partei wuchern. Nicht das Band einer einheitlichen Überzeugung - die ja längst gewichen ist-, sondern diese Abhängigkeit ihrer Angestellten - und welcher sozialdemokratische Funktionär ist heute nicht Angestellter, sei es unmittelbar der Partei, sei es einer der zahlreichen ihr durch Personalunion nahestehenden Verbände oder Betriebe (wie z.B. Gewerkschaften, Konsumvereine, Verlagsanstalten, Druckereien und Buchhandlungen) -, ich sage: diese Abhängigkeit ist es, die die auseinanderstrebenden Massen der Sozialdemokratischen Partei heute noch wie eine eiserne Klammer zusammenhält; sie ist es, die verhindert, daß der tönerne Koloß nicht nach rechts und links auseinanderfällt. In demselben Artikel des Hannoverschen »Volkswillens«, der, wie ich erwähnt habe, unser Programm der proletarischen Einheitsfront verunglimpft, wird den »Jungsozialistischen Blättern«, die der freimütigen Meinungsäußerung der Genossin SrnMSEN Aufnahme gewährt hatten, eine scharfe Warnung erteilt, mit der deutlichen Erklärung: »Die Partei kann es auf keinen Fall dulden, daß in einem Organ, das aus Parteimitteln finanziert wird, in derartig verhetzender Weise über Beschlüsse der Parteiinstanzen hergefallen wird.« Der hier maßgebende Grundsatz: »Wes' Brot ich esse, des' Lied ich singe« kennzeichnet die auf ihm fußende Organisation als eine ausgesprochen kapitalistische. In einer solchen Organisation eröffnet sich für »verhinderte Kapitalisten« eine neue Unternehmerlaufbahn.
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Wir wollen und können hier nicht die Frage erörtern, inwieweit die Durchführung des Sozialismus im großen eine Beseitigung des Privatbesitzes erfordern oder zulassen wird. So viel aber steht fest, daß wir nicht auf den Zukunftsstaat zu warten brauchen, um als Sozialisten zu leben, und daß die Funktionäre einer sozialistischen Partei nur dann diesen Namen verdienen, wenn sie ihre Unbestechlichkeit dadurch beweisen, daß sie für ihre Person auf allen Privatgewinn verzichten und also insbesondere darauf, sich auf Kosten ihrer Genossen persönlich zu bereichern. Zwei Fragen oder auch Einwände wird man erheben gegenüber den gestellten Forderungen. Einmal: Sollen wir wirklich glauben, durch das Stellen solcher Forderungen dem Sozialismus näher zu kommen? Glaubt man im Ernst, durch irgendwelche Erziehungsarbeit die Anwendung des politischen Mittels, den Kampf um die Macht, umgehen zu können? Bedeutet das nicht einen Rückfall in den Utopismus? Und dann: Wenn Forderungen ohne Abstimmung aufgestellt und durchgesetzt werden sollen, wie ist dies anders möglich als durch willkürliche Auferlegung von oben, kurz: durch persönliche Diktatur? Die erste Frage stellt soeben der Hannoversche »Volkswille« (vom 23. Februar) im Anschluß an den Versuch, die Satzung des ISK lächerlich zu machen: »Glaubt man mit Abstinenz, Vegetarismus, Kirchenaustritt ... diese ausbeutungsfreie Gesellschaft zu erkämpfen? Die ISK-Leute glauben es.« Ach nein, Genossen, die ISK-Leute glauben das nicht. Sie glauben nicht, durch Abstinenz, Vegetarismus und Kirchenaustritt den Klassenkampf entbehrlich zu machen. Aber etwas anderes glauben die ISK-Leute. Sie glauben, daß für den Klassenkampf Klassenkämpfer notwendig sind - Menschen, die in der Lage und bereit sind, den Kampf um den Sozialismus mit Opfermut und Ausdauer zu führen. Kurz, Genossen, sie glauben, daß die Erkämpfung des Sozialismus nur durch Sozialisten geschehen wird. Diese Ansicht, die einem Unbefangenen selbstverständlich erscheinen möchte, bedarf heute - im Zeitalter der »Lebensnähe« - besonderer Betonung und Verteidigung; mit ihr steht der ISK unter den sozialistischen Parteien allein
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da, von rechts wie von links verketzert wegen dieser »kleinbürgerlichen idealistischen Schrulle«, wie es die »Hamburger Volkszeitung« (vom 4. März) in einer nachsichtigen Beurteilung nennt. Man bleibt dort dabei: Es bedarf keiner weiteren Erziehungsarbeit; »die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise erzieht das Proletariat zum Klassenkampf«. Auch für die Auslese der Führer bedarf es ihrer nicht; denn: »Die Auslese der Führer vollzieht sich am sichersten und besten im Feuer des revolutionären Klassenkampfes.« So versichert von neuem die kommunistische »Arbeiter-Zeitung« (Sektion Hessen-Frankfurt, vom 23. Februar). Wie überzeugend hört sich dieses alte Schlagwort an! Aber die Überzeugungskraft, die dieses Schlagwort für den hat, der in der Redaktionsstube hinter dem Ofen »debattierend jeden Feind erledigt«, verliert sich für den, der weniger weit vom Schuß steht. So kann nur reden, wer, in seine »Lebensnähe« verliebt, völlig vergißt, daß das »Feuer des revolutionären Klassenkampfes« noch einen anderen Zweck hat als die Veranstaltung einer sicheren und guten Führerauslese. Gewiß, in diesem Feuer erprobt sich der zuverlässige Führer; der unzuverlässige, der revolutionäre Schaumschläger und Maulheld, wird hier unbarmherzig entlarvt. Nur schade, daß es in diesem Feuer für den eigentlichen Zweck solcher Erprobung zu spät ist, daß vielmehr hier die Stelle ist, wo wir mit allem, wofür wir kämpfen, auf den bereits erprobten Führer angewiesen sind. Fällt hier der Führer um, wird er hier zum Verräter, entpuppt er sich hier als ein KERENSKI oder NosKE, so ist es ein schlechter Trost für das nutzlos vergossene Arbeiterblut und für das zerstörte Vertrauen der Massen, daß die Niederlage uns eine sichere Entlarvung der Verräter beschert hat. Ein Führer im Klassenkampf, dem niemand abstreiten wird, seinerseits im Feuer des Kampfes erprobt worden zu sein, LENIN, war kein Anhänger jenes Schlagwortes, sondern vertrat schon früh die Ansicht, daß die Revolution »Berufsrevolutionäre« erfordere. Er gründete, lange vor der Revolution, bei Paris eine eigene Schule zur Ausbildung solcher Berufsrevolutionäre, und die dort von ihm ausgebildeten Genossen waren es, mit deren Hilfe er die Revolution später durchführte und die zum großen Teil noch heute in der vordersten Reihe der Kommunistischen Partei Rußlands den Kampf führen.
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Bleibt die andere Frage: Wenn eine Forderung ohne Abstimmung gestellt werden soll, wenn überhaupt keine Abstimmung entscheiden soll, wenn der Wille der Mehrheit nicht das Gesetz sein soll, bedeutet das, daß in einer solchen Organisation, wie vom ISK gesagt wird, der Leiter persönlich alles beschließt und die anderen Mitglieder »nix tau seggen« haben? Auf diese Frage kommt in der Tat alles an. Ehe ich aber darauf antworte, wird es gut sein, die Aufmerksamkeit auf eine Vorfrage zu richten, die, so nahe sie liegt, leider regelmäßig übergangen wird. Ich meine die Frage: Wie steht es denn in der Demokratie mit den Forderungen? Ist es denn überhaupt wahr, wie man sich einredet, daß in der Demokratie nur solche Forderungen gestellt werden, über die eine Abstimmung entschieden und die die Mehrheit angenommen hat? Bei Licht besehen, verhält es sich durchaus nicht so, und dieser angebliche Vorzug der Demokratie löst sich in leeren Dunst auf. Die Demokratie steht und fällt selber mit einer Forderung, die in ihr ohne alle Abstimmung gestellt wird, nämlich mit der Forderung, daß sich die Minderheit der bei der Abstimmung entstehenden Mehrheit zu fügen hat. Woher nun diese Forderung, da sie doch nicht das Ergebnis einer Abstimmung ist - und auch nicht sein kann, da sie für die Verbindlichkeit eines solchen Abstimmungsergebnisses schon die Voraussetzung bildet? Von dieser Forderung läßt sich nicht behaupten, daß jeder sie einsehen kann, da im Gegenteil niemand einsehen kann, wie er zu dem, wozu für ihn keine Verbindlichkeit besteht, durch bloße Oberstimmung verpflichtet werden könnte. Woher also diese Forderung, da sie sich weder auf Abstimmung noch auf Einsicht gründen läßt? Wenn je eine Forderung, so beruht diese auf bloßem Diktat, auf willkürlichem Machtspruch, und wer sich ihr nicht aus bloßer Gedankenlosigkeit fügt, oder weil er im besonderen Fall gerade aufseiten der Mehrheit steht, der fügt sich in Wahrheit nur der diese Forderung diktierenden Gewalt. Lassen wir aber einmal Forderungen zu, ist es da nicht besser, Genossen, wir halten uns an Forderungen, die sich einsehen lassen? An Forderungen also, die wir bei hinreichender Einsicht an uns selbst stellen müssen und denen wir nicht nur gezwungen nachgeben? Mit dieser Fragestellung stehen wir im Grunde schon bei der Antwort
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auf die Frage, ob wir bei Ausschaltung der Abstimmungen dem persönlichen Willkürregiment verfallen. Wir lehnen die Abstimmung ab, weil wir die Willkür ablehnen. Wie es daher keine Abstimmungen gibt in unserer Organisation, d. h. keine Beschlüsse von unten, so gibt es in ihr auch keine willkürlichen Beschlüsse von oben. Es gibt in ihr überhaupt keine Entscheidung durch Beschlüsse, sondern es gibt nur eine Entscheidung durch Untersuchung. Und diese Untersuchung gelingt durch freie Aussprache, durch Abwägung aller Gründe und Gegengründe, und also nur da, wo eine Bedingung erfüllt ist, die gerade in der Demokratie fehlt: wo freie Kritik herrscht. Eine solche Organisation kann nur wirken und wachsen auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens der Mitarbeiter. Und dieses Vertrauen kann nur entstehen durch gegenseitige Offenheit, Freimütigkeit und Kritik. Deshalb ist es im ISK nicht nur jedem erlaubt, etwas zu sagen, sondern jeder ist dazu verpflichtet. Wer an keiner Aussprache teilnimmt, wer sich an der Erörterung ernsthafter Fragen nicht beteiligt, wer nur die anderen arbeiten läßt, um selbst die Früchte ihrer Arbeit einzuheimsen, auch der ist in unseren Augen ein Ausbeuter.
Demokratie und Führerschaft
»Was war die Monarchie? Die Souveränität eines Menschen. Was ist die Demokratie? Die Souveränität des Volkes oder, besser gesagt, die der Volksmehrheit. Aber das ist nach wie vor die Souveränität des Menschen an Stelle der Souveränität des Gesetzes, die Souveränität des Willens an Stelle der Souveränität der Vernunft, mit einem Wort, der Leidenschaften an Stelle des Rechts. Wenn ein Volk von der Monarchie zur Demokratie übergeht, so ist das keine Revolution in der Regierung, da das Prinzip dasselbe bleibt.« P.J.PROUDHON
»Was ist das Eigentum?«
Zweite, um vier Anhänge erweiterte Auflage einer gleichnamigen Schrift aus dem Jahr 1920, die eine am 27. Juli 1919 im Schweizer Ferienkurs des Internationalen Jugend-Bundes gehaltene Rede wiedergibt. über den unveränderten Abdruck der Rede und die Auswahl der Anhänge siehe NELSONS Vorwort zur zweiten Auflage. Die erste Auflage ist erschienen als Heft 13/14 der Schriftenreihe öffentliches Leben, Der Neue GeistVerlag, Leipzig 1920, 34 Seiten; die zweite Auflage als Heft 1 der neuen Folge der Schriftenreihe öffentliches Leben, Verlag öffentliches Leben, Stuttgart 1927. Eine dritte, in der Paginierung mit der zweiten übereinstimmende Ausgabe erschien 1932 in dem inzwischen nach Berlin verlegten Verlag öffentliches Leben. (Für die Paginierung der zweiten Auflage siehe die Inhaltsangabe der Arbeit in diesem Band.)
Inhalt Vorwort zur zweiten Auflage (3)'="
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Demokratie und Führerschaft, Rede (5)
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Anhang 1. Einige Urteile aus der Presse (29)
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Anhang 2. Diskussionsreden über »Diktatur, Parlamentarismus oder Wirtschaftsdemokratie (35)
425
Anhang 3. Gesundbeter der Demokratie (49)
440
I. Soziale Demokratie? 1. Eine »kurze und bündige« Antwort (49) 2. »Ein ungeheuer kompliziertes Problem« (56) 3. Herzenswünsche (60)
440 448 453
II. Demokratie und Achtung der Masse 4. Aus dem Zeitalter der realistischen Soziologie (69) 5. Wo sind die Weisen? (73) 6. Selbstregierung der Masse? (75) 7. Eine Antwort des Konfuzius (78)
463 467 469 473
III. Die Weisheit der Demokratie als die Wissenschaft des Nicht-Wissens 8. »Wer kann sagen?« (81) 9. Schöpferische Einsichtslosigkeit (84) 10. Die Heiligkeit des Zweifels (85)
476 479 480
* Die in Klammern gesetzten Seitenzahlen entsprechen der Paginierung der Auflage von 1927.
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11. Der Maßstab der Lebensnähe (87) 12. Eine Erkenntnis, die der großen Menge versagt bleibt (89)
483 485
IV. Herrschaft der Weisen und demokratische Kontrolle 13. Allzu bequem (93) 489 14. Tapfere Art (94) 490 V. Demokratie und Führer-Auslese 15. Durchaus durch und aus? (99) 16. Leichte und schnelle Enthüllungen (101) 17. Die Narrenbühne (103)
496 499 501
VI. Erziehung zur Demokratie 18. Ein Erziehungsproblem allergrößten Stils (106)
504
VII. Das Urteil der Staatsmänner 19. Demokratie als Risiko der freien Diskussion nach Painleve (110) 20. Demokratie als Überwindung der Theokratie nach Masaryk (114) 21. Demokratie und Fascismus nach Nitti (124)
513 525
VIII. Ein Kulturdokument 22. Wenn - man muß - und nicht weiß (132)
533
IX. Partei-Demokratie 23. Aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (133) 24. Aus der Kommunistischen Partei Rußlands (149)
535 547
X. Das Ende der Demokratie 25. »Mit der Zeit reift die Frucht« (149)
553
Anhang 4. Diskussionsreden und Schlußwort (155)
558
508
Vorwort zur zweiten Auflage Meine im Jahre 1920 in der Schriftenreihe »öffentliches Leben« erschienene Rede über »Demokratie und Führerschaft«, die ich im Schweizer Ferienkurs des Internationalen Jugend-Bundes im Fextal am 27. Juli 1919 gehalten habe, ist seit einiger Zeit vergriffen. Seit dem ersten Erscheinen ist vieles geschehen, was geeignet wäre, die Gedankengänge meiner Rede in der zweiten Auflage durch neue Beispiele aus dem politischen Erfahrungsbereich zu unterstützen. Wenn ich trotzdem auf jede Veränderung des Textes verzichte, so geschieht das aus zwei Gründen. Die Schrift ist seit dem Ausbruch des Konfliktes zwischen dem Internationalen Jugend-Bund und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands besonders heftig angegriffen und häufig - dabei vielfach entstellend und gehässig - zitiert worden. Im Interesse einer klaren und sachlichen Auseinandersetzung über das Problem der Demokratie wurde es von vielen Seiten als ein Mangel empfunden, daß die Schrift seit einiger Zeit vergriffen war. Um bei der Abstellung dieses Mangels nicht gleichzeitig die Grundlage der bisherigen Erörterungen zu verschieben oder auch nur den Schein zu erwecken, sie verschieben zu wollen, hielt ich es für geboten, von jeder Veränderung des Wortlauts der Rede abzusehen. Dann aber war diese Zurückhaltung um so leichter möglich, als die Endergebnisse, zu denen ich in der ersten Auflage gekommen bin, auch durch eine noch so weitgehende Neubearbeitung sich nicht verändert hätten. Eine eingehende und systematische Behandlung des Problems der Demokratie ist überdies inzwischen in meinem 1924 erschienenen »System der philosophischen Rechtslehre und Politik«(§ 58 - § 116) gegeben worden. Eine Ergänzung dieses Heftes bildet ferner die Rede, die ich am
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6. Januar 1926 vor der Kasseler Arbeiterschaft gehalten habe, und die demnächst in dieser Schriftenreihe unter dem Titel »Das zerschnittene Tischtuch. Sozialismus oder Demokratie?« erscheinen wird, - eine Rede, in der ich gezeigt habe, wie sehr der Konflikt zwischen dem Internationalen Jugend-Bund und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands die Richtigkeit meiner hier niedergelegten grundsätzlichen Ansichten über die Demokratie in allen Einzelheiten bestätigt.'; Um dem Leser aber doch schon hier einen Einblick in die Rolle zu ermöglichen, die diese Schrift in der politischen Öffentlichkeit gespielt hat, habe ich in einem Anhang einige Urteile aus der Presse zusammengestellt, die sich auf die durch entsprechende Ziffern kenntlich gemachten Stellen der Schrift beziehen. Diese Urteile beleuchten die Aufnahme, die die hier niedergelegte Kritik der Demokratie in der sozialistischen Presse gefunden hat. Der Leser mag selbst beurteilen, inwieweit diese Aufnahme zugleich ein neues Beweismaterial bildet für meine Kritik an der Demokratie, insbesondere für das, was ich über die Rolle der Presse in der Demokratie gesagt habe. Ein weiterer Anhang, den ich hinzugefügt habe, ist aus folgendem Anlaß entstanden. Am 8. Februar 1926 hatte ich in Berlin auf Einladung der Gesellschaft der Freunde der »Sozialistischen Monatshefte« an einem sogenannten »kontradiktorischen Abend« über »Diktatur, Parlamentarismus oder Wirtschaftsdemokratie?« als Redner teilgenommen. Der im Zeitalter der Demokratie überraschende Beifall, den meine dortigen Ausführungen bei der Masse der Versammlungsbesucher fanden, hat in der demokratischen und sozialdemokratischen Presse eine interessante Gegenwirkung hervorgerufen. Einerseits um der Öffentlichkeit ein unbefangenes Urteil über meine Ausführungen zu ermöglichen, andererseits um ein weiteres Schulbeispiel aus der Praxis der demokratischen Presse vorzuführen, füge ich dieser neuen Auflage als Anhang ferner bei die Wiedergabe mei~
Vgl. Fußnote 210 auf S. 558. Die hier angekündigte Veröffentlichung der Kasseler Rede in der Schriftenreihe öffentliches Leben ist nicht mehr erfolgt; die auf Fragen der Demokratie bezogenen Abschnitte der Rede hat NELSON herausgebracht im Aufsatz »Lebensnähe«, siehe S. 361 ff. dieses Bandes.
Vorwort zur zweiten Auflage
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ner Berliner Ausführungen sowie zwei Pressemeldungen über diese Ausführungen. Gerade während ich diese Zeilen schreibe, kommt mir die neue Schrift von MAx ADLER »Politische oder soziale Demokratie« zu Gesicht. Ich benutze diesen Anlaß, um mich, entsprechend einem alten Wunsch mancher Freunde, mit den Adlersehen Ansichten auseinanderzusetzen, und lege diese Auseinandersetzung nebst einigen anderen, sie ergänzenden, »unzeitgemäßen Betrachtungen« in einem dritten Anhang vor. Göttingen, im April 1926 Leonard Nelson
Niemand unter uns ist, wie ich annehme, mehr im Zweifel darüber, daß wir für eine wirkliche Reformation der Gesellschaft nicht darauf warten dürfen, daß einmal in der Gesellschaft der gute Wille überwiegen und von selbst dieses Ereignis herbeiführen wird. Wir sind vielmehr darin einig, daß uns dahin nur der Weg der allmählichen Eroberung der Macht führt - der Macht, die wir brauchen, um durch äußere Einrichtungen einen rechtlichen Zustand in der Gesellschaft zu sichern. Ehe wir nun auf die uns heute vor allem interessierende Frage eingehen, wie wir uns diesen Weg bahnen sollen, wollen wir noch etwas genauer das Ziel selbst ins Auge fassen, nämlich daraufhin, wie jene Einrichtungen zur Sicherung des Rechts wohl beschaffen sein müssen und wie sie sich von denen des heute bestehenden Staates unterscheiden sollen. Wir fragen also, kurz, nach der Form der Organisation der Gesellschaft, die wir anstreben. Organisation ist ja nichts anderes als der Inbegriff äußerer Einrichtungen, die einen bestimmten Erfolg dem Zufall entziehen. Zu der erforderlichen Organisation gehört daher einmal, daß der beabsichtigte Erfolg als solcher bestimmt wird, und zweitens, daß dies durch einen Willen geschieht, der mit der erforderlichen Macht versehen ist, um sich in der Gesellschaft durchzusetzen. Man nennt diesen Willen die Regierung in der Gesellschaft. Durch ihn und nur durch ihn wird die Gesellschaft zum Staate. Da entsteht die Frage: Wie soll aus dem zerstreuten, ja vielfach sich widerstreitenden Wollen aller einzelnen in der Gesellschaft dieser regierende Wille hervorgehen? Die Regel, nach der diese Frage entschieden wird, ist das, was wir die Verfassung des Staates nennen. Wir müssen uns also fragen: Welche Verfassung des Staates sollen wir anstreben? Den Menschen der Gegenwart wird es fast überflüssig erscheinen, diese Frage zu stellen. Denn sie scheint ihnen längst gelöst zu sein.
Rede
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Es gilt heute als Axiom, daß nur ein solcher Staat rechtlich konstituiert sei, der eine demokratische Verfassung hat, d. h. eine solche, die alle einzelnen in der Gesellschaft gleichmäßig an der Bildung des regierenden Willens teilnehmen läßt. Wenn man die Menschen fragt, worauf sie ihre Überzeugung von der Vorzugswürdigkeit dieser Verfassungsform gründen, so werden sie, wenn sie es nicht überhaupt ablehnen, für eine ihnen so selbstverständliche Sache noch nach Gründen zu suchen, wenn sie sich also überhaupt die Mühe nehmen, darüber nachzudenken, etwa antworten, daß jede andere Verfassung, wie sie auch sonst beschaffen sein mag, den Willen wenigstens eines Teils der Mitglieder der Gesellschaft einem fremden Willen despotisch unterwerfe und darum unrechtlich sei. Die Freiheit, die das Ziel einer rechtlichen Verfassung bilden müsse, sei nur dadurch gewährleistet, daß jeder einzelne gleichmäßig Anteil an der Bildung des regierenden Willens hat, denn sonst sei es nicht ausgeschlossen, daß er durch den regierenden Willen vergewaltigt wird. Wir wollen überlegen, was es mit dieser Beweisführung auf sich hat. Zunächst ist klar, daß bei der Bildung einer Regierung durch das gleichmäßige Zusammenwirken aller einzelnen im Staate - wenn wir wenigstens nicht von der Fiktion einer vollkommenen Übereinstimmung der Meinungen und Wünsche aller in der Gesellschaft ausgehen - doch nur eine Mehrheit ihren Willen durchsetzen wird und daß die Minderheit nachgeben muß. Und es entsteht die Frage, welchen Vorzug es haben soll, von einer Mehrheit vergewaltigt zu werden, gegenüber einem Zustand, wo diese Vergewaltigung von einem einzelnen ausgeht. Vielleicht sagt man darauf, es sei immerhin besser, daß eine Minderheit vergewaltigt wird als eine Mehrheit. Und das erscheint zunächst recht einleuchtend. Lassen wir uns aber durch dieses Argument nicht blenden, gehen wir ihm vielmehr genauer auf den Grund, so finden wir den Anhänger der Demokratie bald dazu genötigt, doch einige Vorbehalte anzubringen. Wenn wir ihn fragen, ob er für die demokratische Staatsform auch schwärmen würde, wenn wir ein Volk voraussetzen, bei dem die Mehrheit entweder aus Schwachsinnigen oder aus
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Demokratie und Führerschafl:
Verbrechern besteht oder auch aus beiden, so wird er bedenklich werden. Er wird sagen, daß er natürlich nicht an einen so extremen Fall gedacht hätte. 1 Er wird sich also auf die Position zurückziehen, wonach die Demokratie gut sei für ein Volk, dessen Mehrheit für sie hinreichend gebildet ist, hinreichend nämlich, um einen Mißbrauch auszuschließen, wie er unter der eben genannten Voraussetzung die Folge sein würde. Dies Ergebnis wollen wir uns zunächst einmal merken. Es ist damit zugegeben, daß es ein allgemeingültiges Prinzip, wonach nur eine demokratische Staatsform rechtlich sein könnte, nicht gibt. Es ist hier eine Einschränkung an dem Prinzip angebracht, die es in seinem grundsätzlichen Charakter völlig vernichtet. Zu fordern, die Mehrheit solle bestimmen, was im Staat geschieht, wenn sie das Rechte will, dies ist überhaupt kein anwendbares Rechtsprinzip. Denn man kann nicht durch ein Prinzip dekretieren, daß die Entscheidung der Mehrheit das Rechte trifft. Diese Forderung, daß einerseits die Entscheidungen darüber, was im Staate geschehen soll, durch die Mehrheit getroffen werden soll und daß andererseits diese Entscheidung einer schon anderweit bestimmten Bedingung - der Rechtlichkeit nämlich - genügen soll, diese Forderung verlangt zu viel, sie verlangt Unvereinbares. Es ist so, als ob man die Aufgabe hätte, eine Unbekannte aus zwei voneinander unabhängigen Gleichungen zu bestimmen, wo allenfalls nur zufällig einmal eine Lösung existieren kann. Um dies deutlicher einzusehen, wollen wir ein Beispiel zur Vergleichung heranziehen. Es soll ein Ausflugsort bestimmt werden für unsere Gesellschaft. Nun hat es Hand und Fuß, vorzuschlagen, daß wir durch Abstimmung darüber entscheiden, wohin wir gehen wollen. Es hat ebenso Hand und Fuß, zu sagen: wir wollen den schönsten Ort der Umgebung aufsuchen. Es wäre aber töricht, zu sagen, die Mehrheit solle beschließen, wohin wir gehen, sie solle dabei aber den schönsten Ort der Umgebung wählen. Diese Forderung ist überbestimmt. Wenn die Entscheidung dahin getroffen werden soll, daß der schönste Ort als Zielpunkt dient, so ist erforderlich, daß wir ihn durch den auswählen lassen, der in dieser Frage der am besten Bewanderte ist. Wenn wir andererseits die Entscheidung der Mehrheit
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überlassen, dann müssen wir gewärtig sein, nicht an den schönsten Ort zu kommen. Für das eine oder das andere müssen wir uns entschließen und also entweder auf die Freude verzichten, die schönste Stelle des Oberengadins kennen zu lernen, oder auf die andere, bei der Beschlußfassung über das Ziel unseres Ausflugs mitzureden.II Die Nutzanwendung auf die Frage der Staatsverfassung ist leicht. Sie stellt uns vor die Wahl zwischen der Demokratie und dem Rechtsstaat. Wählen wir jene, so müssen wir diesen preisgeben, und umgekehrt. Erheben wir den Willen der Mehrheit zum obersten Gesetz, so dürfen wir nicht erwarten oder gar verlangen, daß im Staat die Gerechtigkeit zur Herrschaft kommt. Wollen wir dagegen die Durchführung der Gerechtigkeit im Staat, so müssen wir uns der Regentschaft des für dieses Amt hinreichend Gebildeten und Rechtliebenden unterwerfen. Wir können das Wesentliche dieser Überlegung auf einen sehr einfachen Gedanken zurückführen. Entweder, es gibt überhaupt ein Ideal des Rechts für die Gesellschaft. Dann soll der Staat ihm gemäß regiert werden, unabhängig davon, ob sich eine Mehrheit findet, deren Wille auf dieses Ideal gerichtet ist. Oder aber, es gibt kein solches Rechtsideal für die Gesellschaft. Dann kann auch die Demokratie kein solches sein. Nur eine Ausflucht ließe sich denken, auf die der Verteidiger des Ideals der Demokratie sich zurückziehen kann. Er kann nämlich sagen: Es gibt allerdings ein Rechtsideal für die Gesellschaft unabhängig von dem Beschluß der Mehrheit. Aber dieses besteht eben darin, daß die Mehrheit im Staate regieren soll. Was also auch immer die Mehrheit für gut halten mag, das Recht wird dadurch und nur dadurch erfüllt, daß ihr Wille zur Ausführung gelangt. Die Demokratie und das Rechtsideal der Gesellschaft sind ein und dasselbe. Dann allerdings kann gar nicht die Frage entstehen, ob das Volk auch hinreichend gebildet ist, um wirklich das Recht zu wollen. Denn nur dadurch, daß die Mehrheit etwas will, wäre dieses als Recht gekennzeichnet. Man muß sich aber darüber klar sein, daß nach der Konsequenz dieser Auffassung alle Möglichkeit einer Einschränkung der Ver-
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bindlichkeit von Majoritätsbeschlüssen durch rechtliche Anforderungen höherer Art entfällt. Es ist damit die Unvereinbarkeit des demokratischen Prinzips mit der Aufrechterhaltung solcher höheren rechtlichen Anforderungen zugestanden: Die Frage, ob das Volk für die Demokratie reif sei, verliert dann jeden Sinn, und als die allein noch haltbare Form dieses Prinzips erscheint das, was Ku HuNGM1NG »die Religion der Pöbelverehrung« nennt.III Aber auch wenn man, um das Prinzip zu retten, diese Konsequenz in Kauf nimmt, es bleibt eine vergebliche Ausflucht. Sie führt nur von neuem auf Widersprüche. Denn angenommen, es gäbe ein solches Rechtsprinzip, wonach Recht allemal das ist, was der Wille der Mehrheit im Volke verlangt, dann wäre doch die Geltung dieses Prinzips selber dem Belieben der Mehrheit entrückt. Und wir hätten also einen Rechtsgrundsatz, der schon für sich feststehen und als solcher ausgemacht sein müßte, ehe wir einen Rechtsgrund hätten, die Demokratie einzuführen und also das Urteil der Mehrheit anzurufen. Wir dürften es also nicht dem Belieben des Volkes überlassen, ob es sich selbst regieren will oder nicht. Andererseits verlangt das fragliche Prinzip von uns, den Willen der Mehrheit im Volke ohne Einschränkung entscheiden zu lassen. Wenn also das Volk beschließt, die Regierung wieder aus der Hand zu legen und an einen Autokraten abzutreten, so müßte auch dieser Beschluß, der die Demokratie außer Kraft setzt, verbindlich sein, was dem Prinzip widerspricht. Betrachten wir die Geschichte der modernen Demokratie, so begegnen uns dort auf Schritt und Tritt Beispiele für diese Widersprüche. Gleich die klassische Geburtsurkunde des demokratischen Zeitalters, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, enthüllt uns die widerspruchsvolle Verquickung der dort aufgezählten einzelnen Freiheitsrechte mit der Proklamation der Volkssouveränität. Dieses Dokument ist das feierliche Bekenntnis zur Idee unveräußerlicher Grundrechte und verrät zugleich diese Rechte an den Zufall des Mehrheitsbeschlusses. Ein Gefühl für diese Unzuträglichkeit drückt sich aus in einer noch heute geltenden interessanten Bestimmung der amerikanischen Verfassung, die ein richterliches Einspruchsrecht gegen parlamentarische
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Gesetzesbestimmungen zuläßt, wo deren Anwendung gegen Jene Grundrechte verstoßen würde. Es ist merkwürdig, wie wenig man sich bewußt ist, daß mit dieser dort im geltenden Recht anerkannten Einschränkung der Volkssouveränität die Demokratie par excellence das demokratische Prinzip als solches aufgehoben hat, indem sie sich einem höheren Rechtsprinzip beugt. Daß diese Oberordnung eines höheren Rechtsprinzips nicht in ihre weiteren Konsequenzen verfolgt wurde, und daß man sich überhaupt dieses widerspruchsvollen Verhältnisses nicht recht bewußt geworden ist, erklärt sich einmal aus der tatsächlichen Inhaltlosigkeit der dort verbrieften Freiheitsrechte und andererseits aus dem Enthusiasmus für die 1dee des Rechts, der man in jenen Freiheitskämpfen huldigte und der, gerade weil man ihren Inhalt nicht zu fassen verstand, sich das demokratische Prinzip unterschob, auf das nun der ganze Glorienschein jener erhabenen Idee fiel. Als später die große sozialistische Bewegung des neunzehnten Jahrhunderts die leere Freiheitsideologie fallen ließ und die wirklich gehaltvolle und fruchtbare Idee der sozialen Gleichheit auf den Schild hob, war die demokratische Doktrin längst so weit zum Dogma erstarrt, daß die Sozialdemokratie dieses Erbstück der von ihr sonst so verspotteten bürgerlichen Ideologie unbesehen übernahm. Die doktrinäre Befangenheit macht sie blind gegen den nunmehr grotesk gewordenen Widerspruch, wie er schon im Namen der »Sozial-Demokratie« grell zutage tritt. Die politischen Wirrnisse, die diese Verwirrung der Begriffe über die Völker bringt, drängen sich einem klar sehenden Beobachter der Gegenwart überall auf. Eins der tragischsten Beispiele haben wir soeben erlebt. Ich denke an die Rechtsprinzipien, in deren Namen Präsident WILSON in den Krieg eingetreten ist. Er hat einmal selber den Grundgedanken, den alle seine Reden mehr oder weniger deutlich und durchsichtig umschreiben, auf eine Formel gebracht und ausdrücklich erklärt, daß diese Formel alle seine Bestrebungen umschließe. Es war in seiner Rede am Grabe GEORGE WASHINGTONS am 4. Juli 1918. Die Formel lautet: The reign of law, based on the consent of the
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governed. (Die Herrschaft des Rechts, gestützt auf die Einwilligung der Regierten.) Man kann gar nicht greifbarer die Überbestimmtheit des demokratischen Prinzips hervortreten lassen, als es durch diese Formel geschieht. Es werden hier zwei Maxima, die voneinander unabhängig sind, in einer Formel vereinigt. Einmal die Übereinstimmung der Regierung mit dem Willen der Regierten. Andererseits aber ihre Übereinstimmung mit dem Recht. An diesem Widerspruch ist W1LSONS praktische Politik wirklich gescheitert. W1LSON hatte ein Ideal des Rechts unabhängig von dem Willen der Mehrheit, nämlich das Ideal des Völkerbundes nach dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Völker. Für dieses Ideal ist er in den Krieg eingetreten. Er wollte den Frieden der Gerechtigkeit, in dem es weder Sieger noch Besiegte gibt. Aber er hat als demokratischer Präsident dem Willen der Völker, die er führte, nicht widerstehen können und wollen. Und dieser Wille hat seine idealen Rechtsbestrebungen zuschanden gemacht. Ein anderes Beispiel bietet ein neulich in Belgien vorgekommener Fall. Dort tobte längst der Kampf darum, ob man das Frauenstimmrecht einführen sollte. Es hätte dies einer einfachen Konsequenz der Grundforderungen der demokratischen Partei entsprochen. Nun machte sich aber eine andere Partei, nämlich die klerikale, diese Forderung zunutze. Die Klerikalen wußten, daß sie nur den Frauen das Stimmrecht zu verschaffen brauchten, um den Staat vollends in ihre Hand zu bekommen. Die Demokraten sahen das und stemmten sich deshalb gegen die Einführung des Frauenstimmrechts. Denn sie hatten neben ihrem demokratischen Ideal noch ein ganz anderes Ideal vor Augen: das Ideal der Geistesfreiheit. Und als sie sahen, daß sie beide Ideale nicht vereinigen konnten, traten sie den demokratischen Forderungen der Klerikalen entgegen und haben es wirklich durchgesetzt, daß nur die Frauen das Stimmrecht bekamen, die entweder Witwen oder Mütter von gefallenen Kriegern waren. Auch die Entwicklung der neuen deutschen Demokratie bietet interessante Beispiele für das, was ich hier illustrieren möchte. Da handelte es sich vor allem um die folgenschwere Entscheidung, ob Deutschland den Versailler Frieden unterzeichnen sollte. Wie stellten
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sich die Demokraten zu dieser Frage? Wenn eine solche Frage wirklich dadurch gelöst würde, daß man den Willen der Mehrheit durchführt, so hätten die Demokraten es als richtig anerkennen müssen, den Frieden zu unterzeichnen. Sie haben aber gegen die Unterzeichnung gestimmt. Und sie haben dagegen gestimmt, weil ihnen offenbar ein ganz anderes Ideal der Zukunft Deutschlands vorschwebte als das demokratische, ein Ideal, mit dem die Unterzeichnung des Friedens ihnen als unvereinbar erschien. Und sie haben - was besonders bemerkenswert ist - auch, als sie überstimmt waren, ihren Standpunkt nicht geändert. Wäre wirklich das demokratische Prinzip maßgebend, so hätte man im Grunde überhaupt keine Richtschnur, um sich bei solchen Fragen ein Urteil zu bilden. Man müßte ja erst das Urteil der Mehrheit abwarten. Wie sollte dann aber dieses selbst zustande kommen, da ja die Mehrheit nur aus lauter einzelnen Urteilenden besteht? Man könnte ebenso gut, ja man müßte schließlich an den Knöpfen abzählen, wofür man sich entscheiden soll. Es gäbe überhaupt keinen Streit der Meinungen, auch keinen Widerstreit der Meinungen der Mehrheit und der Minderheit in politischen Fragen, wenn nicht schon ein anderer Grundsatz für die Beurteilung dieser Fragen als maßgebend vorausgesetzt würde, dem gemäß der einzelne sich bei Abstimmungen entscheidet. Im Grunde ist denn auch der Sieg der demokratischen Doktrin in der Gegenwart nur ein Ausfluß des Unglaubens an das Rechtsideal, das man zunächst in der Theorie nicht dialektisch zu verfechten vermag und dessen Ansehen dann schließlich auch in der Praxis mehr und mehr dahinschwindet. Weil es, wie man sich einredet, kein objektiv erweisliches Rechtsideal gibt, darum darf - so schließt man - das Urteil keines einzelnen zum allgemein verbindlichen Maßstab genommen werden, sondern es muß, unter Ausschließung aller solchen Bevorzugung, das Urteil jedes Bürgers gleichermaßen an der Bildung des allgemein gesetzgebenden Urteils Anteil haben. Daher die Grundforderung der Demokratie: das Prinzip der politischen Gleichberechtigung. Ich fand neulich in dem Buch eines deutschen Professors diesen tieferen Grund seines demokratischen Standpunktes mit einer be-
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grüßenswerten Deutlichkeit ausgesprochen. Er sagte: Vor dem Staat müssen alle Bürger gleich sein, ohne Rücksicht auf den Widerstreit ihrer Weltanschauungen und Interessen. Der Staat darf nicht eine der Weltanschauungen, die in ihm vertreten werden, willkürlich auszeichnen und, indem er sie sich zu eigen macht, deren Gegner unterdrücken oder auch nur von der Regierung ausschließen. - Hier haben wir den Widerspruch wieder greifbar vor uns! Wenn jede Bevorzugung einer Weltanschauung- ja schon Staatsanschauung, denn nur darauf kommt es hier an - willkürlich wäre, wenn für den Staat keine der einander widerstreitenden Weltanschauungen der Bürger ausgezeichnet sein darf in dem Sinn, daß die Regierung sich diese Weltanschauung zu eigen macht und ihr gemäß ihr Amt verwaltet, so dürfte ja auch die in diesem Grundsatz ausgesprochene demokratische Weltanschauung jenes Professors keine Bevorzugung vor irgendeiner anderen beanspruchen und also nicht zur Richtschnur der Staatsverfassung dienen. Das fragliche Argument vernichtet sich also unmittelbar selber. Wir mögen eine Staatsform wählen, welche wir wollen: indem wir sie vor anderen bevorzugen, schließen wir uns einer Weltanschauung oder doch einer Staatsanschauung an, im Gegensatz zu allen anderen, die wir ausschließen. In der Tat müssen wir hier wählen, müssen wir uns entscheiden. Wie wir auch den Staat einrichten wollen: bei dem Konflikt der Weltanschauungen wie bei dem Konflikt der Interessen muß die eine Partei der anderen weichen. Und für die Entscheidung dieses Konfliktes brauchen wir ein Prinzip, einen Grundsatz, der die eine Seite vor der anderen auszeichnet, wenn die Entscheidung nicht einer bloßen Gewaltprobe überlassen bleiben soll. Man fürchtet, daß jede solche Auszeichnung einer Weltanschauung, jede Bevorzugung einer bestimmten Partei, uns auf die Vergewaltigung aller übrigen zurückführt und damit zur Autokratie, zum Despotismus. Diese Befürchtung ist aber selbst nur ein Ausfluß jenes Unglaubens an ein objektives Recht, an die Möglichkeit der von aller Willkür unabhängigen Auszeichnung einer Wahrheit auf dem Gebiet des Rechts. Wenn es eine solche Wahrheit gibt, und wenn wir sie auszeichnen in dem Sinne, daß wir ihr gemäß den Staat regieren lassen, so kann ja hier nicht von Autokratie oder von Despo-
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tismus die Rede sein. Denn hier vergewaltigt nicht ein Wille den anderen, sondern hier herrscht das Recht über alle Willkür. Die Demokratie dagegen überläßt die Entscheidung dem zufällig so oder anders sich bildenden Mehrheitswillen und entzieht sie damit dem Recht. Sie überläßt es bestenfalls dem Zufall, ob der sich bildende Mehrheitswille auf das Recht gerichtet ist. Ein Grund, diese Übereinstimmung des Mehrheitswillens mit der Forderung des Rechts anzunehmen, sie auch nur für wahrscheinlich zu halten, liegt nicht vor. Man müßte denn annehmen, daß die Einsicht in das Recht evident sei, in dem Grade, daß es keiner besonderen Bildung des Verstandes bedürfte, um zu dieser Einsicht zu gelangen, und keiner besonderen Bildung des Willens, um sich durch diese Einsicht, wenn man sie einmal erlangt hat, auch in seinem Handeln bestimmen zu lassen, - eine Voraussetzung, deren Optimismus aller Erfahrung Hohn spricht. 1v Und so lehrt uns denn auch ein Blick auf die Geschichte - wenn wir überhaupt imstande sind, mit ungetrübtem Blick die Geschichte zu betrachten, statt uns den freien Blick durch eine Doktrin umnebeln zu lassen-, daß alle die schönen Hoffnungen, die man auf die Demokratie gesetzt hat, nicht in Erfüllung gegangen sind. Die Demokratie hat uns nicht, wie man uns versprochen hat, den Frieden gebracht, nicht die Gedankenfreiheit, nicht die soziale Befreiung und die allgemeine Harmonie der Interessen. Aber leider beherrscht die demokratische Ideologie die Gemüter in dem Grade, daß man die Unbefangenheit verloren hat, aus der Geschichte, aus der Erfahrung zu lernen. Diese Tatsache zeigt so recht, wie viel mächtiger die Doktrin ist als alle Lehren der Erfahrung. Selbst die Bolschewisten, über die man sonst denken mag, wie man will, denen man aber das Verdienst nicht absprechen kann, in der Praxis rücksichtslos mit den traditionellen Formen der Demokratie gebrochen zu haben, selbst sie propagieren ihre eigenen Bestrebungen mit einer demokratischen Doktrin und glauben auf diese Sanktion nicht verzichten zu dürfen. Freilich unterscheiden sie die »wahre Demokratie« von der falschen, die proletarische Demokratie von der bürgerlichen. In Wirklichkeit schwächen sie damit nur die Stoßkraft ihrer eigenen Ideen. Denn was ist »wahre Demokratie« anders als die Einschränkung des »wahren« politischen Ideals auf die unerfüllbare Bedingung sei-
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nes Zusammentreffens mit der Anwendung des Majoritätsprinzips. So etwas wie die »wahre Demokratie« scheint übrigens auch den reformfreundlichen Bestrebungen vorgeschwebt zu haben, die ihren organisatorischen Niederschlag in einer der jüngsten schweizerischen Parteigründungen gefunden haben: dem »Schweizerischen Bund für Reformen der Übergangszeit«. Es ist für die Naivität, mit der solche an sich wohlmeinenden Bestrebungen heute organisiert werden, bezeichnend, wie dieser neue Bund sein politisches Ziel fixiert: »Eine auf dem Prinzip der Gerechtigkeit gegründete demokratische Verfassung soll die Verwirklichung gerechter Ziele verbürgen.« So lautet der grundlegende Satz, mit dem sich das neue Unternehmen bei seiner ersten öffentlichen Kundgebung selbst einführt. Daß eine auf dem Prinzip der Gerechtigkeit gegründete Verfassung die Verwirklichung gerechter Ziele verbürgen soll, ist eine These, deren Banalität immerhin den Vorzug mit sich bringt, daß sie unangreifbar ist. Daß andererseits eine demokratische Verfassung die Verwirklichung gerechter Zustände verbürgen könne, ist eine Behauptung, die durch ihre Fragwürdigkeit immerhin vor der Gefahr der Banalität gesichert ist. Die dort proklamierte Verdoppelung der Bürgschaften aber ist eine Überspannung der guten Absicht, die sich dadurch rächt, daß sie den Verlust beider Vorzüge nach sich zieht, die die eine und andere der in ihr vereinigten Forderungen für sich in Anspruch nehmen könnte. Wenn wir uns unvoreingenommen in der Geschichte umsehen, welche Organisationen politischer Art in ihr einen Dauererfolg erzielt haben, so finden wir vor allem zwei Organisationen, die in dieser Hinsicht für uns vorbildlich sein können, wenn wir auch erst untersuchen müssen, wie weit sie ihre Erfolge wirklich ihrer Organisationsform verdanken und nicht vielleicht der Eigenart des Zwecks, in dessen Dienst sie sich gestellt haben. Es sind die Organisationen der katholischen Kirche und die Militärorganisationen der modernen Großstaaten. Untersuchen wir nun die Frage, worauf die Erfolge dieser Organisationen beruhen, so kommen wir in der Tat zu dem Ergebnis, daß
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der Grund der Erfolge nicht so sehr in dem Ziel liegt als vielmehr in der Methode, mit der sie an der Verwirklichung ihres Zieles gearbeitet haben, nämlich in der Form ihrer Organisation. Die Organisation war so zweckmäßig ersonnen, daß sie den Zufall nach Menschenmöglichkeit ausschloß, daß sie die immer bessere Annäherung an ihr Ziel garantierte. Wir müssen uns fragen, wodurch sie sich diese Garantie geschaffen hat. Diese Frage ist nicht schwer zu beantworten. Das Wesen der Organisation besteht ja eben darin, den angestrebten Erfolg dem Zufall dadurch zu entziehen, daß man die zu seiner Herbeiführung geeigneten Maßnahmen nicht dem Belieben der Mitglieder der Organisation überläßt, daß man einen von dem Gutdünken und Belieben der einzelnen unabhängigen Willen konstituiert, der einzig und allein durch die Vorstellung des angestrebten Erfolges bestimmt wird und der insbesondere auch über die Mittel zu seiner Herbeiführung verfügt, einzig und allein gemäß der Vorstellung des angestrebten Erfolges, und das heißt wiederum: unabhängig von zufällig sich in der Organisation bildenden Meinungen und Wünschen der einzelnen. Wir können eine Vereinigung von Menschen eine Organisation überhaupt nur nennen nach Maßgabe des Umfanges oder Grades, in dem sie das von ihr anzustrebende Ziel in dieser Weise dem Belieben ihrer Mitglieder entrückt. Und die eben angeführten Beispiele sind wirklich Beispiele von Organisationen in diesem ausgezeichneten Sinne des Wortes. Eine eigentliche Organisation kann also gar nicht demokratisch aufgebaut sein, und jene beiden Beispiele, die durch ihren Erfolg vorbildlich sind, sind in der Tat das gerade Gegenteil einer demokratischen Organisation. Es herrscht in ihnen der Wille desjenigen, der die beste Einsicht in das angestrebte Ziel hat und der mit der größten Umsicht über die Mittel zu seiner Durchführung gebietet und dem diese Mittel auch vollkommen in die Hand gegeben sind, so daß er über sie verfügen kann über den Kopf der einzelnen hinweg. Kurz, es ist das Prinzip der Führerschaft, nach dem diese Organisationen arbeiten.V Man sagt wohl, daß Führerschaft und Demokratie einander nicht ausschlössen, da die Masse auch in der Demokratie von ihren Füh-
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rern beeinflußt und gelenkt werde. Man kann sogar die Meinung hören, daß gerade nur durch die Demokratie der Weg für die einzelnen frei werde, ihre Fähigkeit als Führer zu erweisen. Die Demokratie sei die große Arena, aus der der Tüchtigste als Sieger hervorgehe. Um hier aus der Verwirrung der Begriffe herauszukommen, müssen wir vor allem unterscheiden zwischen dem faktischen Führer, wie er in jeder Gesellschaft sich findet, und dem berufenen Führer, der dadurch ausgezeichnet ist, daß er die beste Einsicht in das Ziel und den besten Willen zu seiner Verwirklichung besitzt. Und wir müssen uns fragen, ob der Führer, der in der Demokratie die Masse lenkt, der berufene Führer ist, oder ob wenigstens eine Wahrscheinlichkeit besteht dafür, daß der berufene Führer in der Demokratie wirklich zur Führung gelangen wird. In der Tat haben wir nicht nur keinen Grund, sein Emporkommen für wahrscheinlich zu halten, sondern wir haben allen Grund, das Gegenteil für wahrscheinlich zu halten. Denn die Eigenschaften, auf denen das Talent beruht, wirklich in eine führende Stellung einzudringen, sind andere und nicht leicht vereint mit denen, die dazu gehören, eine solche Stellung gut auszufüllen. Darüber, wer in der Demokratie emporkommt, entscheiden andere Umstände als der Beruf zur Führerschaft. Es entscheiden die Methoden der Demagogie, d. h. der Verführung der Massen durch Überredung, und es hat derjenige den Vorsprung in der Chance, innerhalb der Demokratie zur Führung zu gelangen, der diese Methoden am besten handhabt, der also der Masse am geschicktesten zu schmeicheln versteht, der ihr die lockendsten Vorteile verspricht und der am skrupellosesten den Kampf mit seinen Rivalen führt. Aber es bedarf nicht einmal der Bemühungen des eigenen Geistes, um den Gegner aus dem Felde zu schlagen. Es genügt, daß einem der Zufall äußere Glücksgüter in den Schoß geworfen hat, um die öffentliche Meinung zu kaufen. Denn zu einer Zeit, in der die Kunst des Lesens hinreichend weit verbreitet ist, leistet die Monopolisierung der Presse das gleiche wie der Beichtstuhl des Priesters bei ungebildeteren Völkern.VI Auch dies bestätigt die Erfahrung. Die Typen der CLEMENCEAU, ERZBERGER und NoRTHCLIFFE charakterisieren die Demokratie
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treffender als die Typen eines W1LSON oder MAx VON BADEN. Den einen ist der Erfolg beschieden - über alle in der Demokratie unvermeidlichen Schwankungen hinweg -, den anderen nicht einmal dann, wenn sie wirklich zur Führung durchdringen. Die Methoden, nach denen sie führen, vertragen sich nicht mit dem, was allein ihnen in der Demokratie die Herrschaft über die Massen sichern könnte, und daran müssen sie scheitern. Woher dann aber die Täuschung, durch die sich die Demokratie als ein Mittel empfiehlt, ja als das allein mögliche Mittel, die Tüchtigen an die Spitze zu bringen? Eine sophistische Verdrehung der Begriffe ist die Ursache, ein Spiel mit Worten, das harmlos erscheinen und dessen Entwirrung eine akademische Angelegenheit bleiben könnte, wenn nicht die leidenden Völker die Folgen seines Mißbrauchs zu tragen hätten. Demokratie, sagt man, bedeutet gleiche Möglichkeit des Aufstiegs für alle Tüchtigen; es hängt in ihr also nur von der Tüchtigkeit des einzelnen selbst ab, wie weit es ihm gelingt, zur Führung aufzusteigen. Nun wohl, wenn man das Wesen der Demokratie in der Ausschließung aller von der persönlichen Tüchtigkeit unabhängigen Privilegien sieht, so ist die Demokratie der Rechtsstaat, und die Folgerung wird unbestreitbar, daß in der Demokratie dem Tüchtigsten die Führung zufällt. Aber so verstanden, verwandelt sich diese These in eine nichtssagende Tautologie. Sie spricht eine Trivialität aus, deren Anschein von praktischer Tragweite nur dadurch erschlichen wird, daß man dem hier sehr irreführenderweise gebrauchten Wort »Demokratie« unwillkürlich den sonst gewohnten Begriff unterschiebt, nach dem es eine bestimmte Form der Verfassung bedeutet, nämlich eine solche, die auf dem Prinzip der politischen Gleichberechtigung und also der Volkssouveränität beruht. Die bloße Unterscheidung dieser beiden Begriffe beweist freilich noch nicht, daß ein Staat, der dem einen Begriff genügt, nicht zugleich dem anderen genügen könnte oder sogar müßte. Wie es sich hiermit verhält, haben wir vorhin schon entschieden: Bei Licht besehen, sind die beiden Anforderungen unvereinbar. Demokratie, als die Staatsform der politischen Gleichberechtigung oder der Volks-
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souveränität verstanden, bedeutet die verfassungsmäßige Gleichheit des Anteils aller im Volke hinsichtlich der Mitwirkung an der Bildung - und das heißt hier Wahl - der Regierung. Demokratie dagegen, als Ausschließung aller von der persönlichen Tüchtigkeit unabhängigen Vorrechte verstanden, bedeutet die Gleichheit des Anteils aller gleich Tüchtigen, mit anderen Worten: die Ausschließung aller nicht hinreichend Tüchtigen von der Mitwirkung an der Regierung. Die beiden Forderungen decken sich also nicht nur nicht, sondern sie schließen einander geradezu aus - es sei denn, daß wir uns auf die Fiktion eines Volkes einlassen, das überhaupt nur aus lauter gleich Tüchtigen besteht, eine Voraussetzung, bei der offenbar unser Problem des Aufstiegs des Tüchtigsten sein Interesse verlieren würde. Lassen wir uns also einmal auf den gefährlichen Sprachgebrauch ein, der den Zauber der demokratischen Doktrin ausmacht, - es ist ja wohl ein Gebot der Höflichkeit, dem Gegner in der Form entgegenzukommen und also mit ihm seine Sprache zu reden-, so werden wir gern in den Ruf einstimmen, der im Namen des Rechts die Demokratie fordert, wenn man uns nur zugleich die Paradoxie erlaubt, im Namen der Demokratie die politische Gleichberechtigung (und also die Volkssouveränität und das Majoritätsprinzip) abzulehnen. So allein werden wir konsequente Demokraten sein. Und es ändert an der Sache selbst nichts, ob wir diese Konsequenz in die eben ausgesprochene höflichere Form kleiden oder ob wir, zur gewöhnlichen Sprache zurückkehrend, offen heraus sagen, daß wir um des Rechts willen die Demokratie verwerfen müssen. Die Demokratie ist nicht die große Arena, aus der der Tüchtigste als Sieger hervorgeht. Sie ist die Narrenbühne, auf der der pfiffigste oder bestbezahlte Schwätzer dem vornehmen und nur auf seine gute Sache bauenden Charakter den Rang abläuft.VII Kommen wir auf die Frage zurück, woran wir den zum Führen tüchtigen und also den berufenen Führer erkennen, so habe ich die Antwort eigentlich schon gegeben. Die Eigenschaften, die den berufenen Führer auszeichnen, sind Klarheit der Einsicht in das rechte Ziel, Stärke und Reinheit des Willens in der Durchsetzung dieses
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Ziels und Organisationsgeschick in der Beherrschung der Mittel zu seiner Durchsetzung. Da die Mittel, mit denen politische Ziele herbeigeführt werden müssen, Menschenkräfte sind, so gehört zum Organisationsgeschick des berufenen Führers insbesondere Menschenkenntnis. Aber nicht nur Kenntnis der anderen Menschen, sondern auch und vor allem Selbsterkenntnis, d. h. Erkenntnis der Grenzen des eigenen Könnens, der eigenen Kräfte, auch der eigenen sittlichen Kräfte. Denn der Führer muß wissen, wo seine Grenzen liegen, um den Mangel an eigenen Kräften durch die Hinzuziehung fremder richtig ausgleichen zu können. Und ein schwächer begabter Mensch, der doch seine eigenen Grenzen kennt, wird ein besserer Führer sein als der begabtere, der sich über seine eigenen Grenzen täuscht.VIII Wie sollen wir uns nun die Organisation des Staates denken, damit in ihm der Wille des berufenen Führers die Entscheidungen fällt? Sind wir nicht auf das gute Glück angewiesen, damit uns solche Führer im Staate beschert werden? Oder können wir etwas dazu tun, wenigstens, daß, wenn sie da sind, ihnen auch die Führung im Staate zufällt, oder vielleicht auch, daß sie da sind? Ein Blick auf die Geschichte lehrt uns wieder, daß dieses keine Utopien sind. Das großartigste Beispiel habe ich schon angeführt. Es ist das der katholischen Kirche. Aber wir finden auch sonst Beispiele, daß es nicht utopisch ist, im Staat etwas derartiges anzustreben. Im alten Rom hatten die Kaiser das Recht, als ihren Nachfolger den ihnen am würdigsten Erscheinenden zu adoptieren, und ähnliches gilt für das China der Vorzeit. Es verhält sich keineswegs so, daß der berufene Führer auf die Gunst des Zufalls angewiesen sein müßte, um zur Regentschaft zu kommen, oder daß er sie doch nur durch einen Staatsstreich erringen könnte, indem er sich zum Diktator aufwirft. Sondern es sind Einrichtungen möglich, die ihn automatisch zur Führung aufsteigen lassen. Und es ist ebensowenig dem Zufall anheimgegeben, ob wir im Staat über die Menschen verfügen, denen wir diesen Aufstieg wünschen sollen; denn der berufene Führer ist kein anderer als der jeweils beste unter den Menschen einer Generation. Wir sind nicht auf Idealmenschen angewiesen, nicht auf Halbgötter, um von ihnen das Heil des Staates zu erwarten, wenn nur dafür gesorgt wird, daß der jeweils Beste, den wir über-
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haupt finden können, zur Führung kommt. Das Muster einer solchen Einrichtung, die automatisch den Besten (im Sinne des Zieles der Organisation) zur Führung aufsteigen läßt, bietet uns die katholische Kirche. Und die Möglichkeit derartiger Einrichtungen ist keineswegs an das besondere Ziel dieser Organisation gebunden, sondern wir können uns alles Wesentliche an jenen Einrichtungen von diesem Ziel losgelöst und in den Dienst eines anderen, ja gerade entgegengesetzten Ziels gestellt denken.IX Es handelt sich nur darum, ein automatisch wirkendes Ausleseverfahren zu schaffen, das die für den Führerberuf in Betracht kommenden Menschen einer geeigneten Erziehung zuführt und von diesen nach und nach die am besten Erzogenen aussiebt, bis wir die Besten an die Spitze bringen. Daß es uns heute ganz an solchen Einrichtungen fehlt, das liegt durchaus nicht an der Schwierigkeit, die es hätte, sie zu ersinnen und durchzuführen. Sondern es liegt an einem Aberglauben, der die Gemüter beherrscht, dem Aberglauben an das allein seligmachende Dogma der Demokratie, der die politische Denkkraft lähmt und uns dadurch verhindert, nach solchen Einrichtungen auch nur zu suchen. Dieser Aberglaube - der, wie wir sahen, die natürliche Folge des Unglaubens an die Erkennbarkeit einer rechtlichen Wahrheit ist und darum Vernunft und Recht an Zufall und Willkür verrät -, dieser unwürdige Aberglaube allein ist Schuld an der politischen Zerrüttung, die die europäischen Völker mit aller ihrer Kultur immer tiefer in den Abgrund reißt. Dieser Aberglaube ist in der Tat unwürdiger und beschämender als der Aberglaube des Mittelalters, auf den wir geringschätzig herabzusehen pflegen. Denn der religiöse Aberglaube, der damals Europa beherrschte, widerspricht doch nur den Naturgesetzen, die man kennen lernen mußte, um ihn abzuschütteln. Dagegen der politische Aberglaube, der heute die europäischen Völker beherrscht, widerspricht unmittelbar der simplen Logik. Man bedarf keiner Kenntnis der Natur oder der Geschichte, um ihn als Wahnwitz zu erkennen. Man braucht dazu nichts weiter als den einfachen Mut zum folgerichtigen Denken. Und während der mittelalterliche Aberglaube wenigstens insofern harmlos war, als die Erscheinungen der Natur, über deren Wesen sich die Menschen infolge ihrer Unwissenheit täuschten, doch ungestört ihren Gang gingen, unbeein-
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flußt durch die Torheit der Menschen, so wird durch den modernen Aberglauben alles Recht in der menschlichen Gesellschaft zerrüttet, und die Quellen selbst, von denen eine Besserung ausgehen könnte, werden durch ihn verschüttet. Diese Quellen liegen in der Tiefe des menschlichen Geistes, in unserer eigenen Vernunft - unserem Vermögen der Erkenntnis der rechtlichen Wahrheit. Diese Erkenntnis ist freilich nicht an und für sich evident, und das ist der Grund, weshalb sie verkannt wird. Der Weg des geraden und unverdorbenen Denkens führt zu ihr. Aber wem dieses unter dem Einfluß einer verschrobenen Doktrin abhanden gekommen ist, dem kann sie sich vollends verdunkeln. Und so kann sie sich, wenn die Verbildung der Denkart weit genug um sich greift, einem ganzen Zeitalter verdunkeln. Kein geringerer Menschenkenner als DosTOJEWSKI hat es gelassen ausgesprochen: »Die Ameise kennt die Formel ihres Baues, die Biene kennt die Formel ihres Stocks, aber der Mensch kennt seine Formel nicht.« Was sonst als der Mangel des Tieres galt, das erscheint hier geradezu als ein auszeichnendes Privileg des Menschen: Der Genuß der Unbelastetheit durch Vernunft und Verantwortung. In der perversen Sensation dieser Entbundenheit schwelgt das durch seine eigenen Dichter und Denker im buchstäblichen Sinn des Wortes entmenschte Zeitalter - sei es unter der sublimen Maske religiöser Demut, in der affektierten Wertblindheit weichlicher Liebesapostel, sei es im offenen Zynismus jener Selbstverhöhnung, wie sie sich in dem ohnmächtigen Wutschrei eines deutschen Journalisten Luft macht: »Verflucht sei Gott, daß er uns den Verstand gegeben hat.« Die politische Ausdrucksform dieser geistigen Entartung ist die Demokratie.X Wir haben von einem fernen Ziel gesprochen, über das wir uns aber doch Klarheit verschaffen mußten, wenn wir in vernünftiger Weise auf dieses Ziel auch nur hinarbeiten wollen. Ja wir müssen uns um so klarer über dieses Ziel sein, je ferner es liegt und je schwieriger seine Erreichung ist. Denn wie sollten wir sonst die geeigneten Mittel ausfindig machen, um alle die uns bevorstehenden Schwierig-
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keiten zu überwinden? Wir kehren jetzt zu dieser Frage zurück: Was sollen und können wir tun -wir, die so weit von diesem Ziel entfernt sind -, um es näher zu rücken, zumal wir alle in einem demokratischen Staatswesen leben, in einem Staatswesen, das nicht wie einst zur Zeit des absoluten Fürstentums der Wille eines einzelnen lenkt, von dem wir hoffen könnten, daß er durch Belehrung, durch die überzeugende Krafl: der Wahrheit gewonnen, daß er dafür begeistert werden könnte, die Machtfülle, die er in Händen hat, anzuwenden, um durch einen kühnen und durchgreifenden Entschluß das große Ziel zu verwirklichen. So leicht ist es uns nicht gemacht. Was in der Demokratie vor sich geht, auch aller Wandel der Staatsform, hängt ab von dem Machtverhältnis der Parteien im Sta:itte. Und wenn wir die Demokratie umwandeln wollen in einen Rechtsstaat, so können wir uns keiner anderen Mittel bedienen, als sie auch die anderen Parteien in der Demokratie anwenden. Wir müssen mit ihnen in einen Wettstreit um die Macht treten. Dazu bedarf es einer eigenen Partei. Eine politische Partei ist ja nichts anderes als eine Organisation innerhalb der Gesellschafl: zum Zwecke der Beeinflussung des Staates und also mittelbar der Eroberung der Macht im Staate. Ich sage, wir brauchen eine eigene Partei, um den demokratischen Staat umzuwandeln in einen Rechtsstaat. Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob dies auf dem Wege geschieht, daß wir die Zahl der bestehenden Parteien um eine neue vermehren, oder auf dem anderen, daß wir in eine der heute schon vorhandenen Parteien hineingehen, in der Hoffnung, sie in unserem Sinne zu reformieren. Denn um eine schon vorhandene Partei so umzugestalten, wie es für den Kampf um den Rechtsstaat nötig wäre, dazu sind doch Kräfte erforderlich, die das Maß der Kräfte, die einem einzelnen zur Verfügung stehen, weit übersteigen. In jedem F.alle ist eine eigene Organisation erforderlich, sei es auch nur als Kerntruppe innerhalb einer der bestehenden Parteien, um diese zu einer echten und kampffähigen Partei des Rechts auszugestalten.XI Wie sollen wir nun diese Partei des Rechts oder der Vernunfl:, wie wir sie auch nennen können, ihrerseits organisieren? Diese Frage beantwortet sich nach ähnlichen Überlegungen, wie
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wir sie schon angestellt haben, um über die wünschenswerte Organisation des Staates ins Klare zu kommen. Ich brauche daher nicht erst ausführlich zu beweisen, daß, wenn wir vernünftig vorgehen wollen, wir diese Partei nicht im Sinne des Majoritätsprinzips organisieren werden, sondern unter dem Prinzip der Führerschaft. Befragen Sie die Lehren der Geschichte und Ihrer eigenen Erfahrungen in bezug auf die Entwicklung der Parteien, die ja heute fast alle nach dem Majoritätsprinzip organisiert sind, und Sie werden entsprechende Mißerfolge verzeichnen müssen, wie wir sie in der Geschichte der Staaten beobachten konnten. Es ist nur ein glücklicher Zufall, wenn eine solche Partei nicht von ihrem ursprünglichen Ziel abgedrängt und dem Geist ihrer Gründer entfremdet wird. Wer mag, kann ihr beitreten - er ist ja unbesehen willkommen - und, wenn ~r Fleiß und Geschick dazu besitzt, ein diplomatisches Ränkespiel anzetteln mit dem Erfolg, daß auf dem nächsten Parteitag das ganze Programm auf den Kopf gestellt wird. Und wenn wir auch von allen Ränken absehen, durch die die Partei von ihrem Ziele abgedrängt werden könnte, so bleibt doch zum mindesten die Taktik der Partei, die Wahl ihrer Mittel, der größeren oder geringeren Umsicht der über sie abstimmenden Mitglieder überlassen. Und es ist nicht gesagt, daß diejenigen, die sich ehrlich zu dem Programm der Partei bekennen, darum schon umsichtig genug sein werden, die zweckmäßigsten Mittel und Wege ausfindig zu machen, um dem Programm zu dienen. Und noch weniger ist gesagt, daß die Mehrzahl der Parteimitglieder die Opferbereitschaft aufbringen werden, diese Mittel mit aller Kraft auch da anzuwenden, wo ihre persönlichen Neigungen dem im Wege stehen. Der Vernunftpolitiker wird, wenn er die Wahl hat, eine Partei zu organisieren, es ganz anders anfangen. Es kommt hinzu, daß die Partei der Vernunft ja die Aufgabe hat, wenn auch erst, nachdem sie die Macht erobert hat, den demokratischen Staat in den Rechtsstaat umzuwandeln. Und es wird ein Gebot der Zweckmäßigkeit sein, die Partei nach Möglichkeit von vornherein so zu organisieren, daß sie, wenn sie einmal in den Besitz der überwiegenden Macht im Staate gelangt ist, ohne weiteres diese Macht auch in dem ursprünglich angestrebten Sinne handhaben kann, und folglich so, daß sie ohne Auswechselung der Organisationsform in eine ver-
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nünftig organisierte Regierung übergehen kann. Das kann sie nur, wenn in ihr selbst das Führerschaftsprinzip schon Geltung hat. Alles hängt hier davon ab, daß man vom ersten Anfang an bei der praktischen Durchführung der Idee auch mit dem nötigen Mut der Konsequenz vorgeht. Jeder Versuch, aus Mißtrauen gegen das Führerschaftsprinzip Konzessionen an die demokratischen Vorurteile zu machen und also nach Kontrolleinrichtungen zu suchen zur Überwachung des Führers, jeder solche Versuch kann nur dazu beitragen, die Kraft der Partei zu lähmen und ihre Erfolge zu vereiteln. Denn entweder sind diejenigen, die die Kontrolleinrichtungen zur Überwachung des Führers handhaben, weniger einsichtig in die Anforderungen des Führerberufs und weniger tatkräftig als er, um auf ihrer Durchsetzung zu bestehen, dann können sie ihn nur hemmen und die Leistungen, zu denen er sonst fähig wäre, beeinträchtigen. Oder sie sind wirklich berufen dazu, ihn zu überwachen und in Schranken zu halten, dann sind sie als die Tüchtigeren in Wahrheit ihrerseits die berufenen Führer und sollten folgerichtig selbst die Führung übernehmen. Der Sorge, daß ein Mißbrauch der Machtvollkommenheit des Führers die Partei von ihrem Ziele abdrängen könnte, dieser Sorge muß auf anderem Wege Rechnung getragen werden. Das einzige Mittel hierfür ist die Vervollkommnung der Methoden zur Auswahl und Ausbildung der Führer. Denn daß wir nicht zu warten brauchen, bis der Partei ein Führergenie in den Schoß fällt, davon hatten wir uns ja überzeugt. Das einzige, was die Stabilität der Organisation sichern kann, das sind die persönlichen Qualitäten des Führers selbst, vor allem die seines Charakters, d. h. die Stärke und Reinheit seines Willens. Denn wenn es ihm an diesen fehlt, so nützen alle Talente der Intelligenz und der Organisationskunst nichts. Es ist dann keine Gewähr vorhanden, daß nicht diese Talente - je größer sie sind, desto mehr - zu schlechten Zwecken mißbraucht werden. Ein hinreichend starker und reiner Charakter wird weit eher einen Mangel an Intelligenz auszugleichen vermögen - sei es durch Vervollkommnung der eigenen Ausbildung oder durch Heranziehung besserer Kräfte - als umgekehrt die hervorragendste Intelligenz einen Mangel auf dem Gebiet des Charakters. Auf diesen Punkt muß sich die ganze Aufmerksamkeit derer richten, denen die
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Stabilität und Zielsicherheit der Partei der Vernunft am Herzen liegt. Das ist nun alles schön und gut - werden Sie sagen -, wenn wir diese Partei schon haben. Aber wie sollen wir anfangen? Noch bestehen keine Einrichtungen, die den Aufstieg des berufenen Führers sichern. Um diese zu schaffen, brauchen wir ja schon einen geeigneten Führer. Sollen wir ihn wählen? Nein! Offenbar gibt es für den Anfang keine andere Möglichkeit, als daß der zur Führung Berufene selbst seinen Beruf erkennt und aus eigener Berufung die Parteibildung unternimmt. Wollte er, um den Schein zu meiden, daß dies ein autokratisches Vorgehen sei, die Parteigründung auf schieben oder ganz unterlassen, wollte er warten, bis sich eine Gefolgschaft von selbst bildet und ihn zur Führung beruft, so würde er dadurch vielmehr seinen Mangel an Berufung zur Führerschaft beweisen. Daß es ihm im übrigen an persönlicher Vollkommenheit fehlt für die rechte Ausübung des Führerberufs, darf ihn nicht zurückhalten. Denn es gibt keinen anderen Weg, der Organisation tüchtige Führer zu verschaffen, als daß einmal ein weniger tüchtiger anfängt und sich nach besseren Nachfolgern umsieht und durch Erziehungsarbeit das ihm Mögliche tut, um diese heranzubilden.XII Hier müssen wir schließlich auf einen wesentlichen Unterschied achten hinsichtlich der Organisation der Partei des Rechts einerseits und der des Rechtsstaates andererseits. Die zwischen beiden bestehende Analogie findet eine Grenze an dem Umstand, daß es dem Führer der Partei an dem Hauptmittel für die Leitung einer festen Organisation gerade fehlt, über das der Regent im Staate gebietet. Das ist nämlich die äußere Macht, wie sie der Staat in der Form des Militärs und der Polizei besitzt, ein Zwangsmittel, dem bei der Partei nichts Ähnliches entspricht. Diese äußere Macht ist ja gerade ein Monopol der Regierung im Staat und bleibt also der Partei vorenthalten, solange wir wenigstens nicht an einen Kampf der Parteien in der Form des Bürgerkrieges denken, sondern nur an einen solchen mit äußerlich friedlichen Mitteln. Die einzige Macht, die dem Führer der Partei einen gewissen Ersatz bieten kann für die äußere Gewalt, die dem Regenten im Staate zur Verfügung steht, ist die Macht des
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Vertrauens, das die Gefolgschaft ihm entgegenbringt. Aber, um sich keinen Enttäuschungen auszusetzen, soll man sich rechtzeitig überlegen, eine wie schwankende Macht dieses Vertrauen ist und wie leicht es in die Brüche geht, wenn es auf eine ernste Probe gestellt wird. Um hierüber klarzuwerden, empfiehlt es sich, einmal die Chancen der Partei der Vernunft, von der wir jetzt sprechen, zu vergleichen mit denen einer Partei, die sich für ein außerrechtliches Ziel einsetzt, für ein Ziel, das sich nicht auf Vernunftgründe stützt, sondern auf autoritative Machtsprüche. Auch eine solche Partei, die nach dem Autoritätsprinzip arbeiten kann, ist darauf angewiesen, ohne das Mittel äußeren Zwanges zu arbeiten. Aber sie findet einen Ersatz hierfür in dem Prinzip der Autorität selber. Es besteht ein großer Unterschied zwischen der Autorität und dem Vertrauen, wie wir es in der Vernunftorganisation fordern. Denn die Autorität verlangt, ihrem Wesen nach, blinde Gefolgschaft. Sie ruht auf dem Glauben an die Unfehlbarkeit der höchsten Autorität oder ihrer Stellvertreter. Die Autorität ist nicht wie der Vernunftführer in der Gefahr, daß da, wo bei der Gefolgschaft die Einsicht versagt, die Gefolgschaft gekündigt wird. Denn der Grund der Gefolgschaft liegt ja dort nicht in der freien Zustimmung der einzelnen, sondern in dem blinden Glauben, daß die eigne Vernunft nicht hinreicht und daher die bedingungslose Unterwerfung unter die Autorität notwendig ist. Wo aber die Autorität dennoch zu fürchten hätte, daß der Glaube an sie erschüttert und ihr der Gehorsam gekündigt werden könnte, da bleibt ihr immer noch die Freiheit, in der Strenge ihrer Forderungen etwas nachzulassen und sich der Schwäche der Gefolgschaft so weit anzupassen, wie es der Fall gerade erfordert. Alle ihre Forderungen ruhen ja, der Voraussetzung nach, zuletzt auf Willkür. Sie können also auch willkürlich abgeändert werden, wenn ein höherer Zweck es verlangt. Der Vernunftführer ist nicht in dieser glücklichen Lage. Denn die Forderungen, die er vertritt und aus deren Vertretung allein er sein Anrecht auf Vertrauen herleitet, sind Forderungen der Vernunft. Sie beanspruchen Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, und es ist, ohne sie ganz preiszugeben, für ihn nicht möglich, etwas von ihnen
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nachzulassen, um sich der Schwäche seiner Gefolgschaft anzubequemen. Und noch einen anderen Vorzug haben die Autoritätsorganisationen, der ihnen die Treue der Gefolgschaft sichert. Die Autorität befreit die ihr Ergebenen von der sauren Mühe des eigenen Nachdenkens darüber, was zu tun recht ist, und kommt schon dadurch einer mächtigen und verbreiteten Neigung entgegen. Ja sie geht noch viel weiter in solchem Entgegenkommen, indem sie die Menschen von der Last der eigenen Verantwortung befreit durch das System der Bevormundung, das ja mit dem der Autorität unzertrennlich verknüpft ist. Erfahrungsgemäß sind die Menschen bereit, lieber alle erdenklichen persönlichen Opfer zu bringen, als die Last der eigenen Verantwortung auf sich zu nehmen und wirklich zu tragen. Der Vernunftführer aber muß an das eigene Denken der Menschen appellieren, um eine Gefolgschaft zu finden und festzuhalten. Und er kann ihnen die eigene Verantwortung für den Entschluß zur Gefolgschaft nicht abnehmen. Daher ist es, wie auch die Erfahrung bestätigt, so viel bequemer, einer Autorität zu folgen als dem Vernunftführer. Was folgt nun hieraus für uns? Offenbar dies, daß in Ermangelung von äußeren Zwangsmitteln und Autoritätsansprüchen der Vernunftführer, um seine Aufgabe zu lösen, bei seinen Genossen auf eine viel größere innere Bereitschaft angewiesen ist, auf eine viel stärkere Kraft der freiwilligen Gefolgschaft als der Führer irgendeiner anderen Organisation. Denn durch die Kraft dieser freiwilligen Gefolgschaft muß der Mangel an Machtmitteln, sowohl den äußeren des Zwanges wie den inneren der Autorität, ausgeglichen werden. Die Bereitschaft, auf die er angewiesen ist, muß so groß sein oder doch zu solcher Kraft anwachsen können, daß sie alles das an Wirkung nicht nur erreicht, sondern überbietet, was eine Zwangsorganisation und eine Autoritätsorganisation, ja was die Koalition beider durch die ihr zur Verfügung stehenden Machtmittel erreichen kann. Ist dies nicht eine verstiegene Vorstellung? Eine verzweifelte Lage, gewiß. Was es hier gilt, ist in der Tat der Mut der Verzweiflung.
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Demokratie und Führerschaft
Es erscheint paradox, daß eine Organisation, der es um Menschenwürde geht und die zum Ziele hat, einem jeden das Recht auf vernünftige Selbstbestimmung zu erkämpfen, daß diese »Organisation der Freiheit« sich als die allerabschreckendste Zwangsanstalt enthüllt, in die der Eintritt freien Menschen je hat zugemutet werden können, - als eine Anstalt, die ihre Mitglieder zu bloßen Werkzeugen herabwürdigt und die nur, weil der Mangel an Zwangsmitteln dem Führer die Anwendung des Zwanges verwehrt, auf eine desto größere Freiwilligkeit seitens ihrer Mitglieder angewiesen ist. Aber haben wir schon gehörig bedacht, was denn unsere Würde, was das Ideal der vernünftigen Selbstbestimmung von uns fordert? Von uns, sage ich, die wir nicht im Rechtsstaat leben. Wir können uns vernünftige Selbstbestimmung füglich nur zusprechen, soweit wir uns wirklich durch die Vernunft, und das heißt vor allem anderen: durch die Einsicht in unsere Pflicht bestimmen lassen. Unsere Pflicht aber ist: ehe wir etwas anderes tun, das uns Mögliche zur Verwirklichung des Rechtszustandes zu tun und also zu einer solchen Partei der Vernunft, wie ich sie eben geschildert habe, zusammenzutreten. Der Beitritt zu dieser Partei steht nicht in unserem Belieben, denn das Ziel dieser Partei ist kein willkürlich aufgegriffenes; es ist uns durch die Pflicht unmittelbar vorgezeichnet. Es liegt also nur am einzelnen selbst, wenn er nicht aus eigenem Antrieb dieser Pflicht folgt. Er selbst hat seine Würde verletzt und seine Freiheit verscherzt, nicht raubt sie ihm der Führer, der, soweit er kann, die Mittel der Organisation anwendet, um ihn zur Erfüllung seiner Pflicht anzuhalten, der Führer, der selbst nur seine Pflicht tut, indem er nicht davor zurückschreckt, den Schein der Tyrannei auf sich zu nehmen, wo es gilt zu regieren. Man könnte hier in einem begründeteren und besseren Sinne von einer Dienstpfiicht sprechen als da, wo man den organisierten Mord mit diesem Ehrennamen belegt. Und wenn man sich vergegenwärtigt, was dort an Zwangsmitteln angewendet wird, so erscheint es nicht mehr als etwas so Unerhörtes, entsprechende Mittel, soweit es möglich ist, im Dienste einer Aufgabe anzuwenden, die mit besserem, ja, wie die Dinge nun einmal liegen, mit alleinigem Recht den Namen der Pflicht für sich in Anspruch nehmen kann.
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Anhang 1 Einige Urteile aus der Presse'~ I. Zu Seite 394 »Nein, der Anhänger der Demokratie wird wahrscheinlich sagen, daß die Fiktion eines Volkes, das in der Mehrheit aus Schwachsinnigen oder Verbrechern besteht, nur im Gehirn eines Irrsinnigen Platz hat.« (M. V.) »Nein, an einen solchen absurden Fall hat bestimmt noch kein Anhänger der Demokratie gedacht; das blieb allein Prof. NELSON vorbehalten.« (B. V.) II. Zu Seite 395 »Ober den Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten. Wer verbürgt uns denn, daß alle anderen willig ihre Auffassung von Schönheit dem Bewanderten unterordnen? Aber auf den praktischen Fall im öffentlichen Leben angewandt, heißt das, der deutschnationalen Demagogie zustimmen. Der >best Bewanderte, gleicht dem Fachminister, ohne den es bekanntlich nach Meinung der Reaktion nicht geht. Und wie weit der >best Bewanderte,, also der Fachmann, uns bringen kann, lehrt in der Politik der Fall >CUNOdie Religion der Pöbelverehrung,.« (B. V.) »Es zeigt sich hier eine Unberührtheit mit allem tatsächlichen gesellschaftlichen Geschehen, die geradezu naiv anmutet, denn anders ist es doch wohl kaum zu bewerten, wenn NELSON die Demokratie mit Ku HuNG-MrNG, als die >Religion der Pöbelverehrung, bezeichnet.« »... die Masse ist durchaus nicht so stumpf.« (L. V.) IV. Zu Seite 401 »Wichtig ist aber, daß NELSONS Ansichten in der Idee gipfeln, daß es ein >objektives Recht, gibt. >Das, Recht und die >Wahrheit des Rechts, kehren bei NELSON sehr oft wieder .... Also gleichsam ein Recht, das nicht Menschenwerk ist, sondern das unveränderlich über die Menschen gesetzt ist. . .. Wir andern also, die ,das, Recht NELSONS nicht erkannt haben, sollen an sein >objektives Recht, glauben. Solche Gedankengänge hat man in der sozialistischen Bewegung ... stets als philosophische Spekulation bezeichnet. Man wird dabei erinnert an Gedankengänge, die im vorigen Jahrhundert der ,Sozialphilosoph, EuGEN DüHRING propagierte .... ENGELS hat es nicht nur verstanden, solche schwammigen Ideen durch exakte wissenschaftliche Beweisführung in ein Nichts aufzulösen, sondern hat sie gelegentlich bezeichnet als >höheres Blech auf Katheder und Tribüne, höheres Blech überall, höheres Blech mit dem Anspruch auf Überlegenheit und Gedankentiefe,.« »NELSON begnügt sich keineswegs damit, >das, Recht zu manifestieren, er will es auch angewandt wissen auf die Gesellschaft im weiteren, auf den Staat im engeren Sinne. Er geht nun davon aus, daß es >einer besonderen Bildung des Verstandes bedarf,, um zu der Einsicht in >das, Recht zu gelangen, und daß es ,einer besonderen Bildung des Willens bedarf,, um nach dieser Einsicht zu handeln. Das klingt alles recht mystisch. NELSON meint aber, mit dürren Worten ausgedrückt, daß zum politischen Handeln >besondere< Bildung des Verstandes und des Willens erforderlich ist. Das Instrument zu
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solchem politischen Handeln soll ihm die ,Partei des Rechts< und ein andermal die >Partei der Vernunft, sein. Es entgeht NELSON offenbar, daß ,Vernunft< ein ebenso unbestimmter Begriff ist wie ,das, Recht. Man lasse nur einmal zwei Menschen, etwa einen Proletarier und einen Großindustriellen, über den Begriff >Vernunft:< diskutieren!« (B. V.) »Was ist überhaupt vernünftig? Wird der Kapitalist darüber nicht ganz andere Ansichten haben als der bei ihm beschäftigte Arbeiter? Wird jener es nicht als sehr vernünftig ansehen, daß der Arbeiter jeden Tag 12 Stunden bei Hungerlöhnen schuftet, während dieser es als durchaus unvernünftig bezeichnet? Unsere größten Philosophen haben sich mit der ,Vernunft< beschäftigt, sie zu analysieren, erklären und begreifen versucht. Sie ist trotz alledem ein durchaus subjektiver Begriff.« (F.) »Ihnen (den ,Nelsonianern,) geht es um die Verwirklichung ... der ,Idee des Rechts,, während das Ziel des proletarischen Klassenkampfes die Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische ist, wobei uns bewußt ist, daß damit ein höheres Recht der neuen Gesellschaft eigen sein wird.« (L. V.) » .. eine reaktionäre Organisation.« »Sein Programm ist politischer Mystizismus: Verwirklichung der Idee des Rechts.« (I.) V. Zu Seite 403 »Masse ist Teig, den der Führer nach seinem individuellen Willen knetet. Die Masse, die man erst für unmündig erklärt hat, soll Objekt in der Hand des Führers sein.« (B. V.) VI. Zu Seite 404 »NELSON ist Sozialdemokrat und als solcher dürfte er wissen, daß wir Sozialdemokraten in der von kapitalistischer Wirtschaftsmacht beherrschten Demokratie nichts weniger als unser Ideal erblicken. Niemand übt sachlich so scharfe Kritik an der heutigen Demokratie als die Sozialdemokratie, immer aber zu dem Zweck, um aus einer kapitalistisch verfälschten eine sozial gerechte Demokratie zu machen .... Und wie lächerlich, wie professorenhaft mutet es doch an, nach dem Untergang einer jahrhundertealten Monarchie in
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Demokratie und Führerschaft
Deutschland eine Demokratie ohne Fehl und Tadel zu erwarten!« (B. V.) VII. Zu Seite 406 »Diese Mätzchen, die hier ein Professor vorträgt, würde nicht einmal mehr ein deutschnationaler Wahlredner in einer Dorfversammlung auskramen. Die Sache hat aber noch insofern eine interessante Pointe, als NELSON jene ,vernichtenden< Worte wider die Demokratie gerade auf dem Boden der Schweiz gesprochen hat, die gerade dank der Demokratie inmitten von Monarchien zu einem bewunderten, angesehenen und starken Staat geworden ist.« (B. V.) »NELSON, der von der Demokratie nicht viel hält, ... sucht seine Anhänger vornehmlich ... bei der akademischen Jugend.« (M.) 1 »Seine (NELSONS) geistesaristokratische Auffassung des Führerproblems ist der proletarischen entgegengesetzt, und hat in der Arbeiterbewegung nicht nur keine Berechtigung, sondern stellt geradezu eine Gefahr dar, weil sie der Herstellung einer Einheit zwischen Masse und Führer direkt entgegensteht.« (L. V.) »... also bornierteste Massenverachtung hochnäsiger Intellektueller.« (Br. Vw.) »Er verficht die Diktatur ... der ,Geistigen< in den Arbeiterorganisationen .... eine rötliche Häusserei.« (I.) »Professor NELSON ist ein Mann, der dem akademischen Dünkel eine theoretische Grundlegung verschafft hat.« »So hat sich um ihn innerhalb der Sozialdemokratischen Partei ein Klübchen junger Akademiker gebildet.« »Für intellektuelle Honoratiorenstübchen ist kein Platz in den republikanischen Parteien.« (E.) VIII. Zu Seite 407 »Und der Entwicklung gerade solcher Führereigenschaften sollte die Demokratie entgegenstehen? Das kann in der Tat nur jemand 1
Der von Unwahrheiten strotzende - natürlich anonyme - Artikel »Der Nelsonbund«, dem dieses Urteil entstammt, rührt unverkennbar aus der Göttinger Redaktionsstube her, in der man recht gut über die zwanzigjährigen Erfahrungen unterrichtet ist, die mich davor bewahren, meine Anhänger vornehmlich bei der akademischen Jugend zu suchen.
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behaupten, der besinnungslos in die Devise aller Spießbürger von gestern und heute: >Es lebe das Individuum, der erhabene Beherrscher der Masse!< verliebt ist. Es braucht hier nicht auseinandergesetzt zu werden, daß diese Gedankengänge, diese Beweihräucherung des >berufenen Führersgeistige Entartung< und >WahnwitzZur Partei kann nicht gehören, wer einer anderen politischen Partei als Mitglied angehört, oder sie finanziell unterstützt oder für sie oder gegen die Sozialdemokratische Partei wirktSelbstloseste< und ,Einsichtigste